Medien – Kommunikation – Öffentlichkeit: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Festschrift für Werner Greiling zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783412516710, 1907191469, 9783412516697

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Medien – Kommunikation – Öffentlichkeit: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Festschrift für Werner Greiling zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783412516710, 1907191469, 9783412516697

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Holger B öning, Hans-Werner Hahn, Alexander Krünes, Uwe Schirmer (Hg.)

Medien – Kommunikation – Öffentlichkeit Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 58

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 58

Holger Böning, Hans-Werner Hahn, Alexander Krünes, Uwe Schirmer (Hg.)

Medien – Kommunikation – Öffentlichkeit Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart Festschrift für Werner Greiling zum 65. Geburtstag

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Les Nouvellistes, anonymer Kupferstich (Ausschnitt), um 1780 Redaktion und Satz: Dr. Alexander Krünes, Jena

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51671-0

Inhalt Vorwort .......................................................................................................................... IX Tabula Gratulatoria ...................................................................................................... XI Einführung ....................................................................................................................... 1 I. STRUKTUREN UND FORMEN Jürgen Wilke Thüringen als Zeitungslandschaft: Anfänge – Phasen – Systemwandel ................ 9 Johannes Mötsch Die Grafen von Henneberg und die „Neuen Zeitungen“ .....................................31 Tobias Kaiser Eine etwas andere Mediengeschichte – Anmerkungen zur Entstehung der vegetarischen Publizistik des 19. Jahrhunderts im preußisch-thüringischen Nordhausen ..................................................................51 Gunther Mai Die Deutsche Marokko-Zeitung und die deutsche Marokko-Politik 1907–1914 ........................................................................................69 Michael Maurer Das Medium Tagebuch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ..........................81 Volker Wahl Der englische Diplomat, Schriftsteller und Übersetzer Joseph Charles Mellish of Blyth in Weimar und Dornburg zwischen 1796 und 1804 .................97 Felicitas Marwinski (†) Johann Friedrich Heinrich Schwabe – kirchlicher Würdenträger, Gestalter eines Schulbuchprogramms, Verfasser mineralogischer, homiletischer und sozialpädagogischer Schriften ................................................. 113 Jens-Jörg Riederer „Ich bin wieder in Theenoth.“ Wie der Tee als geselliges Getränk im 18. Jahrhundert Weimar eroberte ............................................................................ 131

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INHALT

Alexander Krünes Vom privaten und geselligen Lesen zum institutionalisierten Lektüregebrauch. Zur Darstellung ländlicher Lesegesellschaften in der volksaufklärerischen Publizistik Thüringens im späten Vormärz ............... 153 Konrad Marwinski (†) Die „Prinzessinnen-Bibliothek“ in Sondershausen. Lektürekonzepte im Spannungsfeld zwischen Stadtkultur und fürstlichem Mäzenatentum ............. 175 Uwe Schirmer Vom Vertrag zu Neustadt an der Orla (1362) zur Neustädter Örterung des Jahres 1379 ........................................................................................................... 191 II. VERMITTLUNG UND INSZENIERUNG Enno Bünz Der Kaiser ist tot. Wie das Ableben Maximilians I. 1519 in Kursachsen bekannt gemacht wurde ............................................................................................ 211 Holger Böning Die Entscheidungsschlacht am Weißen Berg. Zur Kriegsberichterstattung in den Zeitungen und im Medienverbund des 17. Jahrhunderts........................ 235 Georg Schmidt Ein Manifest und eine Kampagne. Wie die Medien Gustav Adolf Ziele setzten ................................................................................................................ 263 Siegrid Westphal Den Frieden erzählen in Zeiten des Kriegs. Karl Ludwig Woltmanns „Geschichte des Westphälischen Friedens“ (1808/09) ....................................... 275 Stefan Gerber „Aber wo und wer sind sie?“ Die „127 Katholiken von Dresden“ und die mediale Inszenierung konfessioneller Dissidenz im Sachsen des 19. Jahrhunderts................................................................................................... 289 Friedemann Pestel „Ein unserer Eisenbahn-Epoche vorbehaltenes Unicum“: Die Auslandstourneen der Meininger Hofkapelle und die Internationalisierung des Musiklebens in Europa (1880 –1914) ............................................................... 305

INHALT

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Ronny Schwalbe Bürgertum und Öffentlichkeit. Darstellung und Selbstdarstellung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert am Beispiel des Wirtschaftsbürgertums .............................................................................................. 327 Reinhold Brunner Ein Pressefeldzug und seine Vorgeschichte. Kommunalpolitische Entwicklungen in Eisenach vom Sommer 1945 bis zum Herbst 1946............. 349 Christel Gäbler „Du bist es, die ich liebe …“ – Das Bild der Stadt Gera in den Gedichten Hermann Luboldts (1892–1962).......................................................... 365 Rainer Müller Neustadt an der Orla – ein Stadtdenkmal des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Anmerkungen zum Profanbau der Stadt............................ 383 III. KONZEPTE UND INTERAKTIONEN Klaus Ries Johann Gottlieb Fichte und die Genese einer modernen Öffentlichkeit ......... 411 Hans-Werner Hahn David Hinkel (1767–1839) – ein Vorkämpfer deutscher Pressefreiheit ........... 431 Hagen Rüster Das alternative Geschichtsbild vor Gericht. Der Prozess gegen die Hessischen Blätter wegen Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen, groben Unfugs und Majestätsbeleidigung 1892 .................................................... 445 Marko Kreutzmann Bundestag und Öffentlichkeit. Die Auseinandersetzung um die Veröffentlichung der Protokolle der Deutschen Bundesversammlung 1816–1848 ................................................................................................................... 465 Bärbel Raschke Hochzeit und Briefkommunikation der Juliane Franziska von Neuenstein/Buchwald im Kontext der Reichs- und Europapolitik Sachsen-Gotha-Altenburgs ....................................................................................... 481

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INHALT

Gerhard Müller Ernst Haeckels Weg zu Bismarck. Zur Vorgeschichte der Jenaer Bismarck-Feier vom 31. Juli 1892 ........................................................................... 493 Jürgen John Das Gutachten des Präsidenten des Oberverwaltungsgerichtes Jena Hellmuth Loening zur Rechtsnachfolge, Identität und Haftung des Landes Thüringen vom September 1946. Ein Beitrag zur Geschichte der Thüringen-Diskurse ............................................................................................ 505 Joachim Bauer Siegfried Schmidt und die Erforschung der Jenaer Universitätsgeschichte ............................................................................................... 519 Helmut-Eberhard Paulus Vom Sinn der kommunikativen Betrachtung. Überlegungen zum Erkenntnisgewinn aus der dialogischen Kontextualisierung von Geschichtszeugnissen ................................................................................................ 533 Reinhart Siegert Öffentlichkeit der Namenlosen. Zu den biographischen Grundlagen der deutschen Aufklärung ......................................................................................... 545 Verzeichnis der Publikationen von Werner Greiling ........................................... 567 Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................. 585 Abbildungsnachweis .................................................................................................. 587 Ortsregister .................................................................................................................. 589 Personenregister ......................................................................................................... 594 Verzeichnis der Autoren ........................................................................................... 608

Vorwort

VORWORT

Werner Greiling zum 65. Geburtstag eine Festschrift zu widmen, ist eine ehrenvolle Aufgabe und zugleich ein spannendes Unterfangen. Die Vielfalt seines wissenschaftliches Œuvres macht es nicht einfach, sich dem Jubilar thematisch angemessen zu nähern und auf diesem Weg dessen bisheriges akademisches Schaffen zu würdigen. Die von Werner Greiling bearbeiteten Forschungsfelder spiegeln seine Aufgeschlossenheit wider, historische Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Auf diese Weise hat er wesentlich zum Verständnis historischer Prozesse beigetragen und viele Anregungen und Anstöße für neue Forschungsfragen gegeben. Dabei hat er immer Wert darauf gelegt, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ernst zu nehmen, einzubeziehen und zu fördern. Zugleich war und ist es ihm stets ein Anliegen, historisches Wissen nicht nur einem kleinen Kreis von Experten zugänglich zu machen. Sein Engagement in den zahlreichen akademischen wie außerakademischen Projekten und Gremien war nicht zuletzt davon geprägt, Geschichte einem breiten Publikum zu vermitteln. Als langjähriger Vorsitzender der „Historischen Kommission für Thüringen“ hatte er stets im Blick, dass es eines allgemeinen Geschichtsbewusstseins bedarf, um sich in der Gegenwart orientieren zu können. Er gehört damit zu jenen Historikern, die davon überzeugt sind, dass eine Beschäftigung mit der Geschichte eine identitätsstiftende Wirkung zu entfalten vermag. Die Herausgeber dieser Festschrift möchten die Vielfältigkeit der wissenschaftlichen Arbeitsfelder von Werner Greiling deutlich machen. Großen Wert hat der Jubilar darauf gelegt, in seinen Arbeiten und auf Tagungen interdisziplinär mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachdisziplinen zusammenzuarbeiten. Mit den hier veröffentlichten Beiträgen soll darauf Bezug genommen und auf die Themenkomplexe hingewiesen werden, denen Werner Greiling sein besonderes Interesse entgegengebracht und zu denen er maßgebliche Forschungsbeiträge vorgelegt hat: der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Allen Autorinnen und Autoren sei herzlich gedankt, dass sie sich auf die Thematik und Konzeption des Bandes eingelassen haben. Das breite inhaltliche Spektrum ihrer Beiträge zeugt dabei von den unterschiedlichen Zugängen, sich dem thematischen Schwerpunkt dieses Werkes anzunähern. Der vorliegende Band verdankt sein Entstehen der großen Unterstützung und dem Entgegenkommen vieler Personen. Besonderer Dank gilt an erster Stelle Herrn Johannes van Ooyen vom Böhlau Verlag Wien/Köln/Weimar. Seine enge Zusammenarbeit mit Werner Greiling war in den letzten Jahren die Grundlage zahlreicher geschichtswissenschaftlicher Publikationen. Nicht zuletzt

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VORWORT

seinem Engagement ist es zu verdanken, dass dieser Band in die Kleine Reihe der „Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen“ aufgenommen wurde. Ferner richtet sich der Dank an die finanziellen Unterstützer dieses Buches, dem „Förderverein für Stadtgeschichte“ in Neustadt an der Orla sowie dem „Verein für Thüringische Geschichte“, die mit ihren Druckkostenzuschüssen sein Erscheinen ermöglicht haben. Ein weiterer herzlicher Dank geht an Julia Beez für die umfangreiche Hilfe bei der Korrektur der Beiträge. Zusammen mit Dr. Philipp Walter und Christoph Oelmann hat sie außerdem das Register erstellt. Nicht zuletzt sei dem Verlag für die Hilfe bei der Zusammenstellung der Tabula Gratulatoria gedankt. Sie spiegelt wider, dass den Berufsweg von Werner Greiling als akademischer Lehrer und Forscher viele Weggefährten, Freunde, Kollegen und Schüler begleitet haben. Die Herausgeber danken allen Gratulanten und bitten um Nachsicht, falls den einen oder anderen die Anfrage um Aufnahme in die Tabula nicht erreicht haben sollte. Im Namen aller Autorinnen und Autoren sowie Gratulatinnen und Gratulanten wollen wir mit der Übergabe dieser Festschrift dem Jubilar unsere Dankbarkeit und Verbundenheit sowie unseren Respekt für dessen Verdienste zum Ausdruck bringen. Sein unermüdlicher Drang, historische Ereignisse und Prozesse nicht nur zu erforschen, sondern Geschichte, insbesondere die thüringische Landesgeschichte, ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung zu tragen, verdient höchste Anerkennung. Wir alle wünschen dem Geehrten viel Freude bei der Lektüre des Bandes und weiterhin viel Gesundheit und Schaffenskraft. Jena, im Sommer 2019

Holger Böning Hans-Werner Hahn Alexander Krünes Uwe Schirmer

TABULA GRATULATORIA TABULA GRATULATORIA

Astrid Ackermann, Jena Jessica Aniol, Jena Oliver Auge, Kiel Bernd W. Bahn, Weimar Joachim Bauer, Jena Julia Beez, Jena Sabine Berner, Schleiz Michael Beyer, Colditz Matjaž Birk, Maribor Andreas Blasche, Neustadt an der Orla Astrid Blome, Dortmund Frank Boblenz, Sömmerda Holger Böning, Bremen Klaus Broders, Rastenberg Ursula Braasch-Schwersmann, Marburg Reinhold Brunner, Eisenach Enno Bünz, Leipzig Wolfgang Burgdorf, München Carla Cobb, Augsburg/Neustadt an der Orla Edoardo Costadura, Jena Susanne Daub, Jena Gerald Diesener, Leipzig Andreas Dietmann, Jena Robert Döpel, Neustadt an der Orla Stefan Dornheim, Dresden Torsten Dylong, Rudolstadt Gisela Dyrna, Neustadt an der Orla Matthias Eifler, Leipzig Christine und Uli Eisoldt, Probstzella Alfred Engelmann, Schmieritz Stephan Flemmig, Jena Norbert Frei, Jena Henry Frenzel, Neustadt an der Orla Stefanie Freyer, Osnabrück Pierre Fütterer, Jena/Magdeburg Christel Gäbler, Gera

Ingrid Gallas, Neustadt an der Orla Jörg Ganzenmüller, Jena/Weimar Andrea Geldmacher, Chemnitz Stefan Gerber, Jena Franziska Göpel, Neustadt an der Orla Annegret und Jürgen Greiling, Oppurg Franziska und Henry Greiling/Kohlsdorf, Deining Hubert Greiling, Neustadt an der Orla Reiner Greiling, Neustadt an der Orla Ursula Greiling, Neustadt an der Orla Michael Grisko, Erfurt Achim Hack, Jena Udo Hagner, Gera Hans-Werner Hahn, Aßlar/Jena Karl-Eckhard Hahn, Jena Reinhard Hahn, Weimar/Jena Andreas Hedwig, Marburg Ursula Heinemann, Erfurt/Jena Karl Heinemeyer, Erfurt Birgitt Hellmann, Jena Günter Helmrich, Neustadt an der Orla Dirk Henning, Erfurt/Saalfeld Klaus-Dieter Herbst, Jena Christian Hirsch, Neustadt an der Orla Michael Hofbauer, Heidelberg Hartmut Hoff, Neustadt an der Orla Ingrid und Michael Hofmann, Neustadt an der Orla Claudia Hohberg, Hummelshain Cornelia Hopf, Erfurt Steffi Hummel, Naumburg (Saale) Ute Ibscher, Jena Yvonne Jackel, Neustadt an der Orla Hans-Wolf Jäger, Bremen Heike Jansen-Schleicher, Neustadt an der Orla Anke John, Jena

XII Jürgen John, Jena Uwe John, Erfurt/Leipzig Mathias Kälble, Dresden Gerhard R. Kaiser, Seitenroda Tobias Kaiser, Berlin Ulrike Kaiser, Seitenroda Rainer Kipper, Erfurt Karl-Heinz Knoch, Neustadt an der Orla Ernst Koch, Leipzig Katrin und Reinhard Köhler, Krölpa Esther-Beate Körber, Berlin Armin Kohnle, Leipzig Knut Kreuch, Gotha Marko Kreutzmann, Jena/München Thomas Kroll, Jena Marco Krüger, Jena Dominique und Alexander Krünes, Jena Thomas K. Kuhn, Greifswald Sven Lachhein, Weimar Maike Lämmerhirt, Mannheim Manfred Lange, Neustadt an der Orla Falk Leithold, Neustadt an der Orla Jochen Lengemann, Kassel Volker Leppin, Tübingen Andreas Lesser, München Christine Lieberknecht, Apolda Hans-Peter Liebert, Neustadt an der Orla Harald S. Liehr, Weimar Uta und Michael Lörzer, Jena Franziska Maaß, Jena Gunther Mai, Erfurt/Meiningen Julia Mandry, Jena/Mühlhausen Klaus Manger, Jena Dieter Marek, Rudolstadt Arno Martin, Jena Michael Matscha, Erfurt Klaus Matthäus, Erlangen Michael Maurer, Jena

TABULA GRATULATORIA

Katharina und Matthias Middell, Leipzig Norbert Moczarski, Belrieth Johannes Mötsch, Meiningen Gerhard Müller, Jena Rainer Müller, Erfurt Thomas T. Müller, Mühlhausen Winfried Müller, Dresden Anke Munzert, Jena Michael Nagel, Bremen Jörg Nagler, Jena Helmut Neubach, Baden-Baden Doreen von Oertzen Becker, Leipzig Johannes van Ooyen, Wien Anja Pape, Rudolstadt Andreas Pathe, Neustadt an der Orla Helmut-Eberhard Paulus, Burglengenfeld Friedemann Pestel, Freiburg Andreas Pfeil, Neustadt an der Orla Daniel Pfletscher, Neustadt an der Orla Josef Pilvousek, Erfurt Karin und Manfred Pohl, Neustadt an der Orla Haik Thomas Porada, Leipzig Bernhard Post, Weimar Reiner Praß, Erfurt Joachim von Puttkammer, Jena Carlies Maria Raddatz-Breidbach, Jena Ulrich Rasche, Wien Bärbel Raschke, Leipzig Rolf Reichardt, Gießen Jens-Jörg Riederer, Weimar Klaus Ries, Jena Bernd Rolle, Jena Johannes Roth, Berlin Manfred Rudersdorf, Leipzig Andreas Rudolph, Neustadt an der Orla Bernd Rudolph, Neustadt an der Orla Hagen Rüster, Greiz Wiebke Rutz, Falkensee

TABULA GRATULATORIA

Peter Sachenbacher, Magdala Franziska Schedewie, Jena Lutz Schilling, Gotha Uwe Schirmer, Jena Harald Schmalwasser, Jena Alexander Schmidt, Jena Georg Schmidt, Jena Helmut Schmidt, Bodelwitz Petra und Volker Schmidt, Neustadt an der Orla Julia Schmidt-Funke, Jena/Gotha Hanno Schmitt, Potsdam Karl Schmitt, Jena Sabine Schmolinsky, Erfurt Friedemann Schmoll, Jena Jan Schönfelder, Erfurt Ines Schwab, Lausnitz Ronny Schwalbe, Neustadt an der Orla Reyk Seela, Jena Thomas A. Seidel, Erfurt Siegfried Seifert, Weimar Reinhart Siegert, Freiburg im Breisgau Martin Sladeczek, Erfurt René Smolarski, Erfurt Christopher Spehr, Jena Vivien Stawitzke, Schulpforte Wolfgang Steguweit, Gotha Matthias Steinbach, Braunschweig Ramona Steinhauer, Jena Dieter Stievermann, Ammerbuch Rudolf Stöber, Bamberg Rüdiger Stutz, Jena Marco Swiniartzki, Jena

XIII Claudia Taszus, Jena Bettina Theile, Neustadt an der Orla Hans-Jürgen Trinkel, Neustadt an der Orla Sabine und Ralf Ulitzsch, Neustadt an der Orla Stephan Umbach, Knau Meinolf Vielberg, Jena Peter Vock, Neustadt an der Orla Bernhard Vogel, Berlin Günter Vogler, Berlin/Erkner Jörg Voigt, Rom Torsten Wagenknecht, Neustadt an der Orla Reinhild von Wahl, Lausnitz Volker Wahl, Weimar Philipp Walter, Leipzig/Jena Helmut G. Walther, Jena Uwe Jens Wandel, Gotha Petra Weigel, Jena/Gotha Annette Weinke, Jena Ralf Weiße, Neustadt an der Orla Matthias Werner, Jena Siegrid Westphal, Osnabrück Katharina Witter, Meiningen Helge Wittmann, Mühlhausen Inken Wiederhold, Neustadt an der Orla Jürgen Wilke, Mainz Regina Winkler-Sangkuhl, Neustadt an der Orla Eike Wolgast, Heidelberg Thomas Wurzel, Bad Honnef Włodzimierz Zientara, Toruń

Einführung EINFÜHRUNG

Werner Greiling, der 1954 in Thüringen geboren wurde und nach seinem Lehramtsstudium der Geschichte und Germanistik in den 1980er Jahren an der Sektion Geschichtswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig war, gehört einer Historikergeneration an, die nach 1989 vor einer besonderen Herausforderung stand. Auf der einen Seite entstand nach der deutschen Wiedervereinigung und der Umstrukturierung der Universitäten in den neuen Bundesländern ein hohes Maß an Unsicherheit über die weitere berufliche Zukunft. Auf der anderen Seite eröffneten sich durch die Reisefreiheit und den freien wissenschaftlichen Austausch aber auch völlig neue Chancen. Werner Greiling gehörte zu jener Generation junger Historiker der ehemaligen DDR, die mit Mut und außerordentlichem Engagement die neuen Möglichkeiten nutzten und mit großem Erfolg Forschungen weiterführten und vertieften, die in den 1980er Jahren unter ganz anderen Bedingungen begonnen wurden. In seiner Zeit als Forschungsstudent, Assistent und Oberassistent hatte Werner Greiling als Schüler des auch in Westdeutschland sehr geschätzten Liberalismusforschers Siegfried Schmidt bereits wichtige Arbeiten vorgelegt. 1984 schloss er seine Dissertation über den preußischen Diplomaten und Publizisten Varnhagen von Ense ab, die 1993 in einer überarbeiteten Fassung erschien. Zu seinen frühen Forschungsaktivitäten gehörte aber auch die Mitarbeit an dem in Jena entstandenen vierbändigen „Lexikon zur Parteiengeschichte“, das die zwischen 1789 und 1945 in Deutschland existierenden bürgerlichen Parteien und Verbände erfasste und trotz der ideologischen Vorgaben des Herausgebers auch im Westen als wichtiges Nachschlagewerk angesehen wurde. Werner Greiling verfasste hier Artikel über den „Hoffmannschen Bund“ von 1814/15 und die „Deutschen Jakobiner“. Diesen entschiedenen deutschen Anhängern der Französischen Revolution, die in den 1970er und 80er Jahren nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik und in Österreich großes Interesse fanden, widmete Werner Greiling vor 1989 weitere wichtige Arbeiten. Er gab die Schriften der deutschen Jakobiner Georg Friedrich Rebmann und Konrad Engelbert Oelsner heraus. Oelsners Abhandlungen zur Französischen Revolution erschienen 1988 sogar in der westdeutschen Lizenzausgabe. Im Sommer 1989 konnte Werner Greiling seine Jakobinismusforschungen auf einem großen internationalen Kongress in Paris vorstellen, der zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution unter Leitung des renommierten Revolutionsforschers Michel Vovelle stattfand. Das Thema des französisch-deutschen Kulturtransfers in den Jahrzehnten zwischen der Französischen Revolution und der Revolution von 1848 bildete auch in den folgenden Jahren einen wichtigen Schwerpunkt der wissenschaftli-

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chen Arbeiten von Werner Greiling. Nach dem politischen Umbruch des Jahres 1989 hat dieser sehr zielstrebig die neuen Möglichkeiten genutzt, um bereits bestehende Kontakte nach Westdeutschland, Österreich und Frankreich zu vertiefen und neue aufzubauen. Als Stipendiat der Alexander von HumboldtStiftung ging er zwischen 1990 und 1992 zu längeren Studienaufenthalten nach München und an das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. 1993 war Werner Greiling Stipendiat des DAAD am Centre National de la Recherches Scientifiques (CRNS) in Paris. 1993/94 war er sodann Förderstipendiat des Historischen Kollegs in München, wo er die Arbeiten an seiner inzwischen begonnenen Habilitationsschrift voranbringen konnte. Das Thema des französisch-deutschen Kulturtransfers blieb, wie zahlreiche Aufsätze und die Mitherausgabe der deutsch-französischen Kulturbibliothek, zu der Werner Greiling einen Band über deutsche Frankreichfreunde beisteuerte, weiterhin ein Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Es spielte auch in seiner 1996 eingereichten Habilitationsschrift, die sich unter anderem der regionalen Rezeption von Aufklärung und Französischer Revolution in Thüringen widmete, eine wichtige Rolle. Diese Arbeit, die 2003 unter dem Titel „Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert“ erschien, bietet eine umfassende, geradezu vorbildliche Aufarbeitung der Pressegeschichte, wie sie für kaum eine andere deutsche Region vorliegen dürfte. Mit dieser Arbeit hat sich Werner Greiling zwei weitere Themenfelder erschlossen, die er in den folgenden Jahren immer intensiver bearbeitet hat – zum einen die thüringische bzw. mitteldeutsche Landesgeschichte und zum anderen die Mediengeschichte. Eine besondere Rolle spielte die Aufarbeitung der Geschichte seiner Heimatstadt Neustadt an der Orla, die er durch zahlreiche eigene Publikationen, die lokale Vereinsarbeit und eine neue stadtgeschichtliche Reihe in ganz neue Bahnen geführt hat. Verwiesen sei aber auch auf Forschungsprojekte zur Revolution von 1848/49 in Thüringen, zu Bismarcks Bedeutung in der Thüringer Erinnerungskultur und zur thüringischen Verlagsgeschichte, die sich in Monographien und mehreren, von Werner Greiling mit herausgegebenen Tagungsbänden niederschlugen. Die große Wertschätzung, die Greilings Arbeiten erfuhren, zeigte sich nicht nur in einer dreisemestrigen Vertretung des Lehrstuhls für Sächsische Landesgeschichte an der Universität Leipzig (1999–2001) und einer einsemestrigen Vertretung des Lehrstuhls für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Erfurt (2004–2005) sowie in der 2004 erfolgten Ernennung zum Professor für die Geschichte der Neuzeit, sondern auch in der neunjährigen Mitarbeit am Jenaer Sonderforschungsbereich „Ereignis Weimar-Jena: Kultur um 1800“. Hier koordinierte Werner Greiling als Teilprojektleiter die Arbeiten über Friedrich Justin Bertuch und die Kommunikationsstrukturen im Ereignisraum und trug zugleich durch zahlreiche eigene Studien maßgeblich zum Erfolg des Gesamt-

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unternehmens bei. In diesen Jahren hat sich Werner Greiling auch als Organisator der landesgeschichtlichen Forschung immer größere Verdienste erworben. Nachdem er schon einige Jahre im Vorstand der „Historischen Kommission für Thüringen“ das Amt des Schriftführers bekleidet hatte, übernahm er 2006 den Vorsitz dieser Kommission, warb erfolgreich um zusätzliche finanzielle Mittel des Freistaats und führte die Kommissionsarbeit mit sehr großem Engagement und beeindruckenden Erfolgen fort. Die Anerkennung seiner wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Leistungen schlug sich nicht zuletzt in den Mitgliedschaften der „Historischen Kommissionen für Hessen“, der „Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt“ sowie der „Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig“ und der „Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt“ nieder. Neben der Landesgeschichte, aber oft in enger Verbindung mit diesen Arbeiten, hat Werner Greiling in den letzten Jahren vor allem in der Medien- und Kommunikationsgeschichte durch zahlreiche eigene Monographien und Aufsätze, Arbeiten seiner Schüler und auch in der Lehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena neue Akzente gesetzt. Er hat damit das Historische Institut um einen weiteren Forschungsschwerpunkt bereichert, gerade auf diesem Felde auch wichtige Brücken zu Nachbardisziplinen wie der vergleichenden Literaturwissenschaft und den Medienwissenschaften geschlagen und damit den interdisziplinären Diskurs gefördert. Der Interdisziplinarität fühlt sich auch der vorliegende Band verpflichtet. Untersucht werden verschiedene historische Prozesse, Phänome und Perspektiven, die der Medien- und Kommunikationsgeschichte zugeordnet werden können und die unmittelbar mit den Begriffen „Medien“, „Kommunikation“ und „Öffentlichkeit“ in Verbindung stehen. Der Band erhebt dabei nicht den Anspruch, neue theoretische Modelle oder innovative methodische Zugänge zur Medien- und Kommunikationsgeschichte aufzuzeigen. Vielmehr möchte er der außerordentlich großen Vielschichtigkeit jenes Forschungsfeldes Rechnung tragen und einen Eindruck der gesamten Bandbreite an inhaltlichen Zugängen bieten. Um die oftmals divergierenden Zugriffe auf die Medien- und Kommunikationsgeschichte nicht einzuschränken und sich eine gewisse Ergebnisoffenheit vorzubehalten, haben die Herausgeber den Autoren bewusst keine näheren Vorgaben zu den drei im Titel des Bandes genannten Begriffen auferlegt. Jeder von ihnen konnte seinen persönlichen Zugang zur übergeordneten Thematik wählen, der nicht nur die Berührungspunkte eines seiner persönlichen Forschungsfelder mit dem der Medien- und Kommunikationsgeschichte, sondern letztlich auch einen Bezug zu den Interessensgebieten von Werner Greiling herstellt. Im Ergebnis haben sich 31 Beiträge verschiedener Wissenschaftler mit

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ganz unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten und -ansätzen unter einem Dach zusammengefunden. Entsprechend dieser Intention geht der Band nur bedingt auf bestehende Begriffsdiskussionen ein. Bekanntermaßen gibt es für die Begriffe Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit zahlreiche Definitionsangebote, die inzwischen eine fast schon unüberschaubare Zahl an Publikationen füllen. In der hier gebotenen Kürze kann auf aktuelle Forschungsdebatten nicht näher eingegangen werden, ohne wichtige Ansätze zu vernachlässigen. Es sei an dieser Stelle nur darauf verwiesen, dass diese Begriffe – wie auch in den Beiträgen dieses Bandes geschehen – natürlich stets zu hinterfragen und im Kontext der eigenen Untersuchung zu definieren sind.1 Der vorliegende Band verfolgt, wie bereits angedeutet, ein offenes Konzept und orientiert sich daher an keinen bestimmten Begriffsdefinitionen. Ihm liegt vielmehr daran, die inhärente und doch manchmal zu selbstverständlich betrachtete Verschränkung von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit in den Fokus zu rücken, ohne diese in ein festes theoretisch-methodisches Korsett zu zwingen. Dem offen gehaltenen Konzept dieses Bandes entsprechend wurden die im Titel genannten Begriffe jeweils in ihrer weitesten Bedeutung zugrunde gelegt. So werden unter Medien jene Gegenstände verstanden, die Informationen und Nachrichten jeglicher Art speichern und weitergeben. Da ihre Vermittlungsrolle stets in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Strukturen steht, sind sie über 1

Aus Platzgründen muss an dieser Stelle darauf verzichtet werden, näher auf die unüberschaubare Flut an Forschungsdiskussionen und Forschungsliteratur zu den Feldern Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit zu rekurrieren. Stattdessen sei lediglich auf einige wenige der zahlreichen Einführungs- und Überblickwerke verwiesen: Werner FAULSTICH, Die Geschichte der Medien, Bd. 1: Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert), Göttingen 1997; Bd. 2: Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter, Göttingen 1996; Bd. 3: Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700), Göttingen 1998; Bd. 4: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830), Göttingen 2002; Bd. 5: Medienwandel im Industriezeitalter (1830–1900), Göttingen 2004; Elisabeth NOELLE-NEUMANN/Winfried SCHULZ/ Jürgen WILKE (Hg.), Fischer-Lexikon Publizistik, Massenkommunikation, Frankfurt a. M. 2009; Jürgen WILKE, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2000; Peter Uwe HOHENDAHL (Hg.), Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, unter Mitarbeit von Russell A. BERMAN, Stuttgart/Weimar 2000; Rudolf STÖBER, Kommunikations- und Medienwissenschaften. Eine Einführung, München 2008; DERS., Neue Medien. Geschichte: Von Gutenberg bis Apple und Google. Medieninnovation und Evolution, Bremen 2012; Hans KRAH/Michael TITZMANN (Hg.), Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, Passau 32013; Günter BENTELE/Hans-Bernd BROSIUS/Otfried JARREN (Hg.), Öffentliche Kommunikation. Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden 2003.

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Herstellungs-, Bereitstellungs- und Empfangsprozesse in komplexer Weise mit dem Begriff der Kommunikation verknüpft. Dieser bezeichnet allgemein den Prozess der Übertragung bzw. des Austauschs von Informationen und Zeichen auf verschiedenen Wegen und kann sich sowohl auf Personen und Personengruppen als auch auf organisierte bzw. institutionalisierte Formationen beziehen. Auch sie besitzt einen wechselseitigen Charakter, der sie im gesellschaftlichen Kontext wiederum stets mit dem Begriff Öffentlichkeit verbindet. Vor diesem Hintergrund und im Gegensatz zum Privaten ist darunter ganz allgemein der Resonanzraum zu verstehen, in dem Kommunikation – in aller Regel an eine konkrete Intention geknüpft – stattfindet oder auch bewusst nicht stattfindet. Gerade durch die enge Verknüpfung von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit untereinander sowie deren Beziehung zu den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen und übergesellschaftlichen Verhältnissen sind die Begriffe mit Blick auf die Historie ständigen Wandlungsprozessen unterworfen, die eine engere Definition nicht sinnvoll erscheinen lassen – insbesondere für einen so großen Zeitraum, wie ihn der vorliegende Band abdeckt. Die hier nur angedeuteten fließenden Übergänge zwischen den drei Feldern lassen erkennen, dass ein einheitlicher, streng methodischen Vorgaben folgender Zugriff auf die Thematik zwangsläufig zu starken inhaltlichen Einschränkungen geführt hätte. Der hier gewählte offene Zugang bietet hingegen Chancen für unkonventionelle Perspektiven und Auseinandersetzungen mit der Thematik in breiteren Kontexten. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge decken den Zeitraum vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert ab, siedeln sich dabei aber entsprechend der Forschungsinteressen des Jubilars mehrheitlich in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert an oder erweisen mit einem räumlichen Fokus auf Thüringen und Neustadt an der Orla dem Lebens- und Wirkungskreis Werner Greilings eine besondere Würdigung. Eine zeitliche oder räumliche Ordnung der Beiträge hätte jedoch ein Ungleichgewicht hervorgerufen und dem Band zu sehr den Charakter eines Sammelsuriums gegeben. Die Intentionen der Herausgeber lagen vielmehr darin, einerseits die vielfache Verschränkung von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit zu betonen und andererseits Bezüge zu übergeordneten Problemebenen herzustellen, zu deren Kontextualisierung und Differenzierung die einzelnen Fallstudien beitragen können. Ungeachtet mancher Überschneidung lassen sich die Beiträge somit im Wesentlichen drei Komplexen zuordnen, die zugleich einige der Grundfragen der Medien- und Kommunikationsgeschichte abdecken. Die Beiträge des ersten Komplexes widmen sich in vielfältiger Weise den Strukturen und Formen von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit. Einführend bietet der Beitrag von Jürgen Wilke einen konzisen Überblick zur Zeitungslandschaft Thüringens in fast fünf Jahrhunderten, während Johannes

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Mötsch, Tobias Kaiser und Gunther Mai Fallstudien zu bestimmten Periodika vorlegen. Mit dem Tagebuch widmet sich der Aufsatz von Michael Maurer einem ganz anderen Medium und leitet gleichzeitig über zu den Beiträgen von Volker Wahl und Felicitas Marwinski, die sich Kommunikation nicht über ein bestimmtes Medium oder eine bestimmte Thematik, sondern personenbezogen nähern. Daran anknüpfend untersucht Jens-Jörg Riederer die Kommunikationswege in einer bestimmten Geselligkeitsform. Einen Blick auf die Institutionalisierung des Mediengebrauchs werfen schließlich die Beiträge von Alexander Krünes und Konrad Marwinski, während Uwe Schirmer auf eine bestimmte Form der herrschaftlichen Kommunikation im Mittelalter fokussiert. Die Beiträge des zweiten Komplexes nehmen in engerem oder weiterem Sinne Bezug auf die Vermittlung und Inszenierung in und durch Medien und Öffentlichkeit. So verfolgt etwa der Beitrag von Enno Bünz den Weg der Bekanntmachung einer konkreten Nachricht im frühen 16. Jahrhundert, während sich der Beitrag von Holger Böning der außergewöhnlich breiten Zeitungsberichterstattung im Dreißigjährigen Krieg widmet. Eng damit verknüpft fragt Georg Schmidt danach, wie sehr sich Medien und Politik in dieser Zeit gegenseitig beeinflussten. Der Beitrag von Siegrid Westphal beschäftigt sich an einem aufschlussreichen Beispiel mit der historiographischen Vermittlung von Ereignissen und leitet zu dem Beitrag von Stefan Gerber über, der sich mit der Instrumentalisierung von Medien zur öffentlichen Selbstdarstellung auseinandersetzt. Dass jenes Phänomen keine Einbahnstraße ist, sondern immer auch eine Kehrseite aufweist, deuten die Beiträge von Friedemann Pestel und Ronny Schwalbe an, während Reinhold Brunner vor allem die Einflussnahme der Presse auf die öffentliche Meinung thematisiert. Christel Gäbler zeigt überdies auf, dass Medien unterschiedlichste Formen annehmen und diese nicht nur für politische Zwecke, sondern auch mit literarisch-künstlerischen Ambitionen genutzt werden können. Der Beitrag von Rainer Müller demonstriert schließlich am Beispiel städtischer Bautätigkeit, dass öffentliche Inszenierung nicht nur mittels gedruckter Medien, sondern auch im Materiellen sichtbar werden kann. Mit der Reflektion und Erstellung von Konzepten auf übergeordneter Ebene sowie konkreten Interaktionen beschäftigen sich die Beiträge des dritten Komplexes. So untersuchen die Fallstudien von Klaus Ries und Marko Kreutzmann die Reflektion und praktische Handhabung der modernen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, während die Beiträge von Hans-Werner Hahn und Hagen Rüster parallel dazu ähnliche Fragen zur Pressefreiheit in den Blick nehmen. Mit kommunikativen Strategien im höfischen Umfeld beschäftigt sich der Beitrag von Bärbel Raschke, wohingegen Gerhard Müller die Interaktionen zwischen Haeckel und Bismarck nachzeichnet und dabei aufzeigt, wie sich private und öffentliche Ansichten und Meinungen gegenseitig bedingen und innerhalb weniger Jahre verändern können. Einen besonderen Fokus auf Thüringen haben

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schließlich auch die Beiträge von Jürgen John und Joachim Bauer. Sie beschäftigen sich aus juristischer wie historiographischer Sicht mit den identitätsstiftenden Zugriffen auf Medien und Öffentlichkeit. Die beiden letzten Beiträge des Bandes stellen einen Gegenwarts- und Zukunftsbezug her: Der Beitrag von Helmut-Eberhard Paulus zeigt eine Möglichkeit zur aktuellen Verbindung von Geschichtsarbeit und Öffentlichkeit auf und der Beitrag von Reinhart Siegert bilanziert schließlich die jüngsten Erkenntnisse zur Volksaufklärung und bietet konkrete Anregungen für Ansatzpunkte künftiger Forschungszugriffe. Insgesamt wird deutlich, wie vielfältig sich die Strukturen und Formen von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit im Laufe der Jahrhunderte darstellen und wie tief sie zu allen Zeiten in die Gesellschaft hineinwirken. Das Allgemeine kann hier, wie so oft, im Besonderen gefunden werden. Die Erforschung von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit sollte daher sowohl innerhalb als auch zwischen den Disziplinen Brücken schlagen und sich dafür im besten Fall so offen zeigen, wie es Werner Greiling seit Jahren demonstriert.

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Thüringen als Zeitungslandschaft: Anfänge – Phasen – Systemwandel Vorbemerkungen Deutschland, in seiner Verfasstheit der Frühen Neuzeit, hat – 1605 im reichsstädtischen Straßburg – nicht nur die erste periodische (Wochen-)Zeitung hervorgebracht, sondern bald auch das titelreichste und vielfältigste Angebot dieses Mediums aktueller Unterrichtung und Meinungsbildung. Zurückgeführt hat man dies auf den deutschen Territorialismus, die „Kleinstaaterei“, mit den vielen Standorten lokaler Herrschaftsausübung und Gesellschaftsbildung sowie mit deren jeweiligen kulturellen Eigentümlichkeiten. Eine Konsequenz daraus war, dass man nicht nur von verschiedenen natürlichen „Landschaften“ spricht, sondern auch von solchen politisch-föderalistischer und kultureller Art. In Analogie dazu ist auch der Ausdruck „Zeitungslandschaft“ (im weiteren Sinne auch „Medienlandschaft“) in Gebrauch gekommen, ja inzwischen sogar lexikographisch (als Determinativkompositum) verzeichnet, und zwar für die „Menge, Vielfalt von Zeitungen in einem bestimmten [man müsste hinzufügen: topographisch-politischen] Bereich“.1 Dabei ist inzwischen nicht nur von „nationalen“ Zeitungslandschaften die Rede – der deutschen, polnischen, amerikanischen etc. –,2 sondern der Begriff lässt sich auch auf einzelne Regionen beziehen, beispielsweise die Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland. Und er ist nicht nur heutzutage, sondern auch historisch anwendbar. Letzteres soll im Folgenden geschehen, indem exemplarisch die Zeitungslandschaft Thüringens nachgezeichnet wird. Wie hat sich die Zeitungslandschaft in diesem Teil Deutschlands herausgebildet und wie hat sie sich bis in die Gegenwart verändert? Welches waren die Voraussetzungen, die Umstände und die spezifischen Merkmale dieser Veränderung? Pressegeschichte ist in Deutschland großenteils regionalgeschichtlich fundiert worden, und niemand anderes hat dies in den zurückliegenden Jahrzehnten für Thüringen so ausgiebig getan 1 2

„Zeitungslandschaft“ beim Online-Wörterbuch „Wortbedeutung.info“, unter: https:// www.wortbedeutung.info/Zeitungslandschaft (letzter Zugriff: 24.6.2018). Vgl. die Nachweise im Wortschatz-Lexikon der Universität Leipzig, unter: http://corpora. informatik.uni-leipzig.de/de/res?corpusld=deu_newscrawl_2011word=Zeitungslandschaft (letzter Zugriff: 24.6.2018).

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wie Werner Greiling.3 Ihm ist die folgende Darstellung deshalb auch in großen Teilen verpflichtet. Ich beschränke mich schon aus Platzgründen ganz auf die (politische) Zeitung im eigentlichen Sinne, mit den Merkmalen der Aktualität, Publizität, Universalität und Periodizität, und lasse andere Pressemedien (von gewissen Seitenblicken abgesehen) außer Betracht. Allerdings fügen sich die Objekte nicht immer einer trennscharfen Klassifikation. Dabei geht es selbstverständlich nicht um eine Darstellung der Zeitungslandschaft um ihrer selbst willen. Diese indiziert vielmehr, wie die in der betreffenden Region lebenden Menschen mit Stoff zur Unterrichtung versorgt wurden, aus welchen Quellen sie sich informieren und ihr Weltbild formen konnten. Die Zeitungslandschaft erbringt folglich Funktionen gesellschaftlicher Kommunikation. Wie sich die Inhalte, die Ressorts und die formale Aufmachung der Zeitung verändert haben, darauf kann hier allerdings nicht eingegangen werden.4 Da ich einen Zeitraum von sechs Jahrhunderten durchschreiten will, können selbstverständlich nur die Grundlinien herausgearbeitet werden, unter Bezug auf die jeweiligen historischen Randbedingungen. Zu diesen gehört im vorliegenden Fall, dass Thüringen bis ins frühe 20. Jahrhundert kein einheitliches Staatsgebilde war, sondern ein wechselndes Konglomerat von staatlichen Territorien, ja ein „Inbegriff deutscher Kleinstaaterei“.5 Doch hat der bis ins frühe Mittelalter zurück reichende Name dieses Landstrichs als eine die Partikularitäten übergreifende Klammer schon früh Geltung erlangt und behalten. Bereits die früheste einschlägige regionale Synopse des Zeitungswesens stellte 1802 Thüringen in eine Reihe neben Sachsen und Hessen und subsumierte darunter sechs seinerzeit dort bestehende Herzogtümer.6

1. Voraussetzungen und Vorläufer: Newe Zeytung und Messrelation Die grundlegende Voraussetzung für die Entstehung der Zeitung war die Erfindung der Drucktechnik durch Johannes Gutenberg in Mainz um 1450. Allerdings wurden schon vorher Nachrichten in Form von Briefen ausgetauscht, ja 3 4

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Zur Literatur im Einzelnen s.u. Vgl. dazu Jürgen WILKE, Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin/New York 1984. Steffen RAßLOFF, Geschichte Thüringens, München 2010, S. 7. Vgl. Joachim von SCHWARZKOPF, Ueber Zeitungen und Intelligenzblätter in Sachsen, Thüringen, Hessen und einigen angränzenden Gebieten, Gotha 1802.

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auch handschriftlich vervielfältigt, weshalb man von „geschriebenen Zeitungen“ gesprochen hat. Aber erst Gutenbergs Erfindung erlaubte es, solche Nachrichten in größerer Zahl zu produzieren und daraus ein florierendes Geschäft zu machen. Solche gedruckten Nachrichten wurden seit dem frühen 16. Jahrhundert häufig mit dem Titel „Newe Zeytung“ versehen. In zahlreichen Städten des Alten Reichs wurden solche Neuen Zeitungen gedruckt, vor allem in Nürnberg, Augsburg, Prag und Köln.7 Unter den erhaltenen bzw. nachweisbaren Neuen Zeitungen finden sich auch welche, die gewissermaßen am Beginn der thüringischen Pressegeschichte stehen.8 Gedruckt wurden sie in Erfurt, was nicht verwundert, da das Drucken dort schon früh begann und zahlreiche Drucker ihre Offizinen einrichteten. Die ersten Spuren gehen noch bis ins 15. Jahrhundert zurück, namentlich sind Drucker seit 1497 bekannt.9 Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts verzeichnet Reske insgesamt 55.10 Von mindestens sechs von ihnen sind auch Neue Zeitungen überliefert, zunächst von Matthes Maler (1536), dann von Georg Baumann (1556, 1557, 1559, 1560, 1570, 1579), Merten von Dolgen (1560), Melchior Sachse (1572), Johann Beck (1580, 1591, 1595) und Martin Wittel (1593, 1597). Wie typisch für diese Gattung, handelten die Erfurter Neuen Zeitungen, bei denen es sich z.T. um Nachdrucke handelte, von politischen und militärischen Staatsaktionen, aber auch von Wundern und Kuriositäten. Für die Drucker waren es eher Gelegenheitsprodukte in einem größeren Portfolio. Die Spuren noch eines anderen Druckmediums, das üblicherweise zu den Vorstufen der Zeitung gerechnet wird,11 führen nach Erfurt und damit nach Thüringen, und zwar die Messrelation. Dies waren (halb-)jährliche Sammlungen von Nachrichten, die zu den großen Handelsmessen hergestellt und dort vertrieben wurden. Die älteste ist die von Michael von Aitzing 1583 in Köln herausgegebene Relatio historica. Sie erschien (unter veränderten Titeln) fortan regelmäßig und wies daher das Merkmal der Periodizität auf. 1591 folgte eine Messrelation in Frankfurt. Als ihr Verfasser trat ein Jacobus Francus in Erscheinung, was jedoch ein Pseudonym war, hinter dem sich der lutherische Theologe 7

Vgl. Kristina PFARR, Die Neue Zeitung. Eine empirische Untersuchung eines Informationsmediums der frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung von Gewaltdarstellungen, Mainz 1994, S. 76–78. 8 Vgl. Die ersten deutschen Zeitungen, hg. mit einer Bibliographie (1505–1599) von Emil WELLER, Stuttgart 1872 (ND Hildesheim 1962). 9 Vgl. Christoph RESKE, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing, Wiesbaden 2007, S. 200. 10 Vgl. ebd., S. 200–218. 11 Diese Klassifizierung wird wegen der mangelnden Aktualität auch vereinzelt infrage gestellt zugunsten einer Nähe eher zu Chroniken und Jahrbüchern.

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Conrad Lautenbach verbarg. Er stammte aus Thüringen und war in Nordhausen zur Schule gegangen. Vielleicht hatte diese Herkunft Bedeutung dafür, dass 1595 eine Historicae Relationis Continuatio des Jacobus Francus erschien, der Erfurt als Druckort zugeschrieben wird.12 Weitere Ausgaben folgten bis 1607, eine letzte ist 1615 datiert. Als Drucker der Messrelation wird Johann Beck angenommen, der – wie oben erwähnt – in Erfurt schon Neue Zeitungen druckte. Nach den Forschungen von Esther-Beate Körber beschränkte sich Beck jedoch „auf Nachdruck und Neukombination bereits gedruckter Messrelationen aus anderen Verlagen.“13 Er tat dies offenbar aus Kostengründen, um seine Messrelationen billiger anbieten zu können. Zum Verkauf bestimmt waren sie vorderhand auf den Leipziger Frühjahrs- und Herbstmessen, nicht in Erfurt selbst.

2. Regelmäßigkeit der Unterrichtung: Die ersten (periodischen) Zeitungen Nachdem mit der Straßburger Relation (1605) und mit dem Wolfenbütteler Aviso (1609) die ersten periodischen (Wochen-)Zeitungen erschienen waren, folgten solche in den Jahren darauf auch an anderen Orten Deutschlands, in Frankfurt a. M. (1615), Berlin (1617), Hamburg (1618), Hildesheim (1619), Danzig (1619), Stuttgart (1619) etc.14 Wie sich daran zeigt, entstanden sie in drei Arten von Orten: in Freien Reichsstädten, in Residenzstädten und in Handelszentren. Zu den Entstehungsbedingungen dort gehörte nicht nur das Vorhandensein von Druckereien. Ausschlaggebend war ferner die Anbindung an den Postverkehr, über den die Nachrichten, der „Rohstoff“ der Zeitungen, bezogen wurden, der zugleich jedoch auch ihren überörtlichen Vertrieb ermöglichte. Gesellschaftlich musste zudem ein hinreichendes Interesse samt Lesefähigkeit gegeben sein, wenngleich die frühen Zeitungen nicht als Lokalblätter aufgemacht, sondern überregional verbreitet wurden. Angesichts der oben erwähnten Vorstufen überrascht es kaum, dass auch die erste periodische Zeitung Thüringens in Erfurt gegründet wurde. Es dauerte dort jedoch bis Anfang der 1640er Jahre, die ältesten erhaltenen Exemplare 12 Vgl. Relationis Historicae. Ein Bestandsverzeichnis der deutschen Meßrelationen von 1583 bis 1648. Zusammengestellt und eingeleitet von Klaus BENDER, Berlin/New York 1994, Nr. 60, S. 28 u.ö. 13 Esther-Beate KÖRBER, Messrelationen. Geschichte der deutsch- und lateinischsprachigen „messentlichen“ Periodika von 1588 bis 1805, Bremen 2016, S. 125. 14 Vgl. Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben zusammengestellt von Else BOGEL und Elger BLÜHM, 2 Bde., Bremen 1971.

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stammen von 1644.15 Da die Ordinari Wöchentliche PostZeitungen aber weder Druckort noch Drucker nannten, wurden sie wegen einem der Fundorte Braunschweig zugeordnet. Sie können aber aufgrund eines handschriftlichen Eintrags als „erffurtisch“ gelten. Dabei war Erfurt weder Reichs- noch Residenzstadt, hatte aber seit dem hohen Mittelalter eine herausragende Stellung als Handelsund Kulturmetropole erlangt.16 Als Territorium dem Mainzer Erzbistum angegliedert, genoss Erfurt durchaus eine gewisse Autonomie und war als Sitz der 1392 eröffneten Universität ausgezeichnet. In dieser Konstellation kann Erfurt für einen kulturellen Wurzelgrund der Zeitung stehen, wodurch die Stadt selbst Mainz vorausging, da dort erst 1675 erste Zeitungsausgaben belegt sind. Beide Städte waren seit 1616 auch mit Reichspostämtern versehen.17 Erfurt lag an der von Leipzig aus das Thüringer Land durchziehenden Postroute. Es war der 1639 eingesetzte Postmeister Georg Friedrich Breitenbach, der als Herausgeber der ersten periodischen Zeitung in Erfurt auftrat.18 Es handelte sich infolgedessen um eine Postzeitung, genaugenommen die dritte in Deutschland (nach Frankfurt a. M. und Köln), der weitere folgten. Sie sind Postmeistern zu verdanken, die ihre amtliche Stellung nutzten, um aus dem Briefverkehr allgemein interessierende Nachrichten abzuzweigen und vervielfältigen zu lassen. Daraus machten sie gewissermaßen einen Nebenerwerb. Breitenbach hatte das auch schon mit geschriebenen Zeitungen getan. Der Druck aber erlaubte eine ganz andere Verbreitung. Welcher Erfurter Drucker diese Aufgabe erfüllte, ist offen, möglicherweise Jakob Esker, dessen Tätigkeit von 1638 bis 1667 belegt ist, bis zu jenem Jahr, aus dem die letzten Ordinari Wöchentlichen PostZeitungen belegt sind.19 Danach ist die Tradition des Zeitungsdrucks in Erfurt – schon aufgrund der Quellenlage, aber auch aufgrund der typologischen Erscheinung und des Wechsels von Titeln und Offizinen – nur lückenoder sprunghaft nachzuvollziehen.20 Aus dem Jahr 1679 ist Der Continuierte Erfurter Extraordinaire Postreuter bekannt, der im Titel auf ein schon im vorangegangenen Jahrhundert anzutreffendes Druckwerk vom Typ Volkskalender zurückweist, sich dann Geschichts-Kourier nannte und 1697 ein Staats-Bote wurde, als 15 Vgl. ebd., S. 134 f. 16 Vgl. RAßLOFF, Geschichte Thüringens (wie Anm. 5), S. 37 f. 17 Vgl. Wolfgang BEHRINGER, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003, S. 196 u. 201. 18 Ebd., S. 399. 19 Vgl. BOGEL/BLÜHM, Die deutschen Zeitungen (wie Anm. 14), S. 283 f.; RESKE, Die Buchdrucker (wie Anm. 9), S. 213. 20 Vgl. J. BRAUN, Die ältesten Erfurter Zeitungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeitungswesens, in: Deutsche Buchhändlerakademie, hg. von Hermann WEIßBACH, Bd. 2, Weimar 1885, S. 406–416 u. 442–449; Martin WÄHLER, Die Entwicklung des Erfurter Zeitungswesens, Erfurt 1920, S. 14–20.

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Europäischer Geschichts-Kourir fortgesetzt wurde und als Staats-Bote nach 1815 kurzzeitig wieder auflebte.21 Im Übrigen war Erfurt im 17. Jahrhundert nicht nur der erste Thüringer Zeitungstandort, sondern die Stadt lieferte selbst auch Nachrichten für anderswo in Deutschland erscheinende Zeitungen.22 In Thüringen entwickelte sich im 17. Jahrhundert nur langsam und rudimentär eine Zeitungslandschaft. Das fällt auf, wenn man auf die Zeitungsdichte in anderen Regionen des Alten Reiches blickt, beispielsweise im süd(west-) deutsch-alemannischen Raum. In der zweiten Jahrhunderthälfte kamen dagegen in Thüringen Zeitungen nur an zwei anderen Orten hinzu. Für die eine, die Jenaische Privilegirte Zeitung, sind für 1674 sogar nur das herzogliche Privileg an den Verleger nachgewiesen, aber keine der verschollenen Exemplare. Auch in der Folgezeit fehlt es an diesen, wiewohl Pachtstreitigkeiten um das Privileg und Auseinandersetzungen zwischen Verleger, Drucker und Postmeister belegbar sind.23 Die ältesten erhaltenen zwei Exemplare der Zeitung stammen erst aus den Jahren 1729 und 1749. Nicht viel besser ist die Überlieferung für die früheste Zeitung in Gotha. Herausgeber war hier der Buchhändler August Boëthius, gedruckt wurde sie in der Offizin von Christoph Reyher. Doch von den Gothaischen Wöchentlich eingelauffenen Gazetten ist (bisher) ebenfalls lediglich ein einziges Exemplar nachweisbar (aus dem Jahr 1699).24 Die Tradition der beiden hier genannten Blätter lässt sich immerhin bis ins 20. Jahrhundert verfolgen. Dass es zunächst an weiteren Zeitungen in Thüringen mangelte, hatte mit den politischen Umständen zu tun, kam es doch dort im 17. Jahrhundert zu einer zersplitterten Kleinstaatenwelt des höfischen Absolutismus, die jetzt – bedingt durch Landesteilungen – einen Höhepunkt mit zeitweise an die zwei Dutzend Herzog- und Fürstentümern erreichte, darunter zehn der Ernestiner sowie zehn reußische und vier schwarzburgische Grafschaften.25 Zwar lagen im Thüringischen mit Nordhausen und Mühlhausen zwei Freie Reichsstädte, in denen schon Druckereien existierten und wo seit 1630 auch eigene Postämter eingerichtet worden waren.26 Der Zeitungsdruck dort ließ aber auf sich warten.

21 Ebd., S. 23. 22 Vgl. Walter BARTON, Erfurt als Nachrichtenzentrum im 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 48 (1994), S. 93–114. 23 Vgl. Erhardt ALBERT, Die Geschichte der Jenaischen Zeitung, Jena [1935], S. 22–32. 24 Vgl. BOGEL/BLÜHM, Die deutschen Zeitungen (wie Anm. 14), S. 283 f. 25 RAßLOFF, Geschichte Thüringens (wie Anm. 5), S. 41. 26 Vgl. RESKE, Die Buchdrucker (wie Anm. 9), S. 652 f. u. 619–621, ferner BEHRINGER, Im Zeichen des Merkur (wie Anm. 17), S. 210.

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3. Wachstum durch Diversifikation: das 18. Jahrhundert Am Ende des 17. Jahrhunderts gab es im deutschsprachigen Raum ca. 60 bis 70 verschiedene Zeitungen. Ein Jahrhundert später hatte sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Dies hat man als Indiz für ein kräftiges Wachstum der Tagespresse im Alten Reich gewertet. Aber daran hatten dessen einzelne Regionen unterschiedlichen Anteil. Während in manchen Orten sogar schon mehrere konkurrierende Blätter herauskamen (Frankfurt a. M., Hamburg, Köln), herrschten anderswo – wo es an der dafür nötigen Urbanisierung gebrach – weiter blinde Flecken. Sieht man von einer Reihe neuer politischer Zeitungen ab, beispielsweise in Erfurt (1697), Coburg (1747, 1764), Eisenach (1752) und Gera (1795), kam ein Wachstum der Presselandschaft erst durch typologische Diversifizierung zustande, also durch neue Arten periodischer Druckwerke. Zu nennen sind hier – nach französischem Vorbild – zunächst die Intelligenzblätter, also Anzeigenblätter, die sukzessive mit redaktionellem Stoff angereichert wurden. Ihren Aufstieg verdankten sie ihrer ökonomischen Funktion, denn sie waren mit dem staatlichen Anzeigenmonopol ausgestattet und Instrumente merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Zudem wurden sie für amtliche Bekanntmachungen genutzt (im Laufe der Zeit kamen auch belehrende und unterhaltende Beiträge hinzu). Den Anfang machten 1722 die zunächst schon titelprägenden Wöchentlichen Franckfurter Frag- und Anzeigungsnachrichten. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts belief sich die Zahl der Intelligenzblätter in Deutschland auf ca. 200. Darunter waren zahlreiche auch in den thüringischen Fürstentümern und Reichsstädten entstanden, so in Weimar (1734, 1755), Gotha (1751), Eisenach (1752), Altenburg (1754), Meiningen (1763), Coburg (1764), Mühlhausen (1765), Hildburghausen (1766), Nordhausen (1766), Arnstadt (1768), Rudolstadt (1768), Erfurt (1771), Heiligenstadt (1772), Jena (1783), Lobenstein (1784), Kahla (1790), Sondershausen (1795), Gera (1799), Naumburg (1800) und Schmalkalden (1802).27 In der Mehrzahl dieser Orte war das Intelligenzblatt also das erste periodische Medium der Unterrichtung am Ort. Das Interesse der Regenten hatte hieran seinen Anteil, obschon es an einem solchen, was die Privilegierung politischer Zeitungen anbetraf, noch fehlte. Im späten 18. Jahrhundert, schon im Umfeld der Französischen Revolution, erweiterte sich das Presseangebot auch durch eine Art Konvergenz von Bericht27 Vgl. Werner GREILING, Magazine für alle Gattungen der menschlichen Bedürfnisse. Intelligenzblätter in Sachsen und Thüringen, in: Sabine DOERING-MANTEUFFEL/Josef MANČAL/Wolfgang WÜST (Hg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich, Berlin 2001, S. 147–180; DERS., Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verbreitung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/ Weimar/Wien 2003, S. 191–263 u. 604–613.

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erstattung und Volksaufklärung, die auch in Thüringen Fuß fasste. Rudolf Zacharias Becker, einer ihrer Protagonisten, gab ab 1784/95 in Gotha die Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde heraus, einen „Gattungszwitter, eine Kombination von politischer Zeitung und Moralischer Wochenschrift“.28 Von 1789 an wurde noch ein Intelligenzblatt beigegeben, das seit 1791 selbständig als Reichs-Anzeiger erschien. In Erfurt gab Johann Christian Adam Thon 1787/88 unter dem Titel Der räsonierende Dorfkonvent ein volksaufklärerisches Periodikum mit regelmäßigen Zeitungsseiten mit lokalen und internationalen Nachrichten heraus, die in Dialogen erörtert wurden. Und Christian Gotthilf Salzmann nahm in seinem in Schnepfenthal verlegten Boten aus Thüringen (1788–1816) eine Zweiteilung in „redaktionellen“ und „Zeitungsteil“ vor.29

4. Von der Retardierung zur „Entfesselung“: das 19. Jahrhundert In meinen „Grundzügen der Medien- und Kommunikationsgeschichte“ habe ich das 19. Jahrhundert unter das Etikett „Retardierung und Entfesselung“ gestellt.30 Dieses Etikett kann man auch auf Thüringen für sich genommen beziehen. Die Zeitungslandschaft blieb dort lange unterentwickelt, obschon ein Druck- und Verlagswesen schon im 18. Jahrhundert florierte und Periodika mancher Art hervorbrachte.31 Ein Indiz für die Retardierung mag auch sein, dass in den thüringischen Ländern – anders als beispielsweise im benachbarten Kursachsen –32 lange eine eigene Gesetzgebung fehlte, die die reichsrechtlichen Vorschriften zur Zensur und Pressekontrolle ergänzt hätte. Letzteren waren

28 Vgl. Wolfgang MARTENS, „Laßt uns besser werden! Gleich wird’s besser seyn!“ Oder Moral statt Revolution, in: Holger BÖNING (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des 18. Jahrhunderts, München u.a. 1992, S. 275–295, hier S. 275; GREILING, Presse und Öffentlichkeit (wie Anm. 27), S. 180–189. 29 Vgl. Holger BÖNING, Zeitungen für das „Volk“, in: DERS. (Hg.), Französische Revolution (wie Anm. 28), S. 467–534. 30 Vgl. Jürgen WILKE, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, Köln/ Weimar/Wien 22008, S. 154–302. 31 Vgl. Detlef IGNASIAK, Das Buch- und Verlagswesen in Thüringen seit Gutenberg. Versuch einer Zusammenschau, in: DERS./Günter SCHMIDT (Hg.), Beiträge zur Geschichte des Buchdrucks und des Buchgewerbes in Thüringen, Jena 1997, S. 160–178. 32 Vgl. Agatha KOBUCH, Zensur und Aufklärung in Kurachsen. Ideologische Strömungen und politische Meinungen zur Zeit der sächsisch-polnischen Union (1697–1763), Weimar 1988.

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selbstverständlich auch die in Thüringen ansässigen Drucker unterworfen.33 Deren Rechtskraft reichte offenbar hin, sofern es ihrer überhaupt bedurfte und Anlässe vorkamen, sie praktisch anzuwenden. In mehreren Stufen hat dann die Rechtssetzung im 19. Jahrhundert eine Abfolge von Retardierung und Entfesselung im Zeitungswesen bewirkt. War es im Zuge der Aufklärung schon im späten 18. Jahrhundert zu Lockerungen der Pressekontrolle im Reich gekommen, so hatte die Französische Revolution einen Rückschlag ausgelöst, zunächst intern und dann extern, bedingt durch die Herrschaft Napoleons, von dessen Feldzügen gerade Thüringen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Nachdem er vertrieben und 1815 endgültig besiegt war, schien der Spielraum auch für die Pressefreiheit größer zu werden.34 Jedenfalls erließ der Großherzog von Weimar im Mai 1816 eine Verfassung, in der die Pressefreiheit gewährt wurde. Unter diesen Umständen brachte Friedrich Justin Bertuch, der schon zuvor mit mancherlei publizistischen Unternehmungen hervorgetreten war, seit dem 1. Januar 1817 das Oppositions-Blatt oder Weimarische Zeitung heraus, nach dem Urteil von Koszyk „eine moderne politische Zeitung mit für damalige Verhältnisse hervorragender Aktualität“.35 Die Zeitung geriet aber alsbald in Konflikte und musste schon am Ende des ersten Jahres ihr Profil modifizieren, wenn sie auch noch bis 1820 weiter bestand. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Verhältnisse aber stark verändert. Zwar hatte die Bundesakte von 1815 in Artikel 18d einheitliche Regelungen die Presse betreffend in Aussicht gestellt, was von vielen als Freiheitsversprechen gewertet worden war. Doch weil die Obrigkeiten die politische Entwicklung als umstürzlerisch ansahen, wurden durch die Karlsbader Beschlüsse 1819 im Deutschen Bund erneut einheitliche Bestimmungen zur Pressezensur verfügt. Ihnen konnten sich auch die nach dem Wiener Kongress verbliebenen thüringischen Fürstentümer nicht verschließen, zumal laut Exekutionsordnung bei Verstößen gegen Würde und Sicherheit einzelner Mitgliedsstaaten der Bund selbst eingreifen konnte.36 Anlässe für solche Klagen gab es durchaus. Die Karlsbader Beschlüsse 33 Interessant immerhin, dass der Abschied des Kreistags zu Erfurt 1567 sich ausdrücklich gegen „hochschädliche und unwahrhaffte Gedichte“ gerichtet hatte, welche „entweder unter dem Schein neuer Zeitungen oder Paquillen, hin und wieder spargirt werden“, zit. nach Friedrich KAPP, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 1, Leipzig 1886, S. 780. – Da Erfurt Teil des Mainzer Erzbistums war, hatte dort auch das erste deutsche Zensuredikt des Bischofs Berthold von Henneberg 1486 Geltung erlangt. 34 Vgl. Kurt KOSZYK, Geschichte der deutschen Presse, Teil II: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, Berlin 1966, S. 45–53. 35 Ebd., S. 47. Vgl. auch Fritz KÖRNER, Das Zeitungswesen in Weimar (1734–1849). Ein Beitrag zur Zeitungsgeschichte, Leipzig 1920, S. 118–148. 36 Vgl. Werner GREILING, Presse und Revolution in Thüringen 1848–1850, in: HansWerner HAHN/DERS. (Hg.), Die Revolution von 1848/49 in Thüringen. Aktionsräume,

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haben dann eine drei Jahrzehnte währende Unterdrückung der Presse und des geistigen Klimas in Deutschland herbeigeführt. Die Umstände des Vormärz waren jedenfalls für eine Belebung der Zeitungslandschaft nicht günstig. Gleichwohl ist eine Reihe von durchaus langlebigen Zeitungen auch in kleineren thüringischen Orten neu entstanden, so u.a. in Eisenberg (1830), Camburg (1833), Ronneburg (1839), Allstedt (1841), Salzungen (1842) und Waltershausen (1844). In ihrer lokalen Ausrichtung dürften sie kaum politische Ambitionen gehabt und Anstoß erregt haben. Hatte es sich dabei noch eher um vereinzelte Neugründungen gehandelt, so brachte das Revolutionsjahr 1848 einen „Dammbruch“.37 Wie in anderen Bundesstaaten, führten die von Frankreich ausstrahlenden revolutionären Bestrebungen im März 1848 auch in den thüringischen Fürstentümern und Herrschaftsgebieten zur Aufhebung der Zensur und zur Herstellung von Pressefreiheit.38 Infolge dessen lieferten die bis dahin „gefesselten“ Druckerpressen binnen Kurzem eine Flut von Druckwerken. Nach Greiling lassen sich bis 1850 fast 200 selbständig erschienene Periodika zählen.39 Nicht ohne Grund spricht er von „Periodika“, weil es sich um ein ganzes Spektrum von Presseerzeugnissen mit fließenden Grenzen zwischen den Gattungen handelte. Dies erschwert z.T. die typologische Zuordnung. Allein 1848 wurden 100 Periodika in Thüringen neu ins Leben gerufen, 1849/50 kamen nochmals 47 hinzu. In 62 Orten kam zumindest eines heraus, die meisten wieder in Erfurt, vor Naumburg, Gera, Altenburg und Weimar. Neben Zeitschriften, die sich in Inhalt und Aufmachung zeitgemäß ausdifferenzierten, entstanden auch Zeitungen, welche über die Zeitereignisse vor Ort und anderswo in Thüringen und Deutschland berichteten. Nicht wenige Titel zeigten schon mit ihren Titeln an, dass sie volksnahe politische Positionen vertraten.40 Wie bekannt, wurden die revolutionären Ziele letztlich verfehlt, sowohl was die innere Liberalisierung und Demokratisierung als auch was die nationalstaatlichen Hoffnungen in Deutschland anbetraf. Nach dem Scheitern des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments wurden die gewährten Grundrechte wieder aufgehoben. Auch wenn die Vorzensur der Karlsbader Beschlüsse nicht wiederkehrte, so doch die Reglementierung der Zeitungen, die 1854 in den „Allgemeinen Bundesbestimmungen, die Verhältnisse des Missbrauchs der Presse betreffend“

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Handlungsebenen, Wirkungen, Rudolstadt/Jena 1998, S. 475–511, hier S. 478–483; DERS., Presse und Öffentlichkeit (wie Anm. 27), S. 78–95. Vgl. Martin HENKEL/Rolf TAUBERT, Die deutsche Presse 1848–1850. Eine Bibliographie, München u.a. 1986. Vgl. GREILING, Presse und Revolution (wie Anm. 36), S. 483–485. Ebd., S. 487. Vgl. auch die Übersicht bei GREILING, Presse und Öffentlichkeit (wie Anm. 27), S. 715–728. Vgl. GREILING, Presse und Revolution (wie Anm. 36), S. 490 f.

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ihren Niederschlag fand. So konnte die im Revolutionsklima aufgekeimte zeitweilige Blüte der thüringischen Zeitungslandschaft nicht auf Dauer anhalten. Dennoch überlebten manche der 1848/1850er-Gründungen bis ins 20. Jahrhundert, unter z.T. anderen Namen wie Apoldaer Zeitung, Buttstädter Zeitung, Coburger Tageblatt, Meininger Tageblatt, Weidaer Zeitung, Allgemeine Thüringische Landeszeitung „Deutschland“ (Weimar), Thüringer Allgemeine Zeitung (Erfurt). Und auch in den 1860er Jahren kamen wieder einzelne Neugründungen hinzu.

5. Vorherrschaft der „Kleinstadtzeitung“ in Kaiserreich und Weimarer Republik Die Reichsgründung 1871 bedeutete einen Einschnitt nicht nur in der deutschen Nationalgeschichte, sie hatte auch Folgen für das Pressewesen. Jetzt fielen die zuvor noch bestehenden Hemmnisse der Pressefreiheit. Sie wurde 1874 im Reichspressegesetz festgeschrieben. Auch die ökonomischen Antriebskräfte und die gesellschaftliche Dynamik griffen um sich. Obschon die lange vorhandenen Grenzen wegfielen, blieben alte föderalistische Strukturen erhalten. So existierten in Thüringen immer noch acht Kleinstaaten. Überdies waren Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen (Provinz Sachsen) sowie Schmalkalden (Provinz Hessen-Nassau) längst preußisch. Wie in anderen Teilen des Reiches auch, nahm die Zeitungslandschaft in Thüringen aber einen weiteren Aufschwung. Dieser führte zur Vorherrschaft eines Zeitungstyps, den man als besonders charakteristisch gerade für diese Region deklariert hat: die Kleinstadtzeitung. Richter hat darunter alle diejenigen Zeitungen begriffen, „die in Kleinstädten und anderen Orten mit einer Einwohnerzahl bis zu 20.000 erscheinen.“41 Als „Landzeitungen“ bezeichnete er solche in Landstädten mit bis zu 5.000 Einwohnern. Charakteristischerweise handle es sich um Lokal- und Heimatzeitungen, die örtlichen und bezirklichen Bedürfnissen dienten. Entsprechend wurden sie an ihren jeweiligen Erscheinungsorten und in deren Umgebung gelesen. Ausdrücklich sprach Richter von der „Kärglichkeit“ des Inhalts.42 Zeitungen dieses Typs waren in Thüringen schon im Vormärz gegründet worden (s.o.), weitere 1848 (Weidaer Zeitung), die Mehrzahl aber – so Richter – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: in den 1860er Jahren in Eisfeld, Ruhla und Schmölln, in den 1870ern u.a. in Blankenhain und Friedrichsroda, in den 1880ern in Meiningen, Sonneberg und Schmalkalden, in den 1890ern in Bad Liebenstein und Triptis. Aber solche 41 Edgar RICHTER, Die deutsche Kleinstadtzeitung unter besonderer Berücksichtigung thüringischer Verhältnisse, Roda 1922, S. 3. 42 Ebd., S. 10.

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Zeitungen entstanden dort auch noch nach der Jahrhundertwende, bis in die 1920er Jahre. Eine statistische Übersicht über die Thüringer Zeitungslandschaft ermöglicht erst ein Verzeichnis kurz vor dem Ende des Kaiserreichs. Es wurde 1917 vom Kriegspresseamt zusammengestellt und dokumentiert die deutsche Tagespresse mitten im Ersten Weltkrieg (wobei auch Amtsblätter erfasst wurden), durch den die Zahl der Zeitungen und die Auflagen geschrumpft waren.43 In den acht thüringischen Kleinstaaten wurden demnach 112 Zeitungen gezählt (wozu diejenigen in den preußischen Provinzen noch hinzuzurechnen wären). Die meisten Titel erschienen seinerzeit in Sachsen-Weimar-Eisenach (27) und Sachsen-Meiningen (23), die wenigsten in Reuß ä.L. (5) und in Reuß j.L. (9). 63 erschienen täglich, 49 nicht täglich. Wenn man der politischen Klassifikation glauben darf, so wurden die meisten – nämlich 63 – als parteilos eingestuft, 12 als nationalliberal, 11 als freisinnig, neun als national, vier als sozialdemokratisch und zwei als deutschkonservativ. Die Auflagen reichten von mehreren hundert bis zu 18.000 Exemplaren. Mit dem Ende des Kaiserreichs vollzog sich nach dem verlorenen Krieg 1919 ein politischer Systemwechsel. Eine konstitutionelle Monarchie wurde von einer Republik abgelöst. Dadurch veränderten sich die Herrschaftsstrukturen grundlegend, doch waren diese in den Folgejahren erbittert umkämpft. Zwar erhielt die Weimarer Reichsverfassung eine Garantie der Meinungsfreiheit, sicherte aber nicht eigens die Pressefreiheit. Deren Missbrauch durch die politischen Extremisten von links und rechts ließ sich nur schwer eindämmen. Gleichwohl, die Tagespresse des Kaiserreichs überlebte großenteils den politischen Systemwechsel. Das gilt auch für Thüringen, wo die meisten der angestammten Tageszeitungen ihre Stellung behielten und die „Vorherrschaft“ der Kleinstadtzeitungen fortbestand. Daran änderte auch die 1920 endlich erfolgte Gründung Thüringens als „Freistaat“ nichts.44 Einer 1924 gemachten amtlichen Erhebung zufolge, die auf einer Auswertung von Katalogen von Annoncenexpeditionen und der Postpreisliste basierte, wurden zu diesem Zeitpunkt in Thüringen 131 Zeitungen gezählt (wobei man sich auf die in einigen Fällen gewiss problematische gattungstypologische Selbsteinstufung der Verlage bzw. Herausgeber verließ).45 Gut ein Viertel (35) wurde in Stadtkreisen gedruckt, die Mehrheit in den Landkreisen. Weimar, seit der Landesgründung 1920 Hauptstadt des Freistaats Thüringen, besaß mit acht 43 Vgl. Handbuch deutscher Zeitungen 1917. Bearb. im Kriegspresseamt von Rittmeister a.D. Oskar MICHEL, Berlin 1917. 44 Vgl. RAßLOFF, Geschichte Thüringens (wie Anm. 5), S. 78–81. 45 Vgl. Paul MOMMER, Thüringische Zeitungen und Zeitschriften nach dem Stande vom 1. April 1924, in: Vierteljahresberichte des Thüringischen Statistischen Landesamts in Weimar 3 (1924), S. 254–269.

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Zeitungen den höchsten Anteil. Fünf der 1924 bestehenden Zeitungen waren nach eigenen Angaben bereits vor 1800 gegründet worden, 35 in der Zeit von 1800 bis 1869, also fast ein Drittel vor 1870. Fünf Zeitungen entstammten noch dem Jahr 1848. 39 Prozent waren zwischen 1870 und 1899 entstanden, je 20 in den Zeiträumen 1899 bis 1917 und 1918 bis 1924. Die Erhebung bestätigte das Vorherrschen „bürgerlicher“ Blätter ohne ausgesprochene parteipolitische Richtung, gefolgt von „nationalen“ und „rechtsgerichteten“. Lediglich acht waren sozialdemokratisch orientiert, zwei kommunistisch. Die Hälfte der Zeitungen, die Angaben dazu machten (insgesamt 115), hatten eine Auflage von bis zu 2.000 Exemplaren (57), acht sogar weniger als 500 Exemplare. Gut ein Fünftel der Zeitungen (26) nannten Auflagen zwischen 2.000 und 5.000 Exemplaren und ein Viertel zwischen 5.000 und 20.000 Exemplaren (29). Lediglich drei druckten pro Erscheinungsintervall mehr als 20.000 Stück. Vergleicht man das „Handbuch der deutschen Zeitungen“ von 1917 mit dem „Jahrbuch der Tagespresse“ von 1930, so zeigt sich, dass zwar einige Titel in der Zwischenzeit weggefallen waren, dass es aber auch noch Neugründungen gab. Dazu gehörten beispielsweise die Friedrichsrodaer Rundschau (1926, republikanisch), die Geraer Nachrichten (1927, national) und die Lobensteiner Zeitung (1928, parteilos). Wegen der geringen Auflagen waren die Kleinstadtzeitungen nicht selten wirtschaftlich gefährdet und ihre publizistische Leistung bescheiden. Auch von den thüringischen Blättern dieses Typs dürften manche in Abhängigkeit von dem rechtsgerichteten Hugenberg-Konzern geraten sein, der einen unseligen Einfluss auf die deutsche Presse ausübte.

6. Unter NS-Druck im Dritten Reich Im Dritten Reich geriet die thüringische Zeitungslandschaft unter den Druck des nationalsozialistischen Regimes. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann in Deutschland die „Machtergreifung“ durch die NSDAP. Um diese in der Öffentlichkeit durchzusetzen, bedienten sich der „Führer“ und seine Partei insbesondere der Presse (und der anderen Massenmedien). Propaganda war ein inhärenter Bestandteil ihrer Ideologie. Auf dieses Ziel hatte man bereits seit den Anfängen der Weimarer Republik hingearbeitet. Einen ersten formellen Schritt zur „Machtergreifung“ hatten die Nazis in Thüringen tun können, als Anfang 1930 zwei Parteigrößen Funktionen in der Landesregierung übernahmen. Zwar wurden sie am 1. Juli 1931 ihrer Ämter wieder enthoben, in der Landtagswahl ein Jahr später erhielt die NSDAP aber den höchsten Stimmenanteil und wurde zur dominierenden Kraft der neuen Landesregierung. Unter Gauleiter Wilhelm Sauckel sollte Thüringen jetzt zum

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deutschen „Mustergau“ umgebaut werden.46 Betroffen war davon auch die Zeitungslandschaft. Schon Jahre vor der „Machtergreifung“ hatte die NSDAP ihre parteieigene Presse aufgebaut. Zwischen 1925 und 1933 gab es bereits 336 NS-Zeitungen, von denen jedoch ein Drittel wieder einging. In der Mehrzahl handelte es sich um Wochenzeitungen, doch nahm der Anteil der Tageszeitungen seit 1930 stark zu. Im Gau Thüringen verfügte die NSDAP vor 1933 über 12 Zeitungen. Als erste war in Weimar bereits 1924 Der Nationalsozialist gegründet worden. Später kamen Gauzeitungen in Altenburg, Erfurt, Gera, Gotha, Meiningen, Rudolstadt, Saalfeld, Sonneberg, Steinbach-Hallenberg und Suhl hinzu.47 Der von den Nationalsozialisten seit 1933 betriebene Umbau des deutschen Pressewesens wirkte sich auch auf Thüringen aus. Dies zeigt sich, wenn man die Einträge im „Jahrbuch der Tagespresse“ von 1930 (3. Jg.)48 mit denen im „Handbuch der deutschen Tagespresse“ von 1934 (5. Aufl.) vergleicht.49 Von einzelnen Randerscheinungen abgesehen, existierte 1934 der Großteil der vier Jahre vorher vorhandenen Zeitungen noch. Aber zwei deutliche Veränderungen lassen sich feststellen: Von der Bildfläche verschwunden sind einerseits die sozialdemokratischen Zeitungen, die aufgrund des „Gesetzes über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens“ vom 14.7.1933 eingestellt worden waren. Deshalb mussten in Thüringen sieben sozialdemokratische Zeitungen (und eine sozialistische), die sich häufig im Titel „Volkszeitungen“ nannten, das Feld räumen, und zwar in Altenburg, Apolda, Eisenach, Erfurt, Gotha, Jena, Saalfeld, Sondershausen und Sonneberg. An die Stelle der früheren Gaublätter war als amtliches Organ der NSDAP die Thüringische Staatszeitung getreten, die jetzt über eigene Ausgaben in Altenburg, Apolda, Eisenach, Gera, Gotha, Greiz, Jena, Meiningen, Erfurt, Mühlhausen und Weimar verfügte. Darüber hinaus bestand in Saalfeld noch ein amtliches Organ der NSDAP. Die Parteizeitungen waren demnach praktisch flächendeckend verbreitet, zumal in Thüringen selbstverständlich auch das Zentralorgan der Partei (Völkischer Beobachter) gelesen wurde. Mit dieser Verbreitung konnten die anderen oft kleinauflagigen Zeitungen nicht konkurrieren. Im Großen und Ganzen sah die thüringische Zeitungslandschaft auch drei Jahre später noch ähnlich aus. Zwar waren einige schon zuvor kaum lebensfähige Blätter eingegangen, die Mehrzahl aber existierte noch. Allerdings hatte sich der Anteil der NS-Zeitungen erhöht, wie der 6. Auflage des „Handbuchs der 46 Vgl. RAßLOFF, Geschichte Thüringens (wie Anm. 5), S. 86–95. 47 Vgl. Peter STEIN, Die NS-Gaupresse 1925–1933. Forschungsbericht – Quellenkritik – neue Bestandsaufnahme, München u.a. 1987, S. 215 f. 48 Jahrbuch der Tagespresse 3 (1930). 49 Handbuch der deutschen Tagespresse, hg. vom Deutschen Institut für Zeitungskunde, Berlin 51934.

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deutschen Tagespresse“ von 1937 zu entnehmen ist. Als amtliches Organ der NSDAP und der Thüringischen Landesregierung erschien die Thüringer Gauzeitung mit Ausgaben für Altenburg, Eisenach, Erfurt, Gotha, Mühlhausen, Jena, Gera, Rudolstadt und Saalfeld, ferner die Thüringer Tageszeitung als parteiamtliches Mitteilungsblatt in Hildburghausen mit Ausgaben für Meiningen, Sonneberg, Suhl und Zellla-Mehlis sowie Schmalkalden. Im Zweiten Weltkrieg kam es dann zu einer drastischen Schrumpfung. Das dokumentiert die noch 1944 vorgelegte 7. Auflage des „Handbuchs der Tagespresse“. Bis zum Zeitpunkt der Zählungen durch das Berliner Institut für Zeitungswissenschaft (1.10.1943) hatte sich die Zahl der Tageszeitungen in Deutschland (einschließlich Nebenausgaben) insgesamt von 2.527 (1937) auf 1.246 (1.1.1942) und 988 (1.10.1943) (mehr als) halbiert, in Thüringen von 99 auf 52 und schließlich 42.50 Mehrere Zeitungen hatten auf amtliche Anweisung zum 31.3.1943 ganz eingestellt werden müssen (z.B. Eisenacher Tagespost, Schleizer Zeitung, Weidaer Zeitung). Größer war aber noch die Anzahl der Fälle, in denen zum 1.4.1943 Titel zusammengelegt und zumeist nur als Ausgaben der NS-eigenen Thüringer Gauzeitung weitergeführt wurden.51 Damit war die politische Gleichschaltung weitgehend hergestellt.

7. Zentralisierung und Instrumentalisierung in der DDR Wiewohl es 1945 in Deutschland zu einem grundlegenden politischen Umbruch kam, sollte die thüringische Zeitungslandschaft fortan weiter einer Zwangsherrschaft unterworfen bleiben, die sie daran hinderte, sich frei zu entfalten. Das hatte damit zu tun, dass das Land nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft (Kapitulation am 8. Mai 1945) unter die Kontrolle der alliierten Besatzungsmächte geriet. Sie bestimmten erst einmal die Direktiven für den Wiederaufbau. Während die Amerikaner, Engländer und Franzosen sich an den Leitprinzipien westlicher Demokratien orientierten, worauf die spätere Bundesrepublik mit einem freien Pressewesen gründete, handelte die Sowjetunion nach dem eigenen staatssozialistischen Modell mit diktatorischen Zügen. Ihm inhärent war, dass Zeitungen (und die anderen Medien) Instrumente staatlicher Lenkung und Indoktrination waren. Dafür bediente man sich eines eigenen Apparats und verschiedenster Mittel, beispielsweise direkter Presse50 Vgl. Handbuch der deutschen Tagespresse, hg. vom Institut für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin, Leipzig/Frankfurt a. M. 61937, S. XXI; Handbuch der deutschen Tagespresse, hg. vom Institut für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin, Leipzig 71944, S. XXVIII–XXX. 51 Vgl. ebd., S. 251–266.

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anweisungen.52 Und dies obzwar in der Verfassung der DDR formal die Pressefreiheit zugesichert war. Ideologisch beruhte dieses System auf dem MarxismusLeninismus mit einer eigenen Pressetheorie. Allerdings war in den ersten Nachkriegsmonaten in der sowjetischen Besatzungszone und mit Genehmigung der örtlichen Militärbefehlshaber noch eine Reihe von Zeitungen spontan wieder oder neu ins Leben gerufen worden.53 Sie gingen überwiegend aus lokalen antifaschistischen Initiativen hervor. Ihren Schwerpunkt hatten sie in Sachsen, doch gab es solche auch in Thüringen (so in Eisleben und Altenburg), das im April 1945 zunächst von US-amerikanischen Truppen besetzt worden war. Diese räumten das Gebiet dann im Tausch gegen einen Sektor in der alten Reichshauptstadt Berlin – eine folgenreiche Entscheidung. Seit Juli 1945 gehörte Thüringen nämlich zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und wurde infolgedessen Teil der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR).54 Das kurze Wiederaufleben einer ostdeutschen Lokalpresse endete mit der Errichtung der zentralen Sowjetischen Militäradministration (SMAD), die nicht nur die maßgeblichen politischen Entscheidungen traf, sondern auch die Prinzipien für die Organisation des Pressewesens vorgab.55 Hauptgedanke war, Lizenzen nicht an Einzelpersonen zu vergeben, wie das in den Westzonen geschah, sondern nur an Kollektive, insbesondere die Parteien. Zeitungmachen sollte nicht wieder als privates Erwerbsunternehmen betrieben werden. Während bis zur Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 die westlichen Alliierten 126 Lizenzen vergaben (ohne Berlin-West und das Saarland), waren das auf dem Territorium der DDR nur 32 (ohne Berlin-Ost). In Thüringen wurden sechs Zeitungen lizenziert, allesamt mit Sitz in Weimar: eine der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) (Thüringer Volkszeitung), eine der LiberalDemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) (Thüringische Volkszeitung), eine der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) (Tribüne) und eine der Christlich-Demokratischen Union (CDU) (Thüringer Tageblatt). Als einzige unabhängige Zeitung erhielt die Abendpost eine Lizenz, sie wurde jedoch am 31.3.1951 eingestellt. Nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) wurden auch deren Zeitungen zum Thüringer Volk zusammengelegt. Außer solchen Regionalzeitungen ver52 Vgl. Jürgen WILKE, Presseanweisungen im zwanzigsten Jahrhundert. Erster Weltkrieg – Drittes Reich – DDR, Köln/Weimar/Wien 2007. 53 Vgl. Stefan MATYSIAK, Das kurzfristige Wiederaufleben einer ostdeutschen Lokalpresse im Frühjahr/Sommer 1945, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 6 (2004), S. 157–194. 54 Vgl. RAßLOFF, Geschichte Thüringens (wie Anm. 5), S. 95–105. 55 Vgl. Kurt KOSZYK, Geschichte der deutschen Presse, Teil IV: Pressepolitik für Deutsche 1945–1949, Berlin 1986, S. 325–363.

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fügten die Parteien auch über überregionale Organe, die in Thüringen bezogen werden konnten. Kennzeichnend für die DDR-Presse war die Zentralisierung. 1952 hatte man die bis dahin noch bestehenden Länder abgeschafft bzw. zu 15 Bezirken (mit einer unterschiedlichen Zahl von Kreisen) herabgestuft. Seitdem verfügte die SED in Thüringen über drei Bezirkszeitungen: das Freie Wort (Suhl) (mit acht Kreisausgaben), Das Volk (Weimar) (mit 13 Kreisausgaben) und die Volkswacht (Gera) (mit 13 Kreisausgaben). Die übrigen Parteien besaßen je eine Zeitung, die NDPD die Thüringer Neuesten Nachrichten (Gera) (mit fünf Kreisausgaben), die CDU das Thüringer Tageblatt (Weimar) (mit sechs Kreisausgaben) und die LDPD die Thüringische Landeszeitung (Weimar) (mit sieben Kreisausgaben).56 Diese Aufzählung belegt das Übergewicht der SED-Presse gegenüber jener der mit ihr in der Nationalen Front verbundenen Blockparteien. Dies schlug sich auch in den unterschiedlichen Auflagenhöhen nieder, die aus den Zuweisungen des kontingentierten Druckpapiers resultierten. Während die drei SED-Bezirkszeitungen 1989 zusammen eine Auflage von mehr als 800.000 Exemplaren erreichten, belief sich die der drei anderen Parteien zusammen genommen auf 230.000 Exemplare.

8. Begrenzte Vielfalt trotz Pressefreiheit nach der Wiedervereinigung Vier Jahrzehnte war die Zeitungslandschaft der DDR stabil gewesen und hatte der Stabilität des kommunistischen Herrschaftssystems gedient. Als 1989 mit der „friedlichen Revolution“ dieses Herrschaftssystem zu zerbrechen begann, leitete dies für die Zeitungen (und die anderen Medien) abermals einen Systemwandel ein. Dieser setzte ein noch bevor mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 deren Rechtsverhältnisse dort Geltung erlangten.57 Die Veränderungen der Zeitungslandschaft vollzogen sich auch in Thüringen, das als Bundesland wiedererstand – und zwar in mehreren, sich überschneidenden Phasen. Schon im Januar 1990 lösten sich die Redaktionen der SED-Bezirkszeitungen aus ihrer Parteibindung und versuchten auf eigene Faust weiter zu existieren. Gleichzeitig wurden westdeutsche Zeitungsverlage aktiv, boten grenznah ihre Blätter (mit zusätzlichen Seiten) an oder stellten ortsbezogene Ausgaben her. Rasch kam es zu west-östlichen Kooperationen, die sich auf verschiedene Bereiche der Zeitungsproduktion und des Absatzes 56 Vgl. Handbuch der demokratischen Presse, hg. vom Verband der Deutschen Presse, Berlin 1955, S. 75–89. 57 Vgl. RAßLOFF, Geschichte Thüringens (wie Anm. 5), S. 105–112.

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erstreckten. Hinzu kamen in dem politischen und gesellschaftlichen Aufbruch Neugründungen. Im Sommer 1990 waren zwölf westdeutsche Verlage aus Bayern, Hessen und Niedersachsen mit eigenen Titeln in Thüringen präsent.58 Der laut Einigungsvertrag zur Privatisierung des volkseigenen Vermögens errichteten Treuhandanstalt fiel nach der Wiedervereinigung auch die Aufgabe zu, neue Eigentümer für die Zeitungsverlage zu finden bzw. diese zu verkaufen. Dies sollte in einem Verfahren nach bestimmten Kriterien geschehen. Während dies in den anderen neuen Bundesländern weitgehend nach Plan verlief, wurde Thüringen zu einem Sonderfall. Hier gelang es nämlich der Gruppe der mit Hauptsitz in Essen beheimateten Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) Fakten zu schaffen. Die WAZ wollte sich nicht mit einer maßgeblichen Beteiligung nur an der Thüringer Allgemeinen (Erfurt) begnügen, sondern darüber hinaus bei den Ostthüringer Nachrichten (ehemals Das Volk) in Gera einsteigen. Der Mutterkonzern inszenierte gewissermaßen eine eigenmächtige Übernahme unter dem neuen Titel Ostthüringer Zeitung und trat damit an die Stelle des SED-Vorgängerblatts. Dieses fait accompli ließ sich nicht mehr rückgängig machen und lediglich nachträglich in einem Vergleich formal „bereinigen“. Während die dritte SEDBezirkszeitung Freies Wort (Suhl) von der Coburger Neuen Presse übernommen wurde, so das Thüringer Tageblatt (ehemals CDU) von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Thüringer Neuesten Nachrichten (ehemals NDPD) wurden schon im Mai 1990 eingestellt und gingen in der Thüringischen Landeszeitung (ehemals LDPD) auf, die ihrerseits an den WAZ-Konzern (inzwischen Funke-Mediengruppe) überging, als Bestandteil der Thüringer Zeitungsgruppe. Als Ergebnis dieses Privatisierungsprozesses der DDR-Zeitungslandschaft ist festzuhalten, dass diese heute einen größeren Konzentrationsgrad aufweist als dies in den alten Bundesländern der Fall ist.59 Strukturell hat man geradezu von einem Weiterleben der SED-Bezirkspresse gesprochen. Das gilt zumal für Thüringen. Die erwähnten, kurz nach der „Wende“ entstandenen Ableger meist grenznaher westdeutscher Tageszeitungen hatten sich nicht dauerhaft etablieren können, die Mitteldeutsche Allgemeine (Ableger der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen, Kassel) so wenig wie die Thüringer Tagespost (Ableger des Westfalenblatts, Bielefeld). Es war ihnen nicht gelungen, die notwendigen Vertriebs- und Anzeigenerlöse zu erzielen. Verblieben sind schließlich unter neuer Führung lediglich (unter z.T. neuen bzw. wieder aufgenommenen alten Titeln) die ehemaligen SED-Bezirkszeitun58 Vgl. Walter J. SCHÜTZ, Grenzübergang – zur Erweiterung des Zeitungsangebots in der DDR, in: BUNDESVERBAND DEUTSCHER ZEITUNGSVERLEGER E.V., Zeitungen, Bonn 1990, S. 30–49. 59 Vgl. zum Folgenden Beate SCHNEIDER/Dieter STÜRZEBECHER, Wenn das Blatt sich wendet. Die Tagespresse in den neuen Bundesländern, Baden-Baden 1998; Heinz PÜRER/Johannes RAABE, Presse in Deutschland, Konstanz 32007, S. 211–225.

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gen, die Thüringer Allgemeine (mit 14 Ausgaben), die Ostthüringer Zeitung (mit zwölf Ausgaben), das Freie Wort (mit zehn Ausgaben, darunter die 2012 auch in den Verlag übernommenen zwei Ausgaben der Südthüringer Zeitung) und die Thüringische Landeszeitung (mit acht Ausgaben).60 Die lokale Versorgung drückt sich in den 44 Lokalausgaben (mit ortsbezogenen Titeln) aus und entspricht paradoxerweise der Zeitungsdichte wie zuletzt im Dritten Reich. In der Mehrzahl der thüringischen Gebietskörperschaften (Landkreise und kreisfreie Städte) erscheint (2012) nur noch eine Zeitung mit lokaler Berichterstattung (Lokalmonopol); eine Wahl zwischen zwei verschiedenen gibt es noch in Eisenach, Erfurt, Gera, Gotha, Heiligenstadt, Ilmenau, Jena, Schmalkalden, Mühlhausen und Weimar.61 Für diesen Zustand ist die Verkaufspolitik der Treuhandanstalt verantwortlich gemacht und kritisiert worden. So steht die Thüringer Zeitungslandschaft heute zwar unter der Prämisse der im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantierten Pressefreiheit, weist aber nur begrenzte publizistische Vielfalt auf, wenn man darunter das Angebot möglichst vieler voneinander unabhängiger Anbieter im Tageszeitungsmarkt versteht. Andererseits können die Großverlage heute publizistische Leistungen erbringen, wie es den früheren „Kleinstadtzeitungen“ in Thüringen nicht möglich gewesen war. Doch sind auch diese Leistungen durch die Bedingungen eines mittlerweile „alten“ Mediums bestimmt, das durch „neue Medien“ zukünftig in seiner Existenz bedroht scheint.

Resümee Die thüringische Zeitunglandschaft war in den mehr als fünf Jahrhunderten seit ihren Anfängen großen Veränderungen unterworfen. Zwar waren erste Vorläufer (Newe Zeytung, Messrelation) schon bald aufgetreten, nachdem die Drucktechnik als Voraussetzung vorhanden war. Aber zunächst wurden damit solche Medien in Thüringen eher produziert als rezipiert. Eine eigene Zeitungslandschaft bildete sich dort seit dem 17. Jahrhundert nur langsam heraus und blieb lange Zeit rudimentär. Das hatte mit der sozialgeografischen Kleinräumigkeit und der politischen Zersplitterung Thüringens zu tun. Diese blieben die prägenden Determinanten der Zeitungslandschaft, auch wenn sie andererseits kulturelle Vielfalt zur Folge hatte, die auch die Presseproduktion befruchtete. In Thüringen fehlten Orte, die als urbane Mittelpunkte zugleich Medienzentren hätten werden können. Das hatte nicht nur mit der geringen Bevölkerungsdichte zu 60 Vgl. Walter J. SCHÜTZ, Zeitungen in Deutschland. Verlage und ihr publizistisches Angebot 1949–2012. Unter Mitarbeit von Dieter STÜRZEBECHER, Berlin 2016, S. 204–208. 61 Ebd., S. 292 f.

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tun, sondern auch mit den wirtschaftlichen Verhältnissen und dem Fehlen von Absatzmärkten. Letzteres betraf außer den Vertriebsmöglichkeiten der Zeitungen auch die Anzeigenerlöse, die das Wachstum der Zeitungen seit dem 19. Jahrhundert wesentlich förderten. Wenn überhaupt, so besaß Thüringen allenfalls in Erfurt ein „Medienzentrum“, eine Stadt, die aber ein Sonderfall war.62 Eine „Entfesselung“ der Zeitungslandschaft setzte in Thüringen – wie in anderen Teilen Deutschlands – erst im 19. Jahrhundert ein, zunächst 1848, dauerhaft aber erst nach der Reichsgründung. Zahlreiche Orte, in denen es bis dahin keine Zeitungen (oder allenfalls Intelligenzblätter) gegeben hatte, erhielten jetzt solche, und zwar mit stark lokalem Bezug und den Verbreitungsgebieten entsprechend niedrigen Auflagen. Die „Kleinstadtzeitung“ wurde zum beherrschenden Typ. Im 20. Jahrhundert erlebte die thüringische Zeitungslandschaft dann binnen weniger Jahrzehnte mehrere Brüche. Seit der Bildung des Freistaats 1920 existierte zwar nicht mehr die traditionelle politische Kleinstaaterei, aber deren Folgen bestanden in der Zeitungslandschaft fort. So wirkte sich die Ablösung des Kaiserreichs durch die Weimarer Republik zumindest strukturell auf die Zeitungslandschaft auch nicht weiter aus. Anders war dies dann schon nach 1933, als die Zeitungslandschaft unter den Druck der nationalsozialistischen Herrschaft geriet und sukzessive der Versuch einer „Gleichschaltung“ unternommen wurde. Dem Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 folgte in Thüringen, da der Landstrich zur Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) und dann zur DDR gehörte, ein radikaler Neuanfang mit einer jetzt staatssozialistisch zentralisierten und gelenkten Presse. Und durch die deutsche Wiedervereinigung 1990 kam es im 20. Jahrhundert noch ein weiteres Mal zu einem Umbruch in der thüringischen Zeitungslandschaft. Dabei hat sich nochmals gezeigt, dass auch bei einem politischen Systemwandel strukturelle Merkmale der Zeitungslandschaft, jetzt unter den ganz anderen Prämissen einer freiheitlichen Demokratie, fortexistieren können.

62 Vgl. Werner GREILING, „Ist ein Land klein und nicht arrondiert…“. Erfurts Platz in der thüringischen Medienlandschaft, in: Dirk SANGMEISTER/Martin MULSOW (Hg.), Subversive Literatur. Erfurter Autoren und Verlage im Zeitalter der Französischen Revolution (1780–1806), Göttingen 2014, S. 73–92.

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Postskriptum: Droht in Thüringen das Ende der gedruckten Zeitung? Nach dem Abschluss des vorstehenden Aufsatzes sind Anzeichen für einen neuerlichen Wandel in der Zeitungslandschaft Thüringens aufgetreten. Am 7. Februar 2019 veröffentlichte die Funke-Mediengruppe, die Inhaberin der Thüringer Allgemeinen, der Thüringischen Landeszeitung und der Ostthüringer Zeitung, eine Pressemeldung, der zu Folge der Verlag einen Umstieg auf ausschließlich digitale Zeitungen prüfe.63 Dies würde bedeuten, dass es künftig keine gedruckten Exemplare dieser Zeitungen (Auflage zusammen ca. 240.000) mehr geben könnte, sondern diese nur noch im Internet zu lesen wären. Damit würde in Thüringen eine Entwicklung Platz greifen, die seit der rasanten Ausbreitung des Internets die vorhandenen Druckmedien in ihrer bisherigen Existenz bedroht. Die neue Technologie hat die Zeitungen dazu gezwungen, im Netz mit eigenen Angeboten präsent zu sein. Dies ist inzwischen auf breiter Front geschehen, ohne dass allerdings eine angemessene Refinanzierung dieser Angebote gelungen ist. Die Funke-Mediengruppe hat vor allem finanzielle Gründe für den in Aussicht genommenen Umstieg genannt. Die Papierpreise und die Kosten für die Zustellung (durch Mindestlöhne) hätten sich drastisch erhöht. Beide Kostenstellen würden bei einer lediglich elektronischen Produktion wegfallen. Angeblich soll dadurch die publizistische Leistung aber nicht leiden: „Wir schaffen ein Umfeld,“ so heißt es, „in dem unabhängiger und professioneller Regional- und Lokaljournalismus gedeihen kann.“ Gerade dies wurde allerdings in der überwiegend negativen Resonanz auf die Pressemeldung in Politik, Öffentlichkeit und journalistischem Berufsstand in Zweifel gezogen. Befürchtet wurden auch ein Personalabbau und ein Verlust an Meinungsvielfalt. Zudem sahen viele in der Ankündigung bereits eine definitive Vorentscheidung, wogegen ihre Urheber darauf hinwiesen, dass es sich zunächst lediglich um eine „Prüfung“ handle. Angesichts der Tatsache, dass diese aber in eine übergreifende, andernorts schon praktizierte Verlagsstrategie („Zukunftsprogramm 2022“) eingebunden ist, wird schwerlich an eine ergebnisoffene Prüfung zu denken sein. Allenfalls mag es vielleicht Übergangslösungen mit einem Nebeneinander von Print- und Digitalausgaben geben. Ein ernsthaftes Problem dürfte es sein, wie künftig auch im ländlichen Raum eine Nutzung rein elektronisch zugänglicher Zeitungen sichergestellt werden kann. Dafür wären nicht nur eine bessere Internetanbindung nötig, sondern auch die Fähigkeit und Bereitschaft gerade auch älterer 63 Die Pressemitteilung ist im Internet abrufbar unter: https://funkemedien.de/de/presse/ medienmitteilungen/news/Mehr-als-eine-Restrukturierung-FUNKE-MEDIENGRUPPEstellt-Regional-und-Lokalmedien-neu-auf/ (letzter Zugriff: 22.5.2019).

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Menschen, sich der neuen Technologie und ihrer Apparate (PC, Tablet, Smartphone) für die Zeitungslektüre zu bedienen. Für die Zukunft der thüringischen Zeitungslandschaft im 21. Jahrhundert steht jedenfalls ein weiterer Umbruch zu erwarten.

JOHANNES MÖTSCH DIE GRAFEN VON HENNEBERG UND DIE „NEUEN ZEITUNGEN“

Die Grafen von Henneberg und die „Neuen Zeitungen“ 1. Die Quellen Zu allen Zeiten sind die Menschen neugierig gewesen. Was in der Nachbarschaft, in der Region und in der Welt geschah, wollte man schon immer wissen – auch, um sich gegebenenfalls auf Entwicklungen oder Bedrohungen vorbereiten zu können. Weitergegeben wurden und werden wichtige Neuigkeiten, aber auch Gerüchte und Falschmeldungen, oft zunächst mündlich (heute haben die neuen Medien die Möglichkeiten zur Weitergabe vervielfacht). Diejenigen, die Wert auf die Zuverlässigkeit der Informationen legten, haben aber stets die Schriftform vorgezogen. Im 16. Jahrhundert hat es auf diesem Gebiet einen ersten, ganz wesentlichen Fortschritt gegeben: Interessenten wurden durch „Zeitungen“ (das Wort bedeutet ursprünglich „Neuigkeiten“) systematisch mit Informationen versorgt. Diese sind durch Emil Weller bereits vor fast 160 Jahren vorgestellt worden.1 „Die handschriftlich vervielfältigten Zeitungen informierten schon im 16. Jahrhundert einen kleinen Kreis von Beziehern über die wichtigsten politischen Entwicklungen. Sie können als das erste Medium in der Geschichte des Nachrichtenwesens gelten“.2 Es liegt auf der Hand, dass zu diesem Interessentenkreis 1

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Emil WELLER, Die deutschen Zeitungen des sechzehnten Jahrhunderts, in: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekswissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur 20 (1859), S. 218–224 (Nr. 1–46), 234–240 (Nr. 47–94), 249–256 (Nr. 95–137), 267–270 (Nr. 138–149), 287–288 (Nr. 150–160), 300–304 (Nr. 161–185), 317–320 (Nr. 186–204), 333– 336 (Nr. 205–220), 350–352 (Nr. 221–227), 362–368 (Nr. 228–268), 380–384 (Nr. 269– 292); 21 (1860), S. 14–16 (Nr. 293–303), 30–32 (Nr. 304–317), 60–64 (Nr. 318–343), 77– 80 (Nr. 344–366), 109–112 (Nr. 367–384), 127–128 (Nr. 385–392), 157–160 (Nr. 393– 413), 174–176 (Nr. 414–430), 204–208 (Nr. 431–462), 223–224 (Nr. 463–469), 238–240 (Nr. 470–484), 254–256 (Nr. 485–495), 269–272 (Nr. 496–520), 285–288 (Nr. 521–553), 302–304 (Nr. 554–572), 336 (Nr. 573–578), 352 (Nr. 579–584). Zusammenfassung: Emil WELLER, Die ersten deutschen Zeitungen. Mit einer Bibliographie (1505–1599), Tübingen 1872 (ND Hildesheim 1962). Holger BÖNING, „Gewiss ist es / dass alle gedruckten Zeitungen erst geschrieben seyn müssen.“ Handgeschriebene und gedruckte Zeitung im Spannungsfeld von Abhängigkeit, Koexistenz und Konkurrenz, in: Daphnis 37 (2008), S. 203–242, hier S. 203; Rudolf STÖBER, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000,

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neben Kaufleuten und Gelehrten auch die zahlreichen Landesherren im Heiligen Römischen Reich gehörten. Auf ihr „Nachrichtenwesen“ und dessen schriftlichen Niederschlag hat Johannes Kleinpaul bereits im Jahr 1930 aufmerksam gemacht.3 Grundlage seiner Darstellung waren die einschlägigen Sammlungen in zahlreichen Staatsarchiven und Bibliotheken.4 Die von Kleinpaul erwähnte Zeitungssammlung der Landgrafen von Hessen, die im Staatsarchiv Marburg aufbewahrt wird, ist im Jahr 2000 durch Ina Timmermann näher vorgestellt worden.5 Die zunächst handschriftlichen Zeitungen wurden in einem zweiten Schritt seit Beginn des 17. Jahrhunderts gedruckt. Diesem Medium gilt seit jeher das besondere wissenschaftliche Interesse des Jubilars.6 Deshalb erscheint es sinn-

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hier S. 32–50. Für Hinweise auf diese Literatur ist Herrn Dr. Alexander Krünes, Jena, herzlich zu danken. Johannes KLEINPAUL, Das Nachrichtenwesen der deutschen Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der geschriebenen Zeitungen, Leipzig 1930. Kleinpaul hat 1921 auch die „Fuggerzeitungen“ vorgestellt. Dazu jetzt Oswald BAUER, Zeitungen vor der Zeitung. Die Fuggerzeitungen (1568–1605) und das frühmoderne Nachrichtensystem, Berlin 2011; Katrin KELLER, Die Fuggerzeitungen. Ein Literaturbericht, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 14 (2012), S. 186–204; DIES./Paola MOLINO, Die Fuggerzeitungen im Kontext. Zeitungssammlungen im Alten Reich und in Italien (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband, 59), Wien/Köln/Weimar 2015; eine Besprechung durch den Jubilar in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 72 (2018), S. 392–394. Keine einschlägigen Informationen enthält der (allerdings auf das Spätmittelalter, nicht den hier interessierenden Zeitraum ausgerichtete) Band Werner PARAVICINI (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich, Bd. 3: Hof und Schrift, bearb. von Jan HIRSCHBIEGEL und Jörg WETTLAUFER (Residenzenforschung, 15, III), Ostfildern 2007. Liste der Sammlungen („riesige Bestände“, u.a. Marburg, 1525 bis 18. Jahrhundert, und Thür. Landesbibliothek Weimar, 1582–1594), bei KLEINPAUL, Nachrichtenwesen (wie Anm. 3), S. 20. „Es existiert wohl kaum eine ältere Bibliothek und fast kein Archiv, wo sich diese Zeugnisse historischer Kommunikation und Informationsvermittlung nicht in großer Zahl auffinden ließen“, BÖNING, „Gewiss ist es“ (wie Anm. 2), S. 209, Anm. 14. Ina TIMMERMANN, „Nachdem unns an itzo abermahls beyliegende Zeittungen zue kommen“. Höfisches Nachrichtenwesen zwischen geschriebener und gedruckter Zeitung am Beispiel hessischer Landgrafen am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Dokumente aus dem hessischen Staatsarchiv Marburg, in: Astrid BLOME (Hg.), Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt und Kalender. Beiträge zur historischen Presseforschung (Presse und Geschichte. Neue Beiträge, 1), Bremen 2000, S. 137–159. Im gleichen Band (S. 76–84) auch ein Beitrag des Jubilars: Werner GREILING, Die historische Presselandschaft Thüringen. Aus der Fülle der Veröffentlichungen sei hier nur genannt: Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 6), Köln/Weimar/Wien 2003.

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voll, die Versorgung der Grafen von Henneberg und ihrer in Schleusingen angesessenen Verwaltung mit Informationen, insbesondere mit den „Neuen Zeitungen“ hier vorzustellen. Die Grafen von Henneberg, die bedeutendsten Territorialherren im Südwesten des heutigen Freistaates Thüringen,7 und ihre Rechtsnachfolger, die Herzöge von Sachsen, haben über Jahrhunderte die eingegangenen Informationen, den schriftlichen Niederschlag der dadurch ausgelösten internen Beratungen und die Konzepte der dann herausgegangenen Korrespondenzen und Anweisungen gesammelt und aufbewahrt. Deshalb stehen diese Dokumente heute der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung – zum größeren Teil im Landesarchiv Thüringen, Staatsarchiv Meiningen, zu einem kleineren im Landesarchiv SachsenAnhalt, Abteilung Magdeburg. Grundlage dieses Beitrages ist der Teilbestand „Neue Zeitungen“ in der Sektion I des Gemeinschaftlichen Hennebergischen Archivs (GHA, Sektion I, Gräfliches Haus und auswärtige Beziehungen), der im Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Meiningen aufbewahrt wird. Er enthält 70 Aktenbände von sehr unterschiedlichem Umfang.8 Hinweise auf weitergeleitete Informationen finden sich auch in zahlreichen anderen Bänden des Bestandes, die die Korrespondenz mit Auswärtigen zum Inhalt haben; dazu gehören auch Erwähnungen der „Neuen Zeitungen“. Von besonderem Interesse sind einerseits die Autoren bzw. Absender (die Informanten), andererseits die inhaltlichen Mitteilungen (die Informationen) dieser Quellen.

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Günther WÖLFING, Geschichte des Henneberger Landes zwischen Grabfeld, Rennsteig und Rhön (Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, 1), Leipzig/Hildburghausen 2009. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Meiningen (im Folgenden: LATh-StAM), GHA I, Nr. 6476 (Bd. 1) bis Nr. 6546 (Bd. 70). Der Umfang schwankt zwischen einem Blatt (Bd. 54, Nr. 6530; Bd. 70, Nr. 6546) und 433 Blatt (Bd. 9, Nr. 6484, aus dem Jahr 1564). Der früheste Hinweis auf diesen Bestand: Handschriftliche Zeitungen, in: Deutsches Museum für Geschichte, Literatur, Kunst und Alterthumsforschung, NF 1 (1862), S. 193–218. Die Auszüge dürften von Ludwig Bechstein (1801–1860), der Archivar am GHA war, angefertigt und nach dessen Tod von seinem Sohn Reinhold veröffentlicht worden sein. Vgl. Johannes MÖTSCH, Ludwig Bechstein als Archivar, in: Ludwig Bechstein. Dichter, Sammler, Forscher. Festschrift zum 200. Geburtstag, Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 16 (2001), S. 53–70. Einen Text aus dem Aktenbestand (Auftreten des Teufels in Schiltach, 1533; LATh-StAM, GHA I, Nr. 6478, Bl. 114–119) hat Bechstein auch literarisch verarbeitet: Teufelsbuhlschaft, in: Ludwig BECHSTEIN, Hexengeschichten, Halle a. d. S. 1854, S. 2–40. Vgl. dazu Karin KELLER, Zeitungsammlungen im Alten Reich. Umrisse einer Medienlandschaft, in: DIES./MOLINO (Hg.), Die Fuggerzeitungen (wie Anm. 3), S. 48–98.

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2. Die Adressaten Gefertigt wurden die „Zeitungen“ für einen exklusiven Leserkreis, für den eine schnelle, zuverlässige Information von besonderer Bedeutung war. Zu diesem zählten neben Kaufleuten vor allem Landesherren und deren Diener. „Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass das höfische Nachrichtenwesen für die frühneuzeitlichen Territorialherren ein Kernstück staatspolitischer Organisation und Orientierung darstellt, auf dessen Zuverlässigkeit größter Wert gelegt wurde“. Wichtig waren dabei „auch persönliche Beziehungen zu Personen an anderen Höfen“.9 Auf diesen Punkt wird bei der Rekonstruktion der Informationsketten zurückzukommen sein. Wichtigste Adressaten und ohne Zweifel auch Leser der hier vorgestellten „Neuen Zeitungen“ waren Graf Wilhelm IV. von Henneberg (gest. 1559) sowie dessen Söhne Poppo (gest. 1574) und Georg Ernst (gest. 1583).10 Gelesen wurden die Texte wahrscheinlich auch von den Männern, teilweise Juristen, die in der in Schleusingen (nach 1584 in Meiningen) angesessenen hennebergischen Verwaltung tätig waren.11

3. Die Verfasser In vielen Fällen lässt sich rekonstruieren, von wem die Grafen von Henneberg und (nach 1583) die hennebergische Regierung die „Neuen Zeitungen“ erhalten haben. Dabei handelt es sich vermutlich nur in seltenen Fällen um die eigentlichen Autoren dieser Texte, also um die von Kleinpaul so bezeichneten „Zeitungsschreiber“. Dazu gehörten neben gewerbsmäßigen Nachrichtenverbreitern,12 fürstlichen und städtischen Beamten auch Gelehrte, die oft seit ihren

9 Beide Zitate bei BÖNING, „Gewiss ist es“ (wie Anm. 2), S. 211. 10 Zur Familie: Heinrich WAGNER, Genealogie der Grafen von Henneberg, Kloster Veßra 2016, S. 156 (Wilhelm IV./VI., geb. 1478, Regent 1484, bis 1495 unter Vormundschaft, seit 1500 verheiratet mit Anastasia von Brandenburg, Tochter des Kurfürsten Albrecht „Achilles“), S. 166 (Georg Ernst, geb. 1511, Mitregent 1543) und S. 169 f. (Poppo, geb. 1513, zunächst Domherr). Zur Familie der Gräfin Anastasia vgl. Mario MÜLLER (Hg.), Kurfürst Albrecht Achilles (1414–1486). Kurfürst von Brandenburg, Burggraf von Nürnberg. Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 102 (2014), S. 559–563 (Stammtafel des Kurfürsten Albrecht Achilles). 11 Ulrich HEß, Die Verwaltung der gefürsteten Grafschaft Henneberg-Schleusingen 1584– 1660, Diss. (masch.), Würzburg 1944, jetzt hg. von Volker WAHL (Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, 32), Kloster Veßra 2018. 12 Zu den Zeitungsschreibern vgl. KLEINPAUL, Nachrichtenwesen (wie Anm. 3), S. 11–19, zu den gewerbsmäßigen Nachrichtenverbreitern („zuerst wohl in Augsburg“) ebd. S. 13.

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Studienzeiten über ein ausgedehntes Korrespondentennetz verfügten.13 Kleinpaul nennt als Beispiel den Juristen und Diplomaten Dr. Christoph Scheurl aus Nürnberg (1481–1542).14 Eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Nachrichten spielte auch die Entwicklung des Postwesens während des 16. Jahrhunderts; einige Postmeister erkannten und nutzten den sich dadurch vergrößernden Nachrichtenmarkt.15 Die übergroße Mehrzahl der an die Grafen von Henneberg gelangten Zeitungen dürfte auf verschlungenen Wegen und durch viele Hände, in der Regel in Form einer Abschrift, weitergeleitet worden sein.16 Nur in Einzelfällen lässt sich die Kette weiter zurückverfolgen. Dazu zählen folgende Stücke:  Fritz Salwirt aus Innsbruck sandte im März 1494 Nachrichten an Berthold Grafen von Henneberg, Domherrn zu Bamberg (gest. 1495), der sie an die Gräfin Margarete, seine Schwägerin, weiterleitete.17 Über den Grafen Berthold dürften auch Berichte aus Kärnten (u.a. über militärische Aktionen der Türken) aus den Jahren 1471 und 1492 nach Schleusingen gelangt sein.18 13 BÖNING, „Gewiss ist es“ (wie Anm. 2), S. 212: „Kaufleute und Patrizier, Amtsleute in den Städten und Residenzen, Agenten und Residenten an Fürstenhöfen, Postmeister und Buchdrucker, Buchhändler, Professoren, Studenten, Dichter und Geistliche“ aus „Mittelpunkte[n] des internationalen Nachrichtenverkehrs“. 14 Scheurl war seit 1507 Professor, zeitweise Rektor der Universität Wittenberg und Rat des Kurfürsten von Sachsen. 1511 kehrte er als Ratskonsulent in seine Heimatstadt zurück. Vgl. KLEINPAUL, Nachrichtenwesen (wie Anm. 3), S. 12 u. 68. Ein Brief von C. Scheurl, Dr. der Rechte, an Sigmund und Christoph Fürer sowie Albrecht Letzscher datiert Nürnberg 27.12.1534, in: LATh-StAM, GHA I, Nr. 6478, Bl. 121–122. 15 KLEINPAUL, Nachrichtenwesen (wie Anm. 3), S. 138–146, u. TIMMERMANN, Höfisches Nachrichtenwesen (wie Anm. 5), S. 156–159, dort jeweils auch zur Rolle von Postmeistern. 16 KLEINPAUL, Nachrichtenwesen (wie Anm. 3), S. 19 (verschlungene Wege, viele Hände). Im gleichen Sinne TIMMERMANN, Höfisches Nachrichtenwesen, S. 151: „[…] sich nur selten erkennen läßt, von wem und woher sie eigentlich stammen“. 17 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6476, Bl. 50/51. Zu Berthold vgl. Friedrich WACHTER, General-Personal-Schematismus der Erzdiözese Bamberg 1007–1907, Bamberg 1908, hier S. 200, Nr. 4113. WAGNER, Genealogie (wie Anm. 10), S. 150 (Berthold) bzw. S. 143–146 (Margarete geb. Herzogin von Braunschweig, Ehefrau/Witwe des Grafen Wilhelm III.). 18 Im Juni 1471 berichteten Hauptmann und Vitztum zu Wolfsberg (Zentrum der Besitzungen des Hochstifts Bamberg in Kärnten) über das Vorgehen der Türken in Krain, vgl. LATh-StAM, GHA I, Nr. 6476, Bl. 23, im April 1492 erfuhr man, dass Heinz von Guttenberg, Vitztum in Kärnten, nach Wolfsberg reite, vgl. ebd., Bl. 66/67. Heinz/Heinrich von Guttenberg, gest. 1506, war von 1484–1495 Vitztum und 1496–1506 Hauptmann zu Wolfsberg, vgl. Johannes BISCHOFF, Genealogie der Ministerialen von Blassenberg und Freiherren von (und zu) Guttenberg 1148–1970 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für

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 Ein Wolff Hoffmann schickte im Juni 1512 eine „neue Zeitung aus welschen Landen“ an den Markgrafen Casimir von Brandenburg. Er hatte sie von Jakob Fugger (1459–1525) aus Augsburg, „seinem Herrn“, erhalten mit dem Auftrag, sie dem König von Polen [Sigismund, König 1506–1548] und dem Markgrafen zuzuschicken.19 Vom Markgrafen ist ohne Zweifel eine Abschrift an den nahe verwandten Grafen Wilhelm von Henneberg weitergeleitet worden.  Erasmus Haugk, Stadtschreiber zu Schweinfurt, sandte 1529 Mitteilungen von Alexander Imhoff aus Genua, die sechs Tage unterwegs gewesen waren, an Andreas von der Kere, [hennebergischen] Amtmann zu Mainberg, der sie wiederum zweifellos an seinen Herrn weiterleitete.20  Kunz Gottsmann zu Thurn (gest. 1552),21 kursächsischer Oberster Hauptmann, informierte während der Belagerung von Wien 1529 seinen Bruder Albrecht sowie Christoph Kreß22 von den Ereignissen.23  Georg von Bibra, Domherr zu Bamberg (gest. 1536),24 sandte in den Jahren 1533 und 1534 dem Grafen Wilhelm von Henneberg mehrfach „Neue Zeitungen“, die er aus Augsburg erhalten hatte; diejenigen vom März 1533

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fränkische Geschichte, IX, 27), Würzburg 1971, hier S. 78, Nr. 223. Die von Guttenberg hatten auch Lehen von den Grafen von Henneberg. LATh-StAM, GHA I, Nr. 6477, Bl. 8. Markgraf Casimir war ein Enkel des Kurfürsten Albrecht Achilles. Vgl. außerdem MÜLLER (Hg.), Kurfürst Albrecht Achilles (wie Anm. 10), S. 561. Seine Mutter war eine Schwester des Königs Sigismund von Polen, sein Vater Friedrich der älteste Bruder der Gräfin Anastasia von Henneberg. LATh-StAM, GHA I, Nr. 6477, Bl. 50–54 (betr. Vormarsch der Türken). Der Graf von Henneberg war Obervogt der Reichsstadt Schweinfurt, der [bis 1542] hennebergische Amtssitz Mainberg liegt wenige Kilometer oberhalb der Stadt. Reinhard GOTSMANN, Die Herren von Gottsmann zu Neuhaus, Thurn, Büg und Brand. Geschichte und Genealogie eines fränkischen Adelsgeschlechtes, Norderstedt 2010, hier S. 271–305 (Kunz war 1518–1542 Amtmann zu Königsberg in Franken) u. S. 265–267 (Albrecht, gest. 1530/32). Die Familie war u.a. in den fränkischen Ortlanden der Wettiner um Coburg ansässig. Christoph Kreß (1484–1535) hatte für Nürnberg die Confessio Augustana unterzeichnet. LATh-StAM, GHA I, Nr. 6477, Bl. 55–60 (Brief an den Bruder, datiert Krems 29.9.1529) u. Bl. 71–72 (an C. Kreß, 21.10.1529), von Kreß weitergeleitet an den henneberg. Kanzler Johann Jeger; ähnliches wird man auch vom Brief an den Bruder annehmen können. Vom September 1532 und April 1533 datieren Sendungen von Kreß direkt an Graf Wilhelm, vgl. ebd., Nr. 6478, Bl. 35, 54 u. 91–99. Die Familie von Bibra gehörte zu den wichtigsten Lehnsleuten der Grafen von Henneberg, vgl. Werner WAGENHÖFER, Die Bibra. Studien und Materialien zur Genealogie und Besitzgeschichte einer fränkischen Niederadelsfamilie im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, IX, 43), Neustadt an der Aisch 1998, S. 414 f. Demnach war Georg auch Domherr zu Würzburg (1522) und Augsburg (1528). Zu ihm auch WACHTER, General-Personal-Schematismus (wie Anm. 19), S. 46, Nr. 829.

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waren durch Marquard von Stain, Dompropst zu Augsburg und Bamberg,25 aus Augsburg mitgebracht worden.26  Im Februar 1566 informierte Graf Poppo von Henneberg seinen Bruder Georg Ernst vom Eintreffen des Kaisers in Augsburg anlässlich des Reichstages. Er hatte die Nachricht vom Pfarrer zu Ilmenau erhalten, der vom Faktor der örtlichen Hütte informiert worden war. Der wiederum hatte die „Neue Zeitung“ – wohl aufgrund von Geschäftsbeziehungen – aus Augsburg erhalten.27 Eher zufällig fallen hier die Namen Fugger und Augsburg, die aber, wie oben erwähnt, bei der Entstehung des Zeitungswesens eine führende Rolle spielen.28

4. Die Informanten Für die Adressaten war die Zuverlässigkeit der Nachrichten von erheblicher Bedeutung.29 Daher verwundert es nicht, dass ein sehr großer Teil der „Neuen Zeitungen“ – oft als Anlagen zu Briefen mit politischem Inhalt – den Grafen von Henneberg durch verwandte und/oder befreundete Höfe zugesandt wurde, auf die man sich verlassen konnte. Nach Einführung der Reformation in der Grafschaft Henneberg (1544) handelte es sich fast ausschließlich um Absender, die in Sachen Konfession die gleiche Entscheidung getroffen hatten. Zu nennen sind vor allem: Die beiden Äbte von Fulda aus dem gräflichen Haus Henneberg, beide namens Johann (gest. 1513 bzw. 1541).30 Sie standen ebenso in einem regen 25 Ebd., S. 485, Nr. 9809. Demnach wurde Marquard 1506 Dompropst zu Bamberg, 1519 Dompropst zu Augsburg und 1530 Dompropst zu Mainz; er starb 1559. An den Kastner des Dompropstes zu Bamberg, in Abwesenheit an Georg von Bibra, war auch ein Bericht des Hans Knewfel aus Augsburg vom Oktober 1529 gerichtet, der die Niederlage der Türken betraf, vgl. LATh-StAM, GHA I, Nr. 6477, Bl. 75. 26 Ebd., Nr. 6478, Bl. 107, 110–113 (1533) u. Bl. 123–124 (1534). 27 Ebd., Nr. 6486, Bl. 40. Nach Aufgabe seiner geistlichen Pfründen hatte Poppo im Februar 1543 auf die Grafschaft Verzicht geleistet und war mit dem Amt Ilmenau und Herrenbreitungen (hier hielt er sich bei Zusendung der Zeitung auf) abgefunden worden. Die (Messing-) Hütte zu Ilmenau war im Mai 1556 im Besitz des Wolf Weyrach, im Februar 1581 in Händen mehrerer Gewerke, darunter des Hans Weyrach, vgl. LATh-StAM, GHA Urkunden, Nr. 2614 u. 2842. 28 Siehe Anm. 12. 29 KLEINPAUL, Nachrichtenwesen (wie Anm. 3), S. 15 (wichtig immer: Vertrauen). 30 Johann III., Abt 1472–1513 (WAGNER, Genealogie (wie Anm. 10), S. 146–149), war ein Bruder des Grafen Wilhelm III. (gest. 1480) und nach dessen Tod ein wichtiger politischer Berater von Wilhelms Witwe, Informant: LATh-StAM, GHA I, Nr. 6477, Bl. 1–4 (1508). Johann IV., Abt 1521/29–1541 (WAGNER, Genealogie (wie Anm. 10), S. 162 f.),

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Austausch mit dem regierenden Grafen wie später die gräflichen Brüder Georg Ernst und Poppo untereinander.31 Nahe Verwandte über den Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg (gest. 1486), mütterlichen Großvater des Grafen Georg Ernst, waren: Pfalzgraf/Kurfürst Friedrich (gest. 1576, Kurfürst seit 1557), verheiratet in erster Ehe mit Maria Markgräfin von Brandenburg (gest. 1567),32 Herzog Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg (gest. 1592)33 und Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg (-Ansbach, gest. 1603),34 zeitweise Regent des Herzogtums Preußen, an dessen Hof in Königsberg der Graf einen Teil seiner Jugendjahre verbracht hatte. Durch seine zweite Ehefrau war der Graf von Henneberg verwandt mit den Landgrafen Wilhelm IV. (gest. 1592)35 und Ludwig (gest. 1604)36 von Hessen, Söhnen des Landgrafen Philipp, die in Kassel bzw. Marburg residierten und wie Graf Georg Ernst mit Töchtern des Herzogs Christoph von Württemberg verheiratet waren. Informationen erhielt der Graf auch von deren Bruder Philipp (zu Rheinfels, gest. 1583).37 Herzog Christoph (gest. 1568)38 von Württemberg

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war ein enger Vertrauter seines Vaters Graf Wilhelm IV., Informant: LATh-StAM, GHA I, Nr. 6478, Bl. 51 (1532) u. 1417 (1536–1537). Poppo, Informant: ebd., Nr. 6485 (1565), 6486 (1566), 6487 (1566/67); Zitat aus Nr. 6485, Bl. 1: „wollen […] wir […] nicht bergenn, daß uns gestern ein gut freundt gantz vetreulich diese nachvolgende worth zugeschriebenn […]“. Kurfürst Friedrich, Informant: ebd., Nr. 6484 (1564), 6485 (1565), 6486 (1566), 2607 (1567). Die Kurfürstin Maria war eine Urenkelin des Markgrafen Albrecht Achilles, der Graf von Henneberg ein Enkel. Pfalzgraf Johann Casimir (gest. 1592), ein jüngerer Sohn des Kurfürsten und seiner ersten Ehefrau Maria, als Informant: ebd., Nr. 6486 (1566), 6509 (1578). Pfalzgraf Richard (gest. 1598), ein jüngerer Bruder des Kurfürsten, Informant: ebd., Nr. 6515 (1581), 6517 (1582), 6520 (1583) u. 6533 (1597). Informant: ebd., Nr. 2364 (1561–1566, 1573), 6492 (1569). Maria von Jülich-Berg (gest. 1543), Mutter des Herzogs und Ehefrau des Herzogs Johann von Kleve-Mark (gest. 1539), war eine Enkelin des Markgrafen/Kurfürsten Albrecht Achilles von Brandenburg. Der Markgraf war ein Urenkel des Markgrafen/Kurfürsten Albrecht Achilles von Brandenburg. Aufgrund der Intensität des Briefwechsels zwischen ihm und Graf Georg Ernst wird man eine persönliche Freundschaft vermuten können. Der Markgraf besuchte den Grafen u.a. im Juli 1572 in Schleusingen, vgl. ebd., Nr. 1491, Bl. 16–20; Informant: ebd., Nr. 1753 (1564), 6484 (1564), 6485 (1565) u. 6486 (1566). Informant: ebd., Nr. 6491 (1569), 2248 (1574), 6500 (1575), 6511 (1579), 6517 (1582), 6519 (1583) u. 2277 (1583). Informant: ebd., Nr. 6494 (1570), 6509 (1578), 6516 (1580/81) u. 6518 (1583), 6527 (1583), 2277 (1583), darin Bl. 72–93 die letzten an den Grafen von HennebergSchleusingen, Georg Ernst, (gest. 27.12.1583) gerichteten „Neuen Zeitungen“ (Oktober bis Dezember 1583 betr. den Kölnischen Krieg). Von dessen Amtmann zu Rheinfels stammt ebd., Nr. 5793 (1582).

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war Schwiegervater des Grafen von Henneberg. Herzog Erich von Braunschweig (-Kalenberg, gest. 1584)39 war ein Bruder der ersten Ehefrau des Grafen Georg Ernst. Hinzu kommen Nachbarn und/oder politische Verbündete: die Bischöfe Georg von Bamberg40 und Julius von Würzburg;41 die Herzöge Johann Ernst (zu Coburg, gest. 1553)42 und Johann Wilhelm von Sachsen (zu Weimar, gest. 1573);43 Kurfürst August von Sachsen (gest. 1586);44 schließlich mehrere Grafen und Gräfinnen von Schwarzburg,45 nahe Verwandte des Grafen Georg Ernst.46 Wenn der Graf sich außerhalb seines Territoriums aufhielt, wurde er durch seine in Schleusingen gebliebenen Räte mit Nachrichten versorgt.47 Zu den Informanten aus dem Niederadel gehörten meist Männer, deren Familien (oder einzelne Angehörige) Lehns- oder Dienstbeziehungen zu den Grafen von Henneberg hatten. Dazu zählten u.a. Kilian von Helba zu Sulzfeld, 1477,48 Wilwolt von Schaumberg (gest. 1510), 150749 und Georg von Bibra, Domherr zu Bamberg, 1528 und 1529.50

38 Informant: ebd., Nr. 3440 (1563, 1564), 6484 (1564), 6485 (1565), 6486 (1566), 6487 (1566/67), 6488 (1567). 39 Informant: ebd., Nr. 1868 (1556–1557), 6484 (1564) u. 6486 (1566). 40 Georg Schenk von Limpurg war 1505–1522 Bischof von Bamberg. Informant: ebd., Nr. 3512 (1514) u. 3515 (1516). 41 Julius Echter von Mespelbrunn (sicher kein Verbündeter) war von 1573 bis 1617 Bischof von Würzburg; Informant: ebd., Nr. 3981 (1581). Vgl. Wolfgang WEIß (Hg.), Fürstbischof Julius Echter – verehrt, verflucht, verkannt. Aspekte seines Lebens und Wirkens anlässlich des 400. Todestages (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, 75), Würzburg 2017. 42 Informant: LATh-StAM, GHA I, Nr. 2999 (1552). 43 Informant: ebd., Nr. 3048 (1562), 3065 (1566) u. 3072 (1569). Nr. 6501 (1575) sandten die Statthalter zu Weimar. 44 Informant: ebd., Nr. 6506 (1577/78), 6509 (1578), 6515 (1581), 6517 (1582), 6518 (1583) u. 6519 (1583); vom kursächs. Amtmann zu [Langen-] Salza stammt Nr. 5670 (1569). 45 Informanten: ebd., Nr. 3312 (1563), 6484 (1564), 6485 (1565), 6486 (1566), 6487 (1566/67), 6490 (1569), 6495 (1570/71) u. 6528 (1583). 46 Dessen Schwester Katharina, gest. 1567, war mit Graf Heinrich von Schwarzburg (gest. 1538) verheiratet gewesen, vgl. WAGNER, Genealogie (wie Anm. 10), S. 164. 47 Beispiel: LATh-StAM, GHA I, Nr. 5666 (1568). Der Graf hielt sich damals am württembergischen Hof in Stuttgart auf. 48 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6476, Bl. 34. Sulzfeld unter Wildberg gehörte den Grafen von Henneberg, war seit 1414 aber an die Familie von Helba verpfändet, die daneben auch Lehen von den Grafen hatte. 49 Die von Schaumberg (Burg bei Rauenstein Landkreis Sonneberg) hatten etliche Lehen von den Grafen von Henneberg. Zu Wilwolt vgl. Sven RABELER, Niederadlige Lebensformen im späten Mittelalter. Wilwolt von Schaumberg (um 1450–1510) und Ludwig von

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5. Die Informationen Unter der riesigen Fülle von Nachrichten, die an die Grafen von Henneberg gelangten, sind natürlich diejenigen von besonderem Interesse, die sich auf historisch bedeutsame Ereignisse beziehen. Einige Beispiele:  Am 29. September 1455 unterrichtete Reichard von Buttlar, Großbailli des Johanniterordens in Deutschen Landen, Komtur zu Erlangen, Würzburg und Schleusingen, den Grafen Wilhelm von Henneberg von den Entwicklungen in Rhodos (damals Sitz des Johanniter-Großmeisters).51 Der Großbailli gehörte zu einer hessischen Niederadelsfamilie, aus der einzelne Linien Lehen von den Grafen von Henneberg hatten. Bei diesem Stück handelt es sich nicht im engeren Sinne um eine „Neue Zeitung“, auch wenn das der Registrator im Jahr 1560 anders sah.52  Zu den im Aktenband folgenden Texten aus den Jahren 1468, 1471 und 1474 passt diese Bezeichnung dagegen schon eher.53 Herzog Albrecht von Sachsen (gest. 1500) sandte dem Grafen Wilhelm III. (gest. 1480) im August 1475 „Neue Zeitungen“ zu, die sich auf die Belagerung von Neuss durch Herzog Karl den Kühnen von Burgund bezogen; sein Vogt zu Königsberg hatte sie aus Köln erhalten.54  Am 9. September 1513 unterlag ein von König Jakob/James IV. geführtes, etwa 30.000 Mann starkes schottisches Heer bei Flodden Field (im Norden Englands) einer etwa 25.000 Mann starken englischen Armee. 10.000 bis 12.000 Schotten fielen, darunter der König und zahlreiche Adlige.55 Kaiser Maximilian informierte die Grafen Wilhelm und Hermann von Henneberg

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Eyb d. J. (1450–1521) (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, IX, 53), Würzburg 2006, zum Verhältnis Wilwolts zu Graf Wilhelm, S. 367–378. LATh-StAM, GHA I, Nr. 6477, Bl. 41–43 (betr. Krieg in Italien); zu weiteren Zusendungen vgl. Anm. 24. LATh-StAM, GHA I, Nr. 6476, Bl. 2 u. 16; dabei handelt es sich um das älteste Schriftstück im Teilbestand „Neue Zeitungen“. Im Hintergrund steht die Eroberung von Konstantinopel durch den osmanischen Sultan (1453). Auf dem Umschlag von ebd., Nr. 6476, Bl. 1–8 heißt es: „Neu Zeytungen soviel deren gefunden von anno 1455 biß uff 1559 exclus. regestrirt. Signatum den 6. July anno 1560.“ Ebd., Nr. 6476, Bl. 20/21 (Hochzeit Herzog Karls des Kühnen von Burgund, Brügge, 6.7.1468), Bl. 23 (Türken in Krain, 1471) sowie Bl. 24/25 u. 29 (Belagerung von Neuss, 1474). Zum Bericht des Statthalters und des Vitztums zu Wolfsberg (Bl. 23) vgl. Anm. 18. LATh-StAM, GHA I, Nr. 2801, Bl. 1–4 u. 7. „Schlacht von Flodden Field“, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand: 10.12.2018, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Schlacht_von_Flodden_Field& oldid=18357242 (letzter Zugriff: 18.1.2019).

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vom Sieg der Engländer über die Schotten; deren König und 10.000 Mann seien erschlagen, 5.000 gefangen worden.56  Am 29. August 1526 erlitt das von König Ludwig II. geführte ungarische Heer bei Mohács eine vernichtende Niederlage gegen die von Sultan Süleyman geführten osmanischen Truppen. Der König fiel, weite Teile des Königreichs Ungarn wurden in der Folge vom Sultan erobert.57 Der begann im September 1529 mit der Belagerung von Wien, über die die Grafen von Henneberg laufend informiert wurden.58  Am 11. Oktober 1531 erlitten Truppen der Stadt Zürich bei Kappel eine Niederlage gegen fünf katholische Orte. Huldrych Zwingli fiel, sein Plan, in der gesamten Eidgenossenschaft die Reformation einzuführen, war gescheitert.59 Aus einer „Neuen Zeitung“, die daneben Nachrichten aus Nürnberg enthielt, erfuhren die Grafen von Henneberg, die fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug hätten die Zürcher bei Kappel angegriffen, „auff 2.000 man mitsambt dem Zwinglein unnd 15 Preticantten erslagen“.60  An den in den folgenden Jahrzehnten mit Unterbrechungen geführten Türkenkriegen blieben die Grafen von Henneberg stets interessiert – vor allem deshalb, weil sie zu den Truppenstellungen des fränkischen Reichskreises beizutragen hatten. Im Juli 1532 bat Graf Georg Ernst von Henneberg seinen Vater um Erlaubnis, die Truppen des fränkischen Kreises gegen die Türken zu führen.61 Hauptmann dieser Truppen wurde jedoch der nah verwandte Markgraf Friedrich von Brandenburg, Dompropst zu

56 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6477, Bl. 9–10. Graf Hermann (gest. 1535) war der Regent aus der Linie Henneberg-Römhild, vgl. WAGNER, Genealogie (wie Anm. 10), S. 152 f. 57 Schlacht bei Mohács (1526)“, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand: 28.8.2018, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Schlacht_bei_Mohácz_(1526)& oldid=180431509 (letzter Zugriff: 18.1.2019). 58 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6477, Bl. 21–24 (1526); Zug des Sultans vor Wien ebd., Nr. 48–49 (Informant: Sigmund von Boineburg); Belagerung ebd., Bl. 61–62 (Brief aus Nürnberg an den henneberg. Kanzler Johann Jeger, 21.10.1529); ebd., Bl. 75 (Bericht von Verlauf und Ende der Belagerung am 15.10.1529). Vgl. auch Anm. 22 u. 23 (Berichte des Kunz Gottsmann). 59 „Schlacht bei Kappel“, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand: 1.8.2018, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Schlacht_bei_Kappel&oldid= 179630917 (letzter Zugriff: 18.1.2019). 60 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6478, Bl. 2–5, hier Bl. 2r. Zum gleichen Sachverhalt auch ebd. Bl. 7–10, „der Zwinglin unnder andern dodt funden“ (Bl. 7v). 61 Johann Adolph von SCHULTES, Diplomatische Geschichte des Gräflichen Hauses Henneberg, 2 Teile, Hildburghausen 1788–1791 (ND Neustadt an der Aisch 1994), T. 2, S. 348 f., Nr. CCXLII.

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Würzburg.62 Aus der Herkunft und Finanzierung dieser Truppen ergab sich auch, dass an den Türkenkriegen Männer teilnahmen, die man in Schleusingen persönlich kannte.  Im August 1566 begann Sultan Süleyman mit der Belagerung von Szigetvár (in Ungarn), das von Nikolaus Zrinski (Zrínyi Miklós) verteidigt wurde. Der Sultan starb in der Nacht vom 5./6. September. Zrinski unternahm am 8. September einen Ausfall, bei dem er gefangen genommen und anschließend hingerichtet wurde.63 Graf Georg Ernst wurde durch seinen Bruder Graf Poppo und durch Herzog Johann Wilhelm von Sachsen informiert.64 Die „Neue Zeitung“ enthält die ausdrückliche Feststellung, Zrinski (im Text: Graf von Zerin) sei mit der Schwester des Wilhelm von Rosenberg verheiratet gewesen.65 Diesen Herrn aber kannten die Grafen von Henneberg: 1557 hatte er Katharina Herzogin von Braunschweig (gest. 1559) geheiratet, Tochter der ersten Ehefrau des Grafen Poppo und Schwester der ersten Ehefrau des Grafen Georg Ernst. Graf Georg Ernst und Gräfin Elisabeth hatten das junge Ehepaar bei der Heimfahrt nach Krumau (Český Krumlov) begleitet.66 1562 lud Wilhelm von Rosenberg das gräfliche Ehepaar nach Berlin zu seiner (zweiten) Hochzeit mit Markgräfin Sophie von Brandenburg (gest. 1564) ein; die Gräfin von Henneberg 62 Zur Bestallung des Hauptmanns vgl. LATh-StAM, GHA II, Nr. 107 (Januar/Februar 1533). Zu Markgraf Friedrich vgl. Franz MACHILEK, Friedrich von Brandenburg, gest. 1536, in: Alfred WENDEHORST/Gerhard PFEIFFER (Hg.), Fränkische Lebensbilder (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, VII A), Bd. XI, Neustadt an der Aisch 1984, S. 101–139. Der Vater des Dompropstes war Markgraf Friedrich, ältester Sohn des Kurfürsten Albrecht Achilles aus dessen zweiter Ehe, mithin ein Bruder der Gräfin Anastasia von Henneberg. 63 „Nikola Šubić Zrinski“, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand: 31.10.2018, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Nikola_Šubic_Zrinski&oldid= 182333368 (letzter Zugriff: 18.1.2019). Dort auch Angaben zu den beiden Ehen Zrinskis. 64 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6486, Bl. 124–140, Vermerke zu W. von Rosenberg Bl. 124r und zu den Absendern Bl. 140v. Ebd., Bl. 183–186 der Druck „Außzug ettlicher Zeitungen / was sich zum anfang des jetzigen Türckenkriegs / an etlichen orten in ungern / verloffen und zugetragen hat. 1566. Gedruckt zu Nürmberg / durch Valentin Geyßler“. Vgl. dazu WELLER, Die ersten deutschen Zeitungen (wie Anm. 1), S. 188 f., Nr. 297. Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts (VD16), A 4455, eine Variante ZV 22606. Ein Druck „Vom tödtlichen Abgang des Türckischen Keisers Solymans […]“, in: LAThStAM, GHA I, Nr. 6500, Bl. 9–12 (VD16, P 347 (freundl. Mitteilungen von Dr. Ulrike Bayer, Bayerische Staatsbibliothek München vom 20.7. u. 8.8.2018). 65 Václav BÚŽEK, Rosenberg, in: Werner PARAVICINI (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich, Bd. 4: Grafen und Herren, Teilbd. 2, bearb. von Jan HIRSCHBIEGEL und Jörg WETTLAUFER, (Residenzenforschung 15, IV, 2), Ostfildern 2012, S. 1226–1232, zu den Geschwistern Wilhelms S. 1230, zu seinen Ehen S. 1231. 66 LATh-StAM, GHA I, Nr. 2726.

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erhielt dazu einen Geleitbrief des Kurfürsten von Sachsen.67 Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man im Grafenhaus die Eva von Rosenberg kannte, die 1564 Zrinski heiratete.68

Abb. 1: Titelblatt einer Neuen Zeitung aus dem Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Meiningen 67 Ebd., Nr. 2729, Bl. 6–12 (Einladung) u. Bl. 2–5 (Geleitbrief). 68 Datum bei Wikipedia (wie Anm. 63); es war die zweite Ehe Zrinskis.

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 Im Dezember 1565 teilte man dem Grafen von Henneberg aus Wien mit, dass [Joachim] Herr von Neuhaus, böhmischer Oberstkanzler, beim Zusammenbrechen einer Donaubrücke zu Tode gekommen war.69  Im Februar 1567 erfuhr Graf Georg Ernst aus Antwerpen: „inn gantz Flandern hatt der herr vonn Egmondt die Predigt abgeschaffet, allein zu Gendt predigen sie noch“. Im Juli 1567 informierte Wilhelm [von Nassau], Prinz von Oranien (gest. 1584), aus Dillenburg den Grafen von Henneberg von den weiteren Entwicklungen: der Herzog von Alba habe Edelleute gefangen genommen, aber noch nicht gefoltert. Bekanntlich wurde am 9. September auch Lamoral Graf von Egmond gefangengenommen und am 5. Juni 1568 hingerichtet. Das war der Auslöser für den Freiheitskampf der Niederlande. An diesen Ereignissen waren die Grafen zwar interessiert, aber allenfalls indirekt beteiligt. Etwas anders verhielt es sich mit dem „Kölnischen Krieg“, auf den hier daher ausführlicher eingegangen werden soll.

6. Der „Kölnische Krieg“ Mit der Einführung der Reformation durch den Kurfürsten von Sachsen70 und den Landgrafen von Hessen (1526) begann ein jahrzehntelanger Prozess, in dem sich weitere Landesherren und (Reichs-) Städte der Reformation anschlossen. Die Grafen von Henneberg hatten sich 1543 im Ehevertrag für Graf Georg Ernst zur Einführung der Reformation verpflichtet.71 Graf Georg Ernst und sein Bruder Graf Poppo,72 der als vormaliger Domherr eine theologische Ausbildung erfahren hatte, beobachteten in der Folge die Entwicklung mit großem Interesse. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 hatte das lutherische Bekenntnis legitimiert, aber durch den „geistlichen Vorbe69 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6478, Bl. 166–169. Josef HRDLIČKA, Neuhaus, in: PARAVICINI, Höfe und Residenzen (wie Anm. 65), Bd. 4,2, S. 1056–1059, zum Tod des Joachim von Neuhaus, S. 1058. 70 Einschlägig die vom Jubilar mit herausgegebene Reihe „Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation“, u.a. Doreen von OERTZEN BECKER, Kurfürst Johann der Beständige und die Reformation (1513–1532) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 7), Köln/Weimar/Wien 2017. 71 Karl ZEITEL, Die Reformation im Henneberger Land von den Anfängen bis zur Annahme der Augsburgischen Konfession durch Wilhelm von Henneberg (Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, 5), Hildburghausen 1994. 72 WAGNER, Genealogie (wie Anm. 10), S. 169–170, demnach Studium in Mainz, Freiburg und Löwen.

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halt“ dessen Ausbreitung in den geistlichen Territorien ein Hindernis entgegengesetzt. Der Vorbehalt verhinderte in der Folge eine Säkularisierung dieser Territorien, nicht aber den Anschluss der regierenden (Erz-) Bischöfe an die Reformation. Diese wurde in den folgenden Jahrzehnten in den Erzstiften Bremen und Magdeburg sowie in zahlreichen Hochstiften im Norden und Osten des Reiches eingeführt. Diese Territorien wurden in der Folge von protestantischen Administratoren verwaltet. Von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung im Reich war die Zusammensetzung des Kurfürstenkollegiums, denn eine protestantische Stimmenmehrheit konnte dazu führen, dass ein Angehöriger dieser Konfession zum Kaiser gewählt wurde. Von den weltlichen Kurfürsten hatten sich der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Brandenburg und der Pfalzgraf bei Rhein der Reformation angeschlossen; Inhaber der vierten weltlichen Kurwürde (König von Böhmen) war das Haus Habsburg. Wenn es gelang, einen der geistlichen Kurfürsten – die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier – zum Konfessionswechsel zu bewegen, winkte den Protestanten die Mehrheit. Im Erzstift Köln hatte es 1543/44 einen ersten Reformationsversuch gegeben, der mit der Absetzung des Erzbischofs geendet hatte.73 Der 1567 gewählte Salentin von Isenburg war nur „auf Abruf“ Erzbischof, da er der Letzte seiner Familie war und diese fortpflanzen musste.74 Weil er die Weihen noch nicht empfangen hatte, war eine Rückkehr in den weltlichen Stand (mit dem Ziel einer Heirat) ohne weiteres möglich. Salentin legte allerdings großen Wert darauf, das Erzstift auch künftig beim alten Glauben zu halten. Da sein Verzicht absehbar war, traten mehrere Kandidaten auf den Plan und bemühten sich um die Unterstützung innerhalb des wahlberechtigten Domkapitels.75 Dem gehörten auch die Grafen Johann und Wilhelm von Salm-Reifferscheid an,76 Söhne einer Schwester des Grafen Georg Ernst von Henneberg.77 Hinter den zumeist aus gräf73 Wilhelm JANSSEN, Kleine Rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997, hier S. 177–179. 74 Ebd., S. 182. 75 Günther von LOJEWSKI, Bayerns Weg nach Köln (Bonner Historische Forschungen, 21), Bonn 1962. 76 Zur Familie vgl. Detlev SCHWENNICKE, Europäische Stammtafeln, NF Bd. 4, Marburg 1981, T. 108–112: Wilhelm (1543–1587); Johann (1549–1601). 77 Zur Gräfin Elisabeth (1517–1577) vgl. WAGNER, Genealogie (wie Anm. 10), S. 172. Zur Vermählung im September 1538 vgl. LATh-StAM, GHA I, Nr. 34 (die Ehe war durch die Herzogin Maria von Jülich vermittelt worden). Das Haus Henneberg hatte damals noch nicht die Reformation angenommen, Elisabeth blieb wohl katholisch. Graf Georg Ernst korrespondierte regelmäßig mit seiner Schwester (ebd., Nr. 1427, 1428, 1462, 1476 u. 1497 aus den Jahren 1540 bis 1577), in geringerem Maße auch mit deren Ehemann und Söhnen (ebd., Nr. 3166–3181). Die Geschwister trafen sich u.a. im August 1574 bei einem Kuraufenthalt des Grafen in Ems (ebd., Nr. 1497, Bl. 26–31).

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lichen und freiherrlichen Häusern stammenden Domherren standen Familienangehörige und Verwandte, von denen viele sich der Reformation angeschlossen hatten. Sobald deutlich wurde, dass Herzog Albrecht von Bayern seinen Sohn Ernst zum Erzbischof wählen lassen wollte, bildete auf Initiative des Grafen von Nassau eine Gegenpartei, zu deren Unterstützern auch Graf Georg Ernst von Henneberg gehörte.78 Ihre Anhänger im Domkapitel wählten am 5. Dezember 1577 Gebhard Truchseß von Waldburg zum Erzbischof – eine schwere Niederlage für den Herzog von Bayern und seinen Sohn. Zu dessen Wählern aber hatten auch die Domherren Johann und Wilhelm von SalmReifferscheid gehört. Sie hatten ihre Stimme schriftlich abgegeben, da kurz vorher (am 2. Dezember) ihre Mutter Elisabeth, geborene Gräfin von Henneberg, gestorben war.79 1582 näherte sich Erzbischof Gebhard dem protestantischen Bekenntnis an. Ein Anlass war sein Verhältnis zur Gräfin Agnes von Mansfeld, Stiftsdame zu Gerresheim, deren Brüder den Erzbischof zur Eheschließung drängten.80 Mit dem Ziel einer Säkularisierung des Erzstifts schlug Gebhard im November 1582 militärisch los.81 Damit begann der „Kölnische/Truchsessische Krieg“.82 Im März 1583 schloss der Papst den Erzbischof aus der katholischen Kirche aus und erklärte ihn für abgesetzt. Diese Entwicklungen hat Graf Georg Ernst von Henneberg aus verschiedenen Gründen – als Protestant und als Verwandter – mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. Seine Informationen erhielt er durch zahlreiche „Neue Zeitungen“, die ihm von befreundeten (und in gleicher Weise am Konflikt interessierten bzw. beteiligten) Höfen zugesandt wurden. Zunächst waren sie wenig erfreulich. Im Februar hatten spanische Truppen mit der Belagerung der Stiftshauptstadt Bonn begonnen.83 Am 15. April 1583 hieß es: „auß Bonn bekomme ich jetzt zeittung, welchergestaltt kein geldt mehr fur handen, derhalben wohl 25 knecht 78 LOJEWSKI, Bayerns Weg (wie Anm. 75), S. 228. 79 Nachricht vom Tod, in: LATh-StAM, GHA II, Nr. 67. Nachrichten vom Verzicht des Erzbischofs [Salentin] und der erforderlichen Neuwahl, in: LATh-StAM, GHA I, Nr. 1497, Bl. 62–65. 80 Vgl. Günter JANKOWSKI, Mansfeld. Gebiet – Geschlecht – Geschichte. Zur Familiengeschichte der Grafen von Mansfeld, Luxemburg 2005, S. 257–264, Porträt der „schönen Mansfelderin“ auf S. 257. 81 LOJEWSKI, Bayerns Weg (wie Anm. 75), S. 346–369 (Der Säkularisationsversuch). 82 JANSSEN, Kleine Rheinische Geschichte (wie Anm. 73), S. 188; Franz PETRI, Im Zeitalter der Glaubenskämpfe (1500–1648), in: DERS./Georg DROEGE (Hg.), Rheinische Geschichte in drei Bänden, Bd. 2: Neuzeit, Düsseldorf 1976, S. 1–217, hier S. 83–111 (Kölnischer Krieg und Jülich-Klevische Erbfolge). 83 PETRI, Zeitalter der Glaubenskämpfe (wie Anm. 82), S. 89 f. Bonn war Residenz des Erzstifts, der Erzbischof war bereits im 13. Jahrhundert aus Köln vertrieben worden.

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entlauffen, wie noch teglich mehr und mehr außschleichen […]; der furst von Guhlich [Herzog von Jülich] hatt jenseits des reins gegen Bonn uber [in Beuel] 300 knecht liegenn, zuverhuten, das den Bonnischen nichts zu komme“.84 Am 23. Mai 1583 wählten die Domherren, darunter auch die Brüder von Salm-Reifferscheid, den Herzog Ernst von Bayern zum neuen Erzbischof.85 Graf Georg Ernst erhielt dazu einen Bericht, nach dem von den 18 adligen Kapitularen nur sieben persönlich erschienen seien; gewählt worden sei vermutlich der Bischof von Lüttich [Ernst von Bayern].86 Am 12. Juni hieß es, Salentin von Isenburg (Befehlshaber der Truppen des Domkapitels) sei vor Bonn erschienen und habe mit der Belagerung begonnen.87 Am 23. Juli berichtete Landgraf Wilhelm von Hessen: „Doctor Beutterich ist am vergangenen Sonnabendt mitt 1500 französischen Schutzenn zu wasser gein Bonn ankommen.“88 Anfang September informierte Kurfürst August von Sachsen den Grafen Georg Ernst: „die Stadt Bonn hat vergangen Mitwochen den 28 Augusti durch D. Beutterichs Lottringischen Fenrichen einen, so den volgenden tag alßbalt gehencket worden, dem new erwöltten von Beyern sollen verkaufft und verrathen werden. […] in der Stadt seint domahls beyeinander gewesen Hertzog Johan Casimir Pfaltzgraff, beyde Mrgg. von Baden, Georg Graff Johan von Nassaw Sohn, der von Newenar, Solmß, Hohenzoller, Kriechingen und andere herren mehr, so mit dem abgesetzten Bischoff Gebhardo halten.“89

Am 3. September musterte Pfalzgraf Johann Casimir zwischen Bonn und Köln seine Truppen, 3.309 Berittene und zehn Fähnlein von je 300 Mann. Daneben lagen zwei Fähnlein deutsche Knechte in einem Kloster gegenüber Bonn sowie je eines zu Godesberg und Poppelsdorf.90 Am 12. September wurde berichtet, die Truppen des Pfalzgrafen hätten über den Rhein gesetzt und von Lülsdorf aus die auf dem linken Rheinufer bei Wesseling stehenden spanischen Truppen 84 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6518, Bl. 58–61, hier Bl. 58. 85 LOJEWSKI, Bayerns Weg (wie Anm. 75), S. 370–404 (Der Sieg der Gegenreformation), zur Anwesenheit der Brüder Reifferscheid bei der Wahl ebd. S. 402. 86 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6519, Bl. 46–49. Nach LOJEWSKI, Bayerns Weg (wie Anm. 75), S. 402 waren acht adlige Kapitulare erschienen. 87 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6519, Bl. 194–198; die gleiche Nachricht ebd., Bl. 176–181 (16.6.1583). 88 Ebd., Bl. 37–39, hier Bl. 39. 89 Ebd., Nr. 6518, Bl. 26–45, hier Bl. 30. Dr. Peter Beutterich war Rat des Pfalzgrafen; PETRI, Zeitalter der Glaubenskämpfe (wie Anm. 82), S. 87 bezeichnet ihn als „calvinistischen Scharfmacher“, dessen Person eine Zusammenarbeit zwischen Johann Casimir und Wilhelm von Oranien unmöglich gemacht habe. 90 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6519, Bl. 79–90 (Musterungsregister).

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beschossen.91 Dann sei Johann Casimir den Rhein hinauf bis zu den beiden verbrannten Klöstern gegenüber Bonn [Damenstifte Schwarzrheindorf und Vilich] gezogen.92 Im Oktober und November informierte Landgraf Ludwig von Hessen den Grafen von Henneberg durch mehrere „Neue Zeitungen“ von der weiteren Entwicklung.93 Am 16. Oktober erreichte den Pfalzgrafen die Nachricht vom Tod seines kurfürstlichen Bruders. Johann Casimir, dem die Vormundschaft über seinen minderjährigen Neffen zustand, begab sich daher nach Heidelberg. „Sein Heer löste sich auf, Gebhard überließ er seinem Schicksal“.94 Mit der Einnahme von Bonn (Januar 1584) und der Anerkennung des Kurfürsten Ernst durch die protestantischen Kurfürsten (1585) war der Krieg im Wesentlichen entschieden, auch wenn sich die militärischen Auseinandersetzungen noch bis 1588 hinzogen.95 Dies hat Graf Georg Ernst von Henneberg nicht mehr miterlebt, denn er war am 27. Dezember 1583 gestorben.

7. Zusammenfassung Man wird feststellen können, dass der letzte Graf ebenso wie seine Vorfahren an den Entwicklungen in Europa lebhaft interessiert und aufgrund der „Neuen Zeitungen“ auch gut informiert war. Zu verdanken war dies unter anderem der guten Vernetzung des Hauses Henneberg – nicht zuletzt durch die Eheverbindungen in den letzten Generationen mit den Fürstenhäusern Braunschweig, Brandenburg und Württemberg. Am 1. September 1554 hatten die Grafen von Henneberg in Kahla mit den Herzögen von Sachsen einen Vertrag geschlossen, der die Übernahme erheblicher Schulden durch die Ernestiner vorsah und ihnen im Gegenzug für den Fall eines Erlöschens des Grafenhauses die Nachfolge im Territorium zusprach.96 Als dieser Fall 1583 eintrat, war Kurfürst August von Sachsen Vormund der unmündigen Ernestiner. Er forderte als Ersatz für seine Kosten aus der Gothaischen Exekution (1567) einen Anteil an der Grafschaft Henneberg. Im September 1593 wurden den Albertinern fünf Zwölftel der Grafschaft Henneberg ein-

91 Ebd., Bl. 93–94 (12.9.1583). 92 Ebd., Bl. 103–104 (23.9.1583, Ereignisse vom 11.9.1583; wie in Bl. 93–94). 93 Ebd., Nr. 6518, Bl. 88–98 (Oktober, mit Antwort des Grafen, datiert Kühndorf 26.10.1583, Bl. 92–93), 104–108 (November). 94 PETRI, Zeitalter der Glaubenskämpfe (wie Anm. 82), S. 91. 95 Vgl. ebd., S. 91–93; Bonn war 1587/88 noch einmal kurzfristig in Händen von Anhängern Gebhards. 96 SCHULTES, Diplomatische Geschichte (wie Anm. 61), T. 2, S. 171–174.

DIE GRAFEN VON HENNEBERG UND DIE „NEUEN ZEITUNGEN“

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geräumt; den Ernestinern blieben die übrigen sieben Zwölftel.97 Bis 1660 wurde das Territorium durch eine gemeinsame, in Meiningen ansässige Regierung verwaltet.98 Die dort tätigen Beamten waren und blieben wie die Grafen an den politischen Entwicklungen interessiert und bezogen weiterhin „Neue Zeitungen“. Im Sommer 1630 vollzogen sie den nächsten Schritt: seitdem erhielt man aus Nürnberg wöchentliche „Avisen“99 mit den neuesten Nachrichten u.a. aus Rom, Hamburg, Den Haag, Köln, Regensburg und Leipzig – die nächste, noch handschriftliche Vorform der heutigen Tageszeitungen.100 Gedruckte Zeitungen, die es seit 1605 gab,101 sind im Hennebergischen Archiv nicht überliefert.102 Die Grafen von Henneberg und ihre Beamten, auch die der Rechtsnachfolger, waren stets gut informiert. Landesgeschichte aber lebt vom Vergleich. Kenntnisse darüber, in welchem Ausmaß man sonst in Thüringen und in Franken „Neue Zeitungen“ bezog, wären daher wünschenswert. Einschlägige Archivbestände dürften vorhanden sein …

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Zum Ablauf: ebd., S. 330–338, der Vertrag von 1593 ebd., Urkundenbuch, S. 517–520, Nr. CCC. 98 Vgl. dazu HEß, Verwaltung (wie Anm. 11). 99 Vgl. dazu STÖBER, Pressegeschichte (wie Anm. 2), S. 58–60. 100 LATh-StAM, GHA I, Nr. 6543, Bl. 1–7 (Avisen, eingegangen am 6.7.1630), Bl. 8–14 (14.7., Bl. 14 die Bezeichnung „Ordinari Nürnbergische Avisen“), Bl. 15–21 (21.7.), danach wöchentlich fortlaufend. 101 STÖBER, Pressegeschichte (wie Anm. 2), S. 60–62. 102 Die in Meiningen erhalten gebliebenen Kataloge der 1946 von der Besatzungsmacht abtransportierten Herzoglichen Öffentlichen Bibliothek weisen ebenfalls keine gedruckten Zeitungen des 17. oder 18. Jahrhunderts nach (freundl. Mitteilung von Silke Hermann, LATh-StAM, vom 8.8.2018).

TOBIAS KAISER EINE ETWAS ANDERE MEDIENGESCHICHTE

Eine etwas andere Mediengeschichte Anmerkungen zur Entstehung der vegetarischen Publizistik des 19. Jahrhunderts im preußisch-thüringischen Nordhausen

Die literatur- und mediengeschichtliche Forschung sei sich, so Werner Greiling im Jahr 2017, „darüber einig, dass sich Fragen zur Perzeption und Rezeption von Büchern und Periodika sowie zu deren gesellschaftlicher Wirkung nur mittels genauer Kenntnisse über die Produktion und den Vertrieb von Druckerzeugnissen beantworten lassen.“1 Was Greiling hier auf den Punkt bringt und als forschungsanregende Norm formuliert, kann in diesem Aufsatz nur skizziert werden. Es soll hier auf ein besonderes medienhistorisches Phänomen des 19. Jahrhunderts hingewiesen werden, das im thüringischen Nordhausen entstand: die Zeitschriften, Flugblätter, Bücher, Gedichte und Romane umfassende Publizistik von und für die Anhänger der so genannten „natürlichen Lebensweise“, die sich zunächst „Pythagoräer“ oder „Vegetarianer“ nannten, dann aber bald als „Vegetarier“ bekannt wurden. Der erste deutsche Vegetarierverein wurde am 21. April 1867 in Nordhausen gegründet. In den Folgejahren entwickelte sich die Stadt zum Publikationsort vegetarischer Publizistik.2 Insbesondere das Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer), eine regelmäßig erscheinende Zeitschrift mit zehn Ausgaben pro Jahr, wurde seit Juni 1868 in Nordhausen produziert, gedruckt und verlegt. Sie wurde später in Thalysia umbenannt und fusionierte 1893 schließlich mit der in Berlin erschienenen Vegetarischen Rundschau, die eigentlich 1881 als konfrontatives Konkurrenzprojekt mit dem Namen Berliner Blätter für naturgemässe Lebensweise konzipiert worden war. Mit der Gründung des „Deutschen Vegetarier-Bundes“ im Juni 1892 in Leipzig galten die zwischenzeitlichen, teilweise heftigen Flügelkämpfe als beendet. Der in Nordhausen gegründete „Deutsche Verein für naturgemäße Lebensweise“ und der in Berlin ansässige

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Werner GREILING, Verlagsstruktur zur Schulverbesserung und Volksbildung im 19. Jahrhundert. Gustav Friedrich Dinter und Johann Karl Gottfried Wagner, Leipzig 2017, S. 7. Der Begriff „vegetarische Publizistik“, der in diesem Beitrag verwendet wird, soll – analog etwa zu Wortkombinationen wie „konservative Zeitung“, „christliche Publikation“ oder „sozialistische Presse“ – den weltanschaulich-politischen Charakter der entsprechenden Druckerzeugnisse betonen, der gerade in der frühen Zeit prägend war.

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„Deutsche Verein für harmonische Lebensweise“ versöhnten sich.3 Der neue Bund brauchte ein neues Zentralorgan, so dass 1895 mit der Vegetarischen Warte in Frankfurt am Main eine neue Zeitschrift entstand, die bis 1933 existierte. In der Vegetarischen Warte, in der Theoriediskussionen und Orientierungssuche ihren Platz fanden, wurde im Jahr 1896 dann auch zum ersten Mal überhaupt der Begriff „Lebensreform“ verwendet, der sich bald als Leitbegriff durchsetzen sollte und letztlich zu einem Perspektivwechsel führte.4 Lebensreform bezeichnete ganz unterschiedliche Reformansätze, deren Protagonisten sich vor allem durch eine vielfältige – also Religion, Kultur, Kunst, Sport und/oder Sozialverhalten verändern wollende – Denkweise auszeichneten.5 Der Vegetarismus wurde zunehmend nur noch als eine Spielart der Ernährungsreform und diese wiederum lediglich als eine Unterkategorie der Lebensreform wahrgenommen. Unter den Lebensreformern finden sich die unterschiedlichsten Positionen vom Anarchismus bis zu rassistisch-völkischen Ideen. Nicht zufällig datiert das Ende der Vegetarischen Warte auf das Jahr 1933. Im Nationalsozialismus kamen selbstständig organisiertes Vereinswesen und Publizistik der Vegetarier zur Erliegen. Mit seiner Selbstauflösung kam der „Vegetarier-Bund“ 1935 der zwangsweisen Eingliederung in die nationalsozialistische „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ zuvor.6 Auf diese spätere Entwicklung soll in diesem Beitrag jedoch nicht eingegangen werden. Zum einen hat die Forschung viel zu oft teleologisch den organisierten Vegetarismus des 19. Jahrhunderts als bloße Vorgeschichte der Lebensreformbewegung um 1900 betrachtet, die wiederum zumeist zu einem kulturellästhetischen Phänomen reduziert wird oder deren Affinitäten zur völkischen Bewegung betont werden. Dies wird jedoch der frühen Vereinsgründungphase und der ursprünglichen Entstehung der Publizistik nicht gerecht, deren Intentionen aus den gesellschaftlichen Konflikten des 19. Jahrhunderts heraus interpretiert werden können und deren Genese in der bürgerlich-demokratischen Emanzipationsbewegung als eigenständiges Thema untersuchenswert erscheint. Zum anderen ermöglicht die Konzentration auf den Entstehungszeitraum und 3

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Vgl. zu diesen Konflikten konzise Eva BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 176. Vgl. Sabine MERTA, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880–1930, Stuttgart 2003, S. 82. Vgl. Kai BUCHHOLZ/Rita LATOCHA/Hilke PECKMANN/Klaus WOLBERT (Hg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001. Vgl. Florentine FRITZEN, Gemüseheilige. Eine Geschichte des veganen Lebens, Stuttgart 2016, S. 94–98; ausführlicher und mit Nachweisen DIES., Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 70–77.

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den Entstehungsort Nordhausen ein Anknüpfen an die nicht zuletzt von Werner Greiling vorangetriebenen Forschungen zur mediengeschichtlichen Relevanz des mitteldeutsch-thüringischen Raumes in der Entstehungs- und Etablierungsphase moderner politischer Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert. Im Folgenden werden deshalb zunächst der Publikationsort Nordhausen in den Fokus genommen, die publizistischen Vorläufer und Vorbilder der Nordhäuser Vegetarier vorgestellt und die in Nordhausen entstandenen vegetarischen Druckerzeugnisse, insbesondere die Zeitschrift porträtiert. Bei all dem kommt man nicht umhin, den Vereinsgründer, Autor und Zeitungsherausgeber Eduard Baltzer immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Das Ziel des Beitrags ist es, die „Herstellung einer vegetarischen Öffentlichkeit“7 nachzuzeichnen. Gefragt werden soll nach der Bedeutung der Produktion vor Ort, aber auch nach der überregionalen kommunikativen Vernetzung, um damit allgemeine Rückschlüsse auf die Geschichte von Medien und Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts anzudeuten.

Der Publikationsort Nordhausen und Eduard Baltzers publizistische Erfahrungen Die von Werner Greiling untersuchte „intensive Kommunikationsverdichtung“ in der Zeit um 1800 hatte „weite Teile der Kleinstaatenwelt Thüringens, aber auch Städte wie Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen erfaßt.“8 So entstand auch in der Freien Reichsstadt Nordhausen ein von „Repräsentanten der örtlichen bürgerlichen Bildungsschicht“9 initiiertes Intelligenzblatt, das im Jahr 1766 gegründete Wöchentliche Nordhäusische Intelligenzblatt.10 Besondere Bedeutung und direkte Relevanz für unser Thema erlangte dann die Revolution von 1848/49, die in Nordhausen wie an vielen Orten eben auch eine mediale Revolution bedeutete. Die Presse wurde vielerorts zur „Großmacht“.11 Es entstanden neue Periodika, Tageszeitungen unterschiedlicher Couleur wurden gedruckt und in Massen 7 8

So das Kapitel bei BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 3), S. 175–182. Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 25. 9 Ebd., S. 222 f. 10 Vgl. ebd., S. 141, 209; Thomas MÜLLER, Nordhäuser Pressegeschichte. Zur Entstehung und Entwicklung der Zeitung in der Stadt Nordhausen, Nordhausen 2012, S. 18–35. 11 „Vom Werden einer ‚Großmacht‘ “ ist das entsprechende Hauptkapitel in der Druckfassung der Habilitationsschrift Werner Greilings überschrieben, GREILING, Presse und Öffentlichkeit (wie Anm. 8), S. 505–531. Vgl. auch DERS., Presse und Revolution 1848–

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gelesen. Auch in Nordhausen bedeutete 1848 eine „publizistische Revolution“.12 Es entstanden neun neue politische Tageszeitungen.13 Insbesondere wurde der Grundstein für die Nordhäuser Zeitung gelegt, die in der Revolution ein linksliberal-demokratisches Profil entwickelte und an deren Gründung am 1. April 1848 sich der evangelisch-freikirchliche Theologe Eduard Baltzer beteiligte, der Nordhausen als Delegierter beim Frankfurter Vorparlament und als Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung vertrat. Er blieb jahrzehntelang Redakteur bzw. Autor dieser Zeitung und profilierte sich als politischer Kommentator. „Baltzer war ihr geistvollster Mitarbeiter, seine Leitartikel trafen stets den Kern der zu behandelnden Frage und waren ausschlaggebend für das Urteil weitester Kreise. Er gab der Zeitung auch ihre politische Richtung“.14 Nordhausen war eine demokratische Hochburg in der 1848er Revolution. Die Nordhäuser Abgeordneten gehörten in Frankfurt am Main und Berlin jeweils der Linken an. Baltzer wurde dabei zu einem Vordenker, der weit über die Stadt hinaus Profil gewann.15 Dies betraf nicht nur den im engeren Sinne politischen Bereich, sondern auch seine sehr weitgehenden, die Amtskirche fundamental kritisierenden theologischen Vorstellungen. Für Baltzer selbst waren die Grenzen zwischen Religion und Politik ohnehin fließend. Unter der Überschrift „Politik oder Religion?“ formulierte er für seine Gemeinde: „[F]ür uns ist dies kein Gegensatz, sondern Politik und Religion verhalten sich uns wie zwei concentrische Kreise, der größere ist die Religion, der Mittelpunkt beider das Bewusstsein des Menschen. […] Nur eine todte Religion kann sich in politischen Dingen für gleichgültig erklären“.16

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1850, in: Hans-Werner HAHN/Werner GREILING (Hg.), Die Revolution 1848/49 in Thüringen. Aktionsräume. Handlungsebenen. Wirkungen, Rudolstadt/Jena 1998, S. 474–511. MÜLLER, Nordhäuser Pressegeschichte (wie Anm. 10), S. 69. Vgl. auch DERS., 1848 – Revolution im Nordhäuser Zeitungswesen, in: Beiträge zur Geschichte aus Stadt und Kreis Nordhausen 26 (2001), S. 71–79. Vgl. GREILING, Presse und Öffentlichkeit (wie Anm. 8), S. 723. Heinrich HEINE, Baltzer, Eduard, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Magdeburg 1929, S. 322-341, hier S. 337. Vgl. zu Baltzers politischen und theologischen Positionen der 1840er Jahre etwas ausführlicher Tobias KAISER, Eduard Baltzer (1809–1873) – ein enttäuschter 1848erRevolutionär als Gründer des ersten deutschen Vegetariervereins?, in: Stefan GERBER/ Werner GREILING/Tobias KAISER/Klaus RIES (Hg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, Festschrift für Hans-Werner Hahn zum 65. Geburtstag, Göttingen 2014, Bd. 2, S. 425–450. Eduard BALTZER, Die Freie Gemeinde zu Nordhausen, ein Zeugniß aus ihr und über sie, Nordhausen 21851, S. 38.

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Baltzer hatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Zeilen bereits die Amtskirche verlassen. Als Pazifist und „Lichtfreund“17 war er im Oktober 1845 zum Gemeindepfarrer der Stadtkirche St. Nikolai in Nordhausen gewählt worden.18 Der Magistrat der Stadt hatte als Kirchenpatron die Wahl auch bestätigt, das preußische kirchliche Konsistorium deren Genehmigung jedoch verweigert. In dem nun folgenden kirchenpolitischen Machtkampf erfuhr Baltzer große Unterstützung aus der Nordhäuser Gemeinde. Kirchenkollegium und Magistrat beschwerten sich vergeblich beim Minister und sogar beim König. Am 5. Januar 1847 trat dann das Nordhäuser Kirchenkollegium aus Protest zurück und verkündete die Gründung einer „freien protestantischen Gemeinde“. Baltzer, zu diesem Zeitpunkt Diakon und Hospitalprediger in Delitzsch, legte diese Ämter nieder und zog nach Nordhausen, um Geistlicher dieser neuen Gemeinde zu werden. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm klar, dass er als solcher nicht mehr in der Amtskirche verbleiben konnte. „Ich war in meinem Inneren herzlich froh, daß dieser jahrelange, häßliche Streit zu Ende war.“19 Ganz deutlich zeigt sich das von Thomas Nipperdey beschriebene Phänomen: Durch die harte Haltung der Regierung gegenüber den „Lichtfreunden“, die mit Amtsenthebungen und Strafverfahren einherging, kam „eine breite Zustimmungsbewegung im städtischen, auch kleinen Bürgertum“ auf, zumal wenn dieses „rationalistisch und demokratisch getönt“ war.20 Ein solches städtisches Bürgerbewusstsein und eine demokratische Prägung waren in der ehemaligen Freien Reichsstadt Nordhausen erkennbar. Der nunmehr freikirchliche Prediger Baltzer setzte zur Verbreitung seiner Positionen von Anfang an auf die entstehende „Großmacht“ der Presse. Nicht nur, dass seine Predigten und Programmschriften gedruckt und publiziert wurden, die Freireligiösen gründeten auch eine eigene Zeitschrift mit überregionalem Anspruch, die bereits im Dezember 1847 erstmals in Nordhausen erschien und von Eduard Baltzer herausgegeben wurde.21 Baltzer, der auch als Erfinder

17 Die wegen der häufigen Verwendung der Licht-Metapher so bezeichnete Reformbewegung innerhalb der evangelischen Kirchen setzte sich für kirchliche Lehrfreiheit ein. Zur Bedeutung vgl. Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1994, S. 435 f. 18 Vgl. Peter KUHLBRODT, Chronik der Stadt Nordhausen 1802 bis 1989, Horb am Neckar 2003, S. 49–88, hier S. 76 f. Vgl. auch Eduard BALTZER, Erinnerungen. Bilder aus meinem Leben, Frankfurt a. M. 1907, S. 60-63. 19 Ebd., S. 61. 20 NIPPERDEY, Deutsche Geschichte (wie Anm. 17), S. 435. 21 Am 2.12.1847 wurde die von Baltzer herausgegebene Zeitschrift Die freie Gemeinde begründet. Vgl. KUHLBRODT, Chronik (wie Anm. 18), S. 78. Später nannte sie sich Freie Gemeindehalle. Vgl. außerdem Joachim CHOWANSKI/Rolf DREIER, Die Jugendweihe. Eine

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der Jugendweihe in Erscheinung trat, wurde zudem bald Vorsitzender des nationalen Verbandes der Freikirchen, was die weitere Verbreitung seiner publizistischen Produkte förderte.

Vorläufer und Vorbilder: vegetarische Publikationen des 19. Jahrhunderts vor der Nordhäuser Vereinsgründung Im Jahr 1866, im Alter von 53 Jahren, wurde Eduard Baltzer Vegetarier und engagierte sich in der Folgezeit mit großem Einsatz dafür, seine Mitmenschen von der Richtigkeit dieser von ihm neu entdeckten Lebensweise zu überzeugen. Konsequenterweise wurde er im Vereinswesen, durch Vortragstätigkeit und eine mit wissenschaftlichem Anspruch und theoretischem Ernst betriebene umfangreiche Publizistik aktiv. Auch wenn dieses Engagement gelegentlich als Eskapismus eines gescheiterten 1848er Revolutionärs interpretiert wurde,22 so zeigt ein quellennaher Blick auf seine Positionen, dass er selbst es keineswegs als eine unpolitische Flucht ins Private verstanden hat.23 Für Baltzer war, wie seine Tochter in einem Nachruf betonte, der „Vegetarismus keine kleine Magenfrage, sondern eine ganze Weltanschauung“.24 Und in erstaunlich kurzer Zeit wurde Baltzer der „wichtigste Theoretiker und Organisator der vegetarischen Bewegung in Deutschland“.25 Keineswegs war Baltzer jedoch der erste vegetarische Publizist. Mit der Aufklärung wurden grundsätzliche tierethische Fragen gestellt. Als Schlüsseltext kann Rousseaus „Émile ou De l’éducation“ gelten und darin insbesondere eine Passage, in der Rousseau Plutarchs Abhandlung „Über das Fleischessen“ (perí sarkophagías) zitiert. Plutarch gibt hier wiederum die diesbezüglich Haltung des

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Kulturgeschichte seit 1852, Berlin 2000, S. 16. Eine systematische Auswertung dieser Periodika ist ein Desiderat. Der „Frust […] angesichts ausbleibender, entgleister, verratener oder niedergeschlagener Revolutionen“ durch die „ein politisch-progressiver Elan“ sich in „eine neuerdings lebensreformerisch gefasste Naturheilkunde“ verwandelt habe, postuliert ohne Belege Marc CLUET, Vorwort, in: DERS./Catherine REPUSSARD (Hg.), Lebensreform. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht/La dynamique sociale de l'impuissance politique, Tübingen 2013, S. 11–50, hier S. 23. So schon Wolfgang R. KRABBE, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, Göttingen 1974, S. 15. Vgl. ausführlicher hierzu KAISER, Eduard Baltzer (wie Anm. 15). Helene LICHTENAUER, Nachschrift, in: BALTZER, Erinnerungen (wie Anm. 18), S. 108-110, hier S. 109. Hans-Jürgen TEUTEBERG, Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1991), S. 33–65, hier S. 51.

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Philosophen Pythagoras wieder.26 In den angloamerikanischen Ländern formierten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Vereine und Gesellschaften, erschienen Schriften und Ratgeber.27 Eine besondere Rolle spielte Jean Antoine Gleizès (1773–1843), ein französischer Privatgelehrter, der seine Gedanken zu einem komplexen System ausgebaut hatte und bei den frühen Vegetariern geradezu Kultstatus erlangte.28 Im deutschsprachigen Raum erschienen die ersten Publikationen zum Vegetarismus in den 1840er Jahren und sie verknüpften tierethische Fragen mit dem Anspruch, die Pauperismuskrise lösen zu können. Der Realschullehrer und Vegetarier Johann Wilhelm Zimmermann29 versprach in seinem von großem Optimismus geprägten, 1843 in erster und 1846 in zweiter Auflage erschienenen Buch nicht weniger, als durch „Beleuchtung der Hauptursachen des physischmoralischen Verfalls der Culturvölker“ den „Weg zum Paradies“ aufzeigen zu können.30 Dabei wird die Pflanzenkost als „Rückkehr zur ursprünglichen Ernährungsweise“ des Menschen beschrieben mit dem Credo: „Zurück zum Naturgesetz!“ bzw. „Zurück zum natürlichen Leben“.31 Zu einem weiteren publizistischen Pionier des Vegetarismus wurde der Apotheker und Heilpraktiker Theodor Hahn, der explizit an Gleizès und Zimmermann anknüpfte.32 Hahn wurde 1852 nach der Lektüre von Rousseaus „Émile“ und Christoph Wilhelm Hufelands in Jena entwickelter Makrobiotik zum Vegetarier. Er gilt als einer der Begründer der Naturheilkunde, war jedoch auch ein politischer Kopf, aktiv in der 1848er Revolution, 1849 Mitglied im „Bund der Kommunisten“. Er floh in die Schweiz, wo er dann später eine eigene Kur26 Vgl. PLUTARCH, Moralia, ins Englische übersetzt von Harold CHERNISS und William C. HELMBOLD, Bd. 12, Cambridge/London 1957, 993A–996C; Jean-Jacques ROUSSEAU, Emil oder Über die Erziehung [1762], übersetzt von Hermann DENHARDT. Vollständige Neuausgabe, hg. von Karl-Maria GUTH, Berlin 2015, S. 148–154, 254–275. 27 Vgl. James GREGORY, Of Victorians and Vegetarians. The Vegetarian Movement in Nineteenth-century Britain, London/New York 2007; Colin SPENCER, Vegetarism. A History, New York/London 1996. 28 Jean Antoine GLEIZÈS, Thalysie, ou La Nouvelle Existence, Paris 1840. 29 Zu Zimmermann vgl. BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 3), S. 25, 77– 82; Uwe HEYLL, Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland, Frankfurt a. M./New York 2006, S. 90. 30 Wilhelm ZIMMERMANN, Der Weg zum Paradies, oder Mittel das Elend auszurotten, Quedlinburg 1843; DERS., Der Weg zum Paradies. Eine Beleuchtung der Hauptursachen des physisch-moralischen Verfalls der Culturvölker, so wie naturgemäße Vorschläge, diesen Verfall zu sühnen; ein zeitgemäßer Aufruf an Alle, denen eignes Glück und Menschenwohl am Herzen liegt, Quedlinburg 21846. 31 Zitate ebd., S. 152 u. S. 9. 32 Zu Theodor Hahn vgl. BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 3), S. 25, 68-82; HEYLL, Wasser, Fasten (wie Anm. 29), S. 40–43.

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Heilanstalt mit vegetarischer Ernährung und Wasserkuren eröffnete. Theodor Hahn, dessen Buch „Der Vegetarismus als neues Heilprinzip zur Lösung der sozialen Frage“33 seine Lehren zusammenfasst, war dann auch der Autor, der Baltzer zum Vegetarismus brachte. Hahn verband das Ziel der Gesundheit als Verbesserung des Individuums mit dem der Verbesserung der Gesellschaft. Als „Nestor der deutschen Vegetarianer“34 galt für die genannten Autoren und für Baltzer gleichermaßen jedoch zweifellos der Jurist Gustav (von) Struve, der nach der Lektüre von Rousseaus „Émile“ bereits seit 1832 Vegetarier war. Johann Wilhelm Zimmermann ließ 1846 in der zweiten Auflage seines ParadiesBuches die Widmung drucken: „Sr. Hochwohlgeboren Dem Großherzogl. Bad. Obergerichts-Procurator Herrn Gustav v. Struve“.35 Nur zwei Jahre später sollte Gustav Struve zusammen mit seiner Frau Amalie in der Revolution eine der Hauptfiguren der radikalen Republikaner und Aktivisten des Badischen Revolutionsaufstände werden, die in der Widmung genannten Ämter aufgeben und seinen Adelstitel niederlegen. 1851 musste er in die USA emigrieren, konnte erst 1863 nach einer Amnestie nach Deutschland zurückkehren. Struve war auch in der Zeit der Revolution und im Exil Vegetarier geblieben, „auch während der Feldzüge, an denen er in der Revolution und im amerikanischen Bürgerkrieg teilnahm.“36 Für Struve war der Vegetarismus stets Grundlage seines Denkens und Handelns. Was ihn im Jahr 1868 nach seiner Rückkehr nach Deutschland dazu brachte, mit 19 Gleichgesinnten, darunter fünf Frauen, den Stuttgarter Vegetarierverein zu gründen, war die explizit ausgesprochene Erkenntnis, dass er nun „nicht ganz so vereinzelt in der Welt stehe“.37 Diese Vereinsgründung war nach derjenigen in Nordhausen die zweite im deutschsprachigen Raum. Struves vegetarisches Manifest erschien in Romanform in der ersten Auflage bereits 1843 unter dem Titel „Mandaras Wanderungen“.38 Darin besucht die fiktive Titelfigur, der Inder Mandara, Deutschland und verteidigt dort mit tierethischen Argumenten seine vegetarische Lebensweise in Gesprächen mit Ärzten, Jägern oder anderen. Letztlich gelingt dies nicht. Mandara stirbt in einem deutschen Gefängnis. Auch in Struves schon vor der Revolution erschienenen 33 Theodor HAHN, Der Vegetarismus als neues Heilprinzip zur Lösung der sozialen Frage. Seine wissenschaftliche Begründung und seine Bedeutung für das leibliche, geistige und sittliche Wohl des einzelnen, wie der gesammten Menschheit, Berlin 21873. 34 Eduard Baltzer, zit. nach Peter KUHLBRODT, Eduard Baltzer (1814–1887) zum 200. Geburtstag, Nordhausen 2015, S. 7. 35 ZIMMERMANN, Weg zum Paradies 21946 (wie Anm. 30), S. III. 36 Ansgar REIß, Radikalismus und Exil. Gustav Struve und die Demokratie in Deutschland und Amerika, Stuttgart 2004, S. 32. 37 Gustav Struve an Eduard Baltzer, 27.2.1868, zit. nach Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1868), S. 5 f. 38 Gustav von STRUVE, Mandaras Wanderungen, Mannheim 1843.

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„Grundzügen der Staatswissenschaft“ wurde der Vegetarismus erwähnt: „Nicht nur die bezeichnete Lebensweise, sondern auch die derselben zu Grunde liegende Gesinnung bildet den Stützpunkt der reinen Demokratie.“39 Im Jahr 1869 bündelte Struve schließlich seine Position in der Schrift „Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung“.40 Baltzer kannte Struve als Gleichgesinnten aus der 1848er Revolution, beide Demokraten hatten sich im Frankfurter Vorparlament getroffen. Nach der Gründung des Nordhäuser Vegetariervereins nahm Baltzer Verbindung zu Gustav Struve auf, um zu eruieren, ob man ihn zum Ehrenvorsitzenden des Vegetariervereins wählen könne, was de facto zunächst einmal bedeutete, herauszufinden, ob Struve denn überhaupt noch Vegetarier war. Dies war der Fall. Der Angeschriebene zeigte sich begeistert und antwortete im Frühjahr 1868 dem „Gesinnungsgenosse[n] und Freund“ nach Nordhausen: „Ich hege keinen Zweifel darüber, dass vegetabilische Lebensweise einen bedeutungsvolleren Keim menschheitlicher Entwicklung in sich schliesst, als der norddeutsche Bund oder irgendeine Verfassung, welche nur unterschrieben und beschworen, aber nicht vom Geiste reiner Menschlichkeit durchdrungen ist.“41

Der Beginn des Vereinswesens und der vegetarischen Publizistik in Nordhausen Damit sind wir nach der Beschreibung der Vorläufer und Vorbilder wieder bei den Nordhäuser Vegetariern, ihrer Vereinsgründung und ihrer Publizistik angelangt. Schon weil der „Verein für natürliche Lebensweise (Vegetarianer)“ der erste deutsche Verein seiner Art war, stieß er auch außerhalb Nordhausens auf Interesse. Als Zugangsvoraussetzung wurde festgelegt, dass die Mitglieder „mindestens ¼ Jahr lang kein Fleisch und Nichts vom Fleische irgend eines Thieres genossen“42 haben durften. Mehrmals im Monat fanden Vereinstreffen statt. Man tauschte Erfahrungen und Rezepte aus und hörte Vorträge; es wurde „in parlamentarischer Weise verhandelt“,43 wobei Frauen gleichberechtigt waren. Eine Übersicht der Konfessionen lässt sich nicht rekonstruieren, in einer Stellungnahme des Vorstands aus dem Jahr 1870 heißt es jedoch, „dass in 39 DERS., Grundzüge der Staatswissenschaft, Bd.1: Von dem Wesen des Staats oder allgemeines Staatsrecht, Mannheim 1847, S. 211. 40 DERS., Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung, Stuttgart 1869. 41 Gustav Struve an Eduard Baltzer, 27.2.1868, zit. nach Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1868), S. 6. 42 Ebd. 3 (1870), S. 309. 43 Ebd. 1 (1868), S. 5.

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unserm Vereine Juden und Christen, Protestanten und Katholiken wie Dissidenten, friedlich neben einander sich befinden und auch sonst die erwünschteste Mannichfaltigkeit [sic] herrscht“.44 In Nordhausen entstand mit dem Vereins-Blatt die erste regelmäßig erscheinende vegetarische Zeitschrift im deutschsprachigen Raum. Sie wurde explizit auch an Nichtvereinsmitglieder und Interessenten verkauft, von denen man sich wohl ein zukünftiges Engagement erhoffte. Nicht zuletzt diente die Zeitschrift als Forum zum Austausch mit Gleichgesinnten. Die Wiener Historikerin Birgit Pack betont: „Zeitschriften waren das zentrale Kommunikationsmittel der ersten organisierten Vegetarier/innen des 19. Jahrhunderts. Sie lösten nicht-öffentliche, zufällige Treffen in Kuranstalten sowie die Korrespondenz mittels Briefen ab. Besonders bevor sich in zahlreichen Städten Vereine etablierten, erfolgte der Austausch mit Gesinnungsgenoss/innen über Periodika, aber auch parallel zu regelmäßigen Treffen und Aktivitäten vor Ort dienten Zeitschriften der Information und überregionalen Kontaktpflege.“45

Nordhausen wurde in den nächsten Jahren ein Zentrum des Vegetarismus. Vor allem erwuchs aus dem lokalen Verein bereits ein Jahr nach seiner Gründung der überregionale „Deutsche Verein für natürliche Lebensweise“, dessen Vorsitzender Baltzer wurde.46 Das erklärte Ziel war es, „die wenigen Freunde unserer Sache, die es zur Zeit in Deutschland giebt, zu sammeln, und so vielleicht die erste Zelle zu bilden, aus der mit der Zeit das Grössere sich gestalte“.47 Gleichzeitig wurde auch eine Stiftung gegründet, „deren Zweck es ist, den Vegetarianismus im großen Stile zu fördern“.48 Die gesellschaftsverändernden Vorstellungen der Vegetarier waren durchaus sehr grundsätzlich und weitgehend. Man verstand sich als Avantgarde einer „Reformpartei“ mit ganzheitlichem Ansatz, die „größeren Einfluß auf die öffentliche Meinung gewinnen“ wollte.49 Nicht zuletzt diente die Zeitschrift als Medium, um das überregionale Wachstum zu initiieren und zu gestalten. Da das Vereins-Blatt in den ersten Ausgaben die neuen Mitglieder namentlich aufführt, kann diese Entwicklung nachvollzogen werden. So ist der Ausgabe Nr. 1 vom 1. Juni 1868 zu entnehmen, dass man im April 1867 mit ursprünglich fünf Gründungsmitgliedern begonnen hatte und inzwischen schon 106 Mitglieder verzeichnete. Von diesen „besteht 44 Ebd. 3 (1870), S. 306. 45 Birgit PACK, Vegetarisch in Wien um 1900. Vegetarische Zeitschriften im 19. Jahrhundert, Blogbeitrag vom 13.2.2017, unter: https://veggie.hypotheses.org/122 (letzter Zugriff: 23.3.2019). 46 Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1868), S. 26. 47 Ebd., S. 4 f. 48 Oscar HERRMANN, Adressbuch für Vegetarianer, hg. vom Vorstand des Deutschen Vereins für naturgemässe Lebensweise, Zürich 1894, S. V. 49 Ebd., S. 90.

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die grössere Hälfte in auswärtigen Mitgliedern.“50 Zu den Gründungsmitgliedern gehörten angesehene Nordhäuser Bürger wie der Redakteur der Nordhäuser Zeitung Selmar Müller, der Fotograf Ludwig Belitski, der Gärtner Adolph Vocke oder die Kindergärtnerin und Institutsinhaberin Thekla Naveau.51 Gerade in der Anfangszeit wuchs der Verein schnell. Das zweite Heft verzeichnete im August 1868 bereits 153 und das dritte Heft im Oktober 1868 schon 202 Mitglieder. Später lösten separat publizierte „Adressbücher“, von denen die ersten in Nordhausen erschienen, die in der Zeitschrift abgedruckten Namenslisten ab.52 In ihnen wurden nicht nur Vereinsmitglieder, sondern auch andere der Redaktion bekannte Vegetarier, Restaurants, Getreidemühlen und Obsthändler aufgenommen. Die Adressbücher dienten dazu, dass Gleichgesinnte, wenn sie auf Reisen waren, wussten, an wen sie sich wenden konnten. Ausgewertet wurden sie bereits in der soziologischen Habilitation von Eva Barlösius.53 In der Tat handelt es sich hier um eine sozialgeschichtlich interessante Quelle für Netzwerkanalysen, zumal zumeist Geschlecht, Alter und Beruf angegeben sind und ein Statistikteil enthalten ist. Im Adressbuch der 11. Auflage aus dem Jahr 1887, dem Todesjahr Eduard Baltzers finden sich 2.464 Personeneinträge, darunter 386 Vereinsmitglieder des Deutschen Vereins.54 Bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 45 Millionen im Deutschen Reich sind das weniger als 0,01 Prozent. Die zwanzig Jahre zuvor von Baltzer und seinen Nordhäuser Freunden formulierten großen Ziele ließen sich – zumindest zu seinen Lebzeiten – nicht erreichen.

Das Vereins-Blatt für die natürliche Lebensweise (Vegetarianer) Wenn im Folgenden die Inhalte dieser „Nordhäuser Periode“ der vegetarischen Publizistik kurz inhaltlich konturiert werden sollen, so vor allem auch, um klarzumachen, dass hier, anknüpfend an die oben vorgestellten Vorgänger und Vorbilder, sehr weitgehende Ziele formuliert wurden. Der ersten Ausgabe des Vereins-Blatts ist ein Motto von Gleizès vorangestellt. Dem folgt ein (wahrscheinlich von Baltzer selbst geschriebenes) Gedicht mit dem Titel „Thalysia“, in dem die Sehnsucht nach „uralt-fernen Zeiten“ beschworen und nach dem 50 Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1868), S. 15. 51 Vgl. KUHLBRODT, Eduard Baltzer (wie Anm. 34), S. 6. Dort auch Porträtbilder von Müller, Naveau und Baltzer. 52 Vgl. Louis MAY, Adressbuch für Vegetarianer. Zusammengestellt im Auftrag des Deutschen Vereins für naturgemässe Lebensweise (Vegetarianer), Nordhausen 1879. 53 Zur Methodik vgl. bei BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 3), S. 98–102. 54 HERRMANN, Adressbuch (wie Anm. 48).

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Anruf der Göttinnen Ceres, Pomona und Flora das römische Erntefest Thalysia zu Ehren Demeters eingeleitet wird.55 Schon mit dieser Eröffnung wurden ein bildungsbürgerlicher Anspruch erhoben, Antikebezüge hergestellt, auf die vorhandene vegetarische Literatur rekurriert und Zivilisationskritik formuliert. In der ästhetischen Form eines Gedichts wurden so historische, moralische und wissenschaftliche Begründungen der eigenen Lebensweise transportiert. Das Vorwort knüpft dann an die Erfahrung der Vegetarier an, „verspottet von der Welt“ zu leben, und fordert auf, „dass wir uns die Hände reichen“.56 Die Zeitschrift wolle vor allem „in die reiche Literatur einführen, die über unser Evangelium existirt, und von der die Welt – vielleicht vor Kurzem wir selbst auch – so gut wie nichts“ wisse. Es sei eine „grosse Aufgabe“, deren Erfüllung jedoch „die Menschheit erlösen müsste.“ Entscheidend für diese religiös-missionarisch anmutende Zielstellung war der Ausbau der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, der eine Vernetzungsstrategie bedeutete. Die Zeitschrift bot in diesem Sinne Möglichkeiten zur Partizipation für jene, die selbst lokale Vereine aufbauen wollten, aber auch für jene, die keinen Verein vor Ort hatten. Die Redaktion forderte auf, Erfahrungsberichte, Fragen, Tipps und Wünsche einzusenden. Leserbriefe, der „Briefkasten“, Abschnitte mit kurzen Anfragen und redaktionellen Antworten – all dies wurde zu regelmäßigen Rubriken der Zeitschrift. Hinzu kamen Hinweise auf Literatur, auf Lieferanten für Schrotbrot, Früchte oder Haushaltsgeräte, die anfangs in redaktionellen Beiträgen gegeben wurden, zunehmend aber auch durch Werbeanzeigen erfolgten. Auch Stellen- und Heiratsanzeigen sind immer wieder unter den Inseraten zu finden. Die Leitartikel thematisierten grundsätzliche Fragen des Vegetarismus, die sich zumeist auch in separaten Publikationen und Flugschriften wiederfanden: philosophische, pädagogische und medizinische Fragen oder Konzepte zur Lösung der sozialen Frage. Aber auch praktischen Themen wie der „Brot- und Salzfrage“ oder der Impfkritik wurde Raum geboten. Viele Artikel beschäftigten sich mit der Gegnerschaft zum Vegetarismus, auch um dieser mit Argumenten begegnen zu können. Einen großen Teil nehmen Erfahrungsberichte ein, die als kulturgeschichtliche Quelle in der Forschung noch weitgehend unausgewertet sind, obwohl sie über den engeren Bereich der Geschichte des Vegetarismus hinaus gesellschafts- und kulturgeschichtliche Einblicke in das 19. Jahrhundert bieten. Eine besondere Form der Erfahrungsberichte stellen wiederum die zahlreichen Beschreibungen ferner Länder dar, wobei die Leser sowohl etwas über die europäischen Nachbarländer als auch über Indien oder Grönland erfahren 55 Alle Zitate aus Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1868), S. 1 f. 56 Ebd., S. 3.

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konnten. Immer wieder wurde der wissenschaftliche Anspruch betont: „Der Geist ernster Wissenschaftlichkeit und ruhiger Forschung wird aus diesen Blättern in klarer populärer, Allen verständlicher Sprache reden, und er wird sich nicht lediglich auf die Fragen der Ernährung, Gesundheitspflege und Heilkunst beschränken, sondern den ganzen Menschen umfassend, zur wahren, edlen Humanität führen.“57 So formulierte der scheidende Vorsitzende August Aderholdt, ein aus dem Harz stammender Chemiker, bei der Übergabe des Leitungsamtes an den Leipziger Lehrer Ernst Hering. Die Vereinszeitschrift erschien mit einem wiedererkennbaren Titelblatt. Der Zeitungskopf blieb in seiner Aufmachung mit den gewählten Schrifttypen und -größen und der Anordnung der Informationen (Heftnummer, Datum) von Anfang an bis zur Umbenennung der Zeitschrift in Thalysia im Jahr 1887 gleich. Auch die Paginierung ist durchgehend und jahrgangsübergreifend angelegt, so dass mittlere vierstellige Seitenzahlen erreicht wurden. All dies spricht für eine von Beginn an auf Dauer angelegte Publikationsstrategie. Die Produktionsmöglichkeiten dafür waren in Nordhausen vorhanden. Die ersten Ausgaben erschienen im Selbstverlag des Herausgebers Eduard Baltzer, in Kommission bei Ferdinand Förstemann und gedruckt von Theodor Müller. Baltzer konnte hier auf Partner zurückgreifen, mit denen er bereits seine zahlreichen Publikationen als Prediger der freireligiösen Gemeinde realisiert hatte. In gleicher Konstellation wurde zudem zumindest zeitweise auch die Nordhäuser Zeitung produziert. Der Verlagsbuchhändler Ferdinand Heinrich Förstemann (1817– 1876) stammte aus einer prominenten Familie des Nordhäuser Bildungsbürgertums, der das Nordhausen-Museum „Flohburg“ 2013 sogar eine Sonderausstellung gewidmet hat.58 Im Adressbuch der Vegetarier findet sich mit dem 1846 geborenen Brauereibesitzer Th. Förstemann ein Mitglied der Familie.59 Der 1832 geborene Druckereibesitzer Theodor Müller war ebenfalls Vegetarier und Vereinsmitglied.60 Theodor Müller und seine Druckerei blieben die großen Konstanten der Produktion des Vereins-Blatts. Auch nachdem Eduard Baltzer im Jahr 1881 aus gesundheitlichen Gründen Abschied aus Nordhausen nehmen musste, um zu seiner Tochter nach Süd57 August Aderholdt, in: Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 18 (1885), Nr. 188, S. 2979. Zu Aderholdt vgl. FRITZEN, Gesünder leben (wie Anm. 6), S. 278. 58 Die Ausstellung „Persönlichkeiten der Familie Förstemann aus Nordhausen vom 18. bis 20. Jahrhundert“ fand vom 18.7. bis 27.10.2013 statt. Vgl. Heidelore KNEFFEL, Persönlichkeiten der Familie Förstemann aus Nordhausen vom 18. bis 20. Jahrhundert, Nordhausen 2013; DIES., Ferdinand Heinrich Förstemann (1817–1876). Verlagsbuchhändler in Nordhausen, in: Nordhäuser Nachrichten. Südharzer Heimatblätter 22 (2013), S. 14 f. 59 HERRMANN, Adressbuch (wie Anm. 48), S. 23. 60 Ebd., S. 39.

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deutschland zu ziehen, verblieb der Druck der Zeitschrift bei Müller in Nordhausen. Im April 1885 verkündete das Blatt, dass „Herr Theodor Müller in Nordhausen nun auch die Expedition des ‚Vereins-Blattes‘ übernommen“ habe und „Abonnements-Bestellungen und Zahlungen nebst Anzeigen an ihn zu adressiren“ seien.61 Wenig später wurde Theodor Müller zusätzlich auch verantwortlicher Redakteur des Vereins-Blatts,62 doch der Verlagsbuchhändler änderte sich. Seit dem Dezember 1881 (Heft Nr. 140) wurde der Verleger „Hartung & Sohn“ in Rudolstadt (später Leipzig) im Impressum genannt, nachdem in einer Übergangszeit auch die „Oscar Eigendorf’sche Buchhandlung“ in Nordhausen aufgetaucht war.

Weitere Publikationen Baltzers, sein Weggang aus Nordhausen und das Ende der dortigen vegetarischen Publizistik Bereits in der ersten Ausgabe des Vereins-Blatts konnten in einer Anzeige mehrere Bücher Baltzers beworben werden, die im Verlag Ferdinand Förstemann in Nordhausen erschienen waren. Dies verweist auf die erstaunliche Geschwindigkeit und Produktivität der publizistischen Tätigkeit Baltzers. Bereits 1867 erschien als theoretische Abhandlung „Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und zu sozialem Heil“,63 in der anknüpfend an Theodor Hahn die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung des Vegetarismus postuliert wird. Baltzer erweiterte diese Schrift, indem er sie auf vier Bände ausbaute. Als zweiter Band der Reihe erschien „Die Reform der Volkswirthschaft“.64 Die Sammlung mit Briefen an Rudolf Virchow dokumentierte als dritter Band seinen wissenschaftlichen Streit mit der Schulmedizin.65 Schließlich folgte 1872 ein

61 Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 18 (1885), Nr. 180, S. 2880. Ab diesem Heft (Ausgabe Nr. 180) stand wieder Nordhausen auf dem Titelblatt, nachdem in der Zwischenzeit einige Ausgaben seit Januar 1882 den Verlagsort Grötzingen in Baden, Baltzers neuem Wohnort, bzw. München (Nr. 176 vom Dezember 1884, S. 2803) und Frankfurt am Main (Nr. 177 vom Januar 1885, S. 2819) trugen. 62 Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 18 (1885), Nr. 186, S. 2978. 63 Eduard BALTZER, Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und zu sozialem Heil, Nordhausen 1867 – Rudolstadt 21881. 64 DERS., Die Reform der Volkswirthschaft vom Standpunkt der natürlichen Lebensweise (Die natürliche Lebensweise, 2), Nordhausen 1867 – Rudolstadt 21882. 65 DERS., Briefe an Virchow. Über dessen Schrift „Nahrungs- und Genußmittel“ (Die natürliche Lebensweise, 3), Nordhausen 1868. Bereits in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung hatte Baltzer gelegentlich Rezensionen zu medizinischen Themen geschrie-

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Buch zum „Vegetarismus in der Bibel“.66 Seine „Ideen zur socialen Reform“ publizierte er außerhalb der Reihe 1873 bei Förstemann.67 Zwischenzeitlich legte Baltzer 1868 eine in der Machart wissenschaftlich orientierte PythagorasBiografie vor, in der er den zum Mythos erhobenen antiken Philosophen und Mathematiker porträtierte.68 Baltzers Publikationen erhoben einen akademischen Anspruch. Er war sich sicher, wissenschaftlich nachweisen zu können, dass der Mensch von Natur aus ein Fruchtesser sei,69 dass das klassische Altertum die gesundheitliche und soziale Bedeutung des Vegetarismus gekannt habe und dieser die sittliche Grundlage der Bibel darstelle. Auch von Jesus „darf man annehmen, daß er im Sinne jener Zeit in hohem Grade ein Freund der natürlichen Lebensweise gewesen ist“,70 so Baltzer. Auch als Vortragender war Baltzer in besonderem Maße aktiv. Ein Biograf berichtet von einer Reise durch Schlesien mit 32 unterschiedlichen (!) Vorträgen in 19 Tagen.71 Einige seiner Vorträge zum Vegetarismus wurden später im Vereins-Blatt, andere eigenständig gedruckt.72 Und schließlich publizierte Baltzer auch ein vegetarisches Kochbuch,73 das 22 Auflagen bis zum Jahr 1939 erleben und damit den organisierten Vegetarismus überleben sollte. Auch die ersten Auflagen des Kochbuchs waren in der bewährten Zusammenarbeit mit dem Verlagsbuchhändler Ferdinand Förstemann und dem Buchdrucker Theodor Müller produziert worden. Spätere Auflagen der Bücher des inzwischen nach Süddeutschland verzogenen Baltzer erschienen dann jedoch – wie das VereinsBlatt – bei Hartung & Sohn in Rudolstadt.74 Auch die letzte zu seinen Leb-

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ben. Vgl. etwa DERS., Schriften über die Cholera, in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung 28 (1832), Nr. 78, Sp. 233–238. DERS., Vegetarismus in der Bibel (Die natürliche Lebensweise, 4), Nordhausen 1872 – Rudolstadt 21886. DERS., Ideen zur socialen Reform, Nordhausen 1873. DERS., Pythagoras. Der Weise von Samos. Ein Lebensbild, Nordhausen 1868. DERS., Die natürliche Lebensweise (wie Anm. 63), S. 24-29. DERS., Vegetarianismus in der Bibel (Die natürliche Lebensweise, 4), Nordhausen 1872, S. 79. Vgl. HEINE, Baltzer (wie Anm. 14), S. 330 f. Vgl. beispielsweise Eduard BALTZER, Die sittliche Seite der naturgemäßen Lebensweise (Vegetarianismus). Vortrag zu Berlin gehalten, Nordhausen 1870; DERS., Vegetarianismus und Cultur. Vortrag im Museum zu Hannover am 24. August 1878 gehalten, Nordhausen 1878. Eine (allerdings unvollständige) Zusammenstellung findet sich im Anhang von DERS., Erinnerungen (wie Anm. 18), S. 112 f. Eduard BALTZER, Vegetarianisches Kochbuch für Freunde der natürlichen Lebensweise, Nordhausen 31869. Dies wurde bei der ersten Erwähnung des Titels in den Fußnoten oben jeweils angemerkt.

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zeiten gedruckte Publikation, eine Sammlung von Gedichten Baltzers, erschien dort.75 Eduard Baltzer starb am 24. Juni 1887 an den Spätfolgen eines politischen Attentats, das 1848 im zu seinem Wahlkreis gehörenden Ellrich76 auf ihn verübt worden war.77 Seine Lebenserinnerungen konnte er nicht mehr selbst herausgeben. Sie erschienen erst 1907 im „Verlag des Deutschen Vegetarier-Bundes“, der wie die Geschäftsstelle in Frankfurt am Main ansässig war. Zu diesem Zeitpunkt war die Anzahl der Vegetarier in Nordhausen bereits drastisch gesunken. Das Adressbuch aus dem Jahr 1898 führt nur noch vier Personen in Nordhausen auf.78 Der Nordhäuser Vegetarierverein spielte damit keine nationale Sonderrolle mehr, sondern war auf das Normalmaß einer mittelgroßen Stadt geschrumpft.79 Dies entspricht einem Trend hin zu den Großstädten, von wo aus sich die Vernetzung der Vegetarier besser betreiben ließ. Auch der Verlag Hartung & Sohn, der sich auf Themen der Lebensreform und Naturheilkunde spezialisierte, zog von Rudolstadt weiter nach Leipzig.80

Abschließende Bemerkungen Nordhausen war einige Jahre lang der wichtigste Publikationsort der vegetarischen Publizistik im deutschsprachigen Raum. Dies ist wegen der Größe der Stadt erstaunlich und lässt sich nur durch die Tätigkeit Eduard Baltzers und die selbstbewusst progressiv-rationalistische Grundhaltung in Teilen des örtlichen Bildungsbürgertums erklären. Auch nach dem Wegzug Baltzers aus Nordhausen und dessen Ausscheiden aus dem Vereinsvorstand blieb die Stadt – vor allem dank Theodor Müller und seinem Engagement für das Vereins-Blatt – noch eine 75 Vgl. Eduard BALTZER, Aus meinem Leben. Gedichte, Rudolstadt 1886; darin etwa „Natur und Geschichte“, S. 20 f. oder „Vegetarianer“, S. 156. 76 Der Ort ist zeitungshistorisch von Bedeutung, da hier das Journal von und für Deutschland herausgegeben wurde, in dem 1785 die Worte zu lesen waren: „Die Erfindung der Zeitung ist unstreitig eine der größten Wohltaten der europäischen Nationen“, zit. nach GREILING, Presse und Öffentlichkeit (wie Anm. 8), S. 112. 77 Über die Ergebnisse einer Obduktion, die die Spätfolgen des Ellricher Attentats bestätigte, berichtete die inzwischen umbenannte Vereinszeitung. Vgl. Thalysia. Vereinsblatt für Freunde der natürlichen Lebensweise 20 (1887), S. 200. Zu den Ereignissen von 1848 vgl. BALTZER, Erinnerungen (wie Anm. 18), S. 74–77 und KUHLBRODT, Chronik (wie Anm. 18), S. 80. 78 Vgl. BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 3), S. 119. 79 Vgl. zu der Sonderrolle ebd., S. 121. 80 Ein ca. 1910 erschienener Katalog des zu diesem Zeitpunkt in Leipzig ansässigen Verlags Hartung & Sohn führt 89 Titel vegetarischer und naturheilkundlicher Schriften auf. Vgl. ebd., S. 180 mit Anm. 6.

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Weile lang von gewisser Bedeutung. Insgesamt bietet das mittelstädtische Nordhausen ein gutes Exempel für die Entstehung und Ausbreitung einer Spezial-Öffentlichkeit, die sich, um wirksam zu sein, überregional vernetzen musste. Um 1900 wurde der Vegetarismus dann aber zunehmend zu einem Phänomen einer großstädtischen Avantgarde. Das Spezialgenre der vegetarischen Publizistik war durchaus fest etabliert, aber die Bücher und Zeitschriften erschienen nun in Leipzig, Berlin oder Frankfurt am Main. Eine Intention des Aufsatzes war es, die „Herstellung einer vegetarischen Öffentlichkeit“ nachzuzeichnen. Es war zunächst die Öffentlichkeit einer Gruppe von Außenseitern, die zahlenmäßig klein war und Interesse an speziellen Themen zeigte. Gerade deshalb erscheinen die allgemeinen medien- und zeitungswissenschaftlichen Hauptthesen zur großen Bedeutung des Zeitungswesens im 19. Jahrhundert plausibel. Gerade für eine solche kleine Gruppe waren die Erreichbarkeit von Informationen, das Vorhandensein von Kommunikationsstrukturen und der Aufbau kommunikativer Vernetzung essentiell für die Etablierung gesellschaftlicher Strukturen. Darüber hinaus war diese Öffentlichkeit zwar klein, sie wollte es aber ganz explizit nicht bleiben. Die Vegetarier der ersten Stunde wollten die Mehrheitsbevölkerung überzeugen. Sie hegten die Hoffnung, dass ihre Lebensweise ein besseres Leben bedeute sowohl für das einzelne Individuum, aber auch für die Gesellschaft. Die Lösung der sozialen Frage und die Befriedung politischer Konflikte wurden in Aussicht gestellt. Diese großen Ziele konnten nur anvisiert werden, wenn Öffentlichkeit hergestellt wurde. Eduard Baltzer knüpfte erkennbar sowohl an seine Erfahrungen in der Revolution von 1848/49 als auch beim Aufbau der freireligiösen Gemeinde an. Für die regelmäßige Produktion der Zeitschrift, das schnelle Publizieren einer Fülle von Büchern war letztlich Professionalität erforderlich, die ein reibungsloses Funktionieren garantierte. Auch wenn die großen Ziele der Gesellschaftsveränderung real nicht erreicht wurden, so bleibt diese publizistische Aktivität, die für den Gruppenzusammenhalt wichtig war, bemerkenswert. Diese etwas andere Mediengeschichte ist noch nicht erforscht. Den Scheinwerfer auf sie zu richten, war Anliegen dieses Aufsatzes.

GUNTHER MAI DIE DEUTSCHE MAROKKO-ZEITUNG

Die Deutsche Marokko-Zeitung und die deutsche Marokko-Politik 1907–1914 Die Deutsche Marokko-Zeitung (DMZ) erschien vom Oktober 1907 bis zum Juli 1914 zweimal wöchentlich in knapp 800 Nummern.1 Seite eins enthielt die amtlichen Bekanntmachungen der deutschen Gesandtschaft (Aufgebote, Eintragung ins Handelsregister), später die Ausschreibung marokkanischer Regierungsaufträge, die Währungskurse in Tanger sowie gelegentlich Berichte von den Börsen. Auf den Seiten eins bis drei folgten Leitartikel, Beiträge zu tagespolitischen Fragen, ein Pressespiegel und die ‚Marokkanische Chronik‘; diese enthielt Berichte aus den wichtigsten Städten und Regionen über Handel, Ernteaussichten, lokale Ereignisse sowie Nachrichten über persönliche Schicksale von Deutschen oder anderen Europäern, deren Reisen im Lande und von oder nach Europa. Die untere Hälfte von Seite drei war mit Anzeigen wechselnder Provenienz gefüllt, zuletzt auch mit Stellenangeboten und Stellengesuchen. Seite vier wurde von regelmäßig erscheinenden Annoncen der Staatsbank, der Schifffahrtslinien, der Hotels in Tanger sowie einiger (auch nicht-deutscher) Geschäftsleute bestimmt, was einer Subventionierung gleichkam. Ein Feuilleton oder die Schachecke kamen über Ansätze nicht hinaus. Dieses Format, wie das Layout, hatte die DMZ von der 1883 als spanisches Blatt gegründeten, seit 1893 in englischer Sprache erscheinenden Zeitung Al-Moghreb Al-Aksa (der alte arabische Name für Marokko: „der äußerste Westen“) übernommen. Diese Zeitung war von dem in Gibraltar als Engländer naturalisierten Gregorio Trinidad Abrines gegründet worden, der 1880 in Tanger die erste Druckerei eingerichtet hatte, in der auch die DMZ hergestellt wurde. Diese Zeitung war ein unabhängiges Blatt, das der britischen MarokkoPolitik, vor allem auch der französischen kritisch gegenüberstand. Vor dem Erscheinen der DMZ war Al-Moghreb Al-Aksa von der deutschen Gesandtschaft zur Publikation amtlicher Bekanntmachungen genutzt worden.

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Die Deutsche Marokko-Zeitung (im Folgenden: DMZ) ist bis zum Oktober 1913 digitalisiert: https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/1511 (letzter Zugriff: 18.12.2018). Die Exemplare bis zum 25.7.1914 finden sich im Original in der Staatsbibliothek Berlin.

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Die älteste in Marokko erscheinende Zeitung war vermutlich El Eco de Tétuàn 1860.2 Die Gründung von La Gazette de Tanger 1880 und Le Réveil du Maroc 1883 war – wie die weiterer Zeitungen in französischer, spanischer, englischer und hebräischer Sprache – Reaktion auf die Konferenz von Madrid 1880, auf der die europäischen Mächte (und die USA) sich auf ein gemeinsames Vorgehen in Marokko verständigt hatten. Zwar wurde die Souveränität des Sultans festgeschrieben, aber die Mächte öffneten das Land dem freien Handel und ließen sich erweiterte Rechte garantieren. Der nun beginnende Wettlauf um Einfluss und Macht erforderte sowohl die Kommunikation zwischen den vermehrt einströmenden europäischen Ansiedlern in Marokko als auch eine intensive Berichterstattung in den Mutterländern zur Unterstützung der Koloniallobbyisten. Noch war es ausreichend, diese Blätter ein- oder zweimal pro Woche erscheinen zu lassen. Einen ähnlichen Schub löste 1906 die Konferenz von Algeciras aus, die Deutschland durch den Besuch Kaiser Wilhelms II. 1905 in Tanger erzwungen hatte. Bereits 1905 hatte Rober-Raynaud, einflussreiches Mitglied des 1904 gegründeten Comité du Maroc, in Tanger La Dépȇche Marocaine gegründet, die erste Tageszeitung in Marokko. Diese Gründung stand im Zusammenhang mit der französischen Offensive in Marokko nach dem Abschluss der Entente cordiale 1904. Ähnlich erfolgte nach der Beschießung und Besetzung Casablancas durch Frankreich dort 1908 auf Veranlassung von General Albert d’Amade die Gründung der Zeitung La Vigie Marocaine, die „die Verteidigung der Interessen und die Ausweitung des französischen Einflusses in Marokko“ zum Ziel hatte und die zum Kampfblatt gegen die lokale Dominanz der Briten und vor allem der Deutschen wurde.3 Die deutsche Marokko-Lobby beobachtete die französische Offensive mit Misstrauen. Sie hatte seit etwa 1900 die Aufteilung Marokkos gefordert, wobei Deutschland der Süden mit den Hafenstädten an der Atlantikküste zufallen sollte. Eine Reaktion war die Gründung der Marokko-Gesellschaft, die „die geographischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Marokkos“ erforschen sollte.4 Unter den Gründungsmitgliedern befanden sich fünf deutsche Kaufleute in Marokko sowie der Journalist August Hornung, der 1902 als Korrespondent der Kölnischen Zeitung aus London nach Tanger gekommen war und nach kurzer Rückkehr nach London 1904 auf Aufforderung des Auswärtigen Amtes aber2

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Hamza TAYEBI, Print Journalism in Morocco: From the Pre-colonial Period to the Present Day, in: Mediterranean Journal of Social Sciences 4 (2013), S. 497–506; Jamaà BAÏDA, La presse marocaine d’expression française. Des Origines à 1956, Rabat 1996. Christian HOUEL, Mes Aventures Marocaines, Casablanca 1954, S. 161–165. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin (im Folgenden: PA-AA), Marokko 2, Bd. 8, Bl. 46 (15.8.1902).

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mals nach Tanger ging, ehe er später Redakteur der DMZ wurde.5 Das Ergebnis der Konferenz von Algeciras war für die Interessenten in Deutschland wie für die Marokko-Deutschen eine große Enttäuschung. Der Versuch, die Interessenten in einem Marokko-Syndikat zu bündeln, wurde ergänzt durch Bemühungen um eine intensivere Öffentlichkeitsarbeit, um die Reichsregierung zu einer härteren Haltung zu bewegen. Am 22. März 1907 informierte die Deutsch-Marokkanische Gesellschaft den Gesandten Friedrich Rosen, sie erwäge, „eine deutsche Wochenschrift ins Leben zu rufen“; das Marokko-Syndikat habe seine „grundsätzliche Geneigtheit“ signalisiert. Eine solche Zeitung werde „dauernder Zuschüsse bedürfen“. Doch werde man in die Lage versetzt, „durch sofortige Widerlegung falscher Nachrichten unter Umständen auch durch rechtzeitige Ablenkung des öffentlichen Interesses mittelbar erhebliche reale Werte zu schaffen“. Zwar hätten große Blätter wie die Kölnische Zeitung oder der Berliner Lokal-Anzeiger eigene Korrespondenten in Marokko, doch da der amtliche Teil der lokalen französischen Zeitung „angeblich im Wesentlichen vom Französischen Gesandten redigiert wird und dessen Inhalt von der französischen Presse im Wege des Abonnements verbreitet wird“, sei es notwendig, dem „eine gleiche Organisation des Nachrichtendienstes“ entgegenzusetzen. So könnten die deutsche Öffentlichkeit stärker für Marokko interessiert und das Bemühen unterstützt werden, „den deutschen Export und die deutsche Industrie zu veranlassen, so schnell wie möglich wirtschaftlich in Besitz zu nehmen, was politisch nicht in Besitz genommen werden könne und solle“. Für die Etablierung der Zeitung habe man den Orientalisten und Schriftsteller Gustav Diercks gewonnen und hoffe, auch August Hornung „für die gelegentliche oder spätere dauernde Mitwirkung“ interessieren zu können. Die Autoren des Schreibens wollten wissen, ob sie auf wohlwollende Unterstützung seitens der Regierung rechnen könnten, auch wenn es sich um eine rein „private Unternehmung“ handele. Unterschrieben hatten der Vorsitzende, Joachim Graf Pfeil, einer der rührigsten MarokkoPropagandisten, sowie Wilhelm Wendtland, Generalsekretär des Bundes der Industriellen. Im Auswärtigen Amt reagierte der Staatssekretär Heinrich von Tschirschky ablehnend. Die Pläne seien „mit der Vorsicht, die unsere Schritte auf marokkanischem Boden leiten muss, nicht vereinbar“. Die Gründer seien nicht gewillt, „unserer Gesandtschaft einen sicheren Einfluss auf Inhalt und Haltung ihres Organs einzuräumen“. Dieses würde sich „bald zu einem Kampforgan gegen die französische Presse“ in Marokko entwickeln und sich „in dieser Eigenschaft auch unserer diplomatischen Vertretung unbequem

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Gunther MAI, Die Marokko-Deutschen 1873–1918, Göttingen 2014, S. 247–254.

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machen“. „Die ständige Unterhaltung einer deutsch-französischen Pressefehde auf marokkanischem Boden liegt aber nicht im Bedürfnis unserer Politik.“ 6 Die Ablehnung scheint die Bemühungen der Interessenten noch einmal gedämpft zu haben. Neu entfacht wurden diese durch die Beschießung und Besetzung Casablancas durch die Franzosen am 5. August 1907.7 Die Delegation der geschädigten Casablanca-Deutschen wurde von Staatssekretär von Tschirschky etwas genervt abgewimmelt, wenngleich er einen Abschlag auf die zu erwartende Entschädigung zusagte. In den anschließenden Beratungen der Delegation mit anderen Marokko-Interessenten wurden am 10. September die Einrichtung eines Nachrichtendienstes „in Erwägung gezogen“ und ein Fonds eingerichtet, in den von den Teilnehmern spontan 7.500 Mark eingezahlt wurden. Am 19. September wurde Ernst Kaulisch, ehemaliger Dragoman in Tanger, als Berliner Gegenpart „der deutschen Marokkozeitung in Tanger“ benannt.8 Einen Monat nach diesen Gesprächen erschien die erste Nummer der DMZ, die im April 1908 im Handelsregister der Gesandtschaft eingetragen wurde; als „Inhaber“ firmierte Hornung.9 Parallel veröffentlicht wurde der wöchentliche Pressedienst Deutsche Marokko-Correspondenz. Offizielles Organ des Deutschen MarokkoKomitees, redigiert von Hermann Walter, mit einer Auflage von 500 Exemplaren.10 Offenkundig wurde mit diesen und den Vorgängerpublikationen11 die Öffentlichkeitsarbeit des Comité du Maroc kopiert, das sein Sprachrohr in dem seit 1891 erscheinenden Bulletin du Comité de l’Afrique Française hatte. Die DMZ trug den Untertitel „Organ der Deutschen Marokkos und der deutschen Marokko-Interessenten“. In ihrer ersten Nummer stellte sie sich ihren Lesern vor: „Alle Deutschen Marokkos und fast alle Marokko-Interessenten in Deutschland haben sich an der Gründung der Zeitung durch Beitritt zum ‚Verein Deutsche Marokko-Zeitung‘ beteiligt.“ In einem Aufruf habe man das Ziel formuliert: 6 7

PA-AA, Berlin, Gesandtschaft Tanger, Nr. 83. Später hieß es, der „direkte Anlass“ zur Gründung der DMZ sei „der Unwille der hiesigen Deutschen über die empörenden Angriffe der französischen Presse auf einen verdienten hohen deutschen Beamten“ gewesen, DMZ, Nr. 91 vom 8.9.1908. Gemeint war vermutlich der Gesandte Rosen. 8 Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BArch), N2225 (Nachlass Joachim Graf Pfeil), Bd. 109. 9 DMZ, Nr. 51 vom 21.4.1908. 10 BArch, N2225, Bd. 123. Dort sind einige Nummern des 2. Jahrgangs (Februar/März 1908) erhalten. Zuvor waren Artikel über Marokko in der Nationalen Korrespondenz enthalten, die 1907 im 5. Jahrgang erschien. 11 Nordafrika. Organ der Marokkanischen Gesellschaft in Berlin 1903 sowie deren Nachfolger Deutsche Monatsschrift für Kolonialpolitik und Kolonisation (früher: Nordafrika). Organ der deutschen Mittelmeergesellschaft 1904 und 1905, beide herausgegeben von Paul Mohr.

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„Die Bedeutung der deutschen wirtschaftlichen Interessen in Marokko hat die Gründung einer deutschen Zeitung in Tanger den hiesigen Deutschen als notwendig erscheinen lassen. Der Mangel eines solchen Organs hat sich immer mehr fühlbar gemacht, und es ist uns klar geworden, dass der Verkennung unserer Arbeit in Marokko, den Missdeutungen, welchen die deutsche Betätigung andauernd ausgesetzt ist, nur wirksam entgegengetreten werden kann, wenn an Ort und Stelle selbst unsere Ansichten klaren Ausdruck finden. Neben der Wirkung auf das Ausland versprechen wir uns auch eine Wirkung auf die deutschen Kreise, die keine Gelegenheit haben, sich über die hiesigen Zustände genauer zu informieren.“

Auf dem Wege hoffe man, „neue Freunde“ zu gewinnen und „jeder Zersplitterung, die nur unsern Gegnern zugute kommt, zu wehren!“12 Über den ‚Verein Deutsche Marokko-Zeitung‘ und seine Statuten ist wenig bekannt. 1908 wurde vom „Aufsichtsrat“13 zur Generalversammlung am 31. Oktober in Tanger eingeladen. Diese war nicht beschlussfähig, da nach § 10 der Satzung „die Hälfte der Mitglieder oder 2/3 des Kapitals“ hätten anwesend sein müssen. Bei der Neuansetzung für den 28. November wurde darum gebeten, bei Verhinderung sich durch Vollmacht vertreten zu lassen. Dieses Mal war die Beschlussfähigkeit gewährleistet; § 10 der Satzung wurde daraufhin ergänzt, dass im Falle der Beschlussunfähigkeit frühestens nach 4 Wochen eine zweite Sitzung stattfinden müsse, die „unter allen Umständen beschlussfähig“ war.14 Erst für den 31. Mai 1912 ist wieder eine Einladung des Aufsichtsrats zur Mitgliederversammlung belegt, die abermals nicht beschlussfähig war. Über die Wiederholungssitzung vom 28. Juni wurde nicht berichtet.15 Mitglieder des Vereins waren die Interessenten, die an den Besprechungen vom September 1907 teilgenommen hatten und die Filialen in Marokko hatten oder dort Aufträge ausführten. Eine Liste der Deutschen Post, die den Vertrieb seit Anfang 1909 übernommen hatte, von Ende 1913 bis Juni 1914 zeigt, dass in Casablanca fast alle dauerhaft dort lebenden Deutschen die DMZ bezogen; ihre Angestellten konnten sie in dem von den Deutschen dominierten Anfa-Club einsehen, wo man sich traf, um bei deutschem Bier Skat zu spielen, wohl auch im Konsulat.16 Insgesamt wurden in Casablanca pro Monat nicht mehr als 12 Exemplare im Abonnement bezogen. Das Jahresabonnement in Marokko 12 DMZ, Nr. 1 vom 22.10.1907 (Hervorhebungen im Original). 13 Der Aufsichtsrat trat am 1.4.1908 „vollzählig“ zusammen, vermutlich in Tanger, DMZ, Nr. 47 vom 3.4.1908. 14 DMZ, Nr. 96 vom 25.9.1908; Nr. 105 vom 27.10.1908; Nr. 107 vom 3.11.1908; Nr. 115 vom 1.12.1908. 15 DMZ, Nr. 458 vom 13.4.1912; Nr. 472 vom 1.6.1912. 16 Dr. Dietrich Rauchenberger (Hamburg) stellte mir eine Kopie dieser Listen aus dem Fonds des Séquestres austro-allemands zur Verfügung, der sich in den Archives du Maroc in Rabat befindet.

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kostete 20 spanische Peseten (ca. 16 Mark), im Ausland 20 Mark, die Einzelnummer 20 Centimos. Die DMZ war als „private“ Gründung frei von Verpflichtungen gegenüber der Reichsregierung, auch wenn die Franzosen überzeugt waren, dass sich der Redakteur August Hornung täglich seine „Losung“ auf der Gesandtschaft hole.17 In der Zeit des Gesandten Rosen mochte das sogar zutreffend sein. Doch in diesem Verdacht standen fast alle Zeitungen der Europäer, die in Marokko erschienen.18 Insgesamt sollte sich jedoch die Ahnung von Tschirschkys bestätigen, dass sich die Zeitung zu einem „Kampfblatt“ entwickelte, das mit aller Härte bis zum Hass den Kampf in fast jeder Nummer gegen die französische Presse in Marokko und in Frankreich aufnahm, der sie „faustdicke Lügen“, „in ihrer Unwahrheit erbärmliche“ Berichte, „freche Beleidigungen“ und „Geschmacklosigkeiten“ vorwarf: „fausses nouvelles“.19 Im Rahmen der behaupteten Strategie einer schleichenden Eroberung Marokkos durch Frankreich („pénétration pacifique“) scheue dessen Presse vor gezielten Falschmeldungen nicht zurück, um die eigene wie die internationale Öffentlichkeit zu täuschen.20 Die DMZ war voll von geradezu panikartigen Berichten über das perfide Vorgehen der Franzosen: 17 Archives du Ministère des Affaires Etrangères, Paris, NS Maroc 62, Bl. 2–3 (11.2.1909). Geschäftsträger Eugène Regnault hatte die DMZ schon kurz nach der Gründung als das Instrument des Gesandten Rosen bezeichnet. Ebd., NS Maroc 55, Bl. 153–155 (4.12.1907). 18 TAYEBI, Print Journalism (wie Anm. 2), S. 498. DMZ, Nr. 110 vom 13.11.1907, lästerte über „das hiesige französische Blatt, welches bekanntlich teilweise auf der französischen Gesandtschaft verfasst wird“; gemeint war La Dépȇche Marocaine, die der Gesandtschaft „besonders nahestand“, ja als „offiziös“ gelten könne, DMZ, Nr. 44 vom 24.3.1908; Nr. 17 vom 17.1.1908; Nr. 198 vom 6.11.1908. Sie unterstellte dem Blatt die Absicht, „stets und grundsätzlich die Politik der Kaiserlichen Regierung in jeder Weise anzugreifen und bei ihren Lesern zu verdächtigen“, DMZ, Nr. 116 vom 4.12.1908. Auch der ebenfalls in Tanger erscheinenden Courrier du Maroc werde teilweise auf der Gesandtschaft geschrieben, DMZ, Nr. 20 vom 31.12.1907; Nr. 54 vom 1.5.1908. 19 DMZ, Nr. 96 vom 25.9.1908; Nr. 175 vom 6.7.1909. Die Zeitung sah das als Teil einer französischen „Lügen-Campagne“, mit deren Hilfe die Rechtfertigung für weitere Interventionen geschaffen werden sollte, DMZ, Nr. 176 vom 9.7.1909. Der Begriff „campagne de fausses nouvelles“, z.B. in DMZ, Nr. 264 vom 24.5.1910. In DMZ, Nr. 322 vom 10.12.1910 behandelte Hornung die „Verfälschung“ seines eigenen Berichts an die Kölnische Zeitung durch Le Matin unter der Überschrift „Les fausses nouvelles“ (die Anführungszeichen im Original). Als in den nach der Protektoratserrichtung neu gegründeten französischen Zeitungen Kritik an der Politik Frankreichs geübt wurde, sah sich die DMZ rehabilitiert: „Eine späte Genugtuung für uns und ein Beweis, dass wir nicht ‚aus angeborenem Franzosenhass‘ ein System kritisirt [sic] und verurteilt haben, das so unendlich viel Leid über Marokko und seine armen Bewohner gebracht hat“, DMZ, Nr. 470 vom 25.5.1912. 20 Siehe z.B. DMZ, Nr. 47 vom 3.4.1908; Nr. 49 vom 10.4.1908; Nr. 353 vom 31.3.1911.

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Diese provozierten Anlässe und Zwischenfälle, um ihre militärische Sicherheitszone immer weiter ins Hinterland auszudehnen und den deutschen Handel zu vernichten. Zugleich kritisierte sie die weiche Politik der Reichsregierung, die es Frankreich erst ermöglichte, sich Marokko stückchenweise anzueignen. Dagegen wurde eine Politik der Stärke gefordert: „Nicht durch Nachgiebigkeit – im Vertrauen auf unsere Stärke – können wir unsere Stellung in der Welt wahren und ausdehnen, sondern nur durch Verteidigung eines jeden deutschen Rechts, wenn nötig unter Einsatz unserer Machtmittel.“21 Manchen Casablanca-Deutschen reichte das nicht. Allen voran der Kaufmann Carl Ficke, sein Neffe Edmund Nehrkorn, sein Partner in Mazagan Richard Gründler und sein Angestellter Carl Hesse bombardierten die Reichsregierung direkt mit ihren Protesten und Anwürfen, die sich oft genug gezwungen sah, in Paris vorstellig zu werden, obwohl sie nicht immer davon überzeugt war, dass die Anschuldigungen zutrafen, und obwohl sie kein Interesse hatte, wegen solcher Fragen, ja Lappalien, das Verhältnis zu Frankreich weiter zu belasten. Es hat den Anschein, dass zahlreiche Berichte vor allem aus Casablanca und Mazagan, die die DMZ unter der Rubrik ‚Marokkanische Chronik‘ abdruckte, von diesen Protagonisten stammten. 1908 wurde Carl Ficke auf Anweisung aus Berlin abgemahnt, dass er „Provokationen der Franzosen möglichst vermeide“. Das veranlasste diesen eher noch, vermehrt Berichte direkt an deutsche Zeitungen zu senden, die diese auch abdruckten: die Bremer Weser-Zeitung, die Vossische oder die Kölnische Zeitung, Berliner Zeitungen oder die Rheinisch-Westfälische Zeitung. Das wiederum ließ die Franzosen Beschwerde in Berlin führen, Ficke hetze die „gallophobe“ Presse auf sie. Die DMZ drucke die Verleumdungen, die Ficke über sie verbreite.22 Alle diese Aktionen verpufften wirkungslos; sie trugen im Gegenteil dazu bei, dass die Reichsregierung, der ständigen Beschwerden überdrüssig, auf die französische Anregung einging und am 8. Februar 1909 einen „Ausgleich“ unterzeichnete. Darin sicherte Frankreich Deutschland die „freie Betätigung von Handel und Gewerbe“ zu, aber nicht das Recht zu politischer Einflussnahme. Das Abkommen löste unter den Marokko-Deutschen eine „ungeheure Verbitterung“ aus. Während die Regierung diesen bedeutete, Beschwerden seien „nicht erwünscht“, sahen sie, so Hornung in der DMZ, den Ausgleich als eine 21 DMZ, Nr. 293 vom 2.9.1910. 22 MAI, Die Marokko-Deutschen (wie Anm. 5), S. 390–392, 396 f., 455 f. und passim. Der Vorwurf wurde wiederholt, als der von den Franzosen protegierte Sultan im August 1908 geschlagen wurde. Er sei durch „die von Karl Ficke in Umlauf gesetzten falschen Gerüchte“ behindert worden, die Hornung mit Rückendeckung des Gesandten in der DMZ gedruckt habe und die in der Vossischen und der Kölnischen Zeitung nachgedruckt worden seien. Centre des Archives Diplomatiques à Nantes (im Folgenden: CADN), 675PO/B1, Nr. 436, Dossier: 1908–1909 (10.8.1908).

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„Schande“.23 Staatssekretär von Schoen, dem „weitere Hetze“ gegen Frankreich „unerwünscht“ war, regte gar die Ablösung der Korrespondenten der Vossischen und der Kölnischen Zeitung an, d.h. des ehemaligen Kapitäns Leonhard Karow und Hornungs.24 Mit einer neuen Kampagne versuchten die MarokkoDeutschen nachzuweisen, dass die Franzosen die Verträge noch nie eingehalten hätten, und sie bombardierten die Reichsregierung mit neuen Beschwerden über tatsächliche oder vermeintliche Verstöße der Franzosen, die abermals zu endlosen Verhandlungen zwischen den Regierungen führten. Während der Zweiten Marokko-Krise 1911 wiederholte die DMZ, der Ausgleich sei eine „unerträgliche Schande“ gewesen, die nur durch eine Niederlage in einem Krieg gerechtfertigt gewesen wäre; sie benannte auch die ihrer Meinung nach Schuldigen: „Die Aera Bülow-Schön mit ihrer ewig nachgebenden Haltung den Franzosen gegenüber war unser Ruin.“25 Noch einmal keimte Hoffnung auf, als die Reichsregierung im Juli 1911 das Kanonenboot ‚Panther‘ nach Agadir entsandte. Während die Regierungen hinter verschlossenen Türen verhandelten, versuchte die DMZ, Druck zu machen. Sie berichtete von den Erwartungen der Marokko-Deutschen wie der MarokkoInteressenten und hob die Freude der Marokkaner hervor, dass endlich die Deutschen ihnen gegen die Franzosen zu Hilfe kämen. Als Mitte Juli durchzusickern begann, dass die Reichsregierung nur Kompensationen an anderen Orten anstrebte,26 beharrte die DMZ auf der Forderung, Deutschland müsse sich „in einem Teil von Marokko“ festsetzen, um auch künftig eine starke Verhandlungsposition zu besitzen.27 Doch Mitte September begann sie zu resignieren: Wenn man aus Agadir abziehe und dort nichts hinterlasse „als das Wutgeschrei der Eingeborenen und das Hohngelächter der Franzosen“, dann wäre es besser

23 MAI, Die Marokko-Deutschen (wie Anm. 5), S. 493 f. Die DMZ, Nr. 525 vom 4.12.1912 kam noch einmal auf den Vertrag zurück: „Ein jämmerlicher Vertrag in schwachen Händen – das musste für Deutschland übel auslaufen.“ 24 Die Vossische schien bereit, die Zusammenarbeit mit Karow zu beenden, dessen Warnungen vor französischen Machenschaften in der DMZ zitiert wurden, vgl. DMZ, Nr. 326 vom 27.12.1910. Karow blieb Korrespondent mit der Auflage, seine Telegramme vorher der Gesandtschaft vorzulegen, die diese auf ihren „Wahrheitsgehalt“ überprüfen sollte. Hornung schrieb weiter für die Kölnische Zeitung und zitierte seine eigenen Berichte an diese, DMZ, Nr. 51 vom 21.4.1908; Nr. 479 vom 26.6.1912; Nr. 539 vom 25.1.1913; Nr. 549 vom 1.3.1913. 25 DMZ, Nr. 410 vom 20.10.1911; Nr. 417 vom 15.11.1911. 26 DMZ, Nr. 383 vom 18.7.1911; Nr. 385 vom 25.7.1911; Nr. 386 vom 28.7.1911; Nr. 390 vom 11.8.1911. 27 DMZ, Nr. 389 vom 8.8.1911; Nr. 390 vom 11.8.1911; Nr. 396 vom 1.9.1911; Nr. 397 vom 5.9.1911; Nr. 398 vom 8.9.1911.

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gewesen, erst gar nicht dort hinzugehen. Frankreich habe „alles erreicht“, während für Deutschland „so gut wie nichts herausgekommen ist“.28 Seit Mitte Oktober mehrten sich die verbitterten Äußerungen der MarokkoDeutschen in der DMZ und anderen deutschen Zeitungen. Zwar habe man nicht zum Krieg raten wollen, aber das klägliche Zurückweichen tangiere nicht nur die Interessen des deutschen Handels, sondern verletze das „Ansehen Deutschlands“ in Marokko und Europa. Allein die Tatsache, dass die Marokkaner die Deutschen für „feige“ erachteten, werde dem deutschen Handel schaden; da ihnen jetzt jeder Rückhalt fehle, würden die Marokkaner sich mit den Franzosen arrangieren müssen.29 Zwar hofften die Deutsch-Marokkaner, dass sie dieses Mal mehr Unterstützung aus Berlin gegen Vertragsbrüche erhielten als nach dem „Ausgleich“; doch vertrauen darauf wollten sie nicht. Die Bestimmungen seien das „Provisorium Nummer III“, nach Algeciras 1906 und dem Ausgleich 1909, und sicher nicht die letzte Übereinkunft.30 Aber weichen wollten sie auch nicht, obwohl einzelne Stimmen geäußert haben sollen, jetzt werde man Marokko wohl besser verlassen (müssen).31 Man wollte sich behaupten: „Geht’s nicht mit der Regierung, so muss es eben ohne die Regierung gehen – es ist leider nicht das erste Mal, dass in den letzten zwanzig Jahren Pioniere des Deutschtums zu dieser Auffassung kommen mussten.“32 Ein ungenannter Marokko-Deutscher brachte die Verbitterung auf den Punkt, man könne sich auch als Franzose naturalisieren lassen, da das Reich „seine Söhne im Stich lasse“.33 Im April 1912, als der Protektoratsvertrag unterschrieben war, klagte das Blatt, das sei „für uns Deutsche bedauerlich und beschämend zugleich, doch wir werden durch Klagen nichts mehr ändern und es bleibt schließlich nichts mehr anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen“.34 Nachdem sie in ihrer Generalabrechnung am 15. November 1911 noch einmal ihre bittere und scharfe Kritik kundgetan hatte, wurde die DMZ etwas moderater im Ton, aber nicht in der Sache. Sie veröffentlichte weiterhin die Beschwerden der Marokko-Deutschen bzw. kritisierte scharf die Verhaltensweisen der Franzosen,35 oft versteckt hinter umfangreichen Zitaten aus deutschen 28 DMZ, Nr. 401 vom 19.9.1911; Nr. 407 vom 10.10.1911. 29 DMZ, Nr. 417 vom 15.11.1911. 30 Ebd.; DMZ, Nr. 418 vom 18.11.1911. Ähnlich der „Rückblick“ in DMZ, Nr. 410 vom 20.10.1911. 31 DMZ, Nr. 407 vom 10.10.1911. 32 So zitierte die DMZ, Nr. 421 vom 29.11.1911 ‚Deutsch-Übersee. Korrespondenz des Aktionsausschusses der Deutschen Kolonialgesellschaft‘. 33 Albrecht WIRTH, Die Entscheidung über Marokko, Stuttgart 1911, S. 53. 34 DMZ, Nr. 457 vom 10.4.1912. 35 Beispiele dafür, wie die DMZ die eigene Regierung zur Durchsetzung des NovemberAbkommens nötigen wollte, in: DMZ, Nr. 467 vom 15.5.1912; Nr. 470 vom 25.5.1912.

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Zeitungen, für die sie schwerlich abgemahnt werden konnte. Jetzt wurde häufig Bezug genommen auf Frankreich-kritische Meldungen von Al-Moghreb Al-Aksa, die als „neutrales“ Zeugnis ins Feld geführt wurde.36 Französische Quellen wurden vor allem zitiert mit der Aussage, man habe endlich „freie Hand“ in Marokko.37 Die DMZ orchestrierte die neue Welle von Eingaben und Beschwerden der Marokko-Deutschen an das Auswärtige Amt, die die Reichsregierung zu zwingen suchten, in Paris auf die Einhaltung der im Vertrag festgeschriebenen Garantien für den deutschen Handel zu pochen.38 Bei den Beschwerden (wie sie ähnlich von den Briten vorgetragen wurden) ging es stets auch um zwischennationale Befindlichkeiten, um Ehre und Prestige ebenso wie um Rechte und Vorrechte, die sich aus den bestehenden Vertragsverhältnissen ergaben. Die DMZ hielt an ihrer Grundauffassung fest, wie sie die Berliner Post zitierte, die Franzosen seien „mit Hochdruck an der Arbeit“, um den deutschen Interessen „das Wasser abzugraben“, indem man die Deutschen „persönlich schikaniere“, damit sie das Land verließen, oder sie „wirtschaftlich zu erdrosseln“ suche.39 Verbittert bilanzierte Hornung im März 1913, „seit ihrer Gründung“ habe die DMZ die amtlichen Vertreter Frankreichs in Marokko „bekämpfen müssen“ wegen „ihrer bornirten [sic] einseitigen Auffassung der marokkanischen Frage“. Letztlich vergeblich, vor allem zu spät.40 Im Mai 1913 ging Hornung anlässlich der Veröffentlichung von Briefen des verstorbenen Staatssekretärs KiderlenWächter noch einen Schritt weiter: Die DMZ könne für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, „dass sie auch in den Jahren, da Reichstag und Presse daheim sich den Verlust Marokkos an Frankreich unter des Reichskanzlers von Bülow Zureden wenn auch mit sauersüsser Miene geschickt hatten, eine andere Lösung zu fordern. Dem Herausgeber der Deutschen Marokko Zeitung ist das Harren auf einen Staatsmann, der eine würdigere Lösung der Marokkofrage herbeiführen würde, als sie durch das 1909er Abkommen herbeigeführt war, nicht leicht geworden.“

Während die ersten Marokko-Deutschen unter dem „lähmenden Eindruck“ des Ausgleichs von 1909 „die Flinte ins Korn zu werfen“ begonnen hätten, habe die DMZ nicht aufgegeben. Nur deshalb habe „Herr v. Kiderlen den Keil in die 36 DMZ, Nr. 560 vom 12.4.1913. 37 DMZ, Nr. 476 vom 15.6.1912. Die Bestätigung der eigenen Kritik an den Franzosen durch französische Abgeordnete wurde ebenso freudig zitiert in DMZ, Nr. 478 vom 22.6.1912; Nr. 480 vom 29.6.1912. 38 Die Beschwerden, die das Auswärtige Amt 1912 bis 1914 erreichten, füllten zwölf Aktenbände, die von deutschen Schutzgenossen (bzw. ihren Protektoren) sechs. PA-AA, Marokko 25 Nr. 9; Marokko 28. Die Beschwerden der Franzosen und Spanier z.B. in Mazagan erreichten den gleichen Umfang, vgl. CADN, 675/B1, Nr. 936. 39 DMZ, Nr. 546 vom 19.2.1913.Weitere Beispiele DMZ, Nr. 566 vom 3.5.1913. 40 DMZ, Nr. 553 vom 15.3.1913.

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Spalte […] treiben können, den die Marokko-Deutschen und ihre Zeitung offen gehalten haben“. „Der Haltung der Deutschen Marokko Zeitung in der angreifenden Wartezeit von 1909 bis 1911 eine solche Bedeutung beizulegen, mag übertrieben scheinen, ist es in Wirklichkeit aber nicht.“ Er, der wie die anderen Marokko-Deutschen „die ganze Misere unserer romantischen Marokkopolitik mit durchlebt“ hatte, forderte anzuerkennen, welchen Dienst Kiderlen-Wächter, „der mit starker Hand das Reich von der romantischen Periode abkehrte“, dem internationalen Ansehen des Reiches erwiesen habe.41 Zwar reklamierte die DMZ für sich, die französische Presse immer wieder erfolgreich herausgefordert, korrigiert oder überführt zu haben, doch wird man sich fragen müssen, welche Wirkung sie erzielte. Da sich die DMZ nur gelegentlich damit brüstete, dass sie von ihrem Lieblingsgegner, dem einflussreichen, kolonialpolitisch offensiven Blatt Le Temps, zitiert worden war und dass deutsche Zeitungen einen ihrer Artikel nachdruckten, kann man davon ausgehen, dass dies nicht allzu häufig geschah. Wohl nicht umsonst platzierte Hornung seine Berichte weiterhin in der Kölnischen Zeitung, suchten Carl Ficke und seine Mitstreiter den direkten Weg in die deutsche Presse. Mit Bitterkeit kam die DMZ nach dem deutsch-französischen Vertrag vom November 1911 zu dem Eingeständnis, dass es der französischen Presse und ihrer Propaganda gelungen sei, mit ihren „Falschmeldungen“ dafür gesorgt zu haben, „dass im Reich so wenig Verständnis für die wahren Zustände in Marokko zu finden war“.42 Schon gar nicht nahmen ihre Kampagnen Einfluss auf die Politik der Reichsregierung, die Marokko nicht als Ort kolonialen Erwerbs betrachtete, sondern als Mittel zur Wahrung des Prestiges als Großmacht. Dennoch: Die Brisanz, die die Franzosen diesen Kampagnen beimaßen, mag man daran erkennen, dass der Generalresident Hubert Lyautey kompromisslos die Chance nutzte, die ihm der Kriegsausbruch 1914 bot, um alle Deutschen, auch Alte, Kranke und Frauen, zu deportieren und zu internieren. Der Hauptbeschwerdeführer Carl Ficke wurde in einem fragwürdigen Schauprozess zum Tode verurteilt und im Januar 1915 zusammen mit seinem Kompagnon Richard Gründler hingerichtet. Das Vermögen aller Deutschen wurde sequestriert und nach dem Krieg liquidiert; alle Deutschen erhielten ein Einreiseverbot nach Französisch-Marokko, das bis in die 1930er Jahre strikt aufrechterhalten wurde. Lyautey bestätigte so nachträglich die jahrelang vorgetragene Behauptung der Marokko-Deutschen, die Franzosen wollten alles Deutsche und alle Deutschen aus Marokko verdrängen.

41 DMZ, Nr. 576 vom 7.6.1913. 42 DMZ, Nr. 439 vom 3.2.1912.

MICHAEL MAURER DAS MEDIUM TAGEBUCH

Das Medium Tagebuch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit Die Spannung zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ Die Spannung zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ gehört zu den Grundbedingungen des Tagebuches. Tagebuchschreiber ziehen sich grundsätzlich zurück, um für sich selbst zu sein, haben dabei aber immer noch die Möglichkeit, ihre Aufzeichnungen (oder Teile davon) anderen zugänglich zu machen, ja: sie sogar bewusst einzusetzen und zu publizieren. Ganz abgesehen von dem Fall, in dem das Tagebuch als Nachlass an die Nachwelt übergeben oder aus dem Nachlass von späteren Herausgebern publiziert wird. Wenn die Hauptmöglichkeit der Diaristik also wohl darin zu sehen ist, dass sich der Einsame im Alleinsein Entlastung von seiner Umwelt mit ihren Zwängen, ihren Normvorstellungen und ihrer Kontrolle verschafft, fragt sich doch, ob er so seinem Gewissen, seinem Über-Ich, seinen anerzogenen Moralvorstellungen entkommen kann. In vielen Fällen ist das Tagebuch genau der Ort, an dem Konflikte um Werte ausgetragen werden, an dem artikuliert wird, wie das Leben aussehen sollte und wie es wirklich ist. Das Medium ‚Tagebuch‘ bietet in der Neuzeit Europas differenzierte Möglichkeiten der Adjustierung von Lebenspraxis und Lebensphilosophie, einen Ort der Reflexion.1 Man kann vermuten, dass Tagebücher, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, gewissermaßen welthaltiger sein werden als die bloß zum privaten Gebrauch gedachten, die sich ungehemmt auf das Ich ihres Verfassers beschränken dürfen. Damit meine ich beispielsweise Reisetagebücher – ein eigenes Genre, das von den meisten Literaturwissenschaftlern genau deshalb aus Analysen der Gattung Tagebuch ausgeschieden wird.2 Damit meine ich aber auch Gesellschaftstagebücher wie die der Brüder Goncourt oder Varnhagen von Enses, die 1

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Aus Umfangsgründen ist es an dieser Stelle nicht möglich, die Forschungsliteratur zum Thema Tagebuch umfassend nachzuweisen. Vgl. aber Michael MAURER, Poetik des Tagebuches, in: Astrid ARNDT/Christoph DEUPMANN/Lars KORTEN (Hg.), Logik der Prosa. Zur Poetizität ungebundener Rede, Göttingen 2012, S. 73–89; DERS., Tagebücher als Quellen der Geschichtswissenschaft, in: Volker DEPKAT (Hg.), Tagebuch zwischen Text und Quelle, Berlin 2019 (im Druck). Ausnahme: Ralph-Rainer WUTHENOW, Europäische Tagebücher. Eigenart – Formen – Entwicklung, Darmstadt 1990, S. 165–180.

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in bändereichen Aufzeichnungen unzählige Personen auftreten lassen und unüberschaubar viele Ereignisse erwähnen und beschreiben.3 Wenn es dem Autor eines privaten Tagebuches gelingt, seine Ich-Gestaltung einem Publikum als bedeutsam aufzudrängen, hat er genau diese Grenze überschritten. Durch den Rückzug auf die Position, es gebe nun einmal echte private Tagebücher und solche, die zur Veröffentlichung bestimmt sind, würde man sich freilich die interessantesten Einsichten in die Wirkungsweise der Gattung Tagebuch verstellen: Gerade die unklaren Fälle sind oft aufschlussreich. Für frühere Zeiten, als gedruckte Tagebücher noch nicht vorhanden oder selten waren, können wir davon ausgehen, dass die Autoren nur für sich geschrieben haben. Aber schon im 17. Jahrhundert gab es gedruckte Beispiele, die jedem Leser und Schreiber durch ihr bloßes Vorhandensein eine Entscheidung abverlangten: Ist das, was ich schreibe, nur für mich (eventuell für die Familie, einen Freundeskreis zum Vorlesen)? Oder tritt es mit dem Anspruch auf, ein allgemein interessierendes Werk für ein Publikum zu sein? Es versteht sich, dass dieser Anspruch auf ein allgemeineres Interesse leichter zu decken war durch objektzentrierte Tagebücher, durch Chroniken von Städten und Beschreibungen öffentlich interessierender Ereignisse wie Kriege, durch Memoiren oder durch Reisetagebücher. Die subjektzentrierte Tendenz ließ sich verfechten durch ein anthropologisches Interesse; man musste dann aber die Keckheit haben, mit dem Anspruch aufzutreten, dass das eigene Leben relevant sei für andere: als Vorbild oder zur Abschreckung. Diese Tendenz ergab sich im Horizont der Zeit etwa bei besonderen Schicksalsschlägen, Krankheiten, göttlichen Fügungen und überwundenen Gefahren. Des Weiteren natürlich bei entsprechenden Taten, großen Werken und Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten. Außerdem half die Beschäftigung mit den klassischen Autoren der Antike, den eigenen Lebensvollzug zu beschreiben, einzuordnen und zu deuten. Nicht zufällig sind es deshalb am Anfang oft Gelehrte wie der Genfer Isaak Casaubonus oder der Tübinger Martin Crusius, die ein Tagebuch führen und es auch selbst veröffentlichen.4 Klassisch gebildete Autoren wie Michel de Montaigne stellen sich selbstbewusst hin und sagen: „Ich bin selbst der Gegenstand meines Buches.“5 Zu solchem Selbstbewusstsein verhelfen ihnen antike Vorlagen wie

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Edmond & Jules GONCOURT, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben 1851– 1896, 11 Bde. und ein Beibuch, Berlin 2013; [Karl August Varnhagen VON ENSE], Tagebücher, 14 Bde., Leipzig 1861–70, Bd. 15: Register, Berlin 1905 (ND Bern 1972). Vgl. Gustav René HOCKE, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie, Wiesbaden/München 1978, S. 56. „Ainsi, lecteur, je suis moy-mesmes la matiere de mon livre“; Michel de MONTAIGNE, Essais, 3 Bde., Paris 1969, Bd. 1, S. 35.

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Marc Aurels Selbstbetrachtungen, Senecas moralphilosophische Schriften, Ciceros Briefe oder die Charaktere des Theophrast. Zum Wesen des Tagebuches gehört seine Unmittelbarkeit, seine Authentizität. Indem eine Veröffentlichungsabsicht ins Auge gefasst wird, entsteht sofort der Verdacht, dass diese Unmittelbarkeit beschädigt wird durch Zurichtung für ein Publikum. Da dieser Verdacht so naheliegend ist, wird die Versuchung unabweisbar, die erwartete Unmittelbarkeit vorzuspiegeln. Ein Autor, der sein Tagebuch veröffentlichen will, hat gewissermaßen seine Unschuld verloren. Hans Werner Richter zögert nicht, in diesem Falle von einer ‚Verfälschung‘ zu sprechen.6 Die Perspektive auf eine Außenwelt, auf ein Publikum, kann sich auch unbeabsichtigt und fast unbewusst in den Text einschleichen. André Gide, der ursprünglich mit rein persönlichen, privaten Tagebuchaufzeichnungen begonnen hatte, machte diese Erfahrung an sich selbst: „Die Aussicht auf eine wenn auch nur teilweise Veröffentlichung meines Tagebuchs […] hat seinen Sinn entstellt.“7 Wenn ein Autor ein Tagebuch mit Blick auf die Öffentlichkeit schreibt, tut er das entweder im Bewusstsein, eine öffentliche Person zu sein (so häufig bei Politikern, Künstlern, Schriftstellern), oder er hat sich der Problematik zu stellen, dass er durch seine Veröffentlichung zu einer öffentlichen Person wird. Dann fragt es sich, wie weit andere dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden und ob man ihre Namen nennen dürfe oder verschlüsseln müsse – ein Problem, das Max Frisch besonders klar erkannt hat.8 Die Tagebuchproblematik, die zunächst so einfach scheint, solange man sich vorstellt, Tagebücher seien wesentlich privat und nur im Grenzfall in die öffentliche Überlieferung eingegangen, wird immer vielschichtiger, je weiter man in sie eindringt. Es gehört zum Reiz des Tagebuchlesens sich vorzustellen, man stehe am Schlüsselloch und könne Geschehnisse verfolgen und Geheimnisse entschlüsseln, die dem normalen Auge verborgen sind. In Wirklichkeit bedient sich aber auch der Tagebuchschreiber schon einer Optik, die zwischen Innen und Außen wechseln kann. Und der Tagebuchleser wird oft abgespeist mit Texten, 6

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„Ich will notieren, was für mich wesentlich ist, nicht, was für andere interessant erscheint. Wenn ich aber meine eigenen Erlebnisse unter dem Gesichtspunkt sehe, ob sie auch für andere interessant sind, befinde ich mich bereits in einem Verfälschungsprozess. Ich verfälsche nicht nur mein eigenes Leben […] – ich verfälsche auch mein Tagebuch. Indem ich versuche, auch mit den Augen der anderen, der Leser von Morgen, zu sehen, gerate ich in einen Zwiespalt zwischen Objektivität und Subjektivität.“ Hans Werner RICHTER, Warum ich kein Tagebuch schreibe, in: Uwe SCHULTZ (Hg.), Das Tagebuch und der moderne Autor, München 1965, S. 95–109, hier S. 102. André GIDE, Tagebücher, 3 Bde., Stuttgart 1950–54, Bd. 3, S. 430 (30. März 1932). Max FRISCH, Tagebuch 1966–1971, Frankfurt a. M. 1972. Vgl. dazu auch Rüdiger GÖRNER, Das Tagebuch, München/Zürich 1986, S. 91.

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die auch in anderen Zusammenhängen stehen könnten und keine Intimität voraussetzen. Es wird ihm vielleicht sogar vorgespiegelt, eine Indiskretion zu begehen, um sein Interesse zu wecken für Personen oder Ereignisse, die andernfalls ganz belanglos wären. Wie komplex auch immer die Verhältnisse einzuschätzen sein mögen – eines steht jedenfalls fest: Tagebücher eignen sich besonders zur Untersuchung jener neuralgischen Stelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Ich und Welt, über die wir wenig wüssten, wenn sich nicht in der abendländischen Kultur der Neuzeit gerade dieses Medium entwickelt hätte. Die Fragestellung ist also eine doppelte: Welche Möglichkeiten der Äußerung treibt ein Tagebuch hervor, indem es privat und geheim zu sein scheint? Und: Unter welchen Umständen entwickelte sich das Tagebuch zu einer Form der Publizistik, zu einer literarischen Gattung für die Öffentlichkeit?

Introspektion und Ich-Analyse Religiöse Impulse erweisen sich als ambivalent: Beginnend als Gebet, Beichte und Gespräch mit Gott, konnten religiöse Tagebücher auch zur Selbstüberhebung und zur Machtausübung eingesetzt werden.9 Andere Tagebücher, die vielleicht religiöse Motive mitführen, drängen sie stärker in den Hintergrund und widmen sich dem Ich direkt, dem Autor des Tagebuches. Der Erlebende macht sich Notizen, um etwas festzuhalten und um es wiederlesen zu können. Damit wendet er sich aber auch auf sich selbst zurück: Er quält sich selbst oder er genießt sich selbst; er freut sich an sich selbst oder ärgert sich über sich selbst. Das eigentliche Tagebuch, also das Tagebuch ohne Veröffentlichungsabsicht, ermöglicht die Feier des Ichs ohne Schranken. Der Tagebuchschreiber kann sein Ich kultivieren, er kann Nutzen ziehen aus der Abtrennung von seiner Umgebung und der Rückwendung auf sich selbst. Er wird, indem er sich selbst zum Gegenstand nimmt, auf sich selbst aufmerksam, beobachtet seine Stimmungen und Gefühle, notiert seine Gedanken und Wahrnehmungen. Er wird selbstreflexiv. Dieser Ich-Bezug ist entweder das Ergebnis der Isolation, der Abgeschiedenheit von anderen Menschen, von seiner Gruppe oder Gemeinschaft; er kann jedoch auch, als temporärer Rückzug genutzt, wiederum für die Rückkehr in diese fruchtbar gemacht werden. Während in Reisetagebüchern die Hauptblickrichtung nach außen ist, geht sie im ‚Journal intime‘ nach innen. Während sich alle Gattungen der Rhetorik auf andere Menschen richten, auf ein Publikum, und dementsprechend Überzeugungs- und 9

Vgl. Sibylle SCHÖNBORN, Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999.

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Überredungsstrategien anwenden, darf das Tagebuch unrhetorisch bleiben: Es erfüllt seine Funktion, wenn es demjenigen dient, der es schreibt. Hier kommt die Problematik der Geheimhaltung ins Spiel. Jedes Tagebuch ist in erster Linie für seinen Schreiber da. Der wahre Diarist fühlt sich in dieser Situation befreit: frei, sich mit sich selbst zu befassen; frei vom Gruppenzwang, von der Familienloyalität, von Treue zu einem Partner; frei im Hinblick auf seine politischen, religiösen und anderen Meinungsäußerungen. Man könnte sich geradezu auf die Bestimmung festlegen, das Medium des Tagebuches sei um dieser Freiheit willen geschaffen worden – der Freiheit zu sich selbst, der (momentanen, zeitweiligen) Entlastung gegenüber Zumutungen von außen, Anpassungsdruck, Zwang zum Konformismus. Das Tagebuch blühte als Gattung gerade in einer Zeit, in der das Individuum glaubte, mehr Spielraum für sich selbst beanspruchen zu können, und in der äußere Zwänge, ob gefühlt oder real, besonders drückend waren. Das Tagebuch ist nicht nur eine bürgerliche Erscheinung, sondern ein Medium des Liberalismus: Der Impuls der Freiheit, der gesamtgesellschaftlich sofort auf Widerstand stößt, auf die Freiheit der anderen, reduziert sich auf ein privates Refugium, auf einen geschützten und gehegten Raum persönlicher Entfaltung im Kleinen.10 In diesem Sinne erscheint es als Widerspruch in sich selbst, das ‚Journal intime‘ eines anderen zu lesen und gar zu veröffentlichen: Wenn es in die Öffentlichkeit gezerrt wird, bedeutet das eine Indiskretion, eine Grenzüberschreitung gegenüber dem betroffenen Menschen. In diesem Sinne dürfte man niemals ein ‚Journal intime‘ veröffentlichen. Vor allem aber nicht sein eigenes! Anders ist es mit der Veröffentlichung nach dem Tode des Verfassers: Möglicherweise ist es sogar in seinem Sinne, dass die Welt dann, wenn er sein Leben gelebt hat, mit seinen Kämpfen und Skrupeln, seinen Gefühlen und Reflexionen bekannt wird. Seitdem das Tagebuch eine etablierte Gattung ist, sind immer wieder und in immer größerer Zahl Tagebücher im Nachhinein veröffentlicht worden, die ursprünglich privat bleiben sollten.11 Und nicht selten haben sich Herausgeber dazu ermächtigt gesehen – nicht nur, weil die Autoren versäumt hatten, ihre Aufzeichnungen zu vernichten, bevor sie starben, sondern oft auch 10 Vgl. die Ausführungen zu ‚Journal intime‘ bei Peter BÖRNER, Tagebuch, Stuttgart 1969, S. 47–49. 11 Aufschlussreich ist hier der Fall des James Boswell, dem von seinem väterlichen Mentor und Freund Samuel Johnson zu strikter Geheimhaltung geraten wurde; Dr. Johnson „meinte, ich hätte gewiss einen Freund, der es bei meinem Tode verbrennen würde“. Dagegen sträubte sich Boswell: „Ich für mein Teil hange gegenwärtig so sehr an diesem Tagebuch, dass der Gedanke, es je zu verbrennen, mir einen Stich gibt.“ [James BOSWELL], Boswells Londoner Tagebuch 1762–1763. Nach der Urhandschrift erstmals hg., mit einer Einleitung und Anmerkungen von Frederick A. POTTLE, Zürich/Stuttgart 1953, S. 332 f.

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mit dem Vorgeben, durch posthume Publikation den eigentlichen Wunsch und Willen des Verfassers zu realisieren. Das ‚Journal intime‘ bezieht seinen Reiz für den Leser zum Teil daraus, dass ihm versprochen wird, eine Schlüssellochperspektive einnehmen zu dürfen. Dieses Innere, das er dabei zu sehen bekommt, kann trivial sein oder hochbedeutend. Der Herausgeber, der eine Edition eines solchen ‚Journal intime‘ veranlasst, trägt die Verantwortung für die Indiskretion und die Beweislast dafür, dass es sich lohnt, sich mit dem betreffenden Text zu befassen, der von seinem Autor zunächst privat gemeint war. Durch den Wandel der Grenzziehungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit im Laufe der Neuzeit ändern sich auch die Kriterien für eine solche Publikation. Indem heute das Private weithin als Öffentliches angesehen wird, rücken auch frühere Intimitäten in den Scheinwerfer des Publikumsinteresses. Vielleicht war der Rückzug auf das private Journal in einer bestimmten Epoche ja nur Ergebnis gesellschaftlicher Zwänge, die längst nicht mehr bestehen. Damit sind aber vielleicht auch intime Tagebücher vergangener Zeiten für den Voyeur von heute ganz reizlos: Er erwartet etwas zu Verheimlichendes, was man möglicherweise heute problemlos in aller Öffentlichkeit verhandeln kann. Man muss also, historisch geschult, die sich verschiebenden Grenzen zwischen privat und öffentlich mitbedenken, wenn man sich solchen Publikationen einst intimer Tagebücher zuwendet. Das Tagebuch, wie es sich im Laufe der Neuzeit entwickelt hatte, bot im kulturell legitimierten Rückzug auf sich selbst mit Hilfe der immer weiter ausgebreiteten Schriftlichkeit Möglichkeiten der Ich-Entfaltung, die vorher nicht bestanden hatten. Als Tagebuchschreiber durfte man nun ‚Ich‘ sagen, ‚Ja‘ zu sich selbst sagen, seine Verfehlungen und Inkonsequenzen eingestehen. Wo die öffentliche ‚Persona‘ Rollenverhalten voraussetzte oder gar Maske und Verstellung war, durfte man im Tagebuch zu sich selbst kommen, die nackte Wahrheit sagen, sich selbst bespiegeln. In diesem Sinne können Tagebücher auch Entlastung bieten: nämlich von den Zwängen der Rationalität und von gesellschaftlichen Zwängen. Tagebücher sind durch ihre Formlosigkeit befreit zur Inkonsequenz: Während die rational auftretende und überzeugen wollende Persönlichkeit im bürgerlichen Zeitalter konsequente und konsistente Ansichten verkörpern muss, darf das Ich des Tagebuches heute dies und morgen jenes denken und fühlen. Während früher strenge gesellschaftliche Vorstellungen darüber bestanden, was sich schickt, durfte ein Tagebuch auch in dem Sinne zum Ort der Wahrheit werden, dass es Träume und Sehnsüchte, Gedankenspiele und Phantasien aufnahm. Im Binnenraum des Tagebuches durfte sich ein zweites Ich verwirklichen, das sich aus dem ersten, dem sozialen und objektiven Ich, abspaltete. Die bürgerliche Person X war nicht dafür haftbar zu machen, dass ihr Tagebuch

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über eine Person X berichtete, die allerlei Transgressionen beging. Einerseits bestand das Risiko, dass durch das Aufschreiben ein justiziables Dokument entstand, das für oder gegen den Verfasser zeugen konnte; andererseits unterlag ein geheimes Tagebuch doch auch einem gewissen Persönlichkeitsschutz, den zu durchbrechen es einer speziellen Legitimation bedurfte.12 Das ‚Journal intime‘ wurde von seinen Verfassern zumeist – je nachdem, unter welchen Umständen sie leben mussten – versteckt, verheimlicht, verschlossen. Trotzdem gibt es natürlich die Möglichkeit, dass manche darauf spekulierten, dass das dem Anschein nach Heimliche in Wirklichkeit in Umlauf kommen sollte. Die Ich-Spaltung, die der Diarist vollzieht, eröffnet ihm den Raum eines Selbstgespräches, das vielleicht von anderen belauscht wird. Vielleicht will er aber auch, bewusst oder unbewusst, bei diesem Selbstgespräch belauscht werden. Möglicherweise muss man sich die Situation aber noch komplexer vorstellen: Der Diarist im Selbstgespräch mit seinem Tagebuch will vielleicht gegenwärtig unbelauscht bleiben, aber vor der Nachwelt Gehör finden. Um diesen Effekt zu erreichen, bedurfte es eines elaborierten Mediums ‚Tagebuch‘: geläufig in der Praxis, erprobt als mögliche literarische Gattung, in seiner Funktion unter Gebildeten anerkannt.

Religiöse Motive Wo zunächst einmal eine religiös motivierte Ablehnung zu erwarten war (Vorwurf der Hybris oder des Egozentrismus), entsteht auf dem Wege der medialen Expansion die Option, dieses Odium abzustreifen: Ein Tagebuchschreiber ist zwar mit sich selbst beschäftigt und scheint gegenwärtig unnütz, trägt aber durch Introspektion und Ich-Analyse schließlich etwas für andere bei, das am

12 Eindrücklich die Passagen bei Brigitte Reimann, in denen das Tagebuch zum Konfliktgegenstand wird. Am 31.8.1955 notiert sie: „Vieles ist geschehen, Schweres – ich habe mich von Günter getrennt. Daher auch dieses neue Tagebuch – mein anderes hat Günter und gibt es nicht heraus; er wird mich damit bei der Scheidung erpressen wollen.“ Am nächsten Tag hat sie eine Auseinandersetzung mit Günter, weil dieser aufgrund ihrer Tagebücher erreichen will, dass sie „schuldig“ geschieden wird. Vier Wochen später (29.9.1955): „Es ist sehr viel geschehen, aber ich habe nicht eher einschreiben können, weil Günter – mit wahrhaft kriminalistischem Scharfsinn – auch dieses Tagebuch im Bücherschrank aufgestöbert und an sich genommen hat.“ Der Nicht-Intellektuelle und Alkoholiker Günter hat bemerkt, wie er die tagebuchschreibende Schriftstellerin erpressen kann. Brigitte REIMANN, Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955–63, hg. von Angela DRESCHER, Berlin 1997, S. 5, 10, 13 u.ö.

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Ende doch noch nützlich werden kann durch Einsichten für die Psychologie.13 Das ‚Journal intime‘ gehört also in ein bürgerliches Zeitalter, in dem Innerlichkeit kultiviert wird, aber auch in ein Zeitalter, das sich psychologischen Einsichten öffnet. Die von Protestanten geforderte Glaubenseinsicht wurde zum Motor einer Verinnerlichung eines persönlichen Glaubens, welche Introspektion anleitete und im Tagebuch ein Medium des Gespräches der Seele mit Gott für sich entdeckte. Deshalb sind besonders die englische und die deutsche Literatur reich an Selbstzeugnissen dieser Art. Aber diese Frömmigkeitspraxis macht nicht Halt an den dogmatischen Grenzen. Im Tagebuch darf man auch zweifeln und zum Ketzer werden. Man sucht Einsichten über die Seele nun möglicherweise nicht mehr religiös, sondern psychologisch. Während die Religion geschützt ist durch die Kirche als Institution, sucht sich die Psychologie, die philosophische, wissenschaftliche Einsicht in die Seele, neue Wege im Ausbau eines neuen Mediums, des Tagebuches. Der Zürcher Prediger Johann Caspar Lavater nutzte die neuen Medien der Literatur in der Epoche des Überganges auf eine bis dahin ungekannte Weise.14 Lavater schrieb Tagebücher, die in Abschriften in seinen Kreisen zirkulierten. Sie wurden von seinen Anhängern als eine Art von Erbauungsliteratur gelesen, als Beispiele für ein modernes christliches Leben. Einer von ihnen, der in Leipzig tätige Schweizer Prediger Georg Joachim Zollikofer, veröffentlichte 1771 zunächst ohne Lavaters Wissen etwas davon unter dem Titel „Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst“. Dieses Buch machte Furore, wenn es auch einem herkömmlichen Erbauungsbuch noch recht ähnlich sah. Zwei Jahre später veröffentlichte Lavater selbst dann eine Fortsetzung von anderem Charakter, die wirklich ein persönliches Tagebuch darstellte. Damit bot er sich gewissermaßen als Projektionsfigur an: Er lebte seine praxis pietatis, aber auch seine Zweifel und sein Suchen nach einem eigenen Weg einer modernen Christusfrömmigkeit, für alle vor, die das lesen wollten.15 Obwohl Lavater sich zunächst im Rahmen des zu seiner Zeit religiös Üblichen bewegt, führt die öffentliche Selbstthematisierung im Tagebuch doch aus dem Rahmen der religiösen Erbauungsliteratur heraus. Der Text gilt nicht mehr nur der Bezeugung göttlichen Handelns und göttlicher Vorsehung, wie das in 13 Entscheidende Impulse empfing die Geschichte des Tagebuches nicht zufällig durch einen Genfer Professor für Psychologie: Henri-Frédéric AMIEL, Intimes Tagebuch. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Ernst MERIAN-GENAST. Mit Essays von Georges POULET, Luc BOLTANSKI und Emmanuel LE ROY LADURIE, München 1986. 14 Vgl. Ursula GEITNER, Zur Poetik des Tagebuchs. Beobachtungen am Text eines Selbstbeobachters, in: Hans-Jürgen SCHINGS (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994, S. 629–659. 15 SCHÖNBORN, Buch der Seele (wie Anm. 9), S. 87.

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älteren Texten dieser Art der Fall gewesen war; der Text gilt vielmehr dem Ich selbst. Ja, mehr noch: Die göttliche Botschaft wird nach Lavaters Überzeugung nicht mehr durch die Heilige Schrift primär und direkt vermittelt, sondern durch die Lebenswirklichkeit, die im Tagebuchtext Schrift geworden ist. Die eigentliche Offenbarung findet für den Spiritualisten nicht im Buchstaben der Heiligen Schrift, sondern im Herzen des Menschen statt. Das Herz ist also der Ort der direkten Offenbarung Gottes im Menschen; die Heilige Schrift dient nur dazu, darüber Klarheit zu gewinnen. Da aber nicht das Herz als solches spricht, sondern der die Feder führende Autor, wird das Tagebuch schließlich zu einer Art von Offenbarung, zu einem heiligen Text, der dokumentiert, wie sich Gott in Lavater zur Erscheinung bringt. Lavater verwandelt sein eigenes Leben in Literatur. Es geht zentral um das Eigentümliche eines jeden Menschenlebens, um die Individualität. Lavater hat diese Fortentwicklung des herkömmlichen religiösen Tagebuches für sich selber als Befreiung begriffen. Durch sein Tagebuchschreiben und durch sein Hervortreten in der Öffentlichkeit (man könnte sagen: durch seine Selbstentblößung) gewann er eine Freiheit, welche die meisten Zeitgenossen befremdlich fanden und noch nicht wagten – die Romantiker der folgenden Generation allerdings schon.

Tabu: Was man nicht sagen kann Wenn man sich das Tagebuch als privat, persönlich und geheim vorstellt, scheint es sich anzubieten als Refugium für Verdrängtes, für Träume, sexuelle Phantasien, Geständnisse abartiger Verhaltensweisen. Ermöglichte das zurückgezogene Schreiben im Tagebuch die Bearbeitung von Konflikten der Triebunterdrückung, der Tabuisierung von Sexualität im christlichen Europa der Neuzeit? Bot die Privatheit der Tagebücher einen Schutz für die Entfaltung von Individualität? Oder reproduzieren Tagebücher nur die Normen und Tabus, die wir ohnehin schon aus dem öffentlichen Diskurs kennen? Die erste Antwort lautet: In den meisten Tagebüchern des 18. und 19. Jahrhunderts findet sich für die Fragestellung nach einer Sprache der Sexualität überhaupt nichts. Ob man bei Theodor Fontane oder Jacob Burckhardt, bei Marie von Ebner-Eschenbach oder Gottfried Keller nachschaut – Fehlanzeige. Die private Form des Tagebuchs bedeutete nicht grundsätzlich ‚Enthemmung‘ oder ‚Überschreitung der üblichen Grenzen‘. Das Ich des Tagebuches konnte durchaus mit der Persona identisch sein, die öffentlich in Erscheinung trat. Nicht in jedem Fall bedeutet der Blick in ein Tagebuch: Eindringen in die Intimsphäre. Viele Menschen des bürgerlichen Zeitalters verwendeten ihr Tagebuch nur als Erinnerungsstütze oder Arbeitsjournal.

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Und auch wenn sie es zum Medium intimer Reflexion gestalteten, kam es oft genug vor, dass sie das, worüber man öffentlich nicht sprechen konnte, auch privat nicht zur Sprache brachten. Hier geht es also um die Ausnahmen, allerdings um nicht wenige.16 Offensichtlich war es ein naheliegender Gedanke, im Medium des Tagebuches gerade über das zu sprechen, worüber man mit anderen Menschen nicht sprechen durfte. Der Schritt in diese Form geschieht über die Möglichkeit der Beichte. Es sind zumeist Protestanten, die der institutionellen Überwachungsform der persönlichen Beichte, wie sie die katholische Kirche pflegt, entwachsen waren und die nun, im neuen Medium, eine literarische Form kultivierten, die an deren Stelle trat. Für Wilhelm Waiblinger ist das Tagebuch Beichtbuch. Und er schreibt auch über das, worüber man nicht sprechen konnte: andeutend in Stichworten, aber auch reflektierend-analysierend aus größerem zeitlichem Abstand.17 Homosexuelle Autoren wie August Graf von PlatenHallermünde oder André Gide kreisen in Tagebuchaufzeichnungen um ihre sanktionsbedrohten Neigungen. Solche Tagebücher spiegeln Begehren und Konflikte sowie die Reflexion über diesen Bereich, über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft und über die Anforderungen öffentlicher Moralität im bürgerlichen Zeitalter. Wo ein Tagebuchschreiber fürchten muss, dass das von ihm privat Gemeinte bald durch Zufall oder nach seinem Tod öffentlich wird, trägt er Sorge um Geheimhaltung und Verschlüsselung. Nicht wenige Tagebuchschreiber verwenden fremde Sprachen, Kurzschriften oder Kodierungen für ihre privat gemeinten Einträge – entweder zur Chiffrierung des Gesamttextes oder zur Unkenntlichmachung einzelner Stellen, Personenbeziehungen, Handlungen. Einer der berühmtesten Diaristen der Tradition, der Engländer Samuel Pepys, der von 1660 bis 1669 umfangreiche Tagebücher schrieb, verwandte eine später in Vergessenheit geratene Kurzschrift.18 Häufig kommt es vor, dass bestimmte Informationen in einer Fremdsprache niedergelegt werden, von der man annimmt, dass sie von Unbefugten nicht verstanden wird. Gelehrte fielen an solchen Stellen oft ins Lateinische.19 Platen schrieb in seinen Tagebüchern

16 Vgl. dazu auch HOCKE, Europäische Tagebücher (wie Anm. 4), S. 109–161. 17 Wilhelm WAIBLINGER, Mein flüchtiges Glück, Berlin 1974. 18 Vgl. Helmut WINTER, Nachwort, in: Samuel PEPYS, Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts. Ausgewählt, übersetzt und hg. von Helmut WINTER, Stuttgart 1980, S. 476–494; hier S. 489–494. 19 Beispiele: [Albrecht von HALLER], Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und sich selbst, hg. von Johann Georg HEINZMANN. Zweiter Teil, Bern 1787; Christian Fürchtegott GELLERT, Tagebuch aus dem Jahre 1761, hg. von T. O. WEIGEL, Leipzig 1863.

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Kompromittierendes immer französisch, Eugène Delacroix italienisch, Stendhal englisch.20 Ein freieres Sprechen über intime Handlungen und sexuellen Verkehr findet man (von der Pornographie abgesehen) erst im Zeitalter Sigmund Freuds. Seine Wiener Zeitgenossin Alma Mahler-Werfel äußert sich ausgesprochen explizit,21 und für spätere Autorinnen und Autoren, die durch die Schule der Psychoanalyse gegangen waren, wie beispielsweise Anaïs Nin, gab es auf diesem Gebiet keine Tabus.22 Viele Tagebuchschreiber verwandten bestimmte Zeichen, um wiederkehrende Sachverhalte nur für sich selber festzuhalten, sie unbefugten Augen aber möglichst vorzuenthalten. Georg Forster hatte ein solches Zeichen, das er immer eintrug, wenn er onanierte.23 Mabel Loomis Todd verwandte bestimmte Zeichen für Orgasmus und andere sexuelle Funktionen.24 In Goethes und Lichtenbergs Tagebüchern findet man die Planetenzeichen auf Personen übertragen, beispielsweise bezeichnet bei Goethe das Zeichen für Jupiter den Herzog Karl August, für die Sonne die Frau von Stein.25 Tagebücher sind also besonders ergiebig für die Frage nach der Grenze von privat und öffentlich.

20 August VON PLATEN, Ausgewählte Tagebücher (1814–1834), 2 Bde., Stuttgart 1896/ 1900; Eugène DELACROIX, Mein Tagebuch. Deutsche Bearbeitung von Erich HANCKE, Berlin 4–61918; STENDHAL, Tagebücher und andere Selbstzeugnisse, 2 Bde., Berlin 21983. 21 Alma Mahler-WERFEL, Tagebuch-Suiten 1898–1902, hg. von Antony Beaumont und Susanne RODE-BREYMANN, Frankfurt a. M. 1997. 22 Anaïs NIN, Die Tagebücher 1931–1974, 7 Bde., München 1978–80; DIES., Tagebücher 1920–1921, München 1986; Dies., Wir steuern den Kurs unserer Ehe nur mit tiefer Liebe. Die frühen Tagebücher 1923–1927, München 1998; DIES., Ich suche das Leben. Die frühen Tagebücher 1927–1929, München 1999; DIES., Kann ich zwei Männer lieben? Die frühen Tagebücher 1927–1929, München 2000. 23 Georg FORSTER, Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur, Bd. 12: Tagebücher, bearb. von Brigitte LEUSCHNER, Berlin 1973. 24 Vgl. Peter GAY, Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 1986, S. 453 f. 25 Georg Christoph LICHTENBERG, Schriften und Briefe. Kommentar zu Band I und Band II von Wolfgang PROMIES, Darmstadt 1992, S. 1488 f.; [Johann Wolfgang GOETHE], Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 143 Bde., (III. Abteilung: Tagebücher), Weimar 1887–1919.

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Erzwungene Flucht ins Private Aber auch im Falle der Einschränkung der Meinungsfreiheit von Seiten der Politik werden Tagebücher wichtig. Schon am Anfang, nach der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten, sah Jochen Klepper den Weg für sich vorgezeichnet: „Flucht ins Private“.26 Er spricht von seiner „fanatische[n] Sehnsucht nach den ‚Stillen im Lande‘ “.27 Er fühlt sich „geistig als ein Emigrant im Vaterlande“.28 Damit erlangte aber auch das Tagebuch seine höchste Bedeutung. Immer mehr musste man im Laufe der Jahre aufpassen, wie man sich öffentlich äußerte, welche menschlichen Verbindungen noch blieben. Die Konstante aber ist das Tagebuch; es dokumentiert das Alltägliche, das Leben im eigenen Haus, im Kreise der Familie, im Kontakt mit dem Papier, das vor einem liegt. Für politisch verfolgte Autoren in Diktaturen wurde das Tagebuch zum Refugium. Während sie Tagebuch schrieben, waren sie ‚bei sich‘, nicht kollektiviert, nicht vereinnahmt von den Machthabern. Theodor Haecker genoss seine „Schreibnächte“ auch deshalb: Bei Tag übten die Nazis ihre Macht für alle sichtbar aus; aber ein einzelner in seinem Versteck konnte sich im Schutze der Dunkelheit vorübergehend ein eigenes, ‚inneres Reich‘ aufbauen, in dem sie keine Macht besaßen.29 Wilhelm Hausenstein saß in finsteren Zeiten in seinem Versteck und wartete auf „Licht unter dem Horizont“.30 Victor Klemperer schließlich wollte nicht nur schreibend überleben, sondern auch dokumentieren, was um ihn herum geschah, auch die Täter brandmarken. Er leistete mit seinen Tagebüchern aus Dresden etwas, was Emigranten nicht von außen leisten konnten, weil sie den Schrecken entgangen waren.31 Während sein Tagebuch der Jahre 1933–1945 unter dem treffenden Titel veröffentlicht wurde: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“, erhielten seine Tagebücher aus den Jahren 1945–1959 den Titel „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen“. Auch in der Zeit der DDR sah er sich (trotz Anpassung und Mitwirkung) genötigt, sein Ich wiederum zu stabilisieren und seinen privaten Lebensraum zu ver-

26 Jochen KLEPPER, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932–1942. Mit einem Geleitwort von Reinhold Schneider, Stuttgart 1956, S. 41. 27 Ebd., S. 54. 28 Ebd., S. 102. 29 Theodor HAECKER, Tag- und Nachtbücher 1939–1945. Mit einem Vorwort, hg. von Heinrich Wild, Olten [1947]. 30 Wilhelm HAUSENSTEIN, Licht unter dem Horizont. Tagebücher von 1942 bis 1946, München 1967. 31 Victor KLEMPERER, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945, hg. von Walter NOWOJSKI, 2 Bde., Berlin 1995.

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teidigen im Schreiben von Tagebüchern.32 Auch Christa Wolf lebte in der DDR in einer Diktatur, in der keine Meinungsfreiheit herrschte und die Öffentlichkeit staatlich kontrolliert war. Auch für sie gewann das Schreiben von Tagebüchern unter diesen Umständen eine besondere Bedeutung. 1965 notiert sie: „Vielleicht ist das Tagebuch in nächster Zeit […] die einzige Kunstform, in der man noch ehrlich bleiben, in der man die sonst überall nötig oder unvermeidlich werdenden Kompromisse vermeiden kann.“33 Alle diese Motive der Selbstbewahrung unter bedrückenden äußeren Umständen haben dazu geführt, dass das Jahrhundert der Diktaturen zu einer Blütezeit des Tagebuches geworden ist. Erschütternd sind hier vor allem diejenigen Tagebücher, welche das Überleben in Gefängnissen und Konzentrationslagern dokumentieren.34

Öffentlichkeit und Geheimnis Hier kommt nun die Frage nach dem Interesse einer Leserschaft an Tagebüchern ins Spiel: Man wollte lesen, was es über die Welt zu berichten gab; man wollte aber auch wissen, was in den Mitmenschen vorging. Die Schlüssellochperspektive und das Interesse des Voyeurs sind mit der Gattung Tagebuch untrennbar verbunden. Das bedeutet gleichzeitig: Dem Tagebuch wurden Geheimnisse anvertraut; und seitens der Leser wurde vorausgesetzt, dass in Tagebüchern Geheimnisse niedergelegt seien. Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit entscheidet also über die Bedeutung von Tagebüchern mit. Wer sich mit der Geschichte des Tagebuches befasst, wird feststellen, dass nicht schon die Ausbildung der neuzeitlichen Individualität und die Vertiefung und Verinnerlichung das Medium Tagebuch hervorgebracht haben; es bedurfte vielmehr komplexerer Bedingungen, die sich erst dem offenbaren, der sich genauer auf den medialen Charakter der jeweiligen Kulturepoche einlässt. Das Tagebuchschreiben im stillen Kämmerlein wurde nämlich von Anfang an beeinflusst durch den Buchdruck. Durch die Publikation von Tagebüchern verbreitete sich die Idee einer Form, die für viele Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen das entscheidende Gefäß für ihre Sorgen und Probleme, ihre kleinen Nöte und ihre existentiellen Ängste darzustellen vermochte. Die Publika32 Victor KLEMPERER, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1959, hg. von Walter NOWOJSKI, 2 Bde., Berlin 1999. 33 Christa WOLF, Ein Tag im Jahr 1960–2000, Frankfurt a. M. 2008, S. 81. 34 Vgl. Frank BAJOHR/Sybille STEINBACHER (Hg.), „…Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, Göttingen 2015.

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tionsgeschichte von Tagebüchern ist also eine wesentliche Einflussgröße für die Entwicklung des Mediums Tagebuch. Das Zeitalter der Verbreiterung des literarischen Marktes im späten 18. Jahrhundert ist hier entscheidend. Die Produktions- und Distributionsbedingungen von Literatur in der Epoche der Aufklärung, Empfindsamkeit und des Sturm und Drang können hier nur erwähnt werden. Sie ermöglichten eine neue Nähe zwischen dem Autor und seinem Publikum, welche unter die entscheidenden Voraussetzungen der Gattungsentwicklung des Tagebuches gehört.35 Dieses Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit unterlag aber in der Neuzeit immer wieder einem entscheidenden Wandel. Je nach Staat, nach politischem System, nach Zensurgegebenheiten war der Drang zum Tagebuch besonders heftig. Die Zeit nach dem Wiener Kongress und den Karlsbader Beschlüssen war beispielsweise eine Epoche, in der sich viele Schreibende nicht nur aufgrund ihrer Tendenz zur Innerlichkeit mit Tagebüchern abgaben, sondern auch aufgrund der äußeren Einschränkung der Publikationsmöglichkeiten.36 Hinzu kam eine historistische Tendenz, mehr und mehr über zurückliegende Epochen der Geschichte wissen zu wollen. Das Leben einzelner Menschen in fernen Zeiten zog umso mehr Interesse auf sich, als man sich in der Gegenwart dem aktuellen Geschehen entfremdet sah. In die Epoche nach dem Wiener Kongress fallen die ersten Publikationen von Tagebuchklassikern wie John Evelyn (1818) und Samuel Pepys (1825). Das 19. Jahrhundert brachte eine ganze Flut von Tagebuchpublikationen berühmter und unbekannter Persönlichkeiten der Vergangenheit. Und in der Folge verkürzte sich die Distanz zwischen der Aufzeichnung gelebten und beschriebenen Lebens und der Publikation, die nicht selten noch zu Lebzeiten der Betreffenden erfolgte. Diaristen verhielten sich ganz unterschiedlich in Fragen der Geheimhaltung. Unter Umständen schrieben sie geradezu Botschaften an die Nachwelt, wie etwa Henri-Frédéric Amiel, dessen erste Auswahlbände sogleich nach seine Tode 1882 publiziert wurden,37 oder Friedrich Hebbel, deren erste Bände 1885 und 1887 herauskamen,38 vor allem aber die international Furore machenden Tagebücher der Russin Marie Bashkirtseff (1860–1884), die sich in den letzten Jahren ihres jungen Lebens darauf versteifte, wenn sie schon nicht als Malerin den Durchbruch erreichen könnte, wenigstens als Tagebuchschreiberin Weltruhm 35 Vgl. Helmuth KIESEL/Paul MÜNCH, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland, München 1977. 36 Vgl. Rudolf STÖBER, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000. 37 Henri-Frédéric AMIEL, Fragments d’un journal intime, hg. von E. SCHERER, 2 Bde., Genf 1882. 38 Friedrich HEBBELS Tagebücher, 2 Bde., Berlin 1885/87.

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zu erlangen.39 Was ihr auch gelang: Eine ganze Generation von Autorinnen wie Franziska Gräfin Reventlow oder Katherine Mansfield las ihre Aufzeichnungen fühlte sich zu eigenen Tagebüchern angeregt.40 Tagebücher sind also Medien des Privaten; sie stehen im Kontrast und im Gegensatz zu den publizierten Zeitungen und Zeitschriften, die sich ja gleichermaßen an den kalendarischen Daten orientieren, und zu den Chroniken und Geschichtsbüchern, deren Interesse am Allgemeinen im Vordergrund steht. Der Diarist darf nicht nur subjektiv sein, er muss es sogar. Tagebuchschreiben ist auch dann noch etwas Persönliches, wenn es sich (direkt oder indirekt) an eine Öffentlichkeit wendet. Das Spiel mit dem Anschein des Privaten, mit der Möglichkeit der Indiskretion, mit dem absichtlichen Verschleiern und dem Lüften des Schleiers gehört zu den Wesensmerkmalen des Tagebuches.

39 Marie BASHKIRTSEFF, Journal, 2 Bde., Paris 1888. 40 Franziska zu REVENTLOW, Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. von Michael SCHARDT, Bd. 3: Tagebücher 1886 bis 1910. Mit einem Nachwort hg. von Brigitta KUBITSCHEK, Oldenburg 2004, S. 29; Katherine MANSFIELD, Tagebuch. Vollständige Ausgabe, hg. und übersetzt von Max A. SCHWENDIMANN, Stuttgart 1975, S. 33 u. 57 f.

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Der englische Diplomat, Schriftsteller und Übersetzer Joseph Charles Mellish of Blyth in Weimar und Dornburg zwischen 1796 und 1804 „Sind Britten hier?“ lässt Goethe die Figur des Mephistopheles in der „Klassischen Walpurgisnacht“ im Faust II fragen.1 In der Residenzstadt Weimar konnte der sachsen-weimarische Regent, Herzog Carl August, diese Frage im ausgehenden 18. Jahrhundert oft bejahen. So schrieb er am 23. September 1797 an den gemeinsamen Freund Karl Ludwig von Knebel: „Von Engländern wimmelts in Weimar. Mouniers Institut fängt an sich zu bevölkern, das wird recht Hochblut in die racen [Rassen] bringen, u. geradere Kreuze wie bisher.“2 Hier interessiert aber weniger das von dem französischen Revolutionsemigranten Jean Joseph Mounier 1796 gegründete Erziehungsinstitut für junge Engländer in Belvedere mit knapp 40 Engländern, Schotten und Iren und deren Einwirkung auf die Weimarer Gesellschaft.3 Die so entstandene englische Kolonie in Weimar wurde überdies auch oft durch einzelne Personen erweitert, die allerdings nur zum Teil aus aristokratischen Familien stammten. Es gehörte aber zum Erscheinungsbild dieser Zeit, dass die Neuankömmlinge von der Insel schon als solche dem Adel gleich galten. Unter ihnen nahm der kunstsinnige und vielseitig Für den Quellennachweis wurden folgende Editionen benutzt: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887–1919 = Goethe Werke WA; Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, München/Wien 1985–1999 = Goethe Werke MA; Johann Wolfgang Goethe. Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe, Stuttgart/Weimar 1998 ff. = Goethe Tagebücher; Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Weimar 1980 ff. = Goethe RA; Goethes Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt, Weimar 1949–1962 = Goethe-Voigt Briefwechsel; Schillers Werke. Nationalausgabe, Weimar 1943 ff. = SNA. 1 2 3

Goethe Werke MA, Bd. 18.1 (1997), S. 188. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, GSA 54/249, Bl. 88. In der von Werner GREILING mitherausgegebenen Reihe „Deutsch-Französische Kulturbibliothek“ ist 2009 als Band 28 eine umfassende Studie über Weimar als Exilort französischer Revolutionsemigranten erschienen, die auf eine von ihm betreute Staatsexamensarbeit im Sonderforschungsbereich 482 Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800 an der Friedrich-Schiller-Universität zurückgeht, in der auch Mouniers Erziehungsinstitut in Belvedere eine Rolle spielt. Vgl. Friedemann PESTEL, Weimar als Exil. Erfahrungsräume französischer Revolutionsemigranten 1792–1803, Leipzig 2009, S. 234–251.

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interessierte Charles Gore mit seinen Töchtern, die sich hier bereits 1791 niedergelassen hatten, eine besondere Stellung ein.4 Goethes Ministerkollege Christian Gottlob Voigt regelte 1810 nach dessen Ableben den Ankauf des künstlerischen Nachlasses des „wackeren und edelgesinnten Briten“5 durch den Herzog. Daneben war es ein anderer Engländer, der allerdings nicht so lange in Weimar blieb, aber mit der dortigen Gesellschaft schon bald sehr vertraut wurde: Joseph Charles Mellish of Blyth (1769–1823), Literat und Diplomat, dem diese Studie gilt.6 Der am 2. März 1769 in London geborene Sohn eines Rechtsanwaltes hatte von 1782 bis 1786 das renommierte College von Eton besucht.7 Ein Schulfreund aus dieser Zeit, George Canning, hat später als Regierungsmitglied seine diplomatische Laufbahn ermöglicht. Joseph Charles Mellish fiel früh durch sein literarisches und rhetorisches Talent auf, das durch die Schule, aber auch von seinem Vater gefördert wurde. Nach der Schulzeit in Eton wurde er am Trinity College in Cambridge immatrikuliert, wo er 1787 seine Reifeprüfung bestand. Danach begann er eine juristische Ausbildung am Londoner Lincoln’s Inn, der Anwaltskammer, in der auch sein Vater tätig war. Aber an einer Karriere als Rechtsanwalt war er offenbar nicht interessiert. Frühe literarische Betätigungen und Übersetzungsversuche, die durch Sprachstudien untersetzt waren, zeigten in eine andere berufliche Richtung. Seit den frühen 1790er Jahren beschäftigte Mellish auch der Gedanke an eine schriftstellerische Karriere. In dieser Zeit führten ihn Bildungsreisen auf den Kontinent. Orte im westlichen Deutschland, am Rhein und an der Lahn, waren 1795 Stationen einer solchen Reise, wobei er sich längere Zeit in Weilburg aufhielt. Dabei nahm er auch brieflichen Kontakt mit dem Göttinger Gelehrten Georg Christoph Lichtenberg auf. Ihm gegenüber 4

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Goethe gedenkt Charles Gore in den Nachträgen zu seiner Biografie von Philipp Hackert, Goethe Werke MA, Bd. 9 (1987), S. 831–837. Als bisher umfassendste neuere Studie ist zu nennen: Willy EHRLICH, „… wegen Kunstverwandtschaft und freundlicher Lebensteilnahme“. Goethes Beziehungen zu Charles Gore, in: Goethe-Jahrbuch 91 (1974), S. 117–135. Voigt an Goethe vom 26.12.1810, in: Goethe-Voigt Briefwechsel, Bd. III (1955), S. 315. Auf die in der bisherigen Literatur vereinzelt anzutreffende Schreibweise „Blythe“ sei hier hingewiesen, sie hat allerdings keine Berechtigung. Die biografischen Daten folgen zumeist der Dissertation von Elke H. M. RITT, Mary Stuart. A Tragedy (1801) von Joseph Charles Mellish: die autorisierte englische Blankversübersetzung von Schillers Maria Stuart, München 1993, in der sich der Teil III mit „Leben und Werk des Engländers Joseph Charles Mellish of Blythe (1769–1823)“ befasst. Außerdem wurde mit Gewinn herangezogen: Ingo von BERCHEM/Gerhard SCHÄTZLEIN, Familiengeschichte der fränkischen Adelsfamilie von Stein, Teil II: Die Nordheimer Linie der Freiherren von Stein zu Nord- und Ostheim, Mellrichstadt 2013. Beiden Verfassern bin ich für die zuvorkommende Unterstützung meiner Forschungen zu Joseph Charles Mellish dankbar.

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bekannte er seine intensive Auseinandersetzung mit der Übersetzung von Shakespeare-Dichtungen ins Deutsche durch Johann Joachim Eschenburg.8 Dass er später selbst als Übersetzer aus dem dichterischen Werk von Schiller und Goethe ins Englische tätig sein würde, dürfte ihm aber zu dieser Zeit sicher noch nicht in den Sinn gekommen sein. Eine solche literarische Wendung nahm das Leben von Joseph Charles Mellish, als dieser 1796 nach Weimar kam und hier in das gesellschaftliche Leben der Residenzstadt von Sachsen-Weimar-Eisenach eintauchte, dabei mit Goethe persönlich bekannt wurde, später auch mit Schiller, der zu dieser Zeit allerdings noch in Jena lebte. Sein Name findet sich zum ersten Mal am 27. Juli 1796 im Fourierbuch des Hofes, als er als Gast an der Mittagstafel der Herzogin Louise9 im Fürstenhaus erschien: „Auch war der Herr Baron v. Millisch von England mit zur Tafel gebeten.“10 Beginnend mit der hier dokumentierten Einladung an die Hoftafel kann ein vierteljährlicher Aufenthalt in Weimar bis Ende Oktober 1786 nachgewiesen werden, und noch mehr. Zunächst ist aber eine Besonderheit der historischen Quelle dafür, des Fourierbuches, zu betrachten. Die darin enthaltenen Aufzeichnungen des Hoffouriers zu den Teilnehmern an der Hoftafel erfolgten auf Grund mündlicher Vorstellung oder Namensweitergabe, so dass die im Fourierbuch überlieferten Namen und Titel nicht immer der Wirklichkeit entsprechen, was hier anzumerken ist, wenn bei Joseph Charles Mellish ein Adelsprädikat erscheint, das er zu dieser Zeit allerdings nicht besaß: „Baron von Millisch“ (27. Juli 1796) oder später „Baron v. Mellisch“ (18. August 1796), auch französisch „M[onsieu]r. de Melish“ (28. August 1796), dann auch „H[er]r. v. Melisch“ (26. Oktober 1796). Aber das findet man auch bei dem hier schon seit mehreren Jahren niedergelassenen Engländer Charles Gore, der als Teilnehmer an der Hoftafel im Fourierbuch ebenfalls als „Herr v. Gore“ (24. Juli 1796) bzw. „Baron v. Gore“ (27. Juli 1796) eingetragen ist und auch keinen Adelstitel aufwies. Durch die so dokumentierte Anwesenheit von Joseph Charles Mellish an der Hoftafel – immer an der Mittagstafel, zumeist auch an der Abendtafel – können wir den Personenkreis erfassen, mit dem er in der Residenzstadt in Berührung kam. Zu diesem gehörten neben dem zum Hofstaat und zur Landesadministration zählenden Personal und den Angehörigen der „Noblesse“ in der Stadt auch 8

Dieser hatte das Werk des englischen Dramatikers als erster vollständig in die deutsche Sprache übertragen (1775 bis 1782 in 13 Bänden). 9 Herzog Carl August hielt sich vom 16.7. bis 13.8.1796 mit seinem Geheimen Rat Christian Gottlob Voigt zu administrativen Zwecken im Eisenacher Landesteil auf. 10 Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: LATh-HStA Weimar), Herzogtum/Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Hofmarschallamt (im Folgenden: HMA), Nr. 4545, Bl. 174. Auch die folgenden Nachweise beziehen sich auf dieses Fourierbuch.

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die zahlreichen französischen Revolutionsemigranten, die sich um die Jahrhundertwende zeitweise in Weimar aufhielten. Bereits am dritten Tag seiner Anwesenheit sind im Fourierbuch nebeneinander verzeichnet: „Geh.[eimer] R.[at] v. Göthe“ und „Baron v. Millisch“ (29. Juli 1796). Schließlich sind es auch Personen, die später zu seiner deutschen Verwandtschaft gehörten, denn er lernte hier seine künftige Ehefrau kennen, als diese zu Besuch bei Verwandten in Weimar weilte. In der fraglichen Zeit vom Juli bis Oktober 1796 finden wir unter den Gästen an der Hoftafel die verwitwete Gräfin Henriette Karoline Bachoff von Echt, die sich nach dem Ableben ihres Gatten, des Reichsgrafen Johann Friedrich Bachoff von Echt, zuvor dänischer Gesandter am kaiserlichen Hof in Wien, 1782 mit zwei ledigen Töchtern in Weimar niedergelassen hatte.11 Sie mietete das 1777 von dem Kaufmann Johann Christoph Schmidt in der Esplanade (heute Schillerstraße) erbaute Hinterhaus seines zur Großen Windischengasse gehörenden Anwesens, bevor sie nach der Verheiratung ihrer jüngsten Tochter 1792 mit dem Hofjunker Julius Wilhelm Ernst von Stein-Nordheim schließlich 1794 dem Hofjäger Anton Georg Hauptmann dessen privates Wohnhaus auf dem Eisfeld abkaufte. In dem zweigeschossigen Haus in der Esplanade wohnten seitdem allein der 1795 zum Forstmeister, 1797 zum Oberforstmeister in den Forstdepartements Weimar und Allstedt ernannte Wilhelm Freiherr von Stein mit seiner Ehefrau Amelie Augustine geborene Gräfin Bachoff von Echt, denen hier 1793 auch der einzige Sohn Dietrich Carl August geboren wurde. Es ist das Bürgerhaus, das nach der Jahrhundertwende von dem inzwischen verheirateten Joseph Charles Mellish erworben und von diesem wiederum an Friedrich Schiller verkauft wurde: das nachmalige „Schillerhaus“ in Weimar. Mit dem Freiherrn von Stein-Nordheim wird die aus fränkischem Uradel stammende Familie von Stein zu Nord- und Ostheim genannt, in die 1798 der englische Gast an der Hoftafel des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach einheiratete. Kehren wir also wieder zu den Gästen des Hofes im Weimarer Fürstenhaus im Sommer 1796 zurück, nachdem Joseph Charles Mellish dort erschienen war. Am 27. Juli 1796, als er erstmals an die Hoftafel geladen war, traf ein weiterer auswärtiger Gast hier ein, zu dem das Fourierbuch festgehalten hat: „Heute 11 Bei dessen jüngerem Bruder, Ludwig Heinrich Freiherr Bachoff von Echt (1725–1792), der sich nach einer diplomatischen Karriere in dänischen Diensten, u.a. als Gesandter in Madrid, ins Privatleben auf sein Gut Romschütz bei Altenburg zurückgezogen hatte, stand von 1769 an Friedrich Justin Bertuch als Hauslehrer der Söhne in Diensten, bevor er 1773 in seine Geburtsstadt Weimar zurückkehrte, wo er 1775 als Sekretär und Schatullverwalter in die Dienste des neuen Herzogs Carl August aufgenommen wurde, später aber vor allem als Unternehmer und Verleger hervortrat. Es liegt nahe, dass er der verwitweten Schwägerin seines ehemaligen Dienstherrn bei ihrer Übersiedlung von Wien nach Weimar geholfen haben dürfte.

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mittag war die Frau Gesandin v. Günderodt von Regensburg mit zur Tafel gebeten.“12 Es handelte sich um Wilhelmine Caroline Eleonore von Günderrode, deren Ehemann Philipp Maximilian Freiherr von Günderrode kurhessischer Gesandter beim Reichstag in Regensburg war. Sie aber war eine geborene Freiin von Stein-Nordheim, eine ältere Schwester des in Weimar ansässigen Forstbeamten Wilhelm von Stein-Nordheim. Noch mehr müssen uns aber Fourierbucheinträge dieser Zeit interessieren, welche die Anwesenheit von zwei Fräuleins von Stein-Nordheim – „[Nr.] 19. [und] 20. Frls. v. Stein“ (31. Juli 1796), „beyde Fräul. v. Stein“ (7. August 1796) und schließlich „2 Frls. v. Stein“ (14. August 1796) – an der Hoftafel dokumentieren. Es waren jüngere Geschwister aus der gleichen freiherrlichen Familie des Dietrich Philipp August von Stein im fränkischen Nordheim und Völkershausen.13 Vermutlich waren das die noch ledigen Töchter Wilhelmine Luise Christiane Eleonore (geb. 1775) und Caroline Ernestine Sophie Friederike (geb. 1777), die einige Zeit zusammen mit der älteren verheirateten Schwester von Günderrode (geb. 1767) bei ihrem Bruder, dem sachsen-weimarischen Forstmeister, und gewiss auch bei dessen Schwiegermutter, der Gräfin Bachoff von Echt, in Weimar zu Besuch weilten. Das jüngere Fräulein von Stein feierte hier am 19. August 1796 seinen 19. Geburtstag. Sie war dem damals 27-jährigen Engländer bei ihren Begegnungen an der Hoftafel und sicher auch außerhalb des Hofes in den gesellschaftlichen Kreisen der Residenzstadt aufgefallen. Das poetische Zeugnis der erwachten Liebe befindet sich in einem 1818 erschienenen Gedichtband mit den veröffentlichten „Erstlingen“ seiner „deutschen Muse“ in einem Gedicht, dem er die Widmung voranstellte: „Meiner Caroline gewidmet vor der Abreise nach England im October 1796“.14 An die „Nymphen und Sylphen“ gerichtet war seine flehentliche Bitte: „Euren Sorgen empfehl’ ich das Mädchen, das ich so liebe, / Wie noch keiner geliebt; lasst ihr begegnen kein Leid; / Wehet mit dienstbaren Flügeln die Sehnsucht meiner Seele, / Und die Stimme der Lieb’ hülfreich und tröstlich ihr zu; […].“ Aber es ist auch eine Bitte an den Vater in England, dieser Wahl zuzustimmen: „Dass er ihm gönne das Loos, das ihm der Himmel bestimmt; / Flehe den Vater um Gnade dann an, auf dass er mir gebe / Mich des Lebens zu freun, wie er das Leben mir gab.“ Dahinter stand offenbar der gespürte Unmut bei dem Londoner Rechtsanwalt über die Unbestimmtheit des beruflichen Fortkommens seines Sohnes. Aber es ging nunmehr auch um die 12 LATh-HStA Weimar, HMA, Nr. 4545, Bl. 174. 13 Dazu Hans KÖRNER, Stein zu Nord- und Ostheim, in: Genealogisches Handbuch des in Bayern immatrikulierten Adels, Bd. VI, Neustadt an der Aisch 1957, S. 314–337, bes. S. 322–325 zur Familie von Dietrich Philipp August Freiherr von Stein (1742–1803). Siehe auch BERCHEM/SCHÄTZLEIN, Familiengeschichte (wie Anm. 7). 14 Joseph Charles MELLISH, Gedichte [Nebentitel: Deutsche Gedichte eines Engländers. Nebst einigen Uebersetzungen in das Englische und Lateinische], Hamburg 1818, S. 1 f.

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Zustimmung zur Heirat mit der deutschen Adligen. Und so endet dieses Gedicht: „Drücke an mich das Herz, das mir so väterlich schlägt, / Kehre dann freudig zurück, und theile die künftigen Sorgen / Und das künftige Glück meiner Geliebten mit ihr.“ Tatsächlich hatte Joseph Charles Mellish am 26. Oktober 1796 zum letzten Mal als Gast an der Hoftafel gesessen und war dann nach London zu seinen Eltern aufgebrochen. Dort traf er den schwer erkrankten Vater an, der noch vor seinem Tod am 29. Dezember 1796 der Verheiratung in Deutschland in einem kurz zuvor verfassten Zusatz zu seinem Testament zugestimmt und für ihn ein Legat von 300 Pfund Jahreseinkommen aus dem Erbe bestimmt hatte. Die ländlichen Besitztümer des Rechtsanwalts Charles Mellish fielen an seine hinterlassene Ehefrau. Darunter war auch ein Gut in dem Dorf Blyth in der Grafschaft Nottinghamshire, welches in dem Namenszusatz „Mellish of Blyth“ auftaucht, den seine Mutter Judith führte und den der Sohn nach seiner Verheiratung nun ebenfalls verwendete. Es mag der Konvention geschuldet sein, dass infolge der dadurch ausgedrückten Zugehörigkeit zum englischen Landadel eine zu vermittelnde Ebenbürtigkeit bei der Verheiratung mit einer deutschen Adligen erreicht werden sollte. Den üblichen Gewohnheiten in Deutschland bei der Führung von Adelstiteln entsprach es nicht, wenn als gebräuchliche deutsche Namensform nunmehr „Joseph Charles Mellish von Blyth“ erscheint.15 Über dessen Verbindung zu der fernen Braut im fränkischen Nordheim im Grabfeld in der Zeit nach ihrem Kennenlernen in Weimar liegen nur ungesicherte Nachrichten aus der weitaus späteren Überlieferung der jüngsten Tochter Elisabeth von Oppel (geboren 1816) vor.16 Sie verweisen auf einen Brief von Mellish an die Mutter der von ihm angebeteten Caroline von Stein vom 30. Dezember, mit dem er schriftlich um deren Hand angehalten haben soll. Das ist offenbar am Jahresende 1796 gewesen, nachdem zuvor der Vater in London einer solchen ehelichen Verbindung zugestimmt hatte. Allerdings verstarb die 15 Das ist allerdings noch nicht beim Traueintrag vom 10.8.1798 im Kirchenbuch von Völkershausen der Fall, wo er lediglich als „Joseph Charles von Mellish Esquire“ eingetragen ist (wie Anm. 23), dann aber beim Taufeintrag des ersten Kindes im Kirchenbuch von Dornburg vom 10.11.1799, in dem er „Joseph Charles Mellish of Blyth, Esquire aus England“ genannt wird (wie Anm. 27). 16 Vgl. deren 1877 begonnenen Aufzeichnungen „Aus der Großmutter Handkörbchen. Erlebnisse und Erinnerungen für meine Kinder niedergeschrieben“, die nicht zur Verfügung standen, aber bei RITT, Mary Stuart (wie Anm. 7) und BERCHEM/SCHÄTZLEIN, Familiengeschichte (wie Anm. 7) herangezogen wurden. Die erst acht Jahrzehnte später niedergeschriebene Überlieferung der jüngsten Tochter Elisabeth von Oppel (geboren 1816) vom ersten gemeinsamen Weihnachtsfest des Vaters in Nordheim und dessen Brief an die Mutter vom 30. Dezember, mit dem er schriftlich um deren Hand anhielt, setzt beide Ereignisse als einen Vorgang in das Jahr 1795, was begründet auszuschließen ist.

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Mutter seiner Braut im Frühjahr 1797,17 was die ersehnte Hochzeit um mehr als ein Jahr hinausschob. Unterm 31. März 1797 meldet das Fourierbuch: „Hr. Baron von Melisch, welcher gestern mit dem Hr. Stallmeister v. Seebach aus England zurück gekommen, wurde heute an Hof gebeten.“18 Aber er hielt sich nicht lange in Weimar auf und wird nur noch am 2. und 9. April 1797 als Gast an der Hoftafel genannt. Das überlieferte Weihnachtsfest, an dem er als Gast der fränkischen Freiherrenfamilie von Stein im Elternhaus seiner künftigen Braut, dem Schloss zu Nordheim, teilnahm, fand offenbar Ende 1797 statt, denn er ist zu dieser Zeit wieder in Deutschland und in den ersten Monaten des folgenden Jahres ab 8. Januar 1798 oft im Fourierbuch am Weimarer Hof verzeichnet. Zweimal ist sein Name mit bemerkenswerten Informationen verbunden, zunächst am 8. April 1798 mit dem Eintrag: „Hr. Baron v. Mellisch aus England, wurde heute als hiesiger Cammerherr vorgestellt.“19 Der Regent hatte ihm diese Titulatur aus persönlicher Wertschätzung zuerkannt, Hofdienst musste er dafür nicht leisten. Somit wurde er nun ab 1799 regelmäßig im Hof- und Adreßkalender bzw. später im Staatshandbuch von Sachsen-Weimar-Eisenach, zum letzten Mal 1823, als Kammerherr unter den „charakterisierten Personen“ angezeigt. Die eingedeutschte Schreibweise ist durchgehend „Joseph Carl von Mellisch“. Ein halbes Jahr später wurde er auch durch König Friedrich Wilhelm III. von Preußen zum preußischen Kammerherrn ernannt, wobei als Datum der Bestallung der 29. November 1798 genannt wird. In einer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angefertigten Liste der Königlich Preußischen Kammerherren ist er als „Joseph Carl Mellish de Blyth“ unter diesem Datum erfasst, wobei als Aufenthalt zur Zeit der Ernennung Weimar angegeben ist und dazu noch bemerkt wird: „ist ein englischer Edelmann und war schon Kammerherr des Herzogs von Weimar“.20 Noch bis zum 14. Mai 1798 wird „H[er]r. v. Mellisch“ immer wieder als Gast an der Weimarer Hoftafel, manchmal auch zusammen mit dem Ober17 Die Mutter, „Susette Wilhelmine Elisabetha Freyfrau von Stein, gebohrne Freyin von und zu der Tann“, so genannt in der von Mellish verfassten „Inschrift für das Cenotaph der Freyfrau v. Stein“, in: MELLISH, Gedichte (wie Anm. 14), S. 22 starb am 15.2.1797 in Nordheim. 18 LATh-HStA Weimar, HMA, Nr. 4546, S. 75. 19 LATh-HStA Weimar, HMA, Nr. 4547, S. 64. 20 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Rep. 113, Oberhofmarschallamt, Nr. 2828 (Schriftliche Auskunft vom 6.7. 2018). Dass die Ernennung 1798 unter König Friedrich Wilhelm III. erfolgte, steht bereits in einer gedruckten Liste der in seiner Regierungszeit seit 1797 erfolgten Ernennungen im Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat für 1821, S. 9, nunmehr aber als „Großbritt. Consul zu Hamburg“. In dem Adreß-Kalender der Königlich Preußischen Haupt- und Residenz-Städte Berlin und Potsdam erscheint er erstmals 1802 als „Jos. Karl von Mellish zu Weimar“.

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forstmeister Wilhelm von Stein, seinem künftigen Schwager, genannt. Von besonderem Interesse ist dabei am 14. April 1798 die im Fourierbuch enthaltene Notiz: „Heute als den 14ten früh vor 6 Uhr, reiseten Ser[enissi]mus in Begl.[eitung] des G[ra]f[e]n. du Monoir u. Oberforstm.[eister] Hr. v. Stein und C[ammer]h[er]rn. v. Melisch, nach Meiningen.“21 Die Reise galt aber offenbar nicht nur dem herzoglichen Hof dort, sondern das Ziel war auch das als Würzburger Lehen der Herren von Stein noch selbstständige, ab 1806 aber zu Sachsen-Meiningen gehörende Nordheim im Grabfeld, wo im dortigen Schloss der Weimarer Herzog möglicherweise bei dem Freiherrn Dietrich Philipp August von Stein-Nordheim als Brautwerber für seinen aus England stammenden Kammerherrn aufgetreten ist. Der zur finanziellen Ausstattung des Paares abgeschlossene Vertrag über die Heirat von Joseph Charles Mellish und Caroline Ernestine Friederike Sophie Freiin von Stein wurde auf der Seite des Bräutigams durch seine verwitwete Mutter Judith Mellish of Blyth und die Testamentsvollstrecker seines 1796 verstorbenen Vaters, auf der Seite der Braut durch ihren verwitweten Vater abgeschlossen und ist datiert vom 23. Juni 1798.22 Vermutlich ist Joseph Charles Mellish selbst nach London gereist, um die Unterschriften der englischen Seite einzuholen, nachdem er am 14. Mai 1798 letztmalig als Gast an der Hoftafel in Weimar genannt wird. Die Heirat erfolgte am 10. August 1798 in dem ebenfalls zur Reichsritterschaft der Herren von Stein gehörenden unterfränkischen Völkershausen, dem Geburtsort seiner Braut. Im Traueintrag des Kirchenbuchs wird der Bräutigam als „der Hochwohlgebohrene Herr, Herr Joseph Charles Mellish Esquire, ehedem wohnhaft in Temity [richtig: Trinity] College, Cambridge, izt aber zu Dornburg im Sächs. Weimarischen herzogl. Schloß, Weimarischer und Eisenach.[ischer] Herr Kammerherr“ bezeichnet.23 Der Hinweis auf dessen nunmehrigen Wohnort auf den herzoglichen Besitzungen in Dornburg an der Saale muss nicht verwundern. Bereits am 2. April 1798 hatte der an der Spitze der Landesadministration stehende Geheime Rat Christian Gottlob Voigt dem in Jena weilenden Amtskollegen Goethe mitgeteilt, dass Herzog Carl August „mit der Idee“ umgehen würde, „dem (itzt zum Kammerherrn titulariter ernannten) Herrn Melish das Dornburger Schloß zu seinem künftigen Aufenthalt durch eine Pacht p.[erge] zu überweisen.“24 Joseph 21 LATh-HStA Weimar, HMA, Nr. 4547, S. 67. 22 Vorhanden im Freiherrlich von Steinschen Archiv in Völkershausen, Urkunde Nr. 534. Abschrift erhalten von Herrn Ingo von Berchem. 23 Ev. Pfarramt Willmars, Kirchenbuch Völkershausen. Herrn Pfarrer Michael Hofmann im Pfarramt Willmars danke ich für die freundlich gewährte Einsichtnahme in das Kirchenbuch. 24 Goethe-Voigt Briefwechsel, Bd. II (1951), S. 58. – Zu diesem Zweck hatte der Herzog zusammen mit Oberforstmeister Wilhelm von Stein und dessen künftigem Schwager

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Charles Mellish war da also schon zum Kammerherrn ernannt worden. Dessen wohnliche Niederlassung in Dornburg erfolgte allerdings erst nach der Verheiratung im Herbst 1798. Am 12. September 1798 protokollierte Voigt die herzogliche Entscheidung, seinem Kammerherrn „das Dornburger Schlößchen mit Zubehör […] zum Gebrauch einräumen zu lassen“.25 Am 27. September 1798 verhandelte dieser mit Voigt über die Bedingungen seines Aufenthaltes in Dornburg, so dass nunmehr am 5. November 1798 ein Reskript des Herzogs an die Kammer ergehen konnte, welches das freie Wohnrecht seines Kammerherrn in dem zwischen 1736 und 1741 erbauten neuen Schloss, dem heutigen Rokokoschloss, dekretierte. Mellish erhielt „dieses Schloß-Gebäude, nebst dem dabey befindlichen Vorplatz, Terrasse und Weinberg, ingleichen mit dem sogenannten Cavalier-Hauße, auf fünfzehn Jahr zur Bewohnung“. Weiterhin wurde ihm das dabei gelegene „Buschholz, der Hayn genannt“, zur Nutzung überlassen, schließlich auch „das große und kleine Weidwerk in dem Dornburger Revier“ verpachtet, so dass er dadurch künftig Einnahmen vom „Wildpretsertrag“ und vom „Schußgeld“ erzielen konnte.26 Gewohnt hat er mit seiner Frau aber offenbar nicht im Schloss, sondern im dahinter gelegenen Kavalierhaus, wo sich die Schlossküche befand und bisher der Schlossvogt seine Wohnung hatte. Dieser musste sich auf Geheiß des Herzogs eine neue Wohnung im Dorf besorgen, wofür ihm allerdings Mellish die Miete zu zahlen hatte. Joseph Charles Mellish of Blyth hat mit seiner jungen Frau allerdings nur die ersten Jahre nach seiner Verheiratung hier tatsächlich längere Zeit, wenn auch nicht durchgehend, gewohnt. Immerhin wurde in Dornburg im folgenden Jahr das erste Kind der Familie, eine Tochter, am 17. Oktober 1799 geboren. Die Taufe fand am 10. November „in hiesigem herrschaftlichen Neuem Schloße“ statt, wie das Dornburger Kirchenbuch überliefert,27 wobei diese in englischer Sprache und nach der Liturgie der anglikanischen Kirche durch einen sich im Erziehungsinstitut in Belvedere aufhaltenden Diakon vorgenommen wurde. Zu den sechs deutschen Paten gehörten aus Weimar die verwitwete Herzoginmutter Anna Amalia und Herzog Carl August sowie aus der Familie von Stein die älteste Schwester und der Bruder, der Oberforstmeister, die alle anwesend waren. Nicht erschienen waren die verwitwete Herzogin von Sachsen-Meiningen und der Großvater von Stein-Nordheim. Abwesend blieben auch drei englische Paten aus der Verwandtschaft von Mellish. Mellish am 4.4.1798 einen Besuch in Dornburg und anschließend in Jena geplant, der wegen einer Unpässlichkeit von Carl August allerdings nicht zustande kam. 25 LATh-HStA Weimar, Herzogtum/Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Herrschaftliche Güter, B 8115, Bl. 2. 26 Ebd., Bl. 5. 27 Veröffentlicht bei RITT, Mary Stuart (wie Anm. 7), S. 12 f.

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Unter ganz anderen Umständen erfolgten 1801 Geburt und Taufe des zweiten Kindes in Weimar, obwohl der Kammerherr weiterhin freies Wohnrecht in Dornburg besaß, sich aber nicht ständig dort aufhielt. Auf dieses Privileg verzichtete er erst 1804,28 nachdem er sich beruflich anders orientiert und eine diplomatische Laufbahn außerhalb von Sachsen-Weimar-Eisenach und Deutschland eingeschlagen hatte. In einem Reskript des Herzogs an die Kammer vom 1. Januar 1805 heißt es, dass Mellish „die ihm vormals vergönnte Bewohnung unsers Schloßes zu Dornburg wieder aufgegeben“ habe. Und am 20. Februar 1805 meldete sich der Schlossvogt: „Wie man hier und in der ganzen umliegenden Gegend als gewiß versichert, wird der Cammerherr von Melish nicht wieder in hiesige Gegend kommen, wenigstens das Schloß zu Dornburg nicht wieder zu seinem Aufenthaltsort nehmen“.29 In Dornburg hatte dieser tatsächlich nur zeitweise gewohnt oder hier Gäste empfangen. In Goethes Tagebuch wird erstmals am 29. März 1799 erwähnt, dass er in Jena „Kammerherr Mellish von Dornburg“ begegnet sei.30 Briefe von diesem aus Dornburg an Goethe liegen aus den Jahren 1800 und 1801 vor.31 So lange Schiller noch in Jena lebte, haben sich auf Grund der Nähe von Dornburg Mellish und der Dichter vermutlich häufiger besucht. „Mellischens hier gewesen“ lautet ein Kalendereintrag am 12. Juni 1799 von Schiller.32 Zugegen war auch der in Weimar weilende englische Freund James Henry Lawrence. Der Gegenbesuch Schillers mit seiner Frau Charlotte und seiner Schwester Christophine mit deren Ehemann, dem Bibliothekar Reinwald aus Meiningen, in Dornburg erfolgte am 27. Juni 1799.33 Für den 10. September 1800 lud Mellish Goethe mit Schiller zum Essen nach Dornburg ein, bot ihnen Nachtquartier an und erwähnte auch das Hiersein der Herzogin Louise im Schloss.34 In Goethes Tagebuch ist dessen Anwesenheit in Dornburg vom 10. zum 11. September erwähnt.35 Er kam aber allein zu Pferd von Jena aus, wo er sich zu dieser Zeit aufhielt. Der Gegenbesuch bei Goethe am Frauenplan in Weimar fand am 18. September 1800 statt: „Besuch von Melisch von Dornburg“.36 Die Anwesenheit der Familie Mellish in Dornburg war also keineswegs dauerhaft. Im Frühjahr 1800 korrespondierte der Kammerherr aus dem südthürin28 LATH-HStA Weimar, Herzogtum/Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Herrschaftliche Güter, B 8116, Bl. 1. 29 Ebd., B 8115, Bl. 13. 30 Goethe Tagebücher, Bd. II, 1 (2000), S. 289. 31 Goethe RA, Bd. 3 (1983), Nr. 869, 998, 1061, 1072, 1249. 32 SNA, Briefwechsel, Bd. 38 II (2000), S. 187. 33 Ebd., S. 210. 34 Goethe RA, Bd. 3, Nr. 869, S. 245. 35 Goethe Tagebücher, Bd. II, 1, S. 383. 36 Ebd., S. 384.

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gischen Nordheim mit Schiller.37 Im Sommer war er vom 22. bis 27. Juli als Gast der weimarischen Hofgesellschaft in Wilhelmsthal bei Eisenach,38 danach ist seine Anwesenheit bis zum Herbst dieses Jahres in Dornburg belegt, doch seit Dezember 1800 dokumentieren mehrere schriftliche Botschaften an Goethe seinen ständigen Aufenthalt in Weimar.39 Die junge Familie mit der anderthalbjährigen Tochter hatte vor dem Wintereinbruch das kalte Dornburger Quartier verlassen und offenbar bei dem Oberforstmeier Wilhelm von Stein in dessen Miethaus in der Esplanade eine Wohnung beziehen können, die allerdings schon bald – wenn auch nur für ein Jahr – ihr festes Domizil werden sollte. Am 11. April 1801 waren Mellish und sein Schwager bei Goethe zum Mittagessen am Frauenplan geladen.40 Zu dieser Zeit war Caroline von Mellish bereits hochschwanger. Am 14. Mai 1801 wurde im Haus an der Esplanade ein Sohn geboren. Bei der von Herder vorgenommenen Haustaufe von Charles Richard Emil Gottlob Wolfgang am 21. Mai standen erneut honorige Paten zur Verfügung, von der fürstlichen Familie die erst 14 Jahre alte Prinzessin Caroline, dann u.a. auch Goethe, Charles Gore sowie in Abwesenheit Richard James Lawrence, der Vater seines Freundes James Henry Lawrence. Goethes Teilnahme ist durch dessen Tagebucheintrag vom 21. Mai „Zur Taufe bey Mellisch“ belegt.41 Wenig später erwarb der sachsen-weimarische und auch preußische Kammerherr Joseph Charles Mellish of Blyth dieses bisher nur vermietete Haus für seine nunmehr vergrößerte Familie von dessen Erbauer und Eigentümer. Der Kaufvertrag mit dem Kaufmann Johann Christoph Schmidt über dieses bisherige Hinterhaus auf seinem Anwesen wurde schließlich am 1. Juni 1801 abgeschlossen und am 17. Juni von Herzog Carl August „konfirmiert“.42 Mit diesem Kauf wurde auch eine Grundstückstrennung zwischen dem bisher vorderen Schmidt’schen Haus in der Windischengasse und dem nunmehr getrennt davon existierenden Haus in der Esplanade, zu dem selbst ein Nebengebäude als „Hinterhaus“ gehörte, vorgenommen.43 In den Sommermonaten dieses Jahres war 37 38 39 40 41 42

SNA Briefwechsel, Bd. 38 I (1975), S. 231 (17.2.1800) und S. 242 (9.4.1800). Schiller an Goethe vom 30.7.1800, Goethe Werke MA, Bd. 8.1 (1990), S. 806. Goethe RA, Bd. 3, Nr. 998, 1061, 1072, 1249. Goethe Tagebücher, Bd. III, 1 (2004), S. 21. Ebd., S. 24. LATh-HStA Weimar, Herzogtum/Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Lehnssachen, A 5106. 43 Zur Hausgeschichte siehe die beiden Studien von Volker WAHL, Zur Frühgeschichte des Weimarer Schillerhauses in der Esplanade 1777–1847, in: Die Pforte. Veröffentlichungen des Freundeskreises Goethe-Nationalmuseum 14 (2018), S. 7–39. Die Fortsetzung dazu: DERS., Das Weimarer Schillerhaus. Idee und Entwicklung einer nationalen Erinnerungsstätte, in: Klaus ASCHENBACH/Jürgen BEYER/Jürgen SEIFERT (Hg.), Das Schillermuseum in Weimar. Ein Stadtbaustein der Ostmoderne, Weimar 2018, S. 30–55.

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Mellish auch zeitweise wieder in Dornburg. Der Weiterverkauf seines Weimarer Hauses in der Esplanade, dessen Belehnung erst im Herbst 1801 erfolgt war, ein Jahr später an Friedrich Schiller hing mit der Übersiedlung zur Familie seiner Frau nach Nordheim und weitergehenden Plänen für eine diplomatische Laufbahn zusammen, die ihn nach 1802 nur noch zu gelegentlichen Besuchen nach Weimar und Dornburg führten. Im Frühjahr 1803 hielt er sich nochmals einige Zeit allein in Weimar auf,44 als dort auch sein Freund, der Schriftsteller James Henry Lawrence, zugegen und ebenfalls Gast an der Hoftafel war. In dieser Zeit lebte die Ehefrau mit den beiden Kindern bereits im Schloss ihrer Eltern in Nordheim und wartete auf die Geburt des dritten Kindes. Am 24. April 1803 meldete sich Mellish ein letztes Mal aus Nordheim bei Schiller.45 Auch an Goethe ging an diesem Tag ein Brief aus Nordheim nach Weimar, in dem der Dichter um das Manuskript seines neuen Stückes „Die natürliche Tochter“ gebeten wurde, nachdem Mellish am 2. April im Hoftheater dessen Erstaufführung gesehen hatte und bei seiner Ankunft in Nordheim den „Schlüßel“ zu dem „schönen Trauerspiel“ gefunden haben wollte.46 Am 9. Juni 1803 wurde hier der Sohn Dietrich Georg Alexander Friedrich geboren und am 5. Juli in der Kirche zu Völkershausen getauft, wobei an der Spitze der neun Taufpaten der regierende Herzog Georg von Sachsen-Meiningen stand.47 Von Ende August bis Anfang September 1803 wird er wieder als Gast an der Hoftafel in Weimar erwähnt, am 29. und 30. August war er sogar beim Besuch des schwedischen Königspaares zugegen.48 Ab 1807 befand sich Mellish im britischen diplomatischen Dienst in Palermo in Sizilien, als sein Schulfreund George Canning das Amt des britischen Außensekretärs versah. 1809 soll er britischer Konsul in Louisiana gewesen sein, was aber nicht als gesichert gilt.49 Seine Frau mit den Kindern hielt sich in dieser Zeit bei ihrer älteren Schwester Eleonore in dem adligen Damenstift Waizenbach bei Hammelburg auf. Nachdem die Familie von 1810 bis 1814 wieder in seiner Heimat bei London gelebt hatte, wo er mit dem Weimarer Herzog Carl August – dieser im Gefolge des russischen Zaren und des preußischen Königs – auf dessen Englandreise im Sommer 1814 zusammentraf, trat Mellish erneut in den diplomatischen Dienst ein, nunmehr aber als königlich-britischer Beamter 44 LATh-HStA Weimar, HMA, Nr. 4552, Fourierbucheinträge zwischen dem 14.3. und 10.4.1803. 45 SNA, Briefwechsel, Bd. 40 I (1987), S. 49 f. 46 Goethe RA, Bd. 4 (1988), Nr. 705. 47 Kirchenbuch Völkershausen (wie Anm. 23). – Die danach geborenen Kinder waren drei Töchter, Eleonore (geb. 7.10.1806 in Schweinfurt), Wilhelmine (geb. 25.4.1811 in London) und Elisabeth (geb. 11.6.1816 in Hamburg). 48 LATh-HStA Weimar, HMA, Nr. 4552, S. 153–155. 49 Siehe RITT, Mary Stuart (wie Anm. 7), S. 31.

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in der Heimat seiner Frau in Deutschland. Seit 1814 lebten sie in Hamburg, wo er als Geschäftsträger und Generalkonsul bei den Hansestädten und dem niedersächsischen Reichskreis (seit 1820 am Hof von Hannover) bis zu seinem Tod 1823 wirkte. Hier besuchte der älteste, in Weimar geborene Sohn Richard Charles Mellish, Goethes Patenkind, das „Johanneum“, die traditionsreiche Gelehrtenschule der Hansestadt, bevor er ebenfalls am Trinity College in Cambridge studierte und später auch in den britischen diplomatischen Dienst eintrat. Der mit ihm das Zimmer teilende Theodor von Kobbe hat später in seinen „Erinnerungen“ auch des angesehenen englischen Konsuls und seiner Familie gedacht: „Mellish war ein äußerst gelehrter und vielseitig gebildeter Mann, und machte eins der ersten Häuser in Hamburg […] In seinem Hause ging es überaus gastfrei zu, Mellish wußte seine Tafel durch eine vortreffliche Unterhaltung zu würzen.“50 Mit der ständigen Anwesenheit von Mellish in Weimar 1800/01 und den direkten Kontakten zu Goethe und Schiller hatten sich aber zunächst seine literarischen Pläne entfaltet, die auf die Übersetzung von einigen ihrer Werke ins Englische abzielten. Bereits 1798 hatte er sich Goethes Epos „Hermann und Dorothea“ vorgenommen, seine Übersetzung sei fertig, hatte er diesem am 1. Mai mitgeteilt.51 Er habe in London eine Buchhandlung gefunden, die sie herausbringen wolle, schrieb er am 20. Mai 1801.52 Sie ist aber nicht in England erschienen, das Manuskript verschollen.53 Ein Indiz dafür dürfte auch die Widmung von Goethe für sein 15-jähriges Patenkind sein, dem er bei dessen Besuch mit dem Vater in Weimar am 2. Mai 1816 ein Exemplar von „Hermann und Dorothea“ schenkte und darin eintrug: „Meinem theurem Pathen, Richard, Carl, Emil, Wolfgang, Gottlob v. Mellish, dem der Vater der beste Dolmetsch dieses Gedichtes seyn kann.“54 Von Schiller hatte Mellish schon 1799 die Zusicherung erhalten, die autorisierte englische Blankversübersetzung seiner Tragödie „Maria Stuart“ zu schaffen, deren Uraufführung am 14. Juni 1800 auf dem Weimarer Hoftheater stattfand. Da er schon vorher fertige Teile dieses neuen Dramas erhalten hatte, wurde bereits 1800 anonym eine Teilübersetzung in The German Museum, einer von dem deutschen Buchhändler Constantin Geisweiler in London herausgegebenen Monatsschrift zur deutschen Literatur, unter dem Titel „Schiller’s Mary Stuart. A Tragedy“ publiziert.55 Der deutsche Erstdruck erschien im April 1801 bei 50 Theodor von KOBBE, Humoristische Erinnerungen aus meinem academischen Leben in Heidelberg und Kiel in den Jahren 1817–1819, Bremen 1840, Bd. 2, S. 125 f. 51 Goethe an Schiller vom 2.5.1798, Goethe Werke MA, Bd. 8.1 (1990), S. 568. 52 Goethe RA, Bd. 3, Nr. 1249. 53 Siehe RITT, Mary Stuart (wie Anm. 7), S. 13–15. 54 Zit. nach ebd., S. 40. 55 The German Museum, II/1800, S. 531–536.

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Cotta in Tübingen. Die englische Übersetzung von Mellish lag bereits im Mai 1801 in London (bei Escher and Geisweiler), ebenfalls durch Cotta veranlasst, im Druck vor: „Mary Stuart. A Tragedy by Frederick Schiller. Translated into English by J.[oseph] C.[harles] M.[ellish] Esq.[uire]“.56 Bei späteren Werkausgaben Schillers im 19. Jahrhundert in Großbritannien wurde auch auf diese Übersetzung von Mellish zurückgegriffen. Im gleichen Jahr erschien von ihm eine weitere Übersetzung eines Stückes von Goethe: „Paläophron and Neoterpe. A Masque for the Festival of the 24th of October 1800. From the German of Goethe, by the Translator of Goethe’s Hermann and Dorothea, and Schiller’s Mary Stuart. Weimar Gädicke and Brothers 1801.“57 Friedrich Schiller blieb seinem englischen Übersetzer zeitlebens herzlich zugetan. Er hat ihm bei dessen deutschen Gedichten redigierend zur Seite gestanden, wie der Jurist und Schriftsteller Theodor von Kobbe von Mellish selbst erfahren hat: „Er war ein genauer Freund von Schiller und Goethe gewesen. Von dem ersten besaß er eine große Menge Correkturen seiner eignen deutschen Gedichte, welche auch später, jedoch ohne Hinzufügungen des ersteren, gedruckt worden sind, was die literarische Erscheinung um Vieles interessanter gemacht haben würde.“58 Es ist der 1818 in Hamburg veröffentlichte Gedichtband, den der Verfasser der Großherzogin Louise in Weimar gewidmet hatte.59 Auch über die engen Beziehungen zu Goethe konnte Kobbe in den „Humoristischen Erinnerungen“ mitteilen, was er aus erster Hand wusste: „Als Mellish nach einer vieljährigen Trennung von Weimar, wo er lange als Kammerherr gelebt hatte, Goethe besuchte, rief dieser beim Anblick seines Freundes, mit dem er mancher Flasche den Hals gebrochen hatte, und dessen Liebhaberei für den Wein er wohl kannte, nur das einzige Wort ‚Champagner‘ aus.“60 Nach dem Fourierbuch des Weimarer Hofes und Goethes Tagebuch fand diese Begegnung am 29. April 1816 statt. Am 6. Mai 1816 fuhr Mellish mit dem Großherzog Carl August und dessen Frau Louise nach Jena und Dornburg, um die Erinnerung an diese Zeit aufzufrischen. Goethe berichtete ihm in einem Brief vom 30. Juli 1820, dass das Schloss „jetzt, für die fürstliche Hofhaltung sehr anständig eingerichtet, zwar etwas mehr Zierde und Bequemlichkeit darbietet, aber was die Aussicht betrifft, noch immer die alten Vorzüge behauptet.“61 Darauf nimmt auch dessen Gedicht „An Freund Mellish“ Bezug, in dem es in der 56 Titelnennung in „Schillers Bibliothek“ in: SNA, Lebenszeugnisse, Bd. 41 I, S. 594. 57 Zit. nach RITT, Mary Stuart (wie Anm. 7), S. 21, Anm. 91. 58 KOBBE, Humoristische Erinnerungen (wie Anm. 50), S. 126. Abdruck auch im GoetheJahrbuch 26 (1905), S. 285. 59 Siehe Anm. 14. 60 KOBBE, Humoristische Erinnerungen (wie Anm. 50), S. 126. 61 Das Konzept zu diesem Brief war bereits in der Weimarer Ausgabe von Goethes Werken enthalten: Goethe Werke WA IV, 33, S. 138.

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mittleren Strophe heißt: „Immer wie in Dornburgs Gauen / Wo, beim allerbesten Weine, / Waren hell im Sonnenscheine / Berg’ und Täler anzuschauen.“62 Es war aber schließlich der Verkauf des Hauses in der Esplanade an Friedrich Schiller im Frühjahr 1802, der diesen für Mellish verpflichtete. Am 10. Februar 1802 schrieb der Dichter seinem Verleger Göschen in Leipzig: „Ich habe dieser Tage endlich einen alten Wunsch realisiert, ein eigenes Haus zu besitzen. Denn ich habe nun alle Gedanken an das Wegziehen von Weimar aufgegeben und denke hier zu leben und zu sterben.“63 So kaufte er im Frühjahr 1802 von dem Kammerherrn dessen „in der Esplanade […] gelegenes Hinter-Hauß nebst den daran liegenden Seiten-Gebäuden und Stalung, ingleichen Ein Stück von dem daran liegenden Garten […], nicht weniger Ein Stück von dem zwischen den Seiten-Gebäude und den Garten liegenden Gang“.64 Der in Weimar aufgesetzte Kaufkontrakt wurde von Schiller am 15. Februar unterschrieben, während Mellish seine Unterschrift am 4. März in Nordheim im Grabfeld leistete, dem die herzogliche Bestätigung für den Verkauf dieses „canzleischriftsässigen Haues“ am 25. März 1802 folgte.65 Der Übergang an den neuen Eigentümer sollte bis Ostern (18. April) geschehen sein. Tatsächlich eingezogen ist Schiller noch vor der Beendigung der notwendigen Umbau- und Einrichtungsarbeiten am 29. April 1802. Der Belehnungsakt bei der Regierung erfolgte am 5. Mai 1802, unter welchem Datum auch die von Herzog Carl August unterschriebene Lehnsurkunde ausgefertigt wurde, wonach Friedrich Schiller nunmehr das Haus nebst Zubehör „zu einem rechtem freyen Erb-Guth innen haben, besitzen und gebrauchen“ durfte.66 Dass der Kaufpreis von 4.200 Laubtalern für Schiller niedriger als die vorherige Kaufsumme von 4.368 Laubtalern beim Ankauf durch Mellish ausfiel, soll indessen nicht zu Spekulationen über die finanzielle Situation des vorherigen Eigentümers und Verkäufers und dessen Intentionen für den plötzlichen Weiterverkauf verleiten. Vielleicht war dieser „Preisnachlass“ ein Freundesgeschenk an den Dichter, der ihm redigierend beiseite gestanden hatte, als er seine deutschen Gedichte verfasste.67 Es kommt hinzu, dass für Mellish ein eigenes 62 Goethe Werke WA I, 4, S. 27. Auch in Goethe Werke MA, Bd. 13.1 (1992), S. 65, Erläuterungen dazu S. 650. 63 SNA, Briefwechsel, Bd. 31 (1985), S. 101. 64 Nach dem Kaufvertrag vom 15. Februar/4. März 1802. Abdruck in: SNA, Lebenszeugnisse, Bd. 41 II A (2006), S. 531. 65 Alle relevanten Dokumente über den „Hauskauf in der Esplanade“ sind abgedruckt in ebd., S. 531–557. 66 Lehnsurkunde vom 5.5.1802, ebd., S. 543. 67 Im Vorbericht zur Buchausgabe von 1818 hatte er geschrieben: „Es wollen meine Leser diese kleinen Versuche gütig aufnehmen. Sie waren als Mittel betrachtet, die deutsche Sprache durch Uebung zu erlernen.“ MELLISH, Gedichte (wie Anm. 14).

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Wohnhaus in Weimar offenbar nicht mehr notwendig wurde, nachdem sein Sohn darin zur Welt gekommen war. Ihm stand ja weiterhin das vom Herzog überlassene Dornburger Schloss als Unterkunft zur Verfügung, denn er verzichtete erst 1804/05 darauf. „Halten Sie mich jetzt wie immer für Ihren aufrichtigsten Freund und Diener“ schrieb Mellish am 24. April 1803 aus Nordheim nach Weimar und übersandte ihm ein eigenes „kleines Gedicht“ mit dem Titel „An Schiller“, das allerdings ungedruckt blieb.68 Der Dichter wohnte in seinem von diesem erworbenen Haus in der Esplanade in Weimar nur noch zwei Jahre bis zum Ableben am 9. Mai 1805. In dem Gedichtband von Joseph Charles Mellish, der 1818 in Hamburg erschien, war indessen auch ein „Sonett auf Schillers Tod“ enthalten.69 Fast am Ende seines Lebens überwältigten den englischen Kammerherrn noch einmal die Erinnerungen an die glückliche Zeit in Dornburg und Weimar, als er bereits nicht mehr gesund am 23. Januar 1822 aus Hamburg an Goethe schrieb, der ihm sein kleines Gedicht „An Freund Mellish“ zugeschickt hatte.70 „Denn Ihre lieben herzlichen Verse haben in mir die Anhänglichkeit Liebe und Verehrung, die ich für Sie von jeher gefühlt, in der Entfernung wieder aufgefrischt und bestätigt […] Wenn ich nur diese große prächtige Elbe auf eine Zeitlang verlaßen könnte, um die kleinere Saale, und die noch bescheidenere Ilm einmal wieder zu sehen.“71 Josef Charles Mellish starb am 18. September 1823 in London.

68 SNA, Briefwechsel, Bd. 40 I (1985), S. 49 f.; dazu Erläuterungen in Bd. 40 II (1995), S. 72 f. mit Abdruck des Gedichts nach der Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar. 69 MELLISH, Gedichte (wie Anm. 14), S. 54. 70 Goethe Werke WA IV, 33, S. 138. 71 Goethe RA, Bd. 9 (2017), Nr. 1221. Vollständiger Abdruck dieses Briefes in: Goethe Tagebücher, Bd. VIII, 2, S. 641.

F E L I C I T A S M A R W I N S K I (†) JOHANN FRIEDRICH HEINRICH SCHWABE

Johann Friedrich Heinrich Schwabe – kirchlicher Würdenträger, Gestalter eines Schulbuchprogramms, Verfasser mineralogischer, homiletischer und sozialpädagogischer Schriften* Johann Friedrich Heinrich Schwabe,1 der bereits zu seinen Lebzeiten in lexikalische Nachschlagewerke wie den „Pierer“ und den „Brockhaus“ Eingang fand,2 war seinen Zeitgenossen als vielseitig begabte Persönlichkeit bekannt. Durch seine aktiv gestalteten Mitgliedschaften in diversen Gesellschaften, ein breites öffentliches Engagement sowie eine rege Publikationstätigkeit gelang dem Sohn eines Landpfarrers ein bemerkenswerter bildungsbürgerlicher Aufstieg, der im Folgenden nachgezeichnet werden soll. Johann Friedrich Heinrich Schwabe wurde am 14. März 1779 in Eichelborn, einem kleinen Dorf zwischen Weimar und Erfurt, geboren.3 Die Mutter, Catharina Margaretha Friederica Koch, stammte aus dem nahe gelegenen Klettbach. Bevor der Vater Friedrich Wilhelm Schwabe 1773 das Pfarramt übernahm,4 war *

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Felicitas Marwinski verstarb am 3. März 2019. Die hochgeschätzte Kollegin widmete sich mit großem Engagement der Ausbildung junger Bibliothekarinnen und Bibliothekare und forschte ihr Leben lang mit ebenso großem Elan zur Bibliotheks- und Buchgeschichte sowie zur thüringischen Landesgeschichte. Nicht zuletzt aufgrund ihrer zahlreichen Publikationen genoss sie bundesweit ein außerordentlich hohes Ansehen in der Bibliotheksund Geschichtswissenschaft. Für ihre Lebensleistung als Bibliothekarin und Kulturwissenschaftlerin wurde ihr 2018 – gemeinsam mit ihrem Ehemann Konrad Marwinski – das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die letzte Publikation, die Felicitas Marwinski vor ihrem Tod verfasst hat. Der vorliegende Beitrag orientiert sich eng an Schwabes „Autobiographie“, vgl. Johann Friedrich Heinrich SCHWABE, Selbstbekenntnisse, den sämmtlichen Amtsbrüdern im Großherzogthum Hessen statt eines Hirtenbriefes gewidmet, Darmstadt 1833. Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, hg. von H[einrich] A[ugust] PIERER, Bd. 20, Altenburg 1833, S. 253 (noch in der 5. Auflage von Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 15, Altenburg 1872, S. 489, ist Schwabe vertreten); Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur, Bd. 4, Leipzig: Brockhaus 1834, S. 252–254. Neuer Nekrolog der Deutschen 12 (1834), Teil 2, S. 1072–1080. Johanna SALOMON, Die Sozietät für die gesamte Mineralogie zu Jena unter Goethe und Johann Georg Lenz, Köln/Wien 1990, S. 81 u. Anm. 622, S. 189.

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er sechs Jahre lang Inspektor am Gymnasium in Schleusingen gewesen, das er selbst als Schüler besucht hatte. Es lag deshalb nahe, dass er den Sohn von klein auf selbst in Religion und Sprachen unterrichtete. Als der Knabe sieben Jahre alt war, wurde der Vater nach Wolferstedt im Amt Allstedt versetzt, der dortige Landschullehrer unterwies ihn unter anderem in der Musik. Johann Friedrich Heinrich Schwabe erinnerte sich später, dass er in der Jugend allen städtischen Verhältnissen und auch der „sonstigen gebildeten Welt“ fern geblieben sei, nach dem väterlichen Vorbild habe er schon sehr früh den geistlichen Stand angestrebt.5 Am 17. April 1792 wurde er konfirmiert und in das damals sächsische, später preußische Gymnasium zu Eisleben aufgenommen, das er vier Jahre lang besuchte. „Aufs Tüchtigste vorbereitet“ bezog er die Universität Jena und wurde dort am 3. August 1796 im Alter von 17 Jahren immatrikuliert.6 Zu seinen Lehrern zählten Johann Jakob Griesbach, Johann August Heinrich Ulrich, Heinrich Karl Abraham Eichstädt, in dessen Lateinischer Gesellschaft er Mitglied wurde,7 Christoph Gottlob Heinrich, Johann Heinrich Voigt und schließlich Johann Georg Lenz, ein Schul- und Studienfreund von Schwabes Vater, der seit 1794 Professor der Mineralogie war. Nach eigenem Zeugnis besuchte Schwabe nur wenige Fachvorlesungen, denn der Vater führte ihn in den akademischen Ferien in die jeweilige Materie ein. Im Frühjahr (?) 1800 bestand er „rühmlichst“ vor dem Oberkonsistorium in Weimar das Kandidaten-Examen, wobei er das Wohlwollen Herders gewann.8 Um die Promotion suchte er als „Sohn eines unbemittelten weimarischen Landpredigers“ mündlich nach. Seine Absicht war zu dieser Zeit nicht auf eine Professur, „sondern nur auf eine Schullehrer-Stelle gerichtet, wozu er wirklich einige Aussichten“ hatte. Schwabe wird als ein „sehr fleißiger, geschickter und wohlgesitteter junger Mann“ beschrieben, ein besonderes Lob erhielt er von dem Mathematik-Professor Johann Heinrich Voigt: „Ich kenne Hrn. Schwabe als einen sehr würdigen Candidaten zur phil. Doctorwürde; er war mein Zuhörer und ist noch jetzt auch Lehrer meiner Kinder.“9 Am 7. November 1800 erwarb er nach vorangegangener Prüfung von Seiten der Philosophischen Fakultät das Doktordiplom.10 Einen Monat später ersuchte er um die Venia Legendi; die 5 6

SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 5. Die Matrikel der Universität Jena, Bd. 8, 1764–1801, in: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Handschriften und Sondersammlungen, Ms. Prov. fol. 116, Bl. 142r. 7 Vgl. Heinrich Carl Abraham EICHSTÄDT, Acroasis pro Societatis Latinae Jenensis instauratione, Jena 1800, S. 114. Unter den 27 ordentlichen Mitgliedern steht Schwabe an erster Stelle. 8 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 8 f. 9 Universitätsarchiv (im Folgenden: UA) Jena, M 213, 1800/1801, Bl. 12rv. 10 Diplom, ebd., Bl. 15v, 18r, 39v.

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Probevorlesung im Januar 1801 „über Horazens carmen seculare“ fiel „sehr gut“ aus.11 Wegen „überhäufter Geschäfte“ bat er am 13. Juli 1801 um Aufschub der Habilitations-Disputation bis zu den Michaelisferien,12 am 28. August verteidigte er erfolgreich seine mineralogische Dissertation De justissima systema lithologicum adornandi methodo. Der Ausgangspunkt für Schwabes späteres publizistisches Wirken war die Mineralogie, die ihm zudem einen Platz im „Poggendorff“ sicherte.13 So schrieb er 1801 einen Jubelgesang der mineralogischen Gesellschaft beim Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, gerichtet An die Natur. Bis 1830 verfasste er für die Mineralogische Gesellschaft Jena Glückwunsch- und Huldigungsgedichte, die sowohl an den (Groß-)Herzog Karl August als auch individuell an dessen Gemahlin Luise gerichtet waren.14 Seine dichterischen Ambitionen waren dem „Brümmer“ zwar bekannt, doch führt dieser als Belege nur die Teutsche(n) Kriegslieder, nach bekannten Melodien ([Jena] 1814) und die sechs Lieder für den teutschen Landsturm, zur Beförderung eines vaterländischen Sinnes und eines vernünftigen Volksgesanges (anonym, Jena 1815), auf.15 Erstere waren „den freiwilligen Vaterlands-Vertheidigern zum Neuen Jahre 1814 geweiht“ und von „einem teutschen Patrioten“, nämlich Schwabe, verfasst. Er erwähnt später, dass er in der Wormstedter Zeit „sehr viele Gedichte theils zu besonderen Veranlassungen und zum Drucke, theils als bloße Gedanken und Reimspiele auf’s Papier gebracht habe“, weil er es zur „Übung in der Sprachfertigkeit“ für nützlich hielt.16 Schwabe setzte diese Fähigkeit geschickt für die Zwecke der Mineralogischen Gesellschaft ein. Letztere überreichte zum Beispiel ihrem hochverdienten Präsidenten, dem „Herrn Staatsminister Freyherrn von Goethe“, in der Hoffnung, dass er der Musenstadt noch lange erhalten bleiben möge, zu seinem 72. Geburtstag Glückwünsche aus der Feder von Schwabe (Jena 1820).

11 UA Jena, M 215, 1801, Bl. 12v. Vgl. außerdem UA Jena, M 213, 1800/01, Bl. 31, 34 sowie SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 9. 12 UA Jena, M 214, 1801, Bl. 54. 13 Johann Christian POGGENDORFF, Biographisch-literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften, Bd. 2, Leipzig 1863, Sp. 871. 14 An Großherzog Karl August adressierte Gedichte sind von 1813 bis 1819 (darunter die Rede „Der Sinn für Religion und Wissenschaft, ein Erbgut des Sächsisch-Ernestinischen Fürstenstammes“) und von 1823 bis 1826 überliefert. An Großherzogin Luise adressiert sind „Das Lied der Freude“ (Jena 1808) und Drucke von 1813 bis 1827. 15 Franz BRÜMMER, Deutsches Dichter-Lexikon, Bd. 2, Eichstädt/Stuttgart 1877, S. 341. 16 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 16. Vgl. auch Neuer Nekrolog der Deutschen (wie Anm. 3), S. 1074.

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Mineralogische Abhandlungen Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sich auch in Jena die naturwissenschaftlichen Disziplinen weiterentwickelt und ausdifferenziert. Auf Johann Georg Lenz ging die erste selbständige Vorlesung über Mineralogie zurück (WS 1781/82); sein Haus war seitdem zum Sammelplatz junger Mineralogen geworden. Unter seiner Direktion bildete sich am 7. Januar 1798 eine mineralogische Sozietät, zu deren ersten Funktionsträgern Schwabe gehörte. Von Beginn an betätigte er sich als Chronist der Mineralogischen Gesellschaft, indem er 1801 die Historische Nachricht von der Societät für die gesammte Mineralogie zu Jena publizierte,17 die er „allen verehrungswürdigen Mitgliedern“ widmete. In der 12. Sitzung der Mineralogischen Gesellschaft am 22. März 1801 informierte Schwabe als Aufseher der Bibliothek und des Museums die Anwesenden über die Eröffnung der beiden Sammlungen zum gemeinnützigen Gebrauch für jedermann an zwei Tagen in der Woche. Seine Einleitung in die Geschichte der Mineralogie (Jena 1803) sollte überdies Interessierte in das junge Fachgebiet einführen. Am 16. Dezember 1803 erteilte Herzog Karl August der Mineralogischen Gesellschaft die öffentliche Sanktion und stellte für ihre Sammlungen Räume im Jenaer Schloss bereit.18 Goethe übernahm das Amt des Präsidenten, Bergrat Lenz war weiterhin Direktor. Schwabe veröffentlichte ein Jahrzehnt später Fortgesetzte historische Nachrichten zur Geschichte der Mineralogischen Gesellschaft (Jena 1813), denn selbst die „spätesten Nachkommen“ sollten wissen, „woher und von wem alles das viele Gute“ gekommen sei. Demnach umfasste die 800 Bände starke Fachbibliothek zu diesem Zeitpunkt „alles, was dem Mineralogen wissens- und wünschenwert“ erscheinen konnte und die Gesellschaft zählte 1.522 Mitglieder, die „in allen Theilen Europens und sogar jenseits des Weltmeeres“ beheimatet waren.19 Zur Feier des 25-jährigen Gründungsjubiläums der Gesellschaft erschien Schwabes Rede Die Steinkunde als fürstliche Lieblingswissenschaft gepriesen (Jena 1819), der aus diesem Anlass entstandene Festgesang Die Sterne stammte ebenfalls von ihm. Gemeinschaftlich mit Bergrat Lenz gab Schwabe 1802 den ersten Band der Annalen der Societät für die gesammte Mineralogie heraus, in denen Arbeiten der Mitglieder veröffentlicht wurden; er selbst war mit der Abhandlung Der Kiffhäuser und die Schrotensteinlager bey Wallhausen vertreten. Die nächsten drei Bände wurden von Lenz allein betreut, doch beteiligte sich Schwabe später von Neustadt aus erneut an dem Unternehmen seines „alten Freundes“. So enthält Band fünf aus 17 Vgl. SALOMON, Sozietät (wie Anm. 4), S. 6 f. u. Anm. 87, S. 153 f. 18 Ebd., S. 11 f., u. Anm. 149, S. 157. 19 Johann Friedrich Heinrich SCHWABE, Fortgesetzte historische Nachrichten von der Herzogl. S. Weimar- und Eisen. Societät für die gesammte Mineralogie zu Jena, Jena 1813.

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dem Jahr 1823 eine von ihm verfasste Nachricht von dem am 25. Oct. 1822 feierlich begangenen Lehrer-Jubelfeste des Herrn Bergrath u. Profess. D. Lenz, wozu er die Grundzüge einer Geschichte der Mineralogie beisteuerte, die ihn seit frühester Jugend gefesselt habe, auch wenn sie mit seinen anderweitigen Studien nur wenige Berührungspunkte aufwies.20

Die Wormstedter Jahre Tatsächlich schien Schwabe anfangs noch unschlüssig gewesen zu sein, welchem Fachgebiet er sich zuwenden sollte. Er war nur ein Jahr als Privatdozent in Jena tätig, wo er „Collegia privatissima über Livius und Tacitus sowie römische Geschichte“ hielt, „auch einiger Kinderunterricht besetzte seine Zeit“, die wenigen Mußestunden gehörten weiterhin der Mineralogie. Die seiner Dissertation De justissima beigefügte gedruckte Widmung an Christian Wilhelm Gottlob Freiherr von Milkau bewirkte, dass Schwabe am 14. Februar 1802, kurz vor seinem 23. Geburtstag, die Landpredigerstelle in dem zwischen Jena und Auerstedt gelegenen Dorf Wormstedt antreten konnte; sie war ihm durch den Patronatsherrn Milkau freundlichst angeboten worden.21 Nach fast sechsjährigem Aufenthalt verließ er Jena, nicht ahnend, dass er die kommenden 20 Jahre in Wormstedt sesshaft sein würde. Rückblickend betrachtete er diese als „die Zeit der schönsten Jugendblüthe, der ausgebildetsten Kraft und einer beglückten Wirksamkeit“.22 Vermutlich um die Kontakte zum Lehrkörper der Universität aufrecht zu erhalten, bewarb er sich von Wormstedt aus am 2. April 1802 um eine Adjunktur, die von der Fakultät allerdings abschlägig beschieden wurde.23 Dennoch ermöglichte es ihm sein gesichertes Einkommen von nun an auf dem Dorf eifrig seinen wissenschaftlichen Studien nachzugehen. Die meisten Materialien zu

20 Diese erschien auch selbständig als DERS., Grundzüge einer Geschichte der Mineralogie, entwickelt und nachgewiesen, Neustadt an der Orla 1822. 21 Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 8: Landesteil Weimar mit Jena und Neustadt an der Orla (Neustädter Kreis), bearb. von Friedrich MEINHOF, Manuskript, Heilbad Heiligenstadt 2012–2017, S. 1133; Winfried HAUN, Historische Persönlichkeiten des Kreises Weimarer Land, Bucha 2011, S. 33. Christian Wilhelm Gottlob von Milkau (um 1740–1802) war Sachsen-Weimarischer Offizier und Kammerherr sowie Kommandant von Jena. 22 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 10. 23 Schreiben vom 4.4.1802, in: UA Jena, M 216, 1802:, deutsch, Bl. 52r, 53r; lateinisch, Bl. 51rv, 53v. Vgl. Bericht vom 5.4.1802, ebd., Bl. 50. Adjunkturen waren inzwischen abgeschafft worden.

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seinen späteren Druckschriften sammelte er bereits in Wormstedt.24 Die benachbarten bedeutenden Bibliotheken in Weimar und Jena sowie „seine eigene, nicht unbeträchtliche“ Büchersammlung boten ihm die notwendigen Hilfsmittel. 1803 erschien in Jena der Arbeitsbericht Das erste Jahr meiner Amtsführung. Nach Knigges „vortrefflichem Buch“ gab er darin auch Ratschläge über den Umgang mit Vorgesetzten, Untergebenen und Zuhörern; wie dieser hielt er „Humanität und Artigkeit gegen jedermann“ für angemessen.25 Schwabe übte sich zudem als Lehrer, indem er „hiesigen Bauernknaben wenigstens eine Stunde täglich Unterricht“ gab. Die von ihm eingerichtete Fortbildungsschule für junge, wissbegierige Landleute sollte sie „zeitgemäß für ihren Stand“ weiterbilden: „Unbeschränkt nach Zahl, Zeit und Weise unterrichtete ich solche [an Winterabenden oder in sonstigen Mußestunden] im Schreiben, Rechnen, las Zeitungen mit ihnen, theilte ihnen Bücher und Zeitschriften mit, oder unterredete mich auch bloß mit ihnen über die mannigfaltigsten Gegenstände.“26 Er beabsichtigte, noch im gleichen Jahr eine mit der Natur verbundene Erziehungsanstalt für 4 bis 6 Zöglinge zu eröffnen,27 die allerdings nicht zustande kam. Mit persönlichen oder familiären Mitteilungen war Schwabe äußerst zurückhaltend. Am 14. Juni 1803 heiratete er Sophie Charlotte Müller (1786−1853), Tochter des Stadtpfarrers Friedrich August Müller in Eisleben. Aus der Ehe gingen ein Sohn und eine Tochter hervor.28 Während der Kriegsjahre widerfuhr ihm in Wormstedt manches Ungemach: Am 14. Oktober 1806 erlebte er eine „totale Plünderung“ durch die Franzosen – Wormstedt lag zwischen den Schlachtfeldern von Jena und Auerstedt – und im Oktober 1813 eine teilweise von Seiten der aus der Schlacht bei Leipzig kommenden Russen.29 Schwabe verfolgte auf seinem Fachgebiet aufmerksam die Publikationstätigkeit von Autoren, die ihm thematisch nahe standen. Weil er den Anforderungen 24 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 11; Neuer Nekrolog der Deutschen (wie Anm. 3), S. 1074. 25 Johann Friedrich Heinrich SCHWABE, Das erste Jahr meiner Amtsführung : competenten Richtern zur Prüfung und künftigen Religionslehrern zur Belehrung vorgelegt, Jena 1803. 26 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 17. 27 [Johann] Friedrich [Heinrich] SCHWABE, Nachricht für Eltern, in: Thüringische Vaterlandskunde 3 (1803), Stück 27, Sp. 503 f. (Wormstedt, 23.6.1803). 28 Franz Friedrich Alexander Schwabe (26.10.1813–11.8.1884), 1838–42 tätig am Gymnasium zu Worms, 1842–48 Lehrer an Darmstädter Mädchenschulen, 1848–53 Pfarrer der franz.-reform. Gemeinde Offenbach, 1853–83 Professor der Theologie und Direktor des Predigerseminars Friedberg, vgl. Wilhelm DIEHL, Hessen-darmstädtisches Pfarrer- und Schulmeister-Buch, Friedberg 1921, Nr. 60, S. 31. Zu Antonie Emilie Friederike Schwabe (21.5.1821–22.5.1821) vgl. Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 8 (wie Anm. 21), S. 1133. 29 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 11.

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eines Schulinspektors gewachsen sein wollte, waren pädagogische Studien mehrere Jahre hindurch sein Hauptgeschäft. Um sich vom ländlichen Unterrichtswesen ein Bild zu verschaffen, besuchte er bevorzugt Schulen, die als mustergültig galten. Eindrücke, die er hierbei gewann, fanden in der Schrift Das Landschulwesen, einem „Leitfaden zum Nachdenken und Selbstunterricht für alle, die sich für Volksbildung interessieren“, ihren Niederschlag. Zur Weiterbildung empfahl Schwabe dort Schullehrer-Lesegesellschaften und die Benutzung brauchbarer (Privat-) Bibliotheken, denn mancher Landedelmann, Prediger, Hofmeister und Schullehrer besitze durchaus „schätzbare Sammlungen“.30 Erfahrungen, die er mit der Bewirtschaftung des mit seiner Pfarrei verbundenen Feldbesitzes gesammelt hatte, teilte er später den Amtsbrüdern in der Landwirthschaftskunde für Prediger (Leipzig/Altenburg 21822) mit. Er verwies auf die „großen Segnungen“ (denn seine Landwirtschaft „bestand gut“), die den Pfarrer-Familien daraus erwachsen konnten. Die Schrift hatte Schwabe zufolge „vom Rheine bis zum Niemen, überdem in Rußland und Dännemark Leser gefunden“.31 Als Beitrag zur vergleichenden Theologie erschien 1819 das Specimen Theologiae Comparativae Exhibens Kleanthoys Ymnon Eis Dia. Durch den Hymnus, worin Zeus als Weltseele und Weltvernunft verherrlicht wird, wurde Kleanthes zum Begründer der stoischen Philosophie, der Schwabes besonderes Interesse galt, doch hatte er sich mit der Übersetzung auf ein schwieriges Gebiet gewagt.32 „Ermutigt durch die gütige Aufnahme seiner kleinen Versuche in der Versmacherei“, übersandte er Goethe ein Exemplar.33 In einer weiteren Abhandlung (als Zugabe oder zweiter Teil) äußerte er sich zum Verhältniß der stoischen Moral zum Christenthume (Jena 1820), auch diesen „kleinen Versuch“ schickte er Goethe,34 der ihn in seine Privatbibliothek einordnen ließ. Themen dieser Art griff Schwabe später nicht wieder auf. 30 DERS., Das Landschulwesen oder Andeutung aller die Landschule betreffenden Gegenstände, Leipzig 1808, S. 179 f. 31 Vgl. DERS., Grundzüge einer constitutionellen Kirchenverfassung, ein Versuch bei dem Widerstreite der Meinungen [...] die gerechte Mitte zu finden […], Neustadt an der Orla 1832, S. 15. 32 DERS., Specimen Theologiae Comparativae Exhibens Kleanthoys Ymnon Eis Dia, Cum Disciplina Christiana Comparatum, Introductione, Versione Vernacula, Locis Parallelis Et Adnotatione Illustratum, Jena 1819. Im Exemplar in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar, K 19 A 5377 findet sich die Notiz, der Hymnus des Kleanthes sei schon mehrfach übersetzt worden, doch Schwabes weise eine Menge Fehler auf. 33 Brief vom 28.6.1819, in: Briefe an Goethe, Gesamtausgabe in Regestform, hg. von KLASSIK-STIFTUNG WEIMAR und GOETHE- UND SCHILLER-ARCHIV, Bd. 8: 1818/1819, bearb. von Manfred KOLTES/Ulrike BISCHOF/Sabine SCHÄFER, Teil 1, Weimar 2011, Nr. 892, S. 364. 34 Brief vom 18.8.1820, in: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 28/88, Bl. 387.

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Auch als Publizist entfaltete Schwabe eine bemerkenswerte Produktivität wie seine Aufsätze in der Fachpresse und anderen Blättern belegen. Eine der frühesten Arbeiten, worin er auch die Püstrich-Figur in Sondershausen erwähnt, berichtete Etwas über den Kiffhäuser in Thüringen.35 Einen informativen Aufsatz lieferte er Zur Geschichte des Herzogs Johann Wilhelm und des von ihm erbauten, sogenannten französischen Schlößchens zu Weimar, in das 1766 auf Veranlassung Herzogin Anna Amalias die „öffentliche Bibliothek hineingeschafft und aufgestellt“ worden war.36

Superintendent in Neustadt an der Orla Nach 20 Jahren „segensvoller Amtsführung“ verabschiedete sich Schwabe von Wormstedt. Bis zuletzt stand für ihn fest, dass der Geistliche, der keine Landpfarrei bekleidet hatte, „der besten Schule für geistliches Wirken und der reinsten Amtsfreuden“ entbehre.37 Am 14. Oktober 1821 trat er die Stelle eines Superintendenten und Oberpfarrers zu Neustadt an der Orla an.38 Die Amtsveränderung stellte ihn vor viele neue Aufgaben, er wurde zu einem „Büreauchef, dem fast nichts Menschliches fremd“ blieb.39 Hatte er in Wormstedt hauptsächlich als Seelsorger gewirkt, standen jetzt die verwaltungstechnischen Ephoralgeschäfte im Vordergrund. Im Neustädter Kreis galt noch die altsächsische Verfassung, wonach Schwabe Repräsentant der landesherrlichen Episkopalgewalt, Aufseher über das Kirchen- und Stiftungsgut, Vorsteher und Leiter des gesamten Pfarr- und Schulpersonals, auch Obervormund der Witwen und Waisen war. Bedeutungsvoll für die Herausbildung seines christlich-sozialen Werteverständnisses erwies sich die für ihn neue Funktion eines Inspektors des Neustädter Waiseninstituts, das erst seit 1817 bestand.40 Schwabe, der jetzt unmittelbar mit der bildungspolitischen Realität benachteiligter Bevölkerungsgruppen konfrontiert wurde, fühlte sich veranlasst, dort, wo es ihm möglich war, Abhilfe zu schaffen. Angeregt durch den „lebendigen Buchhandel des 35 Gnädigst privilegirte thueringische Vaterlands-Kunde, Nr. 20 vom 19.8.1801, Sp. 305– 310 und ebd., Nr. 24 vom 16.9.1801, Sp. 368. 36 Der Neustädter Kreis-Bote, Nr. 4 vom 24.1.1824, S. 25–28. Bei dem Bibliotheksgebäude handelte es sich um die heutige Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. 37 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 17. 38 Harry WÜNSCHER, Neustädter Kirchengeschichte, Neustadt an der Orla 1894, S. 75; Johann Friedrich Heinrich SCHWABE, Predigten, bei der Gelegenheit seiner Amtsveränderung gehalten, nebst der Einführungsrede J. F. Röhrs, Neustadt an der Orla 1821. 39 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 18. 40 Das Kreis-Waiseninstitut hatte seit jener Zeit bereits 96 Zöglinge verpflegt und 48 davon entlassen, vgl. Der Neustädter Kreis-Bote, Nr. 50 vom 11.12.1824, S. 393.

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Herrn Wagner in Neustadt“41 entfaltete er nebenher eine rege Publikationstätigkeit und profilierte sich zu einem fleißigen, aktuelle Probleme aufgreifenden Verlagsautor. Einen Schwerpunkt bildeten dabei seine Predigten. Schwabes Predigtsammlung von 1823/24 war für die häusliche und öffentliche Erbauung und zum Vorlesen in den Landgemeinden gedacht, die Themen waren dem Leben entnommen, spiegelten aber gleichzeitig auch seine eigenen Grundsätze wider. So erklärte er beispielsweise anlässlich der Einweihung eines Mädchenschulgebäudes: „Kein Gut trägt reichere Zinsen, als das, welches verwendet wird auf die Erziehung und den Unterricht derer, die einst nach uns leben und wirken sollen.“42 Schwabe bereitete seine Predigten auf der Grundlage von ausgewählten Bibeltexten stets sorgfältig vor, zur Einführung und zum Abschluss zitierte er gern Gesangbuchverse. In der thüringischen Predigtliteratur gilt er als ein „Vertreter der vermittelnden Richtung“.43 Ebenfalls gedruckt wurden die Predigten anlässlich der kirchlichen Feier des Regierungsjubiläums Karl Augusts, die dem Stadtrat und der Bürgerschaft gewidmet und am 3. und 4. September in der Haupt-Stadt-Kirche gehalten worden waren. Schwabe hatte für seine Predigt das Thema Unser Fürst im Spiegel seiner Zeit gewählt und charakterisierte Karl August als einen „echt evangelischen Fürsten“, der dem Freimut eine Heimstatt gegeben habe, so dass sich Kunst und Wissenschaft ungehindert hätten entfalten können. Als Regent habe er die „Wohlfahrt des Volkes“ stets im Blick gehabt, auch den Geringsten seiner Untertanen habe er zu Wort kommen lassen. Während seiner 50-jährigen Regentschaft habe sich in der Tat alles verändert.44 Überdies wandte sich Schwabe aber auch an seine Amtskollegen, indem er die alltagsbezogenen und moralisierenden Predigten an Prediger (Neustadt an der Orla 1825) publizierte, die als Erbauungsbuch für den evangelischen Predigerstand gedacht waren.

41 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 19. 42 Vgl. Johann Friedrich Heinrich SCHWABE: [80] Predigten über die gewöhnlichen Sonnund Festtags-Evangelien des ganzen Jahres, in der Hauptkirche zu Neustadt an der Orla gehalten, Bd. 2, Neustadt an der Orla 1824, S. 40. Der erste Band dieses Werkes (Neustadt an der Orla 1823) ist Maria Pawlowna als Denkmal ihrer Anwesenheit in der Stadt am 10.1.1823 gewidmet. 43 Der Fortschritt der evangelischen Predigtliteratur seit etwa hundert Jahren (Schluss), in: Kirchen- und Schulblatt in Verbindung 22 (1873) H. 14, S. 215–218, hier S. 217. Laut Rudolf HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 2, Weimar 1947 (ND Waltrop 2000), S. 450 war Schwabe „ein milder und toleranter Rationalist“. Vgl. außerdem ebd., S. 316 f. 44 Johann Friedrich Heinrich SCHWABE, Unser Fürst im Spiegel seiner Zeit, in: DERS. (Hg.), Predigten bei der kirchlichen Feier des Regierungs-Jubelfestes […] Karl August’s, Großherzogs zu Sachsen etc. am 3. und 4. September 1825 in […] Neustadt an der Orla, Neustadt an der Orla 1825, S. 12–24.

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Dass ihm der Austausch mit Amtskollegen überaus wichtig war, zeigt auch Schwabes Engagement im Neustädter Prediger-Verein, der kurz vor seiner Amtsübernahme gegründet worden war.45 Der Neustädter Kreis umfasste „einige und 60 Prediger, mit mehr als 100 Kirchen für eine Bevölkerung von fast 40.000 Seelen“,46 die Mitgliedschaft im Prediger-Verein bot den kirchlichen Amtsträgern eine willkommene Gelegenheit, untereinander zu kommunizieren. Schwabe veranlasste noch die Gründung eines Lesezirkels,47 durch den die Teilnehmer über die neuesten Zeiterscheinungen und Zeitideen unterrichtet werden sollten. Der „Gewinn ihres wissenschaftlichen Strebens“ konnte in der neu entstandenen Vereinszeitschrift mitgeteilt werden, auf diese Weise gewannen die Autoren in der Öffentlichkeit Profil und Prestige. Die von Schwabe herausgegebenen Mittheilungen aus den Arbeiten des Predigervereins des Neustädter Kreises (1/1824) änderten schon bald ihren Titel in (Vierteljährige) Mittheilungen aus den Arbeiten mehrerer evangelischer Predigervereine (2/1825–4/1827).48 Die Publikation verfolgte nun zudem das Ziel, mit ähnlichen Gruppierungen im „Ausland“ zu kooperieren, was auch in Ansätzen gelang. Darüber hinaus nahm auch das Schulwesen in seiner Diözese Schwabe besonders in Anspruch. Neben seinem eigenen Interesse waren es vor allem die pädagogischen Schriften von Gustav Friedrich Dinter, die ihn zu näherer Beschäftigung mit der Thematik anregten. Der bekannte Schriftsteller und Pädagoge verfasste über 50 exegetische, katechetische, pädagogische und homiletische Werke. Er war sowohl hinsichtlich der verschiedenen Zielgruppen, wie etwa Volksschullehrer, Eltern, Pfarrer und Erzieher sowie der ihnen angepassten Textgestaltung für Schwabe ein großes Vorbild. Dinters Schullehrer-Bibel,49 die der Neustädter Verleger Wagner in sein Programm aufgenommen hatte, fand durch dessen Vertriebssystem weite Verbreitung. Die theologische Haltung des Autors führte hingegen unvermeidlich zu Streitigkeiten zwischen Rationalis45 Vgl. Christian Ernst ANGER, Kurze Nachricht über Entstehung, Organisation und bisherigen Fortgang des Neustädter Prediger-Vereins, in: Mittheilungen aus den Arbeiten des Predigervereins des Neustädter Kreises 1 (1824), H. 1, S. 80–98. Anger, Adjunkt und Pfarrer in Weltwitz, war Sekretär des Vereins. 46 Ebd., S. 82. 47 Johann Friedrich Heinrich SCHWABE, Der Lesezirkel des Prediger-Vereins, in: Mittheilungen aus den Arbeiten des Predigervereins des Neustädter Kreises 1 (1824), H. 3, S. 281–289. Es kursierten über 20 Fachjournale, an den meisten war Schwabe als freier Mitarbeiter beteiligt. 48 Fortsetzung: Eutaxia. Neue Mittheilungen aus den Arbeiten evangelischer PredigerVereine, NF 1 (1830), Abt. 1, beginnend mit: Kirchenrechtliche Fragen, begutachtet von J. F. H. Schwabe, S. 1–17. 49 Schullehrer-Bibel. Nach der deutschen Uebersetzung D. Martin Luthers mit Anmerkungen und Zugaben für Schullehrer von Gustav Friedrich DINTER, Neustadt an der Orla 1824–1827.

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ten und Orthodoxen, in die auch Schwabe mit einbezogen war.50 Ihm lag zwar „jede Kampf- und Streitlust“ fern, doch fühlte er sich „zu einem Entgegentreten“ veranlasst, „als im Jahr 1825 die damals erscheinende Dinter’sche Schullehrerbibel auf eine höchst unbillige Weise verunglimpft wurde“.51 Sie war unter seinen Augen in der Wagnerischen Offizin und Verlagshandlung erschienen, auf die er nach eigener Aussage den „größten Einfluss“ ausübte. Wenn das Werk so schlecht gewesen wäre, wie es dessen Gegner darstellten, hätte er das Erscheinen verhindert, doch hielt er es für sehr verdienstvoll. Entschieden stellte er sich deshalb in seiner Apologie der Dinter’schen Schullehrer-Bibel und in der Darstellung Zur Geschichte der Schullehrer-Bibel gegen die Kritiker.52 Beide Publikationen erlangten nicht zuletzt durch diese öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten eine große Verbreitung. Dinter selbst verteidigte sich 1826 mit wenigen Worten in den Mittheilungen gegen die Angriffe.53

Schwabe als Schulbuch-Autor In seiner Position hatte Schwabe „60 Schulen und ihre Lehrer zu beaufsichtigen, ihre Vorzüge und Mängel zu beachten, ihre Anfragen und Berichte zu vernehmen, helfend, anordnend, leitend einzuschreiten“. Das Schulwesen, das er als in sich geschlossenen Komplex betrachtete, machte somit einen Großteil seiner Tätigkeit aus und obwohl er nur einmal im Jahr jede Schule besuchen konnte, verging „kein Tag, an welchem nicht Schulgegenstände zur Sprache gekommen wären“.54 Daher begann auch Schwabe nach Dinters Vorbild eigene Schulbücher zu gestalten. Zuerst erschien das Rechenbuch für den Bedarf der Landschulen (Neustadt an der Orla 1822; 21829), dessen Rohfassung er schon bei seinem Unterricht junger Landleute in Wormstedt erprobt hatte. Das Büchlein schien ihm für einen vieljährigen Unterricht geeignet, da es altersspezifisch (von 8/9 bis 14 Jahre) und stufenweise voranschritt. Alle Rechenaufgaben waren aus dem Leben gegriffen, sie sollten anwendbar und nützlich sein. Ein besonderes Augenmerk wurde auf das Kopfrechnen gelegt, wozu Schwabe die Mädchen für 50 Hierzu ausführlich: Werner GREILING, Verlagsstrategien zur Schulverbesserung und Volksbildung im 19. Jahrhundert. Gustav Friedrich Dinter und Johann Karl Gottfried Wagner, Leipzig 2017, bes. S. 150 f., 212, 256 f., 262–266. 51 Hier und im Folgenden vgl. SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 26 f. 52 DERS., Apologie der Dinter’schen Schullehrer-Bibel, Neustadt an der Orla 1825; DERS., Zur Geschichte der Schullehrer-Bibel des Herrn D. Dinter, Neustadt an der Orla 1826. 53 Gustav Friedrich DINTER, Die Rechtgläubigkeit des Verfassers der Schullehrer-Bibel betr., in: Mittheilungen aus den Arbeiten mehrerer evangelischen Prediger-Vereine 3 (1826), H. 3, S. 311 f. 54 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 28.

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besonders begabt hielt. Am 9. und 10. Januar 1823 hatte sich die Erbgroßherzogin Maria Pawlowna in Neustadt aufgehalten und die Industrieschule und die Wagnerische Buchdruckerei besichtigt, die „durch ihren allerdings sehr bedeutenden Verlag von Schul- und Erziehungsschriften die höchste Aufmerksamkeit“ auf sich gezogen hatte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie von dem Rechenbuch, das gerade im Druck war. Schwabe, der die „allergnädigste Erlaubnis“ für eine Widmung erhalten hatte, übersandte der Fürstin am 19. März ein Exemplar.55 Weil ihr das Schulbuch gefiel, beauftragte sie Schwabe, ein Lesebuch für die Industrieschulen des Landes zu erarbeiten. Daraufhin erweiterte Schwabe sein Konzept zu einem „allgemeinen Schulbuch für den gesamten Sachunterricht in der Volksschule“. Auch von dem Leseund Lehrbuch zum Bedarf der Volksschulen (Neustadt an der Orla 1824) übersandte er Maria Pawlowna Neujahr 1824 ein Exemplar und versicherte, dass „Verfasser und Verlag, jeder an seinem Theile, mit Ernst bemüht gewesen sind, dem Büchlein die möglichste Brauchbarkeit zu geben und die allgemeine Verbreitung zu sichern“.56 Die Empfängerin dankte erfreut, sie fand das Werk „sehr belehrend“ und erwartete deshalb auch „einen sehr guten Erfolg“, dem Schreiben war „ein Päckchen mit einer goldenen Dose“ beigefügt.57 Schwabe war hochbeglückt und versprach, das „unschätzbare Geschenk“ für seine Nachkommen aufzubewahren.58 Bis zur zehnten Auflage (1834) wurde das Schulbuch von ihm betreut, die letzte (191853) wurde von seinem Sohn Franz Schwabe besorgt. Inzwischen hatten die Schulbücher ihren Charakter gewandelt, neue Publikationen traten an die Stelle von Schwabes „kleiner Enzyklopädie“, die auch in Schulen verschiedener Religionsbekenntnisse Eingang gefunden hatte. Sie war in Bayern, Preußen, Sachsen, Hannover, Hessen, sowie den schwarzburgischen und reußischen Fürstentümern in Gebrauch gewesen und auch ins Russische und Dänische übersetzt worden. Zudem hatte Schwabe als Anhang zu seinem Lese- und Lehrbuch eine „kleine Schrift“, die Weimarische Landeskunde (Neustadt an der Orla 1824; 51833), erarbeitet, welche die allgemeine Erdbeschreibung des Territoriums und Fakten zur Geschichte des Großherzogtums enthielt. Als ein Leitfaden für den Schulunterricht und zur Wiederholung und Rückerinnerung an das Gelernte war hingegen das Examen aus der Reformationsgeschichte (Neustadt an der Orla 1824; 41838) gedacht. Es erfüllte nach Schwabes Meinung 55 Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: LATh-HStA Weimar), A XXV, Schwabe an Maria Pawlowna vom 19.3.1823, Bl. 196. 56 LATh-HStA Weimar, A XXV, Schwabe an Maria Pawlowna vom 1.1.1824. 57 LATh-HStA Weimar, A XXV, Maria Pawlowna an Schwabe vom 29.12.1823/11.1.1824. Schwabe blieb bis 1834 mit der Großherzogin in Kontakt. 58 LATh-HStA Weimar, A XXV, Schwabe an Maria Pawlowna vom 19.1.1824, Bl. 197. Vgl. auch: „Ueber die Tugend-Preiße“, wo er vorschlug, bei Verdiensten um das allgemeine Beste anstelle von Geld ein Geschenk zur öffentlichen Anerkennung zu überreichen.

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die Grundvoraussetzungen eines Lehrbuchs für die Volksschule, nämlich kurz gefasst und wohlfeil zu sein. In 123 Fragen, die zugleich beantwortet wurden, vermittelte es den Kindern in chronologischer Abfolge das „weltgeschichtliche Ereignis“ der Reformation.59 Schwabes Schulbücher fanden weite Verbreitung, so erhielt zum Beispiel jedes der beinahe 600 Kinder auf dem Schulfest, das im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Regierungsjubiläum des Großherzogs Karl August am 5. September 1825 im „großen Saal“ des Neustädter Rathauses stattfand,60 zum Andenken an das Ereignis ein Buch (darunter auch zahlreiche Exemplare von Schwabes Schulbüchern), das „mit einer besonders eingedruckten Inschrift“ versehen war. Die Wormstedter Zeit eingerechnet feierte Schwabe am 14. Februar 1827 sein 25-jähriges Pfarramtsjubiläum, das zugleich sein Abschiedsfest von Neustadt war. Die Amtsbrüder und zahlreiche Freunde sahen ihn „mit größter Wehmut scheiden“, etwa 100 Personen trafen sich im Lokal des geselligen Vereins zu einem Festmahl, wo Schwabe an seinem Platz einen silbernen Pokal als Zeugnis allgemeiner Verehrung vorfand.61 Er verwaltete das Amt noch bis zum 22. April 1827, an diesem Tag hielt er in der Stadtkirche seine Abschiedspredigt,62 das sehr geräumige Gotteshaus hatte „seit Menschengedenken“ keine solche Menschenmenge erlebt. Tags darauf, den 23. April, reiste Schwabe nach Weimar ab.

Die Weimarer Jahre Auch Weimar bot Schwabe ein breites Spektrum für ein amtliches Wirken:63 Im Oberkonsistorium übernahm er eine Ratsstelle mit Sitz und Stimme und bei der Hofgemeinde (dazu gehörten alle Hof- und Staatsdiener mit Familien) ein Predigtamt; zudem war er einer der beiden Garnisonsprediger. Der Schwer59 Zuerst erschienen in: Mittheilungen aus den Arbeiten des Predigervereins des Neustädter Kreises 1 (1824), H. 4, S. 335–346. Er sollte auch als Leitfaden beim Schulunterricht in Bürger- und Landschulen dienen. 60 Vgl. Hermann BESSER/Rudolf HERRMANN (Hg.), Die Neustädter Chronik, Teil 3, Neustadt an der Orla 1912 (ND Jena 2010), S. 50–58, hier S. 50. Zu Schwabe vgl. Werner GREILING, Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in Neustadt an der Orla, Jena 2010, S. 20 und Anm. 13. 61 Aus der Chronik. Vor 50 Jahren, in: Neustädter Kreisbote, Nr. 77 vom 3.7.1877. 62 Johann Friedrich Heinrich SCHWABE: Abschiedspredigt in der Hauptkirche zu Neustadt an der Orla und Antrittspredigt in der Hofkirche zu Weimar gehalten, Neustadt an der Orla 1827. 63 DERS., Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 33. Vgl. auch: Staats-Handbuch des Großherzogthums Sachsen-Weimar-Eisenach für das Jahr 1830, Weimar 1830, S. 63 f.

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punkt seiner Tätigkeiten lag aber in der Verwaltung der milden Stiftungen. Dazu zählten das Waiseninstitut, die Pfarrwitwen- sowie die SchullehrerwitwenAnstalten und der Landschulfond. Das unter seiner Direktion stehende WaisenInstitut zu Weimar betreute Kinder, die in Familien untergebracht worden waren, und deren Pflegeeltern vierteljährliche Unterstützungsgelder erhielten. Seit dem 1. April 1829 war die vom Legationsrat Johannes Daniel Falk gegründete „Erziehungsanstalt für verlassene und verwahrlosete Kinder als bisherige Privat-Anstalt aufgehoben [und] mit dem Großherzogl. Waisen-Institute als eine Nebenanstalt desselben und zwar für das ganze Großherzogthum unter dem fortdauernden Nahmen Falk’sches Institut vereiniget und ihm ein eigenes, am Schwansee gelegenes Haus nebst Garten gewidmet worden“.64 1830 lebten dort 49 Zöglinge, davon 40 Knaben und 9 Mädchen. Schwabe appellierte an die Wohltätigkeit der Bewohner der Stadt und des Großherzogtums, durch freiwillige Beiträge die Zukunft dieser vorbildlichen Erziehungsanstalt zu sichern.65 Die Zahl der in die vereinigten Anstalten aufgenommenen Zöglinge betrug damals 534. Auch die Verwaltung des Landschul-Fonds zu Weimar, der 1785 in der Absicht gestiftet worden war, besonders arme Schullehrer in Notzeiten oder bei Unglücksfällen zu unterstützen, lag in Schwabes Händen. Schwabe, der jetzt Oberkonsistorialrat war, hielt am 29. April 1827 seine Antrittspredigt. Generalsuperintendent Johann Friedrich Röhr übergab ihm das Dekret von Großherzog Karl August und segnete ihn ein. Großherzogin Luise und Erbgroßherzogin Maria Pawlowna wohnten dem Gottesdienst bei.66 Kurz nach seinem Amtsantritt, am 29. Juli 1827, wurde Schwabe von der Theologischen Fakultät der Universität Marburg, die ihr 300-jähriges Jubiläum beging, das Doktordiplom honoris gratia zugesandt.67 Am 10. August 1828 hielt 64 Weimarisches Wochenblatt, Nr. 40 vom 19.5.1829, S. 241 (Meldung datiert 10.3.1829). Vgl. auch Staats-Handbuch (wie Anm. 63), S. 87 f. (C. Waisen-Institut zu Weimar). Die Konzeption, das Falk’sche Institut in gewandelter Form fortbestehen zu lassen, ging auf ein Gutachten Schwabes zurück, das Großherzog Karl Friedrich angefordert hatte, vgl. Jahresbericht über den Zustand und die Leistungen des Großherzoglich Sächsischen Waiseninstituts und der damit verbundenen Erziehungsanstalt für sittlich verwahrlosete und verlassene Kinder zu Weimar im Jahre 1829, Weimar 1830. Schwabe verfasste diese Jahresberichte von 1827 bis 1832, vgl. SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 40. Der Kauf des Gartengrundstücks am Schwansee, an dem sich Maria Pawlowna mit 1.500 Talern beteiligte, und der Ausbau des Gebäudes wurden ebenfalls von Schwabe vorgenommen. 65 Johann Friedrich Heinrich SCHWABE, Freundliche Einladung an die sämmtlichen Bewohner des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach zu Unterzeichnung freiwilliger Beiträge für die Erziehungs-Anstalt verlassener und verwahrloseter Kinder, Weimar, den 10.9.1829, in: Landeskirchenarchiv Eisenach, Sammlung Jauernig 16-6. 66 Franz David GESKY, Weimar von unten betrachtet, Jena 1997, S. 139 f. 67 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 32 f.

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Schwabe in der Hofkirche eine Gedächtnispredigt auf den am 14. Juni verstorbenen Großherzog Karl August, den er als einen „höchstwohlwollenden Mann“ würdigte, weil er „sein Volk zu dem Range eines der gebildetsten der Erde“ emporgehoben hatte. Er habe keine Schranken, „welche das geistige Fortschreiten zu hemmen suchten“ gelten lassen und den „schriftstellerischen Erzeugnissen aller Länder und Völker den freiesten Zutritt in seinen Staaten gestattet, jede sonst verfolgte Meinung konnte sich hier offen aussprechen.“ Die „Freiheit zum Selbstdenken“ und das Recht, auf eigenen Füßen zu stehen und nach der eigenen Überzeugung zu leben, seien unter seiner Regierung gegeben gewesen.68 Schwabe hielt auch die Gedächtnißpredigt für die verwitwete Großherzogin Luise am 7. März 1830 und würdigte unter anderem ihr Treffen mit Napoleon, bei dem sie zu „Weimars Schutzgeist“ geworden sei. Außerdem erinnerte er daran, dass sich im Verlauf ihres Lebens vieles verändert habe: „Nicht nur die Verfassungen der Staaten, die Formen des äußeren Lebens, die Sitten und Gebräuche, sondern auch die Grundsätze, die Denkweise, der Glaube hat sich geändert, und mit den veränderten Wissenschaften und Künsten, mit den veränderten Ansichten und Bedürfnissen ist auch die Erziehung und die Aufgabe der Menschheit eine andere geworden.“69 Im gleichen Jahr druckte Schwabe auch seine Predigt zur dritten Secularfeier der Uebergabe der Augsburgischen Confession (Hildburghausen 1830), die er am 27. Juni 1830 in der Hofkirche gehalten hatte. Es folgten seine während eines Jahresverlaufs ebendort gehaltenen 25 Predigten über Abschnitte des [neuen] Weimarischen Evangelien-Buchs (Eisleben 1831). Nach Schwabes Vorstellungen sollte eine Predigt aus der Sache selbst hervorgehen, Gegenstände aus dem Leben ansprechen, sachlich fassbar und darüber hinaus einfach und klar strukturiert sein. Allerdings beschäftigte sich Schwabe nicht nur mit homiletischen, sondern auch mit kirchenrechtlichen Fragen. Seine Grundzüge einer constitutionellen Kirchenverfassung waren „ein Versuch, bei dem Widerstreite der Meinungen über diesen Gegenstand […] die gerechte Mitte zu finden“ (Neustadt an der Orla 1832). Während seiner Tätigkeit im Schul- und Sozialwesen war Schwabe auch auf die zeitgenössisch breit diskutierten Kinderbewahranstalten aufmerksam geworden, die bereits in einigen Orten in der Diözese Allstedt erprobt wurden.70 Seine Gedanken über Verwahr- oder sogenannte Kleinkinder-Schulen entstanden auf der Grundlage eines Gutachtens, das er „auf höchsten Befehl“ in der Sache erstattet hatte.71 Die Idee war, „Kinder unter dem schulpflichtigen Alter, während die 68 DERS., Predigt zum ruhmwürdigen Gedächtniß Sr. Königl. Hoheit des weiland durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Carl August, Weimar 1828, S. 11 f. 69 DERS., Gedächtnißpredigt der Durchlauchtigsten Fürstin und Frau Frauen Louisen verwittweten Großherzogin zu Sachsen […], Weimar 1830, S. 7. 70 Weimarisches Wochenblatt, Nr. 59 vom 24.7.1829, S. 359 f. 71 SCHWABE, Selbstbekenntnisse (wie Anm. 1), S. 41.

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Aeltern ihren Berufsgeschäften nachgehen müssen, in Aufsicht zu nehmen, damit sie nicht physisch oder moralisch Schaden“ erlitten.72 Schwabe nutzte die Gunst der Stunde, denn die Landesregierung war „eifrigst bemüht, vorzugsweise das Practische, das dem Staate und den in ihm lebenden Familien Brauchbare und Nützliche zu begünstigen“. In Weimar fand sich schon bald ein geeignetes Lokal, im August 1829 konnten sich die Eltern zur Anmeldung ihrer Kinder auf dem Rathaus melden.73 Im Blick hatte Schwabe besonders die „kleineren Kinder der ärmeren Volksklassen“. Seiner Meinung nach bedurfte jedes Kind in dieser frühen Entwicklungsperiode der Aufsicht und man habe bisher nur wenig dafür getan, weil diese Altersgruppe „noch nicht unter der Aufsicht von Erziehungs- und Unterrichtsbehörden“ stehe. Laut Schwabe sollten die Kleinkinder nicht zum Lernen gezwungen werden, sondern müssten dazu nur durch „angenehmes Spiel“ und Erzählen, Anschauen, Beispiele und freundliche Gespräche angeregt werden. Den Gebrauch von Büchern lehnte er für diese Altersgruppe noch ab. Darüber hinaus sollte die Verwahranstalt auf keinen Fall eine Arbeitsschule sein. Ein Problem war auch für ihn der „Disziplinarpunkt“: eine „gewisse Ordnung“ werde wohl stattfinden müssen, „auf ihr beruht, durch sie besteht die Welt“.74 Die zweite revidierte Auflage dieser Schrift erschien 1834,75 es ist die letzte Publikation, die Schwabe in seiner Autobiographie erwähnt. Auch Schwabes Betreuungskonzept entsprach den Vorstellungen der Großherzogin Maria Pawlowna, die mit Hilfe der Frauenvereine in der Stadt Weimar und im ganzen Land die Einrichtung von Kleinkinderschulen für Zwei- bis Sechsjährige tatkräftig förderte. Die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts sittlich verwahrloseter und verlassener Kinder in Beschreibung einer diesem Zwecke gewidmeten Anstalt (Eisleben 1833) beruhten auf den Weimarer Statuten, die Schwabe im Jahres-Bericht des Waiseninstituts für das Jahr 1829 abgedruckt hatte. Dieser Publikation wurde in jüngster Zeit im Rahmen sozialgeschichtlicher Forschungen erneut Aufmerksamkeit geschenkt.76 Nach sechs Jahren in Weimar erhielt Schwabe 1833 den ehrenvollen Ruf, das Amt eines Prälaten der evangelischen Landeskirche des Großherzogtums Hessen zu übernehmen. Der bedeutungsvolle Wirkungskreis und die einfluss72 DERS., Einige Gedanken über Verwahr- oder sogenannte Kleinkinder-Schulen, Neustadt an der Orla 1828, S. 4. 73 Weimarisches Wochenblatt, Nr. 65 vom 14.8.1829, S. 395. 74 SCHWABE, Einige Gedanken (wie Anm. 72), S. 21. 75 DERS., Die Verwahr- oder sogenannte Kleinkinder-Schule in ihren Zwecken und Einrichtungen, Neustadt an der Orla 21834 mit Widmung an Wilhelmine, Großherzogin von Hessen, Erhalterin der Kleinkinderschule in Darmstadt. 76 Vgl. David SCHMIDT, Die Revolution von 1848/49 und die protestantische Armenfürsorge, in: Falk-Jahrbuch 3 (2009), S. 125–161; Christian HAIN, Das Falksche Institut in Weimar. Fürsorge und Geschlecht im 19. Jahrhundert, Weimar/Wien 2015, S. 342.

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reiche Stellung zogen ihn an. Großherzog Karl Friedrich erteilte ihm „unter Anerkennung seiner vieljährig geleisteten nützlichen und wohlgefälligen Dienste“ die erbetene Entlassung,77 am 16. Juni 1833 hielt Schwabe in der Hofkirche seine Abschiedspredigt.78

Tätigkeit in Hessen-Darmstadt Die hohe Staatsregierung hatte bei der neuen Verfassung der evangelischen Kirche des Großherzogtums einen Prälaten an die Spitze der Geistlichkeit gestellt,79 die Ernennung Schwabes in dieser Funktion erfolgte am 6. Mai 1833. Damit war verfassungsgemäß ein Sitz in der Ersten Kammer der Landstände von Hessen-Darmstadt verbunden, in die Schwabe am 2. Juli 1833 aufgenommen wurde.80 Am 21. Juli 1833 hielt er die Erste Predigt in der Haupt- und Stadtkirche zu Darmstadt nach seinem Amtsantritte (Darmstadt 1833). Schwabe war nun Großherzoglich Hessischer Prälat, Oberkonsistorialrat, Superintendent der Provinz Starkenburg und Oberpfarrer der Residenz Darmstadt.81 Durch seine Abgeordnetentätigkeit wurde er in vielfacher Weise beansprucht, er war ein tätiger Mann und rascher Arbeiter von großer Pünktlichkeit. Als seine letzte Publikation erschienen die Predigten und Reden, welche auf Veranlassung des am ersten Weihnachtstage, den 25. December 1833, zu Darmstadt gefeierten Confessions-VereinigungsFestes in der Haupt-Stadtkirche daselbst gehalten worden sind (Darmstadt 1834). An Stelle eines Hirtenbriefes hatte Schwabe 1833 seine schon mehrfach erwähnten Selbstbekenntnisse verfasst. Sie enthalten nicht nur einen Überblick über seine schriftstellerische Lebensleistung, sondern wirken auch fast wie ein Testament, denn Schwabe war nur für eineinhalb Jahre in der Lage, seine Ämter in HessenDarmstadt auszuüben. Er starb unter großen Leiden am 29. Dezember 1834, 77 Weimarische Zeitung, Nr. 40 vom 18.5.1833. 78 Johann Friedrich Heinrich SCHWABE, Abschieds-Predigt am zweyten Sonntage nach dem Trinitatisfeste den 16. Juny 1833 in der Großherzogl. Hofkirche in Weimar gehalten, Weimar 1833. 79 Vgl. Nekrolog, in: Hessische Zeitung, Nr. 16/1835, S. 79. 80 Verhandlungen der ersten Kammer der Landstände des Großherzogthums Hessen im Jahre 1833, Protokolle, Darmstadt 1833, 31. Sitzung vom 24.5.1833, S. 274 u. 38. Sitzung vom 2.7.1833, S. 304 f. Vgl. Klaus-Dieter RACK (Hg.), Hessische Abgeordnete 1820– 1933. Biografische Nachweise für die Erste und Zweite Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen 1820–1918 und den Landtag des Volksstaats Hessen 1919– 1933, Darmstadt 2008, Nr. 805, S. 811 f. 81 Heinrich Eduard SCRIBA (Hg.), Biographisch-literärisches Lexikon der Schriftsteller des Großherzogthums Hessen im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, 2. Abt., Darmstadt 1843, S. 670–672.

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wenige Stunden vor seinem Tod trug er noch eingegangene Geschäftssachen in die Registrande ein. Die Beerdigung fand am 1. Januar 1835 statt.

Resümee Zu Schwabes Lebensbilanz zählen neben seinem Einsatz für den Neustädter Predigerverein auch die Mitgliedschaften in gelehrten Gesellschaften, auf die er großen Wert legte: So war er Mitglied der Societas Latina Jenensis, der (später Herzoglichen bzw. Großherzoglichen) Societät für die gesammte Mineralogie in Jena, der Mineralogischen Gesellschaft zu St. Petersburg, der Naturforschenden Gesellschaften im westfälischen Brockhausen und des Osterlandes in Altenburg, der Landwirtschaftlichen Gesellschaft in Langensalza und des Vogtländischen Altertumsforschenden Vereins zu Hohenleuben. Es ist schon erstaunlich, wie es Schwabe gelang, nach einem 20-jährigen Berufsalltag in dem dörflichen Milieu von Wormstedt auf seinem ferneren Lebensweg Stufe um Stufe in der kirchlichen Hierarchie zu erklimmen. Er war ein begabter Kanzelredner, ein tüchtiger Verwaltungsbeamter und wohlwollender Vorgesetzter.82 Weil er „außerordentlich rasch und gewandt“ arbeitete, gelang es ihm, vielseitig wie er war, parallel verlaufende Arbeitsgänge zu koordinieren. Im Rahmen seiner umfangreichen publizistischen Tätigkeit gab er zum Beispiel der Mineralogischen Gesellschaft eine historische Dimension, indem er ihre Gründungsphase dokumentierte. Seine praxisorientierten Schulbücher verfolgten das Ziel, von Kindheit an das allgemeine Bildungsniveau zu heben. Im Rahmen aktueller Wohltätigkeitsbestrebungen war er später daran interessiert, soziale Probleme zu erörtern und auch Lösungswege anzudeuten, falls es um die Betreuung von Kleinkindern oder die gesellschaftliche Integration vernachlässigter Kinder und Jugendlicher ging. Seine humanitäre Grundeinstellung in Verbindung mit dem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl verschaffte ihm den Ruf einer integren, sachkundigen und vorurteilsfreien Persönlichkeit. Aus den Quellen geht hervor, dass es ihm überall, wo er hinkam, gelang, durch sein zuvorkommendes und freundliches Wesen die Achtung und Sympathie seiner Mitmenschen zu gewinnen, viele seiner Anregungen fielen auch deshalb auf fruchtbaren Boden. Der Nachwelt präsentiert er sich als ein Autor mit klarem Verstand und scharfem Urteil, besonders bemerkenswert erscheinen uns heute seine sozialpädagogischen Überlegungen und seine Toleranz gegenüber Andersdenkenden.

82 Arthur WYß, Schwabe, Johann Friedrich Heinrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 33, Leipzig 1891, S. 171 f.

J E N S -J Ö R G R I E D E R E R „ICH BIN WIEDER IN THEENOTH.“

„Ich bin wieder in Theenoth.“ Wie der Tee als geselliges Getränk im 18. Jahrhundert Weimar eroberte

Die berühmteste Tasse Tee Weimars wurde unstreitig am 20. Oktober 1806 gereicht. Goethe hatte tags zuvor nach 18 Jahren seine Lebensgefährtin Christiane Vulpius geheiratet, die damit – gesellschaftlich gesehen – zu einer anderen Person geworden war. Mit folgenden viel zitierten Worten nahm Johanna Schopenhauer die frischvermählte Christiane von Goethe in ihren Salon in der Esplanade bei sich auf: „[…] ich empfing sie, als ob ich nicht wüßte, wer sie vorher gewesen wäre, ich dencke, wenn Göthe ihr seinen Namen giebt können wir ihr wohl eine Tasse Thee geben.“1 Die Tragweite dieser fast zu einem Aphorismus gewordenen Bemerkung war allen anwesenden Damen und Herren sofort klar. Hatte die Heirat aus der Mamsell Vulpius eine vorgeblich andere Person gemacht, die Frau Geheimrätin, erhob die gereichte Tasse Tee sie nunmehr vermeintlich zu einer Dame der Gesellschaft, zu der sie zuvor nach den üblichen Konventionen der Zeit nicht hatte gehören dürfen. Heute wissen wir freilich, dass die gesellschaftliche Weihe durch Tee keineswegs von Dauer war. Christiane pflegte weiter ihren bisherigen Umgang, vor allem ihre „Schauspielergesellschaften, alles wie vorher“.2 Allerdings ist Christiane Vulpius wohl weit weniger gesellschaftlich isoliert gewesen als allgemein angenommen und hatte schon früher eine Einladung zum Tee erhalten, was bisher übersehen worden ist. Mit einigem Erstaunen nehmen wir zur Kenntnis, dass Maria Christiane von Koppenfels (1748–1810), immerhin die Gattin des in der Nachbarschaft vor dem Frauentor wohnenden Weimarer Kanzlers Johann Friedrich von Koppenfels (1737–1811), es sich an einem der letzten Tage des Jahres 1796 gestattet hatte, ihre Nachbarin mit deren 1

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Johanna Schopenhauer an ihren Sohn Arthur, Weimar am 24.10.1806, in: Ludger LÜTKEHAUS (Hg.), Die Schopenhauers. Der Familien-Briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und Johanna Schopenhauer, München 1998, S. 197 f. Im Folgenden werden nur von Weimar abweichende Brieforte angegeben. Johann Heinrich Voss d. J. an Bernhard Rudolf Abeken, Heidelberg am 26.4.1807, in: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, zusammengestellt von Wilhelm BODE, neu hg. von Regine OTTO und Paul-Gehard WENZLAFF, Berlin/Weimar 1982, Nr. 1421, S. 355.

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siebenjährigem Sohn August zum Tee einzuladen, weil diese durch Goethes Abwesenheit allein waren.3 Diese Einladung dürfte zwar nur für den engsten Privatkreis gegolten haben, lag aber immerhin zehn Jahre vor jener berühmten Tasse Tee in großer halböffentlicher Runde. Auch hatte Christiane durchaus schon eigene Gäste mit Tee bewirtet. Zu Ostern im Jahr zuvor war sie wegen schlechten Wetters zu Hause geblieben, um sich mit ihren Freundinnen bei Musik auf zwei Violinen und einem Klavier zu vergnügen. Die kleine Gesellschaft, zu der später ein Schaupieler dazustieß, sang und tanzte bis 2 Uhr morgens, „ich kochte Thee, und dann schieden sie“.4 Vom Tee als neuem Trunk gingen offensichtlich Wirkungen aus, die das bloße Durstlöschen überstiegen. Wie diese sich entfalteten, schien nicht allein von dem exotischen Heißgetränk selbst abzuhängen, sondern auch von den Umständen, unter denen es eingenommen wurde, die sich fast immer als ein Konsum in Gemeinschaft darstellten. Das Modegetränk aus Übersee revolutionierte als eine von drei „Basisinnovationen“ zusammen mit dem Kaffee sowie der Kartoffel nicht nur die europäischen Mahlzeiten, sondern brachte dabei zugleich neue Umgangsformen hervor.5 Um den Tee bildete sich eine eigene Geselligkeit, die als untrennbarer Bestandteil der Aufklärungsbewegung gilt. Trotz dieser anerkannten Rolle als aufklärerisches Anregungsmittel wissen wir über die durch den Tee eigens begründeten Gesellungsformen im Vergleich zu denen des Kaffees erstaunlich wenig. Hauptgrund dafür ist gewiss die bekannte Tatsache, dass die schwarze Bohne mit dem Kaffeehaus nach orientalischem Vorbild sich einen eigenen öffentlichen Ort hat schaffen können, hingegen sich um das grüne Blatt keine eigenständigen Teehäuser nach asiatischem Vorbild herausgebildet haben.6 Der öffentliche Teekonsum wurde durch die Kaffeehäuser mit abgedeckt, doch im Kern blieb Tee in Deutschland ein primär nichtöffentlich genossenes Getränk und ist in seiner geselligen Note darum schwer zu fassen. Wohl wird Teegeselligkeit im Rahmen übergreifender Darstellungen mit behan3

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Vgl. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (im Folgenden: GSA), 28/15, Maria Christiane von Koppenfels an Christiane Vulpius [Ende Dez.?] 1796, Bl. 477; hier nach Karl-Heinz HAHN (Hg.), Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Weimar 1981, Bd. 2, S. 163. Die Lebensdaten werden im Folgenden nur von weniger bekannten Personen angegeben. Christiane Vulpius an Goethe am [9.4.1795], in: Goethes Ehe in Briefen, hg. von Hans Gerhard GRÄF, Frankfurt a. M. 1922, S. 80. Günther WIEGELMANN, Der Wandel von Speisen- und Tischkultur im 18. Jahrhundert, in: Ernst HINRICHS/Günther WIEGELMANN (Hg.), Sozialer Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts (Wolfenbütteler Forschungen, 19), Wolfenbüttel 1982, S. 149– 161, S. 149. Vgl. kurz Peter ALBRECHT, Kaffee/Kaffeehaus, in: Werner SCHNEIDERS (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, S. 198 f.

„ICH BIN WIEDER IN THEENOTH.“

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delt, kaum aber zum eigentlichen Gegenstand erhoben, und wenn doch, steht die satirische Kritik, wie sie Heinrich Heine und andere Autoren an der biedermeierlichen Spätphase geübt haben, im Vordergrund, was aber den Blick auf ihre innovativen Ursprünge verstellt.7

Abb. 1: Geschnittene Silhouette einer Weimarer Dame in den 1780er Jahren am Teetisch mit Teemaschine (sog. Teeurne), Teekanne und Kaffeekanne 7

Vgl. z.B. Eberhard OCKEL, Die Kultur der Teegesellschaften. Heines poetischer Blick, in: Wilfried KÜRSCHNER (Hg.), Kulturerinnerungen – Erinnerungskulturen. Mozart, Heine, Benn: Musik, Literatur, Denkmäler (Vechtaer Universitätsschriften, 27), Vechta 2012, S. 139–150 sowie Rolf STRUBE (Hg.), Sie sassen und tranken am Teetisch. Anfänge und Blütezeit der Berliner Salons 1789–1871, München 1991, bes. S. 7 ff.

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Bisherige Forschungen zur Geselligkeitsgeschichte Weimars haben sich vor allem auf aufgeklärte Sozietäten, gesellige Vereine und geheime Gesellschaften konzentriert, weil diese mit ihren Statuten, Mitgliederlisten und Sitzungsunterlagen am ehesten zu fassen sind.8 Rasch hat sich gezeigt, dass der Reichtum der weimarischen Geselligkeit weniger in diesen formierten Gesellungsstrukturen lag, als vielmehr in zahllosen informellen Kreisen und okkassionellen Zirkeln, die in der Tat empirisch viel schwerer zu fassen sind, am ehesten noch in Selbstzeugnissen. Nun hat sich über die Stadt Weimar ein Korpus an EgoDokumenten, darunter allein „Zehntausende von Briefen“,9 Erinnerungen, Autobiografien, Tagebücher, Alben bis hin zu Bittschriften erhalten, das in seiner Dichte für eine deutsche Stadt einmalig sein dürfte, wenigstens für die Zeit um 1800. Viel davon liegt bereits gedruckt in Editionen vor und hat dennoch kaum das Interesse der Geselligkeitsforschung geweckt. Das erstaunt umso mehr als in den Jahren 1998 bis 2010 an der Universität Jena es sich ein Sonderforschungsbereich (SFB) zur Aufgabe gemacht hatte, die „Weimar-Jena Kultur um 1800“ umfassend zu erforschen. Eine der forschungsleitenden Ausgangsthesen ging von einer einzigartigen „Kommunikationsverdichtung zwischen den intellektuellen Eliten der Residenzstadt Weimar und der Universitätsstadt Jena“ aus, verstanden als „größter Austausch von Gedanken, Meinungen, Werken“.10 Die mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung der Orte Weimar und Jena nach außen hin über die zahlreichen in ihren Mauern redigierten und produzierten Presseerzeugnisse sind durch Werner Greiling mit umfassender Gründlichkeit erforscht und damit beide Orte als Teil einer Medienlandschaft

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Vgl. Felicitas MARWINSKI, Von der „Societas literaria“ zur Lesegesellschaft. Gesellschaftliches Lesen in Thüringen während des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts und sein Einfluß auf den Emanzipationsprozeß des Bürgertums, Diss. phil. (masch.), Jena 1982, bes. S. 131; dazu Jens RIEDERER, Aufgeklärte Sozietäten und gesellige Vereine in Jena und Weimar zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Sozialstrukturelle Untersuchungen und ein Beitrag zur politischen Kultur eines Kleinstaates, Diss. phil. (masch.) , Jena 1995, bes. S. 285 ff. 9 Klaus MANGER, Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, in: Weimar Kultur Journal Nr. 5/1999, S. 26 f., Zitat S. 27. 10 Georg SCHMIDT, Das Ereignis Weimar-Jena und das Alte Reich, in: Lothar EHRLICH/ DERS. (Hg.), Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800, Köln/Weimar/ Wien 2008, S. 11–32, Zitat S. 12 sowie Klaus MANGER, Ereignis Weimar-Jena. Zur Entdeckung des Zusammenhangs von Kultur und Dialog um 1800, in: Marek J. SIEMECK (Hg.), Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Deutsch-Polnische Tagung der Universität Warschau und des Collegium Europaeum Jenense (Jena) (Oktober 1995) in Warschau (Fichte-Studien-Supplementa, 10), Amsterdam 1998, S. 51–72, Zitat S. 63.

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von europäischem Format erkannt worden.11 Seine mediengeschichtlichen Darstellungen über Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender, Wochenschriften und ihre Verleger erfassen ganz Thüringen topographisch und typologisch als eine herausragende Presselandschaft.12 Eine solch vorbildliche Aufarbeitung der Kommunikation und Ideenzirkulation „vom Autor zum Publikum“13 hätte man sich auch für den direkten persönlichen Austausch innerhalb der beiden Städte Weimar und Jena sowie zwischen den beiden Polen der „Doppelstadt“ gewünscht. Empirisch wäre dies am ehesten im Medium der Geselligkeit zu fassen gewesen, für die das 18. Jahrhundert ganz neue Formen und Normen fand und damit enormes Modernisierungspotenzial entfaltete.14 Eine Berücksichtigung „unterschiedlicher Kommunikationszirkel“ und „Sozietätenbildungen“ war von den Antragstellern in der Planung des SFB über die Weimar-Jenaer Kultur um 1800 wohl allenfalls beiläufig mitbedacht.15 Dass hernach forschungspraktisch eine der öffentlichen Kommunikationsverdichtung gleichrangige Aufarbeitung, wie sie Werner Greiling geleistet hat, unterblieb, kann also kaum Zufall sein.16 Zur Geselligkeit wurde eher Bekanntes fortgeschrieben und allenfalls ausgebaut.17 Auszunehmen ist 11 Vgl. Werner GREILING, Weimar-Jena und Gotha um 1800. Eine Medienlandschaft von europäischem Format, in: Astrid BLOME/Holger BÖNING (Hg.), Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung (Presse und Geschichte, 36), Bremen 2008, S. 225–239. 12 Vgl. DERS., Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 6), Köln/Weimar/Wien 2003 sowie DERS./ Siegfried SEIFERT, Zur Topographie und Typologie des thüringischen Verlagswesens um 1800 als Forschungsprogramm, in: DIES. (Hg.), „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004, S. 9– 32; dazu die zahlreichen Beiträge Werner Greilings im Rahmen des SFB wie sie bibliografiert sind bei Olaf BREIDBACH/Klaus MANGER/Georg SCHMIDT (Hg.), Ereignis WeimarJena. Kultur um 1800 (Laboratorium Aufklärung, 20), Paderborn 2015, S. 365–368. 13 Vgl. Werner GREILING/Franziska SCHULZ (Hg.), Vom Autor zum Publikum. Kommunikation und Ideenzirkulation um 1800 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 49), Bremen 2010. 14 Vgl. aus der unüberschaubaren Literatur z.B. Emanuel PETER, Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert (Studien zu deutschen Literatur, 153), Tübingen 1999, bes. S. 198 ff. 15 Vgl. Olaf BREIDBACH/Klaus MANGER/Georg SCHMIDT, Forschungsprogramm des Erstantrags (1997), in: DIES. (Hg.), Ereignis Weimar-Jena (wie Anm. 12), S. 295–314, Zitate S. 307 f. 16 Vgl. Werner GREILING, Medien- und Kommunikationsgeschichte um 1800. Zur Bilanz zweier Teilprojekte, in: ebd., S. 137–157. 17 Vgl. z.B. Sebastian HUNSTOCK, Die (groß-)herzogliche Residenzstadt Weimar um 1800. Städtische Entwicklungen im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesell-

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die biografische Studie von Joachim Berger über Herzogin Anna Amalia sowie die durch Anstöße von außen veranlasste Aufarbeitung der zur nichtöffentlichen Sphäre gehörenden Arkangesellschaften.18 Für eine Aufarbeitung der Geselligkeitsgeschichte der Residenzstadt Weimar, die also noch aussteht, bietet sich die Teegeselligkeit in besonderem Maße an, da bereits jene Damen und Herren, die diese im 18. Jahrhundert pflegten, sie selbst als etwas Charakteristisches für Weimar angesehen haben. Demgegenüber sticht ins Auge, wie wenig die bisherige Forschung darüber weiß. Das überaus verdienstvolle bio-bibliographische Lexikon „FrauenGestalten WeimarJena um 1800“ zählt in seiner Einleitung neun von Frauen in Weimar und Jena unterhaltene Teegesellschaften auf.19 Sie werden als informelle unregelmäßige Zusammenkünfte bei Hofe sowie in adeligen und bürgerlichen Privathäusern kurz charakterisiert. In den biographischen Einträgen zu den einzelnen Frauen werden dann wenigstens drei weitere Teegesellschaften erwähnt, nicht aber die einführend vermerkten der Herzoginnen Anna Amalia und Louise sowie der Erbgroßherzogin Maria Pawlowna, also die höfischen Tees. Angaben über Dauer, Zusammensetzung und Aktivitäten der insgesamt 12 genannten Tees finden sich – ausgenommen des eingangs erwähnten bekannten „Teezirkels“

schaft (1770–1830), Jena 2011, S. 210 ff.; auffallend knapp Susan BAUMERT, Bürgerliche Familienfeste im Wandel. Spielarten privater Festkultur in Weimar und Jena um 1800 (Quellen und Forschungen zur Europäischen Kulturgeschichte, 4), Frankfurt a. M., S. 220–223; ebenso Wiebke von HÄFEN, Ludwig Friedrich von Froriep (1779–1847). Ein Weimarer Verleger zwischen Ämtern, Geschäften und Politik (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 19), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 302–311; faktisch nichts Neues über Weimars Geselligkeit bietet Marko KREUTZMANN, Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-WeimarEisenach 1770 bis 1830 (Veröffentlichung der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 23), Weimar/Wien 2008, S. 184–188; empirisch am ergiebigsten Julia di BARTOLO, Selbstbestimmtes Leben um 1800. Sophie Mereau, Johanna Schopenhauer und Henriette von Egloffstein in Weimar-Jena (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 17), Heidelberg 2008, bes. S. 167 ff. 18 Vgl. vorzüglich Joachim BERGER, Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach. Denkund Handlungsräume einer ‚aufgeklärten Herzogin‘ (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 4), Heidelberg 2003; sowie Joachim BAUER/Gerhard MÜLLER, „Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben“. Tempelmaurerei, Aufklärung und Politik im klassischen Weimar (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte, Beiheft 32), Jena 2000, diese und andere Arbeiten entstanden in Reaktion auf W. Daniel WILSON, Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassischromantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991. 19 Vgl. Stefanie FREYER/Katrin HORN/Nicole GROCHOWINA (Hg.), FrauenGestalten Weimar-Jena um 1800. Ein bio-bibliographisches Lexikon (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 22), Heidelberg 2009, S. 17 und passim.

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der Schopenhauer – kaum, weil es fast ausnahmslos an Vorarbeiten fehlt, auf die die Autorinnen und Autoren hätten zurückgreifen können. Dieses Forschungsdefizit, das den „genuin ‚geselligen‘ Charakter einer Weimarer Klassik“,20 betrifft, kann hier nicht behoben werden. Erst in späteren Studien wird gezeigt werden, wie sich bereits in den 1780er Jahren unter maßgeblicher Beteiligung Goethes eine weimarische Teegeselligkeit herausgebildet hat und in den 1790er Jahren zu voller Entfaltung kam, vom Familien- bis zum Theatertee. Nach Symptomen einer Krise um 1800 erneuerte sie sich 1806 schließlich mit Johanna Schopenhauers „thé litéraire“ und anderen Teezirkeln, die damit also bereits eine dritte Entwicklungsphase bildeten. Als Auftakt soll es um Tee nur als Getränk gehen, also etwa um folgende Fragen: Wann ist der Tee nach Weimar gekommen? Wo konnte man ihn kaufen und was kostete er? Welche Teesorten gab es? Wie wurde Tee zubereitet, wie serviert und getrunken? Die Beantwortung der sich daraus zwangsläufig ergebenden Frage, wie der Tee damit eine eigene Geselligkeit hervorbrachte, muss, wie gesagt, aus Platzmangel auf später verschoben werden. Als Johanna Schopenhauer an ihrem Teetisch der frischvermählten Christiane von Goethe eine Tasse Tee kredenzte, kannte man das exotische Getränk in der Residenzstadt schon seit fast 80 Jahren. Die älteste Nachricht stammt keineswegs zufällig vom Weimarer Hof, den der etwas schillernde preußische Abenteurer Karl Ludwig Freiherr von Pöllnitz (1692–1775) auf seiner Europareise am 5. September 1729 besucht hatte.21 Über den erst seit einem Jahr regierenden Herzog Ernst August (1688–1748) mit seinem kleinen Hofstaat wusste er zu berichten: „Des Morgens ist derselbe bald munter, stehet aber spät auf, trinket seinen Thée am Bette, und spielet auch wohl an demselben auf dem Violon. Unterweilen lässet er seine Baumeister und Gärtner zu sich kommen und vertreibt die Zeit mit Zeichnen. Auch finden sich seine Ministri des Morgens ein, von wichtigen Angelegenheiten mit ihm zu reden; eigentlich aber stehet er vor Mittag nicht auf.“22

20 John A. MCCARTHY, Die gesellige Klassik. Das Taschenbuch auf das Jahr 1804, in: YorkGotthart MIX (Hg.), Kalender? Ey, wie viel Kalender! Literarische Almanache zwischen Rokoko und Klassizismus. Ausstellung im Zeughaus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 15. Juni bis 5. November 1986, Wolfenbüttel 1986, S. 171–178, Zitat S. 172. 21 Vgl. zu Pöllnitz‘ Auftritten in Paris und am Hof in Versailles Dirk VAN DER CRUYSSE, „Madame sein ist ein ellendes Handwerck“. Liselotte von der Pfalz – eine deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs, München 62000, S. 554 ff. 22 Des Freyherrn von Pöllnitz Brieffe welche das merckwürdigste von seinen Reisen und die Eigenschaften derjenigen Personen woraus die vornehmsten Höfe von Europa bestehen, in sich enthalten. Aus der letzten vermehrten französischen Auflage ins deutsche übersetzt, Erster Theil, Frankfurt am Mayn 1738, S. 206.

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Vielleicht trank der Spätaufsteher seinen Morgentee anfangs noch nicht aus einer Tasse, sondern nach chinesischer Sitte aus einem henkellosen „Thee-Schälchen“, die er zugleich für seine berüchtigten alchemistischen Versuche, Gold und Porzellan herzustellen, verwendet haben soll.23 Den noch exquisiten Genuss der exotischen Teepflanze aus dem fernen China, der sich um 1700 rapide in Europa verbreitete, mag der Herzog in den Residenzen Wien, Berlin oder Dresden kennengelernt haben, die er bereist hatte.24 In seiner Porzellan-Leidenschaft erwarb der Herzog eine ansehnliche Sammlung sowie auch Bücher über Tee für seine Hofbibliothek.25 Seine Kollektion, über die er ein gemaltes Inventar anfertigen ließ, umfasste Teegeschirr sowohl aus Steinzeug wie aus frühestem Porzellan (um 1710) und natürlich besaß er auch eines der berühmten Meißener Teeservices (um 1723), wie sie für den europäischen Markt gerade erst kreiert worden waren.26 Ernst August nutzte übrigens auch ein Kaffeeservice aus Tonware (datiert auf 1731) und hat Pöllnitz zufolge nach dem Mittagessen Kaffee konsumiert, was seine Porzellansammlung ebenfalls widerspiegelt. Etwa um diese Zeit erteilte der Weimarer Herzog Schankkonzessionen für Kaffeehäuser, in denen die Untertanen seinem Beispiel folgen konnten, übrigens nicht zufällig bald zusammen mit der Möglichkeit zur Lektüre einer ersten Weimarer Zeitung.27 Dort dürfte der schwarze Trunk, immer um einiges preiswerter als Tee, nach und so populär geworden sein wie anderenorts auch. Wenig später müssen auch die herzoglichen Bediensteten in den Genuß der neuen Heißgetränke gekommen sein. Als 1748 Johann Samuel Verch (1702– 23 Vgl. Carl von BEAULIEU-MARCONNAY, Ernst August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1688–1748). Kulturgeschichtlicher Versuch, Leipzig 1872, S. 248 sowie Susanne SCHROEDER, Eisenrot und Marmorweiß. Thüringer Porzellane des Rokoko und Klassizismus im Schloss Belvedere bei Weimar, Weimar 2010, S. 5. 24 Vgl. Gert-Dieter ULFERTS (Hg.), Schloss Belvedere. Schloß, Park und Sammlung, München/Berlin 1998, S. 16 ff. 25 Vgl. Renate MÜLLER-KRUMBACH, Altes Porzellan, Weimar 1987, S. 10 u. 82. Der praktische Gebrauch der kunstgeschichtlich penibel beschriebenen Stücke spielt in den angeführten Publikationen keine Rolle und lohnt eine Erforschung. 26 Vgl. Walther SCHEIDIG, Schloß Belvedere (Weimar. Tradition und Gegenwart, 2/1965), Weimar 31969, S. 25 ff.; zum Hintergrund Henry HOBHOUSE, Fünf Pflanzen verändern die Welt. Chinarinde, Zucker, Tee, Baumwolle, Kartoffel, München 72000, S. 128 ff., hier S. 150. 27 Vgl. HUNSTOCK, Die (groß-)herzogliche Residenzstadt (wie Anm. 17), S. 229; dazu das „Avertissement das auf Hochfürstl. gnädigsten Befehl zu Weimar aufgerichteten Intelligenz-Werk, und die daher entstehende wöchentliche Policey- und Commercien-Gazette oder Zeitung betreffend“ vom 18.12.1733, abgedruckt in: Werner GREILING, „Publicitätsvehikel und Sittenspiegel“. Zur Programmatik thüringischer Intelligenzblätter. Eine Dokumentation (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte, Beiheft 35), Weimar 2004, S. 59–64.

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1764) als Prinzenerzieher nach Weimar zog, gehörte zu seinem Deputat das kostspielige Privileg des freien Genusses von Tee, Kaffee und Zucker.28 Aus der Instruktion seines Nachfolgers Graf Johann Eustach von Goertz (1737–1821) vom Juni 1762 wissen wir, dass die Prinzen Carl August und Constantin morgens immerhin von 8 bis 10 Uhr Zeit bekamen, um sich nach dem Aufstehen anzukleiden und Tee zu trinken. Der Unterricht wurde gegen 16 Uhr durch einen „gewöhnlichen Nachmittags the“ unterbrochen.29 Graf Goertz selbst trank mit seiner Gattin natürlich ebenfalls Tee, den er aber nicht etwa bei dem konzessionierten Weimarer Händler Claude Gamby kaufte, sondern sich von außerhalb anliefern ließ, wahrscheinlich aus Braunschweig, gleich für die Großmutter in Gotha mit.30 Dem konnten andere Adelige natürlich nicht nachstehen. Um 1745 hatte sich der Hofmarschall Johann Christian Wilhelm von Schardt (1711–1791), Vater der späteren Charlotte von Stein, auf seinem Grundstück in der Scherfgasse einen Gartenpavillon für seine weitverzweigte Familie einrichten lassen, der als Teesalon gedient haben soll.31 Die Mutter der beiden erwähnten weimarischen Prinzen, die 1758 verwitwete Herzogin Anna Amalia, war eine passionierte Teetrinkerin, konsumierte aber

28 Vgl. Felicitas und Konrad MARWINSKI, Von Danzig über Weimar nach Greiz. Johann Samuel Verch als Prinzenerzieher am Sachsen-Weimarischen Hof von 1748 bis 1775, in: Jens BEGER (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag (Schriften des Thüringischen Staatsarchivs Gotha, 5), Jena 2013, S. 299–333, hier S. 303; vergleichbar ist der etwas frühere Nachweis für Tee, den der königliche Sekretär 1729 am Dresdner Hof erhielt; Carl CZOCK, August der Starke und Kursachsen, Leipzig 1988, S. 210. 29 Vgl. Karl KEHRBACH, Zur Geschichte der frühesten Jugenderziehung des Großherzogs Karl August von Sachsen-Weimar, in: Paul von BOJANOWSKI (Hg.), Freundesgaben für Carl August Hugo Burkhardt zum siebenundsiebzigsten Geburtstag 6. Juli 1900, Weimar 1900, S. 33–47, Zitat S. 42. 30 Vgl. Graf Goertz an seine Frau Caroline am 6.5.1773 sowie am 5.5.1778, in: Liebesbriefe und Geheimdepechen. Aus der Korrespondenz des Grafen Johann Eustach von Goertz mit seiner Gemahlin und Friedrich II. von Preußen 1771–1782, hg. und kommentiert von Norbert LEITHOLD, Berlin 2012, S. 56 u. 295; zu Gambys Konzession Ende 1763 vgl. HUNSTOCK, Die (groß-)herzogliche Residenzstadt (wie Anm. 17), S. 172. 31 Vgl. Matthias MERKER, Pavillon am Schardtschen Palais, Scherfgasse 3, in: „… und ein kleines Feenschloß hineinzusetzen“. Pavillons in und um Weimar. Texte der 2. Weimarer Spätlese 1991 (Jahresgabe des Förderkreises Pavillon e.V.), Weimar 1991, S. 16 f. sowie Rainer MÜLLER (Bearb.), Stadt Weimar (Denkmaltopographie der Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmale in Thüringen, 4.1), Altenburg 2009, S. 466 ff. u. S. 77; dieser Pavillon ist möglicherweise abgebildet auf einem Gemälde mit drei Kartenspielern um 1755 bei Thomas von TASCHITZKI/Kai Uwe SCHIERZ, Jacob Samuel Beck. Zum 300. Geburtstag des Erfurter Malers vom 18.10.2015 bis zum 17.1.2016 im Angermuseum Erfurt, Dresden 2016, S. 170.

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auch Kaffee.32 Nach ihren öffentlichen Stadtspaziergängen auf der Esplanade nahm sie zur Erholung gern Tee in einer dort gelegenen Einsiedlergrotte.33 Nach ihrer Abdankung als regierende Herzogin umgab sie ihr Wittumspalais 1776 mit einer englischen Gartenpartie und stellte einen „Chinesischen Pavillon“ hinein, was in dieser Kombination einen Ort für Teegenuss nahelegt.34 Umfassten Anna Amalias Teeservices anfangs nur Gedecke für zwei bis sechs Personen, stieg später die Zahl der Tassen, so dass es eigener Tabletts zum Herumreichen bedurfte. Je nach Charakter ihrer Gäste konnte Anna Amalia zwischen ländlichen, exotischen und sogar erotischen Bemalungen wählen, um die Konversation anzuregen und zu beeinflussen.35 In ihrer Liebe zum Tee übertroffen wurde die Herzoginwitwe wohl von ihrer Schwiegertochter Louise, die um 1779 ein bis zwei Mal in der Woche zum Tee lud, um mit ihren „Zutrittdamen“ und Gästen Karten (tarock a l’ ombre) zu spielen.36 Tee war also über den Hof nach Weimar gekommen und blieb bis in die 1770er Jahre ein zuerst adelig-höfisches Getränk, das erst nach und nach auch bürgerliche Kreise eroberte, wobei Goethe eine zentrale Vermittlerrolle zukam. Tee kannte er seit seiner Frankfurter Kindheit und hatte in Wetzlar seinen 25. Geburtstag „feyrlich [sic] mit Thee u. freundlichen Gesichtern“ begangen.37 Natürlich wusste Goethe auch um die dem Tee zugeschriebenen Heilkräfte, z.B. gegen Katarrh.38 In Weimar trat ihm Tee zusammen mit Kaffee 32 Vgl. BERGER, Anna Amalia (wie Anm. 18), S. 137. Ein Gemälde um 1755 zeigt ihren verstorbenen Gatten Ernst August Constantin mit seiner Halbschwester Ernestine Albertine, Gräfin zu Schaumburg-Lippe an einem Tisch mit Kaffee- und Teekanne sowie Zucker oder Konfekt in: TASCHITZKI/SCHIERZ, Beck (wie Anm. 31), S. 171. 33 Vgl. Carl Wilhelm Heinrich Freiherr von LYNKER, Ich diente am Weimarer Hof. Aufzeichnungen aus der Goethezeit (1838/1841). Zum ersten Mal vollständig hg. mit Anm. und einem biografischen Nachwort von Jürgen LAUCHNER, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 34. 34 Vgl. Christiane OEHMIG, Pavillon am Wittumspalais, in: Pavillons in und um Weimar (wie Anm. 31), S. 18–20. 35 Vgl. Beatrix Freifrau von WOLFF METTERNICH, Anmerkungen zur Tafelkultur. Tafelporzellan, Kaffee- und Teeservice und Zierobjekt, in: Susanne SCHROEDER/Petra DAMASCHKE, Tafelrunden. Fürstenberger Porzellan der Herzogin Anna Amalia in Weimar, München/Wien 1996, S. 32–41 sowie die zahlreichen Abbildungen auf S. 42 ff. 36 Vgl. LYNKER, Ich diente am Weimarer Hof (wie Anm. 33), S. 74. Frühmorgens trank auch sie lesend allein ihren Morgenkaffee nach Julius SCHWABE, Erinnerungen eines alten Weimaraners an die Goethezeit, Frankfurt a. M. 1890, S. 17 u. 19. 37 Goethe an Charlotte Kestner, Frankfurt a. M. am 26.8., 27.8., 31.8.1774, in: Johann Wolfgang Goethe. Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv hg. von Georg KURSCHEID u.a., Bd. 2/I, Berlin 2009, Nr. 141, S. 118. 38 Goethe an Johann Caspar Lavater, Frankfurt a. M. am 27.9.1775, ebd., Nr. 265, S. 218.

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zuerst wohl bei den vielen Proben zu den Aufführungen des von ihm bis 1782 geleiteten Liebhabertheaters entgegen. Gegen die Ermüdung und um die Konzentration hochzuhalten standen beide Stimulanzien ständig bereit.39 Durch die anstrengende wie anregende Probenarbeit entwickelten die Laienschauspieler ein starkes Gemeinschaftsgefühl, das sich in einer trinkfreudigen Geselligkeit ausdrückte.40 Die Dilettanten-Bühne hatte sich bekanntlich aus drei Theatergruppen, zwei adeligen und einer bürgerlichen, zusammengefunden.41 Adelige und bürgerliche Laienschauspieler tauschten ihre Rollen, der Hofjunker Johann Georg Leberecht von Luck (1751–1814) spielte einen „Schweinmetzger“. So konnte aus einer Hauptrolle bei Hofe eine Nebenrolle auf dem Theater werden, die abzulehnen als unschicklich galt. Es spricht einiges dafür, in der Liebhaberbühne ein wesentliches Verbreitungsmedium für Tee auch unter Weimars bürgerlichen Hofleuten zu sehen. Trotz dieser gut betuchten Abnehmer war es in Weimar selbst offensichtlich lange nicht möglich, Tee in guter Qualität zu kaufen. Johann Gottfried Herder bezog ihn 1778 aus seiner Rigaer Heimat über seinen Verleger Johann Friedrich Hartknoch.42 Dieser kaufte Tee auch auf der Leipziger Messe, zusammen mit einem „schönen Chinesischen Zeug“, einer Art Schlafrock für Herders Gattin Caroline, nicht ohne seinen Aufwand für die Geschenke zu betonen: „Der Zeug und der Thee sind jetzt rare Waare, weil der Handel zwischen Rußland und China seit einiger Zeit gehemmt ist.“43 Noch 1788 wollte Caroline Herder nicht auf die Rigaer Lieferungen verzichten: „Sie haben mich durch Ihren vortrefl. Thee so verwöhnt, daß mir kein andrer schmeckt […] ich bitte, mir für Geld u. gute Worte, wieder 1 Pfund mitzubringen.“44

39 Vgl. Gisela SICHARDT, Das Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung. Beiträge zu Bühne, Dekoration und Kostüm unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung Goethes zum späteren Theaterdirektor (Beiträge zur Deutsche Klassik, 5), Weimar 1957, S. 103 ff. 40 Vgl. Alphons PEUCER, Das Liebhaber-Theater am Herzoglichen Hofe zu Weimar, Tiefurt und Ettersburg 1775–1783, in: Weimar’s Album zur vierten Säcularfeier der Buchdruckerkunst am 24. Juni 1840, Weimar [1840], S. 52–74, bes. S. 69 ff. 41 Vgl. LYNKER, Ich diente am Weimarer Hof (wie Anm. 33), S. 49 f. 42 Vgl. Johann Gottfried Herder an Johann Friedrich Hartknoch am 4.1.1778, in: Johann Gottfried Herder. Briefe, bearb. von Wilhelm DOBBECK und Günther ARNOLD, Bd. 4, Weimar 1986, Nr. 31, S. 53. 43 Johann Friedrich Hartknoch an Herder, Leipzig am Sonntag nach Himmelfahrt [28.5.]1786, in: Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß, hg. von Heinrich DÜNTZER und Ferdinand Gottfried von HERDER, Leipzig 1861 (ND Hildesheim/New York 1981), Bd. 2, Nr. 92, S. 102. 44 Caroline Herder an Johann Friedrich Hartknoch am 8.12.1788, in: Herder. Briefe (wie Anm. 42), Bd. 6, Weimar 1989, Nr. 8, S. 300.

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Als der Teehandel zwischen China und Russland ganz zum Erliegen kam, versprach Hartknoch eine Sendung guten Tees aus Kopenhagen.45 Etwa um die gleiche Zeit klagte auch eine andere Dame, wahrscheinlich handelt es sich um Luise von Imhoff (1750–1803), die Schwester Charlotte von Steins, über Lieferschwierigkeiten: „Ich habe keinen Thee gekricht, die Lore ist noch nicht wieder hier, und die Lotte Kalb, zu der ich geschickt habe, lies mir sagen, daß er ihr auch ausgegangen wäre. Was soll ich nur machen? So gut als ihn Ordelly hier hat, kannst du ihn auch in Rudolstadt bekommen oder vielleicht von der Beulwitz, die dir gerne mit etwas aushelfen wird.“46 In ihrer Not müsse sie „in Ermangelung eines beßern den schlechten Thee von Ordelly“ trinken. Gemeint ist die Süßwarenhandlung mit Weinstube des Italieners Stefano Andrea Ortelli (1737–1792) am Bornberg, die diesbezüglich also keinen höheren Ansprüchen genügte.47 In unmittelbarer Nachbarschaft betrieb der „Handelsjude“ Jacob Löser (1753–1818) seinen Gemischtwarenladen, in dem auch russischer Tee zu haben war.48 Mit schlechtem Tee lief man allerdings leicht Gefahr, seine Gäste regelrecht zu beleidigen.49 Die vergleichsweise rasche Popularität des Teegetränks in Weimar erklärt sich nicht zuletzt mit einer ausgeprägten Anglophilie. Englischen Geschmack hielt man schon vor dem Erscheinen der Zeitschrift Journal des Luxus und der

45 Vgl. Johann Friedrich Hartknoch an Caroline Herder, Riga am 3.1.[/14.1.]1789, in: Von und an Herder (wie Anm. 43), Nr. 97, S. 106. 46 Landesarchiv Thüringen-Staatsarchiv Rudolstadt, Familienarchiv Großkochberg F 826, Bl. 44 f.; dort auch folgendes Zitat. Für diesen wichtigen Hinweis und andere Belegstellen dankt der Autor Frau Beate Hölscher (Osnabrück) sehr herzlich und folgt ihr in Zuschreibung und Datierung; zu Schillers späterer Schwägerin Karoline von Beulwitz kurz Christian HAIN, Friederike Sophie Caroline Auguste von Wolzogen, geb. von Lengefeld, gesch. von Beulwitz (1763–1847), in: FREYER/HORN/GROCHOWINA (Hg.), FrauenGestalten (wie Anm. 19), S. 400 f.; zu Charlotte von Kalb kurz Katrin HORN, in: ebd. S. 205–207; mit „Lore“ ist deren Schwester Friederike Eleonore Sophie von Kalb gemeint, nach: Herder. Briefe (wie Anm. 42), Bd. 13, Weimar 2009, S. 212. 47 Vgl. Rita SEIFERT, Von Italien nach Weimar – Ansiedlung italienischer Kaufmannsfamilien seit dem 18. Jahrhundert, in: Animo Italo-Tedesco. Studien zu den ItalienBeziehungen in der Kulturgeschichte Thüringens, hg. von Siegfried SEIFERT im Auftrag der Deutsch-Italienischen Gesellschaft in Thüringen (DIGIT) e.V., Folge 5/6, Weimar 2008, S. 287–312, hierzu S. 293. 48 Vgl. Eva SCHMIDT, Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik (Weimarer Schriften, 48), Weimar 1993, S. 42. 49 Vgl. Johanna Frommann an Sophie Reimarus, Jena am 20.5.1803, nach: Betty PINKWART, Das Haus des Verlegers Carl Friedrich Ernst Frommann als kultureller Kommunikationsort um 1800, Magisterarbeit Jena 2010, S. 87.

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Moden in jeglicher Hinsicht für vorbildlich.50 Man wusste um die chinesische Herkunft des Tees, wenn auch lange nichts Genaues über die Teepflanze selbst, doch eigentlich galt er als englisches Modegetränk, „exotic, exciting and expensive“.51 Kaum verwunderlich also, dass nach allgemeiner Meinung im Hause des seit 1791 in Weimar ansässigen englischen Adeligen Charles Gore (1729–1807) der anerkanntermaßen beste Tee bereitet wurde, der stundenlang zu brillianten Diskussionen angeregt habe, wie ein englischer Landsmann in einem Lobgedicht niederlegte: „Friend Gore, your Tea was most refreshing/When we had been for hours a threshing/Admist the brilliant tribe!“52 Auch von Goethe wissen wir, dass er englischen Schwarztee bevorzugte, den er sich in größeren Portionen etwa halbjährig aus Hamburg liefern ließ.53 Zwar lästerte Goethe gern über das „Hamburger Teewasser“, doch wenn er für das Pfund Tee mit 1½ Reichstalern das Gleiche wie für Schokolade bezahlte, kann es sich nur um gute Qualität gehandelt haben.54 Allerdings „verfeinerte“ auch Goethe nach englischer Sitte, nahm „rohm zu the“, also Rahm, und reichlich Zucker.55 Billiger Tee war ihm offenbar auch nicht fremd. Laut seinem Rechnungsbuch reichte Goethe für eine „Theegesellschaft“ am 27. Januar 1791 Süßes für nicht weniger als 5 Reichstaler (rt) und 7 Groschen (gr), darunter Kuchen für 1 rt/19 gr, „Kreppel“ für 16 gr, Bisquit für 16 gr und „Arme Ritter“ für 18 gr; hingegen gab er für „Raam und Thee“ nur 7 gr aus.56 Mit dieser süßen Schlemmerei als Grundlage wagten sich die Gäste zum anschließenden Ball. Um seine Güte zu prüfen probierte der Kenner den Tee beim Direktkauf ohne 50 Vgl. Gerhard WAGNER, Von der galanten zur eleganten Welt. Das Weimarer Journal des Luxus und der Moden (1786–1827) im Einflußfeld der englischen industriellen und der Französischen Revolution, Hamburg 1994, bes. S. 232 ff. 51 Stephanie PICKFORD, Storm in a Teacup, in: DIES. (Hg.), Tea & Coffee in the Age of Dr Johnson. Published by Dr Johnson’s House Trust, London 2008, S. 47–56, Zitat S. 47. 52 Heide SCHULZ, Weimars schönster Stern. Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach. Quellentexte zum Entstehen einer Ikone, Heidelberg 2011, S. 210; zu Gore und seinen beiden Töchtern vgl. Effi BIEDRZYNSKI, Goethes Weimar. Das Lexikon der Personen und Schauplätze, Zürich 21993, S. 170 f. 53 Vgl. Ulrike MÜLLER-HARANG, „Ich bitte Gott, dass er mich täglich haushälterischer werden lasse“, in: Vera HIERHOLZER/Sandra RICHTER (Hg.), Goethe und das Geld. Der Dichter und die moderne Wirtschaft. Ausstellung im Frankfurter Goethe-Haus/Freies Hochstift 14. September bis 30. Dezember 2012, [Frankfurt a. M. 2012], S. 224 f. 54 Detlev W. SCHUMANN, Goethes Beziehungen zu Nordelbingen und Nordelbiern, in: Nordelbingen. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte 50 (1981), S. 225; dazu Vulpius an Goethe (wie Anm. 4). 55 Vgl. GSA, 34/VI,7, Sonderrechnung für Januar 1786: 9 Pfennige für „rohm zu the“ und 2 Groschen für „1/2 Pfund Zucker zum the“. 56 GSA, 34/XIII, 3,1.

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Milch und Zucker.57 Beim eigentlichen Konsum wollten die Europäer jedoch nicht darauf verzichten, um die bittere Note, die den Chinesen so wichtig war, abzumildern. So genoß ihn Schillers Sohn Ernst sogar mit Sauermilch als Beilage.58 Nach 1810 existierten in Weimar wohl mindestens zwei einschlägige Anbieter. Der Kaufmann Friedrich Grimm bot in seinem Geschäft am Markt (neben dem bekannten Gasthof „Elephant“) Citronat, italienische Maronen und „feine Thee‘s“ an.59 In seinem ebenfalls am Markt gelegenen Geschäft waren bei Carl Theodor Theuß u.a. „feine Chokolade, verschiedene Sorten Thee“ zu haben, „alles um möglichst billige Preise“.60 Doch auch diese Tees scheinen den besonderen Ansprüchen eines kultivierten „thé litéraire“, wie ihn die Schopenhauer führte, nicht genügt zu haben, denn noch 1826 bestellte sie für sich in Frankfurt am Main: „Ich schäme mich, lieber Goulet, daß ich Sie wieder belästigen muß, aber ich kann mir nicht anders helfen […]. Ich bin wieder in Theenoth und bitte Sie mir 4 Pfund Haysan und 2 [Pfund] Pecco baldmöglichst zu schicken. Den Haysan, wie ich ihn das letztemal bekam, den Pecco aber von einer etwas besseren Sorte, wenn er auch einen fl[orin] theuerer ist, oder auch etwas mehr. Der Thee ist aber glaube ich etwas im Preise gefallen, doch das thut nichts bei einer so unbedeutenden Kleinigkeit.“61

Hayson oder auch Haysan galt als feinster Grüntee, zu erkennen an seinen „bläulichgrünen, zylindrisch […] gerollten seidenhaarigen Blättern“; Pecco oder auch Pekoe als feinster Schwarztee, dessen dunkelbraune Blätter, „wenn er recht gut ist, kleine weiße Spitzen“ zeigten.62 Da die Schopenhauer wohl meist drei 57 Vgl. Gottlob GERLACH, Der elegante Kaffee- und Theetisch oder Anweisung, wie man das Lob, eine Gesellschaft delikat und doch wohlfeil, bewirthet zu haben, erhalten kann. Ein Handbuch für Damen, Kaffee- und Gastwirthe, Erfurt 1841, S. 11. 58 Vgl. Ernst von Schiller an Charlotte von Schiller, Heidelberg am 13.5.1812, in: Schillers Sohn Ernst. Ein Psychogramm in Briefen, hg. von Hilde LEHMANN, Frankfurt a. M./ Leipzig 2002, S. 64. 59 Weimarisches Wochenblatt, Nr. 99 vom 13.12.1814, S. 470; dazu ebd., Nr. 27 vom 2.4.1816, S. 130. 60 Ebd., Nr. 98 vom 13.12.1806, S. 424; dazu ebd., Nr. 11 vom 8.2.1809, S. 42. 61 Johanna Schopenhauer an [?] Goulet in Frankfurt a. M. am 21.3.1826, in: Damals in Weimar. Erinnerungen und Briefe von und an Johanna Schopenhauer, ges. und hg. von H[einrich] H[ubert] HOUBEN, Berlin 21929, S. 337. 62 A[dolf] BEYTHIEN/Ernst DREßLER, Merck’s Warenlexikon für Handel, Industrie und Gewerbe. Beschreibung der im Handel vorkommenden Natur- und Kunsterzeugnisse, Leipzig 71920 (ND Waltrop/Leipzig 2004), S. 443 sowie Der elegante Theetisch, oder die Kunst, einen glänzenden Zirkel auf eine geschmackvolle und anständige Art ohne großen Aufwand zu bewirthen, hg. von François le GOULLON, Großherzoglich Sächsisch-Weimarischer Mundkoch, Weimar 41829 (ND Leipzig 1985), S. 17. Die Erstauflage erschien 1809.

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bis vier Mal am Tag Tee zu sich nahm, früh, mittags und nachmittags, noch vor ihren eigentlichen Teegesellschaften, muss sie schon aus Kostengründen unterschieden haben zwischen teurem Tee dafür und gewöhnlichem Tee für den alltäglichen Hausgebrauch.63 Obwohl der Tee länger als Kaffee ein Luxusgut blieb, gab es frühzeitig auch „Thee von jeder anderen Art“, billiger sogar als Kaffee.64 Zur Zeit der Kontinentalsperre 1811, also in einer absoluten Hochpreisphase, war dieser gewöhnliche Tee mit Einfuhrzoll (Impost) belegt, das Pfund allerdings nur mit 4 Groschen und einem Pfennig, während für den exquisiten grünen Haysan nicht weniger als das Sechsfache und für geringeren Grüntee immer noch das Vierfache anfiel. Teekauf war, was in der Forschung zu wenig Beachtung findet, vor allem eine Qualitätsfrage.65 Nach seiner großen Steuerreform von 1821 erhob Carl August als Landesherr im Gegensatz zu den inländischen Getränken Bier und Wein auf Tee und Kaffee keinen Impost mehr.66 Möglicherweise wollte auch er damit den Alkoholgenuss vor allem in den unteren Schichten eindämmen.67 Im europäischen Diskurs galt Tee lange zwar als ein gewünschtes nichtalkoholisches „Reizmittel, welches die Lebensthätigkeit des Körpers befördert“,68 aber auch den Magen angreift und deshalb nicht nüchtern, sondern wenigstens mit etwas Backwerk genossen werden sollte.69 Hartnäckig hielt sich das Vorurteil, Tee sei – zumindest in großen Mengen – gesundheitsschädlich, insbesondere für Frauen, deren Gemüt er übermäßig erhitze. Andere behaupteten je nach eigener Vorliebe, schwarzer oder grüner Tee, verursache Kopfschmerzen.70 Um 63 Vgl. Ernst von der Malsburg an Ludwig Tieck, Escheberg am 8.8.1824, in: Damals in Weimar (wie Anm. 61), S. 326 f.; dazu Johanna an Arthur Schopenhauer am 7.11.1806, ebd. S. 43. 64 Tarifliste zum Colonialwaren-Impost, Beilage zum Weimarischen Wochenblatt, Nr. 1 vom 2.1.1811; Johannes SCHMIDT, Aeltere und neuere Gesetze, Ordnungen und CircularBefehle für das Fürstenthum Weimar, Bd. 11, Jena 1819, S. 105. 65 Dies betonte schon Wolfgang SCHIEVELBUSCH, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, Frankfurt a. M. 1992 (zuerst 1980), S. 94. 66 Vgl. Fritz HARTUNG, Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775–1828, Weimar 1923, S. 362. Nach einer Bemerkung sind Kaffee und Zucker vormals sogar zollfrei gewesen, was, so darf geschlossen werden, dann auch für Tee gegolten haben dürfte; dies im Brief der Gräfin Goertz an Graf Goertz am 30.4.1778, in: Liebesbriefe und Geheimdepechen (wie Anm. 30), S. 288. 67 Vgl. Franco CARDINI, Europa und der Islam. Geschichte eines Mißverständnisses, München 2000, S. 251. 68 GERLACH, Der elegante Kaffee- und Theetisch (wie Anm. 57), S. 12. 69 Vgl. Fisch mit Parmesan. Rezepte aus dem Goethe-Haus, hg. u. mit einem Vorwort von Werner LIERSCH, Chemnitz 1991, S. 63 ff. 70 Vgl. die allerdings ironische Bemerkung von Henriette von Pogwisch über ihre Tochter Ottilie von Goethe in einem Brief am 5.[10.]1832, in: Ottilie von Goethe. Tagebücher

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den grünen Teesorten von ihrer Schärfe und „nachteilige[n] Wirkung auf die Nerven“ zu nehmen, empfahl François le Goullon (1757–1839), bis 1807 Mundkoch der Herzogin Anna Amalia, denselben besten Schwarztee (Pecco) beizumischen.71 Die erheblichen Qualitätsunterschiede erlaubten es, dass Tee auch die weniger begüterten Schichten erreichte, obgleich er nicht – wie Kaffee – zum eigentlichen Volksgetränk wurde. Das Eintrittgeld für die ab 1770 stattfindenden Redouten, karnevaleske Maskenbälle, die allen Bürgerinnen und Bürgern oberhalb des Dienstpersonals offen standen, betrug 16 Groschen für Musik, Beleuchtung, Heizung sowie Tee zur Erfrischung zwischen den teils wilden Tänzen.72 Auf den 1789 nach Londoner Vorbild eingerichteten Vauxhalls, den für nun wirklich jedermann zugänglichen Sommervergnügen im Ilmpark, wurden an einer Bude neben Limonade und Eis auch Kaffee und Tee verkauft.73 Bei Letzerem standen dem dichtenden Bibliotheksakzessisten Ernst August Schmid (1746–1809) gewiss nicht ohne Grund vor allem auf den Blumenbänken ruhende Teetrinkerinnen vor Augen: „Bewegung herrscht mit Ruh harmonisch hier vermählet/ Wie das Vergnügen heischt und eigne Laune wählet;/ Es ladet hie und da manch freundlich Kanapee/ Den Wandler ein, zu ruhn – die Dame zu dem Thee.“74 Auch auf einem anderen Volksfest, dem nach dem Verbot der Vauxhalls wiederbelebten Vogelschießen am 1805 neu erbauten Schießhaus spielte Tee eine nicht unerhebliche Rolle, obgleich wohl weniger als Getränk – Bier und Wein flossen in Strömen –, so doch als Teegeschirr, das auf sehr beliebten Lotterien zu gewinnen war.75 1811 kam in Magdala bei Weimar ein Kaffee- und

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und Briefe von und an Ottilie von Goethe, hg. und eingeleitet von Heinz BLUM, Sonderband: Henriette von POGWISCH, Weimar im Jahr 1832. Briefe an Adele Schopenhauer, Wien 1964, S. 47. Der elegante Theetisch (wie Anm. 62), S. 17. Vgl. Weimarische Wöchentliche Anzeigen, Nr. 6 vom 20.1.1770, S. 22; dazu ebd., Nr. 99 vom 12.12.1770, S. 398. Zur Organisationsgeschichte der Redouten vgl. Volker WAHL, „Bal en Masque oder sogenannte Redoute“. Forschungen zur Geschichte der öffentlichen Redouten in Weimar 1770–1835, in: Weimar-Jena. Die große Stadt. Das kulturhistorische Archiv 8 (2015), H. 4, S. 319–351. Vgl. Weimarische Wöchentliche Anzeigen, Nr. 46 vom 10.6.1789 u. Nr. 29 vom 10.4.1790; zu diesem Volksvergnügen, das eine eigene Untersuchung verdient, kurz Susanne MÜLLER-WOLFF, Ein Landschaftsgarten im Ilmtal. Die Geschichte des herzoglichen Parks in Weimar (Schriftenreihe des Freundeskreises Goethe-Nationalmuseum e.V., 3), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 226 ff. [Ernst August SCHMID], Der Park bey Weimar. Eine Schilderung, Weimar 1792 (unpag.). Vgl. z.B. Weimarisches Wochenblatt, Nr. 64 vom 10.8.1819, S. 296; ebd., Nr. 70 vom 31.8.1821, S. 338; dazu Jürgen BEYER, „Die neuen Schiess und Lust Orts Anlagen“. Zur Geschichte des Weimarer Schießhauses und seiner Freianlagen, in: DERS./Ulrich

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Teeservice von der englischen Firma Wedgewood zur Versteigerung.76 Beide ehemals exotischen Getränke hatten also das platte Land erreicht, Tee indes für die breite Masse oft nur in Form „Inländischer Stellvertreter des chinesischen Thees“, also als Surrogat.77 Kaffee konnte als preiswerteres Weck- und Arbeitsgetränk auch die unteren Schichten vollständig erobern und war durch die allgemein zugänglichen „Caffee-Schencken“78 zu einem auch öffentlichen Volksgetränk geworden.79 Das führte dazu, dass der Adel und das gehobene Bürgertum zunehmend dem Tee den Vorzug gaben, um sich bewußt abzusetzen.80 Da auch Tee längst eine gewisse Popularität erlangt hatte, musste eben die Qualität – feiner statt gemeiner Tee – den Unterschied machen.81 Ins Licht der Weimarer und damit auch breiteren Öffentlichkeit war Tee bereits Mitte der 1780er Jahre getreten. Im Juli-Heft 1784 hatte die von Christoph Martin Wieland und dem jungen herzoglichen Sekretär Friedrich Justin Bertuch herausgegebene Zeitschrift Der Teutsche Merkur gegen den Tee als Spekulationsware, die den Holländern Gewinnspannen bis zu 500 % und den Schmugglern märchenhafte Profite beschere, polemisiert. Schuld trügen Englands Damen, sie fänden „Geschmack an dem Zauber-Tranke, die Tea-table wurden ihr liebster Sammelplatz“ für das zweifelhafte „Vergnügen, sich Magen und Blut mit warmen Theewasser zu verderben.“82 Damit hat sich die wirkungsmächtige „Kulturzeitschrift“,83 die deutschlandweit gelesen wurde, zwar nicht als erste, aber wohl als eine der ersten in den englischen Tee-Diskurs eingeschaltet; dabei

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REINISCH/Reinhard WEGNER (Hg.), Das Schießhaus zu Weimar. Ein unbeachtetes Meisterwerk von Heinrich Gentz, Weimar 2016, S. 49–70. Vgl. Weimarisches Wochenblatt, Nr. 44 vom 4.6.1811, S. 176. Ebd., Nr. 23 vom 20.3.1812, S. 110. Verordnung der Fstl. General-Polizei-Direktion zur Feuer-Ordnung vom 24.2.1781, in: SCHMIDT, Aeltere und neuere Gesetze (wie Anm. 64), Bd. 3 (1801), S. 175. Vgl. Helmut MÜLLER, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur (Schriften zur Volksforschung, 3), Berlin 1969, S. 132 ff. Vgl. Gunther HIRSCHFELDER, Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute Frankfurt a. M./New York 2001, bes. S. 156. Vgl. die Argumente gegen die hierfür zu simple These vom „gesunkenen Kulturgut“ bei Annerose MENNIGER, Genuss im kulturellen Wandel. Taback, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 102), Stuttgart 2004, S. 277 ff. Vgl. [Anonym], Englands Theekessel, in: Der Teutsche Merkur, Nr. 7 vom Juli 1784, S. 56–59, Zitate S. 57–59. Vgl. Andrea HEINZ, Auf dem Weg zur Kulturzeitschrift. Die ersten Jahrgänge von Wielands Teutschem Merkur, in: DIES. (Hg.), „Der Teutsche Merkur“ – die erste deutsche Kulturzeitschrift? (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 2), Heidelberg 2003, S. 11–36.

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jedoch dessen Negativklischees zunächst nur eins zu eins kolportiert: Tee sei ein Getränk der Frauen, denen das gar nicht bekomme.84 Im Jahr 1786 brachte der erwähnte Bertuch mit dem Journal des Luxus und der Moden ein eigenes Blatt heraus, das später berühmteste seiner Art in Deutschland.85 Zum Beschluss des ersten Jahrgangs belehrte der Herausgeber, gewiss Bertuch selbst, seine Leser, dass Kaffee und Tee zwar zum nützlichen Luxus gehörten, weil sein Handel viele Menschen ernähre, polemisiert aber sonst ganz im Sinne des Teutschen Merkur.86 Doch seine Polemik war alles andere als aufrichtig, denn erst im März 1786 hatte er selbst Versuche durchgeführt, englische Teemaschinen von Spiritus- auf Holzkohlefeuerung umzustellen, um sie für den Inlandsbedarf brauchbarer zu machen.87 Der umtriebige Unternehmer Bertuch, immer auf der Suche nach einem lohnenden Geschäft, witterte also Absatzchancen. Er gewann den Jenaer Hofkupferschmied Christian Carl Gottlob Pflug für die Herstellung von Teemaschinen, von denen er Anfang 1788 selbst ein Modell erhielt, ein zweites blieb in Jena.88 Die Pflug’schen Produkte sollten sich bald zum Verkaufsschlager entwickeln.89 Immer wieder bewarb Bertuch in sei-

84 Vgl. die chronologische Bibliographie von Tobias FRAUND, Die kulturelle Bedeutung von Tee im Großbritannien des 18. Jahrhunderts. Self-Fashioning, Kollektivsymbol und nationale britische Identität (Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft, 43), Trier 2010, S. 177 ff.; zum zugehörigen Gender-Diskurs S. 79 ff. 85 Vgl. Katharina MIDDELL, „Die Bertuchs müssen doch in dieser Welt überall Glück haben“. Der Verleger Friedrich Justin Bertuch und sein Landes-Industrie-Comptoir um 1800, Leipzig 2002, S. 66 ff. 86 Vgl. An das Publicum zum Schlusse des Jahres, in: Journal des Luxus und der Moden, hg. von F[riedrich] J[ustin] BERTUCH und G[eorg] M[elchior] KRAUS, zitiert aus dem von Werner SCHMIDT bearb. Nachdruck, 4 Bde. (1786–1825), Leipzig 1967–70, hier: Teilnachdruck aus den Bänden 1–10 (1786–1795), Leipzig 1967, S. 33–39, Zitat S. 36 f. Das Journal des Luxus und der Moden ist von Jahrgang 2–27 (1787–1812) im Internet einsehbar unter: https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpjournal_00000029?XSL.q=journal% 20des%20luxus (letzter Zugriff: 23.4.2019). 87 Vgl. Friedrich Justin Bertuch an Christian Carl Gottlob Pflug am 16.3.1786, hier nach dem Regest von Uwe PLÖTHNER, Der Hofkupferschmied Christian Carl Gottlob Pflug (1747–1825), in: „Wie zwey Enden einer großen Stadt …“. Die „Doppelstadt JenaWeimar“ im Spiegel regionaler Künstler 1770–1830, Katalog der Städtischen Museen Jena und des Stadtmusems Weimar, Teil 1: Jenaer Künstler, Rudolstadt 1999, S. 29–39, hierzu S. 36. 88 Vgl. Friedrich Justin Bertuch an Christian Carl Gottlob Pflug am 3.1.1788, ebd. 89 Vgl. Reiner FLIK, Kultur-Merkantilismus? Friedrich Justin Bertuchs „Journal des Luxus und der Moden“ (1786–1827), in: Angela BORCHERT/Ralf DRESSEL (Hg.), Das Journal des Luxus und der Moden. Kultur um 1800 (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 8), Heidelberg 2004 , S. 21–55, hier S. 36.

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ner Modezeitschrift auch Teegeschirr, wie z.B. „Englisches Thee-Zeug“, bestehend aus Teeurne, Teekanne, Milchkännchen, Zuckerdose und Teeglas.90

Abb. 2: Darstellung eines Englischen Teegeschirrs aus dem „Journal des Luxus und der Moden“ (August 1788)

Die oft wie Urnen aussehenden Teemaschinen funktionierten meist nach dem Prinzip eines „Samowars“, also als Selbstkocher. In das Metallbehältnis wurde Wasser eingefüllt und durch einen inneren Kohleschacht oder eine darunter gestellte Spiritusflamme zum Kochen gebracht. In der Teekanne befand sich ein extrem starker Teesud, den die Hausherrin vorbereitete und jedem Gast auf Wunsch einschenkte, aber nur soviel, dass je nach Geschmack die Tasse immer mit dem heißen Wasser aus dem Samowar aufzufüllen war.91 So konnten sich alle ihren Tee in jeweils gewünschter Stärke immer wieder selbst mischen und nachfüllen, weshalb sein Genuss als individueller galt als der von Kaffee. Ungewöhnlich war eine der beiden Teemaschinen im Hause Friedrich Schillers, eine Kastenform, wie ein kleines Öfchen, auf vier Tatzenfüßen freistehend über 90 Journal des Luxus und der Moden, August 1788, S. 340–342, Kupfertafel 24. Siehe dazu auch Journal des Luxus und der Moden, Teilnachdruck der Bände 1–10 (1786–1795) (wie Anm. 86), S. 381 u. Tafel 3 (Teeurne auf Piedestal 1787); Teilnachdruck aus den Bänden 11–20 (1796–1805) (wie Anm. 86), Leipzig 1968, S. 203 f. u. Tafel 24 (ReiseTheemaschine 1803); Teilnachdruck aus den Bänden 21–30 (1806–1815) (wie Anm. 86), Leipzig 1969, Tafel 30 nach S. 224 sowie S. 386 (Teekessel mit Untersatz 1811). 91 Vgl. Der elegante Theetisch (wie Anm. 62), S. 13 ff.

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einem Kohlepfännchen.92 Im Schiller’schen Haushaltsetat für 1802 machten die Ausgaben für Tee, Kaffee und Zucker den drittgrößten Posten aus.93 In edler Ausführung konnten Teemaschinen einen Wert darstellen und sogar als diplomatisches Geschenk dienen. In langwieriger diplomatischer Mission hatte der Geheime Rat Wilhelm Ernst Friedrich Freiherr von Wolzogen (1762–1809) in Russland 1801 die Heirat des Erbprinzen Carl Friedrich mit der Zarentochter Maria Pawlowna ausgehandelt und bekam als höfisches Präsent eine russische Teemaschine.94 Unter dem Einfluss der Erbprinzessin, die 1804 in Weimar mit großem Pomp eintraf und ihre russische Teekultur mitbrachte, kamen große Teeurnen in Mode. Wieder nutzte Bertuch die Gunst der Stunde und ließ 1808 den Jenaer Kupferschmied Pflug eine „geschmackvolle Theemaschine“ anfertigen, in der Hoffnung, damit möglichst viele Weimarer Bürgerinnen und Bürger zu einer Bestellung anzuregen, um es der russischen Großfürstin nachzutun.95 Die köchelnde Teemaschine, die ständig beaufsichtigt werden musste, stellte man zur Sicherheit gern auf einen mit Metall bedeckten Teetisch, der in der Regel rund war und also vor der Hand alle Umhersitzenden gleichstellte.96 Der Tee mit seiner stimulierenden Wirkung konnte so eine gleichrangige Konversation anregen: „Die Thee-Maschine ist der wahre Altar der Geselligkeit, und der Thee wirkt wie ein Talisman, die Menschen einander näher zu bringen, und die Gesellschaft zu vereinigen.“97 Wiederholt thematisierte das Modejournal die Praxis des Teetrinkens und die dadurch hervorgebrachte Geselligkeit, um auch auf diesem Weg den Absatz der

92 Vgl. Ernst-Gerhard GÜSE/Jonas MAATSCH (Hg.), Schillers Wohnhaus. Klassik Stiftung Weimar 2009, S. 58 f. mit Abb., dazu die Erläuterungen der zuständigen Kustodin in Thüringer Allgemeine vom 27.9.2008. 93 Frank DRUFFNER/Martin SCHALLHORN, Götterpläne und Mäusegeschäfte. Schiller 1759– 1805 (marbachkatalog, 58), Marbach a. Neckar 2005, S. 213. 94 Vgl. Wie danke ich Ihnen. Idee und Alltag in Friedrich Schillers Rudolstädter Umfeld, hg. vom Thüringer Landesmuseum Heidecksburg und der Stadt Rudolstadt in Verbindung mit dem Freundeskreis Heidecksburg e.V., Rudolstadt 2018, S. 152 f. mit Abbildung, wie das Stück heute im Schillerhaus Rudolstadt zu sehen ist. 95 Doris KUHLES, Journal des Luxus und der Moden 1786–1827. Analytische Bibliographie mit sämtlichen […] Abbildungen der Originalzeitschrift, 3 Bde., München 2003, hier Bd. 2, S. 790; dazu Katrin PÖHNERT, Hofhandwerker in Weimar und Jena (1770–1830). Ein privilegierter Stand zwischen Hof und Stadt, Jena 2014, S. 328. 96 Vgl. Christian Friedrich GERMERSHAUSEN, Die Hausmutter in allen ihren Geschäfften, Bd. 5, Leipzig 31793, S. 818 f. 97 Apologie des Thee’s. Von einem französischen Thee-Trinker, in: Journal des Luxus und der Moden (wie Anm. 86), März 1807, S. 203 (https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ jportal_derivate_00215293/JLM_1807_H003_0028_b.tif?logicalDiv=jportal_jparticle_ 00094526 [letzter Zugriff: 30.04.2019]).

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beworbenen Teegeräte zu steigern.98 Auch hier verfolgte Bertuch die von ihm bekannte Strategie, einen Gegenstand so zu kritisieren, dass das Interesse daran umso mehr befeuert wurde. Im August-Heft 1788 konnte man lesen: „Das jetzt so sehr beliebte Thee=Trinken ist ein schädlicher Luxus, der mit andern Bequemlichkeiten und Genußen aus England zu uns herübergeschlichen und beynahe schon, sonderlich in den höheren Classen der schönen Welt, allgemein eingeführt ist. Man besucht sich einander gegen Abend zum Thee; es ist den Damen angenehm sich richtig um 6 Uhr einander beym Thee-Tische zu finden, sich traulich herum zu setzen, zu plaudern und zu scherzen. Dieß ist Englische Sitte, nun leider schon nach Teutschland verpflanzt.“99

In seiner vorgeblichen Kritik benennt der Autor wichtige Merkmale der modischen Teegeselligkeit. Als Nachahmung einer englischen Mode sei sie zwar in Deutschland inzwischen ziemlich verbreitet, beschränke sich aber noch auf die Oberschicht. Sie werde zuerst von Damen praktiziert, die dabei einen vertrauten und zwanglosen Umgang pflegten. Bertuch selbst frönte mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern längst einer ausgesprochen familiären Teegeselligkeit, die um Freunde und Verwandte erweitert werden konnte.100 Die meisten der Weimarer Tees gehörten übrigens zu den gemischtgeschlechtlichen Gesellungsformen, was geradezu als ihr Charakteristikum anzusehen ist, das es endlich aufzuarbeiten gilt.

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Vgl. die Registernachweise bei KUHLES, Journal des Luxus und der Moden (wie Anm. 95), Bd. 3, S. 303. 99 J.R.L. Ueber den modernen Luxus des Thee-Trinkens, in: Journal des Luxus und der Moden, Teilnachdruck aus den Bänden 1–10 (1786–1795) (wie Anm. 86), August 1788, S. 336–340, Zitat S. 336. 100 Vgl. Jessica ANIOL, „… so ist mein Leben jetzt zwischen vornehmen thun und häuslichen getheilt …“. Familiäre und gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten um 1800 am Beispiel Caroline Bertuchs in Weimar. Wissenschaftliche Hausarbeit für das Lehramt an Gymnasien im Fach Geschichte, Jena 2008, bes. S. 102 ff.

ALEXANDER KRÜNES VOM PRIVATEN UND GESELLIGEN LESEN

Vom privaten und geselligen Lesen zum institutionalisierten Lektüregebrauch Zur Darstellung ländlicher Lesegesellschaften in der volksaufklärerischen Publizistik Thüringens im späten Vormärz

Als sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Bücher- und Zeitschriftenmarkt immer stärker ausdifferenzierte und die Produktion von Lesestoffen sprunghaft anstieg,1 wurde in bildungsbürgerlichen Kreisen zunehmend kritisch nach dem Leseverhalten der verschiedenen Bevölkerungsschichten sowie der Wirkung von Druckschriften auf ihre Leser gefragt. Die Aufklärer und insbesondere die Volksaufklärer meinten zu erkennen, dass sich durch die Lektüre „nützlicher“ Schriften auch die Bildung des „gemeinen Mannes“ verbessern ließe.2 Dagegen 1

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Zur Entwicklung des Buch- und Zeitschriftenmarktes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert vgl. beispielsweise Herbert G. GÖPFERT, Vom Autor zum Leser. Beiträge zur Geschichte des Buchwesens, München 1977, S. 30–62; Reinhard WITTMANN, Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750– 1880, Tübingen 1982, S. 111–123; Jürgen WILKE, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, Köln/Weimar/Wien 22008, S. 78–153 u. 154–302. Zur Entwicklung in Thüringen vgl. Werner GREILING/Siegfried SEIFERT (Hg.), „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004. Vgl. hierzu u.a. Holger BÖNING, „Ist das Zeitungslesen auch dem Landmanne zu verstatten?“ – Überlegungen zum bäuerlichen Lesen in der deutschen Aufklärung, in: Ursula BRINOLD-BIGLER/Hermann BAUSINGER (Hg.), Hören. Sagen. Lesen. Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag, Bern u.a. 1995, S. 39–53; DERS., Entgrenzte Aufklärung – Die Entwicklung der Volksaufklärung von der ökonomischen Reform zur Emanzipationsbewegung, in: DERS./Hanno SCHMITT/Reinhart SIEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007, S. 13–50; Reinhart SIEGERT, Medien der Volksaufklärung, in: Ernst FISCHER/Wilhelm HAEFS/YorkGothard MIX (Hg.), Von Almanch bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800, München 1999, S. 374–387; DERS., Der „gemeine Mann“ und die Welt der Bücher um 1800, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 4 (2002), S. 32–51; Werner GREILING, Gemeinnützigkeit als Argument. Zur Publikationsstrategie der Volksaufklärung, in: Hanno SCHMITT/Holger BÖNING/Werner GREILING/Reinhart SIEGERT (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung, Bremen 2001, S. 239–258. Zu den Akteuren und Zielen der Volksauf-

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wurden jene Publikationen, denen der Nützlichkeitsaspekt fehlte und die ausschließlich der Unterhaltung ihrer Rezipienten dienten, weitgehend abgelehnt.3 So zog die Zunahme der Lesefähigkeit in den unteren Bevölkerungsschichten4 auch Folgen nach sich, die von den Volksaufklärern als negativ eingestuft wurden. Zu ihrem Missfallen registrierten sie, dass der „gemeine Mann“ oftmals ein größeres Interesse an belletristischer als an aufklärerisch-bildungsorientierter Lektüre hatte. Unter dem Schlagwort der „Lesesucht“ oder „Lesewut“ warnte man vor der vermeintlich schädlichen Wirkung einer extensiven Rezeption trivialer Literatur.5 Nicht selten wurde das Lesen, das nur dem reinen Vergnügen und dem Zeitvertreib diente, als kontraproduktiv für den Aufklärungsprozess der weniger gebildeten Bevölkerungsschichten erachtet.6 Zuweilen wurde auch

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klärungsbewegung im thüringisch-mitteldeutschen Raum vgl. Alexander KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848), Köln/Weimar/Wien 2013. Vor allem die sogenannten Räuber-, Ritter-, Geister- und Liebesromane standen in der Kritik der (Volks-)Aufklärung, vgl. Rudolf SCHENDA, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, Frankfurt a. M. 31988, S. 93–106 und öfter; DERS., Die Lesestoffe der Kleinen Leute. Studien zur populären Literatur im 19. und 20 Jahrhundert, München 1976, S. 55–77. Zu den Volkslesestoffen im Vormärz, insbesondere der Trivialliteratur vgl. außerdem Hainer PLAUL/Ulrich SCHMID, Die populären Lesestoffe, in: Gerd SAUTERMEISTER/ULRICH SCHMID (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der Deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 5: Zwischen Revolution und Restauration 1815–1848, München 1984, S. 313–338, hier bes. S. 322–330. Zur Entwicklung der Lesefähigkeit und Lesekultur seit dem späten 18. Jahrhundert vgl. Reinhard WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?, in: Roger CHARTIER/Guglielmo CAVALLO (Hg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 419–454. Vgl. Dominik von KÖNIG, Lesesucht und Lesewut, in: Herbert G. GÖPFERT (Hg.), Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens, 13. und 14. Mai 1976, Hamburg 1977, S. 89–124; Rolf ENGELSING, Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973, S. 56–68; WITTMANN, Buchmarkt und Lektüre (wie Anm. 1), S. 1–45, bes. S. 23–28. Besonders deutlich wird dies in der von Johann Adam Bergk im Jahr 1799 verfassten Schrift „Die Kunst, Bücher zu lesen“, die sich intensiv mit den um 1800 bestehenden Literaturformen und dem „richtigen“ Lektüreverhalten der verschiedenen Lesergruppen (Gebildete, Bauern, Handwerker, Kinder, Frauen etc.) auseinandersetzt. Dort heißt es u.a. im Kapitel „Uiber das lesende Publikum“: „In Teutschland wurde nie mehr gelesen, als jetzt. Allein der größte Theil der Leser verschlingt die elendesten und geschmacklosesten Romane mit einem Heißhunger, wodurch man Kopf und Herz verdirbt. Man gewöhnt sich durch die Lectüre solcher gehaltleeren Produkte an einen Müßiggang, den man nur mit der größten Anstrengung wieder austilgen kann. […] Die Lectüre von den elenden Romanen, die in Schaaren zur Welt kommen, zerstören alle Blüthen der Menschheit, werfen den Menschen in die Reihe der vernunftlosen Geschöpfe, und verscheuchen Glück

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die Befürchtung geäußert, dass der „gemeine Mann“ durch übermäßigen Konsum von Trivialliteratur zu Ansichten verleitet werden könnte, die dem Vernunftprinzip der Aufklärung widersprachen und nicht mit den Wertevorstellungen des gebildeten Bürgertums übereinstimmten. Zugleich waren sich die meisten Volksaufklärer aber einig, dass Druckschriften ein geeignetes Mittel darstellten, die Aufklärung der unteren Bevölkerungsschichten voranzutreiben.7 Es galt daher, die vielfältigen Lesestoffe aus dem Bereich der Ökonomie, Naturwissenschaft, Religion, Moral und Politik, die das „Volk“ im Sinne der Aufklärung umfassend bilden und erziehen sollten, zum einen an den Lesegeschmack der weniger gebildeten Bevölkerung anzupassen und ihr zum anderen möglichst einfach und durch gezielte Maßnahmen zugänglich zu machen. Da der Erwerb einer größeren Anzahl von Büchern und Zeitschriften für die meisten Bauern und Handwerker aufgrund der hohen finanziellen Kosten relativ schwierig zu bewerkstelligen war,8 bedurfte es zusätzlicher Wege die Lesestoffe bzw. deren Inhalte unter das „Volk“ zu bringen. Eine Möglichkeit die Rezeption von Schriftmedien zu erhöhen, war die Bildung von Lesezirkeln und Lesegesellschaften.9 Diese auf privater Initiative gegründeten Zusammen-

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und Ruhe von der Erde.“ Für Bergk sollten Bücher vor allem dem Bildungszweck dienen: „Alles Lesen muß auf die Auferweckung unserer Kräfte abzielen, und wir müssen uns in den Stand sezzen [sic!], jedes Buch das Erscheinungen des menschliches Geistes enthält, so viel, als möglich, in uns wieder zu erneuern, welches vorzüglich der Zustand ist, wo wir an Kultur und Kenntnissen am meisten gewinnen. […] Die Lectüre darf kein Betäubungsmittel unserer Kräfte, sondern ein Reiz für ihre Thätigkeit seyn. Kopf und Herz müssen durch sie mündig werden, und unsere Menschheit muß über unsere Thierheit den Sieg davon tragen.“ Johann Adam BERGK, Die Kunst Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, S. 411 f. u. 415 f. Vgl. hierzu außerdem Onno FRELS, Buch und Leser bei Johann Adam Bergk. Eine Studie zur Funktionsbestimmung und Didaktik des Lesens in der deutschen Spätaufklärung, in: Bibliothek. Forschung und Praxis 10 (1986), H. 3, S. 239–276. Vgl. hierzu grundlegend die Ausführungen in: Holger BÖNING/Reinhart SIEGERT, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, 3 Bde. [7 Teilbde.], Stuttgart-Bad Cannstatt 1990/2001/2016. Dies betraf weniger periodische, sondern vor allem monographische Schriften. Aufgrund neuer Produktions- und Vertriebsmethoden sanken die Preise für Volksbücher ab ca. 1830 allmählich und wurden damit für eine größere Leserschicht interessant. In Thüringen waren es Verleger wie Carl Joseph Meyer oder Bernhard Friedrich Voigt, die sich dieser neuen Methoden bedienten, dafür von ihren Berufskollegen aber anfangs als „Spekulationsbuchhändler“ beschimpft wurden. Vgl. KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 2), S. 210–255, hier vor allem S. 221–241 u. 253–255. Vgl. Otto DANN, Einleitung. Die Lesegesellschaften und die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft in Europa, in: DERS. (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, S. 9–28; Marlies

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schlüsse, deren Mitglieder vorrangig aus dem Bürgertum kamen, fanden sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in zahlreichen Städten, waren hingegen auf dem Land eher ein Randphänomen.10 Um dies zu ändern, wurde in volksaufklärerischen Blättern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts regelmäßig zur Gründung von Lesegesellschaften und Leseanstalten aufgerufen, deren Lektüreangebot sich an den beruflichen Bedürfnissen des Bauern- und Handwerkstandes orientieren sollte. So wurde beispielweise gleich in der ersten Ausgabe des im Jahr 1829 von Karl Herzog neu herausgegebenen und von Friedrich Frommann verlegten Thüringer Volksfreundes11 unter anderem zur „Bildung von Lesegesellschaften unter Handwerkern“ aufgerufen.12 Noch bis in die 1840er Jahre hinein nahmen volksaufklärerische Blätter wohlwollend zur Kenntnis, wenn sich in einer Dorfgemeinde einfache Bauern zu einer Lesegesellschaft oder zu einem Leseverein zusammenfanden. So informierten sie die Leser hin und wieder über die Gründung solcher Einrichtungen oder druckten die Mitteilungen der Initiatoren ab, die sich direkt an die Redaktionen der Volksblätter gewandt hatten, um damit ihre Lesegesellschaft beim anvisierten Publikum bekannter zu machen. Im Allgemeinen Volksblatt der Deutschen13 wurden beispielsweise die eingesendeten Mitteilungen zu den Lesevereinsgründungen im Dorf Witzelroda im

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PRÜSENER, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 13 (1973), Sp. 369–594. Für Thüringen vgl. Felicitas MARWINSKI, Von der „Societas litteraria“ zur Lesegesellschaft. Gesellschaftliches Lesen in Thüringen während des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts und sein Einfluß auf den Emanzipationsprozeß des Bürgertums, 2 Teile, Diss. phil. (masch.), Jena 1982. Eine systematische Erfassung der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Thüringen existierenden ländlichen Leseanstalten ist noch ein Forschungsdesiderat. Laut einer 1842 erschienenen Schrift über Volksleseanstalten, verfasst von K. G. Schmid, Archidiakon in der bei Weimar gelegenen Gemeinde Blankenhain, gab es nur wenige Leseanstalten im ländlichen Raum. So benennt Schmid – die größeren Städte außer Acht lassend – für Thüringen nur jeweils eine Leseanstalt in den beiden Kleinstädten Blankenhain und Buttstädt. Diese Zahl ist reichlich untertrieben, doch macht dieser Befund zugleich deutlich, dass ländliche Leseanstalten zu Beginn der 1840er Jahre keine häufige Erscheinung waren. Vgl. K. G. SCHMID, Über Leseanstalten, als Beförderungsmittel des Volkswohls. Zugleich enthaltend eine Darstellung schon bestehender, derartiger Institute, und begründete Angabe der für sie geeignetsten Schriften, Jena 1842, S. 25–28. Zum inhaltlichen Profil des Thüringer Volksfreundes vgl. KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 2), S. 309–324. Ueber die höhere Bildung der gewerbetreibenden Klassen, in: Der Thüringer Volksfreund. Eine Wochenschrift für Thüringen, das Osterland und Voigtland (im Folgenden: TV), Nr. 1 vom 3.1.1829, S. 9–11, hier S. 10. Zu Inhalt, Aufbau und Programmatik des Allgemeinen Volksblattes der Deutschen vgl. ausführlich KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 2), S. 325–419.

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Herzogtum Sachsen-Meiningen (1843),14 der Gemeinde Weida im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (1845)15 oder im Dorf Wölfis im Herzogtum Sachsen-Gotha (1837)16 komplett abgedruckt. In aller Regel enthielten die veröffentlichten Briefe kurze Passagen, in denen die Nützlichkeit ihrer Einrichtung für die Bildung der Landbevölkerung noch einmal unterstrichen und zur Gründung weiterer Leseanstalten aufgerufen wurde. So heißt es etwa am Schluss des Artikels zum Weidaer Leseverein: „Noch einen Wunsch hegen wir, und ihn auszusprechen drängt es uns: würden doch überall solche Vereine gegründet, damit Volksbildung und, als Folge derselben, Volkswohl sich ausbreite über das deutsche Vaterland.“17 Diese Aussage stimmte völlig mit dem Standpunkt der Herausgeber des Allgemeinen Volksblattes der Deutschen überein, die im vorangegangenen Jahrgang ihres Blattes noch in mehreren Beiträgen zur Gründung neuer Lesevereine auf dem Land angeregt hatten.18 Den Anstieg von Lesevereinigungen in den thüringischen Dörfern positiv registrierend wurde in einem dieser Artikel geäußert: 14 Sprechsaal, in: Allgemeines Volksblatt der Deutschen (im Folgenden: AVD), Nr. 28 vom 13.7.1844, S. 221 f. 15 Volksbildung und Volkswohlfahrt. Etwas über Lesevereine mit besonderer Berücksichtigung des Lesevereins zu Weida, in: AVD, Nr. 40, 1846, S. 318–322. Laut Artikel sollte der Leseverein bereits 1836 gegründet werden, scheiterte aber an fehlendem Zuspruch. So heißt es: „Am ersten September vorigen Jahres [1845] traten hier acht oder neun junge Bürger, deren einige sich dahin kaum anders als dem Namen nach, kannten, zusammen, einen Leseverein zu gründen, dessen Zweck ‚Erlangung gemeinnütziger Kenntnisse und sittliche Veredlung‘ sey. Schon im Jahre 1836 ward dieses Vorhaben hier in Anregung gebracht, fand aber keinen Anklang“. Zur Mitgliederentwicklung des Vereins wird ferner ausgeführt: „Anfänglich, wie schon gesagt, wollte unser Leseverein nicht recht gedeihen; ja er hatte sogar das Schicksal, bespöttelt zu werden, indem ihm unlautrer Zweck untergeschoben wurde, was seinen Grund darin fand, daß, weil es an einem geeigneten Orte fehlte, die gesellschaftlichen Versammlungen in einer Schänkwirthschaft gehalten werden mußten. Dessenungeachtet traten doch während dieser Zeit noch einige ältere und jüngere Männer bei, wodurch es möglich ward, ein von einer hiesigen Bürgergesellschaft gemiethetes Zimmer beziehen zu können. Von da an nahm der Verein den gewünschten Fortgang und gegenwärtig zählen wir 42 Mitglieder.“ Ebd., S. 319 u. 321. 16 Volksbildung und Volkswohlfahrt. Aus dem Dorfe Wölfis im Herzogthum Gotha, in: AVD, Nr. 46, 1846, S. 366 f. Laut Artikel wurde der Verein mit finanzieller Unterstützung der Gothaer Landesregierung gegründet. Im Jahr 1846 soll sich die Zahl der Mitglieder „auf beinahe 50“ belaufen haben. Als Versammlungsort diente die Schulstube. 17 AVD, Nr. 40, 1846, S. 322. 18 Volksbildung und Volkswohlfahrt. Die Lesevereine auf dem Lande, in: AVD, Nr. 31, 1845, S. 243 f.; Volksbildung und Volkswohlfahrt. Volkslektüre [Teil 1], in: AVD, Nr. 36, 1845, S. 283 f.; Volksbildung und Volkswohlfahrt. Volkslektüre (Schluß), in: AVD, Nr. 38, 1845, S. 300–302; Volksbildung und Volkswohlfahrt. Die Winterabend=Vorlesungen auf dem Lande, in: AVD, Nr. 36, 1845, S. 363–365.

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„Mit wahrer Freude sehen wir, wie die Winterabend Vorlesungen auf dem Lande immer mehr Anklang und Annahme finden, wie sich liebe Landbewohner um Prediger und Schullehrer sammeln, um von ihnen aus guten, nützlichen Büchern nicht nur angenehm unterhalten, sondern auch geistig angeregt, geweckt, fürs Gute gestärkt, auf dem Wege zur sittlichen Vollkommenheit und wahren Aufklärung immer weiter geführt zu werden.“19

Wie eine Lesegesellschaft für die ländliche Bevölkerung beschaffen sein sollte, wurde in den volksaufklärerischen Periodika – zumindest in jenen Blättern aus dem thüringisch-mitteldeutschen Raum – des Öfteren erörtert. Als Beispiel sei hier der 1829 anonym im Thüringer Volksfreund veröffentlichte Plan zur Errichtung von „Winter=Lesegesellschaften auf dem Lande“ angeführt.20 In dem Artikel wird vorgeschlagen, dass dem Müßiggang des Landmannes im Winter durch Leseabende entgegengewirkt werden soll. Auf diese Weise könne „man auf dem Dorf in den langen Winterabenden sich die Zeit verkürzen und angenehm und nützlich zugleich unterhalten“ werden.21 Mit Blick auf die städtischen Lesegesellschaften kam der Autor „auf den Gedanken, daß man auch auf dem Dorfe im Winter eine Gesellschaft herstellen könnte, in der man ohne großen Kostenaufwand“ und „ohne schädliche Nebenbeschäftigung durch Trunk und Spiel“ dem Landmann eine „anständige und nützliche Unterhaltung“ verschaffen könnte. Des Weiteren führte er aus: „So setzte ich mir folgenden Vorschlag zusammen, den ich hiermit allen gutgesinnten Landbewohnern aufs freundlichste ans Herz legen will mit dem aufrichtigen Wunsche, daß er an recht vielen Orten Beispiel finden und zur Erheiterung manches von der Langenweile geplagten Dorfgemüthes beitragen möge. Man stifte nämlich Gesellschaften, wo man in der Woche mehrere Abende in traulicher und einmüthiger Unterhaltung verbringt, mit dem Lesen guter und für den Landmann passender Schriften sich beschäftigt und das Gelesene freundschaftlich bespricht und beurtheilt. Manches Gute könnte gestiftet, manches Nützliche bewirkt, manche Unart gründlich curirt und so dafür gesorgt werden, daß es in manchen dunkeln Dorfköpfen etwas heller, und daß besonders dem Aberglauben der Krieg angekündigt würde, der hier und da im Oberstübchen spuckt und Hinzen und Kunzen arg mitspielt.“22

Damit das Vorhaben einer ländlichen Lesegesellschaft von Erfolg gekrönt sei, mussten nach Meinung des Verfassers fünf wesentliche Punkte erfüllt sein.23 Zum ersten bedurfte es zunächst „mehrerer wohlgesinnter Gemeindemitglieder“, die den „Kern der Gesellschaft“ bilden und um den sich dann weitere 19 Ebd., S. 363. 20 Winter=Lesegesellschaften auf dem Lande, in: TV, Nr. 4 vom 24.1.1829, S. 33–35. Der Verfasser wird am Ende des Artikels nur mit „K.“ angegeben. 21 Ebd., S. 33. 22 Ebd., S. 34. 23 Dazu und im Folgenden: ebd., S. 34 f.

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Teilnehmer versammeln sollten. Zum zweiten brauchte es einen „Vorleser“, der sowohl den Vorsitz der Versammlungen übernahm als auch „gute Schriften in Vorschlag brächte und das Wissenswerthe daraus erbaulich und annehmlich mittheilte“. Als Idealbesetzung für diesen Posten erachtete der Autor den örtlichen Pfarrer oder Kantor bzw. Schullehrer: „Diese könnten am besten mit dem Lesen fertig werden und gar manche vortreffliche, gelehrte und erklärende Bemerkung noch hinzufügen.“ Zum dritten galt es, „gute und zweckmäßige Schriften, die für die Landleute paßten und allerlei Nützliches und Angenehmes über ihre Lage, Arbeiten, Bedürfnisse u.s.w. enthielten“, anzuschaffen. Nicht ohne Hintergedanken hinsichtlich des Verkaufs des eigenen Blattes forderte der Verfasser – möglicherweise handelte es sich um Karl Herzog selbst – zudem die Anschaffung einer Zeitung, „die getreuen Bericht erstattete und hübsch ordentlich Alles erzählte, wie die Dorfzeitung oder der Thüringer Volksfreund, der in Zukunft besonders auch auf alles das, was Dorf und Land angeht, genaue Rücksicht nehmen wird“. Zum vierten wurde die Anschaffung einer „gemeinschaftlichen Kasse“ angeregt, „aus welcher die nöthigen Ausgaben bestritten“ werden sollten. Jeder Teilnehmer der Leseabende sollte 3–4 Groschen jährlich in diese Kasse einzahlen, um damit neue Bücher und Zeitungen sowie Brennholz und Kerzen zu finanzieren. Die relativ geringe Höhe dieses Jahresbeitrags erklärte der Autor dadurch, dass die Dorfpfarrer die Bücher aus ihren Privatbibliotheken, die „gewiß manches auch für den Bauersmann Lesenswerthe haben“, den Lesegesellschaften sicher unentgeltlich zur Verfügung stellen würden. Auf diese Weise sollte das Argument entkräftet werden, dass die Beteiligung an einer ländlichen Lesegesellschaft für den einfachen Bauern mit zu hohen finanziellen Kosten verbunden sei. Mit Blick auf die Ausgaben beim Besuch eines Wirtshauses meinte der Autor diesbezüglich: „Wenn Jeder jährlich nur einmal weniger in die Schenke ginge und nur Ein Solo oder Solo=Schafkopf weniger spielte, so würde deshalb das Loch im Beutel nicht viel größer werden.“ Als fünfter und letzter Punkt wurde außerdem „ein passender Ort, wo die ehrbare Gesellschaft ihre ehrbaren Sitzungen halten könne“, angeführt. Ausdrücklich wurde davon abgeraten, die Leseabende im Wirtshaus abzuhalten, weil der zwangsläufig zu erwartende Alkoholkonsum „die ganze ehrbare Lesegesellschaft in eine unehrbare zu verwandeln suchen“ würde. Vielmehr wurde als der „beste Versammlungsort“ die Schulstube des Kantors empfohlen, „wo Jeder sein bequemes und geräumiges Plätzchen finden könnte“. Abschließend wurde noch eine Auswahl jener Schriften aufgelistet, die man für eine ländliche Lesegesellschaft für besonders geeignet hielt, darunter Heinrich Zschokkes Goldmacherdorf, Johann Heinrich Pestalozzis Lienhard und Gertrud, Christian Gotthilf Salzmanns Der Bote aus Thüringen, Johann Peter Hebels Rheinischer Hausfreund und Rudolph Zacharias Beckers Noth= und Hülfsbüchlein für Bauersleute.

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Als Reaktion auf diesen Artikel gingen kurze Zeit später bei der Redaktion des Thüringer Volksfreundes die ersten Briefe ein, die von der Gründung einer Lesegesellschaften auf dem Land zu berichten wussten24 oder ihre Unterstützung anboten, einer solchen Einrichtung Bücher und Zeitschriften aus dem eigenen Besitz zu übergeben. So erklärte sich ein gewisser „D. C. M. Schäfer in Jena“ dazu bereit, einer Dorflesegesellschaft aus der näheren Umgebung 16 Jahrgänge des Boten aus Thüringen, 15 Jahrgänge der Nationalzeitung der Deutschen sowie mehrere Bände der Zeitschrift der Märkisch Ökonomischen Gesellschaft zu Potsdam25 zu schenken.26 Den Boten aus Thüringen beurteilte Schäfer als „einen Schatz von Lebensklugheit, insbesondere für Landleute, obgleich auch Städter noch recht vieles daraus lernen könnten, wenn sie nicht großentheils lieber schaale Romane läsen, die weiter nichts nützen, als die kostbare Zeit zu tödten“.27 Zugleich meinte er hinsichtlich des Umfangs der von ihm angebotenen Periodika: „Schon diese Lectüre würde einige Winter ausfüllen, wenn auch nur das Zweckmäßigste daraus zum Vortrag gewählt würde, denn ich müßte rathen, nicht mehr als zwei Abende wöchentlich vorzulesen, und selbst hier hinlänglichen Raum zum Besprechen des Gelesenen zu lassen.“ Außerdem sprach er sich ohne Angabe des genauen Grundes dafür aus, die Leitung solcher Leseabende nicht in die Hände der Pfarrer zu legen. Die Redaktion des Thüringer Volkfreundes war in diesem Fall allerdings entgegengesetzter Meinung: „Die Herren Pfarrer sollten keine Gelegenheit unbenutzt lassen, das Vertrauen ihrer Gemeindemitglieder zu gewinnen und auf die Bildung derselben zu wirken. Zu beiden bietet eine solche Winterlesegesellschaft die besten Mittel dar. Auch könnte jeder Pfarrer,

24 Vgl. Die Lesegesellschaft zu Seeligenthal im Kreise Schmalkalden, in: TV, Nr. 13 vom 28.3.1829, S. 108 f. In dem im Thüringer Wald gelegenen Dorf Seligenthal hatten sich 1826 zunächst fünf Personen zu einer Lesegesellschaft zusammengefunden, um „in der Regel wöchentlich zwei Abende […] gemeinnützige und unterhaltende Schriften“ zu lesen. Die Anzahl der Mitglieder stieg in der Folgezeit auf 40 Personen. Zur Organisation der Gesellschaft wurde außerdem mitgeteilt: „Die Gesellschafts=Angelegenheiten werden durch einen jährlich gewählt werdenden Vorstand, nach Vorschrift bestätigter Gesellschafts=Statuten besorgt und die Kosten aus der Gesellschaftskasse bestritten, worüber jährlich Rechnung abgelegt wird. Die Mitglieder der Gesellschaft bestehen aus Landwirthen und verschiedenen Handwerkern und übrigen Einwohnern des Dorfes.“ 25 Gemeint ist höchstwahrscheinlich das seit 1822 erschienene Monatsblatt der Königlich Preußischen Märkischen Ökonomischen Gesellschaft zu Potsdam. 26 Vaterländische Nachrichten. Anerbietung in Beziehung auf den Vorschlag des Herrn K. in Nro. 4 dieser Blätter, „Winterlesegesellschaften auf dem Lande“ betreffend, in: TV, Nr. 8 vom 21.2.1829, S. 70. 27 Ebd. Glaubt man dieser Aussage, so war das als verderblich eingestufte Lesen von trivialer Literatur nicht nur auf dem Lande, sondern auch in der Stadt ein verbreitetes Phänomen.

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wenn er den guten Willen hat, gewiß zwei Abende in der Woche der nützlichen Unterhaltung mit seinen Gemeindegliedern schenken, ohne daß dadurch seine gelehrten oder häuslichen Geschäfte viel darunter leiden würden. Aber freilich diese Zumuthung reimte sich schlecht mit der Bequemlichkeit, dem gelehrten Dünkel und dem Vornehmthun Mancher, die außer der Kirche sich mit dem Bauern höchstens bei der Einlieferung des Decems abgeben.“28

Dass eine solche Aussage auf Widerstand stoßen würde, war abzusehen. So schrieb der Pfarrer aus Wormstedt, Johann Ernst Anton Gottfried Göring, wenige Wochen später an das Blatt, dass man die in „Nr. 8 des angezogenen Blattes“ getätigte Anmerkung so verstehen müsse, „als wollte man damit die Prediger bei ihrer Ehre angreifen und ihnen indirecte einen Zwang auferlegen“.29 Zwar stimmte Göring dem Thüringer Volksfreund grundsätzlich zu, dass sich auch die Geistlichen an der Aufklärung des „gemeinen Mannes“ beteiligen sollten, doch müssten hierfür bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein. Wenn ein Pfarrer die Bildung oder die Teilnahme an einer Lesegesellschaft ablehne, so habe dies in aller Regel berechtigte Gründe, deren Ursachen im beruflichen wie privaten Bereich liegen würden. So meinte Göring, dass ein Pfarrer zunächst einmal seiner beruflichen Verpflichtung nachkommen müsse: „Zunächst aber sind es die Lehren des Glaubens und die Pflichten des Lebens, mit welchen er sie [die Bauern, A. K.] vertraut macht, für welche er Verstand und Herz zu gewinnen sucht. Luftschlösser soll er nicht vor ihren Augen bauen, sondern überall Anweisung geben, wie sie die in der Kirche empfundene Begeisterung ins Leben verpflanzen und das Gelehrte in ihren Wirkungskreisen benutzen können. Er darf also gar wohl die außerkirchlichen Gelegenheiten für die Aufklärung seines Ortes benutzen. Ob er es aber auch kann, darüber wird seine ganze Eigenthümlichkeit entscheiden müssen, ohne daß von Bequemlichkeit oder andern nichtswürdigen Gründen die Rede zu sein braucht.“30

Daran anschließend führte Göring mehrere Punkte auf, die Geistliche dazu veranlassen würden, in ihrer Gemeinde keine Lesegesellschaft zu errichten. Die Gründe reichen von körperlichen Gebrechen, über didaktische Unzulänglichkeiten bis hin zu anderen Interessengebieten, in denen sich der Geistliche wohler fühle als in der außerkirchlichen Aufklärung des „gemeinen Mannes“. Auch wurde von Göring das Argument vorgebracht, dass die auf den Leseabenden vermittelten Inhalte mitunter von trivialer Natur seien und die „Wichtigkeit des Gegenstandes“ vom Landmann vielleicht nicht richtig erfasst oder sogar missverstanden werden könnte. Auf diese Zeilen antwortete der Thüringer Volksfreund postwendend, dass es keine Absicht war, „die Ehre eines ganzen höchst ehren28 Ebd. 29 Der Prediger als Vorleser in der Lesegesellschaft seiner Gemeinde, in: TV, Nr. 15 vom 11.4.1829, S. 122–124, hier S. 122. 30 Ebd., S. 123.

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werthen Standes anzugreifen, oder seinen Mitgliedern moralischen Zwang anzuthun“, doch konnte man sich auch die Bemerkung nicht verkneifen: „[…] wer die Eigenthümlichkeit nicht besitzt, sich mit dem Landvolke abzugeben, hätte besser gethan kein Landpfarrer zu werden!“31 Wie die vorangegangenen Schilderungen zeigen, sollten die Lesegesellschaften auf dem Land nicht allein den Bücher- und Zeitschriftenaustausch in der Landbevölkerung befördern. Wesentlicher Kern der ländlichen Lesegesellschaften waren die Leseabende, die unter Anleitung eines Gemeindemitglieds organisiert und durchgeführt wurden. Auf diese Weise sollten die als „nützlich“ erachteten Volksschriften nicht nur in Umlauf gebracht, sondern auch gemeinsam rezipiert und diskutiert werden. Damit die Rezeption der Lektüre nicht „missverstanden“ wurde, sollte den Vorsitz der Lesegesellschaft idealerweise eine Person innehaben, die über eine höhere Bildung als die übrigen Mitglieder der Lesegruppe verfügte. Gleichzeitig bedeutete dies aber auch, dass der Initiator bzw. Organisator einer ländlichen Lesegesellschaft im Wesentlichen die Auswahl der zum Lesen herangezogenen Schriften bestimmte. Dadurch war es dem Vorsitzenden möglich, die Zuhörerschaft ganz gezielt auf die von ihm präferierten Inhalte zu lenken.32 Damit waren die ländlichen Lesegesellschaften in gewisser Weise auch ein Instrument zur Sozialdisziplinierung der Landbevölkerung. So war den Vorsitzenden die Möglichkeit gegeben, nicht nur die als unvernünftig und unsittlich erachteten trivialen Romane, sondern auch aktuelle politische und gesellschaftskritische Lesestoffe als „schädlich“ zu deklarieren und damit den Mitgliedern ihrer Lesegesellschaft vorzuenthalten. Im Zuge der Umwandlung der Lesegesellschaften in Lesevereine bzw. der Neugründungen von Lesevereinen ab ca. 1830 fand diese Form der Schriftenkontrolle dann auch ihre

31 Ebd. 32 Generell ist in diesem Zusammenhang – auch mit Blick auf die städtischen Lesegesellschaften – zu konstatieren, dass das Lektüreangebot einer Lesegesellschaft in aller Regel sowohl vom Geldbeutel als auch von den Interessen ihrer Mitglieder abhing. Dies führte dazu, dass im Zeitraum von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Typen von Lesegesellschaften und ähnlichen Einrichtungen entstanden, die hinsichtlich ihrer personellen wie inhaltlichen Struktur sehr heterogen waren. Die Palette reichte von literarischen Gesellschaften und Zeitungslesezirkeln über allgemeine Lesegesellschaften und Fachleseanstalten bis hin zu geselligen Zusammenschlüssen bestimmter Personengruppen. Dies zeigt sich auch in der Namensgebung der unterschiedlichen Vereinigungen, die sich nicht nur als „Gesellschaft“, „Sozietät“ und „Zirkel“, sondern auch als „Casino“, „Institut“, „Kabinett“, „Klub“, „Museum“ oder „Salon“ bezeichneten. Zur Entwicklung und den Formen lesegesellschaftlicher Organisation in Thüringen im Zeitalter der Aufklärung vgl. Felicitas MARWINSKI, Lesen in Gesellschaft. Gelehrte, literarische und Lesegesellschaften in Thüringen vom Anfang des 18. bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 12 (1985), S. 116–140.

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rechtliche Fixierung.33 Wie die Satzungen einzelner Lesevereine gestaltet waren, ließ sich auch volksaufklärerischen Periodika entnehmen, die diese mitunter – entweder als Information für interessierte Leser oder als Musterbeispiel zur Nachahmung – sogar vollständig abdruckten. Ganz in diesem Sinne veröffentlichte auch das Allgemeine Volksblatt der Deutschen die „Statuten des Witzelroder Lesevereins“.34 Eingeschickt wurden die Statuten von Ferdinand Hartmann, der Schullehrer in Witzelroda war und den Verein am 1. Oktober 1843 ins Leben gerufen hatte. Wie Hartmann in einem ebenfalls abgedruckten Brief voranstellt, trafen sich in dem Dorf einige Einwohner „in den langen Winterabenden [in] ein[em] Privathaus“ zum Kartenspielen, aber auch, „da sie fast lauter Ackersleute waren“, um sich über landwirtschaftliche Gegenstände zu unterhalten.35 „Um diese Unterhaltungen zu erweitern und zu veredeln“, erklärte sich der Schullehrer bald dazu bereit, den Anwesenden kurze Geschichten zum Thema Landwirtschaft vorzulesen. Wie Hartmann ausdrücklich betont, war es die Anregung von Heinrich Schwerdt,36 einem der beiden Herausgeber des Allgemeinen Volksblattes der Deutschen, die ihn schließlich auf die Idee brachte, aus den Leseabenden „einen geregelten Leseverein zu gründen, welcher auf folgenden Punkten beruht“:37 33 Der während der Vormärzzeit vollzogene Übergang von der Lesegesellschaft zum Leseverein war ein fließender Prozess. Eine scharfe Trennlinie zwischen beiden Organisationsformen kann nicht gezogen werden, da sie den gleichen Zweck verfolgten und strukturell ähnlich aufgebaut waren. Mitunter wurden in der zeitgenössischen Literatur, so auch im Thüringer Raum, die Begriffe Lesegesellschaft und Leseverein synonym verwendet. Dem Leseverein lag im Gegensatz zur Lesegesellschaft stets eine Satzung zugrunde, die von allen Mitgliedern konstituiert wurde und deren Regeln verbindlich waren. Es handelte sich um einen freiwilligen Zusammenschluss von Personen mit prinzipiell offenem Zugang. Zum Unterschied zwischen Gesellschaft und Verein vgl. grundlegend Thomas NIPPERDEY, Der Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Hartmut BOOCKMANN u.a. (Hg.), Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland, Göttingen 1972, S. 1–44. Einen Gesamtüberblick zur Entwicklung des deutschen Lesevereinswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet außerdem Marlies RAFFLER, Bürgerliche Lesekultur im Vormärz. Der Leseverein am Joanneum in Graz (1819–1871), Frankfurt a. M. u.a. 1993, S. 13–56. 34 AVD, Nr. 28 vom 13.7.1844, S. 221. 35 Ebd. 36 Zum volksaufklärerischen Wirken Heinrich Schwerdts vgl. KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 2), S. 166–181. 37 AVD, Nr. 28 vom 13.7.1844, S. 221 f. Laut Aussage von Hartmann traten dem Leseverein „20 Personen, als Männer, Jünglinge und selbst Knechte des hiesigen Ortes“ bei. Außerdem berichtete er: „Die Mitglieder versammelten sich wöchentlich zweimal in einem Privathause, wo die neu angekauften oder geliehenen Volksschriften vorgelesen und besprochen wurden. Diese Leseabende waren regelmäßig besucht, und manche Bücher,

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„Artikel 1. Diesem Verein stehen ein erster und zweiter Vorsteher vor. Artikel 2. Der erste Vorsteher hat die zu lesenden Schriften zu besorgen, unter Aufsicht zu nehmen und vorzulesen. […] Artikel 3. Jedes Mitglied hat monatlich eine vom Verein bestimmte Abgabe in die Vereinskasse zu entrichten, wovon die Schriften und sonstige Ausgaben bestritten werden. Artikel 4. Jedes Mitglied kann zu jeder Zeit austreten; hat aber seine Beiträge bis zum Austritt zu entrichten, und von seinen sämmtlichen Einlagen in die Vereinskasse Nichts zu fordern. Neue Mitglieder werden nach Stimmenmehrheit angenommen. Artikel 5. Jedes Mitglied hat das Recht, Bücher aus dem Verein, die ihm eigen sind, mit nach Hause zu nehmen, und solche den Seinigen lesen zu lassen. – Auch können Schriften gegen eine kleine Abgabe an hiesige Einwohner, die nicht Mitglieder sind, ausgeliehen werden. Artikel 6. Der Ort und die Zahl der wöchentlichen Zusammenkünfte werde alljährlich anfangs October bestimmt. Artikel 7. Nach Auflösung des Vereins werden sämmtliche Schriften an die Mitglieder vertheilt, oder nach Beschluß an einen passenden Ort den Nachkommen aufbewahrt. Jedes Mitglied genehmigt durch seine Namensschrift vorstehende Punkte.“38

Die hier aufgeführten Statuten machen deutlich, wie stark die seit 1830 forcierten Bestrebungen zur Gründung von dörflichen Lesegesellschaften noch nachwirkten. Sie folgen weitgehend dem oben skizzierten, 14 Jahre zuvor im Thüringer Volksfreund veröffentlichten Plan, wie eine Lesevereinigung auf dem Land in der Praxis umgesetzt werden könne.39 Die Regelung, die Lektüreanschaffung wie Zschokke’s Goldmacherdorf, Salzmann’s Bote aus Thüringen u. v. a. gefielen ausnehmend, – weniger die Branntweinpest von Zschokke.“ 38 Ebd., S. 222. 39 Neben den relativ kurzen Statuten des Witzelrodaer Lesevereins druckte das Allgemeine Volksblatt der Deutschen auch die Satzung des Weidaer Lesevereins ab. Diese umfasste 24 Paragraphen, deckte im Kern aber dieselben inhaltlichen Punkte ab (Name, Mitgliedereintritt und -austritt, Vorsitz, Mitgliedsbeiträge, Vereinskasse, Versammlungsturnus, Bücherankauf und -verwaltung, Schriftenverleih). Hinsichtlich der Vereinsleitung und der damit verbundenen Schriftenauswahl wurde festgelegt: „10) An der Spitze des Vereins steht ein Vorstand von fünf Mann, nämlich: ein Bücherverwalter, ein Rechnungsführer, zwei Beratungsmitglieder und ein Schreiber, welchen vier ersteren obliegt, die anzukaufenden Bücher und Zeitschriften zu wählen und die Leitung des Vereins überhaupt zu

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eines Lesevereins den Vorsitzenden bzw. Vorständen zu überlassen, barg natürlich die Gefahr, dass die angekauften Schriften zunächst nur deren Interesse entsprachen. Zwar wurde häufig darauf geachtet, die Leseabende – ganz im Sinne einer universellen Bildung – mit thematisch vielfältiger Lektüre zu füllen,40 doch war es auch nicht ausgeschlossen, dass sich der Vorsitzende oder der Vorstand eines Vereins bei der Auswahl der zu lesenden Schriften auf einen bestimmten Themenschwerpunkt konzentrierte. Dass nicht wenige Bauern und Handwerker ein reges Interesse an den unterschiedlichsten Lesestoffen hatten, wurde bereits erwähnt. Jene Schriften, die dem „gemeinen Mann“ in den Lesegesellschaften nicht angeboten oder gar bewusst vorenthalten wurden, mussten persönlich erworben und dann im Privaten rezipiert werden. Die dazu zur Verfügung stehenden Wege wurden offensichtlich umfangreich genutzt, jedoch scheint der Erwerb trivialer Literatur auf dem Land zuweilen einfacher und kostengünstiger als der von „nützlichen“ Volksschriften gewesen zu sein. Dass die in den Dörfern eingerichteten Lesevereinigungen einen eher kleinen Wirkungsradius hatten, der in den meisten Fällen nicht über die eigenen Ortsgrenzen hinausgereicht haben dürfte, könnte dabei auch eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls registrierten die Volksaufklärer ein ausgeprägtes Lesebedürfnis der einfachen Bevölkerung, das dann in den periodischen Blättern im Laufe der Vormärzzeit zunehmend in sachlicher Form,41 aber auch hin und wieder in amüsanten Anekdoten verarbeitet wurde. So berichtete beispielsweise der Thüringer Volksfreund über einen Bücherdiebstahl in der ostthüringischen Gegend um Lobenstein:

besorgen“ sowie „19) Die Büchersammlung steht unter der besonderen Aufsicht des Bücherverwalters, und dieser ist für die ihm übergebenen Bücher verantwortlich.“ AVD, Nr. 40, 1846, S. 320. 40 Bei einigen Lesevereinen wurde die thematische Vielfalt der zu lesenden Schriften, aber auch jene Literatur, die nicht erwünscht war, in den Statuten festgehalten. So heißt es etwa in der Satzung des Weidaer Lesevereins unter Punkt 18: „Die Büchersammlung soll enthalten: Geschichtswerke, Reisebeschreibungen, Lebensbeschreibungen ausgezeichneter Männer, Werke über Gewerbskunde, naturgeschichtliche und andere dergleichen belehrende Bücher und anerkannt gute Zeitschriften. Romane und Novellen sind ausgeschlossen, oder dürfen nur mit äußerster Vorsicht gewählt werden.“ Ebd. 41 Ein sehr anschaulicher Artikel hierzu findet sich im Allgemeinen Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen. Unter der Überschrift „Das überhand nehmende Schreiben und Lesen“ heißt es zunächst: „Jedermann k a n n Lesen und Jedermann w i l l Lesen“. Anschließend wird danach gefragt, welche Schriften des ständig wachsenden Büchermarktes für „die fortschreitende Veredlung der Menschheit“ geeignet sind. Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen (im Folgenden: AANZD), Nr. 316 vom 18.11.1832, Sp. 4133–4135.

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„Auf dem Schlosse zu Ranis kamen eine Menge Bücher abhanden, ohne daß man wußte wie. Endlich fand sich der Dieb, den niemand vermuthet hatte. Ein Schäferknecht bei Lobenstein ging den ganzen Tag mit dem Buche in der Hand hinter seiner Heerde her, und bei näherer Untersuchung ergab sich, daß derselbe die Bücher mittelst Einbruch gestohlen, und sie, nachdem er sie gelesen, entweder verkauft oder verliehen habe. Er gestand, daß ihm ein gutes Buch lieber sei, als ein fetter Hammel, auch traf er eine recht gute Auswahl.“42

Gerade wegen des steigenden Bedürfnisses der unteren Bevölkerungsschichten nach neuen Lesestoffen waren sich die Volksaufklärer einig, dass das Lektüreangebot für den „gemeinen Mann“ nicht nur durch Lesegesellschaften, sondern auch mittels Volksschriftenvereinen und Dorf- bzw. Volksbibliotheken erweitert und befriedigt werden müsse. Es galt langfristig eine ländliche Leseinfrastruktur aufzubauen, die nicht ausschließlich vom persönlichen Engagement der in den Dörfern wirkenden Pfarrer und Schullehrer abhängig war. Ansonsten befürchtete man, der weniger gebildete Leser werde zukünftig nur noch „schädliche“ Unterhaltungsliteratur konsumieren. Wie „schädliche“ Lektüre vom „Volk“ ferngehalten werden könne, war in aufklärerisch-bildungsbürgerlichen Kreisen dabei keinesfalls ein neues Thema, sondern hatte seinen Ursprung im ausgehenden 18. Jahrhundert.43 In den 1830er Jahren nahmen allerdings die Diskussionen hinsichtlich der „richtigen“ Strategien zur Lenkung des Leseverhaltens des „Volkes“ noch einmal deutlich an Fahrt auf, wobei zwei wesentliche Punkte immer wieder aufgegriffen wurden: 1. Die Kanalisierung des Lesebedürfnisses der einfachen Bevölkerung durch private und staatliche Initiativen auf ein bestimmtes Lektüreangebot und 2. Die Verhinderung der Nutzung der allerorts kommerziell betriebenen Leihbibliotheken durch den „gemeinen Mann“. Unter dem Schlagwort der „Volksbildung“ wurde ab ca. 1830 die Gründung unterschiedlicher Bildungsanstalten für die landwirtschafts- und gewerbetreibende Bevölkerung vorgeschlagen, die von Schulen (darunter auch Fach- und Sonntagsschulen) über Landwirtschafts- und Gewerbevereine bis hin zu Bibliotheken reichten. Nicht selten wurden auch Vorschläge gemacht, verschiedene Bildungsinitiativen miteinander zu kombinieren. So sollte etwa eine Schule im Idealfall auch eine eigene Bibliothek besitzen. In Thüringen zeigte in den 1830er Jahren Johann Friedrich Weingart (1793– 1869) besonderes Engagement, die in den periodischen Blättern geführte Diskussion zur Verbesserung der Volksbildung voranzutreiben. Weingart hatte von 1811 bis 1814 in an der Universität Jena Theologie studiert. Im Jahr 1815 wurde er zunächst Schulrektor der im Herzogtum Sachsen-Gotha gelegenen Gemeinde Herbsleben und im Jahr 1821 schließlich Pfarrer des sich in unmittelbarer Nähe 42 TV, Nr. 17 vom 25.4.1829, S. 142. 43 Siehe oben Anm. 6.

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befindlichen Dorfes Großfahner. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer und Pfarrer war Weingart publizistisch sehr aktiv. Er verfasste zahlreiche pädagogische und theologische Schriften, die sich vor allem mit der Frage beschäftigten, wie sich Lehrer und Prediger in ihrem Beruf verhalten sollten. Zu seinen Werken zählte unter anderem ein Volks-Schulverbesserungsplan für Deutschland. Zur Beherzigung für alle Schulbehörden und Schulmänner geschrieben (1817), ein Unterrichtsplan für Lehrer an Stadt- und Landschulen nebst Beilagen (1817), eine Erziehungslehre für gebildete Eltern (1818), ein Tägliches Taschenbuch oder Ideenmagazin für Prediger und PredigtamtsCandidaten aller Confessionen in Städten und auf dem Lande (1818), ein Hilfs- und Handbuch für deutsche Volksschullehrer (1818) oder ein Vorlesebuch für Schullehrer und Cantoren zur Haltung des öffentlichen Gottesdienstes (1819).44 Weingart verfolgte mit großem Interesse die Grundsätze und Lehren anderer berühmter Pädagogen seiner Zeit45 und war Mitherausgeber der von 1819 bis 1838 erschienenen Literatur-Zeitung für Deutschlands Volksschullehrer oder kritischer Quartalbericht der neuesten literärischen Erscheinungen aus dem Gebiete des Schul- und Erziehungswesens. Daneben schrieb er regelmäßig Artikel zum Thema Volksbildung, vor allem für den Allgemeinen Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen.46 In zahlreichen seiner Artikel setzte sich der Großfahner Pfarrer mit der Frage auseinander, was getan werden müsse, um das „Volk“ an bildungsorientierte Literatur heranzuführen. Weingarts Abhandlungen zum Thema beinhalteten zwei zentrale Punkte, die er gebetsmühlenartig immer wieder vortrug. Zum einen setzte er sich für die Gründung von Volkschriftenvereinen und Volksbibliotheken ein, zum anderen forderte er einen „literarischen Wächter“, ein auf Volkslektüre spezialisiertes Rezensionsorgan, in welchem die „guten“ von den „schlechten“ Volksschriften getrennt werden sollten und das die Betreiber der Volksschriftenvereine und Volksbibliotheken bei der Anschaffung ihrer Bücher und Zeitschriften zu Rate ziehen sollten.47 Weingart war der Meinung, „daß 44 Eine Übersicht zu den von Weingart bis zum Jahr 1827 verfassten Schriften findet sich in: Georg Christoph HAMBERGER/Johann Georg MEUSEL, Das gelehrte Teutschland oder Lexicon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller, Bd. 21, bearb. Johann Wilhelm Sigismund Lindner, hg. von Johann Samuel Ersch, Lemgo 51827, S. 424–427. 45 Weingart hat im Zuge dieser Beschäftigung auch den Eintrag zu Gustav Friedrich Dinter, der in der älteren Forschung als „sächsischer Pestalozzi“ bezeichnet wurde, im Neuen Nekrolog der Deutschen verfasst. Vgl. Art. „Dinter“, in: Neuer Nekrolog der Deutschen 9 (1831), Ilmenau 1833, S. 465–481. 46 Neben der Hildburghäuser Dorfzeitung gehörte der in Gotha herausgegebene Allgemeine Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen zu den volksaufklärerischen „Leitmedien“ in Thüringen im Vormärz. Vgl. hierzu KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 2), S. 297–309. 47 Zu Weingarts Vorstellungen hinsichtlich Volksliteratur, Volksschriftenvereinen und Volksbibliotheken vgl. die von ihm in den Jahren 1836 bis 1840 im Allgemeinen Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen veröffentlichten Artikel: Ueber patriotische Vereine zur

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Literatur und Volksbildung stets in der genauesten Wechselwirkung stehen“ und appellierte deshalb: „Diese Erscheinung ist aber auch dem denkenden Beobachter des Menschenlebens ein ernster Wink, dahin zu sehen, daß unserem Volke – ich rede hier von den mittleren und unteren Classen desselben – aus den großen Massen der Literatur das mitgetheilt werde, was ihm wahrhaft nütze ist zur Lehre und zur Besserung, und was eben sowohl seine humane, als seine volksthümliche Bildung in der Tat fördert.“48

Um dieses Ziel zu erreichen, rief er zur „Schöpfung patriotischer Vereine zur Verbreitung guter Volksschriften“ auf. Diese sollten zugleich einen Gegenpol zu den Leihbibliotheken bilden, die Weingart als „Giftapotheken“ für das „Volk“ betrachtete.49 Die Idee, durch Vereine „nützliche“ Volksschriften zu verbreiten, wurde auch von anderen Volksaufklärern geteilt. In den 1830er Jahren riefen sie in den Volksblättern des thüringisch-mitteldeutschen Raumes regelmäßig zur Gründung solcher Vereine auf und waren umso euphorischer als Anfang der 1840er Jahre die ersten Volkschriftenvereine konkrete Gestalt annahmen.50 Vor allem die Aktivitäten des 1841 in Zwickau gegründeten „Vereins zur Verbreitung guter und wohlfeiler Volksschriften“, des 1843 in Stuttgart gegründeten „Württembergischen Volksschriftenvereins“ sowie des 1844 in Magdeburg gegründeten „Zschokke-Vereins“ wurden in Thüringen aufmerksam verfolgt. Den volksaufklärerischen Periodika galten diese Vereine als musterhaft. So schrieb etwa das Allgemeine Volksblatt der Deutschen über Volksschriftenvereine: „Möchten doch diese ehrenwerthen Vereine in allen deutschen Staaten Nachahmung finden, damit das sicherste Mittel der Volksbildung, das Lesen guter Schriften, nach allen Seiten angeregt werde, und man sich endlich dazu entschließe, die Lectüre des Volkes in Aufsicht zu nehmen, damit durch schlechte Schriften nicht so viel Böses gestiftet werde.

Verbreitung guter Volksschriften, in: AANZD, Nr. 70 vom 11.3.1836, Sp. 893–896; Die Literatur und die Volksbildung, in: AANZD, Nr. 94 vom 7.4.1836, Sp. 1205–1209; Der literarische Wächter. Nebenbey auch ein Wort über Buchhandel und Leihbibliotheken, in: AANZD, Nr. 195 vom 21.7.1837, Sp. 2481–2486; Censur, Buchhandel und Leihbibliotheken, in: AANZD, Nr. 210 vom 5.8.1840, Sp. 2799–2804. 48 AANZD, Nr. 70 vom 11.3.1836, Sp. 895. 49 Ebd. 50 Zur Entstehung und Zielsetzung der Volkschriftenvereine im Vormärz vgl. Michael KNOCHE, Volksliteratur und Volksschriftenvereine im Vormärz. Literaturtheoretische und institutionelle Aspekte einer literarischen Bewegung, Frankfurt a. M. 1986; DERS., Zeitgemäße Aufklärung und christliche Gesittung – Volksschriftenvereine im Vormärz, in: Holger BÖNING (Hg.), Volksaufklärung ohne Ende? Vom Fortwirken der Aufklärung im 19. Jahrhundert, Bremen 2008, S. 319–326.

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Möge es nicht blos beim Lesen dieser Zeilen verbleiben, sondern diese Mittheilung Beherzigung finden!“51

Wie bei den Lesevereinen wurden zudem die Statuten der Volksschriftenvereine in den volksaufklärerischen Periodika veröffentlicht. Das Allgemeine Volksblatt der Deutschen druckte beispielsweise die Satzung des „Zschokke-Vereins“ ab und forderte zur Nachahmung auf: „Es hat sich nämlich eine Gesellschaft edelmüthiger Volksfreunde zusammengethan, die den Namen Zschokkeverein führt […]. Dieser hat in Magdeburg, Zschokke’s Vaterstadt, seinen Sitz und will durch freiwillige Beiträge […] gute und wohlfeile Volksschriften verbreiten und dadurch das wachsende Lesebedürfniß auch der niederen Stände befriedigen und fortschreitende Bildung des Menschengeschlechts fördern. […] Mögen sich denn überall Zweigvereine bilden, um solch’ ein gemeinnütziges Streben zu unterstützen! Mögen sich Bürger und Landleute zusammenthun und Einen aus ihrer Mitte beauftragen, dem Zschokkeverein ihren Beitritt zu erklären!“52

Des Weiteren stellte man in den volksaufklärerischen Blättern – meist in einer eigens dafür vorgesehenen Rubrik53 – jene Bücher vor, die von den Volksschriftenvereinen in Auftrag gegeben bzw. angekauft und dann in Umlauf gebracht wurden. In aller Regel wurden diese Schriften positiv besprochen und dem Leser zur Lektüre empfohlen. Bei besonderer Eignung wurden die Bücher auch in thematisch geordnete „Übersichten“ aufgenommen,54 damit sich die Lesevereine und Volksbibliotheken ein Bild davon machen konnten, welche Schriften für ihre Bestände geeignet waren. Dass neben Volksschriften- und Lesevereinen insbesondere Volksbibliotheken allerorts zu errichten waren, wurde im Zuge der Diskussionen zur Lenkung des Leseverhaltens der einfachen Bevölkerung zu einer immer drängenderen

51 Vereine für Volksbildung, in: AVD, Nr. 13 vom 30.3.1844, S. 103. Die Volksschriftenvereine wurden im Allgemeinen Volksblatt der Deutschen – und in anderen volksaufklärerischen Periodika – auch als „Volksbildungsvereine“ bezeichnet. 52 Der Zschokkeverein, in: AVD, Nr. 38 vom 21.9.1844, S. 302–304. 53 So erfolgten etwa die Bücherbesprechungen im Allgemeinen Volksblatt der Deutschen in der Rubrik „Bücherschrank“. Die Bücher der „großen“ Volksschriftenvereine, wie z.B. des „Zschokke-Vereins“ oder des „Württembergischen Volksschriftenvereins“ wurden dabei häufig extra ausgewiesen. Vgl. u.a. Büchermarkt. Die vom würtembergischen Volksschriftenverein ausgegebenen Volksbücher, in: AVD, Nr. 48 vom 30.11.1844, Sp. 383 f.; Büchermarkt. Die vom würtembergischen Volksschriftenverein ausgegebenen Volksbücher, in: AVD, Nr. 4, 1845, S. 31 f. 54 Zum Beispiel im Allgemeinen Volksblatt der Deutschen in mehreren Beiträgen unter dem Titel „Uebersicht der deutschen Volksliteratur“. Vgl. AVD, Nr. 3, 20, 22 u. 47, 1846, S. 22–24, 159–161, 173–175 u. 375–378.

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Forderung der Volksaufklärer.55 Sie sollten zu einem zentralen Eckpfeiler beim „Verdrängungsprozess“ der Leihbibliotheken, die dem gebildeten Bürgertum als „wichtigste Brutstätten“ der Lesesucht galten,56 ausgebaut werden. Den Leihbibliotheksbesitzern wurde meist pauschal vorgeworfen, dass sie aus rein egoistischen, kommerziellen Beweggründen handeln und die Volksbildung in ihrem Geschäftsmodell nur eine untergeordnete Rolle spielen würde. Als etwa Carl von Pfaffenrath, der von 1840 bis 1842 zusammen mit William Löbe die Landwirthschaftliche Dorfzeitung und von 1844 bis 1846 zusammen mit Heinrich Schwerdt das Allgemeine Volksblatt der Deutschen herausgab,57 im Jahr 1840 zur Gründung von Volksbibliotheken aufrief, war diese Initiative auch bewusst gegen die Leihbibliotheken gerichtet. Ausgesprochen polemisch schrieb er im Allgemeinen Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen: „Eins ist es noch, was mir am Herzen liegt und was ich schon so lange gern mit allen möglichen Mitteln und Waffen bekämpfen möchte: es ist dieß das Gift der moralischen Verderbniß, Verbildung und Entsittigung, welches sich so recht sicher und heimlich ungestraft in die Dörfer wie Wohnungen und am Ende auch in die Seelen ihrer Bewohner einschleicht und in Gestalt der schlüpfrigen Liebes=, Ritter= und Räuberromane aus den Leihbibliotheken seine Schleichwege sich überall hin bahnt. […] Während leider noch hier und da das freie Wort einer strengen Censur unterworfen ist, sieht man ruhig zu, wie die Leihbibliotheken sich füllen mit den Mißgeburten einer kranken, verderbten und schmutzigen Phantasie erbärmlicher, den Deutschen schändender, geist= und herzloser Machwerke schlechter Romanfabrikanten, die sich nicht entbidden, mit ihrer verabscheuungswürdigen Waare die Welt zu überschwemmen, und nicht darnach fragen, welch Unheil sie stiften, wenn nur der Broderwerb erzielt wird.“58

In ähnlicher Form wurde diese Kritik auch in anderen volksaufklärerischen Blättern in den 1830er und 1840er Jahren immer wieder geäußert. Dass der Vorwurf, die Leihbibliotheken würden dem „Volk“ massenweise triviale Literatur zu günstigen Preisen anbieten, dabei nicht gänzlich aus der Luft gegriffen war, zeigt ein Blick in den Anzeigenteil des Allgemeinen Anzeigers und Nationalzeitung der Deutschen. In nahezu jedem Jahrgang wurden ganze Leihbibliotheken zum Verkauf angeboten. Laut den Inseraten bestanden diese Bibliotheken hauptsächlich

55 Vgl. hierzu weiterführend Peter VODOSEK, Volksaufklärung und Volksbibliotheken im 19. Jahrhundert, in: BÖNING (Hg.), Volksaufklärung ohne Ende? (wie Anm. 50), S. 297– 318. 56 Reinhard WITTMANN, Geschichte des deutschen Buchhandels, München 21999, S. 211. 57 Zum volksaufklärerischen Wirken Carl von Pfaffenraths vgl. KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 2), S. 197–210. 58 Aufforderung zur Begründung einer deutschen Volksbibliothek, in: AANZD, Nr. 104 vom 14.4.1840, Sp. 1395–1398, hier Sp. 1396 f.

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aus belletristischen Schriften, die überwiegend der Unterhaltung dienten.59 Nicht selten wurde sogar explizit angegeben, dass es sich bei den zu verkaufenden Büchern um Räuber- und Ritterromane handelte.60 Zugleich wurde in einzelnen Fällen darauf hingewiesen, dass eine Leihbibliothek ein lukratives Geschäft darstellte. So heißt es beispielsweise in einer Verkaufsanzeige: „Wer über ein Capital von 250 Thlr. disponiren kann, und sich damit eine ansehnliche Jahresrente verschaffen will, findet die beßte Gelegenheit durch Anschaffung einer Leihbibliothek; denn es ist Thatsache, daß kein Geschäft jetzt einträglicher ist, als eben eine Leihbibliothek, mit der man auch noch einen Journalzirkel verknüpfen kann. Sehr oft wird das Anlagecapital schon im ersten Jahre wieder gewonnen. Eine solche Leihbibliothek von 1025 Bänden, mit 450 elegant gedruckten Catalogen steht für 250 Thlr. zu verkaufen.“61

Das Ziel der Volksaufklärer, den Einfluss der Leihbibliotheken auf das Leseverhalten der einfachen Bevölkerungsschichten zu reduzieren, konnte vor dem Hintergrund dieser „Konkurrenz“ nur gelingen, wenn das Angebot an alternativen Schriften mindestens genauso hoch und günstig wie jenes der Leihbibliotheken war. Das Allgemeine Volksblatt der Deutschen fasste die Situation Mitte der 1840er Jahre dann noch einmal wie folgt zusammen: „Es müssen Wege gezeigt werden, auf denen das Volk sich selbst geistig fortzubilden vermag. Die geeignetsten aber sind: Lesevereine und Volksbibliotheken! […] Werden 59 Mitunter wurden bis zu 10.000 Bücher angeboten. Hier einige wenige Beispiele inserierter Leihbibliotheken mit Angabe der Büchermenge und des Verkaufspreises: 650–700 Bände für 100 Taler, in: AANZD, Nr. 253 vom 18.9.1830, Sp. 3386; 4.000 Bände, ohne Preisangabe, in: AANZD, Nr. 75 vom 17.3.1830, Sp. 981; 300 Bände für 40 Taler, in: AANZD, Nr. 236 vom 29.11.1831, Sp. 4368; 1.200 Bände für 55 Taler, in: AANZD, Nr. 259 vom 22.9.1832, Sp. 3380; 200 Bände für 34 Taler, in: AANZD, Nr. 333 vom 5.12.1832, Sp. 4372; 3.000– 4.000 Bände, ohne Preisangabe, in: AANZD, Nr. 108 vom 22.4.1833, Sp. 1418; 5.000 Bände, ohne Preisangabe, in: AANZD, Nr. 79 vom 21.3.1834, Sp. 948; 163 Bände für 70 Taler, in: AANZD, Nr. 198 vom 24.7.1833, Sp. 2562; 300 Bände für 60 Taler, in: AANZD, Nr. 255 vom 19.9.1833, Sp. 3222; 2.550 Bände für 250 Taler, in: AANZD, Nr. 21 vom 22.1.1835, Sp. 288; 2.000 Bände für 500 Taler, in: AANZD, Nr. 34 vom 4.2.1836, Sp. 443; 6.000 Bände, ohne Preisangabe, in: AANZD, Nr. 87 vom 28.3.1836, Sp. 1115; 9.000–10.000 Bände mit Katalogen, ohne Preisangabe, in: AANZD, Nr. 98 vom 11.4.1836, Sp. 1266; 9.000 Bände, ohne Preisangabe, in: AANZD, Nr. 128 vom 11.5.1840, Sp. 1722. 60 So wurde zum Beispiel im Februar 1828 ganz gezielt eine Sammlung von 800 alten Ritterund Räubergeschichten angeboten. AANZD, Nr. 40 vom 10.2.1838, Sp. 516. 61 AANZD, Nr. 132 vom 19.5.1837, Sp. 1699 f. In einer anderen Anzeige, in der eine Leihbibliothek mit 1.568 Bänden für 500 Taler angeboten wird, heißt es hinsichtlich der Rentabilität: „Wenn man berücksichtigt, […] daß selbst bey mäßiger Frequenz die monatliche Einnahme nicht unter 20 Thlr. anzuschlagen ist, so resultirt hieraus, daß das vorstehend verlangte Kaufcapital nicht wohl vortheilhafter angelegt werden kann, indem es sich jährlich gegen 50 Proc. verinterresirt.“ AANZD, Nr. 162 vom 18.6.1838, Sp. 2067 f.

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aber dem Volke keine zweckmäßigen Schriften geboten, so greift es nach Ritter= und Räubergeschichten, die ihm jede Leihbibliothek darreicht, und verdirbt mit solcher faden Speise Leib und Seele.“62

Der Gedanke, dass in den Dörfern nicht nur Lesegesellschaften, sondern auch „wohlfeile“ Bibliotheken errichtet werden sollten, war dabei keineswegs neu. Bereits Rudolf Zacharias Becker hatte am Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Noth- und Hülfsbüchlein den Sinn und Zweck von Dorfbibliotheken beschrieben und die Gründung solcher Anstalten angeregt.63 Allerdings wurde erst ab 1830 die Umsetzung dieser Idee systematisch in Angriff genommen. Nun wurde intensiv erörtert, welche Bibliotheksformen für welche Zielgruppe zu errichten seien, wie diese Bibliotheken zu unterhalten bzw. zu finanzieren waren und nach welchen Kriterien die Auswahl der anzulegenden Buchbestände erfolgen sollte. Als wegweisend für den Aufbau von Dorf- und Volksbibliotheken im thüringisch-mitteldeutschen Raum erwiesen sich dabei vor allem die Ausführungen des Großenhainer Rentamtmanns Karl Benjamin Preusker.64 Dieser hatte in mehreren Abhandlungen dargelegt,65 wie Dorf- und Volksbibliotheken beschaffen sein sollten.66 Auf der Grundlage der Preusker’schen Schriften gründete 62 Offene Briefe, in: AVD, Nr. 16, 1845, S. 128. 63 [Rudolf Zacharias BECKER], Noth= und Hülfsbüchlein oder lehrreiche Freuden= und Trauer=Geschichte der Einwohner zu Mildheim, Anderer Theil, Gotha 1798, S. 188 f. Vgl. hierzu außerdem Felicitas MARWINSKI, Die Mildheimische Schul- und GemeindeBibliothek (1798), ein in die Zukunft weisendes innovatives Bibliotheksmodell. R. Z. Beckers Vorstellungen zur Gestaltung von Dorfbibliotheken und deren Umsetzung in Thüringen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 62 (2008), S. 127–160. 64 Zum Leben und Werk Preuskers vgl. Ilka WILKENING, Karl Benjamin Preusker 1786– 1871. Ehrenbürger der Stadt Großenhain. Leben und Werk, Großenhain 2005; Regina SMOLNIK (Hg.), Karl Benjamin Preusker. Archäologe – Reformer – Netzwerker, Markkleeberg 2011. Siehe außerdem Karl Benjamin PREUSKER, Lebensbild eines Volksbildungsfreundes. Selbstbiographie von Karl Preusker, Rentamtmann in Großenhain 1786– 1871, Leipzig 1871. 65 Preuskers Schriften zum Bibliothekswesen wurden in den thüringischen Periodika durchweg positiv besprochen. Einige Blätter, wie zum Beispiel der Allgemeine Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, gaben Preusker auch die Möglichkeit, eigene Artikel zu dem Thema zu veröffentlichen. Vgl. u.a. Ueber Dorfbibliotheken und Lesecirkel, in: AANZD, Nr. 212 vom 7.8.1839, Sp. 2701–2706; Gemeinnützige Vorschläge. Stadtbibliotheken, in: AANDZ, Nr. 309 vom 12.11.1839, Sp. 4005–4008; Ueber Leseanstalten, in: AANZD, Nr. 174 vom 30.6.1842, Sp. 2299–2303. 66 Preusker verfasste zahlreiche Schriften zum Bibliothekswesen. Als sein Hauptwerk zu diesem Thema gilt die zweibändige Schrift „Ueber öffentliche, Vereins- und Privatbibliotheken“ aus den Jahren 1838/40. Vgl. Karl Benjamin PREUSKER, Ueber öffentliche, Vereins- und Privatbibliotheken, so wie andere Sammlungen, Lesezirkel und verwandte Gegenstände, mit Rücksicht auf den Bürgerstand, H. 1: Ueber Stadtbibliotheken für den

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schließlich Heinrich Schwerdt am 14. Februar 1838 im bei Eisenach gelegenen Dorf Neukirchen unter dem Namen „Gutenbergs-Bibliothek“ die erste Volksbibliothek Thüringens.67 Als der Bestand der kleinen Dorfbibliothek durch mehrere Schenkungen in den Folgejahren auf bis zu 600 Bücher anstieg, sah sich Schwerdt im Jahr 1841 zudem veranlasst, die Neukirchener Dorfbibliothek zusätzlich zu einer Wanderbibliothek umzugestalten, damit nicht nur das Dorf Neukirchen, sondern die gesamte ländliche Bevölkerung des Kreises Nazza mit Volksliteratur versorgt werden konnte.68 Die Bücher aus der „GutenbergsBibliothek“ wurden nun auch den anderen Dorfgemeinden kostenlos zur Verfügung gestellt. Für den reibungslosen Austausch der Bücher zwischen den einzelnen Gemeinden bestimmte Schwerdt einen Boten, der einmal monatlich in die umliegenden Dorfgemeinden von Neukirchen geschickt wurde, um die Leiter der dort ansässigen Lesezirkel mit Büchern aus der „Gutenbergs-Bibliothek“ zu versorgen. Auf diese Weise gelang es Schwerdt, rund 300 Leser aus der ländlichen Bevölkerung zur beständigen Lektüre von „guter“ Volksliteratur zu bewegen.69 Der Dorfbibliothek in Neukirchen sollten bald weitere folgen, so dass innerhalb kurzer Zeit überall in Thüringen Dorfbibliotheken entstanden.70 Diese

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Bürgerstand, deren Nützlichkeit, Gründungs- und Aufstellungsart, damit zu verbindende Sammlungen und Ortsjahrbücher, Leipzig 1838; H. 2: Ueber Vereins-, Schul-, Dorf- und Privatbibliotheken, wissenschaftliche Sammlungen, Lesezirkel-Einrichtungen und verwandte Gegenstände, Leipzig 1840. Das literarisch-publizistische Œeuvre von Preusker fällt außerordentlich umfangreich aus. Insgesamt hat er 275 Schriften verfasst oder herausgegeben. Eine vollständige Übersicht seiner Publikationen findet sich in: Felicitas MARWINSKI, Karl Benjamin Preusker (1786–1871). Chronologie seines Lebens und Wirkens mit einer Bibliographie seiner Schriften und der über ihn erschienenen Literatur, Großenhain 1986, S. 27–56. Geschichte einer Gemeindebibliothek, in: AANZD, Nr. 314 vom 17.11.1841, Sp. 4081– 4087; Die Gutenbergs=Bibliothek in Neukirchen, in: AVD, Nr. 16–18, 1845, S. 125–127, 134 f. u. 139–143. Die Gutenbergs=Bibliothek zu Neukirchen, in: AVD, Nr. 18, 1845, S. 139–142. Zur Geschichte der „Gutenbergs-Bibliothek“ in Neukirchen vgl. außerdem Felicitas MARWINSKI/Konrad MARWINSKI, Heinrich Schwerdt und die Volksbibliotheken im Herzogtum Sachsen-Gotha. Eine Dokumentation, in: Ulman WEIß (Hg.), Buchwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Helmut Claus zum 75. Geburtstag, Epfendorf/Neckar 2008, S. 431–457. Vgl. hierzu Felicitas MARWINSKI, „Stiftungsurkunden“ thüringischer Bibliotheken vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Peter VODOSEK/Alistair BLACK/Peter HUARE (Hg.), Mäzenatentum für Bibliotheken. Philantropy for libraries, Wiesbaden 2004, S. 193–228. Zur Entstehungsgeschichte einer weiteren Dorfbibliothek im Herzogtum Sachsen-Gotha siehe die Ausführung in Felicitas MARWINSKI/Konrad MARWINSKI, Die Volksbibliothek zu Thal im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens (1844–1853). Ein Beitrag zur Entwicklung des Volksbibliothekswesens im Herzogtum Sachsen-Gotha. Dokumente zur Entstehung,

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Bibliothekseinrichtungen wurden zum Erfolgsmodell und so setzte sich nach der Revolution von 1848/49 auf Seiten der Obrigkeit die Ansicht durch, dass diese zunächst aus privater Initiative hervorgegangenen und getragenen Bildungseinrichtungen nun in öffentliche Hand überführt werden sollten.71 Das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha war schließlich der erste thüringische Kleinstaat, in dem unter staatlicher Leitung in den Dörfern und Kleinstädten des gothaischen Landesteils ein flächendeckendes Netz von Volksbibliotheken aufgebaut wurde, in das die bereits bestehenden Dorfbibliotheken integriert und somit in kommunale Trägerschaft überführt wurden.72 Auf diese Weise konnten nicht nur Unterhalt und Betrieb der Volksbibliotheken dauerhaft gesichert, sondern auch das Lektüreangebot kontinuierlich erweitert werden. Vom gesellschaftlichen Nutzen dieser Lese- bzw. Bildungsanstalten überzeugt, blieben die Volksbibliotheken auch in der Folgezeit vielerorts in staatlich-öffentlicher Hand und hatten in dieser Form nicht selten bis ins 20. Jahrhundert Bestand.

Organisationsform und Wirkungsweise eines Prototyps. Zugleich eine Studie zum Fortwirken der populären Aufklärung im 19. Jahrhundert, in: SCHMITT u.a. (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie (wie Anm. 2), S. 359–389. 71 Erste Auswertungen von Leihverzeichnissen zeigen, wie erfolgreich die Volksbibliotheken waren und dass die dort angebotene Lektüre durchaus den Lesebedürfnissen der kleinstädtisch-ländlichen Bevölkerung gerecht wurde. So haben Felicitas und Konrad Marwinski genaue Zahlen vorgelegt, die eine intensive Nutzung der Bibliotheken eindeutig belegen. Allein für sieben der 16 Volksbibliotheken im Herzogtum Sachsen-Gotha (Molschleben, Tenneberg, Thal, Friedrichswerth, Tonna, Nazza, Herbsleben) konnten sie im Zeitraum von 1850 bis 1855 mehr als 56.000 registrierte Entleihungen nachweisen. Vgl. ebd., S. 387 f. 72 Vgl. hierzu ausführlich KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 2), S. 505– 512 sowie 577–588 (Anhang B); Peter VODOSEK, Beispiele staatlicher Förderung von Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Paul KAEGBEIN/Peter VODOSEK (Hg.), Staatliche Initiative und Bibliotheksentwicklung seit der Aufklärung, Wiesbaden 1985, S. 23–27 u. 50–53; DERS., Auf dem Weg zur öffentlichen Literaturversorgung, Wiesbaden 1985, S. 160 f. u. 163–167.

K O N R A D M A R W I N S K I (†) DIE „PRINZESSINNEN-BIBLIOTHEK“ IN SONDERSHAUSEN

Die „Prinzessinnen-Bibliothek“ in Sondershausen Lektürekonzepte im Spannungsfeld zwischen Stadtkultur und fürstlichem Mäzenatentum*

Im Gegensatz zu anderen thüringischen Staaten, wo spätestens im 19. Jahrhundert allerorts öffentliche Bibliotheken gegründet wurden, existierte bis ins frühe 20. Jahrhundert im Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen keine solche Einrichtung. Erst im Jahr 1913 gelang es, eine repräsentative, allgemein öffentlich zugängliche Bibliothek zu errichten, indem Teile der Sondershäuser Ministerialbibliothek, der Arnstädter Gymnasialbibliothek und Leihgaben aus der Sondershäuser Kirchenbibliothek zu St. Trinitatis zusammengeführt wurden.1 Die Initiative war von dem Regierungs- und Schulrat Carl Schnobel ausgegangen, der seit dem 1. November 1910 in der Residenzstadt als Direktor des Fürstlichen Gymnasiums, des Realprogymnasiums und der Fürstlichen Realschule tätig war. Am 7. Juni 1913 erfolgte die Gründung der Fürstlichen Schwarzburgischen Landesbibliothek, mit deren nebenamtlicher Verwaltung er dann seit dem 24. Juni 1913 beauftragt war. Bereits im Jahr darauf veröffentlichte Schnobel ein Verzeichnis der Inkunabeln,2 1917 folgte ein Katalog der damals vorhandenen Schwarzburgica, der „das Interesse für die geschichtliche und kulturelle Entwicklung des Schwarzburger Landes in weiteren Kreisen wieder wecken und zur Beschäftigung damit anregen“ sollte.3 Mit der Bildung des Landes Thüringen wurde die ursprünglich Fürstliche Schwarzburgische Landesbibliothek durch den Studienrat Dr. Johannes Bergner *

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Kurz vor der Drucklegung erreichte uns die traurige Nachricht, dass Konrad Marwinski wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau Felicitas am 22. Juli 2019 verstarb. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die letzte Publikation, die Konrad Marwinski vor seinem Tod verfasst hat. Zur Bibliotheksgeschichte Sondershausens vgl. Felicitas MARWINSKI/Christa HIRSCHLER, Sondershausen 1, Bibliothek im Schloßmuseum, in: Friedhilde KRAUSE (Hg.), Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 21: Thüringen S–Z, bearb. von Felicitas MARWINSKI, Hildesheim/Zürich/New York 1999, S. 61–67. [Carl SCHNOBEL], Verzeichnis der Wiegendrucke. Fürstlich Schwarzburgische Landesbibliothek zu Sondershausen, Sondershausen 1914. [DERS.], Verzeichnis der Schwarzburgica. Fürstlich Schwarzburgische Landesbibliothek zu Sondershausen, Sondershausen 1917, Nr. 1798.

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neu gestaltet,4 die Modernisierung zur „allgemein-öffentlichen Bildungsbücherei“ erfolgte nach den Grundsätzen der 1914 in Leipzig von Walter Hofmann gegründeten Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen. Am 3. November 1924 wurde die Thüringische Landesbücherei Sondershausen im ehemaligen Prinzenpalais eröffnet,5 sie erfuhr von vielen Seiten „mannigfache Förderung“. Im ersten Jahresbericht 1924/1925 ist zu lesen: „An erster Stelle seien unter Wiederholung tiefsten Dankes die Spenden genannt, die in hochherzigem Empfinden für die Sache der Volksbildung Ihre Hoheit die Fürstin-Witwe Marie von Schwarzburg-Sondershausen der Bücherei zukommen ließ: gegen 800 halbledergebundene Bücher und zwei prächtige Schränke, die jetzt eine Zierde der Vorhalle der Bücherei sind.“6

Die für diese Stiftung gebräuchliche bibliotheksinterne Bezeichnung „Prinzessinnen-Bibliothek“ sollte wahrscheinlich andeuten, dass die Sammlung aus fürstlichem Privatbesitz hervorgegangen war. Ihr ursprünglicher Inhalt bezeugte die Lesekultur früherer Besitzer, deren Nachfolge die neue Bildungsbibliothek antrat. Vermutlich um Verluste auszugleichen, aber auch um Zusammengehöriges an einer Stelle nachzuweisen, wurde die Sammlung später durch Bücher aus anderen Quellen wie zum Beispiel aus dem Fürstlichen Landesseminar Sondershausen angereichert. Die Sammlung7 enthält zahlreiche Erstausgaben, die zum Teil in einheitlich gestalteten schlichten Halblederbänden überliefert sind. Es ist durchaus denkbar, dass manches dieser Werke in der „Prinzessinnen-Bibliothek“ im Ausbildungsprogramm der späteren Stifterin eine Rolle gespielt hat.

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Dr. Johannes Bergner (1892–1977), von Ostern 1923 bis März 1927 Studienrat am Lehrerseminar und an der Deutschen Aufbauschule in Sondershausen, ab 1.1.1927 tätig im Thüringischen Ministerium für Volksbildung und Justiz, Abt. Volksbildung; vgl. [Hermann GRESKY], Denkschrift zur Auflösung des ehemals Schwarzburg-Sondershäuser Landesseminars späteren Thüringischen Lehrerseminars in Sondershausen, Sondershausen 1927, S. 47 f. Benutzungsordnung für die Öffentliche Thüringische Landesbücherei Sondershausen. Gültig vom 1.11.1924, in: Der Deutsche. Sondershäuser Zeitung, Nr. 257 vom 25.10.1924, S. 2. Johannes BERGNER, Die Thüringische Landesbücherei Sondershausen vom April 1924 bis März 1925, in: Der Deutsche. Sondershäuser Zeitung, Nr. 86 vom 14.4.1925. Dieser Teilkatalog ist digital erfasst: Felicitas MARWINSKI/Konrad MARWINSKI, Schlossmuseum Sondershausen, Standortkatalog der Schwarzburgica-Sammlung für das Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen [Ausdruck Datenbank Schwarzburgica: Index 8, Bd. 3: Bestandsgruppe P (Nr. 1–360, 47 S.), Weimar u. Sondershausen 2016].

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Kurzcharakteristik der Bestandsgruppen8 Werke der Belletristik einschließlich der klassischen Literatur, Briefe und Theaterstücke stellen den Hauptanteil der Sammlung dar, gefolgt von der Reiseliteratur. Von geringerem Umfang sind Sachgruppen wie Geschichte, Theologie und Religion, Philosophie sowie Biographien und Nachschlagewerke. Bedeutungslos waren dagegen die Naturwissenschaften und das Staats- und Rechtswesen. Mit seinen Familiengeschichten, moralischen Erzählungen, kleinen Romanen, Märchen, Sagen und einem Sittenspiegel für das weibliche Geschlecht (Bd. 1–4, Görlitz 1804/05) ist August Heinrich Julius Lafontaine mit 24 Titeln (in 53 Bänden) als Autor am häufigsten vertreten, die Ausgaben erschienen zwischen 1789 und 1810. Lafontaines Werke – er schrieb etwa 150 Romane und Erzählungen –9 wurden in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Die Bändchen des beliebten Modeschriftstellers fanden sich, oft bis zur Unbrauchbarkeit zerlesen, in fast jeder Leihbibliothek.10 Der Erfolgsautor gewann seine Leserschaft durch die ausgeprägt moralische Tendenz seiner Familienromane, in denen er die Absicht verfolgte, „zu unterhalten statt zu belehren“. Als sein bekanntestes Werk gilt Klara du Plessis und Klairant (Berlin 1793), „eine Familiengeschichte Französischer Emigrierten“, illustriert von Daniel Chodowiecki, dem „bekanntesten und einflußreichsten deutschen Buchillustrator des 18. Jahrhunderts“.11 Eine weitere Bestandsinsel bildet die Etui-Bibliothek der deutschen Klassiker, die insgesamt 100 Nummern umfasste, von denen 55 Stücke vorhanden sind: Nr. 1, 2, 4–6, 10–19, 21–26, 28–39, 41–43, 45–49, 51–64. Die Provenienzangabe in Nr. 1 und 2 „von Wedemeyer“ legt die Vermutung nahe, dass auch diese Bändchen erst später dem Sonderbestand hinzugefügt wurden. Die Schriftenreihe enthielt „in einer strengen Auswahl das Vorzüglichste der Gedichte und prosaischen Schriften“ der bekanntesten Autoren der damaligen Zeit, jeweils „mit einer Biographie oder Beurteilung des in sich fassenden Schriftstellers versehen“.12 Zu den Lieblingsautoren des Zwickauer Verlegers August Schumann gehörte Friedrich Schiller, womit auch das Unternehmen begann: Gedichte 8

Die Umfangsangaben bei mehrbändigen Werken beziehen sich auf die in Sondershausen vorhandenen Bände. 9 Karl GOEDEKE, Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, Bd. 5: Vom siebenjährigen bis zum Weltkriege, Abt. 2, Dresden 21893, S. 478 f. 10 Horst KUNZE (Hg.), Lieblingsbücher von dazumal, eine Blütenlese aus den erfolgreichsten Büchern von 1750–1860, München 1973, S. 95. 11 Joachim KIRCHNER (Hg.), Lexikon des Buchwesens, Bd. 1, Stuttgart 1952, S. 144. 12 Zur Verlagsgeschichte der Schriftenreihe vgl. Felicitas MARWINSKI, Bücher „en miniature“ aus Zwickau. Die Taschenbuchreihen der Verlagsbuchhandlung Gebr. Schumann, Köln 2011, S. 43–53 u. 77–92.

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(Nr. 1, 4. Etui-Ausg., 1819), Maria Stuart (Nr. 5, 2. Etui-Ausg., 1815), Wallenstein (Nr. 10, Teil 2, 3. Etui-Ausg., 1817), Die Jungfrau von Orleans (Nr. 14, 3. EtuiAusg., 1817 ), Wilhelm Tell (Nr. 21, 2. Etui-Ausg., 1816), Die Räuber (Nr. 26, 1818), Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (Nr. 31, 1817) und Kabale und Liebe (Nr. 35, 1817). Unter den mit Sorgfalt und Sachkenntnis für die Etui-Bibliothek ausgewählten Werken sind Klopstocks Oden (Nr. 2, 3. Etui-Ausg., 1817) und dessen Messias (Nr. 55 und 56, Theil 1–2, 1821) anzutreffen, außerdem Lessings Emilia Galotti (Nr. 4, 3. Etui-Ausg., 1817), Höltys Gedichte (Nr. 6, 3. Etui-Ausg., 1817), Wielands Oberon (Nr. 17 und 18, 2. Aufl., Theil 1–2, 1817), Herders Poesien (Nr. 19, 2. Etui-Ausg., 1818), Carl Theodor von Dalbergs Schriften (Nr. 58, 1821) und Theodor Körners Gedichte (Nr. 34, 2. Etui-Ausg., 1817). Die genannten Titel bestätigen, dass Schumann bei der Gestaltung der Etui-Bibliothek von dem Gedanken getragen wurde, „wertvollen Lesestoff in wohlfeilen Ausgaben an breite Leserschichten heranzutragen“,13 ein ähnliches Konzept verfolgte wohl auch die Stifterin der „Prinzessinnen-Bibliothek“. Auch Schumanns Bibliothèque portative des Auteurs classiques François ist mit mehreren Bändchen vertreten. Ein späteres Unternehmen, die Goldene Klassiker-Bibliothek (Hempels Klassiker-Ausgaben in neuer Bearbeitung), begann um 1900 in Berlin, Leipzig, Wien und Stuttgart im Deutschen Verlagshaus Bong & Co. Es ist u.a. mit Werken von Joseph von Eichendorff, Ludwig Uhland, Nikolaus Lenau, Wilhelm Hauff und Friedrich Hebbel präsent. Als Übersetzungen erschienen für deutsche Leserinnen und Leser Homers Werke (Bd. 1–4, Königsberg 21802), die ebenso wie Ovids Metamorphoses (unter dem Titel Verwandlungen, Bd. 1–2, Berlin 1798) von Johann Heinrich Voß übersetzt wurden, der die beiden Heldenepen Ilias und Odyssee in weiten Bevölkerungskreisen bekannt machte. Die Tragödien des Sophokles liegen in der Übersetzung von Christian Graf von Stolberg vor (Bd. 1, Leipzig: Göschen, 1787). Ciceros Sämmtliche Briefe (Bd. 1–3, Zürich 1808–1809) wurden von Christoph Martin Wieland übersetzt und erläutert. Die göttliche Komödie des Dante übersetzte und erklärte Karl Ludwig Kannegießer (Teil 1 und 3, Leipzig 21825; mit Plan der Hölle und Paradieskarte), Ariosts Rasender Roland (Teil 1–2, Jena 1804) und Torquato Tassos Befreites Jerusalem (Bd. 1–4, Jena 1800–1803) übertrug der in Jena lebende Jurist und Privatgelehrte Johann Diederich Gries für seine Zeitgenossen ins Deutsche, die Schauspiele von Pedro Calderón de la Barca (Bd. 1–6, Berlin: Nicolai, 1815–1824) transformierte er für das deutsche Theater. Von Wieland sind weiterhin dessen Agathon (Leipzig 1773), das Neujahrsgeschenk für 1805 und Krates und Hipparchia (Tübingen 1804) zu nennen, von Johann Gottfried Herder die Briefe zur Beförderung der Humanität (Riga 1793–1797) 13 Ebd., S. 43.

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und dessen Werke (Bd. 1–8, 10–14, 16–20, Stuttgart und Tübingen 1827–1830). Schillers Kleinere prosaische Schriften (Leipzig 1792–1801) und die Musenalmanache für 1796 und 1800 bereichern die Sammlung; der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe umfasst sechs Bände (Stuttgart und Tübingen 1828–1829). Von beiden Dichtern stehen dem Leser mehrere Werkausgaben zur Verfügung, darunter Schillers Sämmtliche Werke (Bd. 1, 3–11, 13–18, Karlsruhe 1816–1817) und Goethes vollständige Ausgabe letzter Hand (Bd. 1–10, 13–18, 21–40, Stuttgart und Tübingen 1827–1830). Mit mehr oder weniger vollständig gesammelten Werken sind außerdem Martin Luther, William Shakespeare, Gotthold Ephraim Lessing, Christian Fürchtegott Gellert, König Friedrich II. von Preußen, Johann Heinrich Voß, August Wilhelm Iffland (Dramatische Werke, Bd. 2–8, Leipzig 1798–1799), Heinrich Heine und der Historiker Johannes von Müller (Bd. 1–40, Stuttgart 1831– 1835) in die Sammlung aufgenommen worden. John Miltons Verlorenes Paradies (Bd. 1–2, Zürich 1799), August Wilhelm Schlegels Schriften Über dramatische Kunst und Literatur (Teil 1–2, Heidelberg 1809), Der Zauberring (Teil 1–3, Nürnberg 1812) von Friedrich de la Motte-Fouqué, Ferdinand Stolles Erzählungen (Bd. 1, Leipzig 1847) und der vaterländische Roman Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (Bd. 1, 2, 4, 5, Berlin 1852) von Willibald Alexis ergänzen den Bestand. Unter den Schriftstellerinnen wurde Caroline von Wolzogen, geb. von Lengefeld, die Schwägerin Schillers, durch ihren Roman Agnes von Lilien (Teil 1–2, Berlin 1798) bekannt, der zuerst in den Horen anonym erschien. Sophie von La Roche verfasste die Geschichte von Miß Lony und der schöne Bund (Gotha 1789), von Christiane Benedikte Naubert, die etwa 50 historische Romane schrieb, ist Elisabeth, Erbin von Toggenburg oder Geschichte der Frauen von Sargans in der Schweiz (Leipzig 1789) überliefert. Emilie von Berlepsch, Franziska (Fanny) Tarnow und Karoline de la Motte-Fouqué, Gemahlin des eben genannten Dichters Friedrich de la Motte-Fouquè, sind mit Werken im Bestand. Letztere äußerte sich Ueber deutsche Geselligkeit in Antwort auf das Urtheil der Frau von Staël (Berlin 1814, noch unaufgeschnitten). Die französische Schriftstellerin Anne Louise Germaine Baronne de Staël Holstein hatte in dem Reisebericht De l’Allemagne (Tome 1–6, Paris 1810–1814) das deutsche Geistesleben für das französische Lesepublikum geschildert, sie gab auch die Lettres et pensées (Paris 31810) des österreichischen Feldmarschalls und Staatsmanns Fürst Karl Joseph von Ligne heraus. – In französischer Sprache sind überhaupt nur wenige Texte vorhanden, darunter die Chefs-d’Oeuvre (éd. stéréotype, T. 1–3, Paris 1800) von Pierre Corneille, Schöpfer des klassischen französischen Trauerspiels, die Oeuvres choisies (T. 2, Zwickau 1820) des Lustspieldichters Molière, die Oeuvres (T. 1–5, Paris 1799–1803) des Tragödiendichters der französischen Klassik Jean Baptiste Racine und die mit Kupfern von Hubert François Gravelot, einem der Hauptmeister der französischen Buchillustration, ausgestattete Collection Complette des Oeuvres (T. 1–6,

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Genève 1768) von Voltaire, auch die Oeuvres completes (T. 1–11, 15–26, 29, 30, 33–34, Basle 1793–1795) von Jean-Jacques Rousseau, sind vorhanden. Der berühmte Erziehungsroman Les Avantures de Telemaque, Fils d’Ulysse (nouv. ed., Breslau 1791, Prov.: Riegel) von François de Salignac de la Mothe-Fénelon stand ebenfalls zur Lektüre bereit. – In englischer Sprache waren nur The works of the Right Honorable Lord Byron (Vol. 1–7, 9, 11–12, Leipzig 1818–1822) vorhanden. Vom Umfang her folgen der Belletristik Reisewerke, die in den Jahrzehnten zwischen 1764 bis 1839 erschienen sind, der Schwerpunkt liegt wiederum in den 1790er Jahren. Ein großer Teil der Reisebeschreibungen, die zum Sachbuch überleiten, wurde kurz nach Rückkehr der Reisenden verfasst, sie spiegeln deshalb das Erlebte unmittelbar wider und können für die nachfolgenden Generationen als kulturgeschichtliche Quellen aufschlussreich sein. Nur drei Reiseführer befassen sich direkt mit einem bestimmten Ort, nämlich Kassel, Teplitz und Prag. Die Routen wurden fast immer von den Reisenden selbst festgelegt, das beliebteste Reiseziel war Italien, nach Osten richtete sich der Blick seltener. Aus den Tagebüchern von Schiffskapitänen stellte John Hawkesworth eine Ausführliche und glaubwürdige Geschichte der neuesten Reisen um die Welt (Bd. 4 vorh., Berlin 1755; Prov.: von Hopffgarten) dar, welche auf Befehl und Kosten des Königs von England in den Jahren von 1764 bis 1772 unternommen worden waren, um die äußere Gestalt unserer Erdkugel näher kennen zu lernen und im noch unerforschten Südmeer neue Länder zu entdecken, übersetzt von Johann Friedrich Schiller (1757–1814). Carl Gottlob Küttner berichtete über seine Reise durch Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen und einen Theil von Italien in den Jahren 1797, 1798, 1799 (Teil 1–4, Leipzig 1801). In die Ferne führte die Reise der englischen Gesandtschaft an den Kaiser von China in den Jahren 1792 und 1793 (Bd. 1–2, Zürich 1798). Die Fakten wurden von dem königlichen Sekretär bei der chinesischen Gesandtschaft Sir George Staunton zusammengetragen und von dem Mitgefährten Johann Christian Hüttner ins Deutsche übersetzt. Der Dichter und Theologe Friedrich Leopold Graf zu Stolberg schildert eine Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien (Bd. 1–4, Königsberg 1794), Jean Pierre Laurent Houels Reisen durch Sizilien, Malta und die Liparischen Inseln (Theil 1–3, unvollst., Gotha 1797–1801) wurden „aus dem großen und kostbaren französischen Originalwerke“14 übersetzt und mit Kupfern illustriert, die Mahlerische und historische Reise in Spanien (Bd. 1–3, Leipzig 1809–1811) von Alexander de Laborde und einer Gesellschaft Gelehrter und Künstler in Madrid erarbeitet, ist ebenfalls mit Kupfertafeln ausgestattet. In Briefen an einen jungen Freund in Deutschland berichtet der Pädagoge und Jugendschriftsteller Joachim Heinrich 14 Jean HOUEL, Voyage Pittoresque Des Isles De Sicile, De Malte Et De Lipari, Où l’on traite des Antiquité qui s’y trouvent encore, du Costume des Habitans, & de quelques Usages, Paris 1782–1787.

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Campe über seine Reise durch England und Frankreich (Teil 2, Braunschweig 1803), die mit der Rückreise von Paris nach Braunschweig (Braunschweig 1804) einen Nachtrag erhielt. Der vormalige Offizier Johann Friedrich von Weech war während der Jahre 1823 bis 1827 auf einer Reise über England und Portugal nach Brasilien und den vereinigten Staaten des La-Plata-Stromes (Teil 1–3, München 1831) unterwegs, seinem Werk setzte er als Motto „Nur Reisen ist Leben“ (Jean Paul) voran. Otto von Pirch, „Premier-Lieutenant im Königl. Preuß. Ersten Garde-Regiment“, erzählt von einer Reise in Serbien im Spätherbst 1829 (Teil 1–2, Berlin 1830), während der Färbereifabrikant, Publizist und Weltreisende Johann Heinrich Mayr über die Schicksale eines Schweizers während seiner Reise nach Jerusalem und dem Libanon (Bdchn. 1–3, St. Gallen 1815) und Gotthilf Heinrich von Schubert, Naturforscher und Philosoph, über seine Reise in das Morgenland in den Jahren 1836 und 1837 (Bd. 1–3, Erlangen 1838–1839) mit einem Grundriss von Jerusalem, der heute leider fehlt, berichten. Klassische Bildung, Geist und Energie des Ausdrucks verraten die Briefe der Lady Marie Worthley Montague, die sie „während ihrer Reisen in Europa, Asia und Afrika an Personen vom Stande, Gelehrte etc. in verschiedenen Theilen von Europa geschrieben, welche außer andern Merkwürdigkeiten, Nachrichten von der Staatsverfassung und den Sitten der Türken enthalten“. Sie schöpfte aus Quellen, „die für andere Reisende unzugänglich gewesen“ waren (T. 1–2, Leipzig 1764–1767). Die Briefe der Lady Elisabeth Craven über eine Reise durch die Krimm nach Konstantinopel (Leipzig 1789) waren „an Sr. Durchlaucht den regierenden Markgrafen von Brandenburg-Anspach“ gerichtet. Das Tagebuch einer Reise durch einen Theil Deutschlands und durch Italien in den Jahren 1804 bis 1806 (Bd. 1–4, Berlin 1815–1817) führte Elisa von der Recke, geborene Reichsgräfin von Medem, sie versah das Werk mit einer gedruckten Widmung an die „Großfürstin Maria Paulowna, Erbprinzessin von Weimar-Eisenach“. Johanna Schopenhauer, die 1806 nach Weimar kam, wo sie einen Salon führte, berichtete über ihre Reise von Paris durch das südliche Frankreich bis Chamouny (Bd. 1–2, Leipzig 21824) und später über einen Ausflug an den Niederrhein und Belgien im Jahr 1828 (Leipzig 1831). Unter dem Schrifttum zur Geschichte befindet sich die Allgemeine Sammlung Historischer Memoires vom zwölften Jahrhundert bis auf die neuesten Zeiten (Abt. 1 und 2, Jena 1790–1792), die von mehreren Verfassern übersetzt und „jedesmal mit einer universalhistorischen Übersicht begleitet“, von Friedrich Schiller, Professor der Philosophie in Jena, herausgegeben wurde. Johann Matthias Schroeck, Professor für Geschichte in Wittenberg, verfasste bereits eine mit 100 Kupfern illustrierte Allgemeine Weltgeschichte für Kinder (Theil 1–4, Leipzig 1780–1802, versch. Aufl.). Vorhanden sind auch das „Riesenwerk“ Geschichte Schweizerischer Eidgenossenschaft (Teil 1–5, Leipzig 1806–1808) des vielseitig wirkenden Historikers Johannes von Müller, die Dichtung Saly’s Revoluzionstage (Winterthur 1814) des

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Schweizer Schriftstellers Ulrich Hegner, Polen im siebzehnten Jahrhunderte oder Johannes der Dritte, Sobieski und sein Hof (Teil 1–5, Halberstadt 1829–1830) von Alexander Bronikowski, Teutschlands Geschichte für alle Stände teutscher Zunge (Bd. 1–4, München 1832–1834) von Joseph Heinrich Wolf und von Karl August Limmer, vormals evangelischer Pastor zu Saratow, der illustrierte Entwurf einer urkundlichen Geschichte des gesammten Voigtlandes (Bd. 1–4, Gera 1825). Biographien wurden in umfangreichen Sammlungen erfasst, wie zum Beispiel die Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst (Bd. 1–6, Winterthur 1793–1806) mit „einigen einleitenden Briefen des seligen Herrn von Herder“ und die „Gemälde weiblicher Größe und Schwäche“ in den Biographien, Skizzen und Charaktere berühmter Königinnen (Hamburg 1797). Der Deutsche RegentenAlmanach (Jg. 1, 2 und 4, Ilmenau 1825–1829) stellte eine „historisch-biographische Galerie der jetzt regierenden hohen Häupter“ dar. Einzeldarstellungen liegen unter anderem von Jakob Böhme, Peter dem Großen, Kardinal Richelieu, Schiller und Heinrich Zschokke vor. Philosophische Fragestellungen werden in dem Lehrgedicht von Alexander Pope Versuch vom Menschen (Hamburg 1740; Prov.: Gymn. Arnstadt) erörtert, Johann Gottfried Herder entwickelte Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Teil 1–4, Riga 1785–1792), Johann Georg Sulzer eine Allgemeine Theorie der Schönen Künste (neue verm. Aufl., Teil 2 und 3, Leipzig 1786). Von dem Erfurter Koadjutor Carl Theodor von Dalberg stammen die Grundsaetze der Aesthetik (Erfurt 1791), während der lutherische Theologe Daniel Jenisch über Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts (Teil 1–3, Berlin 1800–1801) reflektierte. Pädagogische Texte stammen u. a. von Stéphanie Félicité de Saint-Aubin de Genlis, Marquise von Sillery, die auch als Harfen- und Klaviervirtuosin auftrat. Sie verfasste Adèle et Théodore ou lettres sur l’éducation (T. 1 und 3, Paris 21782) und La Duchesse de la Vallière (Tome 1–2, Paris 1804). Christian Adolph von Seckendorffs Briefe an einen Prinzen von seinem Begleiter auf Reisen (Leipzig 1805) äußern sich über die Pflichten von Regenten und enthalten „Winke für Regierungen, das Beste der Länder betreffend“. Interessante Erzählungen aus der Welt- und Menschengeschichte zur Unterhaltung für wißbegierige Bürger und Landleute (Leipzig 1802) verfasste F. Morgenroth, Privatlehrer zu Weißensee, er empfahl sie auch als „nützliches Lesebuch für Schulen zum moralischen Unterricht“. Das Buch der Mütter (nur H. 1, Zürich 1803) von dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi und die Ausführungen Über Erziehung der Erzieher (München 1809) von dem Lehrer der Pädagogik Johann Michael Sailer, später Bischof in Regensburg, sind ebenfalls in der Sammlung anzutreffen. Theologisches Schrifttum und Erbauungsliteratur sind kaum vertreten. Die Geschichte der Kirche Christi (Bd. 1–5, Gnadau 1819–1822) wurde von Joseph Milner, Oberpfarrer an der Dreifaltigkeitskirche zu Hull in der Grafschaft York, verfasst und von Peter Mortimer aus dem Englischen übersetzt, das Handbuch

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der Religionen (Bd. 1–2, Berlin 31783) erarbeitete der rationalistische Theologe Johann August Hermes. Es war weit verbreitet, genauso wie die Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen (Teil 1–2, Leipzig 1785) des reformierten Predigers Georg Joachim Zollikofer. Die Grundlehren der Religion (München 1805) des katholischen Theologen und späteren Bischofs von Regensburg Johann Michael Sailer waren als ein „Leitfaden zu seinen Religionsvorlesungen an die akademischen Jünglinge aus allen Facultäten“ gedacht. Periodisches Schrifttum ist in der „Prinzessinnen-Bibliothek“ nicht gepflegt worden, Publikationen dieser Art sind zumeist unvollständig, das trifft auch auf Goethes langzeitiges Unternehmen Über Kunst und Alterthum (Stuttgart, 1816–1825, lückenhaft) zu. Herders Kritische Wälder (Bd. 1–3, Riga 1769) und dessen Adrastea15 (Leipzig, Bd. 1–6, 1801–1803) sind dagegen vollständig im Bestand. Einige wenige Almanache und Taschenbücher vermitteln eine Vorstellung von dieser weitverbreiteten, für die Jahrzehnte um 1800 beliebten Publikationsform. Den Lesern standen als Nachschlagewerke ein Geographisch-Historisch-Statistisches Zeitungs-Lexicon (Teil 1–2, Nürnberg, 1782–1784) von Wolfgang Jäger, Professor zu Altdorf, und ein Konversationslexikon, die Allgemeine deutsche RealEncyclopädie für die gebildeten Stände (5. Orig.-Ausg., Bd. 1–10, Leipzig: Brockhaus, 1819–1820) zur Verfügung, ergänzt durch ein Natur- und Kunstlexicon (Bd. 1–3, Weimar: Verl. des Industrie-Comptoires, 1801–1804), das „die wichtigsten und gemeinnützigsten Gegenstände aus der Naturgeschichte, Naturlehre, Chemie und Technologie zum bequemen Gebrauch auch für Ungelehrte und für gebildete Frauenzimmer“ behandelte.

Zur Biographie der Stifterin Man kann davon ausgehen, dass der literarische Gehalt der beiden Schränke der Stifterin vertraut war, denn die Fürstin-Witwe Marie war eine gebildete und hochherzige Frau. Sie wurde am 28. Juni 1845 in München als Tochter des in bayrischen Militärdiensten stehenden Prinzen Eduard von Sachsen-Altenburg, des Bruders der Königin Therese von Bayern, geboren.16 Ihre Mutter war Prinzessin Luise Caroline von Reuß-Greiz, die am 8. März 1842 die zweite Gemahlin des Prinzen Eduard wurde. Dieser war in erster Ehe mit der Prinzessin Amalie von Hohenzollern-Sigmaringen vermählt gewesen. Der zweiten Ehe 15 Adrastea: Göttin der Wahrheit und der Gerechtigkeit. 16 Hier und im Folgenden nach Nekrolog: Die Fürstin-Witwe Marie von SchwarzburgSondershausen, in: Der Deutsche. Sondershäuser Zeitung, Nr. 155 vom 5.7.1830.

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entstammten die beiden Kinder Prinz Albert und Prinzessin Marie, die in München eine glückliche Jugendzeit verlebten. Sie empfingen in der unter König Ludwig II. aufblühenden Kunststadt lebhafte Anregungen für alles Schöne. Im gastlichen Elternhause wurde aber auch der Sinn für Mildtätigkeit früh in ihnen geweckt. Nach dem Tod des Vaters siedelte die Mutter mit den Kindern nach Schloss Nymphenburg über, sie heiratete 1854 den Fürsten Heinrich IV. Reuß zu Köstritz17 und verstarb am 28. Mai 1875. Nach ihrer Konfirmation im April 1860 lebte die Prinzessin Marie in Altenburg, wo sie, aufgenommen in die Familie des Herzogs Ernst I. von SachsenAltenburg, durch die Hofdame Fräulein Liederer von Liederskron in neun Jahren eine vorzügliche Erziehung und Ausbildung empfing, die gelegentlich durch ausgedehnte Reisen erweitert wurde. Hermann Schroedel charakterisierte die Gouvernante mit den Worten:18 „Die Dame war eine hervorragende Persönlichkeit, ausgezeichnet durch scharfen Verstand und reiches Wissen und durch ein warmes Herz. Sie vollendete nicht nur die Erziehung unserer Prinzessin in ganz vorzüglicher Weise, sondern verstand es auch, dem Herzen ihrer Hohen Schutzbefohlenen näher zu treten. Mit feinem Takt wußte Fräulein von Liederskron die zartesten Regungen des Geistes und Gemütslebens der Prinzessin Marie weiter zu bilden. Der Unterricht dehnte sich auf die mannigfaltigsten Gebiete aus, wobei Literatur und Geschichte Lieblingsfächer waren. […] In dem weiten Gedankenreich unserer Denker und Dichter wurde Prinzessin Marie heimisch wie selten jemand. Gern und mit größtem Interesse verfolgte sie die neuesten Erscheinungen der deutschen Literatur. Den weitverzweigten Bau der Weltgeschichte lernte sie spielend kennen und verstehen.“19

In Dessau lernte die junge Frau 1868 den Prinzen Karl Günther von Schwarzburg-Sondershausen20 kennen, das Paar verlobte sich und wollte noch im gleichen Jahr heiraten. Wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung der Braut konnte die Hochzeit aber erst am 12. Juni 1869 in der Schlosskirche zu Altenburg stattfinden. Der Einzug der Neuvermählten in die Stadt Sondershausen wurde zu einem festlichen Ereignis. Während des Deutsch-Französischen Krie17 Heinrich IV., Fürst Reuß zu Köstritz (1821–1894), bis 1883 kgl. preuß. Generalmajor der Kavallerie, ging als Pianist, Kammermusiker und Komponist in die Musikgeschichte ein. Von den drei Kindern wurde der Sohn als Fürst Heinrich XXIV. sein Nachfolger, die Tochter Eleonore Caroline Gasparine später Zarin von Bulgarien, wo sie das Sanitätswesen förderte. Ihre Schwester Prinzessin Elisabeth engagierte sich im Roten Kreuz (Hannover). 18 Hermann SCHROEDEL, Jugendgeschichte der Fürstin Marie von Schwarzburg-Sondershausen, in: DERS. (Hg.), Karl Günther, Fürst von Schwarzburg-Sondershausen, Leipzig 1905, S. 38–68. 19 Ebd., S. 41. 20 Vgl. Julius KAISER, Karl Günther, Fürst von Schwarzburg-Sondershausen, in: SCHROEDEL (Hg.), Karl Günther (wie Anm. 18), S. 21–38.

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ges 1870/71 stiftete die nunmehrige Erbprinzessin Marie unter anderem für die Verwundeten ein Hilfslazarett mit 30 Betten und gründete einen Unterstützungsverein, der Gelder für in Not geratene Soldatenfrauen und deren Kinder sowie für Verwundete sammelte. Nach dem Thronverzicht des an einem schweren Augenleiden erkrankten Fürsten Günther Friedrich Carl II. gelangte am 17. Juli 1880 Karl Günther an die Regierung. Der offizielle und feierliche Einzug des neuen Fürstenpaares in die Residenzstadt Sondershausen fand am 4. September 1880 statt.

Abb. 1: Bildnis der Fürstin Marie von Schwarzburg-Sondershausen

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Neben ihren sonstigen Verpflichtungen war die Landesfürstin auf kulturellem Gebiet und in sozialen Bereichen tätig, ihre besondere Fürsorge galt der Linderung allgemeiner Notstände. Auf ihre Veranlassung und unter ihrer Mithilfe wurden überall im Land Diakonissinnen-Stationen zur Krankenpflege gegründet, die größeren Orte des Landes erhielten Kochschulen zur Ausbildung der Mädchen in der Hauswirtschaft. Das Karl-Marien-Haus in Ebeleben diente der Erziehung gefährdeter Kinder. Weiterhin ermöglichte die Fürstin durch namhafte Zuschüsse die Gründung des Pflegeheims in Arnstadt21 und des Stifts in Sondershausen. Kirchen und Schulen sowie alle Vereinigungen, die im Dienste der Wohltätigkeitspflege standen, erhielten von Fall zu Fall Geldspenden: „Die einzelnen Landeskindern im Laufe von Jahrzehnten erwiesenen Wohltaten sind überhaupt nicht zu zählen, zumal hiervon nur ihre Weihnachtsboten Kenntnis hatten.“22 Gern hielt sich die Fürstin Marie in Gehren auf, dessen Schloss von ihr mit Kunstwerken aller Art ausgestattet wurde. Insbesondere sorgte sie für Erneuerung des von der Fürstin Auguste Dorothea von Arnstadt am Anfang des 18. Jahrhunderts hergestellten Puppenkabinetts,23 das damals als kulturgeschichtliches Zeugnis eigener Art nur noch im Germanischen Museum Nürnberg ein Gegenstück hatte. Sie ließ die zu ihrer Zeit in Vergessenheit geratene Sammlung mit den detailgetreuen Nachstellungen des höfischen Lebens im 17. und 18. Jahrhundert wieder herrichten, vergrößerte sie und gab ihr die verloren gegangene Bedeutung zurück. Dass bei dem Kunstverständnis der Fürstin auch Hofkapelle, Theater und Konservatorium gefördert wurden, war selbstverständlich: „Zahlreiche Talente wurden auf Kosten der Fürstin ausgebildet. Diese echt landesmütterliche Fürsorge wurde zu allen Zeiten von der gesamten Bevölkerung des Landes dankbar anerkannt. In besonderer Weise zeigte sich dies 1884 bei der silbernen Hochzeit des Fürstenpaares und 1905 beim 25-jährigen Regierungsjubiläum des Fürsten Karl Günther.“24

21 Reinhard SPECHT, 90 Jahre Stiftung „Marienstift“ in Arnstadt, in: Aus der Vergangenheit von Arnstadt und Umgebung. Ein Heimatkundliches Lesebuch 4 (1994), S. 70–76. Insgesamt standen dem Stiftungsausschuss bei der Gründung 66.150 Mark zur Verfügung, davon waren 15.000 Mark eine Spende von Fürstin Marie und 5.000 Mark vom Fürsten Karl. Die Fürstin übernahm außerdem das Protektorat. 22 Nekrolog (wie Anm. 16). 23 Annette Caroline CREMER, Mon Plaisir. Die Puppenstadt der Auguste Dorothea von Schwarzburg (1666–1751), Köln/Weimar/Wien 2015. Seit 1932 wird die Puppenstadt im Neuen Palais in Arnstadt ausgestellt. 24 Reinhard SPECHT, Stiftungen und stiftungsähnliche Vermögensmassen im Landkreis Arnstadt-Ilmenau, in: Aus der Vergangenheit von Arnstadt und Umgebung. Ein heimatkundliches Lesebuch 4 (1994), S. 59 f. Anlässlich der Silbernen Hochzeit des Fürstenpaares

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Die ohne Nachkommenschaft gebliebene Ehe des Fürstenpaares wurde am 28. März 1909 durch den Tod des Fürsten Karl Günther getrennt, der sein gesamtes Privatvermögen im Werte von mehreren Millionen Mark dem Land als Erbe hinterließ. Durch die Geldentwertung konnten diese Stiftungen allerdings nicht in dem vorgesehenen Umfang wirksam werden. Mit dem Tod des Fürsten war die Linie Schwarzburg-Sondershausen ausgestorben, Fürstentum und Titel gingen an den Fürsten Günther Victor von Schwarzburg-Rudolstadt über. Für die Fürstin-Witwe Marie wurde eine eigene Hofhaltung konstituiert, sie hielt sich überwiegend in den Schlössern Sondershausen und Gehren auf. Nach dem Ende der Monarchie 1918 erhielt sie Wohnrecht in einem Trakt des ehemaligen Residenzschlosses, welches sie sich mit dem abgedankten Fürsten Günther Victor und seiner Gattin Anna Luise von Schwarzburg teilte. Selbst als Witwe bezeugte die Fürstin noch ihre Hochherzigkeit (Gründung des Karl Günther-Erholungsheimes, von Lazaretten im Ersten Weltkrieg, Kinderspeisungen). An der stillen Feier ihres 80. Geburtstages nahmen 1925 alle Kreise der Bevölkerung Anteil. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in voller körperlicher und geistiger Frische im Schloss zu Sondershausen. Trotz ihrer Zurückgezogenheit verfolgte sie alle Geschehnisse noch mit Interesse und hörte bis zu ihrem Tod nicht auf, Wohltaten zu spenden, soweit die veränderten Zeitverhältnisse ihr dies gestatteten. Der Nachruf, der mit den Worten „Ihre Hoheit die Fürstin-Witwe Marie von Schwarzburg-Sondershausen ist heute morgen kurz nach Vollendung ihres 85. Geburtstages im hiesigen Schlosse nach schwerer Krankheit sanft entschlafen“, endete mit der Würdigung: „Durch ihr Lebenswerk hat sie sich selbst ein unverlöschbares Denkmal im Herzen der gesamten Bevölkerung errichtet. Auch die Geschichte unsrer Stadt und unsres ehemaligen Landes wird sie trotz der veränderten äußeren staatlichen Verhältnisse für alle Zeiten verzeichnen müssen als eine edle Landesmutter im wahrsten Sinne des Wortes. Sie ruhe in Frieden!“25

Engagement der Fürstin-Witwe Marie für eine städtische Volksbücherei In der eingehenden Würdigung von Fürstin-Witwe Marie werden bisher ihre kulturellen Bestrebungen in Richtung einer städtischen Volksbücherei nicht erwähnt. Während es im Umfeld der Stadt bereits 1825 in Großfurra eine (12. Juni 1894) sammelte ein Landeskomitee die Summe von 34.945 Mark, hinzu kam eine Spende des Fürstenpaares von 100.000 Mark für die Karl-Marien-Stiftung. 25 Nekrolog (wie Anm. 16).

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„gemeinnützige (Volks-)Bibliothek“ gab, die von Erwachsenen und Schulkindern „fleißig und unentgeltlich“ benutzt wurde,26 kam es in der Residenzstadt zu keiner ähnlichen Gründung, weil sie sich durch ein leistungsfähiges Buchhandels- und Leihbibliothekswesen erübrigte. 1798 hatte Friedrich Wilhelm Ackermann eine Leihbibliothek eingerichtet, die 1814 von Bernhard Friedrich Voigt gekauft und in sein buchhändlerisches Unternehmen integriert worden war. Der Buchhändler Friedrich Bertram erhielt 1864 die Konzession zu einer Leihbibliothek (1865: 2.378 Nummern), die mit einer Musikalien-Leihanstalt verbunden war (1865: 5.000 Notendrucke). Außerdem bildeten sich in der Stadt Privatbibliotheken größeren Umfangs heraus, die nach dem Tod ihrer Besitzer meistens mittels Auktionen aufgelöst wurden. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts kamen fachlich orientierte Gesellschafts- und Vereinsbibliotheken hinzu. Die Fürstin-Witwe Marie war daran interessiert, dass die Stadt ein „allgemein öffentliches Leseinstitut für breitere Leserschichten“ erhielt. Seit 1903 bestand bereits eine „Volks- und Jugendbibliothek“, die aber mehr den Charakter einer Schullesebibliothek besaß. Am 18. Januar 1911 spendete sie 1.000 Mark für die Einrichtung eines Lesezimmers, das die Einwohner auf eine zu gründende Volkslesehalle bzw. Volksbücherei einstimmen sollte.27 Die von der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung gestartete Werbeaktion „Gründet Bibliotheken“ könnte sie zu diesem Schritt veranlasst haben. Trotz dieser großzügigen Finanzierungshilfe verlief die Initiative im Sande, denn der Magistrat und sein Verhandlungspartner, der Zweigverein des Dürerbundes, kamen zu keiner Einigung. Im Oktober 1911 erkundigte sich die Fürstin nach dem Fortgang des gemeinnützigen Unternehmens, der Magistrat verwies auf den sich sperrenden Dürerbund,28 der inzwischen eine eigene Volksbücherei eingerichtet hatte (1911: 800 Bde., 130 Leser; 1922: 1.860 Bde., 5.750 Entleihungen). Die Fürstin-Witwe ignorierte den Alleingang, am 3. Februar 1914 ließ sie bei dem Magistrat durch ihren Hofmarschall nachfragen, wie es um die Volkslesehalle, deren Errichtung sie dringend wünsche, stehe. Im Ergebnis der Aussprache wurde eine Kombination von Lesehalle und Volksbücherei angestrebt, da es

26 Regierungs- und Intelligenz-Blatt für das Fürstenthum Sondershausen, Nr. 5 vom 28.1.1826, S. 41. 27 Zu den Verhandlungen vgl. Felicitas MARWINSKI, Von der Gründung der Fürstl. Ministerialbibliothek Sondershausen (1850/51) bis zur Herausbildung der Fürstl. Schwarzburgischen Landesbibliothek (1913), MS, in: Stadtarchiv Sondershausen, 1276, Bl. 3. Am 10.2. wurde der Fürstin-Witwe der Dank der Stadt ausgesprochen, am 3.4.1911 erfolgte die Überweisung des Betrages. 28 Ebd., Bl. 10.

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vorrangig um die Bereitstellung guter Lektüre gehe.29 Als zehn Jahre später die Thüringische Landesbücherei eröffnet wurde, bereicherte die Fürstin-Witwe Marie das Lektüreangebot, indem sie die beiden oben beschriebenen inhaltsreichen Bücherschränke stiftete.30 Es geschah vermutlich auch in der Absicht, eine Lücke im Bestand der Landesbücherei zu schließen, denn die Vorläufer-Bibliothek hatte nur dann der Belletristik Aufmerksamkeit geschenkt, wenn es sich um Werke einheimischer Schriftsteller (wie Johann Karl Wezel) und Schriftstellerinnen (wie Stefanie Keyser) handelte. Im Interesse ihrer Leser hatte die neu profilierte Bibliothek jedoch nur die aktuelle Buchproduktion und die Gegenwartsautoren im Blick, so dass die wertvolle Schenkung für sie nur den Rang einer literarischen Retrospektive besaß. Dem gegenüber hatte Fürstin Marie ein offeneres Literaturverständnis. In ihrem Bibliothekszimmer hinterließ sie neben anderen „diversen“ Bänden drei Bücherschränke,31 den Angaben nach dürfte es sich insgesamt um annähernd tausend Bände gehandelt haben.

Das Lektüre-Tagebuch als persönliches Bildungsdokument Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein kleines schwarzes Bändchen,32 worin laufend die (vor-)gelesenen Werke in Kurzform (Datum, Titel, Autor) eingetragen worden sind.33 Schriften über ihre Lektüre, die sie vom 4. November 1904 (erstes Werk: Friedrich der Große und der Konflikt mit seinem Vater/Reinhold Brode) bis Juni 1930 (als letztes Werk ein Gedenkbuch über die Schauspielerin Agnes Sorma/Julius Bab) kontinuierlich geführt hat. Dieses einmalige und in seiner Art seltene Lektüreprotokoll überliefert ebenfalls fast tausend Titelnachweise von Büchern, die im Verlauf eines Vierteljahrhunderts zur 29 Die Lesehalle kam daraufhin nicht zustande, die gestifteten 1.000 Mark wuchsen im Laufe der Jahre auf 1.513 Mark an, die durch die Inflation auf 155 bzw. 160 Mark reduziert wurden. 30 Der Schenkungsvorgang lässt sich aktenmäßig nicht dokumentieren, auch bleibt die Herkunft der Bücher (Antiquariat, Auktion, privater Vorbesitz) im Einzelfall offen. 31 Landesarchiv Thüringen-Staatsarchiv Rudolstadt, Hofhaltung der Fürstin-Witwe Marie von Schwarzburg-Sondershausen, Nr. 18, unpag. Unter Nr. 33 Bibliothekszimmer, Position 297 (die drei Bücherschränke gingen an das Land Thüringen), außerdem Position 302: „Diverse Bücher“, 85 in französischer Sprache erhielt lt. Testament Gräfin Pückler. Vgl. auch Nr. 36: Verzeichnis über den Nachlaß der am 5. Juli 1930 zu Sondershausen verstorbenen Fürstin-Witwe Marie von Schwarzburg-Sondershausen, Position 280. 32 Ebd., Nr. 19: Bücher, die mit Ihrer Hoheit gelesen [worden sind]. 33 Woher die Bücher bezogen wurden (Lesezirkel?) und auch deren Verbleib nach der Lektüre konnte nicht festgestellt werden.

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Kenntnis genommen worden waren. Es handelte sich hauptsächlich um Romane, Erzählungen, Biographien, Memoiren und Briefausgaben ausgewählter zeitgenössischer Autoren, besonders interessierte die Leserin das europäische Hofleben. Ihr spezielles Interesse galt den wechselvollen Schicksalen ihrer Mitmenschen. Unter den Schriftstellern befinden sich Georg Ebers (1829–1890; Archäologe), Peter Rosegger (1843–1918; österreichischer Erzähler), die beiden Unterhaltungsschriftsteller und Brüder Hanns von Zobeltitz (1853–1918) und Fedor von Zobeltitz (1857–1934), August Robert Sperl (1862–1926; Historiker), Sven Hedin (1865–1952; Reisender, Asienforscher), Rudolf Herzog (1871–1963; Dramatiker, Redakteur), Bruno Hans Bürgel (1875–1948; Astronom, Privatgelehrter) und Albert Schweitzer (1875–1965; Theologe, Organist, Missionsarzt). Von den zahlreichen Autorinnen sind zu nennen Agnes Sapper (1852–1929), Isolde Kurz (1853–1944), Clara Viebig (1860–1952) und Agnes Günther (1863– 1911). Werke in französischer Sprache kommen häufiger vor, Englisch dagegen recht selten. Das Lesetagebuch setzte (von den Autoren ausgehend) zeitlich etwa an der Stelle ein, wo die „Prinzessinnen-Bibliothek“ (richtet man sich nach den Erscheinungsjahren) endete. Beides miteinander zu kombinieren bedeutet, einen Bogen von der Aufklärung bis in die 1920er Jahre zu schlagen. Die in sich geschlossene, vielleicht extra zum Zweck einer Stiftung zusammengetragene Büchersammlung ist seit fast hundert Jahren eine Besonderheit des Sondershäuser Bibliothekswesens. Weil man die Originalität der Stiftung respektierte und erhalten wollte, blieb sie anfangs in der Landesbücherei bibliothekarisch unbearbeitet, doch wurde sie aufgrund ihrer Provenienz der Schwarzburgica-Sammlung mit hinzugerechnet. Als Schausammlung gestaltet, konnte sie den nachkommenden Generationen anhand der Objekte eine Vorstellung von der Wandelbarkeit des Mediums Buch vermitteln. Sie verkörperte ein kulturgeschichtliches Denkmal, das für literaturinteressierte Besucher eine besondere Anziehungskraft besaß, gleichzeitig hielt sie aber auch die Erinnerung an die Generosität einer bedeutenden Stifterin wach. Die repräsentative Auswahl aus dem Geistesgut der Vergangenheit erweitert auch unsere Kenntnisse über die Buchkultur des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts, zudem enthält sie Hinweise, wie das Idealbild einer gut informierten und gebildeten Persönlichkeit im Zuge der Aufklärung zu formen und zu verwirklichen war. Das belletristische Literaturangebot der Sammlung entsprach den damaligen Wertmaßstäben, von denen sich auch die städtischen Buchhandlungen und selbst die Leihbibliotheken leiten ließen. Auch künftig wird die „Prinzessinnen-Bibliothek“ mit ihrer wohldurchdachten Buchauswahl für eine Literaturreise in die Vergangenheit zur Verfügung stehen und Interessenten auf bekannte Autoren und ehemals viel gelesene Werke aufmerksam machen.

UWE SCHIRMER VOM VERTRAG ZU NEUSTADT AN DER ORLA ZUR NEUSTÄDTER ÖRTERUNG

Vom Vertrag zu Neustadt an der Orla (1362) zur Neustädter Örterung des Jahres 1379 I. Vorbemerkungen In Neustadt an der Orla – also an jenem Ort, mit dem unser Jubilar seit Jahrzehnten besonders eng verbunden ist – sind im Oktober 1362 und Juli 1379 dynastische Verträge der Landgrafen von Thüringen und Markgrafen von Meißen aus dem Hause Wettin festgezurrt worden, die für die politische und territoriale Entwicklung des obersächsisch-thüringischen Raumes weithin Bedeutung besaßen. Der Ausgangspunkt für die beiden Vertragswerke1 und andere nachfolgende wettinische Hausgesetze war der nahende Tod des Land- und Markgrafen Friedrich II. im November 1349.2 Drei Tage vor seinem Ableben hatte der erst 39-jährige Reichsfürst (er starb am 18. November 1349 auf der Wartburg) seinen zweitältesten Sohn Balthasar – der zwar mit 13 Jahren bereits mündig, aber noch nicht testierfähig war – gedrungen,3 dessen ältesten Bruder, dem nachmaligen Mark- und Landgrafen Friedrich III., zu schwören, den wettinischen Länderkomplex in den nächsten zehn Jahren – beginnend mit dem Walpurgistag des Jahres 1350 – nicht zu teilen. Ferner vereinbarten die beiden Brüder am Totenbett des Vaters, dass Friedrich III. in Vormundschaft über 1

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Mittelalterliche Vertragswerke fallen nicht unter den engeren Medienbegriff. Dennoch kam dem Medium „Blatt“ seit dem 12. Jahrhundert eine wachsende Bedeutung zu, denn es dokumentierte in Form eines „konstitutiven Speichermediums“ die feudale Herrschaftsordnung. Vgl. hierzu Werner FAULSTICH, Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter 800–1400 (Die Geschichte der Medien, 2), Göttingen 1996, S. 76–80, hier S. 76. Otto POSSE (Hg.), Die Wettiner. Genealogie des Gesamthauses Wettin. Ernestinischer und Albertinischer Linie mit Einschluß der regierenden Häuser von Großbritannien, Belgien, Portugal und Bulgarien. Mit Berichtigungen und Ergänzungen der Stammtafeln bis 1993 von Manfred KOBUCH, Leipzig 1994, Tafel 5. Hans BESCHORNER (Hg.), Registrum dominorum marchionum Missnensium. Verzeichnis der den Landgrafen in Thüringen und Markgrafen zu Meißen jährlich in den Wettinischen Landen zustehenden Einkünfte 1378 (Aus den Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte, 37), Leipzig 1933, S. XV. Nach geltendem Recht kam man mit zwölf Jahren „zu seinen Jahren“, war also „eid- und lehnsfähig“. Erst mit 21 Jahren erlangte man hingegen die volle Mündig- und Testierfähigkeit. Man war damit „zu seinen Tagen“ gekommen. Vgl. Wilhelm BRAUNEDER, „Alter. Volljährigkeit“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1: Aachen bis Bettelordenskirchen, München 1980, Sp. 471.

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Balthasar sowie über die noch jüngeren Brüder Ludwig und Wilhelm herrschen sollte. Hinsichtlich der Ständegeschichte erscheint als bedeutsam, dass für den Fall, dass einer der drei unter Vormundschaft stehenden Brüder eine Landesteilung anstrebe, die „herren, man, stete und lůte“ – also die Landstände – gegenüber dem Teilungswilligen ihren Gehorsam verweigern sollten.4 Außerdem sei hervorgehoben, dass in dem Diplom ausdrücklich die Mutter des auf dem Sterbebett liegenden Mark- und Landgrafen Friedrich II. erwähnt wird. Sie, die „liebe eldermutter, die hochgeborne frawin Elisabeth, landgräfin in Thüringen“,5 war 1286 geboren und eine Tochter des Otto IV. von LobdeburgArnshaugk (gest. 1289). Elisabeth und ihre gleichnamige Mutter, die aus dem Grafenhaus Orlamünde stammte, hatten große Teile des einstmals so umfangreichen Besitzes der Herren von Lobdeburg – so auch Triptis, Auma, Ziegenrück und die unmittelbar bei Neustadt an der Orla liegende Burg Arnshaugk – den Wettinern als Erbe mitgebracht.6 Nicht zu Unrecht wird die damals 63-jährige Elisabeth als Treuhänderin des dynastischen Gewissens betrachtet, denn sie hatte in ihrer Jugend die gewaltsamen Auseinandersetzungen um den wettinischen Besitz, die vor allem infolge der Landesteilung nach 1288 ausgelöst worden sind, unmittelbar miterlebt. Die leidvollen Erfahrungen von Teilung, territorialem Verlust und faktischem Zusammenbruch wettinischer Landesherrschaft hatten sie und ihren Sohn Friedrich II. veranlasst, den Wartburg-Vertrag vom 15. November 1349 aufzusetzen und beeiden zu lassen. Somit herrschten seit dem Jahr 1349 vier politisch unerfahrene Fürsten über die weitumfassenden wettinischen Territorien: der Mark- und Landgraf Friedrich III. (geb. 1332), Balthasar (geb. 1336), Ludwig (geb. 1341) und Wilhelm I. (geb. 1343). Sie wurden jedoch von ihrer Großmutter Elisabeth in den Regierungsgeschäften tatkräftig unterstützt. Ihr sagt man „angeborene Klugheit, die sich mit reicher Lebenserfahrung verband“ nach.7 Die eigentliche Verantwortung lag bis zur endgültigen Mündigkeit von Friedrich III. – er erlangte sie an seinem 21. Geburtstag am 14. Oktober 1351 – bei Thimo VI. von Colditz, der als Marschall die Verwaltung des Hofes und der wettinischen Territorien leitete. Gut zwei Wochen vor Erreichen seiner Mündigkeit erneuerte und erweiterte der 4 5 6 7

Otto POSSE (Hg.), Die Hausgesetze der Wettiner bis zum Jahr 1486, Leipzig 1889, Tafel 24. Ebd. Hans GROßKOPF, Die Herren von Lobdeburg. Ein thüringisch-osterländisches Dynastengeschlecht vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, Neustadt an der Orla 1929, S. 148 f. Eckhart LEISERING, Die Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete 1349–1382. Landesherrschaft zwischen Vormundschaft, gemeinschaftlicher Herrschaft und Teilung (Veröffentlichung des Sächsischen Staatsarchivs. Reihe A, 8), Halle/Saale 2006, S. 62 u. 493 f. (Tabelle 3: Elisabeth von Lobdeburg-Arnshaugk als Ratgeberin in Urkunden); BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XVII.

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Land- und Markgraf Friedrich III. zusammen mit seinem Bruder Balthasar das Versprechen, das die beiden ihrem Vater einst auf der Wartburg gegeben hatten. In der am 28. September 1351 in Gotha ausgestellten Urkunde beteuerten die Brüder, dass sie in den nächsten 13 Jahren ihr Land und das ihrer jüngeren Brüder nicht teilen wollen.8 Ihr beider Gelöbnis trat am 1. Mai 1352 in Kraft, so dass es bis zum Frühjahr 1365 bestehen sollte. Für den Fall der Nichteinhaltung drohte dem Meineidigen der Verlust des Erbteils und seine „herren, erbarmannen, stete und lůte“ sollten ihm „darnach ungehorsam“ sein.9 Abermals hat man also die Stände als Garanten der Landeseinheit mit ins Vertragswerk eingebunden – ein Umstand, der nicht zuletzt durch die Bezeugung des Rechtsaktes von vier Grafen, einem Herrn, sechs Niederadligen, dem Kammermeister, dem Kellner von Reinhardsbrunn sowie dem Vogt von Gotha unterstrichen wird. Zweifelsfrei hatte die erlangte Volljährigkeit des ältesten Wettiners zur Abfassung des Vertrages vom 28. September 1351 geführt. Ihn hat der Kanzler zweifach ausgefertigt und an beiden Urkunden wurde das Siegel des Land- und Markgrafen Friedrich III. angebracht. Der bis dahin maßgeblich die Regierungsgeschäfte leitende Thimo VI. von Colditz tritt fortan in der Überlieferung spürbar zurück.10 Noch zu Lebzeiten ihrer Großmutter Elisabeth hat die wettinische Brüderund Erbengemeinschaft die Verträge vom November 1349 und September 1351 im Mai 1356 erneuert. Die Gründe der Novellierung liegen teilweise im Dunkeln. Jörg Rogge vermutet nicht zu Unrecht, dass die Regierungsform des „Seniorats“ bei Balthasar auf wenig Gegenliebe stieß, denn er habe nur de jure, nicht jedoch de facto regiert.11 Tatsächlich wurden in dem in Gotha am 13. Mai 1356 beurkundeten Vertrag einige Veränderungen vorgenommen.12 So schwuren Friedrich III. und Balthasar nach gutem Rat ihrer Großmutter, den wettinischen Besitz auf Lebenszeit nicht teilen zu wollen. Ausdrücklich wird auch der jüngste Bruder Wilhelm in den Schwurverband aufgenommen. Als noch Minderjähriger gelobte er den älteren Brüdern „in die Hand“, die Verein8

LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 87 f.; DERS. (Bearb.), Regesten der Urkunden des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden 1351–1365 (Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs. Reihe A, 3), Halle/Saale 2003, S. 52. 9 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 30; LEISERING, Regesten 1351–1365 (wie Anm. 8), S. 52. 10 LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 75, 88. 11 Jörg ROGGE, Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel. Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 49), Stuttgart 2002, S. 60 f. 12 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 32; LEISERING, Regesten 1351–1365 (wie Anm. 8), S. 136.

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barung einzuhalten. Ludwig wird nicht mehr erwähnt, da er inzwischen in den geistlichen Stand getreten war. Insbesondere wurde Balthasar ein beschränktes Mitspracherecht zugebilligt, so dass das Seniorat des älteren Friedrichs als beendet erscheint. Ferner ist – neben der bereits erwähnten abermaligen Mitwirkung ihrer Großmutter – die Einrichtung eines Schiedsgerichts bemerkenswert. Es sollte bei Konflikten zwischen den Brüdern vermitteln. Als Schiedsrichter wurden Graf Dietrich V. von Honstein, der Hofrichter Christian von Witzleben, der Kanzler Heinrich von Kottwitz, der Kammermeister Arnold Judenmann und Ulrich von Tennstedt ernannt. Ihre Berufung knüpfte an Traditionen an, die im wettinischen Herrschaftsbereich seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, besonders jedoch seit dem Landfrieden von 1308 praktiziert wurden. Auch und vor allem der 1349 verstorbene Friedrich II. hatte Schieds- bzw. Landfriedensgerichte installieren lassen;13 letztlich waren und sind sie die Signatur landständischer Mitsprache. Wohl auch aus diesem Grund fehlt im Vertrag vom 13. Mai 1356 ein Passus, der den Ständen das Recht auf Widerstand bei Nichteinhaltung des Abkommens zubilligt. Wichtige Beweggründe für die Abfassung des Vertragswerkes vom Mai 1356 („Gothaer Vertrag“) scheinen jedoch die fest eingeplante Reise von Balthasar nach England sowie sicherlich auch die in der Goldenen Bulle von Karl IV. getroffenen Bestimmungen, wonach die endgültige Volljährigkeit bereits mit Vollendung des 18. Lebensjahres erreicht sei, gewesen zu sein.14 Tatsächlich stand Balthasar von September 1356 bis Februar 1357 in Diensten des Königs Eduard III. und nahm nochmals 1359/60 an den Feldzügen des englischen Königs im Krieg gegen Frankreich teil.15

II. Der Vertrag von Neustadt an der Orla vom 7. Oktober 1362 Es war kein Novum, dass ein wettinischer Fürst außer Landes zog, um sich auf fremden Kriegsschauplätzen zu bewähren. Auch Balthasars Vater, der 1349 verstorbene Friedrich II., weilte im Herbst 1339 für rund zwei Monate in der Normandie, wo er sich – nicht zuletzt an der Seite seines Schwiegervaters König 13 Winfried LEIST, Landesherr und Landfrieden in Thüringen im Spätmittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 77), Köln/Wien 1975, S. 124–139, 156–163. 14 Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. vom Jahr 1356, bearb. von Wolfgang D. FRITZ (MGH Fontes, XI), Weimar 1972, S. 62. – Dies betrifft freilich die Volljährigkeit der Kurfürsten, was die Wettiner im 14. Jahrhundert nicht waren. Allerdings hatte Karl IV. mit dieser Bestimmung den Widerspruch zwischen dem Schwabenspiegel (Volljährigkeit mit dem 18. Lebensjahr) und dem Sachsenspiegel (21. Lebensjahr) aufgehoben. 15 Grundlegend zum Aufenthalt Balthasars in England LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 106, 130–134; ferner ROGGE, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 11), S. 60–62.

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Ludwigs des Bayern – ebenfalls dem englischen König angeschlossen hatte. Demgegenüber sind die längeren und gut dokumentierten Aufenthalte von Balthasar in England sowie wahrscheinlich auch in Nordfrankreich doch erstaunlich. Nachdrücklich wurde betont, dass Balthasar bewusst neue Betätigungsfelder in fremden Ländern gesucht habe, „weil der junge Fürst mit seiner zweitrangigen Rolle bei der Herrschaftsausübung unzufrieden“ gewesen sei.16 Das Itinerar von Balthasar verdeutlicht, dass er nach seiner Rückkehr vom englischen König im März 1360 eifrig in den wettinischen Landen unterwegs war.17 Mangelnde Tatkraft wird man ihm also nicht unterstellen dürfen – im Gegenteil, er scheint überaus agil gewesen zu sein. Die Annahme, dass für ihn „das Seniorat und die Superiorität“ des älteren Bruders Friedrich III. lästig und hemmend waren, ist nicht von der Hand zu weisen.18 Auf alle Fälle häufte sich in der zweiten Jahreshälfte 1362 Konfliktpotential an. Vielleicht waren es die Nachwehen einer Auseinandersetzung der Wettiner mit den Grafen von Mansfeld oder unbezahlte Rechnungen von Balthasar gegenüber Erfurter Juden, die vorerst die Grafen von Schwarzburg beglichen hatten. Letztlich sprang dann Friedrich III. für seinen Bruder ein und trug die Schuld ab. Wohl der wichtigste Grund für den Konflikt scheinen jedoch die sich teilweise widersprechenden Verträge vom 28. September 1351 sowie vom 13. Mai 1356 gewesen zu sein, wobei sich Balthasar auf letzteren und Friedrich auf ersteren berief. Jedenfalls war ihr Verhältnis im Herbst 1362 schwer belastet.19 Unter Vermittlung des Burggrafen Friedrich V. von Nürnberg, der mit der ältesten Schwester der wettinischen Streithähne verheiratet war, kam in Neustadt an der Orla ein Kompromiss zustande. Der Vertrag von Neustadt vom 7. Oktober 1362 bildete die Grundlage dafür,20 dass sich die Beziehungen von Friedrich und Balthasar merklich verbesserten, obgleich die endgültige Eintracht erst im Jahr 1363 wiedererlangt wurde.21 Im Vertrag von Neustadt an der Orla wurde festgelegt, dass das Seniorat von Friedrich III. gegenüber den jüngeren Brüdern im Wesentlichen in Kraft blieb. Folglich wurden die Verträge von 1351 und 1356 nicht annulliert. Friedrich durfte ferner – ohne seine Brüder zu konsultieren – Amtleute, Vögte und Richter unbeschränkt ein- und absetzen. Jedoch war es ihm nicht gestattet, Lehen und Anwartschaften, die seit 1349/50 an die Brüdergemeinschaft gekommen waren, eigenwillig zu vergeben. Das war nur 16 17 18 19 20

LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 134. Ebd., S. 579 f. ROGGE, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 11), S. 63. LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 170 f. POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 34; LEISERING, Regesten 1351–1365 (wie Anm. 8), S. 283. 21 Dazu vor allem LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 170– 175.

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nach Rücksprache („mit Rat“) mit Balthasar und Wilhelm möglich. Diesbezüglich ist zu bedenken, dass die territorialen Gewinne der Wettiner in den 1350er Jahren beträchtlich waren (Coburger Pflege, zeitweise die Niederlausitz, Herrschaften im Vogtland; jedoch ging die Pfalzgrafschaft Sachsen dauerhaft verloren).22 Entscheiden war jedoch, dass im Vertrag von Neustadt eigens für Balthasar ein kleiner Landesteil eingerichtet wurde, in dem er uneingeschränkt herrschen konnte. Der Bezirk bestand aus der Burg und Herrschaft Voigtsberg, der Stadt Zwickau, der Burg und Herrschaft Arnshaugk samt Neustadt an der Orla sowie der Stadt Borna. Die aus diesen Städten und Herrschaften fließenden Erträge sollten 900 Schock Groschen betragen, wobei sich der Gesamtertrag aus barem Geld plus Roggen und Hafer zusammensetzen sollte. Mögliche Überschüsse hatte Balthasar an Friedrich weiterzuleiten, Defizite sollten indes vom ältesten Bruder ausgeglichen werden. In der Praxis war es freilich so, dass die anvisierten Mittel nicht einkamen und Friedrich erhebliche Summen an Balthasar auszahlen musste.23 Doch das war – eingedenk der in jenen Jahren überaus reichlich sprudelnden Einnahmen vom Freiberger Silberbergbau – kein gravierendes Problem.24 Und schließlich sollte Balthasar die Untertanen in der fränkischen Pflege Coburg lossagen, die er einst – wahrscheinlich unberechtigterweise – hat huldigen lassen. Ausschlaggebend war also, dass mit dem Vertrag vom 7. Oktober 1362 ein Landesteil – wenngleich nur en miniature – vom wettinischen Länderkomplex separiert wurde. Er setzte sich aus Burgen und Städten des alten Orlagaus, des Osterlandes und des Vogtlandes zusammen, wobei Voigtsberg infolge des Vogtländischen Krieges von 1354 bis 1359 an die Wettiner gelangt war. Die Herrschaft Arnshaugk mit Neustadt an der Orla hat Balthasar übernehmen können, weil sie einst zum erblichen Wittum seiner 1359 verstorbenen Großmutter gehört hatte, denn mit Elisabeth war die Linie Arnshaugk des Hauses Lobdeburg verloschen.25 Auf alle Fälle besaß Balthasar damit eine eigene, wenngleich nicht 22 Ebd., S. 88–97. 23 BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XXIII. 24 Ivonne BURGHARDT, Der Edel- und Buntmetallbergbau im meißnisch-sächsischen Erzgebirge (1350–1470). Verfassung – Betriebsorganisation – Unternehmensstrukturen (Veröffentlichungen des Landesamtes für Archäologie Sachsen, 64), Dresden 2018, S. 39–42; DIES., Der sächsisch-meißnische Silberbergbau im Spätmittelalter (1350–1470), in: Der Anschnitt 70 (2018), H. 5, S. 186–206, hier S. 193; Uwe SCHIRMER, Der Freiberger Silberbergbau im Spätmittelalter (1353–1485), in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 71 (2000), S. 1–26. 25 GROßKOPF, Herren von Lobdeburg (wie Anm. 6), S. 147–149; Herbert HELBIG, Der wettinische Ständestaat. Untersuchungen zur Geschichte des Ständewesens und der landständischen Verfassung in Mitteldeutschland bis 1485 (Mitteldeutsche Forschungen, 4), Köln/Weimar/Wien 21980, S. 181.

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in sich geschlossene Herrschaft, in der er nach Belieben schalten und walten konnte. Damit war der Eid, den er und Friedrich III. vormals dem Vater im November 1349 gegeben hatten – zumindest teilweise – gebrochen, obgleich beide Fürsten im Oktober 1362 weder eine Örterung bzw. Mutschierung noch eine Landesteilung vorgenommen hatten. Einen ersten Schlusspunkt unter den Brüderzwist setzte eine Schlichtung vom 11. März 1363, welche die jüngeren Brüder den beiden älteren abgerungen hatten. Ludwig, inzwischen Bischof von Halberstadt, und Wilhelm, er stand vor Vollendung seines 20. Lebensjahres, erreichten von Friedrich III. die Zusage, dass Balthasar generell bei der Rechnungslegung der Amtleute zugegen sein konnte und dass er bei „allen großen und redlichen Sachen“, welche die Interessen der Familie und des Landes betrafen, zurate gezogen werden musste. Unzweifelhaft war damit das Seniorat Friedrichs III. eingeschränkt und Balthasars Mitbestimmungsrecht ausgeweitet worden. Friedrichs Superiorität blieb freilich in letzter Instanz unangetastet; sie war nur eingeengt worden.26 Keine Einigung wurde hinsichtlich der Lossagung der Untertanen in der Pflege Coburg erzielt. Dieser Punkt wurde vertagt. Endgültig söhnten sich die beiden ältesten Brüder schließlich im Herbst 1363 aus, wobei sie abermals Friedensrichter beriefen, die über den Konsens wachen sollten. Ernannt wurden der Abt des Saalfelder Benediktinerklosters, die Herren Gebhardt XI. von Querfurt und Friedrich IX. von Schönburg sowie Heinrich von Kottwitz. Im Fall eines Patts stand dem Merseburger Bischof das letzte Wort zu. Ob man hinsichtlich ihrer sozialen und regionalen Herkunft von einem ständischen Schiedsgericht sprechen kann, sei dahingestellt. Auf alle Fälle war halbwegs Eintracht eingekehrt. Freilich zeichnete sich nunmehr auch ab, dass der jüngste der Brüder, Markgraf Wilhelm I., eigene politische Ambitionen artikulierte. Er erwog ausdrücklich eine Teilung des wettinischen Herrschaftsbereichs und trat damit indirekt aus dem Gothaer Vertrag vom 13. Mai 1356 aus.27 Allerdings blieb der Familienfrieden vorerst erhalten.

III. Auf dem Weg zur Neustädter Örterung: die Jahre von 1363 bis 1378 Es sprengte den Rahmen dieses Beitrags, die innerdynastische Kommunikation, die stets neu auftretenden Probleme innerhalb der Brüder- und Erbengemein26 LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 175; ROGGE, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 11), S. 65; BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XXI f. 27 LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 177 f.

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schaft, aber auch die erfolgreichen Schlichtungen, die bis zur Abfassung der Neustädter Örterung im Oktober 1379 erfolgten, umfassend zu erörtern. Abermals sei auf die Arbeiten von Hans Beschorner, Eckhardt Leisering und Jörg Rogge verwiesen. Allerdings muss betont werden, dass die drei wettinischen Fürsten selbstredend außenpolitischen Zwängen unterlagen. Vor allem war es Kaiser Karl IV., der eine energische Hausmachtpolitik betrieb und den mitteldeutschen Raum fest im Visier hatte. Insbesondere aus diesem Grund vereinigten sich die askanischen Herzöge Rudolf, Wenzel und Albrecht von Sachsen-Wittenberg mit den drei wettinischen Brüdern im März 1363,28 also im selben Jahr, in dem sich letztere wieder halbwegs vertrugen. Seitens der Wettiner war man gut beraten, zumindest nach außen Einheit zu demonstrieren. Dies wurde durch ein Bündnis der beiden älteren Brüder vom 3. Februar 1364 untermauert, dem auch Wilhelm I. beitrat. Allerdings sicherte er sich die Möglichkeit eigenständiger Herrschaftsausübung perspektivisch zu, denn im Vertrag findet sich die Formulierung, dass er an dem Abkommen nur solange gedenke festzuhalten, wie er mit seinen Brüdern „in Herrschaft, Land und Leuten ungeteilt ist“.29 Ansonsten wurden die, freilich inzwischen eingeschränkte Vormachtstellung Friedrichs und die besonderen Rechte Balthasars bestätigt und garantiert, so dass bei aller Widersprüchlichkeit der wettinischen Hausgesetze davon auszugehen ist, dass die Brüder nach wie vor von der Unteilbarkeit des wettinischen Länderkomplexes – zumindest bis zum Frühjahr 1365 – ausgingen. Ob dies vor allem auf den Vierer- bzw. Fünferausschuss, den sie im Herbst 1363 eingesetzt hatten, zurückzuführen ist, muss offenbleiben bzw. kann aufgrund fehlender Quellen nicht belegt werden.30 Vertraut man dem Inhalt einer in Gotha am 17. August 1362 ausgestellten Urkunde, dann lief die Frist des Versprechens, nicht teilen zu wollen, tatsächlich im Jahr 1365 aus.31 Der Termin verstrich jedoch, ohne dass etwas geschah. Erst am 1. November 1368 einigten sich die drei Fürsten auf einen neuen Vertrag, der unter Vermittlung ihres Bruders Ludwig, der nunmehr Bischof von Bamberg war, und ihres Schwagers, des Burggrafen Friedrich von Nürnberg, 28 Die Edition der Urkunde (Delitzsch 1363 März 2) sowie zur Sache selbst Michael LINDNER, Kaiser Karl IV. und Mitteldeutschland, in: DERS./Eckhard MÜLLER-MERTENS/Olaf B. RADER (Hg.), Kaiser, Reich und Region. Studien und Texte aus der Arbeit an den Constitutiones des 14. Jahrhunderts und zur Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, Berlin 1997, S. 83–180, hier S. 98 f. u. 147 f.; LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 232–235. 29 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 35; ROGGE, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 11), S. 66. 30 BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XXIV. 31 Karl Friedrich von STRENGE/Ernst DEVRIENT (Hg.), Die Stadtrechte von Eisenach, Gotha und Waltershausen (Thüringische Geschichtsquellen, NF 6), Jena 1909, S. 32.

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zustande gekommen war.32 In diesem Abkommen taucht erstmals in der wettinischen Überlieferung der Begriff „behusung“ auf, was mit „Behausung“ identisch ist. Damit umschrieben die drei Brüder ein begrenztes Gebiet, in dem jeder von ihnen residieren und die entsprechenden Einkünfte individuell nutzen konnte. Ferner besaß jeder die Macht, in diesem Bezirk Amtleute oder Vögte selbständig ein- und abzusetzen. Insofern erscheint der Vertrag vom 1. November 1368 als ein weiterer Schritt zur Separation. Leider geben weder die Quellen noch die Itinerare Auskunft, welche Herrschaften, Burgen und Ämter jedem einzelnen Fürsten zugewiesen waren. Nicht auszuschließen ist – indes bleibt das nur eine vage These –, dass dem jüngsten der Brüder, also Wilhelm I., das nordöstliche Osterland bis hinauf nach Torgau unter Einschluss der im Jahr 1364/65 an die Wettiner gekommenen Burggrafschaft Leisnig überlassen wurde. Balthasar wird seinen Besitz um Arnshaugk, Voigtsberg, Borna und Zwickaus behalten und Friedrich III. könnte die Ämter im Grenzbereich zwischen Thüringen und Altsachsen (Weißensee, Neumark, Eckartsberga, Herbsleben) zur Nutzung bekommen haben.33 Ansonsten einigten sich die Brüder detailliert auf die Organisation der Landesverwaltung (Bestellung der Hofrichter, deren Kompetenzen, Ernennung der Amtleute und Vögte, Aufteilung der Ressourcen sowie die Verwaltung von Bergwerken und Münze).34 Hinzugefügt sei noch, dass die Vereinbarung bezüglich des Silberbergbaus im Mai 1370 verändert wurde. Anstatt einer Einzelperson – in dem Fall war es Hold von Ottendorf – setzte jeder der drei Fürsten für sich einen vertrauten (Finanz-)Experten ein: bei Friedrich war es Nikolaus Küchenmeister, Wilhelm wählte den ehemaligen Marschall Dietrich von Honsberg und Balthasar entschied sich – und das könnte auf die Region seiner Behausung hindeuten – für den Abt Ludwig des Benediktinerklosters Saalfeld.35 Das Verhältnis der Wettiner zu Karl IV. hatte sich Ende der sechziger und am Beginn der siebziger Jahre zunehmend verschlechtert. Obgleich die Markund Landgrafen mit dem Luxemburger und dessen Sohn Wenzel am 23. Oktober 1371 einen Waffenstillstand ausgehandelt hatten, betrieb Karl IV. seine Hausmachtpolitik in der Stille weiter und versuchte, die Territorialinteressen der Wettiner nach Westen abzuleiten.36 In dieser, für die Wettiner durchaus 32 Druck der Urkunde in: Hans Bernhard MEYER, Hof- und Zentralverwaltung der Wettiner in der Zeit einheitlicher Herrschaft über die meißnisch-thüringische Landes 1248–1379, Leipzig 1902, S. 110 f., zur Sache BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XXVI f.; ROGGE, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 11), S. 68–71. 33 Vgl. die Überlegungen bei LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 216–218. 34 Vgl. ebd., S. 218 f. 35 BURGHARDT, Edel- und Buntmetallbergbau im Erzgebirge (wie Anm. 24), S. 34 f. 36 LINDNER, Kaiser Karl IV. und Mitteldeutschland (wie Anm. 28), S. 109–111.

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bedrohlichen Situation einigten sie sich abermals auf ein Abkommen, das für die nächsten sechs Jahre verpflichtend sein sollte. Im sogenannten „Vertrag zu Altzella“ vom 27. Oktober 1371 legten sie fest, dass ein jeder von ihnen weiterhin in seiner Behausung uneingeschränkt herrschen sollte.37 Neben den inzwischen fast üblichen und immer detaillierter werdenden Bestimmungen zur Landesund Finanzverwaltung einschließlich der Verfügung über die Ein- und Absetzung der Amtleute, Vögte, Richter usw. war an diesem Vertrag völlig neu, dass sich die Brüder auf ein alternierendes Herrschaftsmodell einigten. Demnach sollte Balthasar, beginnend am Tage der Urkundenausstellung – unter Ausschluss der Behausungen –, die gesamten wettinischen Lande für zwei Jahre regieren. Nach Ablauf der beiden Jahre sollte Wilhelm folgen, ihm schloss sich sodann Friedrich III. an. Die Abmachung lief folglich am 27. Oktober 1377 aus. In diesen sechs Jahren haben die drei Brüder mehr schlecht als recht, jedoch nach außen geschlossen und vereint, das wettinische Territorium mit Hilfe ihrer Hofräte, Richter, Vögte, Amtleute sowie Finanzbeamten letztlich durchaus passabel verwaltet.38 Diese Leistung muss nicht zuletzt wegen des Mainzer Bistumsstreits (1373/74– 1378) gewürdigt werden, denn ihr Bruder Ludwig strebte – von ihnen nachdrücklich sowie teilweise auch von Karl IV. unterstützt – nach der Mainzer Cathedra. Die damit verbundenen militärischen Auseinandersetzungen in Thüringen, Hessen und auf dem Eichsfeld führten zur übergroßen Inanspruchnahme der Landesressourcen und belasteten auch die Hofhaltungen der drei Fürsten, die inzwischen alle verheiratet waren. Aufgrund fehlender Quellen lässt sich leider nichts über den Freiberger Silberbergbau – das Rückgrat der Landesfinanzen – zu jener Zeit sagen.39 Indes verdeutlicht die Übergabe von 20.000 Mark lötigen Silbers (das waren circa drei bis vier komplette Jahreserträge des Silberbergbaus) für den nach dem Mainzer Stuhl begehrenden Ludwig am 22. Februar 1375,40 dass die Wettiner jederzeit solvent waren. Freilich ist in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, dass sich Friedrich und Balthasar bereits im Sommer 1374 verständigt hatten, zumindest bis Michaelis 1375 ihre

37 Druck der Urkunde in: MEYER, Hof- und Zentralverwaltung (wie Anm. 32), S. 111–113; Abbildung: POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 36. 38 LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 268–299; ROGGE, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 11), S. 68–72; BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XXVIII–XXXII. 39 BURGHARDT, Edel- und Buntmetallbergbau im Erzgebirge (wie Anm. 24), S. 32–41. 40 Eckhardt LEISERING (Bearb.), Regesten der Urkunden des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden 1366–1380 (Veröffentlichung des Sächsischen Staatsarchivs. Reihe A, 15), Halle/Saale 2012, S. 241.

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beiden Hofhaltungen zu vereinen.41 Diese Sparmaßnahme ist fraglos auch ein Indiz für die angespannte Finanzlage infolge des Bistumsstreits. Wie erwähnt endete der einst in Altzella beschlossene Vertrag Ende Oktober 1377, so dass sich die Fürstenbrüder abermals über ihre Herrschaftspraxis sowie die Landesverwaltung verständigen mussten. Dies geschah mit dem Jenaer Vertrag, der am 2. Januar 1378 in der Saalestadt besiegelt wurde.42 Das Abkommen hält ausdrücklich an der Praxis fest, die Hofhaltung der einzelnen fürstlichen Familien regional zu separieren (Behausungen). Verworfen und abgeschafft wurde jedoch das alternierende Herrschaftsmodell. Neu war hingegen, dass der nicht verpfändete Besitz abseits der Behausungen von Landvögten verwaltet werden sollte. Wichtig erscheint, dass nicht drei, sondern nur zwei Territorialkomplexe gebildet worden sind. Dies ist insofern bemerkenswert, da in diesen Tagen bereits die Dreiteilung des gesamten wettinischen Besitzes erwogen wurde. Für das Land Thüringen wurden Apel Vitzthum von Apolda und für das Oster- und Vogtland mit der Mark Meißen Kunz von Schlieben als Landvögte berufen. Die abermals sehr detaillierten Vorschriften bezüglich der Landes- und Finanzverwaltung sind an dieser Stelle nicht zu paraphrasieren. Die Laufzeit des Vertrages wurde auf ein Jahr beschränkt.43 Diese kurze Laufzeit signalisierte das Wetterleuchten der bevorstehenden Landesteilung, denn die seit 1349 ausgehandelten Verträge besaßen bekanntlich deutlich längere Gültigkeiten. Über die Gründe für den Abschluss dieses nunmehr nur ein Jahr geltenden Vertrages kann nur spekuliert werden. Tatsache ist, dass bereits im Mai 1377 die Teilung des gesamten Besitzes erwogen wurde („daz wir unser land in dry orte schicken wolden“).44 Dass die Wettiner schließlich nach Inkrafttreten des Jenaer Vertrags an eine Landesteilung gedacht haben, wird durch den Beginn der Vorarbeiten zur Erfassung aller landesherrlichen Einkünfte signifikant untermauert. Hans Beschorner schätzt, dass das Zusammentragen des notwendigen Materials für das „Registrum dominorum marchionum Missnensium“ mindestens zehn bis elf Monate in Anspruch genommen haben wird. Das Register für diese logistische Meisterleistung wurde am 23. November 1378 abgeschlossen.45 Der Sinn und Zweck dieses Verzeichnisses bestand letztlich einzig und allein darin, eine solide Grundlage für eine halbwegs gerechte Landesteilung zu haben. Das Verzeichnis war die Ausgangsbasis für die Neustädter Örterung von 1379 sowie am Ende 41 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 40; LEISERING, Regesten 1366–1380 (wie Anm. 40), S. 231 f. 42 Druck der Urkunde, in: MEYER, Hof- und Zentralverwaltung (wie Anm. 32), S. 115. 43 LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 299 f; ROGGE, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 11), S. 74 f.; BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XXXII. 44 Ebd., S. XXXIII. 45 Ebd., S. XXXI–XXXIII.

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für den Chemnitzer Teilungsvertrag des Jahres 1382. Allerdings kam im Jahr 1378 ein einschneidendes Ereignis hinzu: Am 29. November 1378 verstarb Karl IV. in Prag, so dass sich nicht zuletzt die außenpolitische Konstellation im böhmisch-mitteldeutschen Raum zu ändern begann.

IV. Die Neustädter Örterung vom 3. Juli 1379 Es besteht kein Zweifel, dass zwischen den im Mai 1377 erwogenen Teilungsabsichten, dem nur als Übergangslösung anzusehenden Vertrag von Jena (2. Januar 1378), der bald darauf beginnenden Datenerhebung für das Verzeichnis der den Landgrafen in Thüringen und Markgrafen von Meißen jährlich zustehenden Einkünfte sowie letztendlich der Neustädter Örterung engste Zusammenhänge bestehen. Nicht zuletzt unterstreicht dies die Tatsache, dass die abschließenden Arbeiten am Register erst im Mai oder Juni, also wenige Wochen vor der Zusammenkunft in Neustadt an der Orla, vollendet wurden.46 Eine wie auch immer geartete Landesteilung stand folglich auf der Agenda. Der Tod des Kaisers Karl IV. hat die Angelegenheit fraglos beschleunigt; jedoch nicht verursacht. Ob man als den wichtigsten Grund für die anvisierte Teilung die „sich auf Dauer nicht bewährende Regierungspraxis“ der drei Brüder anführen sollte – so wie es Beschorner, Leisering und Rogge indizieren –, sei dahingestellt. Vor allem im Vergleich zur Herrschafts- und Regierungspraxis von 1382 bis 1440 schneidet die zwischen 1349 und 1379 fassbare Verwaltungstätigkeit gut, wenn nicht sogar sehr gut ab. Diese These gründet sich auf den Vergleich der Berg- und Ämterverwaltung und der Kanzleitätigkeit (vorrangig nach den Quellen des Ernestinischen Gesamtarchivs) – letztlich ist das jedoch nicht Thema dieses Beitrags. Hinsichtlich der Teilungsabsichten erscheint als nicht unwichtig, dass die drei Brüder inzwischen alle verheiratet waren und dass Friedrich mit drei Söhnen und Balthasar mit einer Tochter Familien begründet hatten. Es war also evident, dass sie den Fortbestand der Dynastie garantierten. Perspektivisch standen dementsprechend die gleichen Probleme an wie im November 1349, obwohl der älteste Sohn Friedrichs (sein Nachfolger Friedrich IV.) im Jahr 1378 erst acht Jahre alt war. Nicht zuletzt im Sinne der dynastischen Räson musste eine pragmatische Lösung gefunden werden. Daher schritten die Brüder zu Örterung. Eine Örterung schien auch deshalb praktikabel, weil die Wettiner seit 1349 beträchtliche territoriale Zugewinne erzielt hatten. Ihre Herrschaft war seither nicht nur politisch gefestigt, sondern territorial auch abgerundet und verdichtet. Und schließlich hielten die beiden ältesten Brüder

46 Ebd., S. XXXIII.

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mit einer Örterung an ihren Eiden und Gelöbnissen fest, die sie seit 1349 gemeinsam bezeugt hatten. Eine Örterung war eben keine „Totteilung“. Eine Örterung ist eine paritätische Finanz- und Verwaltungsteilung, bei der die dynastische Einheit sowie die von Land und Leuten nach außen hin gewahrt werden. Die fürstlichen Hoheitsrechte (Obergericht, Lehnswesen, Dienste der Vasallen, Huldigung der Untertanen, Steuern und Stände, Berg- und Münzregal) bleiben ungeteilt. In dem erbeigenen Territorium besitzt jeder Fürst eigene Vogteien, Burgen und Residenzen. Er kann frei Hofräte, Hofrichter, Kanzler oder Amtleute ernennen. Außenpolitisch soll ein gemeinsames Handeln erfolgen; jedoch wird einem jeden eine gewisse Selbstständigkeit eingeräumt – indes nicht über dynastische Erbverbrüderungen, Krieg und Frieden. Die amorphe Definition hinsichtlich der Außenpolitik ist dem Umstand geschuldet, dass es keine Superiorität gibt. Mit Bezug auf die Neustädter Örterung bedeutete dies, dass das Seniorat Friedrichs III. abgeschafft war. Insofern hat eine Örterung nichts mit einer Landesteilung im Sinne einer „Totteilung“ gemein. Im Gegensatz zur Örterung behält bei einer Mutschierung – die ebenfalls eine gleichberechtigte Finanz- und Verwaltungsteilung bei Beibehaltung fürstlicher Hoheitsrechte ist – der älteste Fürst die außenpolitische Superiorität.47 Das war beispielsweise bei der ernestinischen Mutschierung von 1513 der Fall, als die Oberherrschaft beim Kurfürsten Friedrich III. verblieb. Eine Örterung ist folglich die „gütlichste Form“ der Teilung. Von einer „Totteilung“, Mutschierung und Örterung sind letztlich „brüderliche Hauptvergleiche“ zu unterscheiden. Bei ihnen wird einem jüngeren Dynasten ein (kleiner) Teil des Territoriums zur individuellen Nutzung bei Beibehaltung der Superiorität des Ältesten überlassen. Dies war, wie oben gezeigt, beispielsweise beim Vertrag von Neustadt an der Orla im Jahr 1362 der Fall. Die Frage, warum sich die drei Wettiner und ihr Bruder Ludwig, der in der Urkunde als Erzbischof von Mainz bezeichnet wird, sowie der Burggraf Friedrich V. von Nürnberg mit ihrem Gefolge im Juli 1379 gerade in Neustadt an der Orla versammelt haben, ist nicht leicht zu beantworten. Naheliegend ist, dass die Stadt in etwa im Schnitt- und Mittelpunkt der drei Behausungen lag. Kurze Anreisewege könnten also für die Wahl des Ortes mit ausschlaggebend gewesen sein. Ferner ist auf die nicht weit entfernte Burg Arnshaugk mit dazugehörigem Amt zu verweisen, was logistische Vorteile versprach – man denke nur an Speisen, Getränke, Inventar und Mobiliar. In wieweit die Burg noch residenzfähig war, lässt sich ebenfalls schwer beurteilen. Unter allen wettinischen Residenzen

47 Karlheinz BLASCHKE, „Mutschierung“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6: Lukasbild bis Plantagenêt, München u.a. 1993, Sp. 975; BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XXXIII.

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nahm die alte Burganlage zu dieser Zeit nur einen unbedeutenden Platz ein,48 was durchaus mit einem Mangel an komfortabler Geräumigkeit korrespondiert haben wird. Dass der Vertrag letztlich in Neustadt an der Orla unterzeichnet wurde, sollte mit der gut entwickelten städtischen Infrastruktur erklärt werden, denn die Fürsten samt Entourage haben mit großer Wahrscheinlichkeit in den Bürgerhäusern logiert – und nicht auf der nahen Burg Arnshaugk. Die Neustädter Örterung ist am 3. Juli 1379 besiegelt worden.49 Wo der Rechtsakt vollzogen wurde – ob im Kapitelsaal des Augustinerklosters oder auf dem Rathaus –, ist unbekannt. Das Abkommen knüpft inhaltlich fast nahtlos an die Verträge von 1362, 1368, 1371 und 1378 an – es geht jedoch in vielen Details über die vorangegangenen Hausgesetze hinaus. Insgesamt enthält die Örterung knapp anderthalb Dutzend Einzelbestimmungen. Eingangs bekunden die Brüder, dass sie ihr „Land in drei Orte schicken“ wollen; „also, dass das Land zu Thüringen ein Ort, das Osterland der andere Ort und das Land zu Meißen, der dritte Ort sein soll“.50 Ausdrücklich sei darauf verwiesen, dass Thüringen, Meißen und das Osterland einerseits als Ort, andererseits als „Land“ charakterisiert werden. Damit verbindet sich die immer wieder gestellte Frage, was sich eigentlich hinter dem „rätselhaften Begriff ‚Land‘ im Mittelalter“ verborgen hat.51 Die berechtigte Beobachtung, dass das Wort ‚Land‘ euphemistisch eine Sozialformation von freien Herrschaftsträgern verhüllt, die sich über ihre soziale und regionale Zugehörigkeit korporativ vereint haben und die ihr politisches Handeln durch ein gemeinsames Rechts- und Traditionsverständnis begründen und normieren, lässt sich mittels des Textes der Örterung nicht bestätigen, denn in letzter Instanz werden die drei „Länder“ eben als „Ort“ bezeichnet. Damit korrespondiert jegliches Fehlen landständischen Mitwirkens bei der Neustädter Örterung. Nach der Formulierung des Teilungsbekenntnisses und der Nennung der drei Länder, folgen viele Einzelbestimmungen, von denen der Komplex „Schulden und Steuern“ am umfangreichsten ist. Fraglos ist das auf die Verschuldung der Wettiner zurückzuführen. Aus diesem Grund strebten sie an, dass in einem jeden Land nach Vollzug der Örterung „eine gemeine Bete“, also eine direkte Landsteuer, erhoben werden soll.52 Das ist insofern bemerkenswert, 48 Brigitte STREICH, Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung. Der Wettinische Hof im späten Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen, 101), Köln/Weimar/Wien 1989. 49 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43; LEISERING, Regesten 1366–1380 (wie Anm. 39), S. 352 f.; BESCHORNER, Registrum dominorum (wie Anm. 3), S. XXXII– XXXIX. 50 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 3–4. 51 Ernst SCHUBERT, Der rätselhafte Begriff „Land“ im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Soltauer Schriften. Schriftenreihe der Freudenthal-Gesellschaft 4 (1995), S. 23–31, hier S. 24 f. 52 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 6–7.

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da die Landstände völlig unberücksichtigt geblieben sind. Es werden ebenso keine wirkmächtigen Hofräte, Landvögte oder Schiedsrichter erwähnt. Auch das ist ein Indiz für die Nichtberücksichtigung der Stände. Landesweite und einheitliche Steuererhebungen gab es zu dieser Zeit noch nicht. Es hatten zwar die drei Brüder im Jahr 1376 von den Untertanen ihrer Stände („unsre man, hern, rittere, knechte, phaffen, clostere und burgere“) einen halben Jahreszins als Bete gefordert, allerdings waren davon nur jene betroffen, die im „Gericht zu Meißen“ begütert waren. Die Fürsten hatten im Ausschreiben von 1376 zugleich versichert, zukünftig eine solche Bete nicht mehr einzutreiben.53 Dass das ein frommer Wunsch war, belegt die Neustädter Örterung. Tatsache scheint indes ebenso zu sein, dass die im Jahr 1379 formulierte Absicht nicht verwirklicht wurde.54 Die Gründe lagen im noch nicht institutionalisierten Verhältnis zwischen Fürsten und Ständen, denn eine landesweite Steuer hätte nur unter ständischer Mithilfe erhoben werden können. Allerdings hat Markgraf Wilhelm I. im März 1385 – also nach der Chemnitzer Teilung vom November 1382 – in seinem Territorium (in der Mark Meißen) eine Landsteuer erheben lassen.55 Ein weiterer Punkt der Neustädter Örterung betraf nicht nur die komplett eigene Nutzung aller Gefälle in den drei separierten Orten, sondern auch das Verbot, keine Güter, Einkünfte, Lehen usw. eigenmächtig zu veräußern. Insofern erscheinen diese Vertragspassagen als Fideikommiss. Ferner wurde jedem Fürsten untersagt, in den Orten der Lande weder eine neue Steuer („sture“) noch Bete eigenmächtig zu erheben.56 Breiten Raum nimmt sodann das Schuldenwesen der drei Fürsten insgesamt ein – beispielsweise ihre Verbindlichkeiten gegenüber den Juden. Diese Außenstände wollte man alles in allem errechnen und zusammenfassen, um sie in drei Teile zu teilen. Friedrich III. und Balthasar sollten zwei und Wilhelm einen Teil übernehmen. Wer die jüdischen Gläubiger waren, verschweigt die Örterung. In erster Linie wird man an die Erfurter Juden sowie an jene, die in Jena, Saalfeld, Altenburg, Weißenfels, Leipzig oder Weida gelebt haben, denken müssen.57 Zu gleichen Teilen geteilt wurden auch die Schuldbriefe, die sich vor, während und nach der gemeinsamen sechsjährigen Regierungszeit angesammelt hatten. Nicht 53 Codex diplomaticus Saxoniae regiae, II. Hauptteil, Bd. 2: Urkundenbuch des Hochstifts Meißen, hg. von Ernst Gotthelf GERSDORF, Leipzig 1865, Nr. 642, S. 160. 54 HELBIG, Ständestaat (wie Anm. 25), S. 399–401. 55 Codex diplomaticus Saxoniae regiae, Teil I, Abt. B, Bd. 1: Urkunden der Markgrafen vom Meißen und Landgrafen von Thüringen 1381–1395, hg. von Hubert ERMISCH, Leipzig 1899 (im Folgenden: CDS I B, Bd. 1), Nr. 142, S. 101 f. 56 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 12. 57 Maike LÄMMERHIRT, Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten. Recht, Verwaltung und Wirtschaft im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 21), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 244–255.

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zuletzt betraf dies die Pfandschaften, die schnellstmöglich wieder eingelöst werden sollten.58 Neue Schulden, die einer der Fürstenbrüder möglicherweise künftig in seinem eigenen Land anhäufen würde, hatte er selbst zu verantworten. Ihm standen freilich auch finanzielle Gewinne, die er allenfalls erzielen mochte, allein zu.59 – Die Silberbergwerke, die fraglos die erfolgreiche wettinische Politik im 14. Jahrhundert ermöglicht haben, die Freiberger Stadtsteuer und das dortige Berggericht werden ebenso behandelt. Sie alle blieben hinsichtlich der Nutzung und Gefälle ungeteilt und vereint („glich unde gemeyne sin und der glich mit einander genizzen“).60 Fernerhin verpflichteten sich die Brüder, gemeinsam die „amptlute uf dem Bergwerk“ einzusetzen. Das für die Mark Meißen zuständige Landgericht sowie die Landbete des Amtes Freiberg sollten hingegen an den fallen, der das Land Meißen erhält. Weitere Bestimmungen betreffen Krieg und Frieden sowie die innere Sicherheit. Für den Krieg gegen den Speyerer Bischof Adolf von Nassau, welcher der Konkurrent ihres Bruders Ludwig um den Mainzer Erzstuhl war und der vor allem Verbündete auf dem Eichsfeld hatte, musste jeder Wettiner 40 Gleven bereitstellen.61 Derjenige, der Thüringen zugewiesen bekam, sollte sein Aufgebot in Creuzburg lagern. Ihm stand zugleich das Recht zu, den Hauptmann für das gesamte Aufgebot zu bestimmen. Die anderen beiden Brüder waren verpflichtet, ihre Gleven in Langensalza („Salcza“) und Thamsbrück („Tungisbrucken“) zu stationieren. Für weitere militärische Konflikte versicherten sich die Brüder ihres gegenseitigen Beistandes. Das betraf nicht zuletzt das Durchzugsrecht. In diesem Fall musste der Fürst, dem das entsprechende Territorium unterstand, Sorge tragen, dass die Kontingente der anderen mit „Nachtlager, Küchenspeise und Futter“ versorgt würden. Die durchziehenden Kriegsleute mussten sich selbst nur um Brot und Bier kümmern. Abschließend erklärten die Fürstenbrüder, dass sie alle Kosten, Schäden und Gewinne – die sie von dem selbigen Krieg haben – gemeinsam tragen und teilen wollen.62 Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den Grafen von Wernigerode hatte jeder von ihnen gleichviele Truppen auf eigene Kosten bereitzustellen. Ausdrücklich ist in der Urkunde von „Kosten“ die Rede, was auf Söldner hindeutet.63 Anlass und Ursache des Krieges gegen die Grafen von Wernigerode sind unbekannt. Seitens 58 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 27–34 (Schulden bei den Juden, allgemeine Schulden, Pfandschaften und Klagen aufgrund säumiger Schuldzahlungen). 59 Ebd., Zeile 43 f. 60 Ebd., Zeile 40 (das Nachfolgende zum Bergbau: Zeile 38–42). 61 Eine Gleve ist die ursprüngliche Bezeichnung für eine lanzenartige Stichwaffe. Hier meint es jedoch einen solide ausgerüsteten und bewaffneten Reiter, der von drei bis vier Trossknechten begleitet wird. 62 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 16–21. 63 Ebd., Zeile 22 f.

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der Wettiner wird es um den Ausbau ihrer Machtposition im südöstlichen Harzvorland gegangen sein. Da dies eine militärische Aktion außer Landes war, konnten die Fürsten nicht auf ihr Lehnsaufgebot zurückgreifen, sondern mussten Söldner anwerben.64 In einem weiteren Punkt versprachen die drei, keine neuen Kriege entfachen zu wollen. Stünde jedoch ein Krieg bevor, so wollten sie sich beraten, „von Stundʼ an zusammenreiten“, ihre Orte und Länder vereint schützen, sich getreulich helfen und die Kosten gemeinsam auf sich nehmen.65 Aufschlussreich erscheint ein Passus, in dem die Wettiner vorgeben, gemeinschaftlich gegen Räuberei vorzugehen. Hinter dem pejorativen Wort „Räuberei“ verbirgt sich nichts anderes als die Stigmatisierung der Fehde – ohne dass dieses alte adlige Rechtsinstitut in der Quelle überhaupt erwähnt wird. Bekanntlich hoffte ein jeder Freie – vor allem bei fehlender oder erfolgloser Appellation – mittels der Fehde Recht zu erlangen oder es durchzusetzen. Die Landgrafen von Thüringen und Markgrafen von Meißen sowie die Städte Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen haben seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beständig versucht, einen dauerhaften Landfrieden zu installieren, was zwangsläufig mit der Bekämpfung und Kriminalisierung des Fehdewesens einherging.66 Friedrich III. selbst wird sich noch an die Thüringische Grafenfehde (1342–1346) erinnert haben. Die abschätzig unter Verdacht der Räuberei gestellten Personen sollten – so man ihrer habhaft wird – vor besondere Gerichte gestellt werden, wobei die Fürsten als Gerichtsorte Weißenfels, Altenburg, Eckartsberga und Rochlitz festlegten.67 Eckartsberga war ein altes landgräfliches Gericht, es gehörte freilich nicht zu den traditionellen Gerichtsstühlen Thüringens, die sich zu jener Zeit in Thamsbrück, Gotha, Weißensee und Buttelstedt befanden. Rochlitz (für die Mark Meißen) sowie Altenburg (für das Pleißenland) waren fraglos althergebrachte Landgerichtsplätze.68 Die Erwähnung von Weißenfels wirft hingegen manche Frage auf, die an dieser Stelle nicht zu erörtern ist.

64 LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 313–315; Jörg BRÜCKNER, Zwischen Reichsstandschaft und Standesherrschaft. Die Grafen von Stolberg und ihr Verhältnis zu den Landgrafen von Thüringen und späteren Herzögen, Kurfürsten bzw. Königen von Sachsen (1210–1815) (Veröffentlichungen des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt, 2), Halle/Saale 2005, S. 123; Nadine HOFMANN, Das Lehnswesen des Spätmittelalters. Untersuchungen zu Herrschaftspraxis und Vasallität der Landgrafen von Thüringen (1382–1440), Diss. phil. (masch.), Jena 2019. 65 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 24 f. 66 Grundsätzlich dazu LEIST, Landesherr und Landfrieden (wie Anm. 13), passim. 67 POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 35–38. 68 Vgl. Hans EBERHARDT, Die Gerichtsorganisation der Landgrafschaft Thüringen im Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 75 (1958), S. 108–180.

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Die Vereinbarung über die Zuweisung der einzelnen Landesteile an die jeweiligen Fürsten erscheint als Kernstück der Neustädter Örterung. Demnach wollten sich die Brüder verständigen, dass Wilhelm einen Teil für sich sowie Friedrich III. und Balthasar gemeinsam zwei Teile erhalten sollten. Käme kein Konsens darüber zustande, wer welchen Landesteil erhält, sollte das Los entscheiden.69 Das vereinte Handeln von Friedrich und Balthasar lässt vermuten, dass sie sich immer noch an ihre einstmals gegebenen Versprechen – nicht teilen zu wollen – gehalten haben. Wilhelm I. erscheint folglich als treibende Kraft der Teilung. Dieser Umstand stimmt mit dem von ihm anlässlich seines Beitritts in den Bündnisvertrag vom 3. Februar 1364 gegebenen Sondervotum überein. Im Urkundentext der Neustädter Örterung wird nichts über die konkrete territoriale Aufteilung des gesamten wettinischen Besitzes offenbart. Unklar ist auch, ob die Landesteile durch Losentscheid übertragen worden sind. Das wird bezweifelt, denn die drei Fürsten residierten fortan in den Territorien, in denen sich auch die Leibgedinge ihrer Ehefrauen befanden.70 Die Neustädter Örterung wurde umgehend vollzogen. Schon am 13. Juli 1379 war Markgraf Wilhelm I. alleiniger Inhaber der Mark Meißen.71 Im Text der Örterung gingen die drei ursprünglich noch davon aus, dass sie ihren gesamten Besitz nur für zwei Jahre separieren wollten. Die Abmachung sollte eigentlich erst am 24. Juni 1380 in Kraft treten und für zwei Jahre gelten.72 Dies wurde jedoch am 7. August 1379 revidiert. Die Fürsten bestimmten in einem Zusatzvertrag – der abermals unter Mitwirkung ihres Bruders Ludwig und des Nürnberger Burggrafen Friedrich V. zustande gekommen war –, den Vollzug der Örterung ausdrücklich. Ferner legten sie fest, dass die am 3. Juli 1379 getroffene Abmachung erst dann außer Kraft treten sollte, wenn einer der Vertragspartner nach Auslaufen der Vertragszeit, also nach dem 24. Juni 1382, zur Zusammenlegung der Länder mahnt.73 Somit verdeutlicht der Zusatzvertrag vom 7. August, dass eine gemeinsame Herrschaft über das gesamte Territorium wahrscheinlicher war als eine „Totteilung“. Als Garanten der vereinten Herrschafts- und Regierungspraxis erscheinen wiederum Friedrich III. und Balthasar.

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POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 7–9. LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 304. Ebd., S. 303 f. POSSE, Hausgesetze (wie Anm. 4), Tafel 43, Zeile 11. Ebd., Tafel 44 a; LEISERING, Regesten 1366–1380 (wie Anm. 40), S. 356; DERS., Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 304.

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V. Ausblick Die Neustädter Örterung vom 3. Juli 1379 wird gemeinhin als die Ouvertüre zur Chemnitzer Landesteilung vom November 1382 angesehen. Tatsächlich hatte nur Markgraf Wilhelm I. mit der Mark Meißen ein eigenständiges Territorium erhalten. Die beiden ältesten Brüder Friedrich und Balthasar regierten in Thüringen, in den fränkischen Gebieten südlich des Thüringer Waldes sowie im Oster-, Pleißen- und Vogtland gemeinsam. Der modus vivendi besagte, dass die Örterung bis in den Juni 1382 befristet war. Allerdings verstarb am 25./26. Mai 1381 Friedrich III., der nicht nur drei erbberechtigte Söhne hinterließ, sondern der zugleich mit seinem Bruder Balthasar für den Erhalt der Ländereinheit eingetreten war. Infolge des Todes von Friedrich scheint sich nun auch Balthasar nicht mehr an die verpflichtende Wirkung seiner Versprechen, vor allem an den Gothaer Vertrag vom 13. Mai 1356, gebunden gefühlt zu haben.74 Eine „Totteilung“ erschien zunehmend als Option. Im Dezember 1381 verhandelte die Witwe des Markgrafen Friedrich III., Katharina von Henneberg, mit Wilhelm I. über die bevorstehende Huldigung ihrer unmündigen Söhne Friedrich IV., Wilhelm II. und Georg. Dabei sicherte sie Wilhelm I. zu, Land und Leute „zu sondern oder zu teilen“.75 Schließlich und endlich wurde die Teilung am 13. November 1382 in Chemnitz vollzogen. Landgraf Balthasar erhielt Thüringen, Markgraf Wilhelm I. behielt die Mark Meißen und den noch unmündigen Söhnen des verstorbenen Markgrafen Friedrich III. wurde das sogenannte Osterland zugewiesen. Zu diesem Länderkomplex, der vor allem Besitz an der Saale sowie östlich davon vereinte, gehörten die Burgen, Städte und Ämter Burgau, Lobdeburg, Jena, Dornburg, Nebra, Orlamünde, Arnshaugk, Neustadt an der Orla, Triptis, Auma, Ziegenrück, Berga, Windberg (auf dem Hausberg, östlich von Jena), Camburg, Bürgel, Eisenberg, Neuenburg/Unstrut, Weißenfels, Groitzsch, Pegau, Altenburg, Ehrenberg, Kohren, Kahla, Brandenstein, Weißenburg an der Saale, Leipzig und das Benediktinerkloster Saalfeld.76 Die in der Chemnitzer Teilungsurkunde aufgezeichneten Herrschaftszentren des Osterlandes offenbaren, dass dieses Land eine Region war, die im Westen von Thüringen, im Osten von der Mark Meißen, im Norden von Alt-Sachsen bzw. dem damals noch askanischen Herzogtum Sachsen und im Süden vom Vogtland bzw. dem Königreich Böhmen umschlossen wurde. Dass diese Region in territorialer Hinsicht löchrig wie ein Schweizer Käse war, belegen eindrucksvoll die von Hans Beschorner und Eckart Leisering bearbeiteten Karten. 74 Ebd. 75 CDS I B, Bd. 1 (wie Anm. 55), Nr. 31, S. 23; zur Urkunde LEISERING, Wettiner und ihre Herrschaftsgebiete (wie Anm. 7), S. 323. 76 CDS I B, Bd. 1 (wie Anm. 55), Nr. 51, S. 34 f.

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Gleichwohl wäre es falsch, in dem im Jahre 1379 bzw. 1382 gebildeten Osterland ein zeitgenössisches Konstrukt zu erblicken. Bereits seit der Mitte des 13. Jahrhunderts herrschten Vorstellungen über eine Region vor, die zwischen Thüringen und Meißen „eingeklemmt“ war. Die Neustädter Örterung und Chemnitzer Teilung sowie die wettinischen Nachfolgeverträge (1410, 1411, 1433, 1436, 1437, 1439, 1441, 1445, 1451) haben diesen Umstand – zumindest für einige Jahrzehnte – zementiert. Ob es infolge dieser Verstetigung zur Herausbildung eines regionalen „Wir-Gefühls“ der politisch handelnden Eliten gekommen ist, sei dahingestellt. Gesichert scheint indes zu sein, dass diese Entwicklung spätestens durch die Leipziger Teilung (1485), die Wittenberger Kapitulation (1547), den Naumburger Vertrag (1554) sowie durch die territorialen Veränderungen von 1566 und 1567 – die zur Herausbildung des Neustädter Kreises und des Vogtländischen Kreises innerhalb der albertinisch-kursächsischen Ständeversammlung führten – ein für allemal unterbrochen wurde.

ENNO BÜNZ DER KAISER IST TOT

Der Kaiser ist tot Wie das Ableben Maximilians I. 1519 in Kursachsen bekannt gemacht wurde

Was wusste der „gemeine Mann“ vom politischen Geschehen seiner Zeit? Wie erfuhren Bürger und Bauern von elementaren Ereignissen, beispielsweise dem Tod des Reichsoberhauptes? Bis zum Aufkommen von „Zeitungen“ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts1 gab es bereits verschiedene Möglichkeiten, um Nachrichten im Reich zu verbreiten: Nicht nur der Kaiserhof, sondern auch weltliche und geistliche Fürsten, aber auch Städte kommunizierten durch Boten, die mündliche und schriftliche Botschaften überbrachten.2 Daraus erwuchs dann ein Postwesen, das gerade von Kaiser Maximilian um 1500 systematisch ausgebaut wurde.3 Dabei waren Kommunikationsnetzwerke zwischen den Städten, aber auch die hierarchisch aufgebaute weltliche und geistliche Herrschaft (Ämter- und Pfarrorganisation) hilfreich, um Nachrichten in der Fläche zu verbreiten. Darüber hinaus gab es spezifische Kommunikationsnetzwerke etwa von Kaufleuten4 oder von Humanisten.5 Für die einfachen Leute waren Lieder eine 1

Zur Geschichte der Kommunikation seit dem ausgehenden Mittelalter Wolfgang BEH„Kommunikation“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. von Friedrich JAEGER, Bd. 6, Stuttgart u.a. 2007, Sp. 995–1018, mit Verweis auf weitere einschlägige Lemmata in diesem Nachschlagewerk; Helmut W. LANG, Die Neue Zeitung des 15. bis 17. Jahrhunderts – Entwicklungsgeschichte und Typologie. Unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Zeitungen, in: Fritz Peter KNAPP/Herbert ZEMAN (Hg.), 1050–1750. Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert, 2 Bde. (Jahrbuch für österreichische Kulturgeschichte, 14–15), Graz 1986, hier Bd. 2, S. 681–690. Bernd SCHNEIDMÜLLER, Briefe und Boten im Mittelalter. Eine Skizze, in: Wolfgang LOTZ (Hg.), Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder, Berlin 1989, S. 10–21; Heinz-Dieter HEIMANN/Ivan HLAVÁČEK (Hg.), Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Renaissance, Paderborn u.a. 1998. Hermann WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. 5: Der Kaiser und seine Umwelt. Hof, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, München 1986, S. 393–401 über die kaiserliche Post. Theodor Gustav WERNER, Das kaufmännische Nachrichtenwesen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit und sein Einfluß auf die Entstehung der handschriftlichen Zeitung, in: Scripta Mercaturae 2 (1975), S. 3–51. RINGER,

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ebenso beliebte wie eingängige Form, um politische Ereignisse zu kommunizieren; auch sie wurden als Einblattdrucke verbreitet.6 Von der Nachricht konnte es nur ein kleiner Schritt zum Gerücht sein, das sich in Windeseile verbreitete.7 Kommunikation funktionierte in einer weitgehend analphabetischen Gesellschaft8 zudem nicht nur über das gesprochene und geschriebene Wort, sondern auch durch Bilder. Gedruckte illustrierte Flugblätter, die durch Text und Bild wirkten, gab es schon in der Inkunabelzeit.9 Eine besondere Kommunikationsform waren die sogenannten „Schmähbriefe“ und „Schandbilder“, die seit dem späten Mittelalter bei Rechtsstreitigkeiten und Fehden als Druckmittel und zur Meinungsbeeinflussung eingesetzt wurden.10 Leistungsfähige Kanzleien waren zwar schon im Mittelalter in der Lage, Rundschreiben in zahlreichen Exemplaren zu produzieren, doch bot die Druckkunst seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bessere Möglichkeiten, öffentliche Bekanntmachungen, Mandate und Schreiben einheitlich und in großer Zahl herzustellen. Das Verzeichnis der Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts prä-

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Dazu gibt es eine reiche Literatur, als instruktives Beispiel siehe Klaus ARNOLD, Warum schrieben und sammelten Humanisten ihre Briefe? Beobachtungen zum Briefwechsel des Benediktinerabtes Johannes Trithemius (1462–1516), in: Michael BUSCH/Jörg HILLMANN (Hg.), Adel–Geistlichkeit–Militär. Festschrift für Eckardt Opitz zum 60. Geburtstag (Schriftenreihe der Stiftung Herzogtum Lauenburg, Sonderband), Bochum 1999, S. 19– 32. 6 Beispiele nennt Karl SCHOTTENLOHER, Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Jahre 1848. Neu hg., eingeleitet und ergänzt von Johannes BINKOWSKI (Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde, 21), München 1985, S. 48–52. 7 Ernst SCHUBERT, „bauerngeschrey“. Zum Problem der öffentlichen Meinung im spätmittelalterlichen Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35 (1975), S. 883–907; Martin BAUER, Die „gemain sag“ im späten Mittelalter. Studien zu einem Faktor mittelalterlicher Öffentlichkeit und seinem historischen Auskunftswert, Diss., Erlangen-Nürnberg 1981. 8 Alfred WENDEHORST, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?, in: Johannes FRIED (Hg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters (Vorträge und Forschungen, 30), Sigmaringen 1986, S. 9–33. 9 Sabine GRIESE, Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von EinblattHolz- und -Metallschnitten des 15. Jahrhunderts, Zürich 2011; die Verfasserin bearbeitet einen Katalog der illustrierten Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts. Ferner Wolfgang BRÜCKNER, „Flugschrift“, in: Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 1), Bd. 3, Stuttgart u.a. 2006, Sp. 1027–1032. 10 Matthias LENTZ, Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (ca. 1350 bis 1600). Mit einem illustrierten Katalog der Überlieferung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen, 217), Hannover 2004.

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sentiert zahlreiche Beispiele für diese Publikationsform.11 Maximilian I. war der erste Kaiser, der den Einblattdruck zur Kommunikation verwendet hat.12 Außer dem Habsburgerkaiser dürfte um 1500 kein Fürstenhaus das neue Medium der Druckkunst so intensiv wie die wettinischen Kurfürsten und Herzöge von Sachsen für Mandate und Ausschreiben genutzt haben, beispielsweise für Einberufungsbescheide.13 Hier fügt sich das im Folgenden vorzustellende Ausschreiben Kurfürst Friedrichs von Sachsen bestens ein. Es gehört in das Jahr 1519 und betrifft den Tod Kaiser Maximilians I., der sich 2019 zum 500. Mal jährt. Es dürfte keinen Herrscher des Mittelalters geben, über dessen Tod und Begräbnis so viel bekannt ist, wie Maximilian I., der am 12. Januar 1519 in der Burg zu Wels an der Donau im Alter von 61 Jahren verstorben ist. Hermann Wiesflecker hat den Tod des Kaisers in seiner monumentalen Maximiliansbiographie 1981 umfassend dargestellt.14 Vor allem Peter Schmid konnte 1997 in einem einschlägigen Aufsatz manches weiterführen und vertiefen.15 Dass das 11 Falk EISERMANN, Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, 3 Bde., Wiesbaden 2004; Volker HONEMANN u.a. (Hg.), Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000. 12 Falk EISERMANN, „Darnach wisset Euch zu richten“. Maximilians Einblattdrucke vom Freiburger Reichstag, in: Hans SCHADEK (Hg.), Der Kaiser in seiner Stadt. Maximilian I. und der Reichstag zu Freiburg 1498, Freiburg 1998, S. 199–215; DERS., Buchdruck und politische Kommunikation. Ein neuer Fund zur frühen Publizistik Maximilians I., in: Gutenberg-Jahrbuch 77 (2002), S. 76–83. 13 DERS., Zu den Anfängen des gedruckten Formulars, in: Rayan ABDULLAH/Karsten HENZE, Formulare. Von der Wiege bis zur Bahre ... Formulare im Corporate Design, München 2007, S. 12–25, hier S. 23 f. 14 WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I. (wie Anm. 3), Bd. 4: Gründung des habsburgischen Weltreiches. Lebensabend und Tod 1508–1519, Wien 1981, S. 420–432; knapper DERS., Maximilian I. Die Fundamente des habsburgischen Weltreiches, Wien/München 1991, S. 376–385. Die Angaben zum Reiseweg in den letzten Lebensmonaten beruhen auf der Untersuchung von Sabine WEISS, Kaiser Maximilian I., das Reich, die Erbländer und Europa im Jahre 1518, Diss. (masch.), Graz 1962. Die Bearbeitung der Regesta Imperii XIV: Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493–1519, bearb. von Hermann WIESFLECKER u.a., hat mit Bd. 4 erst das Jahr 1504 erreicht. 15 Peter SCHMID, Sterben–Tod–Leichenbegängnis König Maximilians I., in: Lothar KOLMER (Hg.), Der Tod des Mächtigen. Kult und Kultur des Todes spätmittelalterlicher Herrscher, Paderborn u.a. 1997, S. 185–215. Von der seitdem erschienenen Literatur ist hier vor allem zu nennen Manfred HOLLEGGER, Maximilian I. (1459–1519). Herrscher und Mensch einer Zeitenwende (Urban-Taschenbücher, 442), Stuttgart 2005, S. 236–241 über den Tod Maximilians. Nicht benutzen konnte ich die (von Wiesflecker zitierte) Arbeit von Gabriele VOSS, Der Tod des Herrschers. Sterbe- und Beerdigungsbrauchtum beim Übertritt vom Mittelalter in die frühe Neuzeit am Beispiel der Kaiser Friedrich III., Maximilian I. und Karl V., Diplomarbeit (masch.), Universität Wien 1989.

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Thema immer noch nicht erschöpfend behandelt ist, mag der vorliegende Beitrag zeigen. Am 23. September 1518 verließ Maximilian Augsburg und zog über Kaufbeuren, Ehrenberg, Imst und Fragenstein nach Innsbruck16 und dann, weiter den Inn abwärts über Kufstein nach Rosenheim. Maximilian war von Krankheit gezeichnet und voller Todesahnungen, weshalb er seinen Beichtvater, den Kartäuserprior Gregor Reisch, bereits aus Freiburg nach Wels beordert hatte.17 Von Rosenheim zog der kaiserliche Troß weiter nach Salzburg, wo der Kaiser mit seinem Vertrauten Kardinal Matthäus Lang und dem Salzburger Erzbischof zusammentraf, um dann über Straßwalchen, Vöcklabruck und Gmunden an den Wallfahrtsort St. Wolfgang zu ziehen. Dort plante Maximilian, über dem Abersee (heute Wolfgangsee) auf dem Falkenstein bei St. Gilgen seine Grablege einzurichten, doch wurde das Vorhaben nicht mehr realisiert.18 Weiter ging es über Ischl und die Jagdgründe im Salzkammergut nach Enns, Steyr und Stift Kremsmünster. Von dort erreichte der Habsburger dann am 10. Dezember 1518 seine letzte Lebensstation, die Burg in Wels.19 Dort fesselten ihn seine verschiedenen gesundheitlichen Beschwerden,20 die auch die zahlreich versammelten Leibärzte des Kaisers nicht lindern konnten, bald ans Bett, und der Habsburger diktierte in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember sein Testament.21 Anfang Januar traf endlich der vertraute Beichtvater Prior Reisch aus Freiburg ein, den Maximilian mit den Worten begrüßte: „Du kommst eben zurecht, um mir in den Himmel zu helfen“.22 Ihm legte er am 8. Januar die Beichte ab und empfing am folgenden Tag die Kommunion, am 11. Januar schließlich aus den Händen seines Beichtvaters die letzte Ölung. Seine letzten Worte waren: „Ich

16 Gegen das Gerücht, dass er nicht in Innsbruck bleiben konnte, weil ihm die Gastwirte wegen unbezahlter Rechnungen die Aufnahme verweigerten, verwahrte sich Maximilian schon gegenüber seinen Innsbrucker Räten, siehe HOLLEGGER, Maximilian I. (wie Anm. 15), S. 238 f. 17 WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 4 (wie Anm. 14), S. 421. Über Reisch ebd., Bd. 5 (wie Anm. 3), S. 351. 18 Darüber nun eingehend Brigitta LAURO, Kaiser Maximilian I. und der Falkenstein bei St. Gilgen, St. Gilgen 2009, die in diesem Zusammenhang auch die große Bedeutung des Herzheimer-Berichts über den Tod Maximilians (siehe unten bei Anm. 40) betont und diesen auszugsweise, S. 103 f., nochmals abdruckt. Siehe bereits SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 213 f. 19 WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 4 (wie Anm. 14), S. 423. Zum Folgenden auch SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 196–202, der stärker die idealtypischen Aspekte der Sterbeberichte hervorhebt. 20 Dazu eingehend WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 4 (wie Anm. 14), S. 424 mit Anm. 19 (S. 629–632). 21 Ebd., S. 425 f. 22 Zit. nach ebd., S. 427.

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bin für diese Reise mit Gottes Gnaden ganz gerüstet“.23 Am Abend erlitt Maximilian einen Schlaganfall, so dass er nicht mehr sprechen konnte, aber bei Bewusstsein war. Als ein Kaplan ihm zur dritten Stunde nach Mitternacht aus der Bibel vom Tod Christi vorlas, verstarb der Kaiser. Der Geistliche berichtet, er habe „all sein Tage keinen geduldigeren Menschen sterben gesehen“.24 Als Ausdruck besonderer Demut hatte der Kaiser sich verbeten, einbalsamiert zu werden. Vielmehr sollten ihm die Haare abgeschnitten, die Zähne ausgebrochen und der Körper gegeißelt werden.25 Ein unbekannter Maler hat den Verstorbenen porträtiert: „Das Haupt war von einer roten Kappe bedeckt, das Antlitz fahlgelb, die Augenlider zugedrückt, die Wangen tief eingefallen, die große Nase noch mehr hervortretend als zu Lebzeiten, der Mund leicht geöffnet; die Brust mit einem weiß gesäumten Bahrtuch und dem roten Kreuz des Georgsordens bedeckt. So wurde der Kaiser dem Volk gezeigt. Tausende zogen an seiner Bahre vorüber, weinten und schrien, wie man das heutzutage noch bei Naturvölkern beobachten kann.“26

Am 16. Januar 1519 wurde der Leichnam in die Welser Pfarrkirche gebracht, wo Kardinal Lang das Totenamt zelebrierte und der Augsburger Dominikaner Johannes Fabri die Leichenrede hielt.27 Maximilian blieb dort vier Tage aufgebahrt.28 Dann wurde der Leichnam nach Wien gebracht, wo ab dem 29. Januar im Stephansdom dreitägige Exequien stattfanden. Von dort zog der Leichenzug nach Wiener Neustadt, wo Maximilian am 3. Februar in der St. Georgs-Kirche beigesetzt wurde. Gemessen an seinen vielfältigen Grabmalsplänen, man denke nur an das unvollendete Begräbnis in der Innsbrucker Hofkirche, fand Maximilian eine bescheidene letzte Ruhestätte.29 Schnell verbreitete sich die Nachricht 23 24 25 26

Ebd., S. 429. Ebd. SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 203–205. WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 4 (wie Anm. 14), S. 430; Gernot MAYER, Katalogartikel „Monogrammist A. A., Das Totenbildnis Maximilians I., 1519“, in: Eva MICHEL/Maria Luise STERNATH (Hg.), Kaiser Maximilian I. und die Kunst der Dürerzeit, München/London/New York 2012, S. 381–383 mit Abbildung aller Varianten. 27 WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 5 (wie Anm. 3), S. 356, dazu Rudolf ZINNHOBLER, Johannes Fabers Leichenrede auf Maximilian I. (gehalten in Wels am 16. Jänner 1519), in: Jahrbuch des Musealvereines Wels 15 (1968/69), S. 35–87; SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 205 f. 28 Zum Folgenden Hanna DORNIK-EGER, Hans Herzheimers „Neue Zeitung“ zum Tode Kaiser Maximilians I., in: DIES., Albrecht Dürer und die Druckgraphik für Kaiser Maximilian I. (Schriften der Bibliothek des österreichischen Museums für angewandte Kunst, 6), Wien 1971, S. 24–45, hier S. 30; SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 206–208. 29 Zu den Grabmalsplänen WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 4 (wie Anm. 14), S. 432–438; Brigitta LAURO, Die Grabstätten der Habsburger. Kunstdenkmäler einer euro-

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vom Tod des Kaisers weit über die Grenzen des Reiches, befördert auch von Totenklagen, Volksliedern und Gedenkreden,30 doch gab es wohl kein systematisches Verfahren, den Tod des Herrschers bekanntzumachen.31 Nur ein kleiner Ausschnitt des Kommunikationsgeschehens um den Tod des Kaisers soll hier betrachtet werden. Der Kurfürst von Sachsen war aufgrund seiner reichsrechtlichen Stellung durch den Tod des Reichsoberhauptes natürlich besonders tangiert, und bald setzte auch das Werben um die Stimme des Wettiners ein.32 Zudem musste der Kurfürst mit dem Tod des Kaisers das Reichsvikariat für den Geltungsbereich des sächsischen Rechtes zu übernehmen.33 Der Blick auf ein einzelnes Territorium, auch wenn es sich um Kursachsen handelt, mag auf den ersten Blick recht speziell erscheinen, aber es sind die günstigen Überlieferungsumstände, die es in diesem Fall lohnend erscheinen lassen, näher hinzusehen. Wie Wiesflecker betont, berichten „viele, voneinander unabhängige Quellen […] über das tapfere und demütige Sterben des Kaisers. Sie bieten ein ergreifendes Bild – keine Heiligenlegende“,34 doch sollte man auch bedenken, dass es nicht nur Maximilian darum ging, in christlich vorbildlicher Weise zu sterben, sondern dieses Idealbild von den zeitgenössischen Berichten noch verstärkt wurde.35 Zu den wichtigsten Quellen gehören in diesem Zusammenhang Aufzeichnungen des niederbayerischen Adligen Hans III. Herzheimer (1464– 1532),36 der bis 1518 als Verwalter der kaiserlichen Saline in Bad Aussee im Dienste des Habsburgers gestanden hatte,37 sich im November 1518 im Chiemgau aufhielt und im Begriff stand, nach Sachsen aufzubrechen, um zwei seiner Söhne, die in Wittenberg studierten, nach jahrelanger Abwesenheit wiederzusehen.

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päischen Dynastie, Wien 2007, S. 95 f. (Grab in Wiener Neustadt) und S. 151–166 (Hofkirche Innsbruck). Siehe auch Anm. 18. Einige weiterführende Hinweise bei WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 4 (wie Anm. 14), S. 432 mit Anm. 62 (S. 635). SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 208 verweist darauf, dass die Testamentsvollstrecker und Räte am 13. Januar die Stände offiziell informierten, dass die Todesnachricht aber schon schnell „gerüchteweise und aufgrund von Privatmitteilungen“ umlief. Ingetraut LUDOLPHY, Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463–1525, Göttingen 1984, S. 213 f. Ebd., S. 212 f. WIESFLECKER, Kaiser Maximilian I., Bd. 4 (wie Anm. 14), S. 420. Dies betont SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 202. Siehe als biographischen Abriss Meinrad SCHROLL, Die Herzheimer zu Heretsham, Trostberg und Salmanskirchen, in: Heimatbuch Kienberg, bearb. von Meinrad SCHROLL, Kienberg 2006, S. 91–127, hier S. 95–119. Dort ist die ältere Literatur nachgewiesen. Ferdinand TREMEL, Hans Herzheimer, Aussee, und die Ausseer Hallamtsordnung vom Jahre 1513, in: Alexander NOVOTNY/Othmar PICKL (Hg.), Festschrift für Hermann Wiesflecker zum sechzigsten Geburtstag, Graz 1973, S. 81–97.

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Diese Reise ist nicht nur für unsere Thematik von einiger Bedeutung, denn Hans Herzheimer hat von September 1518 bis Juli 1519 tagebuchartige Aufzeichnungen angelegt, die er nach der Rückkehr zu einem Reisebericht verarbeitete, der für vielfältige Fragestellungen herangezogen werden kann. Eine Edition dieses Reiseberichts, der in einer Handschrift in der Bibliothek des Museums für angewandte Kunst in Wien überliefert ist,38 steht vor dem Abschluss (ich verweise im Folgenden stets auf die Folio-Angabe der Handschrift und die laufende Nummer der Edition). Einige Auszüge habe ich bereits vorab publiziert.39 Die in einem Pergamentcoperteinband überlieferte Papierhandschrift besteht aus mehreren Teilen, nämlich einem Salbuch der Hofmark Zangberg (Oberbayern) und ergänzenden rechtlichen Aufzeichnungen (fol. 1r– 218r), den erwähnten Aufzeichnungen über den Tod Kaiser Maximilians und verschiedene Himmelszeichen40 (fol. 220r–231r), diversen vermischten Notizen (fol. 231v–239v) und den Aufzeichnungen über die Reise nach Sachsen 1518/19 (fol. 250r–306r), die Gegenstand der angekündigten Edition sein werden. Um den Wert der Reiseaufzeichnungen Hans III. Herzheimers ermessen zu können, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass solche Aufzeichnungen um 1500 – wenn es nicht galt, Pilgerreisen nach Jerusalem oder Santiago de

38 Museum für angewandte Kunst (im Folgenden: MAK) Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20. – Der Leiterin der Bibliothek des MAK, Frau Magistra Kathrin Pokorny-Nagel, habe ich für vielfältige Unterstützung bei meiner Beschäftigung mit der Handschrift zu danken. 39 Enno BÜNZ, Wittenberg 1519: Was ein Reisender von der Stadt wahrgenommen hat, und was nicht, in: Heiner LÜCK u.a. (Hg.), Das ernestinische Wittenberg: Stadt und Bewohner, 2 Bde. (Wittenberg-Forschungen 2, 1–2), Petersberg 2013, Textbd. S. 9–24, Bildbd. S. 15–18; DERS., Torgau 1519. Der bayerische Adlige Hans Herzheimer beschreibt die sächsische Residenz, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 87 (2016), S. 121–149; DERS., Die Wettiner auf den Reichstagen. Kurfürst Friedrich der Weise auf dem Wahltag 1519 in Frankfurt, gesehen mit den Augen eines Zeitzeugen, in: Oliver AUGE (Hg.), König, Reich und Fürsten im Mittelalter. Abschlusstagung des Greifswalder „PrincipesProjekts“. Festschrift für Karl-Heinz Spieß, Stuttgart 2017, S. 441–460. Die Quelle auch erwähnt in DERS., Reiseberichte (Spätmittelalter), publiziert am 17.8.2012, in: Historisches Lexikon Bayerns Online, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Reiseberichte (Spätmittelalter) (letzter Zugriff: 27.8.2018). 40 DORNIK-EGER, Herzheimers „Neue Zeitung“ (wie Anm. 28), S. 24–45, mit Abbildung der Himmelszeichen. Diese Aufzeichnung wurde am 5.2.1519 abgeschlossen (ebd., S. 36), also noch während Herzheimers Aufenthalt in Sachsen. Ihm sind dort also detaillierte Berichte über den Tod des Kaisers zugegangen, womöglich auch über den kursächsischen Hof. Der Vergleich mit den anderen Quellen zeigt, dass Herzheimer „eine über die meisten anderen Quellen seiner Zeit hinausgehende, umfangreiche Zusammenfassung der letzten Monate des Kaisers gibt, was der Handschrift eine besondere Importanz verleihen mag“ (ebd., S. 26). Zur Beurteilung auch SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 190.

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Compostela zu beschreiben – außerordentlich selten sind.41 Weiter muss man wissen, dass Hans Herzheimer ein Vetter Degenhard Pfeffingers war. Dessen Vater Gentiflor war der Bruder von Veronika Pfeffinger, der Mutter Hans Herzheimers. Degenhard Pfeffinger (1471–1519) entstammte ebenfalls einer altbayerischen Niederadelsfamilie, die ihren Stammsitz in Salmanskirchen bei Mühldorf am Inn hatte, war aber schon in jungen Jahren an den kursächsischen Hof gelangt, wo er unter Friedrich dem Weisen eine steile Karriere absolvierte und schließlich als Kämmerer und engster Vertrauter des Wettiners zu einer Schlüsselfigur am kursächsischen Hof avancierte.42 Der Wittenberger Universitätslehrer Andreas Meinhardi bemerkt in seiner zeitgenössischen Beschreibung der Stadt Wittenberg über Pfeffinger: „Wem er den Zutritt zum Hof des erlauchten Fürsten gestattet, dem stehen die Tore und Türen ohne Zweifel weit offen“.43 Eben davon profitierte Hans Herzheimer während seines Aufenthalts in Kursachsen, und dies bedingt auch den Rang und Informationsgehalt seines Reiseberichts. Dass wir es bei Degenhard Pfeffinger und Hans Herzheimer nicht mit nachrangigen Niederadligen zu tun haben, wird schon am Beginn des Reiseberichts deutlich. Sie haben Anfang November 1518 den Reiseweg des schwerkranken Kaisers stets im Blick, der von Rosenheim aus nach Trostberg reiste, wo sie Maximilian I. am 11. November trafen. Herzheimer schreibt: „Herr Degnhart vnd ich Hertzheimer sein bei ir m(aieste)t zw dem ernst im obren stublen gewest vnd vnser sachen volbracht, vnd die nacht wider gen Salbernkirchen komen“.44 Welche Angelegenheit („sachen“) sie mit dem Kaiser zu besprechen hatten, erfahren wir leider nicht. Wie ein Schatten sollte Maximilian auch in den nächsten Wochen ihren Reiseweg nach Sachsen begleiten. Am 14. Dezember brachen Herzheimer und Pfeffinger endlich von Salmanskirchen auf, wo – auch dies unterstreicht die Bedeutung dieser Reise – der päpstliche Legat Karl von

41 BÜNZ, Reiseberichte (wie Anm. 39); DERS., Reiseberichte–Reisegruppen–Reisewege. Bemerkungen zur neuen analytischen Bibliographie „Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters“, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 65 (2003), S. 353–361. 42 Über ihn DERS., Degenhard Pfeffinger (1471–1519), in: Sächsische Lebensbilder, Bd. 8, hg. von Konstantin HERMANN (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte), Leipzig 2019 (zum Druck eingereicht). 43 Andreas MEINHARDI, Über die Lage, die Schönheit und den Ruhm der hochberühmten herrlichen Stadt Albioris, gemeinhin Wittenberg genannt. Ein Dialog, herausgegeben für diejenigen, die ihre Lehrzeit in den edlen Wissenschaften beginnen. Aus dem Lateinischen. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Martin TREU (Reclams UniversalBibliothek, 1145), Leipzig 1986, S. 88 f., Edition Nr. 17. 44 MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20, fol. 253r.

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Miltitz zu ihnen stieß, der ebenfalls nach Kursachsen wollte, um im päpstlichen Auftrag in der Luther-Sache tätig zu werden.45 Als Kaiser Maximilian in Wels verstarb, war unsere Reisegruppe schon längst in Kursachsen eingetroffen. Am 26. Dezember 1518 hatte man Altenburg erreicht, wo Karl von Miltitz zurückblieb, um mit Martin Luther zu sprechen. Über Borna (6. Januar), Leipzig (7. Januar) und Eilenburg (8. Januar) ging es weiter nach Torgau (9. Januar), der neben Wittenberg bedeutendsten kursächsischen Residenzstadt,46 und nach Lochau, dem heutigen Annaburg (10. Januar),47 wo sich der Kurfürst häufig im Jagdschloss aufhielt. Hier nun berichtet Herzheimer über den Tod Kaiser Maximilians. Die Einfügung dieser Nachricht an chronologisch richtiger Stelle verdeutlicht neben anderem, dass das Reisetagebuch nachträglich bearbeitet wurde. Unter der Überschrift „Ableibung kay(ser) Maximiliani etc.“ heißt es:48 „In vorgemelter erichtagnacht nach Erhardi, der 12. tag januarii anno 1519 nach mitternacht zbischen zbayen vnd drey vr, ist der allerdurchleuchtigiste, grosmachtigiste romisch kayser Maximilian etc., ain sune weilent des grosmechtigsten kayser Friderichen des dritten etc. vnd ertzhertzogen zw Osterreich etc.,49 in gott verschiden. Der allmechtigste gott welle seiner m(aieste)t den hymel geben zw ewiger rue, als hie nach sein abschaiden

45 Karl von Miltitz (1490–1529), der aus einer meißnisch-sächsischen Niederadelsfamilie stammte, war seit 1514 in verschiedenen Funktionen an der Römischen Kurie tätig und war von Papst Leo X. am 10.9.1518 mit einer Gesandtschaft zu Kurfürst Friedrich dem Weisen beauftragt worden, vgl. Heribert SMOLINSKY, Karl von Miltitz, in: Neue deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 17, Berlin 1994, S. 533 f.; Christoph VOLKMAR, Mittelsmänner zwischen Sachsen und Rom. Die Kurienprokuratoren Herzog Georgs von Sachsen am Vorabend der Reformation, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 88 (2008), S. 244–309, hier S. 299. Im Jahr 1519 gehört er zu den Zeugen des Testaments Degenhard Pfeffingers, vgl. Albert GÜMBEL, Der kursächsische Kämmerer Degenhart von Pfeffingen, der Begleiter Dürers auf der „Marter der zehntausend Christen” (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, 238), Straßburg 1926, S. 63. 46 Zur Beschreibung von Stadt und Schloss vgl. BÜNZ, Torgau 1519 (wie Anm. 39). 47 Über Herzheimers Beschreibung des Schlosses siehe Stephan HOPPE, Anatomy of an Early „Villa” in Central Europe. The Schloss and Garden of the Saxon Elector Frederick the Wise in Lochau (Annaburg) according to the 1519 Report of Hans Herzheimer, in: Monique CHATENET (Hg.), Maisons des champs dans l’Europe de la Renaissance. Actes des premières Rencontres d’architecture européenne Chateau de Maisons 10–13 juin 2003, Paris 2006, S. 159–170. 48 MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20, fol. 265v, Edition Nr. 80. 49 Heinrich KOLLER, Friedrich III., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München 1989, Sp. 940–943.

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in diesem puechlen clarlichen beschriben ist.50 Aber zw diser zeit noch vnwissend ir c(hurfurstlich) g(naden) gewesst.“

Als Spannungselement, das aber auf die Dauer ermüdend wirkt, wiederholt Herzheimer bei den folgenden Aufzeichnungen mehrfach, dass der Kurfürst noch nicht vom Tod des Kaisers gewusst habe, z.B. als er am 16. Januar in Torgau mit Kardinal Albrecht von Brandenburg zusammentraf, seien beide „noch vnwissent der k(ayserlichen) m(aieste)t tod“ gewesen,51 ebenso, als sie im Anschluss nach Lochau reisten52 und am 19. Januar wieder nach Torgau zurückkamen, von wo der Mainzer Kardinal am folgenden Tag abreiste und – wohl auf dem Weg in seine Residenz Halle an der Saale – in Eilenburg Station machte.53 Dort nun muss Albrecht von Brandenburg die Nachricht vom Tod Maximilians erhalten haben, denn Herzheimer berichtet unter der Überschrift „Die verkundung kayser(lichen) todts zum aller erssten“: „Am freitag, sand Angnes [21.1.1519], fuer mein g(nedig)ster her churfurst von Torchaw aus widerumb gen der Lachaw, in der selben nacht kham der wolgeboren herr, her Wolf von Schonburg, zw meinem gnedigsten herrn churf(urst), vnd liess der von Mayntz yren churf(urstlichen) g(naden) des aller grosmechtigisten kaiser Maximilian sterben vnd seines churfurst(en) betruebnus dar vmb mit cläglichem gemuedt, doch ains tails zbeiflichen, an sagen.“54

Kardinal Albrecht hatte dem Kurfürsten von Halle aus unmittelbar nach Erhalt der Todesnachricht eigenhändig geschrieben und den Brief noch am selben Tag durch Wolf von Schönberg zustellen lassen.55 Die Todesnachricht hatte von Wels über Halle bis Torgau bzw. Lochau, eine Strecke von rund 600 km, also immerhin zehn Tage gebraucht. Kurfürst Friedrich hat dann wiederum seinem Vetter Herzog Georg von Sachsen die Todesnachricht übermittelt, die in Dresden am 24. Januar ankam.56 50 DORNIK-EGER, Herzheimers „Neue Zeitung“ (wie Anm. 28), S. 33–38. Ebd., S. 26 werden auch die im Folgenden geschilderten Ereignisse kurz referiert, doch mit einigen Versehen. 51 MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20, fol. 266r, Edition Nr. 86. 52 Ebd., fol. 266v, Edition Nr. 88, und ebd., fol. 267r, Edition Nr. 90. 53 Ebd., fol. 267r, Edition Nr. 91 f. 54 Ebd., fol. 267r–v, Edition Nr. 93. 55 Auszugsweise in: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 1, bearb. von August KLUCKHOHN (Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe, 1), Göttingen 21962, S. 151, Anm. 4 („ilentz zu Hall“, „die brief seind mir in dieser stund zukommen“). 56 Ebd., S. 155, Anm. 3. Durch den Sekretär Maximilians, Nikolaus Ziegler, erfuhr Herzog Georg sogar erst am 29. Januar vom Tod, ebd., S. 156, Anm. 3. Allerdings hatte Ziegler, der sich in Augsburg aufhielt, selbst erst am 16. Januar die Todesnachricht erhalten, ebd., S. 141, Anm. 1, wo sich auch weitere Nachweise über die Verbreitung der Nachricht finden.

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Der gewissermaßen offiziellen Todesnachricht vom 21. Januar kann Herzheimer aber noch eine persönliche Komponente hinzufügen („Wie der churfurst in geheym kay(serlicher) m(aieste)t tod selbst mir anzaig“),57 denn am folgenden Tag nahmen ihn der Kurfürst und Wolf von Schönberg mit auf eine Schlittenfahrt in die Lochauer Heide, „vnd auf solichem weeg hat ir g(naden) mit hern Wolf von Schonburg vnd mit mir von dem versterben des obermelten romischen kay(sers) etc. gar betruebtlichen geredt vnd sich des seer bekhumern lassen, dan ir kay(serliche) m(aieste)t ist ir churf(urstlich) g(naden) ain nahent pluetgesibt frundt,58 nemlich kaiser Friderichs etc. swesster ist ir churf(urstlich) g(naden) anfraw gewest,59 aber ir churf(urstlich) g(naden) fraw muetter ist hertzog Albrechten von Munichen swesster gewest.60 Soliches gab vns sein kurf(urstlich) g(naden) an disem zug vnd varen zw vernemen aus gantz mit leidigem gemuedt, ydoch so trossten wir ir churf(urstlich) g(naden) mit hochem vleis, das ir g(naden) solich betruebnus aufs hechst mässigen sollt vnd dem willen des almechtigen, der alle ding wais, im allerpessten zw thuen, nach hengen vnd wo dem also wäre, des man noch gantz vngewiss wais, seiner gotlichen gnad befelhen, wie wol herr Wolff von Schonburg, freyherr etc., auch ich so vil mir mit iren c. f. g. zw reden geburet, von anderen hendlen zereden vns gegen ir c. f. g. des kays(ers) ab sterben seer zw bedencken vnd aus zw rechnen, in was allters er doch gewesen wäre“.

Maximilian war im 60. Lebensjahr verstorben, während Friedrich der Weise am 17. Januar 1519 seinen 56. Geburtstag begehen konnte. Hans Herzheimer nutzt dann die Gelegenheit, mit seinem genealogischen Wissen über Maximilian und dessen Vater Friedrich III. zu prangen, worüber er ebenso wie über ihre Geburtstage bestens informiert war, „die weil ich in yren kayserlichen hoff gedientt hiett“.61 Neben diesen eher anekdotischen Facetten enthält Herzheimers Reisebericht aber auch einige interessante Informationen über die Reaktionen, die der Tod Maximilians am kursächsischen Hof ausgelöst hat. Grundsätzlich wird es für Friedrich den Weisen selbstverständlich gewesen sein, des toten Kaisers im Gebet zu gedenken und Maßnahmen zu veranlassen, um etwas für dessen 57 MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20, fol. 267v–268r, Edition Nr. 94. 58 In dem am Ende des Beitrags abgedruckten Mandat des Kurfürsten heißt es ähnlich, Maximilian sei „vnnser nahe gesipter freundt geweßt“. 59 Margarethe, Tochter Erzherzogs Ernst I. von Österreich, seit 1431 vermählt mit Kurfürst Friedrich II. von Sachsen, dem Großvater Kurfürst Friedrichs des Weisen; vgl. Otto POSSE, Die Wettiner. Genealogie des Gesamthauses Wettin Ernestinischer und Albertinischer Linie mit Einschluß der regierenden Häuser von Großbritannien, Belgien, Portugal und Bulgarien. Mit Berichtigungen und Ergänzungen der Stammtafeln bis 1993, Leipzig/ Berlin 1897 (erweiterter ND Leipzig 1994), Tafel 6. 60 Elisabeth, Tochter Herzog Albrechts III. von Bayern, seit 1460 vermählt mir Kurfürst Ernst von Sachsen, dem Vater Kurfürst Friedrichs des Weisen; vgl. ebd., Tafel 7. 61 MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20, fol. 268r, Edition Nr. 95 f.

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Seelenheil zu tun, denn dies entsprach den religiösen Praktiken und der fürstlichen Frömmigkeit dieser Zeit.62 Dem kaiserlichen Sekretär Wolfgang Kesinger schrieb Friedrich am 31. Januar, „weil er den Kaiser als seinen Herrn in Unterthänigkeit geliebt, so will er ihn auch jetzt ‚mit nachthuung guter werke‘ nicht vergessen“.63 Er wolle deshalb, wie der Kurfürst am gleichen Tag dem kaiserlichen Sekretär Nikolaus Ziegler eigenhändig schrieb, „seiner Mt. am tod, ob got will, auch nicht vergessen, sunder seiner selen heil bei unser gaistligkait vleissig furdern“.64 Wie dieses „vleissig furdern“ der Geistlichkeit vonstatten ging, zeigen die Abschnitte, die Herzheimer direkt im Anschluss an die Todesnachricht in seine Aufzeichnungen integriert hat:65 „Des churfurssten betrubnus vmb kay(serlicher) m(aieste)t abgang: Als dises romischen kay(ser)s ableiben dem durchleuchtigissten, hochgeboren churfursten etc. an kunfftig zw wissen gethan, warde sein g(naden) groslichen zw betruebnis bewegt, vnndt verschueffe in allen iren gnaden landen aufs aller ersamlichest nach cristlicher ordnung in allen pfarrkirichenn vnd stifften vier wochen bis zum dreissigsten loblichen mit gotzdiensten zw begen. Solichs warde alle hernach ein copia begriffen ausgeschriben vnd ward alle freid mit tantzen, pfeiffen, trumelslahen verpotten vnd die zeit bis zum dreissigsten nydergelegt“.

Das Mandat des Kurfürsten schrieb laut Herzheimer also vor, die vier Wochen bis zum Dreißigsten, welcher in der Memorialpraxis ein wichtiger und verbreiteter Termin war,66 in allen Pfarrkirchen und geistlichen Gemeinschaften (dafür pauschal „stiffte“) Gottesdienste für das Seelenheil des verstorbenen Herrschers zu begehen. Darüber hinaus verordnete der Kurfürst Landestrauer, indem er

62 LUDOLPHY, Friedrich der Weise (wie Anm. 32), S. 337–383; Bernd STEPHAN, „Ein itzlichs Werck lobt seinen Meister“. Friedrich der Weise, Bildung und Künste (LeucoreaStudien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 24), Leipzig 2014, S. 154–193; Armin KOHNLE, Die Frömmigkeit der Wettiner und die Anfänge der Reformation, in: Lutherjahrbuch 75 (2008), S. 125–140. 63 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 1 (wie Anm. 55), S. 161, Anm. 1. Diese Formulierung findet sich auch in dem im Anhang edierten Mandat. 64 Ebd. 65 MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20, fol. 265v, Edition Nr. 81. LUDOLPHY, Friedrich der Weise (wie Anm. 32), S. 350 referiert die Angaben Herzheimers kurz. 66 Zur Memorialpraxis und zur Bedeutung des Dreißigsten vgl. Enno BÜNZ, Memoria, in: Hartmut KÜHNE/Enno BÜNZ/Thomas T. MÜLLER (Hg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, Petersberg 2013, S. 96 f.; Hans HEROLD, Der Dreissigste und die rechtsgeschichtliche Bedeutung des Totengedächtnisses, in: DERS., Rechtsgeschichte aus Neigung. Ausgewählte Schriften aus den Jahren 1934–1986. Festgabe zu seinem 80. Geburtstag, hg. von Karl Siegfried BADER, Sigmaringen 1988, S. 197–242.

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ebenfalls bis zum Dreißigsten alle öffentlichen Vergnügen verbot, namentlich Tanzen und Musizieren. Interessant ist, dass Hans Herzheimer ein Exemplar dieses gedruckten Mandats, das er als „copia“ bezeichnet, aufbewahrt hat und in seine Handschrift einbinden ließ (siehe Abb. 2).67 Wie der Intitulatio in den ersten beiden Zeilen zu entnehmen ist, nannten sich Kurfürst Friedrich und Herzog Johann als Aussteller, denn sie regierten gemeinsam, wenn auch seit der Mutschierung (Nutzungsteilung) von 1513 in getrennten Landesteilen.68 Durch diesen Druck erfahren wir etwas genauer, wie das Mandat kommuniziert wurde, denn man muss sich vergegenwärtigen, dass es im Kurfürstentum Sachsen gewiss an die 1.500 Pfarrkirchen69 und 96 Domkapitel, Klöster und Stifte gegeben hat.70 Dass die flächendeckend angelegte Kirchenorganisation eine zweckmäßige Kommunikationsebene war, um die Bevölkerung zu erreichen, ist allgemein bekannt.71 Kirchentüren dienten als „schwarzes Brett“ für öffentliche Anschläge, die Kirchenkanzel war der gegebene Ort für kirchliche und weltliche Abkündigungen. Aber wie erreichte der Landesherr die Kirchen seines Territoriums? Die allge67 Siehe die Edition im Anhang. Eine Abschrift liegt im Sächsischen Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, siehe das Regest in: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 1 (wie Anm. 55), S. 206, Nr. 40. 68 Ernst MÜLLER, Die Mutschierung von 1513 im ernestinischen Sachsen, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 14 (1987), S. 173–182. 69 Für die Pfarrorganisation in den Bistümern Meißen, Merseburg und Naumburg siehe Karlheinz BLASCHKE/Manfred KOBUCH, Kirchenorganisation um 1500, Karte 1:400.000 und Beiheft (Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen, E II, 1), Dresden/ Leipzig 2008, für das Erzbistum Mainz in Thüringen Enno BÜNZ, Pfarreiorganisation, Kirchenbauten und -ausstattung im spätmittelalterlichen Thüringen. Historische Aspekte archäologischer und bauhistorischer Untersuchungen, in: Mittelalterliche Kirchen in Thüringen. Beiträge der Tagung „Archäologische und bauhistorische Untersuchungen an und in Kirchen Thüringens“, Weimar, 16./17.3.2009 (Alt-Thüringen 43 [2012/13]/Arbeitshefte des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie. Archäologische Reihe, 43), Langenweissbach 2014, S. 53–72 mit Faltkarte. Für die fränkischen Gebiete um Coburg Alfred WENDEHORST, Das Würzburger Landkapitel Coburg zur Zeit der Reformation (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 13/ Studien zur Germania Sacra, 3), Göttingen 1964. 70 Die Domkapitel, Klöster und Stifte verzeichnet Paul KIRN, Friedrich der Weise und die Kirche. Seine Kirchenpolitik vor und nach Luthers Hervortreten im Jahre 1517. Dargestellt nach den Akten im Thüringischen Staatsarchiv zu Weimar (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, 30), Leipzig/Berlin 1926 (ND Hildesheim 1972), S. 195–197. 71 Enno BÜNZ, „Die Kirche im Dorf lassen …“. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen, in: Werner RÖSENER (Hg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, 156), Göttingen 2000, S. 77–167.

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meine Adresse „lieber getrewer“ lässt auf einen breiten Empfängerkreis schließen, wahrscheinlich alle weltlichen und geistlichen Landstände, denn mit dieser Anrede begannen auch die Landtagsausschreibungen.72 Damit war der Kreis der Schriftsassen abgedeckt, also die Rittergüter, Städte, Klöster und Stifte, die nicht in die landesherrlichen Ämter einbezogen waren. Darüber hinaus muss das Mandat natürlich auch an die Amtssassen gegangen sein, wofür die Amtmänner anzuschreiben waren, denn der Großteil des kurfürstlichen Territoriums war in 65 Ämtern organisiert.73 Durch die Mutschierung von 1513 war Friedrich der Weise für die Kurlande und die östlichen Gebietsteile zuständig, Herzog Johann für Thüringen und die Gebietsteile in Franken. Die Amtmänner übten nicht nur eine Scharnierfunktion zwischen Fürst und Untertanen aus, sondern auch zwischen Fürst und Kirche, denn das von den Wettinern praktizierte landesherrliche Kirchenregiment führte dazu, dass die Befugnisse der Diözesanbischöfe eingeschränkt wurden und der Fürst in kirchliche Belange direkt eingriff.74 Theoretisch hätte der Landesherr die Anweisung, in den Kirchen Messen für den verstorbenen Kaiser zu lesen, auch über die Diözesanbischöfe an die Geistlichkeit kommunizieren können, doch funktionierte dies über die Amtmänner gewiss zügiger und wurde so auch in anderen Territorien praktiziert. Um die 72 Zum Beispiel die Landtagsausschreibung von Kurfürst Friedrich und Herzog Johann am 26.11.1518, in: Ernestinische Landtagsakten, Bd. 1: Die Landtage von 1487–1532, bearb. von Carl August Hugo BURKHARDT (Thüringische Geschichtsquellen, 8/NF, 5), Jena 1902, S. 125, Nr. 223. 73 Karlheinz BLASCHKE, Die wettinischen Länder von der Leipziger Teilung 1485 bis zum Naumburger Vertrag 1554, Karte und Beiheft (Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen, C III 1), Leipzig u.a. 2010. Zahlreiche Ämter wurden mittlerweile monographisch untersucht, siehe z.B. Uwe SCHIRMER, Das Amt Grimma 1485–1548. Demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit (Schriften der Rudolf-KötzschkeGesellschaft, 2), Beucha 1996; Jens KUNZE, Das Amt Leisnig im 15. Jahrhundert. Verfassung, Wirtschaft, Alltag (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 21), Leipzig 2007; Ulrike KAISER, Das Amt Leuchtenburg 1479–1705. Ein regionales Zentrum wettinischer Landesherrschaft (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 33), Köln/Weimar/Wien 2012. 74 Allgemein Enno BÜNZ, Kirchenregiment und frühmoderne Staatsbildung – Entwicklungslinien deutscher Landesherrschaft (1450–1550), in: Armin KOHNLE/Manfred RUDERSDORF (Hg.), Die Reformation. Fürsten – Höfe – Räume (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 42), Leipzig 2017, S. 94–114. Siehe für Friedrich den Weisen noch immer KIRN, Friedrich der Weise (wie Anm. 70), doch wird nun durch ein laufendes Editionsprojekt eine viel breitere Materialgrundlage erschlossen: Briefe und Akten zur Kirchenpolitik Friedrichs des Weisen und Johannes des Beständigen 1513 bis 1532. Reformation im Kontext frühneuzeitlicher Staatswerdung, hg. von Armin KOHNLE und Manfred RUDERSDORF, Bd. 1: 1513–1517, bearb. von Stefan MICHEL, Beate KUSCHE und Ulrike LUDWIG, Leipzig 2017 (weitere Bde. in Vorbereitung).

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kurfürstliche Aufforderung, das Seelgedächtnis für Kaiser Maximilian im ganzen Land abzuhalten, wirkungsvoll zu kommunizieren, wird das Rundschreiben in einigen hundert Exemplaren gedruckt worden sein.75 In den Ämterrechnungen finden sich im Februar 1519 mehrfach Ausgaben für Botenlöhne, um das fürstliche Schreiben wegen des kaiserlichen Begängnisses zu verbreiten.76 Wie der Vergleich des gedruckten Mandats mit dem Bericht Herzheimers zeigt, hat dieser – obwohl ihm ein Exemplar vorlag – die Bestimmungen nicht ganz korrekt wiedergegeben. Die Exequien sollten zwar sehr aufwendig begangen werden mit Glockengeläut und Vigil sowie am nächsten Tag mit Seelmesse (Seelamt) und einer Messe zu Ehren der Muttergottes. Die Feier von Vigil und Seelmesse war bei Jahrtagen allgemein üblich. Bei der Vigil (und wohl auch am folgenden Tag) sollte die Totenbahre mit brennenden Kerzen aufgestellt werden, und zur Vigil hatten sich alle Priester, die in den Dorfkirchen bepfründet waren, einzufinden.77 Das Seelamt am nächsten Tag sollte mit einer Predigt verbunden sein. Die mit dem Mandat angeschriebenen Personen hatten sich zur Gottesdienstfeier persönlich einzufinden, sich am Opfergang zu beteiligen78 (und damit ein Vorbild für die anderen Gottesdienstbesucher zu sein) und generell sollten sie „alles ordentlich und mit fleyß bestellen“. Allerdings sollte dieses Seelgedächtnis nur einmal begangen werden und nicht, wie Herzheimer meint, bis zum Dreißigsten, was auch die Feier des Siebten miteingeschlossen hätte. Tänze und andere öffentlichen Vergnügungen wurden für vier Wochen ver75 Wie mir Thomas Lang M.A. (Lutherstadt Wittenberg) aufgrund seiner Kenntnis der Rechnungsüberlieferung im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, per E-Mail am 2.1.2019 mitteilte, war für Ausschreiben eine Auflage von 600 Exemplaren üblich. 76 Amt Altenburg am 14.2.1519 (Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv [im Folgenden: LATh-HStA Weimar, EGA], Reg. Bb 327, fol. 46r), Amt Grimma am 21.2.1519 (ebd., Reg. Bb 1394, fol. 101v); Amt Torgau 22.2.1519 (ebd., fol. 39v). Herrn Thomas Lang danke ich vielmals dafür, dass er die Rechnungsbücher durchgesehen hat. 77 Diese Bestimmung ist darauf bezogen, dass es in den Dorfpfarreien neben dem Pfarrer vielfach noch Kapläne und bepfründete Messpriester an der Pfarrkirche oder in Filialkirchen der Pfarre gab, siehe Enno BÜNZ, Pfarreien–Vikarien–Prädikaturen. Zur Entwicklung der Seelsorgestrukturen im Spätmittelalter, in: DERS., Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.-16. Jahrhundert (Spätmittelalter – Humanismus – Reformation Reformation/Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation, 96), Tübingen 2017, S. 77–118. 78 Zu den Oblationen (Opfern) im Gottesdienst Wolfgang PETKE, Oblationen, Stolgebühren und Pfarreinkünfte vom Mittelalter bis ins Zeitalter der Reformation, in: Hartmut BOOCKMANN (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, 206), Göttingen 1994, S. 26–58.

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boten, also bis zum Aschermittwoch, der 1519 auf den 9. März fiel und mit dem die Fastenzeit begann, in der ohnehin solche Vergnügungen untersagt waren. Die Empfänger des Mandats wurden schließlich aufgefordert, dass die Pfarrer die Gläubigen ermahnten, für die Seele des Verstorbenen zu beten, ebenso für ein neues Reichsoberhaupt. Alle Untertanen wurden somit mobilisiert, um für das Seelenheil des Verstorbenen zu beten. Der Kurfürst selbst wohnte den Exequien bei, die am Montag, den 7. Februar, im Kollegiatstift St. Georg zu Altenburg abgehalten wurden. Am nächsten Tag ging das gedruckte Mandat ins Land, das allen Untertanen auftrug, es ihm nachzutun. Georg Spalatin berichtet in seiner Chronik, Friedrich der Weise habe andächtig und umsichtig für Kaiser Maximilian die Totenfeier („justa“) „in Divi Georgii templo in arce hic Aldenburgi non minus magnifice quam pie“ begehen lassen.79 Dies war also gewiss einer der Orte, an denen in der vom Kurfürst vorgeschriebenen Weise die Kirchen hergerichtet wurden.80 Interessant ist übrigens, dass der Reisebericht Hans Herzheimers die Präsenz des Kurfürsten und seines Hofes in Altenburg für den 5. bis 10. Februar belegt, denn Herzheimer war selbst mit nach Altenburg gereist, erwähnt die Exequien für Kaiser Maximilian aber mit keinem Wort.81 Obwohl das vorgestellte Mandat von Kurfürst Friedrich und Herzog Johann gemeinsam ausgestellt wurde, hat dieser – wohl nur für seinen Landesteil – ein gesondertes Mandat auf den Weg gebracht, merkwürdiger Weise allerdings erst Wochen später, denn man rechnete erst am 2. März 1519 den Druck der entsprechenden Bekanntmachungen ab: „1 ß 36 gr von kay(erliche)r M(ajestä)t selig(en) begengnus briff(en) zudruck(en) inclus. 12 gr hat Caspar Rothe cantzleischreiber, als er dye brieffe druck(en) lassen zu Erffurt, verzcert“.82 Tatsächlich wurde erst wenige Tage später das Begängnis des Kaisers im Weimarer Residenzstift gehalten, an dem der Herzog mit einem großen Gefolge (die Abrechnung verzeichnet 209 Pferde) teilnahm. Am Montag nach Esto Michi (6. März 1519) erhielten die Stiftsherren vom Hof die Präsenzgelder für die 79 Johann Burckhard MENCKE (Hg.), Scriptores rerum Germanicarum praecipue Saxonicarum […], Bd. 2, Leipzig 1728, Sp. 594 f.; Alfred KLEEBERG, Georg Spalatins Chronik für die Jahre 1513 bis 1520, Borna/Leipzig 1919, S. 21 (die Datierung ist widersprüchlich: „VI. Febr. quae fuit dies Lunae“, doch fiel der Montag auf den 7. Februar). 80 Zum Kollegiatstift in Altenburg siehe Markus ANHALT, Das Kollegiatstift St. Georgen in Altenburg auf dem Schloss 1413–1537 (Erfurter Theologische Schriften, 32), Leipzig 2004, der aber auf dieses Ereignis nicht eingeht. 81 MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20, fol. 270r–v, Edition Nr. 108–110. In anderer Hinsicht ist er wieder ganz genau, vermerkt er doch wie Spalatin in seiner Chronik, dass am nächsten Tag Herzog Georg aus Dresden angereist sei. 82 LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 5181, fol. 227r. – Freundliche Mitteilung von Thomas Lang per E-Mail am 14.1.2019.

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Exequien: „1 ß 45 gr dem chorhern heroben ym schlos auß gnaden vom kay(serliche)r M(ajestä)t begengnus zu halt(en)“.83 Der Beleg zeigt, dass die früheren Bemühungen der Wettiner um die Einrichtung eines Residenzstiftes in der Weimarer Schlosskapelle mittlerweile zum Erfolg geführt hatten.84 Neben den Gedenkgottesdiensten, die in den Pfarrkirchen, Klöstern und Stiften des Landes abzuhalten waren, weiß Herzheimer dann auch noch über die Trauer am kursächsischen Hof zu berichten. Er schreibt:85 „Von bedeckung mit swartz alle alltare: Es legte auch ir churf(urstlich) g(naden) selbst das clag klaide an, vnd lies all alltare vnd all tafelln mit swartzn tuechern vnd weisse creutz dar auf genaet vnd kays(erlicher) m(aieste)t wappen dar an gemacht behengen, also auch an allen khertzen, die auf den alltaren vnd vmb die tottenpar, der mer dan vber hundert waren, all new gemacht stuendenn. Von bedeckung der par mit samat: Es lies ir churf(urstlich) g(naden) die tottenpar mit swartzem samat bedecken, vnd vil schoner sylbren creutz vnd pildern dar auf mit loblichem vnd grossem heyltung stellen, aber diss alles ist nicht an ytziger zeit, sonnder hernach, als ir churf(urstlich) g(naden) der tod yrer kay(serlichen m(aieste)t vorkundt vnd war wissent, warde beschehen“.

Der abschließende Teilsatz bezieht sich darauf, dass Herzheimer diese Schilderung in seiner chronologischen Darstellung unmittelbar an den Todes Kaisers anschließt, die Trauermaßnahmen aber natürlich erst nach Bekanntwerden des Todes umgesetzt wurden. Nicht nur der Kurfürst trug Trauerkleidung, auch alle Altäre und Altarretabel („tafelln“) wurden mit schwarzen Tüchern verhüllt, auf die ein weißes Kreuz und das kaiserliche Wappen aufgenäht wurden. Die Totenbahre wurde mit Kerzen umstellt, an denen ebenfalls das kaiserliche Wappen angebracht war.86 Die Bahre selbst war mit einem schwarzen Samttuch bedeckt, und darauf wurden silberne Kreuze und Reliquienbehältnisse („pilder“ mit „heyltung“ = Heiltum)

83 LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 5181, fol. 244v. – Damit steht die folgende Auslosung im Weimarer Küchenbuch am Samstag nach Esto Michi im Zusammenhang: „35 gr 5 d ausloßung und zcerung in der herberg uff 3 pf(erde) 2 nacht Claus dem profoß ist bey kay(serliche)r m(ajestä)t gewest“, ebd., fol. 258r. 84 Zu den Bemühungen Enno BÜNZ, Kollegiatstifte in Thüringen. Zu den Lebenswelten von Kanonikern um 1500, in: DERS./Werner GREILING/Uwe SCHIRMER (Hg.), Thüringische Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit (1470–1530) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 6), Köln/Weimar/Wien 2017, S. 21–63, hier S. 29. 85 MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20, fol. 265v–266r, Edition Nr. 82 f. 86 Für die Anfertigung dieser Wappen ist zumindest ein Beleg nachweisbar. In einer Sammelabrechnung des Weimarer Malermeisters Friedrich von St. Anna heißt es zum 26. Juli 1519: „35 gr von 42 Wappen uff pappir zu malen zu kay(serlichen) M(ajeste)t begengnus“; LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. Bb 5183, fol. 120r.

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gestellt.87 Leider macht Herzheimer keine Angabe dazu, wo überall diese Vorkehrungen getroffen wurden, aber wenn mehr als hundert Totenbahren angefertigt wurden, war offenkundig nicht nur an die kurfürstlichen Residenzorte gedacht.88 Der Aufwand, der hier geschildert wird, war gängige Praxis, nicht nur bei kaiserlichen oder fürstlichen Begräbnissen. Herzog Johann stiftete für das Seelenheil seiner 1503 verstorbenen Gemahlin Sophie von Mecklenburg gemeinsam mit seinem Bruder Kurfürst Friedrich ein umfangreiches Seelgedächtnis an ihrem Grab in der Torgauer Pfarrkirche. Laut Stiftungsurkunde vom 19. Juli 1505 sollten jährlich fünf Jahrtagsfeiern am Todestag und an den vier Quatemberfesten abgehalten werden, außerdem fünf Wochenmessen, von denen die am Mittwoch besonders aufwendig gestaltet war. Dann wurde der bei der Grabstelle gestiftete Altar mit schwarzem Tuch umhüllt, über das Grabmal (die Messingplatte war 1504 von Peter Vischer d. Ä. und Werkstatt in Nürnberg gefertigt worden) wurde ein Bahrtuch gelegt und das Grab mit 24 großen Messingleuchtern umstellt, auf denen Wachskerzen brannten.89 Ein aufschlussreiches Bildzeugnis ist in diesem Zusammenhang Hans Herzheimer selbst zu verdanken. 1526 hat er eine Chronik seines Geschlechts abgeschlossen, eine umfangreiche Papierhandschrift mit zahlreichen Urkundenabschriften und einigen farbigen Miniaturen.90 Im Zusammenhang mit Jahrtagsstiftungen findet sich eine ganzseitige Miniatur, die die eben geschilderte Memorialpraxis anschaulich darstellt (Abb. 1):91 Der Künstler lässt den Betrachter in einen gotischen Kirchenraum blicken. Dort ist ein Sarg oder ein Katafalk aufgestellt, bedeckt mit einem Bahrtuch, das mit einem großen (aufgenähten?) weißen Kreuz geziert ist. Darauf stehen Weihwasserkessel mit -wedel. Die Bahre wird beidseitig flankiert von zwei langen Kerzenständern mit jeweils sechs brennenden Wachskerzen. Links steht im geöffneten Kirchenportal ein Laie, der mit einem langen blauen Mantel bekleidet ist, auf dem Kopf ein schwarzes Barett, in den Händen ein Rosenkranz. Er ist wohl im Begriff, den Kirchenraum 87 Das Gedenkblatt auf Kaiser Maximilian I., welches Hans Weiditz 1519 als Holzschnitt anfertigte, zeigt die Totenbahre, die mit einem Tuch, auf dem ein Kreuz angebracht ist, verdeckt wird, und die mit Kerzenleuchtern umstellt ist, siehe Thomas SCHAUERTE, Hans Weiditz: Gedenkblatt auf Kaiser Maximilian I., in: MICHEL/STERNATH (Hg.), Kaiser Maximilian I. und die Kunst der Dürerzeit (wie Anm. 26), S. 386 f. 88 Ausgerechnet für den Anfang des Jahres 1519 ist keine Rechnungsüberlieferung des Hofes Kurfürst Friedrichs des Weisen erhalten, und auch die Amtsrechnung für Wittenberg fehlt, wie mir Thomas Lang per E-Mail am 2.1.2019 mitgeteilt hat. 89 KÜHNE/BÜNZ/MÜLLER (Hg.), Alltag und Frömmigkeit (wie Anm. 66), S. 101–106. 90 Stadtarchiv München, Zimelie 144 (früher Historischer Verein von Oberbayern, Manuskripte 336). – Herrn Kollegen PD Dr. Andreas Zajic (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien) habe ich für ein Digitalisat der Handschrift zu danken. 91 Stadtarchiv München, Zimelie 144, fol. 48v.

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zu betreten, um für den Verstorbenen zu beten. Eine solche einfache und zugleich doch würdige Trauerausstattung intendierte wohl das kurfürstliche Mandat von 1519. Es wäre natürlich von Interesse, ob sich in Kirchenrechnungen von Stadt- und Dorfkirchen die damit einhergehenden Ausgaben niedergeschlagen haben.

Abb. 1: Darstellung des Totengedenkens mit Bahre, Sargtisch und Kerzenständern aus der Chronik des Hans Herzheimer

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Mit den Exequien für Kaiser Maximilian fassen wir eine Memorialpraxis, die sehr verbreitet gewesen sein wird, doch fehlt es dazu an breiter angelegten Untersuchungen. Es gibt eine ganze Reihe von Herrschern des späten Mittelalters, für die unabhängig von der Begräbnisfeier an anderen Orten Exequien abgehalten wurden, doch muss vorerst offen bleiben, ob dies Einzelveranstaltungen waren92 oder ob der Landesherr generell Trauergottesdienste im Land anordnete. Dies scheint aber häufiger vorgekommen zu sein, als es die Überlieferung zu erkennen gibt. Beispielsweise wies Herzog Georg von Bayern-Landshut am 27. August 1493 seine Amtmänner (Rentmeister) an, Trauerfeiern für den verstorbenen Kaiser Friedrich III. begehen zu lassen.93 Kaiser Maximilian bat 1506 Kurfürst Friedrich von Sachsen, für seinen verstorbenen Sohn Philipp (der Vater der späteren Kaisers Karl V.) persönlich zu beten und im Lande beten zu lassen.94 Vermutlich wurde diese Form der Herrschermemoria viel häufiger praktiziert, als es überliefert ist. Abschließend sei gefragt, was dem „gemeinen Mann“ (ein stehender Begriff für „Untertanen“ in ausgehendem Mittelalter und der beginnenden Frühen Neuzeit)95 denn überhaupt die Nachricht vom Tod des Kaisers zu sagen hatte. Zumindest wird jeder Kirchgänger den Namen des regierenden Kaisers gekannt haben, denn in jedem Gottesdienst wurden im Messkanon Papst, Kaiser und Diözesanbischof genannt.96 Welche Akzeptanz die in Kursachsen allenthalben angeordneten Exequien für Maximilian in den Pfarreien, Klöstern und Stiften fanden, wissen wir nicht. Ganz unabhängig davon ging es aber natürlich darum, durch die Vielzahl gefeierter Messen die Messfrüchte dem verstorbenen Kaiser

92 Einige Nachweise bei Rudolf J. MEYER, Königs- und Kaiserbegräbnisse im Spätmittelalter. Von Rudolf von Habsburg bis zu Friedrich III. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, 19), Köln/ Weimar/Wien 2000, S. 242–246, der hier von „symbolischen Totenfeiern“ spricht. 93 Franz FUCHS, Der Tod Kaiser Friedrichs III. und die Reichsstadt Nürnberg, in: KOLMER (Hg.), Der Tod des Mächtigen (wie Anm. 15), S. 333–348, hier S. 339. Er hatte die Todesnachricht vom Nürnberger Rat erhalten. 94 LUDOLPHY, Friedrich der Weise (wie Anm. 32), S. 349. 95 Robert H. LUTZ, Wer war der gemeine Mann? Der dritte Stand in der Krise des Spätmittelalters, München/Wien 1979. 96 Die in den Messbüchern gängige Formel lautetet: „In primis que tibi offerimus pro ecclesia tua sancta catholica, quam pacificare, custodire, adunare et regere digneris toto orbe terrarum una cum famulo tuo papa nostro N. et antistite nostro N. et rege nostro N.“, hier zit. nach dem leicht zugänglichen Faksimile: Missale Aquileyensis Ecclesie. 1517, bearb. von Giuseppe PERESSOTTI (Monumenta Studia Instrumenta Liturgica, 48), Vatikanstadt/Udine 2007, S. 227, doch ließe sich jedes andere Diözesanmissale dafür als Beleg anführen.

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zuzuwenden, um damit seine arme Seele möglichst schnell aus dem Fegfeuer zu erlösen.97 Weitere Studien müssten zeigen, wie die Nachricht vom Tod des Kaisers in anderen Territorien kommuniziert und wie dort des Toten gedacht wurde. Dass allenthalben Trauergottesdienste (Exequien) abgehalten und für eine gewisse Zeit öffentliche Vergnügungen untersagt wurden, dürfte freilich die Regel gewesen sein. Neben Kursachsen sind Nachweise aus Württemberg und aus etlichen Reichsstädten bekannt, aber auch aus Rom, Paris und Barcelona.98 In der Reichsstadt Augsburg verausgabte der Rat aus diesem Anlass über 85 Gulden für die Trauerfeier, darunter auch für die Wappen, die eigens gemalt wurden.99 Aus der Reichsstadt Frankfurt am Main ist beispielsweise ein Mandat des Rates vom 6. Februar 1519 überliefert, das über den Tod Maximilians am Donnerstag nach Dreikönig (13. Januar, richtig wäre 12. Januar) informiert und alle Fastnachtvergnügungen in Frankfurt und Sachsenhausen verbietet.100 In Barcelona ließ König Karl von Spanien am 1. und 2. März Exequien abhalten, die zur politischen Demonstration wurden und seinen Anspruch auf die Nachfolge seines Großvaters Maximilian im Reich zum Ausdruck brachten.101 Am 27. Juni 1519 wurde Karl von den Kurfürsten in Frankfurt am Main zum römisch-deutschen König und Kaiser gewählt. Hans III. Herzheimer war im Gefolge Kurfürst Friedrichs von Sachsen nach Frankfurt gereist und berichtet über die Wahlversammlung.102 Sein Bericht ist eine sichere Quelle dafür, dass am Vortag Friedrich der Weise gewählt worden war, der aber auf die Kaiserwürde verzichtete103 und so den Weg für Karl V. freimachte. Bis dahin werden nicht nur die Gläubigen in Kursachsen gebetet haben, „dem hayligen Romischen Reych wider vmb ein haubt vn(n)d herrn zu geben“, wie es das kurfürstliche Mandat vom 8. Februar gefordert hatte.

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Enno BÜNZ, Vikariestiftungen verändern den Kirchenraum. Zum Wandel spätmittelalterlicher Pfarrkirchen im deutschsprachigen Gebiet, in: DERS., Die mittelalterliche Pfarrei (wie Anm. 77), S. 234–257, hier S. 239 f. Siehe die Nachweise bei SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 209 f. mit Anm. 119. Adolf BUFF (Hg.), Rechnungsauszüge, Urkunden und Urkundenregesten aus dem Augsburger Stadtarchive, Teil 1 (1442–1519), in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 13, 2 (1892), S. I–XXV, hier S. XXV, Nr. 8640. Zu solchen Wappendarstellungen siehe oben bei Anm. 86. Frankfurts Reichscorrespondenz nebst andern verwandten Aktenstücken von 1376– 1519, hg. von Johannes JANSSEN, Bd. 2/2, Freiburg i. Br. 1872, S. 998 f., Nr. 1216. SCHMID, Sterben (wie Anm. 15), S. 210. BÜNZ, Wettiner auf den Reichstagen (wie Anm. 39). Ebd., S. 450–453.

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EDITIONSANHANG Kurfürst Friedrich der Weise und Herzog Johann erteilen Anweisungen, wie das Gedächtnis Kaiser Maximilians I. in ihrem Territorium zu begehen ist 1519 Feb. 8 Einblattdruck, eingebunden in den Bericht Hans III. Herzheimers über seine Reise nach Sachsen 1518/19 (MAK Wien, Inv. B. I. 21.517, Standort S20), fol. 237r–v und fol. 246r–v. Der Einblattdruck weist ein Format von 21 cm Breite und 29 cm Höhe auf und wurde in eine Lage der Handschrift eingebunden. Der Text nimmt nur die obere Hälfte der Vorderseite des Blattes ein (fol. 237v, siehe Abb. 2). Die Transkription erfolgt buchstabengetreu. Auch Groß- und Kleinschreibung sowie die Virgeln werden gemäß der Vorlage wiedergegeben. Zeilenumbrüche werden durch || gekennzeichnet. Von gots gnaden Friderich Churfurst etc. vn(nd) || Johans gebruder Hertzogen zu Sachssen etc. || Lieber getrewer / wir gebenn dir mit betrubtem gemut zuerkennen, das vnns in kurtz || verschinen tagen / der todlich abeschidt / weylend des Allerdurchleuchtigisten groß||mechtigisten Fursten vnd hern / hern Maximilian Romischen Keysers etc. vnnsers || Allergnedigisten herrn / seliger vnnd loblicher gedechtnus / verkundet ist / der Selen der || ewig gutig got geruch genedig vnnd barmhertzig zusein / Wann er dann das oberst || weltlich haubt in der Christenheit vnnd vnnser nahe gesipter freundt geweßt / So || will vnns geburen / seiner mit nachthuung guter werck zugedencken / vnnd seiner selen || heyl zufurdern / derhalben ist an dich vnnser begern / du wellest vonn stund bey deiner || gaystlikeit in deinen gerichten vn(nd) gebieten verfugen / das er mit allen glocken belaut / vnd || folgent vmb vesper zeyt / das ambt der Vigilen / bey auffgerichten parzeychen vn(nd) dane||ben brennenden kertzen in beywesen aller Priester / die in flecken vn(nd) dorffern sein gehalten / || Vnd den andern tag darnach das Sele ambt / vn(nd) darauff ein ambt von vnser lieben || frawen / Erlichen gesungen werden vn(nd) vnder dem Sele ambt offenthlich exhortacion || vn(nd) vermanung gegen dem folck beschee, den ewigen got trewlich vnd fleyssig fur die sele || zubiten / Wellest auch bey solchen ambten in eygnen personen erscheynen / vnd zu opffer || geen / vnd solchs alles ordentlich vnd mit fleyß bestellen / wie sich dan zu eins solchen || hern begengnus geburt / Vnd wellest in vier wochen nach datum diss brieffs offent||liche Tentze / pffeyffen / paucken / vnnd andere leychtfertigkeyt zuhalten vnnd zu vben || abeschaffen vn(nd) verpieten / Wellest auch in pfarren bey dir bestellen / in denn predigeten / || das folck zuerinnern / fur die sele zubitten / auch das folck zuuermanen / den ewigen got || fleyssig

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zubitten / dem hayligen Romischen Reych wider vmb ein haubt vn(nd) herrn / zu || geben / der also Regire / daruon got lob vnd ere / vnd gemeyner cristenheyt trost vnnd || heyl entstee / vnnd das die geistlichen in yren Ambten vnnd gebeten auch thun / Inn || dem allem geschicht vnns zugefallen. Datum am dinstag nach sant Dorothea tag || anno domini Funfftzehenhundert vnnd xix jar.

Abb. 2: Einzelblattdruck von Kurfürst Friedrich dem Weisen und Herzog Johann mit Anweisungen zum Totengedenken an Kaiser Maximilian I. in ihrem Territorium

HOLGER BÖNING DIE ENTSCHEIDUNGSSCHLACHT AM WEIßEN BERG

Die Entscheidungsschlacht am Weißen Berg Zur Kriegsberichterstattung in den Zeitungen und im Medienverbund des 17. Jahrhunderts

Vieles erscheint empirisch widerlegt, vieles ist revisions- und ergänzungsbedürftig.1 Werner Greiling zur Debatte über Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit

I. Zeitung und Kriegsberichterstattung Die Zeitung ist eine erstrangige Quelle für die Geschehnisse des Dreißigjährigen Krieges. Es gab in den drei Jahrzehnten von 1618 bis 1648 keine Schlacht, ja selbst kein größeres Scharmützel, das den Weg nicht in die Gazetten gefunden hätte. Erstmals in einem Krieg erhielten die Leser der Zeitungen mittels eines gedruckten Mediums in größtmöglicher Aktualität Informationen über das kriegerische Geschehen. Mit der Erfahrung einer regelmäßigen Berichterstattung über das Zeitgeschehen, die über mehr als ein halbes Jahrhundert zurückreichte, mussten die Zeitungsmacher ihr Handwerk nicht neu erlernen, sondern sie konnten von Beginn an auf Korrespondenzen in hoher Qualität zurückgreifen, die sie aus den Hauptnachrichtenzentren des Reichs und Europas erhielten. Die Inhalte der Zeitungen speisten sich aus einem professionellen Nachrichtenwesen, in dem die Information zur Ware geworden war, geliefert von einem Heer von Korrespondenten, die von dem, worüber sie berichteten, in der Regel etwas verstanden. Die Herausgeber der meisten der in den ersten Jahrzehnten des Zeitungswesens entstandenen Blätter konnten zudem bereits auf die Erfahrungen zurückgreifen, die sie bei der Herstellung einer handgeschriebenen Zeitung erworben hatten.2 1

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Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 102. Zum Nachrichtenwesen in der zweiten Hälfte des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts verweise ich insbesondere auf Wolfgang BEHRINGER, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003; Cornel ZWIERLEIN, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland,

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Obwohl es sich beim Schreiben einer Geschichte des Dreißigjährigen Krieges aufdrängen müsste, das neue Medium zu nutzen, meinen alle größeren der älteren wie der aktuell zum vierhundertsten Jahrestag des Kriegsbeginns erschienenen Darstellungen, darauf verzichten zu können.3 Überaus kleinteilig wurde der Leser von den Bewegungen der Truppen, über die Be- und Entsetzung von Städten, Schlössern und Burgen unterrichtet, Woche für Woche erfuhr er von gebrandschatzten, durch Feuer vernichteten oder ausgeplünderten Dörfern, massakrierten Frauen und Kindern, von Elend und Hunger. Allein die Hildesheimer Zeitung verwandte 1619 ihre mehr als 400 Druckseiten überwiegend auf die Kriegsberichterstattung. Genauer als durch die Zeitungen konnte man über die Kriegsverläufe nicht informiert sein. Die Leistungsfähigkeit der Zeitungen erwies sich aber nicht allein an der überaus genauen und sachkundigen Schilderung des Kriegsgeschehens, sondern auch in der wohlinformierten

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Göttingen 2006; DERS., Fuggerzeitungen als Ergebnis von italienisch-deutschem Kulturtransfer 1552–1570, in: Quellen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 90 (2010), S. 1–56 sodann Oswald BAUER, Zeitungen vor der Zeitung. Die Fuggerzeitungen (1568– 1605) und das frühmoderne Nachrichtensystem, Berlin 2011 sowie Katrin KELLER/Paola MOLINO, Die Fuggerzeitungen im Kontext. Zeitungssammlungen im Alten Reich und in Italien, Wien 2015. Unter den aktuellen Monographien zum Dreißigjährigen Krieg verweise ich – auch für die dort genannte kaum noch zu überschauende Forschungsliteratur – besonders auf die folgenden Arbeiten: Herfried MÜNKLER, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648, Berlin 2018; Peter H. WILSON, Der Dreißigjährige Krieg, Darmstadt 2017; Johannes ARNDT, Der Dreißigjährige Krieg 1618–1648, Stuttgart 2009; Christoph KAMPMANN, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, Stuttgart 2008 sowie Georg SCHMIDT, Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München 2018. An mir wichtigen Arbeiten weiter Klaus BUßMANN/Heinz SCHILLING (Hg.), Krieg und Frieden in Europa, Bd. 1: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, Münster 1998; Jan PETERS (Hg.), Peter Hagendorf – Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg, Göttingen 2012; Benigna von KRUSENSTJERN, Der teure Frieden. Aus den Aufzeichnungen eines hessischen Bauern nach dem Dreißigjährigen Krieg (1648–1651), in: SOWI Sozialwissenschaftliche Informationen 28 (1999), H. 4, S. 251–254; Silvia Serena TSCHOPP, Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges. Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628 bis 1635, Frankfurt a. M. u.a. 1991; Hans JESSEN, Der Dreißigjährige Krieg in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1964; Gerd ZILLHARDT (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg in zeitgenössischer Darstellung. Hans Heberles „Zeytregister“ (1618–1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium. Ein Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten, Ulm/Stuttgart 1975; eine wichtige Pionierarbeit stellte dar der Sammelband von Benigna von KRUSENSTJERN/Hans MEDICK (Hg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999; siehe jetzt auch Hans MEDICK, Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt, Göttingen 2018.

DIE ENTSCHEIDUNGSSCHLACHT AM WEIßEN BERG

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Darstellung der politisch-diplomatischen Aktivitäten der am Krieg beteiligten Mächte. Selbst geheime Absprachen unter den Fürsten pfiffen sofort alle Spatzen von den Dächern: Als der Kaiser dem bayerischen Herzog im September 1619 unmittelbar nach seiner Krönung in Frankfurt am Main versprach, er werde ihm, sollte Friedrich V. die böhmischen Krone annehmen, die Pfälzer Kurwürde übertragen, war wenige Tage später in mindestens fünf, nämlich in allen überlieferten Zeitungen zu lesen. Die historischen Zeitungsschreiber konnten nicht ahnen, dass alle Historiker bis heute behaupten, das Versprechen des Kaisers sei streng geheim gewesen.4

II. Verwerfungen im Vorfeld der Schlacht am Weißen Berg Sonsten ist es in beyden Lägern fast still / vnd solle anfangen zu sterben […]. Avß dem Läger hat man / daß der Feind den vnsern gar vor die Nasen gerücket […]5 Vnser König aber sol nur ein halbe Meil vom Feinde sich befinden / dahero man von einem treffen sagt / rechten grundt gibt zeit.6

Wer die Zeitungen las,7 wusste, dass die Armee Böhmens ebenso wie die der Kaiserlichen und der vom Kaiser ins Land geholten bayerischen Truppen im

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Dazu Holger BÖNING, Dreißigjähriger Krieg und Öffentlichkeit. Zeitungsberichterstattung als erste Rohfassung der Geschichtsschreibung, 2. stark vermehrte Aufl. Bremen 2019. Dieser Aufsatz ist eine erweiterte Fassung des dort zu findenden Abschnitts im Kapitel zu den militärischen Auseinandersetzungen nach den Krönungen Friedrichs und Ferdinands. In diesem Fall ist übrigens auch die zumeist hervorragend unterrichtete Historikerin Ricarda Huch nicht gut informiert. Bei ihr stand die Übertragung der Kurwürde sogar im Vertrag zwischen Kaiser und Herzog, was nicht stimmt, außerdem sei die gegenseitige Verpflichtung ausgesprochen worden, „die äußerste Heimlichkeit darüber zu bewahren“. Siehe Ricarda HUCH, Der Dreißigjährige Krieg, 2 Bde., Leipzig 1957, Bd. 1, S. 239. Wöchentliche Zeitung aus mehrerley örther [Hamburg], Z 9, Jg. 1619, Nr. Hhh, „Auß Prag vom 4. Augusto.“ sowie ebd. „Nr. Nnn, Auß Prag vom 8. Septembris“. Die Zeitungen werden in dieser Studie nach den Titeln genannt, die sie in der maßgeblichen bibliographischen Verzeichnung haben: Else BOGEL/Elger BLÜHM (Bearb.), Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben, 3 Bde., Bremen/München u.a. 1971–1985. Genannt werden außerdem die Z-Signaturen, die sie in der Sammlung des Instituts Deutsche Presseforschung haben. Die 46. Zeitung / auß gantz EUROPA [Hildesheim], Z 22, Jg. 1620, „Eger vom 4. Novemb.“ Zur Entstehung des Zeitungswesens Martin WELKE/Jürgen WILKE (Hg.), 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Zeitung im internationalen Kontext 1605–2005, Bremen 2008; Volker BAUER/Holger BÖNING (Hg.), Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahr-

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Vorfeld der Schlacht am Weißen Berg nicht im besten Zustand war. Krankheiten und Frost forderten mehr Opfer als die Kämpfe. Ermattet und hungrig, ohne Sold und demoralisiert wartete man, endlich in die Winterlager ziehen zu können, in der bayerischen Armee grassierte das „Ungarische Fieber“, an dem bis zum Jahresende 1620 10.000 Soldaten der kaiserlich-ligistischen Truppen sterben sollten.8 Nicht allein aus Böhmen las man in den Zeitungen solche Schreckensmeldungen, auch von Spinolas Truppen am Rhein etwa, die ihr Winterlager „wegen grossen sterbens“ in Kreuznach planten, „wie dann zu Mäyntz viel krank liegen / dahin sambstags noch 600 auff drey Schiffen gefürt worden / sind schon meistentheils gestorben“.9 Vorerst aber marschierten diese Soldaten „vnnd ander Pfaffen Volck“, wie es in einer Zeitung hieß, in Böhmen vorwärts, bemächtigten sich „etlicher Städt vnd örter“, wobei sie Angst und Schrecken verbreiteten, indem sie „die Dörffer meistentheils in brandt gesteckt / alles Volck nieder gehawt / vndd der massen Tyrannisirt / das niemaln von Türcken vnd Heyden gehört worden / verschonten auch der Catholli: selbst nicht“.10 Es sind grässliche Schilderungen, die über das Agieren von Bucquoys Kosaken und die bayerischen Truppen in den Zeitungen zu lesen waren, sie seien mit dem Schlachtruf, „man sol des Kinds in Mutterleib nicht verschonen“, vorgegangen.11 Endlich erfuhr der Zeitungsleser aus der böhmischen Hauptstadt auch noch, dass mit dem Grafen von Mansfeld etwas nicht stimmte, „lesset seine Pagas. alhier wegführen / welcher abgedanckt / vnd von der Herrschafft Venedig derer General er wird / in bestallung eingelassen“.12 Wenn die Historiker behaupten, die Schlacht am Weißen Berg im November 1620 mit ihren je nach Schlachtenschilderung um die 2 bis 5.000 Gefallenen sei der erste größere Waffengang des Dreißigjährigen Krieges gewesen,13 dann ist das eine Frage der Maßstäbe. Wer sich die Mühe macht, die Berichte in den

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hundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit, Bremen 2011. Sigmund RIEZLER, Kriegstagebücher aus dem ligistischen Hauptquartier 1620, München 1903, S. 84. Die 46. Zeitung / auß gantz EUROPA [Hildesheim], Z 22, Jg. 1620, „Aus Franckfurt vom 3. Novemb.“ Die 45. Zeitung / auß gantz EUROPA [Hildesheim], Z 22, Jg. 1620, „Aus Schlaggenwaldt vom 25. Octob.“ Die 45. Zeitung / auß gantz EUROPA [Hildesheim], Z 22, Jg. 1620, „Aus Schlaggenwaldt vom 25. Octob.“ Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 44, „Prag von 3. November.“ Zum schrittweisen Rückzug des Grafen von Mansfeld siehe Walter KRÜSSMANN, Ernst von Mansfeld (1580–1626). Grafensohn, Söldnerführer, Kriegsunternehmer gegen Habsburg im Dreißigjährigen Krieg, Berlin 2010, ab S. 199. WILSON, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 3), S. 387.

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Zeitungen der ersten zehn Monate des Jahres 1620 vor dieser Schlacht auf Opfer des Krieges auszuwerten, wird auf die Zahl von 75.000 Toten kommen, die allein im Wolfenbütteler „Aviso“ genannt wurden.14 Bei dieser Zahl ist zu beachten, dass fast nie auch Opfer unter der Zivilbevölkerung quantifiziert wurden. Gezählt wurden – und zwar nie sehr gründlich – allein Soldaten, namentlich genannt allein hohe Befehlshaber. Ausnahmsweise aber konnte es auch einmal vorkommen, dass wie in einer Meldung vom 1. Oktober 1.620 Tote genannt wurden, die keinen Soldatenrock trugen. Da sie in der in Hildesheim erscheinenden, nicht aber in der von mir ausgewerteten Zeitung gemeldet wurden, haben die fast 1.300 Menschen bei meiner Totenzählung – wie gesagt 75.000 bist zu jener großen Schlacht am Weißen Berg – keine Berücksichtigung gefunden: „hat den 27. vnder dessen der Bucquoi Brachaditz mit stürmender Handt eingenommen / die zwey Fehnlein Knecht sampt den Burgern / auch Weib vnd Kindt / jämerlich ermort / daß auf der Wahlstatt 1120 Personen tod gefunden / vnd im Badhauß 164. nidergehawen / vnd schöne Beuth erobert worden.“15 Die große Zahl der Gefallen schon vor der entscheidenden Schlacht ist für den Zustand, in dem sich die Armeen befanden, nicht ganz unwichtig. Zu den im Kampf Gefallenen kamen die Verhungerten. „In deß Lager ist ein groß schrecken / Sterben vnd Thewrung“, lautete ein Bericht aus dem böhmischen Feldlager, „vnd gilt ein Weißgroschen Brot ein fl. ein nössel bier 9 Creutzer / kein Wein kümpt ihnen zu / müssen also jhrer viel außreissen / vnnd Hunger sterben / werden auch […] viel gefangen / von den Bawren erschlagen vnd niedergehawt“.16 Das hieß nun aber nicht, dass mit diesen Soldaten nichts mehr anzufangen gewesen wäre, zu einzelnen Scharmützeln und zur Einkesselung gegnerischer Truppen reichte es durchaus noch: „Vnser König ligt in Rocknitz“, so ein böhmischer Bericht, der in der Hildesheimer wie in der Wolfenbütteler Zeitung erschien, „hat den Launer vnd Rocknitzer Berg eingenommen / damit also der Feind gantz vmbringt [umringt] ist.“17 In einer Meldung vom 1. November 1620 war zu lesen: „Heut vnd Gestern hat man alhie aus grossen stücken [Geschütze] schiessen hören […] vnd wie gewiß bericht einkömpt / sol 14 Siehe dazu das Kapitel „Potbouri von den europäischen Schlachtfeldern“, in BÖNING, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 4). 15 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 51, „Auß dem Keyserlichen Veldläger vor Byseck / vom 1. Ditto [Oktober].“ 16 Die 47. Zeitung / auß gantz EUROPA [Hildesheim], Z 22, Jg. 1620, „Aus Kaden vom 1. Novemb.“. Sehr ähnlich in: Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Auß Cadan in Schlainer Cräyß / vom 1. dis. [November]“. 17 Die 47. Zeitung / auß gantz EUROPA [Hildesheim], Z 22, Jg. 1620, „Aus Kaden vom 1. Novemb.“ Sehr ähnlich in: Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Auß Cadan in Schlainer Cräyß / vom 1. dis. [November]“.

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vnser König dem Feind 5000 Mann erlegt / vnd 13 seiner schönsten stück bekommen haben.“18 Das sah ganz so aus, als befänden die Böhmen sich in vorteilhafter Lage, doch der Bericht war noch nicht zu Ende. Der vorzüglich informierte Korrespondent wusste eine Situation zu beschreiben, in der Bedrohlicheres aufkam, als jeder Feind hätte bescheren können: die eigene Bevölkerung begann zu meutern. „In diesen vnd andern Craissen“, so unser Berichterstatter weiter aus der böhmischen Stadt Kaaden und den sie umgebenden Landgebieten, „sind die Bawrn in grosser anzahl auffgestanden / dieweil jhre Obersten von jhnen entflohen“.19 In der in Wolfenbüttel erscheinenden Zeitung war weiter zu lesen, was die Bauern von den Soldaten gelernt hatten: „fangen jetz an jhre Edelleut vnd Herrn selbsten Todt geschlagen / blündern vnd schrecklich mit jhnen vmbzugehen stürmen auch jhre Schlossen /[…] gedachte Bawren begehren an die Stadt Kaaden / Bryx vnd Commodaw / sollen sich zu ihnen schlagen / wo nicht wollen sie vnder jhnen selbsten einen Obr: erwehlen / vnd hernach der Stadt selbsten nicht verschonen / mit vorgeben weil sie keine hülff nicht haben können / müssen sie sich selbsten schützen / auch endlich gar zum Feind fallen / weil das grausame brennen / rauben vnd schrecklich niederhawen kein auffhören haben wil.“20

Aus dem Saatzer Kreis in Böhmen kamen ganz ähnliche Meldungen, die in Prag höchste Beunruhigung hervorriefen, deuteten sie doch darauf hin, dass der Krieg dabei war, alle gottgegebene Ordnung aufzulösen und das Verhältnis von Herr und Untertan auf den Kopf zu stellen. In der Saatzer Ebene hatten sich drei oder viertausend Bauern zusammengerottet und wurden stündlich mehr, die sich „wider ihre Herren“ auflehnten, „wie sie denn allbereit etlich von Adel / die ihnen etwas scharff gewesen / vmbgebracht haben sollen“. Hier ging es offenkundig nicht in erster Linie darum, dass Bauern sich gegen das sie bedrängende Militär zur Wehr setzten, wie es in diesem Krieg immer wieder vorkommen sollte, sondern die kaiserlichen Truppen hatten ihnen versprochen, drückende Lasten von ihren Schultern zu nehmen. Dem Feind, so der Zeitungskorrespondent, war dies „einen gefundenen Handel“; er wurde „nicht weniger gestercktet […] / in dem / das[s] er ihnen die Liebertet verpricht / ihnen auch nichts gewaltiges widerfahren lest / sondern sie gleichsam schützet /

18 Die 47. Zeitung / auß gantz EUROPA [Hildesheim], Z 22, Jg. 1620, Mäyntz viel krank liegen „Aus Kaden vom 1. Novemb.“ Sehr ähnlich in: Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Auß Cadan in Schlainer Cräyß / vom 1. dis. [November]“. 19 Die 47. Zeitung / auß gantz EUROPA [Hildesheim], Z 22, Jg. 1620, „Aus Kaden vom 1. Novemb.“ Sehr ähnlich in: Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Auß Cadan in Schlainer Cräyß / vom 1. dis. [November]“. 20 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Auß Cadan in Schlainer Cräyß / vom 1. dis. [November]“.

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hingegen aber ihren Herrn / mit plündern / sengen vnd brennen allen Schaden zu fügen“.21 Auf diese Idee, sich der bäuerlichen Unterstützung zu versichern, so möchte man denken, hätten die böhmischen Herren ja auch selbst kommen können, denn weshalb hätten die Bauern für die „Liebertet“ ihrer Herren gegenüber dem Kaiser kämpfen sollen, wenn ihre eigene Freiheit dabei mit Leibeigenschaft, erheblichen Abgaben, die trotz der enormen Kriegsbelastungen weitergezahlt werden mussten, und drastischen Fronarbeiten weiter auf der Strecke blieb? Für Adel und Gutsherren nicht nur in Böhmen barg der Krieg die Gefahr in sich, dass bäuerliche Aufstände sich auch gegen die von ihnen selbst erfahrenen Bedrückungen richteten. Im September 1620 wurde aus Schlesien gemeldet, zwanzig Dörfer seien „wegen der vber aus grossen Stewr vnd Schatzung auffgestanden vnd Rebellisch / auch dato noch nicht gestillet worden / vnd sich viel 100. Bawren zusammen Reterirt“.22 Dass die Versprechungen des Kaisers natürlich nicht dazu gedacht waren, eingehalten zu werden, ist eine andere Sache, ungeschickt waren sie jedenfalls nicht. Dass die Schlacht am Weißen Berg zum Desaster wurde, dürfte seine Ursache auch in den überall in Böhmen unruhigen Bauern gehabt haben, so der Eindruck, den die Zeitungen vermitteln, ein Gesichtspunkt, der in den historischen Darstellungen des Krieges weniger stark betont wird, den aber Ricarda Huch in ihrem großen Roman wahrgenommen hat, in dem sie meisterhaft das Kriegsgeschehen und die Motive der daran beteiligten Mächte geschildert hat.23 Am 4. November 1620, vier Tage vor dem schicksalshaften Sonntag am Weißen Berg vor Prag, meldete eine Zeitung, dass „sich etlich 1000. Böheimische Bawern in etlichen Cräyssen zusammen geschlagen / von sich selbst Defendiren wollen“.24 Aus der Lausitz kam zur selben Zeit die Nachricht, daß die „Bawren all jhre Pferdt vnd Vieh hinweg geflehnet [geflüchtet] vnd also weder ihme noch der Herrschafft daselbsten gehorsamb noch dienst leisten wöllen“.25 Doch auch im böhmischen Feldlager selbst sah es gar nicht gut aus. Der Zeitungsleser wusste, dass die böhmischen Direktoren und ihr König nicht einmal die Hälfte der für die Truppen nötigen Mittel aufbringen konnten, so dass es beständig zu finanziellen Problemen und Soldmeutereien kam. Mitte März 1619 erschien in der in Stuttgart erscheinenden Zeitung eine erstaunenswerte 21 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 44, „Prag / von 3. Novemb.“ 22 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 38, „Auß Breßlaw / vom 3. Septembris.“ 23 HUCH, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 4), Bd. 1, ab S. 249. Erstmals in drei Bänden 1912 bis 1914 u.d.T. „Der große Krieg in Deutschland“. 24 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Auß Praag / vom 3. November.“ 25 Zeitung o.T. [Frankfurt], Z 1, Jg. 1620, Nr. 54, „Auß dem Hauptläger zu Görlitz / vom 16 Ditto [Oktober]“.

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Aufstellung, die der Öffentlichkeit bekannt machte, dass den böhmischen Ständen für den Unterhalt der Truppen, der sich ohne die Kosten für die Generäle und die Artillerie auf 1.257.703 Gulden und 26 Kreuzer belief, fast die Hälfte der benötigten Summe fehlte:26 Bis unmittelbar vor der Schlacht mühte man sich in Prag verzweifelt, Mittel für die Bezahlung der immer weniger motivierten und inzwischen drohend auftretenden Söldner im Dienst der Böhmen zu beschaffen. Derweil gingen der Krieg und das wenig erfreuliche Soldatenleben weiter. Ein Beispiel dafür, wie vom militärischen Alltag in den Zeitungen berichtet wurde, bietet ein Korrespondent aus dem königlichen Feldlager bei Rakonitz, wo Christian von Anhalt etwa fünfzig Kilometer nordwestlich der böhmischen Hauptstadt an einer wichtigen Wegkreuzung den Zugang nach Prag verstellen wollte und sich mit seinen Truppen, bei denen sich auch der böhmische König befand, verschanzt hatte und die kaiserlich-ligistischen Truppen am Weiterzug hinderte: „Wir liegen mit vnser Armada noch hierin / der Feind aber im Wald nur ein Büchsenschuß von einander / […] vnnd sind auff beyden theilen hart verschantzt / Interim geschehen täglichs viel Scharmützel / […] auch der Bucquoy sehr verwund / vnnd wie bericht einkompt / solle der Feind auffbrechen / vnd seinen weg weiter nehmen / wo er nun hinziehen wird / werden wir alßbalten folgen / […] vnd werden wir zwischen hier vnnd Martini vernehmen / ob der Bucquoy in Böhmen / oder wir in Bäyern das Winterläger halten werden.“27

Das war die Verwundung, die, wie kein Schlachtbericht zu erwähnen vergisst, Charles Bonaventure de Bucquoy dazu zwang, das Kommando am Weißen Berg an den Generalwachtmeister Rudolf von Tiefenbach abzugeben. Der Zeitungsberichterstatter wusste mit seiner Frage, wer wohl wo sein Winterlager abhalten würde, wovon er sprach. Wenige Tage später wurde die Schlacht geschlagen, die den Aufstand der böhmischen Stände und das Königtum Friedrichs I. von Böhmen für immer beendete und der Politik der Rekatholisierung sowie der Ausschaltung der Stände nicht nur in Böhmen den Weg bahnte.

III. Die Berichte über die Schlacht am Weißen Berg „Die jenigen aber / so bey dieser Häuptschlacht in Böhmen gewesen / berichten beständig / daß ohne gefehr bey zwo Stunden zuvor / ehe der Lerm angangen / ein solch Krachen vnd Schrecken vnter dem Volcke kommen / daß sie 26 Zeitung o.T., [Stuttgart ?], Z 70a, Jg. 1619, Nr. 13, „Auß Wien vom 20. Martii.“ 27 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Außm Königl: Veltläger bey Rackowitz / vom 5. November.“

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nicht anders gemeinet / es were ein Erdbieben“.28 Anfang November 1620 tat man sich gegenseitig so viel Schaden wie nur möglich. „Der Feind“, so lautete eine typische Meldung, „Tyrannisirt in dem Satzer Cräyß vber diemassen noch sehr / hawen alles von Jung vnd alt darnieder / die haben vorgestern die Stad Plaan sampt dem Schloß 4. meil von hier außgeplündert / vnd hernach in die Aschen gelegt / vnnd was nicht entronnen nieder gehaut“.29 Eine Schreckensmeldung jagte die nächste: „Die Bäyern thun je lenger je mehr grössern Schaden / sollen […] die Stad Commoraw vnnd Cadan auch eingenommen haben / vnnd in Cada[n] 150 Bürger nieder gehawt“. Ebensolchen Schaden, so heißt es weiter, täten auch „die auffgestandene Bawren“, und wo sie einen ihrer Herren „antreffen / erschlagen sie / vnnd werden deren viel hin vnnd wieder auff den Strassen gefunden / kan also auff den Strassen niemand fort kommen / werden also allenthalben viel armer Leut gemacht“.30 Die erste Meldung über die Zuspitzung unmittelbar vor der Schlacht am Weißen Berge, die in Wien ankam, klang gar nicht gut für die kaiserlichen und bayerischen Truppen und sollte, wenn die Zeitungsmeldung stimmt, dem Kaiser erspart bleiben: „Gestern sind alhie böse Zeitten in grosser gehäimb / vom Buequoi: Läger / sambt er in Böheimb vbel einbüst / alhero kommen / davon Mann nicht öfentlich Schreiben noch sagen darff / damit es nicht vor Ihr Käy: May: kommen sol“.31 Die Meldung entsprach den Tatsachen, was die Verluste Bucquoys betraf, aber sie war zugleich falsch, da inzwischen ein vorerst den Krieg entscheidender Sieg über die Böhmen zu melden gewesen wäre, den die ligistischen und kaiserlichen Truppen errungen hatten. Was unweit Prags tatsächlich vorgefallen war, wurde erst in den folgenden Berichten der Zeitungen deutlich. Die Zeitungskorrespondenten wussten schon im Vorfeld genau, dass das Geschehen sich beschleunigte und alles auf eine Entscheidung drängte. Mit Datum vom Vortag der Schlacht, dem 7. November, lief der Bericht ein, die ganze Woche sei „alhier ein groß Geschrey gewesen / als sollten die Bäyers: sich Praag bemachtiget / vnd vnser König biß auffs Häupt erlegt worden seyn / erfolgt doch solches GOtt lob nicht“.32 Für den 28 Ein Kurtzer Bericht/ Von wegen des itzt newlichen bey Prag fürgegangenen Haupttreffens/ Geschehen am Sontage des 8. Novembr. Stylo nov, Jn diesem 1620. Jahre. Item / Von ergebung der Stadt Prag an Jhre Römischen Käyserliche Majestät / etc. Gedruckt im Jahr Christi 1620, unpag. 29 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 45, „Aus / vom 1. Novembris.“ 30 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Aus Schlackenwald / vom 9. dito. [November].“ 31 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 47, „Auß Wien / vom 8. November.“ 32 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 47, „Aus Amberg / vom 7. Novembris; alter Kalender.“ Fast wörtlich gleich, aber ohne das „erfolgt doch solches GOtt lob nicht“ ist „Auß Amberg vom 17. November“ in: Relation dessen/ Waß sich in Böhmen, Z 21a.

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Verlauf der entscheidenden Manöver berief sich der Korrespondent sodann auf aktuelle Briefe des Grafen von Solms aus Saatz und beschrieb eine Kriegslist des Gegners, der sich im Schutz des morgendlichen Nebels von Rakonitz aus auf den Weg nach Prag gemacht hatte. Nach der Entdeckung der List verfolgten die böhmischen Truppen eilig den Gegner und erreichten am 7. November 1620 noch vor ihm spätabends den Weißen Berg. Die ersten Berichte waren noch von großer Ungenauigkeit, was die vorteilhafte Position der Böhmen auf dem Weißen Berg anging. Der Korrespondent berichtete korrekt die Kriegslist, „wie daß die Bäyeris: gar still in jhrem Läger auffgebrochen / (doch bey etliche stunden in jhren alten Quartiern bey 100. Mann liegen / vnd Fewer darin brennen lassen / das man anders nicht vermeint / es lege die gantze Armada noch alda) vnd in grosser eyl auff Praag zu Mars[ch]irt“.33 Ebenfalls noch korrekt war die Meldung, dass „alß aber die Vnsern solches vernommen / seind sie jhnen alßbalden gefolget / doch die Bäyeris: schon biß an Weissenberg kommen“.34 Dass die Böhmen die auf Prag zuziehenden gegnerischen Truppen sogar noch überholt hatten und Position auf dem Weißen Berg beziehen konnten, wusste dieser erste Berichterstatter ebenso wenig, wie er über den Verlauf der Schlacht am 8. November und deren katastrophalen Ausgang in seinem ganzen Ausmaß richtig informiert war. So sei „den gantzen Tag mit einander gestritten / […] vnd viel beschedigt worden / vnser König befind sich mit […] Graffen von Hohenloh / vnd der gantzen Armada in Praag / vnd die Bäyeris: auff den Weissenberg vnd Stern / verhoffen solchen bald wieder von dannen zutreiben / es sol aus Praag niemandt herauskommen vnd die Päß noch gespert.“35 Ein weiterer Bericht in der nächsten Zeitungsnummer, verriet schon Genaueres: „Von Satz hat man gewisse Aviso / daß sich der feind mit seiner gantzen Armada auß seinem Läger auffgemacht / vnd seinen Weg nach Praag genommen / wie er dann biß auff die LangeMeil36 gerückt / dessen aber der König in Rakowitzer Läger Avisirt worden / eylents mit seinem Läger nachgesetzt / vnd jhm auff der LangenMeil noch vorkommen / daselbst gegen dem Feind gewandt / vnd ein starck Treffen mit jhm gethan / […] dem König das meiste geblieben / auch der Feind dem König etliche st. Geschütz sampt etliche Wagen […] abgenommen / das sich alß der König mit seiner Armada nach Praag Reterirn müssen / darauff der Feind biß auff den Weissenberg gerückt“.37

33 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 47, „Aus Amberg / vom 7. Novembris.“ [alter Kalender]. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Die Strecke von Welwarn Richtung Norden bis Prestawlk. 37 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 47, „Aus Cadan / vom 12. diß. [November].“

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Dass „dem König das meiste geblieben“ hieß nichts anderes als dass er mehr Opfer zu beklagen hatte als seine Gegner. Das war wenige Tage nach der Schlacht das böhmische Eingeständnis der Niederlage.

Abb. 1: Ein aufwendiges Kupfer aus dem „Theatrum Europaeum“ zeigt die Schlacht am Weißen Berg.

Der erste Bericht aus Wien nahm noch schwere Verluste der kaiserlichen Truppen an. Äußerungen des Triumphes blieben deshalb zunächst aus. Vom 14. November wurde aus Wien lediglich kurz gemeldet, es gehe in der Stadt seit drei Wochen „die sag“, „es solte sich Praag mit condition ergeben haben / vnd zuvor ein starckes Treffen / mit verlust von 1000. auff beiden seiten vorgangen sein“.38 Die Unsicherheiten im habsburgischen Zentrum hatten einen einfachen Grund, „dieweil aber in 3. Wochen kein Käyserl: Curir / wieder zurückkommen als wil man solchem nicht glauben geben / biß fernere Particularin einkommen“.39 Dann aber wurde aus Dresden mit dem Datum des alten Kalenders die durch einen reitenden Boten aus Prag überbrachte „gewisse Zeitung“ vom 38 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 48, „Auß Wien / vom 14. November.“ 39 Ebd.

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vollständigen Sieg verkündet.40 Dass diese Meldung in derselben Zeitungsnummer zu finden war wie ein Bericht, alles sei noch unsicher, verweist auf das journalistische Prinzip, unterschiedliche oder gar gegensätzliche Nachrichten dem Leser nebeneinander zur Kenntnis zu bringen und ihm das Urteil nicht vorwegzunehmen. Es folgt der Bericht des reitenden Boten, dass „verscheinnen Sontag der Hertzog in Bayern vnd Bucquoy mit jhr Kriegßvolck vnd etlich groben st. Geschütz / auff Praag gerücket in meinung sich selbiger Stadt bemechtigen / weiln aber das darin liegende Kriegsvolck / dessen kuntschafft bekommen / sind sie ihnen entgegen gezogen / vnd alda mit einander ein starckes treffen gethan / in welchem beiderseits vber 10000. Mann / doch auff des Köings [!] seiten der mehren theils […] geblieben / darauff der König Graff von Thurn Fürst Christian von Anhalt […] der Graff von Hohenlo vnd andere Befelchßhaber sind ausgerissen / der König sambt seinem Gemahl sind mit der Cron / vnd gantzen Ornat / nach Preßburg zum Betlehen gewichen / den Montag hernach hat der Bayerf: die Stadt Prag anblasen / vnnd hineinsagen lassen / ob sie sich den Römischen Käyser in der güte ergeben / vnnd Huldigen wollen / wo nicht wolle er sie mit Schwerd vnd Fewer angreiffen / vnd alles verheren / darauff er alsbalden in der Stad gelassen / vnd sich ins Schlos begeben / wie es nun allenthalben abgangen wird man ehist vernehmen.“41

Das war ein Bericht, der schon recht genau dem Geschehen entsprach, ihm gingen unmittelbar nach dem Geschehen verfasste Schilderungen voraus, die noch zahlreiche Fehler aufwiesen. Es folgte im selben Zeitungsstück sogleich noch eine Nachricht aus Augsburg, die die Einnahme Prags durch den bayerischen Herzog bestätigte. Die verbliebenen 5.000 böhmischen Soldaten, wie die gegnerischen Truppen zusammengewürfelt aus etlichen Nationen, hätten sich ergeben. Jetzt wusste man auch, dass der König, der in dem Bericht lediglich als „Pfalzgraff“ tituliert wird, die Schlacht verpasst hatte, weil er in Prag mit englischen Gesandten über inzwischen zu späte Hilfe verhandelte: „der Pfaltzgraff ist nicht beim Treffen / sondern vff den Prager Schlos gewesen / vnd in dem er hinaus ins Leger gewolt / begegnet jhm der von Anhalt / sambt andern Flüchtigen / […] vnd ob wol jhme von andern etlich Stund zuvor der vbel zustand / der seinen vermelt worden / habe ers doch biß in der von von Anhalt begegnet nicht glauben wollen“.42 Dass Friedrich die Schlacht verpasst hatte, entsprach den Tatsachen. Er war zu den Verhandlungen nach Prag geritten, weil er nicht mit einer Schlacht rechnete und die Position seiner Truppen auf dem Weißen Berg für sicher hielt. Es ist interessant, wie tendenziös ein Teil der Geschichtsschreibung damit umgeht: „Friedrich blieb derweil in Prag und frühstückte“, 40 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 48, „Auß Dresten / vom 2. dito [November, alter Kalender].“ 41 Ebd. Sehr ähnlich auch in: Zeitung o.T. [Frankfurt], Z 1, Jg. 1620, Nr. 61, „Auß Dreßden vom 12. Ditto [November]“. 42 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 48, „Auß Au[g]purg / vom 21 November].“

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wird da gerne in die Schlachtenschilderung eingeflochten oder „Friedrich hatte sich den ganzen Tag über in Prag aufgehalten und ließ sich gerade sein Mittagessen schmecken, als die ersten Flüchtigen eintrafen“.43 Zur Zahl der Gefallenen nannten die Zeitungen recht verschiedene, vermutlich zumeist eher zu hohe Zahlen, auch in der Forschungsliteratur werden keine einheitlichen Zahlen genannt. Die Zeitungen sprachen von „verlust von 1000. auff beiden seiten“ über „beyderseits in 6000.“ oder „beyderseits in 8000.“ bis zu „beiderseits vber 10000. Mann“. Aus Eger wusste eine weitere Meldung von „etlich 1000“ Verlusten auf böhmischer Seite, „vnnd der Rest sich in die flucht geben“.44 Zwei Wochen nach der Schlacht überbrachte der bayerische Gesandte dem Kaiser „die fröliche Botschaft“ des Sieges zusammen mit der Nachricht, in dem der Eroberung Prags vorangehenden Treffen seien beiderseits „7000. Mann / darunter ansehnliche“ Leute geblieben“.45 Bei Moriz Ritter,46 dem die meisten Autoren bis heute folgen, waren auf dem Schlachtfeld 1.600 Leichen gezählt worden, dazu müssten nach Auffassung Münklers noch 1.000 in der Moldau ertrunkene Husaren gezählt werden, bei Guthrie sind es 4.000 Gefallene und Gefangene auf böhmischer Seite, die Verluste auf Seiten der kaiserlichligistischen Truppen werden auf 800 Soldaten beziffert,47 so dass die Angaben der Zeitungen zumindest zum Teil dem Geschehen gerecht wurden.48 In der Schlacht hatten sich nach verschiedenen Angaben ungefähr 23.000 auf böhmischer und 25 bis 30.000 Soldaten auf kaiserlich-ligistischer Seite gegenübergestanden.49 Hinzu kommt als Zahl noch die Behauptung, 5.000 auf böhmischer 43 44 45 46

WILSON, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 3), S. 389 f. Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 48, „Aus Eger / vom 23 November.“ Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 49, „Aus Wien / vom 22 November.“ Moriz RITTER, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges, 3 Bde., Stuttgart/Berlin 1889–1908, hier Bd. 3, S. 108. 47 William P. GUTHRIE, Battles of the Thirty Years War. From White Mountain to Nordlingen. 1618–1635. Westport (Conn.)/London 2012, S. 66. 48 In der Sammlung von Schlachtberichten, die Anton Gindely herausgegeben hat, finden sich die folgenden Verlustzahlen: 4.000 auf böhmischer Seite, wenige auf der anderen; Anton GINDELY, Die Berichte über die Schlacht auf dem Weißen Berge bei Prag, Wien 1877, S. 16. 49 So Olivier CHALINE, Die Schlacht am Weißen Berg (8. November 1620), in: BUßMANN/ SCHILLING (Hg.), 1648 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 95–101. Bei MÜNKLER, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 3), S. 173, waren es auf kaiserlich-ligistischer Seite 19.000 Fußsoldaten und 6.000 Berittene sowie 12 Kanonen, auf böhmischer Seite 11.600 Fußsoldaten, 5.000 Mann schwere und 5.000 Mann leichte Kavallerie, letztere aus Ungarn und Siebenbürgen, sowie 10 Kanonen. WILSON, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 3), S. 389, bietet ähnliche Zahlen, im Ergebnis auf kaiserlich-ligistischer Seite 2.000 Mann und 2 Kanonen mehr als auf böhmischer. Bei SCHMIDT, Die Reiter der Apokalypse (wie Anm. 3) fehlen Zahlen. Münkler nennt als Quelle für seine vorzügliche Schilderung der Schlacht und

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Seite übriggebliebene Soldaten hätten sich ergeben. Beiderseits meint die Gesamtzahl der Opfer und sagt noch nichts über die Aufteilung aus. Eine Flugschrift sprach von 5.000 Toten beiderseits, 3.000 auf der kaiserlichen, 2.000 auf der böhmischen Seite,50 eine weitere gar von 17.000 auf böhmischer und 7.000 auf kaiserlicher Seite.51 Aus Bayern aber kam die zutreffende Nachricht, „vnsers Fürsten Victori / so in 2. stunden erlangt worden“, habe aller Orten einen solchen Schrecken erregt, „daß sich jedermann gutwillig ergibt […] ist also die Bundnuß zu nicht gemacht / vnd die vornehme Rädelsführer außgerissen“.52 Zu den entscheidenden Umständen der Niederlage zählt die Weigerung der erschöpften, unbesoldeten böhmischen Soldaten, sich am Vorabend der Schlacht an den Anhöhen des Weißen Berges zu verschanzen, wodurch sie sich aus ihrer überlegenen, nach Ansicht mancher Militärexperten uneinnehmbaren Position begaben. Man hatte es mit „unwilligen, ungehorsamen, matt- und kraftlosen Soldaten“ zu tun,53 die dem Angriff der kaiserlich-ligistischen Truppen nicht gewachsen waren. Dies war der Höhepunkt der ständigen Soldmeutereien, von denen die Zeitungen während der Monate des Jahres 1620 bis zur Schlacht berichteten. Hinzu kam dann die konzeptionslose Panik während und vor allem nach der Schlacht, denn trotz der beständig von Zeitungsberichten begleiteten Vorbereitungen auf eine mögliche Belagerung Prags dachte im entscheidenden

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seine Zahlen neben den klassischen Darstellungen von Anton Gindely und Moriz Ritter u.a. GUTHRIE, Battles of the Thirty Years War (wie Anm. 47). Warhafftige Zeitung aus Prag/ vom 24. Octob. biß uff den 4. November [alter Kalender]. Wie ihr Fürstl. H. in Beyern/ die Stadt Praag eingenommen/ Vnd wie viel Tausende auff beyden Theilen Todt blieben sind. Gedruckt zu Kuttenberg / Jm Jahr Christi 1620, unpag. [S. 2]. Ein Kurtzer Bericht (wie Anm. 28), unpag. [S. 3]. Julius KREBS, Die Schlacht am Weissen Berge bei Prag (8. November 1620) im Zusammenhange der kriegerischen Ereignisse. Mit einem Plane der Schlacht, Breslau 1879, S. 209, beziffert die Verluste der böhmischen Armee auf höchstens 3.000, die des vereinigten katholischen Heeres auf mindestens 1.500 Mann. Zeitung o.T. [Frankfurt], Z 1, Jg. 1620, Nr. 65, „Auß München vom 23. Ditto [November]“. GINDELY, Berichte (wie Anm. 48), S. 134 f. Geldmangel und infolgedessen Meutereien wurden auch in einer Flugschrift als Hauptgründe für die verlorene Schlacht angeführt: Zwey denckwürdige Sendschreiben I. Eines Engeländischen vom Adel an seiner guten Freund und Landleut einen unlangsten abgangen […]. II. So Graf Heinrich-Matthes vom Thurn/ [et]c. an einen fürnehmen Oesterreichischen Landherrn/ […] Gedruckt im Jahr Christi 1621, S. 5 f. und passim, S. 11 zum Unwillen der Soldaten, am Tag vor der Schlacht zu schanzen. Der König selbst sei daraufhin nach Prag geritten, um das nötige Geld unter anderem für Schanzwerkzeug zu beschaffen. S. 12 heißt es, es seien etwa 3.000 Mann auf dem Feld geblieben, wobei die kaiserlich-ligistischen Truppen mehr Opfer zu beklagen gehabt hätten als die Böhmen. S. 13 wird der Ratschlag des englischen Gesandten an Friedrich berichtet, Prag zu verlassen, da „Jhre Mayestät sich auff die Prager Innwohner im geringsten nicht zu verlassen hatte“.

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Augenblick niemand daran, die Stadt zu verteidigen. Hinzu kam ein so großer Mangel an Geld, dass unmittelbar vor der Schlacht kein Schanzwerkzeug vorhanden war und „die Land-Officierer es an 600 Thalern ermangeln laßen, daß nicht eine Schaufel gerührt worden und also kein einziger Stand für die Soldaten vorhanden“. Hinzu kam, dass das aufgebotene Landvolk „sehr zum Außreißen geneigt war“.54 Ein Zeitungskorrespondent aus dem „böhmischen Rothenburg“, der Stadt Elbogen, wusste, dass es weder, wie in Prag schnell behauptet, Verrätereien, schlechte Führung der Soldaten oder „widerwillen wegen böser bezahlung“, noch zu geringe Investitionen der Böhmen in ihr Heer waren, die für die Niederlage verantwortlich waren, sondern – der Berichterstatter war sich seiner Sache sicher –, „achte ich doch dz es ein straff Gottes der sünden / vber hoch: vnd niderstands seye“. Seine Argumentation war nicht ohne wahren Kern, denn er suchte die Schuld bei den Herren und dem Adel, die „jhre vnderthanen vberauß Tyrannisirt“ hätten. Die Titel, die man ihnen gegeben habe, hätten nicht groß genug sein können, jetzt aber, so hieß es nicht ganz ohne Schadenfreude, seien sie „so sehr veracht / dan in den Statten will man sie nit leiden / so dörffen sie nit zu jhren vnderthanen / werden von jhnen todt geschlagen“. Noch immer seien viele Untertanen zur Gegenwehr bereit – „vnd sein deren Bauren noch etlich 1000. im Satzer Craiß / meinen sich mit der Furia zu wehren / wan sie ein haupt oder Ziska hetten / vnnd da der König jhnen nur zu schreibe / das sie solten frey sein forthin / so würde er deren viel 1000 zusammen vnd an sich bringen“.55 Autor dieses merkwürdigen Schreibens mag ein Pfarrer in hussitischer Tradition gewesen sein, denn Jan Žižka, den er hier beschwor, war jener legendäre hussitische Heerführer, der für den ersten Prager Fenstersturz am 30. Juli 1419 verantwortlich war.56 Dass der Berichterstatter einen entscheidenden Grund für die Niederlage der Böhmen darin sah, dass weder der böhmische Adel noch der König sich um die Bauern gekümmert und ihnen die Freiheit verweigert hätten, ist als zeitgenössische Stimme in den Zeitungen bemerkenswert. In seinem Bericht, den Graf von Thurn am 20. November 1620 von der Schlacht gab, wurde ein anderer Grund für die Niederlage genannt: „Also daß diese hohe Straf Gott auf uns hatt fallen laßen, haben unsere Soldaten so teutsch als hungrisch mit ihrem unchristlichen und vor niemals erhörten gottlosen Leben, so sie mit Plündern, Rauben, Brennen und Morden 54 GINDELY, Berichte (wie Anm. 48), S. 134, 177. 55 Zeitung o.T. [Frankfurt], Z 1, Jg. 1620, Nr. 65, „Auß München vom 23. Ditto [November]“. 56 Zu ihm Constantin von WURZBACH, Žižka von Trocznow, Johann, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Teil 60, Wien 1891, S. 195–199. Selbstverständlich berichteten die Zeitungen auch über Freudenfeuer und Danksagungen in den katholischen Territorien, beispielsweise in Köln, in: Zeitung o.T. [Frankfurt], Z 1, Jg. 1620, Nr. 68, „Auß Cölln vom 6. Ditto [Dezember]“.

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verübet, tausendfeltig verschuldet.“57 1621 machte Graf von Thurn bibelfest unsere „Sünde vnd Vnbußfertigkeit“ dafür verantwortlich, dass verdientermaßen „Gott sein vätterliche Gnadenhand von vns ein zeitlang abzuziehen / vns auch zuverlassen / vnd das Land dem Feind zu übergeben“ veranlasst gewesen sei.58 Für den Medienverbund des frühen 17. Jahrhunderts ist es aufschlussreich, dass die Schlachtenschilderungen aus den Zeitungen sofort Eingang in zahlreiche Flugschriften und wenig später auch in die Messrelationen fanden. Einzelne Verleger nutzten die erlangten Nachrichten, um beide Medientypen zu bedienen.59 Gegenüber den Zeitungen hatten die dort zu findenden Berichte den Vorteil, bereits alle Unsicherheiten, die in der aktuellen Berichterstattung unvermeidlich waren, ausräumen zu können. In von Brachels Flugschrift findet sich ein vorzüglicher Schlachtbericht aus Sicht der kaiserlich-ligistischen Truppen, der anders als die Zeitungsmeldungen von dem Vorteil wusste, den die Böhmen vor der Schlacht eigentlich hatten: „Den volgenden Tag 8. Nouembris demnach wir fast die gantze Nacht in armis gestanden / haben wir des Morgens früh den Feind an einem starcken Vortheil hinder dem Thiergarten der Stern genant […] angetroffen / darauff wir vns gegen ihm in voller Schlachtordnung auancirt / vnd als der Graff von Buquoy mit seinem Volck vns secundirt / haben wir in Gottes Namen die Schantz mit jhm gewagt. Anfangs hat der Feind mit seinem Geschütz so er etlich mahl auff vns abgehen lassten / vnserm volck nit wenig Schaden zugefügt. Wir seyndt jhm aber letztlich zu starck worden / vnnd in ein solche Vnordnung gebracht / daß er […] alle sein Feldtstück […] verlassen / vnd theyls nach Prag / theyls in den Thiergarten durch die Flucht sich zu saluiren vnderstanden. Jm zuruck weichen ist jhm der meiste theyl seines Volcks / darunder sonderlich die Vngarn nider gewawt […]. Vnder andern auch der Englisch Orden de la lartiere den der Pfaltzgraff Churfürst getragen / in freyem Feld gefunden worden.“60

57 Heinrich Matthias von THURN, Kurze und eigentliche Relation der verlauffenen Schlacht, auch in was termini ietz und dieses Wesen stehet, 20.11.1620, in: GINDELY, Berichte (wie Anm. 48), S. 139–143, hier S. 142. 58 Zwey denckwürdige Sendschreiben (wie Anm. 53), S. 17. 59 Siehe etwa vom Kölner Verleger von Messrelationen Peter von Brachel, der in diesen regelmäßig über die Ereignisse in Böhmen unterrichtete, in seiner Frühjahrsrelation 1621 etwa mit einem Kupfer. Die Flugschrift aus seinem Verlag hatte den Titel: Warhaffter Bericht/ Was bey Eroberung der Königlichen Statt Prag in Böhemb/ auch bey vorgehendem treffen den 8. Nouembris vnd anderm vorgangen. […] Gedruckt zu Cölln / Bey Peter von Brachel […] 1620. Siehe dazu Esther-Beate KÖRBER, Messrelationen. Geschichte der deutsch- und lateinischsprachigen „messentlichen“ Periodika von 1588 bis 1805, Bremen 2016; DIES., Messrelationen. Biobibliographie der deutsch- und lateinischsprachigen „messentlichen“ Periodika von 1588 bis 1805, 2 Bde., Bremen 2018. 60 Warhaffter Bericht 1620 (wie Anm. 59), unpag.

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Dieser Bericht hat starke Ähnlichkeit mit dem, den Maximilian von Bayern mit Datum vom 9. November 1620 an Ferdinand II. gegeben hat,61 so dass angenommen werden darf, dass der Verfasser der Flugschrift wie des Briefes an den Kaiser der Feldkanzlei des ligistischen Heeres angehörte. Eine weitere Flugschrift, die sogleich nach der Schlacht erschienen war, kam offenbar von einem Augenzeugen, der sich bei böhmischen Truppen aufgehalten hatte und von der panikartigen Auflösung der eigenen Verbände wusste. Er berichtete, dass fast die ganze böhmische Armee am Samstag den 8. November „gegen Tage“ „auffm Weissen-Berge zusammen gestossen“ und, da sie die ganze Nacht marschiert war, die Erlaubnis erhalten habe, sich auszuruhen, um sodann am nächsten „Tage etwaß zuverschantzen“. Die Truppenführung habe die falsche Information gehabt, dass „der Feind / besagten Sontags frühe / noch bey zwo Meylen von jhnen sein sollen / So hat sich doch derselbe alßbalt gegen Tage nahe bey Jhnen befunden / vnd ein Regiment vnd bey 1000. Cocagken auff der lincken handt im Thal also stark fort Marsiren lassen / daß sie der Böhmischen Armada frühe im Gesichte / vnd das vbrige Volck starck hinder jhnen in völliger Schlacht ordnung gestanden / vnd gantz vnversehens in grosser Furi auff beyden Theilen auff sie getroffen / Do dann die Vngern / derer bey 9000. gewesen seyn / alsßbald mit grosser Vnordnung die Flucht gegeben.“

Es folgt die Aufzählung der Verluste, die offenbar maßlos übertrieben war, sprach der Berichterstatter doch von 17.000 Mann auf böhmischer und 7.000 Mann auf kaiserlicher Seite, die „auff der Wahlstadt geblieben“.62 In den Zeitungen war zu lesen, dass das Kriegschaos noch längst nicht zu Ende war, sondern immer neue apokalyptische Dimensionen annahm. Die vom Kaiser zu Hilfe gerufenen polnischen Truppen kämpften sogleich nach der Schlacht am Weißen Berg mit den von den Böhmen ins Land geholten Ungarn. 6.000 ungarische Soldaten überfielen die Polen in ihrem Lager in Höflein, wobei sie das Feldlager „an vnterschiedlichen orthen angezündet / die meisten erlegt vnd verbrendt / das wenig davon kommen / vnd alle jhre Beuten

61 Abgedruckt bei GINDELY, Berichte (wie Anm. 48), S. 87 f. 62 Ein Kurtzer Bericht (wie Anm. 28). Welche Gerüchte über angebliche Vorhaben der Böhmen verbreitet wurden, zeigt der folgende Bericht: „Man hat gewiße Nachrichtung, daß die Erz Rädelsführer und Rebellen under einander gänzlich beschlossen gehabt, eben auf den Tag als die Schlacht vor Prag auf dem Weißen Berg geschehen in der Nacht alle catholische Geist- und Weltliche Mannes und Weibes Personen zu erwürgen und todt zu schlagen, aber der Allmächtige hat ihr böses blutdurstiges Vornehmen nicht allein verhindert und diesen Jammer von den Catholischen abgewendet, sondern auch eine solche herrliche glorwürdige Victori unversehens so wunderlich verliehen, daß sie unter der Kay. Mtt. Schutz vor solchen Calvinischen Tyrannen hinfüro wol werden bleiben können, darfür dem ewigen Gott Dank sei.“ Siehe: Anton GINDELY, Berichte (wie Anm. 48), S. 170.

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[…] abgenommen“.63 Noch größer aber war das Durcheinander in Böhmen selbst, wo sich nicht nur die fremden Truppen austobten, sondern auch die Bauern die Gelegenheit wahrnahmen, ihre Herren ihren Unmut spüren zu lassen: „Das Bawervolck ist in Böhmen in vollem auffstande / vnd schlagen jhre Obrigkeit / wegen bißhero grossen Drangsaal vnd Beschwernüß / ohne vnterscheidt / zu Todte / Vnd erklähren sich / wegen der vertrösteten Besserunge / bey Allerhöchstgedachtger Jhrer Römischen Käyserlichen Mayestät / zu Leben vnnd zu Sterben.“64 In den der Schlacht folgenden Messrelationen finden sich dann ebenfalls ausführliche Schlachtenschilderungen, hier schon versehen mit Kupfern, die das Geschehen veranschaulichten. Zu lesen war auch die umfängliche Achterklärung, die Ferdinand II. gegen den ehemaligen böhmischen König, Friedrich I., gegen Christian von Anhalt, Markgraf Hans Georg den Älteren zu Brandenburg und Georg Friedrich Graf zu Hohenlohe ohne Mitwirkung der deutschen Kurfürsten erlassen hatte. Mit der Exekution gegen Friedrich und die Pfalz war der bayerische Herzog beauftragt worden.65

IV. Heiligenlegenden: Der wundertätige Karmelitermönch „Lebendig hätten die Calvinisch Geister vns verschluckt vnnd auff gefressen / wann nicht die Väterliche trewe Fürsichtigkeit deß barmherzigen GOttes vber vns gewachet.“66 Pater Dominicus machte die calvinistische Bildschändung zum entscheidenden Argument: Die Heiligen verlangten die Schlacht, und die Schar der himmlischen Engel werde den Soldaten in der Schlacht beistehen. Das wirkte.67 Die protestantischen Geschichtsschreiber nannten Dominicus wegen dieser Vorkommnisse wiederholt „den spanischen Hexer“.68 63 Relation dessen/ Waß sich […] begeben, o.O., Z 21, Jg. 1620, „Auß Wien vom 8. November.“ 64 Ein Kurtzer Bericht/ Von wegen des itzt newlichen bey Prag fürgegangenen Haupttreffens/ Geschehen am Sontage des 8. Novembr. Stylo nov, Jn diesem 1620. Jahre. Item / Von ergebung der Stadt Prag an Jhre Römischen Käyserliche Majestät / etc. Gedruckt im Jahr Christi 1620, unpag. 65 Siehe dazu KÖRBER, Messrelationen (wie Anm. 59), Bd. I, u.a. Nr. 109, 111, 241, 403– 405; Bd. II, Nr. 1009, 1203, 1218. 66 Caspar von QUESTENBERG, Lob und Danck Predigt Am Jahrtag der Gedenckwürdigen/ Siegreichen Victori, […] vnserm Allergnädigsten Herrn/ wider die Rebellen/ auffm Weissenberg vor der Hauptstadt Prag/ verliehen worden. Gehalten zu Prag / durch den Ehrwürdigen P. Casparum à Questenberg, […] Gedruckt zu Wien […] 1626, S. 4 f., S. 16 f. 67 MÜNKLER, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 3), S. 178 f. 68 http://www.edith-stein-gesellschaft.at/Dominicus/Biographie (letzter Zugriff: 31.7.2018).

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Ohne das energische Auftreten des Karmelitermönchs Dominicus a Jesu Maria, so erfahren wir aus fast allen Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges, wäre es im Kriegsrat gar nicht zur Entscheidung für die Schlacht am Weißen Berg gekommen. Je nach Neigung und Geschmack,69 mal versehen mit einem „angeblich“,70 mal mit einem „scheint“,71 wird die Geschichte seiner Anwesenheit im Kriegsrat unterschiedlich erzählt, mal tauchte er mit dem Bilde des Gekreuzigten vor den Heerführern auf, mal mit dem Marienbild, dem angeblich die Böhmen die Augen ausgestochen hatten. In jedem Fall fällt ihm das Verdienst zu, mit dem Hinweis auf zu erwartende göttliche Hilfe jene im Kriegsrat umgestimmt zu haben, die noch zögerlich waren, ob man die Böhmen angreifen solle oder besser nicht. Davon und vom schlachtentscheidenden Auftreten des Karmeliters, der mit seinem Pferd aus Rauch und Donner der Schlacht aufgetaucht sei und den böhmischen Soldaten unter Schwingen des Kruzifixes das von Calvinisten geschändete Gemälde entgegengehalten und die katholischen Kämpfer angefeuert habe, war in den Zeitungen nichts zu lesen. Der Schlachtruf „Maria“, den Herzog Maximilian von Bayern ausgegeben hat und den alle Historiker so gut kennen wie den wundertätigen Mönch, war den Korrespondenten der Zeitungen so unbekannt wie das in der Schlacht von Pater Fitz-Simon, des jesuitischen Beichtvaters von Bucquoy, angestimmte Salve Regina. Selbst davon, dass Tilly während der Schlacht auf den Mönch zugeritten sei, um ihm mit den Worten „Vater, ich sterbe Hungers“ einen Apfel aus der Hand zu reißen, wissen die Gazetten nichts, es handelt sich allerdings auch um eine Erzählung, „die sich neuere Bearbeiter der Schlacht entschieden haben entgehen lassen“.72 Übrigens nutzte auch Maximilian von Bayern nicht die schöne Gelegenheit eines Briefes, den er am Tag nach der Schlacht an Ferdinand II. sandte, um dem Kaiser von all dem Wunderbaren, was sich vor und während der Schlacht begeben haben soll, Bericht zu erstatten, sondern er wusste allein, die Schlacht „im Namen Gottes“ geschlagen zu haben, „deme umb den Sieg billich Danck zu sagen“.73 Auch ein

69 So die Formulierung von KREBS, Schlacht (wie Anm. 51), S. 211. Auf diese vorzügliche Studie bin ich erst gestoßen, nachdem mich die Legende vom Karmelitermönch misstrauisch gemacht hat. 70 So WILSON, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 3), S. 389 und SCHMIDT, Die Reiter der Apokalypse (wie Anm. 3), S. 196 f., es herrsche eine „dürftige Quellenlage“, aber möglicherweise habe das Auftreten des Mönchs zur Strategie Maximilians gehört. 71 So MÜNKLER, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 3), S. 178, 184. 72 So schon KREBS, Schlacht (wie Anm. 51). 73 Abgedruckt bei GINDELY, Berichte (wie Anm. 48), S. 87 f., hier S. 88. Wörtlich auch im Schreiben Maximilians an den Kurfürsten von Sachsen vom 9. November 1620, ebd., S. 88–91, hier S. 90. Dort auch der ebenfalls in einer Flugschrift zu findende Bericht, es

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1620 erschienenes illustriertes Flugblatt konnte seinen Lesern nur „Von der Kraft und würckung deß Gebetes zu Gott / sonderlich in Kriegsnöthen“ berichten, wovon „in Heiliger Schrift viel Exempel vorhanden / daß durch solches der Feind / der Rechtglaubigcn / mehr geschlagen / vberwunden / und der Sieg erhalten worden“.74

Abb. 2: Illustration des Pater Dominicus aus der deutschen Übersetzung der „Bavaria Sancta“, einer Sammlung von Heiligenlegenden (Kupferstich, 1714) sei „der Englisch Orden de la jaretiera, den der Pfalzgraf Churfürst angetragen, in freiem Feldt gefunden“ worden. 74 Kurtze / Summarische Erzehlung und beschreibung / der Glorwürdigen / Herrlichen Ritterlichen Victori / Welche Ihr Fürstliche Durchleucht / Hertzog Maximilianus in Bayrn / den 8. Tag Novembris. Anno 1620. vor Prag erhalten / und erobert haben. Augspurg: Andreas Güntsch, [1620]. Auch in weiteren unmittelbar nach der Schlacht erschienenen Publikationen ist von dem Mönch keine Rede, siehe: AnderWeit gewissere Relation. Von dero zwischen Röm. Keyserlichen Mayest. und Bömischen Armada / Newlicher Zeit vorgangenen Hauptschlacht. […] Gedruckt Jahr CHristi 1620.

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Als einzige wunderbare Begebenheit, die mit der Schlacht verbunden gewesen sein soll und durch eine zeitgenössische Quelle zu belegen ist, liegt uns jener schon zitierte Bericht einer Flugschrift von 1620 vor: „Die jenigen aber / so bey dieser Häuptschlacht in Böhmen gewesen / berichten beständig / daß ohne gefehr bey zwo Stunden zuvor / ehe der Lerm angangen / ein solch Krachen vnd Schrecken vnter dem Volcke kommen / daß sie nicht anders gemeinet / es were ein Erdbieben / vnd hat man also bey diesen vnd andern Augenscheinlich die Hülffe vnd Beystandt GOttes des Allmächtigsten zu spühren gehabt.“75

Von demjenigen aber, wovon die Historiker seit Anton Gindely berichten, wussten die Zeitgenossen nichts. Es erscheint doch als eine etwas merkwürdige, das geistliche Moment bei militärischen Entscheidungen überschätzende Vorstellung, wenn bis in die aktuelle Geschichtsschreibung hinein den Ratschlägen eines Mönchs eine derartig ausschlaggebende Bedeutung für die Entscheidung des Kriegsrates zum Angriff beigemessen wird. Da in der zeitgenössischen Publizistik auch dort, wo sie in den illustrierten Flugblättern besonders empfänglich für Wundererzählungen war, nichts von Mönchen und frommen Schlachtrufen zu finden ist, mag die Frage interessant sein, woher die Legende kommt, die so gerne erzählt und vermutlich auch gerne geglaubt wird. In einer 1620 sofort in Prag gedruckten habsburgfreundlichen Flugschrift weiß man von „Hülffe vnd Beystand des Allmechtigen“, der Karmeliter war dem Autor noch unbekannt.76 Das gilt auch für die anderen Flugschriften zur Schlacht, keine einzige hat Kunde vom wunderbaren Wirken des Mönchs in den militärischen Auseinandersetzungen erhalten, eine einzige von 1620 kann immerhin bestätigen, dass dieser irgendetwas mit den Beratungen über das Ja und Wie eines Angriffs zu tun gehabt hat. Wörtlich lautet der Bericht über die Beratungen der militärischen Führer: „Es ist doch die Hauptresolution gefallen / das man in Gottes Namen […] den Feindt mit ernst vnd Resolution angreiffen soll / vnd hat sonderlich P. Dominicus des Iesu Maria Carmelitanus, so proprio motu hinzugetretten / (vnd das er non rogatus sein mainung sage / sich modestè entschuldigt) mit grosser efficatia vrgirt, das[s] man das vertrawen auff Gott setzen / vnd dapffer angreiffen solle.“77

75 Ein Kurtzer Bericht (wie Anm. 64), unpag. 76 Warhafftige Zeitung (wie Anm. 50), unpag. (letzte Seite). 77 Relation was massen den 9. tag 1620, unpag. [S. 9]. In diesem Teil identisch mit: Gründliche außführlich vnd eygendtliche Relation 1620, unpag. [S. 14]. Der Autor der Schrift, der fraglos Augenzeuge auf Seiten der katholischen Armeen war, schätzt die Zahl der Toten auf 4.000 und der Gefangenen auf 500 bei den Böhmen. Die eigenen Toten beziffert er mit „vber 100. Nit / souil man erfahren kan“ Darüber hinaus seien 1.000 Ungarn in der Moldau ertrunken. [S. 11 f.]. Dies ist die Quelle, die Anton Gindely davon überzeugt hat, dass es das Eingreifen des Mönchs tatsächlich gegeben hat. Diese Stelle und die gesamte Schilderung wörtlich in

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Von irgendwelchen Wundertaten oder dem Schwenken mit geschändeten Bildern oder Kruzifixen kann also nicht die Rede sein. Die Entscheidung über den Angriff war, wenn man der einzigen zeitnahen Quelle, die den Mönch überhaupt erwähnt, glaubt, bereits gefallen als dieser die Entscheidung beifällig kommentierte. In der diesem Bericht folgenden Schilderung des Schlachtgeschehens selbst findet der Mönch keinerlei Erwähnung mehr. Alles das, was darüber hinaus an Ausschmückungen und neuen Narrativen über die Jahrzehnte und Jahrhunderte bei der Schilderung wunderbarer Heldentaten hinzukommt, kann sich lediglich auf zeitferne, durchweg mehr als zweifelhafte Quellen berufen. Auch in einem Spottlied, das den Sieg über den böhmischen König in Verse gebracht hat, vergaß der Autor, den Karmelitermönch, der doch in Jedermanns Mund gewesen sein müsste, seinem Verdienst entsprechend zu würdigen. Stattdessen dichtete er über Friedrich V.: „Ich bin der König von kurtzer zeit/ Mein Reich ist gleich der Faßnacht frewd/ Wann dFaßnacht auß: geht dFasten an/ Vor König/ jetzt ein Armer Mann.“78 In allen Schlachtenschilderungen also fehlt der Mönch, auch in denen, die von prohabsburgischer Seite stammen.79 Soweit dem hier nachgegangen werden konnte, hat die Legende zumindest einen ihrer Ursprünge in einer Schrift, dessen Autor zum Zeitpunkt der Schlacht noch nicht geboren war, sondern erst 12 Jahre später, 1632, das Licht der Welt erblickte. Im Alter von 53 Jahren legte Raphael a Sancto Josepho als stolzer Autor eine 919 [!] Seiten umfassende Schrift vor, die nicht umsonst dem Kaiser gewidmet war und die Biographie des schlachtentscheidenden Mönchs bot. Ein weiterer Druck erschien im Land eines weiteren Hauptakteurs des Krieges, nämlich in München 1685.80 In diesem Buch finden sich nicht allein die Wundertaten vor und während der Schlacht am Weißen Berg, sondern mehr Wunder als die biblische Erzählung vom Gottessohn weiß. So kann der Leser miterleben, was einem Bericht, den er in einer Schrift mit dem Titel „Gantzer Verlauf, wie es mit Einnehmung Prags zugangen ist“ im Wiener Staatsarchiv gefunden hat, wobei er keine Angabe macht, ob es sich um eine Hand- oder Druckschrift handelt. Siehe GINDELY, Berichte (wie Anm. 48), hier S. 18 f. In jedem Fall ist der Bericht mit der Flugschrift identisch. 78 Ein schön Newes Liedt/ Von der Herrlichen und Siegreichen Schlacht/ so zu Prag den 8. Novemb: geschehen/ vnd durch einen daselbst mit anwesenden Reuter iuxta contingentiam Componiert/ und auff die Melodey gesetzt. Soldaten die seind Ehren werth/ sie dienen zu Fuß und auch zu Pferd/ ec. 1620. 79 Siehe auch: Warhaffte fröliche Zeittung. Von der Glücklichen vnd Siegreichen eroberung der Kayserl: vnd Königlichen Hauptstatt Prag in Böhaimb/ […] Gedruckt im Jahr 1620. Auch hier ist von 5.000 Toten und 2.000 Gefangenen die Rede. 80 [Raphael a SANCTO JOSEPHO], Leben Deß Gottseeligen durch den wunderthätigen Sieg auff dem Weissen Berg bey Prag 1620. und andere Gnad- und Wunderwürckungen berühmtesten Diener Gottes Dominici Von Jesu-Maria, […] Gedruckt zu Wienn in Oestereich / Bey Leopold Voigt […] 1678. Im Folgenden ebd., S. 503 f.

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„der also genante König Pfalzgraf Friderich samt seinen Hof-Adhaerenten zu Prag underdessen fürnamme / allwo er in dem Königl: Schloß mit dem Frauenzimmer sich aufhielte und kurzweilete / balletirt und banquetirte. Da herogegen Dominicus auf dem Feld im Gebett und Zähern badete / mit der Königin der Engeln /und aller Heilige Gottes um das allgemeine Heyl der Catholischen Kirchen handelte / und Scharen der Engel zum Beystand erhielte. Auch Hertzog in Bayrn die ganze Generalitet und Catholische Armeen den Namen deß HErrn / und der Himmel-Konigin verehrte und anruffete und under derselbigen Nämmen Haupt-Fahnen ihr Blut für die Catholische Kirchen / und den Römischen Kaysser zu vergiessen / munder darauf setzte.“

Und wie wir es aus vielen Erzählungen kennen, setzte nun die Beratung des Kriegsrates der kaiserlich-ligistischen Armeen ein, an der Bucquoy, Tilly, La Motta, Herzog Maximilian und Spinelli beteiligt waren und in der man sich nicht schlüssig werden konnte, ob geschlagen werden solle oder besser nicht. Dann geschah, was schon aus der Flugschrift bekannt ist. Dominicus bat im Rat um die Erlaubnis, reden zu dürfen. Dann „fienge er an mit grossem Geist und Eifer die Kriegs-Obristen zu vertrauen in GOtt und der gerechten Sach / die sie hatten/ zuermahnen und aufzumundern / sie solten kräftig vertrauen / es werde die Gnad Gottes den Sieg zu erhalten denen nicht abgehen / die in GOtt hoffeten. Durch diese Wort wurden diejenige/ so der wiedrigen Meinung waren/bewegt / daß sie mit den andern zur Schlacht einstimmeten.“81

Diese Version ist noch recht nahe an der bereits zitierten Flugschrift, wenngleich die Rede inzwischen Länge und Feuer gewonnen hat, ja, so lang geworden ist, dass der Kriegsrat von seinen Schlachtvorbereitungen abgehalten worden sein muss.82 Nun kommt endlich auch das geschändete Bild ins Spiel: „Er gebe zu bedenken“, so soll Dominicus gesprochen haben, „was diese abtrinige Völcker nicht allein wieder den Kayser/ sonder auch wieder den allerhöchsten GOtt / die Mutter GOttes/ alle Heilige GOttes / jhre Kirchen / jhre Altär / jhre Bilder / mißhandelt und gesündiget haben: er lasse sie gegenwärtig mit Augen sehen an dem Bild der Mutter GOttes / so er bey sich truge / und ihnen zeigete […] was für Vnbild daran und an vieltausend anderen die ketzerische Händ verübt haben / und sie selbst gedencken /ob zu zweiffeln / daß der Allmächtige GOtt die Rach nemmen /und Catholischer Seyten beystehen werde.“83

Es folgt auf 25 Druckseiten der „Catholische Wunderthätige Haupt-Sieg / und Flucht der Feind“. Nun wird der Mönch richtig aktiv: „In deme also beeder Seyten geschlagen wurde / bliebe der Gottseelige Vatter etwas auf der Seyten / versammelte sich wie ein anderer Moyses mit aufgereckten Händen ganz im Gebett / und befahle dem Allmächtigen Gott und HErrn mit heissen Zähern und 81 Ebd., S. 510. 82 Ebd., S. 510–515. 83 Ebd., S. 513.

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kräftigen Geschrey den glückseeligen Außgang unserer Waffen und batt / daß seine Göttliche Majestät dem Catholischen Kriegsheer beystehen seine selbst eigne Sach / und die Sach seiner außerwöhltesten Mutter verthädigen und beschützen wolle / und wurde ihm in Verzuckung wieder von Himmel der glückliche Außgang und Sieg der Catholischen gezeigt.“84

Als es aber nun schlecht stand um die Sache der Katholischen, kam der bayerische Herzog zum Mönch, um ihn zu bitten, einzugreifen. Der Karmeliter tröstete seine Durchlaucht „es ist nicht möglich daß wir verlieren/ […] Begehrte hierauf ein Pferd / ritte mit dem Herzog in Bayrn mit seinem H. Crucifix in der Hand und obgemeldem Bild der Mutter Gottes am Halß / under die Troppen auf die Wallstatt hinein / spricht denenselben zu. Euer jhr Helden und Soldaten Christi ist und wird bald der Sieg seyn“.85 Auch diese Rede mitten im Schlachtgetümmel ist von bemerkenswerter Länge und endet mit den Worten „O Maria Maria!“ Mit einem abschließenden Zitat mag gezeigt werden, was aktuelle Schilderungen des Wirkens dieses Mönchs sich inzwischen alles entgehen lassen: „Als mit diesen […] Schuß-Gebettlein zu GOtt als Ermunderungs-Worten […] der Gottseelige Vatter die Armee anfrischete / segnete und mit lebendigem unwanckelhaftem Glauben […] mitten under den Kugeln (welche zwar sowol das heilige Bild als Scapulier traffen / aber kraftloß ohne Schaden herunder fielen) sie […] mit dem H. Crucifix in der Hand und der Bildnuß MARIAE auf der Brust anmuthete wurde sowol von den unserigen als von feindlicher Seyten ein oberer Gewalt gespürt, der diesen allen Muth und Hertz benamme / den unserigen aber verdoppelte und vermehrte und […] auß dem heiligsten Crucifix / so Dominicus in der Hand / und der H. Bildnuß MARIAE, so er auf der Brust truge / feurige Blitz / Liecht-Strallen / und Kugel heraus geschossen / die Pferd selbst sowol als die Männer feindlicher Seyten zu zittern angefangen / und die Sach schier augenblücklich zum Haupt-Sieg außgeschlagen.“86

Lediglich auf der Website der „Edith Stein Gesellschaft Österreich“ wird heute noch die ganze Geschichte des Karmeliters erzählt, wie sie in der von Raphael a Sancto Josepho verfassten Lebensgeschichte erstmals öffentlich zu finden war. Demnach habe Dominicus „eine von calvinisch gesinnten Soldaten zuvor absichtlich devastierte Darstellung der ‚Anbetung Christi‘ “ im Kriegsrat gezeigt und nachdem Gott ihm in mehreren Visionen den bevorstehenden Sieg durch den Beistand der himmlischen Heere angekündigt hatte, die Feldherren der Kaisertreuen zum Kampf für die gerechte Sache ermuntert. Während der Schlacht am Weißen Berg „betete er inständig; mit diesem Bild an der Brust und seinem Kreuz in der Hand mischte er sich furchtlos unter die Kämpfenden.87 Zu Dominicus darf man also sagen, was ein unbeachtet gebliebener Forscher vor 84 85 86 87

Ebd., S. 517. Ebd., S. 518. Ebd., S. 519 f. http://www.edith-stein-gesellschaft.at/Dominicus/Biographie (letzter Zugriff: 31.7.2018).

DIE ENTSCHEIDUNGSSCHLACHT AM WEIßEN BERG

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eineinhalb Jahrhunderten bereits festgestellt hat: „Es ist nicht besonders geschickt erfunden, aber trotzdem bis auf unsere Tage gläubig nacherzählt worden.“88 Entkräftet wird dieses Urteil auch nicht dadurch, dass die Legende vom segensreichen Wirken des Paters es 1897 selbst in die Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gebracht hat.89

V. Fazit Die Geschichtsschreibung hat uns meisterhafte Darstellungen der militärischdiplomatisch-politischen Verwicklungen und vorzüglich Schlachtenschilderungen geschenkt, so dass es nicht um die Behauptung gehen kann, die Zeitungen hätten dies besser gekonnt als die Historiker. Wohl aber sollte zum Wissensstand der Geschichtsschreibung werden, dass mit den Zeitungen ein anderer Blick auf das Kriegsgeschehen möglich und manche überraschende Erkenntnis zu gewinnen ist. Es erscheint als schwere Beeinträchtigung der Historiographie, dass immer noch fast ausnahmslos davon ausgegangen wird, ohne diese Quelle auskommen zu können, die doch tatsächlich nicht nur das eigentliche Kriegsgeschehen treulich von Woche zu Woche berichtete, sondern auch bereits von einer erstaunlichen Leistungsfähigkeit war, was das Deuten von politischdiplomatischen Entwicklungen wie von militärischen Strategien und Taktiken anging. 88 KREBS, Schlacht (wie Anm. 51), S. 210, 215. Schon ihm ist es unter Berufung auf andere als der hier verwandten publizistischen Quellen allerdings nicht gelungen, den Karmelitermönch „gewissenhaft zur letzten Ruhe“ zu bringen. 89 Sigmund von RIEZLER, Der Karmeliter P. Dominikus a Jesu Maria und der Kriegsrat vor der Schlacht am Weissen Berge, in: Sitzungsbericht der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1897, Bd. 1, S. 423–444. Hier wird festgestellt, dass die Anwesenheit des Mönchs beim Kriegsrat unter freiem Himmel zwar in einer Rechtfertigungsschrift Tillys fehlt, in der dieser von den Beratungen vor der Schlacht berichtet, aber ein vom 10. August 1631 datiertes Zeugnis des Herzogs Maximilian dafür bürge. Vom Wirken des Karmeliters während der Schlacht wusste allerdings selbst dieser nichts. Zu weiteren Berichten zweier Jesuiten, die Riezler als Belege für die Anwesenheit aufführt, heißt es S. 437: „Sollten unsere Berichterstatter ihre Nachricht nicht von P. Dominikus selbst erhalten haben, muss sie ihnen doch aus dessen Munde bestätigt worden sein. Den heiligmässigen Mann einer Lüge zu zeihen, liegt kein Grund vor; derartiges darf man nicht unter die Verirrungen rechnen, zu denen fanatischer Glaubenseifer diese frommen Herren hinriss.“ Damit ist Riezler die Anwesenheit des Karmeliters beim Kriegsrat erwiesen und seiner Meinung wenigstens dieser Teil der Legende einigermaßen gerettet, doch warnt er vor Übertreibungen beim Weitererzählen der Geschichte: „Unsere beiden jesuitischen Berichterstatter gehen (ebenso wie zehn Jahre später der Herzog) nur darin zu weit, dass sie der Rede des Karmeliters derartige Wirkung zuschreiben.“

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Unter den Leistungen der Zeitungen ist an erster Stelle die zuverlässige Information über das eigentliche Geschehen zu nennen. Doch kam auch dessen Interpretation nicht zu kurz. Der Zeitungsleser erfuhr, dass die Habsburger anfänglich deutlich in der Defensive waren, ja, dass bei einem entschlosseneren Vorgehen ein Sieg über die kaiserlichen Truppen möglich gewesen wäre. Ihm wurde darüber hinaus deutlich, dass vieles an den fehlenden finanziellen Mitteln scheiterte, die aufzubringen bei den böhmischen Ständen keine Wege gefunden wurden. Noch in einer Meldung vom 3. November 1620 wurde aus Prag berichtet, der „Termin mit der Soldaten Bezahlung“ sei vorüber, weshalb eine Kommission der Stände in das Feldlager gesandt worden sei, „mit den Soldaten zu Accordiren“, auch habe die Königin die „Frawen und Weiber“ der oberen Stände auf das Schloss geladen, „vnd von jhnen herzuleihen begehrt“, „welche eine gute Sum bewilliget“.90 Dieser verzweifelten Lage entsprach die Motivation bei den böhmischen Truppen, in denen Soldmeutereien und Desertionen an der Tagesordnung waren. Darüber hinaus wusste der Zeitungsleser auch, dass unklare Befehlsstrukturen das Agieren der böhmischen Truppen behinderten. Schon im Juli 1619 war es erstmals zu Beschwerden des Grafen von Thurn gekommen, wie der Leser der in Hildesheim erscheinenden Zeitung aus Böhmen erfuhr. Niederlagen, so der militärische Führer der böhmischen Truppen, hätten ihre Ursache in der Missorganisation auf böhmischer Seite. Beständig müsse im Feldlager auf Entscheidungen der Direktoren gewartet werden, „dardurch der Feind ihnen also bey kommen“. Der Feldherr verlangte für die Generale „ein Völligen gewalt“.91 Unter den Aspekten, die von der Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Krieges weniger im Vordergrund stehen, ist an erster Stelle das desolate Verhältnis zu nennen, das der böhmische Adel zu seinen Bauern und damit zu jener Bevölkerung pflegte, ohne deren Unterstützung der Kampf gegen den Kaiser keinesfalls zu gewinnen war. Darüber berichteten die Zeitungen beständig und ausführlich. Wie kaum eine andere Quelle veranschaulichen die Zeitungen schließlich, wie bereits in den ersten Jahren der militärischen Auseinandersetzungen schwerste Gräueltaten, Brandschatzungen, zerstörerische Brandstiftungen und Plünderungen zu einem konstitutiven Moment des Dreißigjährigen Krieges wurden. Zerstörungen und Raub, Vergewaltigungen und Ermordung von Kindern gehörten fast von Beginn an zum Alltag, wobei sowohl die Zeitungsberichte aus Prag als auch die aus Wien den Eindruck erwecken, dass sich dabei auf kaiserlicher Seite die Truppen Bucquoys und Dampierres besonders

90 Aviso [Wolfenbüttel], Z 50, Jg. 1620, Nr. 46, „Auß Praag / vom 3. November.“ 91 Zeitung aus Böhmen, [Hildesheim], Z 22, Jg. 1619, Nr. 32, „Aus Prag / vom 21. diß. [Juli]“.

DIE ENTSCHEIDUNGSSCHLACHT AM WEIßEN BERG

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hervortaten, selbst aus dem habsburgischen Zentrum wurde immer wieder gemeldet, wie die „unsren“ hausten. Und, dies zum Schluss, die Zeitungen zeigen, indem sie den Ausgang des pfälzisch-böhmischen Unternehmens nicht kennen, dass die Absetzung des Königs und die Wahl eines genehmeren Kandidaten vielleicht doch nicht so abenteuerlich war, wie dies heute in der Geschichtsschreibung zumeist erscheint. Auch verraten die Zeitungen eindringlich, dass es ein ernstes Anliegen war, das die böhmischen Stände zur Rebellion veranlasste, ein Anliegen, das weiter über ständische Sonderinteressen hinausging und in guten Worten des Grafen Heinrich Matthias von Thurn zum Ausdruck kam, der gegen die Bevoroder Benachteiligung einer Konfession argumentierte: „Sondern es müsse gleich seyn / vnd ohne vnterschied der Religion / eine gleichheit gehalten werden. Was ein theil hat [/ hat] der ander auch / vnd also ein bestendiger Fried vnd vereinigung zu machen“.92

92 Heinrich Matthias von THURN, in: Die 26[.] Zeitung, [Hildesheim], Z 22, Jg. 1619, Nr. 26, „Aus Wien von 19 Junij.“

G E O R G S CH M I D T EIN MANIFEST UND EINE KAMPAGNE

Ein Manifest und eine Kampagne Wie die Medien Gustav Adolf Ziele setzten

König Gustav II. Adolf und die politische Elite Schwedens fühlten sich Ende der 1620er Jahre von Deutschland aus massiv bedroht.1 Sie führten Krieg im Baltikum und in Polen, um ihre Hegemonie im Ostseeraum auszubauen und die Thronansprüche der katholischen Wasa-Könige zu beenden. Kaiser Ferdinand II. und Kurfürst Maximilian von Bayern hatten unterdessen das Heilige Römische Reich deutscher Nation unter ihre Kontrolle gebracht, und Albrecht von Wallenstein, General eines riesigen Heeres, setzte sich an der Ostsee fest. Der Kaiser übertrug ihm das Herzogtum Mecklenburg und ernannte ihn am 21. April 1628 zum „General-Obersten-Feldhauptmann“ und zum „General des oceanischen und baltischen Meeres“.2 Da sich sein großer Plan, Deutschland unter dem Kaiser zu einen, um dann die äußeren Feinde – Türken, Franzosen und Schweden – anzugreifen, angesichts des zurückliegenden Kriegsjahrzehnts nur als Abwehrkampf verwirklichen ließ, warnte er ständig vor einer schwedischen Invasion – so, als wolle er diese provozieren. Ferdinand II. hoffte, wie in Böhmen auch im Reich den Meister spielen zu können, blieb aber auf die Hilfe der Spanier und Maximilians von Bayern angewiesen, da dieser nach der Übernahme der Pfälzer Kurwürde mehr denn je das katholische Deutschland dominierte. Die beiden Führer der kaiserlichkatholischen Partei glaubten sich bei ihren Siegen über die evangelischen Ketzer mit Gott und der Jungfrau Maria im Bunde. Auch die Protestanten vertrauten auf Gott, der sie mit Niederlagen für ihre vielen Sünden büßen ließ, ihnen nach einer Phase der Läuterung aber den Sieg schenken würde. Die evangelischen Reichsstände hatten nach dem frühen Scheitern der Union keine Kriegspartei formiert und waren nacheinander besiegt worden, zuletzt auch König Christian IV. von Dänemark. Den medialen protestantischen „Leidensdiskursen“ fehlte 1629/30 der weltliche Arm Gottes, um politischen Druck auszuüben.

1

2

Vgl. zum Folgenden Georg SCHMIDT, Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München 22018. – Ich danke Marcus Stiebing (Jena) für seine anregende Kommentierung des Textes. Gottfried LORENZ (Hg.), Quellen zur Geschichte Wallensteins, Darmstadt 1987, S. 158 f.

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GEORG SCHMIDT

Dass der deutsche Krieg nun vielleicht zu Ende war,3 erhöhte die Angst in Schweden. Auch in Stockholm wusste man von den maritimen Plänen der Spanier und des Kaisers, denen freilich Kriegsschiffe und sichere Ostseehäfen fehlten, während ihre Gesandten von der Sperrung des Sunds schwadronierten. Der Krieg gegen Christian IV. hatte gezeigt, dass das Heer Wallensteins auf dem Festland niemanden fürchten musste; das Meer bildete aber vorerst noch ein unüberwindliches Hindernis. Dies konnte sich ändern, denn der neue Herzog von Mecklenburg begann, den Ostseeplänen Taten folgen zu lassen. Dazu gehörte auch die Belagerung Stralsunds 1628. Der Kaiser beorderte in dieser Phase jedoch größere Teile seiner Armee zur Unterstützung der Spanier in die Niederlande und nach Oberitalien. Einige Regimenter zogen nach Preußen, um den Polen gegen die Schweden beizustehen. Als Ferdinand II. im März 1629 das Restitutionsedikt publizierte, brachte er mit Kurfürst Johann Georg von Sachsen zwar auch die Protestanten gegen sich auf, die bisher treu an seiner Seite verharrt hatten, doch sie wollten verhandeln und keinen Krieg führen. Wallenstein hielt das Edikt für einen schweren Fehler, da es das Reich spaltete. Der bayerische Kurfürst forderte deswegen und weil das übergroße Heer auch den Katholiken zur Last falle und nur den Kaiser stärke, die Entlassung des Generalissimus. Auf dem Regensburger Kurfürstentag verlor dieser am 13. August 1630 seine Kommandogewalt – etwa einen Monat nachdem die Schweden auf Usedom gelandet waren.

Die Strategie des schwedischen Manifests Gustav Adolf hatte die Intervention akribisch vorbereitet. Schweden war im 16. Jahrhundert vom peripheren Bauernland zur regionalen Vormacht aufgestiegen. 1630 beherrschte es den Finnischen Meerbusen und die polnische Ostseeküste. Den Spuren der Goten4 und der imperialen Logik folgend, musste der König nun versuchen, auch die deutsche Küste zu kontrollieren, und vor allem verhindern, dass sich dort mit Wallenstein und dem Kaiser starke katholische Mächte festsetzten.5 Aus zwei Gründen hielt Gustav Adolf ein offensives Vorgehen für nötig: „Schwedens Verteidigung, Deutschlands Eroberung“.6 Im Mai 3 4 5 6

Johannes BURKHARDT, Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 2018, S. 124. Inken SCHMIDT-VOGES, De antiqua claritate et clara antiquitate Gothorum. Gotizismus als Identitätsmodell im frühneuzeitlichen Schweden, Frankfurt a. M. u.a. 2004. Peter H. WILSON, Europe’s Tragedy. A History of the Thirty Years War, London 2009, S. 188 f. Günther BARUDIO, Gustav Adolf – der Große. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. 1985, S. 391.

EIN MANIFEST UND EINE KAMPAGNE

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1629 begründete er vor dem Reichstag die Intervention mit dem Schutz des eigenen Vaterlands und des lutherischen Glaubens. Der Kaiser wolle diesen ausrotten, Deutschland unter sein Joch bringen und dann „Mitternacht“ angreifen. Ein Friede sei nur sicher, wenn eine schwedische Armee in seinen Landen stehe.7 Da auch nach dem Restitutionsedikt Hilfeersuchen der deutschen Stände ausblieben, gab Gustav Adolf im Staatsrat zu, dass es schwierig sei, die Deutschen gegen ihr Vaterland und ihre Obrigkeiten zu mobilisieren. Johann Skytte äußerte daraufhin Bedenken: Das Reich genieße eine hohe Reputation; ein Angriff auf den Kaiser richte sich gegen Gott und setze das ganze System der Monarchie aufs Spiel. Der König erwiderte, deren Fundamente seien nicht Sterbliche, sondern Grundgesetze.8 Dieser Gedanke sollte sein Eingreifen in Deutschland legitimieren. Gustav Adolf sprach pauschal von Bitten der Nachbarn und anderer Könige, „die unterdrückten Religionsverwandten vom päpstlichen Joch zu befreien“.9 Dass der französische Gesandte beteuerte, das deutsche Volk warte auf Gustav Adolf wie auf den Messias,10 ließ sich in keine Begründung für einen gerechten Krieg ummünzen. Eine klassische Kriegserklärung kam deswegen nicht in Frage. Sie hätte einen konkreten Adressaten benötigt und Schweden letztlich als Aggressor erscheinen lassen. Gustav Adolf wollte als Verteidiger der alten Ordnung auf dem deutschen Kriegsschauplatz erscheinen, um nicht „Kaiser und Reich“ im Sinne Wallensteins zu einen. Ohne deutsche Söldner, logistische Unterstützung und Bündnisse mit einzelnen Reichsständen schien sein Unternehmen aussichtslos. Selbst wenn er das Restitutionsedikt zum Anlass genommen hätte, um dem Kaiser und seinen katholischen Helfern den Krieg zu erklären, hätten der Kurfürst von Sachsen und die anderen protestantischen Stände seinen Feldzug wohl kaum unterstützt. Darüber hinaus musste ein offen erklärter Religionskrieg das katholische Frankreich irritieren, auf dessen Subsidien Gustav Adolf angewiesen war. Der König wählte deswegen eine Legitimation, die auf die Wiederherstellung der vom Kaiser und Wallenstein zerstörten Reichsverfassung und die Bestrafung der Übeltäter setzte. Reichsrat Johann Adler Salvius verfasste das schwedische Kriegsmanifest, das die Öffentlichkeit über die gerechten „Ursachen, dahero […] Herr Gustavus Adolphus […] endlich gleichfalls gezwungen worden, mit Kriegsvolk in 7 8

G[ustav] DROYSEN, Gustaf Adolf, Bd. 2, Leipzig 1870, S. 27 f. Pärtel PIIRIMÄE, Just War in Theory and Practice: The Legitimation of Swedish Intervention in the Thirty Years War, in: The Historical Journal 45 (2002), S. 499–523, hier S. 519 f.; Erik Gustav GEIJER, Geschichte Schwedens, Bd. 3, Hamburg 1836, S. 152. 9 DROYSEN, Gustaf Adolf, Bd. 2 (wie Anm. 7), S. 148. 10 Peter ENGLUND, Die Verwüstung. Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Reinbek 22013, S. 125.

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Deutschland überzusetzen und zu verrucken“11 informieren sollte. Es wurde im Juli 1630 in Stralsund auf Deutsch publiziert.12 Im gleichen Jahr erschienen wenigstens fünf lateinische, 14 weitere deutsche und zwei niederländische Ausgaben sowie je eine französische und englische Übersetzung.13 In Deutschland muss die Nachfrage immens gewesen sein. Schon Kaiser Maximilian I. und Karl V., aber auch Philipp II. von Spanien hatten mit öffentlichen Erklärungen Kriege begonnen.14 Diese Form setzte sich im 17. Jahrhundert durch.15 Das Manifest verbleibt ganz im Duktus der Verteidigung. Es beginnt mit dem Sprichwort, niemand könne länger Frieden haben, als sein Nachbar wolle.16 Es beschuldigt „etliche Friedhessige“ der Kriegstreiberei („quam ut a quibusdam publicae pacis osoribus“).17 In einer Variante findet sich die erklärende Marginalie: „Jesuiter und deren Helfershelfer“.18 Sie hätten Deutschland mit „Mord und Brand“ überzogen und dem König von Schweden nachgestellt. Die „besagten des Teutschlandes Reubern“ hätten dessen Briefe abgefangen und den Frieden mit Polen verhindert. Sobald sie ihren „Zweck im Teutschen Reich erreichet hetten“, wollten sie helfen, Schweden dem polnischen König zu unterwerfen. Schwedische Schiffe seien konfisziert worden, um das baltische Meer zu kontrollieren und den Sund zu sperren. 1628 sei „die Außbrieffung deß ungehewren Tituls von dem Generalat über das Balthische Meer / wie auch Einnemung so wol auf dem Lande durch Mechelburg und Pommern vornehmer Plätzen und Vestungen / als an dem Wasser / der Seehäfen und Porten“ 11 [Johan Adler SALVIUS], Ursachen/ wordurch Der Durchleuchtigster unnd Großmechtigster Fürst und Herr/ Herr Gustavus Adolphus […] Endlich gleichfalß gezwungen worden/ mit dem Kriegeß Heer auf den Theutschen Boden sich zubegeben, 1630 (Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts [im Folgenden: VD17] 23:251395V), auch abgedruckt in: Sverker OREDSSON, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg, übs. von Klaus R. BÖHME, Berlin 1994, S. 286–293. 12 [SALVIUS], Ursachen Dahero […] Gustavus Adolphus […] gezwungen worden/ mit dem Kriegßvolck in Deutschland uber zusetzen unnd zu verrucken, Stralsund 1630 (VD17 14:004220Y). 13 PIIRIMÄE, War (wie Anm. 8), S. 504. 14 Anuschka TISCHER, Kriegserklärung, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, hg. von Friedrich JAEGER, http://dx-1doi-1org-1002d4cmd4cb8.han.ulb.uni-jena.de/10.1163/ 2352-0248_edn_a2291000 (letzter Zugriff: 27.8.2018). 15 Vgl. Johann Ludwig KLÜBER, Europäisches Völkerrecht, Bd. 2, Stuttgart 1821, S. 390 f. 16 Das Folgende nach [SALVIUS], Ursachen (wie Anm. 11). 17 [SALVIUS], Caussae, ob quas […] Gustavus Adolphus […], Tandem coactus est Cum exercitu in Germaniam movere, Stralsund 1630 (VD17 35:728169B). 18 [SALVIUS], Ursachen/ Dahero […] Gustavus Adolphus […] gezwungen worden/ mit dem Kriegsvolck in Deutschland überzusetzen unnd zuverrucken, Stralsund 1630 (VD17 12:000395H).

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erfolgt. Stralsund habe sich bei Gustav Adolf über die grundlose Belagerung beklagt. Er sei der Stadt beigesprungen, um zu verhindern, dass in dieser „Anfurt ein reuberisch Nest nach jemands eigen Gutdüncken solte gemacht werden“. Die schwedischen Gesandten seien bei den Lübecker Friedensverhandlungen mit großem „Despect“ abgewiesen worden. Der König habe daraufhin die Kurfürsten um Vermittlung gebeten. Tatsächlich sei jedoch ein Heer ohne „Kriegsverkündigung“ nach Preußen befohlen worden und die Kurfürsten hätten alles dem Kaiser anheimgestellt. Sie hätten wohl anders reagiert, „wenn die alte, des Reichsstände Freyheit noch sicher were / und die Gewalt der Boßhafftigen nicht so tieff eingewurtzelt were“. Der König müsse sich verteidigen. „Solt nicht endlich das Recht selbst wünschen und begehren in Gewalt / umb Gewalt zu vertreiben / transmutiret zu werden“. Der Waffengang diene lediglich dazu, „sich und die Ihrigen / auch die gemeine Libertät zu defendiren und zu schützen“ bis der Vorkriegszustand wiederhergestellt sei, Stralsund, das baltische Meer und Schweden „einer gewissen Libertät und Freyheit versichert“ seien. Man zweifle nicht, dass „alle uffrichtigen Deutschen / sampt der gantzen werthen Christenheit“, diese „rechtmessigen Kriegsmitteln“ überzeugten. Der lateinische Text vermeidet das Wort „bellum“. Hier heißt es „justas armorum vias“.19 Wenn in den deutschsprachigen Manifesten auch vom „rechtmeßigen Kriegszug“20 oder vom „rechtmessigen angefangenen Krieg“ die Rede ist,21 so unterstreicht dies die Leitidee der schwedischen Invasion. Sie sollte die arbiträre Gewalt Wallensteins unterbinden und die deutsche Freiheit, die Ordnung des Reichs und den evangelischen Glauben wiederherstellen. Diese Legitimationsstrategie verlor jedoch mit der Entlassung Wallensteins ihre Plausibilität, denn der „Hasser des Friedens“ verschwand damit von der Bühne des Krieges. Aus schwedischer Sicht hatte er sich des kaiserlichen Namens bedient, um die alte Freiheit außer Kraft zu setzen. Weder die Kurfürsten noch Ferdinand II. konnten ihre Pflichten erfüllen, weil sie inzwischen von Wallenstein abhängig waren. Deswegen findet sich der gängige Vorwurf, die Habsburger strebten nach der Universalmonarchie, nicht im Manifest, wohl aber in der Einleitung zur französischen und englischen Übersetzung.22 Die Kriegsbegründung richtete sich an Fürsten, Regierungen und Verwaltungen, an die Elite und den gemeinen Mann. Sie sollten eine auf das Gefüge des Reichs bezogene Öffentlichkeit formieren, um diejenigen zu bekämpfen, die der gerechten Sache und der Wiederherstellung der Vorkriegsordnung im Weg 19 [SALVIUS], Caussae, ob quas […] Gustavus Adolphus […], tandem coactus est Cum exercitu in Germaniam movere, Stralsund 1630 (VD17 14:004206F). 20 [SALVIUS], Ursachen (VD17 3:601533U; VD17 3:320478Y; VD17 3:671283H). 21 [SALVIUS], Ursachen (VD17 14:004225M). 22 PIIRIMÄE, War (wie Anm. 8), S. 519.

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standen. Die Militärs wussten zudem, wie wichtig es war, dass die Bevölkerung die eigene Sache unterstützte. Bauern mögen alle Soldaten gefürchtet haben, doch für diejenigen, die den gleichen Glauben besaßen und für dessen Freiheit kämpften, war das Leben spürbar leichter: Neben der Lieferung von Proviant konnte die Hilfe ortskundiger Untertanen bei Belagerungen, Feindannäherungen oder Flussüberquerungen entscheidend sein. Am 18. August 1630 wiesen Kaiser und Kurfürsten erwartungsgemäß die schwedische Begründung zurück.23 Für den „beschwerlichen Krieg wider uns und das Reich“ gebe es keine rechtmäßigen Ursachen. Gustav Adolf hätte den „unnothwendigen Krieg“ vorher ankündigen sollen. Der Frieden könne nur gewahrt werden, wenn er sich nicht in die Reichsgeschäfte einmische, sein Kriegsvolk unverzüglich abführe und „uns und dem Reich in seinen Juribus zu Wasser und Lande nicht widerwertiges“ zufüge.24 Während die evangelischen Kurfürsten noch abwartend taktierten, gingen Kaiser Ferdinand, Kurfürst Maximilian von Bayern und Erzbischof Anselm Casimir von Mainz wie selbstverständlich davon aus, dass Schweden einen „Religionskrieg“ führen und einen „neuen religionfriden“ erzwingen wolle. Maximilian hatte schon am 15. Juli im Kurfürstenrat geäußert, Gustav Adolf sei es „nicht umb das, was er praetendirt“ zu tun, sondern „daß vilmer etwas anders dahinter verborgen“. Gegenüber dem französischen Botschafter sprach er hellsichtig davon, der König wolle, dass alles wieder in den Vorkriegszustand versetzt werde.25 Gustav Adolf betonte in seiner Erwiderung erneut, dass er nicht gegen den Kaiser, das Reich oder dessen Glieder, die ihn nicht beleidigt hätten, Krieg führen wolle. Seine „Expedition“ gelte lediglich „etlichen Personen, so in den trüben Wassern zu fischen pflegen / Privat Nutz / Hochmuth / Frechheit und Licentz / damit dieselbe nicht allzu hoch auffwachsen“ und Schweden in Sicherheit und Wohlfahrt leben könne. Er wolle die „Zerstörer des allgemeinen Friedens“ bestrafen und so das Reich und seine Glieder retten.26 Dass Wallenstein in dem Moment entlassen wurde, als sein militärisches Genie dringend gebraucht wurde, ist oft betont worden. Man kann darin aber auch einen geschickten Schachzug des Kaiserhofes sehen, um die schwedische 23 Ebd., S. 516. 24 Acta & Litterae, Ab ult. die Feb. Anno M.DC.XXIX. usque Ad ult. diem Octob. Anno M.DC.XXX. Inter Ser.mam R.am M.tem Sueciae, eiusdemq[ue] Ministros ab una, & Caesarem S.eriq[ue] Imperii Rom. Electores, nec non aliquot Caesareos Officiales ab altera parte, Commutatae, Stralsund 1631 (VD17 14:083141L). 25 Franz BRENDLE, Der Erzkanzler im Religionskrieg. Kurfürst Anselm Casimir von Mainz, die geistlichen Fürsten und das Reich 1629 bis 1647, Münster 2011, S. 275. 26 Gustav ADOLF, Copia bewegenden Schreibens/ Welches […] Gustavus Adolphus, […] Denen sämptlichen Chur: und Fürsten bey wehrendem Collegial-Tag ubergeben lassen [13.9.1630], Stralsund 1630 (VD17 14:004101N).

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Interventionsbegründung zu delegitimieren. Da nun Graf Tilly die Reichstruppen befehligte, wurde überdies auch Kurfürst Maximilian, dessen bayerischer Dienstherr, zum Gegner der Schweden. Die Demission Wallensteins verhinderte überkonfessionelle Solidaritäten und erschwerte die schwedischen Verhandlungen mit Kardinal Richelieu, der Bayern als potentiellen Verbündeten gegen die Habsburger betrachtete und keinen Religionskrieg wollte.

Die Medienkampagne Adler Salvius wurde am 9. Juli 1630 beauftragt, für die deutsche Libertät und Glaubensfreiheit zu wirken. Ob er die publizistische Lawine lostrat, die 1631/32 im Zeichen eines Glaubenskrieges und eines apokalyptischen Endkampfes alles mit sich fortriss, wird sich wohl nie vollständig klären lassen. Die Schweden standen in einem fremden Land, und es fehlte ihnen an Geld, Soldaten, Proviant und Bündnispartnern.27 Da sie mit Wallenstein den kriegsbegründenden Bösewicht verloren hatten, gegen den sich die „bewaffnete Repressalie“28 oder die „Polizeiaktion“29 richten sollte, benötigten sie eine neue Legitimation, um Unterstützung wenigstens im evangelischen Deutschland zu finden. Im Juli 1630 übernahm Gustav Adolf das Kommando in Stettin und drängte Herzog Bogislaw von Pommern ein Bündnis auf, das diesen entmachtete, angeblich aber nur dem Schutz der Reichsverfassung und des Religionsfriedens diente. Gleichzeitig betonte der König, er sei nicht als Eroberer gekommen, sondern wolle nur die Feinde des Glaubens verjagen. Den pommerschen Ständen erklärte er freilich auch, nun seien seine Waffen in ihrer Stadt, nach Kriegsrecht seien sie sein.30 Dem Kurfürsten von Brandenburg, seinem Schwager, ließ er ausrichten: „Hier streitet Gott und der Teufel. Will S. Ld. es mit Gott halten, wohl, so trete Sie zu mir. Will Sie es aber lieber mit dem Teufel halten, so muss Sie fürwahr mit mir fechten. Tertium non dabitur, des seid gewiss.“31 Der schwedische Feldzug wurde von vielen evangelischen Publizisten als Konfessionskrieg und als Endkampf gegen den Antichristen dargestellt. Sie 27 Michael BUSCH, Die Landung der Schweden. Entlastung oder Bedrohung für Hamburg?, in: Martin KNAUER/Sven TODE (Hg.), Der Krieg vor den Toren. Hamburg im Dreißigjährigen Krieg 1618–1648, Hamburg 2000, S. 127–143, hier S. 130 f. 28 Diethelm BÖTTCHER, Propaganda und öffentliche Meinung im protestantischen Deutschland 1628–1636, in: Hans Ulrich RUDOLF (Hg.), Der Dreissigjährige Krieg. Perspektiven und Strukturen, Darmstadt 1977, S. 325–367, hier S. 337. 29 PIIRIMÄE, War (wie Anm. 8), S. 517. 30 Max BÄR, Die Politik Pommerns während des dreißigjährigen Krieges, Leipzig 1896, S. 278, zit. nach Fritz DICKMANN, Der Westfälische Frieden, Münster 61972, S. 216. 31 DROYSEN, Gustaf Adolf, Bd. 2 (wie Anm. 7), S. 225.

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wollten Gustav Adolf längerfristig an diesen deutschen Krieg binden und die Reichsstände dazu bewegen, sich mit ihm zu verbünden. Der König erkannte sehr wohl die Vorteile eines Strategiewechsels, der ihm zunächst zwar keine Kontributionen und Bündnisse, wohl aber Soldaten und die Herzen der Protestanten zuführte. Furore machte in diesem Kontext die Erzählung, der König sei der geweissagte Löwe aus Mitternacht, der gekommen sei, um im Auftrag Gottes die Protestanten zu retten sowie den Antichristen und seine Helfer zu besiegen. Dazu passte der Bericht, der König sei beim Betreten deutschen Bodens niedergekniet, habe gebetet und betont, sein Eingreifen sei nicht sein, sondern Gottes Wille.32 Zuversicht verbreitete auch die Parole auf den schwedischen Fahnen: „Gott hilft fechten wider die Ungerechten“.33 Positiv wirkte überdies, dass zufällig oder „in offenbar sorgfältiger Inszenierung“34 der schwedische Feldzug in dem Moment begann, als die stark bedrängten Lutheraner des hundertjährigen Jubiläums der Confessio Augustana gedachten. Die Stralsunder Continuatio Relationis berichtete schon im Juli, die Papisten wollten den evangelischen Glauben ausrotten, doch nun sei die Nachricht von der Landung Gustav Adolfs mit 100 Schiffen eingetroffen. Zweifellos werde er die Streitmacht zum Schutz der bedrängten Kirche einsetzen.35 Diese Zeitungsmeldung verknüpfte eine fraglos wichtige Nachricht mit der Vermutung einer Absicht. Einmal in die Welt gesetzt, entfaltete diese Neuigkeit rasch Wirkung. Jeder konnte sich danach richten oder nicht und sie zur Unterstützung seiner Ziele nutzen.36 Das Flugblatt „Zustand der Christlichen Kirchen Anno 1630“ illustriert, was die meinungsbildende Flugschriftenpublizistik imaginierte und die protestantische Öffentlichkeit glauben sollte. Der Löwe aus Mitternacht steigt mit dem Schwert voran von seinem Schiff, das ein Engel steuert. Ihn begleiten ein Seehahn, das Symbol der Hanse, ein holländischer Schipper und ein schwarzer Löwe, das Wappen des Magdeburger Administrators. Sie stoßen auf das siebenköpfige Tier der Apokalypse, das auf den zer32 Dazu Heinz SCHILLING, Das schwedische Kriegsmanifest vom Juli 1630 und die Frage nach dem Charakter des Dreißigjährigen Krieges, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3201 (letzter Zugriff: 23.8.2018). 33 Ralf-Peter FUCHS, Ein „Medium zum Frieden“. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, München 2010, S. 83. 34 BURKHARDT, Krieg (wie Anm. 3), S. 143. 35 Ulrike Dorothea HÄNISCH, ‚Confessio Augustana triumphans‘. Funktionen der Publizistik zum Confessio Augustana-Jubiläum 1630. Zeitung, Flugblatt, Flugschrift, Frankfurt a. M. u.a. 1993, S. 134. 36 Johannes WEBER, Der große Krieg und die frühe Zeitung. Gestalt und Entwicklung der deutschen Nachrichtenpresse in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 1 (1999), S. 23–61.

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störten Stützpfeilern, insbesondere der Kurpfalz, vor der evangelischen Kirche thront. Es muss überwunden werden, um die noch auf der biblischen und kursächsischen Plattform ruhende und von den Säulen der Vorsehung, Allmacht und Barmherzigkeit gestützte wahre Kirche dauerhaft zu sichern.37 Nach der Katastrophe Magdeburgs und dem Sieg bei Breitenfeld machte 1631 eine proschwedische Medienkampagne Gustav Adolf zum von Gott auserwählten und gelenkten Helden, der die Agenten und Helfershelfer des Antichristen zermalmte. Gemeint waren Jesuiten und Spanier, aber auch der Kaiser, der Kurfürst von Bayern und die geistlichen Fürsten. Autoren, Verleger, Drucker und Buchführer einschließlich der armen Wanderhändler verdienten an dieser apokalyptischen Inszenierung. Gott ließ sein Volk nicht länger leiden. Aus der bisher fragmentierten Elends- und Leidenserfahrung wurde eine von den Medien reichsweit formierte protestantische Öffentlichkeit, die auf Sieg und Erlösung hoffen durfte. Die Publizisten griffen nun in variierter Form den medialen Diskurs über das Strafgericht Gottes wieder auf,38 der nach dem Erscheinen eines riesigen Kometen im Herbst 1618 die Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Das Chaos am Firmament war als Menetekel gedeutet worden: Gott wollte die Sünden der Menschen härter als bisher bestrafen. Gut lutherisch wurde der Komet mit dem Kampf gegen den päpstlichen Antichristen, der Apokalypse und dem Jüngsten Gericht verbunden.39 Die Feinde Gottes, aus evangelischer Sicht der Antichrist und seine Helfer, aus katholischer die gottverdammten Ketzer, mussten besiegt werden – wenigstens darüber waren sich Hofprediger und Beichtväter einig. Biblische Analogien gab es reichlich und Gottes Wille war eine disponible Größe. Der Sieg von Breitenfeld brachte 1631 den evangelischen Deutungskosmos ins Lot. Hatte Gott die Protestanten bisher für ihre Sünden bestraft, nahm er sie nun wieder gnädig an. Er hatte seinem Werkzeug Gustav Adolf den Sieg verliehen und drängte diesen weiter – zunächst in die „Pfaffengasse“ an Main und Rhein. Flugblätter stellten Gustav Adolf als Jäger dar, der den Habicht Tilly erlegt, oder als Herkules, der von Gott geleitet sein Werk vollbringt.40 Im „Schwedische[n] Beruf“ fleht die christliche Kirche Gott um Hilfe an, und dieser bietet

37 Zustand der Christlichen Kirchen Anno 1630, [Ulm] 1630 (VD17 23:675776U). 38 Matthias ASCHE/Anton SCHINDLING (Hg.), Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Münster 2001. 39 SCHMIDT, Reiter (wie Anm. 1), S. 14–18 und passim. 40 Wolfgang HARMS (Hg.), Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, Bd. 2: Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Historica, München 1980, S. 388–391.

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ihr seine Hand. Ein Engel zeigt Gustav Adolf den Weg ins Reich.41 Ein anderes Blatt inszeniert den kämpfenden Löwen, der die als Drache oder Ungeheuer gezeichnete römische Kirche vernichtet. Der Schwanz der bei Augsburg besiegten Hydra weist über München hinaus.42 „Ulrich von Hutten der Jüngere“ verlangt den „Newe[n] Römerzug“. Der König und die Protestanten seien schuldig, ihre von Gott verliehenen Siege zu nutzen und gegen den Papst und seinen Anhang zu ziehen.43 „Magische Figuren“ prognostizierten den Triumph über das Papsttum, den Teufel und den apokalyptischen Drachen.44 Der schwedische König wurde als Gott stilisiert, „Augusta Angustiata, a deo per deum Liberata. Teutsch: Geängstigt ward Augsburg die Stadt: Gott durch Gott ihr geholfen hat.“45 Auf einem von Gott gelenkten Triumphwagen stehend, der auf den Sitz des Kaisers zurast, räumt er alles zur Seite, was sich ihm in den Weg stellt.46 „Deus heißt auf Deutsch Gott, und aus diesen vier Buchstaben kommt Sved“.47 Gustav Adolf bricht, mit dem Himmel verbunden und von Gott eingesetzt, die Herrschaft des Antichristen.48 Das Jüngste Gericht bot den unter den Gräueltaten, den Seuchen und dem Hunger – den Reitern der Apokalypse – leidenden Menschen eine Sinnkonstruktion. Mit den schwedischen Siegen schien die Leidenszeit vorüber. Was die griechische Mythologie zu bieten hatte, wurde für den Triumph im Auftrag Gottes vereinnahmt. Eine gereimte Flugschrift verglich 1632 das Eingreifen der Schweden mit dem Krieg um Troja. Gustav Adolf soll als Achilles die geraubte Helena befreien. Sie ist die deutsche Freiheit, die als das Evangelium und die „guten Reichs-Gesetze“ erklärt wird, die in die Hände der Spanier gefallen seien. Dem König habe der christliche Gott die Waffen geschmiedet und ihn auf die deutsche Bahn gelenkt. Iphigenie, also Magdeburg, habe „für alle müssen brennen“. Den Sieg bei Breitenfeld kommentiert der Löwe: „Schau 41 Schwedischer Beruff/ Das ist: Abtreibung/ etlicher ungereimbter Iudiciorum, von den jetzigen verenderungen im Röm: Reich/ und rechter Grundt derselben, 1631 (VD17 23:675800H). 42 Die durch Gottes Gnad erledigte Stadt Augsburg, in: HARMS, Flugblätter (wie Anm. 40), S. 462 f. 43 Ulrich von HUTTEN (d.J.), Der Newe Römerzug/ Das ist: Discurs, Ob die Königliche Majestät zu Schweden/ und die Protestirende Churfürsten und Stände in Deutschland […] Seiner Majestät alleine von Göttlicher Allmacht verliehene Victorien, auch wider den Päpstlichen Stuel zu Rom/ sampt seinem Anhang des Welschlands zu prosequiren, 1632 (VD17 107:725347W). 44 HARMS, Flugblätter (wie Anm. 40), S. 468 f. 45 Ebd., S. 465. 46 Schwedischer Zug/ Das ist guter Anfang zu der instehenden Göttlichen Hülffe und Exempel der rechten Buß, 1632 (VD17 23:675804P). 47 BÖTTCHER, Propaganda (wie Anm. 28), S. 346. 48 HARMS, Flugblätter (wie Anm. 40), S. 466.

EIN MANIFEST UND EINE KAMPAGNE

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das hat Gott getan.“ Am Ende wendet sich der Autor direkt an Gustav Adolf, der alle Feinde aus dem Reich vertreiben solle, „das helfe dir der dich gesendet unser Gott“. Der Adler fliege schon, um ihm die Krone zu bringen.49 Mit dem Tod des Königs in der Schlacht bei Lützen endeten alle Hoffnungen auf ein protestantisches Kaisertum, nicht jedoch die Vorstellungen eines apokalyptischen Endkampfes.

Fazit Gustav Adolf und seine Berater wollten ursprünglich das Herzogtum Pommern besetzen und die Ostseeküste von Wallenstein und seiner Armee befreien. Dessen Entlassung störte ihre Pläne empfindlich. Sie initiierten oder griffen deswegen notgedrungen die Medienkampagne zugunsten eines Kampfes gegen die Herrschaft des Antichristen auf, weil sie nur so hoffen durften, wenigstens die deutschen Protestanten doch noch auf ihre Seite zu ziehen. Indem der König sich eines publizistischen Feldzuges bediente, lieferte er sich den medialen Gesetzmäßigkeiten und einem Überbietungswettkampf aus, der seine begrenzte Polizeiaktion in einen biblischen Endkampf umfunktionierte. Die Schweden wurden dadurch in einen Krieg verstrickt, den sie nicht gewinnen, aber ohne Gesichtsverlust auch nicht mehr ohne weiteres verlassen konnten. Der Krieg wurde endlos, weil die mediale Inszenierung Gustav Adolf mit der biblischen Heilsgeschichte und dem Ende des göttlichen Strafgerichts analogisierte. Die beiden Erzählungen bestätigten sich gegenseitig. Erst als der verheißene Sieg sich nicht einstellen wollte, wurde der als Gottes Wille ausgegebene Sieg fraglich und der Westfälische Frieden als reines Menschenwerk möglich.

49 Achilles Germanorum. Retter der Deutschen Freyheit. Darinnen der jetzige gantze Deutsche Krieg von Anfang biß zu der jetzigen Zeit kürtzlich beschriben/ und fast in allem mit dem Alten Trojanischen Kriege vergliechen wirdt, 1632 (VD17 14:050030T).

SIEGRID WESTPHAL DEN FRIEDEN ERZÄHLEN IN ZEITEN DES KRIEGS

Den Frieden erzählen in Zeiten des Kriegs Karl Ludwig Woltmanns „Geschichte des Westphälischen Friedens“ (1808/09)

Selten habe sich ein geschichtliches Urteil „so völlig in sein Gegenteil verkehrt“, urteilte Fritz Dickmann in seinem Standardwerk über den Westfälischen Frieden aus dem Jahr 1959.1 Damit spielte er auf die wechselvolle Rezeptionsgeschichte des Westfälischen Friedens nach 1648 an. Die frühneuzeitlichen Zeitgenossen schätzten ihn als „wahres Weltwunder“ (Contarini), als den „groeste[n] und wichtigste[n] Frieden, welcher nicht nur jemahls in Deutschland, sondern auch in gantz Europa, ja […] in der gantzen Welt geschlossen worden sei“.2 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation mit dem Westfälischen Frieden als zentrales Reichsgrundgesetz wurde als Garant für ein friedliches Europa gesehen. Als Wendepunkt gilt die Zeit um 1800.3 Im Zuge des aufkommenden nationalistischen Denkens und der Formierung des deutschen Nationalstaats erfuhr der Westfälische Frieden im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine immer negativere Bewertung. Er wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts als nationales Unglück und Ausdruck der Fremdbestimmung Deutschlands durch europäische Mächte gesehen. Der Wandel von einer positiven Wertung des Westfälischen Friedens in der Frühen Neuzeit hin zur negativen Einschätzung in der Neuzeit spiegelt sich auch in der Publizistik wider. Besonderen Stellenwert besitzt in diesem Zusammenhang die zweibändige „Geschichte des Westphälischen Friedens“ von Karl Ludwig Woltmann aus den Jahren 1808/09, die zwar am Ende der frühneuzeitlichen Rezeptionsgeschichte des Westfälischen Friedens den Frieden neu erzählt, aber für rund 150 Jahre die letzte positive Würdigung des Westfälischen Friedens blieb.4 1 2

3 4

Fritz DICKMANN, Der Westfälische Frieden, Münster 71998, S. 3. Vgl. außerdem Siegrid WESTPHAL, Der Westfälische Frieden, München 2015. Johann Gottfried von MEIERN, Acta pacis Westphalicae publica oder Westphälische Friedens-Handlungen und Geschichte, 6 Teile, Hannover 1734–1736, T. 1, Widmung, Bl. 2v. DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 4. Karl Ludwig von WOLTMANN, Geschichte des Westphälischen Friedens, 2 Teile, Leipzig 1808/1809.

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Dieses bemerkenswerte Werk soll im Folgenden in die Rezeptionsgeschichte des Westfälischen Friedens in der Frühen Neuzeit eingeordnet und das Neue seiner Erzählweise des Friedens gezeigt werden. Dafür wird in zwei Schritten vorgegangen. Zunächst wird die Rezeptionsgeschichte des Westfälischen Friedens in der frühneuzeitlichen Publizistik bis Ende des 18. Jahrhunderts beleuchtet und damit gezeigt, auf welche Vorgängerwerke Woltmann zurückgreifen konnte. In einem zweiten Schritt wird Woltmanns Werk daraufhin untersucht, auf welche Weise er den Frieden neu erzählt und welche Zielsetzung er dabei verfolgt.

Die Rezeption des Westfälischen Friedens in der Frühen Neuzeit Da viele Informationen der eigentlich streng geheimen Verhandlungen bewusst oder unbewusst in die zeitgenössische Presse gelangten, gilt schon der Westfälische Frieden selbst als ein Medienereignis.5 Innerhalb weniger Monate nach Friedensschluss war der lateinische Vertragstext in rund 40.000 Exemplaren in Form von Flugschriften und in verschiedenen Übersetzungen in Umlauf.6 Allerdings scheint es sich dabei keinesfalls um zuverlässige Texte gehandelt zu haben, auch eine amtliche Ausgabe der Verträge unterblieb.7 Zeitungen, Flugschriften und andere gedruckte wie ungedruckte Informationen wurden kompiliert und zu chronikartigen Erzählungen zusammengestellt. Der Übergang von einer Quellensammlung zu einer Geschichtsdarstellung war dabei fließend. Das bekannteste Werk dieser Art ist das im Frankfurter Verlagshaus Matthäus Merian in 21 Quartbänden erschienene deutschsprachige „Theatrum Europaeum“ (1633–1738),8 das vor allem für das letzte Verhandlungsjahr 1648 ausführliche Nachrichten enthält, die vermutlich auf eine amtliche Quelle

5

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Stefan MAYER-GÜRR, „Die Hoffnung zum Frieden wird täglich besser.“ Der Westfälische Friedenskongress in den Medien seiner Zeit, Diss., Bonn 2007 (elektronisch publiziert auf dem Hochschulschriftenserver der ULB Bonn unter: http://hss.ulb.uni-bonn.de/2007/ 0994/0994.pdf [letzter Zugriff: 25.11.2018]). DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 500 f.; Konrad REPGEN, Der Westfälische Friede und die zeitgenössische Öffentlichkeit, in: Historisches Jahrbuch 117 (1997), S. 38–83; Johannes BURKHARDT, Die Entfesselung des Friedens. Für einen Aufbruch der historischen Friedensforschung, in: Inken SCHMIDT-VOGES u.a. (Hg.), Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 29–48, hier S. 39. DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 501. MAYER-GÜRR, Friedenskongress (wie Anm. 5), S. 165–167.

DEN FRIEDEN ERZÄHLEN IN ZEITEN DES KRIEGS

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zurückgehen.9 Auch Editionen wie Michael Kaspar Londorps „Acta Publica“ boten Einblicke in Urkunden des Friedenskongresses. Viele juristische Dokumentationen enthielten beide Vertragstexte und ermöglichten so deren Eingang in das gerade an den Universitäten etablierte Studium des Ius Publicum.10 Die Reichsjuristen fungierten vielfach auch als Historiker der Geschichte des Reiches, so dass staatsrechtliche und historische Interpretationen des Westfälischen Friedens kaum zu trennen sind.11 Da ein Teil der Regelungen des Vertragswerkes je nach Rechtsstandpunkt und konfessioneller Perspektive verschieden deutbar war, begann unmittelbar nach der Publikation der Materialien zudem die juristische Erläuterung der Vertragstexte.12 Ab 1700 richtete sich dabei das Interesse der Reichsjuristen über die Urkundentexte hinaus zunehmend auf die Verhandlungen und die in diesem Zusammenhang entstandenen Akten, um den Entstehungskontext der Friedensverträge zu untersuchen und strittige Interpretationen zu prüfen. Sie glaubten, „daß für die richtige Auslegung eines Textes der Rückgriff auf seine Entstehungsgeschichte unabdingbar sei“.13 Auf diese Weise meinten sie, die Intentionen der Verhandlungsführer erfassen und die eigene Auslegung des Urkundentextes besser begründen zu können. Die einzige zeitgenössische Darstellung, die von einem Gesandten und Verhandlungsführer der Friedensverhandlungen geschrieben wurde, ist das Werk „Arcana pacis Westfalicae“ von Adam Adami,14 dem Bevollmächtigen des Fürstabts von Corvey.15 Es erschien nach dem Tod des Verfassers 1698 zunächst anonym, wurde dann aber 1707 unter seinem Namen mit dem Titel „Relatio historica de pacificatione Osnabrugo-Monasteriensi“ herausgegeben.16

9 DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 503. 10 Antje OSCHMANN, Johann Gottfried von Meiern und die „Acta pacis Westphalicae publica“, in: Heinz DUCHHARDT (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 779–803, hier S. 782 f. 11 Konrad REPGEN, Der Westfälische Friede. Ereignis, Fest und Erinnerung, in: Franz BOSBACH/Christoph KAMPMANN (Hg.), Konrad Repgen, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, Paderborn 32015, S. 1053–1081, hier S. 1071. 12 Arno BUSCHMANN, Einleitung, in: DERS. (Hg.), Johann Stephan Pütter, Geist des Westphälischen Friedens nach dem innern Gehalte und wahren Zusammenhange der darin verhandelten Gegenstände historisch und systematisch dargestellt, Hildesheim u.a. 2010, S. V–XLV, hier S. XIII. 13 OSCHMANN, Johann Gottfried von Meiern (wie Anm. 10), S. 790. 14 Helmut LAHRKAMP, Adam Adami (1610–1663), in: Franz-Josef HEYEN (Hg.), Rheinische Lebensbilder, Bd. 15, Köln 1995, S. 81–99. 15 DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 200. 16 Alfred Georg WEIß, C. L. v. Woltmann, Diss. (masch.), Wien 1937, S. 104.

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Als die erste Monographie, die dezidiert die Geschichte des Westfälischen Friedens behandelte, gilt die „Historia Pacis Westphalicae“ des gothaischen Geheimen Rats Tobias Pfanner aus dem Jahr 1679.17 Großer Wertschätzung erfreute sich dann im 18. Jahrhundert das Werk „Vollständiger Discours über den Westphälischen Frieden“ des brandenburg-preußischen Geheimen Rats und Vertreters der hallischen Reichshistorie, Nicolaus Hieronymus Gundling, aus dem Jahr 1736. Zwar profitierte seiner Meinung nach jeder Reichsstand und jeder Untertan von dem Friedenswerk, da sich aber nach 1648 viele Auseinandersetzungen über die Auslegung ergeben hätten, wollte er den Studenten des Ius Publicum ein nützliches Grundlagenwerk an die Hand geben.18 Deshalb fügte er auch einen Abdruck des Osnabrücker Friedensinstruments mit deutscher Übersetzung bei. Fast zeitgleich zu Gundlings Werk erschienen nicht nur Carl Wilhelm Gärtners Quellensammlung „Westphälische Friedens-Cantzley“,19 sondern auch die „Acta Pacis Westfalicae“ des hannoverschen Hofrats und Archivars Johann Gottfried von Meiern in sechs Prachtfolianten.20 Er war der erste, der mit Hilfe systematischer Archivforschungen ein umfassendes Bild der Friedensverhandlungen zeichnen konnte.21 Nicht zuletzt deshalb besitzt sein Werk – unabhängig von manchem Fehler – bis heute Gültigkeit. In Reaktion auf die zeitgenössische Kritik an den bisherigen Quellensammlungen vertrat er den Anspruch, nicht nur die Dokumente im Original zu publizieren, sondern auch eine fortlaufende Erzählung der Verhandlungen des Westfälischen Friedenskongresses in Verbindung mit der Wiedergabe verschiedener Originaldokumente zu schreiben, „um auf diese Weise das Verständnis der Friedensverträge zu fördern“.22 Auch für ihn bildeten die seit 1648 entstandenen Streitigkeiten über die Auslegung der Friedensinstrumente den Ausgangspunkt, um seine Quellensammlung ins Werk zu setzen. Er glaubte, dass sich der eigentliche Sinn eines Gesetzes erst

17 DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 512. 18 Bernd SCHÖNEMANN, Die Rezeption des Westfälischen Friedens durch die deutsche Geschichtswissenschaft, in: DUCHHARDT (Hg.), Der Westfälische Friede (wie Anm. 10), S. 805–825, hier S. 807. 19 Claire GANTET, Der Westfälische Frieden, in: Étienne FRANÇOIS/Hagen SCHULZE (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 86–104, S. 95. 20 OSCHMANN, Johann Gottfried von Meiern (wie Anm. 10), S. 779; Bernd Mathias KREMER, Der Westfälische Friede und die staatsphilosophisch-politischen Toleranzbestrebungen im 18. Jahrhundert, in: Karl-Hermann KÄSTNER/Knut Wolfgang NÖRR/ Klaus SCHLAICH (Hg.), Festschrift für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 1999, S. 563–588, hier S. 563. 21 DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 508. 22 OSCHMANN, Johann Gottfried von Meiern (wie Anm. 10), S. 791.

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erschließe, „wann man von denen besondern Umständen, die selbiges veranlasset […] zu verfassen, ursache gegeben haben, genaue Kenntnis“ besitze.23 Um die Glaubwürdigkeit seines Werkes zu erhöhen, legte von Meiern offen, auf welche Quellenbestände er sich stützte. Er griff vor allem auf Archivmaterial unterschiedlicher Gesandter (Georg Achatius Heher, Abraham Keyser und Jakob Lampadius) zurück, zog aber auch die in seiner Zeit bekannten Werke über den Westfälischen Frieden von Tobias Pfanner und Adam Adami heran. Insbesondere Adami schien er sehr zu schätzen, dessen Werk er „als das beste Compendium“ der in seinen „Acta pacis“ verwendeten Akten bezeichnete.24 Nicht zuletzt deshalb hat er wohl 1737 Adamis „Relatio historica de pacificatione Osnabrugo-Monasteriensi“ erneut herausgegeben.25 Eine Herausforderung stellte es für von Meiern dar, die große Menge an Quellenmaterial zu ordnen und den historischen Stoff zu strukturieren. Mit zwei Problemen hatte er sich auseinanderzusetzen: „zum einen die Diskrepanz zwischen der zeitlichen Abfolge der Verhandlungen und dem inneren sachlichen Zusammenhang jedes einzelnen Verhandlungsproblems und zum anderen die ungleiche Bedeutung der verhandelten Gegenstände.“26 Das Besondere seiner Vorgehensweise besteht darin, dass er systematische und chronologische Vorgänge miteinander verband. Zunächst trennte er die weniger wichtigen (Miscellan-Materien) von den wichtigeren und lange verhandelten Materien. Letztere spielten für ihn eine zentrale Rolle, wobei er sich darum bemühte, deren Hauptaspekte zu bündeln und chronologisch anzuordnen, und zwar bis zu einem Punkt, wo er „vermeinet habe, daß ein jeder der es lieset, einsweils stehen bleiben, und von andern mittler Zeit gleichfalls vorgefallenen Dingen erkundigung einziehen könnte, ohne dadurch an dem Begriff des erstern gehindert zu werden“.27 Auf diese Weise ordnete er das historische Material in rund 50 Kapiteln an, in denen er die Hauptverhandlungsgegenstände eng entlang der Quellen beschrieb und durch Überleitungen miteinander verband. Stolz verwies er darauf, dass er die Geschichte des Westfälischen Friedens „lediglich aus Archivalischen, richtigen und unverwerfflichen Documenten“ entwickelt habe,28 ohne etwas an den Quellen zu ändern.29 Auch wurden in dem Registerband die beiden Friedensinstrumente erneut abgedruckt, allerdings auf einem quellenkritisch hohen Niveau.30 Nicht nur damit, sondern auch mit dem Gesamtwerk setzte er 23 24 25 26 27 28 29 30

MEIERN, Acta (wie Anm. 2), T. 1, Vorrede, S. 7. Ebd., S. 34. DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 581. OSCHMANN, Johann Gottfried von Meiern (wie Anm. 10), S. 797. MEIERN, Acta (wie Anm. 2), T. 1, S. 13. Ebd., S. 15. Ebd., S. 27. OSCHMANN, Johann Gottfried von Meiern (wie Anm. 10), S. 787.

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neue Maßstäbe. Alle nachfolgenden Arbeiten über den Westfälischen Frieden fußten auf seinen „Acta pacis Westphalicae“. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts zwar die aufklärerische Kritik an der Reichsverfassung mehrte und die Forderung nach einer Reform des Reiches lauter wurde, aber im öffentlichen Diskurs weder die Reichsverfassung noch der Westfälische Frieden grundsätzlich in Frage gestellt wurden.31 Die zwei prominentesten Reichspublizisten und Reichsstaatsrechtlehrer der Zeit gingen nochmals einen anderen Weg. Johann Jacob Moser veröffentlichte 1775/76 zwei Bände, in denen er bis dahin unbekannte Erläuterungen des Reichshofrats zur Auslegung des Westfälischen Friedens vorstellte.32 Als bedeutende Darstellung des Westfälischen Friedens in der Reichspublizistik gilt das Werk „Geist des Westphälischen Friedens“ des Göttinger Rechtsgelehrten Johann Stephan Pütter aus dem Jahr 1795. Es entstand zu einer Zeit, als das Reich durch die Französische Revolution und die Koalitionskriege in seinen Grundfesten existenziell erschüttert war. Das wird aber an keiner Stelle thematisiert, vielmehr erläutert Pütter systematisch die westfälischen Friedensverträge als Grundlage der Reichsverfassung. Dabei steht nicht die „Schilderung der historischen Abläufe […] im Vordergrund, sondern die systematische Darstellung des inneren Zusammenhangs der geschichtlichen Fakten“.33 Wichtiges Kriterium der Systematisierung der in den Friedensinstrumenten behandelten Gegenstände ist ihre Bedeutung für den Zustand des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Je nachhaltiger sie Wirkung für die Reichsverfassung entfalteten, desto wichtiger erschienen sie Pütter und wurden deshalb vorrangig von ihm behandelt. Bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation erschien 1804 noch die „Darstellung des Osnabrück- und Münsterischen oder sogenannten Westfälischen Friedens, nach der Ordnung der Artikel“ von Renatus Karl von Senckenberg. Dieses Werk ist bewusst als „Gegenstück“ zu Pütters Darstellung angelegt. Der Verfasser will nicht systematisch vorgehen, sondern sich an „die natürlichste Ordnung, nehmlich an die des Frieden’s-Instruments‘ selbst“ halten.34 Als Grundlage dient ihm das Osnabrücker Friedensinstrument, da es aus seiner Sicht das wichtigere für Deutschland war. Zunächst handelt er 31 Bernd Mathias KREMER, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung. Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses im Hl. Röm. Reich Deutscher Nation vom Konfessionellen Zeitalter bis ins späte 18. Jahrhundert, Tübingen 1989, S. 79. 32 Johann Jacob MOSER, Erläuterung des Westphälischen Friedens aus reichshofräthlichen Handlungen, 2 Teile, Frankfurt a. M./Leipzig 1775/76. 33 BUSCHMANN, Einleitung (wie Anm. 12), S. XXVII. 34 Renatus Karl von SENCKENBERG, Darstellung des Osnabrück- und Münsterischen oder sogenannten Westfälischen Friedens, nach der Ordnung der Artikel, Frankfurt a. M. 1804, S. IV.

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die in beiden Friedensinstrumenten gemeinsamen Paragraphen ab, danach die nur in einem der beiden Friedensinstrumente behandelten Gegenstände. Senckenberg glaubte auf diese Weise, die Zusammenhänge „auf eine vielleicht noch nie geschehene Art, zur Übersicht“ darzustellen. Senckenberg ist der letzte Verfasser, der den Westfälischen Frieden aus einer reichsstaatsrechtlichen Perspektive beleuchtet und als Grundlage der „teutschen Staatsverfassung“ preist.

Von der reichsstaatsrechtlichen Systematisierung zur historischen Erzählung Das erste Werk, das den Westfälischen Frieden nicht aus einer reichsstaatsrechtlichen Perspektive behandelt, sondern die Dynamiken der Friedensverhandlungen, die Persönlichkeit der Gesandten und ihr individuelles Handeln in das Zentrum rückt und sich dabei einer neuen historischen Erzählweise bedient, ist die zweibändige „Geschichte des Westphälischen Friedens“ von Karl Ludwig Woltmann aus den Jahren 1808/09. Es gilt als Fortsetzung von Schillers 1790 bis 1792 erschienenen „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“. Zwar schätzte Schiller den Westfälischen Frieden noch als „Riesenwerk“, aber sein Interesse hatte sich von der Lobpreisung des Friedens auf die Geschichte des Krieges und die menschliche Dimension der Protagonisten verlagert.35 Nichtsdestotrotz endet sein Werk mit dem ausführlichen Hinweis darauf, wie mühsam es gewesen sein muss, diesen „berühmten, unverletzlichen und heiligen Frieden zu schließen“.36 Alle damit zusammenhängenden Ereignisse, der Inhalt des Friedens und „was durch dreyßigjährige Anstrengung und Leiden von jedem einzelnen Kämpfer gewonnen oder verloren worden ist, und welchen Vortheil oder Nachtheil die Europäische Gesellschaft im Großen und Ganzen dabey mag geärntet haben – muß einer andern Feder und einem schicklichern Platze vorbehalten bleiben“. Genau wie der Krieg, so sei auch die Geschichte des Westfälischen Friedens „ein großes und eignes Ganzes“.37 Schiller hat sich dieses Themas nicht mehr angenommen. Dazu berufen fühlte sich jedoch sein Nachfolger auf der Jenaer Professur für Universalgeschichte (1794–1797), der Historiker, Schriftsteller und Diplomat Karl Ludwig Woltmann.38 Er wurde am 9. Februar 1770 in Oldenburg als Sohn des in den 35 GANTET, Westfälische Frieden (wie Anm. 19), S. 96 f. 36 Friedrich SCHILLER, Geschichte des dreyßigjährigen Kriegs, Frankfurt a. M./Leipzig 1792, S. 486. 37 Ebd. 38 GANTET, Westfälische Frieden (wie Anm. 19), S. 97; SCHÖNEMANN, Rezeption (wie Anm. 18), S. 807.

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Diensten des dänischen Statthalters stehenden Sekretärs, Johann Woltmann, und dessen Frau Karoline Dorothea geboren.39 Nach den Schuljahren in Oldenburg, in denen er schon erste literarische Versuche unternahm, studierte Karl Ludwig Woltmann in Göttingen Jura. Er schloss das Jurastudium jedoch nicht ab, sondern wandte sich seinem eigentlichen Interesse zu, nämlich der Geschichtsschreibung, die für ihn „Dichtung in einem reinen Sinne“ und Kunstwerk darstellte.40 Beeinflusst wurde er dabei durch Friedrich Schillers historische Werke, durch Ansätze zur Neukonzeption der Universalgeschichte in Göttingen von Johann Christoph Gatterer und August Ludwig Schlözer sowie durch die Lektüre des Tacitus, die ihn zur Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte inspirierte.41 Von den Göttinger Wissenschaftlern beeindruckten ihn vor allem Ludwig Timotheus Spittler und Gottfried August Bürger. Durch Spittlers Hilfe erhielt er 1794 einen Ruf als außerordentlicher Professor der Philosophie nach Jena, wo er Friedrich Schillers Geschichtsvorlesungen übernehmen und ihn bei seiner Herausgebertätigkeit entlasten sollte. Dort verkehrte er mit allen Geistesgrößen, lehrte Geschichte, verfasste historische und literarische Werke und formulierte ebenfalls Überlegungen zur Konzeption von Universalgeschichte, die aber nicht immer überzeugten.42 Nach mehreren Erkrankungen kehrte er 1797 nach Oldenburg zurück, ging dann 1800 nach Berlin, wo er nicht nur als Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift für Geschichte und Politik (1800–1805) tätig war, sondern auch als Resident des Landgrafen von Hessen-Homburg am Berliner Hof wirkte. Kurz darauf übernahm er in Berlin zudem die Vertretung der Hanse- und Reichsstadt Bremen, der Reichsstadt Nürnberg, des Kurerzkanzlers sowie zwei weiterer Hansestädte. 1805 wurde er in den Adelsstand erhoben.43 Obwohl er Napoleon verehrte, trat er nach dem im Zuge der Napoleonischen Kriege erfolgten Verlust seiner diplomatischen Ämter am Berliner Hof nicht in französische Dienste, sondern floh vor den 39 Paul RAABE, Der junge Karl Ludwig Woltmann. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte, in: Oldenburger Jahrbuch 54 (1954), T. 1, S. 7–82, hier S. 10. 40 Ebd., S. 20. 41 Ebd.; Christina RANDIG, „weil es den Geschichtsschreibern an Phantasie fehlt.“ Karl Ludwig Woltmann – ein Geschichtsschreiber an der Wende zum 19. Jahrhundert und seine Gedanken zur Historiographie, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 33 (2009), H. 1, S. 42–59. 42 Fritz HEUER, Spuren der Universalgeschichte in Schillers Jenaer Umkreis: Der Fall von Karl Ludewig Woltmann, in: Friedrich STRACK (Hg.), Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, Stuttgart 1994, S. 132–155, hier S. 141–143. 43 Max MENDHEIM, Woltmann, Karl Ludwig von, in: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898), S. 188–190 (Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd117435007. html [letzter Zugriff: 8.1.2019]).

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französischen Heeren zunächst nach Breslau und 1813 dann nach Prag, wo er am 19. Juni 1817 auch verstarb. Während seiner gesamten diplomatischen Tätigkeit verfasste er weiterhin Geschichtswerke, von denen vor allem die dreibändige „Geschichte der Reformation in Deutschland“ (1800–1805) sowie die zweibändige „Geschichte des Westphälischen Friedens“ (1808–1809) hervorzuheben sind. Seiner Meinung nach stellte letzteres sein gelungenstes Werk dar,44 auch wenn er darüber verärgert war, dass es „ohne sein Wissen als eine Fortsetzung der Geschichte des dreißigjährigen Krieges von Schiller herausgegeben ward, mit welcher sie in Hinsicht auf Styl, Composition, Quellenstudium nicht die fernste Aehnlichkeit hat“.45 Trotz dieser Selbsteinschätzung wird Woltmann bis in die Gegenwart als selbsternannter Nachfolger („self-styled successor“) Schillers gesehen.46 In der Tat verfolgte Woltmann mit seinen Geschichtserzählungen, die „weder strenge Wissenschaft noch eigentliche Dichtung waren“, eine ähnliche Zielsetzung wie Friedrich Schiller.47 Schiller entwickelte seine Vorstellungen von Geschichtsschreibung in einer Zeit, in der sich die traditionelle Geschichtsschreibung in einer Krise befand und sich aufklärerischer Kritik stellen musste.48 Im Wesentlichen drehte es sich um die Fragen, welchen Sinn und Nutzen Geschichtsschreibung haben sollte, welche entscheidenden Faktoren Geschichte bestimmten und wie Geschichte geschrieben werden sollte. Eine die bloßen Fakten wiedergebende und die Quellen lediglich referierende und zusammenfassende Geschichtsschreibung wurde abgelehnt. Vielmehr sollte nach einer tieferliegenden geschichtlichen Erkenntnis gesucht werden, die gleichsam als Leitfaden dienen, den historischen Stoff ordnen und sinnstiftend wirken sollte. Gleichzeitig wurde jedoch auch die anschauliche Vermittlung bzw. das Darstellungsprinzip der Evidenz eingefordert. Nicht zuletzt deshalb sollten die Akteure stärker in den Fokus gerückt werden. Es galt, ihre inneren Charakterzüge und leitenden Grundsätze offenzulegen, ihr Handeln nachvollziehbar zu machen und in den Gesamtzusammen44 RANDIG, Woltmann (wie Anm. 41), S. 43, Anm. 8. 45 Karl Ludwig von WOLTMANN, Selbstbiographie, in: Karoline von WOLTMANN (Hg.), Karl Ludwig von Woltmann’s sämmtliche Werke, Bd. 1,1, Leipzig 1818, S. 78. 46 Florian KROBB, „daß der verewigte Schiller sein genialisches Werk nicht fortsetzte“. The „Continuations“ of Schiller’s Historical Works by Karl Curths and Karl Ludwig von Woltmann, in: DERS./Hans-Walter SCHMIDT-HANNISA (Hg.), Schiller – On the Threshold of Modernity, Konstanz 2006, S. 53–66, hier S. 59. 47 RAABE, Karl Ludwig Woltmann (wie Anm. 39), S. 20. 48 Johannes SÜSSMANN, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000. Vgl. außerdem Daniel FULDA, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin 1996.

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hang einzuordnen. Der Leser sollte sich mit ihnen identifizieren und aus dem historischen Stoff Handlungsanweisungen für die Gegenwart und Zukunft ziehen können. Eine Antwort auf diese Herausforderungen fand Friedrich Schiller in seinem Werk „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ aus dem Jahr 1788. Er gilt damit als Neubegründer der Geschichtsschreibung, die sich durch die „Durchdringung von dramatischer Erzählung und wissenschaftlicher Akribie“ auszeichnete.49 Zwar arbeitete auch Friedrich Schiller auf der Basis umfangreicher Quellenrecherchen, aber dort, wo er an die Grenzen der Aussagekraft der Quellen stieß, ließ er die Einbildungskraft walten, die jedoch der Rekonstruktion des Geschehenen verpflichtet bleiben sollte. Es ging ihm um die Suche nach der wahren Gestalt der Begebenheiten, die erst hervorgebracht werden musste. Dabei sollten die Quellen das Gerüst bilden, der Geschichtsschreiber aber mit Hilfe seiner Einbildungskraft den historischen Begebenheiten eine neue Gestalt geben und zur Anschauung verhelfen. Dafür war die Logik der narrativen Verknüpfung, das Erzählen, notwendig.50 Damit fanden poetische und rhetorische Verfahren Eingang in die Geschichtsschreibung. Durch deren Ausrichtung auf ein breiteres Publikum ging es zudem auch immer um die Frage der Vergegenwärtigung des historischen Stoffes, die geboten schien, um die Diskrepanz zwischen der historischen Lebenswelt und der des Lesers zu überwinden. Woltmanns Geschichtsschreibung ist Schillers von der Aufklärung beeinflussten Prinzipien voll und ganz verpflichtet. Geschichte will er nicht als „planloses Aggregat menschlicher Handlungen“, sondern als System darstellen, das einer Leitidee folgt. Ihm ging es um „die Entwicklung der Menschheit als Fortschreiten in eine Zukunft der Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft“,51 was typisch für die Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärung war. Die allmähliche Vervollkommnung der Staatenverhältnisse und ihre Veränderungen sollten als das organisierende Prinzip der Menschheitsgeschichte fungieren. Kriege und Zerstörung waren in diesem Sinne ein weiterer Schritt, der die Menschen ihrer Vervollkommnung näher brachte. So deutete Schiller den Dreißigjährigen Krieg als Katharsis für die europäische Staatenwelt, deren Stabilität bis in seine Gegenwart durch die kollektive Erinnerung an die Schrecken des Krieges und den Westfälischen Frieden gesichert schien.52 Diese Gewissheit hatte Woltmann nicht mehr. Vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege sah er im Westfälischen Frieden zwar noch „eine Veste für das politische System Europa’s, 49 50 51 52

SÜSSMANN, Geschichtsschreibung (wie Anm. 48), S. 75. Ebd., S. 79 u. 84. RANDIG, Woltmann (wie Anm. 41), S. 46. KROBB, Schiller (wie Anm. 46), S. 58 f.

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insonderheit des inneren Deutschlands“, die aber „in unsern Tagen ganz zu versinken drohet“.53 Woltmann glaubte wie Schiller, dass man aus der Geschichte Lehren für die Gegenwart ziehen könne, ja die Vergangenheit die Zukunft sogar präfigurierte. Wie Schiller plädierte Woltmann dafür, die Phantasie bzw. Einbildungskraft im Sinne des Stiftens von Zusammenhängen walten zu lassen, ohne die Empirie zu vernachlässigen. Auch er verband poetische und rhetorische Verfahrensweisen, um im didaktischen Sinne „dem Leser eine distanzlose Sicht der Dinge zu ermöglichen“ und dort, „wo die Quellen Grenzen setzten“, Überbrückungen und Zusammenhänge herzustellen.54 In seiner Vorrede zur „Geschichte des Westphälischen Friedens“, die dem zweiten Teil des Werkes vorangestellt ist, legt er seine konkreten Anliegen offen. Er will aus der Masse der Akten die Punkte hervorheben, aus denen das „Gewebe“ der Friedensverhandlungen gewirkt wurde. Ihn interessieren dabei die Entstehung, die Entwicklung und die Verwicklungen, in die er Klarheit bringen will. Ganz im Sinne der neuen Erzählweise von Geschichte möchte er für die Akteure Anteilnahme wecken, „um für die Sache, die betrieben wird, die Theilnahme zu erhöhn“. Ziel war es für ihn, eine Darstellung zu erschaffen, „die befeuert und immer lebendig erhält: das ist die Pflicht bei dem Geschichtschreiber der Westphälischen Friedenshandlung“.55 Nicht nur in dieser Hinsicht, sondern auch in der Struktur des Werkes unterscheidet sich Woltmann von allen seinen Vorgängern. Er ordnet die Verhandlungsgegenstände in acht Büchern nach dem Zeitpunkt ihrer Verhandlung an. Diejenigen, die am frühesten erledigt wurden, waren für ihn diejenigen, die am wichtigsten waren und damit den Geist der Verhandlungen bestimmten.56 Auch wenn Pütter an dieser Stelle nicht genannt wird, so nimmt Woltmann hier doch durch die Verwendung des Wortes Geist eindeutig Bezug auf ihn. Woltmann thematisiert auch den Nachteil seiner Vorgehensweise, nämlich dass auf diese Weise die Gleichzeitigkeit der Ereignisse aus dem Blick gerät. Er meint aber dies dadurch ausgleichen zu können, dass er gerade in den späteren Büchern immer wieder andeuten könne, welche Verhandlungsgegenstände parallel verhandelt wurden. Woltmann legt im Vorwort auch die Inhalte der einzelnen Bände dar und versucht, die Leser auf einer emotionalen Ebene dafür zu begeistern, wobei er insbesondere auf die Charaktere der handelnden Personen verweist. Typisch ist für ihn in diesem Zusammenhang, dass er emotionalisierende

53 54 55 56

WOLTMANN, Geschichte (wie Anm. 4), T. 2, Vorwort, S. VI. RANDIG, Woltmann (wie Anm. 41), S. 52, vgl. ebd., S. 51. WOLTMANN, Geschichte (wie Anm. 4), T. 2, Vorwort, S. VII. Vgl. ebd., S. X.

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Adjektive verwendet und Eigenschaften ethnotypisch zuordnet.57 Da für Woltmann – wie für die Historiker seiner Zeit – Geschichte als fortschreitender Prozess galt, der zur Vervollkommnung der Menschen und der Staatenwelt führen sollte, war auch seine Geschichte des Westfälischen Friedens nicht abgeschlossen. Die Umsetzung und die Wirkungsgeschichte sollten erst dann mitgeteilt werden, „wenn dieses Buch in unsern eisernen Tagen Leser gefunden haben wird, die ruhig genug waren, um sich durch den leisen Geist der Historie zu belehren“.58 Im Unterschied zur reichsstaatsrechtlichen Literatur legt Woltmann im Vorwort nicht offen, auf welche Quellen er sich stützt. Ihm geht es auch nicht um die wortgetreue Wiedergabe der Dokumente, sondern um die Dynamiken der Verhandlungen, die er in einer Erzählung entwickelt. Woltmann verweist jedoch auf ein Werk, das zu seiner Zeit sehr populär war, nämlich die mehrbändige „Geschichte der Deutschen“ von Michael Ignaz Schmidt.59 Er erhebt die Kritik an ihm zu einem wissenschaftlichen Prinzip, mit Hilfe dessen er zeigen will, „wie in Deutschland sich so viele historische Schriftsteller mit dem Lobe der Gründlichkeit begrüßen, die ihre Nachläßigkeiten hinter der geistlosen Trockenheit bergen“.60 Damit grenzt er sich klar von seinen Vorgängern ab, denen er Begeisterungsfähigkeit abspricht. Aus den Fußnoten, die er immer wieder in den zwei Bänden setzt, geht hervor, dass seine Quellengrundlage recht schmal ist. Bei der Beschreibung der französischen Verhandlungspolitik stützt er sich fast ausschließlich auf die bekannte französische Quellensammlung „Négociations secrètes“.61 Bei der Schilderung der Reichsperspektive greift er vor allem auf Meierns „Acta pacis“ sowie Adamis „Relatio“ zurück. In diesem Zusammenhang ist es ihm wichtig, seine konfessionelle Unparteilichkeit zu postulieren und seiner Zuversicht Ausdruck zu verleihen, dass die Einheit der christlichen Kirche nicht mehr fern sei. Voraussetzung dafür ist seiner Meinung nach, dass nach dem Ende des feudalen Zeitalters im Zuge der napoleonischen Kriege überall in der Christenheit wahrhafte Nationen entstehen.62 In dieser Hinsicht unterscheidet sich Woltmann von Schiller. Für ihn spielte der Gedanke der nationalen Identitätsstiftung als zentrale Aufgabe der Geschichtserzählung eine große Rolle. Existierte bei Schiller noch das Heilige Römische Reich deutscher Nation als politischer Bezugsrahmen, so war dieses 57 58 59 60 61

RANDIG, Woltmann (wie Anm. 41), S. 56. WOLTMANN, Geschichte (wie Anm. 4), T. 2, Vorwort, S. XV. Michael Ignaz SCHMIDT, Geschichte der Deutschen, Ulm 1778–1808. WOLTMANN, Geschichte (wie Anm. 4), T. 2, Vorwort, S. XVIII. Négociations secrètes touchant la paix de Munster et d’Osnabrug 1642–48, 4 Bde., La Haye 1725/26. Vgl. außerdem DICKMANN, Westfälische Frieden (wie Anm. 1), S. 505 f. 62 WOLTMANN, Geschichte (wie Anm. 4), T. 2, Vorwort, S. XX.

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in der Zeit als Woltmann seine „Geschichte des Westphälischen Friedens“ schrieb, bereits untergegangen. In den Zeiten der Napoleonischen Kriege wollte er seinen Zeitgenossen Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen, indem er sie zur nationalen Einheit aufrief. „Tiefe Liebe für die Deutsche Nation“ sei es, die er in seinem Werk nicht verbergen könne.63 Zwei Dinge sieht er für die deutsche Nation als konstituierend an: „ihre herrliche, unendlicher Vervollkommnung fähige Sprache, und ihr universelles Genie“. Es war seiner Meinung nach die Leistung der Schriftsteller, und nicht der Fürsten, dass „dieses einzige Nationalgut der Deutschen […] gerettet wurde“.64 Daraus leitete sich für ihn seine Aufgabe ab, den nationalen Gemeinsinn auch künftig zu stärken und die nationale Einheit als Zielvorstellung zu propagieren. Nicht zuletzt deshalb legte Woltmann die Erzählinstanz „auf einen eindeutigen Standort“ fest, um das Urteil des Lesers mit Hilfe narrativer Strategien und rhetorischer Verfahren, die er bereits in anderen Geschichtswerken erprobt hatte,65 zu lenken und ihn zu überzeugen. Woltmann distanziert sich dabei nicht vom Leser, sondern stellt sich durch die Verwendung von „wir“ bzw. „unser“ als Teil der betroffenen Allgemeinheit dar. Die Leitvorstellung von der herzustellenden nationalen Einheit zieht sich wie ein roter Faden durch die Schilderung der Westfälischen Friedensverhandlungen, der dort praktizierten Manöver, Taktiken und Intrigen sowie Rivalitäten zwischen den Gesandten.66 Der Leser soll daraus die Lehre ziehen, dass es das Ziel der auswärtigen Mächte gewesen sei, Deutschland „in Vielherrschaft zu zerstückeln“.67 Dabei hätten sie leichtes Spiel gehabt, da der Kaiser und die Reichsstände in ihrer Politik gegen die auswärtigen Mächte uneins gewesen seien. Dementsprechend erscheint der kaiserliche Gesandte, Maximilian Graf von Trauttmansdorff, der die entscheidenden Bestimmungen der Friedensverträge aushandelte, als derjenige, der nicht nur den Frieden stiftete, sondern auch den Kaiser und die Reichsstände miteinander versöhnte und damit die nationale Eintracht wiederherstellte. In seinem Vorwort warnt Woltmann jedoch davor, seine Darstellung der Friedensverhandlungen als antifranzösisches Werk zu lesen.68 Vielmehr sieht er in seiner Verehrung Napoleons keinen Widerspruch zum Wunsch nach Einheit Deutschlands, denn aus seiner Sicht ist Napoleon „the true harbinger of a comprehensive Friedensordnung in a Europe of nation 63 Ebd. 64 Ebd., S. XXI. 65 RANDIG, Woltmann (wie Anm. 41), S. 52–58, hier S. 58. Randig analysiert Woltmanns Biographie „Kaiser Otto der Dritte“ aus dem Jahr 1792. 66 KROBB, Schiller (wie Anm. 46), S. 62 f. 67 WOLTMANN, Geschichte (wie Anm. 4), T. 1, S. 6. Vgl. auch KROBB, Schiller (wie Anm. 46), S. 62. 68 WOLTMANN, Geschichte (wie Anm. 4), T. 2, S. XXI f.

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states“.69 Dort wo er gewirkt habe, seien „Nationalmassen entstanden“.70 Im Sinne des historischen Fortschrittdenkens sieht Woltmann in den Napoleonischen Kriegen einen nötigen Schritt hin zur Vervollkommnung der Staatenwelt und der Menschheit, deren Ziel für ihn nur die nationale Einheit sein kann.

Fazit Soweit zu ersehen ist, hat Woltmanns „Geschichte des Westphälischen Friedens“ zu seiner Zeit kaum Resonanz erfahren. Zwar entsprachen die nationale Ausrichtung des historischen Stoffes und seine Erzählform den neuen Anforderungen an Geschichtsschreibung, aber der Gegenstand – der Westfälische Frieden – hatte seinen politischen Bezugsrahmen verloren und eignete sich nicht mehr als anschauliches Beispiel zur Vermittlung gegenwartsbezogener Lehren. Im Zuge des aufkommenden nationalistischen Denkens verkehrte sich das einst so positive Urteil über den Westfälischen Frieden und seine Bedeutung für die Reichsverfassung in sein Gegenteil. In bewusster Verkennung der Quellen und der geschichtlichen Entwicklung machten ihn die Historiker des 19. Jahrhunderts für die vermeintliche äußere Schwäche, die innere Zerrissenheit und die Fremdbestimmung des Reiches durch auswärtige Mächte, insbesondere durch den „Erbfeind“ Frankreich verantwortlich. In dieser Lesart schlug sich ein Geschichtsbewusstsein nieder, das im Sinne eines spezifischen Kontinuitätsdenkens den Westfälischen Frieden als Vorgeschichte der Gegenwart begriff. Er wurde jetzt nicht nur als nationale Schmach und Schande gesehen, sondern diente auch in negativer Abgrenzung als „Legitimationsressource“ der werdenden Nation.71 Nach dieser Lesart hatte mit 1648 eine Niedergangsgeschichte der deutschen Nation begonnen, die erst mit dem nationalen Aufbruch überwunden werden sollte. An dieser Lesart änderte sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts. Erst veränderte politische Rahmenbedingungen führten zur Neubewertung des Westfälischen Friedens, der in der Gegenwart als Denkmodell reaktiviert wurde.72

69 KROBB, Schiller (wie Anm. 46), S. 63. 70 WOLTMANN, Geschichte (wie Anm. 4), T. 2, S. XXIV. 71 Hilmar SACK, Der Krieg in den Köpfen. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der deutschen Krisenerfahrung zwischen Julirevolution und deutschem Krieg, Berlin 2008, S. 85. 72 Patrick MILTON/Elisabeth von HAMMERSTEIN, Reinventing ‚Westphalia‘. Historical Lessons for a Future Peace in the Middle East, Hamburg 2017.

STEFAN GERBER „ABER WO UND WER SIND SIE?“

„Aber wo und wer sind sie?“ Die „127 Katholiken von Dresden“ und die mediale Inszenierung konfessioneller Dissidenz im Sachsen des 19. Jahrhunderts

Als 1831 in Leipzig die umfängliche Sammlung „Die grosse Einheit der CXXVII antirömischen Katholiken in Dresden“ erschien,1 zeigte sich der Rezensent der u. a. von dem Leipziger Philosophen Wilhelm Traugott Krug herausgegebenen Leipziger Literatur Zeitung unzufrieden: „Diese Schrift“, so hieß es hier Anfang 1832, habe „uns weniger angesprochen, als es ihrem Titel nach eigentlich seyn sollte“.2 Die Richtung dieser enttäuschten Erwartung musste jedem kundigen Leser des Rezensionsorgans klar sein, hatte sich Krug3 doch schon seit dem Ende der Napoleonischen Ära als Kritiker des konsolidierten Papsttums und seiner vermeintlichen Übergriffe auf protestantische Staaten, als Promotor der von seinem Leipziger theologischen Kollegen Heinrich Gottlieb Tzschirner verbreiteten Auffassung einer Unvereinbarkeit von Katholizismus

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Vgl. Die grosse Einheit der CXXVII antirömischen Katholiken in Dresden oder: Die neu anhebende rein-katholisch-christliche Kirche im Lande Sachsen. Ein Wort zur gegenseitigen geistigen Vervollkommnung in Lehre und That und zur allseitigen Entfesselung von Rom, Leipzig 1831. Leipziger Literatur-Zeitung, 23. Stück vom 27.1.1832, Sp. 183. Vgl. zu Krug: Adolf KEMPER, Gesunder Menschenverstand und transzendentaler Synthetismus. W. T. Krug, Philosoph zwischen Aufklärung und Idealismus, Münster 1988. Zu Krugs Protestantismustheorie vgl. Friedrich Wilhelm GRAF, Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, Gütersloh 1987, S. 39, 76, wo Graf Krug als exemplarischen Theoretiker eines „protestantischen Frühliberalismus“ vorstellt. Zur Entwicklung der politischen und pastoraltheologischen Implikationen von Krugs Protestantismustheorie in Auseinandersetzung mit Adam Müller vgl. Ruth CONRAD, Kirchenbild und Predigtziel. Eine problemgeschichtliche Studie zu ekklesiologischen Dimensionen der Homiletik, Tübingen 2012, S. 101–127. Zu Krugs Antijesuitismus vgl. Stefan GERBER, „Jesuitische Umtriebe“. Tradition und Aktualität eines konfessionellen Topos im Sachsen des 19. Jahrhunderts, in: Ulrich ROSSEAUX/Gerhard POPPE (Hg.), Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, Münster 2012, S. 251–272.

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und moderner, konstitutioneller Staatlichkeit4 und als eine – auch gegen verschwörungstheoretische Argumentationsmuster nicht immune – weithin hörbare Stimme des Antijesuitismus profiliert.5 Nun aber, 1832, war im Blick auf die „127 antirömischen Katholiken in Dresden“ zu konstatieren: Was sie eigentlich wollten und wie ihre von Rom emanzipierte christliche Gemeinde aussehen solle, bleibe in den gebotenen Texten vage, die zudem fast alle zuvor bereits im Dresdner Anzeiger veröffentlich worden seien – dem Blatt des Dresdner Verlegers und Buchhändlers Johann Christoph Arnold, das im Sachsen der 1830er und 1840er Jahre zu einem Sprachrohr gemäßigt-kritischer Stimmen wurde. Der Rezensent hätte noch den aufschlussreichen Umstand hinzufügen können, dass die Texte zudem auch schon in der dezidiert und polemisch antirömischen katholisch-dissidenten Zeitschrift Der Canonische Wächter des Publizisten Alexander Müller abgedruckt worden waren, auf den noch zurückzukommen sein wird.6 Müller war auch der Autor der besprochenen Schrift. Wenn der Rezensent der Leipziger Literatur Zeitung – womöglich Krug selbst – am Ende der Besprechung forderte: „Mögen diese 127 Katholiken sich öfter frey und rücksichtslos aussprechen, herabsteigend zum Kreise des verlassenen Volkes, und allmälig ein grösseres Band um Deutschland schlingen zur endlichen Emancipation von den Fesseln Roms!“7 war damit das Grundproblem beim Blick auf die „127 Dresdner Katholiken“ von 1830 berührt, die Gegenstand des folgenden Beitrages sind: Die Schwierigkeit, diese Gruppe zu greifen, namhaft zu machen, in ihren Intentionen und Wirkungen zu fassen – eine Schwierigkeit, die beim historischen Betrachter Zweifel aufkommen lässt, ob die Frage nach der Konkretion und stärkeren Organisation dieser Gruppe, die der Rezensent von 1832 sympa4

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Vgl. v.a. Heinrich Gottlieb TZSCHIRNER, Protestantismus und Katholicismus aus dem Standpuncte der Politik betrachtet, Leipzig 21822; DERS., Das Reactionssystem, dargestellt und geprüft, Leipzig 1824. Vgl. v.a. Wilhelm Traugott KRUG, Darstellung des Unwesens der Proselytenmacherei durch eine merkwürdige Bekehrungsgeschichte. Der Hohen Deutschen Bundesversammlung ehrerbietigst zugeeignet, Leipzig 1822; DERS., Die Kirchenverbesserung und die Gefahren des Protestantismus. Zur Vorfeier des Reformazionsfestes und als Anhang zur Pisteologie herausgegeben, Leipzig 1826; DERS., Die geistlichen Umtriebe und Umgriffe im Königreiche Sachsen und in dessen Nachbarschaft, in: Krug’s gesammelte Schriften, Zweiter Band. Erste Abtheilung: Theologische Schriften, Zweiter Band, Braunschweig 1830, S. 271–299. Zu Müller vgl. Karl NEIMES, Alexander Müller (1784–1844). Kirchenrechtliche Positionen eines „protestantischen Katholiken“, Münster 2010. Zu Müller und den Vorgängen um die Zeitschrift vgl. zeitgenössisch Friedrich BÜLAU, Geschichte des sächsischen Staates und Volkes von Dr. C. Gretschel fortgesetzt, Bd. 3, Leipzig 1853, S. 700 f.; Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur. In vier Bänden, Bd. 3, Leipzig 1833, S. 185. Leipziger Literatur-Zeitung, 23. Stück vom 27.1.1832, Sp. 184.

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thetisch stellte, die richtige Frage ist, oder ob wir es nicht mit einem Phänomen ganz anderer Art zu tun haben. Ausgangspunkt der Diskussion um die „127 Katholiken“ war eine individuelle Demonstration am Abend des 31. Oktober 1830 gewesen, als in Dresden, wie überall im protestantischen Deutschland, das Reformationsgedenken begangen wurde, das in jenem Jahr durch das schon im Sommer gefeierte 300. Jubiläum der Augsburgischen Konfession eine besondere Note erhielt.8 Diese Feier – daran kann an dieser Stelle nur mit ganz knappen Bemerkungen erinnert werden – stand in Sachsen natürlich im Zusammenhang des Revolutionsgeschehens von 1830, das bereits im September zu Unruhen und Zusammenstößen von Studenten, Handwerkern, Bürgerschaft, Polizei und kommunalen Obrigkeiten besonders in Leipzig und Dresden, aber auch in anderen Städten des Landes geführt hatte.9 In Leipzig hatte sich die Spannung schon ein erstes Mal in Auseinandersetzungen um die Feier des Confessio-AugustanaJubiläums und die universitäre Disziplin im Juni entladen.10 Besonders in Dresden waren die ebenfalls schon im Juni erstmals aufflammenden Konflikte – und dies war ein bedeutendes Moment der 1830er Bewegung in Sachsen – trotz der noch immer verschwindend geringen Anzahl von Katholiken in der Residenz und im ganzen Land durch ein dezidiert konfessionelles Moment geprägt.11 Dafür war nicht nur die allgemein zu konstatierende Tatsache verantwortlich, dass die katholische Konfession des Königshauses ungeachtet des etablierten modus vivendi in weiten Teilen der bürgerlichen Mittelschichten und natürlich der 8

Vgl. u.a. Lutz WINKLER, Martin Luther als Bürger und Patriot. Das Reformationsjubiläum von 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes, Lübeck 1969; Wichmann von MEDING, Kirchenverbesserung – Die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817, Bielefeld 1987. Mit regionalem Schwerpunkt im mitteldeutschen Raum u.a. Wolfgang FLÜGEL, Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830, Leipzig 2005; Stefan GERBER, Konfession und Nation im „Ereignis Weimar-Jena“. Die Feiern zum 300. Reformationsjubiläum 1817, in: Lars DEILE/Johanna SÄNGER (Hg.), Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800, Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 74–110; Alexander KRÜNES, Luther als Vorkämpfer der Aufklärung? Die Reformation als Bestandteil volksaufklärerischer Publizistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 65 (2011), S. 157–180. 9 Vgl. zur Revolution in Sachsen Michael HAMMER, Volksbewegung und Obrigkeiten. Revolution in Sachsen 1830/31, Köln/Weimar/Wien 1997. 10 Vgl. ebd., S. 123–146; Hartmut ZWAHR, Im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft. Von der Universitätsreform bis zur Reichsgründung 1830/31–1871, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, hg. im Auftrag des Rektors der Universität Leipzig von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 2: Das neunzehnte Jahrhundert 1830/31–1909, Leipzig 2010, S. 19–547, hier S. 48–89. 11 HAMMER, Volksbewegung (wie Anm. 9), S. 147–156.

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Landeskirche stets als Herausforderung empfunden worden war.12 Es war vor allem die schon in der Rheinbundzeit durch die Forderungen Napoleons im Posener Frieden in Gang gekommene, nach 1815 fortgesetzte Emanzipation der sächsischen Katholiken, die eine in den folgenden Jahrzehnten stets latente konfessionelle Spannungs- und Konfliktlage schuf: Sie eskalierte bezeichnenderweise, als im Sachsen der 1820er Jahre der politische und konstitutionelle Reformstau spürbarer wurde. In Dresden hatte – es kann auch hier nur summarisch darauf verwiesen werden – die Veröffentlichung der Ausschreibung des Heiligen Jahres 1825 durch Papst Leo XII., durch den sich protestantische Stadtbürger als „Ketzer“ und „Häretiker“ gebrandmarkt sahen, nicht nur Petitionen an Stadtrat und König zur Folge gehabt, sondern auch publizistische Auseinandersetzungen ausgelöst, deren Breite und Heftigkeit in einer Vielzahl von Flugschriften und Broschüren das Konfliktpotenzial verdeutlichten.13 Sie ließen erahnen, dass allgemeine politische Unzufriedenheit und oftmals noch nicht explizit ausgesprochene Reformforderungen konstitutioneller Art auf kommunaler wie auf gesamtstaatlicher Ebene sich im Sachsen des 19. Jahrhunderts – aufgrund der spezifischen konfessionellen Situation – ihr Ventil zunächst vor allem in der konfessionellen Auseinandersetzung suchten.14 Verschärfend trat hinzu, dass diese spezifisch sächsische Konfliktlage in den 1820er und 1830er Jahren mit dem Trend zur Politisierung der Konfessionen und des konfessionellen Gegensatzes konvergierte, der nicht nur im Deutschen Bund, sondern auch in Frankreich, in dem mit dem irischen Katholizismus ringenden Großbritannien und in den italienischen Staaten hervortrat. Dass dazu für den Deutschen Bund gerade der bereits erwähnte Leipziger Professor Tzschirner 1822 mit seinem Buch „Protestantismus und Katholicismus aus dem Standpuncte der Politik“ einen Auftakt setzte, das mit der Parallelisierung von Protestantismus und gemäßigt-liberalem Konstitutionalismus einerseits und Katholizismus und „Reaktionssystem“ andererseits geradezu eine Modellschrift liberaler Politisierung des Konfessionellen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde, war kein Zufall.15 In Sachsen sorgten zwar Mandate von 1827, die die wichtigsten Streitfragen, wie die Ausübung der katholischen Gerichtsbarkeit, die Erziehung der Kinder in Mischehen und das Vorgehen beim Konfessionswechsel regelten, für etwas Entspannung – gerade diese Handlungsfelder waren, wie 12 Vgl. zu dieser Phase v.a. Siegfried SEIFERT, Niedergang und Wiederaufstieg der katholischen Kirche in Sachsen 1517–1773, Leipzig 1964; Paul Franz SAFT, Der Neuaufbau der katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert, Leipzig 1961. 13 Vgl. dazu Heinrich MEIER, Die katholische Kirche in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1974, S. 38. 14 Vgl. dazu u.a. ebd., bes. S. 13–49 u. 86–103; GERBER, „Jesuitische Umtriebe“ (wie Anm. 4). 15 Vgl. TZSCHIRNER, Protestantismus und Katholicismus (wie Anm. 4).

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die Vielzahl der archivalisch überlieferten Vorgänge zeigt, eine ständige Quelle der Auseinandersetzung zwischen den geistlichen Behörden.16 Aber dennoch blieb die Konfession des Monarchen und seiner Familie – wie öffentliche Forderungen zum Konfessionswechsel an den Prinzen, Mit-Regenten und späteren König Friedrich August17 oder auch die zwischen den 1820er und den 1840er Jahren sehr breit öffentlich geführten Auseinandersetzungen um das Vorhandensein und den Einfluss des Jesuitenordens in Sachsen und besonders am Hof deutlich machten,18 ein stets mobilisierbarer Konfliktpunkt. Er stellte als Medium der Artikulation politischen Protestes eine aus obrigkeitlicher Sicht gefährliche Mischung dar. Ruhe an der konfessionellen „Front“ – und damit sind wir wieder am Abend des 31. Oktober 1830 in Dresden – gab es aber auch deshalb nicht, weil die Politisierung der Konfessionen auch insofern „Parteibildungen“ hervorbrachte, als sie religiöses und konfessionelles Dissidententum in die Politisierung einbezog. Stets hatten Herrschaft und geistliche Obrigkeiten auch in Sachsen sensibel und entschieden auf die als Bedrohung der herrschaftlich-staatlichen Ordnung wahrgenommene religiös-konfessionelle Devianz oder Dissidenz reagiert. Der Kampf gegen „Konventikel“, „Secten“, „Religionsschwärmer“, die in allen Teilen des Landes, besonders in den Lausitzen, im Erzgebirge und im Vogtland sowie im west- und mittelsächsischen Muldenland stets stark vertreten gewesen waren, setzte sich aus dem 18. Jahrhundert nahtlos in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts fort: Aufsehen und eine nicht nur in den gesamten Bund, sondern auch ins europäische Ausland reichende mediale Aufmerksamkeit erregte z.B. 1816/17 die Bewegung des Landarbeiters Johann Gottlieb Kloß, der in der Gegend zwischen Grimma, Leisnig und Oschatz (und bis ins Meißnische hinein) in nächtlichen Zusammenkünften seine Anhänger um eine radikalalttestamentliche, teilweise bereits an das amerikanische Mormonentum erinnernde Predigt sammelte, und nach einem, vielleicht durch religiösen Fanatismus bedingten, Mord unter seinen Anhängern ins Räderwerk der sächsischen Justiz geriet.19 Seit den 1820er und verstärkt in den 1830er Jahren amalgamierte 16 Vgl. MEIER, Katholische Kirche (wie Anm. 13), S. 27–46. Die Aktenüberlieferung in: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10697 Gesamtministerium, Nr. 0608, Nr. 0612, Nr. 0220. 17 Vgl. zur Petition Dresdner Bürger an Friedrich August vom 13.9.1830: Franz BLANCKMEISTER, Die antirömische Reformbewegung sächsischer Katholiken im Jahre 1830. Nach zeitgenössischen Berichten und Flugschriften, in: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 15 (1900/1901), S. 211–264, hier S. 218. 18 Vgl. zum Überblick auch über die dazugehörige umfängliche Publizistik: MEIER, Katholische Kirche (wie Anm. 13), S. 46, 96–103; GERBER, „Jesuitische Umtriebe“ (wie Anm. 4). 19 Vgl. dazu u.a. Friedrich Christian GELPKE, Zuverlässige Nachrichten von der Kloßianischen Schwärmerei in einigen Gegenden des Königreichs Sachsen und von der dadurch

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sich religiöse Dissidenz häufiger auch mit einem politischen Programm, das gemäßigt-liberal und konstitutionell, oft aber eben auch linksliberal-demokratisch oder gar radikal-republikanisch sein konnte. Der Umgang mit solcher religiösen Dissidenz im spezifischen, durch die Konfession des Königshauses von vergleichbaren regionalen Katholizismen deutlich unterschiedenen sächsischen Minoritätenkatholizismus, war für Staat und Landeskirche also ein heikles, ambivalentes Unterfangen: Einerseits sowohl von den Behörden mit einer gewissen Nachsicht aufgenommen, weil eine Schwächung des sächsischen Katholizismus damit verbunden sein konnte, als auch von den sächsischen Liberalen der 1820er und 1830er Jahre mit Sympathie betrachtet, weil der Reformkatholizismus ein Reservoir des politischen Liberalismus zu sein schien, schwang doch andererseits stets die Sorge vor „Radikalisierungen“ mit. Das galt auch für die Bewegung, die am Dresdner Reformationstag von 1830 ihren Ausgang nahm – ein Tag, der durch die konfessionelle Feier und die gleichzeitige Amtseinführung der nach den kommunalen Konflikten vom September neu gewählten 66 provisorischen Dresdner Kommunalrepräsentanten geradezu paradigmatisch für die enge Verzahnung von konfessioneller Selbstvergewisserung und staatspolitischen Programmen war.20 Bei der abendlichen Illumination hatte der Likörfabrikant und Lokalbesitzer Franz Schmidt, ein Katholik,21 an einem Fenster seiner Wohnung in der Moritzstraße, also im Zentrum der damaligen Altstadt unweit des Neumarktes, eine Lutherbüste aufgestellt und ein erleuchtetes Transparent mit der Aufschrift angebracht: „Es lebe Moral und Vernunft!/Hoch lebe das Licht!/Tod der Finsternis!/Dies schreibt ein Katholik.“ Das war eine Demonstration, die in all ihrer Knappheit und Vagheit doch unverkennbar einen von Kernbegriffen der katholischen Aufklärung inspirierten und an die Inszenierung der lutherischen Reformation als religiöse „Aufklärung“ angenäherten Reformkatholizismus artikulierte.22 Auf sie rekurrierte veranlaßten schrecklichen Mordthat in der Obermühle zu Beiersdorf bei Leisnig, in: Zeitschrift für die historische Theologie NF 4 (1840), S. 52–129. 20 Zu den Vorgängen 1830 in der Haupt- und Residenzstadt Dresden vgl. Reiner GROß/ Uwe JOHN, Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 2: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung, Stuttgart 2006, S. 388 f.; HAMMER, Volksbewegung (wie Anm. 9), S. 147–153. 21 Zu Franz Schmidt und seinen Unternehmen vgl. Sächsische Dorfzeitung, Nr. 30 vom 14.4.1875; Christoph SANDLER, Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie der Kleinstaaten Norddeutschlands, der süddeutschen Länder, Elsass-Lothringens und der Schweiz. Mit einem durch ein umfassendes Fabrikaten-register zum integrirenden Bestandteile des Werkes bearbeiteten Adressen-Anzeiger, Leipzig 1874, S. 4. 22 Zu den Vorgängen am Abend des 31.10.1830 vgl. Dresdner Anzeiger, Nr. 306 vom 2.11.1830; Die Katholiken Dresdens wollen im Ernste vorwärts, in: Der canonische Wächter, Nr. 51/1830, Sp. 404–407, hier Sp. 404; C[arl] W[ilhelm] BÖTTIGER, Geschichte des Kurstaates und Königreiches Sachsen, Bd. 2: Von der Mitte des sechzehnten Jahr-

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schon am 2. November 1830 ein im Dresdner Anzeiger erscheinendes, vom 1. November datiertes Manifest.23 Hier wurde die Stoßrichtung unmissverständlich deutlich: Es wurde die Überzeugung kundgetan, „dass wir des wahrhaft göttlichen Lichtes, welches uns Christus, die Apostel und die Heiligen aufgestellt haben, nur dann vollkommen theilhaftig werden können, wenn auch unsere Kirche frei, d.h. unabhängig von Rom seyn – also nicht mehr römisch – sondern reformirt-rein-katholisch sich nennen wird.“ Nur dies, so das Manifest mit unverkennbarem Verweis auf die konfessionellen Spannungen als katalytisches Element der aktuellen Revolution, könne „das lange, lange schon erschütterte Vertrauen zwischen uns und der überwiegenden Mehrzahl unserer andersglaubenden Mitbürger im Vaterlande herstellen und uns ihnen staatsbürgerlich ganz gleich machen“.24 Eine Aussage, die man konzentriert in dem Zweizeiler ausdrücken könnte, der später eine vermeintliche Verlautbarung der „127 Dresdner Katholiken“ überschreiben und dem regionalen Geschehen auch die obligate nationale Wendung geben sollte: „Nur frei von Rom blüht Deutschlands Glück – strahlt Sachsens Sonne wieder“.25 „127 Katholiken“: Das Manifest – und daher rührte diese in der folgenden Publizistik schnell zum Topos avancierte Formulierung, die den Eindruck einer Gruppenidentität vermitteln wollte – war nicht etwa von Franz Schmidt oder anderen namentlich genannten Personen, sondern mit „127 gleiches Glaubens und Sinnes“ unterzeichnet – 127 aktive und artikulationsfähige Reformkatholiken in Dresden also, so die Botschaft. Wenige Tage später schien die Bewegung etwas greifbarer zu werden, als einer der gerade ins Amt eingeführten Kommunalrepräsentanten, Heinrich Ludwig Anton Bertholdy – auch er über seinen Vater, den Italiener Antonio Bertoldi, der seit 1780 der Italienischen Oper vorgestanden hatte und später eine Nudelfabrikation am Dresdner Weißeritzmühlgraben begründete, ein Katholik – im Dresdner Anzeiger die Aufforderung veröffentlichte, alle Dresdner Katholiken, „welche mit den 127 Personen […] gleiches Sinnes sind“ sollten in seiner Wohnung versiegelte Mitteilungen über ein Lokal abgeben, in dem man sich treffen und besprechen könne.26 Es war der Anton Bertholdy, der wenige Wochen später zu den Mitbegründern des

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hunderts bis auf die neueste Zeit, 1553–1831, Hamburg 1831, S. 643; M[artin] B[ernhard] LINDAU, Geschichte der Haupt- und Residenzstadt Dresden von der frühesten bis auf die gegenwärtige Zeit, Bd. 2, Dresden 1862, S. 732 f.; BLANCKMEISTER, Die antirömische Reformbewegung (wie Anm. 17), S. 223 f. Vgl. auch den Abdruck in: Die grosse Einheit (wie Anm. 1), S. 11 f. Ebd. Ebd., S. 44. Dresdner Anzeiger, Nr. 322 vom 18.11.1830. Vgl. auch BLANCKMEISTER, Die antirömische Reformbewegung (wie Anm. 17), S. 225; Die Katholiken Dresdens (wie Anm. 22), Sp. 405; Die grosse Einheit (wie Anm. 1), S. 43.

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auf schnellere und tiefgreifendere Kommunal- und Staatsreformen drängenden Dresdner Bürgervereins gehörte, welcher – unter der Ägide von Bernhard Moßdorf – 1831 einen an der neuen belgischen Verfassung orientierten Verfassungsentwurf für Sachsen erstellen, ohne Genehmigung verbreiten und öffentlich verlesen ließ, während sich der von der Regierung vorgelegte Verfassungsentwurf noch in der ständischen Beratung befand. Das sollte zur Verhaftung Moßdorfs und Bertholdys, zu ihrer Verurteilung zu 15 Jahren Festungshaft und noch 1831 zu ihrem, offiziell durch Selbstmord herbeigeführten, Tod unter ungeklärten oder zumindest fragwürdigen Umständen auf dem Königstein führen – Bertholdy wurde dort in der Nacht zum 5. September 1833 erhängt in seiner Zelle aufgefunden; Moßdorf starb am 14. November.27 Bertholdy, der hier im Zeichen der „127“ die reformbereiten Dresdner Katholiken sammeln wollte, war also ein Akteur mit nicht in erster Linie kirchenreformerischen oder gar theologischen Zielen, sondern ein mitten in der Verfassungs- und Reformbewegung von 1830 stehender Mann mit einem politischen Programm. Franz Schmidt und Anton Bertholdy sind die einzigen beiden Personen, die im Zusammenhang der „127 antirömischen Katholiken“ von Dresden jemals namentlich aufgetaucht sind. Weder in der zeitgenössischen Publizistik finden sich weitere Namen, noch sind solche – was wohl noch schwerer wiegt – zumindest nach bisherigen Forschungen, irgendwo aktenkundig geworden. Ein weiterer Artikel in einer der Beilagen des Dresdner Anzeigers, den „Denkwürdigkeiten für Sachsen“ vom 20. November, der konkrete Reformforderungen enthielt, auf die gleich zurückzukommen sein wird, war mit 13 Großbuchstaben als Namensabkürzungen und der ergänzenden Qualifizierung „sämtlich Katholiken“ unterzeichnet.28 Auf die Feststellung, zwar Reformer, aber Katholiken und nicht am Übertritt zur lutherischen Landeskirche interessiert zu sein, legten die Initiatoren immer wieder großen Wert. Freilich wies eine Entgegnung von Dresdner Katholiken auf die Vorschläge der anonymen Reformkatholiken am 29. November 1830 zu Recht darauf hin, dass die Verwirklichung von deren

27 Vgl. dazu Volker RUHLAND, Die Rolle der Volksmassen, der Bourgeoisie und der herrschenden Klasse in den revolutionären Unruhen 1830/31 im Lichte der archivalischen Quellen, Diss. phil. (masch.), Dresden 1982, S. 133–141; HAMMER, Volksbewegung (wie Anm. 9), S. 462–465. 28 „R. W. G. B. U. L. M. W. S. K. F. M. O., sämtlich Katholiken“. Vgl. Einige Vorschläge die katholische Kirche Sachsens betreffend, in Bezug auf den in Nr. 306 des Dresdner Anzeigers ausgesprochenen Wunsch, in: Denkwürdigkeiten für Sachsen, Nr. 46 vom 20.11.1830. Vgl. auch die Wiedergabe in: BLANCKMEISTER, Die antirömische Reformbewegung (wie Anm. 17), S. 226–228.

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Vorschlägen „nur durch eine gänzliche Trennung von der katholischen Kirche erwirkt werden“ könne.29 Blieben die 127 Dresdner Reformkatholiken also seltsam anonym, so trat in den folgenden beiden Jahren doch eine Gestalt immer mehr in den Vordergrund, die sich als Vermittler und Promotor der 127 darstellte: Der bereits mehrfach erwähnte Publizist Alexander Müller. Müller, aus Zella in dem 1815 vom Hochstift Fulda über Preußen an das Großherzogtum Sachsen-WeimarEisenach gekommenen Teil der Rhön stammend, hatte bis 1830 im weimarischen Staatsdienst gestanden und sich als Protagonist eines aufgeklärtnationalkirchlichen Reformkatholizismus zu profilieren versucht.30 Dem diente sein Zeitschriften-Projekt Der Canonische Wächter, das er in Leipzig starten wollte, nach einem (kurze Zeit darauf allerdings wieder aufgehobenen) Verbot durch die sächsische Zensur aber nach Halle verlegte. Das Organ führte zunächst den keine Zweifel zulassenden Untertitel „Eine antijesuitische Zeitschrift für Staat und Kirche und für alle christliche Confessionen“, später nur noch – wie bereits auch von Beginn an – die programmatische Titelzeile „Vorwärts!“ In Müllers Zeitschrift und als eng damit verbundene Einzelpublikationen erschienen nun in den Jahren 1830 bis 1834 eine Vielzahl von Beiträgen zu der, wie die Unterschrift und die kommentierende Bezeichnung Müllers nun oft lautete „Großen Einheit der 127 antirömischen Katholiken in Dresden“, die Müller als „Beratungsprotokolle“ eines „Vereins“ bezeichnete.31 Sie variierten in breiten Herleitungen und Erörterungen ein Programm, das sich auf einen Kern von Forderungen reduzieren lässt, die seit der katholischen Aufklärung und dem Febronianismus am Ende des 18. Jahrhunderts Grundelemente eines „Reformkatholizismus“ im deutschsprachigen Raum ausmachten, und im gesamten weiteren 19. Jahrhundert – wenn auch nach Höhepunkten im Deutschkatholizismus der 1840er und im Altkatholizismus der 1870er Jahre immer marginaler – weiterbestehen sollten: Organisatorische Unabhängigkeit einer katholischen deutschen Nationalkirche von Rom, Aufhebung der Beichte, kirchliche Wiederverheiratung Geschiedener, Aufhebung des Zölibats der Weltpriester und Kultus- bzw. Liturgiereformen. Gerade diese letzteren Forderungen entwickelten, 29 Vgl. ebd., S. 228; Die grosse Einheit (wie Anm. 1), S. 65–67 (erneute Entgegnung der „127“). 30 Zur Biographie Müllers vgl. NEIMES, Alexander Müller (wie Anm. 6), S. 19–36. 31 Alexander MÜLLER, Febronius der Neue oder: Grundlagen für die Reformangelegenheiten der deutschen Kirchenverfassung im Geiste der Baseler Beschlüsse, der Fürstenkonkordate, der Emser Punktationen und der Frankfurter Grundzüge, Karlsruhe 1838, S. 314. Müller hat die bis 1831 erschienenen Publikationen in der bereits mehrfach zitierten Schrift „Die grosse Einheit“ (wie Anm. 1) zusammengefasst. Der Canonische Wächter publizierte noch bis zu seiner Einstellung 1834 zu den „127 Katholiken“ von Dresden. Vgl. NEIMES, Alexander Müller (wie Anm. 6), S. 138–167.

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wie auch die nachfolgenden Versuche, „Glaubensbekenntnisse“ einer von Rom emanzipierten, aber nicht im Protestantismus aufgehenden katholischen Nationalkirche zu formulieren,32 schnell eine theologische Dynamik, die dazu tendierte, alle Grenzen dogmatisch fassbarer und institutionalisierter Kirchlichkeit zu sprengen. Die Entwicklung ging – wie später auch im Deutschkatholizismus und bei den protestantischen „Lichtfreunden“ – also nicht in Richtung des landeskirchlich verfassten Luthertums, das auch in Sachsen die „antirömischen Katholiken“ zunächst mit gewissen konfessionellen Hoffnungen begleitete, sondern letztlich eher zu einer durch vagierende Religiosität geprägten, idealistischen Lebensreform, die mit Bekenntnis, Kirche und Amt nichts mehr zu tun hatte. Nachdem Müllers Canonischer Wächter im August 1834, bedingt wohl durch das Verbot der Zeitschrift in Preußen, sein Erscheinen eingestellt hatte,33 hörte das Publikum nie wieder etwas von der Tätigkeit der „Großen Einheit der 127 antirömischen Katholiken in Dresden“, obwohl Müller noch 1831 behauptet hatte: „Wir wissen jetzt, dass es mit der Opposition, die sich in Dresden gegen das Papal-System erhoben hat, und welche von den oft gedachten 127 ausgehet, ernstlich gemeint ist. Täglich wächst dort die Anzahl jener Katholiken, die sich bestreben, die Idee des Katholicismus so zu modificieren, dass die Anwendung weniger willkührlich und römisch werde.“34 Schon manche Zeitgenossen vermuteten, dass die „Große Einheit der CXXVII“ ein publizistisches Produkt Alexander Müllers sei. Das galt nicht nur für Organe der konfessionellen Sammlung des Katholizismus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie den in diesen Jahren in Speyer erscheinenden Katholik oder die Aschaffenburger Katholische Kirchenzeitung, die die Publizistik um die Dresdner „127“ einer fortwährenden Fundamentalkritik unterzogen und der lediglich in der Publizistik fassbaren angeblichen Gruppe von „Reformkatholiken“ vorwarfen, „auf die abgeschmackteste und ekelhafteste Weise die Mutterkirche zu verläumden“.35 Auch vergleichsweise neutrale Berichterstatter, wie die Augsburger Allgemeine Zeitung, eine der größten Zeitungen des deutschsprachigen Raumes, registrierten skeptisch, dass man ausschließlich über Müller von der Dresdner Bewegung höre; dort hieß es im Juni 1831 vieldeutig: „Noch immer rühren sich die 32 Vgl. v.a. Grundzüge der rein catholisch-christlichen Kirche zunächst in Sachsen und Schlesien. Von einem christlichen Geistlichen, Dresden/Leipzig 1831. Um dieses „Glaubensbekenntnis“ entspann sich eine publizistische Auseinandersetzung; vgl. v.a. Sendschreiben an die 127 abfälligen Katholiken in Dresden. Von Sixtus, Dresden/Leipzig 1831; Beleuchtung der Grundzüge der rein-katholisch-christlichen Kirche. Von Christianus Sincerus, Neustadt an der Orla 1831. 33 Vgl. NEIMES, Alexander Müller (wie Anm. 6), S. 124–137. 34 Die grosse Einheit (wie Anm. 1), S. 23. 35 Rezension zu: Sendschreiben (wie Anm. 32), in: Der Katholik 11/1831, S. 378.

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127 antirömischen Katholiken in Dresden und erhalten, wie man versichert, von vielen Seiten Verstärkung, wozu der in Leipzig lebende Alexander Müller in seinem rasch fortschreitenden kanonischen Wächter nicht wenig beiträgt.“36 Als der „Reformkatholik“ und Heidelberger Burschenschafter Friedrich Wilhelm Carové 1832 seine Schrift über „Die letzten Dinge des römischen Katholicismus in Deutschland“, die – in krasser Verkennung des heraufdämmernden Ultramontanismus – „das wirkliche Ableben“ des römischen Katholizismus in Deutschland diagnostizierte,37 neben den Kieler „Philalethen“38 auch den „CXXVII antirömischen Katholiken in Dresden“ widmete,39 spotteten die bei Brockhaus in Leipzig erscheinenden Blätter für literarische Unterhaltung, Carové schlage publizistische „Bestrebungen als Thatsachen vielleicht zu hoch“ an: „Vielleicht, was wir jedoch selbst nicht ohne Bedauern sagen, zu hoch, namentlich in Ansehung der 127. Bis jetzt hat nur der ‚Canonische Wächter‘ über ihre Wirksamkeit […] gesprochen; aber wo und wer sind sie? Warum treten sie nicht an das Licht? Manche halten das ganze nur für eine – Mystification!“40 Diese Linie zieht sich bis in heutige Forschungen. Auch der Bamberger Kirchenjurist Karl Neimes, der in einer Studie zu den kirchenrechtlichen Positionen Müllers einen Seitenblick auf die „127 Katholiken“ geworfen hat, verweist auf diesen Spott und trägt entsprechende Indizien zusammen.41 War die „Große Einheit der 127 antirömischen Katholiken“ in Dresden virtuell, war sie ein publizistisches Produkt des umtriebigen Alexander Müller, eine absichtsvolle Chimäre, ein mediales „Fake“ des frühen 19. Jahrhunderts? Auch wenn sich aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht mit Sicherheit rekonstruieren lässt, welche Substanz tatsächlich hinter den „127 Katholiken“ stand, kann man wohl nicht soweit gehen. Sicher gab es einen, z.B. in Anton Bertholdy sichtbar werdenden, kleinen, aber harten Kern von Dresdner „Reformkatholiken“, denen kirchenreformerische Anliegen vor allem – und hier waren sie ganz Teil der skizzierten spezifischen Verbindung von Konfession und Politik in Sachsen im späten 18. und 19. Jahrhundert – Vehikel staats-, verfassungs- und 36 Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 202 und 203 vom 8.6.1831, S. 806. 37 Friedrich Wilhelm CAROVÉ, Die letzten Dinge des römischen Katholicismus in Deutschland, Leipzig 1832, S. V. 38 Eine in Aufnahme freimaurerischen Gedankengutes unter der Ägide von Theodor Olshausen begründete deistisch-freireligiös-irenische Gruppe in Kiel. Vgl. Klaus LEMKEPAETZNICK, Kirche in revolutionärer Zeit. Die Staatskirche in Schleswig und Holstein 1789–1851, Berlin/Boston 2012, S. 497–499. 39 Ebd., [S. III]. 40 Rezension zu CAROVÉ, Die letzten Dinge (wie Anm. 37), in: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 362 vom 27.12.1832, S. 1515. 41 Vgl. NEIMES, Alexander Müller (wie Anm. 6), S. 146 f.

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auch nationalpolitischer Forderungen waren. Jenseits dieser Feststellung aber beginnt die öffentlich-mediale Inszenierung, die die konfessionelle Dissidenz im Minderheitenkatholizismus Dresdens und Sachsens um 1830 als weitaus breiter, wirkmächtiger und zielstrebiger erscheinen ließ, als sie war. Müller als Promotor dieses „Erscheinenlassens“ wollte diese Bewegung wohl auch selbst gern so sehen, wie er sie in der publizistisch-medialen Öffentlichkeit inszenierte: Öffentlichkeitsstrategisches Kalkül und individueller Wunsch gingen bei dieser Erzeugung einer medialen „Wirklichkeit“, wie so oft, Hand in Hand. So sind die griffige und folgerichtig medial immer wieder chiffreartig reproduzierte Zahl „127“ oder die Vermittlung des Eindrucks vereinsartiger Strukturen mit einiger Wahrscheinlichkeit Projektionen Müllers, wobei die naheliegende Suche nach einem christlich-symbolischen oder historischen Bezug für die Zahl „127“ bislang erfolglos geblieben ist. Aber der spätere Umgang mit dieser immer wieder und vielfach erscheinenden Zahl legt doch die Vermutung nahe, dass schon den Zeitgenossen ihre symbolische Funktion bewusst war. 1854 hieß es im „Neuen Nekrolog der Deutschen“ im Nachruf auf den Prediger der deutschkatholischen Gemeinde in Dresden, den ehemaligen Priester Vinzenz Balitzki: Auch nach dem Abebben der erst Mitte der 1840er Jahre neu erwachten Bewegung sei „ihre Zahl 127 bedeutungsvoll“ geblieben: „bei einem Volksfeste erschien diese Zahl symbolisch als Leuchtkugeln.“42 Als die von Schlesien und dem Priester Johannes Ronge ausgehende deutschkatholische Bewegung Dresden erreichte und man nach dem Aufruf „Dresden, schläfst Du?“ von Franz Schmidt – derselbe, der mit der Illumination von 1831 Auslöser für das Phänomen der „127“ gewesen war – eine deutschkatholische Gemeinde in der sächsischen Hauptstadt begründete, sei der Gründungsort, das Hotel de Luxembourg (später Hotel de Petersburg) hinter der Frauenkirche mit der Zahl „127“ geschmückt gewesen.43 Die Tatsache, dass Schmidt nun in den 1840er Jahren Begründer einer deutschkatholischen Gemeinde in Dresden wurde, verweist einmal mehr darauf, dass es einen reformkatholischen Nukleus in Dresden gab – genauso wie die Anweisung des Apostolischen Vikars Bischof Vinzenz Mauermann vom 19. November 1830, gegen Spaltungsversuche unter den sächsischen Katholiken zu predigen:44 Eine sichtbare Wirkung nicht in erster Linie der „reformkatholischen“ Minderheit unter den sächsischen Katholiken, sondern der medialen Inszenierung Müllers im Zeichen der „127“. Und genau darauf – nicht auf die bei der gegebenen Quellenlage wohl kaum mögliche Rekonstruktion der Mitglieder der Gruppe – kommt es an; dies ist das 42 Neuer Nekrolog der Deutschen 30 (1852), Teil 2, Weimar 1854, S. 654. 43 Ebd.; Eduin BAUER, Geschichte der Gründung und Fortbildung der deutsch-katholischen Kirche, Meißen 1845, S. 169. 44 Vgl. BLANCKMEISTER, Die antirömische Reformbewegung (wie Anm. 17), S. 249 f.

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eigentlich Bemerkenswerte an diesem Vorgang: Müllers Inszenierung war erfolgreich. Die angeblichen „127“ waren schon Ende 1830 in dem revolutionär aufgewühlten Sachsen, in Deutschland und in Europa ein immer wieder aufgegriffenes Medienthema geworden, das sächsische Staatspolitik, europäische Revolutionsbewegung und Politisierung des Konfessionellen miteinander verknüpfte. Nicht nur die deutschsprachige Presse registrierte den Vorgang, meldete und erörterte ihn. Besonders in der englischen Presse fanden sich, sowohl in den großen Blättern wie der Times oder dem Manchester Guardian, als auch in Provinzzeitungen, wie etwa der im Hauptort von Kent erscheinenden Maidstone Gazette, Meldungen wie diese, die dem englischen Leser schon wenige Wochen nach dem ersten Auftreten kurz und bündig aus Dresden mitteilten: „Some enlightened Catholics who wish to shuke off the yoke of the Holy See, have held a meeting in this capital, and have agreed on the following plan of reform: Protestants and Catholics to enjoy the same civil rights; auricular confessions to be abolished; divorce established, and the clergy allowed to marry.“45 Diese Wahrnehmung war Teil der ohnehin beträchtlichen Aufmerksamkeit, die sich gerade in protestantischen Ländern wie Großbritannien auf die konfessionellen Elemente der sächsischen Revolutionsbewegung richtete. Der in Edinburgh erscheinende liberale Scotsman berichtete z.B. schon im Oktober 1830 ausführlich über die sächsischen Ereignisse, wobei der Katholizismus des Königshauses als die Hauptursache der Revolution erschien; König Anton sei, wie Karl X. in Frankreich „fallen a sacrifice of his bigotry. He is a Catholic, of an ascetic character, a sort of royal monk, living secluded from his subjects, amidst a coterie of priests, who govern his mind and direct all his movements. Like a true son of the church he has a passion for proselyting“46 – die Politisierung des Konfessionellen war auch die Perspektive des protestantischen und, unter umgekehrten Vorzeichen des katholischen Europa auf die Ereignisse in Sachsen. Im deutschsprachigen Raum entfaltete sich, wie schon angedeutet, eine ausgedehnte Broschüren-Publizistik um die vermeintlichen „127“, zu der weiterhin Alexander Müller selbst vieles beitrug; zuletzt noch 1838 in seiner umfänglichen Schrift „Febronius der Neue“47 – ein Titel, der das Selbstbewusstsein dieses Publizisten signalisiert, denn mit „Febronius dem Neuen“ meinte Müller sich selbst als neues Haupt einer nationalkirchlich-katholischen Aufklärung in der Nachfolge des Johann Nikolaus von Hontheim. Den Auftakt bildeten noch Ende 1830 die in dem Sachsen benachbarten Herzogtum Sachsen-Altenburg erschienenen „Wünsche für eine zeitgemäße Reformirung der katholischen Kirche in Sachsen“, die erneut das kaum modifizierte Programm einer „reform45 Maidstone Gazette and Kentish Courier vom 4.1.1831. 46 The Scotsman, Nr. 1117 vom 1.10.1831. 47 Vgl. MÜLLER, Febronius (wie Anm. 31).

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katholischen“ Protestantisierung des Katholizismus präsentierten: Suprematie des Landesfürsten über die Kirche statt Bindung an Rom, Aufhebung des Zölibats, Abschaffung der Ohrenbeichte, Ehescheidung.48 Im mitteldeutschen Raum war Anfang der 1830er Jahre vor allem der Verlag von Johann Karl Gottfried Wagner, in dem erst 1815 mit fast dem ganzen Neustädter Kreis von Sachsen an Sachsen-Weimar-Eisenach gekommenen Neustadt an der Orla ein Publikationszentrum für liberal- und freiprotestantisches sowie reformkatholisches Schrifttum. Hier erschien 1831 nicht nur eine Übersicht verschiedener reformkatholischer „Glaubensbekenntnisse“ und kirchenorganisatorischer Reformkonzepte,49 hier veröffentliche auch eine Reihe publizistischer Erben der katholischen Aufklärung wie der 1828 in Aschaffenburg aus dem Priesteramt ausgeschiedene Theologe Leonhard Martin Eisenschmid, der Publizist Karl Wunster oder der anonyme „Reformkatholik“ Immanuel Reichenbach.50 Von dieser begleitenden zeitgenössischen Publizistik ausgehend, traten die Dresdner „127 Katholiken“ dann ihren Siegeszug in der reformkatholischen Traditionsbildung und in der Historiographie an. In kaum einer der in den 1840er Jahren in Sachsen und im ganzen mitteldeutschen Raum zu Hunderten erschienenen deutschkatholischen Flugschriften fehlt der Verweis, auf die, nun zu einer quasi-legendären Gemeinschaft stilisierten „127 Katholiken in Dresden, welche sich damals von Rom lossagen wollten, aber ihr Unternehmen nicht ausführten“ – so formulierte es Eduin Bauer, eine der führenden Figuren des Deutschkatholizismus in Sachsen in seiner schon 1845, also noch im Jahr der ersten sächsischen Gemeindegründungen, in Meißen publizierten „Geschichte der Gründung und Fortbildung der deutsch-katholischen Kirche“.51 Historiographisch hat für das Fortleben der Projektion der „127“ als einer vermeintlich organisierten Reformbewegung vor allem einer der bekanntesten Köpfe der sächsischen Kirchengeschichte des späten 19. Jahrhunderts gesorgt, der Dresdner Pfarrer Franz Blanckmeister, der 1901 erstmals einige wichtige publi48 Vgl. Wünsche für eine zeitgemäße Reformirung der katholischen Kirche in Sachsen, Altenburg 1830. 49 Vgl. Christianus ANTIROMANUS, Zur Emancipation der katholischen Kirche von Rom und zur wahren Gleichstellung aller christlichen Kirchen, oder: Verfassungsentwürfe und Grundzüge Verschiedener für die christlich-katholische Kirche Deutschlands, Neustadt an der Orla 1831. 50 Vgl. die Verlagsbibliographie in: Werner GREILING, „Dem sittlichen und religiösen Unterricht gewidmet“. Der Verlag J. K. G. Wagner in Neustadt an der Orla. Mit einem Anhang: Systematische Verlagsbibliographie J. K. G. Wagner 1799–1831, in: DERS./Siegfried SEIFERT (Hg.), „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004, S. 129–175, hier S. 150–175 (Verlagsbibliographie) und besonders S. 150, 154, 157, 160. 51 BAUER, Geschichte der Gründung (wie Anm. 42), S. 169.

„ABER WO UND WER SIND SIE?“

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zistische Texte zu den „127“ zusammentrug und das Auftreten der Gruppe, deren Existenz für ihn außer Frage stand, aus konfessionalistisch-protestantischer Perspektive als eine „Gottesstunde“ einschätze, die die Landeskirche „neutral und passiv […] ungenützt“ habe „verstreichen“ lassen.52 Die „127 Katholiken von Dresden“ machen schlaglichtartig deutlich, welche Potenziale für eine vergleichend angelegte Landesgeschichte vor allem dann in der Untersuchung religiöser Dissidenz liegen, wenn sie eingefahrene kirchenund theologiegeschichtliche Perspektiven überschreitet und diese Dissidenzen als Phänomene zwischen Religion, Mentalitäten und Politik, vor allem aber als Phänomene einer medialen Öffentlichkeit untersucht, die auch schon im frühen 19. Jahrhundert weder regional noch national eingegrenzt war. Der Blick auf die mediale Inszenierung der „127“ führt mit seinen Kontexten, der spezifisch politisch-konfessionellen Konstellation in Sachsen seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, dem politisch-konstitutionellen Reformstau am Ende der Rheinbundära, den Verfassungskämpfen und der politischen Differenzierung der 1820er Jahre unweigerlich tief hinein in die Landesgeschichte Sachsens und Mitteldeutschlands. Er fordert nicht nur den landesgeschichtlichen Vergleich mit anderen Staaten des Deutschen Bundes heraus, sondern lässt den mitteldeutschen Raum auch im regionalgeschichtlichen Sinne als Beispielregion der Politisierung des Konfessionellen in einem europäischen Kommunikationsraum hervortreten. Zugleich wirft dieser Blick die vergleichend-regionalgeschichtliche Frage nach den besonderen Entfaltungsbedingungen religiöser Dissidenz auf, die im späten 18. und 19. Jahrhundert in Sachsen, den thüringischen und anhaltischen Staaten, nach 1815 in der preußischen Provinz Sachsen zweifelsohne einen ihrer deutschen Verdichtungsräume hatte. Der schmale, aber medial wirksame sächsische Aufklärungs- und „Reform“-Katholizismus am Ende des 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, dann vor allem der Deutschkatholizismus der 1840er Jahre, aber auch die lutherischen und erwecktneupietistischen Dissidenten dieser Jahrzehnte in Sachsen, sind nur in Wechselwirkung mit den wirkmächtigen korrespondierenden Milieus in Schlesien, teilweise auch in Böhmen zu erfassen. „Diese merkwürdigen katholischen Dissenters“,53 wie Karl Wilhelm Böttiger die vermeintlichen 127 Dresdner Katholiken noch aus unmittelbarem Zeiterleben schon 1831 seiner „Geschichte des Kurstaates und Königreichs Sachsen“ genannt hatte, erweisen sich so bei genauerem Hinsehen als mehr als eine Marginalie der Geschichte des 19. Jahrhunderts.

52 BLANCKMEISTER, Die antirömische Reformbewegung (wie Anm. 17), S. 261. 53 BÖTTIGER, Geschichte des Kurstaates (wie Anm. 22), S. 644 (Anm. 1).

FRIEDEMANN PESTEL „EIN UNSERER EISENBAHN-EPOCHE VORBEHALTENES UNICUM“

„Ein unserer Eisenbahn-Epoche vorbehaltenes Unicum“ Die Auslandstourneen der Meininger Hofkapelle und die Internationalisierung des Musiklebens in Europa (1880‒1914)

Als Ende 1880 die Meininger Hofkapelle unter Hans von Bülow auf dem Weg nach Eisenach erstmals die Grenzen des Herzogtums Sachsen-Meiningen überschritt, stellte die Gothaische Zeitung dieses regionale Ereignis in den größeren Kontext einer Nahbeziehung von Kultur und Politik: „Seitdem Sachsen seine einstige politische Bedeutung eingebüßt hat, haben die Fürsten der beiden Linien gewetteifert, die verlorene Macht nach außen zu ersetzen durch eifrige Pflege der höchsten Geistesinteressen im Innern ihrer Länder.“1 Unter dieser Perspektive hat neben den ernestinischen Residenzen Weimar und Gotha auch Meiningen unter Georg II. in der jüngeren kulturgeschichtlichen Forschung zunehmend Aufmerksamkeit erhalten.2 Von theater- und musikwissenschaftlicher Seite werden Hoftheater und Hofkapelle vor 1914 schon seit längerem großes Interesse entgegengebracht, strahlten beide Institutionen bekanntlich weit über den Kleinstaat hinaus. Der spezifischen Konstellation aus kulturellem Behauptungsstreben im „Hinterland“ und dem „biografischen Zufall“ eines ebenso kunstbegeisterten wie lange regierenden Herzogs verdankte es sich, dass die Meininger Hofkapelle in den 1880er Jahren als erstes festes europäisches Sinfonieorchester auf Tournee ging.3 Zwar reisten vorher bereits die Strauß-Kapelle aus Wien oder die Bilsesche Kapelle aus Schlesien; die ersten Auslandstourneen etwa der Wiener und Berliner Philharmoniker oder von britischen und französischen Orchestern 1 2

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Gothaische Zeitung vom 28.12.1880. Maren GOLTZ/Werner GREILING/Johannes MÖTSCH (Hg.), Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826–1914). Kultur als Behauptungsstrategie?, Köln/Weimar/Wien 2015; Werner GREILING/Gerhard MÜLLER/Uwe SCHIRMER/Helmut G. WALTHER (Hg.), Die Ernestiner. Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel, Köln/Weimar/Wien 2016. Christophe CHARLE, L’exploration d’un nouveau continent musical, in: Jean-François CANDONI/Laure GAUTHIER (Hg.), Les grandes centres musicaux dans le monde germanique (XVIIe–XIXe siècle), Paris 2014, S. 7–13, hier S. 9; Hans-Joachim HINRICHSEN, Résidence périphérique et centre culturel. Meiningen entre 1871 et 1918, in: ebd., S. 441‒ 453.

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FRIEDEMANN PESTEL

folgten dagegen erst später und teils als Folge der Meininger Gastspiele. Ihr Sensationswert war unbestritten. So kommentierte Eduard Hanslick – zweifelsohne der einflussreichste Musikkritiker im deutschen Sprachraum – das Debüt der Hofkapelle 1884 in Wien: „Ein ganzes Orchester, das auf Reisen geht […] mit den größten symphonischen Werken, ist jedenfalls eine neue Erscheinung, ein unserer Eisenbahn-Epoche vorbehaltenes Unicum. Was soll uns – so hörten wir mitunter sagen – in Wien ein fremdes Orchester und obendrein aus Meiningen? Das ist doch eine weltversteckte kleine Residenz, die zwar einen erleuchteten kunstsinnigen Herzog, aber nicht einmal eine Oper hat. Gerade darin liegt schon ein wichtiger Erklärungsgrund. Indem dieser Herzog, mit Verzicht auf sein eigenes Vergnügen, monatelang Kunstreisen seiner Musiker und Schauspieler gestattet, giebt er ihrem Fleiße den wirksamsten Sporn, ihrem Ehrgeize die weitesten Grenzen.“4

In Teilen der Forschung gibt das Meininger „Unicum“ Anlass zu Superlativen: Die Hofkapelle sei das „berühmteste Orchester in Europa“ gewesen, das gleich „ganz Europa“ bereist habe.5 In der nächsten Steigerungsstufe ist dann sogar von der „Welt“ und von „Weltruhm“ die Rede.6 Reproduzieren solche Urteile vor allem die zeitgenössische Quellensprache, so trifft dies nicht minder für kulturdiplomatische Apostrophierungen der „Meininger Künstlerscharen“ als „hingebungsvolle Sachwalter der europäischen Kultur in deren Gänze“ zu, die „durch den Austausch kultureller Werte“ zur „Verständigung der Staaten“ beigetragen hätten.7 Angesichts der Suggestivkraft solcher Urteile erscheint eine Differenzierung unter mindestens vier Gesichtspunkten notwendig, die den Stellenwert der Hof4 5

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Eduard HANSLICK, Concerte, Componisten und Virtuosen der letzten fünfzehn Jahre. 1870–1885, Berlin 21886, S. 413 f. Rufus HALLMARK, The Star Conductor and Musical Virtuosity, in: Joan PEYSER (Hg.), The Orchestra. Origins and Transformations, New York 1986, S. 551–582, hier S. 555; Axel SCHRÖTER, „Der Segen des absolut monarchischen Principes“. Zur europäischen Strahlkraft des Weimarer Hoftheaters und der Hofkapelle Meiningen, in: GREILING u.a. (Hg.), Ernestiner (wie Anm. 2), S. 425‒443, hier S. 439. Alan WALKER, Hans von Bülow. A Life and Times, Oxford/New York/Toronto 2010, S. 285; Susanne POPP, Biografischer Rundgang, in: BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK/ MAX-REGER-INSTITUT/ELSA-REGER-STIFTUNG (Hg.), „Max Reger – Accordarbeiter“. Max Reger in den Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek München und des MaxReger-Instituts Karlsruhe, München 2011, S. 14–56, hier S. 37. Alfred ERCK/Hannelore SCHNEIDER, Georg II. von Sachsen-Meiningen und die „Europäisierung“ des kulturellen Lebens im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts unter dem Protektorat von gekrönten Staatsoberhäuptern, in: GREILING u.a. (Hg.), Ernestiner (wie Anm. 2), S. 445‒468, hier S. 446; ähnlich Herta MÜLLER, Die ‚Musikalischen‘ Meininger auf Reisen, in: Volker KERN/Herta MÜLLER (Hg.), Die Meininger kommen! Hoftheater und Hofkapelle zwischen 1874 und 1914 unterwegs in Deutschland und Europa, Meiningen 1999, S. 34–78, hier S. 60.

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kapelle keineswegs herabsetzen, aber für eine geweitete transnationale Perspektive öffnen. Erstens entsteht der Eindruck, die „musikalischen Meininger“ seien ab den 1880er Jahren ständig und überall in Europa präsent gewesen. Während das Schauspiel mehr als ein Drittel seiner über 2.500 Tourneeaufführungen im Ausland gab, waren es bei der Kapelle von 780 Reisekonzerten lediglich 43 bzw. gut fünf Prozent.8 Diese erstreckten sich, zweitens, keinesfalls auf „ganz Europa“, sondern auf die Habsburgermonarchie, die Niederlande, Großbritannien, die Schweiz, Dänemark und Belgien, mithin im Wesentlichen die Nachbarländer des Deutschen Reiches. Drittens beruhen die zitierten Aussagen großenteils auf einer Meiningen-zentrierten Quellenbasis und spiegeln somit die Erfolgserwartungen der historischen Akteure wider. Die Rezeption der Gastspiele anhand auswärtiger Quellen zeigt dagegen, dass diese kontroverser wahrgenommen wurden, als sie sich für das durchreisende Orchester und den meist abwesenden Herzog darstellten.9 Das gilt ebenso für längerfristige Impulse, die das Wiener oder Londoner Musikleben durch die Konfrontation mit den Meiningern erhielten. Viertens verstellt die gängige Fixierung auf die Doppelzäsur des Todes Georgs II. und des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges die weitaus vielschichtigeren politischen Implikationen der Gastspiele, aber auch die strukturellen Grenzen der Meininger Auslandspräsenz, die nach 1910 immer deutlicher wurden.10 Daher ist es gewinnbringend, die Meininger Perspektive mit einer jüngeren Musik-Geschichte zu kombinieren, die Aufführungen als soziale Praktiken untersucht, die Rolle musikalischer Institutionen beleuchtet, nach dem Selbstverständnis von Musikern fragt und nicht zuletzt den Musikbetrieb transnational verortet.11 Zentral für die gebotene Verräumlichung des Meininger „Weltruhms“ ist dabei Jürgen Osterhammels Unterscheidung zwischen historisch zu dekonstruierenden „Weltbezügen“, der „Weltpraxis“ der musikalischen Akteure und der Reichweite zeitgenössischer „Weltgeltung“.12 Internationalisierung und 8

ERCK/SCHNEIDER, Georg II. (wie Anm. 7), S. 445; KERN/MÜLLER (Hg.), Die Meininger (wie Anm. 7), S. 91–103. 9 Dazu wurden die Pressesammlungen im Nachlass Hans von Bülows in der Staatsbibliothek Berlin sowie in der Musiksammlung der Meininger Museen ausgewertet und um Pressedatenbanken ergänzt. Mein Dank gilt Jean-Christophe Gero und Maren Goltz. 10 MÜLLER, Die ‚Musikalischen‘ Meininger (wie Anm. 7), S. 74; ERCK/SCHNEIDER, Georg II. (wie Anm. 7), S. 447. 11 Sven Oliver MÜLLER/Jürgen OSTERHAMMEL, Geschichtswissenschaft und Musik, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 5–20; Celia APPLEGATE, Introduction. Music Among the Historians, in German History 30 (2012), S. 329–349; Sven Oliver MÜLLER/ Jürgen OSTERHAMMEL/Martin REMPE (Hg.), Kommunikation im Musikleben. Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015. 12 Jürgen OSTERHAMMEL, „Welteroberndes Künstlertum“. Weltsemantik und Globalisierung im Zeitalter von Richard Wagner und Werner von Siemens, in: Arne STOLLBERG/

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nationale bzw. regionale Zuschreibungen bildeten keine gegensätzlichen Pole, sondern stellten miteinander verflochtene Prozesse dar. Anhand dreier Gastspiele aus den Amtszeiten der Hofkapellmeister Hans von Bülow, Fritz Steinbach und Max Reger lässt sich für die Habsburgermonarchie, London sowie Paris/Brüssel zeigen, dass die Tourneen in der Tat (außen-)politische Spannungslinien berührten, aber ebenso wirtschaftliche Unternehmungen waren und Einfluss auf die Organisation des Musiklebens in den europäischen Zentren nahmen.

Die reisende Hofkapelle als strukturelles „Unicum“ Zur Einordnung dieser Aspekte ist es hilfreich, die strukturellen Besonderheiten der Meininger Hofkapelle zu umreißen: Administrativ unterstand das Orchester vollkommen der herzoglichen Entscheidungsgewalt, auch wenn gerade Bülow und Reger hinsichtlich der künstlerischen Entwicklung weitgehend freie Hand hatten und sich Steinbach eigene Gestaltungsspielräume im Laufe der Zeit erschließen konnte.13 Nichtsdestotrotz unterlagen alle Tourneen der herzoglichen Genehmigungspflicht, wobei Georg kein Reiseziel gegen seine Kapellmeister durchsetzte und abgesicherte Angebote nicht verhinderte. Künstlerisch konzentrierte sich die Hofkapelle mit Beethoven, Brahms und später Reger schwerpunktmäßig auf „Piècen, die Note für Note dem Publikum bekannt sind“.14 Für die Probenpraxis adaptierte Bülow die „Meininger Prinzipien“ des Hoftheaters, die auf das Herzogspaar zurückgingen, in deren Umsetzung sich Georg aber selten direkt einmischte, zumal ihm ein Gehörschaden die Teilnahme an den Aufführungen, geschweige denn ihre Bewertung, später unmöglich machte.15 Finanziell agierte Georg innerhalb der von ihm gesteckten, im Vergleich zu den rasch wachsenden Orchestern des späten 19. Jahrhunderts jedoch engen Grenzen:16 So kam die Hofkapelle nie über rund 50 Musikerstellen hinaus, die nur selten für Tourneen oder Musikfeste verstärkt wurden. Mithin war sie deutlich kleiner als die ortsansässigen Orchester, mit denen sie in Großstädten in

13 14 15 16

Ivana RENTSCH/Anselm GERHARD (Hg.), Gefühlskraftwerke für Patrioten? Wagner und das Musiktheater zwischen Nationalismus und Globalisierung, Würzburg 2017, S. 17–35. Zu Reger vgl. Susanne POPP, Max Reger. Werk statt Leben. Biographie, Wiesbaden 22016, S. 353‒418. Weser-Zeitung vom 14.3.1885. MÜLLER, Die ‚Musikalischen‘ Meininger (wie Anm. 7), S. 63. Alfred ERCK/Herta MÜLLER, Hans von Bülow als Intendant der Meininger Hofkapelle, in: Hans von Bülow – Leben, Wirken und Vermächtnis, Meiningen 1994, S. 9–37, hier S. 13.

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Konkurrenz trat.17 Die Kapelle war zudem nur halbjährlich angestellt, davon nur die Hälfte bis zwei Drittel ihrer Mitglieder fest mit Pensionsanspruch. Reisen waren daher nur im Winterhalbjahr möglich. Marktökonomisch setzte Georg zwar sein monarchisches Prestige und Netzwerk für die Tourneeorganisation ein, diese unterlag dann aber vollständig den Mechanismen des musikalischen Marktes. Mit dem Berliner Konzertagenten Hermann Wolff hatten die Meininger allerdings in der Bülow-Zeit den führenden deutschen Musikunternehmer zum Partner; später traten andere Agenturen oder lokale Organisationskomitees an dessen Stelle.18 Die Agenten mussten bei den Veranstaltern Garantiesummen aufbringen, die nicht nur jedes Risiko ausschlossen, sondern zugleich in vielen Fällen der Hofkasse Überschüsse einbrachten.19 Bei den Zeitgenossen ließen diese Faktoren den Eindruck entstehen, dass es kein zweites Orchester wie die Meininger gab. Dies lud gerade im Ausland zu Vergleichen ein.

Habsburgermonarchie 1884: Gastspiel als Provokation Bereits nach der ersten Tournee im Deutschen Reich war bei Bülow die Idee von Konzerten in Wien gereift, die Georg II. vor dem Hintergrund seiner Schauspiel-Gastspiele aufgriff. Die Herbsttournee 1884, die neben Süddeutschland auch andere Teile der Habsburgermonarchie berührte, wuchs sich mit 32 Konzerten in 36 Tagen zur längsten der Hofkapelle überhaupt aus.20 Für Wien und Graz fand Agent Wolff im Hofmusikalienhändler Albert Gutmann

17 Reger an Georg II., Meiningen vom 28.2.1912, in: Max REGER, Briefwechsel mit Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, hg. von Hedwig und Erich H. MÜLLER VON ASOW, Weimar 1949, S. 134. 18 Hans-Joachim HINRICHSEN, Die Reisen der Meininger Hofkapelle und ihre Organisation durch die Agentur Hermann Wolff, in: Christian MEYER (Hg.), Le musicien et ses voyages. Pratiques, réseaux et représentations, Berlin 2003, S. 283–290; RheinischWestfälische Zeitung vom 8.11.1885. 19 Alfred ERCK/Volker KERN, Die ,Meininger‘ in Europa, in: KERN/MÜLLER, Die Meininger (wie Anm. 7), S. 7–33, hier S. 11. 20 MÜLLER, Die ‚Musikalischen‘ Meininger (wie Anm. 7), S. 41 u. 48; Georg II. an Bülow, o.O. vom 10.4.1884, Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Meiningen (im Folgenden: LATh-StAM), HA 1281; Bülow an Georg II., Meiningen vom 10.10.1884, LATh-StAM, HA 1282.

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einen finanzkräftigten Partner, der Garantien von bis zu 3.000 Gulden pro Konzert aufbrachte.21 In der Tat ging Gutmann mit der Hofkapelle ein erhebliches Risiko ein, handelte es sich doch um das erste Orchestergastspiel in der „Musikstadt ersten Ranges“22 überhaupt. Auch wenn sich Gutmann in Wien eines Grundinteresses sicher sein konnte und die enge Beziehung Johannes Brahms’ zum Herzog, zu Bülow und Meiningen zugkräftig war, blieb es eine Herausforderung, den Großen Musikvereinssaal viermal zu füllen. Dort gaben die Wiener Philharmoniker ihre Abonnementkonzerte, zu deren selbst erklärtem wie von der lokalen Presse befeuertem „Weltruhm“ Vergleichsmöglichkeiten bislang fehlten, hatte das Orchester selbst die Habsburgermonarchie doch nie verlassen.23 Folglich markierten die Auftritte der Hofkapelle eine gleichzeitige Sensation und Provokation: Auffälligster Unterschied war neben der geringeren Besetzungsstärke, dass die Kapelle – im Unterschied zu den sitzenden Philharmonikern – im Stehen spielte: „Stramm, aufrecht steht sie da, den Blick auf den Stock in der Hand des Meisters geheftet. Ein Zeichen und die Geiger streichen, die Bläser blasen, ein Strich und ein Odem, jede Bewegung genau abgezirkelt und uniform, jeder Ton minutiös gewogen und abgestuft.“24 Diese mangels eines eigenen Konzertorchesters mit entsprechenden Probenkapazitäten bis dato in Wien nicht gekannte Exaktheit im Zusammenspiel hatte Bülow in Meiningen der Hofkapelle wochenlang „eingedrillt“. Als er in Brahms’ erstem Klavierkonzert den Solopart übernahm, spielte das Orchester ohne Dirigent, und während Beethovens orchestral dargebotener Großer Fuge für Streichquartett drehte er sich schauwirksam zum Publikum um, ohne dass das Orchester aus dem Takt kam.25 Hatte er Gutmann gegenüber in seinem gewohnten Sarkasmus erklärt, er sei „so sehr gegen das ,star‘-System […], daß ich

21 Bülow an Georg II., Wien vom 1.12.1884, LATh-StAM, HA 1283; HINRICHSEN, Reisen (wie Anm. 18), S. 284; Laetitia CORBIERE, Le concert et la tournée. Perspectives sur la Direction de concerts Albert Gutmann (1873–1914), in: Artl@s Bulletin 4/2 (2016), S. 26–38. 22 Sonn- und Feiertags-Courier vom 23.11.1884; zum Topos der „Musikstadt Wien“ siehe Martina NUßBAUMER, Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images, Freiburg i. Br. 2007. 23 Wiener Abendpost vom 25.11.1884; Neues Pester Journal vom 24.11.1884. 24 Illustrirtes Wiener Extrablatt vom 1.12.1884; zur Wiener Rezeption auch Joachim REIBER, „Diese Neuheit imponirt vielleicht auch an der Donau“. Hans von Bülow und das erste Orchestergastspiel im Großen Musikvereinsaal, in: Musikblätter der Wiener Philharmoniker 48 (1993/94), S. 303–309. 25 Die Presse vom 27.11.1884; Illustrirtes Wiener Extrablatt vom 1.12.1884; Bülow an Gutmann, Meiningen vom 9.10.1884, in: Hans von BÜLOW, Briefe und Schriften, Bd. 6, hg. von Marie von BÜLOW, Leipzig 1907, S. 301.

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bei den Aufführungen mein Dirigieren auf ein Minimum reduzire“,26 so war dieses zugleich „Sensationssüchtige der Inscenirung“27 Teil der Auftrittsstrategie. Diese ging, was Publikum und Musikkritik betraf, vollumfänglich auf. Auch aufgrund der Breite und Dichte ihres Repertoires erlangte die Kapelle in Wien „die vollgiltige Ratification ihrer künstlerischen Bedeutung“;28 für die Kunstsinnigkeit des Herzogs gab es Anerkennung. Erwartbar wie pointiert fiel der Vergleich mit den Philharmonikern aber zuungunsten von Meiningens Kleinräumigkeit aus: Maliziös bemerkte der Musikkritiker Max Kalbeck, dass mit der Kapelle „die Hälfte des Herzogthums Meiningen“29 im Musikvereinssaal Platz gefunden habe. Sein Kollege Ludwig Speidel hielt im Fremdenblatt lediglich „die Meininger in Meiningen“ für „respectabel“: „Und vollends in Wien! Nein, schon die Vergleichung ist beleidigend.“30 Der Komponist Hugo Wolf spottete über Joachim Raffs Ouvertüre zu „Herzog Bernhard von Weimar“, die durch ihren Thüringen-Bezug, vor allem aber durch den verwendeten Luther-Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ für Wien denkbar ungeeignet war: „Da marschieren sämmtliche Krüppel aus dem 30jährigen Kriege hungrig und frierend dem mitleidigen Auge vorüber und unwillkürlich reift man in die Tasche um ihnen ein Almosen zu verabreichen, so traurig siehts um diesen Marsch aus.“31 Die Kommentare gaben Bülow, der bekannt für seine Interaktionen mit dem Publikum war, Gelegenheit zur Replik, die dem Wiener Musikleben einen willkommenen Skandal bescherte und die Öffentlichkeitswirkung der Konzerte nur verstärkte. Angesichts der von Speidel besonders verrissenen Beethoven’schen Egmont-Ouvertüre setzte Bülow diese provokativ im dritten Konzert „auf mehrseitiges Verlangen“ erneut an, um dann auf der Bühne mit dem Fremdenblatt in der Hand in einer Publikumsansprache eben auf die „Wiederholung dieses Attentats“ zugunsten der Akademischen Festouvertüre von Brahms zu verzichten.32 Angesichts der Anwesenheit des letzteren Komponisten im Saal hatte Bülow nur zu gewinnen, indem er Musikkritik und Publikum gegeneinander ausspielte: Entweder brachte das Publikum durch Brahms-Jubel auch ihm und dem verrissenen Orchester eine Ovation dar, oder es desavouierte öffentlich das Kritikerurteil, indem es Beethoven verlangte, was letztlich eintrat.

26 27 28 29 30 31 32

Bülow an Gutmann, Meiningen vom 2.10.1884, in: ebd., S. 299. Prager Tagblatt vom 5.12.1884. Sonn- und Feiertags-Courier vom 23.11.1884. Die Presse vom 27.11.1884. Fremdenblatt vom 22.11.1884; auch ebd., 13.12.1884. Wiener Salonblatt vom 30.11.1884. Die Presse vom 2.12.1884; Kenneth BIRKIN, Hans von Bülow. A Life for Music, Cambridge 2011, S. 313; WALKER, Bülow (wie Anm. 6), S. 312 f.

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Der Skandal erreichte die nächste Stufe, als Bülow, mit Rücksicht auf die anwesenden Mitglieder des Kaiserhauses, nach dem Konzert wegen „rhetorische[r] Thätigkeit“ von der Polizei abgemahnt und belehrt wurde, sich ausschließlich durch „musikalische Ennunciationen verständlich“ zu machen.33 Beim Abschiedskonzert hoffte nun das Publikum „im Stillen, Herr v. Bülow werde sprechen, und die Stenographen hielten ihre Bleistifte in Bereitschaft“.34 Instinktsicher unterlief Bülow diese Erwartung und stilisierte sich, indem er bedeutungsvoll die Hand an den Mund führte, zum habsburgischen Zensuropfer. Damit bekam der Konflikt um die Deutungshoheit zwischen Künstlern und Kritikern eine auch im engeren Sinne politische Dimension. Indem es Bülow in Wien gelang, die Publikumsreaktionen für sich und die Hofkapelle zu instrumentalisieren, konnte er den teils abwertenden Kritiken die unmittelbare Zustimmung des Publikums entgegenhalten und verfügte somit über ein wirkmächtiges Erfolgskriterium. Viel berechenbarer verliefen dagegen die Konzerte in Preßburg, wo sich in „gespanntester Aufmerksamkeit“ das „gewählteste Publikum“35 gegenseitig seines Kunstgeschmacks versicherte, sowie in Budapest. Dort hatte Bülow mit dem Veranstalter vereinbart, neben Beethoven und Brahms, der als Pianist auftrat, Werke seines Ex-Schwiegervaters und „Pontifex maximus dieses Musikkults“, Franz Liszt, anzusetzen, der dann publikumswirksam „mit geschlossenen Augen in den Strom der Musik versank“ und mit dreifachem Orchestertusch die „Eljen Liszt“-Rufe des Publikums entgegennahm.36 Saßen in Budapest deutsche und ungarische Publikumsteile einträchtig nebeneinander, gerieten die Meininger in Graz und Prag in die Nationalitätenkonflikte der Habsburgermonarchie. Beim Orchesterbankett im Steiermärkischen Musikverein lobte der Historiker Hans von Zwiedineck-Südenhorst die besondere Bedeutung der „deutschen Kunst“ für die „Deutschen in Oesterreich, die mit doppelter Kraft an Allem festhalten müssen, was sie mit ihren Brüdern jenseits der Grenzpfähle für immer und allezeit bindet.“37 Damit zielte er – was sich mit Blick auf die Rolle Sachsen-Meiningens im Deutsch-Deutschen Krieg 1866 durchaus angeboten hätte – jedoch nicht in erster Linie auf großdeutsche Reminiszenzen ab, sondern auf kulturelle Marginalisierungsängste an der österreichischen Peripherie. In Prag hatte Bülow dem Drängen des veranstaltenden Musikverlegers František Augustin Urbánek nach einem „tschechischen“ Werk Bedřich Smetanas 33 Die Presse vom 3.12.1884; Albert J. GUTMANN, Aus dem Wiener Musikleben. KünstlerErinnerungen 1873–1908, Wien 1914, S. 25. 34 Die Presse vom 3.12.1884. 35 Pressburger Zeitung vom 23.11.1884. 36 Fövárosi Lapok vom 23.11.1884; Politisches Volksblatt Pest vom 25.11.1884. 37 Tagespost vom 28.11.1884.

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oder Antonín Dvořáks nachgegeben. Nach anfänglicher Weigerung, solche „Mausefallenhändlermusik“38 aufs Programm zu setzen, hatte er letztlich sogar Dvořák selbst gewonnen, seine Ouvertüre „Mein Heim“ zu dirigieren.39 Bülow ließ es sich nicht nehmen, diese Sondernummer dem Publikum in gebrochenem Tschechisch anzukündigen.40 Dass er dabei die deutsche Version vergaß, nahmen ihm deutschsprachige Konzertbesucher so übel, dass einige aus Protest den Saal verließen. In der Folge beschwerte sich das Wiener Außenministerium beim Herzog wegen dieser unstatthaften politischen Einmischung.41 Unter umgekehrten Vorzeichen deutete auch die tschechische Presse Bülows Geste als nationalitätenpolitische Parteinahme: „Auch uns wurde schwer ums Herz, als wir sahen, dass uns der Mann verlässt, der offenbar keine Angst hat, der ganzen Welt zu sagen, dass er überzeugt sei, dass uns dieses teure Herz des Königreiches Böhmen gehöre, mit dessen Söhnen sich jeder Tschechisch verständigen solle.“42 War es Bülow in Wien gelungen, mit dem Publikum Front gegen die Presse zu machen, versagten ihm die deutschsprachigen Konzertbesucher in Prag die Zustimmung, während ihn die tschechische Seite für sich vereinnahmte. Das Wiener Gastspiel von 1884 hatte längerfristige Nachwirkungen. Zum einen versuchte Georg später, mit Blick auf die im Rückblick umso größeren Erfolge seinen Hofkapellmeister Reger von einer Neuauflage zu überzeugen, riet aber angesichts der antideutschen Spannungen vom Besuch Prags ab.43 Reger konterte mit angeblich unlauteren Geschäftspraktiken in Wien und antisemitischen Ausfällen gegen die Wiener Presse, um dann, gleichsam als Totschlagargument, immer wieder die klangliche Überlegenheit der Wiener Philharmoniker anzuführen, die ihm eine willkommene Gelegenheit für Klagen über die Unterfinanzierung der Hofkapelle bot.44 Zum anderen jedoch hatte das Meininger Gastspiel, das sie als bewussten Angriff auf ihre „culturelle, civilisatorische Mission“ interpretierten, das Selbstverständnis der Wiener Philharmoniker als „bestes Orchester der Welt“ nach-

38 Bülow an Wolff, Meiningen vom 26.10.1884, in: BÜLOW, Briefe, Bd. 6 (wie Anm. 25), S. 313. 39 Zdeněk NOUZA, Bülows Beziehungen zu Prag, in: Hans von Bülow (wie Anm. 19), S. 58‒68, hier S. 62–64. 40 Národní Listy vom 5.12.1884. 41 Bohemia vom 6.12.1884; ERCK/SCHNEIDER, Georg II. (wie Anm. 7), S. 455. 42 Dalibor vom 7. u. 14.12.1884. 43 Georg II. an Max Reger, Pleßhaus vom 19.10.1912; Cap Marton vom 17.2.1914, in: REGER, Briefwechsel mit Georg II. (wie Anm. 18), S. 361 u. 568. 44 Reger an Georg II., Hannover vom 20.10.1912; Meiningen vom 23.10.1912 u. 25.2.1914, in: ebd., S. 361 f., 368, 568.

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haltig erschüttert.45 Noch 1904, nachdem mittlerweile auch die Berliner Philharmoniker zweimal in Wien gastiert hatten, nahm der Geiger Stefan Wahl in einer Orchesterversammlung die Meininger Hofkapelle als Vergleichsfolie, um die „künstlerische Exclusivität“ der Philharmoniker neu zu definieren. Wahls Rede bildet ein Schlüsseldokument für die Selbsterfindung der Wiener Philharmoniker als ein „Wiener“ bzw. „österreichisch-habsburgisches“ Orchester, das sich über seinen nationalen Identitätskern bislang kaum Gedanken gemacht hatte. 20 Jahre nach ihren Konzerten in Wien hatte sich das Spiel im Stehen so sehr eingeprägt, dass ausgerechnet die Meininger zum Muster musikalischen Preußentums stereotypisiert wurden: „Sie kamen – frappierten mehr als sie siegten, hauptsächlich durch Präzision und Exaktheit ihres Zusammenspiels. […] Aber, wenn man die Herren so stramm dastehen sah […], hatte man das Gefühl, jetzt und jetzt werden sie auf Commando gleich dem ,Lehrbataillon‘ des I. preus. Grenadier-Rgmts. im Stechschritt abmarschieren.“ Klangästhetisch zog Wahl den Meiningern die „specifisch österreichische“ Kunst seiner Kollegen vor, nur dass die beispielhaft genannten Musiker allesamt Böhmen oder Ungarn waren. Wenn sich also die Wiener Philharmoniker in Abgrenzung von den Meiningern erstmals als „österreichisch“ definierten, so konnte dies nicht auf Basis eines ethnischen, sondern nur mithilfe eines organischen Nationsverständnisses geschehen, das „Menschenmaterial“, „Traditionen“ und „den Boden auf welchem wir leben, […] die Luft welche wir atmen“ einschloss: „Alle, die noch hierher kamen, haben sich uns früher oder später, mehr oder weniger assimiliert“. Statt also zur kulturdiplomatischen Verständigung beizutragen, dominierten beim Meininger Gastspiel in der Habsburgermonarchie, nicht von ihrer Intention, aber ihrer Wirkung her, nationale, abgrenzende Aneignungen, die im Falle der Wiener Philharmoniker langfristig wirkmächtig blieben.

45 Rede Stefan Wahls zur Versammlung am 30.5.1904, Historisches Archiv der Wiener Philharmoniker, A-Pr-13 (dort auch die folgenden Zitate); dazu auch Christian MERLIN, Die Wiener Philharmoniker. Das Orchester und seine Geschichte von 1842 bis heute, Bd. 1, Wien 2017, S. 107–110.

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London 1902: Die Meininger als permanent orchestra 1902 trat die Hofkapelle zum einzigen Mal nicht in einem Nachbarland des Deutschen Reiches auf. Auch hinsichtlich der Größenordnung bildete das London-Gastspiel zwischen der 10.000-Einwohner-Residenz und der Fast-SiebenMillionen-Metropole den markantesten Kontrast. Von den Schauspielgastspielen der 1880er Jahre wusste Georg, dass es für erstmals in London auftretende Künstler hilfreich war, wenn sie die tonangebenden aristokratischen Kreise für sich interessieren konnten, angefangen bei der Königsfamilie. Entsprechend hatte Georg damals seine Kontakte genutzt, um den Prince of Wales als Schirmherrn zu gewinnen.46 Auf solche Protektion legte der alte Herzog auch 1902 schon aus Prestigegründen Wert, konnte sie aber nach dem Thronwechsel von 1901 offenbar nicht mehr direkt vermitteln.47 Doch waren Meininger Musiker in London nicht unbekannt: Hofkapellmeister Steinbach hatte 1893 am Opernhaus Covent Garden debütiert; Mitglieder der Hofkapelle hatten vor der Orchestertournee eigene Konzertreisen durch englische Städte unternommen, und auch die Meininger Musikfeste von 1895 und 1899 hatten internationale Aufmerksamkeit erfahren.48 Darüber hinaus verfügten die Meininger über einen Londoner Förderer, den Musikmäzen und Brahms-Freund Edward Speyer, Mitglied einer hochvermögenden britischamerikanischen Bankiersfamilie.49 Hatte in Wien vor allem der Name Bülows die Nachfrage befeuert, so setzte Speyer für London ganz auf die Meininger Verbindung zu Brahms. Zur finanziellen Absicherung konstituierte Speyer ein 29-köpfiges Komitee, das 1.450 Pfund aufbrachte, sodass die renommierte St. James’s Hall gemietet und herzogliche Bedenken zerstreut werden konnten. Ein Blick in den Saal zeigte jedoch, dass Georg die Zugkraft aristokratischen Prestiges eher überschätzt hatte: Neben dem „eleganten Publikum“ besuchten nämlich vor allem „die höheren berufstätigen Klassen und [sozial] gut verbundene Arbeiter, vielleicht das gebildetste Publikum“, die Konzerte. Da diesen Gruppen aber zugleich wenig Konzerterfahrung unterstellt wurde, zeigte sich die Presse konsterniert, wie

46 47 48 49

ERCK/SCHNEIDER, Georg II. (wie Anm. 7), S. 457 f. MÜLLER, Die ‚Musikalischen‘ Meininger (wie Anm. 7), S. 59. ERCK/SCHNEIDER, Georg II. (wie Anm. 7), S. 459; außerdem Times vom 18.11.1902. Edward SPEYER, My Life and Friends, London 1937, S. 176–178; MÜLLER, Die ‚Musikalischen‘ Meininger (wie Anm. 7), S. 59; Robert W. ESHBACH, Brahms in „das Land ohne Musik“. The Visit of the Meiningen Orchestra to England in 1902, in: Maren GOLTZ/Wolfgang SANDBERGER/Christiane WIESENFELDT (Hg.), Spätphase(n)? Johannes Brahms’ Werke der 1880er und 1890er Jahre, München 2010, S. 233–246, hier S. 236.

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„absurd enthusiastisch über das tatsächliche Spiel des Meininger Orchesters“ das Publikum war.50 Didaktische Aspekte bestimmten die Programmwahl. Speyers Anliegen folgend, stand Brahms im Mittelpunkt, ergänzt um ältere – so die britische Erstaufführung zweier Brandenburgischer Konzerte von Bach51 – und jüngere Stücke – Richard Strauss’ „Don Juan“, aber auch französische Musik und die „Enigma Variations“ Edward Elgars, der selbst anwesend war. Wiederum im Unterschied zur habsburgischen Tournee 1884, als Brahms unmittelbarer Zeitgenosse war und selbst mitwirkte, standen die Londoner Konzerte fünf Jahre nach Brahms’ Tod im Zeichen der Kanonisierung und auch Musealisierung. Im Lichte spätromantischer Entwicklungen war die Meininger Musikästhetik unter Steinbach konservativer geworden, entschlossen, „gegen den hereinbrechenden Anarchismus in der Musikkunst […] im Zeichen unseres Meisters Brahms Front zu machen“.52 Hinzu kam, dass die Presse die trotz Verstärkung im Vergleich immer noch kleine Besetzung der Hofkapelle gerade bei Wagner, Tschaikowski und Strauss kritisch bemerkte, was die konservative Selbstbeschränkung noch steigerte.53 Bei Brahms dagegen war sich britische Musikkritik einig, seine Sinfonien aufgrund seiner Verbindungen zur Hofkapelle erstmals „authentisch“ gehört zu haben, und pries Meiningen als Brahms-Pendant zum Wagner-Bayreuth.54 Das sozial gemischte Publikum zog ebenfalls mit; Steinbach berichtete Georg von nie gekanntem Jubel: „Die Hauptsache aber ist, daß wir mit einem Schlag Brahms in London populär gemacht haben.“55 Ganz unmittelbar schrieb sich die probentechnisch bestens präparierte Hofkapelle in eine tagesaktuelle Debatte während einer Umbruchphase des sich professionalisierenden Musikbetriebs ein. Ähnlich wie in Wien luden Orchestergastspiele in London zu Qualitätsvergleichen ein. Um 1900 trat dabei ein strukturelles Defizit der Londoner Orchester hervor: Ihre Mitglieder waren nicht fest angestellt, sondern rekrutierten sich aus einem Pool nur lose vertraglich gebundener Musiker, die oft in mehreren Ensembles gleichzeitig spielten und berechtigt waren, im Falle lukrativerer Engagements zu bereits vereinbarten Proben 50 Musical Opinion & Music Trade Review vom 26.12.1902 und Neue Musik-Zeitung 24/1903; zur Sozialstruktur des Londoner Publikums siehe Sven Oliver MÜLLER, Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014. 51 SPEYER, My Life (wie Anm. 49), S. 178. 52 Fritz Steinbach an Georg II., Meiningen vom 4.10.1902, LATh-StAM, HA 1466. 53 The Musical Standard vom 22.11.1902; Musical Opinion & Music Trade Review vom 26.12.1902. 54 The Musical Standard vom 22.11.1902; The Musical Times vom 1.12.1902. 55 Steinbach an Georg II., Meiningen vom 27.11.1902, LATh-StAM, HA 1466.

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und Aufführungen Stellvertreter zu schicken, sodass die Besetzungen ständig wechselten.56 Demgegenüber demonstrierte der „permanent body“57 aus Meiningen eine ungeahnte Qualität im Zusammenspiel. In programmatischer Absicht begann die Times ihre Besprechung des Auftaktkonzerts mit dem angeblich dem Publikum abgelauschten Satz: „Ich habe zuvor noch nie ein Orchester gehört.“58 Der Monthly Musical Record bekräftigte: „Das Meininger Orchester ist in der Tat ein Beispiel dafür, was mit einem ständigen Orchester erreicht werden kann.“59 Es nimmt daher nicht wunder, dass Gastspiele wie das Meininger eine Rolle für die Reorganisation der Londoner Orchesterlandschaft spielten, die 1904 in der Gründung des London Symphony Orchestra kulminierte. Dieses entstand aus dem Protest der Musiker des Queen’s Hall Orchestra gegen das Verbot des „deputy system“ durch die Orchesterleitung.60 Zwar wurde diese Praxis in der Folgezeit nicht abgeschafft – fest angestellt wurden Londoner Musiker unter dem Eindruck weiterer Gastorchester vom Kontinent erst seit den 1930er Jahren.61 Doch stieg das musikalische Qualitätsbewusstsein deutlich, und das London Symphony Orchestra ging bald nach seiner Gründung auch auf Tournee. Zu seinen regelmäßigen Gastdirigenten zählte, auch das war kein Zufall, der ehemalige Meininger Kapellmeister Fritz Steinbach, dessen Karriere einen raschen internationalen Aufschwung nahm und ihn bis nach New York führte.62 Ähnlich wie Wien 1884 markierte London 1902 einen vorläufigen Endpunkt der Entwicklung der Hofkapelle, dem jeweils eine Phase des Neuanfangs folgte. Dabei spielte der Weggang der Hofkapellmeister Bülow und Steinbach eine wichtige Rolle, die nicht zuletzt unter dem Eindruck solcher Gastspiele und zunehmender internationaler Dirigierverpflichtungen im Meininger „Hinterland“ an Karrieregrenzen stießen. Gerade der Londoner Fall macht aber auch deutlich, dass durch solche Gastspiele mit angestoßene Reformen im lokalen Musik56 Richard MORRISON, Orchestra. The LSO: A Century of Triumph and Turbulence, London 2004, S. 11–17; Simon MCVEIGH, The London Symphony Orchestra. The First Decade Revisited, in: Journal of the Royal Musical Association 138 (2013), S. 313–376, hier S. 317–323. 57 Times vom 4.12.1902. 58 Times vom 18.11.1902. 59 The Monthly Musical Record vom 1.12.1902. 60 MORRISON, Orchestra (wie Anm. 56), S. 17–29; MCVEIGH, London Symphony (wie Anm. 56). 61 Friedemann PESTEL, „Ein Programm, was auch irgend etwas über die Situation Deutschlands aussagt“? Wagner auf internationalen Orchestertourneen (1930er bis 1960er Jahre), in: Katharina WAGNER/Holger von BERG/Marie Luise MAINTZ (Hg.), Sündenfall der Künste? Richard Wagner, der Nationalsozialismus und die Folgen, Kassel 2018, S. 154‒ 173 u. 207‒213, hier S. 161 f. 62 New York Times vom 24.3.1906 u. 7.12.1902 über das Londoner Gastspiel.

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betrieb die Wiederholung der Meininger Tourneen als „Unicum“ in den internationalen Musikzentren zugleich unwahrscheinlicher machten.

1913: Brüssel statt Paris – Konzert und Krieg Hatte die Hofkapelle mit ihren ersten Tourneen Maßstäbe im internationalen Musikbetrieb gesetzt, so fiel ihr Aktionsradius zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusehends hinter dem anderer Orchester zurück. Gleichwohl mangelte es nicht an Projekten: Dazu zählten neben der Rückkehr nach Wien Einladungen nach Italien und Spanien oder Steinbachs vergebliche Bemühungen um ein Auftreten in Paris.63 Der „Brahms-Apostel“ hatte dort 1901 als Dirigent debütiert und im Anschluss Weichen für Konzerte seines Meininger Orchesters in der Opéra Comique gestellt.64 Alfred Erck und Hannelore Schneider zufolge habe jedoch das französische Kulturministerium als Ausdruck der „deutschlandfeindlichen Haltung“ die Konzerte untersagt.65 Solche Formulierungen erinnern an Georgs eigene Ermahnungen, mit denen er einem späteren Vorstoß Regers eine Absage erteilte: „Vor Paris besonders habe ich aber Manschetten, da der Franzose gerade jetzt ausgesprochene Feindschaft gegen die Deutschen hat, die er nicht ermangeln dürfte, auf das neutral sein sollende Feld der Kunst zu übertragen.“66 Das Meininger Tageblatt sah den Urheber der Absage zwar ebenfalls im Kulturministerium, aber nicht aufgrund politischer Motive, sondern angesichts der zu geringen Saalmiete, zu der der Operndirektor dem Konzertagenten sein Haus überlassen wollte und die letztlich zulasten des Staates gegangen wäre. Ein Ausweichen in das Théâtre du Vaudeville, wo Steinbach 1901 konzertiert hatte, kam aufgrund der geringeren Platzkapazität nicht infrage, wenn die von Meininger Seite geforderte Garantiesumme gehalten werden sollte.67 Eine Ablehnung aus antideutschen Ressentiments erscheint auch deshalb unwahrscheinlich, da sich mittlerweile eine regelrechte „entente cordiale“ zwischen den Konzertsälen beider Länder beobachten ließ.68 Seit den 1890er Jah63 Reger an Georg II., Meiningen vom 10.5.1912 u. 15.3.1913, in: REGER, Briefwechsel mit Georg II. (wie Anm. 18), S. 223 u. 433. 64 Steinbach an Georg II., Meiningen vom 19.4.1901, LATh-StAM, HA 1465. 65 So ERCK/SCHNEIDER, Georg II. (wie Anm. 7), S. 448. Herta Müller führt naheliegender eine Absage Steinbachs aus finanziellen Gründen an; MÜLLER, Die ‚Musikalischen‘ Meininger (wie Anm. 7), S. 59. 66 Georg II. an Reger, Cap Martin vom 2.3.1912, in: REGER, Briefwechsel mit Georg II. (wie Anm. 18), S. 136. 67 Meininger Tageblatt vom 20.2.1902. 68 Signale für die musikalische Welt vom 29.1.1902, S. 130.

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ren waren deutsche Dirigenten aus dem Pariser Konzertleben nicht mehr wegzudenken; Richard Wagner avancierte zwischen 1891 und 1914 zum meistgespielten Komponisten an der Opéra; und mit den Berliner Philharmonikern gastierte dreimal ein deutsches Orchester in Paris, wenngleich politische Spannungen beim Debüt 1897 noch greifbar gewesen waren.69 Die Nachwirkungen des Deutsch-Französischen Krieges hatten die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Ländern nicht irreversibel beschädigt. Umgekehrt finden sich auf Meininger Seite antifranzösische Positionen, die ein Paris-Gastspiel zumindest nicht beförderten. Die Analogie von Musik und Krieg, von Orchestern und Armeeverbänden war seit der Frühen Neuzeit ein Allgemeinplatz.70 Im Kaiserreich erlebte die Militarisierung des Musikdiskurses eine Konjunktur. Nicht nur in Presseberichten über die Meininger wimmelte es von Konzert-Schlachten, Tournee-Feldzügen, Eroberungs-Debüts, ApplausTriumphen, Orchester-Regimentern und Dirigenten-Generälen. Auch Musiker bedienten sich, wie im Folgenden deutlich wird, dieser Analogien, was einmal mehr ein Fragezeichen hinter Vorstellungen von der „völkerbindenden Kraft“ der Musik setzt. Speziell für den Meininger Musik-Bellizismus stellt sich die Frage, inwiefern dieser einen Reflex auf die politisch-militärische Mindermächtigkeit des Herzogtums bildete. Für die Zeitgenossen diente der preußisch-kleindeutsche Militarismus als Maßstab: „Veni, vidi, vici“, resümierte die Berliner Zeitung das Debüt des „Feldherrn“ Bülow mit der Hofkapelle in der Reichshauptstadt.71 Wenn die sozialdemokratische Presse dem entgegenhielt, dass diese „Liebe zu den idealen Gütern der Menschheit“ möglich wurde, weil die thüringischen Fürstentümer „der zwingenden Sorge um den Militarismus enthoben sind“, so war diese Position im Kontext der Sozialistengesetze eine marginalisierte.72 Bekanntlich erinnerte auch die Wiener Philharmoniker die Hofkapelle an ein „preußisches Grenadierregiment“. Auf die Musik bezogen, basierte diese Vorstellung von militärischer Disziplin auf dem homogenen Zusammenspiel des Orchesters und lud es über die musikalische Interpretation hinaus mit Sinn auf, was dann auch die meist enthusiastischen Publikumsreaktionen erklärbar machte.

69 Joëlle CAULLIER, La belle et la bête. L’Allemagne des Kapellmeister dans l’imaginaire français (1890–1914), Tusson 1993; Albert GIER, „… daß Paris der eigentliche Boden für Wagner ist“. Wagner-Aufführungen im Palais Garnier von 1891 bis etwa 1970, in: STOLLBERG/RENTSCH/GERHARD (Hg.), Gefühlskraftwerke (wie Anm. 12), S. 373–390. 70 Damien MAHIET/Mark FERRAGUTO/Rebekah AHRENDT, Introduction, in: DIES. (Hg.), Music and Diplomacy from the Early Modern Era to the Present, New York 2014, S. 1– 16, hier S. 3. 71 Berliner Zeitung vom 6.1.1882. 72 Volks-Zeitung vom 6.1.1882.

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Darüber hinaus schlug sich in den performativen Gemeinsamkeiten von Militär- und Orchesterdienst der Erfahrungsraum von 1870/71 nieder, sodass die Musiker im Extremfall auf dem Konzertpodium tatsächlich „Krieg spielten“. Am Ende der Deutschlandtournee 1884 hielt der Hornist Gustav Leinhos in gelockerter Stimmung beim Empfang in Frankfurt eine anschließend in der Hildburghäuser Dorfzeitung abgedruckte Ansprache: „Durchmustern Sie unser Corps, so finden Sie Linie, Reserve, Landwehr – und nach Jahren rangierend – Landsturm. Am 1. Oktober wurden alle Altersklassen einberufen, und die Truppe in Sectionen von Violinen, Bratschen, Celli, Bässen und Bläsern geteilt. So wurde zuerst abtheilungsweise gedrillt, zusammengezogen […] und […] an General von Bülow überwiesen, welcher […] uns ein Kaisermanöver brachte […]. Als die Truppe kampfestüchtig befunden war, wurde sie mobilisiert und Generalquartiermeister Wolff aus Berlin sandte Marschordre. […] In Frankfurt in die Quartiere gewiesen, Mittags reiche Rationen, Nachmittags Gefechtsstellung, Abends: zum Kampf. Nach der Beethoven Coriolan-Ouverture Fuß gefaßt, nach dessen Cdur-Sinfonie (unsere Zündnadel) Sieg entschieden. Weißenburg – Frankfurt (1ter Tag) – war unser. Tags darauf folgte Wörth – Frankfurt (2ter Tag) – in Darmstadt – ein Gravelotte – Stuttgart – unser Sedan – Carlsruhe – Metz – Mannheim – Orleans […] – Heute Frankfurt (3ter Tag) – fiel Paris – aber Freude und Jubel tönten den Siegern entgegen […]. Morgen fällt Belfort – Wiesbaden, und an den beiden letzten Tagen – Cassel – wird Garibaldi und Bourbaki der Garaus gemacht. Dann kehren wir mit reichen Lorbeeren […] zu friedlichem Wirken, zu Weib und Kind, in unser Standquartier zurück.“73

Es versteht sich von selbst, dass die Hofkapelle den Deutsch-Französischen Krieg nur außerhalb Frankreichs „nachspielen“ konnte. Parallelen von reisenden Orchestern zu „Moltke mit seinen Soldaten anno 70“74 finden sich auch andernorts. Bezeichnenderweise verzichteten sie aber darauf, das zu „erobernde“ Publikum zu spezifizieren. Leinhos’ Kriegsmimesis entging bei einer deutschen Tournee hingegen nicht dem Paradox, dass hier gegen die Bundesgenossen von 1870/71 musikalisch Krieg geführt wurde und „Eroberungen“ zur Aporie wurden, wenn die „Besiegten“ ihren „Bezwingern“ auch noch applaudierten. Darüber hinaus spiegelten nach 1910 musikalische Tourneen den Erwartungshorizont eines heraufziehenden Krieges wider: Hinsichtlich einer erneuten Wien-Reise warnte Georg Reger 1912, „daß aus dem so eben begonnenen Balkankrieg ein europäischer entbrennt“.75 Kurz darauf erklärte auf dem Freiburger 73 Dorfzeitung vom 1.2.1884; zu Leinhos siehe Maren GOLTZ, Musikerlexikon des Herzogtums Sachsen-Meiningen (1680–1918), Meiningen 2012, S. 214 f.; zur Popularität der Dorfzeitung siehe Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Sachsen-Meiningen als Vehikel der Moderne?, in: GOLTZ/GREILING/MÖTSCH (Hg.), Georg II. (wie Anm. 2), S. 203‒222, hier S. 210. 74 Signale für die musikalische Welt vom 4.6.1902, S. 470. 75 Georg II. an Reger, Pleßhaus vom 19.10.1912, in: REGER, Briefwechsel mit Georg II. (wie Anm. 18), S. 361.

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Bahnhof ein Engländer nach dem Besuch des Meininger Konzerts dem Dirigenten: „ ,Wenn die deutsche Armee ihrem Feldherrn so gehorcht, wie die ,Meininger Musiker‘ Ihnen, so fangen wir keinen Krieg mit Deutschland an!‘ Ich ,beruhigte‘ den Engländer, indem ich ihm erklärte, daß die deutsche Armee noch mehr gehorchte.“76 Aufschlussreicher als für die Frage nach tatsächlicher Kriegsgefahr sind solche Äußerungen mit Blick auf die Praktiken des Musikbetriebs: Weckten reisende Orchester militärische Assoziationen, so waren sie und ihre Publika von einem Kriegsausbruch unmittelbar betroffen, da dann der internationalisierte Musikbetrieb auf die jeweiligen Konfliktparteien zurückgeworfen wurde. Wie der Erste Weltkrieg zeigt, boten sich aber auch Kompensationsmöglichkeiten. Im Rahmen des groß angelegten und finanziell bestens ausgestatteten deutschen Kulturpropagandaprogramms in der neutralen Schweiz gastierte Richard Strauss mit Mitgliedern der in Meiningen noch existierenden Rumpf-Kapelle 1917 in Basel.77 Schließlich lassen sich unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Kompensation politischer Mindermächtigkeit Mobilität und Feindschaft auch im Vergleich zum Hoftheater diskutieren. Zur Annäherung an ein beabsichtigtes Paris-Gastspiel hatte Georg II. in den 1880er Jahren seine Schauspieler im Elsass sowie in Belgien gastieren lassen.78 In der Tat reisten dann Pariser Kritiker und Theaterfachleute zu den Meiningern nach Brüssel. Beide Ziele steuerte später auch die Hofkapelle an, die belgische Hauptstadt 1913. Die Initiative verdankte sich hier jedoch nicht mehr dem Fernziel Paris – dieses Umweges bedurften deutsche Gastspiele nach 1900 nicht mehr –, sondern einer Einladung aus Brüssel. Bei einem Besuch des belgischen Königspaars bei der Meininger Prinzessin Marie, zu dem Reger musizierte, wurde der Plan konkretisiert. Die Königin signalisierte Unterstützungsbereitschaft, sodass Reger die Teilnahme des belgischen Hofes an den Konzerten erbitten konnte. Zumindest was das Königspaar betrifft, kam

76 Reger an Georg II., Mühlhausen vom 13.11. 1912, in: Susanne POPP, Edition der HerzogBriefe. Neues von Max Reger und der Meininger Hofkapelle, in: BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK/MAX-REGER-INSTITUT/ELSA-REGER-STIFTUNG (Hg.), „Max Reger – Accordarbeiter“ (wie Anm. 6), S. 71‒144, hier S. 91. 77 Michael JUNG, Die musikalische Mobilmachung. Deutsche Kulturpropaganda in der neutralen Schweiz (1914–1918), Bachelor-Arbeit, Universität Konstanz 2016, S. 60; Signale für die musikalische Welt vom 9.5.1917, S. 389; Alexandre ELSIG, Les shrapnels du mensonge. La Suisse face à la propagande allemande de la Grande Guerre, Lausanne 2017. 78 ERCK/SCHNEIDER, Georg II. (wie Anm. 7), S. 448 u. 462 f.

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es allerdings nicht dazu, ebenso wenig wie das Gastspiel Zugkraft in Richtung Paris entwickelte, wozu aber auch wenig Anlass bestand.79 Angesichts der dominanten Militärrhetorik mutet es geradezu ironisch an, dass die Brüsseler Reaktionen gerade den „unpreußischen“ und „unmilitärischen“ Charakter des Orchesters hervorhoben. Der defensive Eindruck wurde verstärkt durch die altersmäßig sichtbare Reife der Orchestermitglieder und den im Sitzen dirigierenden Reger.80 Weiterhin kamen die Meininger 1913 nicht mehr als „Unicum“, sondern galten bereits als ein Orchester mit einer eigenen Geschichte und internationalem Renommee.81

Die „Meininger“ international: Möglichkeiten und Grenzen Abschließend lassen sich am Beispiel der Auslandsgastspiele der Hofkapelle drei Aspekte der Beziehung von Kultur und Politik in Sachsen-Meiningen unter Georg II. gewichten: das Verhältnis von herzoglicher Kulturpolitik und den professionellen Logiken des Musikbetriebs, das Verhältnis von „deutscher“ musikalischer Hegemonie und Meininger „Weltgeltung“ sowie Stellenwert und Grenzen der Hofkapelle für Internationalisierungsprozesse im Musikleben. Wenn, erstens, die Hofkapelle im Ausland konzertierte, konnte der Herzog auf eine positive Öffentlichkeitswirkung für seine Person und das Herzogtum rechnen. In den Presseberichten finden sich wiederkehrende Versatzstücke wie die Kunstsinnigkeit des Herzogs, die lokale Journalisten in seine „Uneigennützigkeit“, eine breite musikinteressierte Öffentlichkeit an den Leistungen „seines“ Orchesters teilhaben zu lassen, oder in Dankbarkeitsbekundungen wendeten.82 Asymmetrische Vergleiche spielten dabei eine wichtige Rolle: Fielen diese in Wien eher kritisch aus, so rechnete etwa die Presse in Den Haag das Meininger Verhältnis von Musikerstärke und Einwohnerzahl auf die eigene

79 Ebd., S. 463 f., die aber den Georg-Reger-Briefwechsel nicht berücksichtigen; Elsa REGER, Mein Leben mit und für Max Reger. Erinnerungen, Leipzig 1930, S. 115; Reger an Georg II., Schneewinkl vom 25. u. 29.8.1912, in: REGER, Briefwechsel mit Georg II. (wie Anm. 18), S. 309 u. 311; Marie von Sachsen-Meiningen an Reger, Villa Felicitas vom 14.8. u. 26.10.1913 und Georg II. an Reger, Pleßhaus vom 8.11.1913, ebd., S. 515, 529 u. 532. 80 L’Indépendance belge vom 12.11.1913; La Meuse vom 10.11.1913. 81 L’Indépendance belge vom 29.10.1913; Journal de Bruxelles vom 30.10.1913; Le Soir vom 31.10.1913. 82 Volkszeitung-Zeitung vom 29.10.1884; Sonn- und Feiertags-Courier vom 23.11.1884; HANSLICK, Concerte (wie Anm. 4), S. 414; Arnhemsche Courant vom 19.11.1885; Caecilia vom 1.12.1885.

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Stadtgröße um und nutzte so die großzügige herzogliche Kulturförderung als Kritikfolie für fehlendes Engagement vor Ort.83 Die für die Schauspieltourneen maßgeblichen monarchischen Verbindungen Georgs spielten für die Hofkapelle eine geringere Rolle: Sie reiste in weit geringerem Umfang und an Orte, an denen, wie in Wien oder London, der Herzog über keine direkten Kontakte mehr verfügte. Weiterhin war Georg in die Leitung der Hofkapelle weit weniger involviert als in seiner Zusammenarbeit mit Helene von Heldburg und Ludwig Chronegk für das Schauspiel. Von Richtlinien, Vorschlägen und Genehmigungen abgesehen, überließ er die konkrete Akquise und Abwicklung der Gastspiele den Kapellmeistern, Agenten und Veranstaltern und verzichtete meistens auf seine Anwesenheit. Damit traten, stärker als monarchisches Mäzenatentum, die professionellen Logiken des sich internationalisierenden Musikbetriebs in den Vordergrund: Verkehrsinfrastrukturen im Sinne von Hanslicks „Eisenbahn-Epoche“, Geschäftsinteressen und Netzwerke der Agenten, internationale Künstlerkarrieren, Konkurrenz zu lokalen Ensembles sowie die Aufgeschlossenheit von Publika und Musikjournalisten. Vor allem aber verwiesen Massenphänomene wie Dirigentenstartum und Komponistenkult die Sichtbarkeit monarchischer Kulturpolitik in die zweite Reihe. Den „Segen des absolut monarchischen Principes“ bezog die Wiener Presse auf Bülows Dirigat und eben nicht auf Georg.84 Zweitens ergibt sich für die Frage nach der nationalen, europäischen oder globalen Verortung der Hofkapellen-Konzerte kein konsistentes Bild. Deutsche Konzertkritiken postulierten 1884, dem Jahr des deutschen Kolonialerwerbs, aber noch bevor das Orchester das Reich jemals verlassen hatte, dass die Gastspiele „der deutschen Musik den ersten Rang in der Welt anweisen“.85 Dagegen betonten niederländische Reaktionen Bülows „Kosmopolitentum“, da er auch französische Werke aufführte.86 Auch traten unterschiedliche Aneignungsmuster zutage: In der Habsburgermonarchie kam der Kategorie des „Deutschen“ weniger eine hegemoniale Rolle zu, sondern sie wurde für die Nationalitätenkonflikte funktionalisiert. In London diente sie lediglich als Deutungshintergrund für die Reorganisation des eigenen Musiklebens. Die Brüsseler Presse betonte eher die Ergebnisse langfristiger musikalischer Transfers als hegemoniale Wirkungen. Umgekehrt spielten aber auch explizit „europäische“ oder „globale“ Aneignungen auf ausländischer Seite eine prominente Rolle. Soll daher die Selbstbezüglichkeit von Kategorien wie „ganz Europa“ oder „Weltruhm“ nicht 83 Haagsche Courant vom 10.11.1900; zu Wien: Bülow an Gutmann, Meiningen vom 18.10.1884, in: BÜLOW, Briefe, Bd. 6 (wie Anm. 25), S. 304. 84 Musikalisches Wochenblatt vom 27.12.1884; dies suggeriert jedoch SCHRÖTER, „Der Segen“ (wie Anm. 5), S. 442. 85 Mainzer Nachrichten vom 22.1.1884. 86 Caecilia vom 1.12.1885.

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FRIEDEMANN PESTEL

reproduziert werden, scheint es geboten, die Transnationalität der Gastspiele in erster Linie auf die Praktiken der Akteure zu beziehen. Dass, drittens, Brüssel 1913 das letzte eigenständige Auslandsgastspiel der Hofkapelle blieb, erklärt sich nicht allein durch den Fluchtpunkt 1914. Vielmehr schreckte der greise und risikoscheue Herzog bereits in der Reger-Ära vor Neuerungen in der Reisepraxis eher zurück. Vom unmusikalischen Erbprinzenpaar erwartete sich Reger gar kein Interesse mehr: „[D]ie große Zeit Meiningens ist jetzt absolut vorbei“.87 Mit Blick auf den internationalen Musikbetrieb fällt allerdings auch seine eigene Bilanz dürftig aus: Zwar vermeldete er stolz die an ihn ergangenen Auslandseinladungen. Doch realisierte er davon praktisch keine, sodass er die Internationalisierung des Orchesters weit weniger stark vorantrieb als der bestens vernetzte Bülow oder Steinbach. In ihrer bestehenden Form besaß die Hofkapelle 1913/14 ein dreifaches Ablaufdatum, für das in Meiningen keine Lösungen gefunden wurden: das Alter des Herzogs, an den die institutionelle Existenz des Orchesters gekoppelt war, die zu begrenzten strukturellen und finanziellen Spielräume, um angesichts der Konkurrenz an der europäischen Spitze dauerhaft mithalten zu können, sowie ein programmatisches Profil, das 30 Jahre nach den Anfangserfolgen nur noch wenig innovativ war. Bildeten diese Faktoren in den 1880er Jahren Alleinstellungsmerkmale, so wandelten sich die internationalen Rahmenbedingungen des Musikbetriebs anschließend stärker, als sich Herzog, Hofkapelle und Kapellmeister anpassen konnten und wollten. Bereits bei seinem Abschied 1885 resümierte Bülow, dass er angesichts der Wirkung der Hofkapelle „auf die Musikpflege aller Orten“ nicht mehr den „Beethoven-Brahms-Leierkasten nutzlos weiter zu drehen“ bereit sei.88 In gewisser Weise schlugen somit Entwicklungen nach Meiningen zurück, die der von der Hofkapelle betriebene „Reise-Verkehr“89 mit angestoßen hatte: die Gründungen der Berliner Philharmoniker 1882, des Concertgebouw Orkest Amsterdam 1888 oder des London Symphony Orchestra 1904,90 die Kanonisierung der Beethoven- und Brahms-Sinfonien und nicht zuletzt die Tourneetätigkeit anderer europäischer Orchester. Die Schilderungen des gealterten, kompakten Ensembles mit dem altbekannten Repertoire und seinem wenig charismatischen Dirigenten aus Brüssel sind dafür symptomatisch. Dabei markieren sie aber keinesfalls ein Scheitern der Meininger Kulturpolitik, sondern einen Normalisierungsprozess. Entsprechend endete die Meininger Reisetätigkeit auch 87 Reger an Philipp Wolfrum, Meiningen vom 20.5.1913, in: Max REGER, Briefe an Fritz Stein, hg. von Susanne POPP, Bonn 1982, S. 131. 88 Bülow an Georg II., Bonn vom 23.11.1885, LATh-StAM, HA 1285. 89 Signale für die musikalische Welt vom 29.1.1902, S. 129. 90 Siehe auch Deutsches Montags-Blatt vom 3.3.1884; Musikalisches Wochenblatt vom 12.2.1885; Algemeen Handelsblad vom 5.11.1900; The Musical Standard vom 11.2.1905.

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nicht völlig mit dem Ersten Weltkrieg, sondern es gab 1921 in Oberschlesien, kurz vor dem Referendum und daher gefördert durch das Reichsinnenministerium, oder 1924 im grenznahen Rheinland Wiederknüpfungsversuche.91 Heute hingegen – dies als Epilog – sind es nicht mehr die Meininger, die unter den Thüringer Orchestern nunmehr global präsent sind. 2013 gastierte die Jenaer Philharmonie im chinesischen Guangzhou mit einem Mozart-BeethovenSchumann-Programm, das auch die Hofkapelle in den 1880er Jahren so hätte spielen können.92 2018 unternahm die „historic Staatskapelle Weimar“ ihre erste USA-Tournee ebenfalls ganz im Zeichen der Tradition. Neben den Hausgöttern Wagner, Liszt und Strauss, die die Weimarer (und auch die Meininger) Hofkapelle dirigiert und Werke für sie geschrieben hatten, erregte in erster Linie das „älteste“ deutsche Orchester selbst Aufsehen, das seine Wurzeln in das Jahr, „bevor Christoph Columbus seinen Fuß nach Nordamerika [sic!] setzte“,93 zurückführe. Insofern lebt auch der heutige Thüringer Kulturexport maßgeblich von den Zinsen des kulturellen Kapitals der Ernestiner.

91 Alfred ERCK, Geschichte des Meininger Theaters. 1831–2006, Meiningen 2006, S. 130. 92 Thüringische Landeszeitung vom 12.11.2013, https://www.tlz.de/web/zgt/kultur/ detail/specific/Jenaer-Philharmoniker-fahren-mit-Mozart-ins-Reich-der-Mitte-660273457 (letzter Zugriff: 25.7.2018). 93 Sarasota Herald Tribune vom 25.2.2018. Für die USA-Berichte danke ich Susann Leine vom Deutschen Nationaltheater Weimar.

R O N N Y S CH W A L B E BÜRGERTUM UND ÖFFENTLICHKEIT

Bürgertum und Öffentlichkeit Darstellung und Selbstdarstellung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert am Beispiel des Wirtschaftsbürgertums

Das Bürgertum erlebte im 19. Jahrhundert eine Blütezeit, die bis ins frühe 20. Jahrhundert hineinreichte. Die Gründe hierfür waren recht vielfältig, lassen sich jedoch vorsichtig auf drei wesentliche Punkte verkürzen. Erstens: Die Revolutionen und verfassungsgeschichtlichen Umbrüche zum Ende des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts haben das Selbstverständnis des Bürgertums beflügelt. Zweitens: Das Bürgertum verfügte über das Potential, die gesellschaftlichen und philosophischen Strömungen zu prägen und fortzuentwickeln. Drittens formierte sich das Bürgertum als Träger des wirtschaftlichen Aufbruchs im Zeitalter der Industrialisierung. So ist es nicht „erstaunlich, welche Ausstrahlungs- und Prägekraft im wesentlichen [vom Bürgertum] auf die Gesamtgesellschaft ausgeübt worden ist“.1 Denn das in Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum differenzierbare Gefüge stieg im 19. Jahrhundert zur Elite der Gesellschaft auf und wusste dieses ständische Emporsteigen als Trägerschicht der sich generierenden Leistungsgesellschaft zu nutzen. Seine Protagonisten prägten eine bürgerliche Wertegesellschaft mit Normen, Moralinstanzen sowie einem allgemeinüblichen Wertekanon und leiteten mit wachsendem Selbstbewusstsein ein Repräsentationsgebot für sich ab, das sie mittels Selbstinszenierung demonstrierten. Somit trat das Bürgertum auch in ein öffentliches Interesse. Öffentlichkeit bedeutete dabei ein Wechselspiel zwischen Darstellung und Selbstdarstellung. In beiden Fällen aber war sie an eine Person geknüpft, die „immer noch auf eine Umgebung angewiesen [war], vor der sie sich entfaltet“.2 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren die Träger der repräsentativen Öffentlichkeit die ständischen Gewalten von Kirche und Landesherrschaft. Diese erweiterten sich fortan durch private Elemente zu einer Öffentlichkeit „auf der anderen Seite“3 und wurden seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts 1

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Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 2008, S. 713. Jürgen HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 51996, S. 65. Ebd., S. 66.

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erneut durch eine Verschränkung der öffentlichen Sphäre mit dem privaten Bereich verknüpft. Es trat nun das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum ins Blickfeld der Öffentlichkeit, das sich zugleich als Vorbild und Leitfigur für das private Leben darstellte, die bürgerlichen Tugenden prägte, das gesellschaftliche Leben kennzeichnete und so allumfassend dominierte. Dabei stieg das Bürgertum gleichsam zu einer „staatserhaltenden Kraft“ auf, die mit der unmittelbaren Einlösung ihrer privaten Macht ins gesellschaftliche Leben vordrang.4 HansUlrich Wehler spricht bei der Öffentlichkeit des Bürgertums in kulturell-ideologischer Dimension des 19. Jahrhunderts sogar von einer hegemonialen Stellung gegenüber dem Adel, den Bauern und dem Proletariat.5

Abb. 1: 250. Jubiläum der Privilegierten Schützengesellschaft Gera. Ölgemälde von Carl Hermann Beyer aus dem Jahr 1911 nach einer unbekannten Fotografie.

An einem Beispiel soll diese Form der Darstellung verdeutlich werden. Im Jahr 1910 beauftragte die „Privilegierte Schützengesellschaft Gera“ den Dresdener Kunstmaler Carl Hermann Beyer aus Anlass der 250-Jahrfeier des Bestehens der 4

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Vgl. ebd., S. 230. Habermas nennt hier die Unternehmer, die den Staat durch ihre wirtschaftlichen Leistungen stärkten und den Arbeitern, die gerade im 19. Jahrhundert einen Wandel von Haus- und Familien- zur Industriearbeit überstehen mussten, ein entsprechendes Auskommen sicherten, was sich wiederum im sozialen Sektor bemerkbar machte. Gleichsam sollte aber auch auf das Bildungsbürgertum Bezug genommen werden. Auch sie, Staatsbeamte, Lehrer, Universitätsangehörige, Pfarrer, Notare etc. waren Träger des Staates und wurden gerade im Demokratisierungsprozess zu einer immer einflussreicheren Gruppe. Vgl. WEHLER, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), S. 766.

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Gesellschaft, ein Gemälde zu schaffen. Dieses wurde ein Jahr später fertig gestellt „und muß als eine Kunstleistung bester Art angesehen werden. Außer den hohen und höchsten Behörden sind sämmtliche Mitglieder des Ausschusses und Direktoriums, desgl. die Mitglieder des Uniformierten Corps, der Schießenden Schützen, sowie eine größere Zahl der Schützen-Gesellschaft nahestehender Personen dargestellt. Auf dem Bilde sind 230 Personen in lebenswahren Portrait dargestellt ohne der noch als Staffage dienenden Gestalten.“6

Das gerahmte Ölgemälde7 gliedert sich in zwei Ebenen und zeigt auf der unteren Bildhälfte die bereits erwähnten Personen als Gruppen und einzeln stehend auf einem großen Platz. Auf der oberen Bildhälfte des im Original knapp drei Meter langen Bildes sind mehrere Gebäude dargestellt. Es handelt sich um eine zeitgetreue Abbildung des neuen Schützenhauses in Gera-Debschwitz, das im Zuge des 16. Mitteldeutschen Bundesschießens im Jahr 1896 eingeweiht wurde.8 Auf dem Bild links ist ein Pavillon zu sehen, der als Musikpavillon einem kleinen Orchester Platz bietet. Es schließt sich daran ein zweigeschossiges Hauptgebäude an, das mit einem kleinen Auszug als Mittelturm gestaltet und von kleinen Seitentürmchen eingerahmt wird. Auf dem Hauptauszug des Gebäudes thront ein Schützenadler mit weit aufgespannten Flügeln. Auch das auf der rechten Bildseite dargestellte Gebäude zeigt mit einer Schützenscheibe ein charakteristisches Merkmal dieser Gesellschaft. Im Hintergrund des Gebäudekomplexes ist die als Eselsberg bezeichnete Flur von Gera-Debschwitz zu sehen. Für unsere Untersuchung jedoch spielen die dargestellten Personen im Bildvordergrund die größere Rolle, und zwar die teilweise kleine Grüppchen bildenden Personen, die zum gesellschaftlichen Leben der Stadt, zu den Ministerien und Hofbehörden des Landes sowie den uniformierten Garden und kooperierten Vereinigungen gehörten. Neben Mitgliedern der Gesellschaft befinden sich auf

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Chronik der Schützen-Compagnie Gera 1887–1914, handschriftlich, S. 249 (im Besitz der Privilegierten Schützengesellschaft Gera). Das Gemälde fand nach Fertigstellung seinen Platz im Schützenhaus der Privilegierten Schützengesellschaft Gera, bis diese nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst und der gesamte Bestand an Schützenbildern an das Stadtmuseum Gera überführt wurde. Dort befindet sich das Gemälde heute unverzeichnet im Magazin. Ich danke herzlich Herrn Matthias Wagner, Leiter des Stadtmuseums Gera, für die freundlichen Auskünfte und Herstellung der Digitalisate. Vgl. Anja LÖFFLER (Bearb.), Stadt Gera (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmale Thüringen, 3), Erfurt 2007, S. 459. Das Gelände wurde in den 1930er Jahren zu einem Sportgelände umgebaut und nach dem Zweiten Weltkrieg als Radrennbahn weitergenutzt. Die Gebäude sind heute nicht mehr existent.

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dem Gemälde auch ihr nahestehende Personen wie Ehrenmitglieder, Mäzene und Förderer.9

Abb. 2: Detail aus: 250. Jubiläum der Privilegierten Schützengesellschaft Gera von Carl Hermann Beyer

Einer von ihnen steht in der Mitte der rechten Bildseite in erster Reihe. Es ist der Geraer Industrielle Georg Hirsch (1863–1939), der mit dem Tod seines Vaters 1880 das Erbe für einen der größten Färbereibetriebe Deutschlands, der Färberei und Appreturanstalt Louis Hirsch in Gera, antrat.10 Georg Hirsch kann als Paradebeispiel eines Wirtschaftsbürgers bezeichnet werden. Der Vater,11 der sich vom Handwerksmeister zum Großindustriellen emporarbeitete, legte den familiären und wirtschaftlichen Grundstein für den Erfolg seines Sohnes, der 9 Vgl. Chronik der Schützen-Compagnie (wie Anm. 6), S. 249. 10 Vgl. Geraer Zeitung, Tageblatt und Anzeiger vom 17.1.1880, S. 2. 11 Zu Louis Hirsch (1814–1880) siehe Ronny SCHWALBE, Die Chancen einer prosperierenden Stadt in der Industrialisierung. Wie Carl Louis Hirsch vom Handwerksgesellen zu einem der größten Unternehmer Geras avancierte, in: Stefan GERBER/Werner GREILING/ Marco SWINIARTZKI (Hg.), Thüringen im Industriezeitalter. Konzepte, Fallbeispiele und regionale Verläufe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2019, S. 261– 276.

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später ein global agierendes Unternehmen mit zahlreichen weiteren Wirtschaftszweigen vom Bergbau über Werkzeugbau, Plantagenbesitzungen, Transportindustrie und textil- und kautschukverarbeitendes Gewerbe sowie zahlreiche Aktienbeteiligungen sein Eigen nennen konnte.12 Georg Hirsch führte in Gera eine der größten Fabriken und war mit seinen weiteren knapp zwanzig Firmen Arbeitgeber für mehrere tausend Angestellte und Beamte. Überdies setzte er seinen wirtschaftlichen Erfolg für die Förderung von Kultur und Kunst, Wissenschaft und sozialem Engagement ein. Das Lebenswerk Georg Hirschs spiegelt exemplarisch den Werdegang eines äußerst erfolgreichen Wirtschaftsbürgers im Ostthüringer Raum wider, der nicht allein durch ökonomische Interessen, sondern auch mit dem Streben nach gesellschaftlicher, politischer und kultureller Akzeptanz entscheidende Akzente setzte.13 Dieser Wirtschaftsbürger wird auf dem beschriebenen Panoramagemälde sehr selbstbewusst gezeigt. Er trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd mit Krawatte sowie einen Kurzmantel. Auf dem Kopf trägt er einen hellen Hut mit breiter Krempe und stützt sich mit seinem linken Arm auf einen gebogenen Gehstock. Er blickt den Betrachter des Bildes aufrecht an, trägt keine Ehrenzeichen und ist in keine Gruppe von Personen eingebunden. Georg Hirsch ist so als eine besondere Person charakterisierbar, die allein stehend ihre Wichtigkeit in der ersten Reihe betont und nicht auf Grund einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder der Mitgliedschaft in einer Vereinigung gesehen wird. Der Zweck, ein solches Gemälde zu schaffen, fügt sich in die Erinnerungskultur jener Tage mustergültig ein. Denn „als sichtbares Zeichen dieses Jubiläums wurde […] beschlossen [,] ein weiteres Bild für die Gemäldesammlung zu beschaffen, um der Erinnerung ihr Recht zu geben“.14 Solche Gemälde waren es, die der Kultur und der Inszenierung des Bürgertums Raum gaben. Meist waren die Auftraggeber selbst im Bürgertum fest verwurzelt und wurden in der ersten Reihe stehend dargestellt, schließlich waren die Werke oft Dankesbeweise an Mäzene oder Aufforderungen an weitere Förderer. Nicht selten wurden die Bilder in ihrer Komposition konstruiert und sollten einem Idealtypus folgen, sich mit den Spitzen der Gesellschaft zu schmücken. Auch die Umstände zur Entstehung des hier beschriebenen Bildes lassen diesen Schluss zu. Zwar wurde 12 Zu allen wirtschaftlichen Betätigungsfeldern Georg Hirschs siehe DERS., Von einer reußischen Stückfärberei zum Global Player. Kommerzienrat Dr. h. c. Georg Hirsch als Fallbeispiel der Industrialisierung in Ostthüringen, in: Stefan GERBER/Werner GREILING/ Marco SWINIARTZKI (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegung in Thüringen, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 111–129. 13 Karl MÖCKL, Einleitung, in: DERS. (Hg.), Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, München 1996, S. 7–12, hier S. 8. 14 Chronik der Schützen-Compagnie (wie Anm. 6), S. 244.

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das 250-jährige Jubiläum der Privilegierten Schützengesellschaft zünftig begangen, aber es ist kaum anzunehmen, dass es eine inszenierte Aufstellung dieser Art gegeben hat. Und so zeigt dieses Gemälde idealtypisch ein Gesellschaftsabbild, bei dem sich politische, kulturelle und wirtschaftliche Ebenen verwoben haben und so gesellschaftlich teils gleichberechtigt nebeneinander standen. Das Bürgertum hatte die Reihen des Adels erreicht. Überdies zeigt das Gemälde den vollzogenen Wandel von der höfischen zur bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich „als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute begreifen“ lässt.15 Demnach zählte „öffentliches Interesse“ zu den allgemeinen Prinzipien des neuen gesellschaftlichen Wertesystems, das sich in der Konstituierung eines neuen öffentlichen Raumes begriff.16 Diese Räume waren vielfältig gestaltet und drückten sich in verschiedenen Formen aus. So ließ sich das Bürgertum beispielsweise nobilitieren und mit Ehrungen versehen, es wurden Wappenbriefe für bürgerliche Familien ausgestellt, in der Presse Laudationes anlässlich von Altersjubiläen veröffentlicht und Festschriften herausgegeben sowie Porträts von Wirtschaftsbürgern angefertigt, die in den Geschäftsräumen der Geschäftsführer und Abteilungsleiter ihrer Fabriken hingen. In diese breite Öffnung von Öffentlichkeit als Raum zwischen Individuum, Staat und Gesellschaft setzte Habermas jedoch zunächst eine Abgrenzung hin zum Privaten und meint damit nicht eine Abschottung, sondern eine aus der Intimität der Familie wachsende Öffnung. Mit einem Bild umschreibt er dies treffend: „Die Linie zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit geht mitten durchs Haus“.17 So bestand zwar einerseits das Gefüge aus Familie und Hauspersonal sowie Hausherr und Gast, doch wurden Gesinde und Gesellschaft andererseits auch strikt von der Privatsphäre getrennt. Diese wurde wiederum durch Salons und später durch Vereine als Vielfalt von Öffentlichkeit mit sozialer Funktion abgefedert.18 Im Folgenden werden ausgewählte Formen des öffentlichen Raums im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert exemplarisch vorgestellt und am Beispiel des Geraer Wirtschaftsbürgers Georg Hirsch skizziert. Zu Vergleichszwecken werden kursorisch zwei der bekanntesten Wirtschaftsbürger, Alfred Krupp und August Thyssen, herangezogen.19 Damit soll gezeigt werden, welche Strahlkraft 15 HABERMAS, Strukturwandel (wie Anm. 2), S. 86. 16 Vgl. Hans Ulrich JOST, Zum Konzept der Öffentlichkeit in der Geschichte des 19. Jahrhunderts, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 46 (1996), S. 43–59. 17 HABERMAS, Strukturwandel (wie Anm. 2), S. 109. 18 Vgl. Gunilla BUDDE, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 17–21. 19 Zum Verhältnis von Alfred und Friedrich Alfred Krupp zur Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert liegt eine mustergültige Dissertationsschrift von Barbara Wolbring vor. Diese wird im Folgenden immer wieder herangezogen, vgl. Barbara WOLBRING, Krupp und die

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das Bürgertum auf die Gesellschaft besaß und welche Mittel es nutzte, um diese Elite zu bilden.

Öffentlichkeit durch Presse und Schrift Dass die Lesekultur im 19. Jahrhundert einen enormen Aufschwung erfuhr, ist hinlänglich bekannt. Vor allem die Presse profitierte von der Alphabetisierung und Urbanisierung der Gesellschaft.20 „Es wird die Zeitung, die den Menschen täglich zum Allgemeinen, zum Fernen, zur Nation wie zur Welt, zu den Ideen und Abstraktionen, zum Täglichen seiner eigenen Zeit und zum Neuen, zu den öffentlichen Dingen in Beziehung setzt.“21 Die städtischen Tageszeitungen wurden zu einem Kommunikationsmittel im lokalen Raum und beeinflussten in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Lesegewohnheit der Menschen, die das Leben mehr und mehr über Zeitungen wahrnahmen.22 Jörg Requate behauptet sogar, dass sich die gesellschaftliche Kommunikation im 19. Jahrhundert fast ausschließlich auf die massenmediale Kommunikation reduzierte23 und sich nicht mehr wie in der Frühen Neuzeit auf eine Vielfalt von Medien, wie Erzählungen, Lieder, Literatur, Zeitungen und Flugschriften, die eng miteinander verwoben waren, verteilte. Öffentlichkeit spielte sich im Zeitalter der Industrialisierung viel mehr in den Periodika ab, die in ihrer Quantität enorm zunahmen, sodass es geboten war, die eigenen Leistungen so oft und so

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Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, München 2000. Leider ist diese Schrift die einzige Monografie, die sich dieser Thematik im Speziellen widmet. Allgemein zu nennen sind noch Anne PURSCHWITZ, Jude oder preußischer Bürger? Emanzipationsdebatte im Spannungsfeld von Regierungspolitik, Religion, Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit (1780– 1847), Göttingen 2018; Sönke FRIEDREICH, Der Weg zur Großstadt. Stadtentwicklung, bürgerliche Öffentlichkeit und symbolische Repräsentation in Plauen (1880–1933), Leipzig 2017; Andreas DAUM, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München 2002. Vgl. WEHLER, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), S. 429–445; Werner GREILING, Medienproduktion und Medienrealität im Jahrhundert der Industrialisierung, in: GERBER/ GREILING/SWINIARTZKI (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur (wie Anm. 12), S. 141– 169; Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1866–1918. Arbeitswelt und Bürgergeist, München 2013, S. 797–811. Ebd., S. 797. Vgl. Jörg REQUATE, Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts, in: DERS. (Hg.), Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, München 2009, S. 40; WEHLER, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), S. 429; BUDDE, Blütezeit des Bürgertums (wie Anm. 18), S. 16. Vgl. Jörg REQUATE, Einleitung, in: DERS. (Hg.), Das 19. Jahrhundert (wie Anm. 22), S. 9.

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gut es ging, hervorzuheben, um das öffentliche Interesse zu wecken und zu erhalten. Ein entscheidender Faktor war dabei zunächst die Örtlichkeit, denn die Lokalität der Medien bedeutete, dass die Leser zu „Betroffenen“ wurden, wenn sie die Protagonisten kannten, sich in die Umstände des Lebensumfeldes hineinversetzen konnten und so unaufhaltsam zum Teil der Veröffentlichung wurden.24 Zugleich nutzten die Verwaltungen von Kommune und Landesherrschaft die Presse, um Verordnungen bekannt zu geben, wodurch die Adressaten in eine direkte Beziehung zur Veröffentlichung traten, der sie sich nicht entziehen konnten. Auch wurde über wichtige Begebenheiten, Hofnachrichten und Ernennungen berichtet, welche die Repräsentation in eine neue Gestalt von Öffentlichkeit setzte.25 Gunilla Budde nennt dies einen „öffentlichen Kommunikationsraum“,26 der in der modernen Forschung eher als pluralisierend dargestellt wird und nicht wie bei Habermas homogenisierend. Der Leser hatte damit Anteil an den Wandlungsprozessen der Gesellschaft.27 Die gesellschaftliche Durchdringung der Mediengesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist bisher allerdings noch vergleichsweise wenig erforscht, denn es lassen sich kaum belastbare Nachweise auf eine direkte Auswirkung von Medien auf die Gesellschaft und ihre damit verbundene Meinungsbildung im Bezug auf die Bürgerlichkeit finden. Generell tritt in der Forschungsdiskussion immer wieder die Perspektive der Medien selbst in den Vordergrund. So konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass die Zeitungen im 19. Jahrhundert auf Grund der ständigen Modellierungen ihrer Inhalte einen stärker werdenden Leserzuwachs verzeichneten oder dass die Zeitschriften im Vergleich zu den Zeitungen ein rascheres Wachstum erfuhren; ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ebenso die politische Zeitung. Fast nie werden jedoch Rückschlüsse auf das Phänomen der Öffentlichkeitsbildung für und durch die Protagonisten gezogen. So gilt es zu untersuchen, inwiefern eine Steigerung der Leserschaft gleichsam einen größeren öffentlichen Raum für die Beschriebenen bedeutet haben muss und wie sie dies für ihre Selbstinszenierung nutzten. Zunächst soll die Presse in den Blick genommen werden, die mit Zeitungen und Zeitschriften die Aufmerksamkeit der Gesellschaft band. Bürger, insbesondere Wirtschaftsbürger, fanden hier durch wenigstens drei verschiedene journalistische Darstellungsformen Eingang. Die erste Möglichkeit, eine zielgerichtete Öffentlichkeit herzustellen, waren für sie die Anzeigen. So konnten sie entweder selbst durch klassische Familienanzeigen bzw. Nachrufe an die Öffentlichkeit 24 25 26 27

Vgl. DERS., Kennzeichen (wie Anm. 22), S. 41. Vgl. HABERMAS, Strukturwandel (wie Anm. 2), S. 79. BUDDE, Blütezeit des Bürgertums (wie Anm. 18), S. 17. Vgl. REQUATE, Kennzeichen (wie Anm. 22), S. 41.

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treten oder über Werbeanzeigen die Produkte ihrer Firmen anpreisen.28 Nimmt man eine allgemeingültige Definition des 19. Jahrhunderts für das Wort „Reklame“ ernst, so ist sie eine empfehlende Anzeige, die das Stilmittel der Übertreibung besonders verwendet.29 Denn man versuchte „neue Begierden und Bedürfnisse zu wecken, die Nützlichkeit und Qualität der eigenen Waren herauszustellen und alles möglichst weithin publik zu machen“.30 Während zahlreiche große Firmen regelmäßig mit Werbeanzeigen ihre Produkte offerierten, haben die Firmen von Georg Hirsch höchst selten Werbeanzeigen geschaltet, von denen nur wenige bekannt sind. Eine davon erschien 1903 im Beiblatt der Fliegenden Blätter31 und nahm Bezug auf ein besonderes Stoffimprägnierverfahren der Firma Louis Hirsch, wodurch die Damen- und Herrenkleiderstoffe sowie fertigen Herrenbekleidungen und Uniformen „dauerndporös-wasserdicht hergestellt werden“ konnten. Die 1/3seitige Anzeige bot zudem ausreichend Platz, die besonderen Vorzüge der Imprägnierung herauszuarbeiten und ebenso die verschiedenen Bezugsquellen. Neben dem Produktnamen „Wasserperle“ wurde der Firmenname „Louis Hirsch, Gera (Reuss)“ markenbildend fast ebenso groß in der Anzeige gesetzt. Auf grafische Elemente wurde zugunsten verschiedener Schriftarten und -größen verzichtet.

Abb. 3: Anzeige der „Wasserperle“ im Beiblatt der „Fliegenden Blätter“, 1903

28 Zur Funktion der Werbeanzeige vgl. GREILING, Medienproduktion (wie Anm. 20), S. 148–153. 29 Meyers Kleines Konversations-Lexikon, Bd. 3, Leipzig/Wien 51893, S. 128. 30 GREILING, Medienproduktion (wie Anm. 20), S. 150. 31 Beiblatt der Fliegenden Blätter, Bd. 119, Nr. 3035 vom 25. September 1903.

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Aufschlussreich sind auch familienbiographische Anzeigen, wie beispielsweise Traueranzeigen. Als Georg Hirsch am 4. März 1939 verstarb, erschienen bereits zwei Tage später in der Geraer Zeitung, der größten Zeitung des Kreises, vier großformatige Traueranzeigen.32 Die größte von ihnen wurde von der Familie aufgegeben und bezeichnete den Heimgegangenen als „Haupt der Familie“. In dieser Anzeige wurden zudem die Ehrendoktorwürde, die Ehrenbürgerschaft sowie der Titel als Kommerzienrat herausgestellt. Die drei weiteren Anzeigen wurden von Hirschs Hausangestellten, einer seiner Firmen sowie einem Verein aufgegeben, dem er angehört hat. Hier standen die Ehrenmitgliedschaft im „Deutschen Alpenverein Sektion Gera e.V.“, die Treue der Hausangestellten sowie die ökonomischen Verdienste bei der „Gera-Meuselwitz-Wuitzer Eisenbahn Aktiengesellschaft“ im Fokus. Diese Trauerbekundungen weisen ein ähnliches Muster der Inszenierung durch Familie und Angestellte auf, wie die Nachrufe auf den 59 Jahre zuvor verstorbenen Vater Louis Hirsch. Auch hier entstammten zwei der Anzeigen der Feder der Familie, die Louis als Färbereibesitzer auswies. Eine Trennung des bürgerlichen Standes zum Berufs und den wirtschaftlichen Leistungen war nicht gewünscht. Auch das Personal der Firma bezeugte dem „unvergesslichen Principal“ sein Mitgefühl. Und eine anonyme Anzeige in Form eines im Versmaß stehenden Nachrufes gedenkt „Der Besten einer“. Mit dieser Form der Nachrufe verfestigte sich das Bild eines tief in der Gesellschaft verwurzelten Bürgers, der mehr als ein Vorbild war und bleiben sollte.33 Eine nicht im direkten Sinn steuerbare Presseöffentlichkeit wurde durch die zweite journalistische Darstellungsform, die Nachricht bzw. den redaktionellen Bericht, hergestellt. Hier war der Protagonist auf das Wohlwollen und die inhaltsdichte Darstellung des Redakteurs und des Herausgebers angewiesen. So stilisierte etwa die Deutsche Färberzeitung Georg Hirsch 1939 in der kurzen Nachricht über sein Ableben zum „Inhaber der Weltfirma Louis Hirsch G.m.b.H.“34 Andere, auch größere Berichte und Nachrichten, betrafen zumeist das soziale und kulturelle Engagement über Stiftungen, Spenden und sonstige sachliche und ideelle Unterstützungen des Bürgertums. Aber auch die wirtschaftlichen Fortschritte und Innovationen innerhalb der Firmen fanden Beachtung in der Presse und rückten die Unternehmer in ein helles Licht. Passend zu diesem Sinnbild findet sich beispielsweise in der Geraer Zeitung vom 24. Januar 1880 ein ausführlicher Bericht über die Einführung einer elektrischen Beleuchtung in den Fabriksälen der Firma Louis Hirsch. Diese Erfindung hatte bereits „in der 32 Vgl. Geraer Zeitung vom 6.3.1939. 33 Vgl. Geraer Zeitung vom 17. u. 20.1.1880. 34 Deutsche Färber-Zeitung. Wochenschrift für die gesamte Färberei, Druckerei, Appretur, Bleicherei, Chemisch-, Naß- und Weiß-Wäscherei vom 26.3.1939.

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Reichshauptstadt vielfach Anwendung gefunden“.35 Mit solchen Vergleichen wurde die Innovation und Fürsorglichkeit der Unternehmensleitung betont, die dadurch schließlich die Arbeitsbedingungen ihrer Angestellten verbesserten. Diese Mittel der positiven Öffentlichkeit wurden auch in der dritten journalistischen Darstellungsform, der Laudatio, verwendet. Anlässe für jene Sonderform des Berichts waren Jubiläen, Auszeichnungen und Beförderungen. Die hier verdichteten Informationen bündelten im Text die ökonomischen, kulturellen, sozialen, politischen wie auch gesellschaftlichen Leistungen einzelner Träger des Bürgertums. Auch Georg Hirsch sind mehrere dieser Laudationes in der Presse zu Teil geworden. Die umfangreichste titelt am 28. Januar 1933: „Ein bedeutender deutscher Industrieführer. Zum 70. Geburtstag des Kommerzienrats Dr. Georg Hirsch“. Mit wohlwollenden Worten lobt man einen „der hervorragendsten Mitbürger“, dessen Name „in so hohem Maße mit der industriellen Entwicklung Geras verknüpft“ ist, wie kaum ein anderer. Biografische Notizen sind den zahlreichen wirtschaftlichen Unternehmungen, die immer wieder gebührend herausgearbeitet werden, vorangestellt. Weiter heißt es: „Mit seltener Tatkraft und großer Zähigkeit hat sich Georg Hirsch in all den langen Jahren erfolgreich um die Entwicklung seiner weitverzweigten Unternehmungen bemüht.“ Auch sein mäzenatisches Wirken, seine dadurch erworbenen Ehrungen und seine gesellschaftliche Annerkennung werden nicht verschwiegen. Der umfangreiche Bericht endet mit langen Glückwunschbekundungen und der Hoffnung, es möchte „ihm der an der industriellen Entwicklung Geras einen so großen Anteil hatte, vergönnt sein, noch Zeuge zu werden eines neuen wirtschaftlichen Aufstiegs unserer alten Reußenstadt!“36 Die Presseöffentlichkeit nutzte auch ein weiterer bekannter deutscher Wirtschaftsbürger des 19. Jahrhunderts, um den Bekanntheitsgrad und das Renommee seiner Firma und letztlich den Absatz seiner Produkte zu steigern. Alfred Krupp „war sorgfältig auf seinen Ruf bedacht, die Qualität seiner Erzeugnisse sollte über jeden Zweifel erhaben sein. Doch interessierte ihn hierbei eigentlich nur die Ansicht seiner Kunden, die durch solche37 Artikel beeinflusst werden könnten.“38 Er wusste die Presse für sich zu instrumentalisieren und schreckte nicht davor zurück, eine Distanzierung von Presseartikeln mittels bezahlter Annoncen zu erreichen. Gleichsam bemühte er sich, von der Presseöffentlichkeit

35 Geraer Zeitung vom 24.1.1880. 36 Geraer Zeitung vom 28.1.1933. 37 Gemeint sind hier Berichte in Zeitungen über falsch zugeschriebene Produkte auf der Berliner Gewerbeausstellung 1844, die Krupp fälschlicherweise nicht als Erfinder und Produzent ausweisen. 38 WOLBRING, Krupp und die Öffentlichkeit (wie Anm. 19), S. 146.

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in Ruhe gelassen zu werden, um seine Produktionsgeheimnisse keinesfalls versehentlich offen legen zu müssen.39 Neben der Presse gab es weitere Printmedien zur Herstellung von Öffentlichkeit. Aus der Vielzahl seien hier kurz die Festschriften und Handbücher hervorgehoben. So war es auch für wirtschaftliche Unternehmen üblich geworden, anlässlich von Jubiläen Festschriften zu erstellen. Sie skizzierten meist die Entwicklung des Unternehmens und stellten dessen besondere Leistungen heraus. Überdies wurden darin Grußworte und Darstellungen besonders verdienstvoller Angestellter und Weggefährten verzeichnet sowie Abbildungen von Firmenareals, Produktionsstätten, hohen Angestellten und dem Unternehmen besonders nahe stehenden Personen des öffentlichen Lebens beigegeben. Dabei konnten Form, Umfang, Konzeption und Gestaltung recht unterschiedlich ausfallen. Für die Firmen von Georg Hirsch finden sich ein Vielzahl solcher Festschriften. Die früheste ist wohl zugleich ein Unikat und nur für den Unternehmer-Eigentümer oder das Firmenarchiv bestimmt gewesen. Zwischen zwei schweren holzgeschnittenen Buchdeckeln finden sich lediglich acht Seiten aus Karton, die von der Entwicklung der Firma Louis Hirsch in Gera zwischen 1837 und 1887 berichten. Detailreich und zugleich großzügig bebildert vermittelt die künstlerisch illustrierte Schrift, die von den 22 Beamten der Firma unterzeichnet wurde, einen tiefen Einblick in die Leistungen des EigentümerUnternehmers.40 50 Jahre später wurde, wohl in großer Stückzahl, eine Broschur zum 100-jährigen Firmenjubiläum als Sonderdruck der Geraer Zeitung herausgegeben. Diese 24 Seiten umfassende Publikation, illustriert die Entwicklung der Firma, hebt die wirtschaftlichen Leistungen hervor und gibt einen detailreichen Überblick zu den Jubiläumsfeierlichkeiten, nicht ohne dabei den beiden Unternehmern Louis und Georg Hirsch zu danken und ihren unternehmerischen Geist wiederholt zu betonen.41 Weitere bekannte Festschriften, die zu Lebzeiten Hirschs entstanden sind, widmen sich unter anderem den Braunkohletagebauen.42 Andere sind erst nach seinem Tod entstanden.43 39 Vgl. zum Verhältnis Krupps und der Presse ebd., S. 145–150. 40 Festschrift der Firma Hirsch zum 50jährigen Jubiläum 1887, in: Stadtmuseum Gera, ohne Signatur. 41 100jähr. Geschäftsjubiläum der Firma Louis Hirsch G.m.b.H. Gera und 50jähr. Geschäftsjubiläum von Herrn Kommerzienrat Dr. Georg Hirsch am 3. und 4. September 1937. Sonderdruck aus der Geraer Zeitung 1937. 42 Festschrift des Braunkohlen-Industrie-Vereins A.G. Wien aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der Firma Louis Hirsch G.m.b.H. Gera, Färberei, Appreturanstalt und Druckerei und des gleichzeitigen 50jährigen Inhaber-Jubiläums des Herrn Kommerzienrats Dr. phil. h. c. Georg Hirsch in Gera am 3. September 1937. 43 Als Beispiel sei hier lediglich verwiesen auf Gert von KLASS, Metzeler. Tradition und Fortschritt, München 1963.

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Auch die im 19. und 20. Jahrhundert zahlreich erschienenen Handbücher stehen für eine besondere Form, Öffentlichkeit herzustellen. Allein die Aufnahme in das Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft muss einer Nobilitierung gleichgekommen sein. Mit dem Untertitel „Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild“ wurden 1930/31 biografische Skizzen zu den wichtigsten lebenden Persönlichkeiten zusammengefasst. Dabei wurden rund 10.000 „Träger von Kultur, Geist, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“ vorgestellt, darunter auch Georg Hirsch.44 Auf genealogische Angaben folgt sein Bildungsweg bis hin zu seinen wirtschaftlichen Unternehmungen. Ein Verzeichnis von Titeln und Ehrungen schließt den Artikel ab. Dieses Nachschlagewerk hatte die bedeutendsten Menschen der Gesellschaft im Blick, während das Werk von Louis Beck ausschließlich auf die Unternehmen fokussiert war.45 Jenes schon 1880 erschienene Handbuch skizzierte großindustriell produzierende Unternehmen. Neben der Färberei- und Appreturanstalt Louis Hirsch, die auf drei Seiten beschrieben und durch eine doppelseitige Abbildung des Firmengeländes begleitet wird, werden acht weitere Geraer Firmen vorgestellt. Auch hier zeigen sich die wirtschaftlichen und damit zugleich gesellschaftlichen Spitzen des Bürgertums der Stadt.

Öffentlichkeit durch Vereinswesen, politisches Engagement und wirtschaftliche Interessenverbände Mit dem 19. Jahrhundert wurde die Gesellschaft verstärkt durch die öffentliche Meinung in Vereinen geprägt und „durch die zwanglose Hinwendung zum wahlverwandten Vereinsbruder konnte die gewünschte Selbstveredelung zum intellektuell, moralisch und emotional wohltemperierten Subjekt verwirklicht und der Grad der Verwirklichung durch Spiegelung im Anderen ermessen werden.“46 Die Vereine wurden zum Darstellungsraum und boten eine Nebenwelt zu Beruf und Familie, wovon auch die Bürgerfamilien besonders profitierten.47 Man fand dort nicht nur den passenden Schwiegersohn oder die standesgemäßen Spielgefährten für die Kinder, man traf auch Geschäftspartner und konnte 44 Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, Berlin 1931, S. 763 f. 45 Louis C. BECK, Deutschlands Großindustrie und Großhandel. Abtheilung Thüringen, Berlin 1888. 46 BUDDE, Blütezeit des Bürgertums (wie Anm. 18), S. 20. 47 Zum Vereinswesen im Allgemeinen siehe Ralf ROTH, Verein und bürgerliche Gesellschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Werner PLUMPE/Jörg LESCZENSKI (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 121–135.

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durch konkrete soziale, ökonomische oder politische Projekte seinen bürgerlichen Idealen nahe kommen. Auch die Vereine gaben Festschriften und Jahresberichte heraus, die von den Leistungen der Mitglieder zu berichten wussten. Dabei wurde besonders für Stiftungen gedankt und der Mut sowie die Tatkraft des Einzelnen herausgestellt. Viele Vereine trugen mit einer eigenen Publikation zur gesellschaftlichen Kommunikation bei. Damit konnten neue Verbindungen geschaffen und das Publikum lokal wie national erreicht werden.48 Auch wenn Alfred Krupp ein politisches Engagement stets ablehnte und selbst den Vorschlag der Essener Zeitung 1881 zu einer Reichstagskandidatur entschieden zurückwies,49 konnten sich die Bürgerlichen einer politischen Beteiligung und damit einer neuen Öffnung zur Öffentlichkeit kaum entziehen. Denn die Nähe zur örtlichen Politik und zur Landesherrschaft war durchaus von Vorteil, wollte man zuförderst seine wirtschaftlichen oder auch mäzenatischen Anliegen begleitet wissen, die nicht zuletzt für die öffentliche Meinung von Interesse waren. Das erschien auch August Thyssen durchaus lohnenswert, der seit 1876 in der Mühlheimer Stadtverordnetenversammlung ehrenamtlich als Kassenrevisor und seit 1894 als Stadtrat wirkte.50 Über die Kommunalpolitik wurde es möglich, auf die kommunalen Infrastrukturprojekte, die Höhe der Steuern, baupolizeiliche Verordnungen oder das kommunale Liegenschaftsmanagement Einfluss zu nehmen und gleichsam Türen für die eigenen Projekte zu öffnen.51 Diese Einflussnahme war es auch, die industrielle Interessenverbände beflügelte.52 Sie waren zwar formal nicht an der politischen Willensbildung beteiligt, 48 Vgl. REQUATE, Kennzeichen (wie Anm. 22), S. 35. 49 Essener Zeitung vom 28.9.1881. Alfred Krupps Sohn, Friedrich Alfred, erreichte nur wenige Jahre ein Reichstagsmandat, um beim Streit um die Militärvorlage als Unterstützer auftreten zu können, vgl. Michael EPKENHANS, Friedrich Alfred Krupp. Ein Großindustrieller im Spannungsfeld von Firmeninteresse und Politik, in: DERS./Ralf STREMMEL (Hg.), Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010, S. 100 f. 50 Vgl. Jörg LESCZENSKI, August Thyssen 1842–1929. Lebenswelt eines Wirtschaftbürgers, Essen 2008, S. 262. 51 Zur Einführung in das Thema Bürgertum und Politik sei auf das Kapitel „Die Herren der Städte: Bürger in der Kommunalpolitik“ verwiesen, in: BUDDE, Blütezeit des Bürgertums (wie Anm. 18), S. 43–47. 52 Zu den industriellen Interessenverbänden liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor. Exemplarisch genannt seien Hans-Peter ULLMANN, Der Bund der Industriellen, Göttingen 1976; Geun-Gab BAK, Industrielle Interessenpolitik im frühen Kaiserreich. Der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller 1874–1895, Bielefeld 1987; Werner PLUMPE, Unternehmerverbände und industrielle Interessenpolitik, in: Wolfgang KÖLLMAN/Hermann KORTE (Hg.), Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung, Bd. 1, Düsseldorf 1999, S. 655–728; Achim KNIPS, Deutsche Arbeitgeberverbände der Eisen- und Metallindustrie 1888–1914, Stuttgart 1996.

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konnten aber durch ihren Sachverstand gehörigen Einfluss im außerparlamentarischen Bereich nehmen. Somit standen die Mitglieder der Interessenverbände in einer besonderen Öffentlichkeit und boten mit Hilfe von Handelskammern und kaufmännischen Kooperationen, Branchen- und später auch Zentralverbänden ein ideales Sammelbecken für Gleichgesinnte. Auch Krupp53 und Hirsch54 waren in diesen Verbänden organisiert und erreichten so ein breites Meinungsspektrum.

Öffentlichkeit durch Familienbezüge und Industrieprodukte Gesteigert wurde die öffentliche Wahrnehmung im Allgemeinen durch den Betriebsnamen, da die meisten Firmen des 19. Jahrhunderts keine allgemeingültigen Firmennamen besaßen oder Abkürzungen für ihren Betrieb verwendeten, sondern meist den Namen des Gründers, der Familie oder des Inhabers führten. So konnte eine stärkere Identifikation mit der Person und der Familie erreicht werden. Noch heute spricht man in Gera davon, zu „Hirschen’s in die Farbe“ zu gehen. Auch die bekannten Unternehmen Krupp, Thyssen, Mannesmann und Bayer oder für den thüringischen Raum Zeiss, Schott und Thiel behielten oder gaben ihren Unternehmen ihre Namen, die sie teilweise noch heute tragen. Damit verstärkte sich das Element der Bindung zwischen den Angestellten und dem Unternehmer oder zwischen dem Produkt und dem Käufer. Längst sind aus vielen Fabriknamen Marken entstanden, denn „konsequenterweise begannen die Unternehmen allmählich, eine aktive Selbstdarstellung jenseits reiner Produktwerbung aufzubauen“.55 Die Forschung der Unternehmenskommunikation trennt daher drei Bereiche: die Marktkommunikation, die 53 Zwar wehrte Krupp einen Beitritt zum Verband deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VDESI) zunächst ab, weil er für seine Unternehmen als Waffenproduzent eine Sonderstellung ableitete, ließ sich aber von seinen Prokuristen alsbald von der Notwendigkeit überzeugen. Auch der Handelskammer wollte er zunächst nicht beitreten, nutze aber deren jährliche Berichte, um auf sein Werk und seine Produkte aufmerksam zu machen. Vgl. WOLBRING, Krupp und die Öffentlichkeit (wie Anm. 19), S. 68–83. 54 Hirsch war mit seinen Firmen in den verschiedensten Verbänden Mitglied. Besonderes Engagement zeigte er in der Konvention Sächsisch-Thüringische Färbereien und im Bund der Industriellen; vgl. Gustav EISENGARTEN, Die Konvention Sächsisch-Thüringische Färbereien Greiz. Eine kartellpolitische Untersuchung, Zeulenroda 1939; HansPeter ULLMANN, Der Bund der Industriellen, Göttingen 1976. 55 Clemens WISCHERMANN, Unternehmergeschichte als Geschichte der Unternehmenskommunikation. Von der Koordination zur Kooperation, in: Clemens WISCHERMANN/ Peter BORSCHEID/Karl-Peter ELLERBROCK, Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Neue Wege der Unternehmergeschichte, Dortmund 2000, S. 34.

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interne Kommunikation und die Öffentlichkeitskommunikation. So waren die Schaffung von Vertrauen, das Einschwören der Mitarbeiter auf ein „WirGefühl“ und die Außendarstellung mittels Corporate Identities auch schon seit dem 19. Jahrhundert probate Mittel der Unternehmensführung. Wohl jeder kennt das Markensymbol der drei Krupp’schen Ringe. Dieses Markenzeichen ist Teil der Bemühungen, das Produkt als eigenen Markenartikel zu etablieren und vom übrigen Markt unterscheidbar zu machen. Krupp wählte dieses abstrakte Symbol aus einer Vielzahl von Entwürfen. Es verzichtete auf Ornamente und setzte auf eine klare, leicht verständliche Ästhetik. Der Radreifen, ein herausragendes Produkt der Krupp’schen Firmen, weckte schon allein durch die Vollkommenheit des Rings Assoziationen. Die pyramidale Anordnung von drei Ringen jedoch symbolisierte das Aufstreben Krupps. Es wurde zum Erkennungszeichen der Firma und entfaltete so eine ungeheure Integrationskraft.56 Durch die große Bandbreite seiner Unternehmungen verzichtete Georg Hirsch wohl auf die Schaffung einer zentralen Marke. Dabei galten die verschiedenen Firmennamen57 noch als Garant für Qualität und natürlich bildete die Färberei und Appreturanstalt Louis Hirsch in Gera die engste Verbindung von Firma und Familie zur Identität in der Öffentlichkeit.58 Demgegenüber besaß Georg Hirsch aber ein eigenes Wappen, das zu seinen Lebzeiten entwickelt wurde und möglicherweise an die Stelle eines Markenzeichens treten sollte. Weil ein Hinweis auf einen Wappenbrief in den Quellen derzeit noch nicht aufgetaucht ist, besteht die Annahme, dass es eine Form der Selbstinszenierung darstellt. Auf einem geteilten, neuzeitlichen Dreiecksschild findet sich in der oberen Hälfte ein springender roter Hirsch auf goldenem Grund, darunter sieht man auf schwarzem Grund neun goldene Herzen. Über dem Wappenschild thront ein Spangenhelm, von dem Akanthusranken abgehen und das Schild begleiten. Die Helmzier bilden zwei rote, aufrechte Geweihe, die eine gekrönte Frauenfigur umschließen, die durch ein goldenes Band mit den Geweihen verbunden ist und zugleich die Helmdecke bildet. In der rechten Hand trägt sie ein Herz und in der linken Blumen. Bei der Deutung dieses Wappens versteht sich der Hirsch von selbst. Der Helm steht für den Rittergutsbesitz und die damit verbundenen Patronatsrechte von Kospoda. Die neun Herzen könnten für die drei direkten 56 Zum Markensymbol der drei Ringe vgl. WOLBRING, Krupp und die Öffentlichkeit (wie Anm. 19), S. 143–145. 57 Auch die Hirsch’schen Firmen Wesselmann-Bohrer A.G., Ernst Ullmann & Co. oder Metzeler-Gummiwerke A.G. bezogen sich in ihren Firmennamen auf die einzelnen Gründer, beispielsweise wie bei Robert Friedrich Metzeler (1833–1910). 58 Am Rande sei erwähnt, dass Hirsch einem Braunkohleschacht in Böhmen den Namen seiner Frau gab („Elly-Schacht“). In den Kolonialbesitzungen in Deutsch-Ostafrika benannte er seine Pflanzungen „Gera“, „Greiz“, „Reuß“, „Georg“ und „Kospoda“.

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Generationen um die Eltern, die Geschwister und Kinder von Georg Hirsch stehen. Als herrschaftlich und aufstrebend wird das Rankenwerk verstanden, das von der Figur der Gerechtigkeit und Großherzigkeit gekrönt wird. Das Wappen findet sich auf Publikationen ebenso wie auf Gebäudefassaden und Ausstattungsgegenständen und wurde auch als einzelnes Gestaltungselement in Form von hölzernen Wappenschildern verwendet.

Abb. 4: Wappen der Familie Georg Hirsch

Öffentlichkeit durch Inszenierung Die gezielte Veröffentlichung inszenierter Bilder vom Arbeitsalltag in den Betrieben, von den Fabrikanlagen, von Freizeitbeschäftigungen und Porträts von Familienangehörigen gehörte im 19. Jahrhundert auf Leinwand, Papier und mittels Fotografie zum guten Ton. Waren im Mittelalter Porträts einzig den Herrschenden vorbehalten, eroberte bereits im späten 15. Jahrhundert ein aufstrebendes Bürgertum dieses Genre für sich. Für das klassische Bürgertum des 19. Jahrhunderts jedoch waren Porträts die repräsentativste Form der Selbstinszenierung. Sie hingen beispielsweise in Form von großformatigen Ölgemälden am Eingang von Kunstgalerien, um auf den Mäzen des Hauses zu verweisen. In den Geschäftsräumen von Fabriken präsentierten sie den Unternehmenseigentümer, im privaten Wohnumfeld führten sie Gästen und der eigenen

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Familie die erfolgreichen Traditionslinien immer wieder vor Augen. So nutzte man auch das neue Medium der Fotografie, um gezielt Bilder in Festschriften, Handbüchern, Jahrbüchern und Zeitschriften zu positionieren. Die öffentliche Festkultur von Nationalfeiertagen, Kriegsgedenktagen und Geburtstagen des Kaiserhauses war nicht unbedingt die Angelegenheit des Großbürgertums. Solche Feierlichkeiten sprachen in erster Linie das Bildungsund Kleinbürgertum an, die sich nicht selten als Verlierer der Industrialisierung empfanden und durch diese Form der Staatsnähe die Angst vor sozialem Abstieg verhindern wollten. Das Wirtschaftsbürgertum hingegen inszenierte eigene Feste, meist aus familiären Anlässen oder Firmenjubiläen. Dabei zeigte schon die Zuordnung der Plätze im Saal, in welcher Reihenfolge das gesellschaftliche Leben bestimmt wurde. Tischordnungen galten „als Mittel sozialer Distinktion innerhalb des bürgerlichen Milieus“,59 wenn Regierungsvertreter, Spitzen aus Politik, Kultur und Gesellschaft anwesend waren. Auch diese Form der Festkultur lehnte sich an die staatlichen Feiertage an, begann doch selten ein Fest ohne Gottesdienst und Gedenkakt. Dort zeigte sich das Bürgertum mehr als großzügig und veranstaltete oftmals Feste für alle Teile der Gesellschaft. Man nutzte diese Anlässe zugleich, um mit großherzigen Geschenken die Verbundenheit zu allen Schichten der Gesellschaft zu unterstreichen und damit die Beschenkten in ein Abhängigkeitsverhältnis zu stellen. So schreibt etwa der Pfarrer der Gemeinde Kospoda über diese Praxis bei der Feier der goldenen Hochzeit von Georg Hirsch und seiner Frau 1935: „Die Gegengaben sind weit größer als die Geschenke gewesen. […] Die Gegengaben alle zu erwähnen ist noch viel weniger möglich als die Gaben aufzuzählen, zumal manches Geschenk des Jubelpaares ganz privatim überreicht wurde“.60 Darüber hinaus wurden diese Feiern auch häufig in den repräsentativen Räumlichkeiten der Villen veranstaltet, wodurch der bürgerliche Wohnort zur inszenierten Öffentlichkeit wurde. Die „Öffentlichkeit“ der Wohnhalle, in der sich die Frau des Hauses an der Seite des Hausherren vor Gesinde und Nachbarschaft repräsentierten, war für die Besucher gleichsam ein Emporsteigen in bürgerliche Kreise und ein Zeichen der Öffnung im herrschaftlichen Sinne.61 Adelheid von Saldern vergleicht diese Form der Repräsentation gar mit einer Theateraufführung und so wurde der Wohnbereich zum Kernsektor kultureller

59 Monika WIENFORT, Kaisergeburtstagsfeiern am 17. Januar 1907. Bürgerliche Feste in den Städten des Deutschen Kaiserreichs, in: Manfred HETTLING/Paul NOLTE (Hg.), Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 183. 60 Orts-Chronik der Parochie Kospoda mit Meilitz und Filial Steinbrücken 1854–1942, in: Archiv der Evang.-Luth. Kirchgemeinde Kospoda, S. A.I.2.a, S. 127. 61 Vgl. HABERMAS, Strukturwandel (wie Anm. 2), S. 109.

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Repräsentation des Bürgertums.62 Nicht selten ließen sich im 19. Jahrhundert erfolgreiche Unternehmer Gebäude errichten, deren Bauformen, Größe und Ausstattung eine übertriebene Zurschaustellung des Wohlstandes darstellte. Dabei fanden die Gebäude meist Vorbilder bei Schlössern und Herrenhäusern und waren nicht selten mit Türmen und zahlreichen stattlichen Nebengelassen ausgestattet.63 Großzügige Raumaufteilungen folgten dem klassischen Schema aus Gesellschaftsräumen und Speisesaal im Erdgeschoss und der klaren Trennung zum familiären Wohnbereich und den Räumen für das Dienstpersonal in den oberen Etagen. Wirtschaftsräume waren zumeist im Souterrain untergebracht. Auch für Georg Hirsch waren Haus und Garten sowie sein bequemes Lebensumfeld mit Dienstmädchen, Gärtnern, Köchinnen und Chauffeur ein Medium der bürgerlichen Präsenz. Letztlich war seine Lust, an seiner Geraer Villa64 oder dem Schloss Kospoda65 zu bauen, nichts anderes als ein Weg der Selbstdarstellung im Geist jener bourgeoisen Lebensphilosophie. Diese findet sich auch bei Alfred Krupp mit der Villa Hügel66 oder dem Schloss Landsberg67 von August Thyssen wieder. „Diese Art von Selbstrepräsentation des Bürgertums implizierte eine übersteigerte Symbolpolitik, welche die durch den Adel erzwungenen

62 Vgl. Adelheid von SALDERN, Rauminszenierungen. Bürgerliche Selbstpräsentation im Zeitenumbruch (1880–1930), in: PLUMPE/LESCZENSKI (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit (wie Anm. 47), S. 39–57. 63 Zur bürgerlichen Villenkultur siehe unter anderem Thomas WEICHEL, Bürgerliche Villenkultur im 19. Jahrhundert, in: Dieter HEIN/Andreas SCHULZ (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, München 1996, S. 234–251; Johannes CRAMER, Fabrikantenvillen, in: MÖCKL (Hg.), Wirtschaftsbürgertum (wie Anm. 13), S. 431–448; Bettina VAUPEL, Unser Reichtum gestattet es. Die Villen der Industriellen im Ruhrgebiet, in: Monumente. Magazin für Denkmalkultur in Deutschland 2 (2017), S. 66–73. Für Thüringen exemplarisch: LANDRATSAMT GREIZ (Hg.), Villen, Bürger- und Geschäftshäuser im Landkreis Greiz, Greiz 2011; STADT GERA (Hg.), Villen und Villengärten in Gera, Gera 1999. 64 Zur Villa Hirsch in Gera siehe unter anderem Wolfgang SCHWARZENTRUB, Bürgerliche Wohnkultur. Villa Hirsch und Haus Schulenburg, in: Ute HECKMANN (Hg.), Stromauf. Das moderne Gera zwischen 1900 und 1930, Gera 2005, S. 61–65. Eine bemerkenswerte Zusammenschau mit dem besonderen Blick auf die Villenkultur der Geraer Industriellen bietet LÖFFLER (Bearb.), Stadt Gera (wie Anm. 8). 65 Zu Schloss Kospoda siehe u.a. Bertram LUCKE/Ronny SCHWALBE, Eine Zeit der Renaissance. Das Rittergut in Kospoda im Eigentum der Geraer Fabrikantenfamilie Hirsch, in: Aus der Arbeit des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie, Erfurt 2006, S. 61–67. 66 Zur Villa Hügel und ihrer Form der Öffentlichkeit siehe unter anderem Christa HASSELHORST, Der Park der Villa Hügel, Berlin/München 2009; Stephen PIELHOFF/Waltraud MURAUER-ZIEBACH, Im Hause Krupp. Die Bediensteten der Villa Hügel, Berlin/ München 2016. 67 Vgl. LESCZENSKI, August Thyssen (wie Anm. 50), S. 160–190.

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Defizite realer Machtausübung und die Brüchigkeit der Klassengesellschaft überdecken sollte.“68 Nicht nur der Bau von Villen und Schlössern oder der Kauf von Rittergütern und großem Landbesitz stellten das aufstrebende Bürgertum mit dem Adel auf eine Stufe. Das Bürgertum nutzte den Adel gleichsam, um sich durch Ehrungen, Auszeichnungen und Nobilitierungen diesem selbst anzuschließen.69 Allein in Preußen wurden zwischen 1789 und 1918 etwa 1.450 Nobilitierungen ausgesprochen, die Mehrzahl davon nach 1860,70 wenngleich Unternehmern die Standerhebung selten zu Teil wurde, denn von den insgesamt 221 Erhebungen im wilhelminischen Kaiserreich in die höheren Adelsränge waren gerade einmal 14 Unternehmer.71 Manche von ihnen, wie Alfred Krupp und August Thyssen, lehnten das „von“ sogar ab,72 denn der Titel des Kommerzienrates war in wirtschaftsbürgerlichen Kreisen mehr wert. Er galt als Gütesigel für eine besondere industrielle Stellung verbunden mit einem erheblichen Vermögen und allgemeiner Verdienstlichkeit, der nur durch den öffentlichen Raum über entsprechende Mitgliedschaften, Stiftungen und Förderungen zum Wohle der Allgemeinheit erreicht werden konnte.73 Hier galt der Bürgerstolz mehr als der Adelstitel. Aber auch dieser war nicht frei von Kritik. So lehnte beispielsweise August Thyssen mehrfach die Verleihung von Titeln auf Grund seines bürgerlichen Selbstbewusstseins ab. Alfred Krupp und Georg Hirsch hingegen zollten mit dem Titel

68 SALDERN, Rauminszenierungen (wie Anm. 62), S. 53. 69 Zu den Annäherungsprozessen zwischen Adel und Bürgertum in der Industrialisierung sowie der bereits ab 1895 von Max Weber eingeleiteten Debatte der „Aristokratisierung“ des Großbürgertums in Form der Imitation und Adaption des adligen Lebensstils unter der These der „Feudalisierung“ des Bürgertums vgl. Hartmut BERGHOFF, Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich. Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten, in: Heinz REIF (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 2000, S. 233– 272; DERS., Aristokratisierung des Bürgertums? Zur Sozialgeschichte des Nobilitierung von Unternehmern in Preußen und Großbritannien 1870 bis 1914, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 178–204; PLUMPE/LESCZENSKI (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit (wie Anm. 47); CRAMER, Fabrikantenvillen (wie Anm. 63), S. 431–448; MÖCKL, Einleitung (wie Anm. 13); Hans POHL, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Grundzüge der Epoche 1870–1914. Einführung in die Problematik, in: DERS. (Hg.), Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870– 1914), Paderborn 1979, S. 13–56, bes. S. 45–55; Michael SCHÄFER, Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 176 f. 70 BUDDE, Blütezeit des Bürgertums (wie Anm. 18), S. 93. 71 LESCZENSKI, August Thyssen (wie Anm. 50), S. 286. 72 Vgl. Lothar GALL, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2001, S. 157. 73 Vgl. BUDDE, Blütezeit des Bürgertums (wie Anm. 18), S. 93 f.

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des Kommerzienrates politische Loyalität und die Hoffnung auf eine erfolgreiche industrielle Zukunft. Neben den Standeserhebungen und Titelvergaben seitens des Staates waren es auch die Vereine, sozialen Gesellschaften, Universitäten und Kommunen, die mit Auszeichnungen ihren Dank und gleichsam ihre Nähe zur wirtschaftsbürgerlichen Elite auszudrücken suchten. Die Verleihung des Titels des Ehrenvorsitzenden oder der Ehrenmitgliedschaft in Vereinen waren ebenso übliche Honorationsgesten wie die Verleihung von Ehrendoktorwürden seitens der Universitäten. So bekamen beispielsweise August Thyssen von der Technischen Hochschule in Braunschweig und Georg Hirsch von der Universität Jena die Ehrendoktorwürde verliehen. Damit gehörten sie zu den lediglich 12 Prozent der 502 Multimillionäre im wilhelminischen Kaiserreich, die diesen Titel führen konnten.74 Beide erhielten außerdem noch das Ehrenbürgerrecht an weiteren Hochschulen und von zahlreichen Kommunen.

Fazit Die vier skizzierten Formen von Öffentlichkeit mit ihren jeweiligen Räumen zeigen, welche vielfältigen Möglichkeiten das Bürgertum hatte, durch aktives und passives Handeln in die Gesellschaft hineinzuwirken. Dabei hat sich gezeigt, dass der Aufstieg wirtschaftsbürgerlicher Eliten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nicht selten von den Inszenierungsräumen aus Darstellung und Selbstdarstellung abhing. Auf viele weitere Formen der öffentlichen Darstellung konnte aus Platzmangel nicht eingegangen werden. So sind beispielsweise Gewerbeausstellungen, bei denen es sich um weit mehr als eine Leistungsschau der Firmen und des Landes oder des Reiches handelte, oder die verschiedenen Formen sozialen Engagements nicht bearbeitet worden und harren einer näheren Untersuchung. Zudem wurden die genannten Darstellungsformen mit besonderem Blick auf Repräsentation und Selbstpräsentation betrachtet. Dabei wurden viele weitere Perspektiven, wie beispielsweise die Beziehungen des Bürgertums zu den Herrschenden und zur Arbeiterschaft, aber auch Inszenierungen und eine gezielte Veröffentlichungspraxis, wie bei Krupp durch Nachrichtenbüros, außer Acht gelassen. Diese ganz unterschiedlichen Räume der Öffentlichkeit, die das Bürgertum für sich ergründete, verdienen auch in künftigen Untersuchungen eine differenzierte Betrachtung.

74 LESCZENSKI, August Thyssen (wie Anm. 50), S. 296.

REINHOLD BRUNNER EIN PRESSEFELDZUG UND SEINE VORGESCHICHTE

Ein Pressefeldzug und seine Vorgeschichte Kommunalpolitische Entwicklungen in Eisenach vom Sommer 1945 bis zum Herbst 1946

Erschütterung herrschte in der Parteizentrale der Eisenacher SED, als die ersten Ergebnisse der Kommunalwahl vom 9. September 1946 bekannt wurden. Die im Parteihaus Goethestraße 25 Versammelten hatten längst verdrängt, dass es noch nicht einmal anderthalb Jahre her war, als der einst mächtigste Mann Eisenachs, NSDAP-Kreisleiter Hermann Köhler, hier residiert hatte. Nun ging es um Wichtigeres. Die Frage stand im Raum, warum das Volk gerade jene Partei, die ihrer eigenen Vorstellung nach die einzige war, die dessen Interessen wirklich vertrat, sie nicht gewählt hatte. Einfache Antworten waren nicht zu finden. Zunächst einmal galt es, das Wahlergebnis zur Kenntnis zu nehmen. Von 30.755 gültigen Stimmen waren 12.374 für die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDP),1 11.243 für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) und 6.661 für die Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) abgegeben worden. In der Konsequenz führte das zu folgender Sitzverteilung im Gemeinderat: 21 LDP, 18 SED und 11 CDU. Zwar hatten die Liberalen auch in anderen thüringischen Städten eine Mehrheit erreicht, doch wollte man dies im Eisenacher SED-Vorstand nicht als entscheidende Begründung, nicht als Entschuldigung für die eigene Wahlschlappe gelten lassen. Die Ursachen mussten tiefer liegen. In der rohstoffknappen Nachkriegszeit war an einen „materialintensiven“ Wahlkampf mit Flugblättern, Plakaten und Handzetteln nicht zu denken gewesen. Auch nicht über das Radio, geschweige denn über das Fernsehen, konnten die eigenen politischen Botschaften ausreichend verbreitet werden. Umso mehr Bedeutung besaßen die Zeitungen als Informations- und – im Falle der Wahlen – auch als Propagandamittel. Schon bald nach Kriegsende hatten das die 1946 um die Wählergunst streitenden Parteien erkannt. Unter Hinweis darauf, dass die „kommunistische Partei […] in dem hiesigen Bezirk bereits fortlaufend die für Weimar genehmigte Zeitung“ herausbringt, 1

Die formelle Umbenennung von Demokratische Partei in Liberal-Demokratische Partei erfolgte erst im Dezember 1945. Der Einfachheit halber wird im Folgenden jedoch auch für die Zeit davor das Kürzel LDP verwendet.

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woraus man ableiten könne, „dass für das Land Thüringen bereits von der Hohen Militärregierung über das Erscheinen von Parteizeitungen eine Entscheidung getroffen ist, die auch für den Bezirk Westthüringen zutrifft“,2 beantragte Hans Apel die Wiederzulassung der Eisenacher Tagespost. Am 24. September 1945 erschien sie dann unter dem Namen Thüringische Landeszeitung erstmals. Sie war das Organ der Demokratischen Partei. Zu diesem Zeitpunkt lagen von der kommunistischen Thüringer Volkszeitung, die seit August des Jahres als Wochenzeitung erschienen war, schon einige Ausgaben vor. Als sich im Spätsommer 1946 abzeichnete, dass die Wahl für die SED auf kommunaler Ebene nicht so einfach zu gewinnen sein würde, entschloss man sich, dieses Medium wahlpropagandistisch einzusetzen. Dass die mediale Schelte der politischen Gegner sich am Ende als kontraproduktiv erweisen würde, ahnten die Verantwortlichen nicht, als Anfang September 1946 in drei lokalen Ausgaben der Volkszeitung die politischen Gegner diffamiert wurden.3 Am 6. September „beleuchtete“ das Blatt die nazistische Vergangenheit einzelner Kandidaten der CDU-Liste. So sei Dr. Paulus Kammandel während des Krieges Wehrmachtshauptmann gewesen, Ernst Wichert Kompanieführer bei den Fallschirmjägern; Maria Heuse warf man ihre Verschwägerung mit einem Generalleutnant vor. Nicht einmal vor der Diffamierung des als „Halbjuden“ vom NS-Regime verfolgten Curt Havelland schreckte man zurück. Einen Tag später standen unter der Überschrift „Gestern Wegbereiter des Faschismus – heute liberale Demokraten“ die Mitglieder der LDP am Pranger. Dem Spitzenpolitiker Hans Apel warf man „auswechselbare Gesinnung“ vor; ihm sei „die politische Betätigung nur Mittel zur Erreichung seiner egoistischen Ziele.“ Den individuellen Anschuldigungen folgte schließlich die politische „Breitseite“: „Bedauerlicherweise hat gerade das ‚bessere Bürgertum‘, das ja immer noch ein gesichertes und auskömmliches Dasein leben konnte, einen großen Abstand zu den unfassbaren Nöten unseres Volkes.“ Vom Wahlergebnis aus betrachtet, wirkte diese Propagandaschlacht offenbar wenig zielführend, traf sie doch mehrheitlich Personen, die im sozialen Gefüge der Stadt seit langem fest verankert waren. Und im Grunde lagen die Ursachen für die von der SED am 9. September 1946 verlorene Wahl viel tiefer. Hier bedarf es eines Blickes zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit, in jene Wochen und Monate, als sich die neuen politischen Strukturen herauszubilden begannen. In Eisenach endete der Krieg am 6. April 1945 mit dem Einmarsch der amerikanischen Besatzungstruppen, die zunächst politisches Engagement jeglicher Art untersagten. Dessen ungeachtet entwickelten sich politische Strukturen, 2 3

Schreiben Apels an den Stadtkommandanten der russischen Militärregierung vom 26.7.1945, in: Stadtarchiv Eisenach (im Folgenden: StadtAE), 12-105, Bl. 5. Vgl. im Folgenden Thüringer Volkszeitung vom 5., 6. u. 7.9.1946.

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wenn auch noch nicht offiziell. So erreichte unter dem 12. Mai 1945 den seinerzeit amtierenden Oberbürgermeister der Stadt Eisenach, Dr. Ernst Fresdorf, ein Brief. Er enthielt die Abschrift eines Schriftstückes, mit dem sich zwölf Eisenacher Bürger gegenüber dem amerikanischen Stadtkommandanten erboten, „Anteil (zu) nehmen am Wiederaufbau unseres Vaterlandes und unserer Heimat, […] der sicherlich nur auf demokratischer Grundlage erfolgen kann.“4 Knapp zwei Wochen später teilte Hans Apel, Initiator dieses Schreibens, dem Oberbürgermeister mit, dass sich inzwischen „einige hundert Männer aus allen Berufskreisen“ der „Arbeitsgemeinschaft auf demokratischer Grundlage zur Verfügung gestellt“ hätten.5 Parteien waren zu diesem Zeitpunkt in der amerikanisch besetzten Zone, zu der Eisenach noch bis zum 30. Juni des Jahres gehörte, nicht zugelassen. Aus eben diesem Grund erfolgte der Zusammenschluss zunächst in Form einer „Arbeitsgemeinschaft“. Anders sah es in der russisch besetzten Zone aus. Hier hatte der Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) am 10. Juni die Bildung politischer Parteien zugelassen. Nach dem Einzug der Roten Armee in Eisenach am 2. Juli 1945 reichte die besagte Arbeitsgemeinschaft folgerichtig eine Woche später ihren Antrag auf Registrierung als Demokratische Partei ein. Sie konstituierte sich sowohl als Bezirksgruppe Westthüringen als auch als Ortsgruppe Eisenach. Doch mit einiger Sicherheit reichen die Anfänge der Partei weiter zurück. „Schon in den letzten Wochen der Nazidiktatur“, schrieb Hans Apel im September 1945, „hatten hier und da unter ständiger Gefahr der Bespitzelung und des Verrats, überlegte Männer über den bevorstehenden Zusammenbruch und die dann nötigen Maßnahmen gesprochen. Die Vorsicht zwang zur Zurückhaltung und zum Verzicht auf jede voreilige, die Zukunftspläne gefährdende Aktivität.“6 Die Quellen im Hinblick auf die Neukonstituierung der Eisenach KPD nach dem Krieg fließen spärlich. Die oft erst Jahre später zu Papier gebrachten Erinnerungen zeichnen ein geschöntes Bild. Die KPD hatte über die Zeit des Dritten Reiches hinweg bestimmte Verbindungen und Strukturen aufrechterhalten können, an die sie nun anzuknüpfen vermochte. Die vor 1933 und zwischen 1933 und 1945 führenden Kader waren im Frühjahr 1945 zumeist vor Ort. Die Initiative lag bei August Rudloff, der die Kontinuität seiner Arbeit für die Partei betonte, als er 1948 feststellte: „Ab 1933 bis zum Zusammenschluss der SED führte ich die Eisenacher Ortsgruppe der KPD.“7 Und Kurt Lange bestätigte, 4 5 6 7

StadtAE, 12-099, Bl. 1a. Ebd., Bl. 7. Thüringische Landeszeitung vom 24.9.1945. Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: LATh-HStA Weimar), RdB, Verfolgte des Naziregimes 2605, August Rudloff, Lebenslauf vom 16.9.1948, S. 7.

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dass Rudloff „einer der Ersten“ gewesen sei, „die in den Ostertagen 1945 die Initiative ergriffen zum Aufbau der KPD.“8 Zeitlich präzisierte Rudloff den Zeitpunkt der Wiedergründung in einem 20 Jahre später erschienenen Artikel: „Noch während der amerikanischen Besatzungszeit nahmen sowjetische Offiziere Verbindung mit der Ortsgruppe Eisenach der KPD auf und gaben Hinweise.“9 Eine erste, noch illegale Zusammenkunft der wieder gegründeten KPD, an der etwa zwölf Kommunisten teilnahmen, fand offenbar am 12. April in der Gaststätte „Schmelzerhof“ statt.10 Welche inhaltlichen Zielstellungen verfolgt wurden, ist nicht überliefert. Wahrscheinlich knüpfte man in dieser Runde an die ideologischen Prämissen der Vorkriegszeit an und versuchte, partiell vorhandene politische Orientierungslosigkeit zu überwinden. Dafür spricht Rudloffs Aussage, dass es der „Hinweise“ russischer Offiziere bedurfte. Otto Schiek, der erst am 16. Mai 1945 aus dem KZ Buchenwald nach Eisenach zurückkehrte, fand jedenfalls „verworrene Köpfe“ vor, die zum Teil „allen Mut verloren“ hatten, zum anderen Teil „unmittelbar den Sozialismus verwirklichen“ wollten.11 Diese Feststellung deckt sich mit dem Befund der SED-Geschichtsschreibung, wonach es innerhalb der KPD in der Phase der Neukonstituierung unterschiedliche Auffassungen über den einzuschlagenden Weg gegeben hat. „Es gab an der Basis […] zahlreiche Versuche, anstelle von KPD und SPD eine einheitliche Arbeiterpartei zu gründen. […] Zum anderen gab es auch Versuche, einfach an die Politik von 1933 anzuknüpfen und traditionelle kommunistische Politik zu machen.“12 Die in der Emigration geführte Strategie-Diskussion, in deren Ergebnis ein schrittweiser Übergang zum Sozialismus favorisiert wurde, war nicht von allen in Deutschland verbliebenen Parteimitgliedern verfolgt, geschweige denn verinnerlicht worden. Knapp zwei Monate nach den Demokraten, am 10. Juli 1945, teilten die Sozialdemokraten dem Oberbürgermeister Fresdorf mit, dass eine „Ortsgruppe 8 Zeugnis von Kurt Lange für August Rudloff vom 1.9.1948, ebd., S. 8. 9 Thüringische Landeszeitung vom 15.4.1965. 10 Mitteilung Arno Arnolds am 10.9.1970 an Bruno Steinbrück, in: StadtAE, 51.2 6123.029.087. 11 Otto SCHIEK, Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in den Jahren 1945–1948, maschinenschriftliches Manuskript vom 28.6.1966, in: StadtAE, 51.2, 6-123.029.301, Bd. 2, Bl. 2. Interessanterweise taucht die Passage, in der von den „verworrenen Köpfen“ die Rede ist, in der gedruckten Variante des Textes [Dokumente und Materialien zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Kreis Bad Salzungen, Heft 2, hg. von der Kreiskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung und der Fachkommission Geschichte beim Pädagogischen Kreiskabinett, Bad Salzungen 1966, S. 5–8 (StadtAE, 51.2, 6-122.030 28b)] nicht auf. 12 Hermann WEBER, Kleine Geschichte der DDR, Berlin 21992, S. 19.

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des Bundes Demokratischer Sozialisten (BdS) Eisenach sich gebildet“ habe.13 Die ihm gegenüber angegebenen Parteiziele waren identisch mit jenen, die der wenige Tage zuvor in Weimar gegründete BdS ausgerufen hatte. Als Vorsitzender der Eisenacher Sozialisten, die schließlich am 24. Juli nunmehr als Sozialdemokratische Partei Deutschlands um Registrierung nachsuchten, fungierte Heinrich Jentoch. Doch wie schon bei der LDP und der KPD hatte sich die Wiedergründung der SPD nach dem Krieg bereits Wochen vor der offiziellen Beantragung vollzogen. Jentoch selbst erinnerte sich 20 Jahre später, „dass es 1945 bereits unter amerikanischer Besatzung in Eisenach einen Bund demokratischer Sozialisten gab, der – so sagten seine Führer nach außen hin – erreichen wollte, dass sich die Arbeiterbewegung einheitlich entwickelte. Diese Eisenacher Gruppe arbeitete unter der amerikanischen Besatzung illegal, aber mit Mitgliederkarten und -beiträgen und allem, was zu einer politischen Organisation gehörte. Eine auf der Grundlage des Befehls Nr. 2 vom 10.6.1945 zugelassene Verbindung demokratischer Sozialisten hat es jedoch nicht gegeben.“14

Die unter Federführung Jentochs zusammengekommenen Sozialdemokraten orientierten sich an den politischen Grundsätzen, die die in Buchenwald inhaftierten Sozialdemokraten noch im April 1945 entwickelt hatten. Hinsichtlich der Gründung in Eisenach erinnerte sich Walter Schneider, dass er eine Einladung erhalten habe, „unterschrieben von den mir bekannten Kollegen Jentoch und O. Baum, an der Gründungsversammlung der SPD, Ortsgruppe Eisenach, teilzunehmen. Das muss Anfang oder Mitte Juli 1945 gewesen sein […]. Wenn ich mich nicht irre, kam die Orts- und Kreisleitung der SPD anfänglich im ‚Schmelzerhof‘ zusammen, später, aber noch im Jahr 1945, in einem (heute nicht mehr bestehenden) Lokal Puschkin-Straße Ecke Neue Straße.“15

Als der sowjetische Stadtkommandant in den ersten Julitagen des Jahres 1945 vom Bestehen der BdS-Ortsgruppe erfuhr, „bestellte er den Kollegen Jentoch zu sich, befragte ihn über Ziel und Zwecke seiner Organisation und veranlasste ihn, diesen Bund in eine Ortsgruppe der SPD umzubilden“.16 13 StadtAE, 12-178, Bl. 1. 14 Zur Gründungsgeschichte des Ortsausschusses FDGB Eisenach, zusammengestellt von Karl KIEP und Bruno STEINBRÜCK, maschinenschriftliches Manuskript, 1971, in: StadtAE, 51.2, 6-123/029.087, S. 2 f. 15 Erinnerungen Walter Schneider (SPD), 5.2.1971, ebd., S. 64. 16 Zur Gründungsgeschichte ebd., S. 2 f. In gleichem Sinne schilderte Jentoch den Sachverhalt in seinem Lebenslauf von 1974, in: StadtAE, 40.5.03.01, B 14.1: „Ich wurde zum sowjetischen Kommandanten bestellt. Er fragte, ob ich der Vorsitzende des ‚Bundes demokratischer Sozialisten‘ sei. Ich antwortete mit ja. Darauf er: ‚Sie haben gegen den Befehl Nr. 2 verstoßen‘. […] Ich setzte ihm den Beschluss von KPD und SPD-

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Die Neukonstituierung beider Arbeiterparteien und der Liberalen erfolgte letztlich mit dem Ziel, politischen und administrativen Einfluss zu erlangen. Die Bedingungen dafür unterschieden sich unter der amerikanischen Besatzung bis zum 30. Juni 1945 grundsätzlich von denen unter der sowjetischen Administration ab dem 2. Juli. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Amerikaner jegliche Betätigung politischer Parteien untersagt hatten, war es für die politisch Handelnden, wollten sie ihren Intentionen Nachdruck verleihen, unabdingbar, schrittweise die von den Amerikanern frei gegebenen Schlüsselpositionen durch Personen ihrer politischen Couleurs zu besetzen. Dabei überdeckte die Notwendigkeit, zunächst die schlimmsten Kriegsfolgen zu überwinden, anfänglich die meisten Differenzen. Im Hinblick auf die Besetzung von Schlüsselpositionen hatte unter den Amerikanern zunächst die SPD „die Nase vorn“. Freimütig bekannte der AltSozialdemokrat Arno Schroot Jahre später gegenüber seinem Vernehmer von der Staatssicherheit: „Bei den Zusammenkünften nach 1945 wurde über die Verteilung der Funktionen auf kommunalem und wirtschaftlichem Gebiet gesprochen und unter Leitung von Matthies festgelegt. Diese fanden während der Besatzungszeit durch die Amerikaner statt.“17 Und in der Tat: zunächst hatten die Besatzer den bei Kriegsende amtierenden Oberbürgermeister Dr. Rudolf Lotz im Amt belassen. Anfang Mai stellten sie fest, dass Lotz nicht nur Mitglied der NSDAP, sondern auch förderndes Mitglied der SS gewesen war. Sie folgten nun dem Vorschlag von Kurt Matthies, den zufällig in Eisenach weilenden sozialdemokratischen Verwaltungsfachmann Dr. Ernst Fresdorf ins Amt zu berufen. Die Sozialdemokraten setzten sich damit gegen die Intentionen der Kommunisten durch, deren Vorschlagsliste unter anderem folgende Kandidaten enthielt: Oberbürgermeister (OB): Karl Hermann, Stadtrat: Otto Schiek, Otto Storch, Wirtschafts- und Ernährungsfragen: Alfred Markwitz, Polizei: Karl Schuppert, Landrat: August Rudloff. Allerdings waren zu diesem Zeitpunkt weder Karl Hermann noch Otto Schiek verfügbar, die noch ihrer Entlassung aus dem KZ entgegensahen. Den „Vorschlag Hermann“ lehnten die Amerikaner deshalb ab, weil sogleich eine Lösung gefunden werden müsse und man nicht warten könne, bis Hermann zurück sei.18 KZ-Häftlingen auseinander, eine Einheits-Arbeiterpartei zu bilden. Resultat dieser Unterredung war, der ‚Bund demokratischer Sozialisten‘ erhält den Namen SPD.“ 17 Vernehmungsprotokoll mit Arno Schroot vom 5.7.1950, in: Stasi-Unterlagen-Archiv Erfurt (im Folgenden: BStU, MfS, BV Erfurt), AP 1924/67, Bl. 176 (Hervorhebung vom Autor). 18 Vermerk von Dr. Georg Appell betr. Oberbürgermeister und Landrat in Eisenach vom 6.5.1945, in: StadtAE, 40.2.27, Nachlass Appell Nr. 005. In den amtlichen Akten des Stadtarchivs Eisenachs „Niederschriften der Besprechungen mit der amerikanischen Besatzungsmacht“ (12-119) ist über diese Beratung kein Protokoll enthalten.

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Auch beim Posten des Landrates vermochte sich die KPD nicht durchzusetzen. Alfred Markwitz, Berliner Sozialdemokrat im Widerstand, später in Eisenach ansässig, erinnerte sich: „Wir schlugen August Rudloff, den unter der Weimarer Republik angesehenen Stadtverordneten, vor. Er wurde abgelehnt und auf Vorschlag, ohne dass uns davon etwas bekannt gemacht worden war, der Herren Direktor (Wilhelm) Schaaf, vom BMW, Professor (Fritz) Kühner und einigen anderen zu ihnen gehörigen Personen, der früher in Weimar beim Ernährungsamt beschäftigte Herr Frölich als Landrat eingesetzt. Wir legten dagegen Beschwerde ein, weil man unseren Vorschlag nicht angenommen hatte. Angeblich war der frühere langjährige Stadtverordnete und kenntnisreiche August Rudloff nicht befähigt, diesen Landratsposten zu betreuen. Wir ließen nicht locker. Und eines Tages wurden wir, Matthies, Rudloff und Markwitz, vor den Kommandanten gefordert. Er machte uns darauf aufmerksam, dass wir Ruhe zu halten hätten.“19

Unabdingbare Voraussetzung für die Organisation und Durchführung der dringendsten Nachkriegsarbeiten war ein funktionierendes Arbeitsamt. Es bot darüber hinaus aber auch die Möglichkeit politischer und administrativer Einflussnahme. Karl Kiep erinnerte sich, dass es Menschen gab, „die den Kräften, die das Heft des Handelns in die Hand genommen hatten, feindselig gegenüberstanden. […] Wir vom Amt haben immer erst mit dem Mittel der Überzeugung gearbeitet. Wenn wir nicht weiterkamen, mussten wir drohen: ‚Wer nicht im Chaos versinken will, muss arbeiten. Wer nicht arbeitet, bekommt keine Lebensmittelkarten.‘ “20 Schon im April war Kurt Matthies beim noch amtierenden Oberbürgermeister Dr. Lotz vorstellig geworden, um das Arbeitsamt neu zu konstituieren und die Leitung Fritz Engelmeyer zu übertagen, was schließlich auch gelang. Engelmeyer hatte aber weder eine sozialdemokratische noch eine kommunistische Vergangenheit vorzuweisen. Vielmehr entstammte er einer syndikalistisch orientierten Tradition der Arbeiterbewegung. Wieder also war es nicht gelungen, einen „echten“ Kommunisten in eine Schlüsselposition zu lancieren. Die ersten Nachkriegswochen fielen in politischer Beziehung

19 Alfred MARKWITZ, Chronik der Wartburgstadt Eisenach, maschinenschriftliches Manuskript, undatiert (um 1955), Teil 2, S. 320 f., in: StadtAE, 51.2, 6-123/228. In der für die Öffentlichkeit bestimmten Fassung beschrieb Markwitz die Ereignisse wie folgt: „Wir hatten das Bestreben, im Interesse der Arbeiterschaft zur engen Beziehung mit der Besatzungsmacht zu kommen. Es wurde daher unser Genosse August Rudloff als Landrat vorgeschlagen. Rudloff wurde von den Amerikanern mit der Begründung abgelehnt, er sei kein Fachmann, er sei nur Arbeiter.“ In: Der Wartburg-Türmer. Programmzeitschrift des Kulturbundes zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands, Kreisverband Eisenach, November 1956, S. 149. 20 Erinnerungen Karl Kiep vom 30.12.1970, in: StadtAE, 51.2, 6-123/029/87, S. 54.

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den Sozialdemokraten zu, unabhängig davon, dass sich das unter nachfolgender russischer Besatzungsmacht sehr schnell änderte.21 In den frühen Kämpfen um die Machtpositionen in Staat und Gesellschaft blieben die Eisenacher Liberalen zunächst relativ blass. Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1945 vertiefte sich bei ihnen die Erkenntnis, dass „die deutsche Arbeiterschaft […] in jahrzehntelang geführtem Klassenkampf politisch geschulter als andere Kreise der Bevölkerung in den Städten und auf dem Land“ sei, woraus sich erkläre, dass „oftmals in kleinen Gemeinden fünf Aktivisten einer einzigen Partei mehrere Hundert lauer und untätiger Einwohner nach ihrem Willen lenken.“ Die richtige Schlussfolgerung lautete: „Die Zukunft wird eindeutig dem Tätigen, nicht dem Abwartenden oder gar dem Schlafenden gehören.“22 Wohl vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis hatte Hans Apel am 21. Dezember 1945 beim Oberbürgermeister nachgefragt, „wie die verantwortlichen Stellen der Stadtverwaltung zurzeit parteipolitisch besetzt sind bzw. nach einem Personalwechsel ab 1. Januar 1946 parteipolitisch besetzt werden sollen.“ Es gehe dabei ja auch um den „Gedanken der Aufrechterhaltung der Einheitsfront aller vier antifaschistischen Parteien.“ Er dürfte ernüchtert gewesen sein, als er die nachfolgende Aufstellung erhielt: Kämmerer Walter Astor (SPD), Dezernent für Schule und Kultur Dr. Wilhelm Hartke (KPD), Leiter der Bauverwaltung Hermann Fischer-Barnicol (parteilos), Stadtrat August Rudloff (KPD), Personalamtsleiter Dr. Herbert Braun (Demokratische Partei), Leiter des Gewerbeamtes Peter Pracht (parteilos), Leiter des Ernährungs- und Wirtschaftsamtes Alfred Markwitz (SPD), Leiter der Exekutivpolizei Leander Kröber (KPD), Leiter des Wohlfahrts- und Sozialamtes Willi Dörmer (KPD), Chef des Gas- und Wasserwerkes Gustav Müller (SPD), Leiter der Verwaltungspolizei Alwin Reinhardt (KPD), Leiter der Kriminalpolizei Ernst Schütz (KPD).23 Rechnet man die Posten des OB, Karl Hermann (KPD), und des Landrates, Otto Schiek (KPD), hinzu, so hatten die bürgerlichen Parteien und teilweise auch die SPD die zweite Runde im Kampf um die administrative Macht, die sich nach der Übernahme Eisenachs in die Obhut der SMDA vollzog, deutlich verloren. Dass es der „Obhut“ der SMAD – im Sinne einer „Machtzuweisung“ an die KPD – dringend bedurft hatte, zeigt ein Blick auf die

21 Am 6.7.1945 wurde Otto Schiek zum Landrat berufen. Im gleichen Monat hängte man Karl Hermann die Kette des Eisenacher Oberbürgermeisters um. 22 Thüringische Landeszeitung vom 30.12.1945. 23 Schreiben von Apel an den OB vom 21.12.1945 und Aufstellung der entsprechenden Liste durch den Personalamtsleiter Dr. Braun, in: StadtAE, 12-2015. Die beiden zuletzt genannten Funktionen/Personen hat der OB vor Versendung an Apel von der Liste gestrichen.

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Mitgliederbewegung der in Rede stehenden Parteien, die sich im Oktober 1945 wie folgt darstellte:24 Partei

Mitgliederzahl Eisenach

Mitgliederzahl Landkreis

SPD KPD LDP CDU

640 245 273 70

ca. 1200 718 ca. 650 110

Auch das erste Halbjahr 1946 offenbarte keine Trendwende beim Mitgliederzuwachs der Parteien. Die Aufnahmeanträge wurden seinerzeit im Hauptausschuss, ein dem Antifaschistischen Block vorgeschaltetes, aus je einem Vertreter der damals zugelassenen Parteien bestehendes Gremium, behandelt. Symptomatisch für die Entwicklung war die Sitzung am 5. März 1946, als man sich mit je 13 Anträgen für die CDU und die LDP, 27 für die SPD und nur einem für die KPD zu beschäftigen hatte.25 Die vergleichsweise geringe Mitgliederzahl bei der KPD begründete sich auch in der Tatsache, dass die „innere Konsolidierung“ bisher nicht ohne Probleme verlaufen war. Viele politisch zuverlässige Kader waren im zweiten Halbjahr 1945 auf administrative Posten gehievt worden und standen für Parteiarbeit nur noch begrenzt zur Verfügung. Und so gelangte mit Heinrich Georg ein „No Name“ an die Spitze der örtlichen KPD. Georg war kein Eisenacher „KPD-Urgestein“. Er stammte aus Barmen, fungierte bis 1930 als hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär, war von 1921 bis 1933 Mitglied der SPD und ging dann zur KPD. Erstmals ist er 1938 im Eisenacher Adressbuch nachweisbar. Verschiedenen Bekundungen zufolge gehörte er der Widerstandsgruppe „Erbstromtal“ um Rudi Arnold und Karl Hermann an. Mit ihm übernahm 1945 keiner jener alteingesessenen Führungskader der KPD, wie etwa August Rudloff oder Kurt Lange, die Leitungsgeschäfte der Partei. Was gerade Georg dafür qualifizierte, ist nicht ganz klar. Gewiss war die Personaldecke der Partei zu diesem Zeitpunkt noch sehr dünn. Bei Georg scheint auch das subjektive Moment eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Es ist zumindest vorstellbar, dass er sich schneller als die alten Genossen der neuen (Moskauer) Linie anpasste. Hinzu kommt, dass er über einen ausgesprochenen Machtinstinkt und offenbar auch über ein hohes Maß an Skrupellosigkeit verfügte. Ein Zeitgenosse erinnert sich:

24 StadtAE, 12-175, Bl. 18 f., 20 f., 23 f., 26 f. 25 Ebd., 12-100, Bl. 32 et passim; vgl. auch die Sitzungen vom 15. und 25.2 sowie vom 12. und 30.3.1946.

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„Im Büro der KPD, das im Gebäude der ehemaligen Kreisleitung der NSDAP eingerichtet worden war, saß zu meiner Verwunderung als Hauptverantwortlicher der bedächtige Heinrich (Georg, R.B.) – vom sowjetischen Kommandanten bestätigt. Wohl hatte ich mich in den vergangenen Wochen des Gefühls nicht erwehren können, Heinrich steuere auf eine leitende Funktion zu – Oberbürgermeister etwa. […] Aber als ehemals gemäßigter SPD-Mann jetzt führend in der KPD? Gewiss hatte es Diskussionen gegeben, weil die meisten der Meinung gewesen waren, die Zersplitterung der Arbeiterparteien sei endgültig zu beseitigen – nur noch eine Arbeiterpartei solle künftig bestehen. Heinrich wäre also ohnehin Mitglied dieser neuen Partei gewesen. Doch KPD und SPD existierten zunächst weiter. Aber dass jetzt Heinrich nicht in der SPD, sondern als hauptverantwortlicher Funktionär der KPD in Erscheinung trat – das vermochte ich nicht zu begreifen.“26

Reinhard Lettau bescheinigte ihm „einen Machthunger, der über Leichen geht“.27 Georg genoss offenbar jedoch die Rückendeckung der Landesleitung seiner Partei. Als sich im Sommer 1946 ein schon lange schwelender Konflikt um seine Person in der SED-Kreisleitung zuspitzte, stellt sich Erich Kops von der Landesleitung demonstrativ vor ihn. Wenn die Eisenacher Georg nicht wollen, würde man gewiss in der Landesleitung für ihn Verwendung finden.28 Mit der Inthronisierung Georgs wird in Eisenach bereits frühzeitig ein Grundmuster künftiger Handlungsstrategien der SED vorweggenommen. Alte, örtlich verwurzelte, möglicherweise eigene Intentionen verfolgende, sich dem administrativen Diktat der nächst höheren Leitung entziehende, Parteifunktionäre wurden, um die Moskauer Linie und später die Stalinisierung der SED administrativ und stringent durchsetzen zu können, durch flexible Kader ohne örtliches Netzwerk ersetzt.29 Für die Wahlen zum Kommunalparlament im Herbst 1946 erwies sich das „Führungschaos“ in der KPD und später der SED jedoch als verheerend.

26 Franz HAMMER, Zeit der Bewährung. Ein Lebensbericht, Berlin 1984, S. 142 f. Und als würde das nicht ausreichen, legte der durchaus linientreue Hammer auf S. 151 noch nach: „Dieser Heinrich ist mir nicht grün – weiß der Teufel warum ...!“ 27 Reinhard LETTAU, Roter Sturm über Thüringen. Ein Romanversuch. Bearbeitet und mit einem Nachsatz versehen von Christina ONNASCH, Weimar 2011, S. 70. 28 Vgl. LATh-HStA Weimar, SED-BPA, KL ESA IV/4.03/04, Bl. 8. 29 Georg wurde später selbst Opfer dieses Systems. Unter dem Vorwurf der Wirtschaftskriminalität geriet er 1950 in die Fänge der Staatssicherheit, in deren Ermittlungsbericht am 29.9.1950 festgestellt wurde, „dass der frühere Präsident der LVA seinen Eintritt in die Ortsgruppe der KPD Eisenach bereits mit dem Vorsatz ausführte, um sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Die vielen inneren Zerwürfnisse im Kreisvorstand der KPD und später der SED in Eisenach, welche durch das korrupte Verhalten der Clique um Georg die Mitgliederschaft erfassten, sind nicht zuletzt durch die Haltung Georgs als dem damaligen Kreisvorsitzenden hervorgerufen.“ BStU, MfS, BV Erfurt, AP 690/67, Georg, Heinrich, Bd. 2, Bl. 31.

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In gewisser Weise spiegelte sich die Uneinheitlichkeit in der Führung der Kommunisten während der unmittelbaren Nachkriegsmonate auch in der Besetzung verschiedener Gremien, deren Wirkung für die Gesellschaft nicht unbedeutend war, wider. Bald nach Kriegsende hatten sich die soeben geschaffenen politischen Parteien auf die Bildung eines antifaschistischen Blocks verständigt. Es geschah dies seinerzeit noch aus einem gemeinschaftlichen Willen, eine neue, tief im Antifaschismus wurzelnde Gesellschaft zu schaffen. Auch wenn dieser Block keine administrative oder legislative Bedeutung besaß, so war seine Existenz für viele Eisenacher doch von gewisser Symbolkraft. Für neun seiner Sitzungen im zweiten Halbjahr 1945 sind entsprechende Protokolle überliefert, aus denen Folgendes ersichtlich wird. Aus den Reihen der SPD sicherten 6 verschiedene Personen insgesamt 39 Anwesenheiten ab; die CDU entsandte 7 Vertreter, die 36 mal anwesend waren; für die LDP deckten 5 Vertreter 42 Anwesenheiten ab, während die KPD mit 6 Vertretern nur 30 mal anwesend war. Es war gewiss keine Missachtung des Gremiums, sondern eher die Folge der unstrukturierten Machtverhältnisse in der KDP, die die im Vergleich zu den anderen Parteien mangelnde Präsenz der Kommunisten verursachte.30 Eine weitere Kommission, deren Wirken noch stärker in die Stadtgesellschaft reichte, war jene, die mit der Umsetzung der Befehle 124 und 126 der SMAD beschäftigt gewesen ist. Besagte Befehle legten fest, welche Vermögen des NS-Staates und seiner Funktionsträger zu sequestrieren waren. Vom Handeln dieser Kommission hing, zumindest vorerst, das Schicksal vieler NSbelasteter Eisenacher ab. Insofern muss ihr eine gewisse Relevanz zugebilligt werden. Sie tagte und entschied vom 10. Januar bis 3. Juni 1946. Um kontinuierliche Arbeit bemüht, repräsentierten für die CDU 3, für die LDP 2, und für die SPD 5 verschiedene Personen die Interessen ihrer Parteien. Walter Schaefer (LDP) nahm an 21, Arno Schroot (SPD) an 19 und Wilhelm Fehr (CDU) an 18 Sitzungen teil. Die KPD ließ sich durch 9 verschiedene Funktionäre vertreten; deren häufigste Präsenz erzielte Olga Anschütz (13). Während sich LDP, CDU und SPD durch politische „Schwergewichte“ ihrer Parteien in die Kommissionsarbeit einbrachten, gehörte Olga Anschütz nicht einmal zur zweiten Reihe der KPD, deren wichtigster Repräsentant, August Rudloff, nur zu acht Sitzungen anwesend war.31 Auch wenn die Arbeitsergebnisse dieser Kommission nach der Festigung der Machtverhältnisse zu Gunsten der SED später teil30 Zusammengestellt nach StadtAE, 12-100, Sitzungsprotokolle des Antifaschistischen Blocks Eisenach, Bl. 005 ff. 31 Zusammengestellt nach ebd., 12-731, Tätigkeit des Ausschusses zur Bereinigung der gewerblichen Wirtschaft, des Handwerks und der Verwaltung nach Befehl 124/126. Darin sind die Protokolle der Kommission für insgesamt 23 Sitzungen enthalten, aus denen jeweils die Anwesenheit ermittelt werden konnte.

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weise drastisch verändert wurden, so könnte doch der unkoordinierte Einsatz der KDP in dieser Frage den Wählerwillen im Herbst 1946 beeinflusst haben. Von ganz erheblicher Bedeutung für die „verlorene Wahl“ dürfte die in Eisenach zumindest teilweise „erzwungene“ Vereinigung von KPD und SPD zur SED gewesen sein. Zunächst waren es, wie überall, die Eisenacher Sozialdemokraten, die eine Einheitspartei auf die Tagesordnung setzten. Zwei Jahrzehnte nach dem Ereignis erinnerte sich der Gründervater der Eisenacher Sozialisten, dass man im Sommer 1945 eigentlich bereit gewesen sei, sofort eine Einheitspartei zu bilden, was aber die Kommunisten ablehnten: „Ich nahm Rücksprache mit dem Genossen Rudloff. Ich: Genossen unserer Gruppe, Markwitz, Matthies, Raßbach usw. sind der Ansicht, eine Einheitspartei der Arbeiterklasse zu bilden. Die Parteinamen KPD und SPD nicht zu benutzen. Die Genossen haben in Buchenwald beschlossen der Einheitspartei den Namen ‚Bund demokratischer Sozialisten‘ zu geben. Genosse Rudloff: ‚Wir haben die KPD schon stehen.‘ “32

Die apodiktische Feststellung Rudloffs, dass die KPD bereits bestehe, mutet wie die Absage an das Einheitsangebot der Sozialdemokraten an. Allerdings gab es auch unter den Eisenacher Kommunisten offenbar nicht wenige, die sich eine spontane, von Emotionen getragene Vereinigung beider Parteien vorzustellen vermochten. Der aus der SAJ zur KPD gekommene Paul Roth erinnerte sich: „Während des Krieges hatten wir schon die Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern hergestellt. […] Wir planten auch, wie wir nach dem Krieg zusammenarbeiten wollten, hatten schon gemeinsam den Betriebsrat aufgestellt. […] So hatten wir uns beim Zusammenbruch gleich wieder zusammengefunden. Unter der amerikanischen Besatzungsmacht haben wir illegal alle Funktionen und Vorbereitungen durchführen müssen.“33 Seinen eigenen Erinnerungen zufolge, war es Otto Schiek, langjähriger KZHäftling, der die „vorläufige“ Abgrenzungspolitik der KPD gegenüber der SPD, also die „Moskauer Linie“, nach Eisenach brachte. „Ich kehrte nach Eisenach zurück mit dem Auftrag, die Kommunistische Partei Deutschlands in diesem Unterbezirk wiederaufzubauen und hier vorerst als ihr Leiter zu arbeiten. […] Der Beginn meiner Tätigkeit zeigte, dass es keine leichte Aufgabe war. Wir mussten den Genossen klar machen, dass eine demokratische Umgestaltung erst die notwendigen Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus schaffen musste. Dazu war notwendig, dass es uns gelang, in die Verwaltungen des Stadt- und des Landkreises Eisenach […] einzudringen.“34

32 Eigenhändiger Lebenslauf Heinrich Jentochs zum Antrag auf die Gewährung einer Parteirente an die SED-Kreisleitung vom 25.9.1974, in: StadtAE, 51.2, 6-123/029.80. 33 LATh-HStA Weimar, RdB, VdN Nr. 2584, Paul Roth, Lebenslauf, undat., Bl. 4. 34 Otto SCHIEK, Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse (wie Anm. 11), S. 6.

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Er folgte damit den Intentionen der Moskauer Exilanten. Deren Vorstellungen hatte Wilhelm Pieck schon Anfang 1944 in einer Rede anlässlich des 25. Jahrestages der KPD auf einer Versammlung vor Moskauer Parteimitglieder klar umrissen: „Unsere Partei muss das führende Zentrum in dem künftigen Block der kämpferischen Demokratie, der antifaschistisch-demokratischen Einheitsfront für Frieden, Freiheit und Wohlstand unseres Volkes werden.“ Der Weg dorthin „konnte nur über den faktischen Wiederaufbau der Kommunistischen Partei Deutschlands, über ihre ideologische und organisationspolitische Stärkung und die Ausweitung ihres Masseneinflusses, über die Formierung und den gezielten Einsatz ihrer Kader führen.“35 Die einzelnen Stufen des Vereinigungsprozesses von KPD und SPD sind vielfach wissenschaftlich untersucht worden. Die Eisenacher Entwicklung unterschied sich dabei von der Gesamtentwicklung kaum. Eine erste öffentliche Versammlung der KPD fand am 5. Oktober 1945 statt. Wenig später, am 19. Oktober, sprach August Fröhlich auf der ersten öffentlichen SPD-Versammlung in Eisenach. Im Spätherbst dokumentierten gemeinsame KPD/SPD-Kundgebungen den vermeintlichen Einheitswillen, so etwa am 7. November unter dem Thema „Zwei Völker – zwei Wege“, mit der man der Bevölkerung die Angst vor einem Sowjetdeutschland zu nehmen hoffte. Anfang 1946 wurden die Einheitsbestrebungen seitens der KPD forciert. Die Ergebnisse der zentralen „60er-Konferenz“ im Dezember 1945 wurden in der „Landes-60er-Konferenz“ Anfang Januar 1946 weitergetragen, bis sie schließlich am 10. Januar anlässlich einer Kreiskonferenz in der Provinz ankamen. Die Eisenacher KPD beendete ihr Dasein schließlich mit einer letzten Versammlung am 15. März 1946; die SPD hatte sich bereits einen Tag zuvor mit einer Tagung quasi aus dem politischen Leben verabschiedet. Doch verlief der Vereinigungsprozess keineswegs so stringent, wie es die bloßen Fakten suggerieren. Vorbehalte gab es von beiden Seiten, woraus die lokalen Zeitzeugen auch Jahrzehnte später keinen Hehl machten. So erinnerte sich Willi Krech 1970: „Es war uns Kommunisten bekannt, dass es angesehene Sozialdemokraten gab, die die Vereinigung leidenschaftlich bekämpften. Ich nenne nur den Tischler Heinrich Hoch (verstorben), den Sachbearbeiter Edmund Müller (verstorben), Hugo Schenk. Es waren gar nicht wenige Kollegen, die in der Diskussion die KPD dafür verantwortlich machten, dass Hitler 1933 zur Macht gekommen war.“36 Die Sozialdemokraten warfen den Kommunisten noch 1945 u.a. die Aufstellung Thälmanns für das Amt des Reichspräsidenten 35 Peter ERLER/Horst LAUDE/Manfred WILKE (Hg.), „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 99. 36 Erinnerungsbericht Willi Krech, in: StadtAE, 51.2, 6-123/029.87, S. 51.

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vor und deren Zustimmung zu einem Reichstagsbeschluss, durch den bei einer Amnestie zwar viele Genossen, aber eben auch Fememörder frei gekommen seien. Probleme deutete auch Walter Fischer an: „Nach der Zulassung der beiden Arbeiterparteien KPD und SPD wurde ich sofort Mitglied der KPD. Eine ganze Anzahl unbekannter und auch bekannter VP-Angehöriger ging zur SPD. Es gab Spannungen unter uns.“37 Ein differenziertes Bild offenbaren die ehemals sozialdemokratischen Zeitzeugen. Präzise benannte Walter Schneider (vormals SPD) die nach seiner Erinnerung offenbar einzigen sozialdemokratischen Gegner der Arbeitereinheit: „Ich entsinne mich, dass unsere Mitglieder fast ausschließlich in der Zeit vor dem Vereinigungsparteitag (im April des Jahres 1946) eine positive Einstellung zu dieser Vereinigung zum Ausdruck brachten. Es waren eigentlich immer nur zwei Genossen, die ihre Bedenken gegen die Verschmelzung äußerten: Der eine war Matthies. Er forderte, einen Reichsparteitag der SPD über die Vereinigung entscheiden zu lassen – weil er wusste, dass dann die unter dem Einfluss Schumachers stehende SPD aus den westlichen Besatzungszonen die Mehrheit haben und deshalb die Vereinigung ablehnen würde. Der zweite Gegner war der Genosse Heinrich Merten, der Sekretär der SPD in Eisenach. Aus Mihla stammend, hatte Merten die Bodenreform im Eisenacher Gebiet mit durchgeführt und war dadurch bekannt geworden.“38

In der Tat bezeichnet Schneider die wohl konsequentesten Gegner der KPDdominierten Einheitsbestrebungen. Der kritisierte Matthies machte aus seiner Ablehnung von Beginn an keinen Hehl. Noch auf der letzten eigenständigen SPD-Versammlung am 14. März 1946 hatte er den Mut zur Kritik: „Nur Genosse Matthies hätte gewünscht, dass ein Reichsparteitag für ganz Deutschland und damit alle Genossen der Partei das große Werk der Einigung vollziehen könnten“, hieß es lapidar in der sozialdemokratischen Zeitung Tribüne am 20. März. Ein Jahrzehnt später ließ er seiner Sicht auf die Dinge freien Lauf. Gegenüber der Flüchtlingsstelle der SPD in Bonn bekannte er am 26. September 1956: „In den Monaten Januar bis März (1946, R.B.) habe ich dann meine Tätigkeit wieder in die Partei verlegt und wandte mich gegen die Tendenzen, die zur Vereinigung mit der KPD führen sollten. Mitte März erschien der Landesvorsitzende der SPD Heinrich Hoffmann mit dem damaligen Ministerialdirektor und früheren Sozialdemokraten Curt Böhme bei mir und boten mir die Stelle eines Oberlandrates für Nord- und Westthüringen an. Auf meine Frage nach dem ‚Kaufpreis‘ wurde mir zur Antwort gegeben: Ich

37 Erinnerungsbericht Walter Fischer von 1984, in: StadtAE, 40.5.03.01, B 027, Bl. 6. 38 Erinnerungsbericht Walter Schneider, in: StadtAE, 51.2, 6-123/029.87, S. 66.

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müsste für die Verschmelzung der beiden Parteien mich einsetzen. Damit war die Sache erledigt.“39

Zwischen denen, die wie Schneider der Vereinigung auch unter dem Diktat der Kommunisten, vorbehaltlos zustimmten, und jenen, die wie Matthies dies konsequent ablehnten, gab es die vielen anderen, die mit sich rangen, der Arbeitereinheit im Grundsatz zustimmten, die Form der geplanten Vereinigung aber in Zweifel zogen, sich letztlich jedoch dem Diktat der KPD beugten. Zwei Beispiele mögen an dieser Stelle genügen. Der maßgeblich an der Wiedergründung der Eisenacher Sozialdemokratie beteiligte Heinrich Jentoch äußerte noch auf der Tagung des Gesamtvorstandes der SPD Thüringen am 26. November 1945 in Weimar vernehmbare Zweifel. Zwar sah auch er die Notwendigkeit der Einheit – „An und für sich wird jeder anerkennen, dass die Einheit der Arbeiterschaft herbeigeführt werden muss“ –, doch die Form kritisierte er nachhaltig: „Die Kommunisten sind nun zu neuen Methoden übergegangen, um die Genossen, die an führender Stelle stehen, mürbe zu machen. Man will sie mürbe machen durch Verhaftungen.“40 Jentoch spielte hier wohl auf den Fall des Eisenachers Alfred Markwitz an. Dessen Sohn gleichen Namens leitete seit September 1945 die örtliche Kriminalpolizei. Über den Druck, der auf die hiesige SPD im Zuge des Vereinigungsprozesses ausgeübt wurde, schrieb er am 8. Januar 1946 an Otto Stammer: „Wir waren, mein Sohn und ich und verschiedene andere SPD-Leute, 10 Tage verhaftet und in einem Keller eingesperrt. Seit dieser Zeit ist mein Sohn nicht mehr im Amt. Gestern haben wir versucht, diese Angelegenheit mit der Kommunistischen Partei zu bereinigen, endgültig wird das heute geschehen. Die Kommunisten schieben vor, dass mein Sohn auf Veranlassung der Kommandantur nicht mehr im Amt sich befindet. […] Es hat sich in der gestrigen Sitzung klar ergeben, dass die Anzeige von dem kommunistischen Leiter der Polizei von West- und Mittelthüringen (Leander Kröber, R.B.) ausgegangen ist.“41

Bereits der Prozess der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien implizierte für die Kommunisten die Notwendigkeit, gegenwirkende Kräfte auszuschalten, alte politische Eliten zu eliminieren, ganz gleich, ob sie aus dem eigenen oder dem sozialdemokratischen Lager stammten. Dies geschah durch „sanften Druck“, der zur Einsicht in die Notwendigkeit führte, wie im Falle Schneiders, und 39 Kurt Matthies an den Vorstand der SPD, Flüchtlingsstelle Bonn vom 26.9.1956, in: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Anlage zu einer schriftlichen Auskunft des Archivs vom 30.10.2007 an den Verfasser). 40 Rede Heinrich Jentochs auf der Versammlung der SPD, zit. nach Andreas MALYCHA, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokraten und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition, Bonn 1995, S. 219. 41 StadtAE, 40.2.25, NL Markwitz, Nr. 02.

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reichte über versuchte Korruption, wie bei Matthies, bis zu Repressionen, die Markwitz zu erleiden hatte. Dass diese Bürde die Wahlen im Herbst 1946 beeinflusste, dürfte außer Zweifel stehen. Der für die SED ungünstige Wahlausgang im Herbst 1946 hatte also offensichtlich viele Ursachen. Dabei brachte der eingangs nachgezeichnete Propagandafeldzug gegen die Mitbewerber aus den bürgerlichen Parteien bei manchem Wähler das Fass nur noch zum Überlaufen. Dessen grundsätzliche Wahlentscheidung dürfte jedoch maßgeblich von den politischen Entwicklungen zwischen Sommer 1945 und Frühjahr 1946 beeinflusst worden sein. Das Wahlergebnis von 1946 wurde mit der Einheitslistenwahl im Jahr 1950 letztlich „korrigiert“. Der bis dahin in Eisenach praktizierte „Restparlamentarismus“ führte in der Konsequenz zu einer Vereinnahmung der bürgerlichen Parteien in das politische System des Sozialismus, verbunden mit ihrer teilweise freiwilligen, teilweise erzwungenen Selbstenthauptung.

CHRISTEL GÄBLER „DU BIST ES, DIE ICH LIEBE …“

„Du bist es, die ich liebe …“ Das Bild der Stadt Gera in den Gedichten Hermann Luboldts (1892–1962)

„Du bist es, die ich liebe Mit jedem Tage neu, Wenn keiner treu dir bliebe, Ich bleib’ bestimmt dir treu. Du hast mir stets gefallen, Gar vieles dank’ ich dir, Von allen Städten, allen Bist du die liebste mir.“1 Diese erste Strophe eines der bekanntesten Gedichte Hermann Luboldts über seine Heimatstadt lässt bereits erahnen, welch’ innige emotionale Bindung der Dichter lebenslang zu Gera hegte. Trotz der zahlreichen fundamentalen Umbrüche, die sich in seiner Lebenszeit Bahn brachen, sein persönliches Umfeld und sein eigenes Leben tiefgreifend beeinflussten und ihm manchen Schicksalsschlag auferlegten, verlor er als Beobachter seiner Zeitgenossen nie den Humor, mit welchem er uns in zahlreichen Gedichten sein Bild der Stadt Gera und deren Bevölkerung beschrieb. Hermann Luboldt lebte in einer Zeit, in der die unsere Lebens- und Arbeitswelt immer tiefgreifender prägenden und strukturierenden Konstrukte wie Mobilität, zeit- und ortsunabhängige Verständigung oder gar die Digitalisierung eine sehr periphere Rolle spielten bzw. noch gar nicht in dieser Dimension erkennbar waren. Abgesehen von den epochalen Veränderungen, die mit der Industrialisierung einhergingen, besaß für den Bereich der Kommunikation, Wissensaneignung und -vermittlung noch immer die Grundidee der einst im Frankreich des 16. Jahrhunderts von den beiden Aufklärern Jean Baptiste le Rond d’Alembert und Denis Diderot ins Leben gerufenen Enzyklopädie Gültigkeit. Diese sollte das gesamte Weltwissen in Form eines Wörterbuches der Wissenschaften, Künste und Handwerke bündeln – freilich versehen mit Ergänzungen 1

Peter BOLL, Du bist es, die ich liebe … Humorvolles und Besinnliches aus Gera von Hermann Luboldt, hg. von Reinhard SCHUBERT/Werner LUBOLDT, Gera 1995, S. 5.

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und Aktualisierungen, doch ungebrochen in Form des Mediums Buch. So verbindet man auch heute noch vielfach mit der Einsichtnahme in ein Buch den Überblick über einen abgeschlossen, allseitig beleuchteten Themenkomplex. Diesem Anspruch diametral gegenüber steht die „Informationsüberflutung“ unseres digitalen Zeitalters, denn gerade „in der neuen Veröffentlichungsgesellschaft droht das Individuum paradoxerweise in den Massen an individuellen Beiträgen unterzugehen, denn Publizieren wird zu einer radikal privaten Angelegenheit und verliert so seinen öffentlichen Anspruch“.2 Vor diesem Hintergrund muten die Zeilen Hermann Luboldts, die ein leidenschaftliches Plädoyer für die analoge und somit konkret mit Händen greifbare Kategorie Heimat am Beispiel der Stadt Gera liefern, wie aus einer vergangenen Epoche an und werfen zugleich die Frage auf, inwiefern in einer digital bestimmten Zeit eine lokale und in gewisser Hinsicht auch emotionale Fixierung des Individuums auf den heimatlichen Raum und seine Gegebenheiten noch relevant, aktuell, zukunftsfähig und identitätsstiftend sein kann. Bevor dieser Fragestellung anhand ausgewählter Werke Hermann Luboldts nachgegangen und definiert werden kann, welche typischen Charakteristika er mit seiner Stadt und ihren Bewohnern assoziierte, erweist sich ein Blick auf die Biografie und das Gesamtwerk des Protagonisten dieses Beitrags als unerlässlich.

„Ein ganz alltäglicher Poet“ – Biografische Skizze Hermann Luboldts Als Paul Hermann Luboldt morgens um acht Uhr am Heiligabend des Jahres 1892 in der Wilhelmstraße 1 in Cuba das Licht der Welt erblickte, handelte es sich bei diesem kleinen, dem Fürstentum Reuß jüngerer Linie angehörenden „Flecken“ noch um eine selbstständige Gemeinde.3 Der Zusammenschluss der Orte Cuba und Untermhaus zur Gemeinde Untermhaus erfolgte 1897. Die Eingemeindung beider Orte in die Stadt Gera wurde im Jahr 1919 vollzogen.4 Schon von Kindesbeinen an erwies sich Hermann Luboldt als ein interessierter Beobachter, der manche Anekdote aus den verschiedenen Phasen seines Lebens zumindest aus seinen Erinnerungen heraus schriftlich festhielt. In diesem Sinne ließ er es sich auch nicht nehmen, über das Kuriosum um den Namen seines

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Mercedes BUNZ, Die stille Revolution. Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen, Berlin 2012, S. 101. Stadtarchiv Gera, III P Geburtenbuch von Untermhaus, Nr. 185/1892. Klaus BRODALE, Bausteine zur Ortsgeschichte von Untermhaus und Cuba, hg. von Edition Spörlstein/Stadtarchiv Gera, Gera 2018, S. 9.

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Geburtsortes sowie die damaligen Vorzüge von Cuba als Wohngegend Aufklärung zu geben: „Gemeint ist nicht die Insel der Großen Antillen im amerikanischen Mittelmeer, wo man spanisch spricht, sondern der eine der Gerschen Vorortzwillinge Cuba und NeuUntermhaus, wie sie vor Jahren hießen, und wo man heute noch ebenso unverfälschtes Gersch spricht wie in unserer Metropole. Vermögende Leute bauten sich um 1870 dort an, weil man in Cuba weniger Steuern zahlte als in Gera, denn dieser Ort war damals selbstständig, hatte seinen eigenen Bürgermeister und sein eigenes Elektrizitätswerk, und, soviel ich weiß, auch damit das erste elektrische Licht.“5

Zu den erwähnten, durchaus vermögenden Bewohnern von Cuba beziehungsweise Untermhaus zählte auch die Familie Luboldt, die in der neben dem Maschinenbau für Gera so charakteristischen Textilbranche tätig war. Bereits in einem Handelskammerbericht des Jahres 1850 wurde die Firma „Focke & Luboldt“ unter den Inhabern Hermann Focke und Hermann August Luboldt aufgeführt.6 Da mit dem einstigen Kommerzienrat und Fabrikbesitzer Hermann August Luboldt der Großvater und mit Arno Luboldt (1866–1915) auch der Vater in der Textilfabrikation tätig gewesen waren, skizzierte Letztgenannter in seinem Testament aus dem Jahr 1908 die unmissverständlichen Zukunftspläne für seinen einzigen Sohn Hermann, der ebenfalls Kaufmann werden sollte und für dessen Ausbildung im Fall seines eigenen Ablebens sein Bruder Felix Luboldt sowie sein Schwager Sorge tragen sollten. Das Testament befindet sich in einem noch unerschlossenen, an späterer Stelle näher beschriebenen Konvolut aus dem Besitz der Familie Luboldt im Stadtmuseum Gera. Die Verantwortung für die Erziehung der beiden Töchter Elisabeth und Louise überließ Arno Luboldt gänzlich seiner am 1. Dezember 1891 geehelichten Frau Marie Louise Adele Luboldt, geborene Gladitsch (1870–1944). Ihr gab er in diesem Zusammenhang als Leitlinien mit auf den Weg, beiden eine gute Erziehung und eine solide Ausbildung, insbesondere auf dem Gebiet der Buchführung, angedeihen zu lassen, da diese geistigen Güter für den künftigen Lebensweg weit größeren Wert als eine große finanzielle Erbschaft hätten. Hinsichtlich der Verheiratung sollte ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, dass die potenziellen Ehemänner den beiden Töchtern eine sichere Zukunft bieten könnten. Festlegungen über eine Mitgift der Mädchen und einen eventuellen Erbteil sollten ausschließlich in Rücksprache mit einem Rechtsbeistand getroffen werden. Für den Sohn Hermann war hingegen in den Plänen des Vaters schon ein konkreter beruflicher Entwicklungsweg vorgezeichnet, welcher nach der Beendigung des Gymnasiums den Besuch der Handelsschule in Leipzig und darauf5 6

BOLL, Du bist es (wie Anm. 1), S. 74. Stadtarchiv Gera, III F 02 Nachlass Ernst Paul Kretschmer, Nr. 017, S. 64.

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folgend einer guten Fachwebschule vorsah. Überdies sollte er die englische Sprache erlernen sowie die Städte London und New York besuchen, vermutlich um die Interessen der Firma „Focke & Luboldt“ später auf internationaler Bühne adäquat repräsentieren und die Handelsbeziehungen ausbauen zu können. Für den Fall einer Insolvenz der Firma hatte Arno Luboldt für seinen einzigen Sohn das Studium des Faches Chemie vorgesehen und seinem Testament die Namen einiger Firmen beigefügt, in denen der junge Mann aufgrund der ausgezeichneten Verbindungen des Vaters eine Anstellung finden dürfte. Doch es kam anders als es Arno Luboldt, der während des Ersten Weltkriegs am 6. März 1915 im Laufe eines Gefechtes bei Davia durch einen Kopfschuss getötet wurde, für seinen Sohn vorgesehen hatte.7 An das Abitur am Gymnasium Rutheneum im Jahr 1911 schloss sich für Hermann Luboldt die Ausbildung zum Textilfachmann an der Greizer Webschule an. Den geplanten anschließenden Eintritt als Gesellschafter in die Firma „Focke & Luboldt“ verhinderte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in dessen Folge Hermann Luboldt bereits 1914 in russische Kriegsgefangenschaft geriet. In einem 38 Seiten umfassenden handschriftlichen Erinnerungsbericht schilderte er seine Kriegserlebnisse, die von qualvollen Märschen, seinem zunächst zwei Jahre und sieben Monate andauernden Aufenthalt in einem Gefangenenlager im sibirischen Irkutsk bis hin zu seiner Flucht reichen. Die russische Februarrevolution 1917, in deren Folge der Zar Nikolaus Alexandrowitsch Romanow am 15. März desselben Jahres abdanken musste, brachte auch für die Kriegsgefangenen mehr Bewegungsspielraum. Sein literarisches Talent bewies Luboldt auch in der Gefangenschaft, indem er damals beispielsweise die erhalten gebliebene Berluskte (Posse, Schwank) mit dem Titel „Die Generalprobe“ verfasste, die am 8., 9. und 11. April 1917 im Kriegsgefangenenlager zur Aufführung kam. Über Umwege und die Verbindung zu einem nicht namentlich genannten Bekannten gelang es Hermann Luboldt und einem Kameraden in der Stadt Irkutsk in die Position als Hauslehrer einer wohlhabenden russischen Familie zu gelangen. Luboldt selbst war nun bei einem Großkaufmann untergebracht, dessen beiden Söhne im Alter von elf und dreizehn Jahren er täglich eine Stunde in der deutschen Sprache unterrichtete. Die übrige Zeit stand zur freien Verfügung. Da sich die beiden Kameraden offiziell nur in Uniform und in Begleitung ihrer Arbeitgeber frei auf den Straßen bewegen durften, gingen beide vornehmlich in Zivilkleidung nach draußen und sprachen in der Öffentlichkeit so wenig Deutsch wie möglich, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Die Beziehung zu der Kaufmannsfamilie war von einem solchen Vertrauen geprägt, dass die beiden Mitbewohner sogar einen Haustürschlüssel erhielten, um nach dem Besuch von Theatervorstellungen oder Konzerten abends selbstständig ins Haus 7

Stadtmuseum Gera, Sammlung Luboldt.

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gelangen zu können. Auch den Mahlzeiten der Familie und sogar den Familienfesten wohnten die beiden Kriegsgefangenen bei. Diese familiär-vertraute Atmosphäre diente nicht nur der Verbesserung des Gesundheitszustandes der beiden Kameraden, sondern Luboldt eignete sich durch den engen Kontakt mit zahlreichen Gästen im Hause seiner Arbeitgeber umfassende Kenntnisse der russischen Sprache an. Als schließlich die russischen Bürgerkriegswirren infolge der Novemberrevolution des Jahres 1917 auch in der Besetzung der Stadt Irkutsk durch die Bolschewiki mündeten, hörte Luboldt seit dreieinhalb Jahren zum ersten Mal wieder den unerträglichen Geschützdonner, der die einst schlummernde Stadt mit einer Welle der Zerstörung heimsuchte. Eindrücklich schilderte er die Verwüstung Irkutsks sowie seiner Bleibe, die Gefahren durch marodierende Soldaten und das Elend seiner „Wohltäter“, bei denen er Unterschlupf gefunden hatte. Er selbst sympathisierte eher mit den Truppen des wohlhabenden JunkerStandes. Dennoch errangen schließlich die Bolschewiki die Oberhand über die Stadt. Nur seine sehr guten Kenntnisse der russischen Sprache bewahrten ihn vor dem Tod durch plündernde Soldaten. Als der Friede von Brest-Litowsk am 3. März 1918 zwischen Russland und den Mittelmächten geschlossen worden war, jedoch immer noch keine Verbesserung der politischen, militärischen und sozialen Lage bewirkte, fasste Luboldt den Entschluss zur Flucht: „Auf keinen Fall wollte ich länger in diesen grässlichen Verhältnissen weiterleben; seit mehr als 9 Monaten ohne jede Nachricht von meinen Angehörigen. Geld-Pakete gelangten ebenfalls nicht mehr in meine Hände. Die Sehnsucht nach der Heimat war übermächtig in mir geworden. Tag und Nacht hatte ich nur den einen Gedanken: ‚Nach Haus! Fort von hier!‘ “

Am 20. Mai 1918 trat Luboldt mit einem gefälschten Passbuch, das ihn als den Rigaer Bürger „Herman Arnoldowitsch Luboldt“ auswies, die Reise nach Petersburg an. Nach einer zehntägigen Fahrt erreichte er am 30. Mai 1918 Petersburg, wo er und seine Mitreisenden die vier Tage bis zur Weiterreise damit verbrachten, die damalige russische Hauptstadt so gut wie möglich zu inspizieren. Enttäuscht von der mangelnden Sauberkeit und Ordnung sowie dem verblassten Glanz, der der einstigen Zarenresidenz nachgesagt wurde, beschrieb Luboldt die für ihn herzzerreißenden Zustände und die alle Gesellschaftsschichten ergreifende Not der dortigen Bevölkerung. Am 4. Juni 1918 fuhr der seinen Kriegsgefangenenstatus verheimlichende Passagier mit einem Rot-Kreuz-Zug aus Petersburg ab. Bereits beim Erreichen des von deutschen Truppen besetzten Pskow entlud sich bei den Reisenden eine große Erleichterung. Mit der Weiterfahrt über Dünaburg und Warschau sowie einer Notiz über einen 21-tägigen

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Aufenthalt in einem Quarantänelager in Zegrze vor der Ankunft in der Heimat enden diese Aufzeichnungen Luboldts.8 Wie Arno Luboldt bereits in seinem am 30. Januar 1915 zuletzt geänderten Testament andeutete, war es um das Vermögen der Firma „Focke & Luboldt“ aufgrund der ungünstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen nicht gerade gut bestellt. Ob Hermann Luboldt dennoch in die Firmengeschäfte involviert war und an welchen anderen Wirkungsstationen er tätig war, konnte nicht lückenlos ermittelt werden. Gesichert scheint die Information, dass er zunächst in der Geraer Weberei Münch AG in der Funktion des Direktors tätig war. Am 30. Juni 1921 heiratete er in Gera Gerda Helene Anna Schellig (1899–1955). Der Ehe entsprangen zwei Söhne, die in den Jahren 1922 und 1926 geboren wurden. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Luboldt als Leiter der Auslandsabteilung der Deutschen Kolophon-Werke Gera. Aufgrund seiner Sprachbegabung war er später als Dolmetscher tätig und absolvierte schließlich an der Universität Halle das Staatsexamen für das Lehramt der Fächer Russisch und Englisch, das ihn als Lehrer zunächst nach Liebschwitz und dann an die Geraer Lutherschule führte.9 Von schwerer Krankheit gezeichnet verstarb Hermann Luboldt am 27. April 1962 in Jena.

Hermann Luboldts publizistisches Werk Luboldts Werk, das zumindest zu einem nicht unerheblichen Teil in einem bisher noch unerschlossenen Konvolut aus handschriftlichen und maschinenschriftlichen Manuskripten im Stadtmuseum Gera überliefert ist, umfasst neben mehreren hundert Gedichten die bereits erwähnten Niederschriften über die persönlichen Erlebnisse im Rahmen der russischen Kriegsgefangenschaft während des Ersten Weltkriegs, das Testament seines Vaters Arno Luboldt, einige familiengeschichtlich interessante Dokumente, Familienfotos sowie die Texte verschiedener von ihm verfasster kleinerer Theaterstücke und Kurzaufsätze. Eine Datierung der Gedichte, die die Mehrzahl der Schriftstücke bilden, ist selten möglich. Auch kann anhand des im Stadtmuseum Gera befindlichen Bestandes nicht exakt bestimmt werden, ab wann Hermann Luboldt die ersten Gedichte verfasste.10 Werke aus seiner Schulzeit konnten in der genannten Sammlung nicht ermittelt werden.11

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Ebd. Werner LUBOLDT, Buchrücken zu BOLL, Du bist es (wie Anm. 1). Stadtmuseum Gera, Sammlung Luboldt (wie Anm. 7). Ebd.; LUBOLDT, Buchrücken (wie Anm. 9).

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Bekanntheit erlangte Luboldt unter seinen Zeitgenossen in Gera vor allem durch sein lyrisches Werk, das er unter verschiedenen Künstlernamen veröffentlichte. Während er in der Geraer Zeitung vorrangig das Pseudonym „Tulipan“ nutzte, so erschienen seine Gedichte in den Thüringer Neuesten Nachrichten in erster Linie unter dem Namen „Peter Boll“.12 In den im Stadtmuseum Gera erhaltenen Dokumenten befinden sich neben den erwähnten Pseudonymen und dem mundartlichen Äquivalent „Beder Boll“ anstelle von „Peter Boll“, noch „Leopold“ und „Der eiserne Gustav“ als Verfassernamen unter verschiedenen Niederschriften. Einige Schriftstücke wurden auch mit seinem bürgerlichen Namen unterzeichnet. Ein erstes schmales Buch mit Luboldts Gedichten erschien im Jahr 1932 unter dem Titel „Tulipan-Lieder“. Wie die Bezeichnung „Tulipan“ mit „Tulpenschau“ übersetzt werden kann, so offerierte Hermann Luboldt in seinen Gedichten auch mannigfaltige Einblicke in verschiedene Episoden seines Alltags, seines Umfelds und seiner Stadt. Weitere Gedichtbände wurden erst weit nach seinem Tod in größerem Umfang veröffentlicht und liefern nun in gedruckter Form einen umfassenden Einblick in das thematisch breite Interessen- und Beobachtungsfeld des Autors.13 Allen voran stand natürlich die Heimatstadt Gera im Fokus seiner Betrachtungen, denn in seinem Selbstverständnis sah sich Luboldt stets als Heimatdichter, was er auch gegenüber seinen Adressaten betonte: „Ich will euch fröhlich machen, Will selber mit euch lachen, Aus Trübsal trag’ empor Uns alle der Humor. Er soll uns auch begleiten In bitterbösen Zeiten, Daß leidgeprüfter Mund Sich lache dran gesund. […] Seid eurem Heimatdichter Nicht allzu strenge Richter Und bleibt ihm zugetan Dem Blümlein Tulipan.“14

12 Reinhard SCHUBERT, Nachwort, in: BOLL, Du bist es (wie Anm. 1), S. 78. 13 Hermann LUBOLDT, Tulipan-Lieder, Gera 1932; DERS., Eine Reise mit der Eisenbahn, Gera ca. 1950; DERS., Gersche Geschichten, Gera 1997; BOLL, Du bist es (wie Anm. 1); DERS., Heitere Ansichten aus Gera von Hermann Luboldt, Gera 2008. 14 LUBOLDT, Tulipan-Lieder (wie Anm. 13), S. 5.

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Abb. 1: Foto von Hermann Luboldt, um 1930

Das Gera-Bild in den Gedichten Hermann Luboldts Das Konstrukt „Heimat“, das sich für Hermann Luboldt ortsgebunden in der Stadt Gera konkretisierte, spielt, wie bereits erwähnt, eine zentrale Rolle in seinen Gedichten. Die von Aleida Assmann definierte eminente erinnerungskulturelle Wichtigkeit von Orten besitzt auch für die Verse Luboldts allgemeine Gültigkeit: „Selbst wenn Orten kein immanentes Gedächtnis innewohnt, so sind sie doch für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume von hervorragender Bedeutung. Nicht nur, daß sie die Erinnerung festigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, sie verkörpern auch eine Kontinuität der Dauer, die die vergleichsweise kurzphasige Erinnerung von Individuen, Epochen und auch Kulturen, die in Artefakten konkretisiert ist, übersteigt.“15

15 Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2018, S. 299.

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Die in Luboldts Versen angesprochenen Phänomene, die oftmals an konkrete Sehenswürdigkeiten oder Plätze im Stadtbild gebunden sind, transportieren zusammen mit einer Mischung individueller und allgemeingültiger Erlebnisse ein Bild Geras, das teilweise auch heute noch über Aktualität verfügt. In seinem 1932 erschienen Buch „Tulipan-Lieder“ gesellen sich in dem Gedicht mit dem Titel „Gera“ neben die Schilderung der positiven Entwicklungslinien auch einige manchmal vorsichtig ironisch, in anderen Fällen aber auch direkt formulierte Kritikpunkte zur Situation Geras in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: „Zwischen Preußen, Bayern, Sachsen, Liegen wir hübsch mittendrin, Und in unsern Mauern wachsen Hübsche Mädchen, froher Sinn, Dazu Stoffe und Maschinen, Ein geschätzter Magistrat, Rosen, Tulpen, Georginen, Und sogar ein Sommerbad. Unsre Sprache, schwer verständlich, Hart bis auf das weche Deh, Macht uns überall gleich kenntlich: Galle he, ei ju, nu nee! Schloß, fünf Kinos, ein Theater, Sportplätze, Verkehrsverein, Laden zum Besuch der VaterStadt die Fremden freundlichst ein. Kommen sie nach Tinz geflogen, Bringt das Auto sie zum Markt, Wo nach elegantem Bogen Jeder ‚Gentelehman‘ parkt. Hier hat Simson einst gestanden, Und er kommt auch wieder hin, Wenn der Zaster erst vorhanden, Wo ich selber scharf drauf bin. Nun, das ist ein Gersches Leiden, Denn wem wär’ es nicht bekannt, Daß wir schon vor grauen Zeiten Einmal eklig abgebrannt? Unsre vielen Schlote rauchen Nicht so stark wie unser Kopf, Und die Steuern, die wir brauchen, Fressen uns das Haar vom Schopf. Doch das soll uns nicht bekümmern, Darum weinen wäre doof, Golden wird die Zukunft schimmern Ueber unserm Handelshof: Wenn die Großen und die Kleinen

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374 Einig gehen Hand in Hand Wird auch wieder Sonne scheinen Stadt und Staat und Vaterland!“16

Als Vorzüge seiner Stadt, die er in weiteren Gedichten teilweise noch dezidierter hervorhob, thematisierte Luboldt die zentrale und idyllische Lage Geras umgeben von den einst autonomen Staaten Sachsen, Bayern und Preußen, seine beeindruckende industrielle Entwicklung mit den beiden besonders bedeutenden Industriezweigen Textilfabrikation und Maschinenbau,17 seine reiche Kulturlandschaft, die mit ihrem facettenreichen Angebot auch für Reisende einige Attraktionen bot und auch heute noch bietet. Als identitätsstiftende Komponente, die er auch in anderen Gedichten immer wieder erwähnte, galt ihm die spezielle vom Namen der Stadt abgeleitete Sprache, das „Gersche“. Daher fertigte er sogar ein „Kleines Sprachlexikon zum Gebrauch für Durchgezogene und Durchreisende“ an, in dem er die zentralen mundartlich gebrauchten Worte mit hochdeutschen Entsprechungen erfasste.18 In einem kurzen Aufsatz wies Luboldt auf die Spezifika der geraischen Sprache in Gestalt von „Geraismen“ hin: „Geraismen sind deutsche Spracheigentümlichkeiten, Geraismen hierorts übliche Ausdrücke und Redewendungen. Wer sie nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat, wird sie nie erlernen. Kommt ein Fremder zu uns, lauscht er angespannt unserer Unterhaltung, fragt ‚Wie bitte?‘, wenn man ihn in Gerscher Zunge anredet, und haut entsetzt mit dem nächsten Zug wieder ab. Bleibt er aber hier, so muss er mitmachen, und da sind wir gleich bei dem interessantesten und aktuellsten Wort, das unser Gersches Leben beherrscht. Hier geht, läuft oder fährt nämlich kein Mensch, sondern alles ‚macht‘. […] Berda macht ins Kino, die Kinder machen um die Ecke in die Bärengasse, […] Frieda macht gar nach oder uff Leibzsch, […]. Doch das anrüchige Wort wirkt auch in seiner ursprünglichen Form noch erheiternd, wenn man es mit dem etwas altmodischen Mädchennamen Minna verbindet. Pfeffert man ein Glas oder eine Vase an die Wand, dass die Scherben umherspritzen, so macht man es zur Minna.“19

Neben diesem selbstironischen Blick auf die eigenen Eigentümlichkeiten wie der speziellen Mundart erwähnte er mit dem „Gerschen Leiden“ auch die finan16 LUBOLDT, Tulipan-Lieder (wie Anm. 13), S. 8. 17 Hierzu die zweite und dritte Strophe des Gedichts „Du bist es, die ich liebe“: „Wo Hainund Weinberg säumen,/ Das schöne Heimatland,/ Wo alte Häuser träumen,/ Am grünen Elsterstrand,/ Wo Türme trutzig ragen/ Ins weite Land hinaus,/ Bin ich seit Kindheitstagen/ Geborgen und zu Haus.// Ich kann dich nicht vergessen,/ Würd’ ich auch noch so alt,/ Du Stadt der vielen Essen,/ Umrahmt von Fluß und Wald./ Auch in der Ferne draußen/ Es stets zu dir mich zieht,/ Ich hör’ des Webstuhls Sausen,/ Der Hämmer dröhnend Lied.“ BOLL, Du bist es (wie Anm. 1), S. 5. 18 BOLL, Heitere Ansichten aus Gera (wie Anm. 13), S. 78–80. 19 Stadtmuseum Gera, Sammlung Luboldt (wie Anm. 7).

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zielle Notlage und die daraus resultierenden hohen Steuerforderungen, die den heutigen Lesern zumindest ein verständnisvolles Lächeln auf das Gesicht zaubern dürften. Aber auch die Auswirkungen der Industrialisierung und die mangelnde Handlungsfähigkeit der Akteure hinsichtlich des Umweltschutzes oder zumindest zur Verbesserung des Stadtbildes und der Luftqualität prangerte er in seinem Gedicht über die Gera durchfließende „ ‚Weiße‘ Elster“ unverhohlen an: „Mal ist sie schwarz, mal ist sie bunt, Meist riecht sie wie ein toter Hund, Auch ihre Eingeweide, Sind nicht aus Samt und Seide. Viel Steine birgt ihr trüber Grund, Da stoßen sich die Bäuche wund Die Fische und die Enten, Wenn die bloß reden könnten! Wo an den Ufern Blumen blühn In Untermhaus und Heinrichsgrün Bis hin zum Zwötzner Wehre Macht sie uns keine Ehre. Streckt einer dort aus seinem Haus Die Birne allzulang heraus, Schon ist er ganz benommen Und läßt den Doktor kommen. Nein, auf die Dauer kann kein Bein Am Elsterufer glücklich sein, So darf’s nicht weitergehen, Es muß etwas geschehen. Denn schließlich ist der Mensch kein Lurch, Er schlängelt sich durch vieles durch, Doch braucht zum Steuerzahlen Er nicht noch Körperqualen. Einmal ist’s aus, daß er sich fügt Und immer lächelt stillvergnügt Trotz Weh und tausend Schmerzen, Glaubt mir’s, ihr Bruderherzen! Fürwahr, es denkt kein braver Mann: Wie’s bei dir riecht, geht mich nichts an, Sonst wolle ich, er hätte Sein Bett am Elsterbette!“20

Die schlechte Luftqualität in Gera kritisierte Hermann Luboldt einmal mehr, als er unter dem Titel „Heimfahrt“ von seinen Urlaubserlebnissen an der Ostsee berichtete:

20 LUBOLDT, Tulipan-Lieder (wie Anm. 13), S. 11.

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376 „Nun heißt es wieder Stadt besingen, Die Luft ist dick wie Lebertran, Wird es mir denn auch noch gelingen? Wir wollen’s hoffen, Tulipan!“21

Auch in seinem „Lob des Gerschen Landes“ nutzte er das stilistische Mittel der Ironie, um auf die Umwelt- und Luftverschmutzung in der Industriestadt hinzuweisen: „Wie groß und schön ist Gersches Land, Wo keine Essen rußen, Wie glücklich, wer mit wem bekannt In Reppsch, in Leimz, in Lusen.“22

Stets auf amüsante und einfallsreiche Art und Weise beanstandete „Tulipan“ manch’ größeren und kleineren Missstand im Stadtbild, wie er in seiner Beschreibung unter der Überschrift „Unser Markt“, die eingeschränkte Funktionalität des Marktbrunnens und dessen Unsauberkeit kritisierte: „Der Simson23, der den Löwen zwingt Und ihn zum Wasserspeien bringt, Der nackte Mann mit Lendenschurz Steht immer unter Wassersturz, Die Nase tropft ohn’ Unterlaß, So daß es dem Betrachter scheint, Als ob der Löwentöter weint. Das Becken, wo kein Fisch mehr schwimmt, Ist nur zur Algenzucht bestimmt, Und manchmal neigt ein böser Wicht Darüber Kopf und Gesicht. Ich selber laß es lieber sein, Der Löwe weicht mich zu sehr ein, Er spuckt mir nur die Jacke voll, Darauf verzicht’ ich.“24

Dass er sich als Patriot verstand, der in erster Linie das Wohl seiner Heimatstadt und ihrer Bewohner im Vordergrund sah und daher zwar einerseits politische Extreme ablehnte, es andererseits aber auch vermied, sich näher politisch zu positionieren, zeichnet sich in einem Gedicht ab, das vermutlich aus der Zeit der späten Weimarer Republik stammte. Unter der Überschrift „Die verfluchte Grippe“ thematisierte er darin eigentlich ein Symptom eines grippalen Infektes: 21 Ebd., S. 21. 22 BOLL, Heitere Ansichten aus Gera (wie Anm. 13), S. 8 (Mit „Reppsch“, „Leimz“ und „Lusen“ sind die Orte Röppisch, Leumnitz und Lusan gemeint.). 23 Figur auf dem Geraer Marktbrunnen. 24 Ebd., S. 9.

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„Wenn es im Köppchen hämmert, Dann spürt Nazi wie Marxist Gleichermaßen, wie belämmert Dieses Erdendasein ist.“25

Dass seine Zeilen von Anbeginn ihrer öffentlichen Darbietung das Interesse der Geraer fanden, diese zum Nachdenken anregten und sogar dazu animierten, den Kontakt mit ihrem Heimatdichter zu suchen, um ihm Vorschläge und Anregungen für gesellschaftlich brisante und relevante Themen zu liefern, illustriert das Gedicht „Beschreimses doch!“: „Beschreibe nur das Gersche Städtchen, Beschreib’ es, wenn auch nichts passiert, Beschreib’ die Schönheit unsrer Mädchen Und alles, was das Herze rührt, Beschreibe Steine, Blumen, Bäume, Beschreibe Häuser, Straßen, Platz, Beschreibe deine kühnsten Träume, Doch nie das Wetter, lieber Spatz! Dazu bestürmt mich noch die Rosa: ‚Ach Tulipan, sprich nur im Versch!‘ Die Lisbeth wünscht sich ‚Brosa‘, Und wenn es möglich wär’‚ nur Gersch‘! Dem einen bin ich viel zu kritisch, Dem andern noch zu delikat, ‚Warum bist du so unpolitisch?‘ Befragt der dritte mich beim Skat. Der eine klagt: ‚Vor meiner Türe Im Bürgersteige gähnt ein Loch, Man schmeißt den Flur mir voll Papiere, Ich bitte sehr, beschreimses doch!‘ Ein andrer will, daß ich der Steuer Noch eines auswisch’, eh er stirbt, Der dritte grämt sich ungeheuer, Daß Tulipan für ‚Simson‘ wirbt. Nun will ich eines euch gestehen: So vieler Kummer macht mich stumm, Könnt’ ich euch alle glücklich sehen, Ich gäb’, weeß Gnebbchen, was darum! Wie gerne nähm’ ich eure Sorgen Auf meinen Buckel glatt und rund, Wie liebend gern schmiß’ ich sie morgen Auf unsrer Elster tiefsten Grund! Doch hab’ ich auch mein Pack zu tragen,

25 LUBOLDT, Tulipan-Lieder (wie Anm. 13), S. 30.

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378 Und dann würd’ ich, damit ihr’s wißt, Das mit der Elster doch nicht wagen, Weil’s polizeiverboten ist.“26

Wie intensiv sich seine Publikationstätigkeit insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus gestaltete, kann zunächst nur ansatzweise beschrieben werden und müsste noch detaillierter untersucht werden. Dass Hermann Luboldt sich weiterhin lyrisch und allgemein schriftstellerisch betätigte, attestiert ein mit Datum vom 31. August 1939 an ihn adressierter Brief seines Freundes Franz Striewe, der in Paderborn die Gaststätte „Ratsglöckchen“ betrieb. Er riet Luboldt, seine Erlebnisse in der russischen Kriegsgefangenschaft aufgrund seiner literarischen Begabung romanhaft zu verarbeiten: „[…] es hat ja wohl jeder, außer den Schlafmützen, der eine viel, der andere weniger erlebt, aber nicht jedem ist die Gabe des Erzählens gegeben, und nur wenige haben dann Erfolg. Ich erlebte auch viel, besonders die letzten zwei Jahre, aber der Existenzkampf zu Hause lies [sic!] einem keine Zeit für derartige Arbeiten. Deine beiden Gedichte über Gera finde ich sehr schön, zeigen große Heimatliebe und Eingehen auf die Eigenart und Sprache deiner Heimat. Jetzt ist ja nun gerade das große Ereignis mit Russland, wäre es da nicht angebracht, einen Roman der Art […] zu versuchen, […]. Das Interesse für diese Literatur war und ist groß. Wie ich aus Deinen Zeilen lese, hast auch du die Höhen & Tiefen des Nachkriegs-Deutschland mitgemacht und nur wir können daher voll und ganz ermessen, was für ein Wunder die letzten 6 Jahre gebracht haben und noch bringen werden. Unsere Jugend wird es besser haben und noch ist unser Erlebnis nur einmalig.“27

Da dieser Brief chronologisch unmittelbar im Nachgang des zwischen Stalin und Hitler geschlossenen Nichtangriffspaktes verfasst wurde, konnte der Schreiber damals noch nichts von dem am nächsten Tag (1. September 1939) folgenden Überfall des Deutschen Reiches auf Polen und damit den Beginn des Zweiten Weltkrieges ahnen. Ein möglicher Roman Luboldts, in dem dieser seine teilweise positiven Erlebnisse in Russland während des Ersten Weltkrieges zum Ausdruck gebracht hätte, wäre aufgrund der politischen Gemengelage in der Zeit des Nationalsozialismus undenkbar gewesen. Dass Luboldt zu dem politischen System seiner Zeit weder eine offene Sympathie noch eine deutliche Distanz wahrte oder möglicherweise unter dem Einfluss der NS-Ideologie wahren konnte, attestiert ein undatiertes Gedicht, das nach dem Jahr 1939 verfasst worden sein musste, da unmittelbar nach dem Überfall auf Polen die Kriegserklärung von England und Frankreich gegen das Deutsche Reich erfolgte. Unbedingt vor Augen führen sollte sich der Leser allerdings, dass auch Luboldt den Ideen der faschistischen Ideologie unterlag. Der im Gedicht kritisierte Winston

26 Ebd., S. 12 f. 27 Stadtmuseum Gera, Sammlung Luboldt (wie Anm. 7).

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Churchill hatte ab dem 10. Mai 1940 die Funktion des britischen Premierministers inne: „Es sitzt ein Mann mit Stahlhelm tief im Keller, Und dieser Mann hat uns den Krieg erklärt, Wir geben für sein Leben keinen Heller, Und schliesslich ist es das auch gar nicht wert. Doch seht, er schwingt noch immer grosse Töne, Lügt mehr denn je und wird noch nicht mal rot, Und dabei schickt er fremder Völker Söhne Bedenkenlos ins Elend, in den Tod, Lässt Bomben auf der Ärmsten Hütten regnen, Auf Kinderheim und Krankenhaus bei Nacht, Und wähnt noch, der Allermächt’ge müsse segnen Das Teufelswerk, das sich sein Hirn erdacht. Auch er wird in der Grube noch verschwinden, Die er der Mitwelt unermüdlich gräbt, Und nur ein Häufchen Asche wird sich finden Von der Zigarre, die im Mund ihm klebt. Zwei Lettern werden schliesslich seinen ‚Ruhm‘ verbreiten, Auf seinem Stein wird stehn: Hier ruht W. C., Der größte Rückzugssieger aller Zeiten Und des zerstörten Britenreichs Premier.“28

Hermann Luboldt lieferte in diesen Zeilen, die vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit gewertet werden müssen, weder ein Plädoyer für die nationalsozialistischen Verbrechen in all’ ihren grausamen Facetten, noch verurteilte er diese entschieden, was ihm mit Blick auf die Vernichtungsmaschinerie des NS-Systems vermutlich auch politische Repressionen bis hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager hätte einbringen können. Blickt man auf den Lebensweg Hermann Luboldts, so kann der Leser der Werke zweifelsfrei sein von Anfang an vorhandenes schriftstellerisches und lyrisches Talent sowie die Leidenschaft, mit der er seine Heimatstadt beschrieb, erkennen. Auf der einen Seite war er vermutlich getrieben von dem Ehrgeiz, sich literarisch zu verwirklichen und sein Publikum mit seinen Worten zu erfreuen. Andererseits verdiente er in den bewegten Zeiten, die er durchlebte, mit seiner Schreibtätigkeit auch immer in vermutlich geringem Umfang etwas Geld zu seiner jeweiligen Tätigkeit hinzu. Im zuletzt zitierten Gedicht solidarisierte sich der Verfasser mit dem Leid und den Menschenopfern unter der (deutschen) Zivilbevölkerung und verurteilte die Politik des britischen Premier28 Ebd.

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ministers Winston Churchill scharf. Außer Acht ließ der Schreiber hierbei allerdings, dass Hitler-Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel der nationalsozialistischen Machtergreifung, der Judenvernichtung sowie der grundsätzlichen Eliminierung Andersdenkender initiiert hatte und dass es ähnliche Zerstörungen und Zivilopfer auch in England und den anderen am Krieg beteiligten Staaten gab. Inwiefern Luboldt diese Tatsachen bewusst oder aus taktischen Gründen außer Acht ließ, kann anhand der vorliegenden Quellenlage, die neben seinen Werkmanuskripten keinerlei Egodokumente mit Aufzeichnungen über persönliche Ansichten des Heimatdichters umfasst, nicht beantwortet werden. Dass ihm der schriftstellerische Spagat zwischen Opportunismus, Angepasstheit, Selbstschutz, Selbstverwirklichung, aktueller Politik und möglicherweise noch der eigenen inneren Überzeugung gelang, verdeutlicht auch die Einleitung eines kurzen, vor seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1957 verfassten Berichts über den Besuch einer sowjetischen Delegation in der Geraer Lutherschule unter der Überschrift „Drushba!“: „Karl Marx hat einmal gesagt, dass die Sprache eine wichtige Waffe im Lebenskampf sei, und lernte noch im Alter von 50 Jahren Russisch. Schon nach sechs Monaten Studium las er dann Tolstoj und andere Klassiker im Urtext. Er wusste sehr wohl, dass die Sprache auch das wichtigste Element für Völkerverständigung und Weltfrieden ist.“29 Insbesondere in der Nachkriegszeit wurden zahlreiche von Luboldts Versen über markante Gebäude, bekannte Sehenswürdigkeiten und anderweitige, meist lustige Begebenheiten aus dem städtischen Geschehen in der Geraer Zeitung sowie in den Thüringer Neuesten Nachrichten veröffentlicht.

Resümee Wenngleich die politische Position Hermann Luboldts nicht eindeutig zu analysieren ist, so können zwei Kontinuitätslinien anhand des im Stadtmuseum Gera überlieferten Bestandes sowie der vorhandenen Veröffentlichungen konstatiert werden. Dabei handelt es sich erstens um seine aufrichtige Freundschaft zum russischen Volk sowie zweitens um seine unmissverständliche Liebe zur Stadt Gera, die er in zahlreichen Reimen verarbeitete und damit für uns Nachgeborene überlieferte. Natürlich muss bei der Rezeption dieser Zeilen die wechselvolle Vita des Verfassers, der in ambivalenten, rasanten Zeiten lebte, die auch für ihn persönlich sowie für sein Familienleben zahlreiche schmerzliche Einschnitte mit sich brachten, stets im Blick behalten werden. So erlebte Luboldt noch die Zeit der Monarchie mit, ehe er im Ersten Weltkrieg in russische 29 Ebd.

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Gefangenschaft geriet, dort aber durch glückliche Umstände in seiner Selbstbeschreibung als „freier Mann“ die Funktion eines Hauslehrers ausübte. Gleichzeitig forderte dieser Krieg das Leben seines Vaters. Von den positiven und optimistischen Wogen der Weimarer Republik mit ihren demokratischen Freiheiten getragen, veröffentlichte er seine Gedichte erstmals in dem Buch „TulipanLieder“. Doch die allgemein in der Bevölkerung vorherrschende materielle Unzufriedenheit dürfte auch ihn finanziell betroffen haben, schließlich wechselte er mehrfach seine beruflichen Tätigkeitsfelder. Die Zeit des Nationalsozialismus traf seine Familie gleichsam hart, da sein ältester Sohn im Zweiten Weltkrieg das Leben verlor. Hermann Luboldt lebte zunächst in einem monarchischen System, danach in einer noch in den Kinderschuhen befindlichen, unausgereiften Demokratie sowie schließlich in zwei Diktaturen. Vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erlebnisse, Schicksalsschläge und der vorhandenen Gegebenheiten der jeweiligen Zeitumstände, kann sein Werk nicht pauschal beurteilt werden, denn es bedarf nicht nur der nüchternen Faktenbewertung, sondern differenzierter Betrachtungsweisen für das Individuum, seine Bedürfnisse und die objektiv vorhandenen Rahmenbedingungen. Seine lokale schriftstellerische Popularität, die sich daran ablesen lässt, dass seine Gedichte zu allen Zeiten ihre Leserschaft gefunden haben, ist vermutlich dem Umstand zu verdanken, dass er als akribischer Beobachter seiner Zeitgenossen manche amüsante Milieustudie zu kommunizieren wusste, in der er den Zeitgeist und das typische Geraer Lokalkolorit geschickt zu kombinieren verstand. Er kommentierte die Unzulänglichkeiten in seiner Stadt und in der Gesellschaft nicht oberlehrerhaft, sondern, wenn er belehren oder zum Nachdenken anregen wollte, dann auf humoristische, manchmal auch selbstironische und vor allem volkstümliche Art und Weise. Er agierte als eine Art Volkskorrespondent, der auch die Themen zur Sprache brachte, die den Menschen auf der Seele lagen. Allerdings wahrte er in dieser Funktion meist eine opportunistische Haltung zu politischen Strömungen und verbreitete trotz manch’ kritischer Bemerkung stets Optimismus sowie ein betont positives Bild seiner liebens- und lebenswerten Heimatstadt Gera. Er wollte nicht polarisieren oder Unfrieden stiften. So wie er sich im Großen die friedliche Einheit seines Vaterlandes wünschte, so lag ihm in seinem unmittelbaren Lebensumfeld ebenfalls das friedfertige Miteinander der Menschen am Herzen, wenn er schrieb: „Wenn die Großen und die Kleinen Einig gehen Hand in Hand Wird auch wieder Sonne scheinen Stadt und Staat und Vaterland!“30

30 LUBOLDT, Tulipan-Lieder (wie Anm. 13), S. 8.

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Was von Hermann Luboldts Werk, der sich als ein ausgewiesener Kenner jedes Winkels in Gera nebst der eingemeindeten Orte sowie der Eigentümlichkeit und Lebensauffassung ihrer Einwohner qualifizierte, bis in unsere heutige Zeit vorrangig vermittelt wird, artikuliert sich in Form seiner tief verwurzelten Heimatliebe, die er lyrisch unter das Volk brachte und mit der auch heute noch für die mannigfaltigen, wenngleich teilweise auch andersartigen Schönheiten der Stadt begeistert und geworben werden könnte. Die Aktualität und das Interesse an seinen Versen zeigt sich unter anderem in den drei von 1995 bis 2008 erschienenen Druckwerken mit Gedichten aus der Feder Hermann Luboldts. Aus erinnerungskultureller und identitätsstiftender Sicht können seine Äußerungen über die Entwicklung der Stadt Gera, ihrer Menschen, deren Eigenschaften, ihr spezielles Naturell, ihre Sprache, ihre Orte der Geselligkeit oder ihre gemeinsamen Erlebnisse als „Erinnerungsort“ reklamiert werden, denn seinem Werk immanent ist sehr wohl auch die Botschaft, „langlebige, generationenüberdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert,“31 in enger Bindung an die lokal fixierte Heimat Gera zu tradieren. Insofern löste Luboldt den von seinem Vater testamentarisch formulierten Appell, stets so zu handeln, dass der hart erarbeitete Stolz auf den Namen Luboldt nicht angetastet würde,32 ein. Denn durch das Schrifttum Hermann Luboldts ist dieser Familienname auf nachhaltigere Art und Weise im Stadtgedächtnis fixiert als die Produkte der längst nicht mehr existierenden Firma „Luboldt & Focke“.

31 Étienne FRANÇOIS/Hagen SCHULZE, Einleitung, in: DIES. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2003, S. 9–24, hier S. 18. 32 Stadtmuseum Gera, Sammlung Luboldt (wie Anm. 7).

RAINER MÜLLER NEUSTADT AN DER ORLA – EIN STADTDENKMAL

Neustadt an der Orla – ein Stadtdenkmal des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Anmerkungen zum Profanbau der Stadt

In der im Jahr 1650 publizierten Topographia Superioris Saxoniae, einem der sechzehn von Matthäus Merian herausgegebenen Bände der Topographia Germaniae, findet sich ein Kupferstich, der die Stadt Neustadt an der Orla in einer Ansicht von Norden wiedergibt (Abb. 1).1 Er zeigt die Stadt als vielteiliges, aber klar begrenztes Gebilde aus Mauern, Dächern und Giebeln. In der Mitte des Bildes ist das Rathaus mit seinen beiden Dachreitern zu erkennen. Gerahmt wird es durch die beiden mittelalterlichen Kirchen der Stadt, links die einstige Klosterkirche und rechts die Stadtkirche St. Johannis, die durch ihre hohen Dächer und ihre Türme leicht zu identifizieren sind. Dieses überschaubare und wohl geordnete Ensemble ist eingebettet in eine Landschaft aus flach gespannten, teils bewaldeten Hügeln, die sich in die Tiefe des Bildraumes erstrecken. Im Vordergrund sind von Staketen umzäunte Gärten wiedergegeben, dazu ein Bauer beim Pflügen mit einem Ochsengespann und ein Reiter. Diese Personen zeugen von der allenthalben im Bild erkennbaren Wirksamkeit des Menschen in der Landschaft. Kaum sichtbar, aber doch benannt, ist der Fluss, an dem Neustadt liegt und ihr als Namenszusatz dient, die Orla. Unter den in das Hügelland eingebettet liegenden Orten ist es insbesondere Arnshaugk, das durch seine mittige Lage und den hohen Schlossturm die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Lage und Charakter dieses Amtsortes spiegeln einen historischen Zusammenhang wider, der für die Entstehung Neustadts von grundlegender Bedeutung war.2 Unter 1

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Matthäus MERIAN (Hg.), Topographia Superioris Saxoniae Thüringiae/Misniae Lusatiae […], Frankfurt a. M. 1650, S. 144. Für Hinweise, Bereitstellung von Material und Unterstützung vor Ort danke ich Ronny Schwalbe (Kulturamtsleiter der Stadt Neustadt an der Orla), Daniel Pfletscher (Stadtarchiv Neustadt an der Orla), Lutz Scherf (Büro Scherf.Bolze.Ludwig, Silbitz) und meinen Kollegen Dr. Thomas Nitz und Christian Misch. Matthias WERNER, Neustadt, Orlagau und Thüringen im 11./12. Jahrhundert. Die hochmittelalterlichen Rahmenbedingungen der Anfänge von Neustadt an der Orla, in: Werner GREILING (Hg.), Neustadt an der Orla. Vom Ursprung und Werden einer Stadt, Jena 1997, S. 15–77, bes. S. 48–57; Michael BERNAST, Archäologische und bauhistorische Untersuchungen im Burgareal von Arnshaugk, in: Ines SPAZIER (Hg.), Archäologische

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den weiteren im Hintergrund sichtbaren Dörfern ist es vor allem das rechts im Bild wiedergegebene Neunhofen, das durch seine die wenigen Häuser überragende Kirche und deren hohen Turm hervorsticht. Eine Legende benennt die wichtigsten Orte und Bauten, so das Rathaus und die Pfarrkirche St. Johannis. Auch einige Dörfer der Umgebung und die Gerberhäuser in der östlichen Vorstadt finden Erwähnung. In der zugehörigen Ortsbeschreibung heißt es unter anderem, Neustadt habe „zwo Kirchen / auch Vor-Stätte / vnd viel Tuchknappen […] Lige bey dem Wasser Orla / vnnd an einem Wald / die Heyde genant / ein Meylwegs vom Stättlein Peßneck“.3 Weiterhin werden allerlei historische Angaben zur Geschichte mitgeteilt, auch die Bedeutung von Arnshaugk als kursächsischem Amtssitz.

Abb. 1: Neustadt an der Orla, Kupferstich aus der Topographia Superioris Saxoniae von Matthäus Merian, 1650.

Der Kupferstich Merians hält das Bild einer befestigten und geordneten Stadt der frühen Neuzeit fest, die durch Tuchproduktion und -handel, aber auch durch Lederherstellung und -verarbeitung zu Wohlstand gelangt war. Sichtbarer Ausdruck dieses Wohlstandes waren die Stadtmauer mit ihren Toren und Türmen, öffentliche Bauten wie das Rathaus und die Stadtkirche, aber auch die großen Bürgerhäuser am Markt. Diese Bauten bestehen, wenn auch den Bedürfnissen späterer Generationen angepasst, bis heute und ermöglichen uns Einsichten in die Baugewohnheiten und Konstruktionsweisen vergangener Zeiten, wie sie andernorts in dieser Dichte selten sind. Die Spuren dieser Geschichte vorzustellen, ist Ziel dieses Beitrags. Hierbei soll der Fokus auf dem bisher kaum beachteten, kunst- und bauhistorisch aber höchst bemerkenswerten Profanbau der Stadt liegen. Für den Sakralbau und die Stadtbefestigung sei an dieser

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Impressionen. Neustadt an der Orla und Umgebung, Jena 2016, S. 126–159. Der bei Merian noch dargestellte stattliche Bergfried ist heute nur mehr ein bewachsener Schuttkegel. MERIAN, Topographia (wie Anm. 1), S. 144.

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Stelle aus Platzgründen lediglich auf die jüngere Forschung verwiesen, die in den letzten Jahren nicht zuletzt durch das tatkräftige Wirken des Jubilars angeregt und veröffentlicht wurde.4 Bevor jedoch auf einzelne Gebäude eingegangen wird, sei in gebotener Kürze ein knapper Abriss zur Geschichte der Stadt vorangestellt und ein Blick auf den Grundriss der Stadt geworfen.

Geschichtlicher Abriss Als Zeitpunkt für die Gründung und planvolle Anlage der Stadt nimmt die Forschung das mittlere 13. Jahrhundert an.5 Erste schriftliche Nachweise ihrer Existenz sind die Nennung eines Juden Enselm als Bürger von Neustadt aus dem Jahr 1287 und die Pfandverleihung der Stadt im Jahr 1291.6 Als Stadtgründer gilt Otto von Lobdeburg, der seit 1252 in Arnshaugk seinen Herrschaftssitz hatte. Mit dem Aussterben der Arnshaugker Linie gelangte die Herrschaft Arnshaugk 1289 an die Wettiner. Als Teil des wettinischen Amtes Arnshaugk gehörte Neustadt zunächst zu den osterländischen Besitzungen, seit 1445 zu Thüringen. Mit der Leipziger Teilung 1485 kam das Amt Arnshaugk mit Neustadt an die Ernestiner und blieb auch in deren Besitz, als infolge des für sie unglücklichen Ausgangs des Schmalkaldischen Krieges große Teile ihres Herrschaftsgebietes an die albertinische Linie fielen. Im Ergebnis der Grumbach‘schen Händel mussten vier weitere Ämter an die Albertiner abgetreten werden, darunter auch das Amt Arnshaugk. Es gehörte daher seit 1567/1571 zu Kursachsen und war zeitweilig Nebenresidenz von Sachsen-Zeitz. Infolge der Neuordnung Europas nach den 4

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Zum Sakralbau siehe Rainer MÜLLER, Die Kirchen in Neustadt an der Orla und Umgebung. Eine Geschichte des Sakralbaus in der Orlasenke, Jena 2011, dort auch Angaben zu weiterer Literatur. Ergänzend zur Baugeschichte der Johanniskirche DERS., Die Stadtkirche St. Johannis in Neustadt an der Orla. Bemerkungen zur Baugeschichte und Baugestalt, in: Werner GREILING/Uwe SCHIRMER/Ronny SCHWALBE (Hg.), Der Altar von Lucas Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 101–121. Zur Stadtbefestigung siehe Ines SPAZIER, Die Stadtbefestigung von Neustadt an der Orla, in: DIES. (Hg.), Archäologische Impressionen (wie Anm. 2), S. 47–54. Vgl. DIES./Yvonne KRAMER/Ulrike MEISTER, Neue Erkenntnisse zu den mittelalterlichen Stadtbefestigungen in Ostthüringen, in: Neue Ausgrabungen und Funde in Thüringen 7 (2012/13), S. 179–182; Torsten MONTAG, Gedanken zur Neustädter Stadtbefestigung, in: Peter SACHENBACHER/Hans Jürgen BEIER (Hg.), Der Orlagau im frühen und hohen Mittelalter, Langenweißbach 2007, S. 109–116. Erich STOPFKUCHEN, Verfassung und Verwaltung der Stadt Neustadt an der Orla seit der Entstehung des Rates (um 1365) bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Neustadt an der Orla 1928, S. 13 f., 37 f. Zur frühen Stadtgeschichte siehe besonders WERNER, Neustadt (wie Anm. 2). Ebd., S. 50.

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Napoleonischen Kriegen kam der Neustädter Kreis 1815 an das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach und wurde mit dem Ende der Monarchie Teil des 1920 gebildeten Landes Thüringen.

Abb. 2: Grundriß von der im Neustaedtischen Kreise gelegenen und unter das Amt Arnshaugk gehörigen schriftsäßigen Stadt Neustadt an der Orla, aufgenommen und gezeichnet von dem Ingenieurs Unter Officier Christian Heinrich Erhardt im Jahr 1797.

Stadtgrundriss Neustadt erscheint mit seinem regulären Grundriss und der durch Markt und Rathaus gekennzeichneten Mitte geradezu als Idealbild einer mittelalterlichen Planstadt (Abb. 2 und 3). Als deren Elemente können der streng geometrische

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Umriss und die geregelte Aufteilung der Binnenfläche gelten. Auch wenn die Gitterstruktur weit weniger deutlich ausgeprägt ist als zumeist behauptet, ist doch nicht daran zu zweifeln, dass diese Figur Ergebnis zielgerichteter Planungstätigkeit ist.

Abb. 3: Neustadt an der Orla, Städtebaulich-denkmalpflegerisches Gutachten, Analysekarte (Dr. Rolf-Günter Lucke, Ulrich Wittich, 1980).

Im Grundriss bildet die ummauerte Kernstadt ein ost-west-gestrecktes Geviert von etwa 350x250 Metern Länge. Diese viereckige Fläche wurde durch Straßen und Gassen in unterschiedlich große Blöcke zerlegt. Das Kernstück der Planung und damit gleichsam das Rückgrat der gesamten Stadtanlage bildet die Breite Gasse, die jetzige Ernst-Thälmann-Straße. Sie verband zwei Stadttore miteinander, nämlich das Triptiser im Osten und das Neunhofener im Westen. Ihre OstWest-Ausrichtung orientierte sich am Verlauf der durch das Orlatal geführten Handelsroute von Gera nach Saalfeld über Triptis und Pößneck. Der schwache Bogen, den die Straße in ihrem Verlauf vollzieht, folgt dem topografischen Höhenprofil. Er hat aber den sicherlich erwünschten Nebeneffekt, dass ein Passant, der die Stadt durch eines der beiden Haupttore betrat, diese nicht direkt von einem Ende zum anderen übersehen konnte, sondern sein Blick auf das etwa in der Mitte befindliche Rathaus fiel, dessen beide Schmuckgiebel auf diese besondere Situation Bezug nehmen (siehe Abb. 5). Der Markt liegt im Zentrum der Blockstruktur und wird an der Ost- und Westseite von zwei Nord-Süd-gerichteten Straßen eingefasst, dem Topfmarkt und der Rodaer Straße. Sie bilden zusammen mit der Bachstraße und der Schloßgasse Querlinien, durch die das Viereck der ummauerten Stadt in drei

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etwa gleich breite Steifen zerlegt wird. Eine dritte, direkt vom Markt abgehende Straße, die Jüdengasse, jetzt Marktstraße, führt nach Osten und ist die nördliche Parallele zur Ernst-Thälmann-Straße. Ihr westliches Gegenstück, die Jungferngasse, berührt dagegen den Markt nicht direkt, so dass die Blockstruktur an dieser Stelle aufgebrochen erscheint. Doch wie hier im Besonderen so sind im Allgemeinen auch bei allen anderen Straßenkreuzungen keine durchlaufenden Fluchten angelegt worden, sondern es finden sich jeweils verschiedene Vor- und Rücksprünge. Die nach Norden versetzte Lage der Jungferngasse resultierte zum Beispiel aus der Stellung der Stadtkirche. Denn deren Lage nördlich der Ernst-Thälmann-Straße verlangte nach einer entsprechenden Verschiebung des nördlich von Kirche und Kirchhof befindlichen Baublocks. Die beschriebene Grundstruktur des Zentrums wird an den Rändern ergänzt durch schmale, meist nicht regelmäßig gebildete Blöcke entlang der Stadtmauer. Es sind gleichsam Reststücke, die zwischen der Stadtmauer und den großen Quartieren verblieben. Ihre Erschließung übernehmen enge Gassen, die Fleischergasse und die Sackgasse im Norden, die Gerichtsgasse im Osten, die Schloßgasse und die Brauhausgasse im Süden und die Schulgasse im Westen. Zusätzlich sind in diese Grundstruktur schmale Quergassen eingefügt, die zu den wichtigsten Bauten führen: die Kirchgasse als Durchgang von der Jungferngasse zur Kirche und die Fleischbänke als direkte Verbindung von Markt und Kirchplatz. Kennzeichnend für eine planmäßige Anlage ist auch die Verteilung der wichtigsten Gebäude in der Stadt. Selbstverständlich befindet sich das Rathaus als Sitz des Rates und der städtischen Aufsichtsämter direkt am Markt in der Mitte. Typisch ist auch die vom Markt abgerückte Lage der Kirche. Eine vergleichbare Disposition zeigt die gleichfalls von den Lobdeburgern um 1230 gegründete Stadt Jena, die auch sonst mit Neustadt Gemeinsamkeiten in der Anlage teilt. Aber auch im Falle von Saalfeld an der Saale ist zwischen Kirche und Markt ein solcher Häuserblock eingestellt, der wie in Jena und Neustadt von schmalen Passagen durchstoßen wird. Nördlich der Kirche befanden sich Pfarrhaus und Schule, die traditionell ein baulich zusammengehöriges Ensemble bildeten. Im Südosten der Stadt, unweit des Triptiser Tors, lag das 1294 gegründete Kloster der Augustiner-Eremiten. Seine Randlage nahe der Stadtmauer war für Bettelordensklöster, wie ein Vergleich mit dem Franziskanerkloster in Saalfeld und den Augustiner-Eremitenklöstern in Gotha oder Wittenberg zeigen könnte, durchaus üblich. Ohne auf Veränderungen und Verluste jüngerer Zeit einzugehen – das wäre ein eigener Beitrag –, ist festzuhalten, dass die mittelalterliche Planstruktur bis heute im Stadtgrundriss von Neustadt erkennbar geblieben ist. Seine Anschaulichkeit gewinnt dieser Zusammenhang aber erst durch die umfängliche Über-

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lieferung an Bauten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, die im Folgenden eingehender betrachtet werden sollen.

Kommunale Bauten Die Stadt des Mittelalters war ein räumlich klar definierter Rechts- und Friedensbezirk. Baulicher Ausdruck dessen war die Stadtbefestigung. Mit ihren Mauern, Türmen und Toren, ihren Wällen und Gräben definierte sie die Grenzen des städtischen Gemeinwesens. Abgesehen von der Stadtmauer gehörte das Rathaus wie kein anderes Bauwerk zum Bild einer mittelalterlichen Stadt. Als Sitz der kommunalen Selbstverwaltung repräsentierte es die Stadt und ihren Rat nach außen und innen und war daher unter den Häusern der Stadt besonders ausgezeichnet. Doch auch das Rathaus war nur einer von vielen kommunalen Bauten, die von der Stadt zu erbauen und zu unterhalten waren. Zu ihnen zählten üblicherweise Orte des Handels wie Brot- und Fleischbänke, soweit sie nicht räumlich mit dem Rathaus verbunden waren, aber auch Korn-, Brau- und Zeughäuser. Der älteste verlässliche Grundriss von Neustadt stammt aus dem Jahr 1797 (siehe Abb. 2).7 Er nennt und verzeichnet als städtische Bauten außer dem Rathaus und den Stadttoren den Weinkeller und die Garküche am Markt 2, den sogenannten Ratskeller, jetzt das Bauamt der Stadt, die Fleischbänke zwischen Markt und Kirchplatz und die Schulgebäude am Kirchplatz und an der Schulgasse. Weiterhin werden das Brauhaus mit dem Malzhaus an der Brauhausgasse und das vor der Stadt gelegene Schießhaus benannt.8 Die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schriftquellen erwähnen zudem einen Gasthof am Markt, das Frauenhaus in der Jungferngasse, den Marstall am Graben, zwei Badestuben vor den Toren der Stadt, die beiden Hirtenhäuser, vier bzw. fünf Mühlen, die Ziegelhütten, den Kalkofen und eine Bürgerscheune als städtische Bauten.9 Die Aufsicht über das städtische Bauwesen führte ein vom Rat beru7

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Der Titel der Karte lautet: „Grundriß von der im Neustaedtischen Kreise gelegenen und unter das Amt Arnshaugk gehörigen schriftsäßigen Stadt Neustadt an der Orla, aufgenommen und gezeichnet von dem Ingenieur Unter-Offizier Christian Heinrich Erhardt im Jahr 1797“. Die Karte befindet sich in der Kartensammlung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz unter der Signatur/Inventar-Nr. SBB-PK & SLUB/KS A19727 (Farbkopie). Diese ist auch online einsehbar unter: http:// www.deutschefotothek.de/documents/obj/70301596/df_dk_0001206 (letzter Zugriff: 4.11.2018). Das Brauhaus, Brauhausgasse 15, wurde um 1990 abgerissen. STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 109 f., zu den Mühlen S. 96–107, zu den Badehäusern S. 79, zum Gasthof am Markt S. 81 f. Der Marstall befand sich Am Graben 22 und war 1504 nach Brand wieder aufgebaut worden. Der zweigeschossige Bau mit

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fener Baumeister. Er hatte nicht nur die Kontrolle über das Bauwesen inne, sondern sorgte auch für die Versorgung der Stadt mit Baustoffen, wie Stein, Holz, Ziegel und Kalk.10 Zu den städtischen Bauaufgaben zählten weiterhin die Anlage und Pflege der Verkehrsflächen, der Plätze, Straßen und Wege, aber auch der Bau von Brücken. Von Bedeutung war selbstverständlich die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur, namentlich einer zuverlässigen Wasserversorgung durch Röhrenkästen – hölzernen, mit Werg und Moos abgedichteten Wassertrögen – und Brunnen. Hierfür war seitens der Stadt ein eigens bestallter „Röhrmeister“ verantwortlich.11 All die genannten, hier nicht weiter behandelten Bauten wären einer vertieften Untersuchung unter stadttopografischen Aspekten wert. Im Weiteren seien aber nur diejenigen städtischen Bauten vorgestellt, die in nennenswertem Umfang bis heute in spätmittelalterlicher Gestalt und Struktur überliefert sind.

Das Rathaus Neben der Stadtkirche St. Johannis gehört das Rathaus von Neustadt zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Stadt (Abb. 4 und 5). Sein hohes Dach mit den beiden Treppengiebeln und der Turmspitze über dem Erker ist ein markanter Blickpunkt in der Fernansicht des Ortes. Berühmt ist vor allem die spätgotische Marktfassade mit der Freitreppe und dem schönen, turmbekrönten Erker. Sie ist ein Musterbeispiel für den reichen spätgotischen Stil der Zeit um 1500 und steht gleichsam als Symbol für die wirtschaftliche Blüte der Stadt im späten Mittelalter. Der dreigeschossige Steinbau besteht – wie schon am Außenbau anhand der unterschiedlichen Detailgestaltung erkennbar – aus zwei verschiedenen Teilen, dem östlichen und dem westlichen. Der östliche, verputzte und heute weiß geschlämmte Gebäudeteil ist vollständig unterkellert, der westliche, steinsichtige hingegen nur in geringem Umfang. Auch die mit Schiefer gedeckten Dächer haben unterschiedliche Neigungen und Firsthöhen. Auffallend sind vor allem die Unterschiede in der Gestaltung der Fenster und Portale. Im östlichen Teil gibt es breite, mehrteilige und zudem in der Höhe gestaffelte Fenstergruppen mit reich gegliederten Profilgewänden, im westlichen dagegen lediglich einfache spitzbogige Öffnungen bzw. Kreuzstockfenster mit geradem Sturz. auskragendem Fachwerk-Oberstock stand in veränderter Form noch um 1990, ebd., S. 91 u. 110. 10 Ebd., S. 108. 11 Ebd., S. 113–115.

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Abb. 4: Rathaus, Blick von Norden, rechts im Bild der ehemalige städtische Weinkeller Markt 2.

Einer Inschrifttafel zufolge wurde mit dem Bau des westlichen Teils im Jahr 1465 begonnen.12 1468 stand er unter Dach.13 Für den östlichen Teil wird in der Literatur eine Entstehung um 1364/68 angenommen.14 Doch widersprechen dem allein schon die Detailformen. Sie gehören eindeutig in die Zeit um 1500. Auch die Art und Weise, wie das spätgotische Stabwerkportal und der marktseitige Erker in das Mauerwerk eingebrochen wurden, lassen erkennen, dass der westliche Teil bereits bestand, ehe der östliche angefügt wurde. Die Feststellung, dass nämlich der bisher für älter angesehene östliche Teil erst um 1500 entstanden ist, erklärt auch, warum der Keller unter dem west12 In den Bau- und Kunstdenkmälern als „1466“ verlesen, Paul LEHFELDT, Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, Heft XXIV: Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach. Amtsgerichtsbezirk Neustadt an der Orla, Jena 1897, S. 110. Richtigstellung bei STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 85 u. 216, Fußnote 542. 13 Thomas EIßING, Dendrochronologischer Bericht: Neustadt an der Orla, Rathaus (Bohrung von 1994), Bamberg 2018 (vorhanden im Archiv Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, im Folgenden: TLDA). 14 LEHFELDT, Bau- und Kunstdenkmäler (wie Anm. 12), S. 110–118; STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 110. Im Dehio ist die Baugeschichte bereits vorsichtig korrigiert. Allerdings ist der östliche Teil ein kompletter Neubau, kein Umbau eines älteren Steinbaus, Georg DEHIO, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Thüringen, bearb. von Stephanie EIßING, Franz JÄGER u.a., München/Berlin 22003, S. 883 f.

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lichen Teil als nachträgliche Zutat erscheint; er wurde erst mit dem Bau des jüngeren Teils unter das vorhandene Gebäude eingebracht.15 Der Erweiterungsbau stand, wie die Holzaltersbestimmung des Dachgerüstes ergab, 1507 (d) unter Dach.16 Für den Bau hat man sich eines erfahrenen Meisters bedient, nämlich Hans Krause. Er hatte zuvor in Pößneck am Bau des dortigen Rathauses mitgewirkt. Es verwundert daher nicht, wenn es stilistisch viele Übereinstimmungen gibt. Namentlich der östliche Ziergiebel ist dem wenige Jahre zuvor, 1498/99, entstandenen Nordgiebel des Pößnecker Rathauses verwandt. In beiden Fällen wurden profilierte Formsteine aus Backstein verwendet. Diese Bauweise war um 1500 in der Region für solche Aufgaben sehr beliebt, das belegen außer dem Pößnecker Rathaus auch der um 1510 errichtete östliche Schaugiebel der Franziskanerkirche in Saalfeld oder die um 1535 entstandenen Zwerchhausgiebel des Saalfelder Rathauses.17 Zu den auffallenden Besonderheiten des östlichen Teils zählen auch die mehrteiligen Fenster. Ihre Gestaltung variiert an den beiden Hauptseiten: Zum Markt enden die Bahnen oben in gedrungenen Kielbögen, zur Ernst-ThälmannStraße haben sie einen geraden Sturz.18 Durch die Staffelung zur Mitte entsteht jeweils eine axialsymmetrische Figur. Profilierte Stäbe, die sich überkreuzen, bilden die Rahmung. An dem marktseitigen Erker sind die Stäbe eingebunden in ein die ganze Wandfläche überziehendes Gespinst aus Linien und Spitzbögen. Der Erker ist insgesamt eine kunstreiche Kleinarchitektur und durch weiteren Schmuck ausgezeichnet, etwa durch das Schleiermaßwerk zwischen den Konsolen, die Eckfialen und den hohen Spitzhelm mit seinem Giebelkranz. Einzig am Erker haben die Fensterbahnen auch eine Unterteilung durch eingeschriebene Kielbögen. Auch das Eingangsportal ist eine extravagante Form der Spätgotik. Sein Gewände zeigt eine Überschneidung von parallelen und gebogenen Stäben.

15 Die Information entstammt dem Baugutachten, das der „Förderkreis Denkmalpflege“ im Jahr 1995 in Auftrag gegeben hat. Es trägt den Titel „Bauarchäologisches Kurzgutachten. Keller des Rathauses, Westflügels“ und wurde von Karl-Eberhard FEUßNER bearbeitet wurde. Feußner geht in seiner Dokumentation von der Annahme aus, der östliche Teil sei der ältere Teil des Rathauses und interpretiert daher den Befund falsch. 16 EIßING, Bericht (wie Anm. 13). 17 Gerhard WERNER, Saalfelder Bau- und Kunstdenkmäler, Saalfeld 1982, S. 16 u. 59–62. 18 Ähnliche Gestaltungen gestaffelter Rechteckfenster wiesen die Kreuzgangfenster am einstigen Kartäuserkloster in Erfurt auf, wie es die im Angermuseum befindliche Stadtansicht Erfurts aus der Zeit um 1530 zeigt, aber auch an dem spätgotischen, neben dem Torhaus befindlichen Wohngebäude des Klosters Veßra. Lehfeldt verweist in diesem Zusammenhang auf Saalfeld, LEHFELDT, Bau- und Kunstdenkmäler (wie Anm. 12), S. 64 f.

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Abb. 5: Rathaus von Neustadt an der Orla, Blick von Südosten.

Die Akzente, die mit den Fenstern und dem Erker am Außenbau gesetzt werden, geben bereits erste Hinweise auf die innere Organisation des Bauwerks. Wie üblich war das Rathaus ein multifunktional genutztes Gebäude.19 Es „ent19 Zu Rathäusern allgemein siehe die Beitragssammlung in: Rathäuser und andere Bauten. Jahrbuch für Hausforschung 60 (2010); vgl. auch: Cord MECKSEPER, Mittelalterliche und frühneuzeitliche Rathäuser in Niederdeutschland. Bemerkungen zu ihrer Gestalt und deren Bedeutung, in: Georg Ulrich GROßMANN (Hg.), Das Rathaus in Höxter, München/ Berlin 1994, S. 127–149.

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hielt über der Erde die Sitzungs- und Geschäftszimmer des Rates, den Weinkeller – in der ‚Bielke‘ –, die Waage, Verkaufsstände für die Bäcker – nämlich die Brotbänke – und die Gewandschneider – es diente somit als ‚Gewandhaus‘ –, einen Tanzboden und vielleicht eine Rüstkammer, unter der Erde Kellerräume, in denen die städtischen Wein- und Biervorräte aufbewahrt wurden.“20 Pläne, die die Situation vor dem grundlegenden, vom Stadtbauamt unter Leitung von Alwin Pechstädt verantworteten Umbau in den Jahren 1910/11 festhalten, geben Auskunft über Größe, Beschaffenheit und Funktionen der einzelnen Räume.21 Das Kellergeschoss, das vom Markt über eine geradläufige Treppe erschlossen wird, bestand und besteht noch immer aus drei tonnengewölbten Räumen, die sämtlich unter dem östlichen Teil liegen. Nur die südwestliche Tonne greift unter den älteren, westlichen Teil des Rathauses und ist – wie schon festgestellt – nachträglich unter diesen zunächst nicht unterkellerten Bau eingefügt worden.22 Der Keller diente der Lagerung von Wein und Bier, der bzw. das in der Bielke, dem städtischen Ratskeller, ausgeschenkt wurde. Der Ausschank befand sich direkt oberhalb der Keller im gewölbten Erdgeschoss des östlichen Teils (Abb. 6). Dieser jetzt als Bürgerbüro genutzte und mehrfach unterteilte Bereich war ursprünglich eine große Halle mit vier Gewölben über einem Freipfeiler in der Mitte. Dieser Gewölberaum ist vom westlichen Teil durch eine Brandmauer geschieden und über ein Spitzbogenportal an der Marktseite zugänglich. Auch das Erdgeschoss des älteren westlichen Teils ist mit Kreuzgratgewölben versehen. Die in diesem Bereich heute noch erkennbaren Arkaden waren einst geöffnet, so dass sich zwei, im Inneren durch eine Scheidmauer getrennte Durchfahrten ergaben: In der westlichen befanden sich bis um 1900 die Brotbänke, in der östlichen die städtische Waage. Als Relikt der einstigen Nutzung hängt dort noch heute ein Waagebalken von 1597.23 Im ersten Obergeschoss, das über die repräsentative Freitreppe erschlossen wird, befindet sich der Ratssaal (Abb. 7). Er nimmt die gesamte Breite des östlichen Anbaus von 1507 ein. Auf seine Lage beziehen sich das große acht20 STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 110. 21 Vgl. hierzu die Akten im Stadtarchiv Neustadt an der Orla (im Folgenden: StadtA Neustadt), Cap II, Nr. 504 (betr. u.a. Einrichtung eines Wachlokals und Marktamtes in der früheren Brotbank des Rathauses, 1899), 506 (Umbau Rathaus 1901–1914), 757 (betr. Ausbau Sitzungssaal II [heute Trausaal], 1930), 7989 (Betr. Einbau einer Kesselanlage und Dacharbeiten 1952/53), 7990 (betr. Restaurierung des spätgotischen Erkers 1952/53). In der Plansammlung des Stadtarchivs finden sich die Planungen zum Umbau. Eine eingehende, die schriftlichen und dinglichen Quellen auswertende Untersuchung zum Rathaus fehlt bisher. Für die freundliche Unterstützung bei der Einsicht in die Unterlagen sei Herrn Archivleiter Daniel Pfletscher gedankt. 22 Siehe Anm. 40. 23 LEHFELDT, Bau- und Kunstdenkmäler (wie Anm. 12), S. 114.

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teilige Fenster und der Erker an der Marktseite. Aufgrund dieses gestalterischen Zusammenhangs ist er als ursprünglicher Bestandteil des architektonischen Konzepts anzusehen. Wo der Ratssaal vor dem Neubau von 1507 lag – im zweiten Obergeschoss des westlichen Teils oder in einem Vorgänger an gleicher Stelle – ist unbekannt.

Abb. 6: Rathaus, Grundriss des Erdgeschosses vor dem Umbau 1910.

Auch im westlichen Teil ist die ursprüngliche Disposition mit Vorsaal, Archivgewölbe und Bürgermeisterzimmer – um 1900 als „Gemeindevorstand-Expedition“ bezeichnet – erlebbar geblieben. Im Archiv verweisen bauliche Besonderheiten wie die Wölbung, der mittels eisenbeschlagener Tür und Riegelschloss gesicherte Zugang und die schmalen schlitzartigen Fenster auf den einstigen Zweck des Raumes, nämlich die sichere Verwahrung wichtiger Dokumente wie Urkunden, Rechnungsbücher, Verträge, aber auch von Wertgegenständen und Geldmitteln. Das Bürgermeisterzimmer als ehemalige Ratsstube gibt sich schon durch die Anfügung eines Erkers im Jahr 1610 als repräsentativer Geschäftsraum zu er-

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kennen. Inwiefern die 1910/11 eingebaute Holzbalkendecke mit schiffsgekehlten Unterzügen eine ältere Situation wiederholt, bedürfte weiterer Klärung.24

Abb. 7: Rathaus, Grundriss des Hauptgeschosses vor dem Umbau 1910.

Alle anderen Räume des ersten Obergeschosses wie auch die heutige Ausstattung, so die hölzernen Türen im neugotischen Stil oder das massive Treppenhaus mit seinem kunstvoll geschmiedeten Geländer, gehen auf den Umbau von 1910/11 zurück. Gleiches gilt für das zweite Obergeschoss (Abb. 8). Hier gab es zuvor in beiden Hausteilen jeweils einen großen Saal, in dem mittels dünner Fachwerkwände Räume abgeteilt waren. Genannt werden u.a. eine „Kammer für Feuerwehrutensilien“, Räume für das „Aichamt“ und das „Meldeamt“.25 Diese Raumteilung dürfte später erfolgt sein. Ursprünglich gab es wohl nur zwei große Säle, nämlich einerseits den Tanz- und andererseits den Gewandsaal. Eine 24 Bei dem Umbau 1910/11 wurden nicht nur die hölzernen Ausbauteile des Bürgermeisterzimmers erneuert, sondern u.a. die einst etwa einen Meter starke Trennmauer zum Vorsaal ausgebrochen und durch eine dünne Scheidwand ersetzt. 25 Raumbezeichnungen nach dem undatierten, um 1900 gefertigten Grundrissplan des Dachgeschosses im StadtA Neustadt (wie Anm. 21).

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vergleichbare Situation bestand im Saalfelder Rathaus, wo im zweiten Obergeschoss die große Tuchhalle existierte, in der die Tuchmacher der Stadt ihre Waren präsentieren und handeln konnten.26

Abb. 8: Rathaus, Grundriss des zweiten Obergeschosses vor dem Umbau 1910.

So lässt sich in diesem Fall resümieren, dass trotz späterer Umbauten der zwischen 1465 und 1507 entstandene Ursprungsbau in einem Umfang erhalten geblieben ist, der noch immer eine anschauliche Vorstellung eines solchen spätmittelalterlichen Repräsentationsbauwerks zu vermitteln vermag. Damit zählt das Neustädter Rathaus zu den wichtigsten Denkmalen der spätgotischen Profanbaukunst in Thüringen.

26 WERNER, Saalfelder Bau- und Kunstdenkmäler (wie Anm. 17), S. 18.

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Weitere kommunale Bauten Zu den bekannten Bauten Neustadts gehören neben Stadtkirche und Rathaus auch die Fleischbänke (Abb. 9). Ihre Entstehung fällt in das Jahr 1475, als der Rat beschloss, den Fleischverkauf vom Rathaus an die jetzige Stelle, eine Passage zwischen Markt und Kirchplatz, zu verlegen. Die Läden beidseits dieses Durchgangs werden erstmals 1518 erwähnt.27 Auf die Jahrzehnte um 1500 gehen bzw. gingen auch die ältesten Teile der beiden zu Markt und Kirchplatz gelegenen Kopfbauten Markt 5 und Kirchplatz 9 zurück.28 Bei der letzten Instandsetzung der Fleischbänke in den Jahren von 1985 bis 1987 wurden neun der insgesamt 17 Läden restauriert bzw. rekonstruiert, acht, nämlich die der Nordseite, ersatzlos beseitigt. Bei dem verbliebenen südlichen Teil handelt es sich um einen schlichten zweigeschossigen Fachwerkbau von 1594 (d) mit geringer Tiefe (ca. 2,5 m). Das weit vorgezogene Obergeschoss bietet Witterungsschutz für die Läden im Untergeschoss. Jeder Laden hat einen schmalen Zugang ins Innere und ein großes Schaufenster, das durch nach unten bzw. oben klappbare Läden verschlossenen werden kann. Der untere Klappladen ist zugleich Auslage für die Ware. Tore am Ende der Passage regelten den Verkehr zu den Marktzeiten. Spätgotische Stabwerkportale an den platzseitigen Gebäuden markieren für die Besucher leicht erkennbar die Lage des Durchgangs. Von den oben benannten städtischen Gebäuden ist noch der ehemalige Weinkeller mit Garküche, Markt 2, zu erwähnen, ein großer dreigeschossiger Eckbau mit Zwerchhäusern am Dach (siehe Abb. 4). Nach den Schriftquellen 1491 errichtet, erfolgte im 16. Jahrhundert ein grundlegender Umbau, von dem im ersten Obergeschoss eine große Holzstube mit reich profilierter Kassettendecke erhalten blieb. Die Fassadengestaltung mit Fenstergewänden und Portalen der Renaissance, aber auch einem spätgotischem Stabwerkportal verweist auf die mehrphasige Entstehung.29 Im Zusammenhang mit dem nicht erhalten gebliebenen Brauhaus nahe dem Stadtmauerturm am Eiskellerplatz ist auf die Braukeller im einstigen Kloster

27 STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 81 f. mit entsprechendem Quellennachweis. Eine 2019 erfolgte dendrochronologische Datierung der Fleischbänke erbrachte das Fälldatum 1593/94 (d). 28 Markt 5 wurde 1977 bis auf die massiven Umfassungsmauern entkernt. Bei Kirchplatz 9 ist das Dachwerk auf 1495 d datiert. 29 Das zweite Obergeschoss und das Dachwerk wurden nach einem Brand im Jahr 1921 neu errichtet. Vgl. StadtA Neustadt, Bauakte Gebäude Markt 2.

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hinzuweisen. Die Stadt erwarb die leerstehende Klosterkirche und ließ in den 1540er/50er Jahren zur Lagerung von Bier und Wein große Keller einbringen.30

Abb. 9: Fleischbänke, Markt 5, Blick vom Markt zur Kirche nach Westen, 1937. Im Bild ist rechts noch die zweite Ladenreihe an der Nordseite zu erkennen. 30 STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 88. Stopfkuchen nennt das Jahr 1548/49 als ersten schriftlichen Nachweis. Am nördlichen Portal des westlichen Kellers findet sich die Jahreszahl „1555“. Vgl. MÜLLER, Kirchen (wie Anm. 4), S. 147.

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Städtischer Wohnbau des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Mitte des 16. Jahrhunderts hatte Neustadt ca. 2.500 Einwohner. Zur gleichen Zeit gab es in der ummauerten Kernstadt 209 Wohnhäuser, in den drei Vorstädten ebenso viele.31 Von den damals bestehenden Gebäuden der Kernstadt sind heute geschätzt noch etwa 30% in unterschiedlichem Umfang erhalten. Der folgende knappe Überblick beruht auf Erkenntnissen der Denkmalerfassung. Eine systematische Hausforschung fehlt für Neustadt. Nur wenige Gebäude sind bisher hinreichend bauhistorisch untersucht.32 Dennoch lassen die im Rahmen der Begehungen gesammelten Erkenntnisse eine Rekonstruktion typischer Merkmale des historischen Hausbaus zu. Im Fokus der nachfolgenden Betrachtung stehen die Lage der Häuser im Stadtraum, Bauweise und Raumgefüge, aber auch charakteristische Ausstattungsdetails wie die Holzstuben. Schon bei flüchtiger Durchsicht des Hausbestandes fällt auf, dass es innerhalb der Stadt eine klare Zonierung in der Geschosshöhe gibt. Sind die Häuser am Markt und in den Hauptstraßen, der Ernst-Thälmann-Straße und der Rodaer Straße, vielfach dreigeschossig, so sind sie in den anderen, mehr zur Stadtmauer gelegenen Quartieren vorwiegend zweigeschossig (Abb. 10). Diese Differenzierung spiegelt die soziale Gliederung der Stadt in der frühen Neuzeit wider. Die vermögende Bürgerschaft, vor allem Tuchmacher, Gerber und Schuster, hatten ihren Platz in der Mitte der Stadt, nahe am Markt, die ärmere Bevölkerung, die einfachen Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden, wohnten an den Rändern. Bezeichnungen wie Fleischergasse und die im Nordosten außerhalb der Stadt gelegene Gerbergasse verweisen zudem auf die dort ansässigen Gewerbe. 31 STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 39 f. 32 Bauhistorische Untersuchungen liegen u.a. für die Wohnhäuser Kirchplatz 5, Markt 3, Marktstraße 11 und Rodaer Straße 12 vor. Die Nachweise für die dendrochronologischen Baualtersbestimmungen der Häuser sind, soweit nicht anders angegeben, den nachfolgenden Dokumentationen entnommen: BÜRO FÜR BAUFORSCHUNG – Scherf.Bolze. Ludwig, Kirchplatz 5. Bauhistorische Dokumentation, Silbitz 2010; DASS., Markt 3, Bauhistorische Dokumentation, Silbitz 2009; DASS., Marktstraße 11. Bauhistorische Dokumentation, Silbitz 2011; DASS., Rodaer Straße 12, Lutherhaus. Bauhistorische Dokumentation, Silbitz 2013. Zu Rodaer Straße 12 siehe auch Ronny SCHWALBE/Rainer SÖNTGEN (Hg.), Das Lutherhaus in Neustadt an der Orla. Ein Haus, eine Stadt, die Geschichte(n) und ihre Präsentation, Neustadt an der Orla 2017. Darüber hinaus ist auf die verdienstvolle Materialsammlung der von der OTEGAU Arbeitsförder- und Berufsbildungszentrum GmbH Ostthüringen/Gera finanzierten und betreuten Erfassung des historischen Gebäudebestandes der Stadt Neustadt an der Orla aus den Jahren 2000 bis 2003 hinzuweisen. Die Unterlagen befinden sich im Stadtarchiv Neustadt an der Orla.

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Abb. 10: Der Markt. Ausschnitt aus dem Erinnerungsblatt an Neustand an der Orla und nächster Umgebung, gewidmet von W. Ludwig, um 1830. Blick auf die Ostseite des Marktes mit dem Lutherhaus.

Auffallend ist, dass in Neustadt viele Häuser mit dem Giebel zur Straße stehen. Dieses Phänomen steht im Gegensatz zu der andernorts seit dem späten Mittelalter feststellbaren Firstschwenkung. Die Ursache für dieses Phänomen dürfte in der gegebenen Parzellenstruktur zu suchen sein, die aufgrund der geringen Grundstücksbreite eine andere Stellung der Häuser nicht zuließ. Denn entgegen der für hochmittelalterliche Stadtgründungen wie Erfurt typischen Großparzelle scheint es in Neustadt von vornherein eine sehr kleinteilige Aufgliederung der Baublöcke gegeben zu haben.33 So bezeugt letztlich auch die Parzellenstruktur die späte, erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfolgte Stadtgründung von Neustadt. Nachweislich kam es seit dem 15. Jahrhundert zur Zusammenlegung von Grundstücken, so zum Beispiel bei Markt 3, 11, 12, 13/14, vermutlich wohl auch bei Ernst-Thälmann-Straße 59/61 und Rodaer Straße 12 (Lutherhaus).34 33 Thomas NITZ, Stadt – Bau – Geschichte. Stadtentwicklung und Wohnbau in Erfurt vom 12.-19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 77–84 u. 137–148. 34 Zur Vereinigung mehrerer Parzellen siehe die Ergebnisse eines Kellerkatasters zum Neustädter Markt. Forschungsgesellschaft für Kultur und Denkmalpflege (FKD): Neustadt, Markt, Kellerkataster, 2002 (vorhanden im Archiv TLDA).

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Diese Verschmelzung dürfte auch ein Grund gewesen sein, warum die Zahl der Häuser in der Kernstadt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts leicht gesunken ist.35 Bemerkenswert ist aber, dass einige der auf vergrößerten Parzellen entstandenen Häuser, so das 1490 erbaute, heute als Lutherhaus bezeichnete Gebäude Rodaer Straße 12, die Giebelstellung beibehalten haben (Abb. 11, vgl. Abb. 10). Sie bezeugen wie auch die teils erst im 18. Jahrhundert errichteten Giebelhäuser an der Brauhausgasse den Fortbestand dieser Tradition bis in die frühe Neuzeit. Interessanterweise gab es aber nicht nur Zusammenlegungen von Grundstücken, sondern auch Teilungen. Darauf verweist das seitens des Rates erlassene Verbot, aus einem Haus zwei oder mehrere zu machen. Auch durfte niemand sein Haus abreißen und stattdessen Wiesen oder Gärten anlegen. Wie üblich sind seit dem 16. Jahrhundert auch städtische Bauvorschriften überliefert. So wurden aus Gründen des Brandschutzes Dachdeckungen mit Stroh oder Schindeln untersagt. Im Gegenzug erhielt der Hauseigentümer bei einer Erneuerung der Deckung mit Dachziegeln Zuschüsse.36 In der Bauweise herrscht die Kombination von Stein- und Fachwerk vor. Meist ist nur das Erdgeschoss in Stein gesetzt, die Obergeschosse aber in Fachwerk. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass es auch reine Fachwerkbauten gab, die später als Steinwerke erneuert wurden. Im Falle des Lutherhauses ist eine solche Versteinung der ehemaligen Fachwerkwände für die Jahre um 1575 nachgewiesen (Abb. 12).37 Wie bei der Durchsetzung der Ziegelbedachung mögen auch in diesem Fall gewährte Vergünstigungen katalysierend gewirkt haben.38 Neben Fachwerk-Mischbauten gab es den reinen Steinbau. Das schon genannte Eckhaus Markt 2 oder der Gasthof zum Weißen Schwan, ErnstThälmann-Straße 53, sind bzw. waren solche Steinhäuser des 16. Jahrhunderts. Bei Steinbauten ist der Verputz die Regel. Im Fachwerkbau blieb hingegen bis ins 18. Jahrhundert das Gefüge der Hölzer sichtbar. Die nachgewiesenen Fassungen zeigen typische Farbgebungen der Zeit mit schwarzen Hölzern und entsprechenden Begleitern auf verputzten und hell gekalkten Gefachen.39 Die Dächer waren – nicht zuletzt aus Brandschutzgründen – in der Regel mit Ziegeln gedeckt. Die Traufkehlen zwischen den Giebelhäusern wurden mit Rinnen abgedeckt, die das Regenwasser über Speier auf die Straßen ableiteten. Diese 35 1504: 212 Häuser, 1549: 209 Häuser. Angaben nach STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 39. 36 Vgl. ebd., S. 112. 37 BÜRO FÜR BAUFORSCHUNG, Rodaer Straße 12 (wie Anm. 32). 38 Vgl. STOPFKUCHEN, Verfassung (wie Anm. 5), S. 112 f. 39 Beispiele solcher schlichten, für das 16. Jahrhundert typischer Schwarz-Weiß-Fassungen fanden sich im Dachraum von Marktstraße 11 oder im Lutherhaus Rodaer Straße 12.

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Konstruktion zeigen noch die Häuser am Markt auf einem um 1830 entstandenen kolorierten Kupferstich (siehe Abb. 10).40

Abb. 11: Lutherhaus, Rodaer Straße 12, Marktseite, Blick von Westen. 40 Der Kupferstich befindet sich im Bestand des Stadtmuseums Neustadt an der Orla. Der Titel lautet: „Erinnerungsblatt an Neustadt an der Orla und nächste Umgebung, allen Freunden und Beförderern der Künste und Wissenschaften, besonders aber den edeln Bewohnern der Großherzogl. Sächs. Weimarischen Kreisstadt Neustadt an der Orla gewidmet von W. Ludwig in Cahla“.

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Abb. 12: Lutherhaus, Rodaer Straße 12, isometrische Explosionsdarstellung im Zustand 1490 (d) (Zeichnung Büro Scherf.Bolze.Ludwig).

Grundriss und Raumstruktur Über die Binnenorganisation der Häuser sind wir nur schemenhaft informiert. Doch lassen sich einige Grundzüge des städtischen Wohnbaus des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit am Bestand in Neustadt erkennen. Üblicherweise befanden sich im Erdgeschoss die Gewerberäume. Bei großen Häusern wie denen am Markt gab es zudem eine Durchfahrt in den Hof. Sie lag, je nach Breite des Grundstücks, in der Mitte des Hauses oder an einer der beiden Außenwände. Ein zumeist architektonisch hervorgehobener Torbogen markierte die Lage am Außenbau, wie es u.a. bei Markt 3 und Rodaer Straße 12 der

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Fall ist. Fenster bzw. Ladenöffnungen belichteten die Gewerberäume und ermöglichten die Präsentation von Waren. Die Gewerberäume konnten in Einzelfällen, so beim Lutherhaus, bei Ernst-Thälmann-Straße 52, Markt 3 und Marktstraße 11, massiv gewölbt sein.41 Üblich waren aber Balkendecken. Bei einfachen Handwerkerhäusern, die aufgrund geringer Breite über keine Hofdurchfahrt verfügten, waren die Erdgeschosse zumeist als Hallen ausgebildet und dementsprechend nur gering unterteilt. So gibt es in den zweigeschossigen Giebelhäusern Brauhausgasse 3 und 5 nur wenige Hinweise auf eine ursprüngliche Gliederung des Erdgeschosses. Die Geschossdecken ruhten auf langen, von wenigen Stützen getragenen Unterzügen, so dass ein weitgehend stützenfreier Großraum entstand, der nach Bedarf mittels dünner Trennwände unterteilt werden konnte. Außer den Treppen ins Obergeschoss und in den Keller ist somit eine flexibel nutzbare Fläche vorhanden, die für jede Form von Werkstattbetrieb geeignet war. Gewohnt wurde in den Obergeschossen (Abb. 12 und 13).42 Dort befand sich straßenseitig die Stube als einziger mit Ofen beheizbarer Wohnraum, meistens begleitet von einer (Schlaf-) Kammer. In der Mitte gab es die große Diele, auch Vorsaal genannt, die nicht nur als Verteiler, sondern auch der Lagerung von Hausrat und anderen Dingen diente. In dieser Zone befand sich, der Stube zugeordnet, die Küche. Da ohne natürliches Licht und vom Ruß des Feuers geschwärzt, wurde sie als Schwarzküche bezeichnet. Über dem Herd – einem Steinblock für offenes Feuer – gab es den Rauchfang, der den Rauch über einen Schlot ins Dach ableitete. Von der Küche wurde auch der Kachelofen in der Stube befeuert. Aus diesem funktionalen Zusammenhang erklärt sich auch die über Jahrhunderte unverändert bestehende Verbindung von Stube und Küche. Je nach Größe des Hauses gab es weitere Kammern, die unterschiedlichen Zwecken dienten, aber im Regelfall nicht beheizt werden konnten. Auch der Dachboden war genutzt, meist als Lagerboden. Bodenkammern, manchmal sogar beheizbare Stuben, lassen erkennen, dass auch im Dach gewohnt wurde.43 Keller, in Gestalt in die Erde eingetiefter und mit Steintonnen gewölbter Räume, gehörten zum Standard des städtischen Wohnbaus. Als kühle, weitgehend gleichbleibend temperierte Räume dienten sie der Lagerung von Bier, Wein, Feldfrüchten und anderen Lebensmitteln.

41 BÜRO FÜR BAUFORSCHUNG, Markt 3 (wie Anm. 32); DASS., Marktstraße 11 (wie Anm. 32). 42 Eine Ausnahme scheint Markt 3 zu bilden. Hier befindet sich in dem nördlichen, 1562 (d) errichteten Hausteil, der offensichtlich nach Zusammenlegung mit dem älteren südlichen Hausteil aus dem 15. Jahrhundert entstand, eine solche Holzstube. Siehe BÜRO FÜR BAUFORSCHUNG, Markt 3 (wie Anm. 32). 43 Eine solche Holzstube im Dachgeschoss gibt es z. B. in der Rodaer Straße 4.

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Abb. 13: Marktstraße 11, Grundriss Obergeschoss (Zeichnung Büro Scherf.Bolze.Ludwig).

Stuben im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wohnhaus Der beschriebene Typus eines Wohnhauses des 15./16. Jahrhunderts wurde je nach Vermögen und Bedürfnissen des Bauherrn variiert. Besonders die Stube war als repräsentativer, multifunktional nutzbarer und neben der Küche einziger beheizbarer Raum besonders geschmückt. Das Lutherhaus hatte dabei nicht nur eine, sondern gleich zwei Stuben. Es handelt sich in beiden Fällen um Holzstuben. Bemerkenswert ist, dass eine der beiden Stuben älter als das Hausgerüst ist.

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Dieser Umstand macht auf die Tatsache aufmerksam, dass Holzstuben Teil der beweglichen, das heißt verkäuflichen und andernorts wiederverwendbaren Ausstattung eines Hauses waren. Möglich war dies durch die eigenständige, selbsttragende Bauweise der Holzstuben und ihre konstruktive Loslösung vom Hausgerüst. Zwar wurde die „hölzerne Stubenkiste“ in der Konstruktion des Hauses durch eine entsprechende „Umbindung“ berücksichtigt, so dass selbst bei späterer Entfernung ihre einstige Existenz anhand der Merkmale des umbindenden Hausgerüstes nachweisbar ist, doch war sie andererseits auch ohne gravierende Eingriffe in das Gefüge zu entnehmen. Die Wände der Stuben bestanden je nach Bauweise aus senkrecht oder waagerecht angeordneten Brettern, Bohlen oder Halbhölzern, mit Schwelle als unterem Lagerholz und zumeist aufwendig gestaltetem Rähm als oberem Abschluss. Besonders die Decken sind gestalterisch hervorgehoben. Üblich waren Profilbretter, wechselnd als Kriecher und Decker verlegt, die auf einem profilierten Unterzug lagerten. Es gab auch die aufwendigere Form der Kassettendecke. Die Art und Weise der Konstruktion änderte sich über die Jahrhunderte kaum, wohl aber die Details, namentlich Profile und Ornamente. Für die unterschiedlichen Bauweisen und Gestaltungen von Stuben bietet das Lutherhaus zwei Beispiele, die an dieser Stelle knapp beschrieben seien. Die untere Stube wurde 1452 (d) geschaffen und ist offensichtlich vom Vorgängerbau in den Neubau von 1490 (d) übernommen worden (Abb. 14). Es ist eine Blockstube, d. h. die Wände bestehen aus waagerecht gelegten Halbhölzern, die an den Ecken verkämmt sind. Charakteristisch für diese Konstruktion sind die höhenversetzten Lagerfugen; gut zu erkennen an den Eckstößen. Den oberen Abschluss bildet ein Rähm. Die Decke ruht auf einem aus drei Hölzern gefertigten und an den Kanten profilierten Unterzug.44 Das Profil endet abrupt mit einem schlichten Schrägschnitt. Diese Form des Profilauslaufs ist bis ins späte 15. Jahrhundert üblich. Danach wird die Schiffskehle, also die Vereinigung zweier, durch eine Kehle getrennter Stäbe in einem gemeinsamen Endpunkt, gebräuchlich.45 Die Decke selbst ist in schmalrechteckige Kassettenfelder unterteilt, gebildet aus quergespannten, auf Unterzug und Rähm aufliegenden Profilhölzern und eingeschobenen Füllbrettern. Sie entstand wohl erst bei der „Modernisierung“ 44 Die Taustäbe am Unterzug sind nachträglich, beim Umbau des Hauses um 1575 angebracht worden. 45 Allerdings gibt es auch Ausnahmen: Bei Markt 3 haben Rähm und Unterzug der Stube im Erdgeschoss einen Schrägschnitt als Profilauslauf. Die Stube ist auf 1562 d datiert. Auch bei Kirchplatz 5, einem Bau von 1582/83 d, gibt es im 2. Obergeschoss Deckenbalken mit Schrägschnitt. Die im gleichen Haus befindliche Holzstube im 1. Obergeschoss zeigt aber die für die Entstehungszeit typische Schiffskehle. Vgl. BÜRO FÜR BAUFORSCHUNG, Markt 3 (wie Anm. 32); DASS., Kirchplatz 5 (wie Anm. 32).

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der Stube im 16. Jahrhundert. Die Stube war über einen Kachelofen beheizbar, der von der benachbarten Küche bedient wurde. Es bestanden zwei Eingänge, einer von der Küche, ein anderer von der südlich gelegenen Kammer. Fassungsreste belegen eine ornamentale Gestaltung der Wände und der Decke. An den Wänden befinden sich Abdrücke einer Sitzbank und eines im oberen Bereich befestigt gewesenen Bords. Diese Befunde geben Hinweise auf die einstige Ausstattung der Stube.

Abb. 14: Lutherhaus, Rodaer Straße 12, Stube von 1452 (d) im ersten Obergeschoss

Die zweite, 1490 (d) mit dem Bau des jetzigen Hauses entstandene Stube ist eine Stabbohlenstube mit senkrechten, zwischen Profilstäben eingefügten Brettern, so dass die Wände kassettiert sind (Abb. 15). Die Decke oberhalb des profilierten Rähms ist gleichfalls kassettiert, allerdings sind die Felder quadratisch und die Profilrahmen zeigen mit Perlstab- und Zahnschnittleisten typische Renaissanceformen. Dies verwundert angesichts der Entstehung um 1490 und bezeugt den interessanten Fall, dass auch diese Stube bei dem um 1575 erfolgten grundlegenden Umbau des Hauses „modernisiert“ wurde. Zu dieser Zeit entstand auch die jetzige Bemalung mit figürlichen Darstellungen, floralen Ornamenten und Schriftzügen. Der mäßig begabte Maler hat sein Monogramm „ND“ und die Jahreszahl 1576 an der nördlichen Stubenwand hinterlassen. Die am besten erhaltene Szene zeigt das Gastmahl des reichen Mannes mit dem armen

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Lazarus, dessen Schwären von einem Hund abgeleckt werden.46 Im Erker finden sich als Bekenntnis des Bauherrn, des reichen Gerbermeisters Hans Scheller, zur Landesherrschaft die Porträtdarstellungen von Kurfürst August I. von Sachsen und seiner Gemahlin Anna. Umschriften an den Wänden zitieren Joh. 3, 16 und einen Sinnspruch zu den Lebensaltern. Damit ist die Stubenmalerei ein interessanter Fall eines religiösen Bildprogramms im Profanbau Thüringens aus dem Zeitalter der Konfessionalisierung.

Abb. 15: Lutherhaus, Rodaer Straße 12, Stube im zweiten Obergeschoss

Die Stuben des Lutherhauses zählen zu den repräsentativsten Zeugnissen der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Wohnkultur in Thüringen und stehen exemplarisch für die Gestaltung dieser besonderen Bauaufgabe. Weitere Holzstuben finden sich u.a. in den Häusern Markt 3, Marktstraße 11 und Kirchplatz 5.47 Unterschiede in der Bauweise und künstlerischen Ausgestaltung stehen für den 46 Tim ERTHEL/Martin SLADECZEK, Analyse der Wandmalereien in der Stube im 2. OG des sog. Lutherhauses, Neustadt an der Orla, Erfurt 2018 (vorhanden im Archiv TLDA). Die im Museumsführer zum Lutherhaus vorgeschlagene Deutung ist durch diese Untersuchung obsolet. Vgl. SCHWALBE/SÖNTGEN, Lutherhaus (wie Anm. 32), S. 34 f. 47 BÜRO FÜR BAUFORSCHUNG, Markt 3 (wie Anm. 32); DASS., Kirchplatz 5 (wie Anm. 32); DASS., Marktstraße 11 (wie Anm. 32). Bemerkenswerterweise ist auch bei Marktstraße 11 die Stube älter als das Haus. Jene datiert auf 1537 d, dieses auf 1552 d.

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Wohlstand und Geschmack des Bauherrn und folgen Moden und Trends. Dass auch in einfachen Verhältnissen die Stuben repräsentativ gestaltet waren, bezeugen die schlichten Handwerkerhäuser an der Brauhausgasse 3 und 5. Zwar wurde wohl aus Kostengründen auf die Ausbildung der hölzernen Wände verzichtet, aber die Decken sind analog zu den Holzstuben gebildet und bestehen aus profilierten Brettern, die im Wechsel von Decker und Kriecher auf dem profilierten Unterzug liegen. Aufgrund der geringen Grundstücksbreite gab es keine Seitkammer, sondern die Stube hatte die Breite des Hauses und nahm die vordere Hauszone ein. Die Kammern lagen entweder hinter der Stube oder in der hinteren Zone des Hauses. Die Küche war wegen der Feuerstelle der Stube unmittelbar benachbart.

Schlussbemerkung Mit der vorliegenden Übersicht sollte deutlich geworden sein, wie sehr die Stadtgestalt von Neustadt an der Orla bis heute durch Bauten bestimmt ist, deren Entstehung in die Blütezeit des Gemeinwesens im 15./16. Jahrhundert fällt. Mit Fug und Recht kann daher Neustadt als ein Stadtdenkmal des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit bezeichnet werden. Dieses Urteil ist nicht zuletzt durch die Dichte und Qualität der Überlieferung begründet. Dabei sind es eben nicht nur Elemente des Stadtgrundrisses wie Straßennetz und Parzellierung oder einzelne große Repräsentationsbauten wie Kirche und Rathaus, sondern die Vielzahl an Wohnhäusern, die diesem Bild Anschaulichkeit verleihen. Dieses Stadtdenkmal zu bewahren, bleibt auch künftig eine wichtige Aufgabe der Denkmalpflege. Hierzu ist sie als staatliche Institution per lege verpflichtet. Doch Denkmalpflege lässt sich nicht verordnen. Sie kann nur gelingen, wenn die Stadt und ihre Bürger für sie eintreten. Die Stadt Neustadt hat auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten Außerordentliches geleistet. Die Sanierung des Lutherhauses ist ein besonders eindrückliches Zeugnis dieser Anstrengungen. Voraussetzung hierfür war das Bewusstsein für den besonderen Zeugniswert dieses Gebäudes. Dieses Bewusstsein bei der Bürgerschaft verankert zu haben, ist nicht zuletzt ein Verdienst des Fördervereins für Stadtgeschichte e.V. unter Leitung von Werner Greiling. In diesem Sinne sei dem Verein, vor allem aber dem Jubilar auf viele Jahre Tatkraft und ein erfolgreiches Wirken gewünscht.

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Johann Gottlieb Fichte und die Genese einer modernen Öffentlichkeit Selten gehen in der Geschichte strukturelle Phänomene von einzelnen Personen aus. In aller Regel gehen sie auf einen ganzen Komplex von sozial-ökonomischen und politisch-kulturellen Faktoren und Konstellationen zurück. Die Entstehung der modernen Öffentlichkeit als eines neuen machtpolitischen Faktors beispielsweise ist ein solch strukturelles Phänomen, dem ein ganzes Bündel von Ursachen und Bedingungen zugrunde liegt, wie z.B. die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung oder die Entstehung und Verbreitung von Zeitschriften, Zeitungen, Flugschriften in der Zeit der „mediale(n) Verdichtung und kommunikative(n) Vernetzung“ im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert.1 Und dennoch fungieren Personen zuweilen als Weichensteller, ohne die eine neuartige Entwicklung beinahe undenkbar gewesen oder doch wenigstens nicht so schnell und nicht auf die dann erfolgte Weise geschehen wäre. Johann Gottlieb Fichte, der Philosoph des Deutschen Idealismus, ist in mancherlei Hinsicht eine solche Person, die gewissermaßen ihrer Zeit voraus war und eine wichtige Katalysatorfunktion für den geschichtlichen Fortschritt übernahm. Fichte hat viel auf den Weg gebracht und mit ihm verbinden wir einige grundstürzende modernisierungsgeschichtliche Entwicklungen. Die Genese des „politischen Professorentums“ als einer typisch deutschen Erscheinung der neueren Geschichte geht im Wesentlichen auf seine „Philosophie der Tat“ zurück.2 Ebenso wäre die Entwicklung des deutschen Nationalismus gewiss anders verlaufen und auch nicht so explosiv ausgebrochen, hätte nicht Fichte bereits 1808 im von Franzosen besetzten Berlin seine berühmten vierzehn „Reden an die Deutsche Nation“ gehalten.3 Fichte steht aber auch noch für ein anderes, bereits erwähntes modernstaatliches Phänomen, mit dem er bislang allerdings kaum oder nur beiläufig in Verbindung gebracht wurde: dem vielbeschworenen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von einer tendenziell höfisch-repräsentativen zur 1 2 3

Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003. Klaus RIES, Wort und Tat. Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 2007. Dazu jetzt DERS., „Mythos Fichte“. Die Reden an die deutsche Nation als universalistischer Appell, in: Matteo Vincenzo D’ALFONSO, u.a. (Hg.), Mit Fichte philosophieren. Perspektiven seiner Philosophie nach 200 Jahren, Leiden/Boston 2018, S. 242–266.

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bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit eines kritisch-räsonnierenden Publikums in der Zeit um 1800.4 Fichte hat gleich in zweifacher Weise diesen Strukturwandel beschleunigt: Er hat zum einen die politischen und philosophischen Ideen dafür geliefert, und er hat zum andern bereits für die praktische Umsetzung dieser Ideen gesorgt, indem er sich explizit an die Öffentlichkeit als einer neuen politisch-sozialen Entscheidungsinstanz wandte und ihr damit ganz wesentlich zum Durchbruch verhalf. Beiden Aspekten soll im Folgenden etwas genauer nachgegangen werden.

I. Fichtes theoretische Bestimmung der ‚neuen Öffentlichkeit‘ Fichte wurde im Mai 1794 als Philosophieprofessor an die Universität Jena berufen. Aber schon gut ein Jahr zuvor hatte man begonnen, sich nach ihm umzusehen.5 Bereits im Juli 1793 schrieb Goethe, der mit seinem noch immer im Feldlager vor Mainz sich befindlichen Herzog die Neuberufung der Nachfolge des Kantianers Reinhold besprach, an den Weimarer Geheimrat Voigt: „Auf Magister Fichte haben sie ja ein Auge“.6 Dies erstaunt – auch und gerade bei Goethe – ein wenig, galt Fichte doch zu jener Zeit bereits als ein ausgemachter Demokrat und Revolutionssympathisant. Sein revolutionärer Ruf ging vor allem auf zwei aufsehenerregende Schriften zurück, die er im Jahr zuvor, 1793, anonym hatte drucken lassen, deren Autorschaft im Reich jedoch allenthalben bekannt war. Die erste Schrift trug den programmatischen Titel: „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten“, und die zweite, Fragment gebliebene Schrift war der berühmte „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution“.7 Beide Schriften enthalten allein schon im Titel (‚Denkfreiheit‘ und ‚Publikum‘) das Thema ‚Öffentlichkeit‘, das für Fichte im Zeitalter der Französischen Revo4

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Jürgen HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 72001, der Fichte in der Tat nicht erwähnt. Die These von Habermas ist vielfach kritisiert worden, vor allem was die sog. ‚höfische Öffentlichkeit‘ und ihren relativ statischen Charakter betrifft, vgl. z.B. Ute DANIEL, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. Dennoch bleibt – wie ich denke – die Entwicklungstendenz, die Habermas für die Zeit um 1800 beschreibt, nach wie vor bestehen. Vgl. dazu RIES, Wort (wie Anm. 2), S. 120–126. Zit. nach Gerhard MÜLLER, Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena, Heidelberg 2006, S. 379, der die Akten der Berufung und den Anteil Goethes en détail nachzeichnet. Beide Schriften in: Johann Gottlieb FICHTE, Schriften zur Revolution, hg. u. eingel. von B. WILLMS, Frankfurt a. M. 1973, S. 53–289.

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lution zunehmend ins Zentrum seines Denkens rückte. In beiden Schriften wird zugleich deutlich, wie nahe Fichte den „Ideen von 1789“ und ihrer Realisierung in Frankreich stand, wenn er auch eine Übertragung auf die deutschen Verhältnisse ablehnte. Mit der ersten Schrift wandte er sich – modernstaatlich gesprochen – gegen die Einschränkung des Prinzips der Öffentlichkeit, wie er sie vor allem durch die Zensurpolitik des preußischen Justizministers Wöllner am Werke sah.8 Wöllner hatte ein Jahr vor Ausbruch der Französischen Revolution sein berüchtigtes „Religionsedikt“ ausgegeben, mit dem er auf den spätestens seit den 1770/80er Jahren in Gang befindlichen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ reagierte.9 Das Religionsedikt wurde im Dezember 1788 durch ein allgemeines ‚Zensuredikt‘ auf alle öffentlichen Angelegenheiten ausgedehnt, womit das öffentliche Leben in Preußen just in dem Moment generell unter Kuratel gestellt wurde, als im Nachbarland eine neue, bürgerliche und zum Teil auch „plebejische Öffentlichkeit“10 sich lautstark zu Wort meldete. Dieser Hintergrund war wohl auch für Fichte der Anlass, sich gegen die Einschränkung der Öffentlichkeit in Preußen zur Wehr zu setzen: „Ich für meine Person spreche der Preußischen Inquisition (sic!) unter die Nase Hohn“, hatte er schon am 16. Februar 1792 einem Freund gegenüber bekannt.11 Und in der Schrift über die „Zurückforderung der Denkfreiheit“ wird der Zusammenhang mit der Wöllner’schen Zensurpolitik ebenfalls deutlich, wenn Fichte z.B. an einer Stelle seinen Lesern zurief: „Lasset euch nicht durch die Furcht des Vorwurfs der Unbescheidenheit abschrecken. Gegen was könnt ihr denn unbescheiden seyn? Gegen das Gold und die Diamanten an der Krone, gegen den Purpur am Kleide eures Fürsten; nicht – gegen ihn“.12 Dies traf ins Schwarze des Wöllner’schen Zensurediktes; denn – so die treffende Analyse von Houben – „den Vorbehalt ‚bescheiden‘ bei jeder gnädigst konzedierten ‚Untersuchung der Wahrheit‘ hatte ja Wöllner zum erstenmal in die preußische Zensurgesetzgebung eingeführt; er gehörte von da

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Zum Zusammenhang mit Wöllner und dessen Zensurpolitik vgl. den Eintrag zu Fichte, in: Heinrich Hubert HOUBEN, Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftsteller und Verleger, Bremen 1928 (ND Hildesheim/New York/ Zürich 1992), Bd. 2, 83–248, hier S. 90–95. 9 Vgl. dazu und zur langsamen Umsetzung der Zensurpolitik Horst MÖLLER, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763–1815, Berlin 1994, S. 498. 10 Dazu für England Günther LOTTES, Politische Aufklärung und plebejisches Publikum. Zur Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert, München u.a. 1979. 11 Zit. nach HOUBEN, Literatur, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 90. 12 Ebd., S. 91.

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ab zum stereotypen Wortschatz solcher Verfügungen“.13 Fichte ging es also mit dieser Schrift vorwiegend um die Wiederherstellung einer ‚aufgeklärten Öffentlichkeit‘, die in Preußen zunehmend behindert wurde, und er begründete die von ihm zurückgeforderte ‚Denkfreiheit‘ durchweg naturrechtlich: „Nein, ihr Völker, alles, alles gebt hin, nur nicht die Denkfreiheit […], dieses vom Himmel abstammende Palladium der Menschheit“.14 Daher war für ihn auch klar, dass der Fürst, dessen Herrschaftslegitimation per Gottesgnadentum er hier ebenfalls in Frage stellte,15 „kein Recht“ habe, „unsere Denkfreiheit zu unterdrücken“.16 Fichte rief damit allerdings nicht zu einer Revolution im eigenen Land auf, im Gegenteil, er warnte sogar davor: „gewaltsame Revolutionen sind stets ein kühnes Wagestück der Menschheit […] Sichrer ist allmähliches Fortschreiten zur grösseren Aufklärung und mit ihr zur Verbesserung der Staatsverfassung“.17 Sein Anliegen war vielmehr, Publizität zu erreichen, und zwar eine breitere, überständische Öffentlichkeit herzustellen, weshalb er seine Schrift auch nicht an die „Fürsten“ und „Herren“ richtete, sondern „nur dem ununterrichteten Publikum“ anheim stellte.18 In die gleiche Richtung ging im Prinzip auch die zweite Revolutionsschrift, der „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution“.19 Hier wird allerdings der Zusammenhang mit der Französischen Revolution viel deutlicher und explizierter hergestellt als in der vorangegangenen Schrift: „Jetzt ist es Zeit, das Volk mit der Freiheit bekannt zu machen, die dasselbe finden wird, sobald es sie kennt […]. Die französische Revolution gibt uns dazu die Weisung und die Farben zur Erleuchtung des Gemäldes für blöde Augen“.20 Fichtes Ziel war in der Tat – so lässt sich pointiert festhalten – die Bildung eines kritisch-räsonnierenden Publikums. Er wollte den potentiellen Leser nicht von seiner politischen Ansicht über die Französische Revolution überzeugen, sondern zum kritischen Nachdenken, ja zum Selbstdenken anregen: „Ich würde die Handschrift ins Feuer werfen, auch wenn ich sicher wüsste, dass sie die reinste Wahrheit, auf das bestimmteste dargestellt, enthielte, und zugleich wüsste, dass kein einziger Leser durch eigenes Nachdenken sich von ihr überzeugen würde“. Für ihn stand außer Frage, dass „kein Schriftsteller, der seine Pflicht kennt und liebt“, die Absicht verfolge, „den Leser zum Glauben an seine

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Ebd., S. 92. FICHTE, Schriften zur Revolution (wie Anm. 7), S. 56. Zur Kritik am Gottesgnadentum ebd., S. 58 u. 77. Ebd., S. 74. Ebd., S. 55. Ebd., S. 53. In ebd., S. 81–289. Ebd., S. 82 f.

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Meinungen, sondern nur zur Prüfung derselben zu bringen“.21 Wir können hier vom weiteren Inhalt seiner Revolutionsschrift absehen, denn der wirklich wichtige Punkt, der offenbar auch Fichte am meisten interessierte, bestand darin, dass er mit seinen Schriften zur Französischen Revolution ein aufgeklärtkritisches Publikum heranziehen wollte. Seine politischen Schriften haben – wie viele anderen Schriften von ihm auch – ein stark pädagogisches Moment, und zwar ein Erziehungsideal, das im Sinne der Aufklärung auf Öffentlichkeit im weitesten Sinne abzielte. Beide Schriften waren in Deutschland wohlbekannt, und man kannte – wie gesagt – auch den ‚anonymen‘ Verfasser. Man kann sich sehr wohl vorstellen, wie solche Gedanken, die Rousseau, Montesquieu und Kant vermengten und stets auf die Freiheit des Individuums abhoben, in und auf die deutsche Öffentlichkeit gewirkt haben. Wenn man auch nicht jede philosophische Wendung und Herleitung vor allem aus dem Kant’schen Ideengebäude verstand, so war der Öffentlichkeit doch bewusst, dass hier ein revolutionärer Denker, ja vielleicht einer der wenigen wirklichen ‚deutschen Jakobiner‘ am Werke war.22 Auch in Weimar war man sich darüber im Klaren, wen man für die Nachfolge Reinholds ausersehen hatte: Schon Ende Juni 1793 wurde die zweite Revolutionsschrift Fichtes, der „Beitrag“, in den Weimarischen Wöchentlichen Anzeigen von der Hoffmann’schen Buchhandlung öffentlich bekannt gegeben.23 In eben diesem Sommer diskutierte Wieland, der zumindest bis zur Hinrichtung des französischen Königs im Januar 1793 als Revolutionssympathisant galt, mit seinem Schwiegersohn, dem Philosophen Reinhold, der um die Verfasserschaft Fichtes wusste, den „Beitrag“ und fand – im Unterschied zu Reinhold – überschwängliche Worte dafür.24 Und kein Geringerer als Friedrich Gentz, der sich gerade anschickte, nicht mehr mit der Revolution zu sympathisieren, wie er dies als Kantianer anfänglich noch getan hatte, und seine ureigene Rolle als konservativer Staatstheoretiker zu finden,25 rezensierte den „Beitrag“ Fichtes in der Allgemeinen Literatur-Zeitung und nannte den Verfasser einen „gar zu erbärmlichen Kerl, dem es an Kenntnissen ebensosehr als an Gedanken“ fehle.26 Der Weimarer Regierung war es jedoch wichtig, „das Kantische Evangelium 21 Ebd., S. 85. 22 Vgl. dazu Werner GREILING, Deutsche Jakobiner, in: Dieter FRICKE (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 1, Köln 1983, S. 718–723. 23 Vgl. den Hinweis bei W. Daniel WILSON, Goethes Weimar und die Französische Revolution. Dokumente der Krisenjahre, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 638, Anm. 70. 24 HOUBEN, Literatur, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 97 f. 25 Zu Gentz vgl. Harro ZIMMERMANN, Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik, Paderborn 2012. 26 Brief vom 18.11.1793, zit. nach HOUBEN, Literatur, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 99.

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fort(zu)setzen“, wie sich der Regierungsrat Voigt gegenüber Goethe ausdrückte; und offenbar sah man dabei geflissentlich über die politischen Einlassungen Fichtes hinweg.27 Natürlich hoffte man, dass Fichte gerade jetzt „die Politik, als eine danklose Spekulation, bei Seite läßt“, aber Voigt, von dem dieses Zitat stammt, fügte sogleich hinzu: „Seine gründlichen Urtheile und sein scharfsinniger Ernst haben mir sehr wohl gefallen und ich glaube gewiß, daß ein so scharf denkender Mann auch ein guter Mann sein müßte“.28 Es war die wissenschaftliche Seite, sprich die Kant’sche Philosophie, die die Weimarer Regierung an Fichte interessierte, und daher ging man ganz bewusst dieses politische Risiko ein, von dem Goethe später einmal sagen sollte, dass es „eine Kühnheit, ja Verwegenheit“ gewesen sei, Fichte an die Universität Jena zu berufen.29 Das war es in der Tat, wie sich herausstellen sollte. Was man nämlich bei der ganzen Angelegenheit offensichtlich nicht bedachte, war die Tatsache, dass wenn man die Philosophie Kants in Jena fortführen wollte, auch der Kant’sche Gedanke von der Politisierung und öffentlichen Wirksamkeit von Wissenschaft Eingang an die Salana finden konnte. Im Prinzip rief man sich damit Geister ins Haus, die man nicht mehr oder nur noch sehr schwer loswerden würde. Fichte hatte nämlich nicht nur in seinen politischen Schriften seine geradezu revolutionären Vorstellungen von ‚Öffentlichkeit‘ entwickelt. Auch seine frühe Philosophie in Jena war durchsetzt von diesen Gedanken, so dass es auch ein Denkfehler der Weimarer Regierung war, zu glauben, man könnte den ‚politischen‘ von dem ‚philosophischen‘ Fichte trennen. Fichte betrieb „politische Philosophie“ at its best,30 d.h. seine Philosophie war immer auch ein Stück Politik (man denke nur an die Genese seiner „Reden an die deutsche Nation“ aus

27 Voigt an Goethe vom 17.7.1793: „Schmidt und der Adjunct Niethammer, ingleichen Magister Forberg können schon das Kantische Evangelium fortsetzen. Ausserdem ist der Verfasser der Kritik der Offenbahrung (die man anfänglich allgemein Kanten selbst zuschrieb) der Magister Fichte, der itzt nach der Schweiz auf Reisen ist, wohl um ein mäßiges Zuschuß Qantum als Professor extraordinarius zu haben“, zit. nach WILSON, Goethes Weimar (wie Anm. 23), S. 637 f. 28 Voigt an Hufeland vom 18.5.1794, in: August DIEZMANN (Hg.), Aus Weimars Glanzzeit. Ungedruckte Briefe von und über Goethe und Schiller […], Leipzig 1855, S. 68. 29 Dazu im Kontext der Forschung und mit etwas anderer Akzentuierung W. Daniel WILSON, Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München 1999, S. 376, Anm. 129. 30 Zum Überblick vgl. Hermann LÜBBE, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel/Stuttgart 1963, der allerdings – wie zumeist bei der Behandlung dieser Thematik – mit Hegel beginnt; aber später interessante Ausführungen zu Fichtes Rezeption im Ersten Weltkrieg liefert, vgl. ebd., S. 196–207.

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seiner universalistischen Philosophie).31 Seine frühen philosophischen Vorlesungen in Jena „über die Bestimmung des Gelehrten“, zum ersten Mal im Sommersemester 1794 unter dem Titel „de officiis eruditorum“ oder „Moral für Gelehrte“ gehalten,32 sind geprägt von politischen Gedanken, die nur vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Entwicklung in Frankreich zu verstehen sind. Fichte kreierte hier nicht nur den ‚Idealtypus‘ des ‚politischen Gelehrten‘, der seinen Elfenbeinturm zu verlassen und in die Gesellschaft hinein zu wirken habe: „Die Bestimmung des Gelehrten, insofern er das ist, ist […] nur in der Gesellschaft denkbar“.33 Eng damit verbunden entwickelte er auch eine neue Vorstellung des ‚öffentlichen Gebrauchs‘ von Wissenschaft und gab zugleich der Universität einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft. Der Gelehrte war für ihn „nicht mehr der nach Oellampe riechende Pedant, der auf den Marktplätzen von Athen u. Rom zu Hause ist, nur nicht in seiner Vaterstadt“.34 Er hatte es in den Augen Fichtes „nicht allenthalben mehr nöthig sein kümmerliches Brod vom Staate unwürdig zu erbetteln und durch sklavische Unterwürfigkeit zu bezahlen“; er bedurfte vielmehr des Staates gar nicht, bis derselbe seiner bedurfte, und er konnte, „wenn seine Wünsche mäßig“ waren, „allenfals auch ohne den Staat leben“; denn: „Weißheit u. Wissenschaft u. Talent haben aufgehört, bloß unter dem Stempel des Staats etwas werth zu seyn und bloß als Werkzeug seiner Unterdrückungssucht eine Brauchbarkeit zu haben“.35 Für Fichte war der Gelehrte eine kritische Instanz; es war ein „Gradmesser seiner Freiheit, dass er mit der politischen Wirklichkeit seiner Gegenwart nicht zufrieden“ war.36 Die „Akademie“ bzw. die Universität war für ihn nicht mehr bloß „eine Schule der Wißenschaften“, sondern vor allem „eine Schule des Handelns“.37 Damit waren Wissenschaft und Universität für Fichte aufs engste mit 31 Dazu dezidiert RIES, „Mythos Fichte“ (wie Anm. 3) sowie Isaac NAKHIMOVSKY, Introduction, in: Johann Gottlieb FICHTE, Adresses to the German Nation, übs. u. hg. von Isaac NAKHIMOVSKY, Indianapolis/Cambridge 2013, S. IX–XXX. 32 Vgl. die Vorlesungskataloge im Universitätsarchiv Jena. Es handelt sich hierbei um die dritte Vorlesung des Zyklus: „Über die Bestimmung des Menschen“. Einführend dazu Manfred KÜHN, Johann Gottlieb Fichte. Ein deutscher Philosoph, München 2012, S. 242–258. 33 Johann Gottlieb FICHTE, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten [1794], in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann FICHTE, Bd. VI, Berlin 1845 (ND Berlin 1971), S. 292. 34 Johann Gottlieb FICHTE, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2,3: Nachgelassene Schriften 1793–1795, hg. von Hans JACOB und Reinhard LAUTH, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 359. 35 Ebd., S. 358. 36 So Otto DANN, Johann Gottlieb Fichte und die Entwicklung des politischen Denkens in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1968, S. 138. 37 FICHTE, Gesamtausgabe (wie Anm. 34), Bd. 2,3, S. 366.

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der Öffentlichkeit verknüpft, ja selbst der Gelehrte war nicht mehr nur ein Mann der Wissenschaften, er war vielmehr ein Mann der Tat, ein Mann des Handelns, jemand, der in der Öffentlichkeit präsent zu sein hatte und zugleich auf die Öffentlichkeit einwirken sollte. Seine Jenaer Vorlesungen „über die Bestimmung des Gelehrten“ beschloss Fichte in der Regel mit einem Tatappell an die Studenten, der diesen die neue Rolle von Wissenschaft, Universität und Gelehrtentum verdeutlichen sollte: „Je edler und besser Sie selbst sind, desto schmerzhafter werden ihnen die Erfahrungen seyn, die ihnen bevorstehen: aber lassen Sie sich durch diesen Schmerz nicht überwinden; sondern überwinden Sie ihn durch Thaten. Auf ihn ist gerechnet; er ist in dem Plane für die Verbesserung des Menschengeschlechts mit in Anschlag gebracht. Hinstehen und klagen über das Verderben der Menschen, ohne eine Hand zu regen, um es zu verringern, ist weibisch. Strafen und bitter höhnen, ohne den Menschen zu sagen, wie sie besser werden sollen, ist unfreundlich. Handeln! Handeln! das ist es, wozu wir da sind.“38

II. Fichtes praktische Herstellung der ‚neuen Öffentlichkeit‘ Allein schon Fichtes Schriften hatten eine nicht unwesentliche Resonanz in der Öffentlichkeit. Vor allem seine beiden Revolutionsschriften wurden – wie wir gesehen haben – heftig und kontrovers in der akademisch-intellektuellen Welt diskutiert. Auch seine wissenschaftstheoretischen Vorlesungen zogen nicht nur die Studenten in ihren Bann. In Weimar spürte man, dass die Vorlesungen über die Bestimmung und Moral des Gelehrten – so philosophisch, theoretisch und vordergründig unpolitisch sie auch scheinen mochten – einen gewissen politischen Sprengstoff in sich bargen. Schon drei Wochen nachdem Fichte auf dem Katheder gestanden hatte, schrieb der Weimarer Geheime Rat Voigt mit besorgter Miene an seinen Neffen Hufeland: „In diesen Tagen hat ein angesehener Mann aus Jena (Hofrat Krüger) die Nachricht herüber gebracht (an die Herren Geheimräte), daß Prof. Fichte öffentlich lehre: ‚in 20-30 Jahren gäbe es nirgends Könige oder Fürsten mehr!‘ “.39 Dies war in der Tat nicht aus den öffentlichen Vorlesungen herauszulesen, aber der inständige Tatappell, gepaart mit dem neuen Wissenschaftsverständnis und der Zuweisung der neuen öffentlichen Rolle des Gelehrten, hatte etwas Revolutionäres. Auf die Studenten wirkte dies geradezu elektrisierend. Schon kurz nach seiner Ankunft und der ersten öffentlichen Vorlesung Ende Mai 1794 schrieb Fichte seiner noch in Zürich zurückgebliebenen Frau: „Das grösste Auditorium in Jena war zu enge; die ganze Hausflur, der Hof stand voll, auf Tischen u. Bänken standen sie einander auf den 38 Ebd., S. 345. 39 Voigt an Hufeland vom 13.6.1794, in: DIEZMANN (Hg.), Glanzzeit (wie Anm. 28), S. 69.

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Köpfen“.40 Das war nicht übertrieben, denn in der Tat nahm über die Hälfte der Jenaer Studenten an Fichtes Kolleg teil, darunter auch Ernst Moritz Arndt, der allerdings mehr durch Fichtes „tapfre Persönlichkeit“ beeindruckt war und „wenig Scharfes und Spitzes“ in seinem Vortrag finden konnte.41 Fichte war unter den Studenten ein regelrechter Star: Hier vermittelte jemand der gelehrten Jugend einen gesellschaftlichen Auftrag, an dem sie sich künftig zu orientieren und abzuarbeiten hatte. Hier stiftete jemand einer Generation Sinn, deren größtes Erlebnis bislang der Ausbruch und das Fortschreiten der Revolution in Frankreich gewesen war. Fichtes Lehre vom Gelehrten war gewissermaßen eine kongeniale Ergänzung der revolutionären Ereignisse im Nachbarland. In Jena erhielt auch die deutsche Jugend ihren Platz in der Geschichte. Ein Student aus dem Hessischen, ein gewisser Isaak von Sinclair, meinte schon einen Monat nach der Ankunft Fichtes in Jena: „Wir haben aber auch Lehrer: Fichte, Schmid, die unter die ersten Philosophen unserer Zeit unstreitig gehören. Ihre kalte Prüfung, ihr Raisonnement, das aus den Tiefen der Vernunft hervorgeht und sich über alle Zweige menschlicher Handlungen verbreitet, wird die Rechte der Menschheit vindiziren und die Thronen umstürzen“.42 Und ein beredtes Zeugnis für die geradezu hypnotisierende Wirkung Fichtes war das Verhalten des Jenaer Studenten Nikolaus Thaden, das von einem befreundeten Kollegen wie folgt geschildert wird: „Er sass, von Milch und Brod lebend, tagelang zu Fichtes Füssen, begriff was und deutete, wie er es konnte, vergötterte Marat und Robespierre, schwur aller ungebetenen Gewalt und herkömmlichen Ordnung den Untergang und war bei alledem ein höchst tugendhafter unbescholtener Jüngling“.43 Aber Fichte tat auch selbst etwas, damit seine Ideen in der Öffentlichkeit Anklang fanden. Neben seinen Vorlesungen hielt er sogenannte „Conversatorien“ zu wöchentlich festgelegten Stunden ab, in denen er frei mit Studenten diskutierte. In den Diskussionsrunden, die man durchaus als Vorstufen des 40 Fichte an seine Frau vom 26.5.1794, in: FICHTE, Gesamtausgabe (wie Anm. 34), Bd. 3,2: Briefwechsel 1793–1795, hg. von Hans JACOB und Reinhard LAUTH, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, S. 115. 41 Zit. nach Theodore ZIOLKOWSKI, Das Wunderjahr in Jena. Geist und Gesellschaft 1794/95, Stuttgart 1998, S. 57 f. 42 Berthold DIRNFELLNER, Isaac von Sinclair. Jugendbriefe 1792–94, in: Le pauvre Holterling 4/5 (1980), S. 138. Zu Sinclair vgl. auch Alain RUIZ, Universität Jena Anno 1793/94. Ein Jakobinischer Student und Geheimagent im Schatten Reinholds und Fichtes, in: Julius H. SCHOEPS/Imanuel GEISS (Hg.), Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Zum 60. Geburtstag von Walter Grab, Duisburg 1979, S. 95–132, hier S. 128 f. 43 RUIZ, Universität (wie Anm. 42), S. 129. Zu Thaden und dem näheren Umfeld der Studenten Fichtes vgl. ebd., S. 109.

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modernen Seminars ansehen kann, praktizierte er jene Gleichheit, die er in seiner Wissenschaftslehre theoretisch begründete. Er behandelte die Studenten als gleichberechtigte Gesprächspartner, woran der konservative Goethe bezeichnenderweise Anstoß nahm.44 Die „Conversatorien“ als frühe institutionalisierte Form des Umgangs zwischen Professoren- und Studentenschaft waren eine wichtige Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Gründung einer Burschenschaft, wie sie dann bekanntermaßen 1815 in Jena entstand. Die egalitären Umgangsformen und demokratische Grundtendenz zeigten sich auch bei dem „Mittagstisch“ oder der sogenannten „Tischgesellschaft“, die Fichte gleich nach seiner Ankunft in Jena ins Leben gerufen hatte, um den Kontakt zur Gesellschaft aufzubauen. Diese Form der Zusammenkunft war offensichtlich etwas Neues in Jena, denn seiner Frau berichtete er Ende Mai 1794 von dieser Idee, „ein privatissimum“ bei ihm zuhause über Philosophie einzurichten, und bat sie, „vor der Hand“ nichts weiter zu sagen, weil dies „etwas in Jena ziemlich unerhörtes“ sei.45 Das unmittelbare Motiv zur Einrichtung dieser Gesellschaft war zunächst einmal ganz simpel: Fichte wollte seine ökonomische Situation aufbessern, weil er als „professor ordinariis supernumarius“ auf Hörgelder seiner Studenten angewiesen war und so den Kreis seiner Zuhörer zu erweitern suchte.46 Die Tischgesellschaft war jedoch bewusst konzipiert als eine prinzipiell „offene“ und „demokratische“ Gesellschaft, an der sowohl Professoren – darunter der Philosophie-Kollege Niethammer und der (später konservative) Historiker Woltmann – als auch Studenten teilnahmen, und sie zeichnete sich durch eine internationale Mitgliedschaft aus.47 Johann Smidt, später ein bekannter Bremer Staatsmann, gehörte der Tischgesellschaft an und gab Ende Oktober 1794 einen interessanten Stimmungsbericht: „An unserem Mittagstische kommen täglich zehn verschiedene Landsleute zusammen, als da sind Sachsen, Schwaben, Bremer, Oldenburger, Schlesier, Curländer, Schweizer, Dänen, Franzosen und ein Schottländer. Doch hat der letzte kürzlich seinen Abschied genommen, weil er ein Aristokrat ist und unsere demokratischen Tischgespräche seine Verdauung erschwerten. Unter diesen zehn findet sich nun, um unsere Toleranz recht deutlich zu zeigen, alle mögliche Verschiedenheit der Religion. Dazu kommen noch sehr 44 Vgl. DANN, Fichte (wie Anm. 36), Anm. 352 zu S. 146–157. Ein „Conversatorium“ hatte schon Fichtes Vorgänger Reinhold in seinem Haus eingerichtet, wo sich Professoren und Studenten zu geselligem Beisammensein trafen, vgl. RUIZ, Universität (wie Anm. 42), S. 103. 45 Fichte an seine Frau vom 26.5.1794, in: FICHTE, Gesamtausgabe (wie Anm. 40), Bd. 3,2, S. 116. 46 RUIZ, Universität (wie Anm. 42), S. 130. 47 Vgl. dazu auch Otto DANN, Jena in der Epoche der Revolution, in: Friedrich STRACK (Hg.), Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, Stuttgart 1994, S. 17–39, hier S. 26.

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oft, wenigstens in jeder Woche einmal, durchreisende Fremde, die bei Fichte speisen. Daß es bei so bewandten Umständen niemals an interessanten Neuigkeiten fehlt, könnt ihr leicht denken“.48

Diese Neuigkeiten bezogen sich, was die Politik betrifft, vor allem auf die revolutionären Ereignisse in Frankreich. Zum festen Stamm des Teilnehmerkreises an Fichtes Mittagstisch gehörte u.a. auch ein Pfälzer namens Johann Jakob Brechtel, der sich am 12. April 1793 an der Universität Jena immatrikuliert hatte und mit kurzen Reiseunterbrechungen zwei Jahre lang bis Januar 1795 an der Salana blieb.49 Brechtel war ein Revolutionsfreund, man kann ihn – wie Alain Ruiz es getan hat – durchaus als einen „deutschen Jakobiner“ bezeichnen, von ihm stammen solche Sätze wie: „La République francaise est invincible comme la raison; elle est immortelle comme la vérité“;50 er baute ein Netzwerk revolutionsfreundlicher Studenten in Jena auf, agierte als „Geheimagent“, und gab sich „unverstellt als Propagandist der französischen Sache“ zu erkennen.51 Von ihm kennen wir einige Berichte von Versammlungen (wahrscheinlich auch der Tischgesellschaft), die belegen, dass eine Jakobinermütze die Runde machte, die Marseillaise abgesungen wurde und revolutionäre Parolen Verbreitung fanden. Brechtel war auch einer der beiden Jenenser Studenten, die dafür sorgen wollten, dass Fichtes Revolutionsschrift, der „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums“ ins Französische übersetzt und damit einer breiteren Öffentlichkeit in Frankreich bekannt gemacht werden sollte.52 Der andere, Brechtels Freund, war ein Franzose namens Claude-Camille Perret, der auch zur Tischgesellschaft gehörte und von dem Fichte gegenüber seiner Frau sagte, dass er sich „ganz“ auf seine philosophische Lehre versteift habe, „um eine gründliche Philosophie in sein Vaterland zu bringen“.53 Bei der Tischgesellschaft stand nicht ausschließlich die Politik im Mittelpunkt, sondern auch und im Verlaufe der Zeit immer mehr die Literatur und Kunst. Der schon erwähnte studentische Teilnehmer Johann Smidt, der auch als Vertrauter Fichtes galt, meinte: „Um in der neuesten Literatur fortzuschreiten, hätte ich jetzt gar nicht nötig, gelehrte Zeitungen zu lesen, denn unser Tischgespräch gleicht einem rezensierenden Journal“.54

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Zit. nach RUIZ, Universität (wie Anm. 42), S. 130. Detailliert dazu ebd., S. 95–132. Ebd., S. 101. DANN, Jena (wie Anm. 47), S. 26. WILSON, Goethe-Tabu (wie Anm. 29), S. 244. Fichte an seine Frau vom 26.5.1794, in: FICHTE, Gesamtausgabe (wie Anm. 40), Bd. 3,2, S. 120 f. 54 Zit. nach Felicitas MARWINSKI, Von der „Societas litteraria“ zur Lesegesellschaft. Gesellschaftliches Lesen in Thüringen während des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts und

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Eine ganz ähnliche Entwicklung nahm schließlich auch die „Gesellschaft der freien Männer“, die sich unmittelbar vor der Ankunft Fichtes in Jena konstituierte und so lange bestehen blieb, wie Fichte in Jena war, also bis zu seiner Entlassung im Gefolge des sogenannten Atheismus-Streits im Frühjahr 1799.55 Die „Gesellschaft“, deren Gründungsidee auf einen Artikel in Wielands Teutschem Merkur zurückging, war zwar keine reine Fichte-Gesellschaft, aber sie stand von Anfang an sehr stark unter seinem Einfluss, seine Vorlesungen wurden dort verlesen und diskutiert und seine Ideen zur „Bestimmung des Gelehrten in der Gesellschaft“ waren zeitweise der Hauptgegenstand der Versammlungen.56 Wenn man sich die Sitzungsthemen ansieht, erkennt man sogleich den enormen Einfluss Fichtes. So sprach man bei der Gründungsversammlung am 18. Juni 1794 „Über die in unsern Zeiten hervordämmernde vernunftmäßige Freiheit des Menschen in der Gesellschaft“, am 16. Juli „Über die Bestimmung des Menschen“, am 13. August „Über die Verpflichtung des Staatsbürgers, seine angeerbte Staatsverfassung zu verbessern“ und zu Beginn des Jahres 1795 ganz zentral „Über die Pflicht des Gelehrten, auch als Bürger thätig zu seyn“.57 Man kann durchaus behaupten, dass in der „Gesellschaft der Freien Männer“ – zumindest in der Anfangsphase – genau das Programm im Mittelpunkt stand, das Fichte zur Neubestimmung und gesellschaftlichen Funktion des Gelehrten formulierte, das Programm eines in der Öffentlichkeit wirkenden Gelehrtentypus mitsamt seinem neuen Wissenschaftsverständnis. Die „Gesellschaft“, die in ihren besten Zeiten ca. 50 Mitglieder zählte – darunter so bekannte Namen wie der Hölderlin-Freund Boehlendorff, der Pädagoge Herbart (der spätere Gegenspieler der Göttinger Sieben) oder der Übersetzer Gries –, war zweifelsohne die erste sozial-praktische Wirkung der Fichte’schen Ideen zur Bestimmung der ‚neuen Öffentlichkeit‘. Schon in der Präambel wurde deutlich, wie stark Fichte die ganze Sache dominierte: Dort hieß es, dass man sich treffen wolle, um „den Zweck der Humanität zu befördern“ und „zur Verbreitung der Wahrheit zu wirken und ihren Gesetzen allgemeine Gültigkeit zu verschaffen – Wahrheit ist unser einziges, unser höchstes Ziel“.58 Im Wahrheits-Begriff lag tatsächlich der Dreh- und Angelpunkt des Fichte’schen Denkens, er fühlte sich, wie er immer wieder bei seinen Vorlesungen betonte, als ein „Priester der Wahrheit“ und forderte auch seine Zuhörer auf, als Wahrheitssucher und -verkünder in die Welt zu ziehen und sein Konzept zu verbreiten: „Ich bin ein Priester der Wahrheit;

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sein Einfluß auf den Emanzipationsprozeß des Bürgertums, 2 Teile, Jena 1982, T. 1, S. 76. Zur Gesellschaft der freien Männer vgl. vor allem ebd., T. 1, S. 70–90; ZIOLKOWSKI, Wunderjahr (wie Anm. 41), S. 62–64. Vgl. MARWINSKI, Societas (wie Anm. 54), T. 1, S. 73–78. Alle aufgelistet bei ZIOLKOWSKI, Wunderjahr (wie Anm. 41), S. 64 f. MARWINSKI, Societas (wie Anm. 54), T. 1, S. 78.

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ich bin in ihrem Solde, ich habe mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun und zu wagen und zu leiden. Wenn ich um ihrer willen verfolgt und gehasst werde, wenn ich in ihrem Dienste gar sterben sollte – was thät ich dann sonderliches, was thät ich dann weiter, als das, was ich schlechthin thun müsste?“ In seinen Studenten, wollte er, wohin sie sich auch verstreuen würden, Männer wissen, „deren auserwählte Freundin die Wahrheit ist, die an ihr hangen im Leben und im Tode“.59 In diesem Wahrheitsbegriff steckte eine Radikalität (sie rührt von Luther, dem „Apostel der intellektuellen Wahrhaftigkeit gegen alles Dogma“, her),60 welche die Geschichte des öffentlichen Wirkens von Gelehrten bis zum Wartburgfest maßgeblich prägte, wenn man etwa an den Auftritt des Philosophen Fries gewissermaßen in der Rolle Luthers auf der Burg denkt.61 Die Weimarer Regierung erkannte durchaus die Gefährlichkeit dieses ‚Wahrheits-Ethos‘, weshalb sie auf eindringliche Mahnung hin die Worte „Verbreitung der Wahrheit“ aus der Präambel der „Gesellschaft der Freien Männer“ streichen und durch die moderate Formel „Erforschung der Wahrheit“ ersetzen ließ.62 Die „Gesellschaft“, auch „Bund der Freien Männer“ genannt, durchlief dann jedoch in den nächsten fünf Jahren eine Entwicklung, wie sie nicht untypisch für die deutschen Sozietäten der 1790er Jahre war: Es kam zu einer zunehmenden Entpolitisierung (und zwar immer deutlicher, je mehr die Revolution in den Terror ‚abglitt‘) zugunsten eines literarisch-ästhetischen Diskurses,63 der allerdings auch alles andere als unpolitisch war.64 Die „Gesellschaft“ selbst schaffte nicht den Sprung in die breite Öffentlichkeit (so sehr Fichte sich dies auch gewünscht hätte), sondern blieb in erster Linie auf das akademisch-intellektuelle, zuweilen sogar vornehmlich auf das universitäre Milieu begrenzt und konnte keine Verbindung zur Stadtbevölkerung herstellen. Es war vielmehr Fichte selbst, der zunehmend die Dinge in die Hand nahm und sich in eigener Person an die Öffentlichkeit wandte und auf diese Weise für die Herstellung einer regelrecht ‚nationalen‘ Öffentlichkeit sorgte. Wir sprechen von dem sogenannten „Atheismusstreit“, dem letzten Akt in Fichtes Wirken an der Universität Jena, der ihn nicht zuletzt aufgrund seiner öffentlichen Aus-

59 FICHTE, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (wie Anm. 33), S. 323–325. 60 Kurz und treffend: Thomas NIPPERDEY, Luther und moderne Welt, in: DERS., Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1986, S. 31–43, hier S. 31 f. u. 38 f. 61 Dazu RIES, Wort (wie Anm. 2), S. 338–342. 62 Vgl. MARWINSKI, Societas (wie Anm. 54), T. 1, S. 80–86. 63 So die These von ZIOLKOWSKI, Wunderjahr (wie Anm. 41), S. 62–64. 64 Allgemein zur politischen Implikation der „deutschen Klassik“ vgl. die Beiträge in: Walter PAULY/Klaus RIES (Hg.), Politisch-soziale Ordnungsvorstellung in der deutschen Klassik, Baden-Baden 2018.

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strahlung zu Fall bringen sollte.65 Fichte hatte – wie wir gesehen haben – nicht nur an der Universität gelehrt, sondern auch in und auf die Öffentlichkeit gewirkt. Zu seinem Wunsch, seine philosophischen Lehren einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, gehörte schließlich auch, dass er seit 1797 gemeinsam mit seinem Freund und Philosophen-Kollegen Niethammer die Zeitschrift Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, die seit Mai 1795 erschien, herausgab.66 Für diese Zeitschrift bot der Saalfelder Rektor Friedrich Karl Forberg, ein ehemaliger Schüler Fichtes und bis 1797 Privatdozent an der Universität Jena, im Sommer 1798 einen Aufsatz mit dem Titel: „Entwickelung des Begriffs der Religion“ an.67 Dieser Aufsatz enthielt Gedankengänge, die eindeutig auf die Philosophie Fichtes zurückgingen. Forberg bestritt nicht prinzipiell den Sinn von Religion in der Gesellschaft, sondern er versuchte vielmehr das Glaubensgebäude der Religion zu rationalisieren, ein „Reich der Wahrheit“ zu schaffen, das zugleich auch ein Reich des Rechts sein sollte, und den Glauben seiner theoretischen Natur zu entkleiden und allen die „Pflicht, zu handeln“ anzuempfehlen.68 Fichte selbst gefiel der Aufsatz nicht sonderlich, wahrscheinlich wegen seiner begrifflichen Unschärfe. Aber er entschied sich gemeinsam mit seinem Mitherausgeber Niethammer, ihn dennoch in das Philosophische Journal aufzunehmen, weil gerade sie sich nicht als Zensoren aufspielen wollten.69 Zur ‚Richtigstellung‘ und Klarstellung der Meinung der Herausgeber schrieb Fichte allerdings einen eigenen Artikel zu dem Thema, den er dem Forberg’schen voranstellte – unter dem Titel: „Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“.70 Dieser Artikel war nicht „atheistisch“, sondern vielmehr „pantheistisch“,71 er versuchte das Göttliche als „moralische Weltordnung“ zu fixieren und sah darin „das Gewisseste, was es gibt, ja der 65 Vgl. zum Atheismusstreit vor allem Werner RÖHR (Hg.), Appellation an das Publikum … Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer Jena 1798/99, Leipzig 1987 mit der entsprechenden eigenen Interpretation, die immer noch lesenswert, wenn auch an einigen Stellen ideologisch aus der DDR-Perspektive verzerrt ist; ferner Karl-Heinz FALLBACHER, Fichtes Entlassung. Ein Beitrag zur Weimar-Jenaischen Institutionsgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 67 (1985), S. 111–135 sowie die Beiträge in Klaus-Michael KODALLE/Martin OHST (Hg.), Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, Würzburg 1999. 66 Für die genaue Datierung ZIOLKOWSKI, Wunderjahr (wie Anm. 41), S. 312. 67 Vgl. Friedrich Karl FORBERG, Entwickelung des Begriffs der Religion, in: RÖHR, Appellation (wie Anm. 65), S. 23–38. 68 Ebd., S. 27 u. 33. 69 Dazu RIES, Wort (wie Anm. 2), S. 141. 70 Johann Gottlieb FICHTE, Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: RÖHR, Appellation (wie Anm. 65), S. 11–22. 71 So Geschichte der Universität Jena 1548/58–1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum hg. von Max STEINMETZ u.a., 2 Bde., Jena 1958/62, Bd. 1, S. 234.

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Grund aller andern Gewißheit, das einzige absolut gültige Objektive“.72 In diesem Punkt argumentierte Fichte viel differenzierter als sein Schüler und setzte sich klarer mit den theologischen Zeitströmungen auseinander.73 Was Fichte aber vor dem Hintergrund seiner modernen Wissenschaftsvorstellung vor allem intendierte, war, dass er sich mit seiner Lehre an die Öffentlichkeit wandte. Seinen Artikel und damit das erste Heft des Philosophischen Journals aus dem Jahre 1798 eröffnete er mit dem für ihn ganz charakteristischen Satz: „Der Verfasser dieser Aufsatzes erkannte es schon längst für seine Pflicht, die Resultate seines Philosophierens über den oben angezeigten Gegenstand, welche er bisher in seinem Hörsaale vortrug, auch dem größern philosophischen Publikum zur Prüfung und gemeinschaftlichen Beratung vorzulegen“.74 Es war exakt dieser Drang Fichtes in die Öffentlichkeit, der den meisten Aufruhr beim Establishment und der konservativen Öffentlichkeit verursachte und der ihn schließlich auch zu Fall brachte. Es dauerte ganze fünf Tage, bis die erste Behörde sich meldete. Wie der Jenaer Verleger Christian Ernst Gabler am 24. Oktober in mehreren Zeitungen bekannt gab, war das erste Heft des Philosophischen Journals Anfang Oktober 1798 an die Buchhandlungen gegangen. Am 29. Oktober 1798 erstattete das Dresdener Oberkonsistorium eine Anzeige an den Kurfürsten von Sachsen mit der Bitte um Konfiskation des besagten Heftes.75 Diese Anzeige macht deutlich, worum es der Behörde und damit auch der gesamten Reaktion ging. Offiziell wandte man sich ausschließlich gegen den Artikel von Forberg, der so nicht unter die Leute gehen sollte. In Wirklichkeit wollte man jedoch Fichte und mit ihm „die Anhänger der kritischen Philosophie“ treffen, mithin die Politisierung von Wissenschaft, wie Fichte sie betrieb, unterbinden. Dies sei – wie es gleich zu Anfang hieß – „schon längst“ der „innigste Wunsch“ und das „eifrigste Bestreben“ der Dresdener Behörde gewesen.76 Der Vorwurf des „Atheismus“ war nur ein treffender Legitimationsgrund (dem zuvor schon Thomasius und Wolff in Halle zum Opfer gefallen waren) – in Wirklichkeit ging es darum, die neue Form des Gelehrtentums und ihrer öffentlichen Wirkungsabsicht zu unterbinden. Ein sächsisches Reskript hielt unmissverständlich fest, die Regierungen hätten Sorge zu tragen, dass man „zu den Lehrern unsrer Universitäten das gegründete Vertrauen“ habe, „daß sie jede Gelegenheit, welche ihnen ihr Amt und ihr Einfluß auf die Jugend und das Publikum überhaupt an die Hand gebe, auch nachdrücklich dazu benutzen, die 72 73 74 75

FICHTE, Ueber den Grund (wie Anm. 70), S. 21. HOUBEN, Literatur, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 123 wirft ihm „seichten Kantianismus“ vor. FICHTE, Ueber den Grund (wie Anm. 70), S. 11. Vgl. die Anzeige des Dresdener Oberkonsistoriums an den Kurfürsten von Sachsen vom 29.10.1798, in: RÖHR, Appellation (wie Anm. 65), S. 39–41. 76 Ebd., S. 39.

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‚rechte Lehre‘ hinter dem Katheder zu verbreiten“.77 Man war sich bereits der öffentlichen Wirkung von Wissenschaft und Universität bewusst und wollte diese nun unter staatliche Kontrolle stellen. Im Prinzip stellt das Vorgehen gegen Fichte im Jahr 1799 bereits ein Vorspiel der Karlsbader Beschlüsse zwanzig Jahre später dar, als man dann wirklich die Universitäten und ihre politisierenden Professoren unter staatliche Kuratel stellte, entpolitisierte und damit auch gewissermaßen entmündigte.78 Die Dinge nahmen jetzt recht schnell ihren Lauf:79 das Philosophische Journal wurde sogleich konfisziert und andere protestantische Höfe wie Braunschweig und Hannover schlossen sich diesem Kurs an. Carl August von SachsenWeimar-Eisenach, der die Oberaufsicht über die Universität hatte, zeigte sich erbost, weil er von Anfang an gewusst hatte, wie „äußerst gewagt“ es war, „einen sich öffentlich bekennenden Revolutionisten nach Jena als Lehrer zu berufen“ und nun zeigten sich eben – wie er sich ausdrückte – „die nützlichen Folgen“ dieses Risikos.80 Mittlerweile war jedoch Fichte selbst tätig geworden. Am 10. Dezember 1798 schrieb er an den Tübinger Verleger Cotta, dass er gedenke, „in den nächsten künftigen Weihnachtsferien eine kleine Flugschrift zu verfertigen und so schnell als möglich ausgehen zu lassen“, in welcher er sich über den Vorwurf des Atheismus „geradezu an die deutsche Nation“ – mit der Einschränkung: „wenn wir eine haben“ – wenden wolle.81 „Die schnellste und möglichst weite Verbreitung ist mein Hauptzweck“, schrieb er an Cotta und fragte: „Wie viele Exemplare sind zu drucken? Sind bei diesem Plane 10.000 zu viel?“82 Es dauerte gerade einmal drei Wochen, bis Fichte seine berühmtberüchtigte und ganze 118 Seiten umfassende Schrift, die „Appellation an das Publikum“, verfertigt hatte – eine „Schrift“, wie er ironisch-süffisant anfügte, „die man erst zu lesen bittet, ehe man sie konfisziert“.83 Am 9. Januar ließen er, sein Mitangeklagter Forberg, der Mitherausgeber des Philosophischen Journals, Niethammer, und die beiden Verleger Cotta und Gabler die „Appellationsschrift“ in mehreren deutschen Zeitungen, darunter die Allgemeine Literatur77 Siehe Kurfürstlich-Sächsisches Reskript an die Universitäten Leipzig und Wittenberg, in: ebd., S. 63. 78 Zu den Karlsbader Beschlüssen vgl. Eberhard BÜSSEM, Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die endgültige Stabilisierung der restaurativen Politik im Deutschen Bund nach dem Wiener Kongreß von 1814/15, Hildesheim 1974. 79 Vgl. dazu RIES, Wort (wie Anm. 2), S. 144–153. 80 Carl August an Voigt vom 26.12.1798, in: RÖHR, Appellation (wie Anm. 65), S. 361 f., hier S. 361. 81 Fichte an Cotta vom 10.12.1798, in: ebd., S. 78 f., hier S. 78. 82 Ebd. 83 Appellation an das Publikum, Auszug der National-Zeitung, von 1798, Nr. 51, in: ebd., S. 84–126, hier S. 84.

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Zeitung, der Nürnberger Verkünder, die Neuen Würzburger gelehrten Anzeigen sowie die Hamburger Staats- und Gelehrten Zeitung, ankündigen.84 In dieser Ankündigung stellten die Angeklagten ihren Streitfall in eine Reihe mit dem Vorfall um Kants berühmte Schrift „Der Streit der Fakultäten“, weswegen dieser am 1. Oktober 1794 vom preußischen König an seine „Pflicht als Lehrer der Jugend“ erinnert wurde und fortan geloben musste, keine gegen das Christentum und die Heilige Schrift gerichteten Lehren weder in Vorlesungen noch in öffentlichen Vorträgen mehr zu verbreiten, was er dann auch feierlich tat.85 Die öffentliche Ankündigung der Fichte’schen „Appellationsschrift“ machte deutlich, dass der Jenaer Philosoph sich nicht mehr nur an die „ehrwürdige deutsche Gelehrten-Republik und alles, was ihr auf irgendeine Weise angehört“, wenden wollte, sondern die Erwartung hegte, „daß jeder Biedermann die angekündigte Schrift in seinem Zirkel verbreite“.86 Fichte wollte seine Angelegenheit, wie er gegenüber August Wilhelm Schlegel kundtat, „vor den Richterstuhl des gelehrten und denkenden Publikums“ zerren, weil sie – wie er meinte – „eine allgemeine Angelegenheit“ sei.87 Der eigene Fall wurde generalisiert und zu einem prinzipiellen Problem gemacht. Das war in der Tat ein revolutionärer Schritt! Die Schrift erschien im Januar 1799 bei Cotta und Gabler in Tübingen, Jena und Leipzig, und noch im Frühjahr desselben Jahres besorgte Fichte wegen der großen Nachfrage eine zweite Auflage;88 darüber hinaus waren zahlreiche Raubdrucke auf dem Markt. Schon am 15. Januar übersandte Fichte Exemplare an ca. 150 Gelehrte, Künstler und andere Personen des öffentlichen und politischen Lebens, darunter auch den Weimarer Herzog Carl August, dem er noch in einem Begleitbrief versicherte, dass ihm gerade an seinem „persönlichen Urtheile viel gelegen“ sei.89 An Schiller gingen zwei Exemplare, von denen eines für Goethe gedacht war, dem Fichte persönlich keines schicken wollte, weil „diese Schrift an keinen Geheimen Rath und überhaupt an keinen Menschen, der auf die Entscheidung des Rechtshandels […] einigen Einfluß haben dürfte“, gehen sollte.90 Fichte ging es mit diesem – für die damalige Zeit ganz ungewöhnlichen Schritt – vor allem um zweierlei. Zum einen wollte er endgültig klarstellen, dass er kein Atheist war und dass der Atheismus-Vorwurf lediglich ein Vorwand war, um die wahren politischen Hintergründe zu verdecken; und zum anderen – und 84 Ankündigung der Appellation an das Publikum in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 9.1.1799, in: ebd., S. 79–81. 85 Der Fall kurz dargelegt in: ebd., S. 567, Anm. 34. 86 Ankündigung der Appellation (wie Anm. 84), S. 80 f. 87 Fichte an Schlegel vom 16.1.1799, in: ebd., S. 81 f. 88 Vgl. ebd., S. 568, Anm. 48. 89 HOUBEN, Literatur, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 164; Nachwort des Herausgebers, in RÖHR, Appellation (wie Anm. 65), S. 485–564, hier S. 508. 90 HOUBEN, Literatur, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 163.

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das war ihm eigentlich noch viel wichtiger – wollte er Öffentlichkeit, ja man kann es bereits so nennen: wollte er ‚nationale Öffentlichkeit‘ herstellen. Fichte setzte sein eigenes theoretisches Programm selbst in die Praxis um. Damit durchbrach er ganz bewusst und ganz eigenwillig das ‚arcanum imperii‘, welches das Herrschaftsverhältnis und die politische Kultur des alten, feudalständischen und absolutistischen Systems konstituierte. Mit seinem Entschluss, sich an die ganze „deutsche Nation“ zu wenden, wurde Fichte nicht nur zum Motor einer überständischen Mobilisierung der Gesellschaft, sondern auch zum entscheidenden Wegbereiter des modernstaatlichen Prinzips der Öffentlichkeit, das fortan seinen unaufhaltsamen Siegeszug antreten sollte. Man kann diesen Schritt, der von Fichte hier in Jena an der Jahreswende 1798/99 ausging, aus modernisierungsgeschichtlicher Perspektive gar nicht hoch genug veranschlagen. Der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ – wie wir ihn oben erwähnt haben – von einer tendenziell repräsentativ-höfischen hin zu einer bürgerlichdemokratischen ‚kritischen‘ Öffentlichkeit,91 lässt sich an dieser Einzelaktion regelrecht mit Händen greifen. Fichte hatte bewusst die Praxis des Ancien Régime umgangen und missachtet, indem er weder bei Hofe um Rücksprache noch um Erlaubnis für die Veröffentlichung seiner Schrift bat.92 Seine Frau hatte dies erkannt, als sie ihm später schrieb: „Das mußt Du mir doch gestehen, daß, wenn du Voigt, Goethe und Schiller besucht hättest, die ganze Sache anders gekommen wäre“, woraufhin er so antwortete, wie er nur antworten konnte: „Ich hätte ein allgewaltiger Mann in Jena werden können, ohne Zweifel – wenn die Lage nicht leider so gekommen wäre, daß ich ein niederträchtiger Höfling und Speichellecker, etwa wie Hufeland, hätte werden müssen, um es zu bleiben, […] das ist nun einmal nicht in meiner Natur und wird nie hineinkommen.“93 Die „Appellationsschrift“ verursachte ein ungeheures Aufsehen im Heiligen Römischen Reich. Allein über 50 Flugschriften, Rezensionen und sonstige Artikel erschienen binnen kürzester Zeit und setzten sich mit dem ‚nationalen Appell‘ auseinander.94 Von daher hatte Fichte in puncto Öffentlichkeit genau 91 Dazu nochmals HABERMAS, Strukturwandel (wie Anm. 4). 92 Fichte selbst war sich dieses ungewöhnlichen Schrittes bewusst. In einem Schreiben an Reinhold zitierte er eine Passage aus einem Brief von Schiller an ihn, wo dies deutlich wird: „man wundere sich höhern Orts, daß ich nicht erst angefragt habe, ob ich eine solche Appellation erscheinen lassen solle; warum ich denn an das Publikum appelliere; ich habe es ja lediglich mit ihnen, mit helldenkenden, wohlwollenden Regierungen zu tun; an sie habe ich mich zu wenden und dergl.“ Fichte an Reinhold vom 22.5.1799, in: RÖHR, Appellation (wie Anm. 65), S. 395–402, hier S. 397. 93 Zit. nach Nachwort (wie Anm. 89), S. 509. 94 Allein die Fichte’sche Gesamtausgabe verzeichnet 37 Nummern von Schriften in Reaktion auf die „Appellationsschrift“; vgl. FICHTE, Gesamtausgabe (wie Anm. 34), Bd. 1,6:

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das erreicht, was er erreichen wollte. Aber die inhaltliche Auseinandersetzung verlief nicht so, wie er sich das gewünscht hatte.95 Die Mehrheit der Stimmen war sehr kritisch, und nur einige wenige standen hinter ihm. Es war vor allem die jüngere Generation, die ihm beipflichtete; die Schlegels und Novalis’ waren entzückt und lobten ihn. Aber die Gegner waren mächtiger, und ihre Schriften waren schneller auf dem Markt. Rehberg, sein alter Gegner, kritisierte ihn scharf, und das gleiche tat Gentz, der sich längst von der Revolution abgewandt hatte und für den es nunmehr ein „außerordentliches Phänomen“ war, wie sich „eine solche Größe des Denkens und eine solche Gemeinheit des Menschen in einem Individuum vereinigten“.96 Aber trotz aller Kritik an seinen Ansichten, hatte Fichte mit seinem mutigen Schritt dennoch eine Auseinandersetzung ausgelöst, die reichsweit geführt wurde und im Handumdrehen so etwas wie ein „kritisch-räsonnierendes Publikum“ (Habermas) entstehen ließ. In Deutschland diskutierte im Frühjahr 1799 tatsächlich eine kritische Öffentlichkeit Fichtes Thesen über Denk- und Gewissensfreiheit. Früh schon ging von der Universität Jena dieser liberal-nationale Impuls aus! Am zweiten Weihnachtstag 1798 hatte die Weimarer Regierung ein Reskript an die Universität Jena erlassen, in welchem der Antrag enthalten war, die beiden Herausgeber des Philosophischen Journals „zur Verantwortung zu ziehen und nach Befinden ernstlich bestrafen zu lassen“.97 Fichte reagierte darauf mit einer „Verantwortungsschrift“, in welcher er deutliche Worte für den vorgeblichen Atheismus-Vorwurf fand: „Hier bedarf es keiner Mutmaßungen und keines Ratens. Die Triebfeder ist klar; sie ist notorisch; nur daß keiner den Namen des Dinges aussprechen will. Ich bin überhaupt nicht gemacht, um hinter dem Berge zu halten […]. Ich also will es sein, der den Namen dieses Dinges ausspricht. Ich bin ihnen ein Demokrat, ein Jakobiner; dies ist’s. Von einem solchen glaubt man jeden Greuel ohne weitere Prüfung. […] Daß ich ihnen das bin, dieser sträfliche Demokrat und Jakobiner, und daß ich ihnen deswegen unaussprechlich verhaßt bin, ist notorisch. […] Es ist nicht mein Atheismus, den sie gerichtlich verfolgen, es ist mein Demokratismus. Der erstere hat nur die Veranlassung hergegeben.“98

So sehr er damit den Punkt getroffen hatte, so sehr brachte er damit auch das Fass zum Überlaufen. Und damit nicht genug. Am 22. März schrieb er einen mehr privat gehaltenen Brief an den Weimarer Geheimrat Voigt, der es bislang

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Werke 1799–1800, hg. von Hans GLIWITZKY und Reinhard LAUTH, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 463–471 sowie Röhrs Nachwort (wie Anm. 89), S. 510, der noch mehr nennt. Zum Stimmungsbild HOUBEN, Literatur, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 170–176. Ebd., S. 172. Weimarisches Reskript an die Universität Jena vom 27.12.1798 in: RÖHR, Appellation (wie Anm. 65), S. 179. Fichtes Verantwortungsschrift vom 18.3.1799, in: ebd., S. 183–235, hier S. 223 f.

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immer noch gut mit ihm gemeint hatte. Darin warf er dem Weimarer Herzog sehr nahestehenden Generalsuperintendenten Herder, „dessen publizierte Philosopheme über Gott dem Atheismus so ähnlich sehen als ein Ei dem anderen“, ebenfalls Atheismus vor. Außerdem fügte Fichte in dem Brief noch hinzu, dass er einen gerichtlichen Verweis wegen Verletzung seiner individuellen Ehre nie akzeptieren könne und ihm widrigenfalls nichts anderes übrig bliebe, „als den Verweis durch Abgebung meiner Dimission zu beantworten“.99 Voigt übermittelte dieses Schreiben postwendend an den Herzog und dieser nahm schlicht und ergreifend das ‚Entlassungsgesuch‘ (das in Wirklichkeit keines war) an – allerdings auch unter erheblichem Druck von außen, weil ein weiteres geharnischtes Schreiben von Dresden immer deutlicher auf die Entlassung Fichtes drängte. Am 29. März 1799 war es so weit, der Weimarer Herzog hatte das Plazet der anderen drei Nutritoren eingeholt und ein Entlassungsreskript an die Universität übermittelt, in welchem er deutlich machte, was „von akademischen Lehrern zu erwarten“ sei, dass sie nämlich „die Reputation der Akademie eher durch Zurückhaltung dergleichen zweideutigen Äußerungen und Aufsätze über einen so wichtigen Gegenstand prospizieren sollten“.100 Das hieß nichts anderes als: Schuster bleib bei deinen Leisten und misch’ dich als Philosoph nicht in andere Dinge, wie z.B. Politik oder Religion, ein. Wie bereits erwähnt war auch diese herrschaftliche Zurechtweisung im Prinzip ein Vorläufer des Prozesses der Entpolitisierung von Wissenschaft, wie er mit den Karlsbader Beschlüssen dann definitiv eingeleitet wurde. Der ‚Fall Fichte‘ hat in mancherlei Hinsicht Zeichen für die Zukunft gesetzt. Vor allem aber hat er die Schleusen geöffnet für die Genese einer modernen Öffentlichkeit, wie sie fortan die neuere Geschichte bis zu den aktuellen Entartungserscheinungen einer längst nicht mehr nur kritischen Presse entscheidend prägen sollte.

99 Fichte an Voigt vom 22.3.1799, in: ebd., S. 366–368, hier S. 367 f. 100 Reskript Karl Augusts an die Universität Jena vom 29.3.1799, in: ebd., S. 374 f.

H A N S -W E R N E R H A H N DAVID HINKEL – EIN VORKÄMPFER DEUTSCHER PRESSEFREIHEIT

David Hinkel (1767–1839) – ein Vorkämpfer deutscher Pressefreiheit „Die freie Presse, Brüder, sie soll leben, Sie macht vom Zoll uns frei, vom Zoll uns frei, Denn wo man darf die Stimme frei erheben, Kommt alles noch in Reih; kommt alles noch in Reih!“1 In diesen Zeilen aus dem auf dem Hambacher Fest vom Mai 1832 gesungenen Winzerlied drückten sich Erwartungen aus, die seit der Aufklärung von immer mehr Menschen gehegt wurden. Eine bessere und gerechtere politische Ordnung konnte nur erreicht werden, wenn Menschen frei diskutieren und das Ergebnis ihrer Debatten auch ohne herrschaftliche Eingriffe in einer freien Presselandschaft veröffentlichen durften. Im Folgenden soll es um einen Mann gehen, der zwar nicht zu den allgemein bekannten Vorkämpfern der deutschen Pressefreiheit gehörte, der aber schon vor 1800 den Forderungen der Aufklärung nach einer offenen und frei räsonierenden Geselligkeit nachkam und gerade im Umfeld des Hambacher Festes das dort laut werdende Verlangen nachhaltig unterstützte. David Hinkel wurde am 16. März 1767 als Sohn eines Bäckermeisters und Weinhändlers in der Reichs- und Reichskammergerichtsstadt Wetzlar geboren.2 Die Hinkels gehörten im 18. Jahrhundert zu den angesehenen und wohlhabenden Familien des Wetzlarer Stadtbürgertums und spielten als Ratsherren auch in der städtischen Selbstverwaltung eine wichtige Rolle. Ihr wirtschaftlicher Aufstieg hing vor allem damit zusammen, dass sie die Angehörigen des Reichskammergerichts mit Backwaren und Wein versorgten und zugleich auch über das Gastgewerbe vom Besucherstrom des Reichsgerichts profitierten.3 Am 30. Oktober 1784 heiratete der noch nicht einmal 18-jährige David Hinkel die sechs Jahre ältere Gastwirtstochter Luise Christine Gombel, deren 1 2

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Wilhelm KREUTZ, Hambach 1832. Deutsches Freiheitsfest und Vorbote des europäischen Völkerfrühlings, Mainz 2007, S. 24. Im Kirchenbuch wird er mit mehreren Vornamen geführt. In späteren Quellen taucht er deshalb sowohl als „Philipp David“ als auch als „Johannes David“ auf. David war aber offenbar der Rufname. Auch der Familienname wird in den Quellen sowohl „Hinkel“ als auch „Hinckel“ geschrieben. Hierzu ausführlich Hans-Werner HAHN, Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689–1870, München 1991, S. 41–68.

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Familie den „Kronprinzen“ betrieb, ein Honoratiorengasthof, in dem Johann Wolfgang Goethe als Mitglied einer Rittertafel während seines dreimonatigen Wetzlaraufenthaltes 1772 regelmäßig verkehrt hatte.4 Das junge Ehepaar Hinkel übernahm jedoch nach der Hochzeit nicht diesen Gasthof, sondern mit dem „Römischen Kaiser“ am Kornmarkt ein für das gesellschaftliche Leben der Stadt noch wichtigeres Haus. Im großen Saal des „Römischen Kaisers“ fanden öffentliche Konzerte, Vorstellungen durchreisender Theatergruppen und Bälle statt.5 Die Art und Weise, wie David Hinkel diesen Gasthof betrieb, brachte ihm 1796 ein überschwängliches Lob eines Besuchers ein: „Der Wirth im römischen Kaiser, Herr Hinkel, ist das Muster eines vortrefflichen Wirthes, und gewiß verlässt kein Gast ohne die größte Zufriedenheit sein Haus. Man kann diesen Mann in der That unter die Rubrike: honette homme, in sein Wörterbuch zeichnen.“6

Der Autor dieser Zeilen war ein junger Mann, der sich als „Neu-Franke“, also Anhänger der Französischen Revolution bezeichnete. Johann Nikolaus Becker würdigte in seinen Briefen aus Wetzlar aber nicht nur Hinkels gute Bewirtung seiner Gäste, sondern auch die Stiftung einer Donnerstags-Gesellschaft im „Römischen Kaiser“, mit der Hinkel ein Forum für einen freien und ständeübergreifenden Diskurs über politische und gesellschaftliche Fragen schaffen wollte. Becker schreibt: „Die Gesellschaft im Kayser ist erst im Embriozustande, und die Zukunft muß es entscheiden, ob sie zur Welt gebohren wird oder nicht. Sie ist sonst gut angelegt, wie es von ihrem Stifter, der Geschmack und Geld hat, erwarten ließ. Man findet hier die gangbarsten Zeitungen und Journale, Atlasse, Reisebeschreibungen, Handbücher für Zeitungsleser, Kupferstiche und sonst noch allerley schwere und leichte Reiterei. Es giebt hier allerley Erfrischungen und Speisen und eine gefällige Bedienung. Der Saal ist hell und lüftig und stößt an ein Billardzimmer. Die Unterhaltung hier ist mannigfaltiger, der Ton freier und die Gesellschaft bunter gemischt.“7

Hinkels „Römischer Kaiser“ war schon zuvor ein Ort, an dem sehr intensiv über die Französische Revolution und ihre Auswirkungen auf Deutschland diskutiert wurde. Die Nachrichten von den Entwicklungen in Frankreich erreich4 5

6

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Heinrich GLOЁL, Goethes Wetzlarer Zeit. Bilder aus der Reichskammergerichts- und Wertherstadt, Berlin 1911, S. 161 f. Friedrich Wilhelm Freiherr von ULMENSTEIN, Geschichte und topographische Beschreibung der Stadt Wetzlar. Dritter Theil, welche die Topographie der Stadt enthält, Wetzlar 1810 (ND Wetzlar 1997), S. 21. Johann Nikolaus BECKER, Fragmente aus dem Tagebuch eines reisenden Neu-Franken. Nach der Erstausgabe von 1798 neu hg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang GRIEP, Bremen 1985, S. 36. Ebd., S. 42.

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ten seit 1789 sehr rasch die Stadt des Reichskammergerichts und führten vor allem unter den am Reichskammergericht und in seinem Umfeld tätigen Gebildeten zu teils heftigen Kontroversen. Einerseits lehnte der Großteil der Gebildeten den revolutionären Weg Frankreichs entschieden ab, vor allem seit dem Sturz der dortigen Monarchie. Auf der anderen Seite hielten viele Angehörige des obersten Reichsgerichts, die sich als Freimaurer und Illuminaten den Idealen der Aufklärung verbunden fühlten,8 auch den konservativen Kurs, den der junge Kaiser Franz II. im Reich einzuschlagen begann, für den falschen Weg. 1794/95 gab es in Wetzlar zahlreiche Anzeichen, dass vor allem Personen aus dem Prokuratoren- und Advokatenkreis in Gasthäusern offen ihre Sympathien für die Veränderungen in Frankreich zum Ausdruck brachten. In der Nacht vom 2. zum 3. März 1795 zogen zehn Personen unter Begleitung von zwei Stadtmusikanten durch die Strassen, sangen die Marseillaise und andere Revolutionslieder und ließen die Republik hochleben. Es handelte sich um Angehörige von Prokuratoren- und Kaufmannsfamilien, die zuvor schon im „Römischen Kaiser“ ihre Sympathien für die Prinzipien der Französischen Revolution bekundet hatten. David Hinkel gab zwar gegenüber der Polizeikommission an, dass das Ganze die Folge eines Zechgelages gewesen sei, das er dann selbst beendet habe.9 Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hinkel zumindest ein Anhänger eines freien politischen Diskurses war, der auch fortan in seinem Gasthof geführt wurde. Wie intensiv diese Debatten offenbar waren, bezeugt Johann Nikolaus Becker in seinen Briefen aus Wetzlar: „Außer einigen Universitäten und Reichsstädten findest du gewiß keinen Ort in Teutschland, wo die politischen Meinungen so frei sind als hier. Du kannst dich geradezu für den wärmsten Anhänger der Franzosen erklären, ohne daß du in Gefahr kommst, nur den geringsten Vorwurf zu hören. Die größten Ketzereien und ungereimtesten Behauptungen finden ihre Verteidiger. Ich habe noch nirgends in öffentlichen Häusern über die Angelegenheiten der Zeit so ungescheut räsonnieren gehört als hier.“10

Im Winter 1794/95 war in Wetzlar sogar ein Geheimbund entstanden, der sich „Freunde der Wahrheit“ nannte und die deutschen Jünglinge dazu aufforderte, mit Waffen auf die linksrheinischen Kampfplätze zu ziehen und gemeinsam mit der französischen Armee die Tyrannei der deutschen Fürsten zu 8

Vgl. hierzu Monika NEUGEBAUER-WÖLK, Reichskammergericht, Reichsstadt und Aufklärung. Wetzlar im späten 18. Jahrhundert, in: Heiner LÜCK/Bernd SCHILDT (Hg.), Recht, Idee, Geschichte. Beiträge zur Rechts und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anlässlich seines 80. Geburtstages, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 89–114. 9 Vgl. hierzu Hans-Werner HAHN, Die Stadt Wetzlar im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1803, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins 34 (1989), S. 85–142, hier S. 124. 10 BECKER, Tagebuch (wie Anm. 6), S. 35.

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bekämpfen.11 An der Spitze des Bundes stand der junge Hofmeister Augustin Joseph Damm. Beteiligt waren ferner Johann Hugo Wyttenbach, der später als Trierer Gymnasialdirektor Karl Marx unterrichten sollte, sowie der Wetzlarer Prokuratorensohn Friedrich Joseph Emerich.12 Der Bund wurde rasch zerschlagen, und es zeigte sich, dass die Anhänger eines entschiedenen Nachahmens der französischen Entwicklung in der Reichskammergerichtsstadt nur eine Minderheit unter den politisch Interessierten bildeten. Die in Wetzlar zahlreichen Anhänger der Aufklärung kritisierten aber auch die konservative Erstarrung im Reich. Weder der neue Kaiser noch die meisten anderen Monarchen entsprachen jenem Ideal des aufgeklärten Herrschers, das auch in öffentlichen Veranstaltungen des Reichskammergerichts immer wieder beschworen worden war. So hatte der in Wetzlar lebende Pfarrer Friedrich Justus Froriep in einer Predigt zur Kaiserkrönung Franz II. diesen 1792 aufgefordert, als „wahrer Sohn Leopolds“ und Neffe Josephs II. deren aufgeklärte Reformansätze weiterzuführen.13 Da dies nicht in Erfüllung ging, setzten die Wetzlarer Anhänger der Aufklärung Ende der 1790er Jahre stärker als zuvor auf praxisnahe Reformkonzepte, mit denen sie die städtischen Verhältnisse verbessern wollten. Auf den ersten Blick schien dies freilich nicht einfach zu sein. Die etwa 6.000 Einwohner, die Wetzlar um 1800 aufwies, lebten in sehr unterschiedlichen Lebenswelten. Auf der einen Seite stand die Welt des Reichskammergerichts, die etwa 1.000 Personen umfasste, auf der anderen Seite die Welt der meist im Handwerk tätigen Stadtbürger. Zwischen beiden Welten gab es nicht nur klare rechtliche Unterschiede, auch in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht wies die Stadtbevölkerung noch große Unterschiede auf.14 Mit der Gründung einer Freimaurerloge im Jahr 1767 setzten zwar Prozesse ein, die auf eine Lockerung und Überwindung ständischer Schranken hindeuteten. Dies betraf aber zunächst nur adelige und bürgerliche Juristen aus dem Umfeld des Reichskammergerichts. Das städtische Bürgertum war in der Loge kaum vertreten, und sein Großteil wollte zunächst noch starr am Herkommen und den Privilegien des Stadtbürgers festhalten und stand den Ideen der Aufklärung, etwa der Besserstellung der Juden oder der Reform des Zunftwesens skeptisch gegenüber. In den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zeichneten sich 11 Die Flugschrift „An die deutschen Jünglinge“ ist ediert bei Heinrich SCHEEL (Hg.), Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 21979, S. 106. 12 Siegfried GAUCH, Friedrich Joseph Emerich. Ein deutscher Jakobiner. Studien zu Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1986, S. 20. 13 Justus Friedrich FRORIEP, Predigt bey der Feyer der Kaiserkrönung Ihro Majestät Franz des Zweyten in der Kaiserlich freyen Reichsstadt Wetzlar am 12. August 1792 gehalten, Frankfurt a. M. 1792. 14 Ausführlich hierzu HAHN, Altständisches Bürgertum (wie Anm. 3), S. 68–91.

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dann aber doch neue Tendenzen ab. Familien des Stadtbürgertums traten durch ihre wirtschaftlichen Erfolge, aber auch durch den Aufstieg in die Advokatenund Prokuratorengruppe in einen engeren Kontakt zur Welt des Reichskammergerichts. Zu diesen Teilen des alten Wetzlarer Stadtbürgertums gehörte auch David Hinkel mit seiner Familie. Er stellte nicht nur Räume zur Verfügung, in denen sich ein kritisch räsonierendes Publikum traf, sondern war auch selbst der Überzeugung, dass man im Zeitalter der Französischen Revolution auch in Deutschland verkrustete Strukturen aufbrechen musste. Wie konkret die politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen des 30-jährigen Hinkel am Ende des 18. Jahrhunderts waren, kann aus Mangel an Quellen nicht näher ausgeführt werden. Fest steht aber, dass er 1799 zur Führungsgruppe einer Reforminitiative gehörte, die mit einem volksaufklärerischen Ansatz erst einmal vor Ort grundlegende Veränderungen anregen wollte. Der Anstoß ging von der örtlichen Freimaurerloge aus,15 die aber nun gezielt die Vertreter des Stadtbürgertums einbeziehen wollte. Die führenden Vertreter der Loge gründeten am 9. Januar 1799 gemeinsam mit den Stadtpfarrern, David Hinkel und einigen anderen städtischen Persönlichkeiten nach dem Vorbild anderer Städte wie Hamburg eine „Gemeinnützige Gesellschaft“. Im Unterschied zur Freimaurerei und anderen sozial exklusiven Geselligkeitszirkeln sollte sich die neue Gesellschaft nicht mehr auf eine adlig-bürgerliche Aufklärungselite beschränken, vielmehr wollte man auch viele der meist handwerklich tätigen Stadtbürger für die neuen Ziele gewinnen und zur Mitarbeit animieren. Erste Aufgabe der Gesellschaft sollte die Reform des Wetzlarer Schulwesens sein, das seit langem in der Kritik stand. Das Vorhaben begann sehr verheißungsvoll. Ende 1799 zählte die ständeübergreifend angelegte Gesellschaft bereits 173 Mitglieder, von denen viele auch aus den stadtbürgerlichen Handels- und Handwerkerkreisen kamen.16 Die Initiatoren der Gesellschaft warben öffentlich für ihre bildungspolitischen Ansichten. Für sie gab es nichts Wichtigeres, „als dass wir aus allen Kräften für die beste Erziehung unserer Kinder sorgen, dafür sorgen, dass sie brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft werden“.17 Sie hoben hervor, dass das städtische Gemeinwesen nur dann für die Zukunft gerüstet sei, wenn seine Bewohner vom Geist eines neuen Zeitalters beseelt würden. Die Sozialisation des Stadtbürgers sollte daher nicht mehr nur vom Herkommen bestimmt 15 Vgl. DERS., Geheimgesellschaft und öffentliches Wirken: Freimaurerei und Wetzlarer Stadtentwicklung 1767–1871, in: 250 Jahre Freimaurerei in Wetzlar 1767–2017, hg. vom Magistrat der Stadt Wetzlar, Petersberg 2017, S. 33–44. 16 Ausführlich hierzu DERS., Altständisches Bürgertum (wie Anm. 3), S. 197–214. 17 Justus Friedrich FRORIEP, Predigt Entwurf für den Palmsonntag 1799 in der Hauptkirche zu Wetzlar Morgens 7 Uhr zur Empfehlung des Städtischen Schul- und ErziehungsWesens, Wetzlar 1799 (Historisches Archiv der Stadt Wetzlar, Wetzlarer Drucke).

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sein. Als zentrales Leitmotiv galt künftig der über ein Mindestmaß an Allgemeinbildung verfügende und erst dadurch zu tugendhaftem Handeln befähigte Bürger. Schon die Verfassung der Stadt erforderte nach Ansicht der Schulkommission eine vollkommenere Bildung aller „Volksklassen“, weil ja jeder Bürger „zu Berathschlagungen über die wichtigsten Angelegenheiten gezogen wird, ja, selbst obrigkeitliche Aemter zu bekleiden bestimmt ist, und nach welcher mithin für ihn eine sorgfältigere Jugendbildung unumgänglich nothwendig wird, wenn seine Rathschläge in der Zunftstube und seine obrigkeitlichen Beschlüsse am Rathstische das Gepräge ruhiger Weißheit und des Seegens für seine Vaterstadt an sich tragen sollen“.18

David Hinkel hat all diese Ansätze wie nur wenige andere Mitglieder der „Gemeinnützigen Gesellschaft“ durch persönlichen Einsatz sowie durch Geld- und Bücherspenden unterstützt. Auch wenn am Ende bei der Schulreform aufgrund fehlender Mittel und Widerstände in den Zünften nicht alle Hoffnungen der Initiatoren in Erfüllung gingen, so hatte die „Gemeinnützige Gesellschaft“ doch Grundlagen gelegt, an die Wetzlars neuer Landesherr Karl Theodor von Dalberg nach der Mediatisierung der Reichsstadt anknüpfen konnte. Letzteres galt auch für den zweiten Reformbereich, dem sich die „Gemeinnützige Gesellschaft“ gewidmet hatte, der Reform des städtischen Armenwesens. Als Dalberg 1804 in Wetzlar eine neue Armenversorgungsanstalt einrichtete, wurde Hinkel zum Buchhalter des Armenkollegs berufen.19 Dieses Amt übte er dann aber nur noch wenige Jahre aus. Mit dem Ende des Alten Reiches im Jahre 1806 erfolgte auch die Auflösung seines höchsten Gerichts. Wetzlars Einwohnerzahl sank in kürzester Zeit deutlich ab, und mit dem Wegzug der meisten Kameralfamilien sowie dem Ausbleiben der Besucherströme verfiel auch das Geschäftsmodell der auf das Reichskammergericht orientierten Kaufleute und Wirte. David Hinkel besaß freilich Kapital genug, um sich in Frankfurt am Main eine neue Existenz als Weinhändler aufzubauen. 1830 besaß er hier in der Neuen Mainzer Straße ein stattliches Haus mit einer offenbar gut gehenden Weinhandlung, die er gemeinsam mit seinem aus einer Wetzlarer Buchdruckerfamilie stammenden Schwiegersohn Johann Georg Winkler betrieb. David Hinkel war aber nicht nur ein erfolgreicher und reicher Frankfurter Geschäftsmann, er setzte an seinem neuen Wohnort auch sein öffentliches Engagement weiter fort. Schon 1818 fungierte er als Vorstandsmitglied der 1808 gegründeten Frankfurter Museumsgesellschaft.20 Ihr Ziel war es, durch Konzerte, Lesungen und Vorträge die Bildungsideale des aufstrebenden Bürgertums

18 Bericht der Wetzlarer Schulkommission vom 25.2.1800, in: Historisches Archiv der Stadt Wetzlar, Ältere Akten VIII, 12. 19 HAHN, Altständisches Bürgertum (wie Anm. 3), S. 243 f. 20 Staatskalender der Freien Stadt Frankfurt am Mayn, Frankfurt a. M. 1819, S. 16.

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zu verbreiten.21 Als „Vorstehergehülfe“ der vierten Klasse vertrat Hinkel die Interessen der Kulturkonsumenten, die aus der wirtschaftlichen Oberschicht stammten und mit ihren Beiträgen die finanzielle Fundierung der Gesellschaft sicherten. 1826 gehörte Hinkel zu einem Frankfurter Honoratiorenkreis, der durch den Kauf eines Liederwerkes den Befreiungskampf der Griechen unterstützen wollte.22 Und zwischen 1824 und 1832 war David Hinkel Mitglied der Frankfurter „Gesetzgebenden Versammlung“, die nach der „ConstitutionsErgänzungs-Akte“ des Jahres 1816 als drittes städtisches Gremium zu Senat und Bürgerrepräsentation hinzugetreten war und über umfassende Kompetenzen verfügte.23 Seine mehrfache Wiederwahl zeigte, dass Hinkel offenbar ein großes Vertrauen seiner Frankfurter Mitbürger genoss. Als im Juli 1830 in Frankreich eine neue Revolution ausbrach und es bald darauf auch in Deutschland zu Aufständen und politischen Protesten kam, war David Hinkel bereits 63 Jahre alt. Er stand aber politisch nun an der Seite einer deutlich jüngeren Generation, die um 1800 geboren worden war und wie Friedrich Siegmund Jucho, Johann Friedrich Funck und Wilhelm Sauerwein durch die Mitgliedschaft in Burschenschaften politisiert worden war. Auch in der Stadt Frankfurt waren die Politisierungswellen rasch deutlich zu spüren. Man veranstaltete massenhafte Sympathiekundgebungen für die polnischen Flüchtlinge, die nach dem gescheiterten Aufstand gegen die russische Herrschaft ins französische Exil zogen. Vor allem aber entstand eine Sammlungsbewegung aus liberalen und demokratischen Kräften, die im Frühjahr 1832 öffentlich gegen die Politik des Deutschen Bundes, für eine deutsche Verfassung und vor allem für Presse- und Versammlungsfreiheit eintraten.24 Viele der Unterzeichner einer entsprechenden Petition traten dann dem Anfang 1832 von den rheinpfälzischen Journalisten Georg August Wirth und Philipp Jakob Siebenpfeiffer gegründeten „Deutschen Preß- und Vaterlandsverein“ bei. Ziel des Vereins war es, der Pressefreiheit durch eine gesamtdeutsche Organisation zum Durchbruch zu verhelfen und mit der Macht der öffentlichen Meinung der Fürstenherrschaft wirksamer entgegenzutreten.25 Innerhalb weniger Wochen bildeten sich in 21 Vgl. Ralf ROTH, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft. 1760–1914, München 1996, S. 185– 188. 22 Caecilia Mainz. Eine Zeitschrift für die musikalische Welt 5 (1826), Intelligenzblatt zur Caecilia, Nr. 18, S. 12. 23 Vgl. Ralf ROTH, Die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft. Geschichte der Stadt Frankfurt am Main 1789–1866, Ostfildern 2013, S. 244–260. 24 Vgl. ebd., S. 336–343. 25 Cornelia FOERSTER, Der Preß- und Vaterlandsverein von 1832/33. Sozialstruktur und Organisationsformen der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes, Trier 1982.

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vielen Teilen Deutschlands, vor allem aber im Südwesten, Zweigvereine mit insgesamt etwa 5.000 Mitgliedern. Die Stadt Frankfurt am Main stellte mit 410 Mitgliedern den größten Zweigverein. Unter den Mitgliedern gab es zahlreiche ausgesprochen wohlhabende Bürger, die mit hohen Beitragsaufkommen dem Verein eine wichtige finanzielle Grundlage boten.26 Zu diesen Mitgliedern gehörte auch der wohlhabende Weinhändler David Hinkel, der am 26. und 27. Mai auch an dem vom Pressverein organisierten Hambacher Fest teilnahm.27 Auf dem Fest selbst trat der Frankfurter Weinhändler nicht als Redner in Erscheinung. Als aber unmittelbar nach dem Hambacher Fest eine vom Deutschen Bund ausgehende Repressionswelle einsetzte, die Initiatoren des Pressvereins und des Hambacher Festes in Haft genommen wurden und das in der Pfalz ansässige Zentralkomitee seine Arbeit einstellen musste, übernahm Hinkel von Frankfurt aus im Sommer 1832 noch einmal eine wichtige Führungsrolle in der von Verbot und Auflösung bedrohten Organisation. Gerade in Frankfurt machten auch nach dem Hambacher Fest viele Bürger deutlich, wie wichtig für sie der Kampf um die Pressefreiheit war. Der Filialverein des Preßvereins hielt weiterhin regelmäßige Sitzungen ab, zunächst noch in Frankfurt selbst. Als der dortige Senat unter dem Druck der Bundesversammlung Ende Juni 1832 alle politischen Vereine verbot, wich man in das benachbarte, noch zum Kurfürstentum Hessen gehörende Bockenheim aus.28 David Hinkel, der in der Gesetzgebenden Versammlung mit einer Minderheit gegen das lokale Verbot gestimmt hatte,29 unterstützte diese Bestrebungen mit Geld und übernahm wichtige Koordinierungsfunktionen. Obwohl inzwischen auch der Deutsche Bund mit den Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe vom 5. Juli 1832 „Vereine, welche politische Zwecke haben, oder unter anderem Namen zu politischen Zwecken benutzt werden“ verboten hatte,30 half Hinkel tatkräftig mit, die Arbeit des Preß- und Vaterlandsvereins fortzusetzen. Für den 22. Juli 1832 lud das Frankfurter Filialkomitee, das seit längerem in Hinkels Haus seine Sitzungen abhielt, die Vertreter anderer Ortsvereine nach Frankfurt ein, um das verlegte Zentralkomitee neu zu wählen und die Arbeit des Vereins unter den neuen Bedingungen zu koordinieren. Unter den 23 Personen aus verschiedenen deutschen Staaten, die sich nun in Hinkels Haus trafen, waren Jakob Venedey aus Köln, der Darmstädter Advokat Theodor Reh sowie drei Vertreter 26 ROTH, Herausbildung (wie Anm. 23), S. 336 f. 27 Richard SCHWEMER, Geschichte der freien Stadt Frankfurt am Main (1814–1866), Bd. 2, Frankfurt a. M. 1912, S. 513. 28 FOERSTER, Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 25), S. 43. 29 Frankfurter Jahrbücher. Eine Zeitschrift für die Erörterung hiesiger öffentlicher Angelegenheiten, Bd. 1, Nr. 21 vom 9.7.1832, S. 168. 30 Ernst Rudolf HUBER (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, Stuttgart 1961, S. 121.

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aus Thüringen.31 Den Vorsitz der Versammlung führte zunächst Hinkel selbst, später der Mainzer Advokat Georg Christian Strecker. Das Treffen sollte noch Jahre später eine vom Deutschen Bund im Juni 1833 eingesetzte Zentralbehörde beschäftigen, die die Hintergründe des Frankfurter Wachensturms vom 3. April 1833 aufklären sollte. In den Untersuchungsprotokollen wurde betont, dass man Hinkels Haus deshalb für das Treffen ausgewählt habe, weil er ein reicher Mann sei und über ein schönes Anwesen verfüge. Angesichts des „notorisch großen Reichtums“, über den dieser schon „hochbejahrte Mann“ verfüge, sei es für die Behörden nicht gleichgültig gewesen, „ob er die revolutionäre Partei unterstützt“.32 Es ist umstritten, inwieweit schon die Versammlung vom 22. Juli 1832 einen „konspirativen“ Charakter33 hatte. Hinkel selbst stritt in den Verhören diesen Vorwurf ab, indem er aussagte, „er habe an dem Tage einigen Freunden ein Frühstück gegeben, zu welchem diese auch Auswärtige mitgebracht hätten“.34 Er stellte das Treffen eher als rein privates, geselliges Beisammensein von Verwandten und Geschäftsfreunden dar, die zufällig alle Mitglieder des Preßvereins gewesen seien. Deshalb habe man wohl auch über Vereinsangelegenheiten geredet und vor allem die Frage diskutiert, was nach dem Verbot des Vereins mit seinen Geldern geschehen solle. Es seien, so Hinkel weiter, auch keine schriftlichen Einladungen verschickt worden, und es habe auch keine formelle Tagesordnung gegeben.35 Ganz so harmlos, wie es Hinkel später gegenüber der Untersuchungsbehörde des Deutschen Bundes darstellte, war das Treffen aber dann doch nicht. Immerhin ging es den Teilnehmern darum, wie man angesichts der angelaufenen Verfolgungswelle des Deutschen Bundes den Zusammenhang der oppositionellen Kräfte in Deutschland aufrechterhalten und ein weiteres gemeinsames Vorgehen gegen die Repressionspolitik des Bundes koordinieren könnte. So wollte man den Preßverein nicht entsprechend der Bundesbeschlüsse auflösen, sondern von Frankfurt aus in einer lockereren Form weiterführen. Es wurde auch ein neues Zentralkomitee gewählt, das aus vier Frankfurter Vereinsmitgliedern bestand und in Frankfurt auch seinen Sitz haben 31 Vgl. FOERSTER, Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 25), S. 43 f. Bei den thüringischen Vertretern handelte es sich um den Coburger Bäckermeister Andreas Fischer, den Webermeister Ludwig Krug aus dem Thüringer Wald und den Arzt Dr. Gottlob Friedrich Groh aus Rudolstadt. 32 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung vom Jahre 1839, 21. Sitzung vom 16.9.1839, Beilage 3 zu § 282, S. 715 f. 33 So Erich ZIMMERMANN, Für Freiheit und Recht! Der Kampf der Darmstädter Demokraten im Vormärz (1815–1848), Darmstadt 1987, S. 113. 34 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung vom Jahre 1834, 41. Sitzung vom 27.11.1834, Beilage 2 zu § 584, S. 1042d. 35 FOERSTER, Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 25), S. 44.

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sollte. Hinkel gehörte diesem Gremium zunächst nicht an, stand aber zumindest mit zwei Vorstandsmitgliedern, den Advokaten Franz Karl Gaerth und Friedrich Siegmund Jucho, in engerer Verbindung. Darüber hinaus beschloss die Versammlung im Hause Hinkel, dass man publizistisch gegen die Repressionsbeschlüsse des Deutschen Bundes vorgehen sollte. Den Ständeversammlungen der Verfassungsstaaten sollte vorgeschlagen werden, sich gegen die Bundesbeschlüsse zu verwahren und das Volk über seine Rechte, vor allem über das Recht der Steuerverweigerung bei nicht von den Landtagen bewilligten Abgaben aufzuklären. Hierzu sollte der Darmstädter Demokrat Wilhelm Schulz eine Flugschrift verfassen, die auch kurz danach anonym unter dem Titel „Das Recht des deutschen Volkes und die Beschlüsse des Frankfurter Bundestages vom 28. Juni 1832“ in populärer, allgemein verständlicher Sprache erschien.36 Die Bundesbehörden versuchten mehrfach, einen engen Zusammenhang zwischen dem Treffen im Hause Hinkel und dem am 3. April 1833 erfolgten Frankfurter Wachensturm herzustellen, bei dem eine kleine Gruppe von Studenten und jungen Akademikern Stadtwachen besetzten und die Ordnung des Deutschen Bundes umstürzen wollten. Es erscheint jedoch zweifelhaft, dass der rasch niedergeworfene Wachensturm schon seit Sommer 1832 vom Frankfurter Preßverein vorbereitet worden ist. Auch in den Monaten nach dem Treffen im Hause Hinkel beschränkte sich die Arbeit des illegal weiter existierenden Preßvereins zunächst auf die Verbreitung liberal-demokratischer Publizistik. Noch versuchte man einen möglichst legalen Kurs zu steuern.37 Auf der anderen Seite drängte jedoch schon die anhaltende und sich noch verschärfende Repressionspolitik des Deutschen Bundes jene entschiedenen Anhänger des Preßvereins automatisch in die Illegalität, die auch unter den neuen Bedingungen ihren Kampf um Freiheit und deutsche Einheit fortsetzen wollten. Dass ein öffentliches Wirken nicht mehr möglich war, zeigten Treffen in Frankfurter Gasthöfen, an denen auch Hinkel teilgenommen hatte. Das Frankfurter Polizeiamt warf Hinkel und seinen Mitstreitern vor, revolutionäre Schriften verlesen sowie öffentlich gegen die Bundesbeschlüsse protestiert zu haben und verhängte Geldstrafen. Nachdem die Betroffenen Beschwerde einlegten und die Stadt der Tübinger Juristenfakultät das Urteil überließ, wurde „die Strafe gegen den reichen Handelsmann Hinkel“ von 15 auf 5 Gulden herabgesetzt.38 Da Zusammenkünfte in öffentlichen Lokalen verfolgt und bestraft wurden, wurde das Haus von David Hinkel seit Herbst 1832 offenbar zum wichtigsten Ver36 [Martin SCHÄFFER], Vortrag in Untersuchungs-Sachen wider die Teilnehmer an den revolutionären Umtrieben in der Provinz Oberhessen, Gießen 1837/38, in: Reinhard GÖRISCH/Thomas Michael MAYER (Hg.), Untersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831–1834, Frankfurt a. M. 1982, S. 257–346, hier S. 285 f. 37 FOERSTER, Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 25), S. 51. 38 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung vom Jahre 1834 (wie Anm. 34), S. 1042d.

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sammlungsort der oppositionellen Kreise. Damit war im Grunde ein Übergang zu geheimbündlerischen Organisationsformen geschaffen, die Hinkel tatkräftig unterstützte. Im Vorfeld des Wachensturms überwies das Handlungshaus David Hinkel und Winkler einen Wechsel von 313 Gulden über ein Stuttgarter Handlungshaus an den württembergischen Leutnant Ernst Ludwig Koseritz. Dieser war nicht nur in die Frankfurter Aufstandsvorbereitungen eingeweiht,39 sondern zugleich der Anführer einer württembergischen Militär- und Zivilverschwörung. Koseritz und seine Mitstreiter waren der Ansicht, dass politische und gesellschaftliche Veränderungen in Deutschland nur noch auf dem Wege einer Revolution erreicht werden konnten. Sie vertraten ein entschieden demokratischrepublikanisches Programm und setzten angesichts der wachsenden Unzufriedenheit über die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse darauf, dass ein von Teilen des Militärs ausgelöster Aufstand rasch die mittleren Schichten, Bauern und die unteren Schichten mitreißen würde.40 Man hoffte, dass der Deutsche Bund die Brandherde in Frankfurt und Württemberg nicht mehr löschen könnte und sich die Revolution wie ein Schneeballeffekt über ganz Deutschland verbreiten würde. Wie stark Hinkel in solche Überlegungen eingebunden war, lässt sich nicht genau feststellen. Immerhin berichtete der Frankfurter Bürgermeister Georg Friedrich von Guaita Anfang 1833, dass das illegale Zentralkomitee des Preß- und Vaterlandsvereins einen vom Kassierer Hinkel verwalteten Fond von 40.000 Gulden besitze und im Haus von Hinkel eine Druckerpresse stehe. Zudem soll der Verein „300 Stadtwehrmänner an Handen haben und mittelst dieser auf einige Tausend zählen“.41 Vermutlich waren diese Behauptungen angesichts der schwachen Resonanz, die der Wachensturm in der städtischen Gesellschaft schließlich fand, wohl übertrieben. Hinkel, Gaerth und Jucho konnte keine direkte Beteiligung am Wachensturm nachgewiesen werden. Dennoch waren die Verbindungen zu den Aufständischen des gescheiterten Wachensturms und der württembergischen Verschwörung wohl enger, als es gegenüber der Untersuchungskommission des Deutschen Bundes später eingeräumt wurde. Die Teilnehmer am Wachensturm besaßen durchaus Sympathien in wichtigen Teilen der Frankfurter Bürgerschaft und erhielten nach dem kläglichen Scheitern des Unternehmens aus der städtischen Gesellschaft auch Unterstützung bei ihrer Flucht aus Frankfurt. Selbst der Frankfurter Senat verschleppte Untersuchungen zum Umfeld des Wachensturms und zögerte zahlreiche Anklageschriften hinaus, um „gut situierte 39 GÖRISCH/MAYER (Hg.), Untersuchungsberichte (wie Anm. 36), S. 79. 40 Hierzu jetzt ausführlich Gad ARNSBERG, „… über die Notwendigkeit einer deutschen Republik“. Die württembergische Militär- und Zivilverschwörung 1831–1833, Stuttgart 2017. 41 Zitiert nach SCHWEMER, Geschichte (wie Anm. 27), S. 568.

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Bürger, die zahlreich darin verwickelt waren“, nicht zu kompromittieren.42 Man darf deshalb davon ausgehen, dass auch David Hinkel mehr mit dem Wachensturm zu tun hatte, als er später zugab, und der Verdacht der Bundesbehörden nicht ganz unbegründet war. Die Niederschlagung des Wachensturms und die neuen Repressionen des Bundes hielten den mit der radikalen Jugend sympathisierenden Weinhändler auch nicht davon ab, sich an einer neuen Geheimgesellschaft zu beteiligen. Im Herbst 1833 entstand in Frankfurt und Umgebung eine geheime Verbindung unter dem Namen „Union“ oder „Männerbund“, die einen neuen revolutionären Aufbruch und eine deutsche Republik angestrebt haben soll. An der Spitze dieser Verbindung, die sich an der Pariser „Gesellschaft der Menschenrechte“ orientierte, soll neben den Literaten Funck und Freyeisen sowie dem Advokaten Jucho wiederum David Hinkel gestanden haben.43 Hinkel blieb deshalb zunächst im Visier der Untersuchungsbehörden des Deutschen Bundes, allerdings wurde dann schon vor seinem Tod im Jahr 1839 von weiteren Ermittlungen Abstand genommen. Im gesellschaftlichen und politischen Wirken David Hinkels spiegeln sich die Verbindungen zwischen Diskursen der Aufklärung, den Sympathien mit der Französischen Revolution, den Reformbestrebungen der Volksaufklärung und dem politischen Kampf eines entschieden demokratischen linken Liberalismus eindrucksvoll wider.44 Hinkel wuchs in der Reichskammergerichtsstadt Wetzlar auf, in der große Teile des gebildeten Publikums im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution aufgriffen und in Gasthöfen, wie sie Hinkel selbst betrieb, auch diskutierten. In den späten 1790er Jahren entwickelten sich hieraus volksaufklärerische Reforminitiativen, an denen Hinkel aktiv beteiligt war und die er auch an seinem neuen Wohnort Frankfurt fortsetzte. Unter dem Eindruck der neuen politischen Entwicklungen, die mit der allgemeinen Unzufriedenheit über die Defizite der auf dem Wiener Kongress geschaffenen Ordnung zusammenhingen, verstärkte sich nun bei Hinkel aber auch das direkte politische Engagement, das 1832/33 seinen Höhepunkt erreichte. Hinkel war zu der Erkenntnis gekommen, dass das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verfolgte gesellschaftliche Reformprogramm in Deutschland nur unter anderen politischen Rahmenbedingungen durchgesetzt werden konnte. Es ging dabei zum einen um durch Verfassungen garantierte Grundrechte und zum anderen um einen deutschen Einheitsstaat mit Repräsen42 FOERSTER, Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 25), S. 53. 43 GÖRISCH/MAYER (Hg.), Untersuchungsberichte (wie Anm. 35), S. 245–247. 44 Zu diesen Kontinuitäten vgl. Dieter LANGEWIESCHE, Spätaufklärung und Frühliberalismus in Deutschland, in: Eberhard MÜLLER (Hg.), „… aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert. Festschrift für Dietrich Geyer, Tübingen 1989, S. 67–80.

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tation des Volkes, durch den wirtschaftliche Missstände beseitigt und vor allem die von Metternich gesteuerte Repression gegen alle oppositionellen Kräfte beendet werden sollten. Deshalb unterstützte Hinkel auch mit seinem Geld nicht nur entschieden demokratischen Konzepte, wie sie im Preß- und Vaterlandsverein von 1832 und auf dem Hambacher Fest zum Ausdruck kamen, sondern offenbar auch solche Kräfte, die angesichts der Erfahrungen mit dem Deutschen Bund auf eine revolutionäre Lösung setzten. Man darf vermuten, dass diese entschiedene Haltung Hinkels auch auf seine Sympathien mit der Französischen Revolution zurückzuführen war, die der junge Gastwirt schon in den 1790er Jahren in Wetzlar bekundet hatte.

HAGEN RÜSTER DAS ALTERNATIVE GESCHICHTSBILD VOR GERICHT

Das alternative Geschichtsbild vor Gericht Der Prozess gegen die Hessischen Blätter wegen Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen, groben Unfugs und Majestätsbeleidigung 1892

Die Zeitung Hessische Blätter, das Organ der „Hessischen Rechtspartei“, ist eine der ungewöhnlichsten Presseerzeugnisse aus dem breiten Spektrum der politischen Verlautbarungen im Wilhelminischen Kaiserreich. Sie kann weder dem nationalliberalen, eher regierungsnahen und nationalistischen noch dem oppositionellen sozialdemokratischen Umfeld zugerechnet werden. Ebenso hielt sie deutlichen Abstand zur ultramontanen, katholischen Presse, obwohl es durchaus gemeinsame Positionen gab. Als Ausdruck der zuweilen unterschätzten Meinungs- und Pressefreiheit im öffentlich ausgetragenen politischen Diskurs kann auch die Existenz von Publikationsorganen der konservativen Kräfte gelten, die sich in der sogenannten „Rechtspartei“ organisierten und die die aktuellen staatlichen Verhältnisse, insbesondere die preußischen Annexionen von 1866 und die daraus folgende „kleindeutsche“ Reichsgründung, scharf angriffen. Die „Rechtspartei“ vertrat konsequent legitimistische Positionen, die sich im Fall der „Hessischen Rechtspartei“ mit einem „altlutherischen“ Bekenntnis verbanden, das die Vorstellungen von Staat, Politik und Geschichte stark beeinflusste. So bildeten sich hier zusätzliche Reibungsflächen auf dem Gebiet der Kirchen- und Schulpolitik, deren Konflikte ebenfalls in der Presse ausgetragen wurden.1 Die Hessischen Blätter erschienen von 1872 bis 1921. Sie waren vom Herausgeber Wilhelm Hopf als eine Reaktion auf die preußische Annexion des Kurfürstentums Hessen gegründet worden und traten ein für die „Erhaltung und Sicherung der selbständigen Existenz aller deutschen Einzelstaaten, Sühnung dessen, was Gewalt und Zentralismus an der Freiheit und dem Recht deutscher Länder und Fürsten gesündigt haben“. In den Geboten Gottes erkannten sie „die höchste Autorität und den unbedingten Maßstab auch für die Vorgänge in dem öffent-

1

Ausführlich zur Hessischen Rechtspartei, den Hessischen Blättern und auch zu den Hintergründen des hier besprochenen Prozesses: Enno KNOBEL, Die Hessische Rechtspartei. Konservative Opposition gegen das Bismarckreich, Marburg 1975.

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lichen Leben der Völker“. Das Blatt erschien zwei Mal in der Woche und legte den Schwerpunkt auf die „Besprechung politischer Zustände und Ereignisse“.2

Abb. 1: Die Struktur der Presse im wilhelminischen Kaiserreich aus nationalliberaler Sicht. Die Zeitungen der Legitimisten wären neben denen der Katholiken und der Sozialdemokraten im Keller einzuordnen. 2

Hessische Blätter, Probenummer vom 15.6.1872. Wörter und Wortgruppen, die im Original durch Sperrungen hervorgehoben sind, wurden im vorliegenden Beitrag kursiv gesetzt.

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Wer sich mit der Zeitung beschäftigt, stößt zwangsläufig auf die in Greiz seit 1885 erscheinende und vom Greizer Fürsten unterstützte Landeszeitung für das Fürstenthum Reuß Aelterer Linie, die in ihrer „Abonnements-Einladung“ erklärte, sie „vertritt in religiöser Beziehung den positiv-christlichen, in politischer Beziehung den legitimistisch-föderalistischen Standpunkt, weshalb sie in unerschütterlicher Treue zum angestammten Fürstenhause und engeren Heimathlande, wie auch damit zugleich zum gesammten großen deutschen Vaterlande hält“.3 Die einander jeweils politisch nahe stehenden Publikationsorgane bildeten Netzwerke, indem sie Informationen austauschten, Artikel abdruckten und sogar für Abonnenten warben. Die Greizer Landeszeitung empfahl 1896 die folgenden Blätter zum Abonnement: Deutsche Rechtspartei (Melsungen), Mecklenburger Blätter (Ludwigslust), Hessische Blätter (Melsungen), Hessisches Volksblatt (Melsungen), Deutsche Volkszeitung (Hannover), Niedersächsische Zeitung und Wahlblatt (Hannover), Lüchow-Dannenberger Zeitung (Lüchow), Unter dem Kreuz (Celle), Altbraunschweigische Volkszeitung.4 Die Landeszeitung druckte vielfach Kommentare und Grundsatzartikel der Hessischen Blätter ab. Wichtige Themen waren dabei die deutsche Geschichte, die Vorbedingungen der Reichsgründung von 1871 und die Zukunft des deutschen Staatswesens. Mit Greiz verband sich aber noch mehr. Von den thüringischen Kleinstaaten hatten im Krieg 1866 nur Sachsen-Meiningen und Reuß älterer Linie konsequent auf Seiten Österreichs gestanden. Anders als der junge Herzog hatte Fürst Heinrich XXII., der 1867 die Regierung in Greiz übernahm, den preußen- und reichskritischen Kurs von Anfang an beibehalten. Von ihm ist überliefert, er hätte in seinen letzten Lebensstunden geäußert: „Die Fahne der Rechtspartei entsinkt meinen Händen“.5 Als Souverän vertrat er seine politische Überzeugung auch im Bundesrat und nahm die Aufgaben als Landesherr, insbesondere die des Oberhaupts der Landeskirche, gewissenhaft wahr. Das verbreitete negative Urteil über sein politisches Handeln resultiert auch aus der Verkennung seiner Motive als Föderalist und Legitimist.6 Es verwundert nicht, dass einige der höheren Staatsbeamten in Greiz aus den nach 1866 von Preußen annektierten Bundesstaaten stammten. Nachdem ihm das Königliche Konsistorium in Kassel die weitere seelsorgerische Tätigkeit untersagt hatte, fand der hessische, streng lutherische Theologe Johann Wilhelm Gerhold in Greiz seinen neuen Wirkungskreis. Hochgeschätzt vom Fürsten wurde er 1871 Lehrer am dortigen 3 4 5 6

Landeszeitung für das Fürstenthum Reuß Aelt. Linie (im Folgenden: Landeszeitung) vom 1.1.1896. Ebd. Friedrich SCHNEIDER, Die ehemalige Reußische Landeszeitung, in: Vergangenheit und Gegenwart. Heimatgeschichtliche Blätter der Greizer Zeitung 23/1936. Vgl. Hagen RÜSTER, Der Fürst als Skandal, in: Stefan GERBER (Hg.), Das Ende der Monarchie in den deutschen Kleinstaaten, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 41–62.

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Seminar, 1879 dessen Direktor, später Superintendent, Stadtpfarrer und Oberkonsistorialrat.7 Auch der Jurist Julius Martin, der in dem Prozess gegen den Herausgeber der Hessischen Blätter als Verteidiger auftrat, hatte in Kassel aus politischen Gründen zunächst keine Approbation als Rechtsanwalt erhalten und wurde 1874 in Greiz von Heinrich XXII. in den Gerichtsdienst übernommen. Hier machte er Karriere, wurde Richter am Amtsgericht und Landtagsabgeordneter, kehrte aber 1880 wieder in seine alte Heimat zurück.8 Auf Gerhold gingen möglicherweise einige Artikel der Landeszeitung zurück, die die Tagespolitik und darüber hinaus die Geschichte und Zukunft Deutschlands kommentierten, wobei immer auch theologische Aspekte eine Rolle spielten. Im Februar 1892 druckten die Hessischen Blätter Ausschnitte eines größeren Aufsatzes „Wider die falsche Prophetie“ aus der Greizer Landeszeitung ab, der sich mit christlicher Ethik und Politik beschäftigte.9 Es folgte noch ein Beitrag aus Greiz, der den bevorstehenden Auftritt des ehemaligen Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker in der Residenzstadt zum Anlass nahm, Betrachtungen über den falschen Konservatismus anzustellen und vorschlug, von dem Besuch Abstand zu nehmen: „Sollte aber Herr Stöcker unter ausdrücklicher Erklärung, daß er mit den Principien des von Gottes Geboten für das Gebiet der hohen Politik abgefallenen preußischen Conservatismus nichts mehr zu tun habe, in Greiz ‚christliche Weltanschauung‘ mit uns verbreiten zu helfen gewillt sein, so sei er willkommen geheißen. Bis dahin wird aber noch mancher Tropfen Waßers die Elster hinabfließen.“10 Prompt meldeten sich die Greizer Nationalliberalen zu Wort und beklagten anlässlich der Bemerkung des Reichskanzlers Caprivi im Preußischen Abgeordnetenhaus: „National ist, abgesehen von der Sozialdemokratie, Gott sei Dank, ganz Deutschland“, dass dies bei den „national gesinnten Elementen unseres Fürstenthums“ nur Kopfschütteln hervorrufen kann. „Denn nirgends findet die Schadenfreude über die dem jungen Reiche erwachsenen Schwierigkeiten einen stärkeren Ausdruck als in der ‚Landeszeitung für das Fürstentum Reuß ä.L.‘ Da schreibt anscheinend ein Theologe ganze Bände von Leitartikeln über die politischen Freveltaten und Gottlosigkeiten, welche zur Abschaffung des seligen Bundestages und zur Einigung der hadernden deutschen Stämme geführt haben. […] Auf die Nachricht von der Ankunft Stöckers hierselbst erhebt die ‚Landeszeitung‘ ein Zetergeschrei, über die ‚sogenannte‘ konservative Partei Preußens, die seit dem Jahre 1866 nicht mehr wirklich konservativ sei, sondern sich revolutionärer Handlungen schuldig gemacht habe.“ 7

Paul HELLER, Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 4: Die reußischen Herrschaften, Leipzig 2004, S. 129; Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Greiz (im Folgenden: LATh-StA Greiz), n.Rep.C, II Aa Nr. 58; III 1 Nr. 94; III 2a Nr. 34; IVa Nr. 16. 8 KNOBEL, Rechtspartei (wie Anm. 1), S. 72; LATh-StA Greiz, n.Rep.A, Vc Nr. 136. 9 Hessische Blätter vom 20.2.1892; Landeszeitung vom 13., 14. u. 16.2.1892. 10 Hessische Blätter vom 27.2.1892; Landeszeitung vom 17.2.1892.

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Abb. 2: „Liberaler Tiefsinn“, Landeszeitung für das Fürstenthum Reuß Aelt. Linie vom 1. März 1892

Darauf ging die Landeszeitung unter der Überschrift „Liberaler Tiefsinn“ ausführlich ein und stellte ironisch fest: „Wir können jedenfalls nicht national sein, weil wir dem Grundsatze huldigen: Justitia est fundamentum regnorum, und weil wir mit unserem beschränkten ‚Kantönligeist‘ für die Selbständigkeit der deutschen Volksstämme im Rahmen der deutschen Reichsverfassung einzutreten wagen“.11 Natürlich kommentierte die Landeszeitung auch die aktuelle Rede des Kaisers beim Festbankett des brandenburgischen Provinziallandtages und ergänzte gar dessen Aufforderung, „daß die missvergnügten Nörgler lieber den deutschen Staub von 11 Landeszeitung vom 1.3.1892.

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ihren Pantoffeln schüttelten“ durch eine Bemerkung der Redaktion: „Diese Äußerungen können sich die auch hier seit 1866 aufgetauchten Nörgler und systematischen Verhetzer sowie die obskuren Schmähartikelfabrikanten, welche die Spalten auswärtiger Blätter in nichtswürdiger und frivoler Weise über unser engeres Vaterland etc., in dem die Betreffenden sich doch wohler fühlen als anderswo, füllen, ‚hinter die Ohren schreiben‘ “.12 In dieser etwas aufgeheizten Atmosphäre ging die kurze Meldung vom 28. Februar 1892 fast unter: „Heute vor acht Tagen stand der Redacteur Hopf der in Melsungen erscheinenden ‚Hessischen Blätter‘, des Organs der Hessischen Rechtspartei, vor der hiesigen Strafkammer, angeklagt wegen Majestätsbeleidigung und Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen, die in einem Artikel ‚Deutsch und Preußisch‘ enthalten sein sollten. Derselbe enthielt eine Betrachtung der brandenburgisch-preußischen Geschichte von 1648–1863, die darauf hinausläuft, daß Preußen in Deutschland immer selbstsüchtige Ziele verfolgt habe. Der Vertheidiger, der derselben Partei angehörige Rechtsanwalt Martin, trat für das Recht der freien Geschichtsforschung ein und wies darauf hin, daß von einer Majestätsbeleidigung, da sich der Artikel nur auf frühere Herrscher beziehe, keine Rede sein könne. Das Urtheil, welches erst heute publiziert wurde, lautet auf Freisprechung des Angeklagten. Der Staatsanwalt hatte 4 Monate Gefängniß beantragt.“13

Die nationalliberale Greizer Zeitung verzichtete erwartungsgemäß auf jegliche Nachricht. Dagegen konnten die Hessischen Blätter melden: „Unter der Überschrift ‚Ein sensationeller Pressprocess um Oesterreichs und Preußens Geschichte‘ unterzieht das Wiener ‚Vaterland‘ unsern jüngsten Pressprocess einer Besprechung von österreichischem Standpunkte aus“.14 Und Ludwig Quidde warnte in seiner Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft nach dem Freispruch: „Der Versuch, einer historischen Erörterung mit dem Strafgesetzbuch zu begegnen, ist also einstweilen missglückt; aber der Angriff ist von den Gerichten und der öffentlichen Meinung doch nicht so entschieden zurückgewiesen worden, dass eine Wiederholung, vielleicht mit besserem Erfolge, ausgeschlossen wäre und dass uns nicht die Verpflichtung obläge, an einem Orte, wo die Interessen historischer Forschung vertreten werden sollen, die Frage zur Sprache zu bringen. […] Wenn man die indirecte, historische Kritik staatlicher Einrichtungen mit dem Strafgesetz bedroht, so legt man der Geschichtswissenschaft gerade dort, wo sie sich mit lebendigen Interessen am nächsten berührt und der grössten Freiheit bedarf, die engsten Fesseln an, und wenn Bestimmungen, deren Zweck es ist, die bestehenden öffentlichen Institutionen vor Verunglimpfung im politischen Kampf zu schützen, erst einmal auf historische Betrachtungen angewendet werden, so kann das leicht zu den ungeheuerlichsten Consequenzen führen. […] Es wäre auch in hohem Masse gefährlich, wenn man sich dabei beruhigen wollte, dass im Sinne des 12 Landeszeitung vom 27.2.1892. 13 Landeszeitung vom 28.2.1892. 14 Hessische Blätter vom 19.3.1892.

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Gerichtsspruches die historische Auffassung freigegeben ist, während die erdichteten oder entstellten Thatsachen das Kriterium der Strafbarkeit bilden würden; denn vielfach ist ja eben noch die Feststellung der Thatsachen die Aufgabe der Forschung, und in wissenschaftlichen Polemiken sieht gar oft der Eine Entstellungen und Erdichtungen, wo für den Anderen sonnenklare Thatsächlichkeit besteht.“15

Gegen die Hessischen Blätter war schon mehrfach juristisch vorgegangen worden. Aber auch hier galt, dass die positive Beeinflussung der Presse durch regierungsgenehme Nachrichten mehr Erfolg zeitigte als Repressionen. Im Fall der Hessischen Blätter konnte ersteres kaum verfangen, so war man schließlich geneigt, die Zeitschrift möglichst zu ignorieren. Das gelang 1892 nur deshalb nicht, weil der Kaiser selbst von dem Artikel Kenntnis erlangt und ein Einschreiten gefordert hatte. Die Staatsanwaltschaft in Kassel war darüber wohl nicht sehr glücklich, da abzusehen war, dass eine Verurteilung nur schwer zu erreichen war. So wurde auch zunächst nicht an eine „Majestätsbeleidigung“ gedacht, da Verstorbene nicht beleidigt werden können und der gegenwärtige Kaiser im Artikel keine Erwähnung fand.16 Am 10. Mai 1891 erhob dann die Staatsanwaltschaft beim Königlich Preußischen Landgericht Kassel Anklage gegen den Redakteur Wilhelm Hopf, durch den in Nr. 1707 und 1708 der Hessischen Blätter erschienenen Artikel „Deutsch und Preußisch“ Vergehen und Übertretungen nach §§ 131 und 360, Nr. 11 StGB begangen zu haben.17 Die beiden Paragraphen lauteten: § 131:

Wer erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend, dass sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.

§ 360, Nr. 11:

Mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder mit Haft wird bestraft: […] 11) wer ungebührlicherweise ruhestörenden Lärm erregt oder wer groben Unfug verübt.18

Der kleine, zweiteilige Aufsatz, der nicht von Hopf selber stammte, für den er aber die Verantwortung zu übernehmen hatte, beschäftigte sich mit der 15 Ludwig QUIDDE, Die Freiheit historischer Forschung, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1892), Bd. 1, S. 166 f.; Hessische Blätter vom 18.5.1892. 16 KNOBEL, Rechtspartei (wie Anm. 1), S. 110–126. 17 Hessische Blätter vom 6.8.1892. 18 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, RGBl. 1871, S. 127–205, in der Fassung des Gesetzes, betreffend die Abänderung von Bestimmungen des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 und die Ergänzung desselben. Vom 26. Februar 1876, RGBl. 1876, S. 25–39.

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brandenburgisch-preußischen Geschichte zwischen 1648 und 1863, wobei besonders kritisch und durchaus polemisch auf die Personen des „Großen Kurfürsten“ und „Friedrich des Großen“ eingegangen wurde. In seiner Verteidigung bezeichnete Hopf den „Zweck des incriminierten Artikels als die überhaupt zu den Aufgaben der ‚Hess. Blättern‘ gehörige Verteidigung gegen die kleindeutsche Geschichtsschreibung der Droyssen, v. Sybel, v. Treitschke usw., welche einen Rechtstitel für die preußischen Annexionen in der Weise zu construieren suchten, daß sie die nichtpreußischen deutschen Fürsten und Staaten seit dem dreißigjährigen Kriege als Verderber Deutschlands, BrandenburgPreußen dagegen als den eigentlichen Träger des deutschen Gedankens und einer wahrhaft deutschen Politik darzustellen suchten.“19

Im Kampf um das vorherrschende Geschichtsbild, der mit Blick auf die breite Öffentlichkeit vor allem in der Presse ausgetragen wurde, hatte die „kleindeutsche“ nationalistische Geschichtsschreibung im Vergleich zur Selbstdarstellung Frankreichs oder Englands hinsichtlich der nationalen Mythenbildung, so meint man bisweilen bis heute, etwas Nachholbedarf. Die Geschichte des Alten Reiches, die staats- und verfassungsrechtlichen Zustände, die Traditionen, die „wohlerworbenen“ Rechte und der „Volkscharakter“ der Deutschen entsprachen nicht so eindeutig einer „Nationalgeschichte“, wie sie sich vor allem die nationalliberale Partei für den neuen zentralisierten Nationalstaat gewünscht hätte. Insbesondere gab es ein Legitimationsproblem, indem die überlieferte Kaiserwürde nicht an das Haus Hohenzollern gefallen und Wilhelm I. lediglich „Deutscher Kaiser“ und nicht „Kaiser von Deutschland“ war. Auf dieses grundlegende Problem hinzuweisen wurde die „großdeutsche“ Geschichtsschreibung ebenso wenig müde, wie es das Anliegen der Gegenseite war, gerade die Hohenzollernfürsten und ihre Politik in der Vergangenheit als segensreich für die „Nationsbildung“ hinzustellen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Überzeugung von einer preußisch dominierten Nationalgeschichte weithin durchgesetzt und konnte als weitgehender gesellschaftlicher Konsens durchaus im Sinne der Regierungspolitik betrachtet werden. Dem widersprach grundsätzlich auch nicht die Sozialdemokratie, die die Herausbildung von Nationalstaaten in ihrer Geschichtstheorie für eine Notwendigkeit hielt. Das legitimistische „großdeutsche“ Geschichtsbild stellte dagegen zunehmend die Meinung einer oppositionellen Minderheit dar. Diese zählte zwar auf Grund ihrer prinzipiellen monarchischen Überzeugung und ihres christlich-konservativen Weltbildes nicht zu den „Umsturzparteien“, wurde aber als „reichsfeindlich“ oder „fortschrittsfeindlich“ bekämpft.

19 Hessische Blätter vom 24.2.1892.

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Abb. 3: Ausgabe mit dem Artikel „Deutsch und Preußisch“, Hessische Blätter vom 14. Januar 1891

Was die moralische Empörung der Öffentlichkeit über den Artikel „Deutsch und Preußisch“ anging, so hatte man sie mehrheitlich auf seiner Seite, eine andere Sache war es, das geltende Strafrecht anzuwenden. Um vor Gericht eine Verurteilung nach § 131 zu erreichen, musste die Staatsanwaltschaft nachweisen,

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dass es in der Geschichte Tatsachen, also unzweifelhafte Wahrheiten gibt, die zudem im inkriminierten Artikel wissentlich entstellt wurden. War dies schon eine kaum lösbare Aufgabe, so blieb noch der Beweis einer auf diese Weise beabsichtigten Verächtlichmachung gegenwärtiger staatlicher Einrichtungen. Die Souveränität des preußischen Staates, verkörpert im Monarchen, erschien der Staatsanwaltschaft letztlich als das einzig Verbindende zwischen der im Artikel diskreditierten Vergangenheit und der Gegenwart, weshalb sie den Begriff der staatlichen Einrichtung auf die relativ abstrakte Staatssouveränität ausdehnen musste. Das Motiv zur Entstellung der „Tatsachen“, die der Redakteur als gebildeter Mann auf jeden Fall als solche erkennen musste, so argumentierte die Staatsanwaltschaft, sei ein politisches, denn: „Seit einer Reihe von Jahren verfolgen die ‚Hess. Bl.‘ die Tendenz, Preußens Regenten, vor allem den großen Kurfürsten und den großen König, in historischer Darstellung, gestützt auf preußenfeindliche Schriftsteller und mit unverkennbarer Fälschung der Geschichte herabzusetzen, zu schmähen und zu beschimpfen und die Ehre des preußischen Staates herabzuwürdigen. Der Zweck ist kein anderer als […] in der Gegenwart sowie der Zukunft Misstrauen und Unfrieden zwischen Fürst und Volk zu säen und Preußens Politik in Misskredit zu bringen.“20

Die grobe Ungebühr, die nach § 360, Nr. 11 geeignet sein musste, die Öffentlichkeit zu beunruhigen und die öffentliche Ordnung zu stören,21 bestand nach Ansicht der Staatsanwaltschaft darin, dass es sich bei dem Text um „eine maßlose, zielbewußte Schmähung früherer Mitglieder des preußischen Könighauses“ handele: „Er verletzt die Gefühle und Empfindungen eines jeden rechtlich denkenden Menschen und Patrioten, ruft Entrüstung hervor und trägt dazu bei, die in zugespitzten politischen Gegensätzen lebende Bevölkerung zu erregen, das Vertrauen des Volkes zum Staatsoberhaupt und zur Staatsleitung zu erschüttern und die öffentliche Ordnung durch Verhetzung des Volkes gegen seinen Fürsten zu verletzten.“22 Mit der Erwiderung auf die Anklageschrift verwahrte sich der Beschuldigte zu allererst dagegen, „dieser preußischen Schule von vornherein, die Palme ‚der objektiven historischen Darstellung‘ zuzuerkennen“. Ausführlich unter Angabe zahlreicher Autoren und Autoritäten ging er auf die einzelnen Vorgänge ein und behauptete schließlich, „daß auch nicht eine einzige der von dem incriminierten Artikel aufgeführten und von der Anklageschrift angefochtenen geschichtlichen

20 Hessische Blätter vom 6.8.1892. 21 Vgl. Friedrich Oskar von SCHWARZE, Commentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Leipzig 1871, S. 681; Justus OLSHAUSEN, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1897, S. 1445 f. 22 Hessische Blätter vom 6.8.1892.

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Tatsachen entstellt oder gar erdichtet sei.“23 Damit wäre der § 131 bereits nicht mehr erfüllt. Der § 360, Nr. 11 würde sich logischerweise auch erledigen, wenn man nicht ernsthaft diskutieren wolle, inwieweit es sich bei der Verbreitung historischer Wahrheiten um groben Unfug handele. Der Beschuldigte verwies zudem auf die fehlende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung. Das Landgericht Kassel lehnte am 11. Juli 1891 die Eröffnung der Hauptverhandlung ab. Begründet wurde die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass sich die kritischen Ausführungen im betreffenden Artikel ausschließlich gegen die ehemaligen preußischen Herrscher und nicht den Staat als solchen richteten und darüber hinaus kein direkter Bezug zum Preußen der Gegenwart hergestellt wurde. Eine solche Schlussfolgerung dürfe auch nicht aus dem bekannten politischen Standpunkt des Redakteurs gezogen werden. Um dessen Hauptargument, dass nämlich die Geschichte nicht entstellt worden sei, konnte das Gericht einen Bogen machen, da die Tatbestandsmerkmale des § 131 gleichwertig waren. Um „groben Unfug“ könne es sich aber schon deshalb nicht handeln, da eine Beunruhigung der Öffentlichkeit auf Grund der geringen Auflagenhöhe der Zeitung unmöglich sei.24 Auch hier hätte der Redakteur sicher lieber etwas anderes gehört, allein das Ergebnis war dasselbe. Dagegen legte der Staatsanwalt Beschwerde ein und am 21. Oktober entschied der Strafsenat des Oberlandesgerichts in Kassel nach Anhörung des Oberstaatsanwalts, dass das Hauptverfahren eröffnet und die Sache zur Verhandlung an das Landgericht verwiesen werde. Der Redakteur sei sehr wohl hinreichend verdächtig, mit seinem Artikel gegen § 131 verstoßen und darüber hinaus Seine Majestät König Wilhelm II. von Preußen beleidigt und somit auch § 95 StGB verletzt zu haben. Dagegen hielt man den Vorwurf des „groben Unfugs“ für unbegründet, da eine unmittelbare Verletzung der Ordnung und Belästigung des Publikums nicht erkennbar sei, obwohl, wie das Reichsgericht festgestellt hatte, die Presse sehr wohl „groben Unfug“ treiben könne.25 Entscheidend sei, dass „die Continuität der preußischen Staatsregierung“ jene „Verächtlichmachung auch auf die gegenwärtige Staatsregierung wirken“ lasse, worauf bei der preußenfeindlichen Haltung der Hessischen Blätter auch die Absicht des Angeklagten gerichtet gewesen sei. Dazu hatte dieser „objektiv entstellte“ Tatsachen wissentlich verbreitet. Die „herabwürdigenden Urteile“ über einzelne Herrscher könnten dagegen nicht als Angriffe auf das Königtum selbst betrachtet werden, seien aber unter „dem Gesichtspunkt der Majestätsbeleidigung erheblich“. Durch die Beschimpfung seiner Vorfahren, „darunter die größten und von Sr. Majestät hochgeschätzten Herrscher Preußens“ müsse auf die Absicht 23 Hessische Blätter vom 10.8.1892. 24 Hessische Blätter vom 20.8.1892. 25 Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 19, S. 296.

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einer Ehrverletzung Wilhelms II. geschlossen werden.26 Der Paragraph, auf den sich diese Argumentation stützte, lautete: § 95: Wer den Kaiser, seinen Landesherrn, oder während seines Aufenthalts in einem Bundesstaate dessen Landesherrn beleidigt, wird mit Gefängnis nicht unter zwei Monaten oder mit Festungshaft von zwei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Neben der Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bekleideten öffentlichen Ämter, sowie der aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte erkannt werden.27 Die Verhandlung vor dem Königlichen Landgericht in Kassel wurde für den 19. Februar 1892 angesetzt. Der außerordentlich große Andrang des Publikums konnte nicht im Interesse der Staatsanwaltschaft sein. Deren Antrag, die Öffentlichkeit generell ausschließen zu lassen, wurde vom Gericht abgelehnt. Im Verlauf der Verhandlung ging es darauf lediglich hinsichtlich der Diskussion über obszöne Einzelheiten aus dem Leben Friedrichs II. ein. Dies hatte später noch ein Nachspiel, indem die Nr. 1866 der Hessischen Blätter in der Wohnung des Herausgebers, in der Druckerei sowie in den Gastwirtschaften der Stadt beschlagnahmt wurde, in der über den betreffenden Abschnitt der Verhandlung berichtet worden war. Die Hessischen Blätter konnten die Gelegenheit nutzen, ausdrücklich daran zu erinnern, dass „die dort angeführten Quellenbeweise sämtlich schon in den Nummern 1261, 1264 und 1266 der ‚Hess. Blätter‘ vom Jahre 1886 in einem Aufsatze ‚Zur Characteristik Friedrichs II. Königs von Preußen‘ abgedruckt wurden, ohne damals irgendwo, nicht einmal bei der Kgl. Staatsanwaltschaft, sittliches Aergernis zu erregen.“28 Um eine Verurteilung auf Grund § 131 zu erreichen, mussten nun doch „erdichtete oder entstellte Tatsachen“ nachgewiesen werden. Da es hier um historische Ereignisse ging, die der Beurteilung durch die historische Forschung unterlagen, bestellte die Staatsanwaltschaft mit dem verdienstvollen Historiker und Archivar Professor Reinhold Koser aus Bonn einen Sachverständigen, der als kompetenter Fachmann und preußischer Patriot galt. Als Wissenschaftler lag diesem allerdings jede Preußenverherrlichung fern und zu seinem späteren Lebenswerk gehört letztlich die Überwindung der „borussischen Geschichtslegende“.29 Der Angeklagte übernahm den „historischen“ Teil seiner Verteidigung selbst. Ausgehend von der Feststellung: „Es kann unmöglich der Beruf irgendeines Gerichtshofes sein, durch seinen Spruch die objektive Richtigkeit 26 27 28 29

Hessische Blätter vom 20.8.1892. Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (wie Anm. 18). Hessische Blätter vom 17.8.1892. Vgl. Bernhard vom BROCKE, Koser, Reinhold, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 12, Berlin 1980, S. 613–615.

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der geschichtlichen Vorgänge und der Beurteilung ihrer Beweggründe und Folgen zu entscheiden. Das wäre das Grab aller und jeder Geschichtswissenschaft“,30 konzentrierte er sich darauf, den Nachweis zu erbringen, dass seine Quellen seriös und glaubwürdig waren und er auf keinen Fall davon ausgehen musste oder auch nur ahnen konnte, es handele sich nicht um die Wahrheit. Die Beweisaufnahme und Vernehmung des Angeklagten erfolgte in der Weise, „daß demselben zunächst Gelegenheit gegeben wurde, sich über die einzelnen Abschnitte des incriminierten Artikels im Zusammenhang zu äußern. War der Angeklagte mit seinem Vortrag über einen solchen Abschnitt zu Ende, so folgte die Replik des Sachverständigen und daran knüpfte sich je nach Umständen eine längere oder kürzere Diskussion zwischen beiden, in welche dann auch der Präsident, der Staatsanwalt und der Verteidiger von den verschiedenen für sie maßgebenden Gesichts-Punkten aus eingriffen.“31

Bedauerlicherweise wurde die Diskussion nicht mitstenographiert. Die Hessischen Blätter nutzten dennoch die Gelegenheit, ihre historische Argumentation in größerer Ausführlichkeit im Druck erscheinen zu lassen. Dies schon deshalb, „da einzelne Kasseler Blätter einseitige und tendenziöse Berichte über die Verhandlung veröffentlicht haben; so namentlich ‚Tageblatt und Anzeiger‘, dessen Referat leider auch in die ‚Frankfurter Zeitung‘ übergegangen ist“.32 Nach dem Freispruch und dem Verwerfen der Revision durch das Reichsgericht veröffentlichten die Hessischen Blätter unter der Überschrift „Die brandenburgisch-preußische Geschichte von 1648 bis 1863 vor Gericht“ eine ganze Reihe von Schriftstücken des Prozesses, so dass man sich einen detaillierten Überblick über dessen Verlauf und die juristischen Entscheidungen verschaffen kann. Es handelt sich um die Anklageschrift, die Erwiderung auf diese, den Beschluss und die Begründung des Landgerichts zur Ablehnung einer Verhandlung, die Eröffnung der Hauptverhandlung durch das Oberlandesgericht, die Anberaumung des Termins, die Selbstverteidigung des Angeklagten, das Plädoyer des Verteidigers sowie Urteil und Verwerfen der Revision mit den jeweiligen Begründungen. Am Ende des ersten Teils der Verhandlung, während der man den Inhalt des Artikels einer eingehenden Prüfung unterzogen hatte, konstatierte der Sachverständige Koser die voneinander abweichenden Geschichtsbilder und machte deutlich, dass er die Meinung des Angeklagten nicht teilte. Jedoch hatte er prinzipiell festzustellen, dass die Schlussfolgerungen und Interpretationen des betreffenden Artikels nicht aus erdichteten oder entstellten Tatsachen gefolgert waren. Nach einer Pause wurden die Plädoyers gehalten. Der Staatsanwalt „lieferte in seiner einstündigen Rede eine mit schneidiger Verve vorgetragene rhetorische Umschreibung der Anklageschrift und des Oberlandesgerichtsbeschlußes, er zog auch die 30 Hessische Blätter vom 27.8.1892. 31 Hessische Blätter vom 24.2.1892. 32 Ebd.

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Hessische Rechtspartei und ihre ‚bekannten Ziele‘ herbei, legte dem Angeklagten ans Herz, nicht durch derartige Erschütterungen der preußischen Autorität der Sozialdemokratie Waßer auf die Mühlen zu liefern […] und schloss mit dem Antrage, den Angeklagten zu vier Monaten Gefängnis zu verurteilen.“33

Der anderthalbstündige Vortrag des Verteidigers ist eine brillante Gerichtsrede, die nicht nur in mustergültiger juristischer Deduktion, wie man es damals nannte, die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale prüfte und die Unanwendbarkeit der §§ 131 und 95 zur Verurteilung des Angeklagten begründete, sondern generell die Freiheit jeder, insbesondere jedoch die der oppositionellen, nicht immer mehrheitsfähigen und regierungskritischen, wissenschaftlichen Forschung und Meinung und deren Publikation gegen strafrechtliche Verfolgung in Schutz nahm und dabei auf keine Pointe verzichtete. Zur Tatbestandsmäßigkeit des § 131 stellte der Verteidiger zunächst in Frage, ob überhaupt Tatsachen behauptet wurden und nicht nur Urteile und Ansichten.34 Insofern es sich nun um jene handeln sollte, so seien sie zumindest nicht entstellt worden. Denn: „Solange in wissenschaftlichen Kreisen noch gegensätzliche Anschauungen vertreten werden und sogar von verschiedenen Geschichtsschulen geredet werden konnte, welche über die Richtigkeit ihrer geschichtlichen Auffaßung streiten, kann den Gerichten nicht zugemutet werden, die eine oder andere geschichtliche Auffassung sich in ihren Urteilen zu eigen zu machen und die historische Wahrheit im Wege rechtskräftigen Urteils festzustellen. […] Sollte demnächst die Sache an das Reichsgericht gelangen, so würden wir, wenn es nach der Ansicht der Staatsanwaltschaft ginge, erleben müßen, daß durch das Urteil des vierten Strafsenats oder vielleicht auch durch ein Urteil der vereinigten Strafsenate die geschichtliche Wahrheit über die Entstehung des siebenjährigen Krieges oder über den Abschluß des Basler Friedens endgültig festgestellt wird. Ich meine, man brauche derartige Folgen sich nur klar zu machen und sie auszusprechen, um ihre völlige Verkehrtheit zu erkennen.“35

„Sollte aber wider mein Erwarten der h. Gerichtshof dahin gelangen, daß er über die Wahrheit oder Unwahrheit der in dem incriminierten Artikel enthaltenen Behauptungen befinden zu müßen glaubt“, so solle er neben einem Vertreter der sogenannten „kleindeutschen Geschichtsschule“ auch einen „Historiker anderer Richtung, etwa den Herrn Hofrat Onno Klopp, über die streitigen Fragen vernehmen.“36 Dies alles könne sich das Gericht nach Meinung des Verteidigers aber ohnehin sparen, denn in subjektiver Hinsicht sei in der Verhandlung klar geworden, „daß der Angeklagte die von ihm aufgestellten Behauptungen, mögen sie nun 33 34 35 36

Ebd. Vgl. OLSHAUSEN, Kommentar (wie Anm. 21), S. 527. Hessische Blätter vom 28.9.1892. Hessische Blätter vom 28.9.1892; Hessische Blätter vom 1.10.1892.

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wahr oder falsch sein, nicht wider beßeres Wißen, sondern in der festen Überzeugung, daß sie wahr sind, gemacht hat […] und daß, wie der Herr Sachverständige bestätigt hat, die dem Angeklagten zum Vorwurf gemachten Ansichten von zahlreichen und angesehenen Historikern geteilt werden.“ Und „so würde man folgerichtig dahin gelangen, auch die Gewährsmänner des Angeklagten, darunter Männer wie Schlosser, Gervinus, Ludwig Häußer und andere der wißentlichen Verbreitung erdichteter und entstellter Tatsachen zu beschuldigen. Der Herr Statsanwalt hätte um so mehr Anlaß gehabt, mit dem Vorwurf der Erdichtung und Entstellung von Tatsachen vorsichtig zu verfahren, weil es ihm selbst in der Anklageschrift passiert ist, daß er eine Tatsache in Abrede gestellt hat, welche zweifellos wahr und geschichtlich beglaubigt ist.“

Es ging um den „Haager Vertrag“ und die Stellung preußischer Truppen an England und Holland. Dem Verteidiger sei nun dabei „niemals auch nur von Ferne der Gedanke gekommen, daß der Herr Statsanwalt im Interesse der Anklage die Existenz des Haager Vertrags wider beßeres Wißen habe in Abrede stellen wollen; aber […] dieser Vorgang liefert einen schlagenden Beweis dafür, daß man auch bei bestem Willen und bei bester allgemeiner Bildung historische Tatsachen falsch darstellen oder ableugnen kann.“37

Ein letztes Merkmal des § 131 lag schließlich in der Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen. Dem Verteidiger entging nicht der Unterschied zwischen dem „Königtum“ des Eröffnungsbeschlusses und der „Souveränität“ der Anklageschrift, wo doch dahingestellt bleiben musste, „ob die Souveränität eine Statseinrichtung im Sinn des § 131 des St.G.B., und nicht viel mehr eine jedem State mit Notwendigkeit innewohnende Eigenschaft ist.“ Zum Vorwurf der „Preußenfeindlichkeit“, die das Motiv jenes Angriffs sein sollte, hatte er allerding etwas mehr zu sagen: „Aber ich behaupte, daß der Vorwurf der Preußenfeindlichkeit, so wie er erhoben und gemeint ist, jeglicher Begründung entbehrt, und daß vielmehr der Angeklagte geradezu gegen die von ihm in den ‚Hessischen Blättern‘ vertretenen Grundsätze und gegen die Anschauungen seiner Partei handeln würde, wenn er die Souveränität des preußischen States oder des preußischen Königtums verächtlich machen wollte. Die ‚Hessischen Blätter‘ bekämpfen entschieden und unablässig die Politik, welche der preußische Stat im Jahre 1866 und später verfolgt hat, sie bekämpfen die Annexionen und alle ihre Consequenzen, aber sie bekämpfen keineswegs den preußischen Stat und das preußische Königtum als solches. […] Zum Beweis für diese Behauptung darf ich mich wol darauf berufen, daß eine Reihe von Männern, deren preußischer Patriotismus billig über jeden Zweifel erhaben ist, zu den Freunden und Mitarbeitern der ‚Hessischen Blätter‘ seit den ersten Zeiten ihres Bestehens gezählt haben. Ich nenne vor allem den verstorbenen

37 Ebd.

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Publicisten Constantin Frantz und den gleichfalls verstorbenen Kgl. Pr. Major Hermann von Gauvain.“38

Sogar die Zugehörigkeit Kurhessens zum preußischen Staat könne nicht als eine mit dem Artikel angegriffene Staatseinrichtung betrachtet werden, da jener nur geschrieben wurde, „um eine einzelne, nach unserer Ansicht freilich unglaublich törichte Begründung zu widerlegen, durch welche man von mancher Seite die Einverleibung hat rechtfertigen wollen. Nicht selten hat man zur Rechtfertigung der Annexionen von 1866 sich auf die angebliche Verderbnis der damals enttronten deutschen Fürstenhäuser und andererseits auf die unvergleichliche Vortrefflichkeit des preußischen Königshauses berufen.“39

Nun wandte sich der Verteidiger § 95, der Majestätsbeleidigung, zu. Hier hatte die Rechtswissenschaft schon klar gemacht, dass Verstorbene nicht beleidigt werden können. Andererseits verstand es sich von selbst, dass durch das Beschimpfen von Vorfahren, insbesondere der Eltern, jedermann beleidigt werden konnte. Nun fuhr der Verteidiger möglicherweise genüsslich fort: Eigentlich könne es ein Beliebiger sein, solange nur erkennbar ist, „daß diese Beleidigung und Beschimpfung nicht auf den dabei mit Namen Genannten sondern vielmehr auf einen nicht genannten Dritten gemünzt sei; es gilt auch auf diesem Gebiete die Wahrheit, die ein bekanntes Sprüchwort in die derben Worte faßt: ‚Man schlägt auf den Sack und den Esel meint man.‘ “ Hierzu konnte sich jeder im Sitzungssaal seine eigenen Gedanken machen. Juristisch gefährlich waren die Worte nicht, denn: „In jedem Fall kann aber eine Beleidigung des Gemeinten, aber nicht Genannten nur dann angenommen werden, wenn die beleidigenden Äußerungen eine offenbare Beziehung auf ihn haben und erkennen laßen. […] Man würde zu geradezu ungeheuerlichen Consequenzen kommen, wenn man, wie dieß von der Anklage und von dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens allerdings geschieht, der gegenteiligen Auffaßung Recht geben wollte […] und es ist deshalb nicht zu viel gesagt, daß jede Geschichtsschreibung unmöglich gemacht würde, wenn die jetzt lebenden Monarchen persönlich beleidigt würden durch eine jede scharfe oder verletzende Besprechung ihrer Vorfahren.“40 „Auch zu diesem Punkt der Anklage bin ich in der Lage mich darauf berufen zu können, daß der Herr Statsanwalt selbst zur Begründung der Anklage Behauptungen vorgetragen hat, welche als Majestätsbeleidigung oder wenigstens als Beleidigungen deutscher Bundesfürsten betrachtet werden müßen, wenn seine eben zurückgewiesene Ausführung richtig wäre. Denn er sagt von König Friedrich II., daß derselbe zu einer Zeit, in welcher ‚die moralische Unwürdigkeit der Regierenden und die Servilität der Regierten, das Beispiel 38 Ebd. 39 Hessische Blätter vom 5.10.1892. 40 Ebd.

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höfischer Verschwendung und Frivolität den sittlichen Keim unsers Volkslebens anzugreifen drohte‘, einen gewaltigen Beweis von Pflichtgefühl gegeben habe. Der Herr Statsanwalt wird mir zugeben müssen, daß er mit diesen Worten eine moralische Unwürdigkeit usw. nicht den damaligen Regenten in Asien und Afrika, sondern gerade den deutschen Regenten hat nachsagen wollen. […] Würde nun irgend jemand mit Grund dem Gedanken verfallen können, den Herrn Staatsanwalt deshalb der Beleidigung der jetzt regierenden deutschen Bundesfürsten zu beschuldigen?“41

Da der Eröffnungsbeschluss ausdrücklich die Gefühle Wilhelms II. angesprochen hat und „darauf hinweist, daß diese Vorfahren dem jetzigen König besonders wert seien“, so musste die Verteidigung auch darauf eingehen und der Rechtsanwalt machte „demgegenüber geltend, daß die Geflißentlichkeit der scharfen Urteile nicht halb so stark ist, als z. B. die der oben mitgeteilten Urteile des Herrn von Treitschke“. Es war „in Bezug auf die Vorfahren des regierenden Königs von Sachsen, von der ‚ruchlosen Unzucht der sächsischen Auguste‘ oder von dem ‚schamlosen Hof der Albertinischen Landesverderber‘ “42 die Rede gewesen. Der Staatsanwalt hatte es am Ende seines Plädoyers nicht versäumt, den beiden Aktivisten der „Hessischen Rechtspartei“, Hopf und Martin, mahnend in das Gewissen zu reden, dass sie doch „die sozialistischen Gefahren der Gegenwart“ bedenken sollten und wie die „Hessische Rechtspartei“ der Sozialdemokratie zuarbeite. Weit entfernt, diese Gefahr unterschätzen zu wollen, erklärte Rechtsanwalt Martin, „daß wir aber die Socialdemokratie nicht dadurch bekämpfen zu dürfen glauben, daß wir unbedingt und überall für die jeweilige Regierung eintreten und alles was in Preußen vom großen Kurfürsten bis zum heutigen Tag geschehen ist, recht und gut und vollkommen finden, sondern nur dadurch, daß wir unbedingt und überall für Recht und Wahrheit eintreten.“43

In seinem Schlusswort erklärte der Angeklagte noch einmal, dass er als Monarchist niemals die Absicht haben könnte, das preußische Königtum verächtlich zu machen, dass der fragliche Artikel allein der Abwehr der Angriffe der „kleindeutschen“ Geschichtsschreibung gegolten habe, die in der Rolle Preußens in der deutschen Geschichte eine Rechtfertigung für die Annexionen des Jahres 1866 sehen wollte. Diese Annexionen halte er allerdings für Unrecht und setze sich für deren Rückgängigmachung auf gesetzlichem Wege ein.44 Acht Tage nach der Verhandlung wurde das Urteil verkündet. Es lautete auf Freispruch. Obwohl es in der Begründung hieß, dass „die Darstellung der 41 42 43 44

Hessische Blätter vom 8.10.1892. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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äußeren Ereignisse“ bis auf eine Ausnahme „der geschichtlichen Wahrheit“ entspräche, war eigentlich nur gemeint, dass der Angeklagte seine Sicht der behaupteten Tatsachen belegen konnte. Damit war jedoch festzustellen, dass der Herausgeber der Hessischen Blätter mit der Veröffentlichung des Artikels den Tatbestand des § 131 nicht erfüllte, da er wissentlich keine falschen Tatsachen verbreitet hatte. Und zwar auch, „wenn man für diese Feststellung den unbestimmten strafrechtlichen Vorsatz (dolus eventualis) genügen lassen, also den Beweis für ausreichend ansehen wollte, daß Angeklagter sich bei Aufnahme und Veröffentlichung des Artikels vorgestellt habe, derselbe könne die Behauptung entstellter oder unwahrer Tatsachen enthalten.“ Hinsichtlich der Motive der historischen Persönlichkeiten, also der „inneren Tatsachen“ hieß es: „Eine objektive Wahrheit ist auf diesem Gebiete menschlichen Wißens überhaupt nicht zu erzielen.“ Von der Erörterung, ob und in welcher Form der gegenwärtige preußische Staat Ziel der Verächtlichmachung gewesen sein könnte, konnte das Gericht absehen. Weiterhin war nicht festzustellen, dass der Angeklagte durch den Artikel seinen Landesherren, König Wilhelm II. von Preußen, beleidigt hatte. Dazu hätte es eines Bezuges auf die Person des Königs oder auch nur eine seiner Äußerungen bedurft. Hinsichtlich der Schärfe des Urteils über den „sittlichen Wert einzelner Vorfahren Sr. Majestät des Königs, insbesondere Friedrich’s des Großen, und über die Verwerflichkeit der in ihren Regentenhandlungen sich kundgebenden Gesinnung“ lehnte das Gericht jede Kommentierung ab: „Allein die Richtigstellung dieser an der Geschichte angehörigen Regenten geübten Kritik ist Aufgabe der Geschichte, deren Urteil der persönliche Wert und die Taten derselben mit ihrem Tode verfallen sind.“45 Schon wegen des Interesses, das man in Berlin an dem Fall gezeigt hatte, musste sich die Staatsanwaltschaft noch an die höchste Instanz wenden, obwohl sie vielleicht ahnte, dass die Aussichten nicht gut waren. Am 27. Mai 1892 entschied das Reichsgericht, vierter Strafsenat, nach mündlicher Verhandlung und in öffentlicher Sitzung, die Revision der Königlichen Staatsanwaltschaft gegen das Urteil der ersten Strafkammer des Königlich Preußischen Landgerichts Kassel zu verwerfen. Im Revisionsverfahren konnten neue Tatsachen nicht vorgebracht werden, geprüft wurde lediglich die Rechtsanwendung. Deshalb rügte die Revision den Verzicht auf die juristische Erörterung der angegriffenen Staatseinrichtungen durch die Richter des Landgerichts. Hiergegen konstatierte das Reichsgericht die Gleichwertigkeit der Tatbestandsmerkmale und dass mit der Negierung des einen, nämlich der Geschichtsfälschung, die „Construction des Tatbestandes“ bereits unmöglich werde. Ob nun eine Entstellung der historischen Tatsachen durch Weglassungen, wie die Staatsanwaltschaft meinte, nicht doch eingetreten sei, konnte nach Meinung der Revisionsinstanz aber dahin45 Hessische Blätter vom 12.10.1892.

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gestellt bleiben: „Denn jedenfalls wird die Freisprechung des Angeklagten durch die Entscheidung über das subjektive Schuldmoment getragen.“ Da es aber das Landgericht als erwiesen angesehen hatte, dass der Angeklagte nicht „wider beßeres Wißen gehandelt habe“, war das Urteil rechtlich nicht zu beanstanden, und eine neuerliche Diskussion von Tatumständen unterlag nicht der Revision. Das Reichsgericht kam aber noch einmal auf die rechtliche Bedeutung des Begriffs „Tatsache“ im vorliegenden Zusammenhang zurück. Insoweit es in dem fraglichen Artikel um Motive und Ziele der historischen Akteure ging, mussten eben diese als die zu untersuchenden „Tatsachen“ aufgefasst worden sein, sonst wäre der § 131 überhaupt nicht anwendbar gewesen. Dahinter verbarg sich die Charakteristik der Tatsache als einer nachprüfbaren und objektiv feststellbaren Gegebenheit. Es sei daran erinnert, dass das Landgericht von den „inneren“ Tatsachen gesprochen hatte, über die es jedoch hinsichtlich historischer Personen keine endgültige Klarheit geben könne. Zur Spezifik geschichtlicher Tatsachen äußerten sich die Richter des Reichsgerichts allerdings nicht und stellten somit auch nicht deren gerichtliche Überprüfbarkeit in Frage. Gegen die Annahme des landgerichtlichen Urteils, dass eine Ehrverletzung gemäß § 95 in dem fraglichen Artikel nicht enthalten sei, ging die Revision vor, indem sie behauptete, „es liege in einer Beschimpfung der größten Regenten Preußens, des großen Kurfürsten und Friedrich des Großen, schon deshalb auch eine Beleidigung des jetzt regierenden Königs und Kaisers, weil er die höchste Verehrung gerade für diese Regenten hege und sie sich zu Vorbildern genommen habe.“ Doch konnte auch dieses Argument im Revisionsverfahren keine Beachtung finden, da es sich wiederum um lediglich tatsächliche Erwägungen handelte, die zudem im Widerspruch mit den Feststellungen der Vorinstanz standen. Schließlich wurde der „Grobe Unfug“ noch einmal bemüht. Und wieder war kein Rechtsirrtum erkennbar, da eine Belästigung der Öffentlichkeit nicht festgestellt worden war. Dagegen führte die Staatsanwaltschaft aus: „Es werde durch den Artikel und die in ihm ausgedrückte zielbewußte Schmähung preußischer Regenten das Gefühl der in der Provinz Hessen eingewanderten Preußen verletzt.“ Der Angriff schlug auch hier fehl, denn ob alles das der Fall und begründet war, „untersteht nicht der Nachprüfung des Revisionsgerichts.“46 Mit dem Scheitern der Revision endete das Verfahren gegen den Herausgeber der Hessischen Blätter wegen eines Zeitungsartikels, der sich ausschließlich mit historischen Themen befasst hatte. Ludwig Quidde brachte noch einmal eine kurze Notiz in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Doch seine Bedenken waren nicht ausgeräumt. Zwar hatten sich die Gerichte noch nicht feststellend zu einer historischen Wahrheit geäußert, doch war deren Erörterung Teil des Verfahrens 46 Hessische Blätter vom 19.10.1892.

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gewesen und der Freispruch nur auf den Nachweis gegründet, dass Hopf für sein von der vorherrschenden Meinung abweichendes Geschichtsbild genügend Belege und Gewährsmänner anführen konnte. Zu einer Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung war es nur deshalb nicht gekommen, weil auf den König nicht direkt genug Bezug genommen worden war. Wie dies andernfalls aussehen konnte, stellte einige Jahre später das Landgericht Breslau fest. Am 11. September 1895, nach des Kaisers Erklärung, dass wer dem Sedantag keine Reverenz erweise, es nicht wert sei, den Namen Deutscher zu tragen, erschien in der in Breslau herausgegebenen sozialdemokratischen Volkswacht der Artikel „Das Deutschtum der Hohenzollern“. In dem Text ging es um das politische Agieren der Brüder Joachim und Albrecht von Brandenburg im 16. Jahrhundert, das vor allem im Hinblick auf die Unterstützung des französischen Königs sehr kritisch gesehen wurde und mit dem Ausruf endete: „Wären, so lautet die nüchterne Frage, die hohenzollernschen Herrscher ‚werth den Namen Deutscher zu tragen‘ “? Das Reichsgericht verwarf den Revisionsantrag der Verteidigung mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass „eine den Zwecken der Wissenschaft dienende Erörterung“ nicht vorliege. Denn der „fragliche Artikel sollte eine Entgegnung auf die Worte des Kaisers sein.“ Dabei „sei es darauf angekommen, dem Kaiser einen Makel in betreff seiner Abstammung anzuhängen und ihn dadurch herabzusetzen.“47 Der Gesetzgeber hatte beim Regelungsgegenstand des § 131 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich sehr wahrscheinlich nicht an den Fall gedacht, dass das Delikt auch durch Erdichtung und Entstellung sehr weit zurück liegender Tatsachen begangen werden könnte. Bis heute ist die öffentliche Leugnung oder Verharmlosung historischer Tatsachen problematisch und die königliche Staatsanwaltschaft wäre sicher froh gewesen, wenn sie eindeutigere Regelungen zur Verfügung gehabt hätte. Indem Hopf in seiner Entgegnung auf die Anklageschrift auf das zu allen Zeiten schwierige Verhältnis von historischer Forschung, Geschichtspropaganda und Politik hinwies, reklamierte er für den zivilisierten Rechtsstaat die Freiheit der Forschung und eine damit verbundene weitgehende Meinungsfreiheit und dass die Geschichte unbelästigt von Justiz und Staatsanwaltschaft bleiben müsste. Unter diesem Gesichtspunkt gewährt der Prozess gegen die Hessischen Blätter einen bemerkenswerten Einblick in den rechtsstaatlichen Umgang mit Andersdenkenden im Wilhelminischen Kaiserreich.

47 Volkswacht Breslau vom 11.9.1895; Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 28, S. 171–175.

MARKO KREUTZMANN BUNDESTAG UND ÖFFENTLICHKEIT

Bundestag und Öffentlichkeit Die Auseinandersetzung um die Veröffentlichung der Protokolle der Deutschen Bundesversammlung 1816–1848

I. Einführung Der strukturelle Wandel von Öffentlichkeit gilt als ein wichtiger Bestandteil der Transformation von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.1 Er war außerdem eng verknüpft mit den politischen Veränderungen in Europa im Zuge der Herausbildung des modernen Verfassungs- und Nationalstaates.2 Der Aufbruch überkommener gesellschaftlicher Strukturen und die Medien- und Kommunikationsrevolution, die insbesondere mit der Ausweitung der Lesefähigkeit, neuen Technologien in der Medienproduktion und der Expansion des Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsmarktes einhergingen, ließen die öffentliche Meinung zu einem Faktor werden, mit dem auch die traditionelle Politik der Höfe und der Kabinette zunehmend rechnen musste.3 Es war vor allem der Liberalismus, welcher die Öffentlichkeit in politischen Institutionen und Verfahrensweisen einforderte, da sich nach seiner Auffassung nur auf diesem Wege Vernunft und Fortschritt in der Politik Bahn brechen konnten. Außerdem wurden damit Transparenz, Kontrolle und eine breite gesellschaftliche Partizipation an der Politik angestrebt. Daher gehörte die Forderung nach Pressefreiheit „zu den liberalen Kernforderungen, unabdingbar für ein funktionsfähiges Repräsentativsystem und dessen unverzichtbarer Teil.“4 Wichtige Forderungen waren

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Vgl. als empirisch gesättigte Fallstudie: Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 6), Köln/Weimar/Wien 2003; sowie grundlegend: Jürgen HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 31993. Vgl. Andreas FAHRMEIR, Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850, München 2010. Vgl. Jürgen WILKE, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, Köln/ Weimar/Wien 22008. Dieter LANGEWIESCHE, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 22.

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MARKO KREUTZMANN

darüber hinaus die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren und die Öffentlichkeit von Parlamentsverhandlungen. Der 1815 auf dem Wiener Kongress als staatenbündische Vereinigung der deutschen Staaten gegründete Deutsche Bund schien den Forderungen und Erwartungen der liberalen und nationalen Kräfte geradezu entgegen zu laufen.5 Er war nicht der von vielen erhoffte einheitliche nationale Staat, er besaß keine Verfassung, kein Parlament, keine Regierung, kein gemeinsames Oberhaupt und garantierte nur ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit. Dagegen wurde der Deutsche Bund von den Regierungen seiner Mitgliedsstaaten oft als Instrument zur Unterdrückung der liberalen und nationalen Bewegung sowie zur Beschränkung der Wirksamkeit der in einigen Staaten, wie Bayern, Württemberg und Baden, in Kraft getretenen Verfassungen und liberalen Einrichtungen benutzt. Der Deutsche Bund wurde deshalb für die politische Opposition bald „zum verhaßten Symbol der konservativen Entwicklungsblockade.“6 Auch die historische Forschung hat lange Zeit ein weitgehend negatives Bild des Deutschen Bundes gezeichnet. Erst in jüngerer Zeit ist der Blick verstärkt auf die positiven Ansätze des Bundes zu einer reformerischen Politik, zur nationalen Integration und zur organischen Weiterentwicklung bis hin zu einem möglichen, auch von vielen Liberalen geforderten Ausbau zu einem nationalen Bundesstaat, gerichtet worden.7 Eine zunächst marginal erscheinende, bei näherem Hinsehen jedoch wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist diejenige nach der Veröffentlichung der Protokolle der Deutschen Bundesversammlung.8 Die Deutsche Bundesversammlung, in Anlehnung an den Reichstag des Alten Reiches auch Bundestag genannt, war das einzige gemeinsame Organ des Deutschen Bundes. Formal war sie ein bloßer Gesandtenkongress, auf dem die weisungsgebundenen Bevollmächtigten der Einzelstaaten über die gemeinsamen Angelegenheiten berieten und abstimmten. Ihre Kompetenz bezog sich vornehmlich auf den offiziellen Zweck des Bundes, nämlich die Gewährleistung der äußeren und inneren Sicherheit des Bundes und seiner Mitgliedsstaaten. 5 6 7

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Vgl. grundlegend: Jürgen MÜLLER, Der Deutsche Bund 1815–1866 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 78), München 2006; Wolf D. GRUNER, Der Deutsche Bund 1815– 1866, München 2012. Dieter LANGEWIESCHE, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 13), München 52007, S. 61. Vgl. Jürgen MÜLLER (Hg.), Deutscher Bund und innere Nationsbildung im Vormärz (1815–1848) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 101), Göttingen 2018; DERS., Deutscher Bund und deutsche Nation (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 71), Göttingen 2005. Vgl. grundlegend: Heinrich Otto MEISNER, Die Protokolle des Deutschen Bundestages von 1816–1866. Eine quellenkundliche Untersuchung, in: Archivalische Zeitschrift 47 (1951), S. 1–22.

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Jedoch eröffneten ihr die Bundesgrundgesetze auch ein weiteres Tätigkeitsfeld, etwa auf dem Gebiet von Handel, Verkehr und Schifffahrt, Pressefreiheit, Nachdruckschutz, der rechtlichen Stellung der Juden, der Gleichstellung der christlichen Konfessionen oder für „gemeinnützige Anordnungen sonstiger Art“.9 Die Bundesversammlung verstand sich selbst nicht nur als ein Gesandtenkongress, sondern als ein relativ eigenständiges Organ des Deutschen Bundes.10 Auf sie richteten sich anfangs einige Hoffnungen, dass sie als höchstes gesetzgebendes, richterliches und exekutives Organ des Deutschen Bundes die nationale Einheit fördern werde.11 Die Frage der Öffentlichkeit der Verhandlungen spielte dafür vor dem skizzierten zeitgenössischen Hintergrund eine nicht unwichtige Rolle. Daher soll im Folgenden der Auseinandersetzung um die Veröffentlichung der Bundestagsprotokolle in der Zeit von der Eröffnung der Bundesversammlung im Jahr 1816 bis zur Revolution von 1848/49, die sowohl für die Geschichte des Deutschen Bundes als auch für die Entwicklung der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung in Deutschland eine tiefe Zäsur darstellte,12 genauer nachgegangen werden.

II. Die Veröffentlichung der Bundestagsprotokolle 1816–1828 Die Verhandlungen der Deutschen Bundesversammlung begannen aus Sicht der liberalen und nationalen Öffentlichkeit durchaus verheißungsvoll. Nach der Enttäuschung über die ausgebliebene Schaffung eines nationalen Staates schien die Eröffnungsrede des österreichischen Präsidialgesandten Johann Rudolf Graf von Buol-Schauenstein in der ersten Sitzung der Bundesversammlung vom 5. November 1816 das Aufbruchssignal zu einer konstruktiven Bundespolitik zu 9

Vgl. v.a. die Bestimmungen der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815, in: Eckhardt TREICHEL (Bearb.), Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813–1815 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von Lothar GALL und (seit 2017) Andreas FAHRMEIR [im Folgenden: QGDB], Abt. I, Bd. 1/2), München 2000, S. 1503–1518, Zitat S. 1510. 10 Vgl. Hellmut SEIER, Der Bundestag und die deutsche Einheit 1816–1818. Bemerkungen zum Zeithintergrund des Wartburgfestes, in: Klaus MALETTKE (Hg.), 175 Jahre Wartburgfest. 18. Oktober 1817–18. Oktober 1992. Studien zur politischen Bedeutung und zum Zeithintergrund der Wartburgfeier (Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, 14), Heidelberg 1992, S. 61–119. 11 Vgl. Rolf DARMSTADT, Der Deutsche Bund in der zeitgenössischen Publizistik. Zur staatlichen und politischen Neugestaltung Deutschlands vom Wiener Kongreß bis zu den Karlsbader Beschlüssen, Bern/Frankfurt a. M. 1971, hier bes. S. 70–82. 12 Vgl. Wolfram SIEMANN, Revolution und Kommunikation, in: Christof DIPPER/Ulrich SPECK (Hg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt a. M. 1998, S. 301–313.

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geben. Der Leitfaden der Rede waren nicht nur die Wünsche der Regierungen, sondern auch die Interessen der Nation, die neben den Einzelstaaten als eine relevante Bezugsgröße entwickelt und anerkannt wurde. Daher sei es die Pflicht der Bundesversammlung, die „Achtung für die mehreren Volksstämme und mehreren selbstständigen deutschen Regierungen, und gleiche Achtung für das uns Alle umfassende große Band der Nationalität zu entwickeln, zu erstreben“.13 In seinem ersten Geschäftsvortrag in der zweiten Sitzung der Bundesversammlung hob Buol außerdem die öffentliche Meinung als politischen Faktor hervor: Die Öffentlichkeit erwarte, so der Präsidialgesandte, dass die Bundesversammlung „das Gebäude des großen National-Bundes vollenden“ werde. In dieser Hinsicht wolle man bestrebt sein, „gerechter Erwartung der öffentlichen Meinung zu huldigen, ihr zu entsprechen“.14 Bereits in der folgenden Sitzung vom 14. November 1816 beschloss die Bundesversammlung, ohne vorherige Einholung von Instruktionen der Regierungen, ihre Verhandlungen regelmäßig durch den Druck der Protokolle zu veröffentlichen. Ausgangspunkt war die Annahme der vorläufigen Geschäftsordnung der Bundesversammlung. Der niederländische Gesandte Hans Christoph von Gagern erhob Einspruch gegen die darin enthaltene Regelung, dass die Bundesversammlung in jedem einzelnen Fall bestimmen sollte, „wie die Protokolle bekannt zu machen, und besonders, ob sie dem Druck fürs Publikum zu übergeben seyen“.15 Daraufhin wurde einstimmig beschlossen, „die Bekanntmachung der Bundestags-Verhandlungen durch den Druck als Regel festzusetzen“ und „die der Publicität nicht zu übergebenden Verhandlungen hingegen jedesmal besonders auszunehmen.“16 In der Folge wurden die Bundestagsverhandlungen in zwei verschiedenen Ausgaben gedruckt, die oft nach ihrem Format benannt werden: Einmal eine sogenannte Folioausgabe, die nur in wenigen Exemplaren und nur für den amtlichen Gebrauch gedruckt wurde.17 Diese enthielt sowohl die für die Öffentlichkeit bestimmten Protokolle als auch die unter verschiedenen Bezeichnungen abgefassten geheimen Protokolle. Nur über die 13 Rede des österreichischen Präsidialgesandten Buol bei der Eröffnung der Deutschen Bundesversammlung, Frankfurt a. M., 5. November 1816, in: Eckhardt TREICHEL (Bearb.), Organisation und innere Ausgestaltung des Deutschen Bundes 1815–1819 (QGDB, Abt. I, Bd. 2), Berlin/Boston 2016, S. 169–179, Zitat S. 176. 14 Erster Vortrag des österreichischen Präsidialgesandten Buol, Frankfurt a. M., 11. November 1816, in: ebd., S. 423–434, Zitate S. 425, 427. 15 Vorläufige Geschäftsordnung der Deutschen Bundesversammlung, Frankfurt a. M., 14. November 1816, in: ebd., S. 249–255, Zitat S. 254. 16 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung [öffentliche Quartausgabe; im Folgenden: ProtDBV (Q)], Bd. 1, Heft 1, Frankfurt a. M. 1816, Protokoll der 3. Sitzung vom 14. November 1816, § 12, S. 63–65, Zitat S. 65. 17 Vgl. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung […], Frankfurt a. M. 1816–1866 [Amtliche Folioausgabe; im Folgenden: ProtDBV].

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vertraulichen Sitzungen, welche der Vorabstimmung unter den Gesandten dienten, wurde gar kein Protokoll, sondern eine meist nur handschriftliche Registratur geführt.18 Neben der Folioausgabe erschien seit 1816 auch eine so genannte Quartausgabe der Bundestagsverhandlungen. Diese war für die Öffentlichkeit bestimmt und enthielt alle Protokolle, die nicht der Geheimhaltung unterworfen worden waren. Der Druck erfolgte wie bei der Folioausgabe in der als Bundespräsidialdruckerei fungierenden Andreäischen Buchhandlung und -druckerei in Frankfurt.19 Die Quartausgabe erschien heftweise in relativ kurzen Abständen, so dass die Öffentlichkeit zeitnah über die Verhandlungen der Bundesversammlung unterrichtet wurde. Darüber hinaus wurden auch „offizielle Artikel“ über die Bundestagsverhandlungen von der Bundeskanzlei an Frankfurter Zeitungen zur Veröffentlichung versandt.20 Diese fanden von hier aus rasch Verbreitung in weiteren Zeitungen außerhalb Frankfurts. So erschien bereits am Tag nach der Eröffnung der Bundesversammlung ein offizieller Artikel, der knapp den äußeren Ablauf des Ereignisses wiedergab, in der Frankfurter Oberpostamtszeitung.21 Bereits am 10. November 1816 erschien dieser Artikel auch in der Augsburger Allgemeinen Zeitung.22 Die engagierte Tätigkeit der Bundesversammlung in den ersten Jahren nach ihrer Eröffnung wurde von den Regierungen teils mit Misstrauen und Ablehnung betrachtet, zunächst aber weitgehend geduldet und zum Teil sogar gefördert. Mit dem Erstarken der liberalen und nationalen Opposition in Deutschland und dem wachsenden Selbstbewusstsein der Bundesversammlung, die mit dieser Opposition teilweise zu sympathisieren schien, sahen sich die Regierungen jedoch zum Eingreifen genötigt.23 Insbesondere Österreich als die Präsidialmacht des Deutschen Bundes betrieb in den Jahren 1822 und 1823 nicht nur die Entfernung allzu unfügsamer Gesandter, darunter auch des eigenen Vertreters Buol-Schauenstein.24 Es sorgte auch dafür, dass durch einen schon unter der Leitung des neuen österreichischen Präsidialgesandten Joachim Eduard Graf 18 Vgl. MEISNER, Die Protokolle des Deutschen Bundestages (wie Anm. 8), S. 14. 19 Vgl. ProtDBV (Q), 19 Bde., Frankfurt a. M. 1817–1828; sowie: Nachträgliche Aktenstücke der deutschen Bundes-Verhandlungen als Anhang zu den Protokollen der Bundesversammlung, 5 Bde., Frankfurt a. M. 1817–1820. 20 Vgl. die entsprechende Bestimmung in dem Aufsatz über das Verhältnis der Deutschen Bundesversammlung zur Freien Stadt Frankfurt, [Frankfurt a. M., 23. Oktober 1816], in: TREICHEL (Bearb.), Organisation (wie Anm. 13), S. 148–154, hier S. 150. 21 Vgl. Offizieller Artikel in der Frankfurter Oberpostamtszeitung, Nr. 310 vom 6.11.1816 über die Eröffnung der Deutschen Bundesversammlung, abgedruckt in: ebd., S. 184 f. 22 Vgl. Allgemeine Zeitung, Nr. 315 vom 10.11.1816, S. 1259 f. 23 Vgl. SEIER, Der Bundestag und die deutsche Einheit (wie Anm. 10). 24 Vgl. Heinrich LUTZ, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815–1866 (Siedler Deutsche Geschichte, 8. Die Deutschen und ihre Nation, 2), Berlin 21990, S. 59 f.

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von Münch-Bellinghausen am 1. Juli 1824 gefassten Bundesbeschluss die Publizität der Bundestagsverhandlungen praktisch unterbunden wurde.25 In ihrem Antrag führte die österreichische Präsidialgesandtschaft an, dass „die bisherige Uebung, die gesammten Verhandlungen des Deutschen Bundestags, wenige Ausnahmen abgerechnet, der Oeffentlichkeit zu übergeben“, zu „Mißbräuchen Anlaß gegeben“ habe. Die Bundesversammlung sei ein „permanenter Ministerial-Congreß der Repräsentanten sämmtlicher Bundesglieder“, in welchem „vorzugsweise die Ansichten der verschiedenen Bundesregierungen über Gegenstände des gemeinsamen Interesse[s] freundschaftlich ausgetauscht“ und darüber Beschlüsse gefasst würden. Das Resultat dieser Beratungen müsse zwar in der Regel allgemein bekannt gemacht werden. Aber die Vorbereitungen dieser Beschlüsse seien „Epochen der Geschäftsverhandlungen, welche zur Oeffentlichkeit durchaus nicht geeignet seyen“.26 Nachdem die Gesandten Preußens, Hannovers, Badens und des Kurfürstentums Hessen den Antrag Österreichs näher begründet hatten, wurde einstimmig beschlossen, künftig „nach Maaßgabe der verhandelten Gegenstände, zweierlei Protokolle [für] jede Sitzung aufzunehmen, und zwar öffentliche und Separat-, bloß loco dictaturae zu druckende, Protokolle“.27 Damit wurden die bisherigen Bestimmungen zwar nicht grundsätzlich geändert, da es schon vorher geheime „Separatprotokolle“ gegeben hatte. Jedoch wuchsen die Zahl und der Umfang dieser, der Öffentlichkeit entzogenen, Protokolle nun kräftig an, während der Umfang der öffentlichen Protokolle und damit auch der Inhalt der für die Öffentlichkeit bestimmten Quartausgabe stark zurückgingen. In der zwölften Sitzung der Bundesversammlung vom 16. Mai 1828 wurde zum letzten Mal überhaupt ein öffentliches Protokoll aufgenommen, während alle folgenden Protokolle geheim gehalten wurden. Daher wurde auch die Quartausgabe durch die Andreäische Buchhandlung eingestellt. Die Verhandlungen der Bundesversammlung blieben künftig vollständig vor der Öffentlichkeit verschlossen, nur die Resultate wurden in der jeweils passenden Form bekannt gemacht.28 Darüber hinaus wurde im Jahr 1824 auch die Veröffentlichung der Bundestagsverhandlungen in den Zeitungen durch einen Bundesbeschluss reguliert.29 Zwar wurden den Frankfurter Zeitungen weiterhin die öffentlichen Bundestagsprotokolle zur Publikation mitgeteilt und außerdem den Regierungen überlassen, die Protokolle an ausgewählte Zeitungen in ihren Bundesstaaten zur 25 Vgl. MEISNER, Die Protokolle des Deutschen Bundestages (wie Anm. 8), S. 2–4. 26 Antrag Österreichs, in: ProtDBV 1824, Protokoll der 19. Sitzung vom 1. Juli 1824, § 116, S. 298 f. 27 Ebd., S. 299. 28 Vgl. MEISNER, Die Protokolle des Deutschen Bundestages (wie Anm. 8), S. 4 f. 29 Vgl. ProtDBV 1824, Protokoll der 4. Sitzung vom 5. Februar 1824, § 39, S. 75 f.

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Veröffentlichung zu übergeben. Damit wurde jedoch das Ziel verfolgt, „daß nur genuine Nachrichten über Bundesverhandlungen in das Publikum kämen“.30 Zudem wurde auf Antrag des Präsidiums beschlossen, dass „in Bundessachen überhaupt, sowohl in Beziehung auf die Verhandlungen der hohen Bundesversammlung selbst, als auch auf die Geschäfte aller von ihr abhangenden Commissionen, in den in den Deutschen Bundesstaaten erscheinenden Zeitungen nichts anders aufgenommen werde, als wörtlich, was die denselben mitgetheilten BundestagsProtokolle enthielten.“31

Mit der Einstellung der öffentlichen Protokolle seit Mai 1828 wurde jedoch auch der Berichterstattung über die Bundestagsverhandlungen in den Zeitungen die legale Grundlage entzogen.

III. Der Kampf um die Öffentlichkeit der Protokolle 1828–1848 Gegen die Unterdrückung der Öffentlichkeit der Bundestagsverhandlungen erhob sich jedoch schon bald massiver Widerstand. Den Anlass bot zunächst eine Eingabe der Andreäischen Buchhandlung an die Bundesversammlung vom 3. Juni 1829. Darin wurde beklagt, dass durch die Einschränkung der Publizität der Bundestagsverhandlungen seit 1824 der Umfang und Inhalt der Quartausgabe und damit auch das Interesse der Käufer stark zurückgegangen seien, weshalb die Fortsetzung der Ausgabe in Gefahr sei. Daher bat man darum, die Ausgabe fortsetzen und um die seit 1824 geheimen Aktenstücke ergänzen zu dürfen.32 Der badische Bundestagsgesandte Friedrich Landolin von Blittersdorff hatte als Mitglied des Reklamationsausschusses der Bundesversammlung den Vortrag in dieser Sache übernommen. Er nahm die Eingabe zum Anlass, um auf die Wiedereinführung einer größeren Publizität der Bundestagsverhandlungen zu dringen. Unterstützt wurde er dabei vom preußischen Bundestagsgesandten Carl Ferdinand von Nagler und den übrigen Mitgliedern des Reklamationsausschusses. Dem österreichischen Gesandten Münch gelang es jedoch, Blittersdorff davon abzubringen, im Rahmen des Vortrages über die Eingabe in der Sitzung vom 10. Februar 1831 einen Antrag auf größere Öffentlichkeit der Bundestagsverhandlungen zu stellen.33 Zwar wurde die Eingabe abschlägig 30 Ebd., S. 75. 31 Ebd., S. 76. 32 Vgl. Vortrag des badischen Bundestagsgesandten Blittersdorff im Namen des Reklamationsausschusses der Deutschen Bundesversammlung über die Eingabe der Andreäischen Buchhandlung, in: ProtDBV 1831, Protokoll der 4. Sitzung vom 10. Februar 1831, § 29, S. 68–70, hier S. 68 f. 33 Vgl. zu den inoffiziellen Vorgängen am Bundestag in diesem Zusammenhang den Bericht Münchs an Metternich, Frankfurt a. M., 18. Februar 1831, in: Österreichisches Staats-

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beschieden. Jedoch fügte Blittersdorff seinem Gutachten die Bemerkung hinzu, dass dem Wunsch der Andreäischen Buchhandlung nur entsprochen werden könne, „wenn die Frage von der Oeffentlichkeit der Bundestags-Protokolle im Allgemeinen einer neuen Prüfung unterworfen und hiernach eine Abänderung des Beschlusses vom 1. Juli 1824 beliebt würde“.34 Der österreichische Präsidialgesandte behielt sich daraufhin die Eröffnung an seinen Hof „hinsichtlich der in dem eben vernommenen Vortrage angeregten größeren Publicität der Bundestagsverhandlungen“35 vor. Zugleich hatte er den preußischen Gesandten Nagler eben noch davon abhalten können, ein eigenes Votum hinsichtlich der größeren Öffentlichkeit der Bundestagsverhandlungen abzugeben.36 Jedoch blieb dieses Thema nicht zuletzt aufgrund der infolge der Französischen Julirevolution von 1830 angespannten politischen Situation im Deutschen Bund weiter auf der Tagesordnung. Bereits im Juli 1830 hatte Preußen in der Bundesversammlung eine Denkschrift vorlegen wollen, in der es die Wiedereinführung einer größeren Öffentlichkeit der Bundestagsverhandlungen forderte. Jedoch hatte es auf Drängen Österreichs auf die Vorlage dieser Denkschrift verzichtet.37 Nachdem infolge der Abstimmung über die Eingabe der Andreäischen Buchhandlung diese Frage vorerst aufgeschoben worden war, legte Preußen am 6. November 1831 der österreichischen Regierung detaillierte Vorschläge vor. Diese wurden in einer umfangreichen Denkschrift vom 4. April 1832 nochmals ausführlich begründet. In dieser Denkschrift wurden konkrete Vorschläge für eine erweiterte, wenn auch nicht ganz dem Zustand von 1816 entsprechende, Publizität der Bundestagsverhandlungen gemacht.38 Zur Begründung der Vorschläge führte Preußen in der Denkschrift an, dass dadurch „die Autorität des Bundes in der öffentlichen Meinung zum Heile von ganz Deutschland befestigt und insbesondere das hierzu erforderliche Ansehen der B[undes]Versammlung als Organ des Bundes auf eine, ihrer Bestimmung angemessene Weise fester begründet werden könne“.39 Allerdings sei dafür auch „die Veranstaltung eines rascheren Betriebs der Geschäfte“ bei der Bundesversammlung und die „erfolgreiche Ausdehnung ihrer Berathungen auf gemeinnützige, ganz Deutschland interessirende Anord-

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archiv Wien, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv (im Folgenden: ÖStAW, HHStA), Staatskanzlei, Deutsche Akten, Neue Serie, Nr. 86, unfol. Vortrag des badischen Bundestagsgesandten Blittersdorff (wie Anm. 32), hier S. 69 f. Bemerkung Münchs, in: ebd., S. 70. Vgl. Bericht Münchs an Metternich, Frankfurt a. M., 18. Februar 1831 (wie Anm. 33). Vgl. ebd. Vgl. Preußische Denkschrift zur Veröffentlichung der Bundestagsprotokolle, [4. April 1832], in: Ralf ZERBACK (Bearb.), Reformpläne und Repressionspolitik 1830–1834 (QGDB, Abt. II, Bd. 1), München 2003, S. 36–51, hier S. 42–44. Ebd., S. 45 (Hervorhebung nach der Vorlage).

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nungen“40 notwendig. Durch die Geheimhaltung der Verhandlungen werde jedenfalls das im Deutschen Bund „aufgestellte Bild des gemeinsamen politischen Lebens von Deutschland“ getrübt und damit „der für die Bewahrung der äußern Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands überaus wichtige und unentbehrliche NationalSinn“41 geschwächt. Österreich antwortete auf die preußischen Vorschläge in einer Weise, welche eine Einigung in dieser Frage als illusorisch erscheinen ließ. Zugleich wird deutlich, dass sich Österreich den früher gewonnenen Einsichten über die Bedeutung der Öffentlichkeit für die gegenwärtige Politik vollkommen verschlossen hatte. Schon 1808 hatte der spätere Außenminister und Staatskanzler Clemens von Metternich in grundlegenden strategischen Konzeptionen die öffentliche Meinung als „eines der mächtigsten Mittel“ der Politik bezeichnet und die Basis für eine aktive Pressepolitik gelegt.42 In einer Denkschrift vom 31. Dezember 1831 erteilte er jedoch dem Einfluss der Öffentlichkeit auf die Politik im Deutschen Bund eine klare Absage. Demnach sei die Veröffentlichung der Bundestagsverhandlungen „eine der ungedeihlichsten Maaßregeln“, welche „statt das Ansehen des Bundestags zu erheben, geradezu nachtheilig auf dasselbe einwirken würde“.43 Denn da die Bundesversammlung keineswegs „eine Art NationalRepräsentation“,44 sondern in ihrer Kompetenz eng auf den Bundeszweck beschränkt sei, sei es sehr zweifelhaft, dass sie „unter denen, welche im Volke das große Wort führen, an Popularität und Ansehen durch die Bekanntwerdung ihrer Berathungen sehr gewinnen werde.“ Die „Hauptbürgschaft seiner Dauer“ habe der Deutsche Bund „in der Meinung der Regierungen und nicht in der Meinung des Publikums zu suchen“.45 In einer Übereinkunft vom 4. April 1832 wurde festgestellt, dass man in der Frage der Veröffentlichung der Bundestagsprotokolle zu keiner Einigung gekommen sei. Preußen beharrte darauf, sich im Sinne seiner angeführten Denkschrift zu erklären, falls die Sache am Bundestag zur Sprache kommen sollte. Metternich dagegen äußerte den Wunsch, dass man diese Frage vorerst auf sich beruhen lasse.46 Damit verweigerte sich Österreich anders als Preußen jenen Stimmen in der liberalen Öffentlichkeit, welche auf eine Weiterentwicklung des Deutschen Bundes im Sinne ihrer national- und verfassungspolitischen Forderungen dräng40 Ebd. 41 Ebd., S. 47 (Hervorhebungen nach der Vorlage). 42 Vgl. Wolfram SIEMANN, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016, S. 320–324, Zitat S. 321. 43 Denkschrift Metternichs zur Veröffentlichung der Bundestagsprotokolle, [Wien, 31. Dezember 1831], in: ZERBACK (Bearb.), Reformpläne (wie Anm. 38), S. 24–30, hier S. 24. 44 Ebd., S. 25. 45 Ebd., S. 26 (Hervorhebung nach der Vorlage). 46 Österreichisch-preußische Übereinkunft, Wien, 4. April 1832, in: ebd., S. 35 f.

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ten.47 So stellte der Liberale Karl Theodor Welcker am 15. Oktober 1831 im badischen Landtag den in der Öffentlichkeit viel beachteten Antrag, die Regierung möge auf „die Vervollkommnung der organischen Entwicklung des deutschen Bundes“ und auf die Errichtung eines nationalen Parlamentes neben der Bundesversammlung hinwirken.48 Schon im November 1830 hatte Welcker in einer Eingabe an den Bundestag die Gewährung der Pressefreiheit in Deutschland verlangt und in Baden hatte der Landtag Ende 1831 ein liberales Pressegesetz durchgesetzt. Im Kurfürstentum Hessen, das 1831 eine Verfassung erhielt, forderte der führende Liberale Sylvester Jordan ebenfalls eine Reform des Deutschen Bundes. Dazu sollten sich die Verfassungsstaaten Deutschlands vereinigen, um ihre Gesandten in der Bundesversammlung nach „konstitutionellen Prinzipien“49 abstimmen zu lassen. Zudem sollten dem Landtag nicht nur die bislang geheimen Separatprotokolle mitgeteilt werden, so dass er sich „von der bisherigen Wirksamkeit des kurhessischen Bundesgesandten überzeugen könne“, sondern es sollten künftig auch sämtliche Verhandlungen des Bundestages wieder durch den Druck veröffentlicht werden, um damit „dem hohen deutschen Bundestage zunächst das allgemeine Vertrauen wieder zu erwerben, welches besonders durch das seit dem Jahre 1824 bestehende geheime Verfahren unverkennbar geschwächt worden“50 sei. Die Initiativen der Liberalen in den Landtagen wurden zwar von den Regierungen umgehend zurückgewiesen. Dennoch verstärkte sich dadurch immer mehr der Druck auf den Deutschen Bund, den Forderungen und Erwartungen der Öffentlichkeit entgegen zu kommen. Zwar wurden die 1830er Jahre insgesamt nochmals von der repressiven Politik der Regierungen geprägt. In den 1840er Jahren setzte jedoch ein Wandel ein, der durch verschiedene Faktoren wie die Rheinkrise von 1840 oder die im selben Jahr erfolgende Thronbesteigung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. befördert worden war.51 Langfristig wirkten sich auch die 1834 unter Führung Preußens und ohne Österreich erfolgte Gründung des Deutschen Zollvereins mit ihren ökonomischen und politischen Folgen52 sowie die konstitutionelle Entwicklung in Preußen, die 1847 zur Einberufung des Vereinigten Landtages führte, aus. Insgesamt sind diese Jahre von einem Aufschwung der nationalen und liberalen Opposition 47 Vgl. Elisabeth FEHRENBACH, Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815–1871 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 22), München 22007, S. 19–21. 48 Zit. nach ebd., S. 20. 49 Zit. nach ebd. 50 Schreiben der kurhessischen Ständeversammlung an den Landtagskommissar, die Verhältnisse zum deutschen Bundestag betreffend, Kassel, 31. Oktober 1831, in: Verhandlungen des Kurhessischen Landtages vom Jahre 1831, 4. Abt., Kassel [1831], S. 850 f. 51 Vgl. LUTZ, Zwischen Habsburg und Preußen (wie Anm. 24), S. 199–211. 52 Vgl. Hans-Werner HAHN/Marko KREUTZMANN (Hg.), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2012.

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sowie von einem Einschwenken mancher Regierungen auf die liberale und nationale Politik, wenn auch noch unentschlossen und teils unter konservativen Vorzeichen, gekennzeichnet. Im Deutschen Bund war jedoch bereits deutlich die Trennung Preußens und Österreichs in der bisher betriebenen Reaktionspolitik erkennbar. So wurde die 1833 eingerichtete Frankfurter Zentralbehörde, die der Verfolgung der politischen Opposition diente, 1842 auch auf Betreiben Preußens suspendiert. Zudem drängte Preußen auf eine Lockerung der seit den Karlsbader Beschlüssen streng ausgeübten Zensur in den deutschen Staaten. Es entfaltete auf der anderen Seite Initiativen, um den Deutschen Bund im Sinne der liberalen und nationalen Forderungen weiter zu entwickeln.53 Dazu zählte auch die Frage der Öffentlichkeit der Bundestagsverhandlungen. Im Jahr 1847 legte das Königreich Württemberg vertraulich eine Note vor, um die „Wiedereinführung einer größeren Publicität der Verhandlungen der hohen Bundesversammlung“ vorzubereiten.54 Österreich suchte die Verständigung mit Preußen und unterbreitete einen eigenen Vorschlag.55 Preußen hatte jedoch bereits seine Zustimmung zu dem württembergischen Vorschlag signalisiert. Gegenüber dem österreichischen Gesandten in Berlin bemerkte der preußische Außenminister Carl von Canitz, dass der von Österreich vorgelegte Vorschlag „wohl das Minimum dessen sey, was man in der Sache thun könne“ und dass er wünsche, dass „man das Wirken des Bundestags mehr an das Tageslicht ziehe“, wodurch „zum Beispiele auch bekannt werden würde von wo die Hemmungen in Beziehung auf Preßfreiheit ausgiengen“.56 In diesen Äußerungen wurde bereits der scharfe Gegensatz zwischen Preußen und Österreich deutlich. Preußen erklärte sich zwar dazu bereit, die Verhandlungen über diese Frage in der Bundesversammlung durch eine Proposition der österreichischen Präsidialgesandtschaft einleiten zu lassen. Jedoch verlangte es von Österreich, ihm den Entwurf dieser Proposition vorab zuzusenden, um gegebenenfalls Erweiterungen der darin aufzunehmenden Vorschläge „selbst über das durch die unsrigen vom Jahre 1832 gegebene Maas hinaus, so weit es die jetzige Lage der Verhältnisse zu erfordern scheint“,57 vornehmen zu können. Offensichtlich kam es nicht mehr rechtzeitig zur Verständigung zwischen Preußen und Österreich über die Präsidialproposition. Am 26. März 1847 stellte 53 Vgl. MÜLLER, Der Deutsche Bund (wie Anm. 5), S. 27–29. 54 Württembergische Zirkularnote, Frankfurt a. M., 4. Februar 1847, in: ÖStAW, HHStA, Staatskanzlei, Deutsche Akten, Neue Serie, Nr. 86, unfol. 55 Vgl. Metternich an den österreichischen Gesandten in Berlin, Joseph Graf von Trauttmannsdorff, Wien, 17. Februar 1847, in: ebd. 56 Trauttmannsdorff an Metternich, Berlin, 23. Februar 1847, in: ebd. 57 Canitz an den preußischen Gesandten in Wien, Heinrich Friedrich Graf von Arnim, Berlin, 3. März 1847, in: ebd. (Hervorhebungen nach der Vorlage).

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Württemberg im Bundestag den Antrag auf Veröffentlichung der Protokolle „in angemessenen Auszügen“. Dabei wurde angeführt, dass durch die Veröffentlichung von Verhandlungen, „welche für ganz Deutschland, einzelne Classen deutscher Unterthanen oder einzelne deutsche Länder ein größeres Interesse darbieten“, nicht nur „irrige Ansichten über die Thätigkeit und Wirksamkeit der Bundesversammlung in dem größern Publikum mannigfach berichtigt“,58 sondern auch denjenigen Personen wichtige Informationen geboten würden, die sich für die Entwicklung des Bundesrechtes und der Bundesgesetzgebung interessierten.59 Die Vorlage des württembergischen Antrages bedeutete bereits eine Brüskierung und eine Ausmanövrierung Österreichs. Noch dazu wurde für die Bearbeitung des Antrages ein Bundestagsausschuss eingesetzt, dem zwar auch Österreich angehörte, in welchem aber Preußen den Vortrag in der Sache übernahm.60 Der schließlich vom preußischen Gesandten August Graf von Dönhoff im Namen des Ausschusses erarbeitete Vortrag ging weit über den württembergischen Antrag und vor allem über die Wünsche und Befürchtungen Österreichs hinaus. Nach Ansicht des österreichischen Präsidialgesandten Münch sei er nicht „hinter den liberalen Declamationen der Herren Itzstein und Welker in der Badischen und der radicalen Fraction in der Würtembergischen Kammer zurückgeblieben“.61 Die Versuche Münchs, die Ausschussmitglieder zur Modifikation ihres Gutachtens im Sinne der österreichischen Position zu bewegen, wurden glatt abgewiesen. Daher konnte Münch als Mitglied des Ausschusses diesem Gutachten nicht beitreten und zog es vor, anstatt seine abweichende Ansicht nur als Mitglied des Ausschusses dem Vortrag beizulegen, in seiner Eigenschaft als Präsidialgesandter die österreichische Proposition nach der Erstattung des Ausschussvortrages in der Bundesversammlung einzubringen.62 Und in der Tat hatte es der Ausschussvortrag gewaltig in sich. Darin wurde angeführt, dass die Veröffentlichung der Bundestagsverhandlungen vor allem für die „wirksame Entwicklung und Stärkung des Nationalgeistes“ förderlich sei, da hierdurch „das Centralorgan aller deutschen Regierungen seine Existenz bethätigt, indem es Zeichen und Beweise seines Lebens und Wirkens gibt“.63

58 ProtDBV 1847, Protokoll der 9. Sitzung vom 26. März 1847, § 88, S. 274. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd. Dem Ausschuss gehörten außerdem die Bundestagsgesandten von Sachsen, Württemberg und Baden sowie der Gesandte der 12. Stimme (Großherzoglich und herzoglich sächsische Häuser) als Stellvertreter an. 61 Münch an Metternich, Frankfurt a. M., 14. September 1847, in: ÖStAW, HHStA, Staatskanzlei, Deutsche Akten, Neue Serie, Nr. 86, unfol. 62 Vgl. ebd. 63 Vortrag des preußischen Bundestagsgesandten Dönhoff im Namen des wegen des württembergischen Antrages auf Veröffentlichung der Bundestagsverhandlungen gewählten

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Nur auf dem Wege der Öffentlichkeit könne „ein gemeinsames Nationalbewußtseyn sich bilden, nur so das Gefühl des organischen und nahen Zusammenhangs aller Bestandtheile des Deutschen Bundes seine wahre Bedeutung und das nöthige moralische Gewicht erlangen.“64 Die „Bindemittel, die gemeinsame Sprache, Geschichte und Literatur allen Stämmen deutscher Nation geben“, könnten ihren „wahren Halt nur dann bekommen, wenn auch das politische Band in seiner vollen Bedeutung in den Vordergrund tritt und bleibend und lebendig darin erhalten wird.“65 Dagegen würde die „Schwächung des innern nationalen Zusammenhangs und somit der moralischen Kraft Deutschlands dem Auslande gegenüber“ im „Moment der Krisen und der Gefahr auf die Vertheidigungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit des Deutschen Bundes wesentlich nachtheilig einwirken“.66 Darüber hinaus sei die Öffentlichkeit inzwischen ein wichtiges „Element des Staats- und Völkerlebens“ geworden, und wenn „dermalen schon durch die Presse die ständischen, die Gerichts- und andere öffentliche Verhandlungen, die Angelegenheiten aller einzelnen deutschen Staaten zum bei weitem größten Theile zur allgemeinen Kenntniß aller übrigen deutschen Staaten gelangen; so scheint dieß hinsichtlich der allen deutschen Staaten gemeinschaftlichen Angelegenheiten um so unbedenklicher.“67 Dieser Ausschussvortrag kam einer revolutionären Kampfansage an die bisher vor allem von Österreich im Deutschen Bund betriebene Politik gleich. Die Forderung nach Einheit der Nation war mit der bisherigen Stellung des Vielvölkerstaates Österreich im Deutschen Bund nicht vereinbar.68 Und die Forderung nach Öffentlichkeit kam jenen von Metternich entschieden bekämpften liberalen Prinzipien entgegen, welche auf verfassungsmäßig abgesicherte parlamentarische Partizipation am politischen Prozess zielten. Die Blockadehaltung Österreichs gegen zahlreiche Reformprojekte innerhalb des Deutschen Bundes wurde indirekt angegriffen, indem betont wurde, dass die Öffentlichkeit der Bundestagsverhandlungen den Beweis der „gemeinnützigen und wohlwollenden Bestrebungen“ der Regierungen liefern und nachweisen würde, „daß da, wo die guten Absichten nicht zur Ausführung kamen, gründliche Erwägungen, trifftige, aus vielseitiger Berathung hervorgegangene Gründe dieß hinderten“.69 Der Ausschuss stellte den Antrag, dass die Bekanntmachung der Bundestagsverhandlungen wieder die Regel sein und die Protokolle sechs Wochen nach ihrer

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Ausschusses, in: ProtDBV 1847, Protokoll der 28. Sitzung vom 9. September 1847, § 269, S. 719–724, hier S. 722 f. Ebd., S. 723. Ebd. Ebd. Ebd., S. 722 (Hervorhebungen nach der Vorlage). Vgl. LUTZ, Zwischen Habsburg und Preußen (wie Anm. 24), bes. S. 23–28. Vortrag des preußischen Bundestagsgesandten Dönhoff (wie Anm. 63), S. 722.

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Unterzeichnung veröffentlicht werden sollten. Über Ausnahmen von der Publikation sollte ein eigens zu wählender Bundestagsausschuss entscheiden. Auch die seit 1824 nicht mehr veröffentlichten Bundestagsverhandlungen sollten in geeigneter Weise noch nachträglich publiziert werden.70 Die Präsidialmacht Österreich war durch diesen Vortrag vollkommen bloßgestellt worden. Im Anschluss an den Ausschussvortrag trug Münch die österreichische Präsidialproposition vor. Dabei betonte er, dass er „an dem eben verlesenen Ausschußvortrage keinen Antheil genommen“ habe. Im Übrigen halte Österreich an der Ansicht fest, „daß die Natur der Verhandlungen des Bundestags eine als Regel anzunehmende Veröffentlichung derselben durchaus nicht zuläßt“. Jedoch sei man bereit, einer Publikation der Protokolle in bestimmten Grenzen zuzustimmen und schlage vor, dass das Bundespräsidium gemeinsam mit einem zu wählenden Bundestagsausschuss vor dem Ende jeder Sitzungsperiode die für die Publikation in einer unter der Aufsicht des Bundestages herauszugebenden Sammlung freizugebenden Gegenstände auswähle.71 Es wurde beschlossen, über den Ausschussvortrag und die Präsidialproposition Instruktionen einzuholen, um nach der Wiedereröffnung der Sitzungen im folgenden Jahr darüber abzustimmen. Noch vor dem Ausbruch der Februarrevolution in Frankreich gingen die meisten der Abstimmungen ein. Dabei stellten sich von den 17 Stimmen des Engeren Rates acht auf die Seite der Ausschussanträge und nur fünf auf die Seite der Präsidialproposition. Während Dänemark und die 13. Stimme (Braunschweig und Nassau) einen Kompromissvorschlag formulierten, standen die Abstimmungen von Kurhessen und der 16. Stimme (Hohenzollern u.a.) noch aus.72 Eine größere Öffentlichkeit der Bundestagsverhandlungen und damit ein erster Schritt auf dem Weg zu einer durchgreifenden Reform des Deutschen Bundes stand kurz bevor. Jedoch wurde der endgültige Durchbruch durch die inzwischen auch in Deutschland ausgebrochene Revolution überholt. Am 29. März 1848 stellte Baden in der Bundesversammlung den Antrag, die Protokolle der Bundesversammlung wieder in der bis 1824 üblich gewesenen Weise zu veröffentlichen.73 Diesem Antrag sah der zuständige Bundestagsausschuss aufgrund der „wesentlichen Veränderungen, die im Innern Deutschlands vorgegangen sind“, kein Hindernis mehr entgegenstehen. Daher wurde ohne weitere

70 Vgl. ebd., S. 723 f. 71 Vortrag und Präsidialproposition des österreichischen Gesandten, in: ebd., S. 724 f. 72 Vgl. die Abstimmungen, in: ProtDBV 1848, Protokoll der 2. Sitzung vom 13. Januar 1848, § 23, S. 32–34; Protokoll der 3. Sitzung vom 20. Januar 1848, § 47, S. 75; Protokoll der 6. Sitzung vom 10. Februar 1848, § 75, S. 129–131. 73 Vgl. Antrag Badens, in: ProtDBV 1848, Protokoll der 25. Sitzung vom 29. März 1848, § 199, S. 304.

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Instruktionseinholung beschlossen, „daß es mit der Veröffentlichung der Bundestags-Verhandlungen wieder wie vor dem Jahre 1824 gehalten werde.“74

IV. Schlussfolgerung Aufgrund des Bundesbeschlusses vom 7. April 1848 wurden zwar wieder öffentliche Protokolle gedruckt, doch zu einer neuen Quartausgabe für das Publikum ist es trotz der von der Bundesversammlung erteilten Genehmigung noch nicht wieder gekommen. Nach der Wiederherstellung des Deutschen Bundes im Jahr 1850 kehrte die Bundesversammlung zunächst zur Geheimhaltung ihrer Protokolle zurück. Es kamen jedoch sofort neue Auseinandersetzungen über die Veröffentlichung der Protokolle auf, so dass es seit 1860 wieder eine Publikumsausgabe gab.75 Dennoch zeigen die hier dargelegten Vorgänge vor allem zweierlei: Zum einen wurden die Öffentlichkeit und die öffentliche Meinung im frühen 19. Jahrhundert zu einem politischen Machtfaktor, der auch für den Deutschen Bund eine wichtige Rolle spielte. Dieser Faktor wurde in das eigene politische Kalkül einbezogen, er wurde für die eigenen Zwecke instrumentalisiert, erzwang aber auch Rücksichtnahmen und beeinflusste damit nicht unwesentlich das politische Verhalten der Akteure im Deutschen Bund. Der Versuch, die Öffentlichkeit aus der Bundespolitik herauszuhalten, indem man die Publikation der Protokolle unterband, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Zum anderen verschoben politischen und sozioökonomischen Entwicklungen in den Einzelstaaten im Laufe der Zeit die Gewichte innerhalb des Deutschen Bundes. Nicht nur von der Öffentlichkeit, auch von einer wachsenden Zahl der Bundesstaaten wurde zunehmend auf die Wiederherstellung der Öffentlichkeit der Bundestagsprotokolle als Teil einer umfassenden Reform des Deutschen Bundes gedrängt. Die entsprechenden Initiativen in der Bundesversammlung deuteten einen grundlegenden Politikwechsel im Deutschen Bund an und führten auch beinahe zu einem praktischen Erfolg, wurden aber durch die Ereignisse der Revolution von 1848/49 überholt. Dennoch zeigt sich hier, dass bei einer Verschiebung der inneren Kräfteverhältnisse eine evolutionäre Fortentwicklung des Deutschen Bundes hin zu einem nationalen Bundesstaat durchaus möglich gewesen wäre.

74 ProtDBV 1848, Protokoll der 29. Sitzung vom 7. April 1848, § 237, S. 346 f., Zitate S. 347. 75 Vgl. MEISNER, Die Protokolle des Deutschen Bundestages (wie Anm. 8), S. 6–11.

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Hochzeit und Briefkommunikation der Juliane Franziska von Neuenstein/Buchwald im Kontext der Reichs- und Europapolitik Sachsen-Gotha-Altenburgs1 Quellenlage und Protagonisten Zu den vierzehn unerschlossenen, französischsprachigen Buchwaldbriefen in der Forschungsbibliothek Gotha aus den Jahren 1775/1776 gelangten im Jahr 2016 fast 90 weitere, zwischen 1738 und 1749/1757 geschriebene, in den Handschriftenbestand.2 Letztere sollen hier im Zentrum stehen, denn sie erlauben, die völlig verkrustete Biografie der wohl berühmtesten Hofdame Gothas zu hinterfragen, die im Wesentlichen auf den Würdigungen durch ihre Zeitgenossen Karl Theodor von Dalberg und Friedrich Wilhelm Gotter beruht.3 Zugleich erlauben diese Briefe, die wenig erforschte Rolle des Herzogtums im Österreichischen Erbfolgekrieg und bei den zwei Kaiserwahlen 1742 und 1745 in den Fokus zu rücken. Die Eckdaten der Biografie Juliane Franziska von Neuensteins/Buchwalds sind weitgehend bekannt. Sie stammte aus einem reichsadligen Geschlecht im Elsass, wurde 1707 in Paris geboren, lebte ab 1711 am Stuttgarter Hof, wo ihre Eltern im Dienst des protestantischen Herzogs Eberhard Ludwig standen, war ab 1724 Hofdame in Sachsen-Meiningen bei der Meininger Herzogin Elisabeth Sophie von Brandenburg und wurde ab 1735 an den Gothaer Hof gezogen, wo sie bis zu ihrem Tod 1789 blieb. Ihr Briefpartner für die oben genannten Briefe war Christoph Dietrich von Keller, ein 1699 in Tübingen geborener und im September 1738 von Kaiser Karl VI. in den alten Reichsadelsstand erhobener Jurist, kaiserlicher Reichshofrat und diplomatischer Unterhändler. Er hatte 1735 1

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Der folgende Beitrag wurde durch ein Herzog-Ernst-Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung am Forschungszentrum Gotha im Rahmen einer geplanten Edition der Neuenstein-/Buchwaldbriefe ermöglicht. Vgl. Pressemitteilung der Universität Erfurt, Nr. 51 vom 18.5.2016, unter: https:// www.uni-erfurt.de/fr/uni/einrichtungen/presse/pressemitteilungen/2016/51-2016 (letzter Zugriff: 15.1.2019). Der neue Briefbestand trägt die Signatur Chart. A 2415; die Briefe aus den Jahren 1775/1776 die Signatur Chart B 1918 II. Den Hinweis auf letztere verdanke ich Martin Mulsow. Karl Theodor von DALBERG, Madame de Buchwald, Erfurt 1786; Friedrich Wilhelm GOTTER, Zum Andenken der Frau von Buchwald, Gotha 1790.

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in Stedten bei Erfurt ein Gut erworben und war in der Zeit des Briefwechsels Gesandter Württembergs am preußischen Hof.

Schwerpunkte und methodische Ansätze Um Biografie und Zeitgeschehen miteinander zu verschränken, sollen im Folgenden zwei Schwerpunkte gesetzt werden. Ausgangspunkt ist das mit dem Wechsel von Meiningen nach Gotha unmittelbar im Zusammenhang stehende, zentrale biografische Ereignis der Eheschließung des Fräuleins von Neuenstein. Die in diesem Umfeld eröffnete Korrespondenz mit ihrem „lieben Landsmann“ Keller soll in einem zweiten Schwerpunkt mit Blick auf deren Einbindung in die Spezifik höfischer Kommunikation dargestellt werden. Methodisch wird davon ausgegangen, dass Briefe im höfischen Milieu des 18. Jahrhunderts zu einem geringen Teil persönlich-individuelle Dokumente waren. Korrespondenzen von Amtsträgerinnen und Amtsträgern wie einer Hofdame waren vielmehr in die Korrespondenzkultur eines Hofes funktional eingebunden.4 Damit eng verknüpft wird der zweite methodische Ansatz, historische Entwicklungen nicht retrospektiv aus der Perspektive später eintretender Konstellationen, sondern aus der Sicht der Zeitgenossen zu betrachten, für die der Prozess mit vielen Aktanten historisch offen, d.h. multioptional war.5

Die Hochzeit Die zweitägigen Hochzeitsfeierlichkeiten vom 15. Juli mittags bis zum 16. Juli 1739 abends zwischen dem Fräulein von Neuenstein und Schack Hermann von Buchwald (1705–1761) sind im Fourierbuch des Gothaer Hofes Quartal Crucis 1739 auf sechs Seiten ausführlich beschrieben worden.6 Das ist in den Gothaer Fourierbüchern dieser Zeit ein einmaliger Vorgang, wo Hochzeiten von Hofdamen höchstens kurz unter „Merkwürdigkeiten“ notiert wurden, und erinnert an die öffentlichkeitswirksamen Inszenierungen und Darstellungen der Hoch-

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Vgl. dazu Corina BASTIAN, Verhandeln in Briefen. Frauen in der höfischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2013. Vgl. für die folgende Darstellung vor allem René HANKE, Brühl und das Renversement des alliances. Die antipreußische Außenpolitik des Dresdener Hofes 1744–1756, Berlin 2006. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha (im Folgenden: LATh-StA Gotha), Fourierbücher im Bestand Oberhofmarschallamt, Nr. 681 c 1739 III, S. 64r–65v.

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zeiten von Hofdamen am Wiener Hof.7 Für die politische Relevanz der Neuenstein-Hochzeit sprechen mehrere Indizien. Dazu zählt der minutiös beschriebene zeremonielle Rahmen von hoher symbolischer Bedeutung, signalisierte er doch sowohl Wertschätzung als auch Erhöhung des Hochzeitspaares. Die Kavaliere zogen am 15. Juli morgens „bessere Kleidung“, die Diener die „gute Livree“ an, am zweiten Tag wurde große Galakleidung getragen. Die Trauung fand im Audienzgemach der Herzogin, das mit karmesinrotem Samtfussboden ausgelegt und einer ebensolchen Bank geschmückt war, im Beisein des Herzogspaares Friedrich III. und Luise Dorothea sowie des gesamten Hofstaats statt und wurde vom Gothaer Generalsuperintendenten und Oberkonsistorialrat Johann Benjamin Huhn vollzogen. Beim abendlichen Hochzeitsmahl hatten Braut und Bräutigam den Vorsitz an der fürstlichen Tafel, ebenso am zweiten Festtag, der mit Ball und Assemblée im Bildersaal endete. Die politische Dimension der Buchwald-Hochzeit manifestiert sich jedoch vor allem beim Blick auf die Besetzung der fürstlichen Tafel. Dort speisten nicht nur in Gothaer Diensten stehende Angehörige altadliger protestantischer Geschlechter, die über ausgedehnte Familiennetzwerke verfügten.8 Exemplarisch soll hier auf drei Gäste eingegangen werden. So saß an der fürstlichen Tafel mit dem „Fräulein Braut“ an der Spitze der aus Kurland stammende deutsch-baltische Diplomat Hermann Carl von Keyserlingk, von 1733 bis 1745 russischer Gesandter am kursächsischen Hof in Dresden. Am zweiten Hochzeitstag gesellte sich ein weiterer, mit großen Ehrbezeugungen empfangener Gast hinzu: Louis Gabriel des Acres Comte de l’Aigle, Militär aus dem in Straßburg stationierten Regiment d’Enghien des Königs von Frankreich. Ein dritter, erst auf den zweiten Blick bemerkenswerter Gast an der fürstlichen Tafel war der Bruder Herzogs Friedrich III., Prinz Ludwig Ernst, Generalleutnant im Dienst des Fürstbischofs von Münster, Christoph Bernhard von Galen. Was verband diese drei Gäste mit dem Gothaer Hof? Mit dem häufigen Gast Keyserlingk bestand nicht nur eine direkte Verbindung zum kursächsischen Hof in Dresden, sondern es gelangten zugleich Informationen über die Lage am deutschstämmig geprägten Zarenhof, dessen Positionierung gegenüber der aufstrebenenden kursächsisch-polnischen Nachbarmacht, dem Baltikum und zur Situation des protestantischen Herzogtums Kurland als Teil des Heiligen Römischen Reichs an den Gothaer Hof. Der Ehrengast Comte de l’Aigle stand im Kontext des 1701 geschlossenen, wirkmächtigen Geheimvertrags zwischen dem König von Frankreich und dem Herzog von Sachsen-Gotha7 8

Katrin KELLER, Hofdamen. Amtsträgerinnen im Wiener Hofstaat des 17. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 72–83. AmtsträgerInnen und Gäste kamen aus Kursachsen, Thüringen, Franken, Schwaben, Pommern, der Altmark, Böhmen, Estland-Schweden und dem Elsass.

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Altenburg.9 Darin wurde der Herzog als einziger Mindermächtiger unterhalb der Kurfürstenebene zum exponierten Verhandlungspartner Frankreichs, zum Friedensgaranten zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich und Wortführer der gegen die neunte Kur für Hannover protestierenden mindermächtigen Fürsten (Kurfürst von Sachsen, Landgrafen von Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, Markgraf von Ansbach, Erzbischof von Würzburg sowie aller sächsischen Fürsten) erklärt. Geheimartikel regelten die Finanzierung eines Verteidigungsheeres, für das Frankreich mit 884.000 livres die Hälfte der Kosten tragen wollte, die direkt in Paris ausgezahlt werden sollten und zum Teil aus Steuereinnahmen im Elsass erzielt wurden. So wurde für Gotha das Elsass zu einem interessanten Brückenkopf, zumal hier zahlreiche reichsadlige Familien ansässig waren. Der dritte Gast, der dem militärisch sehr gut ausgerüsteten Fürstbischof von Münster dienende Generalleutnant Prinz Ludwig Ernst, war seinerseits mit den Vorgängen an der Grenze zu den österreichischen Niederlanden, den Vereinigten Republiken, den ungelösten Konflikten um Jülich, Kleve und Berg und nicht zuletzt dem Vorgehen Frankreichs und Großbritanniens in der nordwestlichen Region des Heiligen Römischen Reichs vertraut. Es ist hier nicht der Raum, auf weitere bedeutende Gäste aus diplomatischem Milieu im unmittelbaren Vor- bzw. Nachfeld der Eheschließung oder signifikant steigende Besucherzahlen auf dem Friedenstein, vor allem aus dem Militär, einzugehen.10 Als Zwischenbilanz bleibt festzuhalten, dass sich der Gothaer Hof angesichts der wegen des anhaltenden Streits um die Pragmatische Sanktion des alternden Kaisers Karl VI. heraufziehenden Konflikte im Machtgefüge des Reichs und an dessen sensiblen Außengrenzen zu Russland, Frankreich und Großbritannien als Knotenpunkt eines informellen politisch-diplomatischen und militärdiplomatischen Netzwerkes formierte. Dabei überrascht, dass diese Fokussierung Parallelen zur kursächsischen Außenpolitik unter Heinrich von Brühl aufweist, deren geheimes Ziel ab 1744 eine Versöhnung zwischen Frankreich und Österreich war.11 Neben der hier skizzierten Interessenlage verdeutlicht die seit dem Frühjahr 1739 auf Hochtouren betriebene Eheschließung der Franziska von Neuenstein auch die Vormachtbestrebungen Sachsen-Gotha-Altenburgs innerhalb des ernestinischen Hauses. Im Zuge der Hochzeit wurden auf einen Schlag nicht nur Juliane Franziska von Neuenstein aus dem Hofstaat der verwitweten Herzogin 9

LATh-StA Gotha, Geheimes Archiv QQ (N), Nr. 1. Den Hinweis auf das Originaldokument verdanke ich Steffen Arndt (Staatsarchiv Gotha). 10 Genannt werden sollen lediglich der in preußischem Dienst stehende Gustav Adolf Graf von Gotter, die Agenten Comte d’Ario und Barbette, Arnold Franz von Tornaco als kaiserlicher Gesandter, Militär und Gouverneur in Mömpelgard, sowie der aus schottischem Hochadel stammende Lord James Ogilvy of Desford. 11 Vgl. HANKE, Brühl und das Renversement des alliances (wie Anm. 5).

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von Sachsen-Meiningen, sondern auch deren Schwester Eberhardine Wilhelmine aus dem der verwitweten Herzogin von Sachsen-Eisenach an den Gothaer Hof gebunden. Hinzu kam mit dem Bräutigam Schack Herrmann von Buchwald, der aus einem alten holstein-mecklenburgischen Adelsgeschlecht stammte, ein erfahrener Amtsträger, der zunächst am Meininger, ab etwa 1735 am Weimarer Hof gedient hatte.12 Die politisch arrangierte Hochzeit entsprach dem persönlichen Lebensentwurf des Fräuleins von Neuenstein nicht, die sich wohl eher den Status einer unverheirateten Hofdame gewünscht hatte. Sie bestätigte Keller das „Gerücht“ von ihrer Hochzeit vierzehn Tage vor dem Ereignis in einem Postskriptum, fügte eine knappe Karrierebiografie und ein distanziert-wohlwollendes Porträt ihres zukünftigen Gatten hinzu und resümierte resigniert: „Und damit, mein lieber Landsmann, bin ich also an der Schwelle zu diesem schrecklichen Wort, das über das gesamte Leben entscheidet. Beten Sie für mich zum lieben Gott.“13 Es waren wohl vor allem die sich aus Sexualität und Mutterschaft ergebenden Konsequenzen, die zu dieser bekenntnishaften Briefpassage führten.14 Franziska von Neuenstein vertrat eine sich auf Horaz berufende Position, wonach sinnlichkörperliche Bedürfnisse und Erfahrungen als animalisch, dem Geist entgegensetzt, begriffen wurden.15 Mit dieser prononcierten Haltung stand sie in einem Diskurs um Ehelosigkeit und deren Konsequenzen, der – geschlechterübergreifend – nicht nur in zahlreichen Korrespondenzen im Gothaer Umfeld nachweisbar ist, sondern auch zu den zentralen Diskursen des 18. Jahrhunderts gehörte. Franziska von Neuenstein bzw. Buchwald wollte dem Bild einer rational handelnden Person entsprechen, wenn sie in hohem Alter für sich rückblickend in Anspruch nahm, dass ihr „das Gelaber weibischer Wesen lebenslang verhasst gewesen“ sei.16 Von der höchst klaren Einsicht in ihre Zwangslage kurz vor der Eheschließung zeugen ihre Briefkommentare zu den zwischen Hof und künftigem Ehepaar zu beiderseitigem Vorteil ausgehandelten Konditionen. Ihr war bewusst, dass im Alter von 32 Jahren die Ablehnung der arrangierten Ehe ein hohes Risiko bot, denn „ein zweites Mal wird es, wenn es ums Stechen geht, kein langes Verhandeln geben oder man wird mich leben lehren“.17 Teil des Verhandlungspakets war nicht nur ihre eigene soziale und finanzielle Sicher12 Forschungsbibliothek (im Folgenden: FB) Gotha, Chart. A 2415, fol. 490r (Biografische Skizze Buchwalds durch Franziska von Neuenstein). 13 Ebd., fol. 490v/491r. 14 Nachdem die Tochter Luise am 5.11.1740 geboren worden war, bedauerte sie rhetorisch die daraus entspringende Verantwortung und wünschte Keller Kinderlosigkeit; vgl. ebd., fol. 506v/507r. 15 FB Gotha, Chart. B 1918 II, fol. 34r/35v. 16 Ebd., fol. 17. 17 FB Gotha, Chart. A 2415, fol. 598v.

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stellung, sondern auch die ihres zukünftigen Gatten und die ihrer Schwester.18 Die „Gunst“ für das zukünftige Paar, im Schloss wohnen zu dürfen, was nicht der Norm entsprach, sah sie vor dem Hintergrund der Biografie ihrer Mutter als württembergische Hofdame durchaus kritisch und war sich der drohenden kompletten Vereinnahmung bewusst.19 Letztlich überwog jedoch ihr Bedürfnis nach anhaltender, engster Nähe zu der von Jugend auf vertrauten Herzogin: „Dieser Punkt ist für mich der wichtigste, denn so bin ich nicht gezwungen, mich von Ihrer Durchlauchtigsten Hoheit zu trennen.“20 Zum komplexen Gefüge, das diese beiden Frauen zusammenband, gehörte sicher deren programmatische politisch-moralische Stilisierung als weibliches Pendant zum Brüderpaar Castor und Pollux, mit dem ein neues Zeitalter beginnen sollte. Sie fand unmittelbar nach der Buchwald-Hochzeit ihren poetischen Ausdruck im „Lobgedichte an Die Durchlauchtigste Louise“.21 Das funktionale Eingebundensein der Oberhofmeisterin in die Politik des Gothaer Hofes soll im Folgenden am Entstehen und an zwei Höhepunkten ihrer Korrespondenz mit Christoph Dietrich von Keller sichtbar gemacht werden.

Kommunikationsstrategie und -methoden Keller verfügte als Gesandter Württembergs in Berlin, betraut mit verschiedenen juristischen Missionen von politischer Relevanz auf der zentralen Reiseachse Paris, Stuttgart, Berlin, Schwerin, über ein großes Netzwerk. Um diesen Politiker wurde seitens des Gothaer Herzogspaares seit 1738 geworben. Es wird dabei ein dreistufiges Kommunikationsverfahren erkennbar, das der Hof auch gegenüber anderen Diplomaten und Unterhändlern wie Ernst Christoph von Manteuffel und Ulrich von Thun, später gegenüber Melchior Grimm anwandte und das zu spannenden Parallelkorrespondenzen führte. Die erste Kontaktaufnahme hatte die Hofdame zu übernehmen. Sie lud Keller auf Befehl des Herzogspaares am 15. Juli 1738 zur Geburtstagsfeier für Herzog Carl Friedrich von Sachsen-Meiningen auf den Sommersitz nach Friedrichswerth ein. In einer zweiten Phase schaltete sich Herzogin Luise Dorothea während der Diskussion 18 Schack Hermann von Buchwald wurde am 16.6.1739 Amtshauptmann des fürstlichen Amtes zu Gotha und Oberhofmeister im Hofstaat der Herzogin; Eberhardine Wilhelmine von Neuenstein wurde am 5.7.1739 Hofdame. 19 FB Gotha, Chart. A 2415, fol. 556r; zu Frau von Neuenstein vgl. Ulrike WENDT-SELLIN, Herzogin Luise Friederike von Mecklenburg-Schwerin (1722–1791). Ein Leben zwischen Pflicht, Pläsier und Pragmatismus, Köln/Weimar/Wien 2017. 20 FB Gotha, Chart A, fol. 490v. 21 Erstdruck in: Bärbel RASCHKE, Göttliche Louise. Die Inszenierung Luise Dorotheas von Sachsen-Gotha-Altenburg in fünf Akten, Gotha 2017.

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um den politisch symbolträchtigen Erziehungsort des vom Gothaer Hof zu entfernenden Erbprinzen Friedrich in den Schriftverkehr mit Keller ein.22 Erst vom 21. Dezember 1748 ist im Kontext der Tutelangelegenheit über den Weimarer Erbprinzen Ernst August Konstantin der erste schriftliche Kontakt Herzogs Friedrich III. mit Keller überliefert.23 Dieses Szenarium im schriftlichen Austausch wurde ab dem 22. Juli 1738 vom mündlichen Austausch zwischen dem Herzogspaar und dem umworbenen Keller begleitet, dessen zahlreiche Besuche auf dem Friedenstein in den Fourierbüchern vermerkt sind. Durch diese Kommunikationsstrategie trug Franziska von Neuenstein/Buchwald über mehrere Jahre hinweg als vorgeschobene Schachfigur alle Risiken eines letztlich politisch konnotierten Schriftverkehrs, wohingegen es Herzog Friedrich III. erlaubt blieb, Akteur und Entscheider im Hintergrund zu sein. Schon der Start der Neuenstein-Keller-Korrespondenz zeigt deutlich diese spannende Konstellation zwischen einem scheinbar persönlichen Brief der Hofmeisterin, dem politischem Informationsbedürfnis des Herzogs und der erpresserischen Verknüpfung beider Sphären. Schon im dritten Brief Franziska von Neuensteins finden sich höchst gezielte und sehr komplexe Fragestellungen zur finanziellen, personellen, räumlichen Situation und zum Status des Hofs der reformierten verwitweten Erbprinzessin von Württemberg und deren Tochter Friederike Luise. Anlass war dessen Trennung vom Stuttgarter Hof unter der katholischen regierenden Herzogin von Thurn und Taxis sowie der Administrationsregierung.24 Für Franziska von Neuenstein persönlich hätte diese Frage unter Umständen wegen ihrer Mutter, die bei Friederike Luise Hofdame war, von Interesse sein können. Ungewöhnlich ist jedoch ihre Aufforderung an Keller, seine Antwort innerhalb einer Woche zu verfassen, keinesfalls die Räte in Stuttgart zu konsultieren und einige Angaben auf Deutsch auf einem Extrablatt zu notieren. Dieser „Spionageservice“ zu einem jahrelangen Verhandlungsprozess um das beträchtliche Erbe des protestantischen Herzogs Eberhard Ludwig, in den der preußische und englische König sowie der Kaiser involviert waren, war sicher ein Auftrag Herzogs Friedrich III., der zum Erhalt der Informationen zugleich ein Druckmittel einsetzte. Er ließ Fräulein von Neuenstein darum bitten, „das diamantengeschmückte Porträt der Herzogin von Württemberg bis nächsten Sonntag behalten zu dürfen. Ich werde es Ihnen persönlich zurückgeben und hätte sehr gewünscht, es einige Tage eher tun zu können“.25 Der finanzielle und symbolische Wert des Porträts einer katholischen Regentin im Besitz eines 22 FB Gotha, Chart. A 2415, fol 1r/v, weitere Briefe folgen 1746, bevor ab 1748 eine intensive eigenständige Korrespondenz von ca. 300 Briefen der Herzogin an Keller beginnt. 23 FB Gotha, Chart. A 2415, fol. 421r/v. 24 Vgl. WENDT-SELLIN, Herzogin Luise (wie Anm. 19), S. 73–96. 25 FB Gotha, Chart. A 2415, fol. 466v.

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evangelischen Gesandten trieb Keller schon fünf Tage später zum Gespräch auf den Friedenstein. Die erste Etappe der Werbung war erfolgreich. Dass die Kommunikationsstrategie nicht nur dem Informationsfluss, sondern auch aktivem politischen Handeln diente, wird an den Jahren mit höchster Briefdichte deutlich: 1744/1745 und 1748/1749. Ab dem 21. April 1744 änderte Franziska von Buchwald ihre Briefform, will „ohne diesen unnützen Ballast an Komplimenten“ kommunizieren und greift in den Folgebriefen auf verschiedene Chiffrierungsmodelle zurück.26 Verwendet wurden Codes, die vermutlich während des Sommeraufenthaltes des Hofs in Ichtershausen vom 28. August bis 25. September 1743 unter entscheidender Mitwirkung Ernst Christoph von Manteuffels, der mit zwei Dienern vier Wochen dort weilte, entworfen wurden: die geheimen Ordensnamen der Mitglieder des „Ordre des Hermites de bonne humeur“, die Verwendung adliger Geschlechternamen als Metapher für deren Diensthof, das Spiel mit dem Geschlechtertausch, Anspielungen auf literarische Werke, in denen Liebesbünde und Geldgier, Eifersucht, Täuschung und uneindeutige Auflösungen im Zentrum stehen, eine briefnetzinterne Metaphorik zur Einordnung von aktuellen Ereignissen in die Weltgeschichte – insgesamt ein Chiffrierungssystem, das bis heute schwer auflösbar ist.27 Vorausgegangen war die Aufnahme Kellers in den Eremitenorden am 4. September 1743 unter dem Ordensnamen Renardin (Fuchs), Franziska von Buchwald war Brillante. Keller gehörte damit zum inner circle auf dem Friedenstein. Was einte diesen Zirkel, was war das „Geheimnis“ des Ordens? 1744/1745 versammelten sich hinter der Fassade der Eremitenkostümierung Vertreter des alten Reichsgedankens und reichsrechtlichen Denkens, einer „Römischen Gesinnung“, für welche Buchwald auf Pierre Corneilles „Le Cid“ verweist.28 Sie wollten das Interim des Wittelsbacher Kaisers Karl VII., der von Preußen und Frankreich offensiv unterstützt wurde, beendet wissen.29 Zahlreiche Briefstellen sowie die in den Fourierbüchern genannten Gäste sprechen dafür, dass man in Gotha bereit war, eine Kandidatur des polnisch-kursächsischen Königs August III. einzukalkulieren.30 In diesen Kontext gehören auch Andeutungen Franziska von Buchwalds auf eine Manipulation der Feldzüge des Zweiten Schlesischen Kriegs, die vor allem die Herrschaftsgebiete Karls VII. Bayern und Böhmen betrafen. Zu diesem Zweck wurde nicht nur der Kontakt zu dem für 26 Ebd., fol. 524r. 27 Dechiffrierungshilfen geben der Ulrich von Thun zugeschriebene Darmstädter Poesieband in: Universität- und Landesbibliothek Darmstadt, HS 1637 und der Gothaer Parallelband in: FB Gotha, Chart. A 1344. 28 FB Gotha, Chart. A 2415, fol. 495r. 29 Ebd., fol. 513r. 30 Ebd., fol. 550v.

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den kursächsischen Minister Heinrich von Brühl arbeitenden Manteuffel (chevalier Manfrede), sondern auch der zu dem in den Briefen als „Vater“ bezeichneten, reichspatriotisch gesinnten kaiserlichen General Friedrich Heinrich von Seckendorff gepflegt.31 Dessen sowie die militärischen Täuschungsmanöver des preußischen Generalfeldmarschalls Samuel von Schmettau zu Ungunsten Maria Theresias bzw. Preußens werden als „allgemeine(r) Liebe zum Verrat“ bezeichnet.32 Als dann 1745 überraschend Friedrich II. von Preußen den Zweiten Schlesischen Krieg für sich entschied, vermutete die Buchwald, „dass mein Herr Vater ebenso wie der gute chevalier Manfrede schreckliches Herzklopfen haben“.33 In Buchwalds Briefen ist die Wut über die Niederlage Kursachsens mit Händen zu greifen. „Sagen Sie mir, mein lieber Freund, ob man sich derart an der Nase herumführen lassen darf und hundert Jahre später zu glauben sein wird, dass es an einem ganzen Hof, in einem großen Land, einem großen Ministerium und einem ebenso großen Generalstab nur Maulwürfe gab, die Gott ausdrücklich dazu erschaffen zu haben schien, den preußischen Helden größer zu machen.“34

Angesichts dieser Wende wurde in Gotha allerdings sofort daran gedacht, aus der neuen politisch-militärischen Situation für die eigenen Arrondierungsinteressen Profit zu schlagen und sich stärker dem Werben Friedrichs II. zu öffnen.35 Trotz des verbalen Kotaus vor dem „preußischen Helden“ und der Eröffnung des Briefwechsels zwischen Herzogin Luise Dorothea und Friedrich II. am 26. Februar 1746, nachdem am 25. Dezember 1745 der Friedensschluss zwischen Sachsen und Preußen sowie Preußen und Österreich den „glücklichen Zeitpunkt, der Deutschland einzig und allein auf dauerhafte Ruhe hoffen lässt“, näher rückte,36 war und blieb das tatsächliche Verhältnis Sachsen-GothaAltenburgs gegenüber Friedrich II. durchaus skeptisch und ambivalent. Nach der Besetzung Dresdens und Leipzigs verlangte der König von Preußen das schon lange geforderte Regiment von Gotha. Voller Genugtuung beschreibt Buchwald in ihren Briefen an Keller das taktierende Vorgehen des Herzogs in dieser Angelegenheit – das zeitliche Hinauszögern der Rekrutenzusendung, die Beschränkung auf 600 Mann, die Geiselnahme des Flügeladjutanten Fried31 Frau von Seckendorff weilte vom 28. bis 30.12.1743 und Seckendorff selbst ab dem 3.1.1744 im Beisein zahlreicher Militärs auf dem Friedenstein, vgl. LATh-StA Gotha, Fourierbücher im Bestand Oberhofmarschallamt, Nr. 681 c. 32 FB Gotha, Chart. A 2415, fol. 535v; auch fol. 535v–537r, 556v. 33 Ebd., fol. 559v. 34 Ebd., fol. 559r/v; auch fol. 562r–563r, 564v. 35 Ebd., fol. 564v, 565r–566r. 36 Ebd., fol. 567v.

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BÄRBEL RASCHKE

richs II. Albrecht Friedrich Marquis de Varenne, die Ermutigung zu Desertionen. Sowohl die Buchwald als auch das Herzogspaar waren keineswegs gesonnen, offen auf die Seite Preußens zu schwenken.37 Die Hilfe Friedrichs II. für Gotha wurde aber 1748/1749 über Keller dringend erbeten. Durch den plötzlichen Tod des Herzogs von Sachsen-WeimarEisenach am 19. Januar 1748 bot sich die Chance, innerhalb des ernestinischen Hauses Machtpotential anzureichern. Von Kellers Vorschlag, Sukzessionsansprüche geltend zu machen, kam man schnell ab und konzentrierte sich auf die Tutelschaft über den Erbprinzen.38 Keller wurde in den nunmehr parallel verlaufenden Briefwechseln der Buchwald, Herzogin Luise Dorotheas und Herzogs Friedrich III. als Berater bezüglich des Vorgehens in Versailles, am kaiserlichen Hof, in München, Preußen und in Regensburg gefragt sowie bedrängt, Friedrich II. für die Interessenvertretung Gothas im Reichshofrat zu gewinnen. Der Preis für die letztlich übertragene Tutelschaft war die Rückkehr des Erbprinzen Friedrich und seines Erziehers und Geheimdiplomaten Ulrich von Thun aus Paris. Sie wurde, wenngleich bis 1750 hinausgezögert, parallel zum Weimarer Tutelprozess betrieben und vom Herzogspaar als Initiative Kellers bei der Aufklärung über Erziehungsfehler Thuns dargestellt.39 Franziska von Buchwald oblag es, letzterem als dessen „Erste Freundin“ und „Sprecherin“ des Hofs eine glimpfliche Behandlung in Aussicht zu stellen, ein Brief, dessen Kopie in Kellers Besitz blieb.40 Ihre Rolle als Korrespondenzsprachrohr des Gothaer Hofes endete tragisch mit einem Schlaganfall Ende Februar 1749, der sie teilweise erblinden ließ und einer Augenoperation durch den englischen Okulisten und Scharlatan John Taylor, der am 11. März 1750 auf dem Friedenstein weilte.41 Eine Warnung vor Taylor aus Hessen hatte der Hof angeblich zu spät erhalten.42 Ab 1750 begann sich am Gothaer Hof das Ämtergefüge zu verändern. Für die beiden Protagonisten der hier vorgestellten Korrespondenz, Franziska von Buchwald und Christoph Dietrich von Keller, war dieser Prozess mit Erhöhungen verbunden. Buchwald wurde zur Oberhofmeisterin ernannt. Sie blieb bis zu ihrem Tode eine politisch einflussreiche Beraterin und verstarb als recht vermögende Frau.43 Keller wurde 1751 Geheimer Rat und war am Ende seiner Karriere Premierminister Sachsen-Gotha-Altenburgs, bevor er sich 1766 auf das Gut Stedten zurückzog. 37 38 39 40 41 42 43

Ebd., fol. 568v, 572r/v, 569v–570r. Ebd., fol. 9r–10v, 21r (Briefe Luise Dorotheas an Keller). Ebd., fol. 25r/v (Luise Dorothea an Keller), fol. 426r (Friedrich III. an Keller). Ebd., fol. 617r–618r. Ebd., fol. 637r/v (Eberhardine von Neuenstein an Keller). GOTTER, Zum Andenken (wie Anm. 3), S. 61. LATh-StA Gotha, Landesregierung-Testamente, Nr. 152.

HOCHZEIT UND BRIEFKOMMUNIKATION

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Resümee Die hier in einem ersten Ansatz analysierten Briefe der Franziska von Neuenstein/Buchwald bieten zusammen mit den edierten Briefen Ulrich von Thuns an Herzogin Luise Dorothea, den editorisch unerschlossen Briefen Thuns an Friedrich III. sowie vor allem den Briefen Ernst Christoph von Manteuffels an die Fürstin eine solide Quellenbasis, um die aktive Reichs- und Europapolitik des Gothaer Hofs als eines mindermächtigen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auszuleuchten und dessen Positionierung gegenüber den potentiellen Großmächten Habsburg-Österreich, Preußen und insbesondere KursachsenPolen exakter zu beschreiben.44 Am Beispiel der Buchwald wird zudem deutlich, dass sich für eine systematische Forschung zu Amtsträgerinnen und Amtsträgern am Hof von Sachsen-Gotha-Altenburg neue Fragestellungen ergeben, die vor allem deren Einbindung in das politische, diplomatische, finanzielle, militärische und Gelehrtennetzwerk Gothas sowie deren Zirkulation innerhalb des protestantischen Netzwerks mindermächtiger Fürsten betreffen.45

44 Vgl. zu dieser Fragestellung Tilman HAUG/Nadir WEBER/Christian WINDLER (Hg.), Protegierte und Protektoren. Asymmetrische politische Beziehungen zwischen Partnerschaft und Dominanz (16. bis frühes 20. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2016; Tilman HAUG, Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage. Die französische Krone und die geistlichen Kurfürsten (1648–1678), Köln/Weimar/Wien 2015. 45 Vereinzelte Studien: Hans-Eberhard MÖLLER, Sylvius Friedrich Ludwig Freiherr von Frankenberg 1728–1815. Staatsminister und Geheimer Rat im Herzogtum SachsenGotha-Altenburg, Gotha 2003; Elisabeth DOBRITZSCH, Der Pharao von Gotha. Oberhofmarschall Hanß Adam von Studnitz (1711–1788), Gotha 2013.

GERHARD MÜLLER ERNST HAECKELS WEG ZU BISMARCK

Ernst Haeckels Weg zu Bismarck Zur Vorgeschichte der Jenaer Bismarck-Feier vom 31. Juli 1892

Der Besuch des Altreichskanzlers Otto von Bismarck in Jena vom 30. bis zum 31. Juli 1892 war als Höhepunkt seiner Rundreise durch das Reich ein historisches Ereignis von überregionaler Bedeutung.1 Mit seiner Rede auf dem Jenaer Marktplatz lieferte Bismarck den programmatischen Auftakt zur Formierung einer politischen Strömung, die als „nationale Opposition“ gegen den „neuen Kurs“ der Reichspolitik unter seinem Nachfolger Leo Graf von Caprivi und das „persönliche Regiment“ Kaiser Wilhelms II. auftrat2 und maßgeblich dazu beitrug, die nationalistische Stimmung, die im August 1914 in die Welle der selbstmörderischen Kriegsbegeisterung münden sollte, in großen Teilen der deutschen Bevölkerung zu verankern. Die beiden Hauptinitiatoren dieser Manifestation, Otto Fürst von Bismarck und der Jenaer Zoologieprofessor Ernst Haeckel, vermochten diese Konsequenzen natürlich noch nicht abzusehen. Indem Bismarck mit der Formel „Jena 1806“ das Menetekel der historischen Katastrophe der Schlacht bei Jena und Auerstedt beschwor, in die eine dilettantische Kabinettspolitik einst den preußischen Staat manövriert hatte, zog er eine Parallele zu der seiner Meinung nach verhängnisvollen Außenpolitik des „neuen Kurses“, die das Deutsche Reich in die politische Isolation steuerte. Für Ernst Haeckel ging es hingegen vor allem um eine angemessene Antwort auf den „unverschämten Angriff auf moderne Geistescultur und Wissenschaft“,3 mit denen Caprivi durch ein neues Volksschulgesetz die Unterstützung der katholischen Zentrumspartei zu gewinnen versuchte. Bismarcks „Kulturkampf“ gegen die katholische Kirche und Maßnahmen wie die Einführung der Zivilehe 1875 oder der staatlichen Schulaufsicht, die den Einfluss der Kirchen in Staat und öffent1

2 3

Vgl. Hans-Werner HAHN, Bismarck in Thüringen. Politik und Erinnerungskultur zwischen Reichsgründung und Wiedervereinigung, in: Werner GREILING/Hans-Werner HAHN (Hg.), Bismarck in Thüringen. Politik und Erinnerungskultur in kleinstaatlicher Perspektive, Weimar/Jena 2003, S. 34; Otto GRADENWITZ, Akten über Bismarcks großdeutsche Rundfahrt vom Jahre 1892, Heidelberg 1921. Vgl. Fürst Bismarck in Jena. Zur Erinnerung an den 30. und 31. Juli 1892, Bericht des Zentralkomitees, Jena 1892. Ernst Haeckel an Karl Haeckel, Jena, 1.2.1892, in: Ernst-Haeckel-Archiv der FriedrichSchiller-Universität Jena (im Folgenden: EHA Jena), A 38097.

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lichem Leben beschnitten hatten, waren schon vor 1890 zum Erliegen gekommen. Der 1891 eingebrachte Volksschulgesetzentwurf des preußischen Kultusministers Robert Graf von Zedlitz-Trützschler indes suchte den kirchlichen Einfluss auf das Schulwesen wieder auszuweiten. Nicht nur der seit vielen Jahren für die Anerkennung der Darwin’schen Entwicklungslehre kämpfende Ernst Haeckel,4 sondern das gesamte liberale Bürgertum empfand den Schulgesetzentwurf als Schlag ins Gesicht. Eine reichsweite Protestwelle nötigte schließlich den Kaiser, die Vorlage im März 1892 mit seinem Veto zu blockieren. Vor diesem Hintergrund stellte Ernst Haeckels Schulterschluss mit Bismarck, öffentlich bekundet durch den ostentativen Freundschaftskuss auf dem Jenaer Markt und Bismarcks symbolische Promotion zum „Doktor der Phylogenie honoris causa“ beim „Bismarckfrühstück“ im „Schwarzen Bären“ am Folgetag, eine aufsehenerregende politische Geste dar. Kritiker aus dem klerikalen Lager wie aus der Sozialdemokratie entrüsteten sich darüber, dass Bismarck „den Urschleimprofessor Häckel vor allem Volke geküßt“ habe5 und sich „vom Affen-Häckel zum Ehren-Schimpanse der deutschen Nation erklären lassen muß“.6 Für Haeckel selbst bildete die Begegnung mit Bismarck vom Sommer 1892 jedoch eine wichtige Zäsur, denn er begann jetzt, seine Aufklärungstätigkeit über die Evolutionslehre Darwins zu einer Kampagne für seine pantheistisch-naturwissenschaftliche Weltanschauung, den „Monismus“,7 auszuweiten. Zu seinem 60. Geburtstag 1894 begründeten Freunde und Schüler Haeckels eine „ErnstHaeckel-Stiftung“, um Geld für den Bau eines Museums zu sammeln, das Darwins Entwicklungslehre dem Publikum veranschaulichen sollte. Die Idee zu diesem Projekt, aus dem 1908 das „Phyletische Museum“ in Jena hervorging, war Haeckel schon bei seinem letzten Zusammentreffen mit Darwin 1881 gekommen, nachdem die Schriften beider und 1882 schließlich sogar der Biologieunterricht als solcher in den höheren Schulen Preußens verboten worden waren.8

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Vgl. z.B. Ernst HAECKEL, Die Weltanschauung des neuen Kurses, Jena 1892 (Separatdruck aus: Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit, 3 (1892), T. 3). Central-Volksblatt, Arnsberg, Nr. 189 vom 21.8.1892. Vgl. Tragikomisches, in: Die neue Zeit 28 (1909), Bd. 1, Nr. 3 vom 15.10.1909, S. 65. Vgl. Ernst HAECKEL, Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntniss eines Naturforschers, vorgetragen am 8. October 1892 in Altenburg beim 75-jährigen Jubiläum der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes, Bonn 1892; Paul ZICHE (Hg.), Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000. Vgl. Volker STORCH/Ulrich WELSCH/Michael WINK, Evolutionsbiologie, Berlin u.a. 2001, S. 22.

ERNST HAECKELS WEG ZU BISMARCK

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„Wir Thüringer kennen keinen Unterschied zwischen Bismarck früher und jetzt“ – mit diesen Worten hatte Ernst Haeckel am 10. Juli 18929 in Bad Kissingen als Mitglied der Deputation zur Übermittlung der Einladung Bismarcks nach Jena seine Haltung zu Bismarck unterstrichen. Diese Deputation hatte er, wie er an seinen Bruder Karl schrieb, „allein durchgesetzt“.10 In seiner „humoristischen Ansprache“ beim „Bismarckfrühstück“ am 31. Juli 1892 im Jenaer „Schwarzen Bären“ begründete Haeckel Bismarcks Ernennung zum „Doctor phylogeniae“ auch mit einer historischen Koinzidenz: „Während der Geschützdonner der Schlacht von Königgrätz 1866 […] den Beginn einer neuen, glanzvollen Periode der deutschen Reichs-Geschichte verkündete, wurde hier in Jena die Stammesgeschichte oder Phylogenie geboren, jener Zweig der Naturgeschichte, welcher uns die beständige Wandelung und die fortschreitende Entwickelung aller organischen Gebilde verständlich macht.“

Bismarck habe „die neue lebensfähige Existenz-Form für die deutsche Nation geschaffen“ und „durch convergente Entwickelung“ den „Neubau des protestantischen deutschen Kaiser-Reichs“ begründet.11 Allerdings vollzog Haeckel mit seiner Behauptung, keinen Unterschied zwischen Bismarck früher und jetzt zu kennen, auch selbst eine gewaltige Verdrängungsleistung, denn es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er Bismarck auf das Entschiedenste verdammt hatte. Es bedurfte ebenfalls einer konvergenten Entwicklung, ehe sich Bismarck und Haeckel im Vollgefühl nationaler Begeisterung in den Armen liegen konnten. Eine Fülle von Belegen für Ernst Haeckels anfängliche bismarckfeindliche Haltung findet sich in der Korrespondenz seiner ersten Jenaer Jahre seit 1861. Haeckel und seine Cousine Anna Sethe, die er im August 1862 ehelichte, verfolgten das politische Geschehen mit großem Interesse. Eine ein- bis zweistündige tägliche Zeitungslektüre sowie die Briefe seines Vaters Carl Gottlob und des Bruders Karl Haeckel versorgten ihn mit politischen Kommentaren und Analysen. Die preußischen Junker, für die Bismarck damals als Mann der ultrakonservativen „Kreuzzeitungspartei“ stand, waren eine Kaste, deren Ansichten und Werte denen der Haeckels diametral entgegenstanden. Ein Bericht über einen hitzigen Disput, den Ernst Haeckel während einer gemeinsam mit dem Philosophen Kuno Fischer unternommenen Eisenbahnfahrt am 30. Mai 1861 9

Vgl. Neue Freie Presse, Nr. 10017 vom 14.7.1892. Vgl. auch: Die Jenenser Deputation beim Fürsten Bismarck, in: Deutschland, Nr. 227 vom 15.7.1892; Horst KOHL (Bearb.), Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Bd. 13, Stuttgart 1905, Nr. 90. 10 Ernst Haeckel an Karl Haeckel, 16.7.1892, in: EHA Jena, A 381072. 11 Ernst HAECKEL, Ansprache beim Jenaer Bismarckfrühstück am 31.7.1892, in: Weimarische Zeitung, Nr. 171 vom 4.8.1892. Vgl. auch eigenhändiges Konzept Ernst Haeckels, in: EHA Jena.

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mit einem preußischen Junker führte, illustriert die politische Radikalität Ernst Haeckels in geradezu drastischer Weise. „In dem Coupé […] saß […] ein ziemlich junger Mann in Civilkleidern, welcher aber durch die ganz junkerliche Haltung seines elegant angezogenen Cadavers, wie durch den aristokratischen Ausdruck seines blasirten Gesichts sofort unverkennbar den preußischen Gardelieutenant verrieth. Ohne uns weiter an ihn zu kehren, setzten Prof. Fischer und ich ein vorher begonnenes Gespräch über das Unwesen der preußischen Junker- und Militärwirthschaft fort […] ich schimpfte nach Herzenskräften auf unsere preußischen Junkers und Kreuzritter. Im besten Gespräch wurden wir plötzlich durch obengenannten Herrn unterbrochen, welcher sich veranlaßt fühlte, seinen beleidigten Garde-Gefühlen Genugthuung zu verschaffen. […] Das war nun eine herrliche Gelegenheit, meiner seit lange angesammelten liberalen Galle Luft zu machen; ich blieb ihm keine Antwort schuldig. […] Der Eifer und die Hitze des Wortgefechts wurden so lebhaft, daß Prof. Fischer neben mir in die größte Seelenangst gerieth und mich immer am Ellenbogen stieß. Ich meinerseits kochte innerlich, und hatte alle Mühe, die von Vater ererbte „Berserkerwuth“ zu bemeistern, und gar zu extreme Äußerungen zu vermeiden. Endlich war Station Kösen erreicht. […] Prof. Fischer athmete frei auf und sagte mir, er habe lange nicht solche Angst ausgestanden, da er jeden Augenblick gedacht habe, ich würde den Ritter mit meinem Hammerstocke aufspießen oder sonst unschädlich machen.“12

Nach Bismarcks Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten im September 1862 fokussierte Haeckel seinen Hass auf das Junkertum auf dessen Person. An seine Eltern schrieb er: „Jetzt heißt es: ‚je toller, je besser‘! Je frecher die Reaction jetzt auftritt, desto eher bricht sie sich den Hals!“13 Die Entwicklung gestalte sich „für die Fortschritts-Partei immer günstiger, und Herr von Bismarck ist in der That, wie ihn die englischen Blätter nennen, der ärgste Demokrat. […] Während Wilhelm der Dumme aus allen Kräften gegen das parlamentarische Regiment ankämpft, hilft er nach Kräften, ihm eine recht sichere Grundlage im Volke zu verschaffen. Jetzt heißts wirklich: je toller, je besser – lange kann dieser reactionäre Schwindel nicht mehr dauern, und dann folgt ein um so rücksichtsloserer Fortschritt. Eine Junkerclique, wie die preußische ist, ist doch noch nicht da gewesen.“14

Haeckels liberale politische Ansichten fanden auch Rückhalt in seinem Jenaer Freundeskreis, vor allem bei dem Nationalökonomen und Statistiker Bruno Hildebrand, der schon 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung und 12 Exkursion nach Kösen, Sonntag 30.6.1861, in: Ernst HAECKEL, Himmelhoch jauchzen. Erinnerungen und Briefe der Liebe, hg. von Heinrich SCHMIDT, Dresden 1927, S. 203– 205. Vgl. die ausführliche Schilderung des Vorgangs in Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, 25.7.1861, in: EHA Jena, A 37758. 13 Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Jena, 26.10.1862, in: EHA Jena, A 37779. 14 Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, 20.2.1863, in: EHA Jena, A 38425.

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des Stuttgarter Rumpfparlaments gewesen war, und dem Juristen Wilhelm Endemann. Seit Beginn des Konflikts mit Dänemark um Schleswig-Holstein steigerte sich Ernst Haeckels Kritik an Bismarcks Politik. „Daß Dich die Politik in den letzten Wochen sehr angegriffen hat“, so schrieb er im Januar 1864 an seinen Vater Carl Gottlob Haeckel, „kann ich mir wohl denken. Mir ist es nicht besser ergangen. Wenn man bedenkt, wie ein halb blödsinniger König, der ganz in die Hand verbrecherischer Minister gegeben ist, sein ganzes Land und dazu noch das übrige Deutschland so ins Verderben treiben und verrathen kann, so möchte man wirklich an Allem verzweifeln. Indessen ist gerade dieses brüske wilde Gebahren der Reaction der fanatischen Junker eine recht heilsame Bildungsschule für das philisterhafte Bürgervolk. Unsere II Kammer hat sich doch jetzt zuletzt noch recht gut genommen. Sie hat allerdings sehr wenig positive Waffen in dem Kampfe gegen die Reaction. Auf eine Revolution würde man jetzt wohl vergebens hoffen. Ich lese jetzt mit Anna mit dem höchsten Interesse die ausgezeichnete Geschichte der französischen Revolution von Carlyle. Sie ist sehr lehrreich.“15

Die gemeinsame militärische Intervention Preußens und Österreichs gegen Dänemark vermochte Haeckels Kritik an Bismarcks Regierung nicht nur nicht dämpfen, sondern verstärkte sie sogar noch: „Der Schleswig-Holsteinische Krieg hat uns natürlich auch in gewaltige Aufregung versetzt. Aber freilich ist man auch hier sehr mißtrauisch und fürchtet kein gutes Ende, wenngleich es vorläufig scheint, als ob es mit der Vertreibung der Dänen wirklich Ernst sei. Bei dem heutigen verrätherischen und nichtswürdigen Verfahren der Berliner und Wiener Regierung und nun gar bei dem niederträchtigen Zusammenhandeln Beider muß man auch hier wieder das Schlimmste fürchten.“16

Als Ernst Haeckels Frau Anna am 16. Februar 1864, seinem 30. Geburtstag, plötzlich starb, stürzte er in eine Lebenskrise, sein Kampfgeist wich einer tiefen Depression. Nur die Flucht in die wissenschaftliche Arbeit auf einer mehrmonatigen Forschungsreise an die Mittelmeerküste stellte seine seelische Stabilität soweit wieder her, dass er im Herbst 1864 seine Lehrtätigkeit in Jena wieder aufnehmen konnte. Sein Interesse an der Politik fand zwar kaum noch Erwähnung in seinen Briefen, erlosch aber keineswegs. Auch an seiner vehementen Ablehnung Bismarcks änderte sich nichts. So kommentierte er im Februar 1866 die allgemein als skandalös empfundene Zulassung einer Anklage gegen zwei Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses wegen ihrer Parlamentsreden vom Mai 1865 durch den obersten preußischen Gerichtshof – einen Höhepunkt der antiliberalen Repressionspolitik Bismarcks – mit den Worten: „Ich persön-

15 Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, 28.1.1864, in: EHA Jena, A 38567. 16 Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, 8.2.1864, in: EHA Jena, A 38569.

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lich freue mich sehr darüber, weil ich glaube, daß sich dadurch diese ehrlose und gewissenlose Regierung selbst ihr Grab gegraben hat.“17 Im Hinblick auf die politischen Auffassungen Ernst Haeckels besonders interessant ist seine Korrespondenz mit seinem Bruder Karl, der seit 1855 Kreisrichter in Freienwalde gewesen und 1863 an das Kreisgericht Landsberg an der Warthe versetzt worden war. In ihrer Ablehnung Bismarcks waren sich die beiden Brüder in den Jahren des Konflikts um die Budgetbewilligung zwischen dem von der liberalen Fortschrittspartei dominierten preußischen Abgeordnetenhaus und der Regierung vollkommen einig. „In Politicis sieht es so trist aus, wie es nur kann“, schrieb Karl im Mai 1863. „Bismarck und Consorten werden den Karren wohl gründlich in den Dreck reiten, und das arme Volk nachher mit darunter leiden, wenn jene uns den Krieg auf den Hals geladen haben.“18 Allerdings besaß Karl Haeckel aufgrund seiner beruflichen Praxis als Richter eine realitätsnähere Perspektive auf das politische Geschehen als sein Bruder, dessen politisches Räsonnement sich vorwiegend der täglichen Zeitungslektüre und den Gesprächen mit seinem akademischen Freundeskreis speiste. „Wir werden noch sehr schwere Zeiten erleben und Du kannst Dich glücklich schätzen, wenn Du in diesen nicht dem preußischen Staatsverbande angehörst“, schrieb Karl im Januar 1864. „Unwillkührlich wünscht man in gleicher Lage zu sein; doch ist es wieder Pflicht jedes wahren Patrioten, gerade in solchen Zeiten zäh auszuharren und an seinem Platze für Nahrung und Kräftigung volksthümlichen Wesens zu thun, was in seinen Kräften steht.“19 Neben preußischem Patriotismus war für Karl Haeckel auch der rege Gedankenaustausch mit seinen politischen Freunden prägend, mit denen er seit den gemeinsamen Universitätsjahren eng verbunden war. Wie er selbst engagierten sie sich für das Ideal der deutschen Einheit und setzten sich bei den Wahlen für die Fortschrittspartei ein, darunter vor allem der Coburger Rechtsanwalt Johann Friedrich Forkel, langjähriger Vorsitzender der Coburger Stadtverordnetenversammlung und Landtagsabgeordneter,20 Friedrich Heinrich Meyer, Rechtsanwalt in Thorn,21 August Ferdinand

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Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, 10.2.1866, in: EHA Jena, A 38586. Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 21.5.1863, in: EHA Jena, A 34952. Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 19.–23.1.1864, in: EHA Jena, A 44690. Johann Friedrich Forkel (1822–1890), 1852–1856 und 1860–1864 Mitglied des Speziallandtages von Sachsen-Coburg und des gemeinschaftlichen Landtages von SachsenCoburg und Gotha, 1867–1871 und 1877–1881 Mitglied des Reichstages des Norddeutschen Bundes bzw. des Deutschen Reiches. 21 Friedrich Heinrich Meyer (1826–1888), 1852 Staatsanwalt, 1864 Rechtsanwalt in Thorn (Westpreußen), 1867–1875 Mitglied des Deutschen Reichstages, 1872 Oberregierungsrat im Reichsjustizamt.

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Richter, Prediger in Mariendorf bei Berlin,22 Ludwig Karl James Aegidi, Professor am Akademischen Gymnasium Hamburg,23 und Carl Bernhard Hieronymus Esmarch, Rechtshistoriker an der Universität Prag.24 In den spannungsgeladenen Tagen vor und während des preußisch-österreichischen Krieges und des territorialen Umbruchs in Deutschland 1866 war die Korrespondenz Ernst und Karl Haeckels von diesen historischen Ereignissen beherrscht. Leider sind die Briefe Ernst Haeckels aus dieser Zeit nicht überliefert, doch geben die Briefe Karls wenn auch indirekte, so doch höchst interessante Einblicke in die politischen Ansichten der Brüder. Insbesondere bilden sie den dramatischen Wandel in der Haltung zu Bismarck ab, der sich unter dem Eindruck des Krieges gegen Österreich im liberalen Lager vollzog, zur Spaltung der Deutschen Fortschrittspartei und zur Bildung der Nationalliberalen Partei führte. Ernst Haeckel war zunächst höchst irritiert darüber, dass innerhalb weniger Wochen aus dem Bismarckgegner Karl Haeckel ein nationalliberaler Bismarckianer wurde. Noch im April 1866 hatte Karl an Ernst geschrieben: „So wahrscheinlich mir ein Krieg mit Österreich ist, so wenig kann ich mir denken, daß er unter Bismarck‘s Führerschaft zu irgend einem zuträglichen Ende führen könne.25 Am 10. Mai skizzierte er jedoch bereits die Umrisse eines Kompromisses, in dessen Ergebnis das Parlament der Regierung Idemnität, die nachträgliche Billigung des verfassungswidrigen Regierens ohne ein vom Abgeordnetenhaus bewilligtes Budget, erteilen könnte. „Ich schreibe heut unter dem ersten frischen Eindruck der Auflösung und Zusammenberufung des Landtags. Damit ist Preußen wenigstens die Möglichkeit eröffnet, in wahrer Zusammenfassung aller Kräfte des ganzen Volkes in den schweren Krieg, der jetzt unvermeidlich scheint und früher oder später mit Österreich doch ausgefochten werden muß, einzutreten. Freilich gehört dazu, daß die Regierung das Budgetrecht des Abgeordnetenhauses unumwunden anerkennt, die Reorganisation des Heeres nicht als gesetzlich abgeschlossen ansieht und wegen der Vergangenheit eine Indemnitätsbill extrahirt. Werden diese Zugeständnisse gemacht, so kann man die Reform des Herrenhauses und die gesetzliche Regelung der Heerpflicht bis auf die nächsten ruhigen Zeiten aufsparen. Ich 22 August Ferdinand Richter (1822–1903), Prediger in Mariendorf bei Berlin, 1862–1879 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. 23 Ludwig Karl James Aegidi (1825–1901), Jurist, Dichter und politischer Schriftsteller, 1859–1868 Professor am Akademischen Gymnasium Hamburg, danach an der Universität Bonn, 1867–1868 und 1869–1870 Mitglied des Reichstages des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reichstages, 1867 und 1873–1893 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, 1871–1877 Vortragender Rat und Pressesprecher im Auswärtigen Amt. 24 Carl Bernhard Hieronymus Esmarch (1824–1887), 1855 Professor des römischen Rechts an der Universität Krakau, 1857 an der Universität Prag. 25 Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 19.–20.4.1866, in: EHA Jena, A 34964.

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halte Bismarck für klug genug sich zu solchen Konzessionen zu bequemen; wenn ich auch an seine aufrichtige Bekehrung zu wahrhaft konstitutionellen Ansichten nie glauben würde, so geht ihm doch das Bestreben, ein großes Ziel zu erreichen, über seine Parteiansichten, und er ist fähig, den konstitutionellen Weg aus Klugheit einzuschlagen, nachdem er eingesehen, daß der absolutistische nicht zum Ziele führt. Jedenfalls will ich lieber unter seiner entschlossenen Führung, als unter einem schwachköpfigen Reaktionsministerium (das, wenn man ihn beseitigt hätte, sicherlich gefolgt wäre) Preußen in den unvermeidlich gewordenen Krieg gehen sehen. Wir wollen abwarten, ob nicht dann die Macht der weiteren Ereignisse die preußische Staatsleitung in andere Bahnen hineinzwingen wird.“26

Ernst scheint diesen Sinneswandel seines Bruders scharf kritisiert zu haben, denn zehn Tage später versuchte Karl wieder, ihn von seiner Haltung zu überzeugen: „Du bist der Meinung, daß der überwiegende Theil der preußischen Liberalen in Bismarck‘s Lager übergegangen sei, und daß das Volk sich dazu hergeben werde, seiner absolutistischen Politik fortan zu dienen. […] Du nimmst […] an, wir trauten den anscheinend liberalen Regungen der Regierung in der deutschen Reformfrage. Daß das nicht der Fall, daß wir vor allem eine befriedigende Lösung des inneren Konflikts im liberalen Sinne verlangen und für nothwendig erachten, bevor das Volk sich aufrichtig der Regierungspolitik anschließen kann, diese Stimmung drücken die in den letzten 8 Tagen editirten Adressen aus den größeren Städten […] genugsam klar aus. Wir hoffen, daß die drohende äußere Lage […] die Regierung zur Umkehr und zum thatsächlichen Einlenken in die liberale Sache nöthigen und andere Persönlichkeiten ans Ruder bringen wird. – Auf anderem Wege als durch solche moralische Nöthigung und durch die finanzielle Klemme, in die die Regierung sonst geräth, läßt sich Nichts erreichen.“27

Noch nach der Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 scheint Ernst über die politische Wende der preußischen Liberalen so deprimiert gewesen zu sein, dass er an Auswanderung dachte und Karl zu einem erneuten, noch eindringlicheren Bekehrungsversuch veranlasste: „Glaube nicht, daß wir, die wir jetzt für rückhaltlose Unterstützung der Bismarckschen äußeren Politik sind, damit unsere liberalen Ansichten und Grundsätze aufgegeben haben. Nicht der Rausch der Siegesnachrichten, sondern die ruhige ‚Erwägung der Thatsachen und Verhältnisse heißt jeden, der nicht mir Dir nach Amerika auswandern und die Zukunft Deutschlands aufgeben will, so denken und handeln. Jetzt heißt es, Preußens Selbständigkeit und Deutschlands Einheit erringen […]; da müssen alle andern Rücksichten schweigen. […] Die Wünsche für den Ausbau der inneren Freiheit müssen vertagt werden. Hoffentlich sieht Bismarck, trotz der unrichtigen Bahnen, die er im Innern eingeschlagen hat, ein, daß er einen kräftigen Halt in der eigenen Position bekommt, wenn er sich auf das Volk beruft und dies ihm zur Seite steht. Daß er die Bedeutung dieses Faktors kennt, beweist, daß er schon in den Jahren 1859 und 61 […] die Berufung eines 26 Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 10.5.1866, in: EHA Jena, A 34975. 27 Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 20.5.1866, in: EHA Jena, A 34973.

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Parlaments anerkannt und es selbst verlangt hat. […] Ich finde es natürlich, und es ist mir und andern selbst schwer geworden, den Widerstand gegen die innere Politik der Regierung zeitweise bei Seite zu setzen und sich diese Nothwendigkeit eingestehen zu müssen. Aber es ist gewiß richtiger, daß man dies thut, als daß man ferner an seiner Theorie festhält und damit doch nichts durchsetzt. Die liberale Partei würde im Volk allen Halt verlieren und sich selbst ruiniren, thäte sie das.“28

Schon im Dezember 1866 konnte sich Karl Haeckel keine größere politische Katastrophe vorstellen als einen umlaufenden Gerüchten zufolge zu befürchtenden Rücktritt Bismarcks: „Es ist sehr zu wünschen, daß Graf Bismarck sich hält und seine Pläne glücklich durchsetzt. Sonst wird in der nächsten Zeit viel verderben, sowohl in den annektirten Provinzen, als in dem Verhältniß zu den übrigen norddeutschen Staaten.“29 Dass Ernst Haeckel schließlich doch noch auf die Positionen seines Bruders eingeschwenkt ist und ein engagierter Bismarckianer wurde, zeigen die folgenden Jahrzehnte. Wie Karl Haeckel fand auch Ernst Haeckel seine politische Heimat in der Nationalliberalen Partei und blieb deren Mitglied bis 1895, als ihn die seiner Meinung nach zu nachgiebige Haltung der nationalliberalen Reichstagsfraktion gegenüber dem „neuen Kurs“, für die er keine „Handlangerdienste“ leisten wollte, zum Austritt veranlasste.30 Ähnlich wie für Karl Haeckels politische Freunde, die nach der Gründung des Norddeutschen Bundes und dann im deutschen Kaiserreich endlich als Beamte, Reichstagsabgeordnete oder Mitglieder von Landesparlamenten politisch mitgestaltend wirken konnten – Ludwig Aegidi wurde sogar von Bismarck als Oberregierungsrat ins Auswärtige Amt berufen – erwiesen sich die liberalen Elemente der Politik Bismarcks auch für Ernst Haeckels Forschungs-, Vortrags- und Publikationstätigkeit auf dem Gebiet der Darwin’schen Entwicklungslehre als äußerst förderlich. Neue Freiräume taten sich insbesondere in der stark von liberalen Persönlichkeiten geprägten Wissenschafts- und Hochschulpolitik auf. 1870 schlug Ernst Haeckel ein glänzendes Berufungsangebot des österreichischen Kultusministers Karl von Stremayr an die Universität Wien aus und blieb in Jena. Für diese Entscheidung spielte neben anderen Aspekten auch die Mahnung seines Bruders Karl, er möge doch prüfen, ob das Wiener Angebot den Vorteil „der Zugehörigkeit zu einem großen deutschen Staatswesen, wie es gerade jetzt sich zu verwirklichen anfängt, aufwiegt“,31 eine nicht geringe Rolle. Die ihm 1872 und 1874 angetragenen Rufe nach Straßburg und Bonn schlug er zwar ebenfalls aus, doch machten sie deutlich, wie stark die Entwicklungslehre mittlerweile an wissen28 29 30 31

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 14.7.1866, in: EHA Jena, A 34977. Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 14.–18.12.1866, in: EHA Jena, A 34983. Ernst Haeckel an Karl Haeckel, 6.2.1895, in: EHA Jena, A 38143. Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 26.12.1870, in: EHA Jena, A 35017.

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schaftlicher Reputation gewonnen hatte. All das verband Ernst Haeckel mit dem Namen Bismarcks.

Abb. 1: Porträtfoto Bismarcks mit Hund (Friedrichsruh 6.4.1884). Am 29. Dezember 1885 nahm Karl Haeckel in einem Brief an Ernst Haeckels persönlichen Bezug zu dem Bild: „Gestern habe ich mir mit Heinz die Ausstellung der farbigen Skulpturen besehen. […] Dann ging ich mit ihm zu Amsler & Rudhardt und habe Dir dort ein Bildchen von Bismarck ausgesucht, das Du binnen 8 Tagen direkt zugeschickt bekommst. Hoffentlich gefällt Dir die Photographie mit dem Reichshunde.“

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Aegidi und später Franz Rottenburg, ein Bruder des mit Ernst Haeckel befreundeten Glasgower Kaufmanns Paul Rottenburg, nutzten ihre amtlichen Positionen in der unmittelbaren Umgebung Bismarcks dazu, Ernst Haeckels Forschungsreisen durch Empfehlungsschreiben an die diplomatischen Vertretungen des Deutschen Reiches zu fördern,32 was auch den Reichskanzler selbst auf den Jenaer Zoologen aufmerksam machte. Schon 1875 hatte Ernst Haeckel Bismarck mehrere seiner Publikationen „nebst einem humoristischen Briefe“ übersandt.33 Haeckel war mithin für Bismarck kein Unbekannter, als er im Juli 1892 mit der Jenaer Delegation in Bad Kissingen erschien, um ihn zum Besuch in die Saalestadt einzuladen.

Abb. 2: Telegramm Bismarcks an Ernst Haeckel (Friedrichsruh, 16.2.1894): „Zu Ihrem Geburtsfeste bitte ich Sie, meine herzlichsten Glückwünsche freundlich entgegen zu nehmen. von Bismarck“ 32 Vgl. Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 31.3.1873, in: EHA Jena, A 35051, sowie Ernst Haeckel an Karl Haeckel, 3.2.1890, in: EHA Jena, A 34964. 33 Vgl. Dankschreiben des Spezial-Bureaus des Reichskanzlers an Ernst Haeckel, 6.1.1876, in: EHA Jena, A 6979. Auf der Rückseite des Schreibens befindet sich folgende eigenhändige Notiz Ernst Haeckels: „An Bismarck am 28. Decbr. 1875 1) Natürliche Schöpfungsgeschichte, VI. Aufl. 1875 2) Anthopogenie II Aufl. 1874 3) Arabische Korallen I Aufl. 1876 nebst einem humoristischen Briefe gesendet (wobei Antwort verbeten) E. Haeckel. Hierauf vorstehende Antwort.“

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Für Haeckel blieb Bismarck zeitlebens eine überragende historische Persönlichkeit, mit der er sich vorbehaltlos identifizierte. Bismarck-Geburtstagsfeiern, die Errichtung des Bismarck-Brunnens auf dem Jenaer Marktplatz, die Erinnerungstafel an Bismarcks Besuch am Gasthof „Zum Schwarzen Bären“ in Jena, der Bau eines Bismarck-Turmes auf dem Tatzend oberhalb der Stadt – es gab kein auf Bismarck bezügliches Ereignis in Jena, an dem Haeckel nicht maßgeblich beteiligt gewesen wäre. Noch in hohem Alter, als Haeckel infolge seines Konflikts mit seinem Amtsnachfolger Ludwig Plate das Zoologische Institut und das von ihm begründete Phyletische Museum nicht mehr betreten konnte, identifizierte er sein Schicksal mit dem Bismarcks: „Plate hat mich einfach an die Luft gesetzt, buchstäblich aus meiner eigenen Schöpfung herausgeworfen. […] Es war das Schwerste, was ich in meinem langen Leben durchzumachen hatte. […] Huxley hat einmal von mir gesagt, ich sei der Bismarck der Biologie. Ich weiß nicht, ob’s zutrifft. Wenn ich aber schon einmal die Ehre haben soll, mit dem großen Manne verglichen zu werden, dann gehört es konsequenterweise wohl auch zu meinem Lebenslauf, daß ich auf meine alten Tage aus meiner Schöpfung herausgesetzt werde.“34

34 Ernst Haeckel im Gespräch mit Karl W. Neumann, 2.1.1910, zit. nach Adolf HEILBORN, Die Leartragödie Ernst Haeckels. Auf Grund von unveröffentlichten Briefen und Aufzeichnungen Haeckels, sowie der offiziellen Akten dargestellt, Hamburg/Berlin 1920, S. 49.

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Das Gutachten des Präsidenten des Oberverwaltungsgerichtes Jena Hellmuth Loening zur Rechtsnachfolge, Identität und Haftung des Landes Thüringen vom September 1946 Ein Beitrag zur Geschichte der Thüringen-Diskurse

Am 19. Juli 1946 richtete der Landesdirektor für Finanzen Leonhard Moog ein Schreiben an den Thüringer Landespräsidenten Rudolf Paul zu der Frage, ob das derzeitige Land Rechtsnachfolger des 1920 gegründeten Landes Thüringen, der ihm 1945 angeschlossenen preußischen Gebiete und des Deutschen Reiches sei und für deren Verbindlichkeiten hafte. Sein Landesamt lehne das ab. Andere bejahten eine solche Rechtsnachfolge und Haftung, da das Land ja frühere Landes- und Reichsvermögen verwalte und verträten die Ansicht, dass, wer die Aktiva übernehme auch für die Passiva einzustehen habe. Moog regte Fachgutachten an, um in dieser Streitfrage „den Rechtsstandpunkt des Landes einheitlich und klar zu begründen“.1 Wie notwendig dies war, unterstrich ein Schreiben des Erfurter Oberbürgermeisters vom 5. August an die Gesetzgebungs-Abteilung,2 das Moogs fiskalisch motivierten Standpunkt scharf zurückwies. Auf solche Weise die „Rechtsnachfolge in Bausch und Bogen zu verneinen“ und jegliche Haftung abzulehnen, erschüttere das „allgemeine Rechtsbewusstsein“ und führe zur Rechtsunsicherheit.3 Der kurz zuvor zum stellvertretenden Landesdirektor 1

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Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden: LATh-HStA Weimar), LTh-MfJ, Nr. 344, Bl. 1r, 1v (Anlage 1); Leonhard Moog (1882–1962) war von 1945 bis 1950 Landesdirektor/Minister für Finanzen und bis 1949 Landesvorsitzender der LDP in Thüringen; 1950 Flucht aus der DDR; Rudolf Paul (1893–1978), Jurist; vor 1933 DDP, NS-Berufsverbot; in der amerik. Besatzungszeit seit Mai 1945 OB von Gera, nach dem Besatzungswechsel seit Juli 1945 Landes-, seit Dezember 1946 Ministerpräsident des Landes Thüringen; 1945 zunächst parteilos; im April 1946 SED-Beitritt; im September 1947 Flucht aus der SBZ. Die Gesetzgebungs-Abteilung wurde von Landespräsident Paul im August 1945 unter Leitung Hellmuth Loenings in der Präsidialkanzlei (seit Februar 1946 Präsidialamt) eingerichtet und im Juni 1946 unter Leitung des linkssozialistischen Juristen Karl Schultes in das neu errichtete Landesamt für Justiz unter Helmut Külz (LDP) überführt. LATh-HStA Weimar, LTh-MfJ, Nr. 344, Bl. 2r, 2v; seit Mai 1946 amtierte Georg Boock (1891–1961), vor 1933 SPD, 1945/46 KPD/SED als OB von Erfurt; im September 1946

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für Justiz und neuen Leiter der Gesetzgebungs-Abteilung berufene Karl Schultes griff die Problematik am 15. August in einer Analyse grundsätzlicher „Probleme der Gesetzgebung“ auf.4 Da es sich weniger um eine juristische als um „eine politische Frage von weittragender Bedeutung“ handele, erwog Schultes gesetzgeberische Maßnahmen und ließ die von Moog angeregten Fachgutachten beim Oberlandesgericht (OLG) Gera5 und beim Oberverwaltungsgericht (OVG) Jena6 einholen. Die verwaltungsjuristischen Gutachten erstellten der in der Gesetzgebungs-Abteilung tätige frühere OVG-Vizepräsident Rudolf Knauth (26.8.1946)7 und der neue OVG-Präsident Hellmuth Loening (16.9.1946).8 Der OLG-Präsident Arno Barth gab seine Stellungnahme (3.10.1946) auf der Grundlage zweier von ihm dienstlich angeforderter Gutachten ab.9 Die Texte bezogen ähnliche Standpunkte und trugen in doppelter Hinsicht grundsätzlichen Charakter. Erstens erörterten sie die unter Staatsrechtlern strit-

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von der SMA erzwungene Wiederwahl Boocks statt eines zunächst gewählten LDPKandidaten. LATh-HStA Weimar, LTh-MfJ, Nr. 330, Bl. 85r–97r, Punkt 1; Karl Schultes (1909–1982) war im Juni 1945 von Hermann Brill als Regierungsrat in die Präsidialkanzlei berufen worden, seit Juli 1945 OB von Nordhausen, seit Mai 1946 Ministerialrat im Präsidialamt; er trat 1945 der KPD bei und leitete 1946/47 den rechtspolitischen Ausschuss beim SED-Landesvorstand; von Juni 1946 bis 1950 war Schultes stellv. Landesdirektor/ Minister für Justiz und Leiter der Gesetzgebungs-Abteilung; nach Amtsenthebung 1950 Flucht aus der DDR. Das OLG wurde 1817 in Jena als gemeinschaftliches Oberappellationsgericht der ernestinischen und reußischen Staaten gegründet, 1879 zum OLG umgebildet, 1920/21 vom Land Thüringen übernommen, seit April 1945 kommissarisch verwaltet, im August 1945 in Gera regulär wieder eröffnet, 1949/50 nach Erfurt verlegt und 1952 aufgehoben [1993 wieder eröffnet]. Das OVG Jena wurde 1912 gemeinschaftlich für die ernestinischen und schwarzburgischen Staaten gebildet, 1920/21 vom Land Thüringen übernommen, seit April 1945 kommissarisch verwaltet, im Juni 1946 regulär wieder eröffnet, 1948 zum LVG umgebildet und 1952 aufgehoben [1992 wieder eröffnet]. LATh-HStA Weimar, LTh-MfJ, Nr. 344, Bl. 9r–14r; Rudolf Knauth (geb. 1879) war seit 1912 Vizepräsident des OVG Jena, seit 1934 mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Präsidenten beauftragt, seit April 1945 kommissarischer Leiter des OVG Jena; 1946 wurde er wegen NSDAP-Mitgliedschaft aus dem Staatsdienst entlassen und freier Mitarbeiter in der Gesetzgebungs-Abteilung. LATh-HStA Weimar, LTh-MfJ, Nr. 344, Bl. 17r–23r (Anlage 2). Ebd., Bl. 24r–31r; Arno Barth (1893–1949), SPD/SED, hatte in der NS-Zeit Berufsverbot und war 1944/45 im KZ Buchenwald inhaftiert; dort Mitunterzeichner des „Manifestes demokratischer Sozialisten“; von August 1945 bis zu seinem Tode 1949 Präsident des OLG Gera; die Zuarbeiten stammten vom damaligen OLG-Senatspräsidenten Hermann Großmann (2.9.1946) – 1950/51 kurzzeitig Nachfolger Barths als OLG-Präsident – und aus einer Referendarübung (27.9.1946).

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tige Frage, ob das Deutsche Reich nach Niederlage, bedingungsloser Kapitulation, vierzonaler Besetzung und Übernahme der obersten deutschen Staatsgewalt durch den Alliierten Kontrollrat überhaupt noch existiere oder untergegangen sei. Damit griffen sie in damalige Grundsatz-Debatten über die staats- und besatzungsrechtliche Lage des „Vierzonen-Deutschlands“ nach dem Ende des Krieges und des NS-Regimes ein. Übereinstimmend kamen sie zu der Auffassung, dass das Deutsche Reich staats- wie völkerrechtlich weiter bestehe.10 Es sei im Sinne einer „occupatio bellica“ nur zeitweise von den Alliierten besetzt und in Besatzungszonen aufgeteilt, nicht aber im Sinne einer „debellatio“ annektiert. Zwar gebe es derzeit keine Reichsregierung. Doch übe der Kontrollrat seine Befugnisse für „Deutschland als Ganzes“ aus. Die Potsdamer Dreimächte-Konferenz habe die „wirtschaftliche Einheit Deutschlands“ erklärt und für einen künftigen Friedensvertrag wieder eine zentrale deutsche Regierung vorgesehen. Da das Reich rechtlich weiter existiere, könnten die Länder der vier Besatzungszonen nicht seine Rechtsnachfolger sein, sondern nur als seine Treuhänder und Nießbraucher handeln.11 Zweitens betonten die eingereichten Texte die staatsrechtliche Kontinuität und Identität des 1920 von sieben Kleinstaaten12 gegründeten und 1945 unter wechselnder – seit April amerikanischer, seit Juli sowjetischer – Besatzung um zuvor preußische Gebiete13 erweiterten Landes Thüringen. Es handele sich deshalb um keine Rechtsnachfolge, sondern um den gleichen Staat, weshalb das Land uneingeschränkt für frühere Verbindlichkeiten hafte. Bei den vom Land vorerst treuhänderisch wahrgenommenen Reichsfunktionen und bei den zuvor preußischen Gebieten müsse das – so Knauth und Loening – von Fall zu Fall 10 Ähnlich ausführliche Argumentation im Punkt 2 des Gutachtens Knauths und im Teil III des Gutachtens Loenings; hingegen ließ Wolfgang ABENDROTH, Die Haftung des Reiches, Preußens, der Mark Brandenburg und der Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts für Verbindlichkeiten, die vor der Kapitulation vom 8.5.1945 entstanden sind, in: Neue Justiz 1 (1947), S. 73–81 keine völker-, nur eine staatsrechtliche Weiterexistenz des Reiches gelten; als gängige Meinung setzte sich nach der Gründung zweier deutscher Staaten 1949 auf bundesdeutscher Seite die Annahme eines weiter existierenden deutschen Gesamtstaates durch, der nicht unbedingt mit dem früheren Reich identisch sein müsse (Walter SCHWENGLER, Das Ende des „Dritten Reiches“ – auch das Ende des Deutschen Reiches?, in: Hans-Erich VOLKMANN (Hg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München/Zürich 1995, S. 173– 199). 11 Barth lapidar in seiner Stellungnahme: „Eine Rechtsnachfolge Thüringens hinter dem Reich kommt selbstverständlich nicht in Frage. Aber das Land Thüringen handelt wie ein Niessbraucher“. LATh-HStA Weimar, LTh-MfJ, Nr. 344, Bl. 24r–31r. 12 Ernestinische Freistaaten [Sachsen-] Weimar-Eisenach, Gotha, Altenburg und Meiningen; schwarzburgische Freistaaten Rudolstadt und Sondershausen; Volksstaat Reuß. 13 Regierungsbezirk Erfurt; Kreis Herrschaft Schmalkalden.

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entschieden werden. Barth hingegen vertrat den Standpunkt, das jetzige Land hafte im gleichen Umfange für die Verbindlichkeiten des bisherigen Regierungsbezirkes Erfurt wie des früheren Landes Thüringen. Mit der „Preußenfrage“ selbst hielten sich seine Stellungnahme und die beiden verwaltungsjuristischen Gutachten nicht lange auf. Denn das Schicksal des Staates Preußen war bereits besiegelt. Wenige Monate später wurde er vom Alliierten Kontrollrat mit dem Gesetz Nr. 46 (25.2.1947) als „Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ aufgelöst.14 Schon 1945 hatten Akte territorialer Neuordnung massiv in den Gebietsstand Preußens eingegriffen – so beim Anschluss preußischer Gebiete an die Provinz (das Land) Thüringen und an das Land Mecklenburg(-Vorpommern) in der sowjetischen oder bei der Bildung des Landes Großhessen in der amerikanischen Besatzungszone.

Hellmuth Loenings Thüringen-Argumentation Hier interessiert besonders das Gutachten des OVG-Präsidenten, das Loening selbst als einen Beitrag zu den damals zonenübergreifenden fachöffentlichen Diskursen über staats- und besatzungsrechtliche Grundsatzfragen15 im weiteren wie zur Analyse der staatsrechtlichen Lage und territorialen Neuordnung Thüringens16 im engeren Sinne ansah und deshalb in der von Karl S. Bader (Freiburg/Br.) seit Juli 1946 herausgegebenen Deutschen Rechts-Zeitschrift teilveröffentlichte.17 Mit seiner Argumentation für eine staatsrechtliche Kontinuität und Identität des 1920 von sieben Einzelstaaten gegründeten und 1945 um die preußischen Gebiete erweiterten Landes Thüringen ist Loenings Gutachten ein 14 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 14 vom 31.3.1947, S. 262; Regierungsblatt für das Land Thüringen 1947, III, Nr. 3 vom 17.3.1947, S. 20; Gunther MAI, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945–1948. Alliierte Einheit – deutsche Teilung?, München 1995, S. 415–435. 15 Vgl. auch Diemut MAJER, Grundlagen des Besatzungsrechts 1945–1949, in: VOLKMANN (Hg.), Ende des Dritten Reiches (wie Anm. 10), S. 141–171 und als Beispiel einer zeitgenössischen Analyse der deutsch- und besatzungsrechtlichen Lage 1945 Arno BARTH, „Welches Recht gilt?“, LATh-HStA Weimar, LTh-BMP, Nr. 255, Bl. 10r–15r; Teilabdruck in: Tribüne vom 10.11.1945. 16 Vgl. als zeitgenössische Analyse Ilse VOIGT, Die staatsrechtliche Lage in Thüringen in der Zeit vom Zusammenbruch des „dritten Reichs“ bis zur Errichtung des Thüringer Landtages, Diss. (masch.), Erlangen 1948, als spätere Studie Volker WAHL, Thüringens territoriale Neuordnung 1945, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 46 (1992), S. 215–254. 17 Hellmuth LOENING, Rechtsgutachten über die Frage, ob das jetzige Land Thüringen Rechtsnachfolger des früheren Landes Thüringen und des Reiches ist (Auszug), in: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1 (1946), S. 129–133.

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markantes Beispiel bislang kaum untersuchter Thüringen-Diskurse nach 1945. Deshalb wird der darauf bezogene Teil seines Gutachtens vom 16. September 1946 hier abgedruckt und kurz porträtiert. „Das ‚frühere‘ und das ‚jetzige‘ Land Thüringen sind […] miteinander identisch“, lautete Loenings Kernsatz in diesem Teil seines Gutachtens; mit anderen Worten: von 1920 „bis auf den heutigen Tag gibt es nur einunddasselbe Land Thüringen, das allerdings in der Zwischenzeit verschiedene Wandlungen erfahren hat“. Ausgehend von der Frage „Sprechen nun diese Wandlungen nicht gerade gegen die Identität?“, erörterte Loening die aus seiner Sicht dafür wichtigsten Phasen der Landesgeschichte: (1) die Gründung des Landes Thüringen 1920 als eines nach der Weimarer Reichsverfassung „nicht souveränen Staates mit eigenen Hoheitsrechten“; (2) die nationalsozialistische „Verreichlichung“ 1934, die das Land zu einer Art „Reichsprovinz mit eigener Rechtspersönlichkeit“ umwandelte; (3) die Bildung der „Provinz Thüringen“ im Juni 1945 – seit dem Besatzungswechsel vom Juli als „Land Thüringen“ bezeichnet – unter Einschluss preußischer Gebiete. Damit entwickele sich das unter Besatzungshoheit erweiterte Land „immer mehr zu einem Gemeinwesen mit eigenständiger Herrschaftsgewalt (z.B. eigener Gesetzgebung)“ und befinde sich „im Fortschreiten zum – nicht souveränen – deutschen Gliedstaat“, was auch in dem von der sowjetischen Besatzungsmacht gebrauchten Begriff „föderales Land“ zum Ausdruck komme. Doch hätten all diese Wandlungen nichts am Charakter des Landes als „öffentlicher Gebietskörperschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit“ geändert, weshalb von der Identität des früheren und des jetzigen Landes Thüringen auszugehen sei. Anders wäre es nur, wenn 1945 ein völlig neuer Staat entstanden wäre. Doch das sei – im Gegensatz zur Bildung „Großhessens“ durch Zusammenschluss der Provinz Hessen-Nassau mit dem Land Hessen –18 nicht der Fall. Dem Land Thüringen seien 1945 lediglich früher preußische Gebiete angeschlossen worden, die zudem – abgesehen vom Eichsfeld – landschaftlich, wirtschaftlich und kulturell schon immer zum räumlichen „Thüringen“ gehört hätten. Das finde auch im neuen Landeswappen seinen Ausdruck, das dem Staatswappen von 1921 (sieben Sterne als Sinnbild der landesgründenden Einzelstaaten) nur einen achten Stern (als Sinnbild der neu hinzugekommenen preußischen Gebiete) hinzugefügt und zudem auf die Symbolik des alten Landgrafen-Wappens zurückgegriffen habe. Damit verband Loenings Argumentation klassische Deutungsmuster früherer Thüringen-Diskurse mit den Rechtsfragen. 18 Loening hätte hier auch auf die der Bildung „Großhessens“ (Oktober 1945) vorausgehende Bildung der Provinzen Sachsen (unter Einschluss des früheren Landes Anhalt) und Brandenburg (aus der ehemaligen Provinz Kurmark) verweisen können, die 1947 den Status als Länder erhielten.

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Das konnte keineswegs überraschen. Denn den Verwaltungsjuristen verband biographisch-lebensweltlich wie beruflich vieles mit Thüringen.

Hellmuth Loenings biographischer und beruflicher Hintergrund Hellmuth Loening (1891–1978) kam aus einer Verleger- und Juristenfamilie mit teilweise jüdischem Hintergrund.19 Sein zum evangelischen Glauben konvertierter, dabei seinen Namen (zunächst: Zacharias Löwenthal) wechselnder Großvater Carl Friedrich Loening (1810–1884) gehörte zu den Gründern des „Vormärz“-Verlages Rütten & Loening, der in der NS-Zeit zwangsweise an einen „arischen Verleger“ verkauft werden musste. Der Vater Richard Loening (1848– 1913) lehrte seit 1882 Straf- und Zivilprozess-Recht an der Universität Jena. Der 1891 in Jena geborene Hellmuth Loening nahm nach dem Studium in Heidelberg, Berlin und Jena, erstem Staatsexamen (1912), Kriegsdienst, Promotion (1919) und zweitem Staatsexamen (1920) seine berufliche Tätigkeit 1921 im Staatsdienst des Landes Thüringen auf – zunächst als Amtsgerichtsrat (Buttstedt) und Bezirkskommissar (Apolda), dann im Weimarer Innenministerium. Der parteilos bleibende, musisch begabte und kulturell sehr aufgeschlossene Loening heiratete 1922 mit Liselotte Schäfer eine Schülerin Feiningers und Moholy-Nagys am Bauhaus Weimar. Im gleichen Jahr verfasste er den maßgeblichen Kommentar zur Thüringer Landesverfassung von 1921, der bis 1925 in drei Auflagen erschien.20 Seit 1926 wirkte Hellmuth Loening als Verwaltungsgerichtsrat am OVG Jena.21 Dem NS-Regime stand er geistig und lebensweltlich deutlich ablehnend gegenüber. Als Nichtmitglied der NSDAP, unverkennbarer NS-Gegner und wegen seiner teilweise jüdischen Herkunft wurde er schikaniert und beruflich benachteiligt. Nach dem Ende des NS-Regimes und dem Besatzungswechsel berief ihn Rudolf Paul im August 1945 zum Leiter der präsidialen GesetzgebungsAbteilung. Zudem beauftragte er Hellmuth Loening, die im Juni begonnenen, 19 Vgl. die knappen biographischen Skizzen in: Felicitas MARWINSKI (Hg.), Thüringer Biographisches Lexikon. Lebenswege in Thüringen, 1. Sammlung, Weimar 2000, S. 133–136 [Hellmuth Loening]; Gerhard LINGELBACH (Hg.), Rechtsgelehrte der Universität Jena aus vier Jahrhunderten, Jena/Plauen/Quedlinburg 2012, S. 171–192 [Richard Loening u.a.]; Jüdische Lebenswege in Jena. Erinnerungen, Fragmente, Spuren, hg. vom Stadtarchiv Jena in Zusammenarbeit mit dem Jenaer Arbeitskreis Judentum, Jena 2015, S. 358–362 [Carl Friedrich, Richard und Hellmuth Loening] sowie den Nachruf auf Hellmuth Loening in: Archiv des öffentlichen Rechts 104 (1979), S. 135 f. 20 Hellmuth LOENING, Die Verfassung des Landes Thüringen, Weimar 31925. 21 Zu Hellmuth Loenings Thüringer Staats- und Justizdienst 1921–1948 vgl. seine Personalakten im LATh-HStA Weimar, PABJ, Nr. 7455 u. Nr. 7456.

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aber ins Stocken geratenen Arbeiten an einer neuen Landesverwaltungsordnung fortzusetzen, sie per Gesetz dem Staatsaufbau des erweiterten Landes Thüringen anzupassen22 und auf dieser Grundlage den Wiederaufbau des OVG Jena vorzubereiten, dessen richterliche Tätigkeit seit der amerikanischen Besetzung Jenas im April 1945 ruhte. Anfang Oktober 1945 ernannte er Hellmuth Loening zum künftigen Präsidenten des OVG Jena, das am 22. Juni 1946 als einziges Oberverwaltungsgericht der sowjetischen Besatzungszone feierlich wiedereröffnet wurde.23 In seiner Antrittsrede als OVG-Präsident unterstrich Loening die nun erreichte „Rechtseinheit“ altthüringischer und preußischer Gebiete. Er appellierte an die Behörden, eng mit dem OVG zusammenzuwirken und dafür die „Generalklausel“ uneingeschränkter verwaltungsgerichtlicher Überprüfbarkeit behördlichen Handelns – für ihn das „Kernstück“ eines auf den Schutz der Individualrechte gerichteten Rechtsstaates – zu akzeptieren.24 Mit dem Amtsantritt als OVG-Präsident gab Loening zwar die Leitung der Gesetzgebungs-Abteilung an seinen Nachfolger Schultes ab, blieb aber in ihr nebenamtlich als Koreferent für Staats- und Verwaltungsrecht und als Referent für Verwaltungsgerichtsbarkeit tätig. Zudem wirkte er als Gutachter in grundsätzlichen Rechtsfragen für die Thüringer Landesverwaltung/-regierung.25 Nach 22 Regierungsblatt für das Land Thüringen 1946, I, Nr. 11 vom 4.5.1946, S. 53–57 (LVOGesetz vom 26./27.11.1945); Hellmuth LOENING (Hg.), Landesverwaltungsordnung und Nebenbestimmungen. Organisationsgesetze zur Neuordnung der Verwaltung im Lande Thüringen (Thüringische Gesetze und Verordnungen, 7), Weimar 1946. 23 Zum Festakt am 22.6.1946 und den Eröffnungsreden vgl. LATh-HStA Weimar, ThOVG/LVG, Nr. 148, Bl. 92r–115r; Nr. 154, Bl. 78r–99r; zur Geschichte des OVG Jena und zu Loenings Präsidentschaft 1946/48 vgl. auch Thomas HEIL, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen 1945–1952. Ein Kampf um den Rechtsstaat, Tübingen 1996 (mit einer Kurzbiographie Loenings S. 279 f.); Hellmuth LOENING, 36 Jahre Thüringisches Oberverwaltungsgericht (1912–1948), in: Martin BARING (Hg.), Aus 100 Jahren Verwaltungsgerichtsbarkeit. Festschrift, Köln 1963, S. 153–169; Peter M. HUBER, 80 Jahre Thüringer Oberverwaltungsgericht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 118 (1993), S. 45–65; Hartmut SCHWAN (Hg.), 100 Jahre Thüringisches Oberverwaltungsgericht. Gedenkschrift anlässlich der Arbeitsaufnahme des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts Jena (1912) und der Errichtung der Thüringer Verwaltungsgerichtsbarkeit (1992), Stuttgart u.a. 2012. 24 Hellmuth LOENING, Ansprache zur Wiedereröffnung des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts in Jena am 22. Juni 1946 (Auszug), in: Archiv des öffentlichen Rechts 74/NF 35 (1948), S. 45–51. 25 So – außer dem hier behandelten Gutachten – mit seinen Gutachten zur Organisation landeseigener Betriebe (15.8.1946), zur Rechtsgültigkeit noch nicht im Regierungsblatt für das Land Thüringen veröffentlichter Gesetze (18.12.1946), zu Verwaltungs- und Verfassungsfragen (23.1.1947), zur Gesetzgebungs- und Verordnungsbefugnis der Zentralverwaltungen (6.2. und 13.8.1947), zur Stellung des Ministerpräsidenten (15.2.1947), zur Rechtsstellung der Richter (30.6.1947 und 19.1.1948), zum Beamtenrecht (21.7.1947) und

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Erlass des Kontrollrats-Gesetzes über Verwaltungsgerichte (10.10.1946) beteiligte er sich maßgeblich an den Debatten um die künftige SBZ-Verwaltungsgerichtsbarkeit, die er nach dem „Thüringer Modell“ gestalten wollte. Vergeblich stemmte er sich 1947/48 gegen jenen zoneneinheitlichen Weg, der für Thüringen mit dem Verwaltungsgerichts-Gesetz (7.10.1948) den Abbau der Kompetenzen des OVG Jena bedeutete und das Gericht in ein zonal angepasstes LVG umwandelte.26 Loening zog die Konsequenzen und verließ die SBZ. Gleichsam als sein Vermächtnis veröffentlichte er 1949 die Dokumentation „Kampf um den Rechtsstaat in Thüringen“.27 Diese Dokumentation und Hellmuth Loenings Flucht unterstrichen die justizpolitische Wende 1947/48 in der SBZ, mit der viele Protagonisten des „juristischen Neubeginns“ 1945 die SBZ verließen. Die Fluchtwelle fiel in Thüringen, dessen Ministerpräsident Rudolf Paul im September 1947 in die amerikanische Besatzungszone floh, besonders dramatisch aus. Bezeichnend für die politisch aufgeheizte Atmosphäre der Debatten 1947/48 um das LVG-Gesetz war der Vorwurf der SED-Fraktion im Thüringer Landtag, Loening habe bei dem geflohenen Ministerpräsidenten für seine Zwecke „antichambriert“ und sich beim Festhalten an der Generalklausel ausgerechnet die „Ordnungszelle Bayern“ als Vorbild genommen, was den Zuruf „Soll er doch auswandern!“ auslöste.28 Vergeblich wiesen Loenings Wegbegleiter auf die Absurdität hin, ausgerechnet dem NS-Gegner Loening eine „reaktionäre und antidemokratische Haltung“ vorzuwerfen.29 In seinem bisherigen Thüringer Wirkungsbereich galt Hellmuth Loening nach seiner Flucht als ein „ausgekochter reaktionärer Jurist“, der mit juristischen Finessen den „Aufbau demokratischer Selbstverwaltungsorgane“

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zur Mitwirkung des Landtags bei Vereinbarungen mit den Zentralverwaltungen (9.12.1947); vgl. auch LATh-HStA Weimar, ThOVG/LVG, Nr. 268 (GutachtenSammlung). Regierungsblatt für das Land Thüringen 1948, I, Nr. 16 vom 10.11.1948, S. 103–105 (LVG-Gesetz vom 7.10.1948); zum Gesamtvorgang vgl. Julian LUBINI, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern der SBZ/DDR 1945–1952, Tübingen 2015. Hellmuth LOENING, Kampf um den Rechtsstaat in Thüringen. Eine dokumentarische Zusammenstellung zur Entstehungsgeschichte des Thüringer Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetzes vom 7. Oktober 1948, in: Archiv des öffentlichen Rechts 75/NF 36 (1949), S. 56–102. Stenographischer Bericht der 42. Sitzung des Thüringer Landtags vom 4.6.1948, S. 1185 f. So der Justizminister Helmut Külz (LDP) am 4.11.1947 an die LDP- und CDUFraktionen des Thüringer Landtages (LATh-HStA Weimar, PABJ, Nr. 7455, Bl. 61r) oder zuvor der stellv. Justizminister und Leiter der Gesetzgebungs-Abteilung Karl Schultes (SED) am 12.4.1947 in einer Beurteilung Loenings (LATh-HStA Weimar, PABJ, Nr. 7456, Bl. 14r).

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behindert habe.30 Im Westen stieß er wie viele SBZ-Flüchtlinge zunächst auf verbreitete Abwehrhaltungen gegenüber einem „aus dem Osten Gekommenen“, zumal er mit seinem familiär-biographischen Hintergrund eher einen Außenseiter im juristischen Milieu darstellte. Doch konnte er bald beruflich wieder Fuß fassen. Er gehörte seit 1948 zum neuen – nicht NS-belasteten – Herausgeberkreis des Archivs des öffentlichen Rechts, wirkte u.a. als Präsident des Verwaltungsgerichtes in Minden (1949/52) und als Präsident des Kommunalsenats am OVG Münster (1952/59) und war Mitherausgeber der Kommunalen Steuerzeitschrift. Die Juristische Fakultät der Jenaer Universität ehrt ihn seit 1993 mit einem „Hellmuth-Loening-Forschungszentrum für Staatswissenschaften“. ---

Anlage 1 Schreiben des Landesdirektors für Finanzen Leonhard Moog vom 19. Juli 1946 Land Thüringen Landesamt für Finanzen 19.7.46 An den Herrn Präsidenten des Landes Thüringen W e i m a r. Wir haben bisher die Ansicht vertreten, dass das jetzige Land Thüringen weder staatsrechtlich noch zivilrechtlich Rechtsnachfolger des Reiches oder des früheren Landes Thüringen sei. Nur in Ausnahmefällen, insbesondere wenn das Land 30 So Edwin BERGNER, Zur Hilfe der Sowjetischen Militäradministration in Thüringen beim Aufbau der demokratischen Selbstverwaltungsorgane. Erinnerungsbericht, in: Beiträge zur Geschichte Thüringens II, Erfurt 1970, S. 19–31, hier S. 28; der wegen illegaler Widerstandsarbeit gegen das NS-Regime u.a. im KZ Buchenwald inhaftierte Edwin Bergner (1903–1980), KPD (KPO)/SED, wurde im Juni 1945 von Brill mit der politischen Säuberung der Thüringer Provinzialverwaltung beauftragt und leitete seit Juli 1945 die Personalabteilung der Präsidialkanzlei/des Präsidialamtes bzw. von Dezember 1946 bis 1948 das Personalprüfungsamt des MdI; 1961 bis 1969 war Bergner Direktor der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald.

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bereichert ist, oder eine andere Stellungnahme Treu und Glauben oder den guten Sitten widerspricht, sind wir von diesem Grundsatz abgewichen. In der Bevölkerung findet die Ablehnung der Rechtsnachfolge wenig Anklang, weil man daraus, dass das Land das frühere Reichs- und Landesvermögen verwaltet, schliesst, dass, wer die Aktiven übernimmt, auch für die Passiven einzustehen habe. Die Gerichte haben sich in den sich mehrenden Prozessen gegen das Land ebenfalls dahin geäussert, dass die Ablehnung der Rechtsnachfolge auf abwegiger formaler Konstruktion beruhe. Urteile in dieser Frage sind bisher noch nicht ergangen. Um abweichende Entscheidungen zu verhüten, erscheint es uns notwendig, den Rechtsstandpunkt des Landes einheitlich und klar zu begründen. Unter Bezugnahme auf den mündlichen Vortrag vom 11. d. Mts. möchten wir daher anregen, baldmöglichst von den Herren Präsidenten des Oberlandesgerichtes und des Oberverwaltungsgerichts ein Gutachten beizuziehen, das zu der angeregten Frage eingehend Stellung nimmt. Inzwischen werden wir, da auch der Herr Landespräsident unserer Ansicht zuneigt, nach wie vor die Rechtsnachfolge des Landes Thüringen insbesondere in zivilrechtlicher Beziehung ablehnen und bemerken dazu, dass die SMA. Thüringen31 uns auch untersagt hat, für Forderungen gegen das Land aus der Zeit vor dem 8. 5. 1945 Mittel in den Etat des Landes einzustellen. Die Frage ist für das Land von weittragender Bedeutung, da es sich z. B. für die Kirche, die Fürstenabfindung, aber auch für sonstige zivilrechtliche Forderungen um unübersehbare Werte handelt. Gleichzeitig gestatten wir uns auf eine Verordnung des Landes Sachsen vom 14.3.1946 über die Geltendmachung von Ansprüchen aus Massnahmen der öffentlichen Gewalt hinzuweisen, die geeignet ist, die Haftung des Landes insoweit einzuschränken. Wir geben anheim, den Erlass einer gleichen Ordnung in Erwägung zu ziehen und fügen Abschrift bei.32 In Vertretung: LMoog Quelle: LATh-HStA Weimar, LTh-MfJ, Nr. 344, Bl. 1r, 1v (ms. Ausfertigung mit hs. Korrekturen). 31 Sowjetische Militäradministration (für das föderale Land) Thüringen (SMATh) in Weimar. 32 Bl. 3r der Akte; die sächsische „Verordnung über die Geltendmachung von Ansprüchen aus Maßnahmen der öffentlichen Gewalt“ vom 14.3.1946 schloss bei Einsprüchen und Schadensersatz-Ansprüchen den Rechtsweg aus; Schultes ließ zwar im August 1946 einen an dieser Verordnung ausgerichteten Gesetzentwurf ausarbeiten, hielt aber diesen „sächsischen Weg“ in Thüringen für nicht begehbar.

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Anlage 2 Gutachten des OVG-Präsidenten Hellmuth Loening vom 16. September 1946 (Teil II) 16.9.1946 Rechtsgutachten über die Frage, ob das jetzige Land Thüringen Rechtsnachfolger des früheren Landes Thüringen und des Reiches ist. Erstattet von Dr. Hellmuth L o e n i n g Präsident des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts in Jena. I. Äussere Veranlassung für das Gutachten ist folgendes Schreiben des Landesamts für Finanzen vom 19. Juli an den Herrn Präsidenten des Landes Thüringen: […]33 II. Ist das jetzige Land Thüringen Rechtsnachfolger des früheren Landes Thüringen? Die Frage setzt voraus, dass das „jetzige Land“ Thüringen ein von dem „früheren“ Lande Thüringen verschiedenes Rechtssubjekt sei. Denn nur bei solcher Verschiedenheit, also beim Vorhandensein zweier voneinander verschiedener Rechtssubjekte, ist Rechtsnachfolge denkbar. Das „frühere“ und das „jetzige“ Land Thüringen sind aber miteinander identisch. Mit anderen Worten: seit dem 1. Mai 1920, dem Errichtungstage des Landes Thüringen (vgl. Reichsgesetz vom 30. April 1920 betr. das Land Thüringen, Reichsgesetzblatt [RGBl], S. 841), bis auf den heutigen Tag gibt es nur ein und dasselbe Land Thüringen, das allerdings in der Zwischenzeit verschiedene Wandlungen erfahren hat. Sprechen nun diese Wandlungen nicht gerade gegen die Identität?

33 Text des Schreibens des Landesamtes für Finanzen (Anlage 1).

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Das am 1. Mai 1920 errichtete Land Thüringen war mit seiner Errichtung ein zum Deutschen Reich gehörendes „Land“ und hatte damit die Eigenschaft eines – nichtsouveränen – Staates (vgl. Anschütz, Reichsverfassung, 10. Aufl., Anm. 3 zu Art.1). Diese Eigenschaft als Staat mit eigenen Hoheitsrechten verlor das Land Thüringen durch das Reichsgesetz vom 30. Januar 1934 (RGBl. I S. 75), wonach die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übergingen, das ihre Ausübung allerdings in weitem Umfange gleichzeitig auf die Länder rückübertrug (§ 1 der 1. VO vom 2. Febr. 1934 zu diesem Reichsgesetz, RGBl. I S. 81). Das Land Thüringen übte danach diese Hoheitsrechte nur noch im Auftrag und im Namen des Reiches aus. Es war also kein Staat mehr, sondern nur noch etwa als Reichsprovinz mit eigener Rechtspersönlichkeit zu bezeichnen. Eine weitere Wandlung in der Struktur des Landes Thüringen brachten die Veränderungen mit sich, die sich im Anschluss an den Zusammenbruch des Frühjahrs 1945 zugetragen haben. Auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung wurde damals in Weimar eine Provinzialregierung „für das Land Thüringen“ mit dem Sitz in Weimar errichtet (vgl. Bekanntmachung des damaligen Regierungspräsidenten vom 2. Juli 1945, Reg.Bl.34 S. 1). Nach dem Besatzungswechsel hat dann der Marschall Schukow als Chef der SMA am 16. Juli 1945 den bisherigen Oberbürgermeister in Gera Dr. Rudolf Paul zum „Präsidenten des Landes Thüringen“ ernannt35 und ihn ermächtigt, „die Vorstände der für den Aufbau der Verwaltung des Landes Thüringen zu errichtenden Landesämter zu bestellen“ (Bekanntmachung des Landespräsidenten vom 1. September 1945, Ges.S.36 S. 5). Hand in Hand mit diesen Massnahmen, die organisatorisch offenbar an die im Jahre 1934 begründete Eigenschaft des Landes Thüringen als „Provinz“37 anknüpften, wurde sein Gebiet auf Anordnung der Besatzungsmächte um bisher preussische Gebietsteile (im wesentlichen den Regierungsbezirk Erfurt) erweitert (vgl. Bekanntmachung des Regierungspräsidenten vom 2. Juli 1945, Reg.Bl.38 S. 1 und Bekanntmachung des Präs. des Landes Thürin34 Handschriftlich korrigiert, zunächst „RGBl“; die Ernennung Hermann Brills zum „Regierungspräsidenten der Provinz Thüringen“ erfolgte am 9.6.1945, die Bildung und Bestätigung der Provinzialregierung am 12./13.6.1945. 35 Die Territorialstruktur der SBZ (darunter des „föderalen Landes Thüringen“ als Gebiet der bisherigen „Provinz Thüringen“ ohne die westsächsischen Kreise) wurde durch den Befehl Nr. 5 des Obersten SMAD-Chefs Schukow vom 9.7.1945 zur Bildung sowjetischer Militäradministrationen in den Ländern und Provinzen festgelegt; die Ernennung Pauls zum Landespräsidenten erfolgte am 16.7.1945 durch den Befehl Nr. 1 des SMAThChefs Tschuikow. 36 Gemeint ist das Regierungsblatt für das Land Thüringen, Teil I („Gesetzsammlung“). 37 Die Bezeichnung lautete im Juni 1945 „Provinz“, erst nach dem Besatzungswechsel „Land Thüringen“. 38 Handschriftlich korrigiert, zunächst „RGBl“.

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gen vom 1. September 1945, Ges.S. S. 5). Seitdem hat sich das Land Thüringen immer mehr zu einem Gemeinwesen mit eigenständiger Herrschaftsgewalt (z.B. eigener Gesetzgebung) entwickelt und befindet sich im Fortschreiten zum – nicht souveränen – deutschen Gliedstaat, was z.B. auch in der von der Besatzungsmacht gebrauchten Bezeichnung „föderales Land“ zum Ausdruck kommt. Aber all diese Struktur-Wandlungen vom reichsangehörigen „Land“ mit staatlichem Charakter über die unselbständige Reichsprovinz zum deutschen Gliedstaat sind eben nur Wandlungen, die das Land Thüringen durchgemacht hat, die aber an seiner Existenz als öffentlicher Gebietskörperschaft nichts ändern und damit seine Eigenschaft als Gemeinwesen mit eigener Rechtspersönlichkeit nicht berührt haben. Dem gleichen Gedanken, selbst tiefgreifenden Strukturwandlungen öffentlicher Gemeinwesen bei der Frage nach ihrer Identität keine Bedeutung beizumessen, entspricht es, wenn die Wissenschaft bei revolutionärer Änderung der Staatsform annimmt, dass die Persönlichkeit des betreffenden Staates vor und nach dem Umsturz ein und dieselbe sei (vgl. Giese, Reichsverfassung, 7. Aufl., S. 4 und – hinsichtlich der Identität zwischen dem Reich bis zur Revolution 1918 und dem Reich nach diesem Ereignis – Anschütz, Reichsverfassung, 10. Aufl., S. 8 ff). Aus ähnlichen Erwägungen vertritt Jellinek (Allgem. Staatslehre 3. Aufl. 1921, S. 2) den Standpunkt, dass ein Staat, der z.B. durch Eintritt in einen Bundesstaat seine Souveränität verliert, doch dasselbe Gemeinwesen bleibe. Insbesondere kann aber auch in der Gebietserweiterung um die ehemals preussischen Gebietsteile nicht etwa ein Untergang, sondern höchstens noch eine Stärkung der Existenz des im Jahre 1920 errichteten Landes Thüringen liegen. Anders wäre es, wenn die ehemals preussischen Gebietsteile dem alten thüringischen Stammlande an Grösse gleich oder sogar wesentlich überlegen wären, so dass man etwa sagen könnte: Aus dem alten Lande Thüringen und den ehemals preussischen Gebietsteilen ist ein ganz neuer Staat gebildet worden, wie es z.B. bei Gross-Hessen der Fall ist (vgl. die Erklärung des Amerikanischen Delegierten in der 37. Sitzung des Alliierten Kontrollrates vom 20. August 1946, „dass die amerikanischen Behörden im Oktober 1945 die ehemalige preussische Provinz Hessen-Nassau mit dem föderalen Lande Hessen vereinigt haben, wodurch ein neues föderales Land, das unter der Bezeichnung Grosshessen bekannt ist, geschaffen wurde“). Im Lande Thüringen liegt es in dieser Beziehung ganz anders: Die bisherigen preussischen Gebietsteile sind wesentlich kleiner als das alte Land Thüringen, sind also in diesem nur aufgegangen. Das ist nicht nur quantitativ, sondern auch in folgender Hinsicht der Fall: Mit den neuen Gebieten sind – abgesehen vom Eichsfeld – Landesteile zum Lande Thüringen gekommen, die in geographischer und landsmannschaftlicher Beziehung von jeher als „Thüringen“ gegolten haben (z.B. Erfurt, Mühlhausen, Langensalza, Suhl, Schmalkalden usw.). So ist es nicht nur eine Äusserlichkeit, sondern eine sinnvolle, nämlich die Rechtskontinuität bejahende

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Symbolik, wenn das neue Staatswappen des Landes Thüringen (Gesetz vom 13. August 1945, Ges.S. S. 5) den in dem ursprünglichen Landeswappen (vgl. Gesetz vom 7. April 1921, Ges.S. S. 91) enthaltenen 7 Sternen (dem Sinnbild für die 1920 verschmolzenen 7 thüringischen Einzelstaaten) für die neu hinzugekommenen preussischen Gebietsteile einen weiteren achten Stern hinzufügt. Das Gesetz vom 13. August 1945 über das Wappen und die Landesfarben des Landes Thüringen (Ges.S. S. 5) bringt das in Absatz II unzweideutig zum Ausdruck: „Als Symbol für die Vereinigung der preussischen Gebietsteile mit dem Lande Thüringen wird den sieben Sternen des früheren Wappens ein weiterer achter Stern eingefügt.“ Hier wird also ganz eindeutig nicht von der Bildung eines neuen Landes Thüringen, sondern vom Aufgehen der bisher preussischen Gebietsteile im alten Lande Thüringen, also von einem blossen Gebietszuwachs, gesprochen. Aus demselben Grunde wird aus dem Landeswappen von 1933 (vgl. Ges. v. 24. Aug. 1933, Ges.S. S. 339) der thüringische Löwe übernommen und bleiben schliesslich die seit Errichtung des Landes Thüringen im Jahre 1920 eingeführten Landesfarben weiss-rot aufrechterhalten, die dem alten Thüringer LandgrafenWappen entnommen sind (vgl. Drucksachen des 1. Landtags von Thür. S. 103). Das „jetzige“ Land Thüringen bringt also auch in seiner ganzen Haltung, z.B. auch durch Erstreckung zahlreicher thüringischer grundlegender Gesetze und Verordnungen (LVO usw.) auf die preussischen Gebietsteile zum Ausdruck, dass es in rechtlicher Kontinuität mit dem „früheren“ Lande Thüringen identisch ist, mit anderen Worten, dass von 1920 bis jetzt unter dem Lande Thüringen nur einunddieselbe Gebietskörperschaft zu verstehen war und ist. […]39 Quelle: LATh-HStA Weimar, LTh-MfJ, Nr. 344, Bl. 17r–23r (ms. Durchschlag); auch ThOVG/LVG, Nr. 268, Bl. 16r–25r.

39 Die folgenden Teile des Gutachtens befassen sich mit den Fragen, ob das Land Thüringen Rechtsnachfolger des Reiches sei (Teil III) und für frühere Verbindlichkeiten des Landes Thüringen, Preußens und des Reiches hafte (Teil IV).

JOACHIM BAUER SIEGFRIED SCHMIDT UND DIE JENAER UNIVERSITÄTSGESCHICHTE

Siegfried Schmidt und die Erforschung der Jenaer Universitätsgeschichte Die Forschungen zur Jenaer Universitätsgeschichte haben eine lange Tradition. Doch erst 1908, anlässlich der 350. Jubelfeier der Salana, erschien eine erste zusammenfassende Darstellung aus der Feder von Ernst Borkowsky, die lange keine wissenschaftliche Ergänzung fand.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg war durch die großen gesellschaftlichen Veränderungen, die auch die Universitäten in der sowjetischen Besatzungszone und jungen DDR ergriffen, der Bedarf nach historischer Neuinterpretation entstanden. So, wie die Universitäten einen Wandel in ihrem inneren Aufbau und ihrer gesellschaftlichen Stellung erfuhren, sollte auch die Interpretation ihrer Geschichte neu erfolgen. Das diente nicht zuletzt der Konstruktion neuer Traditionslinien und vor allem der Legitimation einer neu entstehenden „sozialistischen Universität“. Einen willkommenen Anlass brachte das 400. Gründungsjubiläum der Jenaer Universität im Jahre 1958, das mit großem Festakt und der Veröffentlichung einer umfassenden und modernen methodischen Ansprüchen genügenden Universitätsgeschichte2 begangen wurde. An dieser Stelle soll nun die Rolle des Jenaer Historikers Siegfried Schmidt bei der Konzipierung und Umsetzung einer marxistisch orientierten universitätsgeschichtlichen Forschung in Jena in den Blick genommen werden. Johannes Siegfried Schmidt wurde 1930 in Dresden als Sohn eines erlernten Kaufmanns und Reichsbahnangestellten geboren. Er besuchte in Dresden die Volksschule, legte später sein Abitur ab und studierte seit 1948 an der FriedrichSchiller-Universität in Jena Geschichte, Deutsch und Kirchengeschichte. Nach seiner Promotion im Januar 1954 war er als Aspirant und wissenschaftlicher Assistent, seit 1959 als Oberassistent am Historischen Institut in Jena tätig. 1962 wurde er mit der Wahrnehmung einer Dozentur beauftragt, 1965 habilitierte er sich mit einer Arbeit über den kleinbürgerlichen Demokraten Robert Blum3 und

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Vgl. Ernst BORKOWSKY, Das alte Jena und seine Universität, Jena 1908. Vgl. Geschichte der Universität Jena 1548/58–1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum hg. von Max STEINMETZ u.a., 2 Bde., Jena 1958/62. Vgl. Siegfried SCHMIDT, Robert Blum (1807–1848). Vom Leipziger Liberalen zum Märtyrer der deutschen Demokratie, 2 Bde., Habilitationsschrift, Jena 1965. Eine spätere Biographie zu Blum erschien unter Siegfried SCHMIDT, Robert Blum. Vom Leipziger Liberalen zum Märtyrer der deutschen Demokratie, Weimar 1971.

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wurde schließlich 1971 zum ordentlichen Professor an der Friedrich-SchillerUniversität berufen. Er verstarb 1986 in Jena. Als Schüler von Karl Griewank lag sein wissenschaftlicher Schwerpunkt vor allem auf den Entwicklungen im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt auf den bürgerlich-demokratischen Umgestaltungsversuchen in Deutschland bis zur 1848er Revolution. Doch auch die Geschichte der Frühen Neuzeit und die Universitätsgeschichte weckten schon frühzeitig sein Interesse.4 1958 war in der vom Kulturbund der DDR herausgegebenen Wochenzeitung Sonntag ein Beitrag von Schmidt unter dem Titel: „Eine feste Burg der Vernunft: 400 Jahre Universität Jena“ erschienen.5 Es handelte sich, wenn man von seiner maschinenschriftlich verfassten Dissertation absieht,6 erst um seine zweite Veröffentlichung. Vorangegangen war lediglich ein Museumsführer „Schlacht bei Jena 1806“.7 1958 erschien dann im ersten Band der „Geschichte der Universität Jena“ sein umfangreiches Kapitel „Die Universität Jena im Zeichen von Pietismus und Aufklärung von Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Reorganisation der Universität unter Anna Amalia“.8 Für Siegfried Schmidt wurde damit die Universitätsgeschichte, speziell die der Alma Mater Jenensis, schon am Beginn seiner Wissenschaftslaufbahn ein zentrales Thema. Daran sollte sich bis zu seinem Tod nichts ändern. Denn eine seiner letzten Veröffentlichungen beschäftigt sich wieder mit „Methodologischen Überlegungen zur Erforschung und Darstellung der Universitätsgeschichte“ am Beispiel Jenas.9 Um die Leistungen Siegfried Schmidts auf diesem Gebiet bewerten und würdigen zu können, sollen deshalb drei Aspekte ins Auge gefasst werden: 1. der Werdegang universitätsgeschichtlicher Forschung in Jena 2. die Einbindung des Gegenstandes in die geschichtswissenschaftlichen Konzeptionen in Jena und in der DDR 4

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Zu den biographischen Angaben und dem wissenschaftlichen Werdegang vgl. Personalakte Siegfried Schmidt, Universitätsarchiv Jena (im Folgenden: UAJ), Bestand D, Nr. 5075, unpag. Vgl. Sonntag. Unabhängige Wochenzeitung für Kunst und modernes Leben, 35/1958, S. 4. Vgl. Siegfried SCHMIDT, Die Entwicklung der politischen Opposition im Königreich Sachsen zwischen 1830 und 1848, Diss. phil. (masch.), Jena 1954. Im Druck Siegfried SCHMIDT, Die Entwicklung der politischen Opposition im Königreich Sachsen zwischen 1830 und 1848, hg. von Werner GREILING, Dresden 2005. Ehrentraut MATZ/Siegfried SCHMIDT, Führer durch das Museum Cospeda, Jena 1958. Vgl. Geschichte der Universität Jena (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 167–216. Siegfried SCHMIDT, Methodische Überlegungen zur Erforschung und Darstellung der Universitätsgeschichte. Das Beispiel Jena, in: DERS. (Hg.), Universität und Wissenschaft. Beiträge zu ihrer Geschichte (Alma Mater Jenensis. Studien zur Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte, 3), Jena 1986, S. 15–21.

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3. der konkrete Beitrag, den Siegfried Schmidt für die Jenaer Universitätsgeschichte geliefert hat. Die Jenaer universitätsgeschichtliche Forschung konnte, wie bereits erwähnt, zum Jubiläum 1958 auf eine lange und reichhaltige Tradition zurückblicken. Schon das Jubiläum von 1858 hatte gewichtige Wissenschaftsbeiträge geliefert. Im Mittelpunkt standen die Gründungsgeschichte, die Geschichte des Personenverbandes sowie die Bedeutung der Jenaer Universität, die sie in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit und des anbrechenden 19. Jahrhunderts erlangt hatte.10 Erweitert wurden die Kenntnisse in der Zeit des Kaiserreiches durch Einzelstudien und die erwähnte Gesamtdarstellung von Borkowsky.11 In den 1920er Jahren erbrachte die Öffnung der fürstlichen Erhalterarchive für die Jenaer universitätsgeschichtliche Forschung kräftige Impulse. Neues Quellenmaterial war zugänglich. Man wandte sich nun der Wissenschaftsgeschichte, der Universitätsverfassung und der Edition der Universitätsmatrikel zu.12 10 Vgl. J[ohann] E[duard] C[arl] SCHWARZ, Das erste Jahrzehnd der Universität Jena. Denkschrift zu ihrer dritten Säkular-Feier, Jena 1858; Richard KEIL/Robert KEIL, Geschichte des Jenaischen Studentenlebens von der Gründung der Universität bis zur Gegenwart (1558–1858). Eine Festgabe zum dreihundertjährigen Jubiläum der Universität Jena, Leipzig 1858; Johannes GÜNTHER, Lebensskizzen der Professoren der Universität Jena seit 1558 bis 1858. Eine Festgabe zur dreihundertjährigen Säcularfeier der Universität am 15., 16. und 17. August 1858, Jena 1858; August BECK, Johann Friedrich der Mittlere, Herzog zu Sachsen. Ein Beitrag zur Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts, 2 Teile, Weimar 1858; Karl BIEDERMANN, Die Universität Jena nach ihrer Stellung und Bedeutung in der Geschichte des deutschen Geisteslebens von ihrer Gründung bis auf die Gegenwart. Eine Festgabe zum 300jährigen Jubiläum dieser Universität, zugleich ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte, Bran 1858; Gustav FRANK, Die Jenaische Theologie in ihrer geschichtlichen Entwickelung. Eine Festgabe, Leipzig 1858; Wilhelm PREGER, Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit, Erlangen 1859–61. 11 Vgl. Richard LOENING, Über ältere Rechts- und Kultur-Zustände an der Fürstlich Sächsischen Gesammt-Universität zu Jena. Rede gehalten bei der akad. Preisvertheilung am 19. Juni 1897 in der Kollegienkirche zu Jena, Jena 1897; Georg MENTZ, Johann Friedrich der Großmütige 1503–1554, 3 Teile, Jena 1903–1908; BORKOWSKY, Das alte Jena (wie Anm. 1). 12 Georg GOETZ, Geschichte der klassischen Studien an der Universität Jena von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Jena 1928; Max WUNDT, Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlaufe dargestellt (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde, NF, Beiheft 15), Jena 1932; Fritz CHEMNITIUS, Die Chemie in Jena von Rolfinck bis Knorr (1629–1921), Jena 1929; Otto KNOPF, Die Astronomie an der Universität Jena von der Gründung der Universität im Jahre 1558 bis zur Entpflichtung des Verfassers im Jahre 1927, Jena 1937; Die Matrikel der Universität Jena, Bd. 1: 1548 bis 1652, bearb. von Georg MENTZ in Verbindung mit Reinhold

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Entscheidend für die Institutionalisierung der Universitätsgeschichte wurde die auf Anregung von Georg Goetz ins Leben gerufene Initiative zur Gründung eines „Archivs für Jenaer Universitätsgeschichte“. Beteiligt waren Historiker, Bibliothekare und Archivare sowie institutionell der Verein für Thüringische Geschichte und Altertumskunde, der durch seine Zeitschrift bzw. deren Beihefte eine Plattform bot.13 Diese Linie fand unmittelbar nach 1945 noch eine Fortsetzung, freilich mit der Einschränkung, dass die Zeitschrift des Vereins nun nicht mehr verfügbar war. Standen in den 20er und 30er Jahren vor allem Einzelstudien im Blickpunkt des Interesses, änderte sich seit den frühen 1950er Jahren die Perspektive. Es ist vor allem den Jenaer Historikern Friedrich Schneider, Karl Griewank und Friedrich Zucker, dem Bibliothekar Hans Müller, dem Kirchenrat Reinhold Jauernig und dem Archivar Willy Flach zu danken, dass frühzeitig das nahende 400. Universitätsjubiläum in den Blick genommen wurde. Schon seit 1946 barg man die unter den Trümmern liegenden Archivalien und stellte diese im neugeschaffenen Universitätsarchiv bzw. der Universitätsbibliothek einer wissenschaftlichen Nutzung zur Verfügung.14 Seit den frühen 1950er Jahren kam ein weiterer, die Forschung außerordentlich belebender Aspekt hinzu. So verstand es Friedrich Schneider, zahlreiche Promovenden für die Universitätsgeschichte zu gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt vervollständigte man die Fachgeschichten und konzentrierte sich auf die Erarbeitung von Fakultätsgeschichten.15 Den Zeitgeist spiegelt eine Sitzung der Historischen Kommission der Friedrich-Schiller-Universität Jena am 23.10.1952 wider, bei der der Rektor den Vorsitz innehatte. Friedrich Schneider forderte die Fortführung universitätsgeschichtlicher Forschungen und vor allem eine Gesamtdarstellung der Jenaer Universitätsgeschichte. Der damalige Prorektor für gesellschaftliches Grundstudium, Klemens Hochkeppler, sah dafür drei Schwerpunkte als vornehmliche Aufgaben, die in ähnlicher Form bis zum Ende der DDR immer wieder ins Blickfeld gerückt wurden: 1. das alte Kulturgut zu präsentieren und „daran das Fortschrittliche herauszustellen“ JAUERNIG (Veröffentlichungen der Thüringischen Historischen Kommission, 1), Jena 1944. 13 Gemeint ist Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 1854–1943 u. Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde, Beiheft, 1905–1943. 14 Vgl. Geschichte der Universität Jena (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 437–450. 15 Vgl. u.a. Karl HEUSSI, Geschichte der theologischen Fakultät zu Jena (Darstellungen zur Geschichte der Universität Jena, 1), Weimar 1954; Ernst GIESE/Benno von HAGEN, Geschichte der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena 1958.

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2. den Jenaer Gedenkstätten mehr Aufmerksamkeit zu widmen 3. „die Geschichte der Universität in Verbindung mit der Stadt und den Großbetrieben zu betrachten“. Zugleich legte der Weimarer Archivar Willy Flach die geleistete Arbeit beim Aufbau des Universitätsarchivs offen. Im Ergebnis wurde eine Koordination der laufenden Qualifizierungs- bzw. Forschungsarbeiten zur Universitätsgeschichte vereinbart, ebenso die Abgabe aller Institutionsakten an das Universitätsarchiv, das sozusagen den (quellensichernden) Kern des Forschungsprojektes ausmachen sollte.16 Schon am 14. Dezember 1951 hatte das Staatssekretariat für Hochschulwesen dem Rektor einen Forschungsauftrag „Geschichte der Universität zur Vierhundertjahrfeier“ erteilt und 1.500 DM überwiesen. Die nun auf fester Grundlage arbeitende „Kommission für die Geschichte der Universität“ stand unter Leitung des Rektors und unter Vorsitz Friedrich Schneiders.17 Siegfried Schmidt beschäftigte sich zu diesem Zeitpunkt noch mit der politischen Organisation im Königreich Sachsen, war jedoch durch die Aktivitäten Karl Griewanks, der die „revolutionären“ Aspekte der frühen Studentenbewegung in den Blick genommen hatte, und über Friedrich Schneider eng mit der Universitätsgeschichte vertraut. Einen Einschnitt brachte das Ausscheiden Schneiders, der bis Ende 1955 für die Universitätsgeschichte verantwortlich zeichnete. Nun übernahm der aus Berlin gekommene Max Steinmetz die Leitung und brachte die Gesamtdarstellung 1958 mit dem ersten Band zur Publikation.18 Die Umstände, die zum Leitungswechsel geführt hatten, müssen hier bei Seite bleiben. Seit den harten Auseinandersetzungen um das Erbe bzw. die Traditionen der Salana in den frühen 1950er Jahren hatte sich jedenfalls auch für die Jenaer Universitätsgeschichte inhaltlich ein Umbruch hin zum Marxismus-Leninismus angebahnt.19

16 UAJ, BC 871, Protokoll von Friedrich Stier vom 23.10.1952. 17 Zu den ordentlichen Mitgliedern zählten die Dekane v. Jahn, Steffen, Preißker, Hofmann und Heide, der Prorektor Hochkeppler sowie Prof. Schwarz. Außerordentliche Mitglieder waren die Professoren v. Hagen, Giese, Buchda, Heußi, der Mathematiker Schneider und der Gesellschaftswissenschaftler Lothar Berthold. Vgl. ebd. 18 Vgl. demnächst Joachim BAUER, Max Steinmetz und das Konzept der Frühbürgerlichen Revolution, in: Christopher SPEHR (Hg.), Luther denken. Die Reformation im Werk Jenaer Gelehrter Schriften zur Geschichte der Theologischen Fakultät Jena [im Druck]. 19 Zum Forschungskontext vgl. u.a. Joachim BAUER, Von der „bürgerlichen Landesgeschichte“ zur „marxistischen Regionalgeschichte“. Die Jenaer Entwürfe zur „Geschichte Thüringens“ von 1965 und 1981, in: Matthias WERNER (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 219–233.

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Siegfried Schmidt lässt sich in den überlieferten Unterlagen der Kommission am 13. April 1956 als Protokollführer nachweisen.20 Aus Schmidts persönlichen Aufzeichnungen geht hervor, dass er sich den oben aufgezeigten historiographischen Werdegang der Jenaer Universitätsgeschichte systematisch erschlossen hatte.21 Sein Kapitel „Die Universität Jena im Zeichen von Pietismus und Aufklärung vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Reorganisation der Universität unter Anna Amalia“ analysiert auf der Basis des damaligen publizierten Forschungsstandes die Entwicklung der Salana im aufsteigenden „Zeitalter der Aufklärung“ und bescheinigt dem Verfasser eine gründliche Kenntnis der Entwicklungsprozesse. Mit Blick auf die Methode kündigt der Autor eingangs an, den Historischen Materialismus in Fragestellung und Interpretation anzuwenden, was sich in den allgemeinen übergreifenden Passagen niederschlug. Verwendung fanden vor allem Franz Mehring, Karl Marx und Friedrich Engels, einzelne neuere Titel aus der Sowjetliteratur und der DDR-Historiographie und vor allem die unter Schneider erstellten Dissertationen.22 Die in zahlreichen anderen Passagen der Universitätsgeschichte deutlich hervortretende politisch tendenziöse bzw. ideologisierende Perspektive kann jedoch in Schmidts Darlegungen – selbst bei den sich für eine Polemik nahezu anbietenden Gegenständen, wie der kleinstaatlichen Zersplitterung – kaum beobachtet werden. Auch die Einordnung der Jenaer Universität als einer dem „Typus der fürstlichen Universität“ zugehörenden bzw. als Ausbildungsstätte absolutistischer Beamter und Geistlicher, widerspricht dieser Feststellung nicht. Denn die herangezogenen Vergleichsbeispiele Halle und Göttingen gelten in der Universitätsgeschichte oftmals noch heute als die progressiveren und zukunftsweisenden Modelle. Schmidt versucht am Beispiel von Aufklärungsentwicklung, Merkantilismus, Pietismus, Wissenschafts- und Bildungsentwicklung den langsamen Aufstieg des deutschen Bürgertums aus universitätsgeschichtlicher Perspektive darzustellen. „Aufstieg und Abstieg der Salana“ kommen gleichsam in den Blick, Kleinstaatlichkeit und „patriarchalisch-enge und muffig-altmodische“ Atmosphäre heben die großen Leistungen der Generationen zwischen Franz Buddeus und Joachim Georg Darjes in Schmidts Darstellung keinesfalls auf.23 Die wissenschaftliche Tätigkeit Siegfried Schmidts nahm seit den 1960er Jahren ein anderes Profil an. Sein Interesse ging nun in Richtung Liberalismus, bürgerliche Parteien und politische Biographieforschung. Sucht man in seiner Publikationsliste nach einschlägigen Arbeiten zur Universitätsgeschichte, so wird man erst 1983 wieder fündig. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch, 20 21 22 23

Vgl. UAJ, V Abt. XVI, Nachlaß Siegfried Schmidt, Nr. 27, unpag. Vgl. ebd., Nr. 64, unpag. Vgl. Geschichte der Universität Jena (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 486–489. Ebd., Bd. 1, S. 214–216, hier S. 215.

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dass ihn seine Tätigkeit als Hochschullehrer viel öfter mit der Jenaer Universitätsgeschichte in Verbindung brachte, als seine Publikationsliste ausweist. So hatte Schmidt 1965 ein Seminar zur Geschichte der Burschenschaft angeboten. Hier verband er seine – wohl auch noch auf die Griewank’sche Tradition zurückreichenden – Interessen an der frühen deutschen Nationalbewegung und dem Frühliberalismus mit denen an der Jenaer Universitäts- und Studentengeschichte. Später, im Jahre 1973, weisen seine Aufzeichnungen auf zwei Veranstaltungen hin, bei denen er bereits konzeptionell gestaltend auf die Entwicklung der Universitätshistoriographie Einfluss nahm. Am 4. Juli 1973 fand eine „konstituierende Sitzung der Arbeitsgruppe Wissenschafts- und Hochschulgeschichte an der FSU“ statt. Schmidt hatte hierfür das „Selbstverständnis“ des Gremiums mit ausformuliert. Man sehe sich als Beratungsgremium, das die Vorhaben zur Geschichte einzelner Wissenschaftsdisziplinen koordinieren und in methodischen Fragen assistieren wolle. Zugleich bemühe man sich um Vorträge und Lehrveranstaltungen zur Universitätsgeschichte. Hierfür lag bereits eine Vorlesungskonzeption für Hörer aller Fakultäten (18 Stunden) vor. Zudem zeichne das Gremium für ein Projekt zur Erforschung der Jenaer Universitätsgeschichte – hier noch mit dem Schwerpunkt auf dem Zeitraum nach 1945 – verantwortlich.24 Am 2. November 1973 fand dann eine Arbeitstagung zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in Georgenthal statt, auf der Schmidt eine Diskussionsgrundlage vorlegte. Ausgangspunkt seines Referates zur Universitätsgeschichte bildete die Frage nach dem Umgang mit den Traditionen und die Auseinandersetzung mit dem „Traditionsnihilismus“, „wie er auch bei uns vor einigen Jahren in gewissen Ansätzen vorhanden“ gewesen sei. Er wolle deshalb zu einigen ausgewählten Problemen der Universitätsgeschichte, nicht speziell aber zur Wissenschaftsgeschichte sprechen.25 Schmidt entwickelte nun ein in vier Komplexe gegliedertes Programm. Es bietet Einblicke in sein weiterentwickeltes universitätsgeschichtliches Verständnis 15 Jahre nach dem Erscheinen der zweibändigen Jenaer Universitätsgeschichte von 1958: 1. Anliegen und Funktion der Universitätsgeschichte (in der sozialistischen Gegenwart). Dabei machte er zwei Aspekte bzw. Aufgabenkomplexe aus: a.)

Verstärkung der interdisziplinären Forschung zum Hochschulwesen, der wirkenden Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungsprozesse. Denn jede Hinwendung zu aktuellen Problemen der Hochschulbildung bedürfe einer gründlichen historischen Kenntnis.

24 Vgl. Kurzprotokoll, in: UAJ, V Abt. XVI, Nachlaß Siegfried Schmidt, Nr. 68, unpag. 25 Handschriftliches Manuskript, in: ebd.

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Aufgabe der Historiker sei es, so der VIII. Parteitag, das marxistischleninistische Geschichtsbild und das progressive humanistische Erbe sowie die revolutionären Traditionen weiter zu erschließen und auszubauen. Insofern komme der Universitätsgeschichte in Forschung und Lehre eine besondere Bedeutung für die Ausformung der Bewusstseinsinhalte zu.

2. bewegte ihn die Frage nach den Traditionen der Universitätsgeschichte. Progressive Traditionen müssten zweifelsfrei gepflegt und bewahrt werden. Aber mit der Suche nach den Traditionen seien viele Probleme verbunden, angefangen bei der Definition von Tradition. An dieser Stelle nahm Schmidt expliziten Bezug auf die in Gang gekommene Diskussion um das marxistisch-leninistische Traditionsverständnis in der DDR.26 Hier liege noch vieles unbeantwortet, so z.B. die „ ‚Multivalenz‘ von Taten, Ideen, Symbolen und Institutionen“, denn sie könnten in progressive und reaktionäre Traditionen münden. Zugleich müsse man zwischen „Tradition“ und „Würdigung von Leistungen“ (später als „Erbe“ bezeichnet) unterscheiden, denn Kenntnis und Auswertung von Vergangenem sei lange noch keine Tradition. Schließlich gelte es anzuerkennen, dass Traditionen, die nicht mehr Leitmaximen seien können, ihre Bedeutung verlieren müssen. An Humboldts Bildungsmodell sei aber erkennbar, wie lange und dauerhaft progressive Traditionen – z.B. die Einheit von Forschung und Lehre – wirkten. Darüber hinaus gelte es durch bewusste Erziehung Traditionen zu schaffen bzw. alte neu zu beleben oder mit Blick auf die Universitätsgeschichte auch mit neuem Inhalt zu füllen, sie zu modifizieren. Bemerkenswert ist ein Nachsatz im Manuskript. Ein „Verbot“ sei immer unsinnig und unmarxistisch, wenngleich die Umgestaltung viel Zeit in Anspruch nehme. Als Paradigmen für die Schaffung neuer oder den Wandel alter Traditionen führte Schmidt das Verhältnis von Hochschullehrer und Student, die Freizeitgestaltung der Studenten, das Verhältnis von Intelligenz und Arbeiterklasse, die Bindung des Studenten an seinen Hochschulort oder auch das Liedgut der Studierenden an. 3. Im dritten Schwerpunkt rückt Schmidt die „Hochschulgeschichte“ als wissenschaftlichen Gegenstand ins Blickfeld. Wichtig erscheint in unserem Zusammenhang die Feststellung, dass in der DDR – wie international – noch 26 Zusammenfassend zur Diskussion um Erbe und Tradition in der DDR vgl. Helmut MEIER/Walter SCHMIDT (Hg.), Erbe und Tradition in der DDR. Die Diskussion der Historiker, Berlin 1988. Zu Jena vgl. Franz BOLCK (Hg.), Erbe und Tradition an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Herausgegeben aus Anlaß der Konferenz des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen am 10. und 11. Februar 1977 in Jena, Jena 1977.

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keine abschließende Einigkeit über die Definition dieses Begriffs bestehe. Man stoße immer noch auf ein „Konglomerat unterschiedlicher Literatur“. Eine zentrale Frage sei die nach dem Verhältnis von Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte. Unter Hochschulgeschichte dürfe man keineswegs die „Summe von Geschichte der Fakultäten, Institutionen, Kliniken etc.“ verstehen oder die „Sammlung von Gelehrtenbiographien.“ Das sei zwar nützlich, jedoch allein keine Universitätsgeschichte. Hingegen sei eine Gleichsetzung von Wissenschafts- und Universitätsgeschichte auch nicht sinnvoll, denn bekannt sei zwar, dass ohne Forschung keine qualifizierte Lehre möglich ist, aber Forschung keinesfalls allein das Wesen der Universität bestimme. Das mache nun einmal die Verbindung von Forschung und Lehre und die Ausbildung von Eliten aus. Die Universitätsgeschichte bedarf dennoch der Wissenschaftsgeschichte, so Schmidt, denn diese schaffe wichtige Voraussetzungen. 4. Im vierten Punkt zählt Schmidt nun die anstehenden Projekte zur Jenaer Universitätsgeschichte auf: Eine Chronik seit 1945, die Fortführung der Universitätsmatrikel, die Neuherausgabe des populären Buches „Vom Collegium Jenese zur Volksuniversität“ sowie die weitere Erforschung der Universitätsgeschichte nach 1945.27 Zwischen 1974 und 1978 entstanden weitere Konzeptionen um die Jenaer Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, die mehr und mehr auch die Universitätsleitung beschäftigten.28 Kräftige Impulse gingen schließlich von der Konferenz „Kulturerbe und Tradition an der sozialistischen Universität“ aus,29 die 1977 in Jena stattfand und auf der der Rektor der Jenaer Universität das Hauptreferat hielt. Vertreten waren Spitzenfunktionäre aus Partei und Staatsführung. Es ging um das sozialistische Erbe- und Traditionsverständnis im Rahmen eines sich formierenden sozialistischen Nationalverständnisses. Hier trafen hochschul- bzw. kulturpolitischer Gestaltungswille von oben und universitäres, auf eigene Traditionen orientiertes Selbstverständnis seitens Angehöriger der Jenaer Universität aufeinander. Siegfried Schmidt fasste in Auswertung der Konferenz erneut sein persönliches Verständnis hinsichtlich der weiteren Aufgaben der Jenaer Universitätsgeschichte zusammen. Unter Hinweis auf verschiedene Vorgaben der Parteiführung im Umgang mit dem „Erbe“ und den „Traditionen“ formulierte er konkrete Arbeitsaufgaben. Im Zentrum stand eine längerfristige Konzentration auf einzelne Projekte zur Festigung der sozialistischen 27 Handschriftliches Manuskript, in: UAJ, V Abt. XVI, Nachlaß Siegfried Schmidt, Nr. 68, unpag. 28 Vgl. Manuskripte und Konzepte in: ebd. 29 Vgl. BOLCK (Hg.), Erbe und Tradition (wie Anm. 26).

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Traditionen an der Friedrich-Schiller-Universität, vor allem aus der Zeit nach 1945. Die Projekte sollten nun „generell als Beitrag zum 425. Jahrestag der FSU angelegt werden“. Konkret standen wieder die Chronik nach 1945, eine wesentlich überarbeitete Neuauflage des Buches „Vom Collegium Jenense zur Volksuniversität“, ein Sammelband zur Geschichte der FSU nach 1945 und wissenschafts- bzw. institutionengeschichtliche Einzeldarstellungen im Mittelpunkt.30 Aus einem Briefwechsel zwischen der Universitätsleitung und dem Institut für Hochschulbildung Berlin aus der Mitte des Jahres 1978 geht hervor, dass Siegfried Schmidt nun das Projekt einer neu zu erarbeitenden Gesamtdarstellung der Friedrich-Schiller-Universität von den Anfängen bis zur Gegenwart leiten sollte.31 Hier flossen die methodisch-konzeptionellen Überlegungen zusammen. Den Rahmen bildete das mittlerweile in der DDR-Geschichtswissenschaft und in der Öffentlichkeit breit referierte und auch zeitlich und inhaltlich geweitete Erbe- und Traditionskonzept der DDR.32 In diesem Sinne sind wohl auch die Formulierungen in Schmidts Konzeption vom Dezember 1977 zur ursprünglich geplanten Überarbeitung und Neuherausgabe des Buches „Vom Collegium Jenense zur Volksuniversität“, das in erster Auflage 196033 erschienen war, zu verstehen: „Die Publikation versteht sich als Beitrag zur Erschließung des wissenschafts- und bildungsgeschichtlichen Erbes und der fortschrittlichen Traditionen, welche die Jenaer Universität seit dem 16. Jahrhundert in allen Geschichtsperioden hervorgebracht hat. Sie dient der Pflege dieser Traditionen und soll so zur Vertiefung des sozialistischen Geschichts- und Nationalbewußtsein beitragen. Sie soll die Verbundenheit der Universitätsangehörigen, insbesondere der Studenten, mit ihrer sozialistischen Universität […] fördern.“

Gegenstand dieser Darstellung sei deshalb die Entwicklung der Salana von der „spätfeudalen zur bürgerlichen, von der bürgerlichen zur sozialistischen Universität“. Es gehe um eine ausgewogene Gesamtdarstellung, die die Universität in ihren Höhen und Tiefen, Siegen und Niederlagen vorzeige und jegliche historische Besserwisserei zu vermeiden habe.34 Man entschied sich jedoch bereits kurze Zeit später, eine völlig neue Publikation mit dem Titel „Geschichte der Universität Jena von 1558 bis zur Gegen-

30 Vorschläge zu den Schlußfolgerungen aus der Erbe-Konferenz vom 10./11.2.1977, Ms, undatiert, in: UAJ, V Abt. XVI, Nachlaß Siegfried Schmidt, Nr. 68. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. MEIER/SCHMIDT (Hg.), Erbe und Tradition (wie Anm. 26). 33 Vgl. Günter STEIGER (Bearb.), Vom Collegium Jenense zur Volksuniversität. 400 Jahre Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena 1960. 34 Konzept (Ms), Dezember 1977, in: UAJ, V Abt. XVI, Nachlaß Siegfried Schmidt, Nr. 68 und 71, unpag.

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wart“ zu erstellen. Die Konzeption legte Schmidt im April 1979 vor.35 Ein Brief des verantwortlichen Verlags Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar an den Rektor der Jenaer Universität aus dem Jahre 1980 bringt jedoch ein grundlegendes Problem, das die Erarbeitung der Publikation von Anfang an prägte, zur Sprache. Die Verlagsleitung zweifelte frühzeitig daran, dass die in der Konzeption veranschlagten Forschungsarbeiten in der bis zum Jubiläum von 1983 noch zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt umgesetzt werden könnten. Umfassende Detailforschung sei zudem angesichts der erst 1958 erschienenen zweibändigen Gesamtdarstellung kaum erstrebenswert. Es gehe insgesamt vielmehr um die Ausgewogenheit der einzelnen Kapitel und zeitlichen Abschnitte, denn die unverkennbare Dominanz der „letzten 25 Jahre […] die wiederum nicht ohne die Traditionen der vorhergehenden Jahrhunderte dargestellt“ werden könnten, sollte so nicht im Raum stehen bleiben.36 Die bis 1983 entstandene Gesamtdarstellung zeichnete sich tatsächlich nicht dadurch aus, bislang unbekanntes Material zu präsentieren. Ihre Stärke lag ganz offensichtlich im modernen methodischen Zugriff auf das Thema „Universitätsgeschichte“.37 Schmidts letzte Veröffentlichung zur Universitätsgeschichte aus dem Jahre 1986 fasste nochmals seine methodischen Überlegungen zusammen und forderte zu einer konsequenten Rezeption der westeuropäischen bzw. amerikanischen sozialgeschichtlichen Forschung auf. Die internationale Historiographie in den Blick nehmend, machte er zwei Trends bzw. Entwicklungsbereiche aus: 1. Die Notwendigkeit, auch weiterhin „autonome“ und „interne“ Institutionengeschichten im Kontext der allgemeinen historischen Entwicklung zu erstellen und 2. Hochschulgeschichte stelle sich als Bestandteil von Bildungs- und Sozialgeschichte sowie als Element in der Struktur- und Entwicklungsgeschichte der Gesellschaftsformation dar.

35 Vgl. Konzeption (Ms) vom 9. April 1979, in: ebd., Nr. 71, unpag. 36 Schreiben des Verlags vom 24. April 1980 an den Rektor der FSU, in: ebd. Zur Verlagsplanung vgl. Aktennotiz (Ms) vom 6. April 1979; Gesprächsprotokoll über die Verhandlungen vom 2. Juni 1980, in: ebd. 37 Vgl. Alma Mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena. Im Auftrag des Rektors der Friedrich-Schiller-Universität Jena […] hg. von Siegfried SCHMIDT in Verbindung mit Ludwig ELM und Günter STEIGER, Weimar 1983; Rüdiger VOM BRUCH, Bildungssystem, Universitäten, Wissenschaften, Gelehrte. Neuere Arbeiten und Ansätze zur deutschen Entwicklung vom 18. bis 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 438–481, hier S. 439. Vom Bruch würdigt vor allem die Einbeziehung der sozialgeschichtlichen Perspektive in der vorgelegten Gesamtdarstellung.

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Mit Blick auf die Geschichtsforschung in der DDR erhob Schmidt die Forderung, sich künftig viel mehr und vor allem methodisch ausgreifend der eigentlichen Universitätsgeschichte zuzuwenden. Dabei seien insbesondere die Ergebnisse der westeuropäischen und amerikanischen Forschung auf dem Gebiet der Sozialgeschichte zu beachten. Auch alte Fragestellungen der Universitätsgeschichte seien es wert, neu durchdacht zu werden. Exemplarisch stellte er die Frage nach dem Charakter der Universität. Könne es überhaupt eine generelle Antwort geben, wenn man die Universität des Mittelalters und des Sozialismus im Blick hat? „Ist die ‚Idee der Universität‘ eine Chimäre?“ Sein Themenkatalog greift eine Reihe bereits in älteren Konzeptionen aufgeworfener Fragen auf, stellt diese jedoch in viel konsequenterer Form in den Kontext aktueller Trends der internationalen Geschichtsforschung. Schmidt formuliert nun zugespitzt drei Thesen, die im gewissen Sinne auch als ein Fazit seiner 30-jährigen Beschäftigung mit dem Gegenstand Universitätsgeschichte gesehen werden können: 1. In der Universitätsgeschichte sollten die Hohen Schulen weder als reine Funktionsorgane der Gesellschaft, noch als autonome Wissenschaftskorporationen verstanden werden. Das Hauptproblem bestehe darin, den jeweiligen „formationshistorischen“ Standort der Universitäten zu bestimmen und sie „genetisch-strukturell“ in den gesellschaftlichen Kontext einzuordnen, was schließlich hin zur Typisierung führe. 2. Eine rein quantifizierende, auf Qualifikations- und Innovationsfunktion abhebende Universitätshistorie bedeute hingegen einen methodischen Rückschritt. Es gehe um komplexe Analysen, die „obwaltende Ideen, wissenschaftliche Leistungen und Innovationen gleichsam im Blick haben“. 3. Mehr Beachtung müsse „die außerordentliche Differenziertheit universitärer Existenz im jeweiligen staatlich-politischen, geographisch-verkehrsmäßigen, ökonomischen und geistigen Umfeld“ erfahren. Zweifelsfrei habe es immer große leistungsfähige Universitäten neben kleineren gegeben, also Göttingen und Helmstedt. Das dürfe keinesfalls dazu führen, eine allgemeine Universitäts- und Bildungsgeschichte lediglich am Beispiel der großen Bildungsstätten zu orientieren. „Die Spezifik jeder einzelnen Universität behält ihren unverwechselbaren Rang“. Die kleinen, einen Durchschnittstyp verkörpernden, müssten in vollem Maße Berücksichtigung finden. Bei jeder Einzeldarstellung, vor allem zu älteren Universitäten, gelte es überdies ihre regionalhistorische Besonderheit, die internen Faktoren und die spezifi-

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schen Traditionselemente zu beachten und mit der komparativen Sicht auf die allgemeine Universitätsgeschichte zu verbinden.38 Wenn der hochbetagte Nestor der universitätsgeschichtlichen Forschung in der DDR, Max Steinmetz, im gleichen Band ein historiographisches Fazit zur Universitätsgeschichte in der DDR zog und dabei feststellte: „Führend in der Erforschung und Darstellung sind die drei mitteldeutschen Universitäten HalleWittenberg, Jena und Leipzig“, denn „nur hier hat sich ein Forschungspotential herausgebildet, das auch personell die Arbeiten von 1952 bis 1984 verbindet“, ist dies nicht zuletzt auch Siegfried Schmidt und seinem universitätsgeschichtlichen Schaffen zu verdanken.39

38 SCHMIDT, Methodische Überlegungen (wie Anm. 9), S. 15–21. 39 Max STEINMETZ, Die Universitätsgeschichtsschreibung in der DDR, in: SCHMIDT (Hg.), Universität und Wissenschaft (wie Anm. 9), S. 12.

H E L M U T -E B E R H A R D P A U L U S VOM SINN DER KOMMUNIKATIVEN BETRACHTUNG

Vom Sinn der kommunikativen Betrachtung Überlegungen zum Erkenntnisgewinn aus der dialogischen Kontextualisierung von Geschichtszeugnissen1

Das öffentliche Tagungswesen gilt heute in gewissem Sinne als ein Markenzeichen der Demokratisierung der Gesellschaft. Fachtagungen haben daher in den letzten Jahren geradezu sprunghaft zugenommen, dabei häufig ausgerichtet auf Publizität in den Medien, sowohl in der Presse wie im Netz. Stellt man sich jedoch die Frage nach der Breitenwirkung derartiger Fachtagungen, so ergibt sich ein eher zwiespältiges Bild. Viele Tagungen sind gar nicht auf das breite Publikum angelegt, obwohl sie dieses letztlich doch im Visier haben. Manche Tagungen und Kolloquien haben auch gar nicht die offen aufklärende Information zum Ziel, sondern nur die Bestätigung bereits vorgefasster Ziele, sind also im Grunde das, was man zutreffend als Propagandaveranstaltung bezeichnen darf. Ihre Themenwahl und bisweilen auch ihre Zielgruppe sind nicht auf eine breite Beteiligung der Bevölkerung angelegt, sondern auf eine exklusive Experten- und Interessengruppe. Wir stoßen damit an ein allgemeines Problem der öffentlichen Fachdiskussion und stehen vor der Frage, inwieweit derartige Veranstaltungen den Bürger als Gesprächspartner anerkennen, ihn zur Beteiligung einladen und inhaltlich mitnehmen. Mitnahme muss immer inhaltlich und nicht nur formal, auch didaktisch und nicht nur medial erfolgen. Damit Tagungen, Symposien und Kolloquien ihrem demokratischen, das heißt ihrem breiten gesellschaftlichen Auftrag und ihrer öffentlichen, das heißt ihrer alle Interessierten beteiligenden Funktion gerecht werden, müssen sie also thematisch und strukturell, didaktisch und barrierefrei auf das breite Publikum angelegt sein, ohne deshalb an wissenschaftlicher Kompetenz und inhaltlicher Aussagekraft zu verlieren. Wenn bei solchen Veranstaltungen Barrieren entstehen, so liegt das Problem zumeist nicht im fehlenden Interesse an derartigen Veranstaltungen, sondern an kommunikativen und organisatorischen Barrieren. Barrieren sind eben nicht nur ein Thema für Behinderte, wie es die öffentliche Diskussion derzeit vorgibt, 1

Dieser Beitrag ist die überarbeitete Version der abschließenden Dank-Ansprache im Rahmen des Kolloquiums anlässlich meiner Verabschiedung als Direktor der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten am 28.4.2017 auf Schloss Heidecksburg in Rudolstadt.

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sondern sie artikulieren sich auch in finanziellen und räumlichen Hindernissen oder zeigen sich als Barrieren der Sprache, der Mentalität und der Allgemeinverständlichkeit. Ein großes Problem ist die manchmal bis an Unmöglichkeit grenzende Unfähigkeit der Experten, sich in einer ihren Mitmenschen verständlichen Sprache auszudrücken, also im Grunde das zu praktizieren, was wahre Wissenschaft schon seit der Antike ausmacht, nämlich die Kommunikation des Wissens aus Fragestellung, Betrachtung und Problemdarstellung an die Nichtwissenden. Es stehen hier also zwei Begriffe im Raum: die öffentliche und damit möglichst für jedermann zugängliche Kommunikation und die kollektive, möglichst gemeinsame Betrachtung der Phänomene im Dialog. Kommen wir zunächst zum Institut der Betrachtung. In Zeiten von Smartphones und digitaler Vernetzung scheint diese menschliche Verhaltensweise heute etwas unter die Räder gekommen zu sein. Betrachten, zumindest mit verweilender Sorgfalt und detailbezogener Genauigkeit, scheint heute vielen antiquiert zu sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Betrachtung der Dinge verlangt, zu beobachten, zu untersuchen und nachzuforschen. In den Zeiten des schnellen Internet scheint man dafür keine Zeit mehr zu haben. Vielmehr droht heute der allgemeine Verlust der über Generationen erworbenen menschlichen Fähigkeit des konsequenten Betrachtens, auch des Umschreibens eines Phänomens sowohl mit den Augen als auch mit den Worten, also des Erfassens mit allen Sinnen und des Ausdrückens in entsprechenden Begriffen. Der schnelle Wechsel von Bildern und Eindrücken in unserem Alltagsleben, die ununterbrochene, auf uns einströmende Kette an Informationen lenkt uns davon ab. Die ständige Flutung mit dialektischen Fragen des Entweder-Oder, selbst dort, wo Dialektik gar nicht am Platze ist, lässt uns kaum noch Zeit zur konsequenten und selbstbestimmten Betrachtung von Bildern, von Spuren des Lebens, von Stimmungen und vielen weiteren Wahrnehmungsphänomenen. Die „eingehende Betrachtung“ ist – so darf man bedauernd feststellen – schlicht aus der Mode gekommen; und dies obwohl sie eines der wichtigsten Instrumente unseres Erkenntnisgewinns ist. Die bis heute vorherrschende Vorstellung, die wir von einer sorgsamen Betrachtung der Dinge haben, geht sehr wesentlich auf Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) zurück. Er schrieb kurz vor seinem Tod den Traktat über die Betrachtung („De Consideratione“).2 Damit erweist sich die Definition der Betrachtung als ein Kind der damals von Bernhard von Clairvaux geführten Auseinandersetzung mit den Künsten, deren monströse Bilderwelt er zu hinter2

Eigentlich gedacht als Brief an Papst Eugen III., in: Patrologiae Cursus Completus, Series Latina, hg. von Jacques Paul MIGNE, Bd. 182: S. Bernardus Abbas Clarae-Vallensis, Paris 1859, Sp. 727–808.

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fragen wagte.3 Das Ergebnis seiner Betrachtungen war keineswegs frei von scharfer Kritik. Ihm waren schlichtes Sehen und simples „Auf sich wirken lassen“ nicht genug. Mit einer echten Betrachtung verband er vielmehr die kritische Beobachtung der Phänomene bis hin zur Sinnfrage. Konsequenterweise musste er also die eingehende, die genaue Betrachtung der Dinge einfordern. Die von Bernhard von Clairvaux begründete zisterziensische Strenge war eben keine schlichte Bilderfeindlichkeit und auch kein früher Puritanismus, sondern im Kern die Aufforderung zur kritischen Betrachtung, zu einer „consideratio“, mit der sich die Frage nach dem Sinn der Dinge verbindet und die daraus zu ziehende Konsequenzen einfordert. Seit Bernhard von Clairvaux unterscheiden wir zwischen der kritisch wissenschaftlichen Betrachtung, dem „speculari“ und der kontemplativen Betrachtung, dem „contemplari“. Die Spekulation zielt auf den Gewinn wissenschaftlicher Erkenntnis aus der Schöpfung, die nach dem Verständnis des Bernhard von Clairvaux nicht abgeschlossen, sondern noch immer im Gange ist. Mit der Kontemplation findet man den Weg zum beschaulichen oder religiösen Erfassen eines in sich abgeschlossenen Vorgangs. Darauf aufbauend ging die mittelalterliche Mystik noch einen Schritt weiter: Sie verband mit der „Consideratio“, der sorgfältigen Betrachtung im Sinne Bernhards, nun auch ein „Wollen“, „Suchen“ und „Sich konzentrieren“. Dieses Verständnis sorgfältiger Betrachtung gilt im Grunde bis heute.4 Die Betrachtung in ihren beiden Varianten blieb eine unangefochtene Institution des Erkenntnisgewinns und damit eines bewusst menschlichen Verhaltens bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Zuletzt erfuhr sie ihre umfassende wissenschaftliche Definition 1827 durch Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) im „Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften“.5 Er umschrieb sie mit „beobachten, forschen, untersuchen“ als den dafür kennzeichnenden menschlichen Tätigkeiten. Betrachtung ist also ganz wesentlich Beobachtung. Alle Betrachtung in diesem Sinne hat daher auch die Wahrnehmung der Phänomene zur Voraussetzung. Und mit dem Begriff der Wahrnehmung sind wir beim nächsten Thema.6

3 4 5 6

Bernhard von CLAIRVAUX, Apologia ad Guillelmum Sancti Theoderici Abbatem XII., in: ebd., Sp. 895–920. P. HEIDRICH, Betrachten, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim RITTER, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 860. Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte, hg. von Wilhelm Traugott KRUG, Bd. 1, Leipzig 1827, S. 290. Hierzu H. BUSCHE, Wahrnehmung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 4), Bd. 12, hg. von Joachim RITTER, Karlfried GRÜNDER und Gottfried GABRIEL, Basel 2004, Sp. 190–197.

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Die Wahrnehmung wird seit Cicero auch als „perceptio“ oder Perzeption7 bezeichnet. Cicero versteht darunter nicht nur die oberflächliche, vordergründig rein sinnliche Kenntnisnahme der Phänomene, sondern eine durchaus vollständige, also im Sinne des inhaltlichen Erfassens der Phänomene.8 Dass menschliche Wahrnehmung immer relativ ist, wissen wir spätestens seit ihrer Kritik durch Platon.9 Diese Skepsis gegenüber der menschlichen Wahrnehmung ist bis heute geblieben, ja im Laufe der Zeiten weiter ausdifferenziert worden, zumal das 20. Jahrhundert mit den Begriffen der selektiven Wahrnehmung und der Dressur von Wahrnehmung alle Skepsis weiter ausgiebig gefördert hat. Doch wie auch immer. Letztlich kommen wir dann doch wieder auf den guten alten Aristoteles zurück. Er verstand es ja schon seinerzeit, Platons Skeptizismus ein wenig zurechtzurücken, indem er zu aller menschlichen Wahrnehmung feststellte: Auch wenn die von uns wahrgenommenen Phänomene relativ sind, so bleiben sie für uns doch das Ziel der Kritik und damit der Gegenstand aller wissenschaftlichen Erklärung. Und so definiert Aristoteles in aller Konsequenz seiner Überlegungen das menschliche Wahrnehmungsvermögen als eine zum wahren Erkennen fähige Kraft.10 Mit der Rationalisierung der von Leukipp und Demokrit entwickelten älteren „Abbildtheorie“11 geht Aristoteles schließlich auch auf das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis ein. Für ihn liegt Erkenntnis nicht mehr nur in einem abbildähnlichen Erfassen von Phänomenen, die schon vor aller Erkenntnis und unabhängig von dieser vorhanden waren, also nicht mehr nur in der vereinzelten Wahrnehmung als Abbild des Gegenständlichen, sondern in der richtigen Verflechtung der Bedeutungsinhalte.12 Und so forderte er, dass das menschliche Urteil und die Dinge in der Wirklichkeit übereinstimmen müssen.

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W. JANKE, Perzeption, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 4), Bd. 7, hg. von Joachim RITTER und Karlfried GRÜNDER, Basel 1989, Sp. 382–386. 8 Marcus Tullius CICERO, De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel, Lateinisch/Deutsch, übs. und hg. von Harald MERKLIN, Stuttgart 1989, Buch V, § 76. 9 PLATON, Theaitetos, in: PLATON, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. von Gunter EIGLER, Bd. 6, übs. von Friedrich SCHLEIERMACHER, bearb. von Peter STAUDACHER, Darmstadt 42005, 156 b, 157 a–b, 182 d–e, 157e–158d. 10 ARISTOTELES, Metaphysik, in: DERS., Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 5: Metaphysik, übs. von Hermann BONITZ, bearb. von Horst SEIDL, Hamburg 1995, Buch X, Kap.1, 1053 a. 11 Hierzu J. NIERAAD, Abbildtheorie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 1–3. 12 ARISTOTELES, Über die Seele, in: DERS., Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 6: Physik, Über die Seele, übs. von Willy THEILER, bearb. von Horst SEIDL, Hamburg 1995, Buch III, Kap. 9, 432 a.

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Bei aller Wahrnehmung bildet für ihn die „adaequatio intellectus cum re“ den Prüfstein.13 Wir dürfen also feststellen, dass sich die Darlegungen des Aristoteles zum Prozess zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis bis heute als aktuell erweisen. Sie machen deutlich, dass menschliche Wahrnehmung alleine noch keine Erkenntnis bringt, sondern erst die kritische Auseinandersetzung damit. Für Aristoteles bedarf es dazu der sogenannten „wissenschaftlichen Erklärung“. Diese wiederum kann durchaus mit Reflexion, also nachdenkender Betrachtung in all ihren vieldiskutierten neuzeitlichen Varianten verbunden werden. Doch letztlich bleibt immer die „Erklärung“ der Phänomene unabdingbar, also deren Vermittlung an das Gegenüber. Damit wären wir beim Themenkreis der Kommunikation in Gestalt des Dialogs und Diskurses. Wenn Aristoteles die „wissenschaftliche Erklärung“ zu einem Regulativ der unvollständigen oder gar verfälschten Wahrnehmung erhebt, dann hat er damit immer das antike Symposion vor Augen. Für ihn ist es selbstverständlich, dass die „wissenschaftliche Erklärung“ nicht einem anonymen Internet gegenüber oder an den anonymen Leserkreis der Printmedien abgegeben wird, sondern direkt gegenüber Gesprächspartnern aus Fleisch und Blut. Diese können dann auf jede Äußerung reagieren, mit Unverständnis oder Verständnis, mit Fragen, Gesten oder Mimik. Damit könnte man diese Vermittlungsmethode als eine Kombination aus Kommunion und Kommunikation bezeichnen. Ihre äußere Gestalt findet sie im Dialog, der wiederum aus Argument und Gegenargument, aus Ansprache und Antwort, aus Ablehnung oder Akklamation besteht. Der ständige Perspektivwechsel durch die jeweiligen Redner, die Vielfalt der Argumente, die Verschiedenheit der Standpunkte verlässt in einem Symposion aber nie die gemeinsame Ebene und Wellenlänge. Das Symposion erweist sich so als ein eingespieltes „Zeremoniell wissenschaftlicher Erklärung“. Aus der einseitigen Betrachtung und Wahrnehmung wird mit ihm eine gemeinsame Betrachtung in vielfachen Facetten. Diesem Verfahren des wissenschaftlichen und doch zugleich offenen Symposions wohnt die Uridee aller Demokratie inne, nämlich die Gleichstellung der Argumente und die Meinungsfreiheit der Teilnehmer. Verbindlich bleibt die Gleichstellung der Argumente selbst dann, wenn sie in letzter Konsequenz nicht zu überzeugen vermögen. Es gilt die Meinungsfreiheit, auch wenn der Protagonist völlig schief liegen sollte. Grundvoraussetzung eines solchen Verfahrens ist, dass sich alle Teilnehmer zur Einhaltung der Spielregeln verpflichten, sich also als Gleiche unter Gleichen verstehen. Dieses Selbstverständnis der Gleichheit in der Argumentation ist vielleicht am schwersten zu vermitteln, denn es setzt die Einsicht voraus, dass nur mit dieser Gleichstellung die eigene Andersartigkeit 13 Hierzu NIERAAD, Abbildtheorie (wie Anm. 11), S. 2.

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akzeptiert werden kann. Die Andersartigkeit des Anderen zu akzeptieren ist aber Voraussetzung für den Diskurs. Wer diese Spielregeln nicht einhält, muss konsequenterweise ausgeschlossen werden, bevor er diese auf Gleichheit begründete Basis der Kommunikation zerstört. Wenn man also die Funktionsfähigkeit dieses Verfahrens „wissenschaftlicher Erklärung“ gewährleisten will, dann muss man dafür Regeln entwickeln, die auch den Ausschluss nicht scheuen. Doch immer gilt es auch diejenigen, die die Regeln ablehnen, erneut dazu einzuladen, sich der Gemeinschaft des Symposions anzuschließen und sich den Regeln zu unterwerfen. Auch im 21. Jahrhundert ist das Symposion der Gleichgesinnten, das Kolloquium der Interessierten eine unverzichtbare Institution geblieben. Erst die Kommunikation im Florett der Argumente schafft eine realistische Bandbreite an Perspektiven. Allein schon durch die räumliche Verschränkung präsenter Diskutanten kommt es zu einer gemeinsamen Betrachtung der Dinge, dies auch bei noch so kontroversen Argumenten. Die auf Präsenz angelegten Symposien und Kolloquien sind eben nicht die bloße Aneinanderreihung von Darbietungen durch Solisten, sondern sie funktionieren gleich einem Konzert, antiphon und konzertant, einstimmig und manchmal auch mehrstimmig. Durch die Variation der Sichtweisen wird es möglich, eine These gleich einer Melodie auf verschiedenen Instrumenten durchzuspielen. Dies unterscheidet das Kolloquium aus Menschen von der virtuellen Kommunikation im Netz, die immer beim „statement“ des Einzelnen stehen bleibt und bestenfalls die Aneinanderreihung einzelner Wahrnehmungen erreicht. Hinzu kommt eine atmosphärische Komponente. Was hat es wohl auf sich mit den Stunden, in denen man sich der gemeinsamen Betrachtung der Dinge widmet – der Betrachtung und Diskussion in einem gemeinsamen und zugleich tiefer gehenden Sinne? Nun, man entdeckt die Dinge und ihre Zusammenhänge in Facetten und Lichtern, wie man sie bis dahin nicht gesehen hat, obwohl man sie zu kennen glaubte. Scheinbar tote Dinge zeigen Farbe, weil sie durch menschliche Persönlichkeiten verkörpert werden. Sie bekommen Klang, so wie eine Glocke, die im Stillstand nur bewundert, in Bewegung gebracht aber ertönen kann. Details werden plötzlich anschaulich, weil bekanntlich jeder nur das sieht, was er kennt, weil jeder nur erkennt, was seinem Erwartungshorizont entspricht. Erst durch die Perspektive des anderen werden wir zu neuen Sichtweisen geführt. Doch auch die Dinge selbst, die wir uns zum Gegenstand der Betrachtung nehmen, verändern sich mit der Betrachtung. Scheinbar wertlose Steine bekommen durch den Bogen eines dargelegten Kontextes plötzlich Bedeutung. Überkommene Bilder entfalten, in ein anderes, ein neues Licht getaucht, plötzlich eine bislang unentdeckt gebliebene Kontur. Entwicklungen erhalten allein

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schon in literarisch neuer Formulierung oder im Lichte neuer Quellen eine völlig neue Tönung. Seit den Zeiten Platons wissen Philosophen, dass die Betrachtung der Dinge auch die Dinge selbst verändern kann, dass mit der Betrachtung der Dinge auch die ihnen zugedachte Bedeutung aufgespürt werden kann. Nicht immer gelingt es, Steine zum Sprechen zu bringen, doch noch immer hat die intensive Betrachtung unsere Einstellung zu den Dingen selbst verändert. Und seit den revolutionären Analogieschlüssen des Quantenphysikers Werner Heisenberg (1901–1975) zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt auch in der naturwissenschaftlichen Forschung als nachgewiesen, dass die Betrachtung den Gegenstand selbst ändert, dass jeder Gegenstand auch physisch darauf reagiert, bis in seine kleinsten Teile.14 Doch kommen wir hier nochmals zurück zur Frage des Kontextes und mit ihr zur Erkenntnistheorie des Aristoteles. Nach seiner Überzeugung kann Erkenntnis nie in der Wahrnehmung nur des Einzelnen liegen, sondern nur in einer Verflechtung der Bedeutungsinhalte bis schließlich Verstand und Realität sich decken, bis die „adaequatio intellectus cum re“ erreicht ist.15 Dieser Grundsatz ist also eine einzige Aufforderung, nach dem Kontext zu suchen und ihn herauszuarbeiten. Denn alle Phänomene stellen sich im Kontext anders dar als in ihrer Vereinzelung. Dies gilt nicht nur für das einzelne Argument, sondern auch für den Kontext zwischen mehreren Argumenten, bisweilen sogar für die Zusammensicht zunächst kontroverser Argumente. Jede neue Betrachtung ist damit für sich schon Erkenntnisgewinn und letztlich eine neue Inwertsetzung der Dinge. Sie kann damit auch der Beginn neuer Wertschätzung durch den Menschen werden. Und im Rahmen menschlicher Kommunikation zählt Wertschätzung immerhin zum Höchsten, was menschliches Verhalten erzeugen kann; und dies sogar völlig unabhängig von den materiellen Voraussetzungen. Vor allem aber gerade dann, wenn es um die Erhaltung von Werten geht, von kulturellen und gesellschaftlichen, dann ist die Inwertsetzung durch menschliche Wertschätzung von entscheidender Bedeutung. In der demokratischen Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts mögen die Methoden des griechisch-antiken Symposions vielleicht nicht mehr den praktischen Anforderungen der Zeit standhalten. Doch das Prinzip der Gleichheit in der freien Meinungsäußerung und die Notwendigkeit eines Rituals, das eben diese sichert, scheinen mir doch ungeschmälert bis heute gültig zu sein. Dennoch stellt sich die Frage, wie man „wissenschaftliche Erklärung“ für eine 14 Die Unschärferelation als Entdeckung Heisenbergs wurde so populär, dass sie zum Gegenstand von Dramen wurde, vgl. Simon STEPHENS, Heisenberg, London/New York [2015]. 15 ARISTOTELES, Metaphysik (wie Anm. 10), Buch V, Kap. 7, 1017 a.

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demokratische Massengesellschaft gestaltet: Wie organisiert man dieses Ziel in einer Gesellschaft, die sich selbst als Adressat sieht und doch zugleich als der Träger wissenschaftlicher Einrichtungen, als Betreiber kultureller Institutionen, als Motor verantwortungsbewusster Bürgerinitiativen und als Bewahrer vieler von Generationen erarbeiteter Werte und Schätze versteht? Wie organisiert man hier das „Forum der wissenschaftlichen Erklärung“ gegenüber der Allgemeinheit, die Plattform gegenüber dem Volk, das in der Identität des Staatsvolks sein eigener Auftraggeber ist? Interessanterweise haben Vereine und Bürgerinitiativen da viel schneller und leichter den Modus der Offenheit und Öffentlichkeit wissenschaftlicher Erklärung gegenüber der Allgemeinheit gefunden, wohl weil ihnen seit jeher bewusst ist, dass sie in der demokratischen Gesellschaft um ihre Akzeptanz werben müssen. Schwerer taten sich die Behörden und all die ehrwürdigen Institutionen, die schon in der Monarchie seit dem 19. Jahrhundert sich des Patronats der Landesherrn sicher sein durften. Im Umgang mit der veränderten Situation nach 1918 sahen sie meist nicht das Volk und damit auch nicht Menschen als ihre Auftraggeber an, sondern den anonymen Staat. Öffentlichkeitsarbeit, verstanden als Service gegenüber dem eigenen Mandanten, als Vermittlungs- und Informationsdienst für die korporativen Mitglieder der öffentlich-rechtlichen Körperschaften, als Rechenschaftslegung wissenschaftlicher Einrichtungen gegenüber dem Bürger, der immerhin ihr Finanzier ist, kamen erst sehr spät in Gang, zumeist erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise wurden die Bereiche der Denkmalpflege und des Naturschutzes dabei zu Vorreitern, während Kolloquien der Wirtschaft und der Medizin bis heute weitgehend ihre distanzierte Exklusivität pflegen, die nicht nur in deutlichem Widerspruch zu den Interessen der Betroffenen – um hier nicht zu sagen, der Opfer – steht, sondern bis heute eine Ausrichtung auf die von der demokratischen Gesellschaft angelegte gleiche Augenhöhe vermissen lassen. Es ist bezeichnend, dass die Idee des gesellschaftsoffenen Symposions, des Kolloquiums im tatsächlich öffentlichen Auftrag der demokratischen Gesellschaft erstmals auf kommunaler Ebene in Gang gekommen ist. Im Grunde war die Idee ganz einfach. Es galt, den Souverän nach der demokratischen Verfassung, also das Volk selbst in seiner ganzen Heterogenität ernst zu nehmen und ihm Phänomene, die es angingen, auf Augenhöhe der Erklärung zuzuführen. Experten und Entscheidungsträger, Wissenschaftler und Politiker sollten Rede und Antwort stehen, nicht auf einem parteipolitischen, sondern einem wissenschaftlichen Forum, das sich der Allgemeinverständlichkeit verpflichtet weiß. Interessanterweise wurden diese Veranstaltungen sehr schnell zu einem Labor demokratischer Meinungsbildung, bewirkten also einen demokratiepädagogischen Effekt, mit dem die vielfach in geglätteten Schlagworten stecken

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gebliebene politische Diskussion auf eine sachbezogene Ebene heruntergebrochen wurde. Als erstrangiges Objekt bot sich natürlich die Denkmalpflege an, da mit ihr historische Wissenschaft, Städte- und Landesplanung, das tägliche Umfeld der Bürger, die Sanierungsbedürftigkeit von Städten und Dörfern sowie schließlich das Unbehagen der Bürgerinitiativen mit einer zunächst maßstabslosen, vom Dritten Reich geprägten Sanierungsplanung zusammentrafen. Die zwischenzeitlich als Weltkulturerbe anerkannte alte Reichsstadt Regensburg bot sich als Pilotprojekt geradezu an. Seit 1986 wird dort ein Herbstsymposion zur Kunst, Geschichte und Denkmalpflege durchgeführt. Unter dem Motto „Denkmalpflege im Dialog“ entstand ein Veranstaltungsmodell, schon anfänglich bei freiem Eintritt für jedermann, bestehend aus Vortragsreihe, Diskussionsrunde und Exkursionen zu den Originalen vor Ort, anschließend publiziert und so in den Inhalten von jedermann zu jeder Zeit nachvollziehbar. Die damaligen Initiatoren nahmen nicht nur den Bürger selbst ernst, sie setzten ihn in sein basisdemokratisches Recht der Mitsprache, indem sie Amtsträger und Wissenschaftler an ihre Bringschuld gegenüber der demokratischen Gesellschaft erinnerten. Historische Vereine und engagierte Bürgerinitiativen wurden neben Fachämtern relativ schnell zu Partnern dieser Symposionsreihe, die als jährliche Veranstaltung bis heute fortbesteht.16 Das Regensburger Herbstsymposion hat als bemerkenswerter Dialog zwischen Experten und interessierten Laien, zwischen Denkmalfreunden und engagierten Bürgerinnen und Bürgern längst überregionale Anerkennung gefunden. Zu Beginn noch als „Laienveranstaltung“ belächelt und vom akademischen Lehrbetrieb eher reserviert gesehen, denn wirklich geschätzt, mauserte es sich zu einem wirklich offenen Forum der Denkmalkunde. In der Praxis leistete es die breit angelegte Analyse des Kulturgutes und vor allem die gesellschaftliche Vermittlung von Geschichte als präsente Erinnerungskultur. Denkmalpflege artikulierte sich hier als Initiative der Bürger. Das Regensburger Modell war ein gutes Vorbild als dann ab 1994 in Thüringen die Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten aufgebaut wurde. Ging es doch damals darum, der geschichtsbewussten und heimatverbundenen Bevölkerung Thüringens verständlich zu machen, dass die Schlösser und historischen Gärten, die Burgen und ehemaligen Klöster ihnen selbst gehörten. Zunächst stieß man mit derartigen Äußerungen auf Unverständnis, denn 40 Jahre lang wurde behauptet, sie seien „Statussymbole des Feudalismus“, die es zu beseitigen gelte. Kein Wort wurde dabei über die Tatsache verloren, dass all diese 16 Vgl. hierzu den zusammenfassenden Artikel: Helmut-Eberhard PAULUS, Denkmalpflege im Dialog. 20 Jahre Regensburger Herbstsymposion für Kunstgeschichte und Denkmalpflege, in: Schönere Heimat. Erbe und Auftrag 96 (2007), S. 147–150.

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identitätsstiftenden Monumente schon seit 1918 als Schätze des Volkes und damit als Werte der Allgemeinheit erkannt sein sollten. Mit Sprengungen von Schlössern und Kirchen wurde vielmehr vorgetäuscht, als stünden hier noch immer die Residenzen der Feudalherren zur Beseitigung an. In Wirklichkeit wurde aber wertvolles Eigentum des Volkes sinnlos vernichtet. Vorderste Aufgabe der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten war es daher, der eigenen Bevölkerung Thüringens verständlich zu machen, dass sie selbst nun Schlossherr und Burgenbesitzer ist, dass die Bürger selbst in der Verantwortung stehen, ihre Gartenkunstwerke zu pflegen und die historische Tradition ihrer ehrwürdigen Klöster in die Gegenwart fortzuschreiben. Es galt vor allem klar zu machen, dass es hier um Werte geht, die von früheren Generationen mit ihrer Hände Arbeit geschaffen wurden und die mit deren Nachfahren jetzt allen gemeinsam gehören. Die von der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten eingerichteten Herbstsymposien hatten daher zunächst bewusst den Charakter denkmalpädagogischer Veranstaltungen, waren bei freiem Eintritt offen für jedermann und boten immer auch Exkursionen, die den Thüringern die Möglichkeit gaben, ihr eigenes Land und ihre eigenen Schätze selbst besser kennenzulernen. Gleichzeitig wurde das Jahrbuch der Stiftung zu einem Organ der Veröffentlichung der jeweiligen Themen und Ergebnisse dieser Herbstsymposien.17 Von 1996 bis 2016 wurden auf diese Weise zwanzig Herbstsymposien mit Fachthemen durchgeführt, die sowohl denkmalpflegerisch aktuell als auch landesgeschichtlich prägend waren. Landesgeschichte und Denkmalbestand gingen hierbei eine Symbiose ein, aus der die Kulturgeschichte Thüringens im Kontext der Jahrhunderte bis heute ablesbar wurde. Die an realen Beispielen erlebbare Landesgeschichte konnte so vielfach die Basis einer identitätsstiftenden Erfahrung der Heimat bilden. Dies ist besonders wichtig für Menschen, die als ehemalige Bürger der DDR aus guten Gründen manchmal das Gefühl haben müssen, dass sie aus einem Land kommen, das es nicht mehr gibt. Insofern sind derartige Symposien, die sowohl die Landesgeschichte als auch deren lebende Zeugen bis in die Gegenwart in den Mittelpunkt der Gesellschaft stellen, ein Stück praktizierter Wertschätzung, auf die zu Recht gerade Menschen hoffen, die sich mit dem Gefühl tragen, selbst ein Stück an alter Heimat verloren zu haben.18 Heute bleibt die Hoffnung, dass diese Symposien der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten auch über die bisherigen zwanzig Jahre weiter fortgesetzt 17 Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten Bd. 1–19, Lindenberg 1998– 2003/Regensburg 2004–2016. 18 Vgl. hierzu den höchst aktuellen Artikel von Jagoda MARINIC, Wir Immigranten. Ostdeutsche und Einwanderer teilen ein gemeinsames Schicksal: Sie haben ihre Heimat verloren, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 92 vom 21./22.4.2018, S. 5.

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werden mögen, um die Schlösser und Burgen, die historischen Gärten und ehemaligen Klöster über ihre Bedeutung als reale Geschichtszeugnisse der Landesgeschichte hinaus verstärkt auch in das europäische Bewusstsein zu rücken, nicht nur weil die Thüringer Residenzen in vielfacher Hinsicht über Generationen die Urheimat europäischer Dynastien bilden. Gerade die Wechselwirkung zwischen europäischer Bedeutung und landesgeschichtlicher Verortung kann aufzeigen, dass Regionalgeschichte ein unverzichtbarer Nährboden für alle Zweige der historischen Wissenschaften ist. Dabei erweist sich immer wieder, dass gerade die wissenschaftlich-kommunikative Auseinandersetzung mit den historischen Zeugnissen neue Gesichtspunkte und bisweilen sogar neue Potenziale für ganz andere Bereiche, wie etwa den qualitätvollen Tourismus, Städteund Länderpartnerschaften oder den internationalen Jugendaustausch zu bieten vermag. Dies erscheint letztlich auf Grund der Tatsache möglich, dass gemeinsame Betrachtung von jeher das menschliche Bedürfnis nach noch weiterer Betrachtung hervorgerufen hat.

REINHART SIEGERT ÖFFENTLICHKEIT DER NAMENLOSEN

Öffentlichkeit der Namenlosen Zu den biographischen Grundlagen der deutschen Aufklärung1

1. Aufklärung und Volksaufklärung: Die besondere Physiognomie der Aufklärung im deutschen Sprachraum 2. Die Schriftenproduktion zur Volksaufklärung und deren Trägerschicht 3. Hindernisse für die biographische Erfassung der Trägerschicht: Anonymität – Pseudonymität – Versteckte Verfasserangaben – Obskurität 4. Wünschenswerte biographische Informationen zur Trägerschicht der Volksaufklärung 5. Wege und Grenzen der Informationsbeschaffung 6. Zwei Zukunftswünsche Anhänge: A. Autoren-Statistik zu den gedruckten Bänden VA 1 – VA 2 – VA 3 (bis 1860) B. Erstrebenswerte biographische Angaben für unseren Personenkreis C. Der Lebensweg der Anna Fürst. Eine Internet-Recherche

1. Aufklärung und Volksaufklärung: Die besondere Physiognomie der Aufklärung im deutschen Sprachraum Charakteristisch für die Aufklärung in Deutschland ist das aufklärerische Tätigwerden einer breiten Gebildetenschicht. Während die in den Zentren der englischen und französischen Aufklärung konzentrierten „philosophes“ auf ganz Europa ausstrahlten und den großen Namen der deutschen Aufklärung zeitlich vorausgingen, scheint die besondere Stärke der Aufklärung im deutschen Sprachraum in ihrer Binnen-Breitenwirkung zu liegen. Eine Vielzahl von engagierten Bürgern, die nie auf die Bezeichnung „Philosoph“ oder „originell“ einen Anspruch erhoben hätten, bemühte sich eifrig und uneigennützig, Gedankengut der Aufklärung in kleiner Münze auch in das Alltagsleben von bildungsarmen Schichten einfließen zu lassen. Parallelen dazu in fremdsprachigen Regionen sind bekannt aus den östlich und südlich angrenzenden Habsburger-Territorien, aus den Niederlanden, aus Dänemark und Schweden, aus Estland und Lettland (hier getragen von der deutschbaltischen Gebildetenschicht), kaum aber aus 1

Mit diesem Aufsatz schließe ich an an meinen Beitrag: Der gemeinnützige Autor der Aufklärung im Spiegel der Paratexte. Mit einem Anhang: Die zitierten Paratexte im Wortlaut, in: Werner GREILING/Franziska SCHULZ (Hg.), Vom Autor zum Publikum. Kommunikation und Ideenzirkulation um 1800 (Bremer Beiträge – Neue Folge, 49), Bremen 2010, S. 335–366.

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West- und Südeuropa. Den berühmten Werken der großen Denker in den Salons der englischen und französischen Zentren stehen im polyzentrischen deutschen Sprachraum eine Flut von Schriften für das und über das „Volk“ gegenüber; einer elitären, freigeistigen, oft anti-religiösen westlichen HochAufklärung eine auf Breitenwirkung und Popularität zielende, fast durchweg ganz religiös eingebundene Volksaufklärung in den genannten Gebieten.

2. Die Schriftenproduktion zur Volksaufklärung und deren Trägerschicht Die Volksaufklärung erschöpfte sich zwar keineswegs im Produzieren von aufklärerischen Volkslesestoffen und der Metakommunikation darüber; sie erfolgte mindestens ebenso wirksam auch durch Predigten, durch praktisches Vorbild, durch Reformgesetze, durch Schulverbesserung usw.2 Doch ist für uns die Schriftenproduktion (mühsam genug) systematisch fassbar, während wir bezüglich Hinweisen auf die praktische Tätigkeit einzelner Aufklärer auf Zufallsfunde angewiesen sind – oft genug in diesen Schriften. Es scheint daher legitim, mit den inzwischen flächendeckend erfassten Schriften zur Volksaufklärung3 und ihren Autoren zu beginnen, wenn wir nach den biographischen Grundlagen der deutschen Aufklärung fahnden – im Wissen, dass es durchaus wichtige und erfolgreiche Aufklärer gegeben hat, denen wir keine einzige gedruckte Zeile zuweisen können.4 Ausgangspunkt des ersten biographischen Lexikons zur Breite der deutschen Aufklärung soll daher das Biobibliographische Handbuch 2

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Siehe das Übersichtsschema „Volksaufklärung: Träger – Medien – Adressaten“, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, hg. von Notker HAMMERSTEIN und Ulrich HERRMANN, München 2005, S. 443–483; Schaubild auf S. 460 f., Quellenangabe und Berichtigungstext S. 483. Holger BÖNING/Reinhart SIEGERT, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. 1–4. Bisher erschienen: Bd. 1: Holger BÖNING, Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Bd. 2.1– 2.2: Reinhart SIEGERT/Holger BÖNING, Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781–1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001; Bd. 3.1– 3.4: Reinhart SIEGERT: Aufklärung im 19. Jahrhundert – „Überwindung“ oder Diffusion?, Stuttgart-Bad Cannstatt 2016. Titel aus diesem Handbuch werden zur Entlastung des Anmerkungsapparats im Folgenden nachgewiesen mit (Teil-)Band- und laufender Nummer (z.B. VA 2.1/1735), dort ist weiterführende bibliographische und inhaltliche Beschreibung zu finden. Paradebeispiel: Johann Friedrich Oberlin (1740–1826), der „Vater des Steinthals“.

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„Volksaufklärung“ sein, dessen bibliographischer Teil abgeschlossen ist und erstmals versucht, die Breite dieser Bemühungen deutlich werden zu lassen. Die hier vertretenen Autoren sind für die Aufnahme ins Handbuch „handverlesen“: die Kommentare des Handbuchs legen Rechenschaft darüber ab, warum das jeweilige Werk unter „Volksaufklärung“ subsumiert wurde.5

3. Hindernisse für die biographische Erfassung der Trägerschicht: Anonymität – Pseudonymität – Versteckte Verfasserangaben – Obskurität Der bibliographische Teil des Handbuchs „Volksaufklärung“ beinhaltet 10.699 Einträge. Von diesen kommen für das biographische Lexikon in Betracht die Verfasser aller Monographien und Aufsätze.6 Doch gibt es bei deren Ermittlung einige Einschränkungen. Nur 55% aller erfassten Aufsätze und Monographien des 18. Jahrhunderts tragen den Namen ihrer Autoren auf der Stirn; 45% geben ihn nicht auf dem Titelblatt preis.7 Das Zahlenverhältnis verbessert sich im 19. Jahrhundert (betrachtet wird hier die im Handbuch systematisch erfasste Zeit bis 1860),8 doch bleibt auch hier immer noch ein Viertel der Schriften anonym.9 5

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Von den derzeit 27.732 Titeln unserer VA-Datenbank tragen ganze 88 den Wortstamm „volksauf*“ in der Titelformulierung – mit Volltextrecherche im KVK sind sie also nicht zu finden. Sie zu eruieren, war die geisteswissenschaftliche Herausforderung des Projekts; die andere Herausforderung war eine bibliothekarische: dieser oft sehr seltenen Titel habhaft zu werden, die meist nicht zum Sammelauftrag herkömmlicher wissenschaftlicher Bibliotheken gehören. Daneben auch ausgewählte Herausgeber von Periodika. Es schien uns zwar nicht sinnvoll, pauschal alle Herausgeber von Zeitschriften, in denen ein volksaufklärerischer Beitrag erschienen ist, unter die Volksaufklärer zu rechnen. Andererseits kann das Lexikon aber nicht auf so profilierte und dezidierte aufklärerische Zeitschriftenherausgeber wie Isaak Iselin („Ephemeriden der Menschheit“) oder die Kalenderherausgeber Ulrich und Matthias Sturzenegger („Der Appenzeller Hinkende Bote“) verzichten. Angesichts der zeitgenössischen Willkür, die Verfasser von Zeitschriftenbeiträgen bei der Überschrift, am Ende des Beitrags, im Inhaltsverzeichnis oder auch nur auf dem Heftumschlag zu nennen, scheint es hier nur sinnvoll, zwischen „Verfasser genannt“ und „anonym“ zu unterscheiden. Zu dieser Berichtszeitraumgrenze vgl. das Vorwort zu VA 3. Neben dieser auffälligen Veränderung fällt noch eine ins Auge: von den Anonyma konnten zum Berichtszeitraum von VA 1 (bis 1780) 38,6%, zum Berichtszeitraum von VA 2 (1781–1800) 62,3% und zur Zeit bis 1860 zu 49,1% die Verfasser ermittelt werden. Das mag zum Teil an der besonders intensiven Erschließungsarbeit am Höhepunkt der Volksaufklärung liegen und daran, dass die zeitgenössische biographische Erschließung

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Was waren die Gründe für das Verschweigen? Der Zeitgenosse Meusel hat sie in seinem „Gelehrten Teutschland“ teils ernst, teils scherzhaft in ein weitgehend digitales Schema gebracht:10

Abb. 1: Schema „Schriftsteller sind anonymisch“ aus Georg Christoph Hamberger und Johann Georg Meusel „Das Gelehrte Teutschland“ von 1806

Für uns einschlägig ist hier eine Kombination der Meusel’schen Kategorien „aus edeler Freymüthigkeit“ und „aus Bescheidenheit“: viele Vorworte betonen das Bestreben und die Verpflichtung, nach Kräften gemeinnützig wirken zu wollen, ohne nach Beifall für die eigene Person zu streben.11 Politische Volksaufklärung spielte nur während der Französischen Revolution und vor und um 1848 eine größere Rolle;12 hier halten sich verständlicherweise viele Autoren bedeckt. Immerhin ist die Anonymität so ernst gemeint, dass sie nur zu rund der Hälfte der Fälle durch die Nachforschungen der letzten 200 Jahre gelüftet werden konnte. Pseudonymität und Plagiate13 spielen in unserem Textkorpus eine so geringe

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gegen Ende des 18. Jahrhunderts spürbar besser wird; es könnte aber auch signalisieren, dass es den frühen Autoren ernster war mit ihrer Anonymität. Georg Christoph HAMBERGER/Johann Georg MEUSEL, Das Gelehrte Teutschland, Bd. 12, Lemgo 51806, S. LXXXV (Graphik); siehe bereits den Abdruck bei SIEGERT, Autor, 2010 (wie Anm. 1), S. 338; hier wiederholt, da die Originalgraphik wesentlich übersichtlicher ist als eine Wiedergabe in Dezimalklassifikation. Näheres dazu bei SIEGERT, Autor (wie Anm. 1). Siehe Schaubilder im Vorwort von VA 3, S. XLII f. Sie sind selten, kommen aber doch vor, insbesondere bei Übersetzungen. Da hier die Grenze zwischen freier Übersetzung mit eigenen Ergänzungen, selbständigen Bearbei-

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Rolle, dass sie statistisch nicht ins Gewicht fallen; versteckte Verfasserangaben sind für den Bibliographen lästig, stellen aber für den Biographen kein Problem dar.14 Insgesamt konnten für 74,2% der Schriften bis 1780, für 83,8% der Schriften 1781–1800 und für 86,6% der Schriften 1801–1860 die Verfasser ermittelt werden, genug für einen repräsentativen Grundstock. Zu 8.988 Monographien und Aufsätzen sind das 3.113 namentlich bekannte Verfasser.15 Anonymität, Pseudonymität und versteckte Verfasserangaben sind also kein allzu großes Hindernis für die biographische Erfassung volksaufklärerischer Autoren. Umso mehr aber Obskurität: in vielen Fällen sind es Leute, die sonst nicht als Literaten hervorgetreten sind und daher keine zeitgenössischen Biographen auf den Plan gerufen haben. Das wird in den folgenden Absätzen zum Tragen kommen.

4. Wünschenswerte biographische Informationen zur Trägerschicht der Volksaufklärung Die Wunschliste zur Biographie umfasst die in jedem biographischen Nachschlagewerk angestrebten Personendaten, daneben aber im Blick auf die volksaufklärerische Tätigkeit auch eine ganze Reihe von Informationen, die nicht selbstverständlich sind. Neben Namen, Geburtsdatum und Geburtsort, Sterbedatum und Sterbeort (daraus oft schon erkennbar, wer in einem engen Wirkungskreis blieb) ist in unserem Zusammenhang die Konfession wichtig: katholisch oder protestantisch (möglichst noch in ev.-luth. und ev.-ref. differenziert). Wir haben zwar bei all unseren Arbeiten großen Wert darauf gelegt, die Volksaufklärung nicht nur bei den Protestanten zu suchen, sondern waren im Gegenteil bestrebt, die Rolle der tungen und echtem Plagiat fließend ist und differenzierte Einzelbeurteilung verlangt, müssen Plagiate hier ausgeklammert werden. 14 Das gilt auch für die im 19. Jahrhundert in Mode kommenden „Hehlnamen“ (Kosch), mit denen ein anonym bleibender Autor dennoch ein Markenzeichen kreieren möchte, indem er sich auf sein erstes Erfolgswerk bezieht: „Vom Verfasser der Ostereier“ [d.i. Christoph v. Schmid]. Da es sich hier in der Regel um Erfolgsautoren handelt, ist ihr Name meist unschwer zu eruieren. 15 Monographien und Aufsätze: VA 1: 1.352, VA 2: 3.326, VA 3 bis 1860: 4.310; namentlich bekannte Verfasser: zu VA 1: 515, zu VA 2: 1.311, zu VA 3: 1.693. Zu VA 3 ist es nicht ohne großen Aufwand möglich, die Autoren der Schriften bis 1860 von den späteren Fundstücken zu separieren. Doch scheint uns das kein Problem zu sein, denn es sind ohnehin nur 34 mit Geburtsjahren nach 1840, und unter denen sind mit Peter Rosegger, Leo Pribyl und Franz Tobisch späte Autoren, die wir mit den aufgenommenen Werken noch klar zur Volksaufklärung rechnen.

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katholischen Aufklärung gebührend zu würdigen, doch hat diese in Vielem ihren eigenen Charakter und einen anderen zeitlichen Verlauf. Der protestantischen Volksaufklärung ging es um einen geläuterten Geschmack bei Kirchenliedern, um das Überwinden von barockem Bombast und herrnhutischer Tränenseligkeit, um ein Kompatibelmachen von textkritischer Bibelexegese und Wunderglauben, um ein Bewahren des hausväterlichen allgemeinen Priestertums vor pietistischer Däumelei. Die aufgeklärten Katholiken hingegen kämpften für einen direkten Zugang der Laien zur (für diesen Zweck in die Volkssprache zu übersetzenden) Bibel, für eine Teilnahme der Gläubigen an der (zu diesem Zweck ebenfalls in Volkssprache zu übertragenden) Liturgie durch eigenen Kirchengesang, gegen ein Übermaß an volksfrommem, nicht biblisch begründetem Beiwerk bei Wallfahrten, Rosenkranzandachten usw. und – da die strukturkonservative römische Kirchenspitze dabei nicht mitzog – für eine weitgehend selbständige deutsche Kirche unter einem deutschen Primas. Das katholische „Volk“ musste zudem nicht nur an eigene Bibellektüre, sondern daneben auch an weltliche Lektüre erst herangeführt werden. Eine Untersuchung der katholischen Aufklärung nur an ihren relativ spärlichen weltlichen Texten würde das Bild durch Weglassen der Hauptmasse völlig verzerren – die Proportionen waren hier noch extremer als bei den Protestanten.16 Gemeinsam war bei der religiösen Volksaufklärung beider17 Konfessionen hingegen der Kampf gegen Aberglauben, der Kampf gegen eine zur Passivität führende „JammertalTheologie“ zugunsten eines aktiven „Auf Erden bau’n das Himmelreich“ und ein starker ökumenischer Zug. Zudem wirkten auch die geistlichen Volksaufklärer beider Konfessionen tatkräftig an der Propagierung des medizinischen Fortschritts (Pockenschutzimpfung) und ökonomischer Innovationen, wobei die protestantischen Pfarrerdynastien ihre Autorität aus anderen Quellen legitimieren mussten als die katholischen, freilich dafür mit Mittler-Weihen über die Laien erhobenen Einzelkämpfer. 16 Auch bei denen war Erbauungsschrifttum weit mehr im Alltagsleben verankert; weltliche Lesestoffe gehörten nur in Form von Kalendern und zunehmend auch kürzerintervalligen Periodika (an erster Stelle den lokalen und regionalen Intelligenzblättern) zum Grundbedarf. Die erzählenden volksaufklärerischen Schriften wie Beckers „Noth- und Hülfsbüchlein“ mussten sich ihren Platz erst erobern und brauchten zu ihrer Einführung die Hilfe gebildeter Aufklärer und aufklärerischer Obrigkeiten. – Eine Sonderrolle spielen „Mandatsschriften“: obrigkeitliche Verfügungen, die zur Kenntnis genommen zu werden hatten. Doch auch hier setzte die Volksaufklärung an die Stelle rein formaljuristischer Bekanntgabe das Bestreben, auch verstanden zu werden. 17 Ob die Volksaufklärung in reformierten Regionen ein deutlich eigenes Gepräge hatte gegenüber den lutherischen, müssten m.E. noch eigene Untersuchungen zeigen. Eine unterschiedliche Einstellung zur Fiktionalität überhaupt und zum Theater insbesondere gehört zu den älteren germanistischen Narrativen.

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Es ist also in unserem Zusammenhang wichtig, aus welchen konfessionellen Verhältnissen ein Autor kommt und in welchen er gewirkt hat. Zu seiner eigenen Konfession (die sich wegen der Vernachlässigung ihrer Angabe in den Sekundärquellen oft genug nicht ermitteln lässt) kommt zusätzlich oder notgedrungen ersatzweise das konfessionelle Umfeld (ev./kath./gemischt), in dem er die volksaufklärerische Leistung erbracht hat, wegen der er in das Lexikon aufgenommen werden soll. Dieses Umfeld lässt sich in der Regel aus der historischen Landkarte rekonstruieren. – Aufklärerische Juden bilden zwar wegen der Minderheitenrolle, die die Haskalah-Anhänger unter der Judenschaft spielten, eine noch kleinere Minderheit, als sie die Juden insgesamt unter der deutschsprachigen Bevölkerung darstellten;18 sie sind aber selbstverständlich mitzubetrachten und haben einige hochinteressante Schriften hervorgebracht.19 Agnostiker hingegen spielen in der Volksaufklärung keine Rolle. Neben den religiösen Wurzeln ist die soziale Herkunft von großem Interesse. Hier wird in der Regel der Beruf/die Lebensstellung des Vaters zur Kennzeichnung ausreichen müssen; die Mutter wird nur in Ausnahmefällen eigenes soziales Profil entfalten können.20 Im eigenen Lebenslauf interessieren insbesondere der Bildungsweg (falls Studium: Fächer und Studienort), der spätere Wirkungskreis (Beruf; Tätigkeitsorte), Familie und Freundschaftsbeziehungen. Bei der Würdigung wird der Akzent auf der Leistung und Bedeutung für die Volksaufklärung liegen (so werden z.B. auch Goethe und Schiller auftauchen, aber nicht wegen ihrer Hauptverdienste, sondern Goethe wegen seiner „Rede bey Eröffnung des neuen Bergbaues zu Ilmenau“21 und Schiller wegen seiner Auseinandersetzung mit Gottfried August Bürger über die anzustrebende Popularität und wegen der politischen Wirkung seines „Wilhelm Tell“).

18 Nämlich um 1800 1–1,5%; vgl. Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexicon), Bd. 3, Leipzig: F[riedrich] A[rnold] Brockhaus, 51820, S. 175 und Peter Claus HARTMANN, Bevölkerungszahlen und Konfessionsverhältnisse des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und der Reichskreise am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 22 (1995), S. 345–369, hier S. 368 f. Der Anteil variierte jedoch regional sehr erheblich. 19 In VA 1/VA 2/VA 3 zusammen nur 22 jüdische Autoren; darunter aber Moses Mendelssohn mit „Was ist Aufklärung?“ (VA 2.1/1899) und die interessanten jüdischen Volksschriften von Simon Krämer (VA 3.2/8427, 8834, 8928, 9511, 9978). 20 Frauen sind entsprechend als Autorinnen der Volksaufklärung eine verschwindende Minderheit. In VA 1/VA 2/VA 3 sind es zusammen 29, davon 6 adlige. 21 Rede bey Eröffnung des neuen Bergbaues zu Ilmenau. Den 24sten Februar 1784. [Verf.: Johann Wolfgang Goethe]. o.O.: o.V. o.J. [1784] [4 Bl.] 4° [anschließend Oktavausgabe]; Nachtrag zu VA 2.

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Angesichts von über 3.000 zu behandelnden Personen werden wir das Gros der Angaben aus gängigen Nachschlagewerken nehmen müssen (dazu der nächste Absatz). Erst wo diese Quelle versagt, werden wir versuchen, speziellere Hilfsmittel heranzuziehen;22 entsprechend kann es auch nicht unser Ziel sein, 3.000 Personalbibliographien zu liefern. Die lassen sich zudem mittlerweile über den Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK) zunehmend leichter zusammenstellen, wobei die Zugänglichkeit bei regionalen Publikationen für eine massenhafte Auswertung ein unlösbares Problem wäre. Nachweise wollen wir aber dort bringen, wo spezifisch über volksaufklärerische Aktivitäten der Referenzperson berichtet wird oder wo wir Lücken in den bisherigen Referenzwerken schließen können. Da es sich zwangsläufig (s.o.) nicht um ein Lexikon der Volksaufklärer, sondern der in unserer kommentierten Bibliographie vertretenen volksaufklärerischen Autoren handeln wird, werden wir deren für die Volksaufklärung wichtige Schriften anführen,23 auf andere Schriften aber nur pauschal etwa in der Form „sowie pädag. und theol. Werke“ verweisen (da diese mittlerweile über den KVK in der Regel bequem zu finden sind). Wir werden uns aber bemühen, wenigstens exemplarisch auch Personen aufzuführen, die für die Volksaufklärung wichtig und vorbildlich waren, ohne eigene einschlägige Schriften hinterlassen zu haben, wie z.B. „Kleinjogg“, Johann Friedrich Oberlin oder Erzherzog Johann.

5. Wege und Grenzen der Informationsbeschaffung Parallel zur Anlage und Vervollkommnung unserer bibliographischen Datenbank haben wir auch eine biographische Datenbank geführt, in die alle in die Bibliographie aufgenommenen Autoren eingegangen sind. Dieses Namensregister wurde bei der laufenden bibliographischen Arbeit stets auch mit den anfallenden biographischen Daten gefüttert, z.B. mit im KVK genannten Lebensjahren, mit Berufs- und Wirkungsort-Angaben der Titelblätter usw. In Zukunft in jedem Fall zuerst heranzuziehen sein wird die „Gemeinsame Normdatei“ (GND) (2012 ff.; bis 2012: Personennormdatei, PND; frei zugäng22 Wobei natürlich eine Menge einschlägiger Literatur im Lauf der dreißig Projektjahre bereits durch unsere Hände gegangen ist. 23 Dabei werden wir auf die im bibliographischen Handbuch erfassten Schriften zur Volksaufklärung mit VA-Nr. und Kurztitel verweisen, aber auch die Gelegenheit nutzen, im Druck übersehene Schriften hier nachzutragen und Besonderheiten zu vermerken, z.B. bei Thomas Abbt, dass manche Erstdrucke seiner einschlägigen Schriften in Kalendern und Intelligenzblättern erfolgt sind.

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lich im Internet), ein bibliothekarisches Grundhandwerkszeug. Wie eine ausführliche Arbeitsprobe zeigte, ist sie allerdings noch sehr im Aufbau; manche unserer Autoren sind namentlich noch gar nicht erfasst, so dass der Informationsfluss mindestens ebenso auch in die andere Richtung gehen müsste. Das gilt auch für weitere neue Internetangebote wie das biographie-portal.eu (2009 ff.), die deutsche-biographie.de (2001 ff.), die deutsche-digitale-bibliothek.de (2012/2014 ff.) und ähnliche, über die es den Überblick zu behalten gilt. Sie alle sind bereits beim jetzigen Ausbaustand eine ganz erhebliche Hilfe bei halbwegs gängigen Autoren; viele unserer Autoren sind jedoch bis jetzt darin noch nicht einmal mit ihrem Namen vertreten, geschweige denn mit Daten. Da die wenigsten unserer Autoren in gängigen modernen konventionellen Lexika (Killy, Deutsche Biographische Enzyklopädie u.ä.) nachzuschlagen sind, bietet sich zur Vervollständigung der biographischen und bibliographischen Angaben flächendeckend nur das Deutsche Biographische Archiv (DBA) an. In der langen Entstehungszeit unseres Handbuchs haben wir Gelegenheit gehabt, zu würdigen, welchen Fortschritt speziell dieses Sammelwerk darstellt: von einer unüberschaubaren Zahl spezieller und regionaler, damit oft nur mit Bibliotheksreisen zugänglicher Lexika zu einem zentralen Nachschlagewerk. Dessen digitale Fassung ersetzt gottlob endlich die in Handhabung und Bildqualität schrecklichen Mikrofiches.24 Hinzu kommt eine Reihe von neuen digitalen biographischen Lexika wie das vorzügliche „Historische Lexikon der Schweiz“. Damit lässt sich zu halbwegs bekannten Autoren meist ein recht ordentliches Datengerüst gewinnen. Über die Konfession jedoch schweigen sich viele dieser Nachschlagewerke aus. Hier sind im Blick auf unsere spezielle Klientel mit den vielen schreibenden Landpfarrern die regionalen Pfarrerbücher eine unschätzbare Quelle – aber die sind keineswegs überall bequem zugänglich und auch nur teilweise in digitaler Form (z.T. auch eingegangen in Bautz: Bio-bibliographisches Kirchenlexikon [1975 ff.], auch digital). Zudem erschließen sie vor allem die protestantische und auch die reformierte Pfarrerschaft. Ein ähnlich leistungsfähiges Schriftenprogramm fehlt auf katholischer Seite. Hier gibt es zwar die alten überregionalen Nachschlagewerke von Felder-Waitzenegger (1817/1822) und Wurzbach (1856/1891), hinzu Brandl (1978/2006), doch ist es schwierig, über ihre Angaben hinaus zu gelangen; am ehesten gelingt es noch bei den Ordensgeistlichen über deren Ordenshistoriographie. Trotzdem gerät man selbst bei Pfarrern, deren Wirkungsort und Wirkungszeit man wenigstens punktuell kennt, oft in Verlegenheit, auch nur die groben Lebensdaten zu eruieren. Rückfragen bei Pfarrämtern wären ohnehin angesichts der großen Personenzahl nur in 24 Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) und Neue Deutsche Biographie (NDB) führen hingegen nur einen kleinen Prozentsatz des für uns interessanten Personenkreises auf.

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Ausnahmefällen denkbar; diese Informationsquelle ist aber im Zeitalter der Sammelpfarreien („Seelsorgeeinheiten“, „Pfarreiengemeinschaften“) mit ihren hochbelasteten Stelleninhabern, der Zentralisierung der Kirchenbücher etc. im Verlorengehen. Andererseits bietet das Internet neue Chancen. Eine einfache Recherche mit Namen und Vornamen führt meist nur zu Getränkevertrieben oder Telefonbuchseiten. In Verbindung mit einem Geburts- oder Wirkungsort, mit einem markanten Beruf oder Geburts- oder Sterbejahr erhöht sich die Chance merklich, auch zu historischen Persönlichkeiten weitere Informationen zu bekommen. Insbesondere bei geistlichen und weltlichen Amtsinhabern geben die mittlerweile digitalisierten und oft im Hintergrund offenbar erstaunlich gut mit Optical Character Recognition (OCR) für Volltextrecherchen aufbereiteten gedruckten Behördenhandbücher und Speziallexika des 18. und 19. Jahrhunderts eine überregional nie zuvor zugängliche Informationsfülle (als Beispiel im Anhang die Recherche nach dem bisher unbekannten Lebensweg von Anna Fürst). Auch Internet-„Snippets“ aus moderner Forschungsliteratur können überraschend helfen, sind aber tückisch, weil oft nicht genügend Umfeld zu sehen ist. Doch gibt es in vielen Fällen auch zu Persönlichkeiten, von denen man es nicht erwarten würde, vertrauenerweckende Wikipedia-Artikel mit exakten Daten und Literaturnachweisen; hier ist in wenigen Jahren ein ganz erstaunliches Informationspotential herangewachsen. Die unzähligen genealogischen Seiten sind für unsere Zwecke hingegen meist wenig hilfreich, da sie seltsamerweise die für die sichere Identifikation notwendigen und daher in den Kirchenbüchern in der Regel auch genannten Standesangaben oft weglassen. Wenn es sich also zwar bei nicht lexikongängigen Personen durchaus empfiehlt, eine Internetrecherche über eine ganz normale Suchmaschine zu starten, und die Recherche oft genug durch einen Fund belohnt wird, so bleiben trotz aller modernen Recherchemöglichkeiten dann doch manchmal nur die Personalangaben25 auf den Titelblättern, aus denen schon Hamberger und Meusel ihr Autorenlexikon über weite Strecken haben bestreiten müssen. Diese Angaben, die lange Jahre von den Bibliothekskatalogen ignoriert wurden, haben wir bei den Autopsien in einem separaten Datenbankfeld festgehalten, so dass wir wenigstens sie mit Angabe des Referenzjahres wiedergeben können. Hier allerdings holt uns die Anonymität wieder ein: fast die Hälfte der Autoren des 18. Jahrhunderts nennt sich ja nicht auf dem Titelblatt. Bei ihnen und bei Autoren, die damals bereits so „modern“ waren, auf Personalangaben völlig zu verzichten, muss es schlimmstenfalls26 beim Minimal-Eintrag „N.N. (Autor 1773)“

25 Dazu SIEGERT, Autor (wie Anm. 1). 26 Das sind allerdings schon nach jetzigem Bearbeitungstand nur ca. 15%.

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mit Verweis auf die ins Handbuch aufgenommenen Schriften sein Bewenden haben.27 Es scheint uns systematisch geboten, zu jedem Autor auch dann einen biographischen Eintrag zu präsentieren, wenn er weit hinter dem angestrebten Informationsangebot zurückbleiben muss. Das bringt allerdings einen erheblichen Nachteil mit sich: ein derart ungleichmäßiges Datenangebot schränkt zwangsläufig die statistischen Auswertungsmöglichkeiten stark ein. Einen Ausweg bietet vielleicht das Beschränken statistischer Auswertung auf die Einträge, bei denen bestimmte Pflichtfelder ausgefüllt sind; aber ob die dann wiederum eine repräsentative Auswahl darstellen, ist eine schwer zu beantwortende Frage.

6. Zwei Zukunftswünsche Wir haben vor, die Biographien-Datenbank zur Volksaufklärung schon zu einem frühen Bearbeitungsstand ins Internet zu stellen und die Community um Mithilfe zu bitten. Wer unsere Bibliographie benutzt und uns helfen möchte, soll die Möglichkeit erhalten, an die Open-Access-Datenbank Ergänzungen und Korrekturen anlagern zu können. Die vom Frommann-Holzboog-Verlag seit mehreren Jahren betreute Spinoza-Bibliographie (spinoza.hab.de) tut das beispielsweise mit den Feldern „Bibliografischen Fund melden“ und „Korrekturvorschlag melden“ – mit gutem Ertrag.28 Das könnte eine große Hilfe für die laufende Redaktionsarbeit werden. Zukunftsmusik hingegen ist ein Vorschlag, der sich bei der massenhaften Sichtung von Schrifttum des 18. und 19. Jahrhunderts förmlich aufdrängt. Er betrifft die große Zahl von Pränumeranten/Subskribentenlisten und Widmungen, die als Paratexte diese Schriften begleiten. In ihnen spiegelt sich das soziale Netzwerk der Aufklärung bis in sehr viel feinere Verästelungen, als sie z.B. die Mitgliederverzeichnisse der Aufklärungsgesellschaften erkennen lassen. Viele dieser Listen nennen Berufe und Wohnorte, und sozial reichen sie – wenn wir uns nicht auf die Subskribentenlisten der Höhenkamm-Literatur beschränken – erstaunlich tief auch in Schichten hinein, die wir normalerweise nicht als Buchhandelskunden kennen: es gibt Schriften, bei denen Handwerker, Wirte und einzelne Bauern durchaus als Erstbesteller auf diesem anspruchsvollen Weg eine Rolle spielen. Und die Widmungen lassen nicht nur Mäzene und Gönner, 27 Gelegentlich sind auch durch Querrecherche in der Datenbank (insbesondere in den Autopsienotizen) biographisch ergiebige Hinweise aus anderen Datenbankeinträgen zu ermitteln und einzuarbeiten. 28 Ein ähnliches Zuarbeitungs-Feld bietet z.B. die UB Freiburg mit ihrem Homepage-Feld „Anschaffungsvorschläge“.

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sondern auch moralische Respektspersonen erkennen. Ein großangelegter englischer Versuch29 und ein kleinerer deutscher an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel30 sind in den Materialbergen steckengeblieben; sie waren zu früh, noch im Vor-Datenbank-Zeitalter. Jetzt, wo die OCR-Erfassung auch bei Frakturschriften allmählich brauchbare Ergebnisse bringt,31 scheint die Zeit gekommen, diese Vernetzung in einer Datenbank sichtbar und abrufbar zu machen.32 Am Ende könnte im Idealfall ein Autorenprofil etwa folgendermaßen aussehen: -

N.N. hat 1782, 1784, 1785, 1796 und 1802 publiziert [mit Links zu den in der Volksaufklärungs-Bibliographie enthaltenen Titeln] er gab dabei als Beruf/Funktion an: 1784 ..., 1796 ..., 1802 ... er gab dabei als Wirkungsort an: 1784 ..., 1802 ... [jeweils mit Angabe des Territoriums, in dem der Ort liegt] er gab dabei als Mitgliedschaften an: 1782 ..., 1796 ... er gab dabei als erhaltene Auszeichnungen an: 1802 ... seine Publikationen sind gewidmet: 1785 ..., 1796 ... er hat mit unselbständig erschienenen Beiträgen mitgearbeitet an ... (Zeitungen, Zeitschriften, Kalender) Subskribenten/Pränumerantenlisten enthalten seine Publikationen von 1785 und 1802 [die darin genannten Subskribenten/Pränumeranten sind über die bibliographischen Stammeinträge aufrufbar]

29 F[rancis] J[ohn] G[ibson] ROBINSON/P[eter] J[ohn] WALLIS, Book Subscription Lists. A revised Guide. [Hauptband und Nachtragsbände] (Project for Historical Biobibliography, 89), Newcastle upon Tyne 1975/1996. 30 Er war durch den genannten englischen Versuch angeregt und kam über einige mittlerweile verschollene Zettelkästen nicht hinaus. 31 Während auch historische Antiqua-Schriften von handelsüblichen OCR-Programmen mittlerweile fast fehlerfrei gelesen werden, stellen die Frakturschriften mit ihren vielen ähnlichen, bei schlechter Druckqualität kaum unterscheidbaren Zeichen (Großbuchstaben!) samt Ligaturen, langem und rundem s usw. bis heute ein beachtliches Leseproblem dar, das zudem von den EDV-Firmen als Anwendungs-Randsegment auch kaum beachtet wurde. Es hat Internet-Recherchen in deutschen Texten zunehmend behindert, doch scheinen mittlerweile Google und die IT-Abteilungen einiger Bibliotheken auch ohne spezielle Drucktypen-Anpassung und Wörterbücher ganz brauchbare Leseergebnisse zu erzielen. 32 Ein entsprechender Antrag auf ein Akademie-Projekt wurde noch 2008[!] mit der Begründung nicht zugelassen, dass „das Vorhaben uferlos“ erscheine und „hinsichtlich der Phase zwischen 1800 und 1850 sich darüberhinaus die Frage [stelle], welches Schrifttum überhaupt noch der Aufklärung zugerechnet werden kann“. Letztere Frage dürfte durch VA 3 mittlerweile hinreichend beantwortet sein.

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-

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er hat selbst fremde Werke subskribiert/ pränumeriert, und zwar: 1777: [Kurztitel]; 1783: [Kurztitel]; 1805: [Kurztitel].

Bei den Honoratioren wird der Erkenntniswert vor allem darin liegen, in ihren Subskriptionen Präferenzen und geistige Richtungen sichtbar zu machen, regionale Lektürezentren, die Einzugsbereiche von Verlagsorten.33 An den sozialen Rändern dieser prinzipiell elitären Form von Lesestoffbeschaffung hingegen wird die Schicht sichtbar, die unmittelbare Zielgruppe der Volksaufklärer war: die geistig beweglichen, interessierten und auch gelegentlich zu einer Investition bereiten Köpfe des „Volkes“, die als Multiplikatoren die neuen Gedanken und Verhaltensweisen weiter ins „Volk“ bringen sollten. Von diesen Erkenntnissen wird unser Projekt allerdings nicht mehr profitieren können. --Vielleicht werden wir trotzdem noch vor der Drucklegung herausbekommen, wer jener „Einwohner“ Johann Ernst Semper war, der in Rüxleben mit acht weiteren Interessenten alle Sonntagnachmittage gemeinsam den „Thüringer Boten“ las, mit ihnen gemeinnützige Gegenstände diskutierte34 und „in [den] Zimmern“ des Dorfherrn seine selbstgeschriebene Komödie „Der kriegerische Fürst Evilmero, aus Utopia, der endlich ein wohlthätiger Fürst geworden“35 aufführen durfte, oder wer sich hinter dem „unstudirten Waldbewohner“ Vater aus Oberweißbach verbirgt, der 1851 durch eine Druckschrift36 „zur Verbesserung und Aufhülfe“ der Schwarzburg-Rudolstädtischen Waldgegenden beitragen wollte.

33 Prolegomena für eine solche Auswertung bei Reinhard WITTMANN, Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse als lesersoziologische Quellen, in: Herbert G. GÖPFERT (Hg.), Buch und Leser (Schriften des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens, 1) Hamburg 1977, S. 125–159 [auch in Reinhard WITTMANN, Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880, Tübingen 1982, S. 46–68]. 34 Vgl. VA 2.2/4530. 35 Johann Ernst SEMPER, Der kriegerische Fürst Evilmero, aus Utopia, der endlich ein wohlthätiger Fürst geworden. In einer Komödie vorgestellet von Johann Ernst Semper, Einwohner in Rüxleben, Rüxleben [b. Nordhausen/Thüringen]: o.V. 1791 (Staatsbibliothek Berlin-Preußischer Kulturbesitz: Ys 466; Digitalisat über KVK zugänglich); Nachtrag zu VA 2. 36 Fragmente über die Schwarzburg-Rudolstädtische Waldgegend. Ein Beitrag zur wahren Würdigung der gegenwärtigen Verhältnisse und einige Andeutungen und Winke zur Verbesserung und Aufhülfe der materiellen Zustände von einem unstudirten Waldbewohner [Verf.: … Vater in Oberweißbach], Rudolstadt: Renovanz i.K. 1851 (Historische Bibliothek Rudolstadt, Ma II, Nr. 25,(25a) [ohne Verf.nennung]; VA 3.3/9489).

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Anhang A: Autoren-Statistik zu den gedruckten Bänden VA 1 – VA 2 – VA 3 (VA 3 bis 1860)37

Titel gesamt davon Monogr. u. Aufsätze - davon unter wahrem Namen - davon anonym --- davon Verf. ermittelt - davon pseudonym --- wahrer Name bekannt - davon versteckte Verf.ang. Genannte und ermittelte Verfasser zusammen:

VA 1 (bis 1780)

VA 2 (1781–1800)

VA 3 (hier bis 1860)

1.532 T

3.954 T

4.449 T

1.352 T

100,0%

3.326 T

100,0%

4.310 T

100,0%

745 T

55,1%

1.822 T

54,8%

3.057 T

70,9%

565 T

41,8%

1.404 T

44,2%

1.099 T

25,5%

218 T

16,1%

874 T

26,3%

540 T

12,5%

8T

0,6%

39 T

1,2%

56 T

1,3%

3T

---

21 T

0,6%

33 T

0,8%

37 T

2,7%

71 T

2,1%

104 T

2,4%

1.003 T

74,2%

2.788 T

83,8%

3.734 T

86,6%

Anm.: - Binnenverhältnis: von den Anonyma konnten bei VA 1 zu 38,6%, bei VA 2 zu 62,3%, bei VA 3 zu 48,8% der Titel die Verfasser ermittelt werden - Autorenzahlen: Autoren zu VA 1: 515; zu VA 2: 1.311; zu VA 3: 1.693; zu VA 1/ VA 2/ VA 3 zusammen: 3.113 (da Überschneidungen)

37 Zur Einteilung vgl. Anm. 3.

ÖFFENTLICHKEIT DER NAMENLOSEN

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Anhang B: Erstrebenswerte biographische Angaben für unseren Personenkreis 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

Biographische Informationen: Lebensdaten Eigene Konfession und/oder ersatzweise: konfessionelles Umfeld Elternhaus Ausbildung (falls Studium: dazu Details) beruflicher Werdegang und Wirkungsorte Förderung und Hindernisse (Auszeichnungen, Verfolgungen)

2 Eigene Veröffentlichungen: 2.1 Veröffentlichungen zur Volksaufklärung 2.2 Veröffentlichungen darüberhinaus, die die Person charakterisieren 3

Eigene Leistungen im Sinne der Aufklärung außerhalb von Veröffentlichungen

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Informationen zur biographischen Vernetzung: Mitgliedschaften in Gesellschaften, Freimaurerlogen und Institutionen Wesentliche berufliche Kontakte Freundschaften Einbindung in Autorennetzwerke durch Mitwirkung an Periodika Vernetzung im Spiegel von Subskribenten- und Pränumerantenlisten und ggf. Widmungen

5 Literatur und Bilder zur Person: 5.1 Literaturnachweise zu Werk und Biographie 5.2 Porträts

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Anhang C: Der Lebensweg der Anna Fürst. Eine Internet-Recherche38 Johann Evangelist Fürst, einer der Erfolgsautoren der Volksaufklärung, hatte neben einem journalistisch begabten Sohn, Eugen (1822–1877), der die Weiterführung der väterlichen Zeitschriften übernahm, auch eine literarisch begabte39 Tochter, Anna (1806– ?), die ein Seitenstück zu seinem Bestseller „Der verständige Bauer Simon Strüf“ (EA 1817) schrieb. Es erschien 1835 unter dem Titel „Marianne Strüf. Ein wirthschaftliches Haus- und Lesebuch für Frauen und Töchter jeden Standes. Als Seitenstück zu Simon Strüf in einem Familiengemälde dargestellt von Anna Fürst[,] Tochter des Verfassers von Simon Strüf“40 und erlebte 8 Auflagen. Angesichts dieses Erfolges überrascht es, dass ein als dritter Teil hinzukommendes Kochbuch anscheinend von fremder Hand stammt und spätere Aktualisierungen des Werkes nicht von der Autorin, sondern von einem namhaften Fremdautor vorgenommen wurden. In den letzten Ausgaben verschwindet selbst ihr Name vom Titelblatt; das Werk firmiert jetzt als „Marianne Strüfs Haus- und Kochbuch für Frauen und Töchter jeden Standes“. Dabei wusste ein Literaturkritiker zu rühmen: „In der Schreibart ringt Fräulein Fürst mit unseren besten klassischen Prosaikern um die Siegespalme, und Bayern kann stolz auf diese junge Schriftstellerin seyn. […] Wir hören, daß Fräulein Fürst Mitarbeiterin an mehreren ausländischen belletristischen Blättern ist, und wagen zu hoffen, sie werde uns bald mit etwas Eigenthümlichem aus ihrer Feder beschenken, das […] ein Meisterstü[c]k schöngeistiger Literatur werden muß. L.St.“41

Ihr letztes Lebenszeichen könnte ein Vorwort zur 4. Auflage von „Marianne Strüf’s vollständigem Kochbuch“ sein, unterzeichnet „F. im December 1845. Die Verfasserin.“42 38 Alle Internetrecherchen wurden am 14.11.2018 durchgeführt. 39 Ihre früheste bekanntgewordene Veröffentlichung sind acht Sonette in: Sonette von bayerischen Dichtern. Gesammelt von Friedrich August GREGER, Bdch. 1. o.O. (Regensburg): Selbstverlag des Hg./Sulzbach: J.E. v. Seidel i.K., 1834. 40 Th. 1–2 Stuttgart: P. Balz/Wien: Carl Gerold i.K. 1835 [Th. 3: ebd. 1839, s. eigenen Eintrag. – Th. 1–2: 2. Aufl. ebd. 1839; 3. Aufl. 1840; 4. Aufl. 1844; 5. Aufl. 1851 und 1858; ab 6. Aufl. 1863 kombiniert mit Th. 3 ohne Verf.nennung u.d.T. „Marianne Strüf’s Hausund Kochbuch“ (VA 3.2/8129, 8414, 8482; VA 3.3/8820, 9490, 9789, 9944); nach 1863 keine zuverlässig nachgewiesenen Ausgaben mehr. – Ein Teil der Ausgaben ist anscheinend in Lieferungen erschienen, so die beiden Bände der EA in 9 Tranchen. 41 Neue Bürger- und Bauern-Zeitung. Redigirt v. Johann Evangelist Fürst. Jg. 2, Passau: Pustet 1835, S. 392: Anzeige von Anna Fürst: Marianne Strüf, Stuttgart/Wien 1835. 42 Marianne Strüf’s vollständiges Kochbuch für alle Stände. 4. verb. u. verm. Aufl. (= Anna Fürst: Marianne Strüf, Th. 3), Stuttgart: Adolph Becher 1846, S. IX–XII; „F.“ würde gut

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Was war mit der Autorin geschehen? Alle biographischen Nachschlagewerke bis hin zur Gemeinsamen Normdatei (GND) wissen keinen Rat. An entlegener Stelle, nämlich im Anhang von Gerhard Füssers grundlegender Dissertation „Bauernzeitungen in Bayern und Thüringen“43 findet sich ein von Füsser mit viel Mühen und eigenen Quellenrecherchen erstellter Stammbaum der Familie Fürst. Und da ist immerhin ihr Geburtstag zu finden und der Vermerk: „Verheiratet mit Landgerichtsassessor Denk, Trostberg.“ Ihr „wirthschaftliches Haus- und Lesebuch“ hat sie als Neunundzwanzigjährige unter ihrem Mädchennamen veröffentlicht. Sie lebte damals allein in München;44 geheiratet hat sie erst mit 33 Jahren. Ein findiger Regionalhistoriker hat in Fürsts Zeitschrift „Vereinigte Frauendorfer Blätter“ einen Artikel entdeckt, in dem ihr 16 Jahre jüngerer Halbbruder Eugen von einem Besuch in Trostberg im Jahr 1845 berichtet und dort seine Halbschwester voll von Plänen vorfindet: „Anna zeigte Eugen aber auch die Vorarbeiten und Manuskripte von zwei neuen Werken, die sie im Lauf des kommenden Winters vollenden wollte, ermuntert durch die beifällige Aufnahme ihrer ‚Marianne Strüf‘ “. Eugen fügt hinzu: „Bekanntlich machte dieser ihr erster schriftstellerischer Versuch in kurzer Zeit eine viermalige Auflage nothwendig; ich weiß aber, sie wird jetzt noch Besseres liefern.“45 Zum Glück war Denk Beamter in einem gut organisierten Staat und damit in den digitalisierten Amtsblättern und Regionalzeitungen verfolgbar. Nachdem sich zu „Anna Fürst“ und München zunächst nichts finden ließ, galt es also seinen Spuren zu folgen. Unterm 7. November 1838 war er auf die Stelle in Trostzum Familienstammsitz „Frauendorf“ passen, vgl. das weitere Schicksal. Das Nachwort bezieht sich jedoch allein auf die 4. Aufl. des Kochbuchs, und dessen Vorwort zur EA (Stuttgart 1839, VA 3.2/8426 mit weiterer Ausgabenfolge) ist unterzeichnet „J.v.J.“, so dass eher an eine fremde Verfasserin zu denken ist. 43 Gerhard FÜSSER, Bauernzeitungen in Bayern und Thüringen von 1818–1848 (Zeitung und Leben, Bd. 8), Hildburghausen 1934 (Zugl. Diss. München 1934). 44 Wie Anm. 3, Anmerkung der Redaktion: „Auf sehr viele briefliche Einläufe an die Verfasserin hieher, bemerken wir, daß dieselbe nicht in Frauendorf, sondern in München (Karls-Strasse Nro. 1/6 links) wohne.“ 45 Raimund MAIER, „Marianne Strüf“. Ein „wirthschaftliches Haus- und Lesebuch“ der Biedermeierzeit, in: Vilshofener Jahrbuch 19 (2011), S. 39–53; hier S. 39 f. unter Verweis auf „Vereinigte Frauendorfer Blätter“ 1845 (Nr. 35, S. 273–280: „Meine Wanderschaft von München nach Wien“, verfasst von Eugen Fürst). – Von ähnlichen Plänen Annas (neben ihrer Anstellung als „Mädchen-Lehrerin“) hatte schon ihr Vater Johann Evangelist Fürst anlässlich eines Besuchs bei ihr in München berichtet, wo er mit genderpolitisch inkorrekter Bewunderung schließt: ihn habe nur der „Zwischengedanke“ gestört, „warum doch das Bli[t]z-Mädl kein Bub sey“ (Allgemeine deutsche Garten-Zeitung, Nr. 8 vom 20.2.1836, S. 62).

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berg ernannt worden,46 woraus sein Vorname hervorging: Christoph. Und die „Bayerische Landbötin“ vom 14. März 1839 vermeldet: „Getraute Paare. Hr. Christoph Denk, 2ter Assessor beim k. Landgerichte Trostberg, mit Mar. Anna Fürst, Mautoberbeamtenstochter[!] v. Frauendorf, Ldg. Vilshofen.“47 Die weitere Internetsuche unter „Christoph Denk“ und Trostberg erbrachte seine Beförderung zum 1. Landgerichtsassessor in Grafenau (Oktober 1845);48 diese Stelle hat er offenbar gar nicht angetreten, denn er wurde mit Verfügung vom 29. Dezember 1845 auf seinen Wunsch nach Rotthalmünster umversetzt,49 so schnell, dass die Stelle in Grafenau erst einmal unbesetzt blieb.50 Später wurde er wiederum auf eigenen Wunsch in gleichem Rang von Rotthalmünster zurück nach Weilheim versetzt (31. Oktober 1851).51 Die weitere Suche förderte sein wegen seiner Dramatik in mehreren Zeitungen überregional vermeldetes Ende zu Tage: „Neuere Nachrichten. München, 26. April [1855]. Der Fremde, welcher im Gasthaus zum ‚Bamberger Hof‘ dahier am Ostermontag vom Schlage getroffen ward und seitdem in einem sehr kläglichen Zustand im Krankenhaus sich befand, ist daselbst gestorben. Obgleich der Unglückliche die Sprache gänzlich verloren hatte, ist es doch gelungen, vor seinem Hinscheiden mittelst Zeichen sich mit ihm zu verständigen. Daraus ergab sich, daß er der k. Landgerichtsassessor Christoph Denk von Weilheim war.“52

Dies aber nur durch Glück unter „ ‚Christoph Denk‘ Grafenau“, weil zufällig auf dieser Seite auch noch in anderem Zusammenhang Grafenau vorkam. Die weitere Suche, jetzt wieder unter „ ‚Christoph Denk‘ Weilheim“ brachte die übrigen Meldungen zu dieser Sache und auch einen vermuteten Grund für den Schlaganfall: der sei „in Folge übermäßigen Genusses von Burgunderwein im ‚Bamberger Hof‘ dahier“ eingetreten.53

46 Regierungs-Blatt für das Königreich Bayern, Nr. 40 vom 24.11.1838, Sp. 658; auffindbar unter „Landgerichtsassessor Denk Trostberg“. 47 Die Bayerische Landbötin, Nr. 32 vom 14.3.1839, S. 273; auch Münchner Kurier für Stadt und Land, Nr. 32 vom 15.3.1839, S. 131; gefunden mit „Anna Fürst ‚christoph denk‘ “. 48 Intelligenzblatt der Königlichen Regierung von Oberbayern, Nr. 47 vom 31.10.1845, Sp. 1651. 49 Regierungs-Blatt für das Königreich Bayern, Nr. 3 vom 18.1.1846, Sp. 81. 50 Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern, München 1846, S. 256 u. 258. 51 Landshuter Zeitung, Nr. 261 vom 6.11.1851, S. 1049; auch im Intelligenzblatt der Königlichen Regierung von Oberbayern, Nr. 50 vom 14.11.1851, Sp. 1567. 52 Passauer Zeitung, Nr. 116 vom 28.4.1855, unpag. – Der Ostermontag fiel 1855 auf den 8. April. 53 Innsbrucker Nachrichten, Nr. 98 vom 30.4.1855, S. 637; Augsburger Anzeigeblatt, Nr. 115 vom 27.4.1855, S. 778.

ÖFFENTLICHKEIT DER NAMENLOSEN

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Spätestens hier musste sich Anna Fürsts Lebensweg also wieder von dem Christoph Denks trennen. Da sie wohl kaum ihren Geburtsnamen zurückgewinnen konnte, galt es unter „Anna Denk“ weiterzusuchen. Nur wo? Mir kam ihr für 1835 belegter eigener Wohnsitz in München in den Sinn, auch dass ihr Bruder Karl August als Arzt dort lebte, bei dem auch ihr in München geborener Vater gestorben war. Eine Recherche unter „ ‚Anna Denk‘ München“ brachte (auch in Kombination mit „Fürst“, „Frauendorf“ oder „18*“) keine brauchbaren Ergebnisse. Doch die Münchener Adressbücher ab 1835 sind digitalisiert zugänglich. Sie habe ich nach „Denk“ und „Fürst“ durchgesehen. Seit 184254 ist dort Dr. Carl August Fürst, der Bruder Anna Fürsts, als praktischer Arzt nachgewiesen; ab 1850 außerdem mehrere Anna Denks, die vom Beruf her kaum die gesuchte sein können („Kostgeberin“, „Näherin“, „eh. Küchelbäck.-W. Elisabethspital“). 1875 betritt jedoch eine „Denk Anna Privatiere Preisingstr. 45“ den Plan. „Privatiere“: sollten Witwenpension und Schriftstellereinkünfte aus späteren Auflagen zu diesem so pretiosen Ausdruck berechtigt haben? Stand dahinter etwa eine spätere anonyme oder pseudonyme55 Schriftstellerkarriere? Die Privatiere Anna Denk bleibt im Münchener Adressbuch bis 1877, verschwindet aber mit dem Jahr 1878, wie auch Dr. Carl August Fürst. Dieser ist tatsächlich am 13. Juni 1877 verstorben,56 und Anna Fürst/Denk wäre in diesem Jahr auch 71 Jahre alt gewesen – ein durchaus denkbares Ende der Suche also. Aber ein nicht bewiesenes: sie konnte ja vielleicht auch an den Starnberger See umgezogen sein, als „Privatiere“ … Also weiter mit „Anna Denk“ und dem neuen Wort „Privatiere“. Und diese Recherche brachte tatsächlich die Klärung – aber nur durch nochmalige Mitwirkung von „Kommissar Zufall“. Die Bayerische Landbötin, Nr. 17, vermeldet am Mittwoch, den 21. Januar 1852, S. 68, auf „Todesfälle in München“ folgend: „Auswärtige Todesfälle. In St. Nikola bei Passau: Frau Anna Denk, kgl. Landgerichts-Assessors-Gattin, 45 J.“ – das Wort „Privatier“(!) kommt im selben Jahrgang in anderem Zusammenhang vor! Und unter „ ‚Anna Denk‘ ‚St. Nikola‘ “ war nun unschwer das Gesuchte zu finden:57

54 Die zugängliche Folge ist 1835, 1842, 1850, 1852, 1856, dann jährlich. Das älteste Adressbuch von 1835 ist leider so unpraktisch angelegt, dass Einzelpersonen nur bei genauer Kenntnis ihres Berufsstandes auffindbar sind. Carl August Fürst ist jedenfalls unter den Ärzten aller Art nicht vertreten, zu Anna Fürst kein Eintrag auffindbar. 55 Weder unter Anna Fürst noch unter Anna Denk noch unter Marianne Strüf sind spätere Werke aufzufinden. 56 FÜSSER, Bauernzeitungen (wie Anm. 42), Anhang. 57 Donau-Zeitung. Vereinigte Blätter des Kourier an der Donau und der Passavia, Nr. 17 vom 17.1.1852, unpag. – Die entsprechende Danksagung ebd. am 19.1.1852.

REINHART SIEGERT

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Abb. 2: Todes-Anzeige von Anna Denk in der Donau-Zeitung

Eine letzte Schrecksekunde: wieso die beiden Frauennamen als Anzeigende? Es lebten doch noch ihr Münchener Bruder Karl August Fürst und ganz in der Nähe von St. Nikola ihr Halbbruder Eugen Fürst, der den Frauendorfer Musterbetrieb weiterführte und publizistisch vertrat und der sie bei Gelegenheit seiner Reise sieben Jahre zuvor so überschwänglich gerühmt hatte? – Die Familienchronik zeigt 1852 als Schicksalsjahr, in dem die Erbengemeinschaft zerbrach und das Frauendorfer Mustergut versteigert werden musste.58 Im Grundsteuerkataster sind nur Anna Fürst, das erste Kind aus erster Ehe, und Eugen Fürst, das erste Kind aus zweiter Ehe, als Erben eingetragen.59 Sollte Anna 58 Raimund MAIER, Johann Evangelist Fürst aus Frauendorf (1784–1846). Vom Bauernbuben zum Bestsellerautor und Unternehmer von Weltruf, in: Vilshofener Jahrbuch 13 (2005), S. 33–56, hier S. 55. – Diese Versteigerung war auch deshalb heikel, weil das Gut nach einer Unwetterkatastrophe im Jahre 1844 mit Spendengeldern aus dem In- und Ausland wiederaufgebaut worden war. 59 Rudolf PÜSCHEL/Anton SCHOLZ, Uraufnahme und Liquidation – der Fürst’sche Gartenbaubetrieb im Spiegel des bayerischen Grundsteuerkatasters, in: Claudia GRÖSCHEL/ Hermann SCHEUER (Hg.), Frauendorfer Gartenschätze. Das Werk Johann Evangelist Fürsts im Spiegel seiner Zeit (Veröffentlichungen des Instituts f. Kulturraumforschung

ÖFFENTLICHKEIT DER NAMENLOSEN

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Denks Tod die Zerschlagung des Fürst’schen Garten-Imperiums eingeleitet haben – und der ihres Mannes den teilweisen Rückkauf der Güter im Jahr 1855? In den von Eugen Fürst redigierten „Vereinigten Frauendorfer Blättern“, die auch Nachrufe brachten und in früheren Jahrgängen einen mitunter peinlichen publizistischen Familienkult60 getrieben hatten, ist kein Wort zu Anna Fürsts Ableben zu finden. Ein strahlender Stern am bayerischen Literaturhimmel war gar nicht erst richtig aufgegangen.

Ostbaierns, 66), Passau 2012, S. 105–117, hier S. 116. Die Angaben sind allerdings verwirrend: die Eigentümernamen stehen erstmals in einer „Ummeßungs-Tabelle“ von 1860 zur Flurkarte von 1844/1848. 60 Namentlich mit Anna Fürst und ihren in „Marianne Strüf“ erst ansatzweise gezeigten literarischen Fähigkeiten, vgl. Allgemeine deutsche Gartenzeitung. Hg. von der praktischen Gartenbau-Gesellschaft in Frauendorf (Regensburg) 12 (1834), S. 349; 13 (1835), S. 41–47, 80, 120, 392, 400, 408; 14 (1836), S. 60 f.; 15 (1837), S. 177–183. Die Lobpreisungen versteigen sich bis zu „in jeder Beziehung klassisch zu nennen“ (13 (1835), S. 400) oder gar „Das schönste Werk der deutschen Literatur“ (ebd., S. 408).

Verzeichnis der Publikationen von Werner Greiling PUBLIKATIONSVERZEICHNIS VON WERNER GREILING

In diesem Verzeichnis wurden alle von Werner Greiling bis Juni 2019 verfassten oder mitverfassten, herausgegebenen oder mitherausgegebenen Bücher, Aufsätze und Lexikonartikel aufgenommen. Nicht aufgeführt wurden die weit über 150 Rezensionen, die den hier zur Verfügung stehenden Raum sprengen würden.

I. Monographien Verlagsstrategien zur Schulverbesserung und Volksbildung im 19. Jahrhundert. Gustav Friedrich Dinter und Johann Karl Gottfried Wagner, Leipzig 2017. Zeitverkürzende Wahrsager. Schreibkalender aus zwei Jahrhunderten (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 23), Jena 2016. Die Neustädter Kalender. Lesestoff und Lebenshilfe im 18. und 19. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 22), Jena 2015. Das „Sündenregister der Franzosen in Teutschland“. Antifranzösische Propaganda im Zeitalter der Befreiungskriege. Darstellung und Edition (DeutschFranzösische Kulturbibliothek, 29), Leipzig 2012. Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in Neustadt an der Orla. Mit Kommentar und Register zur Edition der „Bau=Steine zur Geschichte Neustadts“ (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 17/5), Jena 2010. Napoleon in Thüringen. Wirkung – Wahrnehmung – Erinnerung (Thüringen gestern & heute, 27), Erfurt 2006. „Schilda – die Stadt ohne Zeitung“. Werbung und Eigenwerbung des „Neustädter Kreisboten“ im Dritten Reich (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, Sonderband), Weimar/Jena 2006. „Publicitätsvehikel und Sittenspiegel“. Zur Programmatik thüringischer Intelligenzblätter. Eine Dokumentation, Weimar/Jena 2004. Der Bismarckturm. Bürgerschaftliches Engagement und nationale Denkmalkultur (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 9), Weimar/Jena 2003. Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 6), Köln/Weimar/Wien 2003.

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Der Neustädter Kreisbote und seine Vorläufer. Nachrichtenvermittlung, Patriotismus und Gemeinnützigkeit in einer sächsisch-thüringischen Kleinstadt 1800–1943 (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 4), Rudolstadt/Jena 2001. Goethe – unser Staatsminister. Sein politisches Wirken in Sachsen-WeimarEisenach (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 6), Rudolstadt/Jena 1999. „Intelligenzblätter“ und gesellschaftlicher Wandel in Thüringen. Anzeigenwesen, Nachrichtenvermittlung, Räsonnement und Sozialdisziplinierung (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge, 46), München 1995. Varnhagen von Ense – Lebensweg eines Liberalen. Politisches Wirken zwischen Diplomatie und Revolution, Köln/Weimar/Wien 1993.

II. Editionen, Quellensammlungen, Reprints Bau=Steine zur Geschichte Neustadts, Hefte I–XI. Reprint der Ausgaben von 1911–1924 (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 17/1–17/4), Jena 2010. Siegfried SCHMIDT, Die Entwicklung der politischen Opposition im Königreich Sachsen zwischen 1830 und 1848 (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, 2), Dresden 2005. Andreas Georg Friedrich REBMANN, Jena fängt an, mir zu gefallen. Stadt und Universität in Schriften und Briefen. Mit einem Anhang (Schriften zur Stadt-, Universitäts- und Studentengeschichte Jenas, 8), Jena/Leipzig 1994. Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Konsulate (Deutsch-Französische Kulturbibliothek, 2), Leipzig 1993. Georg Friedrich REBMANN, Werke und Briefe in drei Bänden, Berlin 1990 (zus. mit Hedwig Voegt und Wolfgang Ritschel). Georg Friedrich REBMANN, Ideen über Revolutionen in Deutschland. Politische Publizistik, Leipzig 1988; Lizenzausgabe: Köln 1988. Konrad Engelbert OELSNER, Luzifer oder Gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution. Auswahl, Leipzig 1987; Lizenzausgabe: Frankfurt a. M. 1988. Karl August VARNHAGEN VON ENSE, Kommentare zum Zeitgeschehen. Publizistik. Briefe. Dokumente 1813–1858, Leipzig 1984. Georg Friedrich REBMANN, Briefe über Jena, Jena 1984; 21987.

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III. Herausgeberschaften a. Sammelbände Thüringen im Industriezeitalter. Konzepte, Fallbeispiele und regionale Verläufe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2019 (zus. mit Stefan Gerber und Marco Swiniartzki). Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen (Materialien zur thüringischen Geschichte, 1), Wien/Köln/Weimar 2018 (zus. mit Stefan Gerber und Marco Swiniartzki). Schreibkalender und ihre Autoren in Mittel-, Ost- und Ostmitteleuropa (1450– 1850) (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 123), Bremen 2018 (zus. mit Klaus-Dieter Herbst). Thüringische Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 6), Köln/ Weimar/Wien 2017 (zus. mit Enno Bünz und Uwe Schirmer). Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 5), Köln/Weimar/Wien 2016 (zus. mit Holger Böning und Uwe Schirmer). Die Ernestiner. Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 50), Köln/ Weimar/Wien 2016 (zus. mit Gerhard Müller, Uwe Schirmer und Helmut G. Walther). Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln/Weimar/Wien 2015 (zus. mit Armin Kohnle und Uwe Schirmer). Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen. Kultur als Behauptungsstrategie (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 46), Köln/Weimar/Wien 2015 (zus. mit Maren Goltz und Johannes Mötsch). Der Altar von Lucas Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 3), Köln/Weimar/Wien 2014 (zus. mit Uwe Schirmer und Ronny Schwalbe). Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, 2 Bde., Göttingen 2014 (zus. mit Stefan Gerber, Tobias Kaiser und Klaus Ries).

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Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013 (zus. mit Hagen Rüster). Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 58), Bremen 2011 (zus. mit Hanno Schmitt, Holger Böning und Reinhart Siegert). 20 Jahre Historische Kommission für Thüringen. Eine Dokumentation, Jena 2011. Vom Autor zum Publikum. Kommunikation und Ideenzirkulation um 1800 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 25), Bremen 2010 (zus. mit Franziska Schulz). Geschichtsvereine im Freistaat Thüringen, Jena 22007. Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 15), Köln/Weimar/Wien 2005 (zus. mit Andreas Klinger und Christoph Köhler). „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringischsächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004 (zus. mit Siegfried Seifert). Bismarck in Thüringen. Politik und Erinnerungskultur in kleinstaatlicher Perspektive (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 10), Weimar/Jena 2003 (zus. mit Hans-Werner Hahn). Tradition und Umbruch. Geschichte zwischen Wissenschaft, Kultur und Politik, Rudolstadt/Jena 2002 (zus. mit Hans-Werner Hahn). Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001 (zus. mit Hans-Werner Hahn und Klaus Ries). Revolte und Revolution. Sozialer Protest und Fundamentalpolitisierung 1848/49 in Thüringen (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 3), Rudolstadt/Jena 1998. Die Revolution von 1848/49 in Thüringen. Aktionsräume. Handlungsebenen. Wirkungen, Rudolstadt/Jena 1998 (zus. mit Hans-Werner Hahn). Neustadt an der Orla. Vom Ursprung und Werden einer Stadt (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 1), Rudolstadt/ Jena 1997. Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers 1750– 1850 (Deutsch-Französische Kulturbibliothek, 7), Leipzig 1996 (zus. mit Michel Espagne).

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b. Schriftenreihen Materialien zur thüringischen Geschichte, Böhlau Verlag Wien/Köln/Weimar, seit 2018. Transfer. Deutsch-Französische Kulturbibliothek, Leipziger Universitätsverlag, seit 1993 (zus. mit Michel Espagne, Etienne François und Matthias Middell). Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, Verlag Vopelius Jena, seit 1997. Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien, seit 2013 (zus. mit Uwe Schirmer). Beiträge zur Reformationsgeschichte in Thüringen, Verlag Vopelius Jena, seit 2015 (zus. mit Alexander Krünes und Uwe Schirmer). Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien, seit 2006. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien, seit 2006.

IV. Aufsätze Publizistische Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen, in: Stefan GERBER/ Werner GREILING/Marco SWINIARTZKI (Hg.), Thüringen im Industriezeitalter. Konzepte, Fallbeispiele und regionale Verläufe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2019, S. 83–105. Wissenspopularisierung und Volksaufklärung im 19. Jahrhundert: Naturwissenschaften und Geschichte als Politikersatz?, in: Holger BÖNING (Hg.), Volksaufklärung ohne Ende? Vom Fortwirken der Aufklärung im 19. Jahrhundert, Bremen 2018, S. 77–92. Kalenderwesen und obrigkeitliche Normsetzung in der Staatenwelt Mitteldeutschlands, in: Klaus-Dieter HERBST/Werner GREILING (Hg.), Schreibkalender und ihre Autoren in Mittel-, Ost- und Ostmitteleuropa (1540–1850), Bremen 2018, S. 205–232. Medienproduktion und Medienrealität im Jahrhundert der Industrialisierung, in: Stefan GERBER/Werner GREILING/Marco SWINIARTZKI (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen, Köln/ Weimar/Wien 2018, S. 141–169. Aus Thüringen in die Welt. Buchdruck und Verlagswesen, in: Julia DÜNKEL/ Andreas CHRISTOPH (Hg.), Erlebnis Industriekultur. Innovatives Thüringen seit 1800, Pößneck 2018, S. 43 f.

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Wirtschaft und Werbung, in: Heimat Thüringen 25 (2018), H. 1, S. 12 f. Reformationsgeschichte(n) um 1800. Populäre Historiographie zwischen Volksaufklärung und Schulbuchproduktion, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 71 (2017), S. 119–143. Stadtansichten in Schreibkalendern als kultur- und kunstgeschichtliche Quelle, in: Bleibende Werte. Schlösser und Gärten. Denkmale einer Kulturlandschaft. Festschrift für Prof. Dr. Helmut-Eberhard Paulus, hg. von der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, Regensburg 2017, S. 233–244. „Ich ehre den Sozialismus, indem ich ihn kritisiere!“ Anmerkungen zu Literatur und Leben des Jürgen Fuchs (1972–1975), in: Ernest KUCZYŃSKI (Hg.), Sagen, was ist! Jürgen Fuchs zwischen Interpretation, Forschung und Kritik, Dresden 2017, S. 153–166. Das „gelobte Land des deutschen Kleinlebens“? Das Fürstentum Reuß jüngerer Linie und die Stadt Gera im „langen 19. Jahrhundert“, in: 775 Jahre Stadt Gera. Beiträge zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte (= Geraer Hefte, 5), hg. vom Stadtmuseum Gera, Historische Höhler und Stadtarchiv Gera, Gera 2017, S. 85–109. Reformation, Volksaufklärung und protestantische Erinnerungskultur in Thüringen, in: Werner GREILING/Holger BÖNING/Uwe SCHIRMER (Hg.), Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 9–41. Schlösser, Dynastien und Landesgeschichte, in: Das Schloss als Zeugnis der Landesgeschichte. Thüringens fürstliche Residenzen, ihre Dynastien und Schlösser (= Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten 2015), Regensburg 2016, S. 25–29. Freund der Studenten und Universalhistoriker „alter Schule“. Peter Schäfer (1931–2016) zum Gedenken, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 70 (2016), S. 213–217. Abbildung und Beschreibung der Stadt Jena (1823). Kalender als Quelle zur Stadtgeschichte, in: Weimar-Jena. Die große Stadt. Das kulturhistorische Archiv 9 (2016), H. 3, S. 243–263. Der lange Weg zur Pressefreiheit. Die Ernestiner und die Printmedien, in: Werner GREILING/Gerhard MÜLLER/Uwe SCHIRMER/Helmut G. WALTHER (Hg.), Die Ernestiner. Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel. Begleitband zur Thüringer Landesausstellung 2016, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 279–303. Nachruf zum Gedenken an Peter Schäfer, in: Blätter der Gesellschaft für Buchkultur und Geschichte 18/19 (2015), S. 208–211.

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Verlagswesen und Presse in den ernestinischen Staaten, in: Siegrid WESTPHAL/ Hans-Werner HAHN/Georg SCHMIDT (Hg.), Die Welt der Ernestiner. Ein Lesebuch, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 310–317. Medien- und Kommunikationsgeschichte um 1800. Zur Bilanz zweier Teilprojekte, in: Olaf BREIDBACH/Klaus MANGER/Georg SCHMIDT (Hg.), Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, München 2015, S. 137–157. Presse und Öffentlichkeit in Sachsen-Meiningen als Vehikel der Moderne?, in: Maren GOLTZ/Werner GREILING/Johannes MÖTSCH (Hg.), Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen – Kultur als Behauptungsstrategie, Köln/ Weimar/Wien 2015, S. 203–222. Bücher für Schüler und Lehrer. Der Theologe, Pädagoge und Schulbuchautor Christian Gustav Friedrich Dinter und sein Verleger Johann Karl Gottfried Wagner, in: Christine HAUG (Hg.), Schulbücher um 1800. Ein Spezialmarkt zwischen staatlichem, volksaufklärerischem und konfessionellem Auftrag, Wiesbaden 2015, S. 97–120. Volksaufklärung, Intelligenzblätter und das Kalenderwesen als Vehikel der Krisenbewältigung im kursächsischen Rétablissement, in: Rudolf STÖBER/ Michael NAGEL/Astrid BLOME/Arnulf KUTSCH (Hg.), Aufklärung der Öffentlichkeit – Medien der Aufklärung. Festschrift für Holger Böning zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2015, S. 175–192. Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie. Mit einem Anhang, in: Stefan GERBER/Werner GREILING/Tobias KAISER/ Klaus RIES (Hg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, Teil 1, Göttingen 2014, S. 175–201. „Ist ein Land klein und nicht arrondiert…“. Erfurts Platz in der thüringischen Medienlandschaft, in: Dirk SANGMEISTER/Martin MULSOW (Hg.), Subversive Literatur. Erfurter Autoren und Verlage im Zeitalter der Französischen Revolution (1780–1806), Göttingen 2014, S. 73–92. Der Wiener Kongress und das Kalenderwesen im Neustädter Kreis, in: Norbert MOCZARSKI/Katharina WITTER (Hg.), Thüringische und Rheinische Forschungen. Bonn – Koblenz – Weimar – Meiningen. Festschrift für Johannes Mötsch zum 65. Geburtstag, Leipzig/Hildburghausen 2014, S. 284–297. Luther und Legenden? Die Zeit der Reformation in der Erinnerungskultur von Neustadt an der Orla, in: Werner GREILING/Uwe SCHIRMER/Ronny SCHWALBE (Hg.), Der Altar von Lucas Cranach d. Ä. und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 13–42. Thüringen im Jahrhundert der Reformation. Kulturell-religiöser Wandel zwischen dem Ende des 15. und Beginn des 17. Jahrhunderts – Konturen eines

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Forschungsvorhabens, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 67 (2013), S. 313–329 (zus. mit Uwe Schirmer). Das Fürstentum Reuß älterer Linie im „langen 19. Jahrhundert“ – eine Einführung, in: Werner GREILING/Hagen RÜSTER (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 11–31. Volksaufklärung und Reformation. Die Luther-Biographie des Johann Ernst Daniel Bornschein, in: Jens BEGER (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag, Jena 2013, S. 191–206. Pückler und Varnhagen von Ense: Politische Blicke nach Frankreich, in: Christian FRIEDRICH/Ulf JACOB/Marie-Ange MAILLET (Hg.), Fürst Pückler und Frankreich. Ein bedeutendes Kapitel des deutsch-französischen Kulturtransfers, Berlin 2012, S. 269–281. Der Platz der Kalender des 18. Jahrhunderts im periodischen Schrifttum Thüringens, in: Klaus-Dieter HERBST (Hg.), Astronomie – Literatur – Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben, Bremen 2012, S. 57–86. Heimatgeschichte als Geschichtsschreibung „vor Ort“, in: Heimat Thüringen – Kulturlandschaft, Umwelt, Lebensraum 18 (2011), H. 1, S. 17–22. Bismarckturm, in: Kulturelle Entdeckungen Thüringen, Bd. 4, hg. von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Regensburg 2011, S. 196 f. Erfurt in der „Franzosenzeit“. Ein Bicentenaire der langen Dauer, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 72 (2011), S. 20–40. Gemeinnützigkeit als Argument. Zur Publikationsstrategie der Volksaufklärung, in: Hanno SCHMITT/Holger BÖNING/Werner GREILING/Reinhart SIEGERT (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung, und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung, Bremen 2011, S. 341–360. Landesgeschichte in Thüringen, in: Werner GREILING (Hg.), 20 Jahre Historische Kommission für Thüringen. Eine Dokumentation, Jena 2011, S. 9–15. Publizistische Reisen zwischen Deutschland und Frankreich. Johann Michael Armbrusters „Sündenregister der Franzosen in Teutschland“, in: Françoise KNOPPER/Jean MONDOT (Hg.), „Voyages… Voyages…“. Hommage à Alain Ruiz, Bordeaux 2010, S. 95–118. Universität und Öffentlichkeit. Wahrnehmung und „Öffentlichkeitsarbeit“ der Alma mater Jenensis um 1800, in: Joachim BAUER/Olaf BREIDBACH/HansWerner HAHN (Hg.), Universität im Umbruch. Universität und Wissenschaft im Spannungsfeld der Gesellschaft um 1800, Stuttgart 2010, S. 53–73.

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Weimar – Italien. Überlegungen zu Theorie und Methode der Kulturtransferforschung, in: Peter KOFLER/Thomas KROLL/Siegfried SEIFERT (Hg.), Herzog Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach und die Italien-Beziehungen im klassischen Weimar, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 23–34. Einleitung, in: Werner GREILING/Franziska SCHULZ (Hg.), Vom Autor zum Publikum. Kommunikation und Ideenzirkulation um 1800, Bremen 2010, S. 9–16. Lesen, Schreiben, Publizieren. Anmerkungen zur Kommunikationsgeschichte um 1800, in: Werner GREILING/Franziska SCHULZ (Hg.), Vom Autor zum Publikum. Kommunikation und Ideenzirkulation um 1800, Bremen 2010, S. 17–36. „Vorrathskammern des menschlichen Verstandes“. Strategien periodischer Publikationen um 1800, in: Werner GREILING/Franziska SCHULZ (Hg.), Vom Autor zum Publikum. Kommunikation und Ideenzirkulation um 1800, Bremen 2010, S. 109–158. Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Zur mediengeschichtlichen Dimension des Sonderforschungsbereichs 482 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 11 (2009), S. 164–182. „Feuergenie des Jahrhunderts“ oder „blutdürstiger Tyrann“? Die Schlacht bei Jena 1806 und das Napoleon-Bild 1797–1815, in: Leipziger Universitätsreden, NF 106: Vorträge aus dem Studium universale 2004–2007, hg. vom Rektor der Universität Leipzig (Elmar SCHENKEL), Leipzig 2009, S. 38–65. Napoleon der Große? Das Bild vom Kaiser der Franzosen im Ereignisraum Weimar-Jena, in: Andreas KLINGER/Hans-Werner HAHN/Georg SCHMIDT (Hg.), Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 329–348. Die „Deutsch-Franzosen“. Agenten des französisch-deutschen Kulturtransfers um 1800, in: Gerhard R. KAISER/Olaf MÜLLER (Hg.), Germaine de Staël und ihr erstes deutsches Publikum. Literaturpolitik und Kulturtransfer um 1800, Heidelberg 2008, S. 45–59. Zwischen Kirche, Gesellschaft und Staat. Johann Georg Jonathan Schuderoff (1766–1843) als Prediger in politischer Absicht, in: Katrin BEGER/Dagmar BLAHA/Frank BOBLENZ/Johannes MÖTSCH (Hg.), „Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefaßtes Neue“. Festschrift für Volker Wahl zum 65. Geburtstag, Rudolstadt 2008, S. 349–370. „Jakobiner, Religionsspötter und Pasquillant“. Georg Friedrich Rebmann (1768–1824), in: Matthias STEINBACH/Michael PLOENUS (Hg.), Ketzer,

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Käuze, Querulanten. Außenseiter im universitären Milieu, Jena/Quedlinburg 2008, S. 112–124. Weimar-Jena und Gotha um 1800. Eine Medienlandschaft von europäischem Format, in: Astrid BLOME/Holger BÖNING (Hg.), Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung, Bremen 2008, S. 225–239. Kultur aus den „zwey Hauptquellen“ Europas. Friedrich Justin Bertuchs Journal „London und Paris“, in: Hellmut Th. SEEMANN (Hg.), Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents (= Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2008), Göttingen 2008, S. 138–158. Werbegraphiker und Kunstprofessor in Weimar – Albert Schaefer-Ast (1890– 1951), in: Die große Stadt. Das kulturhistorische Archiv von Weimar-Jena 1 (2008), H. 2, S. 38–66. Die Mitte Deutschlands in napoleonischer Zeit. Die thüringischen Staaten zwischen Rheinbundgründung und Wiener Kongress (1806 und 1815), in: Françoise KNOPPER/Jean MONDOT (Hg.), L’Allemagne face au modèle français de 1789 à 1815, Toulouse 2008, S. 123–150. „Schiller 1789“ – Erinnerung und Deutung, in: Jürgen JOHN/Justus H. ULBRICHT (Hg.), Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 399–412. „Tja – hätte er Zeitung gelesen!“ Albert Schaefer-Ast als Zeichner für die „Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland“ in Weimar. Mit 16 Graphiken und drei ungedruckten Quellen, in: Monika GIBAS/Rüdiger STUTZ/ Justus H. ULBRICHT (Hg.), Couragierte Wissenschaft. Eine Festschrift für Jürgen John zum 65. Geburtstag, Jena 2007, S. 114–133. Napoleon und die Deutschen. Wahrnehmung und Erinnerung in regionaler Perspektive, in: Konrad BREITENBORN/Justus H. ULBRICHT (Hg.), Jena und Auerstedt. Ereignis und Erinnerung in europäischer, nationaler und regionaler Perspektive, Halle 2007, S. 119–148. Volksaufklärung und französisch-deutscher Kulturtransfer, in: Holger BÖNING/ Hanno SCHMITT/Reinhart SIEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007, S. 409–429 (zus. mit Antje Gläßer). Presse für den „gemeinen Mann“ in Mitteldeutschland. Zeitungen, Zeitschriften und Intelligenzblätter, in: Holger BÖNING/Hanno SCHMITT/Reinhart SIEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007, S. 301–321.

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Politische und kulturelle Rahmenbedingungen einer Verlegerexistenz. Bertuch in der thüringischen Medienlandschaft um 1800, in: Wolfgang CILLEßEN/ Rolf REICHARDT/Christian DEULING (Hg.), Napoleons neue Kleider. Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar (Ausstellungskatalog), Berlin 2006, S. 55–66 (zus. mit Julia A. Schmidt-Funke). Forschen und Vermitteln. Geschichtsarbeit „vor Ort“, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 59/60 (2006), S. 373–384. Landesgeschichte und Erinnerungskultur. Das Beispiel Otto von Bismarck, in: Jahrbuch des Museums Reichenfels-Hohenleuben 51 (2006), S. 37–62. Napoleon Bonaparte – Wirkung und Wahrnehmung in Thüringen, in: „Über Napoleon …“ – Auf den Spuren des Kaisers der Franzosen in Gotha. Eine Ausstellung der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha zum Deutsch-Französischen Jahr 2006 (Ausstellungskatalog), hg. von der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Gotha 2006, S. 53–66. Ernst der „Mild-Gerechte“. Zur Inszenierung eines aufgeklärten Herrschers, in: Werner GREILING/Andreas KLINGER/Christoph KÖHLER (Hg.), Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 3–22. Die „schöne Seele“ und der „Stadthalter Goethes auf Erden“. Berliner Perspektiven auf das „Ereignis Weimar-Jena“, in: Andrea HEINZ/Jutta HEINZ/ Nikolas IMMER (Hg.), Ungesellige Geselligkeit. Festschrift für Klaus Manger, Heidelberg 2005, S. 177–192. Zeitschriften und Verlage bei der Vermittlung bürgerlicher Werte, in: HansWerner HAHN/Dieter HEIN (Hg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 211–224. Nachwort, in: Siegfried SCHMIDT, Die Entwicklung der politischen Opposition im Königreich Sachsen zwischen 1830 und 1848, Dresden 2005, S. 125–140. „Dem sittlichen und religiösen Unterricht gewidmet“. Der Verlag J.K.G. Wagner in Neustadt an der Orla. Mit einem Anhang: Systematische Verlagsbibliographie J.K.G. Wagner 1799–1831, in: Werner GREILING/Siegfried SEIFERT (Hg.), „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004, S. 129–175. Zur Topographie und Typologie des thüringischen Verlagswesens um 1800 als Forschungsprogramm, in: Werner GREILING/Siegfried SEIFERT (Hg.), „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004, S. 9–32 (zus. mit Siegfried Seifert).

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Von der Hofbuchdruckerei zum modernen Verlagswesen, in: Konrad SCHEURMANN/Jördis FRANK (Hg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen 1485 –1918, Bd. 3: Essays, Mainz 2004, S. 272–279. Thüringen als Presselandschaft, in: Konrad SCHEURMANN/Jördis FRANK (Hg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen 1485–1918, Bd. 3: Essays, Mainz 2004, S. 461–479. „Mislingt eine gewaltsame Unterdrückung, so ist das Schicksal aller Fürsten Deutschlands entschieden.“ Prinz Johann von Sachsen in der Revolution von 1848/49, in: Winfried MÜLLER/Martina SCHATTKOWSKY (Hg.), Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801–1873, Leipzig 2004, S. 53–68. Verlagsprogrammatik und kulturelle Identität bei Friedrich Justin Bertuch, in: Gonthier-Louis FINK/Andreas KLINGER (Hg.), Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800, Frankfurt a. M./Bern/Berlin/Brüssel/New York/ Oxford/Wien 2004, S. 221–233. „Deutschlands zweiter Bismarck“. Otto von Bismarck und Adolf Hitler in der politischen Öffentlichkeit Thüringens in den Jahren 1933/34, in: Werner GREILING/Hans-Werner HAHN (Hg.), Bismarck in Thüringen. Politik und Erinnerungskultur in kleinstaatlicher Perspektive, Weimar/Jena 2003, S. 197–218. Presse und Geschichte. Die Anfänge des Zeitungswesens in Neustadt an der Orla und der Vogtländische Altertumsforschende Verein, in: Jahrbuch des Museums Reichenfels-Hohenleuben 48 (2003), S. 111–126. Im Schatten von Weimar und Jena? Apoldas Weg in die Moderne, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56 (2002), S. 299–318. „Den ehernen Kanzler zu loben.“ Ein Bismarckturm im Wandel der politischen System, in: Werner GREILING/Hans-Werner HAHN (Hg.), Tradition und Umbruch. Geschichte zwischen Wissenschaft, Kultur und Politik, Rudolstadt/Jena 2002, S. 205–234. „Magazine für alle Gattungen der menschlichen Bedürfnisse“. Intelligenzblätter in Sachsen und Thüringen, in: Sabine DOERING-MANTEUFFEL/Josef MANCAL/Wolfgang WÜST (Hg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich, Berlin 2001, S. 147–180. „Nachrichten für Stadt- und Landbewohner“. Die Anfänge des Pressewesens in Pößneck, in: Pößnecker Heimatblätter 7 (2001), H. 3, S. 3–7; H. 4, S. 4–7. Vaterland Sachsen? Politisch-gemeinnützige Wochenschriften des Neustädter Kreises zwischen 1803 und 1812, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 71 (2000) [2001], S. 147–169.

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Zwischen Märzunruhen und Maiaufstand, in: König Johann von Sachsen. Zwischen zwei Welten, hg. von der Sächsischen Schlösserverwaltung und dem Staatlichen Schloßbetrieb Weesenstein, Halle an der Saale 2001, S. 323–326. Bürgerlichkeit im ländlichen Milieu. Die politischen Pastoren Wilhelm Friedrich Schubert und Friedrich Wilhelm Schubert in Oppurg, in: Hans-Werner HAHN/Werner GREILING/Klaus RIES (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 135–163. Die historische Presselandschaft Thüringen, in: Astrid BLOME (Hg.), Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt und Kalender. Beiträge zur historischen Presseforschung, Bremen 2000, S. 67–84. Goethe, ministre à la cour de Weimar, in: Jean-Marie VALENTIN (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. L’Un, l’Autre et le Tout. Année Goethe, Paris 2000, S. 277–305. Politik und Publizistik – Publizistik und Politik. Friedrich Justin Bertuchs Wirken seit dem Wiener Kongreß, in: Gerhard R. KAISER/Siegfried SEIFERT (Hg.), Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) – Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, Tübingen 2000, S. 577–591. „Für die teutsche Reichsverfassung und unser Festhalten an derselben“. Das Engagement für die Reichsverfassung in Thüringen, in: Martina SCHATTKOWSKY (Hg.), Dresdner Maiaufstand und Reichsverfassung 1849. Revolutionäres Nachbeben oder demokratische politische Kultur?, Leipzig 2000, S. 133–162. Geschichtsarbeit in der „Provinz“, in: Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte 9 (1999), S. 6–13. Thüringen 1848/49 – Vom Ereignis zur Geschichte der Mentalitäten? Überlegungen zur Perspektive landesgeschichtlicher Revolutionsforschung, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 53 (1999), S. 343–357. Revolution und Öffentlichkeit, in: Klaus RIES (Hg.), Revolution an der Grenze. 1848/49 als nationales und regionales Ereignis, St. Ingbert 1999, S. 51–83. Goethe als Weimarer Minister, in: Jürgen VOSS (Hg.), Goethe im sozialen und kulturellen Gefüge seiner Zeit, Bonn 1999, S. 113–141. „Chronik, Publicitätsvehikel und Sittenspiegel“. Intelligenzblätter als historische Quelle und kulturelles Gedächtnis, in: Peter SCHÖTTLER/Patrice VEIT/ Michael WERNER (Hg.), Plurales Deutschland – Allemagne Plurielle. Festschrift für Etienne François – Mélanges Étienne François, Göttingen 1999, S. 192–203.

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Gustav Eduard Fischer – der Vertreter des IV. Wahlkreises von SachsenWeimar-Eisenach in der Deutschen Nationalversammlung 1848/49, in: Parlamente und Parlamentarier Thüringens in der Revolution von 1848/49, Weimar 1998, S. 219–236. Neustadt an der Orla in der Revolution von 1848/49, in: Werner GREILING (Hg.), Revolte und Revolution. Sozialer Protest und Fundamentalpolitisierung 1848/49 in Thüringen, Rudolstadt/Jena 1998, S. 13–100. „Freiheit lebet nur im Liede“, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 6 (1998), H. 2/3, Koblenz 1998, S. 23–26. Die Schlachten bei Jena und Auerstedt 1806 als thüringisches Medienereignis, in: Gerd FESSER/Reinhard JONSCHER (Hg.), Umbruch im Schatten Napoleons. Die Schlachten von Jena und Auerstedt und ihre Folgen, Jena 1998, S. 53–73. Presse und Revolution 1848–1850, in: Hans-Werner HAHN/Werner GREILING (Hg.), Die Revolution von 1848/49 in Thüringen. Aktionsräume. Handlungsebenen. Wirkungen, Rudolstadt/Jena 1998, S. 474–511. Frankreich-Berichterstattung in deutschen Zeitungen: Kursachsen und Thüringen zur Zeit der Französischen Revolution, in: Hans-Jürgen LÜSEBRINK/ Rolf REICHARDT (Hg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch. FrankreichDeutschland 1770–1815, Leipzig 1997, S. 197–237 (zus. mit Matthias Middell). Der „Neustädter Kreis=Bote“ in der Geschichte der deutschen Presse (1800– 1943), in: Werner GREILING (Hg.), Neustadt an der Orla. Vom Ursprung und Werden einer Stadt, Rudolstadt/Jena 1997, S. 123–158. „… dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zur Aufnahme, Vortheil und Beförderung.“ „Intelligenzblätter“ in Thüringen, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 8: Literatur, Politik und soziale Prozesse. Studien zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik, Tübingen 1997, S. 1–39. Die Französische Revolution (= Formen der Demokratie, H. 8), Erfurt 1997. Karl August, Herzog, seit 1815 Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie, München 1997, Bd. 5, S. 446 f. „Die nächsten Nachrichten aus Frankreich könnten überhaupt künftig wichtig werden.“ Frankreichberichterstattung und Frankreichbild in Thüringen, in: FRANCIA. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 23/2 (1996), S. 65–111.

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Hofbibliothekar und francophiler Publizist: Heinrich August Ottokar Reichard (1751–1828), in: Michel ESPAGNE/Werner GREILING (Hg.), Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers 1750–1850, Leipzig 1996, S. 151–176. Spuren der Französischen Revolution von 1789 in Thüringen, in: Almanach Via regia '96. Begegnung mit Frankreich, hg. vom Europäischen Kulturzentrum in Thüringen für Europa e.V., Erfurt 1996, S. 29–35. „Wahre Aufklärung bringt freilich diese Würkungen nicht hervor …“. Zur Politisierung der Aufklärung in Thüringen, in: Hans Erich BÖDEKER/Etienne FRANÇOIS (Hg.), Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, S. 105–144. „Einem Volke, welches die Bastille rasirt“. Intelligenzblätter und Kulturtransfer in Thüringen, Bayern und Sachsen, in: Cahiers d’Études Germaniques. Revue Semestrielle 28 (1995), S. 115–131. Jena und seine Erhalterstaaten im Einflußfeld der französischen Aufklärung und der Revolution von 1789, in: Friedrich STRACK (Hg.), Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, Stuttgart 1994, S. 40–58. Kulturtransfer, Frankreichbild und Frankreichberichterstattung in Thüringen zwischen 1785 und 1815. Eine Problemskizze, in: Jürgen JOHN (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Weimar/ Köln/Wien 1994, S. 351–370. Das Neueste vom Tage. Zur Entstehung des Zeitungswesens in Thüringen (Thüringen. Blätter zur Landeskunde), Erfurt 1994. La Révolution française de 1789 et l’Allemagne. A propos de quelques problèmes théoriques et méthodologiques relatifs à l’analyse de ses répercussions, in: Serge DERUETTE (Hg.), Réfléchir la Révolution Française. Histoire, historiographie, théories. Actes du colloque de Bruxelles des 16, 17 et 18 mai 1990, Bruxelles 1993, S. 109–119. Frankreich – Thüringen. Überlegungen zum französisch-deutschen Kulturtransfer zwischen 1770 und 1815 in regionaler Perspektive, in: Michel ESPAGNE/ Matthias MIDDELL (Hg.), Von der Elbe bis an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, Leipzig 1993, S. 160–178. Ein „alter Freund“ Bettines. Zur Revolutionsrezeption und publizistischen Praxis bei Karl August Varnhagen von Ense, in: Walter SCHMITZ/Sibylle von STEINSDORFF (Hg.), „Der Geist muß Freiheit genießen...!“. Studien zu Werk und Bildungsprogramm Bettine von Arnims, Berlin 1992, S. 141–153.

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Das Erbe der deutschen Jakobiner (II), in: Aufklärung – Vormärz – Revolution. Jahrbuch der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa von 1770–1850“ an der Universität Innsbruck 8/9 (1988/ 1989) [1992], S. 77–84. Im Schatten der Revolution. Überlegungen zur Revolutionsrezeption an der Universität Jena zwischen 1789 und 1799, in: Herbert GOTTWALD (Hg.), Universität im Aufbruch. Die Alma mater Jenensis als Mittler zwischen Ost und West. Völkerverbindende Vergangenheit und europäische Zukunft einer deutschen Universität, Jena/Erlangen 1992, S. 157–167. Jakobinische Publizistik und Volksbewegung in Deutschland im Einflußfeld der Französischen Revolution, in: Jakobinismus und Volksbewegung zur Zeit der Französischen Revolution. Dem Wirken Walter Markovs gewidmet, Berlin 1991, S. 142–147. Varnhagen von Ense, in: Kurt PÄTZOLD (Hg.), Lexikon Biographien zur deutschen Geschichte. Von den Anfängen bis 1945, Berlin 1991, S. 522. Nationalismus, Kosmopolitismus und europäische Idee: Deutsche Intellektuelle um Varnhagen von Ense zwischen Vormärz und Revolution von 1848/49, in: Marita GILLI (Hg.), Le cheminement de l’idée européenne dans les idéologies de la paix et de la guerre. Actes du colloque international organisé à Besançon, Paris 1991, S. 303–313. Ancien Régime und bürgerliche Gesellschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 39 (1991), H. 1, S. 65–67. Die Französische Revolution 1789 und ihre Auswirkungen auf die deutsche Geschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der Regionalgeschichtsschreibung in Thüringen, in: Werner MÄGDEFRAU/Theo ARNOLD (Red.), Die Französische Revolution 1789 und ihre Wirkungen in Thüringen. Resümee der Konferenz am 11. und 12. Februar 1989 in Jena, hg. von den Bezirksleitungen Erfurt, Gera und Suhl des Kulturbundes der DDR, Erfurt/Gera/Suhl 1989 [1990], S. 11–47. Konrad Engelbert Oelsner und Georg Friedrich Rebmann. Zur Differenzierung von Liberalismus und Demokratismus in Deutschland im Einflußfeld der Französischen Revolution, in: Erhard LANGE (Hg.), Französische Revolution und deutsche Klassik. Beiträge zum 200. Jahrestag, Weimar 1989, S. 153–163. Preußen und die revolutionäre Herausforderung nach 1789, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989), H. 9, S. 830–832.

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1789, les jacobins allemands et l’instauration de la société civile en Allemagne, in: Michel VOVELLE (Hg.), L’image de la Révolution Française. Actes du Congrès Mondial, Paris/Oxford 1989, Bd. 2, S. 823–828. Das Erbe der deutschen Jakobiner, in: Aufklärung – Vormärz – Revolution. Jahrbuch der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850“ an der Universität Innsbruck 7 (1988), S. 41–47. Die politische Organisation der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland. Funktionen und Wandlungsprozesse, in: Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte 49 (1987), S. 123 (zus. mit Joachim Bauer). Zur Genese der politischen Organisation der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland. Forschungsprobleme und Arbeitsthesen, in: Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte 49 (1987), S. 51–78. Aspekte der Klassikrezeption bei Karl August Varnhagen von Ense, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschaftsund Sprachwissenschaftliche Reihe 35 (1986), H. 5, S. 479–484. Hoffmannscher Bund, in: Dieter FRICKE u.a. (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 3, Leipzig 1985, S. 128 f. Varnhagen von Ense und die Rezeption jakobinischer Literatur und Publizistik im deutschen Vormärz, in: Weimarer Beiträge 31 (1985), H. 2, S. 181–201. Wilhelm Neumann – ein vergessener Dichter?, in: Weimarer Beiträge 29 (1983), H. 7, S. 1306–1308. Zum Linksliberalismus in Deutschland zwischen der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 und der Gründung liberaler Organisationen 1859/61, in: Siegfried SCHMIDT (Hg.), Politik und Ideologie des bürgerlichen Liberalismus im Revolutionszyklus zwischen 1789 und 1917, Jena 1983, S. 39–45. Deutsche Jakobiner, in: Dieter FRICKE u.a. (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 1, Leipzig 1983, S. 718–723.

Abkürzungsverzeichnis ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

AANZD ADB AVD BArch BdS BStU CDS CDU d DBA DDP DDR DMZ EA EGA EHA FB FDGB fl Ges.S. GHA GND Gr./gr. GSA HHStA HMA HStA KPD KVK KZ LASA LATh LDP(D) LTh-BMP LTh-MfJ LVG LVO MAK MfS ND NDB NDPD

Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen Allgemeine Deutsche Biographie Allgemeines Volksblatt der Deutschen Bundesarchiv Bund Demokratischer Sozialisten Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Codex Diplomaticus Saxoniae Christlich Demokratische Union Pfennig Deutsches Biographisches Archiv Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutsche Marokko-Zeitung Erstauflage Ernestinisches Gesamtarchiv Ernst-Haeckel-Archiv Forschungsbibliothek Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Gulden Gesetzsammlung (des Landes Thüringen) Gemeinschaftliches Hennebergisches Archiv Gemeinsame Normdatei Groschen Goethe-Schiller-Archiv Haus-, Hof- und Staatsarchiv Hofmarschallamt Hauptstaatsarchiv Kommunistische Partei Deutschlands Karlsruher Virtueller Katalog Konzentrationslager Landesarchiv Sachsen-Anhalt Landesarchiv Thüringen Liberaldemokratische Partei (Deutschlands) Land Thüringen – Büro des Ministerpräsidenten Land Thüringen – Ministerium für Justiz Landesverwaltungsgericht Landesverwaltungsordnung Museum für angewandte Kunst Ministerium für Staatssicherheit Neudruck Neue Deutsche Biographie National-Demokratische Partei Deutschlands

586 NF NSDAP OLG ÖStAW (Th)OVG PA-AA PABJ PND ProtDBV QGDB rt RGBl ß SAJ SBZ SED SLUB SMA SMAD SMATh SPD SS StA StadtA StGB Thlr ThMA ThULB TLDA TV UA UB URL VA VD16 VD17 (D)VP WAZ

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Neue Folge Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Oberlandesgericht Österreichisches Staatsarchiv Wien (Thüringisches) Oberverwaltungsgericht Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin Personalakten aus dem Bereich Justiz Personennormdatei Protokolle der Deutschen Bundesversammlung Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes Reichstaler Reichsgesetzblatt Schock Sozialistische Arbeiter-Jugend Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sächsische Universitäts- und Landesbibliothek Sowjetische Militäradministration Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sowjetische Militäradministration in Thüringen Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Staatsarchiv Stadtarchiv Strafgesetzbuch Taler Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Thüringer Volksfreund Universitätsarchiv Universitätsbibliothek Uniform Resource Locator Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts Deutsche Volkspolizei Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Abbildungsnachweis ABBILDUNGSNACHWEIS

Beitrag Holger BÖNING Abb. 1: Theatrum Europaeum oder Warhaffte Beschreibung aller Denckwürdigen Geschichten, so sich hin und wieder von 1629 biß 1633 zugetragen, Bd. 1, 21662, Tafel nach S. 408; Abb. 2: Matthäus Rader/Maximilian Rassler, Heiliges BayerLand, Bd. 3, Mit einem mercklichen Zusatz in Teutscher Sprach vorgetragen, Augspurg 1714, S. 265; Bayerische Staatsbibliothek München, VD18 14897059, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00076480-1. Beitrag Enno BÜNZ Abb. 1: Museum für angewandte Kunst Wien, Inv. B. I. 21. 517, Standort S20, fol. 237v; Abb. 2: Stadtarchiv München, Zimelie 144, fol. 48v. Beitrag Christel GÄBLER Abb. 1: Stadtmuseum Gera. Beitrag Gerhard MÜLLER Abb. 1: Ernst-Haeckel-Archiv der FSU Jena, Signatur 000000846, K3k, 430; Abb. 2: Ernst-Haeckel-Archiv der FSU Jena, Signatur A 42746. Beitrag Rainer MÜLLER Abb. 1, 9: Bildarchiv Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Erfurt; Abb. 2: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Inv.-Nr. SBBOK, SLUB/KS A 19727; Abb. 3: Planarchiv Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Erfurt; Abb. 4–8, 10, 11: Werner Streitberger, Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Erfurt; Abb. 12, 13: Büro Scherf.Bolze.Ludwig, Silbitz; Abb. 14, 15: Lutz Scherf, Silbitz. Beitrag Jens-Jörg RIEDERER Abb. 1: Klassik Stiftung Weimar, Bestand Museen, KSi 11768; Abb. 2: Journal des Luxus und der Moden, August 1788, Kupfertafel 24. Beitrag Hagen RÜSTER Abb. 1, 2, 3: LATh-StA Greiz, Zeitungssammlung. Beitrag Ronny SCHWALBE Abb. 1, 2: Bildersammlung Stadtmuseum Gera, Foto: Matthias Wagner; Abb. 3: Anzeige „Wasserperle“, Beiblatt der Fliegenden Blätter, München 25.9.1903, S. 1, Privatbesitz Ronny Schwalbe; Abb. 4: Wappen der Familie Hirsch, Evang.-Luth. Kirchgemeinde Kospoda, Foto: Ronny Schwalbe.

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ABBILDUNGSNACHWEIS

Beitrag Reinhart SIEGERT Abb. 1: Georg Christoph Hamberger/Johann Georg Meusel, Das Gelehrte Teutschland, Bd. 12, Lemgo 51806, S. LXXXV; Abb. 2: Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Eph.pol. 15-1852,1/6, unpag. (17.1.1852), urn:nbn:de:bvb:12-bsb105026051. Beitrag Konrad MARWINSKI Abb. 1: Schlossmuseum Sondershausen, Inv.-Nr.: Kb 60. Beitrag Johannes MÖTSCH Abb. 1: LATh-StA Meiningen, GHA Sektion I, Nr. 6486, Bl. 183.

Ortsregister Das Register enthält alle im Text- und Fußnotenteil genannten Orte. Geographische Landschaftsbezeichnungen sowie territoriale Bestandteile in Herrschaftstiteln wurden nicht aufgenommen. Ortsnennungen, die lediglich bibliographischen Angaben zugehören, wurden ebenfalls nicht erfasst. Agadir 76 Algeciras 70 f., 77 Allstedt 18, 100, 114, 127 Altdorf (bei Nürnberg) 183 Altenburg 15, 18, 22–24, 100, 130, 184, 205, 207, 209, 219, 225 f. Altzella 201 Amsterdam 324 Annaburg 219 Antwerpen 44 Apolda 22, 201, 510 Arnshaugk 192, 196, 199, 203 f., 209, 383–386, 389 Arnstadt 15, 175, 186 Aschaffenburg 298, 302 Athen 417 Auerstedt 117 f., 493 Augsburg 11, 34, 36 f., 44, 214 f., 220, 231, 246, 272, 298, 469 Auma 192, 209 Bad Aussee 216 Bad Enns 214 Bad Godesberg 47 Bad Kissingen 495, 503 Bad Langensalza 130, 206, 517 Bad Liebenstein 19 Bad Lobenstein 15, 165 f. Bad Salzungen 18 Bamberg 35–37, 39, 198, 299 Barcelona 231 Barmen 357 Basel 321 Bayreuth 316

Berlin 12, 23 f., 42, 51, 54, 67, 69, 72, 75, 77, 103, 138, 178, 282, 305, 307, 309, 314, 319 f., 324, 337, 355, 389, 411, 448, 462, 475, 486, 497, 499, 510, 523, 528 Bielefeld 26 Blankenhain 19, 156 Bockenheim 438 Bonn 46–48, 362 f., 456, 499, 501 Borna 196, 199, 219 Brandenstein 209 Bratislava 246, 312 Braunschweig 13, 139, 347 Bremen 282 Breslau 283, 464 Brockhausen (Unna-Königsborn) 130 Brüssel 308, 318, 321–324 Budapest 312 Bürgel 209 Burgau 209 Buttstädt 156 Buttelstedt 207 Cambridge 98, 104, 109 Camburg 18, 209 Casablanca 70, 72 f., 75 Celle 447 Český Krumlov 42 Cheb 237, 247 Chemnitz 202, 205, 209 f. Chociwel 498 Coburg 15, 26, 36, 196 f., 223, 439, 498 Creuzburg 206 Cuba 366 f.

ORTSREGISTER

590 Danzig 12 Darmstadt 118, 128 f., 320, 438, 440, 488 Daugavpils 369 Debschwitz 329 Delitzsch 55, 198 Den Haag 49, 322 Dessau 184 Dillenburg 44 Dornburg 97, 102, 104–108, 110–112, 209 Dresden 92, 138, 220, 226, 245, 291–302, 328, 425, 430, 483, 489, 519 Dünaburg → Daugavpils Ebeleben 186 Eckartsberga 199, 207 Edinburgh 301 Eger → Cheb Ehrenberg 209, 214 Eichelborn 113 Eilenburg 219 f. Eisenach 15, 22 f., 27, 107, 173, 305, 349–364 Eisenberg 18, 209 Eisfeld 19 Eisleben 24, 114, 118 El Jadida 75, 78 Elbogen → Loket Ellrich 66 Erfurt 2, 11–19, 22 f., 26–28, 53, 113, 182, 195, 205, 207, 392, 401, 482, 505 f., 508, 516 f. Erlangen 40 Frankfurt am Main 11–13, 15, 18, 52, 54, 59, 66 f., 140, 144, 231, 237, 276, 320, 436–442, 469–472, 475 f., 496 Frauendorf 561–564 Freiberg 196, 200, 206 Freiburg 44, 214, 320, 508, 555 Freienwalde → Chociwel Friedberg 118

Friedrichsroda 19 Friedrichswerth 174, 486 Fulda 37 Gehren 186 f. Genf 82, 88 Genua 36 Georgenthal 525 Gera 15, 18, 22 f., 25–27, 328–332, 337–339, 341 f., 345, 365–367, 370–375, 377 f., 380–382, 387, 400, 505 f., 516 Gerresheim 46 Glasgow 503 Gmunden 214 Göttingen 2, 282, 524, 530 Gorzów Wielkopolski 498 Gotha 14–16, 22 f., 27, 139, 167, 193, 197 f., 207, 209, 305, 388, 481–491 Grafenau 562 Graz 310, 312 Greiz 22, 368, 447 f. Grimma 225, 293 Groitzsch 209 Großenhain 172 Großfahner 167 Großfurra 187 Grötzingen 64 Guangzhou 325 Halberstadt 197 Halle (Saale) 220, 297, 370, 425, 524, 531 Hamburg 12, 15, 49, 73, 108–110, 112, 143, 435, 499 Hammelburg 108 Hannover 109, 313, 447 Heidelberg 48, 131, 144, 299, 510 Heilbad Heiligenstadt 15, 27 Helmstedt 530 Herbsleben 166, 174, 199 Herrenbreitungen 37 Hildburghausen 15, 23, 167, 320 Hildesheim 12, 236, 239, 260 Hohenleuben 130

ORTSREGISTER

Ichtershausen 488 Ilmenau 27, 37, 551 Imst 214 Innsbruck 35, 214–216 Irkutsk 368 f. Ischl 214 Jena 1–3, 15, 22 f., 27, 32, 57, 99, 104–106, 110, 114–118, 130, 134–136, 142, 148, 150, 160, 166, 181, 201 f., 205, 209, 263, 281 f., 325, 347, 370, 388, 412, 416–430, 493–497, 501, 503–506, 510–513, 515, 519–529, 531 Jerusalem 181, 217 Kaaden (Kadaň) 240 Kahla 15, 48, 209 Kappel am Albis 41 Kassel 26, 38, 180, 447 f., 451, 455–457, 462, 474 Kaufbeuren 214 Kiel 299 Klettbach 113 Kohren 209 Köln 11, 13, 15, 40, 46 f., 49, 249 f., 438 Königsberg (Bayern) 36, 40 Königsberg (Preußen) 38 Konstantinopel 40 Kopenhagen 142 Krakau 499 Kremsmünster 214 Krumau → Český Krumlov Kufstein 214 Landsberg an der Warthe → Gorzów Wielkopolski Leipzig 2, 9, 12 f., 49, 51, 63 f., 66 f., 88, 111, 118, 141, 176, 178, 205, 209, 219, 289, 291 f., 297, 299, 367, 426 f., 489, 531 Leisnig 293 Leumnitz 376 Liebschwitz 370

591 Lobenstein 15, 165 f. Loket 249 London 70, 98, 101 f., 104, 108–110, 112, 146, 307 f., 315–317, 323, 368 Löwen 44 Lüchow 447 Ludwigslust 447 Lülsdorf 47 Lusan 376 Madrid 70, 100, 180 Magdala 146 Magdeburg 168 f., 270–272 Mainberg 36 f., 44 Mainz 10, 412, 439 Marburg 32, 38, 126 Mariendorf 499 Mazagan → El Jadida Meiningen 15, 19, 22 f., 33 f., 49, 104, 106, 305 f., 309–311, 313, 316–318, 321, 323 f., 482 Meißen 302 Melsungen 447, 450 Mihla 362 Minden 513 Molschleben 174 Moskau 361 Mühlhausen 14 f., 19, 22 f., 27, 53, 207, 321, 517 München 2, 64, 184, 248, 256, 272, 490, 561–564 Münster 513 Naumburg (Saale) 15, 18 Nazza 174 Neukirchen 173 Neumark 199 Neunhofen 384 Neuss 40 Neustadt an der Orla 2, 5, 116, 120–122, 124 f., 130, 191 f., 194–196, 202–204, 209, 302, 383–390, 393, 397 f., 400 f., 404, 410 New York 317, 368

ORTSREGISTER

592 Nordhausen 12, 14 f., 19, 51, 53–55, 58–61, 63 f., 66 f., 207, 506 Nordheim (Grabfeld) 101–104, 107 f., 111 f. Nürnberg 11, 35 f., 41, 49, 208, 228, 230, 282 Oberweißbach 557 Offenbach 118 Oldenburg 281 f. Orlamünde 209 Oschatz 293 Osnabrück 142 Paderborn 378 Palermo 108 Paris 1 f., 75, 78, 137, 231, 308, 318–322, 442, 481, 484, 486, 490 Passau 563 Pegau 209 Poppelsdorf 47 Pößneck 387, 392 Potsdam 103, 507 Prag 11, 180, 202, 237 f., 240–251, 255, 257, 260, 283, 312 f., 499 Preßburg → Bratislava Pskow 369 Rakonitz (Rakovník) 242, 244 Ranis 166 Regensburg 49, 101, 182, 264, 490, 541 Riga 141 f., 369 Rochlitz 207 Röppisch 376 Rom 49, 231, 290, 295, 297 f., 302, 417 Romschütz 100 Ronneburg 18 Rosenheim 214, 218 Rotthalmünster 562 Rudolstadt 15, 22 f., 64–66, 142, 150, 439, 533 Ruhla 19

Rüxleben 557 Saalfeld 22 f., 197, 199, 205, 209, 387 f., 392, 397, 424 Saatz → Žatec Sachsenhausen 231 Salmanskirchen 218 Salzburg 214 Sankt Wolfgang 214 Santiago de Compostela 217 Saratow 182 Schleusingen 33–35, 38–40, 42, 114 Schmalkalden 15, 19, 23, 27, 517 Schmölln 19 Schnepfenthal 16 Schweinfurt 36, 108 Schwerin 486 Seligenthal 160 Sondershausen 15, 22, 120, 175 f., 184–187 Sonneberg 19, 22 f. St. Gilgen 214 St. Petersburg 130, 369 Stedten 482, 490 Steinbach-Hallenberg 22 Stettin 269 Steyr 214 Stockholm 264 Stralsund 264, 266 f., 270 Straßburg 9, 12, 483, 501 Straßwalchen 214 Stuttgart 12, 39, 58, 168, 178, 241, 320, 441, 481, 486 f., 497 Suhl 22 f., 25 f., 517 Sulzfeld 39 Szigetvár 42 Tanger 69–74 Tenneberg 174 Teplitz 180 Thal 174 Thamsbrück 206 f. Thorn → Toruń Tonna 174 Torgau 199, 219 f., 228

ORTSREGISTER

Toruń 498 Trier 434 Triptis 19, 192, 209, 387 Trostberg 218, 561 f. Tübingen 110, 427, 481 Untermhaus 366 f., 375 Vöcklabruck 214 Völkershausen 101 f., 104, 108 Voigtsberg 196, 199 Waltershausen 18 Warschau 369 Weida 157, 164 f., 205 Weilburg 98 Weilheim 562 Weimar 15, 18–20, 22, 24 f., 27, 97–114, 118, 120, 125 f., 128, 131, 133–144, 146 f., 150 f., 156, 181, 226 f., 305, 325, 349, 353, 355, 363, 415, 510, 514, 516, 523 Weißenburg 209, 320 Weißenfels 205, 207, 209 Weißensee 182, 199, 207 Wels 213–215, 219 f. Wesseling 47

593 Wetzlar 140, 431–436, 442 f. Wien 36, 41, 44, 60, 91, 100, 138, 178, 215, 217, 242 f., 245, 247, 252, 260 f., 305–307, 309–320, 322 f., 450, 473, 475, 483, 497, 501 Wiener Neustadt 215 f. Wilhelmsthal (Gerstungen) 107 Wittenberg 35, 181, 216, 218 f., 228, 388, 426, 531 Witzelroda 156, 163 f. Wolfenbüttel 12, 239 f., 556 Wolferstedt 114 Wölfis 157 Wolfsberg (Kärnten) 35, 40 Worms 118 Wormstedt 115, 117 f., 120, 123, 125, 130, 161 Würzburg 36, 40, 42 Zangberg 217 Žatec 244 Zegrze 370 Zella-Mehlis 297 Ziegenrück 192, 209 Zürich 41, 418 Zwickau 168, 177, 196, 199

Personenregister Das Register verzeichnet alle im Text- und Fußnotenteil erwähnten historischen Personen. Personennamen, die lediglich in bibliographischen Angaben erscheinen, wurden nicht verzeichnet. Abbt, Thomas 552 Abrines, Gregorio Trinidad 69 Ackermann, Friedrich Wilhelm 188 Adami, Adam 277, 279, 286 Aderholdt, August 63 Adolf von Nassau-Wiesbaden-Idstein, Erzbischof von Mainz 206 Aegidi, Ludwig Karl James 499, 501, 503 Agnes von Mansfeld-Eisleben 46 Aitzing, Michael von 11 Albert, Prinz von Sachsen-Altenburg 184 Albrecht, Herzog von Sachsen 40 Albrecht von Brandenburg, Kurfürst von Mainz 220, 464 Albrecht von Sachsen-Wittenberg, Fürst von Lüneburg 198 Albrecht III. (Achilles), Kurfürst von Brandenburg 34, 38, 42 Albrecht III. (der Fromme), Herzog von Bayern-München 221 Albrecht V., Herzog von Bayern 46 d’Amade, Albert 70 Alexis, Willibald 179 Amalie von Hohenzollern-Sigmaringen, Prinzessin von Sachsen-Altenburg 183 Amiel, Henri-Frédéric 88, 94 Anastasia von Brandenburg, Gräfin von Henneberg-Schleusingen 34, 36, 42 Anger, Christian Ernst 122 Anna Amalia von BraunschweigWolfenbüttel, Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach 105, 120, 136, 139 f., 146, 520, 524 Anna Luise von Schwarzburg, Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt 187

Anna von Dänemark, Kurfürstin von Sachsen 409 Anschütz, Olga 359 Anton, König von Sachsen 301 Apel, Hans 350 f., 356 Apel, Vitzthum von Apolda 201 Ariosto, Ludovico 178 Aristoteles 536 f., 539 Arndt, Ernst Moritz 419 Arnold, Johann Christoph 290 Arnold, Rudi 357 Arouet, François-Marie 180 Astor, Walter 356 August, Kurfürst von Sachsen 39, 47 f., 409 August III., König von Polen 488 Auguste Dorothea von BraunschweigWolfenbüttel, Fürstin von Schwarzburg-Sondershausen zu Arnstadt 186 Aurel, Marc 83 Bab, Julius 189 Bachoff von Echt, Henriette Karoline 100 Bachoff von Echt, Johann Friedrich 100 Bachoff von Echt, Ludwig Heinrich 100 Bader, Karl Siegfried 508 Balitzki, Vinzenz 300 Balthasar, Markgraf von Meißen, Landgraf von Thüringen 191–200, 202, 205, 208 f. Baltzer, Eduard 53–56, 58–61, 63–67 Barth, Arno 506–508 Bashkirtseff, Marie 94

PERSONENREGISTER

Bauer, Eduin 302 Baumann, Georg 11 Bechstein, Ludwig 33 Bechstein, Reinhold 33 Beck, Johann 11 f. Beck, Louis 339 Becker, Johann Nikolaus 432 f. Becker, Rudolf Zacharias 16, 159, 172, 550 Beethoven, Ludwig van 308, 310–312, 320, 324 f. Belitski, Ludwig 61 Bergk, Johann Adam 154 f. Bergner, Edwin 513 Bergner, Johannes 176 Berlepsch, Emilie von 179 Bernhard von Clairvaux 534 f. Berthold von Henneberg, Kurfürst von Mainz 17 Berthold XV. von HennebergSchleusingen 35 Bertholdy, Heinrich Ludwig Anton 295 f., 299 Bertoldi, Antonio 295 Bertram, Friedrich 188 Bertuch, Friedrich Justin 2, 17, 100, 147 f., 150 f. Beulwitz, Karoline von 142 Beutterich, Peter 47 Beyer, Carl Hermann 328, 330 Beyle, Marie-Henri 91 Bibra, Georg von 36 f., 39 Bismarck, Otto von 2, 6, 493–504 Blanckmeister, Franz 302 Blittersdorff, Friedrich Landolin von 471 f. Blum, Robert 519 Boehlendorff, Casimir Ulrich 422 Boethius, August 14 Bogislaw XIV., Herzog von Pommern 269 Böhme, Curt 362 Böhme, Jakob 182 Boineburg, Sigmund von 41 Boock, Georg 505 f.

595 Borkowsky, Ernst 519, 521 Boswell, James 85 Böttiger, Karl Wilhelm 303 Brachel, Peter von 250 Brahms, Johannes 308, 310–312, 315 f., 318, 324 Braun, Herbert 356 Brechtel, Johann Jakob 421 Breitenbach, Georg Friedrich 13 Brill, Hermann 506, 513, 516 Brode, Reinhold 189 Bronikowski, Alexander 182 Brühl, Heinrich von 484, 489 Buchwald, Juliane Franziska von 481 f., 484 f., 487–491 Buchwald, Luise von 485 Buchwald, Schack Hermann von 482, 485 f. Bucquoy, Charles Bonaventure de Longueval Comte de 242, 246, 253, 257 Buddeus, Franz 524 Bülow, Bernhard von 76, 78 Bülow, Hans von 305, 308–313, 315, 317, 319 f., 323 f. Bürgel, Bruno Hans 190 Bürger, Gottfried August 282, 551 Buol-Schauenstein, Johann Rudolf Graf von 467–469 Burckhardt, Jacob 89 Buttlar, Reichard von 40 Calderón de la Barca, Pedro 178 Campe, Joachim Heinrich 180 Canitz, Carl von 475 Canning, George 98, 108 Caprivi, Leo von 448, 493 Carlyle, Thomas 497 Caroline Luise von SachsenWeimar-Eisenach, Erbgroßherzogin von Mecklenburg-Schwerin 107 Carové, Friedrich Wilhelm 299 Casaubonus, Isaak 82 Casimir, Markgraf von BrandenburgKulmbach 36

596 Chodowiecki, Daniel 177 Christian I., Fürst von Anhalt-Bernburg 242, 246, 252 Christian IV., König von Dänemark u. Norwegen 263 f. Christoph, Herzog von Württemberg 38 Chronegk, Ludwig 323 Churchill, Winston 379 f. Cicero, Marcus Tullius 83, 178, 536 Columbus, Christoph 325 Constantin, Prinz von Sachsen-WeimarEisenach 139 Contarini, Alvise 275 Corneille, Pierre 179, 488 Cotta, Johann Friedrich 110, 426 f. Craven, Elisabeth 181 Croix, Peter de la 257 Crusius, Martin 82 D’Alembert → Rond, Jean-Baptiste le Dalberg, Karl Theodor von 178, 182, 436, 481 Damm, Augustin Joseph 434 Dante Alighieri 178 Darjes, Joachim Georg 524 Darwin, Charles 494, 501 Delacroix, Eugène 91 Demokrit 536 Denk, Anna → Fürst, Anna Denk, Christoph 562 f. Desford, James Ogilvy Lord of 484 Diderot, Denis 365 Diercks, Gustav 71 Dietrich V., Graf von Honstein 194 Dinter, Gustav Friedrich 122 f., 167 Dönhoff, August Graf von 476 Dörmer, Willi 356 Dolgen, Merten von 11 Dominicus von Jesus Maria Ruzzola 252–255, 257 f. Dvořák, Antonín 313 Eberhard Ludwig, Herzog von Württemberg 481, 487 Ebers, Georg 190

PERSONENREGISTER

Ebner-Eschenbach, Marie von 89 Eduard, Prinz von Sachsen-Altenburg 183 Eduard III., König von England 194 Egmond, Lamoral Graf von 44 Eichendorff, Joseph von 178 Eichstädt, Heinrich Karl Abraham 114 Eisenschmid, Leonhard Martin 302 Eleonore Caroline Gasparine, Prinzessin Reuß zu Köstritz, Zarin von Bulgarien 184 Elgar, Edward 316 Elisabeth, Prinzessin Reuß zu Köstritz 184 Elisabeth von Arnshaugk, Landgräfin von Thüringen 192 f., 196 Elisabeth von Bayern, Kurfürstin von Sachsen 221 Elisabeth von Braunschweig-Calenberg, Gräfin von Henneberg-Schleusingen 42, 45 Elisabeth von Henneberg, Gräfin von Salm-Reifferscheid 46 Elisabeth Sophie von Brandenburg, Herzogin von Sachsen-Meiningen 481 Emerich, Fredrich Joseph 434 Endemann, Wilhelm 497 Engelmeyer, Fritz 355 Engels, Friedrich 524 Erhardt, Christian Heinrich 386 Erich II., Herzog zu BraunschweigLüneburg-Kalenberg 39 Ernst, Kurfüst von Sachsen 221 Ernst von Bayern, Kurfürst von Köln 46–48 Ernst I. (der Eiserne), Erzherzog zu Österreich 221 Ernst I., Herzog von Sachsen-Altenburg 184 Ernst August I., Herzog von SachsenWeimar-Eisenach 137 f. Ernst August II. Konstantin, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 140, 487 Ernestine Albertine von SachsenWeimar-Eisenach, Gräfin zu Schaumburg-Lippe 140

PERSONENREGISTER

Eschenburg, Johann Joachim 99 Esker, Jakob 13 Esmarch, Carl Bernhard Hieronymus 499 Evelyn, John 94 Fabri, Johannes 215 Falk, Johannes Daniel 126 Fehr, Wilhelm 359 Feininger, Lyonel 510 Ferdinand II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 251–253, 263 f., 267 f. Fernando Álvarez de Toledo, Herzog von Alba 44 Fichte, Johann Gottlieb 411–414, 416–430 Ficke, Carl 75, 79 Fischer, Andreas 439 Fischer, Kuno 495 f. Fischer, Walter 362 Fischer-Barnicol, Hermann 356 Fitz-Simon 253 Flach, Willy 522 f. Focke, Hermann 367 Förstemann, Ferdinand Heinrich 63–65 Fontane, Theodor 89 Forberg, Friedrich Karl 416, 424–426 Forkel, Johann Friedrich 498 Forster, Georg 91 Francs, Jacobus → Lautenbach, Conrad Frantz, Constantin 460 Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 433 f. Fresdorf, Ernst 351 f., 354 Freud, Sigmund 91 Freyeisen, Johann Christoph 442 Friedrich I., Kurfürst von Brandenburg 36 Friedrich II. (der Ernsthafte), Markgraf von Meißen, Landgraf von Thüringen 191 f., 194 Friedrich II. (der Große), König von Preußen 179, 189, 452, 456, 460, 462 f., 489 f.

597 Friedrich II. (der Sanftmütige), Kurfürst von Sachsen 221 Friedrich III. (der Strenge), Markgraf von Meißen, Landgraf von Thüringen 191–193, 195–200, 202 f., 205, 207–209 Friedrich III. (der Weise), Kurfürst von Sachsen 203, 213, 218, 220–224, 226, 228, 230–233 Friedrich III., Herzog von SachsenGotha-Altenburg 483, 487, 490 f. Friedrich III., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 221, 230 Friedrich III., Kurfürst von der Pfalz 38 Friedrich IV. (der Streitbare), Markgraf von Meißen, Landgraf von Thüringen 202, 209 Friedrich V., Burggraf von Nürnberg 195, 198, 203, 208 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz, König von Böhmen 237, 242, 246–248, 252, 256 Friedrich V., Markgraf von BrandenburgAnsbach-Kulmbach 41 f. Friedrich IX. von Schönburg 197 Friedrich August II., König von Sachsen 293 Friedrich-Wilhelm III., König von Preußen 103 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 474 Fries, Jakob Friedrich 423 Frisch, Max 83 Fröhlich, August 361 Frommann, Friedrich Johannes 156 Froriep, Friedrich Justus 434 Funck, Johann Friedrich 437, 442 Fürst, Anna 554, 560–565 Fürst, Auguste 564 Fürst, Eugen 561, 564 f. Fürst, Johann Evangelist 560 f. Fürst, Karl August 563 f. Fürst, Theresia 564 Füsser, Gerhard 561 Fugger, Jakob 36

598 Gabler, Christian Ernst 425–427 Gaerth, Franz Karl 440 f. Gagern, Hans Christoph von 468 Galen, Christoph Bernhard von 483 Gamby, Claude 139 Gärtner, Carl Wilhelm 278 Gatterer, Johann Christoph 282 Gauvain, Hermann von 460 Gebhard I. von Waldburg, Kurfürst von Köln 46–48 Gebhardt XI. von Querfurt 197 Geisweiler, Constantin 109 Gellert, Christian Fürchtegott 179 Genlis, Stéphanie-Félicité de 182 Gentz, Friedrich 415, 429 Georg, Heinrich 357 f. Georg von Meißen 209 Georg (der Bärtige), Herzog von Sachsen 220, 226 Georg (der Reiche), Herzog von BayernLandshut 230 Georg I., Herzog von Sachsen-Meiningen 108 Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen 307–309, 313, 315 f., 318, 320–323 Georg III. Schenk von Limpurg, Fürstbischof von Bamberg 39 Georg Ernst, Graf von HennebergSchleusingen 34, 37–39, 41 f., 44–48 Georg Friedrich, Graf von HohenloheNeuenstein-Weikersheim 252 Georg Friedrich I., Markgraf von Brandenburg-Ansbach-Kulmbach 38 Gerhold, Johann Wilhelm 447 f. Gervinus, Georg Gottfried 459 Gide, André 83, 90 Gleizès, Jean Antoine 57, 61 Göschen, Georg Joachim 111 Göring, Johann Ernst Anton Gottfried 161 Goertz, Johann Eustach Graf von 139 Goethe, Christiane von → Vulpius, Christiane Goethe, August von 132

PERSONENREGISTER

Goethe, Johann Wolfgang von 91, 97–99, 104, 106–110, 112, 115 f., 119, 131 f., 140, 143, 178 f., 183, 412, 416, 420, 427 f., 432, 551 Goetz, Georg 522 Gombel, Luise Christine 431 Goncourt, Edmond de 81 Goncourt, Jules de 81 Gore, Charles 98 f., 107, 143 Gotter, Friedrich Wilhelm 481 Gotter, Gustav Adolf Graf von 484 Gottsmann, Albrecht, zu Thurn 36 Gottsmann, Kunz, zu Thurn 36, 41 Goullon, François le 146 Gravelot, Hubert-François 179 Gries, Johann Diederich 178, 422 Griesbach, Johann Jakob 114 Griewank, Karl 520, 522 f., 525 Grimm, Friedrich 144 Grimm, Melchior 486 Groh, Gottlieb Friedrich 439 Großmann, Hermann 506 Gründler, Richard 75, 79 Guaita, Georg Friedrich von 441 Günderrode, Philipp Maximilian Freiherr von 101 Günderrode, Wilhelmine Caroline Eleonore Freifrau von 101 Günther Friedrich Karl II., Fürst von Schwarzburg-Sondershausen 185 f. Günther Victor, Fürst von SchwarzburgRudolstadt 187 Günther, Agnes 190 Gundling, Nicolaus Hieronymus 278 Gustav II. Adolf, König von Schweden 263–265, 267–273 Gutenberg, Johannes 10 f. Gutmann, Albert 309 f. Guttenberg, Heinz von 35 Hackert, Jakob Philipp 98 Haeckel, Anna 495, 497 Haeckel, Carl Gottlob 495, 497 Haeckel, Ernst 6, 493–499, 501–504 Haeckel, Karl 495, 498–502

PERSONENREGISTER

Haecker, Theodor 92 Häußer, Ludwig 459 Hahn, Theodor 57 f., 64 Hamberger, Georg Christoph 548, 554 Hammer, Franz 358 Hanslick, Eduard 306, 323 Hardenberg, Georg Philipp Friedrich von 429 Hartke, Wilhelm 356 Hartknoch, Johann Friedrich 141 f. Hartmann, Ferdinand 163 Hauff, Wilhelm 178 Haugk, Erasmus 36 Hauptmann, Anton Georg 100 Hausenstein, Wilhelm 92 Havelland, Curt 350 Hawkesworth, John 180 Hebbel, Friedrich 94, 178 Hebel, Johann Peter 159 Hedin, Sven 190 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 416 Hegner, Ulrich 182 Heher, Georg Achatius 279 Heine, Heinrich 133, 179 Heinrich, Christoph Gottlob 114 Heinrich IV., Fürst Reuß zu Köstritz 184 Heinrich XXII., Fürst Reuß zu Greiz 447 f. Heinrich XXIV., Fürst Reuß zu Köstritz 184 Heinrich XXXII., Graf von BlankenburgRudolstadt 39 Heinrich Matthias, Graf von ThurnValsassina 261 Heisenberg, Werner 539 Helba zu Sulzfeld, Kilian von 39 Heldburg, Helene Freifrau von 323 Herbart, Johann Friedrich 422 Herder, Caroline 141 Herder, Johann Gottfried 107, 114, 141, 178, 182 f., 430 Hering, Ernst 63 Hermann, Karl 354, 356 f. Hermann IV., Graf von Henneberg-Römhild 40 f.

599 Hermes, Johann August 183 Herzheimer, Hans III. 216–223, 225–229, 231 f. Herzheimer, Veronika 218 Herzog, Karl 156, 159 Herzog, Rudolf 190 Hesse, Carl 75 Heuse, Maria 350 Hildebrand, Bruno 496 Hinkel, David 431–433, 435–443 Hirsch, Georg 330–332, 335–339, 341–347 Hirsch, Louis 330, 336 Hitler, Adolf 21, 361, 378 Hoch, Heinrich 361 Hochkeppler, Klemens 522 f. Hölderlin, Johann Christian Friedrich 422 Hölty, Ludwig 178 Hoffmann, Heinrich 362 Hoffmann, Wolff 36 Hofmann, Walter 176 Homer 178 Honsberg, Dietrich von 199 Hontheim, Johann Nikolaus 301 Hopf, Wilhelm 446, 450–452, 461, 464 Horaz 114, 485 Hornung, August 70–72, 74–76, 78 f. Houel, Jean Pierre Laurent 180 Hüttner, Johann Christian 180 Hufeland, Christoph Wilhelm 57, 418, 428 Huhn, Johann Benjamin 483 Humboldt, Wilhelm von 526 Iffland, August Wilhelm 179 Imhoff, Alexander 36 Imhoff, Luise von 142 Iselin, Isaak 547 Itzstein, Johann Adam von 476 Jäger, Wolfgang 183 Jakob IV., König von Schottland 40 Jauernig, Reinhold 522 Jeger, Johan 36

600 Jenisch, Daniel 182 Jentoch, Heinrich 353, 360, 363 Joachim I. Nestor, Kurfürst von Brandenburg 464 Johann, Erzherzog von Österreich 552 Johann, Graf von Salm-Reifferscheid 45 f. Johann, Herzog von Jülich-Kleve-Berg 38 Johann (der Beständige), Kurfürst von Sachsen 223 f., 226, 228, 232 f. Johann III. von HennebergSchleusingen 37 Johann IV. von HennebergSchleusingen 37 Johann Casimir, Graf von PfalzSimmern 38, 47 f. Johann Ernst, Herzog von SachsenCoburg 39 Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen 264 Johann Wilhelm I., Herzog von Sachsen-Weimar 39, 42, 120 Johnson, Samuel 85 Jordan, Sylvester 474 Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 434 Jucho, Friedrich Siegmund 437, 440–442 Judenmann, Arnold 194 Julius Echter von Mespelbrunn, Fürstbischof von Würzburg 39 Kalb, Charlotte Sophie Juliane von 142 Kalb, Friederike Eleonore Sophie von 142 Kalbeck, Max 311 Kammandel, Paulus 350 Kannegießer, Karl Ludwig 178 Kant, Immanuel 415 f., 427 Karl I., Herzog von Burgund und Luxemburg 40 Karl IV., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 194, 198–200, 202 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 230 f., 266

PERSONENREGISTER

Karl VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 481, 484 Karl VII., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 488 Karl X., König von Frankreich 301 Karl August, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach 91, 97, 100, 104 f., 107 f., 110 f., 115 f., 121, 125–127, 139, 145, 427 Karl Friedrich, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach 126, 129, 150 Karl Friedrich, Herzog von SachsenMeiningen 486 Karl Günther, Fürst von SchwarzburgSondershausen 184 f., 187 Karow, Leonhard 76 Katharina von Braunschweig 42 Katharina von Henneberg, Markgräfin von Meißen, Landgräfin von Thüringen 209 Katharina von HennebergSchleusingen, Gräfin von Blankenburg-Rudolstadt 39 Kaulisch, Ernst 72 Keller, Christoph Dietrich von 481 f., 485–488, 490 Keller, Gottfried 89 Kere, Andreas von der 36 Kesinger, Wolfgang 222 Keyser, Abraham 279 Keyser, Stefanie 189 Keyserlingk, Hermann Carl von 483 Kiderlen-Wächter, Alfred von 78 f. Kiep, Karl 355 Kleanthes 119 Kleinpaul, Johannes 32, 34 f. Klemperer, Victor 92 Klepper, Jochen 92 Klopp, Onno 458 Klopstock, Friedrich Gottlieb 178 Kloß, Johann Gottlieb 293 Knauth, Rudolf 506 f. Knebel, Karl Ludwig von 97 Knewfel, Hans 37 Kobbe, Theodor von 109 f.

PERSONENREGISTER

Koch, Catharina Margaretha Friederica 113 Köhler, Hermann 349 Körner, Theodor 178 Koppenfels, Johann Friedrich von 131 Koppenfels, Maria Christiane von 131 Kops, Erich 358 Koser, Reinhold 456 f. Koseritz, Ernst Ludwig 441 Kottwitz, Heinrich von 194, 197 Krämer, Simon 551 Krause, Hans 392 Krech, Willi 361 Kreß, Christoph 36 Kröber, Leander 356, 363 Krug, Ludwig 439 Krug, Wilhelm Traugott 289 f., 535 Krupp, Alfred 332, 340–342, 345–347 Krupp, Friedrich Alfred 332, 340 Küchenmeister, Nikolaus 199 Kühner, Fritz 355 Külz, Helmut 505, 512 Küttner, Carl Gottlob 180 Kurz, Isolde 190 L’Aigle, Louis Gabriel Comte de 483 La Motta (Herr de la Motte) → Croix, Peter de la La Roche, Sophie von 179 Laborde, Alexander de 180 Lafontaine, August Heinrich Julius 177 Lampadius, Jakob 279 Lang, Matthäus 214 f. Lange, Kurt 351 Lautenbach, Conrad 12 Lavater, Johann Caspar 88 f. Lawrence, James Henry 106–108 Lawrence, Richard James 107 Leinhos, Gustav 320 Lenau, Nikolaus 178 Lenz, Johann Georg 114, 116 f. Leo X., Papst 219 Leo XII., Papst 292 Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 434

601 Lessing, Gotthold Ephraim 178 f. Lettau, Reinhard 358 Leukipp 536 Lichtenberg, Georg Christoph 91, 98 Liederer von Liederskron 184 Ligne, Charles Joseph de 179 Limmer, Karl August 182 Liszt, Franz 312, 325 Löbe, William 170 Loening, Carl Friedrich 510 Loening, Hellmuth 505–512, 515 Loening, Richard 510 Löser, Jacob 142 Löwenthal, Zacharias 510 Londorp, Michael Kaspar 277 Loomis Todd, Mabel 91 Lotz, Rudolf 354 f. Luboldt, Arno 367 f., 370 Luboldt, Elisabeth 367 Luboldt, Felix 367 Luboldt, Gerda Helene Anna 370 Luboldt, Hermann 365 f., 368–375, 378–382 Luboldt, Hermann August 367 Luboldt, Louise 367 Luboldt, Marie Louise Adele 367 Luck, Johann Georg Leberecht von 141 Ludwig von Meißen, Kurfürst von Mainz 192, 194, 197 f., 200, 203, 206, 208 Ludwig II., König von Bayern 184 Ludwig II., König von Böhmen und Ungarn 41 Ludwig IV. (der Bayer), Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 195 Ludwig IV., Landgraf von HessenMarburg 38, 48 Ludwig Ernst, Prinz von SachsenGotha-Altenburg 483 f. Luise von Hessen-Darmstadt, Großherzogin von Sachsen-WeimarEisenach 99, 106, 110, 115, 126 f., 136, 140

602 Luise Caroline von Reuß-Greiz, Prinzessin von Sachsen-Altenburg 183 Luise Dorothea von Sachsen Meiningen, Herzogin von SachsenGotha-Altenburg 483, 486, 489–491 Luise Friederike von Württemberg, Herzogin von Mecklenburg-Schwerin 487 Luther, Martin 179, 219, 423 Lyautey, Hubert 79 Mahler-Werfel, Alma 91 Maler, Matthes 11 Mansfield, Katherine 95 Manteuffel, Ernst Christoph von 486, 488 f., 491 Marat, Jean Paul 419 Margarete von BraunschweigWolfenbüttel, Gräfin von Henneberg-Schleusingen 35 Margarethe von Österreich, Kurfürstin von Sachsen 221 Maria von Jülich-Berg, Herzogin von Jülich-Kleve-Berg 38, 45 Maria Pawlowna Romanowa, Großherzogin von Sachsen-WeimarEisenach 121, 124, 126, 128, 136, 150, 181 Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen 489 Marie Elisabeth, Prinzessin von SachsenMeiningen 321 Marie von Brandenburg-Kulmbach, Kurfürstin von der Pfalz 38 Marie von Sachsen-Altenburg, Fürstin von Schwarzburg-Sondershausen 176, 184–190 Markwitz, Alfred 354–356, 360, 363 f. Martin, Julius 448, 450, 461 Marx, Karl 380, 434, 524 Matthies, Kurt 354 f., 360, 362–364 Mauermann, Vinzenz 300

PERSONENREGISTER

Maximilian I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 40, 211, 213–221, 225 f., 228, 230–233, 266 Maximilian I., Kurfürst von Bayern 251, 253, 257, 259, 263, 268 f. Mayr, Johann Heinrich 181 Mehring, Franz 524 Meiern, Johann Gottfried von 278 f., 286 Meinhardi, Andreas 218 Mellish, Caroline 107 Mellish, Charles 102 Mellish, Charles Richard Emil Gottlob Wolfgang 107, 109 Mellish, Dietrich Georg Alexander Friedrich 108 Mellish, Eleonore 108 Mellish, Elisabeth 108 Mellish, Wilhelmine 108 Mellish of Blyth, Joseph Charles 97–100, 102–112 Mellish of Blyth, Judith 102, 104 Mendelssohn, Moses 551 Merian, Matthäus 276, 383 f. Merten, Heinrich 362 Metternich, Klemens Wenzel Lothar Fürst von 443, 473, 477 Metzeler, Robert Friedrich 342 Meusel, Johann Georg 548, 554 Meyer, Carl Joseph 155 Meyer, Friedrich Heinrich 498 Milkau, Christian Wilhelm Gottlob Freiherr von 117 Milner, Joseph 182 Miltitz, Karl von 219 Milton, John 179 Moholy-Nagy, László 510 Mohr, Paul 72 Molière → Poquelin, Jean-Baptiste Montague, Mary Wortley 181 Montaigne, Michel de 82 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de 415 Moog, Leonhard 505 f., 513 f. Morgenroth, F. 182

PERSONENREGISTER

Mortimer, Peter 182 Moser, Johann Jacob 280 Moßdorf, Bernhard 296 Mothe-Fénelon, François de Salignac de la 180 Motte-Fouqué, Friedrich de la 179 Motte-Fouqué, Karoline Philippine de la 179 Mounier, Jean Joseph 97 Müller, Adam 289 Müller, Alexander 290, 297–301 Müller, Edmund 361 Müller, Friedrich August 118 Müller, Gustav 356 Müller, Hans 522 Müller, Johannes von 179, 181 Müller, Selmar 61 Müller, Sophie Charlotte 118 Müller, Theodor 63–66 Münch-Bellinghausen, Joachim Eduard Graf von 470 Nagler, Carl Ferdinand von 471 f. Napoleon I., Kaiser von Frankreich 17, 127, 282, 287, 292 Naubert, Christiane Benedikte 179 Naveau, Thekla 61 Nehrkorn, Edmund 75 Neuenstein, Eberhardine Wilhelmine von 485 Neuenstein, Juliane Franziska von → Buchwald, Juliane Franziska von Neuhaus, Joachim von 44 Niethammer, Friedrich Immanuel 420, 424, 426 Nikolaus II., Zar von Russland 368 Nin, Anaïs 91 Novalis → Hardenberg, Georg Philipp Friedrich von Oberlin, Johann Friedrich 546, 552 Olshausen, Theodor 299 Oppel, Elisabeth von 102 Ortelli, Stefano Andrea 142 Ottendorf, Hold von 199

603 Otto IV. von Lobdeburg-Arnshaugk 192 Ovid 178 Paul, Rudolf 506, 510, 512, 516 Pechstädt, Alwin 394 Pepys, Samuel 90, 94 Perret, Claude-Camille 421 Pestalozzi, Johann Heinrich 159, 167, 182 Peter I. (der Große), Zar von Russland 182 Pfaffenrath, Carl von 170 Pfanner, Tobias 278 f. Pfeffinger, Degenhard 218 f. Pfeffinger, Gentiflor 218 Pfeffinger, Veronika → Herzheimer, Veronika Pfeil, Joachim Graf 71 Pflug, Christian Carl Gottlob 148, 150 Philip I. von Österreich, König von Kastilien 230 Philipp I., Landgraf von Hessen 38 Philipp II., Landgraf von HessenRheinfels 38 Philipp II., König von Spanien 266 Pieck, Wilhelm 361 Pirch, Otto von 181 Plate, Ludwig 504 Platen-Hallermünde, August Graf von 90 Platon 536, 539 Plutarch 56 Pöllnitz, Karl Ludwig Freiherr von 137 f. Pope, Alexander 182 Poppo XII., Prinz von HennebergSchleusingen 34, 37 f., 42, 44 Poquelin, Jean-Baptiste 179 Preusker, Karl Benjamin 172 f. Pribyl, Leo 549 Pütter, Johann Stephan 280, 285 Pythagoras 57, 65 Quidde, Ludwig 450, 463

604 Racine, Jean Baptiste 179 Raff, Joachim 311 Raphael a Sancto Josepho 256, 258 Recke, Elisa von der 181 Reger, Max 308, 313, 318, 320–322, 324 Reh, Theodor 438 Rehberg, August Wilhelm 429 R(e)ichard, Herzog von PfalzSimmern 38 Reichenbach, Immanuel 302 Reimann, Brigitte 87 Reimann, Günter 87 Reinhardt, Alwin 356 Reinhold, Carl Leonhard 412, 415, 420, 428 Reinwald, Christophine 106 Reinwald, Wilhelm 106 Reisch, Gregor 214 Reventlow, Franziska Gräfin 95 Reyher, Christoph 14 Richelieu, Armand-Jean du Plessis duc de 182, 269 Richter, August Ferdinand 499 Richter, Hans Werner 83 Rober-Raynaud 70 Robespierre, Maximilien de 419 Röhr, Johann Friedrich 126 Rond, Jean-Baptiste le 365 Ronge, Johannes 300 Rosegger, Peter 190, 549 Rosen, Friedrich 71 f., 74 Rosenberg, Eva von 43 Rosenberg, Wilhelm von 42 Roth, Paul 360 Rothe, Caspar 226 Rottenburg, Franz 503 Rottenburg, Paul 503 Rousseau, Jean-Jacques 56–58, 180, 415 Rudloff, August 351 f., 354–357, 359 f. Rudolf II., Herzog von Sachsen-Wittenberg, Kurfürst 198

PERSONENREGISTER

Sachse, Melchior 11 Sailer, Johann Michael 182 f. Salentin von Isenburg, Kurfürst von Köln 45, 47 Salvius, Johann Adler 265, 269 Salwirt, Fritz 35 Salzmann, Christian Gotthilf 16, 159, 164 Sapper, Agnes 190 Sauckel, Wilhelm 21 Sauerwein, Wilhelm 437 Schaaf, Wilhelm 355 Schäfer, D. C. M. 160 Schäfer, Liselotte 510 Schaefer, Walter 359 Schardt, Johann Christian Wilhelm von 139 Schaumberg, Wilwolt von 39 Scheller, Hans 409 Schellig, Gerda Helene Anna → Luboldt, Gerda Helene Anna Schenk, Hugo 361 Scheurl, Christoph 35 Schiek, Otto 352, 354, 356, 360 Schiller, Charlotte 106 Schiller, Ernst 144 Schiller, Friedrich 99 f., 106–112, 142, 149, 177–179, 181 f., 281–286, 427 f., 551 Schiller, Johann Friedrich 180 Schlegel, August Wilhelm 179, 427, 429 Schlieben, Kunz von 201 Schlosser, Friedrich Christoph 459 Schlözer, August Ludwig 282 Schmettau, Samuel von 489 Schmid, Carl Christian Erhard 419 Schmid, Ernst August 146 Schmid, K. G. 156 Schmidt, Franz 294–296, 300 Schmidt, Johann Christoph 100, 107 Schmidt, Michael Ignaz 286 Schmidt, Siegfried 1, 519–521, 523–531

PERSONENREGISTER

Schneider, Friedrich 522–524 Schneider, Walter 353, 362 f. Schnobel, Carl 175 Schoen, Wilhelm von 76 Schönberg, Wolf von 220 f. Schopenhauer, Johanna 131, 137, 144, 181 Schroeck, Johann Matthias 181 Schroedel, Hermann 184 Schroot, Arno 354, 359 Schubert, Gotthilf Heinrich von 181 Schukow, Georgi Konstantinowitsch 516 Schultes, Karl 505 f., 511 f., 514 Schulz, Wilhelm 440 Schumann, August 177 f. Schuppert, Karl 354 Schütz, Ernst 356 Schwabe, Antonie Emilie Friedrike 118 Schwabe, Franz Friedrich Alexander 124 Schwabe, Friedrich Wilhelm 113 Schwabe, Johann Friedrich Heinrich 113–130 Schweitzer, Albert 190 Schwerdt, Heinrich 163, 170, 173 Seckendorff, Christian Adolph von 182 Seckendorff, Friedrich Heinrich von 489 Semper, Johann Ernst 557 Sen[c]kenberg, Renatus Karl von 280 f. Seneca 83 Sethe, Anna → Haeckel, Anna Shakespeare, William 99, 179 Siebenpfeiffer, Philipp Jakob 437 Sigismund I., König von Polen 36 Sinclair, Isaak von 419 Skytte, Johann 265 Smetana, Bedřich 312 Smidt, Johann 420 f. Sophie von Brandenburg, Burggräfin von Böhmen 42

605 Sophie von Mecklenburg, Herzogin von Sachsen 228 Sophokles 178 Spalatin, Georg 226 Speidel, Ludwig 311 Sperl, August Robert 190 Speyer, Edward 315 f. Spinelli, Carlo 257 Spinola, Ambrosio 238 Spittler, Ludwig Timotheus 282 Staël-Holstein, Anne-Louise-Germaine Baronin von 179 Stain, Marquard von 37 Stammer, Otto 363 Staunton, George 180 Stein, Amelie Augustine Freifrau von 100 Stein, Caroline Ernestine Sophie Friedrike → Mellish, Caroline Stein, Charlotte Albertine Ernestine Freifrau von 91, 139 Stein, Dietrich Carl August Freiherr von 100 Stein, Wilhelm Freiherr von 100 f., 104, 107 Stein, Wilhelmine Luise Christiane Eleonore 101 Steinbach, Fritz 308, 315–318, 324 Steinmetz, Max 523, 531 Stein-Nordheim, Dietrich Philipp August Freiherr von 101, 104 Stein-Nordheim, Julius Wilhelm Ernst von 100 Stendhal → Beyle, Marie-Henri Stoecker, Adolf 448 Stolberg, Christian Graf von 178 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 180 Stolle, Ferdinand 179 Storch, Otto 354 Strauss, Richard 316, 321, 325 Strecker, Georg Christian 439 Stremayr, Karl von 501 Striewe, Franz 378 Struve, Amalie 58

606 Struve, Gustav (von) 58 f. Sturzenegger, Matthias 547 Sturzenegger, Ulrich 547 Süleyman I., Sultan des Osmanischen Reichs 41 f. Sulzer, Johann Georg 182 Sybel, Heinrich von 452 Tacitus 117, 282 Tarno, Franziska 179 Tasso, Torquato 178 Taylor, John 490 Tennstedt, Ulrich von 194 Thaden, Nikolaus 419 Thälmann, Ernst 361 Theophrast 83 Therese von Sachsen-Hildburghausen, Königin von Bayern 183 Theuß, Carl Theodor 144 Thimo VI. von Colditz 192 f. Thomasius, Christian 425 Thon, Johann Christian Adam 16 Thun, Ulrich von 486, 488, 490 f. Thyssen, August 332, 340 f., 345–347 Tiefenbach, Rudolf von 242 Tilly, Johann T’Serclaes 253, 257, 259, 269, 271 Titus Livius 117 Tobisch, Franz 549 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 380 Tornaco, Arnold Franz von 484 Trauttmansdorff, Maximilian Graf von 287 Treitschke, Heinrich von 452, 461 Tschirschky, Heinrich von 71 f., 74 Tschuikow, Wassili Iwanowitsch 516 Tzschirner, Heinrich Gottlieb 289, 292 Uhland, Ludwig 178 Ulrich, Johann August Heinrich 114 Urbánek, František Augustin 313 Varenne, Albrecht Friedrich Marquis de 490 Varnhagen von Ense, Karl August 81

PERSONENREGISTER

Venedey, Jakob 438 Verch, Johann Samuel 138 Viebig, Clara 190 Virchow, Rudolf 64 Vischer d.Ä., Peter 228 Vocke, Adolph 61 Voigt, Bernhard Friedrich 155, 188 Voigt, Christian Gottlob 98 f., 104 f., 412, 416, 418, 428–430 Voigt, Johann Heinrich 114 Voltaire → Arouet, François-Marie Voß, Johann Heinrich 178 f. Vulpius, Christiane 131 f., 137 Wagner, Johann Karl Gottfried 121 f., 302 Wagner, Richard 316, 319, 325 Wahl, Stefan 314 Waiblinger, Wilhelm 90 Wallenstein, Albrecht Wenzel von 263–265, 267, 268 f., 273 Walter, Hermann 72 Weech, Johann Friedrich von 181 Weiditz, Hans 228 Weingart, Johann Friedrich 166–168 Welcker, Karl Theodor 474 Weller, Emil 31 Wendtland, Wilhelm 71 Wenzel I., Herzog von Sachsen-Wittenberg, Kurfürst 198 Wenzel IV., König von Böhmen, römischdeutscher König 199 Weyrach, Hans 37 Weyrach, Wolf 37 Wezel, Johann Karl 189 Wichert, Ernst 350 Wieland, Christoph Martin 147, 178, 415, 422 Wilhelm, Graf von Salm-Reifferscheid 45 f. Wilhelm I. (der Einäugige), Markgraf von Meißen 192 f., 196–200, 205, 208 f. Wilhelm I. von Nassau-Dillenburg, Fürst von Oranien 44 Wilhelm I., dt. Kaiser 452

PERSONENREGISTER

Wilhelm II. (der Reiche), Markgraf von Meißen 209 Wilhelm II., dt. Kaiser 70, 455 f., 461 f., 493 Wilhelm III., Graf von HennebergSchleusingen 35, 37, 40 Wilhelm IV., Landgraf von Hessen 38, 47 Wilhelm IV./VI., Graf von HennebergSchleusingen 34, 36, 38, 40 Wilhelm V., Herzog von Jülich-Kleve-Berg 38 Winkler, Johann Georg 436, 441 Wirth, Georg August 437 Wittel, Martin 11 Witzleben, Christian von 194 Wolf, Christa 93 Wolf, Hugo 311 Wolf, Joseph Heinrich 182 Wolff, Christan 425 Wolff, Hermann 309 f. Wöllner, Johann Christoph 413 Woltmann, Johann 282

607 Woltmann, Karl Ludwig von 275 f., 281–288, 420 Woltmann, Karoline Dorothea 282 Wolzogen, Caroline von 179 Wolzogen, Wilhelm Ernst Friedrich Freiherr von 150 Wunster, Karl 302 Wyttenbach, Johann Hugo 434 Zedlitz-Trützschler, Robert Graf von 494 Ziegler, Nikolaus 220, 222 Zimmermann, Johann Wilhelm 57 f. Žižka, Jan 249 Zobeltitz, Fedor von 190 Zobeltitz, Hanns von 190 Zollikofer, Georg Joachim 88, 183 Zrinski, Nikolaus 42 f. Zschokke, Heinrich 159, 164, 169, 182 Zucker, Friedrich 522 Zwiedineck-Südenhorst, Hans von 312 Zwingli, Huldrych 41

Verzeichnis der Autoren Prof. Dr. Joachim BAUER Leiter des Universitätsarchivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Holger BÖNING Professor für Geschichte der deutschen Presse und neueren Literatur am Instititut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen Dr. Reinhold BRUNNER Leiter des Amtes für Bildung und der Stabsstelle Reformationsstadt Eisenach Prof. Dr. Enno BÜNZ Professor für Sächsische und Vergleichende Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig, Direktor des Instituts für sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden Christel GÄBLER Leiterin des Stadtarchivs Gera PD Dr. Stefan GERBER Kommissarischer Leiter des Universitätsarchivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Hans Werner HAHN Emeritierter Professor für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Jürgen JOHN Professor i. R. am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena PD Dr. Tobias KAISER Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) in Berlin Dr. Marko KREUTZMANN Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München

AUTORENVERZEICHNIS

609

Dr. Alexander KRÜNES Stadthistoriker der Stadt Gotha Prof. Dr. Gunther MAI Emeritierter Professor für Neuere und Zeitgeschichte am Historischen Seminar der Universität Erfurt Dr. Felicitas MARWINSKI (†) Diplombibliothekarin und Diplomkulturwissenschaftlerin Dr. Konrad MARWINSKI (†) Bibliotheksdirektor a. D. der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Prof. Dr. Michael MAURER Professor für Kulturgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Johannes MÖTSCH Direktor a. D. des Thüringischen Staatsarchivs Meiningen (seit 2016 Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Meiningen) Dr. Gerhard MÜLLER Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Akademieprojekt „Ernst Haeckel (1834– 1919): Briefedition“ am Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Rainer MÜLLER Mitarbeiter am Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Bau und Kunstdenkmalpflege, Erfurt Prof. Dr. Helmut-Eberhard PAULUS Direktor a. D. der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, Universitätsprofessor h.c. für Kunstgeschichte und Denkmalpflege an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg Dr. Friedemann PESTEL Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Dr. Bärbel RASCHKE Germanistin/Kulturhistorikerin, Leipzig

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AUTORENVERZEICHNIS

Dr. Jens-Jörg RIEDERER Leiter des Stadtarchivs Weimar Prof. Dr. Klaus RIES Professor für Neuere Geschichte, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Hagen RÜSTER Leiter des Landesarchivs Thüringen – Staatsarchiv Greiz Prof. Dr. Uwe SCHIRMER Professor für Thüringische Landesgeschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Georg SCHMIDT Emeritierter Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Reinhart SIEGERT Professor i. R. für Neuere Deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Ronny SCHWALBE Kulturamtsleiter der Stadt Neustadt an der Orla Prof. Dr. Volker WAHL Staatsarchivdirektor a. D. Weimar Prof. Dr. Siegrid WESTPHAL Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Osnabrück Prof. Dr. Jürgen WILKE Emeritierter Professor für Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz