Media Salutis: Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit [Illustrated] 3161506723, 9783161506727

Christliche Verkündigung bedarf der Medien, durch die sie Menschen erreicht - diese formen mit, was mitgeteilt werden ka

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Media Salutis: Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit [Illustrated]
 3161506723, 9783161506727

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Johanna Haberer: Medium und Botschaft in kirchengeschichtlicher Perspektive
Daniel Meier: Kirchengeschichte in der Perspektive der Kommunikationswissenschaft. Das Beispiel der Nachrichtenwerttheorie
Susanne Schenk: „Ut pervenias ad Iesum Christum“ – „Ut sponso deo placeatis“. Der Heilsdiskurs im Briefwechsel von Königin Mathilde und Erzbischof Anselm
Berndt Hamm: Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität
Christoph Burger: Zwei spätmittelalterliche Predigten im Medium von Gelehrtensprache und Volkssprache
Christine Magin: Ablassinschriften des späten Mittelalters
Falk Eisermann: Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert
Peter Schmidt: Vervielfältigung, Heilsvermittlung und „Wahrheit“: Die Anfänge der gedruckten Gnadenbildreproduktion
Gury Schneider-Ludorff: Der fromme Fürst. Medialität des Heils und landesherrliche Selbstrepräsentation
Volker Leppin: Medien lutherischer Memorialkultur. Eine exemplarische Studie zur Jenaer Stadtkirche
Tim Lorentzen: Frühe Massenmedien im Internet. Das Münchner Datenbankprojekt „Konfessionelle Bildpublizistik der Frühen Neuzeit“
Autorenverzeichnis
Register der historischen Personen

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Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Berndt Hamm (Erlangen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Volker Leppin (Tübingen), Heinz Schilling (Berlin)

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Media Salutis Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Herausgegeben von

Berndt Hamm, Volker Leppin und Gury Schneider-Ludorff

Mohr Siebeck

Berndt Hamm ist Professor für Kirchengeschichte in Erlangen; Ephorus des theologischen Studienhauses „Werner-Elert-Heim“. Volker Leppin ist Professor für Kirchengeschichte in Tübingen. Gury Schneider-Ludorff ist Professorin für Kirchen- und Dogmengeschichte in Neuen­ dettelsau.

ISBN 978-3-16-150672-7 / eISBN 978-3-16-158596-8 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Der vorliegende Band ist Ausdruck einer ungewöhnlich intensiven und guten kollegialen Zusammenarbeit: Seit dem Sommersemester 2003 veranstalten die Lehrstühle für Kirchengeschichte in Erlangen und Jena, seit 2005 zudem der in Neuendettelsau gemeinsam regelmäßig Oberseminare, in denen sich sowohl der jeweilige wissenschaftliche Nachwuchs vor Ort als auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Universitäten und Fächern dem Vortrag und der Diskussion über ein gemeinsames Thema stellen. Im Sommersemester 2008 stand die Frage nach der Medialität des Heils im Mittelpunkt – in doppelter Perspektive: Es ging um die soteriologische Frage der Vermittlung des Heils an die Glaubenden einerseits, um die Medien der Popularisierung von Heilsvorstellungen andererseits. Neben der Kirchengeschichte kamen insbesondere die Fächer Medienwissenschaft und Germanistik zu Wort. Allen Referentinnen und Referenten sei herzlich gedankt für ihre Bereitschaft zur Mitwirkung, ohne die ein solcher Band nicht hätte zustande kommen können. Die redaktionelle Bearbeitung und die Vorbereitung der Druckvorlage lagen in den Händen von Cornelia Kühne und Elisabeth Huhn (beide Jena) sowie Tobias Jammerthal (Neuendettelsau / Tübingen), die Erstellung des Registers besorgte Magnus Löfflmann (Erlangen). Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt. Indem wir nun die Tagung aus dem mündlichen in das schriftliche Medium des Buches überführen, hoffen wir auf die Büchern eigene Form der Aufnahme: auf Diskussion, Kritik und vor allem Weiterführung. In der Adventszeit 2010 Berndt Hamm

Volker Leppin

Gury Schneider-Ludorff

Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................. V Johanna Haberer Medium und Botschaft in kirchengeschichtlicher Perspektive .........................1 Daniel Meier Kirchengeschichte in der Perspektive der Kommunikationswissenschaft. Das Beispiel der Nachrichtenwerttheorie ........................................................13 Susanne Schenk „Ut pervenias ad Iesum Christum“ – „Ut sponso deo placeatis“. Der Heilsdiskurs im Briefwechsel von Königin Mathilde und Erzbischof Anselm ........................................................................................27 Berndt Hamm Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität ................................................43 Christoph Burger Zwei spätmittelalterliche Predigten im Medium von Gelehrtensprache und Volkssprache.....................................85 Christine Magin Ablassinschriften des späten Mittelalters ......................................................101 Falk Eisermann Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert ......................................................121 Peter Schmidt Vervielfältigung, Heilsvermittlung und „Wahrheit“: Die Anfänge der gedruckten Gnadenbildreproduktion .................................145

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Inhaltsverzeichnis

Gury Schneider-Ludorff Der fromme Fürst. Medialität des Heils und landesherrliche Selbstrepräsentation .....................187 Volker Leppin Medien lutherischer Memorialkultur. Eine exemplarische Studie zur Jenaer Stadtkirche ........................................205 Tim Lorentzen Frühe Massenmedien im Internet. Das Münchner Datenbankprojekt „Konfessionelle Bildpublizistik der Frühen Neuzeit“ ......................................................................................227 Autorenverzeichnis ........................................................................................243 Register der historischen Personen ................................................................245

Medium und Botschaft in kirchengeschichtlicher Perspektive JOHANNA HABERER

1. Einleitung Die Begriffe ‚Medium‘ und ‚Botschaft‘ weisen bereits innerhalb der Theologie eine deutliche Unschärfe auf, umso mehr gilt dies für den Bereich der Medien- Kommunikations- und Publizistikwissenschaft. Die Verhältnisbestimmung von ‚Medium‘ und ‚Botschaft‘ hängt also entscheidend von der jeweiligen Definition ab. Den Überlegungen dieses Beitrags seien deshalb einige Problemanzeigen vorangestellt, welche die Uneindeutigkeit der Begriffe diskutieren – wobei freilich angemerkt sei, dass in der Uneindeutigkeit bisweilen auch eine intellektuelle Produktivität liegt. Insgesamt möchte dieser Beitrag Probleme beschreiben, Hinweise geben, Spuren legen und produktive Verständnislücken freisetzen.

2. Problemanzeige Begrifflichkeiten 2.1.Evangelium Machen wir die Fingerübung also zunächst einmal mit dem Begriff Evangelium: Für mich als publizistisch denkende Theologin bedeutet das Wort „Evangelium“ vorrangig eine literarische Gattung, welche das Auftreten des Jesus von Nazareth und die soteriologische Deutung seines Todes generiert hat und die unbestritten zu publizistischen Zwecken genutzt wurde, nämlich um das Portrait eines Mannes zu verbreiten, dessen Leben vorbildhaft und gotttransparent, dessen Tod konsequent und mysteriös zugleich geschildert wird. Die Pointe des Porträts ist die Behauptung der Auferstehung, wobei literarisch gesehen das offene Ende inszeniert ist und am Ende die Geschichte der Menschen als gottoffen und weltoffen vor Augen liegt. Ein Evangelium ist aus publizistischer Sicht ein Porträt, wie diese journalistisch-literarische Gattung überhaupt ihr narratives Movens in der inszenierten Übereinstimmung von Person und Werk hat oder in

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Johanna Haberer

dem Gedanken, dass der Botschafter in eins tritt mit der Botschaft. Märtyrerakten und Heiligenlegenden können mit der portraitierenden Gattung des Evangeliums insofern als verwandt angesehen werden. Aus heutiger Sicht ist dabei wichtig, dass Porträts zentral die Rolle des Autors im Wahrnehmungsprozess zwischen Beschriebenen und dem Schreibenden reflektieren und insofern der Autor bei näherem Hinsehen ebenso viel von sich preisgibt, wie der Porträtierte und insofern auch die Reflexion einer Gattung zugleich eine Beziehungsgeschichte reflektiert. In der theologischen Handhabe des Begriffs Evangelium gilt die literarische oder publizistische Gattung begrifflich als nachgeordnet gegenüber der inhaltlichen Bestimmung. Evangelium bedeutet hier: − „Freudenbotschaft für alles Volk“, wie das der Autor Lukas formuliert (Luk. 2) − „Gute Nachricht für die Armen“ (nach Jes. 61,1 oder Matth. 11,5) − „Rettendes Christuskerygma“ (vgl. Röm. 1,1ff oder 1. Kor.15, 1–4) − „Kraft Gottes zum Heil für jeden, der glaubt“ (Röm. 1,16) oder reformatorisch das Verständnis von Evangelium als verbindlicher Zusage des die Sünder versöhnenden und sie rechtfertigenden Gotteshandelns im Leiden, Sterben und Auferwecktwerden Jesu Christi. Die Begriffe Evangelium und Botschaft können dabei nicht unbedingt als scharf durchgehen. Das kann – wie gesagt – literaturwissenschaftlich gesehen die Entstehung einer neuen ganz und gar einmaligen literarischen Gattung bedeuten, die zu publizistischen Zwecken eingesetzt wurde. Dies bedeutet aber zugleich die Rede von einer rettenden Nachricht, deren Empfänger nicht ganz klar ist bzw. sich im Verlauf des Rezeptionsprozesses verändert: das Volk, die Armen, alle Menschen? Evangelium, das bedeutet zugleich die Rede von einer Person nämlich Jesus, über die berichtet wird, die ihrerseits medial agiert in symbolischer Aktionen und Zeichen (Wechsler im Tempel), in der öffentlichen Rede unter Verwendung ganz spezieller Redegattungen wie die der Gleichnisse oder Parabeln, mit Segens- und Drohworten, die sich dann als literarische Gattungen fortentwickelt haben. Und zugleich verkörpert die Person Christi das Evangelium. Christus ist das persongewordene Evangelium. Christus ist das Medium der guten Botschaft und gibt nicht nur eine Botschaft weiter, sondern gibt sich selbst weiter, verteilt sich weltumspannend, global: Für euch gegeben. Er agiert medial und beansprucht zugleich das Medium zwischen Gott und Mensch zu sein. Wir reden also, wenn wir von der Medialität des Evangeliums sprechen, zugleich von einer Person, einer Art und Weise zu sprechen, einem bestimmten Inhalt und einer publizistischen Gattung.

Medium und Botschaft

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Die mediale Dimension des Evangeliums in allen seinen Schattierungen verortet sich theologisch in der Pneumatologie bzw. in der trinitarischen Beschreibung des christlichen Gottes. Hier ist das diskursive Prinzip des christlichen Glaubens verankert, ebenso wie das Mysterium des Getroffenwerdens, des Verstehens, der Aneignung und des Fürwahrhaltens sowie des Weitererzählens und Tradierens. Das Reden vom Heiligen Geist impliziert also den Gedanken der Medialität des Evangeliums und reflektiert den Prozess der Weitergabe und Verbreitung sowie den Akt der Aneignung und Überzeugung. Doch zurück zu den Begriffen: Was bedeutet Medialität oder medial oder Medium, dazu kommt noch die ganze Assoziationsfamilie, die sich um den Begriff Kommunikation oder gar Virtualität und das angebliche Gegensatzpaar virtuell und personal lagert. Ich werde versuchen, die Bandbreite der Begrifflichkeiten zu diskutieren und im Buchmedium der biblischen Schriften Mustererkennung der medialen Grundstruktur der Weitergabe des christlichen Glaubens und seiner Geschichtswerdung zu betreiben. 2.2. Medium Doch zunächst: Was ist ein Medium? Das gleiche Definitionsproblem wie beim Begriff Evangelium bekommen wir, wenn wir von der Medienwissenschaft her fragen: Was ist ein Medium? Auch dieser Begriff wird in sehr unterschiedlichen Bedeutungsvarianten gebraucht. Die weiteste Begriffsbestimmung stammt von Marshall McLuhan (1968)1 der unter Medien alle zivilisatorischen Vorkehrungen verstanden wissen wollte, die zum Ausgleich menschlicher Organmängel dienen. Dabei fallen dann unter Medien zum Beispiel auch Autos, Uhren, Eisenbahnen oder Geld. Dies verbreitert den Medienbegriff ins Uferlose, weil er alles beschreibt, was der Mensch zur Verlängerung seiner körperlichen Existenz benötigt und belässt damit den Medienbegriff unterbestimmt. Demgegenüber hat man sich in der Publizistikwissenschaft weitgehend darüber geeinigt, unter Medien im engeren Sinn jene technischen Mittel zu verstehen, die zur Verbreitung von Aussagen an ein potentiell unbegrenztes Publikum geeignet sind, also Presse Hörfunk, Film Fernsehen, sowie das Hypermedium Internet. Der Medienbegriff reduziert sich dabei auf den überwiegend technischen Aspekt. Aber auch in diesem Begriff liegt eine Unschärfe, denn nicht nur die Technik wird mit ihm bezeichnet, sondern auch die Produkte dieser Technik. Damit nicht genug: Mit Medien werden auch die jeweiligen Institutionen bezeichnet, die mit der Verbreitung und Produktion solcher Aussagen beschäftig sind. Legt man diesen technischen 1

MARSHALL MCLUHAN: Die magischen Kanäle, Düsseldorf / Wien 1968.

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Johanna Haberer

Medienbegriff zugrunde, so lässt sich der Beginn der Medien und ihrer Geschichte unschwer datieren. Sie setzt dann mit der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern ein und der vielfältigen Entfaltung vielfältiger Arten von Medien, die auf diese Erfindung folgten. Wir würden von dieser Definition von Medien ausgehend, die Verbreitung des Evangeliums und der christlichen Botschaft in den vergangenen 500 Jahren im Blick haben und die kulturellen wie kirchlichen Folgen der technischen Fortentwicklung der Medien. Die oralen und literalen Vorformen der technischen Medien würden dann lediglich als eine Art Vorgeschichte der jüngeren Massenkommunikation in den Blick kommen. Dieser Medienbegriff aus der Publizistikwissenschaft wird aber nicht konsensual verwendet. Die Medienwissenschaften, die sich meist aus den Literatur-, Geistes und Kulturwissenschaften entwickelt haben, argumentieren mit einem wieder anderen Medienbegriff. Der Begriff Medium wird hier auf jede Form von zeichengebundener Vermittlung angewendet. Damit würde die Mediengeschichte mit der Menschheitsgeschichte in eins fallen und die Höhlenmalerei, die Körperbemalung, die Stimme, die Sprache in den Medienbegriff einfließen. Verbindet man diesen Begriff von Medien dann noch mit dem Begriff der Kommunikation, dann würden die Überlegungen bis in die Naturgeschichte hineinreichen und jeglicher Informationsaustausch, auch der von Zellen und Organismen, mitgemeint sein. Der Medienwissenschaftler Werner Faulstich hat versucht, den Medienbegriff in unterschiedliche Kategorien einzuteilen, um den rein technischen Medienbegriff zu überwinden bzw. ihn als eine Phase der Menschheitsgeschichte zu sehen, die er insgesamt als Mediengeschichte beschreibt. Er entwickelt seinen Medienbegriff aus dem Kult als dem Kommunikationszentrum früher Gesellschaften, die sich in der Weitergabe von Ursprungsmythen und Opferritualen ihrer Identität versicherten und bietet damit Anknüpfungspunkte für theologische Medienreflexion. Faulstich unterscheidet folgende Phasen der Medienentwicklung:2 − Phase A: Die Zeit der Primär oder Menschmedien, bis ca. 1500 n. Chr. Unter Menschmedien versteht Faulstich Kleingruppenmedien wie Sprache, Erzählung, Ritual, Mythos oder Spiel und vor allem dann auch die Schrift; wobei in der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe zu fragen ist, ob man die Schrift tatsächlich als Medium verstehen kann oder nicht vielmehr die Schriftrolle, der Papyrus, der Brief etc. als Medium gelten müssen?

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Vgl. im Folgenden W ERNER FAULSTICH: Grundwissen Medien, zweite Aufl., München 1995., S. 29.

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− Phase B: Die Verlagerung des kulturellen Gewichts auf die sekundären bzw. die Druckmedien. Diese Phase reicht von 1500 bis 1900. Die Druckmedien waren zunächst Individualmedien und entwickelten sich dann zu Massenmedien. Zu fragen ist, inwieweit die These, dass der Buchdruck die Reformation beschleunigt hat, auch umgekehrt gilt: Konnte nicht die Reformation mit ihrem politisch und religiös hochrelevanten Gedankengut umgekehrt die Entwicklung zum Massenmedium beschleunigen? − Phase C: Diese Phase betrifft den Durchbruch der tertiären oder elektronischen Medien. − Phase D: Diese Phase beschreibt die Entwicklung der nach Faulstich quartiär- oder digitalen Medien seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, verbunden mit der Möglichkeit, interaktional und individuell medial zu agieren. Faulstich hat ebenso wie der Germanist und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch einen kulturgeschichtlichen Zugang zum Thema Medien. Beide sehen in der Geschichte der Menschheit die ganz enge Interaktion zwischen Religion und Medien. Hörisch definiert anknüpfend an McLuhan Medien als „Interaktionskoordinatoren“3 und an Luhmann anknüpfend als „Unwahrscheinlichkeitsverstärker“4, als Instrumente also, die uns das Unwahrscheinliche – eine Mondlandung etwa – als wahrscheinlich erscheinen lassen. Er beschreibt die Geschichte der Medien, aufsetzend auf diesen Definitionen, als eine Geschichte der drei Massenmedien: Eucharistie als erstes Massenmedium, Geld als zweites globales Massenmedium und das Internet als das dritte. Und er belegt seine Theorie, demnach das Unwahrscheinliche wahrscheinlich werden lässt mit der Verbreitung des Glaubens an Jungfrauengeburt und Auferstehung. Auch dies ist ein medientheoretischer Ansatz, der theologischen Entwürfen entgegenkommt, die mit der Religion – auch der christlichen – als einem Phänomen menschlicher Sinnkonstruktion und Grundverfasstheit rechnen, das sich in kulturellen Phänomenen spiegelt. Wilhelm Gräb postuliert auf diese Ansätze gestützt „Theologie als Medienhermeneutik“ und die „Religionsgeschichte als Mediengeschichte“ und bestimmt als theologische Aufgabe in der Medienwelt die Sinndeutungskompetenz. Wenn man also über die rein technische Beschreibung von Medien hinausgeht, eröffnet sich ein kreativ spekulatives Feld, in dem sich Theologie und Medienwissenschaften gedanklich koordinieren lassen. Wobei hier die Art der medialen Vermittlerrolle zwischen

3 JOCHEN HÖRISCH: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt a. M. 2001, S. 65. 4 Ebd., S. 66.

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Gott und den Menschen und zwischen den Menschen nicht unterschieden wird. 2.3. Mittelbarkeit – Unmittelbarkeit Eine wieder etwas andere Perspektive ist die, die Sie für Ihr Seminar gewählt haben. Sie bezieht sich auf die Art der Kommunikation und auf das Verhältnis von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit in der Aneignung von religiösen Inhalten und religiösen Gewissheiten und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach Öffentlichkeit. Hier geht es darum, das theologische Nachdenken über das Verhältnis von Gotteswort und Menschenwort in jüdisch-christlicher Denktradition zu verfolgen. Lassen Sie uns zunächst einen Blick in die Dokumente des Alten Testaments machen, wie sich hier die Unmittelbarkeit der Gottesinszenierung in mittelbare Überlieferungstradition entwickelt. Man kann das an der Erzählung über die Niederschrift der Tora nachvollziehen. Bei dem Geschenk der Zehn Gebote als Vertragsgrundlage an sein Volk wird eine Niederschrift ins Zentrum der religiösen Beziehung gesetzt und aus der Unmittelbarkeit und Intimität der Begegnung, die als von höchster Relevanz für das Volk gezeichnet wird und die dann veröffentlicht wird. In der Präsenz der Tafeln, so die Fiktion, in der Anwesenheit dieser Niederschrift sichert sich die Aufmerksamkeit und Anwesenheit Jahwes. In Nehemia 8 erfahren wir von der Verlesung eines Buches und dessen Exegese: „Und Esra tat das Buch auf vor aller Augen […] und als er es auftat, stand alles Volk auf. Und die [Leviten] legten das Buch des Gesetzes Gottes klar und verständlich aus, so dass man verstand, was gelesen war.“ Hier kann man eine Entwicklung beobachten, die – folgt man den Spuren Faulstichs – das Zurücktreten des Kults zugunsten der schriftlichen Überlieferung dokumentiert. Die Vergegenwärtigung der Präsenz Gottes verliert die personale Unmittelbarkeit und wird dem Speichermedium Buch anvertraut, dessen Erschließung bestimmte Fertigkeiten voraussetzt. Damit entstehen neue Wissenseliten, damit entstehen Auslegungstraditionen, auch Ausle-gungsorte, damit aber auch entsteht die Zensur. Die Zensur entsteht im Augenblick der Möglichkeit, Zeichen bez. Texte zu speichern, konservieren, zu archivieren und damit dem Gedächtnis der Generationen entnommene, von Menschen und ihrer Lebenszeit abgekoppelte historische Relevanzen zu erzeugen. Neben dem Buch Esra verweist die alttestamentlich-prophetische Tradition wie zum Beispiel in Jeremia 36 auf die Verschriftlichung und damit die Veröffentlichung göttlicher Mitteilungen: Hier geschieht die unmittelbare Drohbotschaft Jahwes an Jeremia zur Rettung Israels, und diese Botschaft wird verbunden mit dem Befehl, sie schriftlich niederzulegen: So heißt es in Jer. 36, 2: „Nimm eine Buchrolle und schreibe alle Worte hin-

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ein, die ich Dir über Jerusalem und Juda und alle Völker geoffenbart habe, seitdem ich zu dir redete von den Tagen des Josia an bis heute.“ Jeremia holt ein Buch und einen Schreiber, diktiert ihm die Worte, die ihm geoffenbart sind in eine Buchrolle und er beauftragt seinen Schreiber im Tempel, aus dieser Rolle vorzulesen um zur Umkehr zu rufen und Unheil vom Volk abzuwenden. Ein Spitzel des Königs erfährt von der Aktion, erstattet Meldung und Baruch wird samt seiner Buchrolle von den Oberen einvernommen. Als sie die Worte vorgelesen bekommen, erschrecken sie wegen deren politischer Relevanz und beschließen sie dem König vorzulegen. Jeremia und sein Sekretär werden aufgefordert unterzutauchen. Dem König wird die Rolle ebenso vorgelesen und der König reagiert darauf mit der Vernichtung der Buchrolle. Er wirft sie ins Feuer. Ein frühes Dokument für die erste Bücherverbrennung. Ein Dokument, dass mit dem Beginn von Speichermedien die Zensur beginnt und ein Dokument, darüber, dass Propheten und Journalisten verwandte Berufe sind, in dem sie Gesellschaftsanalyse, Gottesgebot, die sozialen Verhältnisse, die Rechtsverhältnisse und die politischen Machtverhältnisse kommentieren. Mit der Möglichkeit der Niederschrift und der damit entstehenden personendistanten Gedächtnisleistung entsteht Geschichtsschreibung und -kommentierung nach den Maßstäben von Gottes Verheißung und Gebot. Geschichtsdeutung in einem prophetischen Sinn ist also von Speichermedien abhängig, damit auch die Entwicklung einer prophetischen Logik in Hinblick auf Gottes Wirken in der Geschichte seines Volkes. Gerade an Jeremia kann man die Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit der Botschaft und deren Weitergabe zeigen. Der Prophet empfängt in „hellwachem Bewusstsein“5 die Botschaft, er hört, er antwortet und verhält sich dazu, bisweilen abwehrend, bisweilen trauernd, immer individuell. Es gibt keine ekstatische Vereinigung des Boten mit der Botschaft, in dem Sinn, dass die Individualität des Propheten ausgeschaltet würde. Keine vorbereitenden Rituale, keine Meditation. Der Bote als „Menschmedium“ – wie das Faulstich formuliert – trägt allerdings dann die Verantwortung für die Botschaft, nimmt Leiden auch körperliche in Kauf, leidet an und mit der Botschaft. Um die Botschaft in der Öffentlichkeit zu vertreten benutzt er die öffentliche Rede, Symbolhandlungen – Instrumente also, die als medial gelten können. Der Prophet ist nicht nur Kommentator der Politik in der Opponentenrolle, er ist zugleich ein Faktor der Politik, er ist von enormer Bedeutung für die Speicherung und Tradierung nationaler Überlieferungen

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HANS W ALTER W OLFF: Studien zur Prophetie – Probleme und Erträge, München 1987, S. 33.

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und geschichtlich-politischen Wissens, also eine Bildungsinstanz ersten Ranges.6 Die Arbeit des Propheten unter publizistische Perspektive beschreibt der französische Orientalist Ernest Renan im Jahre 1889: „Der Prophet des 8. Jahrhunderts ist ein Journalist, der unter freiem Himmel wirkt, der seinen Artikel in eigener Person vorträgt und ihn mit Mimik und Gestik begleitet, ja nicht selten in Zeichensprache umsetzt. Es kommt vor allem darauf an, das Volk zu beeindrucken, eine Menschenmenge anzulocken. Um das zu erreichen, versagt sich der Prophet keiner Schelmerei, deren Erfindung sich die moderne Publizistik rühmt. Er stellt sich an einem Ort auf, wo viele Menschen vorbeikommen, vor allem am Stadttor. Um dort Zuhörer zu gewinnen, bedient er sich der kühnsten Reklametricks, der vorgetäuschten Verrücktheit, neuer Wörter und ungewöhnlicher Ausdrücke, trägt beschrieben Plakate selbst herum, Umstehen ihn Zuhörer, dann klopft er seine Sprüche, lässt sie dröhnen, beeinflusst sein Publikum bald durch vertraulichen Ton, bald durch bitteren Spott. Die Gestalt des Volkspredigers ist geschaffen“7. Die Unmittelbarkeit der prophetischen Beziehung zu Jahwe ist natürlich eine literarische Fiktion. Es wird uns berichtet über die prophetische Unmittelbarkeit zu Gott, dies wird aber narrativ und dramaturgisch, wenn man will „publizistisch“ so eindrucksvoll erzählt, dass die literarische Ästhetik eine geistliche Unmittelbarkeit beim Rezipienten erzeugt und damit eine Aneignung evoziert. Die Geschichte des Jeremia endet mit dem gloriosen Sieg des veröffentlichten Wortes über die Zensur des Königs. Im letzten Vers heißt es dort: Da nahm Jeremia eine andere Rolle, gab diese dem Schreiber Baruch […] und der schrieb nach dem Diktat Jeremias alle Worte des Buches hinein, das Jojakim der König von Juda verbrannt hatte.“ Die in literarischer Fiktion als unmittelbar beschriebene Botschaft Gottes wird durch die Niederlegung und prophetische Veröffentlichung geschichtsmächtig. Die – um eine Begrifflichkeit aus der Journalistik zu gebrauchen – Relevanz, die sich aus Nachrichtenwerten speist, erhält die Veröffentlichung durch: − die literarische Behauptung der Unmittelbarkeit des Propheten zu Gott, Ausweis seiner Legitimation und Autorität − den existenzbedrohenden bzw. rettenden Inhalt der Botschaft − das persönliche Zeugnis, das der Prophet ablegt − durch die kritische Kommunikationssituation 6

Vgl. CHRISTOF HARDMEIER: Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas, Berlin/New York 1990. 7 Zitiert nach WERNER FAULSTICH: Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert), Göttingen 1997, S. 185.

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− schließlich durch den öffentlichen Stellenwert des Gesagten, dann schriftlich Festgehaltenen und dann gegen den Widerstand der Macht für die Öffentlichkeit erneut Niedergelegten als theologischer Kommentar zur Zeitgeschichte. Das Menschmedium: die prophetische Tradition kennt auch die zeichenhafte Zeugung (vgl. Jes. 8). Ein Kind wird gezeugt und erhält einen Namen, der die Botschaft in Nuce erhält. Die Vorstellung eines Zeugungsvorgangs zur Erzeugung einer Botschaft. Dies kann man dann an der Jesusgeschichte weiterspinnen. Jesus hinterließ keine Schrift, diktierte – ganz im Unterschied zu Mohammed später – nichts, er empfing auch keine Botschaften, sondern proklamierte nach der uns vorliegenden literarischen Fiktion des Evangeliums sich selbst als Botschaft Gottes und Abbild Gottes zugleich in der Welt. Die Reaktion wird als eine Mischung von Widerspruch, Hass, Wundern, Staunen und Glauben beschrieben. In jedem fällt sie disperat und löst neue Debatten aus. Die Verschriftlichung der Worte, der Reden und Predigten Jesu, die Entdeckung eines neuen nie kopierten literarischen Genres mit erheblicher öffentlicher Wirkung wurde flankiert durch das mediale, schriftliche Genre der Reflexion und des Diskurses: den Brief, dessen geschichtswirksame Prägung für das Christentum der Schriftgelehrte und Jünger Paulus geleistet hat. Ein Brief als öffentliche Institution, gedacht, um zur Orientierung der jungen Gemeinde gelesen und verlesen zu werden als Grundlage weiterer Diskurse. Ein Brief als ein Gesprächsimpuls ist ein Medium, das Unmittelbarkeit schafft durch Partizipation am Gespräch. Ein Brief erwartet Antwort, ein Brief nimmt den Adressaten ernst, ein Brief führt in die Reflexion und schafft Aneignung der Botschaft durch wiederholtes Verlesen, durch Argumentieren und Unterscheiden, durch Wägen und Vergleichen, durch Ansprache und Rücksprache, durch Antwort. Das Christliche Urmedium, der Mensch Jesus und seine Botschaft spiegeln sich in den publizistischen Gattungen, die sie benutzen: sehen wir vom Zeichen der Eucharistie ab, dem Evangelium als literarischem Konstrukt, dem Brief als Medium einer partizipativen Aneignung. Die Kraft der literarischen Ästhetik, die Diskursivität der publizistischen Genres, die Öffentlichkeit als Kriterium der Weitergabe, die Auslegung als Teil der Aneignung. Die mediale Vermittlung der Botschaft im Christentum dient der Inszenierung der Unmittelbarkeit. Es ist nur ein Apercu, dass die Korinther schon über die Differenzen von personal und medial debattierten wenn sie über Paulus feststellen: sein Briefe sind gewichtig und voll Kraft; aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach und seine Rede kläglich (2. Kor. 10.10). Es werden also unterschiedliche Begabungen, Charismen Unmittelbarkeit zu erzeugen und die

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Botschaft zu übermitteln gebraucht. Ich möchte aus der Mustererkennung der Medialität der Aneignung von Gottes Rettungsbotschaft einige Folgerungen ziehen: 2.4. Thesen − Die biblische Überlieferung weist die jüdisch-christliche Kultur als Medienkultur aus. Wobei den Fiktionen der Texte, der Unmittelbarkeit einer Gottesbegegnung der öffentliche Auftritt mit medialer Verstärkung folgt und wobei sich die Religion unterschiedlichster Medien bedient. Die jüdisch-christliche Religion argumentiert schon früh mit der Niederschrift als einer geschichtsrelevanten Größe. − Die öffentliche Weitergabe des individuell empfangenen Gotteswortes (der Heilsbotschaft, der Drohbotschaft, der Rettungsbotschaft) gehört zum Auftrag. − Die Niederschrift in der Buchrolle wird als ein Akt der öffentlichen Bewährung und der Relevanz des Empfangenen verstanden. − Dies gilt insbesondere in der prophetischen Tradition, in der mit der Speicherung und Übertragung des Gesagten eine kritische Geschichtsschreibung ermöglicht wird. − Die priesterliche Tradition verbreitet das Evangelium in seiner kultischen Dimension, in der Eucharistie, wobei diese Dimension nach der Fassung des christlichen Gottesdienstes in der lateinischen Sprache als mediale Basis in der Kirchengeschichte an Kraft gewann − In der medialen Vielgestaltigkeit der Person Jesus treffen sich Menschmedium und Gattungsbegriff, wobei beide in unterschiedlicher Weise eine publizistische Dimension haben. − Das Evangelium als Person, Inhalt und Gattung wird beschrieben als wesentliches Element eines offenen Diskurses, der in Annahme oder Ablehnung münden kann. Es geht nie um die fraglose Annahme des Gehörten, Gesehenen oder Gelesenen, sondern um die Aneignung individuellen Akten, bez. in individuellen Prozessen. − Diese Diskursivität einer Buchreligion, die sich in Geschichten und Geschichte spiegelt und sich in den unterschiedlichsten literarischen Gattungen äußert, erfährt eine theologische Herausforderung mit dem Einzug von Bildern und bildlichen Darstellungen in den christlichen Gottesdienstraum: Die performative Behauptung gegenüber dem diskursiven Angebot. − Die Argumente rund um die theologische Debatte um die Macht der Bilder und ihre Wirkung im beginnenden Mittelalter begleiten in säkularer Anmutung die modernen Debatten um Wirkung und Macht der Bilder und deren Aneignung im Guten, wie im Bösen, wie sie die Me-

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dienwirkungsforschung anhand des Fernsehkonsums und des Konsums von Computerspielen untersucht wird. In der Geschichte der Kirche war das Medium Film ebenso ambivalent verhandelt und theologisch umstritten wie später das Medium Fernsehen: Die Argumente gegen den kirchlichen Gebrauch dieser Medien waren anthropologischer und kulturkritischer Art, die Argumente dafür ekklesiologische und instrumenteller Art. Ganz anders reagierte die christliche Kirche auf die Einführung des Hörfunks und des Internets: Die diskursiven und partizipativen Elemente diese Medien machten sie leichter kompatibel. Dabei haben sich in der modernen christlichen Publizistik Kriterien und Erfahrungen entwickelt, wie im Bildmedium Fernsehen mit der Vermittlung des Evangeliums im Gottesdienst theologisch umgegangen werden soll: z. B. in der Live-Übertragung (Gleichzeitigkeit von Predigt, Segen, Eucharistie), Ritualisierung im Medium durch das immer gleiche Zeitfenster und die Wiedererkennbarkeit in der Ästhetik. Zugleich hat sich die Christliche Publizistik um eine Kriteriologie bemüht, um das Evangelium in der modernen Kultur auszumachen. In ihrer Erforschung der in den vergangenen sechzig Jahre wechselnden Kriterien, welche die ökumenischen Filmjurys anwendeten, um den ökumenischen Filmpreis zu vergeben, buchstabiert sich die christliche Botschaft in einem Film wie folgt: Ausgehend von der Gleichnishaftigkeit des Mediums Film wird das christliche in einem modernen Film versucht festzumachen: Die Moral, die Unterhaltung, die Nähe zur Lebenswirklichkeit, die Nähe zur biblischen Botschaft, die Sozial- und Gesellschaftskritik, die Verantwortung und die Hoffnung.8

8 Vgl. J ULIA HELMKE: Kirche, Film und Festivals. Geschichte sowie Bewertungskriterien evangelischer und ökumenischer Juryarbeit in den Jahren 1948 bis 1988, in: Studien zur Christlichen Publizistik, Bd. 11, Erlangen 2005.

Kirchengeschichte in der Perspektive der Kommunikationswissenschaft Das Beispiel der Nachrichtenwerttheorie DANIEL MEIER

Einleitung Geschichtliche Themen spielen in der Wahrnehmung der Massenmedien gegenwärtig eine herausragende Rolle. Journalisten, Filmemacher und andere Medienschaffende bedienen ein gesellschaftliches Interesse nach einer neuen Art der Geschichtsdarstellung und sind damit in eine überaus erfolgreiche Konkurrenz zu den etablierten Institutionen der Geschichtswissenschaft getreten.1 Diese Herausforderung wirkt sich auch auf die wissenschaftliche Debatte aus. „Fernsehen macht Geschichte. Vergangenheit als TV-Ereignis“ lautete zum Beispiel die Agenda der 27. Tutzinger Medientage im März 2008. Und auch die Fachgruppe ‚Kommunikationsgeschichte‘ der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft beschäftigte sich auf ihrer Jahrestagung im Januar 2009 mit dem Thema „Geschichtsjournalismus. Zwischen Information und Inszenierung“. Ein impressionistischer Streifzug durch die Programmangebote von Kino und Rundfunk der letzten Jahre sowie die regelmäßige Lektüre journalistischer Printmedien zeigt, dass sich die historische Präsenz auch auf kirchengeschichtliche Themen erstreckt. Die besondere Herausforderung an die Forschung liegt nun darin, mit welcher Methode des kommunikati1 So zeigte bereits 1991 das Institut für Demoskopie in Allensbach, dass sich etwa 90 Prozent aller Deutschen regelmäßig mit geschichtlichen Themen befassen. Dabei greifen sie aber bevorzugt auf das Medium Fernsehen (67 Prozent) bzw. die Gattung des Spielfilms (38 Prozent) zurück, während die Schule und das Studium mit 13 Prozent und die Vorträge mit acht Prozent den dritt- bzw. vorletzten Nutzungsplatz erreichen; vgl. Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984–1992, München u. a. 1993, S. 372, zitiert nach FABIO CRIVELLARI u. a.: Einleitung: Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien, in: ders. u. a.. (Hg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 9–45, hier S. 12, Anm. 7.

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onswissenschaftlichen Instrumentariums das skizzierte Phänomen angemessen erfasst werden kann. Der folgende Beitrag möchte hierfür die Nachrichtenwerttheorie als einen möglichen, systematischen Weg vorschlagen, um die Forschungsfrage zu beantworten, anhand welcher Selektionskriterien Journalisten, Filmemacher und andere Medienschaffende kirchengeschichtliche Themen, Ereignisse und Personen wahrnehmen und gestalten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem journalistischen Handeln, da die Nachrichtenwerttheorie primär in der Journalistik verwurzelt ist. Nach einer Einführung in die Grundlagen der Theorie und einer exemplarischen Analyse der aktuellen massenmedialen Wahrnehmung soll abschließend die These zur weiterführenden Diskussion in den Raum gestellt werden, dass auch in der Geschichte an sich Nachrichtenwerte als eine Art Produktivkräfte des Geschichtlichen implizit gewirkt haben könnten. Der folgende Beitrag ist dabei nicht von einem Historiker verfasst, sondern nähert sich dem Thema aus der Perspektive der Christlichen Publizistik im Schnittpunkt von (Praktischer) Theologie und Kommunikationswissenschaft.

Die Entwicklung der Nachrichtenwerttheorie Zu den zentralen journalistischen Aufgaben gehört seit jeher die professionelle Reduktion von komplexer Wirklichkeit anhand bestimmbarer Selektionskriterien. Diese Herausforderung steht am Beginn der journalistischen Berufsgeschichte und so lässt sich in der Pressegeschichte zugleich ein frühes Bewusstsein für das journalistische Selektionsproblem erkennen: „Zentrale Nachrichtenwerte sind im Prinzip bereits damals formuliert und diskutiert worden, die Tragweite und öffentliche Bedeutung von Ereignissen, Neuigkeit und Überraschung, Prominenz, räumliche Nähe, auch Negativismus.“2 Einer der ältesten Belege für das Selektionsbewusstsein findet sich in der ersten Dissertation über das Zeitungswesen aus der Feder Thomas Peucers: Dort heißt es 1690 über das journalistische Handeln: „Da Ereignisse fast unendlich sind, muß aus ihnen eine gewisse Auswahl (lat. selectus) getroffen werden, so dass Erinnern- oder Wissenswertes vorgezogen wird.“3 Das Begriffsfeld des Nachrichtenwertes findet man wenige Jahre später in Kaspar Stielers „Zeitungs Lust und Nutz“ (1695): So plä2

JÜRGEN W ILKE: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin / New York 1984, S. 74. 3 T OBIAS P EUCER: Über Zeitungsberichte, in: Karl Kurth (Hg.): Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung, Quellenhefte zur Zeitungswissenschaft, Heft 1, Brünn u.a. 1944, S. 87–112 (deutsch), S. 163–184 (lateinisch); hier: S. 97, 171.

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diert Stieler dafür, dass die „Zeitungswürdigen Materien“4 stets „meldungswerth“5 bzw. „berichtenswerth“6 sein müssten. Wegweisend für die moderne Nachrichtenwerttheorie im europäischen Kontext wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem das Konzept Johann Galtungs und Mari Holmboe Ruges7. Deren Auflistung der zwölf Nachrichtenfaktoren Frequenz, Schwelle, Eindeutigkeit, Bedeutsamkeit, Konsonanz, Überraschung, Kontinuität, Variation, Elitenation, Eliteperson, Personalisierung und Negativismus findet sich bis heute in publizistischen Handbüchern8. Die jüngere Entwicklung der Nachrichtenwerttheorie erbrachte zum einen Veränderungen in der Katalogisierung und Gewichtung der Nachrichtenfaktoren9. Teilweise wurden die hypothetischen Einflussgrößen dimensional zu Gruppen zusammengefasst, zum Beispiel zu den „Faktorendimensionen“10 Zeit, Nähe, Status, Dynamik, Valenz und Identifikation oder neue Nachrichtenfaktoren als leitende Selektionskriterien gebildet, zum Beispiel der Faktor ‚Erfolg‘11. In der Ausdifferenzierung nach einzelnen Mediengattungen trat für die Analyse von Fernsehnachrichten der leitende Faktor Visualisierung neu hinzu.12 – Insgesamt konnte vor allem die Wirksamkeit der Faktoren Etablierung (des Themas), Reichweite bzw. Betroffenheit, Kontroverse, Prominenz, Ag-

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KASPAR STIELER: Zeitungs Lust und Nutz, Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695, hg. von Gert Hagelweide, Bremen 1969, S. 31. 5 Ebd. S. 60. 6 Ebd. S. 112. 7 JOHANN GALTUNG und MARI RUGE: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Foreign Newspapers, in: Journal of Peace Research 2 (1965), S. 64–91, zitiert nach dem Abdruck von J EREMY TUNSTALL (Hg.): Media Sociology. A reader, London 1970, S. 259–298. 8 Vgl. WINFRIED SCHULZ: Art. ‚Nachricht‘, in: Das Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation, hg. von Elisabeth Noelle-Neumann u. a., Frankfurt a. M. 2002, S. 328–362, hier S. 357. 9 Vgl. die Synopse bei MICHAELA MAIER: Nachrichtenfaktoren – Stand der Forschung, in: Georg Ruhrmann u. a. (Hg.): Der Wert von Nachrichten im deutschen Fernsehen. Ein Modell zur Validierung von Nachrichtenfaktoren, Opladen 2003, S. 27–50, hier S. 46f. 10 W INFRIED SCHULZ: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung, Alber-Broschur Kommunikation, hg. von Hans Mathias Kepplinger u. a., Bd. 4, Freiburg i Br. / München 1976, zweite Auflage, München 1990, S. 32, vgl. im Folgenden ebd., S. 32 –34. 11 Vgl. NIKLAS LUHMANN: Öffentliche Meinung, in: Politische Vierteljahresschrift XI (1970), S. 2–28, hier: S. 12. Luhmann spricht speziell vom „politischen Erfolg“, plausibel ist jedoch auch ein grundsätzlicher Nachrichtenfaktor Erfolg im Sinne einer positiven Valenz eines Ereignisses. 12 Vgl. MICHAELA M AIER: Analysen deutscher Fernsehnachrichten 1992–2001, in: Ruhrmann u. a. (Hg.): Der Wert von Nachrichten (wie Anm. 9), S. 61–98, hier: S. 75.

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gression, Nähe, Status sowie Schaden und Nutzen wiederholt nachgewiesen werden.13

Nachrichtenwerte und Nachrichtenfaktoren Die Weltwahrnehmung von Journalisten und anderen Medienschaffenden nimmt nicht nur in der Stilform der Nachricht Gestalt an, vielmehr steht hierfür eine Reihe von Darstellungsformen zur Verfügung. Auch bei der Entscheidung, ob ein Ereignis, ein Thema oder eine Person geeignet sind, zur Grundlage einer Reportage, eines Features oder eines Porträts zu werden, orientiert sich der Journalist an bestimmbaren Selektionskriterien. Deshalb müsste statt von Nachrichtenwerten im Grunde genommen treffender von journalistischen ‚Darstellungswerten‘ oder auch von ‚Medienwerten‘ gesprochen werden. Beim Versuch, die Muster des selektiven Handelns von Journalisten zu beschreiben, ist die Journalistik jedoch auf die Stilform der Nachricht fixiert. Die Konzentration auf den Nachrichtenjournalismus macht zumindest insofern Sinn, weil die Nachricht immer noch zu Recht „die wichtigste Darstellungsform (ist), auf der alle anderen aufbauen“14. Vor allem aber kann die Bezeichnung ‚Nachricht‘ auch als formübergreifendes Selektionsprinzip verstanden werden, das vor allem der Unterscheidung von Information und Nicht-Information dient. Vor allem im Kontext der massenmedialen Wahrnehmung von Kirchengeschichte soll der Begriff des Nachrichtenwertes im Folgenden nicht auf den Nachrichtenjournalismus beschränkt sein, sondern sich auf die grundsätzlichen Selektionsmuster in den Massenmedien erstrecken. Hinsichtlich einer grundsätzlich anthropologischen Verankerung der meisten journalistischen Selektionskriterien (s. u.), wäre es auch denkbar, statt von Nachrichten- bzw. Medienwerten treffender von allgemeinen ‚Gesprächswerten‘ zu sprechen. Danach würden Journalisten, Filmemacher und andere Medienschaffende sich nicht primär an berufsspezifischen Wahrnehmungskriterien bzw. „Aufmerksamkeitsregeln“15 orientieren, sondern allgemeinmenschliche Gesprächswerte (oder auch ‚Denkwerte‘) widerspiegeln. Im Folgenden soll dennoch von Nachrichtenwerten gesprochen werden, da die Reflexion der Journalistik durchgängig auf diesem Terminus beruht. 13 GEORG RUHRMANN und ROLAND GÖBBEL: Veränderungen der Nachrichtenfaktoren und Auswirkungen auf die journalistische Praxis in Deutschland. Abschlussbericht für netzwerk recherche e. V., ohne Ort 2007, S. 12. 14 DIETZ SCHWIESAU und J OSEF OHLER: Die Nachricht in Presse, Radio, Fernsehen, Nachrichtenagentur und Internet. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, München 2003, S. 9. 15 LUHMANN: Öffentliche Meinung (wie Anm. 11), S. 11.

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Ein weiterer zentraler Begriff, der im Rahmen der Nachrichtenwerttheorie stets leitend benutzt wird, ist der vom Nachrichtenfaktor. Worin liegt der Unterschied zwischen Nachrichtenfaktor und Nachrichtenwert? Die Bezeichnung Nachrichtenfaktor bezieht sich auf die Beschaffenheit eines Themas oder eines Ereignisses: Ist es zum Beispiel konflikthaltig, negativ oder überraschend? Der Nachrichtenwert misst sodann, wie stark der jeweilige Nachrichtenfaktor, in diesem Fall der Konflikt, die Negativität oder die Überraschung, für sich jeweils ausgeprägt ist und wie hoch der Nachrichtenwert aus der Summe der einzelnen Nachrichtenfaktoren insgesamt ist. Markieren die Nachrichtenfaktoren vorwiegend Merkmale, die ein Ereignis oder ein Thema von sich aus aufweisen, wird der Nachrichtenwert dem Ereignis bzw. Thema stärker vom Journalisten zugeschrieben.16 Durch die spezifische Ausprägung von Nachrichtenfaktoren erhält das Ereignis oder das Thema somit seinen Nachrichtenwert. Die Nachrichtenfaktoren treiben quasi den Nachrichtenwert in die Höhe: „Der Begriff Nachrichtenwert ist demnach auf der Konstruktebene angesiedelt, die Nachrichtenfaktoren stellen die Indikatoren dazu dar.“17 De facto verschwimmen beide Begriffe jedoch gelegentlich, auch in der Reflexion der Journalistik. So werden auch einzelne Nachrichtenfaktoren wie Konflikt oder Überraschung bisweilen als Nachrichtenwerte bezeichnet.18 Sprachlich ist es ja auch plausibel, vom ‚Nachrichtenwert Konflikt‘ o. ä. zu sprechen, in dem Sinn, dass es der Konflikt wert ist, als Nachricht publiziert zu werden. Der Nachrichtenwert kann nun additiv („Je mehr Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Nachricht wird“19), komplementär („Wenn ein Ereignis eines oder einige der Kriterien überhaupt nicht oder nur in geringem Maße erfüllt, kann dies durch einen hohen Wert bezüglich eines anderen Faktors ausgeglichen werden“20) oder auch ausschließend ermittelt werden: „Wenn auf das Ereignis zu wenige oder gar keine Nachrichtenfaktoren zutreffen, wird nicht darüber berichtet“21, so die Exklusionshypothese.

16 Vgl. MAIER: Analysen (wie Anm. 12), S. 91. Freilich können auch „Nachrichtenfaktoren“ einem Ereignis, einem Thema oder einer Person journalistisch zugeschrieben werden; dies gilt vor allem für den Faktor Prominenz. 17 CHRISTIANE E ILDERS: Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information, Opladen 1997 (= Studien zur Kommunikationswissenschaft 20), S. 26. 18 Vgl. z. B. W ILKE: Nachrichtenauswahl (wie Anm. 2), S. 74, in denen der Autor in mediengeschichtlicher Perspektive Faktoren wie Neuigkeit, Überraschung und Prominenz als „zentrale Nachrichtenwerte“ bezeichnet. 19 MAIER: Analysen (wie Anm. 12), S. 34. 20 Ebd. S. 36. 21 Ebd. S. 36.

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Hinsichtlich der Nachrichtenfaktoren kann zwischen externen und internen Faktoren differenziert werden. Beziehen sich die externen Nachrichtenfaktoren auf die grundsätzliche Ereignis- oder Themenselektion, so sind die internen Nachrichtenfaktoren Indikatoren für den Nachrichtenwert einzelner Informationen eines journalistischen Beitrags. Was Lutz M. Hagen für den übergeordneten Nachrichtenfaktor Relevanz schreibt, gilt m. E. auch für die Nachrichtenfaktoren insgesamt: Kriterien der „externen Relevanz […] dienen in erster Linie dazu, die Ereignis- oder Themenselektion […] zu beurteilen.“22 Bei den Kriterien der „internen Relevanz“ hingegen soll „die Relevanz eines Faktums in einer Nachricht im Hinblick auf die anderen Fakten verstanden werden – insbesondere im Hinblick auf das Thema.“23 Über den Nachrichtenjournalismus hinausgehend bedeutet dies: Neben den von Hagen genannten ‚Fakten‘ beziehen sich die internen Nachrichtenfaktoren bzw. Relevanzkriterien auf sämtliche wahrgenommenen Aspekte in einem Beitrag mit zum Beispiel kirchengeschichtlicher Thematik.

Nachrichtenwerte zwischen ‚kultureller Konstruktion‘ und ‚anthropologischer Konstante‘ Die empirische Nachrichtenwertforschung ist erst spät der Frage nachgegangen, ob die journalistischen Selektionsfaktoren eigentlich den Erwartungen und Präferenzen des Publikums entsprechen. Das empirische Ergebnis ist nicht eindeutig, weist aber zumindest in diese Richtung. Zwar wird die Selektivität der Nachrichtenrezeption deutlich durch die Merkmale des Rezipienten wie Alter, soziale Schicht und Lebensstil beeinflusst.24 Vor allem wählen die Rezipienten stärker nach individuell empfundener Relevanz und weniger nach dem Kriterium der Aktualität und Überraschung aus.25 In der Gesamtperspektive sind die Muster der journalistischen Selektion jedoch deutlich durch das Publikumsinteresse legitimiert. So ergab eine Studie, bei der den Befragten eine Reihe potenzieller Meldungen vorgelegt wurde, dass auch unabhängig von der Aufmachung und 22

LUTZ M. HAGEN: Informationsqualität von Nachrichten. Meßmethoden und ihre Anwendung auf die Dienste von Nachrichtenagenturen, Opladen 1995, S. 73, Hervorhebung im Original. 23 Ebd. S. 74. 24 Vgl. GEORG RUHRMANN und JENS W OELKE: Der Wert von Nachrichten. Ein Modell zur Validierung von Nachrichtenfaktoren, in: Ruhrmann u. a. (Hg.): Der Wert von Nachrichten (wie Anm. 9), S. 13 –26, hier S. 22. 25 JENS W OELKE: Nachrichtenwerte in der Rezeption – Theoretische Beschreibungen und Befunde, in: Ruhrmann u. a. (Hg.): Der Wert von Nachrichten (wie Anm. 9), S. 145– 161, hier S. 152–155.

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der Platzierung Inhalte mit hohem Nachrichtenwert als bedeutsam eingeschätzt wurden.26 Vor allem die Faktoren (persönliche) Betroffenheit, Konflikt und Überraschung erwiesen sich für die Rezipienten wie für Journalisten als gemeinsam leitend. Nun kann natürlich der berechtigte Einwand erhoben werden, dass die Übereinstimmung in der Bestimmung des Nachrichtenwertes zwischen Journalisten und ihrem Publikum darauf zurückzuführen ist, dass die Wahrnehmung des Rezipienten medial sozialisiert ist. Zwar mag die Publikumseinschätzung hinsichtlich der wahrgenommenen ‚wichtigsten Nachricht‘ von gestern mit der tatsächlichen Medienagenda größtenteils übereinstimmen. Nichtsdestotrotz muss jedoch kritisch gefragt werden, ob dabei die individuell empfundene Wichtigkeit eines Thema ermittelt wurde oder lediglich das, was Massenmedien als wichtig dargestellt haben.27 Der skizzierte Einwand führt nun zur zentralen Frage, wer eigentlich für die Bildung der Nachrichtenfaktoren verantwortlich ist: Spiegelt die massenmediale Selektion das anthropologische, von der Natur bedingte Grundbedürfnis nach einem Gesprächsstoff wieder, der sich zum Beispiel an den Faktoren Konflikt oder Negativität orientiert? Oder werden diese Bedürfnisse erst massenmedial geschaffen, um sie sodann befriedigen zu können? Anders gefragt: Sind die Übereinstimmungen bei der Bestimmung des Nachrichtenwertes durch Journalisten und Rezipienten „auf einen mehr oder weniger universellen Selektionsmechanismus zurückzuführen“28 oder sind sie „vielmehr das Resultat eines Sozialisationsprozesses durch und mit Medien“? Die Suche nach der Antwort bewegt sich im Kontext der umfassenden ‚Anlage-Umwelt-Debatte‘ und fragt damit nach dem Verhältnis der ‚angelegten‘ menschlichen Wahrnehmungsmuster zur massenmedial geprägten Umwelt. – Im Folgenden sollen die wesentlichen Argumente für die Einschätzung der Nachrichtenfaktoren als primär journalistischer bzw. (massen-) kultureller Konstruktion oder als stärker anthropologisch verankerter Gegebenheit knapp diskutiert werden. Es ist plausibel, dass jeder Mediennutzer in seiner Weltwahrnehmung stets auch durch die journalistische und andere massenmediale Zuweisung von Relevanz „die entsprechenden Relevanzcharakteristika gelernt und als Schema intern abgespeichert“29 hat. Die Nachrichtenfaktoren gehören dabei zum evolutionären gesellschaftlichen Werte- und Normenbestand, in26 Vgl. CHRISTIANE E ILDERS und WERNER W IRTH: Die Nachrichtenwertforschung auf dem Weg zum Publikum: Eine experimentelle Überprüfung des Einflusses von Nachrichtenfaktoren bei der Rezeption, in: Publizistik 44 (1999), S. 35–57, hier S. 53, Zitat im Folgenden ebd. 27 Vgl. RUHRMANN und W OELKE: Der Wert von Nachrichten (wie Anm. 24), S. 20. 28 Ebd. S. 21, Zitat im Folgenden ebd. 29 EILDERS: Nachrichtenfaktoren (wie Anm. 17), S. 119.

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dem sie Ereignisse und Sachverhalte markieren, die übereinstimmend als relevant für die Öffentlichkeit eingeschätzt werden. Ein einseitiger Rekurs auf anthropologische Wahrnehmungsmechanismen würde eine ahistorische Statik der Selektion suggerieren, deren Existenz durch historische Studien zur Nachrichtenauswahl eindeutig widerlegt werden kann.30 Der Hinweis auf die kulturelle Bedingtheit der Nachrichtenfaktoren als Selektionsnormen verbietet es zugleich, die empirisch ermittelten Nachrichtenfaktoren uneingeschränkt zur handlungsleitenden Norm zu erheben. Vielmehr gilt es festzuhalten, dass die Pioniere der Nachrichtenwerttheorie wie Galtung und Ruge ihre Texte als friedenswissenschaftliche Studien konzipierten und dezidiert als kritisch angelegte Bestandsaufnahmen verfassten. So werde der politische status quo der Weltordnung massenmedial bestätigt, da z. B. fremden Länder aufgrund des Faktors Konsonanz – die Erwartungen des Publikums betreffend – kaum eine Imageveränderung möglich sei. Leitet man die Nachrichtenfaktoren im Sinne einer radikalen Kultivierungshypothese jedoch ausschließlich aus dem kulturellen Kontext ab, so entsteht die Gefahr, dass die anthropologischen Gegebenheiten nicht mehr ernst genommen bzw. als übertrieben kulturell geprägt eingeordnet werden.31 Dagegen dürfte vielmehr gelten, dass auch jenseits des journalistischen Einflussbereiches zum Beispiel das Negative mehr interessiert als das Positive, die Normverletzung mehr als die Normalität, das Ungewöhnliche mehr als das Gewöhnliche oder die drohende Gefahr mehr als die vorhandene Sicherheit. Gegen eine zu starke kulturelle Bestimmtheit der Nachrichtenauswahl ist auch der empirische Befund einzuwenden, dass – zumindest in demokratischen Staaten – weit reichende nationale wie internationale Einigkeit darüber herrscht, welche Themen und Ereignisse einen Nachrichtenwert besitzen.32 Die journalistische Orientierung an Nachrichtenfaktoren bedient im Sinne des ‚Uses-and-Gratification‘-Ansatzes nicht zuletzt grundlegende Bedürfnisse des Publikums, die nur sekundär durch 30

Vgl. vor allem WILKE: Nachrichtenauswahl (wie Anm. 2). Einen seltsamen theologiegeschichtlichen Versuch, selbst die Nachrichtenfaktoren Überraschung und Negativität als vorwiegend kulturell bedingt zu erklären, bietet zum Beispiel Klaus Schönbach (DERS.: News in the Western World, in: L. J. Martin. und A. G. Chaudhary (Hg.): Comparative Mass Media System, New York 1983, S. 33–43, zitiert nach S IEGFRIED WEISCHENBERG: Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation, Bd. 2: Medientechnik, Medienfunktionen, Medienakteure, Opladen 1995, S. 156). Demnach stehe die westliche Nachrichtenphilosophie in der Tradition Augustins, wonach sich die Menschheit linear am positiven Ziel des Paradieses orientiere. Das Negative würde vor diesem Hintergrund als ungewöhnlich und abweichend eingestuft und werde im Sinne des ‚news is what different‘ zur Nachricht. 32 Vgl. SCHULZ: Die Konstruktion von Realität (wie Anm. 10), S. 117 und J OACHIM FRIEDRICH STAAB: Nachrichtenwert-Theorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt, Freiburg / München 1990, S. 94. 31

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das ökonomische Interesse der Medienindustrie beeinflussbar sind. Insofern greift eine kapitalismuskritische Kritik der Nachrichtengebung zu kurz; das Publikumsinteresse als Geschäfts- und Selektionsgrundlage kann eben nicht beliebig manipuliert werden. Warum ein Mensch ein Grundbedürfnis nach bestimmten Nachrichtenfaktoren hat, ist freilich eine andere Frage, die jedoch in der Nachrichtenforschung in der Schnittmenge von Wahrnehmungspsychologie und Kommunikationswissenschaft nur vereinzelt thematisiert wird. Stattdessen werden zum Beispiel die Nachrichtenfaktoren insgesamt als „von ‚menschlicher Neugierde‘ beeinflusste Wahrnehmungsmuster“33 interpretiert, ohne zu erklären, warum die menschliche Wahrnehmung zum Beispiel für die Prominenz eine besondere Neugierde hegt.

Der Nachrichtenwert der Kirchengeschichte in den Massenmedien Inwieweit ist nun die Nachrichtenwerttheorie für die Analyse der massenmedialen Wahrnehmung kirchengeschichtlicher Themen, Personen oder Ereignisse – auch über den Journalismus hinausgehend im fiktionalen Bereich – zutreffend? Konkret gefragt: Anhand welcher Nachrichtenfaktoren orientieren sich die Auswahl und die Gestaltung des kirchengeschichtlichen Stoffes in den Massenmedien? Eine systematische, annähernd repräsentative Inhaltsanalyse anhand des Kriterienkatalogs der Nachrichtenfaktoren und ihrer Indikatoren kann im Rahmen dieses Beitrags nicht erfolgen. Vielmehr sollen in einem impressionistischen Streifzug durch den Print- und elektronischen Bereich grundlegende Tendenzen aufgezeigt werden.34 Grundsätzlich orientiert sich diese vor allem an den Nachrichtenfaktoren Relevanz, Aktualität, Negativität (einschließlich Normverstoß), Konsonanz, Personalisierung, Prominenz und Visualität, wie sie auch für die allgemeine Berichterstattung leitend sind. Als möglicher übergeordneter Nachrichtenfaktor ist vor allem Relevanz stets eine relationale Größe. So kann auch ein kirchengeschichtliches Thema nicht aus sich heraus Relevanz beanspruchen, sondern wird immer dahingehend wahrgenommen, ob es den Rezipienten in irgendeiner Weise betrifft. Dass diese ‚Betroffenheit‘ stets auch massenmedial konstruiert oder zumindest beeinflusst wird, liegt auf der Hand. Die Relevanz der Kirchengeschichte dürfte dabei weniger individueller oder gar existenzieller, 33

WEISCHENBERG: Journalistik (wie Anm. 31), S. 155, Hervorhebungen im Original. Der Autor dankt seinem Kollegen Christian Düfel und den Studierenden des Seminars „Kirchengeschichte in den Massenmedien“ an der Universität Erlangen-Nürnberg (WS 2007 / 2008) im Folgenden für wichtige Anregungen. 34

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sondern vor allem stärker kultureller Art sein; vor allem, wenn es um Fragen der kulturellen Identität oder der gesellschaftlichen Prägung geht.35 Dass Journalisten, Filmemacher und andere Medienschaffende Phänomene der Kirchengeschichte auf die mutmaßlich relevanten Fragestellungen ihrer eigenen Gegenwart applizieren, eint sie freilich partiell mit dem (u. a. Kirchen-) Historiker. Dadurch spiegeln die massenmediale wie wissenschaftliche Auswahl kirchengeschichtlicher Themen und Ereignisse sowie die Darstellung der historischen Gestalten immer auch Strömungen der jeweiligen Zeitgeschichte wider. So orientiert sich zum Beispiel das Drehbuch der Doku-Fiktion über den ‚Giganten‘ Goethe in der gleichnamigen ZDFReihe36 laut Autor Günther Klein an der impliziten Leitfrage: ‚Was bedeutet Goethe für uns heute?‘37 Auch ein Blick in die Pressegeschichte zeigt die Abhängigkeit der journalistischen Wahrnehmung vom jeweiligen Zeitgeist, zum Beispiel im Kontext der Lutherjubiläen. So wird der Reformator 1983 stark im Kontext der Friedensdebatte wahrgenommen, während Leitartikler aus den Jahren 1883 und 1917 ihn vor allem als Volkshelden stilisierten. Freilich sind die Bestimmung der Relevanz und damit die Inhalte und die Art der Darstellung kirchengeschichtlicher Themen und Ereignisse stark abhängig vom jeweiligen Medium, seiner Zielgruppe und dessen (mutmaßlicher) Relevanzkriterien. So könnte zum Beispiel die Auswahl des relevanten Stoffes in der konfessionellen Publizistik der Stabilisierung der konfessionellen Identität unter den Rezipienten dienen. Vor allem aber spielt das journalistische bzw. filmdramaturgische Selbstverständnis des Journalisten bzw. Filmemachers als ‚Gatekeeper‘ eine Rolle. Im regionalen Kontext lässt sich dieser Umstand gut an der journalistischen Wahrnehmung der Debatte um den Antisemitismusvorwurf gegen den früheren Landesbischof Hans Meiser illustrieren. Die intensive Berichterstattung und Kommentierung in den Nürnberger Nachrichten wurzelt dabei neben dem Nachrichtenfaktor Konflikt und (kirchliche) Prominenz auch in der antifaschistischen Grundhaltung der Zeitung, im persönlichen Interesse des zuständigen Redakteurs Michael Kasparowitsch sowie in der Freundschaft des zuständigen Verlegers Bruno Schnell mit dem Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde, Arno Hamburger.38 35

So wurde zum Beispiel die Verfilmung von Dan Browns ‚Da Vinci-Code‘ mit der Ankündigung beworben: „Ein Film, der die Grundfesten der Menschheit erschüttern wird“. 36 Ausgestrahlt am 9. 4. 2007. 37 Vgl. GÜNTHER KLEIN: Alles ist erlaubt! Zehn Thesen zur Doku-Fiction am Beispiel ‚Giganten: Goethe‘, in: Haus des Dokumentarfilms (Hg.): Ohne Spiel kein Deal – Dokufiktionale Formate, Zukunft für Filmemacher?, Stuttgart 2007, S. 6–15. 38 So der Journalist und Pfarrerssohn mündlich am 10.1.2008.

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Wenngleich ein Teil der massenmedialen Wahrnehmung von Kirchengeschichte durchaus als Wissenschaftsjournalismus eingestuft werden kann39, orientiert sich dieser notwendigerweise nur partiell an den wissenschaftlichen Relevanzkriterien. Nichtsdestotrotz erbringt auch der kirchengeschichtliche Wissenschaftsjournalismus eine zu nicht zu unterschätzende Vermittlungsleistung zwischen (massenmedial geprägter) Öffentlichkeit und Wissenschaft. Anders als im System der Wissenschaft darf die massenmediale Wahrnehmung von Kirchengeschichte freilich die Grenze von der historischen Wahrheit zur ‚relevanten Wahrheit‘ überschreiten. So ersetzt sie partiell die Rekonstruktion historischer Quellen durch narrative und teils fiktionale Elemente sowie durch dramaturgische Verdichtungen in Form von Zeitsprüngen und -raffungen. Die explizite Aktualität ist besonderes im Kontext von Ausstellungen zu Jubiläen oder Rezensionen über kirchengeschichtliche Bücher und Filme ein wichtiges Wahrnehmungskriterium. Auch die Struktur des Kirchenjahres dient als massenmediales Wahrnehmungs- bzw. Selektionskriterium. So erscheinen besonders zu Weihnachten kontinuierlich Presse- und Fernsehbeiträge, die über einen grundsätzlichen religiösen bzw. kirchlichen Bezug hinausgehend auch kirchengeschichtliche Aspekte aufgreifen. Häufig geht es bei der Aktualität jedoch nicht um eine möglichst geringe Differenz zwischen Ereignis und Nachricht, dem so genannten ‚Ereignis-Lag‘. Oftmals liegt die Aktualität stärker implizit in dem Sinn vor, dass ein bestimmtes kirchengeschichtliches Thema gegenwärtig relevant und damit aktuell ist. Die Relevanz und die Aktualität gehören als relationale Größen damit eng zusammen und die Aktualität eines auch kirchengeschichtlichen Ereignisses kann schlicht definiert werden als „die Aufmerksamkeit, die diesem Ereignis zugewendet wird.“40 Der Hinweis auf die Relevanz und Aktualität als relationale Größe könnte ein quasi ontologisches Verständnis korrigieren, wonach ein kirchengeschichtliches Thema bereits für sich genommen relevant und damit aktuell sei. Ein zentraler Nachrichtenfaktor ist seit der Frühzeit der Zeitung der Nachrichtenfaktor Negativität. Im Bereich der Kirchengeschichte ist er dann als Selektionskriterium erkennbar, wenn implizit das Versagen und die Schuld der Kirche im Laufe ihrer 2000-jährigen Geschichte thematisiert werden. Vor allem hinsichtlich der Wahrnehmung und (häufig visuellen) Gestaltung des ‚finsteren‘ Mittelalters mit den Konnotationen Inquisition, Kreuzzüge etc., aber auch bezüglich des Verhaltens der Kirche(n) im Dritten Reich spielt der Faktor Negativität eine erkennbare Rolle und könnte den Rezipienten in seiner kirchen- bzw. religionskritischen Grund39

Vgl. vor allem die Beiträge in den Zeitschriften Geo oder National Geographic. KLAUS MERTEN: Aktualität und Publizität. Zur Kritik der Publizistikwissenschaft, in: Publizistik 18 (1973), S. 216–235, hier S. 219. 40

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haltung im Sinne des Nachrichtenfaktors Konsonanz bestätigen. Eng mit der Negativität verbunden ist damit der Faktor Normverstöße kirchlicher Handlungsträger in der Geschichte, wobei diese konsequent am systemimmanenten Anspruch der Kirche gemessen werden. Auch im Kontext kirchengeschichtlicher Themen ist teilweise ein investigativer (‚enthüllender‘) Journalismus als implizit leitende Maxime erkennbar. Dabei ist gelegentlich das Schema des (positiven) ‚Dissidenten‘ entgegen einer negativ eingeschätzten ‚Amtskirche‘ erkennbar. Freilich kann es dabei vorkommen, dass ein (vermeintlicher) Skandal massenmedial geschaffen oder zumindest erhärtet wird, um ihn dann vermeintlich enthüllen zu können. – Gleichwohl kann der Faktor Negativität nicht als leitendes Kriterium im Sinne einer einseitig negativen Auswahl festgemacht werden. So lässt zum Beispiel die massenmediale Präsenz kirchlicher Widerstandskämpfer bzw. Märtyrer, auch als Opfer kirchlicher Macht, durchaus einen Faktor der ‚Positivität‘ bzw. ‚Vorbildlichkeit‘ als Selektionskriterium erkennen. Auch scheint bisweilen die Faszination der kirchlich-rituellen Sphäre stärker zu sein als die erkennbare Zielsetzung einer ‚Entmythologisierung‘ auch kirchengeschichtlicher Phänomene. Schließlich seien noch die Faktoren Personalisierung und Prominenz als Wahrnehmungs- bzw. Selektionskriterien genannt. Die Tendenz zu einer starken Personalisierung in Gestalt vorbildhafter Figuren im Sinne (implizit) ‚Heiliger‘ zeigt sich nicht nur im katholischen Kontext, sondern auch in der massenmedialen Prominenz der Person Martin Luthers oder Dietrich Bonhoeffers. Dabei darf es sich jedoch nicht nur um eine Prominenz in kirchlicher Binnenperspektive handeln, um auf ein massenmediales Interesse zu stoßen. Ist die betreffende Person nicht mit einer besonders ausgeprägten Prominenz behaftet (bzw. massenmedial geprägt) bedarf es im Sinne der Additivitätshypothese (s. o.) zudem weiterer Nachrichtenfaktoren, damit die Person beachtet wird. Dies zeigte sich zum Beispiel anhand der bundesweit deutlich schwächeren massenmedialen Resonanz auf den 500. Geburtstag Philipp von Hessens (2004) im Gegensatz zur medienwirksamen Lebensgeschichte der heiligen Elisabeth von Thüringen, wie sie beim Jubiläum drei Jahre später massenmedial präsent war. Der Nachrichtenfaktor Prominenz bezieht sich dabei neben den wahrgenommenen Gestalten der Kirchenhistorie auch auf die Kirchenhistoriker, die als wissenschaftliche Quelle Beachtung finden. Dabei können insofern Spannungen entstehen, als dass die Massenmedien nicht die „auf der innerwissenschaftlichen Bewertung beruhende Reputation von Wissenschaftlern ab(bilden), sondern […] auf der Grundlage eigener Beurteilungskriterien me-

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diale Prominenz (konstruieren)“41. Empirisch ist diese These insofern zu belegen, als dass eine Reihe von Studien zeigt, dass häufig für die jeweilige Disziplin untypische Wissenschaftler in den Medien erscheinen42; ein Umstand, der nicht zuletzt von Theologen moniert wird. – In der räumlichen Dimension der Nachrichtenfaktoren spielen neben der Relevanz des eigenen Kulturraums auch prominente kirchliche Räume eine gewichtige Rolle, zum Beispiel der Petersdom oder die Wartburg in ihrer kirchenhistorischen Bedeutung. Vor allem für das Fernsehen hat dabei der Nachrichtenfaktor der Visualisierung deutlich an Bedeutung gewonnen.

Der Nachrichtenwert der Reformation Der vorherige Abschnitt hat gezeigt, dass die Nachrichtenwerttheorie, wie sie in der Journalistik für die Rekonstruktion der journalistischen Selektion im Kontext der politischen Berichterstattung erarbeitet worden ist, auch für das Sachgebiet der Kirchengeschichte zutreffend ist. In einem Ausblick soll anhand der Reformation43 abschließend der Vermutung nachgegangen werden, dann auch geschichtliche Entwicklungen an sich auf bestimmte Nachrichten- bzw. Medienfaktoren in der Kommunikationsgeschichte zurückzuführen sind. Grundsätzlich macht diese These insofern Sinn, als dass die allgemeine wie kirchliche Geschichte von der Kommunikationsgeschichte ja nicht zu trennen ist und historisch letztlich nur das relevant wird, was kommunikativ vermittelt werden kann44. Zunächst ist festzuhalten, dass die reformatorische Botschaft nicht hätte erfolgreich sein können, wenn sie von der Bevölkerung nicht für relevant erachtet worden wäre. Die besondere Intensität dieser Relevanz dürfte darin gelegen haben, dass sie sowohl die gesamtgesellschaftlich-kulturelle und universell-globale als auch die individuelle, vor allem aber die existenzielle Dimension der Relevanz umfasst hat. In einer Zeit grundlegender Verunsicherung und existenzieller Belastungen versprach sie eine befreiende Botschaft, die dem damaligen Rezipienten als zutiefst relevant und aktuell erschien. Der Faktor der Negativität bezog sich vor allem auf den 41

PETER WEINGART und P ETRA P ANSEGRAU: Reputation in der Wissenschaft und Prominenz in den Medien. Die Goldhagen-Debatte, in: Rundfunk und Fernsehen 46 (1998), S. 193–208, hier: S. 193. 42 W INFRIED GÖPFERT und HANS PETER PETERS: Wissenschaftler und Journalisten – ein spannungsreiches Verhältnis, in: Winfried Göpfert und Stephan Ruß-Mohl (Hg.): Wissenschaftsjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, dritte, völlig neu überarb. Aufl., München / Leipzig 1996, S. 21 –27, hier: S. 23f. 43 Der Autor dankt Berndt Hamm für seine Anregungen aus kirchenhistorischer Perspektive, die im Folgenden kommunikationswissenschaftlich verortet werden. 44 Vgl. CRIVELLARI u. a. (Hg.): Medialität der Geschichte (wie Anm. 1), S. 30.

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negativen Kontext der kirchlichen Zustände, welche die Reformatoren bekämpfen wollten. Vor allem die antipäpstliche wie antilutherische Polemik zeichnete den jeweiligen Gegner dabei anhand negativer Aspekte. Das gewisse Gegensatzpaar der Nachrichtenfaktoren Konsonanz und Überraschung findet seine Entsprechung auch in der Reformationsgeschichte. Einerseits bewegten sich die Reformatoren in der Lebens- und Glaubenswelt des Spätmittelalters mit dessen Erwartungshorizont, andererseits zeichneten sie sich durch eine teilweise überraschende Radikalität aus, die bei den einzelnen Strömungen der Reformation unterschiedlich stark ausgeprägt war. Vor allem das Thema Ablass war bereits vor Luther auf die kirchlich-gesellschaftliche Agenda gesetzt, so dass diesbezüglich der Nachrichtenfaktor der Kontinuität zum Tragen kommen konnte. Die Bedeutung der Faktoren Personalisierung und Prominenz ist hinsichtlich der Reformationszeit selbstredend. Freilich gilt bereits für die Reformationszeit, dass Prominenz stets auch (massen-)medial konstruiert wird, dies gilt nicht zuletzt für Martin Luthers Entwicklung vom Mönch zu einer Art frühneuzeitlichem ‚Medienstar‘, der selber in ausgeprägter Weise über jene Fähigkeit verfügte, die heute ‚Medienkompetenz‘ genannt wird. Neben einer prominenten Person als Träger der Reformation dürfte nicht zuletzt ausschlaggebend gewesen sein, dass mit Deutschland jener Nachrichtenfaktor berücksichtigt wurde, den die Pioniere der Nachrichtenforschung als Elite-Nation bezeichnet haben45. Nicht zuletzt kann deren Formulierung des Faktors Eindeutigkeit46 als ein Grund für den Erfolg der Reformation ausgemacht werden: Anhand einer strikten Dichotomisierung zwischen reiner Wahrheit und reiner Perversion wurde Komplexität reduziert und normativ zentriert; freilich zu dem Preis, dass z. B. Luthers komplexe Theologie in der damaligen ‚Öffentlichkeit‘ nur ungenügend beachtet wurde. – Diesen Preis muss auch die massenmediale Wahrnehmung von Kirchengeschichte heute oftmals zahlen, wenngleich die grundlegende Aufgabe der Reduktion von Komplexität als notwendiger Bestandteil jeder massenmedialen Wahrnehmung zunächst einmal wertfrei anerkannt werden muss. Trotz berechtigter Einwände gegen die Akzentuierung einzelne Faktoren bieten sich die Nachrichtenfaktoren dabei durchaus als historische bewährte Wahrnehmungskriterien an.

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Vgl. GALTUNG und RUGE: The Structure of Foreign News (wie Anm. 7), S. 265: „The more the event concerns élite nations, the more probable that it will become a news item“. 46 Vgl. ebd. S. 263: „the less ambiguity the more the event will be noticed“.

„Ut pervenias ad Iesum Christum“ – „Ut sponso deo placeatis“ Der Heilsdiskurs im Briefwechsel von Königin Mathilde und Erzbischof Anselm SUSANNE SCHENK

Einleitung „…ut pervenias ad […] Iesum Christum“1 – in diesen Wunsch für den Erzbischof lässt Königin Mathilde von England (1080–1118) die Ausführungen ihres ersten Briefes an Anselm von Canterbury (1033–1109) münden. Anselm, der ihr als geistlicher Vater und kirchenpolitisches Gegenüber in den englischen Investiturstreitigkeiten begegnet, schließt seinen Antwortbrief mit den Worten: „…ut cum illa [i.e. ecclesia] et in illa sponso deo placeatis et in aeterna beatitudine cum illa regnando vivatis.“2 Königin und Erzbischof ringen hier also miteinander um die Frage des Heils – des Heils Mathildes und Anselms, des Königreichs und der Kirche. Sie führen ihren Dialog in einem aktuellen Medium der Zeit: dem Brief.3 Anselm und Mathilde lebten in einer Blütezeit der mittelalterlichen Briefkultur. Nach einer ersten Hochzeit unter den Karolingern erlebte der mittelalterliche Brief im 11. und 12. Jahrhundert sein, wie es manchmal genannt wird, „Goldenes Zeitalter“4. Es gab kaum einen gelehrten Mann dieser Zeit, der seiner Nachwelt keine Briefe hinterlassen hätte5 und auch 1

Ep. 242,67f. Nummerierung und Zeilenangabe der Briefe folgen der Ausgabe der Briefe in den AOO (S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi Opera Omnia, hg. von Franciscus Schmitt, Edinburgh u.a. 1938–61). 2 Ep. 243,37–39. 3 Die vorliegenden Ergebnisse sind Teil meines Dissertationsprojektes. 4 Vgl. GILES CONSTABLE: Letters and Letter-Collections, Turnhout 1976, S. 31. 5 Vgl. ebd. Umfangreiche Briefsammlungen haben unter den Zeitgenossen Anselms z.B. Gregor VII. (Das Register Gregors VII., hg. von Erich Caspar, MGH (= Monumenta Germaniae Historica), Epistolae selectae II, Berlin 1920–23), Lanfrank (The Letters of Lanfranc Archbishop of Canterbury, hg. u. üs. von Helen Clover u. Margaret Gibson, Oxford 1979) und Ivo von Chartres (Yves de Chartres, Correspondance, hg. u. üs. von

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Frauen nutzten den Brief als Schriftmedium, das ihrer Autorschaft offen stand.6 Der Briefstil der Zeit orientierte sich an der Antike. Systematisch zusammengefasst wurden die Stilregeln des Briefes dann ab dem 12. Jahrhundert in eigenen Lehrbüchern der ars dictandi7, eines Zweiges der Rhetorik. Gerade auch im Kontext der Investiturstreitigkeiten des Hochmittelalters hatte der Brief einen gewissen öffentlichen und literarischen Charakter. Seine Lektüre durch einen Personenkreis, der über die unmittelbare Adressatenschaft hinausging, war in der Regel von vornherein mit im Blick; die Briefe wurden einerseits zeitnah weitergereicht und kopiert und andererseits für die Leserschaft späterer Generationen zu Briefsammlungen zusammengestellt.8

Erzbischof Anselm und Königin Mathilde im Dialog Von Anselm von Canterbury, der heute vor allem durch seine philosophisch-theologischen Werke „Proslogion“ und „Cur Deus Homo“ bekannt ist, stammt das mit 475 Briefen größte bekannte Briefcorpus der Zeit9. Nicht wenige der Briefe haben Frauen als Adressatinnen. Als Verfasserin von Briefen an Anselm ist jedoch allein Mathilde in dessen Briefcorpus vertreten. Unter den Korrespondenzpartnerinnen Anselms ragt sie zudem durch den Umfang des überlieferten Briefwechsels10 hervor: Jean Leclercq, Bd. 1 (1090–1098), Paris 1949 (= Les classiques de l’histoire de France au moyen âge 22) hinterlassen. 6 Vgl. MARCELLE T HIÉBAUX: The Writings of Medieval Women, New York / London 1987, S. xiii; J OAN M. FERRANTE: To the Glory of her Sex. Women’s Roles in the Composition of Medieval Texts, Bloomington 1997, S. 10–35. 7 Als älteste Lehrschrift der ars dictandi gelten die im zweiten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts entstandenen Praecepta dictaminum des Adalbert von Samaria. (Vgl. T HOMAS M ICHAEL KRÜGER: Persönlichkeitsausdruck und Persönlichkeitswahrnehmung im Zeitalter der Investiturkonflikte. Studien zu den Briefsammlungen des Anselm von Canterbury, Hildesheim 2002, S. 118.) 8 Vgl. CONSTABLE: Letters (wie Anm. 4), S. 11. Thomas Krüger betont in diesem Zusammenhang vor allem den Sammlungsprozess der Briefe. Dieser führe dazu, dass die Briefe als „aus dem persönlichen Beziehungsrahmen zwischen Verfasser und Adressat herausgerissen und vor ein öffentliches Publikum gestellt“ erscheinen. (Vgl. KRÜGER: Persönlichkeitsausdruck (wie Anm. 7), S. 106). Sally Vaughn sieht den Briefwechsel zwischen Mathilde und Anselm gar als Teil eines „propaganda duel“ zwischen Anselm und dem englischen Hof (SALLY V AUGHN: Anselm of Bec and Robert of Meulan. The Innocence of the Dove and the Wisdom of the Serpent, Berkeley u.a. 1987, S. 277). 9 Vgl. KRÜGER: Persönlichkeitsausdruck (wie Anm. 7), S. 30. Zum Vergleich: Das Register Gregors VII. enthält rund 360 Briefe, von Lanfrank sind rund 60 Briefe erhalten, von Ivo von Chartres knapp 300 (vgl. Leclercq: Yves de Chartres (wie Anm. 5), S. xix). 10 Sie sind alle unter anderem in der Briefsammlung der Handschrift „L“ (London, Lambeth Palace Library, Cod. 59) überliefert, deren Zusammenstellung mit einiger

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Aus ihrer Korrespondenz mit Anselm sind 16 Briefe erhalten; sechs von Mathilde, zehn von Anselm. Mathilde11 wurde 1080, also rund 50 Jahre nach Anselm, als Edith von Schottland geboren. Ihre Mutter war die später heiliggesprochene Königin Margarete von Schottland, eine Tochter des angelsächsischen Königshauses, die von Zeitgenossen gerühmt wurde für ihre Gelehrsamkeit. Sie schickte ihre Tochter Edith bereits im Alter von etwa sechs Jahren zur Erziehung und Ausbildung in das renommierte englische Kloster Wilton. Rund sieben Jahre lang erhielt Edith dort mit anderen Töchtern des angelsächsischen Hochadels ihre Bildung. Im Jahr 1093 scheiterte der Plan von Ediths Vater, König Malcolm von Schottland, sie mit einem der mächtigsten Barone Englands zu verheiraten, woraufhin er Edith mit nach Schottland zurücknahm. Aus diesem Zusammenhang ist ein Brief des neuen Erzbischofs von Canterbury, Anselm, an den Bischof von Salisbury erhalten, in dem er diesen auffordert, die schottische Königstochter wieder ins Kloster bringen zu lassen.12 Im Jahr 1100 taucht Edith unter dem Namen Mathilde wieder in den Quellen auf.13 In diesem Jahr folgte Heinrich I seinem Bruder auf den englischen Thron und wollte die 20-jährige schottische Königstochter heiraten14, wofür er allerdings die Zustimmung seines Erzbischofs benötigte. Anselm überließ die Entscheidung einer zu dieser Frage

Wahrscheinlichkeit zu Lebzeiten und unter Aufsicht Anselms stattgefunden hat. Zur Forschungsdiskussion um die Entstehung der Handschrift L vgl. KRÜGER: Persönlichkeitsausdruck (wie Anm. 7), S. 73–82; SALLY VAUGHN : St. Anselm and the Handmaidens of God. A Study of Anselm’s Correspondence with Women, Turnhout 2002, S. 24f. 11 Zu Mathilde vgl. vor allem LOIS L. HUNEYCUTT: Matilda of Scotland. A Study in medieval queenship, Woodbridge 2003; ferner RICHARD W. SOUTHERN: Saint Anselm and his Biographer. A Study of monastic life and thought, Cambridge 1963, S. 183-193; DERS.: St. Anselm. A Portrait in a Landscape, Cambridge 1990, S. 260–262. 12 Ep. 177. 13 Der Grund für diesen Wechsel in der Benennung ist nicht geklärt. Vgl. dazu HUNEYCUTT: Matilda (wie Anm. 11), S. 26. 14 Ob die Ehe mit Mathilde für den Sohn Wilhelms des Eroberers in politischer Hinsicht vor allem attraktiv war unter dem Gesichtspunkt einer Legitimierung der normannischen Herrschaft durch die Verbindung mit dem alten, angelsächsischen Königshaus (so NORMAN CANTOR: Church, kingship, and lay investiture in England 1089–1135, Princeton 1958, S. 147f; ELEANOR SEARLE: Women and the legitimisation of succession at the Norman Conquest, in: R. Allen Brown (Hg.): Proceedings of the Battle Conference 3 (1980), S. 159–170: hier vor allem S. 169; FRANK B ARLOW: William Rufus, London 1983, S. 265f; MARJORIE CHIBNALL: The Empress Matilda. Queen Consort, Queen Mother, and Lady of the English, Oxford 1991, S. 7) oder unter dem Gesichtspunkt der Stärkung seiner Macht gegenüber den Lords im Norden seines Königreiches durch eine Allianz mit dem schottischen Königshaus (so SOUTHERN: Anselm and his Biographer (wie Anm. 11), S. 188), ist in der Forschung umstritten.

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von ihm einberufenen Synode. Diese billigte Heinrichs Anliegen.15 Am 11. November 1100 traute der knapp 70-jährige Erzbischof das königliche Paar Heinrich und Mathilde.16 In der Folgezeit kam es zu einem umfangreichen Briefwechsel zwischen der Königin und dem Erzbischof. Diese Briefe sind bis auf eine Ausnahme17 in die Jahre der englischen Investiturstreitigkeiten einzuordnen. Von 1100 bis 1107 stritt der Erzbischof mit dem englischen Königtum um die Umsetzung der Investitur- und Hominiumverbote, die Papst Urban II auf der Ostersynode 1099 in Anselms Anwesenheit ausgesprochen hatte18. Während einerseits der Erzbischof die Einhaltung dieser päpstlichen Dekrete forderte,19 bestand andererseits der englische König auf dem Recht der normannischen Tradition, den usus atque leges. Diese bildeten den spezifischen Kontext der Investiturfrage in England. Sie gaben dem Königtum starke Kompetenzen auch im kirchlichen Bereich und auf ihrer Basis hatten unter Heinrichs Vater Wilhelm dem Eroberer und Anselms Vorgänger Lanfrank regnum und sacerdotium in England einvernehmlich zusammengearbeitet.20 Der Dialog zwischen der zu Beginn etwa 20jährigen Königin und dem 70jährigen Erzbischof, der zugleich von Mathilde als geistlicher Vater in Anspruch genommen wird21, zeigt inhaltlich mehrere aufs Engste mitei15

Vgl. EADMER: Historia novorum in Anglia, hg. von Martin Rule, London 1884, S.

124. 16

Vgl. ebd., S. 125. Der letzte Brief Anselms an Mathilde (Ep. 406) hat keinen erkennbaren Bezug zu den Investiturstreitigkeiten und kann daher auch nach dem Abschluss des „Londoner Konkordates“ im August 1108 verfasst worden sein. 18 Vgl. EADMER: Historia (wie Anm. 15), S. 114. 19 Eine abweichende Position vertritt Sally Vaughn, die davon ausgeht, dass Anselm erst nach dem Zusammentreffen mit Papst Paschalis in Rom am Ende des Jahres 1103 für die Einhaltung der päpstlichen Dekrete eintritt (vgl. VAUGHN: Handmaidens of God (wie Anm. 10), S. 230). Zu Sally Vaughns Sicht des englischen Investiturstreites als eines „three-sided-struggle“ (DIES.: Anselm of Bec and Robert of Meulan (wie Anm. 8), S. 214) zwischen englischem Königtum, Papsttum und dem Erzbischof von Canterbury, in dem Anselm primär für die Rechte des Stuhles von Canterbury ficht, vgl. DIES.: Anselm and the English Investiture Controversy, in: Journal of medieval history 6 (1980), S. 61– 86 und DIES.: Anselm of Bec and Robert of Meulan (wie Anm. 8), S. 264–312. 20 Vgl. CANTOR: Church (wie Anm. 14), S. 29–31. Zu den usus atque leges vgl. EADMER: Historia (wie Anm. 15), S. 9. Auf dieses einvernehmliche Zusammenwirken zwischen Wilhelm und Lanfrank wird Anselm gegenüber von Seiten des Königtums zur Begründung der königlichen Forderungen Bezug genommen, vgl. Ep. 308; 315; 318; 319; 329; 330. 21 Vgl. neben den Briefen die Besiegelung einer Charta ihres Mannes durch Mathilde als „filia Anselmi archiepiscopi“ im Jahr 1103 (vgl. SOUTHERN: Saint Anselm and his Biographer (wie Anm. 11), S. 191). 17

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nander verwobene Dimensionen, die sich aus der komplexen Beziehung zwischen Briefpartnerin und Briefpartner ergeben. Dort, wo der Briefwechsel zwischen Mathilde und Anselm in der Forschungsliteratur überhaupt Beachtung findet22, werden diese Dimensionen in unterschiedlicher Klarheit wahrgenommen. Durchgehend wird die Dimension der geistlichfamiliären Beziehung erkannt.23 Häufig wird auch die Dimension der Mittlerschaft Mathildes zwischen König und Erzbischof gesehen.24 Seltener kommt dann noch die Dimension des eigenständigen politischen Gegenübers von Erzbischof und Königin, die ja selbst Vertreterin des Königtums ist und auch Verfügungsgewalt über Kirchen und Klöster innehat, in den Blick.25 Bisher überhaupt nicht wahrgenommen wurde eine vierte Dimension des Briefwechsels: die Dimension des theologischen Gesprächs. Die Briefe von Mathilde und Anselm zeigen das Bild einer gebildeten Frau, die mit theologischer Argumentation den Theologen Anselm seinerseits zu theologischen Ausführungen herausfordert. Besonders deutlich tritt die theologi22

Nicht aufgenommen wird der Briefwechsel bei RICHARD SOUTHERN: St. Anselm. A Portrait in a Landscape, Cambridge 1992, wo Mathilde nicht im Kontext des Investiturstreits, sondern ausschließlich unter der Überschrift „Problems of monastic obedience“ und damit dem Aspekt der flüchtigen Nonne in den Blick genommen wird (S. 260–262). Für den Briefwechsel verweist Southern lediglich in einer Fußnote auf entsprechende Stellen seines früheren Werkes „St. Anselm and his Biographer“ (DERS.:, St. Anselm. A Portrait in a Landscape (wie Anm. 22), S. 262 n. 8). Ebenso wenig findet der Briefwechsel Beachtung bei Thomas Krüger, wo nur auf die Benennung von Vorbildern der Briefliteratur aus Antike und Kirchenväterzeit in einem der Briefe Mathildes (Ep. 384) eingegangen wird (KRÜGER: Persönlichkeitsausdruck (wie Anm. 7), S. 115f). Auch Sally Vaughn erwähnt die Mathildebriefe in ihren Ausführungen zu „Anselm and the English Investiture Controversy“ (wie Anm. 19) von 1980 noch nicht, behandelt sie dann jedoch in folgenden Werken (s.u.). 23 Ausschließlich diese Dimension nimmt Norman Cantor mit seinem grundlegenden Werk zur Geschichte der englischen Kirche um 1100 in den Blick (CANTOR: Church (wie Anm. 14), S. 254 [nur Ep. 395]), ebenso Richard Southern in D ERS.: Anselm and his Biographer (wie Anm. 11). Southern erkennt zwar auch politische Züge der Briefe Mathildes, beurteilt jene jedoch nicht als eigenständige Dimension, sondern als negative Einschränkung der geistlich / persönlichen Dimension (S. 192f.). 24 Vgl. VAUGHN: Anselm of Bec and Robert of Meulan (wie Anm. 8), S. 276-279; D IES.: Handmaidens of God (wie Anm. 10), S. 221–241.246–250; THIÉBAUX: The Writings of Medieval Women (wie Anm. 6), S. xiv; FERRANTE: To the Glory of her Sex (wie Anm. 6), S. 99; HUNEYCUTT: Matilda (wie Anm. 11), S. 75f. Erstaunlicherweise geht Sharon Farmer in ihrem wegweisenden Aufsatz Persuasive Voices. Clerical Images of Medieval Wives, (in: Speculum 61 (1986), S. 517–543), in dem sie die interzessorische Funktion von Ehefrauen untersucht, nicht auf Anselms Briefe ein. 25 Angedeutet bei THIÉBAUX: The Writings of Medieval Women (wie Anm. 6), S. xiv; klar bei VAUGHN: Anselm of Bec and Robert of Meulan (wie Anm. 8), S. 276–279; D IES.: Handmaidens of God (wie Anm. 10), S. 221–241.246–250; FERRANTE: To the Glory of her Sex (wie Anm. 6), S. 99.

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sche Dimension in den ersten beiden Briefen (242, 243) hervor. Diese sollen deshalb im Folgenden näher untersucht werden. Die Briefe 242 und 243 stellen den Anfang des Briefwechsels dar.26 Dabei wird Mathilde als Initiatorin der Korrespondenz deutlich.27 Mit dem ersten Brief bittet sie Anselm, sein Fasten zu mäßigen. Anselm formuliert den zweiten Brief als Antwort auf den Brief Mathildes. Zu datieren sind die beiden Briefe in die Zeit zwischen dem elften November 1100 und dem 27. April 110328; terminus post quem ist die Eheschließung des Königspaares, terminus ante quem die Abreise des Erzbischofs nach Rom. Letzteres ergibt sich daraus, dass anders als in Briefen der Exilszeit29 die Abwesenheit Anselms nicht thematisiert wird. Aus der Fastenthematik der Briefe kann möglicherweise zudem auf eine der kirchlichen Fastenzeiten als Verfassungszeitraum geschlossen werden.30

26 Anders Sally Vaughn, die Ep. 296 als den ersten Brief der Korrespondenz anspricht (VAUGHN: Handmaidens of God (wie Anm. 10), S. 221). 27 Der Bildungsgehalt und die sprachliche Kunstfertigkeit der Mathildebriefe haben in der Forschung teilweise Skepsis bezüglich der genuinen Autorschaft Mathildes hervorgerufen. So formuliert Walter Fröhlich in einer Anmerkung zu seiner englischen Übersetzung eines der Briefe Mathildes: „Matilda’s letter is remarkable for its style which in some of the repetitions and puns seems to be imitating Anselm’s own style. Who was writing these letters?“ (The Letters of Saint Anselm of Canterbury, Bd. 3, hg. v. Walter Fröhlich, Kalamazoo 1994, S. 29.) – Nach den heutigen Kenntnissen über die Bildungsmöglichkeiten Mathildes im Elitekloster Wilton (vgl. HUNEYCUTT: Matilda (wie Anm. 11), S. 18–20) spricht jedoch nichts gegen die tatsächliche Autorschaft Mathildes. 28 Anders Sally Vaughn. Sie datiert beide Briefe in die Zeit nach Anselms Abreise aus England. (Vgl. VAUGHN: Handmaidens of God (wie Anm. 10), S. 225–228.) 29 Eine Erwähnung der Abwesenheit Anselms findet sich in folgenden Briefen: 288; 296; 317; 320; 321; 329; 346; 347; 384; 395; 400. 30 Wird Mathildes Aussage in 242,11f.18–22 („…cum multis tum mihi maxime metuendum est, ne tanto patri […] vox spiritualium aedificatrix raucescat, et quae canorum ac dulce dei verbum decoro, quieto remissoque sermone dispensare consueverat, id tanto remissius in futurm exsequatur, ut quosque aliquantisper a te remotiores audientia ipsius vocis privatos [Hervorhebung S. S.], fructu etiam vacuos derelinquat“) als Anspielung auf eine bevorstehende Abwesenheit Anselms verstanden, so kann der Entstehungszeitraum der beiden Briefe noch näher eingegrenzt werden. Es legt sich dann deren Verortung in der Fastenzeit 1103 nahe, in der laut Eadmers Schilderung sich die Auseinandersetzung zwischen König und Erzbischof zuspitzt, so dass nicht nur Kirchenmänner um ihren Erzbischof bangen, und Heinrich schließlich Anselm dazu auffordert, zur Lösung des Investiturproblems selbst nach Rom zu reisen (EADMER: Historia (wie Anm. 15), S. 146f).

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„…ut pervenias ad […] Iesum Christum“ – Mathildes Aufforderung an Anselm, sich auf rechte Weise an Jesus Christus zu orientieren Brief 242 ist der längste der Mathildebriefe in Anselms Sammlung. Auch unter den gesamten in den Anselmi Opera Omnia versammelten Briefen von und an Anselm gehört er zu den längsten.31 Mathilde selbst nennt ihr Schreiben ein „opusculum“ (55), ein „Werklein“. Diese Aussage kann sowohl auf die Länge als auch auf den Charakter ihres Briefes bezogen werden, der einer theologischen Abhandlung durchaus nahe kommt. Mathilde handhabt die vorgegebene Briefform32 recht frei. Die salutatio (1–5) ist wie die conclusio (71–74) formal klar zu erkennen und deutlich vom Briefcorpus abgegrenzt. Das Briefcorpus selbst jedoch entzieht sich ein Stück weit dem Briefschema. Der im Folgenden als exordium bestimmte Abschnitt (6–22) zeigt mit seinem berichtenden Aspekt bereits eine Nähe zur narratio. Er thematisiert Anselms Leistungen und die Gefährdung seiner Leistungsfähigkeit durch das Fasten. Unter den Leistungen Anselms werden seine Bemühungen um den Frieden des regnum und die Würde des sacerdotium angeführt, gefolgt von den drei „Wohltaten“, die Mathilde Anselm verdankt: Ehesegen, Krönung und seine Fürbitten für ihr ewiges Heil. In den beiden folgenden Abschnitten (23–46; 47–70) gehen narratio und petitio in eins, wobei die formal in Imperativen33 ausgesprochene petitio als inclusio die beiden Abschnitte rahmt. Die an Anselm gerichtete Aufforderung, sein Fasten zu mäßigen, wird zweifach begründet: In narratio / petitio I (23–46) führt Mathilde Anselms Aufgabe als geistlicher Redner an, die er im Auftrage Gottes weiter zu erfüllen habe. Hier werden Anselm Johannes und Martin als Beispiele vor Augen gestellt. In narratio / petitio II (47–70) verweist Mathilde auf die in Jesus Christus verkörperte Gnade, die darin zum Ausdruck komme, dass Jesus neben dem Fasten auch das Essen gewürdigt hat. Dabei stellt sie mehreren beispielhaften Fastenfiguren aus Altem Testament (49f) und griechischer Antike (53) drei 31

So zählt er in der Schmitt’schen Ausgabe 74 Zeilen, während von den übrigen Briefen nur wenige über 40 Zeilen kommen und viele sogar unter 20 Zeilen bleiben. 32 Ein mittelalterlicher Brief hat der ars dictandi gemäß fünf Teile. Er beginnt mit der salutatio, die aus der inscriptio, Empfängerbezeichnung im Dativ, der intitulatio, Absenderbezeichnung im Nominativ, und einer Grußformel besteht. Auf die salutatio folgt das exordium, das zur Einstimmung der Adressatin auf den Hauptteil dient. Dieser gliedert sich in eine narratio und eine daraus abgeleitete petitio. Der Brief endet mit einer conclusio. (Vgl. CARL ERDMANN: Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elften Jahrhundert [MGH (= Monumenta Germaniae Historica), Schriften 1], Leipzig 1938 , S. 80–86.) 33 Ep. 242,23 (zwei Imperative).60.61.63.65.67.

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Figuren aus Neuem Testament und Alter Kirche gegenüber, an deren Beispielen sie die Heilsperspektive auch des Essens in der Nachfolge Christi zeigen kann: Jesus (56–60), Paulus (61–65), Gregor (65–70).34 Die conclusio schließt den Brief mit der Bitte, Anselm möge ihn „legere, audire atque exaudire“ (73f). Die theologische Dimension des Mathildebriefes hat, wie erwähnt, bisher keine Beachtung gefunden. Gerade diese Dimension ist jedoch besonders interessant, da sie die ehemalige Klosterschülerin und aktuelle Gesprächspartnerin Anselms als Vertreterin einer christologisch pointierten Theologie erkennen lässt.35 Das biblische Bild, das den Brief von Anfang bis Ende prägt, ist das Bild des Laufes.36 Bereits der Vers 1. Kor 9,24 selbst, eine der Bibelstellen, denen das Bild entstammt37, zielt auf die Unterscheidung des rechten und daher erfolgreichen Laufes vom vergeblichen Lauf.38 Mathilde nimmt diesen Aspekt auf und führt ihn weiter, indem sie das Bild gleich zu Beginn, in der salutatio, christologisch konzentriert: „praesentis vitae cursu feliciter peracto ad finem, qui Christus est, pervenire“ (4f). Die petitio am Ende des Briefes mündet wieder in die Formulierung dieses Zieles: „ut pervenias […] ad IESUM Christum“ (67f). Diese inclusio bildet den Rahmen der gesamten Argumentation des Briefes. In mehreren Schritten entwickelt Mathilde ihre Sicht dessen, was es für Anselm bedeuten soll, seinen „Lauf“ auf und damit auch an Christus auszurichten. Zunächst verdeutlicht sie die theologische Dimension der Gegenüberstellung von Anselms einseitiger Betonung des Fastens einerseits und ihrer, Mathildes, Forderung der Verbindung von Fasten und Essen andererseits durch zwei prägnante Begriffspaare: Im exordium führt sie das Begriffspaar „ius [naturae]“ (10) und „le[x]“ (11) ein; in narratio / petitio I die Begriffe „corporalis“ und „spiritualis potus et cibatus“ (33). Mathilde zufolge verletzt Anselm mit seiner Position das ius naturae unter der Vor34

Auf beiden Seiten der Gegenüberstellung ist jeweils eine Frau zu finden: Die Witwe, die Elisa speist – gemeint ist wohl Elia (3 Reg 17,9–16) – einerseits und andererseits „Maria“ – Maria Magdalena wird hier mit der „Sünderin“ identifiziert, der Jesus beim Mahl des Simon die Sünden vergibt (Luc 7,36–50). 35 Allein die viermalige Verwendung des Christustitels in diesem Brief (242,4.41. 56.68) fällt auf. 36 Vgl. u. a. die Grußformel der salutatio (4f), die Bezeichnung Anselms als fortis dei athleta und humanae naturae victor (13), das Zitat aus Ciceros De senectute: „oratoris munus non ingenii est solum, sed laterum etiam et virium“ (25f), die Anspielung auf 3 Reg 19,7 mit der noch bevorstehenden Wegstrecke (34f). 37 Vgl. auch 2 Tim 4,7 (Bonum certamen certavi, cursum consummavi, fidem servavi). 38 „Nescitis quod ii qui in stadio currunt, omnes quidem currunt, sed unus accipit bravium? Sic currite ut comprehendatis.“ (Vulgata)

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gabe, die lex, das Gesetz des Fastens, zu befolgen (vgl. 9–11). Er vernachlässigt die körperliche Ernährung, die für den Menschen genauso notwendig ist wie die geistliche Speisung der Seele (32f). In einem zweiten Schritt setzt sie dann zu Beginn von narratio / petitio II die einseitige Betonung des Fastens mit den Traditionen des Alten Testamentes und der griechischen Antike gleich (47–55). „Veniendum est ergo ad novae legis gratiam.“ (55) Mit ihrem dritten Schritt führt Mathilde den Leser ins Zentrum ihrer Argumentation. Der von Anselm exklusiv befolgten, mit den alten Traditionen identifizierten lex stellt sie die „novae legis gratia“ gegenüber. Der Inhalt dieser Gnade wird verdeutlicht durch das Handeln Christi. Christus verkörpert die Gnade, indem er die Diastase zwischen Fasten und Essen aufhebt: „Christus IESUS qui dedicavit ieiunium, dedicavit et esum“ (56). An mehreren Beispielen zeigt Mathilde, wie im Handeln Jesu der Bereich der körperlichen Speisung und der Bereich der geistlichen Speisung nicht mehr getrennt sind, sondern in einem heilvollen Nebeneinander stehen (56–60). Im nächsten Schritt, in dem sie mit 1 Tim 5,23 ein Briefzitat des Paulus anführt und ausführlich kommentiert (60–65), unterstreicht Mathilde auf subtile Weise die Entkräftung der von Anselm befolgten lex, steht Paulus doch für die „legis evacuatio“, wie Mathilde in ihrem folgenden Brief formulieren wird39. Wenn dann in einem letzten Schritt das Beispiel Gregors des Großen angeführt wird (65–70), der als Begründer des Erzbistums von Canterbury für die ganze ehrwürdige Tradition dieses Erzbistums steht, so ist spätestens hier zu erkennen, dass die Autorin des opusculum ihre theologischen Aussagen nicht nur auf die geistlich-familiäre Dimension, sondern auch auf die politische Dimension bezieht. Hinter der Frage der Diastase oder Zuordnung von ius naturae und lex, von körperlicher und geistlicher Nahrung, leuchtet damit die Frage auf nach dem Verhältnis von regnum und sacerdotium. Innerhalb dieser übergreifenden Argumentationsstruktur findet sich ein kleiner Abschnitt, in dem Mathilde ihre Ekklesiologie skizziert. Im ersten Teil der narratio stellt sie Anselm unter anderem den Apostel Johannes40 als Vorbild vor Augen, dem der sterbende Jesus die Sorge für seine Mutter anvertraut. Mathilde wendet das Bild auf Anselm indem sie formuliert: „Suscepisti gerendam curam matris ecclesiae, de qua cotidie periclitabuntur, nisi magna curiositate succurreris, fratres Christi et sorores, quos pretio proprii sanguinis redemptos ipse tibi commendavit.“ (40–42)

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Vgl. Ep. 317,12. Von Mathilde hier mit dem Evangelisten Johannes identifiziert: „Memento vero te vicem Iohannis apostoli et evangelistae […]tenere…“ (242,37f). 40

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Folgende Beobachtungen lassen sich hier machen: Mathilde führt im Zusammenhang mit der Kirche die Apostelfigur des Johannes an und nicht den Apostel Petrus, als dessen Nachfolger der Papst gilt41. Dem entspricht, dass das Bild von Maria und Johannes auf eine von Jesus Christus ausgehende Zuordnung von Kirche und Erzbischof auf einer Ebene deutet, die sich klar von Anselms Position des unterordnenden Gehorsams gegenüber Rom unterscheidet. Die Kirche, die Mathilde im Blick hat, ist nicht das Rom Anselms. Die Kirche wird hier nicht als heilsvermittelnde Institution in den Blick genommen, sondern, und das ist die nächste Beobachtung, konstituiert sich in Mathildes Sicht aus den einzelnen Geschwistern Christi, für die Christus sein Blut vergossen hat. Damit skizziert Mathilde eine individualsoteriologisch begründete Ekklesiologie, die die theologische Begründung ihrer kirchenpolitischen Position aufs Passendste ergänzt. Mit der Darlegung ihrer klar christologisch orientierten theologischen Position fordert Mathilde Anselm dazu heraus, seine eigene Position theologisch zu klären.

„…ut cum illa et in illa sponso deo placeatis et in aeterna beatitudine cum illa regnando vivatis“ – Anselms Mahnung an die Königin, die Kirche als Braut Christi zu ehren Anselm antwortet Mathilde mit einem Brief, der zwar nur etwa halb so lang ist wie Mathildes, jedoch insgesamt zu seinen längeren Briefen gehört. Wie bei Mathilde, so ist auch bei Anselm der erste Brief der längste des gemeinsamen Briefwechsels. Anselms Brief ist formal deutlich nach dem Briefschema der ars dictandi gegliedert. Auf die salutatio (1–3) folgt ein knappes exordium, (4f.) in dem Anselm seiner Adressatin für ihre Geschenke und ihre Zuneigung dankt. Die narratio besteht aus zwei Teilen (5–13 / 14–19). Im ersten Teil antwortet Anselm auf Mathildes Bitte der Fastenmäßigung mit der Auskunft, dass er selbst ausreichend für seinen Körper sorge. Im zweiten Teil nimmt Anselm Mathildes Aufzählung seiner ihr erwiesenen Wohltaten auf. Er zitiert die ersten beiden, Vermählung und Krönung, und verweist Mathildes Dank hierfür auf Christus. Die petitio gliedert sich in zwei Teile (20–30 / 30–37), die jeweils durch den Imperativ „Considerate“ eingeleitet sind. Mit der petitio fordert Anselm Mathilde dazu auf, die Kirche als 41

Vgl. den starken Petrusbezug des Römischen Stuhles in Anselms Briefen: 192,8f; 194,8–10; 248,7–15; 262, 34–40; 382,17f.

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Braut Christi zu ehren. Sie mündet zäsurlos in die conclusio (37–39). Diese fasst die Aussage der petitio zusammen und formuliert sie in eine konditionierte Heilsverheißung für Mathilde um, die durch den zweifachen bekräftigenden Abschluss Gebetscharakter erhält: „Hanc [i.e. ecclesiam; S. S.] exaltate, honorate, defendite, ut cum illa et in illa sponso deo placeatis et in aeterna beatitudine cum illa regnando vivatis. Amen. Fiat.“ In der Forschung wird immer wieder die Position vertreten, Anselm habe sich zur Thematik des Investiturstreites nicht theologisch geäußert.42 In seinem ersten Brief an Mathilde nimmt er jedoch deren Herausforderung zur theologischen Klärung seiner Position an. Wenn er dabei auch nicht direkt auf Mathildes Argumentation eingeht, so lässt sich doch an verschiedenen Aspekten erkennen, dass Anselm seinen Brief als Antwort auf Mathilde verfasst. Im Zentrum der theologischen Argumentation steht wie bei Mathilde Christus, den Anselm als solchen nur äußerst selten in Briefen an Weltleute anführt43. Der Verweis auf Christus ist das Scharnier zwischen narratio und petitio und bildet den Bezugspunkt für die Darstellung der Kirche als sponsa im ersten Teil der petitio und als quasi vidua im zweiten Teil. Im ersten Teil der petitio zeichnet Anselm die Kirche unter Aufnahme der Motivik von Hohem Lied und Ps 44 als Königin und als Braut Christi.44 Diese beiden Bezeichnungen für die Kirche finden sich bei Anselm sonst nicht.45 Ebenfalls einmalig ist die Bezeichnung Christi als Bräutigam

42 Z.B. SOUTHERN: St. Anselm. A Portrait in a Landscape (wie Anm. 22), S. 284: „[…] after hearing their [i.e. investiture and homage, S.S.] condemnation in 1099 he conformed rigidly to both parts of the condemnation, and nowhere expressed an opinion about their substance. He never discussed their principle.“ 43 Von „Christus” bzw. „Jesus“ schreibt Anselm häufig in Briefen an Kleriker und Ordensleute oder an solche, die Anselm zu bewegen versucht, ins Kloster einzutreten. In Briefen an Weltleute geschieht dies sonst lediglich in einem weiteren Brief an Mathilde (288,16), in einem an Graf Humbert von Savoyen (ebd., 262,36.38) und in zwei Schreiben an König Balduin von Jerusalem (235,6; 324,21), bei dem sich dies aus dessen Bezug zu Jerusalem, als dem Ort des Wirkens Jesu ergibt (vgl. 235,5–8). Die vierfache Erwähnung „(Jesu) Christi“ im Brief an Frodelina (45,12.15.25.36) könnte darauf hindeuten, dass diese Adressatin des Priors von Bec ein (quasi-)monastisches Leben führt. In Briefen an Weltleute finden sich ferner die Komposita „ecclesia Christi“ (358,7; 378,18; 413,5; [475,2.5]) und „servus servorum Christi Jesu“ (180,2). 44 Womit er die von Mathilde eingebrachten (242,15f) und von ihm selbst in der narratio aufgegriffenen (243,14–16) Motive der Eheschließung und Krönung weiterführt. 45 An keiner anderen Stelle spricht Anselm von der Kirche als Königin. Als Braut (sponsa) Christi bezeichnet Anselm sonst nur Klosterfrauen (168,30.82.84; 169,8.52; [184,5]; 185,25). Spricht er in seinem übrigen Werk von der Kirche als Braut, dann von der Braut Gottes (235,24; 248,21; 249,9.10; 262,30.44), nicht Christi.

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der Kirche. 46 Mit der Darstellung von Kirche und Christus als Braut und Bräutigam stellt Anselm dem von Mathilde gezeichneten Bild ein Gegenbild des Verhältnisses von Christus, Kirche und Welt gegenüber. Sind bei Mathilde geistlicher und weltlicher Bereich beide positiv auf Christus und dadurch harmonisch aufeinander bezogen, so tritt in Anselms Bild Christus in ein konkurrenzhaftes Gegenüber zur Welt. Die Kirche steht zwischen Christus als ihrem Bräutigam und der Welt als ihrem Herkunftsort oder gar Vater. Ihre Bestimmung ist es, sich Christus anzuschließen, indem sie sich von der Welt entfernt, wie Anselm ausgehend vom Zitat Ps 44,11f ausführt: „Quanto enim saecularium conversationem et patris sui, huius scilicet mundi, habitationem contemnendo obliviscitur, tanto pulchrior conspectui sponsi sui et amabilior cognoscitur.“ (26–28). Der Sache nach spricht Anselm hier die Forderung der libertas ecclesiae aus.47 In das Bild von Braut und Bräutigam zeichnet Anselm das Kreuzesgeschehen ein, auf das er sonst in seinen Briefen kaum Bezug nimmt,48 das ihm aber von Mathildes Brief vorgegeben ist49. Während Mathilde das Heil des Kreuzes auf die einzelnen Gläubigen als Brüder und Schwestern Jesu bezieht, so geht nach Anselm Christus aus Liebe zu seiner Braut, der Kirche, in den Tod: „se ipsum morti sponte tradere pro eius amore non dubitavit“ 50 (29f). Der Zusammenhang von „amabilior“ (28) und „pro eius amore“ (29) macht hier deutlich, dass erst durch die Abwendung von weltlichem Umgang die Kirche des Heils würdig wird. Damit begründet Anselm die Forderung der libertas ecclesiae soteriologisch. Im zweiten Teil der petitio weitet Anselm den Horizont des Bildes ins Eschatologische: Die Kirche wartet „wie eine Witwe“51 mit ihren „wahren Kindern“52 auf Christus, „ihren Mann“53, der in der Ferne weilt, um dort

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Die Bezeichnung Christi als Bräutigam (sponsus) verwendet Anselm sonst nur in Bezug auf Nonnen (168,27.59; [169,3]; 184,2; 185,3.39) oder die menschliche Seele (Or II,94; Med II,10). 47 Vgl. Anselms Verwendung des Begriffes libertas ecclesiae ab 1101 / 02 in folgenden Briefen: 235; 248; 280; 338; 339; 364; 388; 389; 402 (nach SOUTHERN: St. Anselm. A Portrait in a Landscape (wie Anm. 22), S. 288). 48 Der Begriff „mors“ erscheint häufig in Anselms Briefen, bezieht sich aber an allen anderen als der hier behandelten Stelle nicht auf das Kreuzesgeschehen, sondern auf den Tod von Menschen allgemein oder von Zeitgenossen Anselms. Über den Begriff der sanguis kommt das Kreuzesgeschehen an folgenden Stellen in den Blick: 156, 164f; 168,76; 177,14f; 193,51; 198,34f. Hierbei ist zu beachten, dass keiner der genannten Briefe an Weltleute gerichtet ist. 49 Vgl. Ep. 242,(37–40).41f. 50 Unter Aufnahme von Eph 5,25. 51 „quasi vidua“ (31). 52 „veris filiis“ (31). 53 „virum suum“ (31).

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ein „regnum“ (32) zu erwerben,54 und der bei seiner Wiederkunft jedem die an ihr begangenen guten und schlechten Taten vergelten wird: „… omnibus qui eidem amicae bona vel mala fecerint, prout quisque gessit, retribu[e]t“ (33f). Mit diesem Bild zieht Anselm die Linie seiner ekklesiologischen Aussagen auf das Heil Mathildes hin aus. Drei Aspekte sind hier hervorzuheben. Zum einen komplettiert Anselm hier das bereits zuvor begonnene Gegenbild zum irdischen Königtum Mathildes: Der Königin Mathilde, ihrer königlichen Ehe und ihrem regnum stellt Anselm die Kirche als „regina“ (21), deren Brautschaft und Ehe mit Christus und schließlich dessen regnum gegenüber. Damit negiert Anselm die von Mathilde in ihrer Trias der anselmschen Wohltaten angedeutete Heilskontinuität von irdischer und himmlischer Herrschaft. Der zweite Aspekt zeigt Mathilde dann positiv den Weg zum Heil. Die „wahren Kinder“ der Kirche, diejenigen die ihre Position teilen, werden zusammen mit ihr am Reich Christi teilhaben. Unter Aufnahme des Bildes der Kirche als Mutter stellt Anselm Mathilde die töchterliche Unterordnung unter die Kirche als einzigen Weg zum Heil vor Augen. Der Topos der Fürstin oder des Fürsten als Kind der Mutter Kirche taucht im Zusammenhang der Investiturproblematik auch in weiteren Briefen Anselms auf.55 Anders als dort führt Anselm den Topos hier für Mathilde nicht weiter aus. Über den dritten Aspekt des vergeltenden eschatologischen Gerichtes gelangt Anselm vielmehr dazu, Mathilde schließlich doch als himmlische Braut und Königin in das Bild des Heils einzuzeichnen. Mit wenigen Worten entwirft Anselm eine eindrückliche Gerichtsszenerie: Über die Begriffe des Erhöhens einerseits und des Versenkens andererseits werden eine Sphäre hoch oben und eine tief unten skizziert. Oben sind die Engel zu sehen (vgl. 36), unten die Dämonen (vgl. 37). Das Kriterium der Zuordnung zu einer der Sphären ist das Verhalten der Kirche gegenüber (33–37). Wenn Mathilde die Kirche als Braut Christi und Königin ehrt, also ihre Freiheit respektiert und ihre Ansprüche verteidigt, so die Aussage des Bildes, wird Christus sie am Ende mit den Engeln erhöhen. Unter dieser Voraussetzung kann Anselm als Schluss seines Briefes Mathilde ein eschatologisches Bild vor Augen malen, in dem alle zuvor genannten Bildaspekte zusammenfließen: An der Seite der Kirche56 wird Ma-

54 Möglicherweise klingt in diesem Bild die Situation der Ehefrauen von Kreuzzugsteilnehmern an. 55 235,24–27; 248,8f.19–22; 262,28–30.44. 56 Die Formulierungen „cum illa et in illa“ (243,37f), „cum illa“ (243,38) unterstreichen hier den Aspekt der kirchlichen Heilsmittlerschaft.

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thilde dem göttlichen Bräutigam wohlgefällig sein57 und in der ewigen Seligkeit als Königin regieren (vgl. 37–39).

Zusammenfassung 1. Bereits in den ersten beiden Briefen zeigt sich der Dialogcharakter des Briefwechsels; Anselms Brief ist unverkennbar als Antwort auf das Schreiben Mathildes formuliert. Er nimmt von Mathilde nicht nur die grundlegende Fragestellung der Zuordnung von weltlichem und geistlichem Bereich auf, sondern auch die christologische Ausrichtung und zentrale Topoi ihrer Argumentation. Dies führt zu einigen bei Anselm singulären Formulierungen. 2. Die beiden Briefpartner vertreten deutlich verschiedene theologische Positionen. Mathildes Christologie zeigt Christus als den Bruder der Christen, dem sowohl am körperlichen Wohl als auch am seelischen Heil der Menschen gelegen ist. Bei Anselm erscheint Christus als König des kommenden Reiches, das der Welt entgegengesetzt ist, und damit als deren Richter. Mathilde ordnet ekklesiologisch sacerdotium und regnum in ein harmonisches Nebeneinander als Gewalten zweier von Christus gleichermaßen gewürdigter Bereiche. Nach ihrer Soteriologie gilt das von Christus erworbene Heil dem einzelnen Christen. Anselm verschränkt Soteriologie und Ekklesiologie. Die von der Welt getrennte Kirche ist die Heilsmittlerin, über die allein die Christen zum Heil gelangen. 3. Diesen unterschiedlichen theologischen Positionen entspricht die unterschiedliche Zuordnung des Heilsdiskurses. Mathilde ordnet den Heilsdiskurs primär der geistlich-familiären Ebene und erst nachgeordnet der politischen zu: Der geistliche Vater sorgt durch seine Fürbitten für das Heil seiner Tochter. Diese wiederum weist ihn, den Vater und damit auch den Erzbischof, auf den rechten Weg zur Erlangung seines Heils. Eine solche Gegenseitigkeit lässt sich bei Anselm nicht erkennen. Er thematisiert lediglich die Frage des Heils der Königin und ordnet sie primär der politischen Dimension zu: Das Verhältnis von Kirche und Königtum entscheidet allererst über die Fähigkeit der Kirche zur Heilsmittlerschaft. Sodann ent57 Der Bezug des „sponsus deus“ bleibt hier deutungsoffen: Einerseits ergibt sich aus dem Vorigen klar ein Bezug auf die Kirche als „sponsa“. Andererseits kommt nun auch Mathilde als bräutliches Gegenüber in den Blick. Hinter diesem Bild lässt sich möglicherweise eine Anspielung auf die Vergangenheit Mathildes als – aus Sicht Anselms – geflohene Nonne (s.o.; vgl. Anselms Brief 171) erkennen.

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scheidet das Verhalten der Königin gegenüber der Kirche über die persönliche Heilsteilhabe Mathildes. 4. In einer Blütezeit der mittelalterlichen Briefkultur wird der Brief zum angemessenen Medium dieses Heilsdiskurses. Zum einen entspricht er als situationsbezogenes Medium der Aktualität, mit der die Heilsfrage im Kontext der Investiturauseinandersetzungen gestellt wird. Zum anderen korrespondiert der dialogische Charakter des Briefwechsels dem dialogischen Gegenüber der vertretenen Positionen. Anders als ein mündlicher Dialog jedoch bietet schließlich der Brief den Dialogpartnern die Möglichkeit, ihre Position reflektiert in Worte zu fassen und sie auch über ihre aktuelle Verortung hinaus Rezipienten an anderen Orten und zu anderen Zeiten zugänglich zu machen.

Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität* BERNDT HAMM

1. Medialität und Immediatisierung der nahen Gnade Im ausgehenden Mittelalter des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts sind starke Wechselwirkungen zwischen bestimmten Veränderungen im Gnadenverständnis und einer neuartigen Verwendung religiöser Medien zu beobachten. Auffallend sind Phänomene einer intensivierten Vergegenwärtigung des Heiligen, Heilenden und Heilvollen, die man unter dem Leitbegriff der ‚nahen Gnade‘ zusammenfassen kann; sie reagierten offensichtlich auf ebenfalls intensivierte Vorstellungen von der bedrängenden Nähe satanischer Mächte und göttlicher Strafen, also einer ‚nahen Ungnade‘1. Zugleich begegnen uns neue Formen der Medialität, d.h. neue Arten einer zeichengestützten Mitteilung und Vermittlung in jenem Kommunikationsgeschehen, durch das die göttliche Gnade an den Menschen herangetragen wird und durch das er Zugang zum Heil sucht. Die Nahvergegenwärtigung der Gnade und die Entwicklung einer neuartigen Medialität stehen in enger Wechselbeziehung und verstärken einander2. Neu forcierte Konzeptionen * Der Aufsatz ist eine überarbeitete und erweiterte Neufassung des Beitrags ‚Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittalter‘ im Tagungsband: Carla Dauven van Knippenberg, Christian Kiening und Cornelia Herberichs (Hg.): Die Medialität des Heils im späten Mittelalter, Zürich 2010 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10), S. 21–59. 1 Zur typisch spätmittelalterlichen Sicht der ‚nahen Gnade‘ und ‚nahen Ungnade‘ vgl. B ERNDT HAMM: Die „nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: Jan A. Aertsen und Martin Pickavé (Hg.): „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin / New York 2004 (= Miscellanea Mediaevalia 31), S. 541–577; DERS.: Die Nähe des Heiligen im ausgehenden Mittelalter: Ars moriendi, Totenmemoria, Gregorsmesse, in: Ders., Klaus Herbers, Heidrun Stein-Kecks (Hg.): Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007 (= Beiträge zur Hagiographie 6), S. 185–221; DERS.: Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Christoph Bultmann, Volker Leppin, Andreas Lindner (Hg.): Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 39), S. 111–151. 2 Vgl. exemplarisch P ETER SCHMIDT: The Multiple Image: The Beginnings of Printmaking, between Old Theories and New Aproaches, in: Peter Parshall u. a. (Hg.): Origins

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der Gnadennähe wie beispielsweise der Ablass oder die Passionsmeditation drängen zu entsprechend popularisierenden und multiplizierenden Medien der Verbildlichung, der Textgestaltung und des xylographischen oder typographischen Drucks3; und umgekehrt überträgt sich die erfinderische Dynamik auf dem Gebiet der medialen Kommunikationsformen auf die Art und Weise, wie man sich im 15. und frühen 16. Jahrhundert die ‚nahe Gnade‘ inhaltlich-qualitativ vorstellt: als räumlich und zeitlich vergegenwärtigte, real präsente, unmittelbar erlebbare, geistlich und sinnlich erfahrbare, mühelos zugängliche, leicht erreichbare, sinnlich anschauliche und berührbare, sicher verfügbare und jederzeit abrufbare oder auch preisgünstig erwerbbare Gnade – um nur die wichtigsten Facetten zu nennen. Es ist eine Gnade in unmittelbarer Reichweite des heilsbedürftigen Menschen. Aber das Eigentümliche dieser gesteigerten Unmittelbarkeit ist gerade, dass sie sich mit dem ganzen Erfindungs- und Gestaltungsreichtum medialer Vermittlung verbindet, mit der sinnlichen Medialität des Sehens und Betrachtens, Lesens und Hörens, des Berührens, Schmeckens und Riechens, des Gehens, Stehens und Kniens, einer Aktivierung des Körpers und aller Körpersinne in Verbindung mit der seelischen Mobilisierung der Imagination, des kognitiven Wissens, Erinnerns, Nachdenkens und Verstehens sowie des affektiven Empfindens und Fühlens, in dem die Andacht des begnadeten Menschen ihr Ziel erreicht. Die spätmittelalterlichen Konzeptionen der nahen Gnade verbinden also stets das Ideal größtmöglicher Unmittelbarkeit, einer Art von Immediatisierung des Heiligen, mit neuen Sichtweisen der medialen Kontaktsphäre zwischen Gott und Mensch und mit neuen medialen Strategien des intensivierten Kontakts. Immediatisierung und Medialität bedingen einander. Das gilt sogar für die spätmittelalterliche Mystik, sofern sie sich für ihre Zielsetzung einer unmittelbaren Erfahrung der heilvollen Nähe Gottes der neuen Möglichkeiten popularisierender, auch die ungelehrten Laien und Laienfrauen einbeziehender Medien bedient: der volkssprachlichen Predigt und Verschriftlichung, der Entwicklung neuer Ausdrucksmöglichkeiten in der Volkssprache und der bildlichen oder auch singenden Vergegenwärtiof European Printmaking. Fifteenth Century Woodcuts and Their Public. Ausstellungskatalog, National Gallery of Art Washington 2005, S. 37–56; dt. Version: PETER SCHMIDT: Das vielfältige Bild: Die Anfänge des Mediums Druckgraphik, zwischen alten Thesen und neuen Zugängen, in: Peter Parshall u. a. (Hg.): Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Ausstellungskatalog, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 2005, S. 37–56. 3 Zum xylographischen Druck vgl. den amerik. / dt. Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 2), zum typographischen Druck vgl. jetzt besonders FALK E ISERMANN: Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, VE 15, 3 Bde., Wiesbaden 2004.

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gung mystischer Frömmigkeit und entsprechender Vervielfältigungsmedien des Abschreibens und Druckens. Diese Arten der Medialität sollen den direkten Kontakt der Seele zu Gnade und Heil ermöglichen und erleichtern. Sieht man diese Wechselbeziehung von Unmittelbarkeits- und Vermittlungskonzeptionen und diese Perspektiven medialer Präsenz4, dann ergibt sich die selbstverständliche Konsequenz, dass man von der nahen Gnade des Spätmittelalters als einem Mediengeschehen sprechen muss und umgekehrt: von der Medialität des Heils als einem Programm der nahen Gnade. Daher geht es im Folgenden immer zugleich um die Phänomenologie der vielfältigen nahen Gnade und eine Typologie der vielfältigen Gnadenmedialität.

2. Gnadenvermittlung und Heilsunmittelbarkeit Um dieser Aufgabe annähernd gerecht zu werden, ist zunächst eine kurze Klärung des Verhältnisses der Begriffe Gnade und Heil notwendig. Das Heil selbst ist die ewige himmlische Seligkeit, in der es keine Medialität mehr gibt, sondern nur die geistige Unmittelbarkeit der Schau Gottes und des Hörens der Himmelsmusik. Dies ist ein kollektives Geschehen, wie in der Oper rangmäßig abgestuft und nach verbreiteter mittelalterlicher Vorstellung ohne jede individuelle Berührung, wie sie für das Erdenleben, die Hölle und das Fegefeuer charakteristisch ist. Die Gnade im weitesten Sinne ist die mit Gott identische und von Gott her kommende Kraft, die den Menschen zu seinem himmlischen Ziel der ewigen Herrlichkeit führt, ihn und seine Gemeinschaft aber auch vor irdischem Schaden bewahrt. Mit dem Terminus ‚Gnade‘ (gratia) verbinden sich alle möglichen Vorstellungen, Erwartungen und Angebote von Güte, Huld und Erbarmen, Segen, Befreiung und Rettung, Heiligung und Stärkung, Hilfe und Schutz. Im Blick ist dabei primär und erstursächlich die Wesens- und Wirksphäre Gottes, Gottvaters, Jesu Christi und des Heiligen Geistes, aber in abgeleiteter Weise auch die Mitwirkung Marias und der Heiligen und aller möglichen Gnadenmittel wie der Heiligen Schrift und der Liturgie, der Sakramente und Sakramentalien, der Reliquien und Ablässe. Während das himmlische Heil selbst in der puren Unmittelbarkeit zu Gott besteht, ist für die Gnade auf dem Weg zum Himmel die Medialität, die zeichengebundene Gnadenvermittlung, charakteristisch, so dass man genau genommen die Medialität des Heils nur so thematisieren kann, dass man von der Medialität der Gnade spricht. Meine weiteren Überlegungen spitzen sich auf die Frage zu, wie diverse Vorstellungen von der Unmittelbarkeit des Gnadenwirkens am 4

Zum Problemfeld vgl. CHRISTIAN K IENING (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 1).

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Menschen und von seinem unmittelbaren Zugang zur Gnade mit diversen Konzeptionen der Gnadenmedialität kombiniert sind. Es wird sich zeigen, dass Begriffe wie ‚Unmittelbarkeit‘ und ‚Nähe‘, soweit sie auf den Weg des Wanderers zum Himmel, des homo viator, bezogen sind, selbstverständlich nie absolut gemeint sein können, sondern stets nur in Relationen zu geringerer Nähe und größerer Distanz zur rettenden Gnade.

3. Bildmedien meditativer Vergegenwärtigung: die Aktivierung der Liebe Um das zu konkretisieren und zugleich die angekündigte Typologie der Gnadenmedialität anzuvisieren, komme ich zu einem ersten Beispiel, das zeigt, wie es zu einem direkten Kontakt zwischen der andächtigen Seele und dem göttlichen Erlöser kommen kann (Abb. 1). Es ist ein Kupferstichblatt, das der berühmte Meister mit den Initialen E. S., der wohl im Oberrheingebiet tätig war, im Jahre 1467 geschaffen hat5. Umgeben von Putten mit den Leidenswerkzeugen (arma) Christi ist in der Mittelachse des Blattes ein großes Herz zu sehen, das von den Tauförmigen Kreuzesbalken überhöht wird. In der weit geöffneten Wunde des Herzens steht ein segnendes, nacktes Christuskind, das in seiner linken Hand ein langes Band mit der Inschrift hält: „Wer Jesus in seinem Herzen trägt, dem ist alle Zeit die ewige Freude bereit.“6 Das Blatt ist voller semantischer Bezüge zu einem dichten spätmittelalterlichen Gewebe von Texten und Bildern, die alle die Nah-Präsenz der erlösenden Gnadenheiligkeit zum Ausdruck bringen. So ist etwa an den Texthorizont der stark imaginativen mystischen Theologie Heinrich Seuses (gest. 1366) zu denken7.

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Das Jesuskind im Herzen, Einblattkupferstich auf Papier, 16,0 x 11,4 cm; Exemplar: Berlin: Kupferstichkabinett, Sammlung der Zeichnungen und Druckgraphik; Abbildung und Beschreibung (durch Holger Jacob-Friesen) in: STAATL. KUNSTHALLE K ARLSRUHE (Hg.): Spätmittelalter am Oberrhein. Maler und Werkstätten 1450-1525. Ausstellungskatalog, Stuttgart 2001, S. 137, Nr. 55. 6 „wer ihs in sinem herczen tret dem ist alle zit die ewig fro࢑ d beraeit.“ 7 Vgl. HEINRICH SEUSE: Horologium sapientiae 1,14: „Ceterum ex his, o sapientia aeterna, hanc mihi summam colligo, quod quicumque aeternam salutem et praemiorum magnitudinem desiderat habere […], debet te Iesum, Iesum inquam crucifixum, iugiter in pectore suo portare.“ Zit. nach der Edition von Pius Künzle, Freiburg / Schweiz 1977 (= Spicilegium Friburgense 23), S. 493,24–494,3.

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Abbildung 1: Meister E. S., Das Jesuskind im Herzen, Einblattkupferstich, 1467

Abbildung 2: Neujahrswunsch mit Christkind, kolorierter Einblattholzschnitt, um 1470, vermutlich Ulm

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Der Jesusknabe erinnert an andere Einblattdrucke, die als Neujahrsblätter ebenfalls ein nacktes Christkind zeigen, das auf Spruchbändern dem Empfänger des Blatts gute Wünsche zum kommenden Jahr übermitteln. So ist auf einem Ulmer Holzschnitt der gleichen Zeit (Abb. 2) ein Christkind zu sehen, das einen Glücksvogel in Händen hält8 und von den Worten umgeben ist: „Ich heiß Jesus, das ist wahr, und geb mich euch zu einem guten Jahr. Und wer mich im Herzen lieb hat, dem geb ich mich an seiner letzten Not.“9 Man darf diese Formulierung als erläuternde Parallelaussage zum Merksatz des E. S.-Kupferstichblatts lesen: „Jesus im Herzen tragen“ heißt, ihn von Herzen zu lieben; und wer dies tut, so lautet das Versprechen Jesu, dem ist „alle Zeit die ewige Freude bereit“, d.h. die himmlische Seligkeit ist ihm so nahegekommen, dass sie zu jeder Zeit, wann immer auch die Sterbestunde („seine letzte Not“) kommt, auf ihn wartet. Die beiden Blätter artikulieren damit eine intime Gnadenähe zwischen Jesus und der Seele: Wer Christus liebt, wer also – mit der Bildsprache der Drucke gesprochen – den Gottessohn in sein Herz aufnimmt und so zur Geburtsstätte und Krippe des Jesuskindes wird, dem schenkt sich Christus am Ende seines Lebens, indem er seine Seele alsbald zur ewigen Freude führt10. Im Blick auf die Botschaft zahlreicher spätmittelalterlicher Einblattdrucke, die Bild und Text kombinieren, kann man von einer ‚Zweiseitigkeitsformel‘ sprechen. Die Texte präsentieren eine konditionale Regelhaftigkeit, die immer nach dem ‚Wer-der-Muster‘ formuliert ist: Wer etwas Bestimmtes tut, der erhält dafür etwas Bestimmtes11. Im Falle meiner beiden Beispiele handelt es sich um einen festen Bedingungszusammenhang, der zwischen Christus und der Seele gilt: Wer zu Lebzeiten durch die Jesusliebe zubereitet und vorbereitet ist, dem ist die Seligkeit bereitet. Damit wird eine heilsgeschichtliche Regel formuliert, die für die gesamte spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeit grundlegend ist: Gerettet kann am Ende seines Lebens nur, wer im Stand der Gottesliebe stirbt, wer Gott 8 Neujahrswunsch mit Christkind, kolorierter Einblattholzschnitt auf Papier, 36,5 x 25,5 cm, vermutlich Ulm, um 1460–1475; Exemplar: Halle, Marienbibliothek, B. Nr. 3; Abbildung und Beschreibung (durch Johannes Tripps) in: CÉCILE DUPEUX, u. a. (Hg.): Bildersturm: Wahnsinn oder Gottes Wille? Ausstellungskatalog (Bern / Strasbourg), Zürich 2000, S. 222, Nr. 75. 9 „Ich haiß ihs das ist wa࢔ r: Und gib mich uch zu࢓ aim gu࢓ te Jar / Und wer mich Im herczen lieb haut Dem gib ich mich an siner lesten na࢔ t.“ 10 Zum Kontext der zeitgenössischen Christkind-Andacht vgl. J OHANNES TRIPPS in: Ausstellungskatalog: Bildersturm (wie Anm. 8), S. 223, Nr. 76 (mit Literatur). 11 Vgl. SABINE GRIESE: Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität gedruckter Bilder des 15. Jahrhunderts. Habilitationsschrift für das Fach Deutsche Literaturwissenschaft, masch. Zürich 2006, S. 255–258. Griese spricht treffend von „werFormeln“, „die eine Art Vertrag zwischen Betrachter und ‚Bild/Abgebildetem‘ vorschlagen: ‚wer etwas bestimmtes tut, erhält dafür etwas bestimmtes‘.“

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liebt und als Gottliebender von Gott geliebt und zur ewigen Seligkeit angenommen ist. Diese aktive Liebe des Menschen schließt immer den Schmerz einer wahren, herzlichen Reue über die begangenen Sünden als Herzstück echter Buße ein. Einig sind sich alle Theologen auch darüber, dass eine solche Liebe und Reue nicht durch den sündigen Menschen selbst erzeugt werden kann, sondern immer eine Gnadenwirkung Gottes in der Seele ist. Indem Gott dem Menschen seine heiligmachende Gnade ins Herz gießt, werden alle jene Herzensregungen der Liebe, der Andacht, der schmerzvollen Demut und der freudigen Hoffnung hervorgebracht, die den Sünder in eine unmittelbare Seelenbeziehung zum rettenden Heil setzen. Diese geistig-affektive Unmittelbarkeit zur göttlichen Trinität ist innerstes Ergriffen- und Aktiviertwerden der menschlichen Seelenkräfte. Als Begnadeter erfährt der Mensch daher sich selbst als subjekthaft Beteiligten, mitwirkend Tätigen und auf die Ewigkeit Zubewegenden: Er selbst liebt und er selbst trägt Jesus im Herzen. Die wesentliche Frage ist aber nun, durch welche Art von Medialität diese gnadenhafte Liebe dem Menschen vermittelt wird. Eine Möglichkeit ist die Meditation. Die beiden bisher vorgestellten Bilder zielten auf die meditative Vergegenwärtigung des kindlichen und leidenden Erlösers. Im Zuge der Popularisierungsbestrebungen einer expansiven Seelsorge, diffundierenden Mystik und verinnerlichenden Frömmigkeitstheologie wurde das meditierende Sich-Versenken in die Menschwerdung und Passion Jesu Christi zu einem zentralen Gnaden- und Heilsmedium des späten Mittelalters. Die meditatio ist ihrer Grundbestimmung nach ein zeichengestütztes Kommunikationsmedium intensivierter Gnadennähe, zielt sie doch mithilfe von Wort, Schrift, Bild und Musik auf die kognitiv-memorative, imaginative und affektive Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte: Der meditierende Mensch soll sich das Erlösungswirken Christi geistig heranholen und zur inneren Realität seines Herzens werden lassen. Er kann das, weil sich Gott selbst in barmherziger Kondeszendenz zum armseligen Menschen und in seine Zeichenwelt herabgelassen und so die Kluft zwischen Gott und sündiger Kreatur durch größtmögliche Nähe überbrückt hat.

4. Das Gnadenmedium des menschgewordenen Erlösers Der ganze spätmittelalterliche Vorstellungsbereich der nahen Gnade setzt daher die christologische Wende des 12. und 13. Jahrhunderts voraus, jenen oft beschriebenen Wandel des Christusbildes vom triumphalen göttlichen Weltenherrscher hin zum menschgewordenen Erlöser, der dem elenden Menschen als Kind in der Krippe und Passionsheiland gleich wird und ihn als minnevoller Bräutigam liebevoll umfängt. Seit dem Zeitalter Peter

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Abaelards und Bernhards von Clairvaux wird der nahpräsente Erlöser, das Christkind und der Schmerzensmann, zum Gnaden- und Heilsmedium schlechthin. Man kann hier beim Versuch einer medialen Typenbildung von einer Gnadenmedialität erster Ordnung sprechen, die alle anderen Medialitäten begründet: Gott tritt durch Inkarnation und Passion und damit durch das Medium der Leibhaftigkeit des Erlösers in innigste leiblichseelische Kommunikation zu den Menschen aller Zeiten. Diese Christusmedialität ist ihrem Wesen nach eine gebrochene Medialität, sofern der himmlische Gottessohn den erlösungsbedürftigen Menschen unter der Gegensatzgestalt zu seiner göttlichen Glorie nahe kommt: nicht in Herrlichkeit, sondern in bitterster Schmach12. Es ist ein Gegensatz, der z. B. eindrucksvoll in zahlreichen spätmittelalterlichen Texten zum Ausdruck kommt, wenn sie die Klage Marias bei der Beweinung ihres toten Sohnes mit Worten formulieren wie: „O Sonnenglanz, ein ewiges Licht, wie bist du erloschen! O hoher Reichtum, wie erscheinst du in großer Armut! O Wonne wonniglich, wie ist dein Antlitz so jämmerlich!“13 Allerdings gilt gerade die Elendsgestalt Jesu als das Gnadenmedium, das in seiner medialen Gebrochenheit, in der verweigerten Unmittelbarkeit zur puren Gottheit Gottes, den unmittelbarsten, sozusagen hautnahen, Kontakt zur göttlichen Erlösungskraft Christi ermöglicht. 12 Am eindrucksvollsten hat im Spätmittelalter der Franziskaner Stephan Fridolin dieses Gegensatzverständnis zum Schlüssel der Passionsdeutung und Strukturierungsprinzip der Passionsdarstellung in seinem 1491 gedruckten Hauptwerk ‚Der Schatzbehalter‘ gemacht. Vgl. P ETRA SEEGETS: Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin (gest. 1498) zwischen Kloster und Stadt, Tübingen 1998 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 10), S. 218–225. 13 „O sunnen glantz ein ewigs licht wie bistu erloschen. / O hoher reichtum wie scheinestu so in groszer armut. / O wunne wunniglich wie ist dein antlitz so iemerlich.“ Ausschnitt aus dem Klagegebet Marias auf einem illustrierten und kolorierten Einblattholzschnitt (Papier), 37,5 x 27,5 cm, Werk des Michel von Ulm, um 1465–1475; Exemplar Boston, Museum of Fine Arts, William Francis Warden Fund, Inv.-Nr. 53.359; Schreiber Nr. 986m; Abbildung und Beschreibung (durch Richard S. Field) in: Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 2), S. 236–238, Nr. 69; vgl. auch die eingehende Interpretation durch SABINE GRIESE: Bild – Text – Betrachter. Kommunikationsmöglichkeiten von Einblatt-Druckgraphik im 15. Jahrhundert, in: Nikolaus Henkel u. a. (Hg.): Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter, Tübingen 2003, S. 315–335, hier S. 323–326; DIES.: Text-Bilder (wie Anm. 11), S. 102–128. – Zu diesem im 15. und 16. Jahrhundert häufig und in unterschiedlichen Versionen überlieferten Gebet mit den Anfangsworten ‚O du ausfließender Brunnen‘ vgl. neben Griese auch den Artikel von G ISELA KORNRUMPF: ‚O du uzvliezender brunne‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 6, Berlin / New York 1987, Sp. 1268–1272. Eine Version des Gebets ist in dem unten ausführlicher erwähnten Erbauungsbuch ‚Die himmlische Fundgrube‘ des J OHANNES VON P ALTZ (Edition S. 226,1–18) überliefert; vgl. unten Anm. 16.

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5. Meditationssymbole der Gnadennähe Christi: Nacktheit, Öffnung des Körpers, Herzwunde, sühnendes Blut, Sich-Herabneigen, Umarmung und Berührung Bestimmte Symbole dienen dazu, diese auf Erden größtmögliche Unmittelbarkeit und Nähe hervorzuheben. Auffallend ist zunächst die Symbolik der körperlichen Nacktheit des Christuskindes und des Passionschristus. Sie symbolisiert nicht nur Entblößung von allem irdischen Gut, Armut und Elend, sondern auch die menschlich-reale, sichtbare und berührbare Nähe der erlösenden Heiligkeit Gottes. Ein weiteres wichtiges Symbol der unmittelbaren Kontaktnähe ist die Öffnung des Christuskörpers durch die Wunden der Kreuzigung, insbesondere durch die als Herzwunde verstandene Seitenwunde, die der römische Soldat mit der Lanze dem bereits gestorbenen Jesus zugefügt hat (Joh. 19,34)14. Diese weit geöffnete Wunde, die uns bereits auf dem Kupferstichblatt des Meisters E. S. (Abb. 1) begegnet ist, versinnbildlicht die Liebeswunde Christi. Aus Liebe hat sich der menschgewordene Gott um der sündigen Menschheit willen verwunden lassen; und durch die äußere Öffnung seines Leibes trat die innere Liebe sichtbar und sakramental in Blut und Wasser nach außen. Vergegenwärtigt sich der Mensch meditativ dieses Offenbarwerden der Liebe Christi, dann wird durch das Betrachten der Seitenwunde Christi auch sein eigenes Herz durch die Liebe verwundet und den Schmerz der Reue gepeinigt. Was bei Christus also von innen nach außen tritt, gelangt bei ihm von außen nach innen, so dass er nun als Liebender den gekreuzigten und verwundeten Christus ebenso wie den kindlichen Erlöser in seinem Herzen trägt. Die geöffnete Herzwunde auf dem Kupferstich mit dem Jesusknaben symbolisiert somit zugleich die erlösende Seitenwunde Christi und die Liebeswunde jedes begnadeten Herzens. Ein koloriertes Holzschnittblatt (Abb. 3) aus der gleichen Zeit, um 147015, kann dieses Kontaktgeschehen zwischen dem verwundeten Christus und der verwundeten Seele nochmals veranschaulichen: Der Christusknabe im Herzen, das durch die Lanze geöffnet wird, wird durch 14

Vgl. THOMAS LENTES: Nur der geöffnete Körper schafft Heil. Das Bild der Verdoppelung des Körpers, in: Christoph Geissmar-Brandi und Eleonora Louis (Hg.): Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod. Von der Entwicklung religiöser Bildkonzepte. Ausstellungskatalog, Klagenfurt, 2. Aufl., 1996, S. 152–155. 15 Das Jesuskind im Herzen, kolorierter Einblattholzschnitt auf Papier, 7,0 x 5,5 cm, oberdeutsch; Exemplar: Wien, Albertina, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 1925/317; Schreiber Nr. 807; Abbildung und Beschreibung (durch Jean Wirth) in: Austellungskatalog: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod (wie Anm. 14), S. 148f. Dort auch weitere Bildbeispiele für das durch die Seitenwunde geöffnete und aus dem Körper herausisolierte Herz Christi: S. 140f., 144–147, 150–155.

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die Leidenssymbole der Geißel und der Ruten als der erlösende Passionschristus erkennbar, auf den auch die vier blutenden Hand- und Fußwunden verweisen; und im Blick ist damit zugleich die Christusgeburt in der Seele als schmerzliche Geburt des Mitleidens. Spätmittelalterliche Texte, die zur Passionsmeditation anleiten wollen, bilden die erklärenden Kontexte zu solchen abbreviaturhaften Verbildlichungen des geöffneten Körpers und Herzens. So findet man in einer 1490 erschienenen und in vielen Drucken verbreiteten deutschsprachigen Anleitung zur Passionsmeditation des Erfurter Augustinereremiten Johannes von Paltz folgendes Mustergebet für einen Menschen, der über die Seitenwunde Christi meditiert: „Ach lieber Herr, ich danke dir, dass du dir ließest deine heilige Seite aufbrechen. Ich bitte dich, brich auf mein sündiges Herz und gib mir zu ruhen in deiner heiligen Seite. Und bete ein Vaterunser in die Liebe!“16 Typisch ist, wie Paltz die Spiegelbildlichkeit des Öffnens oder Aufbrechens betont: auf Seiten Christi und auf Seiten des Menschen; und typisch ist auch, wie in seiner Bildsprache nicht nur die Bewegung Christi in das geöffnete Herz des Menschen hinein geschieht, sondern wie sich umgekehrt auch der liebend meditierende Mensch in das geöffnete Herz Christi hineinbewegt und dort zur Ruhe kommt – zugleich eine beliebte Auslegung jenes Hoheliedverses 2,14, der von der Taube spricht, die in den Löchern der Felsen („foramina petrae“) nistet17. Ausgehend von der Meditation der fünf Wunden Christi stellt Paltz die gesamte Passion Christi als ein geistliches Bergwerk dar, in dem der meditierende Mensch durch die öffnenden Stollen zum Golderz der Gnade Gottes gelangt18. 16 „Ach liber herr, ich dank dir, das du dir list dein heilge seiten aufprechen. Ich bit dich, brich auf mein sundiges herz und gibt mir zu ruen in deiner heiligen seiten. Und bet ein Vatter unser in die libe.“ J OHANNES VON P ALTZ: Die himmlische Fundgrube, ed. Horst Laubner u. a., in: DERS.: Opuscula = Paltz: Werke 3, Berlin / New York 1989 (= Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 4), S. 155–284, hier S. 225,12–14. Von 1490 bis 1521 erschienen 18 oberdeutsche und 3 niederdeutsche Drucke der ‚Himmlischen Fundgrube‘ (Druckorte waren Leipzig, Nürnberg, Magdeburg, Augsburg, Erfurt, Straßburg und Köln) sowie – in sekundärer Überlieferung – 12 Handschriften. 17 Vgl. z. B. P ALTZ: Himmlische Fundgrube, ebd. S. 204,4–11 (mit Berufung auf die Hoheliedauslegung Bernhards von Clairvaux). Zur Tradition der Deutung der Felslöcher auf die Wunden Christi (die auf Gregor d. Gr. und Beda Venerabilis zurückführt) vgl. ebd. Anm. 14. 18 Vgl. ebd. S. 204,1–3: „Von der himelischen funtgruben. Das heilig leiden Cristi ist ein goltgrub und mer dan ein goltgrub. Dise funtgrub oder genad hat vil stollen, da durch man mag eingan.“ Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Metapher des geistlichen Bergwerks und Bergbaus vgl. VOLKER HONEMANN: Bergbau in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Karl Heinrich Kaufhold und Wilfried Reininghaus (Hg.): Stadt und Bergbau, Köln / Weimar / Wien 2004 ( = Städteforschung: Reihe A, Darstellungen 64), S. 239–261, hier S. 246–248.

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Abbildung 3: Das Jesuskind im Herzen, kolorierter Einblattholzschnitt, um 1470, Süddeutschland

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Abbildung 4: Die fünf Hauptwunden Christi, Miniatur aus einem Erbauungstraktat, Kölner Handschrift von 1508

Abbildung 5: Nonne im Herzen des Gekreuzigten mit Christus als Bräutigam, kolorierte Federzeichnung, Ende 15. Jh., Benediktinerinnenabtei St. Walburg in Eichstätt

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Dem ganzen Traktat gibt er daher den Titel ‚Die himmlische funtgrub‘ (‚Fundgrube‘ als terminus technicus für Bergwerk). Eine 1508 entstandene Kölner Handschrift des Traktats enthält zahlreiche kostbare Miniaturen19, darunter zu Beginn ein Blatt (Abb. 4), das dem Benutzer die fünf aus dem Körper Christi herausisolierten Wunden als Heilsmedium zum eindringenden Meditieren vor Augen hält20. Der durch die Wunden geöffnete Christuskörper und das geöffnete Herz des betrachtend-meditierenden Menschen versinnbildlichen die größtmögliche Gnadennähe wechselseitiger schmerzlicher und freudiger Liebe, ein eindringendes Präsentwerden und Vereintsein im Herzen des Geliebten. So zeigt eine Eichstätter Nonnenmalerei des ausgehenden 15. Jahrhunderts (Abb. 5), wie die Seele der Benediktinerin mit ihrem Minnebräutigam Christus im geöffneten Herzen der Passion innig vereint ist21. Die Öffnung des Herzens durch Liebe und Schmerz wird zum passionsmystischen Bildmedium einer schon im Diesseits erfahrbaren ‚unio‘ von Gott und Mensch und so eines Vorauskostens der himmlischen Seligkeit22. 19

Zu dieser Handschrift (im Privatbesitz) vgl. die Beschreibung in der Edition der ‚Himmlischen Fundgrube‘ (wie Anm. 16), S. 187–192 (Handschrift j); Abbildung der 21 Miniaturen, die Szenen der Passion darstellen, auf den Farbtafeln nach S. 200. Zur Zuschreibung der Miniaturen an den Kölner Meister des Bartholomäusaltars vgl. S. 190– 192. 20 Ebd. Abb. 2 (Beschreibung S. 188). 21 Nonne im Herzen des Gekreuzigten, kolorierte Federzeichnung auf Pergament, 8,4 x 7,4 cm; Eichstätt, Benediktinerinnenabtei St. Walburg, Inv.-Nr. A3; Abbildung und Beschreibung (durch Maria Magdalena Zunker) in: FRANK M ATTHIAS KAMMEL (Hg.): Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter. Ausstellungskatalog, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2000, S. 201–203, Nr. 36; vgl. auch MARIA M AGDALENA ZUNKER: Spätmittelalterliche Nonnemalereien aus der Abtei St. Walburg. Versuche einer Deutung, in: ebd. S. 97–116, hier S. 109–112. Die Malereien des Walburger Konvents haben auch eine monographische Interpretation gefunden durch JEFFREY F. HAMBURGER: Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent, Berkeley / Los Angeles / London 1997, zu dieser Abbildung besonders S. 101–136. 22 Vgl. CHRISTOPH B URGER: Mystische Vereinigung – erst im Himmel oder schon auf Erden? Das Doppelgesicht der geistlichen Literatur im 15. Jahrhundert, in: Berndt Hamm und Volker Leppin (Hg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36), S. 97–110. Zur notwendigen Differenzierung zwischen unterschiedlichen, alle auf das Diesseits des Gnadenlebens bezogenen, Unio-Konzeptionen im 15. Jahrhundert – zwischen Vorstellungen, die auf eine Wesensvereinigung von Gott und Mensch zielen, und solchen, die eine bleibende seinshafte Differenz zwischen Gott und Kreatur betonen, vgl. in demselben Sammelband die Beiträge von B. HAMM: „Gott berühren“: Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs, S. 111–137, hier S. 111–115 (mit Literatur), und B ARBARA STEINKE: „Den Bräutigam nehmt euch und habt ihn und verlasst ihn nicht, denn er verlässt euch nicht.“ Zur Moral der Mystik im Nürnberger Katharinenkloster während des 15. Jahrhunderts, S. 139–164.

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Nur kurz sei noch auf weitere Versinnbildlichungen der unmittelbaren Gnadenmedialität der Passionsgestalt Christi eingegangen. Mit der Symbolik der Nacktheit und der Öffnung des verwundeten Körpers verbindet sich das Symbol des sühnenden Blutes, das der erlösungsbedürftige Mensch sehend, berührend und trinkend empfängt23, das Symbol des Sich-Herabneigens, mit dem sich der Gekreuzigte vom Kreuz löst und die Nähe des Menschen sucht, und das Symbol der Umarmung, mit der Christus den Menschen in Liebe umfängt. Diese drei Symbole der nahen Gnade sind kombiniert in der berühmten legendarischen Vision des hl. Bernhard von Clairvaux, wie sie im ausgehenden Mittelalter oft bildlich dargestellt wurde, so etwa auch auf einem süddeutschen Einblattholzschnitt um 1450 (Abb. 6)24. Bemerkenswert ist aber vor allem, wie dieses Vorbild Bernhards in Frauenklöstern visionär-kontemplativ und meditativ aufgenommen und entsprechend bildlich transformiert wurde. Ein besonders sprechendes Beispiel dafür ist eine Stundenbuch-Miniatur aus dem späteren 15. Jahrhundert (Abb. 7), die vermutlich in dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Margareta und Agnes entstanden ist25. Jedenfalls zeigt das eingeklebte 23 Vgl. bereits die monastische Mystik des 12. Jahrhunderts, z. B. PETRUS DAMIANI (gest. 1072): Vita Romualdi 31 (PL 144,938 A/B) und darüber BERNARD MCGINN: Die Mystik im Abendland, Bd. 2., Freiburg i. Br. u. a. 1996, S. 222f.: Petrus Damiani lässt Romuald schildern, wie er sich während des Aufenthalts in seiner geliebten Einsiedelei Fonte Avellana der persönlichen Erfahrung von Gottes Gegenwart erfreute: „Ich erblickte oft in einer unmittelbaren Wahrnehmung meines Geistes Christus, mit Nägeln ans Kreuz geheftet, und ich empfing durstig mit meinem Mund sein herabtropfendes Blut.“ „Saepe cernebam praesentissimo mentis intuitu Christum clavis affixum, in cruce pendentem, avidusque suscipiebam stillantem supposito ore cruorem.“ Zu beachten ist, wie hier die größtmögliche Naherfahrung der Präsenz Christi als eine meditative und kontemplative ‚communio‘ des Sehens, Berührens und Trinkens beschrieben wird – eine sprachlichimaginative Verdichtung dessen, was dann die Texte und Bilder des Spätmittelalters auf vielfältige Weise weiterführen. 24 Vision des hl. Bernhard, kolorierter Einblattholzschnitt auf Papier 28,2 x 20,4 cm, Werk des Jörg Haspel zu Bibrach; Exemplar: Wien, Albertina, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 1930 / 133; Schreiber Nr. 1271; Abbildung und Beschreibung (durch Jean Wirth) in: Ausstellungskatalog: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod (wie Anm. 14), S. 266f., sowie (durch Karin Tebbe) in: Ausstellungskatalog: Spiegel der Seligkeit (wie Anm. 21), S. 207, Nr. 41. 25 Eine Dominikanerin umarmt den Passionschristus, Miniatur auf Papier, eingeklebt in ein Stundenbuch, 14,8 x 11,0 cm, vermutlich von einer Nonne des Klosters gemalt; Straßburg, Bibliothèque du Grand Séminaire, Ms. 755, fol. 1; Abbildung und Beschreibung (durch Philippe Lorentz) in: Ausstellungskatalog: Bildersturm (wie Anm. 8), S. 264f., Nr. 114. Bemerkenswert ist, dass die Blutströme des Gemarterten trotz der innigen Umarmung nicht die Hände und das weiße Gewand der Dominikanerin beflecken. Eine eindrucksvolle Parallele dazu bietet eine kolorierte Federzeichnung der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (?), die wohl in einem niederrheinischen Zisterzienserinnenkloster entstand; Köln, Schnütgen-Museum, Inv.-Nr. M 340; Abbildung und Beschreibung (durch Karin Tebbe) in: Ausstellungskatalog: Spiegel der Seligkeit (wie Anm. 21), S. 206f., Nr.

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Blatt eine Nonne in dominikanischer Tracht, die nicht nur passiv vom sich herabneigenden, blutüberströmten Christus umfangen wird, sondern ihn – ähnlich wie Bernhard auf dem Holzschnitt – auch aktiv mit ausgestreckten Armen umarmt. Es ist ein wechselseitiges Geben und Empfangen in sich hingebender Liebe. Ganz in diesem Sinne formuliert das Inschriftband den gereimten Appell Jesu: „O mein Kind, gib mir dein Herz, so wird gemildert mein großer Schmerz! Empfange mich in deine Arm, dass ich mich deiner ewiglich erbarm!“26 Das körperlich-sinnliche Bild des Umarmens und Berührens ist das intensivste Ausdrucksmedium für die schon im Diesseits mögliche Erfahrung der Heilsnähe in persönlicher Begegnung mit Gott. In diesen taktilen Symbolbereich gehören auch die Bilder des Küssens und Schmeckens. Kein anderer Körpersinn kann die Unmittelbarkeit, Intimität, Innigkeit und vertraute Nähe des persönlichen Kontakts zur rettenden Heiligkeit so deutlich zum Ausdruck bringen wie die Sphäre des Berührens und Schmeckens27. Sie ist daher besonders dafür geeignet, den Drang einer mystischen Frömmigkeit nach Unmittelbarkeits-, Präsenz- und Naherfahrung Gottes zu artikulieren. Die liebevolle Umarmung und Berührung, wie sie auf dem Bernhard-Holzschnitt und der Nonnen-Miniatur dargestellt wird, ist selbstverständlich als seelischer, geistig-affektiver Vorgang gemeint, der freilich, wie entsprechende Texte aus Frauenklöstern zeigen, auch eine somatische Erlebnisdimension mit einschließen kann28. Alle bisher vorgestellten Bildbeispiele, angefangen mit dem Kupferstichblatt des Meisters E. S. (Abb. 1), zielen auf verinnerlichende Nah-Vergegenwärtigung der heilvollen Passion und Geburt Christi in der Kontaktsphäre der Meditation, die eine kontemplative Verinnerlichung (‚Einbildung‘) der Bilder integriert.

40; HAMBURGER: Nuns (wie Anm. 21), S. 1f. mit Abb. 1, Farbtafel 1 (gegenüber S. 134): Bernhard von Clairvaux und eine Nonne knien unter dem blutroten Körper des gekreuzigten Christus, von dem Blutströme herabtropfen. Obwohl Bernhard und die Nonne die Beine des Gekreuzigten und den Stamm umfangen, bleiben ihre Hände und ihr Habit unberührt vom Blut Christi. TEBBE bemerkt dazu treffend: „Formal werden hier die Realitätsebenen zwischen Christus und den Devotionsfiguren getrennt. Selbst wenn die Darstellung Intimität und Nähe zu Christus suggeriert, so wird doch deutlich gemacht, dass es sich um eine innere Schau handelt, die hier gezeigt wird.“ Die Kontemplation Bernhards und der Nonne im Bild soll sich auf den meditativ-kontemplativen Umgang der Bildbetrachterinnen und –betrachter mit der sühnenden und reinigenden Passion Christi übertragen. 26 „O myn kint gib mir din hertz so wurt gemiltert myn grosser smertz entpfo mich jn din arm dz ich mich dyn ewigclich erbarm.“ 27 Vgl. HAMM: „Gott berühren“ (wie Anm. 22), hier besonders S. 125–129. 28 Vgl. ebd., S. 122f., und STEINKE: Bräutigam (wie Anm. 22), S. 143.

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Abbildung 6: Jörg Haspel zu Bibrach, Vision des hl. Bernhard von Clairvaux, kolorierter Einblattholzschnitt, um 1450, Süddeutschland

Abbildung 7: Eine Dominikanerin umarmt den Passionschristus, Miniatur aus einem Straßburger Stundenbuch, 2. Hälfte 15. Jh.

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6. Die Basismedialität Christi, Marias, der Heiligen und Engel (1. Typ der Gnadenmedialität) und die darauf bezogene Partizipationsmedialität (2. Typ der Gnadenmedialität) Damit komme ich zurück zu meinem Versuch einer Typologie der Gnadenund Heilsmedialität. Als Medialität erster Ordnung bezeichnete ich das Heilsgeschehen Jesu Christi, die Gnaden- und Heilsmittlerschaft des Erlösers, der sich in seiner Kondeszendenz der Menschwerdung und des Leidens so zum Elend des Menschen herabneigte, wie man es in der Weise Bernhards visionär und meditativ nacherleben konnte. Aus mittelalterlicher Sicht war dies das grundlegende Kommunikations- und Kontaktgeschehen zwischen Gott und der sündigen Menschheit, die Basismedialität des Heils. Einbezogen in diese Medialität erster Ordnung ist die gnadenreiche Mitwirkung Marias, der Heiligen und der Engel. Durch ihre mitleidende und passionsförmige Heiligkeit bilden sie mit Jesus Christus zusammen jene ursprüngliche Gnaden- und Schutzmedialität, aus der alle anderen Medialitäten des Heils abgeleitet sind29. Von dieser erstursächlichen Basismedialität, dieser Ursprungskommunikation der Gnadennähe, unterscheide ich nun eine Heilsmedialität zweiter Ordnung, die man auch als Partizipationsmedialität bezeichnen kann, sofern es hier um die Zueignungs- und Aneignungsmedien der nahen Gnade geht. Auf dieser medialen Ebene steht die Meditation; ist sie doch mit ihrem Zeichengefüge und mit ihren semantischen Bezügen ein Partizipationsmedium, durch das dem meditierenden Menschen die Basismedialität gnadenreicher Heiligkeit zugeeignet und von ihm subjektiv-aktiv angeeignet wird, und zwar nicht nur die heiligende, schützende und rettende Kraft Christi, sondern auch die Marias, der Heiligen und Engel. Meditativ wird ihm ihre rettende Gnadenwirkung, ihre schützende Begleitung und ihre Fürsprache vor Gott, ihre Interzession, erschlossen.

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Hier ist insbesondere auf die ‚Repräsentationsfrömmigkeit‘ des Mittelalters zu verweisen: In den Heiligen und ihrer Christusnachfolge wird Christus selbst – per modum repraesentationis – gegenwärtig; und als Repräsentanten Christi sind die Heiligen mit Christus zusammen Heilsmittler. Vgl. VOLKER LEPPIN: Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation, in: Mario Fischer und Margarethe Drewsen (Hg.): Die Gegenwart des Gegenwärtigen. Festschrift Gerd Haeffner, Freiburg i. Br. / München 2006, S. 376–391; DERS.: Christus nachfolgen – Christi Nähe erfahren – Christus repräsentieren. Zur Glaubenswelt Elisabeths von Thüringen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 118 (2007), S. 320–335.

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7. Partizipationsmedien: ihre schwierige und mühelose Zugänglichkeit (Beispiele: Bibel, Bußsakrament, Messkommunion, Reliquien, Ablässe, ‚Vera Icon‘, ‚Imago pietatis‘) Die Meditation ist auf dieser zweiten Ebene der Medialität selbstverständlich nur ein wichtiges Medium neben zahlreichen anderen Medien, die alle der Gnaden- und Heilsvermittlung dienen, häufig in Kombination mit der Meditation und in Verknüpfung untereinander: z. B. die Heilige Schrift, die Sakramente und Sakramentalien, die Predigt, Ablässe, Gnadenbilder und Reliquien, das Glaubensbekenntnis oder das Gebet. Einen Sonderfall stellt das Altarsakrament dar, denn hier fallen durch die Realpräsenz des Passionsleibes Christi die heilsbegründende Medialität und die Partizipationsmedialität zusammen: Das Essen und Trinken des wahren Leibes Christi ermöglicht die unmittelbarste Gnadennähe in völliger Überwindung jeder zeitlichen und räumlichen Distanz zu Golgatha. Hervorheben aber möchte ich vor allem, dass diese Partizipationsmedien nicht eo ipso eine Medialität der nahen Gnade anbieten, also eine mühelos zugängliche Gnade in unmittelbarer Reichweite des hilfsbedürftigen Menschen. Das kann in bestimmten Konstellationen so sein, muss aber nicht sein. So ist z. B. die Bibel, insbesondere für einen nicht-lateinkundigen Menschen des Mittelalters, normalerweise ein schwer zugängliches Heilsmedium; sie kann aber in der Form volkssprachlicher Textauszüge, also etwa in deutschsprachigen Perikopenbüchern oder Plenarien, im ausgehenden Mittelalter relativ leicht erreichbar und lesbar sein30. Für den Zeitraum 1473 bis 1523 lassen sich allein über fünfzig hochdeutsche Druckausgaben von Perikopenübersetzungen mit ihren Glossen nachweisen31. Die priesterliche Absolution des Bußsakraments kann von Theologen, Predigern und Beichtvätern als keineswegs mühelos zu erreichende Gnade dargestellt werden, wenn sie für die Gültigkeit des Sakraments auf Seiten des Pönitenten eine wahre Reue (vera contritio) zur notwendigen Bedingung machen. Das Problem lag vor allem darin, dass ein bußwilliger Mensch nicht mit Sicherheit feststellen konnte, ob sein Schmerz über die Sünden wirklich 30 Vgl. HEIMO REINITZER und OLAF SCHWENCKE: Artikel ‚Plenarien‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 7 (1989), Sp. 737–763; NIGEL F. P ALMER: Bibelübersetzung und Heilsgeschichte. Studien zur Freiburger Perikopenhandschrift von 1462 und zu den deutschsprachigen Lektionaren des 15. Jahrhunderts, Berlin / New York 2007. 31 Vgl. P AUL P IETSCH: Ewangely und Epistel Teutsch. Die gedruckten hochdeutschen Perikopenbücher (Plenarien) 1473–1523. Ein Beitrag zur Kenntnis der Wiegendrucke, zur Geschichte des deutschen Schrifttums, insbesondere der Bibelverdeutschung und der Bibelsprache, Göttingen 1927.

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den Anforderungen einer wahren Liebesreue genügt oder nicht. Andererseits gab es – vor allem unter dem Einfluss der skotistischen Bußlehre – die Gegenposition, die das Bußsakrament als Medium der mühelos zugänglichen Gnade propagierte, indem sie betonte: Notwendige Voraussetzung für eine wirksame Absolution ist nicht die vollkommene, wahre Reue, sondern es reicht eine affektiv schwächere unvollkommene Reue, die so genannte ‚attritio‘, die dann durch die priesterliche Wirkung des Bußsakraments auf die höhere Ebene der echten ,contritio‘ emporgehoben wird32. So kann auch der größte Sünder, wenn er nur tut, was in seinen Kräften steht, sakramental gerettet werden – eine Dimension der nahen Gnade, die den bereits erwähnten Erfurter Theologen Johannes von Paltz zu der hymnischen Aussage hinriss: „Gott der Herr ist barmherziger und freigebiger durch die Priester als durch sich selbst […], denn Gott wirkt mehr Wohltaten durch Vermittlung der Priester als ohne sie und ohne das Priesteramt würde er nur ganz wenige [paucissimi] retten.“33 Die Problemstellung der wahren Buße, d. h. der echten Reue, der vollständigen Beichte und des ernsthaften Vorsatzes zur Besserung, zeigt, wie sehr auch der Zugang zur Abendmahlskommunion, zur Partizipation am real präsenten Passionschristus, durch die geforderte Voraussetzung der rechten Vorbereitung und Würdigkeit des Empfängers erschwert werden konnte34. Grundsätzlich verband sich mit der Partizipationsmedialität des Mittelalters die Problematik, welche Qualität und Aktivität, Mühe und 32 Vgl. VALENS HEYNCK: Zur Lehre von der unvollkommenen Reue in der Skotistenschule des ausgehenden 15. Jahrhunderts, in: Franziskanische Studien 24 (1937), S. 18– 58; BERNDT HAMM: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (= Beiträge zur historischen Theologie 65), S. 275–284. 33 „Ex quibus sequitur, quod dominus deus est magis misericors et liberalior per sacerdotes quam per se ipsum loquendo non quantum ad naturam suam, sed quantum ad effectum et exhibitionem, quia plura beneficia exhibet mediantibus sacerdotibus quam sine ipsis; quia sine ministerio sacerdotum paucissimos salvaret [...].“ J OHANNES VON P ALTZ: Coelifodina, ed. Christoph Burger, Friedhelm Stasch = Paltz: Werke 1, Berlin / New York 1983 (= Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 2), S. 264,6–10. Zu Paltz’ Attritionslehre und ihrem seelsorgerlichen Impetus der Erleichterung des Zugangs zum Heil für die große Menge der Sünder vgl. B ERNDT HAMM: Wollen und Nicht-Können als Thema der spätmittelalterlichen Bußseelsorge, in: ders. und Thomas Lentes (Hg.): Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 15), S. 111–146, hier S. 114–122. 34 Vgl. die Diskussion über die rechte Vorbereitung und Würdigkeit für den – die echte Buße voraussetzenden – heilsamen Abendmahlsempfang in den Eucharistietraktaten und -predigten des Spätmittelalters; dazu exemplarisch ANTJE W ILLING: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster, Münster 2004 (= Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4).

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Würdigkeit vom Menschen gefordert sind, um der Gnadenschätze Christi und der Heiligen teilhaftig werden zu können. Denn stets und auf unterschiedlichste Weise ist mit der objektiven Präsenz- und Zueignungsmacht des Mediums seine subjektive Aneignungsdimension kombiniert. Auch Reliquien und Ablässe konnten alles andere sein als mühelos zu erreichende Medien der Gnadenpräsenz. Als eindrückliches Beispiel erwähne ich nur das berühmte Schweißtuch der Veronika, jene in der alten Peterskirche zu Rom aufbewahrte Tuchreliquie, die nach spätmittelalterlichem Glauben den realen Abdruck des Leidensantlitzes Christi, die ‚Vera icon‘, darbot35; wer zu ihr „von jenseits des großen Gebirges“ nach Rom wallfahrtete, erhielt dort, wie es in den meisten (differierenden) Zahlenangaben hieß, einen päpstlichen Ablass von 12.000 Jahren und mehr36 – eine ferne Berührungsreliquie Jesu und damit auch eine ferne Gnade, die nur strapaziös zu erreichen war. Durch die unermesslich vielen Repliken dieses heiligsten Kult- und Gnadenbildes des Abendlandes, die es zusammen mit seiner Ablasswirkung überallhin transferierten, wurde die ‚Vera icon‘ aber im ausgehenden Mittelalter geradezu ein Massenmedium der nah-präsenten Gnade. Der Betrachter musste nicht mehr zum Bild kommen, sondern das Bild kam zum ihm37. Unzählig viele Menschen konnten dieses Christusantlitz in Kirchen und Privaträumen oder auf vervielfältigten Einblattdrucken anschauen, kontemplativ ihrer Seele einprägen und durch ein andächtiges Gebet vor dem Bild seine Ablasswirkung abrufen38. Ein kolorierter Ulmer

35 Zur Legende des Schweißtuchs (Sudarium) der hl. Veronika und zur Bildtradition vgl. Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 2), S. 313f., Nr. 100 (verfasst von Peter Parshall, mit Literatur in Anm. 1). 36 Zu der häufigsten Zahlenangabe von 12.000 Jahren und mehr, z. B. „12.000 Jahre Ablaß und 12.000 Karenen [= Einheiten von 40 Tagen]“, vgl. N INE ROBIJNTJE M IEDEMA: Die römischen Kirchen im Spätmittelalter nach den ‚Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‘, Tübingen 2001 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 97), S. 326f. (Nr. 17), 368, 374f., 378–380, 382, 385. 37 Vgl. GERHARD W OLF: Das Paradox des wahren Bildes, in: Ausstellungskatalog: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod (wie Anm. 14), S. 430–433. 38 Zur Quantität dieses Vera-icon-Ablasses fern von Rom vgl. N IKOLAUS P AULUS: Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt, 2. Aufl., 2000, S. 250: „Für ein Gebet zum heiligen Antlitz wird öfters ein Ablaß von 10 000 Tagen verheißen, den Johann XXII. erteilt haben soll. Bisweilen ist auch von 10 000 Jahren die Rede, zudem von 6000 Jahren, die einem Papst Eugen zugeschrieben werden. In einem Holzschnitt [s. Anm. 39/40, Abb. 8] wird erklärt: ‚So fil sind gegeben tag applas und karen [Einheiten von 40 Tagen] disem gebet, das ich sy hie nit künd wol begriffen.‘ Der Herausgeber von ‚Jubilacio animae‘ verheißt für die Verehrung des Veronikabildes 30 000 Jahre und 12 720 Tage. Der Ablaß von 30 000 Jahren wird in verschiedenen Schriften auf Papst Silvester zurückgeführt.“

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Einblattholzschnitt von ca. 1482 (Abb. 8)39 bietet ein schönes Beispiel für diese stereotype Kombination von ‚Vera icon‘, Gebet und Ablasszusage40. Die Nachbildungen der ‚Vera icon‘ waren ein typisches GnadentransferPhänomen, wie es auch bei anderen römischen Gnadenbildern zu beobachten ist, die ebenfalls ein bestimmtes Ablassquantum garantierten und durch ihre Kopien im Abendland multiplizierten41. Man denke besonders an die 39

Das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch, kolorierter Einblattholzschnitt auf Papier, 12,9 x 11,2 cm, gedruckt bei Konrad Dinckmut; Exemplar: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inv.-Nr. H 96; Abbildung und Beschreibung (durch Peter Schmidt) in: Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 2), S. 240– 242, Nr. 71. 40 Der typographisch gedruckte Gebetstext „Griest siestu hailiges antlit“ enthält die Bitte an das Antlitz des Erlösers, die Betenden vor den schädlichen Folgen der Sünden zu beschützen und sie ins himmlische Vaterland zu führen, um dort in der Gemeinschaft der Seligen das Antlitz Christi schauen zu können. Es handelt sich – laut Schmidt (wie Anm. 39) – um die Übertragung einer seit dem 14. Jahrhundert nachweisbaren Kurzredaktion des lateinischen Hymnus ‚Salve sancta facies‘, der Papst Johannes XXII. (1316–1334) zugeschrieben wird. Dieser Papst soll auch die Verknüpfung von verehrungsvoller Betrachtung des Veronikabildes, Gebet des Hymnus ‚Salve sancta facies‘ und Ablassbewilligung (vgl. Anm. 38) begründet haben. Der Text der Kurzfassung des Hymnus lautet: „Salve sancta facies / nostri redemptoris, / in qua nitet species / divini splendoris, / inpressa panniculo / nivei candoris / dataque Veronicae / signum ob amoris. // Salve decus saeculi, / speculum sanctorum, / quod videre cupiunt / spiritus coelorum; / nos ab omni macula / purga vitiorum / atque nos consortio / junge beatorum. // Salve nostra gloria / in hac vita dura, / labili et fragili, / cito transitura; / nos perduc ad patriam, / o felix figura, / ad videndam faciem, / quae est Christi pura. // Esto nobis, quaesumus, / tutum adjuvamen, / dulce refrigerium / atque consolamen, / nobis ut non noceat / hostile gravamen, / sed fruamur requie. / omnis dicat: amen.“ Text nach FRANZ X AVER MONE: Lateinische Hymnen des Mittelalters, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1854. Nachdruck: Aalen 1964, S. 155f., Nr. 119; zur Überlieferung des Gebetshymnus auf Einblattdrucken vgl. FALK EISERMANN: Medienwechsel – Medienwandel. Geistliche Texte auf Einblattdrucken und anderen Überlieferungsträgern des 15. Jahrhundert, in: Wolfgang Harms und Michael Schilling (Hg.): Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit. Wolfenbütteler Arbeitsgespräch 1997, Frankfurt/M. 1998 (= Mikrokosmos 50), S. 35–58, hier S. 41– 43. – Die Ablassverheißung (zit. von Paulus in Anm. 38) ist in ihrer vagen Unbestimmtheit auffallend und ungewöhnlich: Sie deutet einen immensen Nachlass zeitlicher Sündenstrafen an, ohne ihn in der üblichen Weise zu quantifizieren. Es gibt allerdings Parallelen; vgl. M IEDEMA: Die römischen Kirchen (wie Anm. 36), S. 368: „unzählbar großer Ablaß“ beim Zeigen des Veronika-Tuches (drei Belege). 41 Vgl. außer dem Folgenden z. B. auch die Wiederholungen des berühmten Gnadenbildes von Santa Maria del Populo in Rom (einer Madonna in Halbfigur mit dem Jesuskind auf dem Arm), das mit dem Ablassgebet ‚Ave sanctissima Maria‘ kombiniert wird; zur Einblattdruck-Überlieferung am Ende des 15. Jahrhunderts vgl. GRIESE: Text-Bilder (wie Anm. 11), S. 300–309; zur gleichen Präsentation von Gnadenbild, Gebet und Ablassversprechen auf einem Augsburger Triptychon-Gemälde der 1490er Jahre vgl. Ausstellungskatalog (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg): Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Frankfurt a. M. 1983, S. 49f., Nr. 48 (Hartmut Boockmann). –

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sog. ‚Imago pietatis‘, eine in der römischen Kirche Santa Croce in Gerusalemme aufbewahrte Mosaikikone, ein Porträt des toten Schmerzensmanns42, das im 15. Jahrhundert durch immens viele und sehr variable Darstellungen der Gregorsmesse Verbreitung fand43 – wie etwa durch das Epitaphbild der Nonne Dorothea Schürstab (Abb. 9), das um 1475 in der Kirche des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharina angebracht wurde44. Ihre hohe Dignität erhielt diese ‚Figur‘ der ‚Imago pietatis‘ dadurch, dass sie als authentische, real vergegenwärtigende Verbildlichung jener Schmerzensmann-Vision galt, die Papst Gregor I. (590–604) laut der Legende einst bei der Messfeier in Santa Croce empfangen hatte. Durch den Bildtransfer der Gregorsmesse wurde also ebenso wie durch die Repliken der ‚Vera icon‘– die übrigens auf dem Schürstab-Epitaph mit der ‚Imago pietatis‘ zusammen abgebildet ist – eine Art von Realpräsenz des gemarterten Christus überallhin transportiert; und so wurden die Gnadenschätze der Passion im vervielfältigten Bild geradezu sakramentalienhaft und zugleich durch die kirchenrechtlich garantierte Effektivität des Ablasses allgegenwärtig. Die Ablassinschrift auf dem Schürstab-Epitaph versprach daher allen andächtigen Bildbetrachtern in Nürnberg denselben Ablass, der für Rompilger durch den Besuch der Basilika Santa Croce zu erlangen war45. Zu anderen römischen Beispielen vgl. GERHARD W OLF: Salus Populi Romani. Die Geschichte römischer Kultbilder im Mittelalter, Weinheim 1990. 42 Vgl. HANS BELTING: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin, 3. Aufl., 2000, besonders S. 66f. mit Abb. 14 (S. 65). 43 Vgl. ESTHER MEIER: Die Gregorsmesse. Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtypus, Köln 2006; ANDREAS GORMANS und THOMAS LENTES (Hg.): Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter, Berlin 2007 (= KultBild 3). 44 Meister des Veldener Hochaltarretabels, Epitaph der Dorothea Schürstab (gest. 1475) mit der Messe des hl. Gregor, Malerei auf Tannenholz, 128 x 92 cm; Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Gm 521. Vgl. dazu HAMM: Die Nähe des Heiligen (wie Anm. 1), hier S. 197–219. 45 Die Ablassinschrift, die sich an verbreiteten Standardformulierungen orientiert, beginnt mit den Worten: „Wer dise figur kniennd ert mit einem pater noster und ave maria, der hat von der erscheinung, die sant gregorius erschain in ainer kirchhen, dy heist portacrucis [gemeint: Santa Croce in Gerusalemme], den selben ablas der selben kirchen, des ist 30.000 iar ablas [...].“ Es folgt noch die Nennung weiterer, kleinerer Ablassbewilligungen für die Personen, die in dieser Weise vor dem Epitaph andächtig beten: von zwei Päpsten je 20 Jahre, von 43 Bischöfen je 40 Tage und von 30 weiteren Päpsten je 200 Tage Ablass (vgl. die Transkription bei HAMM ebd., S. 201, Anm. 54). Im Blick auf die popularisierende Verbreitung und Nahvergegenwärtigung dieser ‚römischen Gnade‘ ist es interessant, dass es zahlreiche Einblattdrucke aus der gleichen Zeit, einige älter als das Epitaph, gibt, die genau diese Kombination von Gregorsmesse und Ablassversprechen bieten, oft mit den gleichen Formulierungen „Wer diese Figur kniend ehrt usw.“, aber mit sehr variablen Zahlenangaben, was die Menge der geforderten Gebete, die erwähnten

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Abbildung 8: Das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch der Veronika, kolorierter Einblattholzschnitt, um 1482, Ulm.

Päpste und Bischöfe und die Ablassquantitäten betrifft. Vgl. die vorzügliche Übersicht bei GUNHILD ROTH: Die Gregoriusmesse und das Gebet „Adoro te in cruce pendentem“ im Einblattdruck. Legendenstoff, bildliche Verarbeitung und Texttradition am Beispiel des Monogrammisten d. Mit Textabdrucken, in: Volker Honemann u. a. (Hg.): Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000, S. 277–324.

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Abbildung 9: Meister des Veldener Hochaltars, Epitaph der Dominikanerin Dorothea Schürstab mit Gregorsmesse, um 1475, ehemals St. Katharina Nürnberg

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8. Die Erleichterungs- oder Hilfsmedialität (3. Typ der Gnadenmedialität) Mit dieser Erwähnung des räumlichen und medialen Transfers der fernen und mühsam zu erreichenden römischen Gnade in eine nahe, mühelos verfügbare Gnade vor Ort bin ich bereits beim dritten Typ der Medialität des Heils angelangt. Er wird in den Vervielfältigungen der ‚Vera icon‘ und der ‚Imago pietatis‘ mit massiver Deutlichkeit präsentiert. Während die Medialität des zweiten Typs, die ich als Partizipationsmedialität bezeichnete, durchaus Aspekte eines schwierigen und sogar elitären Heilserwerbs enthalten kann, rückt die dritte Art der Medialität Gnade und Heil generell in leicht erreichbare Nähe. Daher kann man sie vielleicht am besten als Erleichterungs- oder Hilfsmedialität der Gnade bezeichnen. Es kommt aber nicht auf die Etikettierung an, sondern auf die Wahrnehmung dieses eigenen, dritten Typs von Medialität im späten Mittelalter. Er ist uns bereits auf Schritt und Tritt in allen Bildbeispielen der Einblattdrucke und gemalten Miniaturen begegnet. Indem sie den Betrachterinnen oder Betrachtern ein Bild des kindlichen und leidenden Erlösers, seines geöffneten Herzens, seiner Wunden, seines Bluts und seiner umarmenden Nähe vor Augen stellten und ihnen auf den Bildinschriften in deutscher Sprache eine einprägsam belehrende, appellierende und anleitende Botschaft nahebrachten, wollten sie die meditative Andacht des Herzens, sein erinnerndes, innerlich betrachtendes und liebendes Sich-Versenken in die Gnadenschätze Christi befördern und erleichtern. Meditation als Tätigkeit des menschlichen Geistes kann ein höchst anspruchsvolles Partizipationsmedium sein, ein mühsamer Weg zum Heil. Durch die Bilder und ihre Inschriften aber soll Meditation erleichtert werden. Man hat hier deutlich den medialen Dreischritt vor Augen: die Medialität der Heilsmittlerschaft Jesu Christi, die Medialität der Meditation als vergegenwärtigender Partizipation an diesem Christusgeschehen und die materiell-technische Medialität eines Bildblattes, das diesen meditativen Kontakt zwischen der Seele und Christus als nah erreichbare Gnade präsentieren möchte. In analoger Weise zeigte auch das Beispiel der ‚Vera icon‘ (Abb. 8) den medialen Dreischritt: das Medium des leidenden Christus und seines gemarterten Gesichtes, das Medium des Schweißtuches der Veronika mit dem Abdruck des Leidensgesichtes Christi und das Medium der bildlichen Vervielfältigungen des Schweißtuches.

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9. Beispiele für die leichte Erreichbarkeit der nahen Gnade: Elevation der Hostie, Heiltumsweisungen, Ostensorien, Schauspiele, handelnde Bilder, Lieder Der dritte Medientyp der erleichternden und unterstützenden Medialität hat also sehr viel mit der Materialität von Bild und Text und mit der Körperlichkeit des Sehens, der anderen Körpersinne und der physischen Aktivität wie Hingehen und Niederknien zu tun. Beim Stichwort ‚Sehen‘ denke man z.B. an die im ausgehenden Mittelalter so übliche feierliche Elevation der Hostie, die den Gläubigen und ihrer drängenden Schaudevotion die mühelose Augenkommunion bei den täglichen Messfeiern ermöglichte46; oder man denke an die großen Heiltumsweisungen in München/Andechs, Nürnberg, Augsburg, Regensburg und andernorts47 oder an die vielen Reliquienpräsentationen in kostbaren Schaubehältern (Ostensorien), die den unmittelbaren Sehkontakt zu den heiligen Gebeinen erleichterten48. Sehen und Hören war für die Gläubigen auf mitreißende Weise in den geistlichen Schauspielen des Spätmittelalters49 oder auch in der dramatischen Darstellung ‚handelnder Bilder‘ während des Gottesdienstes verbunden50. Das 46 Vgl. PETER B ROWE: Die Elevation in der Messe, in: Bonner Zeitschrift für Theologie und Seelsorge 8 (1931), S. 20–66; wieder in: ders.: Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. Mit einer Einführung hg. von Hubertus Lutterbach und Thomas Flammer, Münster / Hamburg / London 2003 (= Vergessene Theologen 1), S. 475–508. 47 Vgl. HARTMUT KÜHNE: Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum, Berlin / New York 2000 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 75). 48 Vgl. BRUNO REUDENBACH: Heil durch Sehen. Mittelalterliche Reliquiare und die visuelle Konstruktion von Heiligkeit, in: Markus Mayr (Hg.): Von Goldenen Gebeinen. Wirtschaft und Reliquie im Mittelalter, Innsbruck u. a. 2001, S. 135–147. 49 Vgl. BERND NEUMANN: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde, München 1987 (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84 / 85); exemplarisch DOROTHEA FREISE: Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt – Friedberg – Alsfeld, Göttingen 2004 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178). 50 Vgl. JOHANNES TRIPPS: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zur Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, Berlin, 2. Aufl., 2000; vgl. auch die Bildbeispiele und -erklärungen des Abschnittes ‚Handelnde Bilder im Kirchenjahr‘ im Ausstellungskatalog: Bildersturm (wie Anm. 8), S. 218–243, Nr. 74–92, z. B. S. 235, Nr. 86 (Abbildung und Beschreibung durch Johannes Tripps): bemalte Ostergrabtruhe aus St. Martin in Baar ZG (um 1430), heute in Zug, Museum in der Burg; diese Truhe fand wie andere – seit dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts nachweisbare – Heiliggrabtruhen in der Liturgie von Karfreitag bis Ostersonntag Verwendung: „In ihnen wurde die Hostie samt einem Grabchristus oder einem Kruzifix mit beweglichen Armen beigesetzt. Oftmals standen Kerzen haltende Engelsfiguren

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waren mediale Inszenierungen der nahen Gnade – wie auf andere Weise auch die spätmittelalterlichen Lieder, die, durch Handschriften und Drucke verbreitet, in Ordenskonventen, klosterähnlichen Laiengemeinschaften wie denen der Devotio moderna51 oder sogar im allgemeinen Gemeindegottesdienst gelesen und gesungen wurden, um der meditativen und betenden Vergegenwärtigung des Heils zu dienen. Ein schönes Beispiel für eine derartige mediale Funktion des Liedes ist der deutsche geistliche Gesang ‚Es kommt ein Schiff geladen‘52, der aus dem dominikanischen Bereich, vielleicht von Johannes Tauler, stammt und die für das ausgehende Mittelalter so typische Jesuskind-Devotion thematisiert und popularisiert. In einer Überlieferung um 145053 lauten die beiden letzten Strophen ohne den Marienrefrain: „Es liget in der kribben, das liebe hubsche kindelin. Es ist unser broder worden, gelobet muß es sin. […] So wer das kint wilt kussen fur sinen roten munt, der enphohet groessen glusten [= empfängt große Lust] von im zu der selber stunt.“54

Typisch für das spätmittelalterliche vermenschlichte Christusbild ist, wie hier der inkarnatorische Grund der göttlichen Nähe benannt wird: Weil um das Grab und bewachten es. Das Grab mit dem darin liegenden Heiland stand bis zum Abend des Ostersamstags zur Andacht offen. Chorschüler hielten die Totenwache und sangen. Am Ostersonntagmorgen erhob man zum Zeichen der Auferstehung ein Kreuz aus dem Grabe und stellte es auf den Kreuzaltar. Statt des Kreuzes konnte dies auch die Figur eines auferstandenen Christus sein.“ Der plastische Passionschristus der Grabtruhe aus Baar ist verloren. 51 Vgl. z. B. ULRIKE HASCHER-B URGER: Gesungene Innigkeit. Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio moderna (Utrecht, Universiteitsbibliotheek, Ms 16, H 34, olim B 113). Mit einer Edition der Gesänge, Leiden / Boston 2002 (= Studies in the History of Christian Thought 106); CHRISTOPH B URGER: Late Medieval Piety expressed in Song Manuscripts of the Modern Devotion, erscheint in: Ulrike Hascher-Burger und Hermina Joldersma (Hg.): Music in the Spiritual Culture of the Modern Devotion. Leiden/Boston 2009 (= Church History and Religious Culture 89), S. 19–35; DERS.: Auf dem Wege ins himmlische Vaterland. Ein neu entdeckter Zyklus von Liedtexten aus dem niederrheinischen Chorherrenstift Gaesdonck, in: Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra (Hg.): Himmel auf Erden/Heaven on Earth, Frankfurt a. M. u. a. 2009 (= Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 12), S. 23–56. 52 Vgl. die Darstellung der Überlieferung (von Christa Reich) in: HANS JAKOB B ECKER u. a. (Hg.): Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München 2001, S. 60–68, Nr. 4. 53 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz Ms. germ. oct. 53 (höchstwahrscheinlich aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster ‚St. Nicolaus in undis‘). 54 Text nach: Geistliches Wunderhorn (wie Anm. 52), S. 62.

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Christus ‚Bruder‘ der Menschen geworden ist, kann er für sie zum Herzenskind, Liebsten und Bräutigam werden und ihnen unverzüglich, ohne mühevolle Wege und nicht erst im Jenseits, sondern ‚zur selben Stund‘, die beseligende Wonne schenken. Die in die Krippe herabkommende Medialität des Gottmenschen ist verbunden mit der mystisch-meditativ verinnerlichenden Medialität des geistigen Küssens und der sinnlich-materiellen Medialität des schriftlich verbreiteten, gelesenen und gesungenen Liedes – die dreifache Medialität der nahen Gnade.

10. Die Popularisierungsdynamik der Erleichterungsmedialität und die Drucktechnik Wenn man an der Medialität des dritten Typs vor allem ihre Körperlichkeit, Materialität und sinnliche Wahrnehmbarkeit hervorheben muss, dann ist vor allem auch zu bemerken, wie sehr dies eine kumulierende, kombinierende und vervielfältigende Medialität mit hohem Popularisierungsdrang ist. So kombinierten die im späten Mittelalter Mode werdenden Prozessionen und Nahwallfahrten zur nur wenige Kilometer entfernten ‚nahen Gnade‘ der Gnadenbilder, Reliquien und wundertätigen Hostien die kollektive Tätigkeit des Laufens, Singens und Betens, des Niederfallens und Kniens vor dem Heiligtum und der andächtigen Berührung55. Wenn man dann am Gnadenort noch gedruckte Gnadenblätter erwerben konnte, ein Gnadenbildchen, ein Heiltumsblatt oder einen Ablassbrief, dann konnte man die so mühelos erreichbare Gnade sogar mit nach Hause nehmen und dort durch tägliches Gebet wirksam werden lassen56. 55 Zur exemplarischen Zunahme der elsässischen Wallfahrtsorte im Spätmittelalter (am Ende des 15. Jahrhunderts ca. 200) vgl. Ausstellungskatalog: Bildersturm (wie Anm. 8), S. 246; zu entsprechenden Frömmigkeitsphänomenen auf dem Gebiet des heutigen Bayern – das spätmittelalterliche Auftauchen von Spezialheiligen, deren Name sich an besondere Regionen, Gemeinden und Gnadenstätten knüpfte und dort durch Reliquienkult und Mirakelverkündigungen Nahwallfahrten und Prozessionen ins Leben rief (z. B. die hl. Achahildis in Wendelstein bei Nürnberg oder die hl. Radegundis von Wellenburg bei Augsburg) – vgl. B ERNDT HAMM: Theologie und Frömmigkeit im ausgehendenMittelalter, in: Gerhard Müller, Horst Weigelt, Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der Evangelischen Kirche in Bayern, Bd. 1 (Von den Anfängen bis 1800), St. Ottilien 2002, S. 159–211, hier S. 186–188 (mit Literatur). 56 Vgl. die Beispiele für Wallfahrtsbildchen, Pilgerzeichen und Schluckbildchen im Ausstellungskatalog: Bildersturm (wie Anm. 8), S. 246f., Nr. 95–97; S. 250, Nr. 101; S. 253, Nr. 104; S. 256f., Nr. 107–109. Zu den Schluckbildchen erläutert DOMINIK W UNDERLIN (ebd. S. 257): „Hierbei handelt es sich um Bogen, auf denen kaum briefmarkengrosse Reproduktionen von gelegentlich sogar kolorierten Gnadenbildern oder Heiligendarstellungen zu finden sind. Die einzelnen Bildchen waren zwischen 5 und 30 mm hoch. Der Käufer war darauf bedacht, dass der Bogen von einem Geistlichen geweiht worden

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Das immens vervielfältigende und popularisierende Medienphänomen des xylographischen und typographischen Drucks, vor allem nach 1470 / 80, führt die Medialität des dritten Typs mit ihrer innovativen Leistungkraft vielleicht am deutlichsten vor Augen. Man könnte vor allem auf den massenhaften Druck von Ablassbriefen und Ablassinstruktionen, wie sie von Falk Eisermann registriert und untersucht worden sind57, näher eingehen oder auch auf die frömmigkeitstheologische Gebrauchsliteratur der Volkssprache, die – wie beispielsweise das ‚Zeitglöcklein‘ des Bruder Berthold58 oder die erwähnte ‚Himmlische Fundgrube‘ des Johannes von Paltz59 – Meditationen und Gebete für Laien in wohldosierten Portionen und leserfreundlichem Layout anwendungsbezogen präsentiert. Solche kleinen Erbauungsschriften erlebten in wenigen Jahren zehn oder sogar zwanzig Druckauflagen60. Ich wende mich aber abschließend noch einmal dem illustrierten und textierten Einblattdruck zu, der meines Erachtens die neuen medialen Chancen einer kombinierten, vervielfältigten, preisgünstigen und auch inhaltlich popularisierten nahen Gnade am besten zu nutzen verstand.

und nach Möglichkeit auch mit dem betreffenden Kultgegenstand in Berührung gekommen war. Erkrankte nun zu Hause ein Angehöriger der Familie oder ein Haustier, schnitt man ein Bildchen von dem Bogen ab, und der Patient musste es hinunterschlucken. So verinnerlichte man sich die Hilfe und den Schutz des auf dem Bild abgedruckten Heiligen.“ Die ‚nahe Gnade‘ gewinnt hier also die Bedeutung der einverleibbaren heilenden Gnade. 57 Vgl. FALK E ISERMANN: The Indulgence as a Media Event. Developments in Communication through Broadsides in the Fifteenth Century, in: Robert Swanson (Hg.): Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe, Leiden / Boston 2006 (= Brill’s Companions to the Christian Tradition 5), S. 309–330. 58 Vgl. SABINE GRIESE: Das Andachtsbuch als symbolische Form. Bertholds Zeitglöcklein und verwandte Texte als Laien-Gebetbücher, in: Rudolf Suntrup, Jan R. Venstra, Anne Bollmann (Hg.): The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times. Medien der Symbolik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 2005 (= Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 5), S. 3–35. 59 Vgl. oben S. 51. 60 Zu den sieben deutschen und sieben lateinischen Druckausgaben des ‚Zeitglöckleins‘ von ca. 1488 bis ca. 1500 (samt einer ungewissen Zahl von Ausgaben des 16. Jahrhunderts) vgl. GRIESE: Das Andachtsbuch (wie Anm. 58), S. 29f.; zu den 21 Druckausgaben der ‚Himmlischen Fundgrube‘ von 1490 bis 1521 vgl. oben Anm. 16.

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11. Ein exemplarischer Einblattholzschnitt: die -Zweidimensionalität von Externität und Internität der Gnade, Eigentätigkeit und Gnadenhaftigkeit, klerikaler Gnadenvermittlung und Unabhängigkeit von der Hierarchie Als Beispiel möge ein um 1480 entstandener Einblattholzschnitt aus Süddeutschland dienen (Abb. 10)61. Das Bild zeigt die Golgathaszene. Der Text neben dem Bild formuliert ein Gebet an den Passionschristus, das mit dem Anruf beginnt: „O du allerliebster Herr Jesus Christus! Ich bitte dich durch die [alles] übertreffende Liebe, durch die du das menschliche Geschlecht liebgehabt hast, als du, himmlischer König, an dem Kreuz hingst mit göttlicher Liebe, mit gar sanfter Seele, mit gar trauriger Gebärde, mit betrübten Sinnen, mit durchstochenem Herzen, mit durchschlagenem Leib, mit blutigen Wunden […].“62 Nach weiteren vergegenwärtigenden Aussagen über die Leidensgestalt des Herrn artikuliert das Gebet den Inhalt der Bitte: „O du allerliebster Herr Jesus Christus! In derselben Liebe, aufgrund derer dein inbrünstiges Herz durchschnitten wurde, bitte ich dich, dass du mir gnädig seist über die Menge meiner Sünden und geruhst, mir ein gutes, seliges Ende meines Lebens zu geben und auch eine klare, fröhliche Auferstehung, um deiner großen Barmherzigkeit willen, der du mit Gott Vater und dem Heiligen Geist lebst und regierst immer und ewiglich. Amen.“63 Es folgt die Aufforderung, ein ‚Pater noster‘ und ein ‚Ave Maria‘ zu beten. Dem schließt sich eine Ablassverkündigung für die Betenden an: Papst Benedikt XII. (1334–1342) habe allen denen, die mit rechter Reue und Leid über ihre Sünden dies oben angeführte Gebet andächtig sprechen, und sooft sie es wiederholen, so viele Jahre Ablass gegeben, wie Wunden am Passionsleib Christi gewesen sind (nach verbreiteter Zählung 5.490 Wun61 Der Gekreuzigte zwischen den Schächern, Einblattholzschnitt auf Papier mit xylographisch gedrucktem Text, 35,2 x 25,3 cm; Exemplar: München, Staatl. Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 118.124; Schreiber Nr. 964. Vgl. SABINE GRIESE: ‚Dirigierte Kommunikation‘. Beobachtungen zu xylographischen Einblattdrucken und ihren Textsorten im 15. Jahrhundert, in: Harms, Schilling (Hg.): Das illustrierte Flugblatt (wie Anm. 40), S. 75–99, hier S. 91–94. 62 „O Du allerliebster herr ihesu criste Ich bit dich durch die übertreffenlich liebe / durch die du hast liebgehabt das menschlich Geslecht / da du himlischer künig hiengest an dem Creütz / mit götlicher liebe / mit gar senffter Sele / mit gar traurigem geperd / mit betrübten Sÿnnen / mit durchstochem herczen / mit durcherslagnem leib / mit plutigen wunden [...].“ 63 „O du allerliebster herr ihesu Christe in derselben lieb dardurch dein inprünstigs hercz durchsniten ward / Bit ich dich / Daz du mir seÿest gnedig / über die menig meiner sünd / vnd geruchest mir zugeben ein guts seligs ennde meines lebens / vnd auch ein clare fröliche vrstend / durch deiner grossen parmherczigkait willen / der du mit Got dem vater / und dem heiligen Geist / lebest / und regnirest ymer vnd ewigclich. Amen.“

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den)64. Diese Ablassbewilligung sei durch andere Päpste bestätigt worden. Das Blatt vereint noch einmal exemplarisch die drei Typen der Medialität, die ich unterschieden habe: die grundlegende Medialität des Heilswerks Christi, die Partizipationsmedialität des Gebets und des Ablasses und die erleichternde Hilfsmedialität eines gedruckten Blattes, das dem anleitungsund schutzbedürftigen Menschen ein ideales Mustergebet bietet und zugleich eine besonders günstige Form des Ablasses, der vor dem Blatt unterwegs oder zu Hause, so oft man will, abgerufen werden kann. Das Blatt zeigt damit zugleich eine charakteristische Zweidimensionalität der nahen Gnade nach mittelalterlichem Verständnis: Einerseits ist diese Gnade eine schützende und rettende Heiligkeit, die außerhalb des Menschen liegt, die Barmherzigkeit Gottes, die Stellvertretung Christi und die Fürsprache Marias und der Heiligen. Der Ablass ist eine typische Variante dieser von außen beschirmenden Gnade. Sie wird aber auch in dem Mustergebet durch die Bitte angerufen: „[…] bitte ich dich, dass du mir seiest gnädig über die Menge meiner Sünden.“ Andererseits aber erweist die Gnade ihre Nähe dadurch, dass sie im Menschen wirkt und in ihm eine neue Qualität der Andacht (devotio), der Liebe, Reue und Dankbarkeit schafft, das notwendige Pendant zur externen Gnadendimension. Ohne diese innere Entsprechung läuft das externe Versprechen, die Vergebungs-, Schutz- und Heilszusage Gottes, Christi, Marias, der Heiligen und der Engel, ins Leere der Wirkungslosigkeit. Dieser Zweidimensionalität von Externität und Internität entspricht jene andere Art der Zweiseitigkeit, von der bereits im Zusammenhang der sog. ‚Zweiseitigkeitsformel‘ die Rede war65: Wer eine bestimmte seelische Einstellung hat und etwas Bestimmtes tut, erhält dafür etwas Bestimmtes. Es handelt sich um eine latente Vertragsstruktur66, nach der das gesamte Sinngefüge der nahen Gnade funktioniert. Permanent wird in unzähligen Varianten die belehrende, appellative, ermahnende oder tröstende Botschaft vermittelt: Die Gnade ist nahe, sie steht sozusagen unmittelbar vor der Türe, vor deiner Herzenstüre oder Haustüre; du brauchst nicht viel tun, aber das Minimal-Notwendige musst du und kannst du tun, um dir die Gnade zu erschließen.

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So die populär gewordene Zahlenangabe in der ‚Vita Jesu Christi‘ des Ludolf von Sachsen, dem wohl verbreitetsten Andachtsbuch des Spätmittelalters. Vgl. ARNOLD ANGENENDT u. a. (Hg.): Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1–71, hier S. 45; GRIESE: Dirigierte Kommunikation (wie Anm. 61), S. 94, Anm. 47. 65 Siehe oben S. 45. 66 Vgl. SABINE GRIESE: Zitat in Anm. 11.

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Abbildung 10: Der Gekreuzigte zwischen den Schächern, Einblattholzschnitt, um 1480, Süddeutschland

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Die latente Vertragsstruktur, die hier durchscheint, ist im Grunde eine Anwendungsweise des sehr dehnbaren Axioms spätmittelalterlicher Theologie: Dem Menschen, der tut, was er kann, wird und kann Gott seine Gnade nicht verweigern („homini facienti quod in se est deus non denegat gratiam“)67. Dieses vom sündigen Menschen geforderte Tun ist sowohl eine innere Aktivität des Herzens als auch eine besondere Form äußerer Aktivität. Unser Passionsblatt gibt davon einen guten Eindruck, indem es die Wirkung des Ablassversprechens sowohl an Reue, Leid und Andacht als auch an das Aussprechen des vorformulierten Gebets bindet. Das vorhin erwähnte Nürnberger Schürstabepitaph (Abb. 9) fügt dem Beten noch die Körperdevotion des Niederkniens hinzu: „Wer diese Figur (des Schmerzensmanns) kniend ehrt mit einem Pater noster und Ave Maria“, hat soundsoviele Jahre und Tage Ablass68. Auch ein reales Küssen kann als Bedingung verlangt werden, so z.B. auf einem süddeutschen SeitenwundenEinblattdruck des ausgehenden 15. Jahrhunderts (Abb. 11)69, der jedem sieben Jahre Ablass verspricht, der die Wunde Christi auf dem Blatt „mit Reue und Leid, auch mit Andacht küsst, sooft er das tut“70. In die Zweisei67 Die Regel kann in der spätscholastischen Theologie auch lauten: „Homini facienti quod in se est deus infallibiliter dat gratiam.“ Noch in seiner Ersten Psalmenvorlesung (1513–1515) bezieht sich LUTHER zustimmend auf diesen Satz, indem er auch ausdrücklich die Rahmenstruktur des göttlichen Vertrags und Bundes (pactum) erwähnt: „Hinc recte dicunt doctores, quod homini facienti quod in se est deus infallibiliter dat gratiam, et licet non de condigno sese possit ad gratiam preparare, quia est incomparabilis, tamen bene de congruo propter promissionem istam dei et pactum misericordie.“ Martin Luther Studienausgabe, hg. von Hans-Ulrich Delius, Bd. 1, Berlin-Ost 1979, S. 89,30–91,3 (zu Ps. 113,1). Vgl. dazu HEIKO A. OBERMAN: Facientibus quod in se est deus non denegat gratiam. Robert Holcot, O.P. and the Beginnings of Luther’s Theology, in: Harvard Theological Review 55 (1962), S. 317–342; BERNDT HAMM: Promissio, pactum, ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977 (= Beiträge zur historischen Theologie 54), S. 378–383. 68 Vgl. oben Anm. 45. Zu den zahlreichen Varianten dieser Formulierung dessen, was der andächtige, bereuende Mensch vor der ‚Imago pietatis‘ tun soll, vgl. H AMM: Die Nähe des Heiligen (wie Anm. 1), S. 202, Anm. 55. 69 Seitenwunde und wahre Länge Christi, Einblattholzschnitt auf Papier, um 1484– 1500, 12,0 x 8,8 cm; Exemplar: München, Staatl. Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 63.248; Schreiber Nr. 1795. Vgl. PETER SCHMIDT: Beschrieben, bemalt, zerschnitten: Tegernseer Mönche interpretieren einen Holzschnitt, in: Honemann u. a. (Hg.): Einblattdrucke (wie Anm. 45), S. 245–276, hier S. 260 und 273, Abb.11. Zu einem sehr ähnlichen kolorierten Holzschnittblatt vgl. Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 2), S. 258–260, Nr. 78 (mit Literatur). 70 Text auf dem linken Schriftband des Blatts: „Das ist die leng und weitte der wunden Christi, die im in sein h[eilige] seitten gestochen war an dem crüß. Wer die mit reu und laid, auch mit andacht kusset, als offt er das thuet, hat er 7 iar ablas von dem Bapst INNOCENTIO [VIII., 1484-1492].“ Text auf dem rechten Schriftband: „Das creißlein [Kreuzlein], das in der wunden Christi stet, zu 40 maln gemessen [in 40facher Vergrößerung], das macht die leng Christi in seiner menschait. Wer das mit andacht kusset, der ist

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tigkeitsformeln war also das typische Totie(n)s-quotie(n)s-Versprechen (jedes Mal, wenn ..., wird die Ablassgnade abgerufen) integriert71. Solche Ablasszusagen verdeutlichen ebenso wie die vielen Formulare der Ablassbriefe besonders prägnant die vertragsartige – in diesem Fall päpstlich oder bischöflich garantierte72 – Zweiseitigkeit der nahen Gnade73. Doch gilt diese Struktur grundsätzlich für das gesamte mediale Kommunikationsgeschehen in den spätmittelalterlichen Heilsbezügen. Hier ist daran zu erinnern, dass innerhalb der spätmittelalterlichen Partizipationsmedialität stets die objektiv-externe Darbietung und Zueignung der Gnade mit der subjektiven Seite der verinnerlichenden und operativen Aneignung der Gnade verbunden ist74; und zugleich sei ergänzend erwähnt, dass in diese Zweiseitigkeitsstruktur des Heilsweges auch das Medium der Leidenserfahrung einbezogen ist, das in der unbegrenzt variationsfähigen Botschaft zur Sprache kommt: ‚Je mehr und je bereitwilliger du leidest, desto näher kommt dir Christus.‘75

den tag behiet vor dem gächen [jähen] doth und vor eim schlag.“ – Zu den „Realpräsenz“-Vorstellungen dieses Blatts, die sich auf die originale Länge und Weite der Seitenwunde Christi und die in verkleinertem Maßstab wiedergegebene wahre Länge des Christuskörpers beziehen, vgl. außer SCHMIDT (ebd.) auch HAMM: Die „nahe Gnade“ (wie Anm. 1), hier S. 551–554. 71 Zur ‚Totie(n)s-quotie(n)s-Formel‘ vgl. P AULUS: Geschichte (wie Anm. 38), S. 258– 260; CHRISTIANE NEUHAUSEN: Das Ablaßwesen in der Stadt Köln vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, Köln 1994 (= Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur 21), S. 52 und 79– 81. 72 Vgl. die Berufung auf Papst Innozenz VIII. (Anm. 70) bzw. auf Papst Benedikt XII. und „andere Päpste“ (S. 70) oder auf diverse Päpste und Bischöfe (Anm. 45, Schürstabepitaph). 73 Vgl. z. B. die Aussage des JOHANNES VON P ALTZ (1504), die göttliche Barmherzigkeit selbst habe mit uns in den Ablassbriefen (confessionalia, litterae indulgentiales) einen Vertrag (pactum) geschlossen, dass sie uns dem Wortlaut der Briefe gemäß mit größter Gewissheit erhören wolle: „Facit enim divina clementia pactum nobiscum in istis litteris, quod velit nos certissime exaudire secundum tenorem litterae.“ P ALTZ: Supplementum Coelifodinae, ed. Berndt Hamm = Paltz: Werke 2, Berlin / New York 1983 (= Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 3), S. 48,17–19. Vgl. dazu HAMM: Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 32), S. 268 und 291. 74 Siehe oben S. 59. 75 Vgl. z. B. den Spruch, den sich die Dominikanerin ANNA VON KLINGNAU – laut ihrer im ‚Tösser Schwesternbuch‘ (abgeschlossen um die Mitte des 15. Jahrhunderts) überlieferten Vita – an ihre Spindel heftete: „Ie siecher du bist, ie lieber du mir bist. / Ie verschmächter du bist, ie necher du mir bist. / Ie ermer du bist, ie gelicher du mir bist.“ Mit solchen Versen wendet sich Christus tröstend an die Nonne und deutet ihre Leiden als Annäherung an ihn und Verähnlichung mit ihm. Text nach der Edition von FERDINAND VETTER (Hg.): Das Leben der Schwestern zu Töß beschrieben von Elsbet Stagel samt der Vorrede von Johannes Meier und dem Leben der Prinzessin Elisabet von Ungarn, Berlin 1906 (= Deutsche Texte des Mittelalters 6), S. 37,15–17. Zu diesem Textstück aus dem

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Abbildung 11: Seitenwunde und wahre Länge Christi, Einblattholzschnitt, Ende 15. Jh., Süddeutschland

‚Tösser Schwesternbuch‘ und seiner Nachwirkung auf einem Ulmer Einblattholzschnitt vgl. GRIESE: Text-Bilder (wie Anm. 11), S. 134–138 und 147–150.

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Die Erleichterungsabsicht der Gnadenvergegenwärtigung zielt nun auf beide Seiten des Geschehens, also auch auf die Unterstützung des menschlichen Bemühens (des ‚facere quod in se est‘). Sie will nicht nur die externe Gnadendimension des Schuld- und Straferlasses in leicht erreichbare Nähe rücken, sondern den Menschen auch leichter zur nötigen seelischen Disposition führen. Im Fall des gewählten Holzschnittes heißt das: Durch die Betrachtung der Golgathaszene und das Sprechen des vorformulierten Gebetes sowie des ‚Pater noster‘ und ‚Ave Maria‘ sollen die Sünderin und der Sünder relativ mühelos auf eine tägliche innere Andacht der Demut und Reue eingestimmt werden. Es geschieht so eine Veralltäglichung der nahen Gnade in der Weise des Sehens und wörtlichen Betens, durch die ein seelischer Habitus eingeübt wird. Anleiten, Einüben und Einstimmen durch Texte, Bilder und Melodien sind integrative Elemente der Erleichterungsmedialität des Heils. Schließlich sei noch hervorgehoben, dass die Medialität der nahen Gnade ihre besondere Qualität der Nah-Vergegenwärtigung des Heiligen sowohl mit Hilfe der kirchlichen Hierarchie76 als auch ohne sie erreichen kann. Auf zwei Bildern war zu sehen, wie Frauen, eine Benediktinerin (Abb. 5) und eine Dominikanerin (Abb. 7), in unmittelbarem Berührungskontakt zu Christus stehen – ein meditativer Vorgang, der zwar den Kontext priesterlicher Vermittlung nicht ausschließt, aber in diesem Meditationskontakt selbst ein Geschehen ohne Beteiligung der Hierarchie ist. Was hier dargestellt ist, wird im Spätmittelalter auch gezielt auf die Meditationspraxis von Laien und Laienfrauen ausgeweitet. Die entsprechenden volkssprachlichen Handschriften, Einblattdrucke und Druckschriften gehen auf ihre anspruchsvoller werdenden Bedürfnisse nach einer verinnerlichenden und privaten Andacht ein77. Gerade in diesem meditativen, mysti76

Vgl. außer Anm. 72 besonders die stark hierarchie-orientierten Darstellungen der Gregorsmesse (Abb. 9). Die Nähe der Gnade wird durch diese bildlichen Repräsentationen sakral-institutioneller Heiligkeit an die effiziente Amtsvollmacht der Päpste, Kardinäle und Bischöfe gebunden. 77 Vgl. z. B. die starke Hinwendung der literarischen Produktion im Benediktinerkloster Tegernsee nach ca. 1445 zu deutschsprachigen mystisch-theologischen Texten. Zu ihren Rezipientinnen gehörten nachweisbar Beginen und Frauen des Münchener Bürgertums, die der vita contemplativa zugewandt waren und Interesse an deutschen mystischen Schriften hatten. Für sie übersetzte ein anonymer Tegernseer Mönch, höchstwahrscheinlich kein anderer als der bedeutende und vielseitige Bernhard von Waging, die Hoheliedpredigten Bernhards von Clairvaux. Und wohl für die gleichen semireligiösen bzw. laikalen Leserinnenkreise war eine Gruppe deutscher mystischer und seelsorgerlicher Traktate – vermutlich ebenfalls aus der Feder Bernhards von Waging – bestimmt, die Übersetzungen aus dem Lateinischen sind bzw. mehrere Vorlagen und eigene Zusätze zu neuen Traktaten montierten. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie im ausgehenden Mittelalter Frauen gerade durch die Vermittlung gelehrter Kleriker zu einer selbständigen Pflege ihrer eigenen Spiritualität gelangen konnten. Vgl. WERNER HÖVER: Theologia Mystica in

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schen oder mystiknahen Bereich des Verlangens nach intensivierter Unmittelbarkeit zu Gott konnten sich priesterunabhängige Kommunikationsweisen der nahen Gnade entfalten78, damit aber auch eine frauenspezifische Immediatisierung der Gnade in relativer Unabhängigkeit von männlich gesteuerter Heilsvermittlung79.

12. Querverbindungen von Objektivität / Subjektivität, Außen / Innen, Zueignung / Aneignung Abschließend sei noch einmal betont, auf welche unterschiedlichen Spannungsfelder die drei Typen der Medialität bezogen sind und in welchen bemerkenswerten Wechselbeziehungen diese Spannungsfelder zueinander stehen. Insbesondere ist hier an die Spannungsverhältnisse zwischen Objektivem und Subjektivem, Externem und Internem sowie Zueignung und Aneignung von Gnade und Heil zu denken. Die Partizipationsmedien, von denen die Rede war, können eher auf der Seite der Gnadenzueignung oder eher auf der Seite der Gnadenaneignung stehen: So sind Sakramente, Sakramentalien, Reliquien, Gnadenbilder oder Ablässe Zueignungsmedien, bei denen sich die gnadenwirkende Kraft in besonderer Weise mit den Dimensionen von Objektivität und Externität, einer dem empfangenden Menschen von außen und transsubjektiv vorgegebenen Heiligkeitspräsenz veraltbairischer Übertragung. Bernhard von Clairvaux, Bonaventura, Hugo von Balma, Jean Gerson, Bernhard v. Waging und andere. Studien zum Übersetzungswerk eines Tegernseer Anonymus aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, München 1971 (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 36), S. 1–135 (zu den Beginen: 120–135), 272ff.; CHRISTIAN B AUER: Geistliche Prosa im Kloster Tegernsee. Untersuchungen zu Gebrauch und Überlieferung deutschsprachiger Literatur im 15. Jahrhundert, Tübingen 1996 (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 107), S. 137–159 (Nachweis, dass Bernhard von Waging der anonyme Übersetzer war; zu den Münchener Bürgersfrauen: 150–153). Zum Eigenprofil einer weiblichen Ordensspiritualität im 15. Jahrhundert vgl. exemplarisch BARBARA STEINKE: Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation, Tübingen 2006 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 30). 78 Vgl. VOLKER LEPPIN: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 112 (2001), S. 189–204. 79 Vgl. z. B. ANNE B OLLMANN: Een vrauwe te sijn op mijn selfs handt. Alijt Bake (1413–†1455) als geistliche Reformerin des innerlichen Lebens, in: Ons Geestelijk Erf 76 (2002), S. 64–98. Zur abwehrend-domestizierenden Haltung der Ordensseelsorger gegenüber den frauenmystischen Tendenzen zur Immediatisierung des Zugangs zum Heil vgl. W ERNER W ILLIAMS-KRAPP: „Dise ding sint dennoch nit ware zeichen der heiligkeit“. Zur Bewertung mystischer Erfahrungen im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20, Heft 80 (1990), S. 61–71.

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bindet. Die Meditation hingegen oder beispielweise auch das Gebet sind Aneignungsmedien, die wesentlich auf die Aktivität, Innerlichkeit und Subjektivität des Menschen bezogen sind. Und der Erleichterungs- oder Hilfscharakter des dritten Typs der Gnadenmedialität kann sich sowohl auf die externe und objektive Zueignungsseite der Gnade als auch auf die subjektiv-innerseelische Aneignungsseite beziehen. Wie problematisch und z. T. irreführend freilich solche Verknüpfungsweisen – Zueignung, Empfangen, Objektivität, Außenorientierung einerseits, Aneignung, Aktivität, Subjektivität, Innerlichkeit andererseits – sind, wird schnell deutlich, wenn man z. B. bedenkt, dass Meditation und Gebet wesentlich durch ihre medialen Außenbezüge konstituiert werden: durch ihre Abhängigkeit von der grundlegenden Gnadenmedialität Christi, Mariens, der Heiligen und Engel und durch ihre Verankerung in dem vorgegebenen Zeichengefüge der Hl. Schrift, der Liturgie, der frömmigkeitsformenden Texte und Bilder. Umgekehrt zielt der transsubjetiv-externe Zueignungscharakter der Gnadenmedialität, z. B. der Sakramente, gerade auf das subjektive Moment persönlicher Aneignung – auf eine Andachtsformung des inneren Menschen, die dann wieder auf die leibliche Existenz des äußeren Menschen und seine Frömmigkeitspraxis der imitatio Christi in einem externen Sozialgefüge zurückwirken soll. So führen die medialen Wege von außen nach innen und von innen nach außen, in einer Verschränkung von Objektivem und Subjektivem, Passivität des empfangenden und Aktivität des zur Selbsttätigkeit befreiten Menschen. Aus der theologischen Perspektive des Spätmittelalters entsteht eine derartige Verschränkung und Wechselbeziehung vor allem deshalb, weil das göttliche Medium des Heiligen Geistes die Gnade in der Seele des Menschen habituell und aktualisierend präsent werden lässt. Eine von außen kommende Kraft wird so zur inneren Heiligkeit des Menschen, die objektive Zueignung der Gnade wirkt in ihre subjektive Aneignung hinein, mit der Folge, dass die geheiligte Person sich nun kooperativ – mit der Dynamik des Heiligen Geistes und der ‚eingegossenen Gnade‘ zusammenwirkend – auf das ewige Leben der Seligkeit zubewegen kann. Für alle drei Typen der Gnadenmedialität ist daher die Korrelation zwischen einer objektiv-externen Zueignungs- und einer subjektiv-internen Aneignungsdimension charakteristisch. So verbindet sich die Heilsmedialität des Salvators und Mediators Christus trinitarisch mit der in die Innerlichkeit und Subjektivität der Herzen hineinreichenden Inspiration des Gottes- und Christusgeistes. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Armut und Leiden sind schicksalhafte Gnadenmedien Gottes, der den Menschen so in die Nachfolge des armseligen Passionschristus hineinruft; der Heilige Geist aber ist es, der dem Menschen die Fähigkeit schenkt, sich diese Partizipationsmedien innerlich anzueigenen und an sich fruchtbar werden zu

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lassen, indem er Armut und Leiden in Liebe, Dankbarkeit und Reue bereitwillig aus der Hand Gottes entgegennimmt. Charakteristisch für das ausgehende Mittelalter ist, dass viele Frömmigkeitsmedien – wie beispielsweise die Einblattdrucke – einer intensivierten Verinnerlichung, Individualisierung und Privatisierung des Heiligen dienen und doch zugleich in vielfältigen, engen Beziehungen zu transsubjektiven, verobjektivierenden, institutionellen und gemeinschaftlichen Arten einer kirchlichen und kultischen Gnadenmedialität stehen. Dabei kann sich das Gewicht eher auf die Seite der Interiorisierung oder eher auf die Seite der Außenorientierung des Frömmigkeitslebens verschieben.

13. Die mediale Vielfalt der Gnadenvergegenwärtigung In meiner Studie über die Medialitätstypen der nahen Gnade konzentrierte ich mich auf die christologische Medialität und dabei besonders auf die Nahpräsenz des Christuskörpers – einen zentralen, aber doch nur schmalen Ausschnitt aus dem medialen Spektrum sehr vielfältiger Phänomene der Gnadenvergegenwärtigung. Man könnte z. B. auch über liturgische Innovationen und neue architektonische Raumkonzeptionen einer intensivierten Gnadennähe sprechen; und man könnte die Phänomene der Gnadenvergegenwärtigung auch sozialgeschichtlich an bestimmten Ordensgemeinschaften, Bruderschaften und Bevölkerungsgruppen in den Städten und auf dem Land untersuchen; oder man könnte die vorgeschlagene Typologie auch im Blick auf Maria, die Heiligen und die Engel durchspielen. Mein Ziel aber war es, am christologischen Paradigma und an der konkreten Wechselbeziehung ausgewählter Bilder und Texte herauszufinden, ob eine verallgemeinerbare Medientypologie möglich ist, die man auf alle spätmittelalterlichen Erscheinungsformen einer gesteigerten Gnaden- und Heilsnähe anwenden kann.

14. Die reformatorische Verknüpfung von alleiniger Christusmedialität und ‚gereinigter‘ Partizipationsmedialität Für die Reformation macht die Unterscheidung zwischen den drei Typen der Gnadenmedialität keinen Sinn mehr. Man kann sogar sagen, dass in der Abkehr der Reformation von diesem Medialitätsgefüge, das ich beschrieben habe, der Umbruch zwischen den Epochen besonders gut zu erkennen ist. Die Reformation setzt zwar die für das ausgehende Mittelalter so charakteristische Dynamisierung der nahen Gnade verstärkend fort. Sie übernimmt auch, ebenfalls forcierend, die Kombination der nahen Gnade mit

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den neuen Vervielfältigungsformen des typographischen Drucks. Und sie knüpft auch verschärfend an einer spätmittelalterlichen und besonders humanistischen Kritik an, die sich gegen zahlreiche Konkretionen der Erleichterungsmedialität wie Ablässe80, Reliquien, kultisch verehrte Hostien und Kultbilder81 wandte. Auch radikal-mystische Konzeptionen einer puren Gottunmittelbarkeit der Seele jenseits aller bildlichen und sakramentalen Medialität bleiben in manchen Zweigen der Reformation präsent82. Im Blick auf die Reformation insgesamt wird aber die Verwendung der Kategorie ‚Erleichterungsmedialität‘ überhaupt sinnlos. Wo Gnade und Heil absolut umsonst geschenkt werden und jede aktive Mitwirkung des Menschen ausgeschlossen ist, kann nichts mehr erleichtert werden. Die Partizipations- und Erleichterungsmedialität des Spätmittelalters bewegt sich, wie ich zeigte, immer in den Koordinaten der Zweiseitigkeit von göttlicher Gnade und menschlicher Mitwirkung und setzt als Vergleichsmaßstab immer den anspruchsvoll gestaffelten Weg zum Himmel über Genugtuungen und Verdienste voraus. Indem die Reformation mit diesem Wegemodell und dieser Zweiseitigkeitskonzeption grundsätzlich bricht, bleibt nur noch eine reduzierte, umgedeutete und biblisch gereinigte Partizipationsmedialität, die ausschließlich an die Erlösungsmedialität Jesu Christi – den einzigen mediator – gebunden ist: als pures Beschenktwerden ohne Beimischung einer heilsrelevanten Aktivität des Menschen. Damit aber wird durch jede Art von reformatorischer Gnadenmedialität ihrer Intention nach die Fülle des Heils ohne Abstufungen in die unmittelbarste Kontakt-Nähe des sündigen Menschen gerückt: Durch das biblische Heilswort in der volkssprachlichen Heiligen Schrift, durch Predigt, Sakrament, Kirchenlied und Katechismus wird der Sünder in die erlösende

80 Vgl. exemplarisch W ILHELM ERNST W INTERHAGER: Ablasskritik als Indikator historischen Wandels vor 1517. Ein Beitrag zu Vorraussetzungen und Einordnung der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 90 (1999), S. 6–71; BERNDT HAMM und M ICHAEL W ELKER: Die Reformation. Potentiale der Freiheit, Tübingen 2008, S. 33f. und 62f. 81 Vgl. NORBERT SCHNITZLER: Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996; GUY P. MARCHAL: Das vieldeutige Heiligenbild. Bildersturm im Mittelalter, in: Peter Blickle, André Holenstein u. a. (Hg.): Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München 2002 (= Historische Zeitschrift. Beiheft 33), S. 307–332. 82 Vgl. GEORGE HUNSTON W ILLIAMS: The Radical Reformation, Philadelphia 1962; STEVEN E. OZMENT: Mysticism and Dissent. Religious Ideology and Social Protest in the Sixteenth Century, New Haven / London 1973; G UDRUN LITZ: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 35), S. 56–62 (Kaspar von Schwenckfeld und Sebastian Franck).

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Christusgemeinschaft gestellt83. Damit fallen aktualisierend die heilsbegründende Christusmedialität und die Partizipationsmedialität gleichsam zusammen – und die Erleichterungsmedialität fällt weg.84

83 Vgl. aus dem Personenkreis der Reformatoren z. B. JOHANNES CALVIN, der zwischen dem heilsgeschichtlichen, priesterlichen Mittleramt Jesu Christi, der inneren Medialität des Heiligen Geistes und den äußeren Medien der Kirche unterscheidet. Zu den letzteren (in Buch 4 der Institutio christiane religionis von 1559) vgl. die Überschrift zu Buch 4: „De externis mediis vel adminiculis, quibus Deus in Christi societatem nos invitat et in ea retinet.“ Joannis Calvini Opera selecta, ed. Petrus Barth, Guilelmus Niesel, Bd. 5, 3. Aufl., München 1974, S. 1,3–5. In diesem letzten Teil seiner Institutio entfaltet Calvin vor allem seine kirchliche Ämter- und Sakramentenlehre. 84 Man kann allerdings mit Calvin sagen, dass alle äußeren ‚media salutis‘, die auf sinnenhafte Weise Instrumente des Heiligen Geistes sind und uns so an der rettenden Christusgemeinschaft partizipieren lassen, als Hilfs- oder Erleichterungsmedien verstanden werden können (vgl. den Terminus adminicula in Anm. 83), sofern Gott damit – durch das äußere Wort und die sakramentalen Zeichen der Kirche – dem beschränkten Fassungsvermögen der menschlichen Natur zu Hilfe kommt. Vgl. Institutio 4,1,1, ebd. S. 1,10–15: „Weil aber unsere Rohheit und Trägheit (ich füge noch die Eitelkeit unseres Verstandes hinzu) äußere Hilfsmittel benötigt, durch die der Glaube in uns erzeugt und vermehrt wird und seine Fortschritte macht bis zum Ziel hin, hat Gott diese äußeren Hilfsmittel zugefügt, um unserer Schwachheit aufzuhelfen; und damit die Verkündigung des Evangeliums zur Wirkung kommt, hat er diesen Schatz der Kirche in Obhut gegeben.“ „Quia autem ruditas nostra et segnities (addo etiam ingenii vanitatem) externis subsidiis indigent, quibus fides in nobis et gignatur et augescat et suos faciat progressus usque ad metam, ea quoque Deus addidit, quo infirmitati nostrae consuleret; atque ut vigeret Evangelii praedicatio, thesaurum hunc apud Ecclesiam deposuit.“

Zwei spätmittelalterliche Predigten im Medium von Gelehrtensprache und Volkssprache CHRISTOPH BURGER

1. Einleitung: Die Predigt als Medium der Vermittlung von Glaubenswissen und Anleitung zur Lebensgestaltung Im Spätmittelalter war die Predigt in der Volkssprache das wichtigste Medium, durch das Kleriker zum ersten Kenntnis der wichtigsten christlichen Glaubensinhalte vermittelten und durch das sie zum zweiten einprägten, wie ein Christenmensch sein Leben gestalten sollte. Das galt wie für andere Gebiete auch für Nordwesteuropa. Bevor Texte mit wiederverwendbaren Bleilettern gesetzt und gedruckt werden konnten, war die Predigt sogar das einzige Massenmedium, das in der Lage war, größeren Gruppen von Menschen zugleich längere zusammenhängende Texte bekannt zu machen. Diese besondere Bedeutung der Predigt ist hervorzuheben, obwohl daneben natürlich Rituale sakraler und profaner Art, Bilder, Skulpturen, Gebäude und Liedtexte nicht vergessen werden dürfen. Auch sie gaben ja Glaubenswissen und ethische Anleitung weiter und verfestigten sie. Einschränkend muss sogleich ergänzt werden, dass durchaus nicht jeder Christenmensch, der eine Predigt hören wollte, dazu Gelegenheit hatte. Viele Priester und erst recht deren Vikare hatten nicht die Ausbildung genossen, die erforderlich war, um eine Predigt zu halten. Es waren vor allem die Prediger der Bettelorden, die sich dieser Aufgabe annahmen. Die heute noch handschriftlich oder in Inkunabeln erhaltenen Predigtnachschriften oder Predigtbearbeitungen stellen in der Regel qualitativ herausragende Beispiele ihrer Gattung dar. Unterdurchschnittliche oder auch nur durchschnittliche Predigten, die die Hörer oder Hörerinnen nicht besonders angesprochen hatten, aufzuzeichnen machten die Prediger und die Hörer und Hörerinnen sich nicht die Mühe.

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2. Zur Forschungslage: Repertorien der volkssprachlichen Predigt im Mittelalter Um die große Zahl mittelalterlicher Predigten in den Volkssprachen, die in Handschriften erhalten geblieben sind, für interessierte Forscherinnen und Forscher zu erschließen, haben sich Spezialisten aus mehreren europäischen Ländern zu dem Unternehmen Sermo: Repertorien der volkssprachlichen Predigt im Mittelalter zusammengeschlossen. Die niederländischbelgische Forschergruppe konnte 2003 drei Bände publizieren und schloß im Januar 2009 mit der Präsentation von vier weiteren Bänden ihr Unternehmen ab.1 Die englische Gruppe hat vor kurzem vier eindrucksvolle Bände präsentiert.2 Auch in Schweden, Italien und Spanien geht das Unternehmen voran. Neue Forschungsergebnisse zur volkssprachlichen Predigt werden unter dem Reihentitel ‚Sermo‘ publiziert.3 Zur begrifflichen Klärung dessen, was denn als Predigt zu bezeichnen ist und was nicht, trägt ein Band zur Typologie der Predigt bei.4 Eine Predigt kann ja so, wie sie gehalten worden ist, als Nachschrift überliefert werden. In solchen Fällen wird sie dann meistens aus dem Gedächtnis aufgezeichnet. Sie kann aber auch durch den Prediger selbst oder durch Hörer bearbeitet werden. Manche Texte versuchen auch lediglich den Eindruck zu erwecken, sie seien einmal als Predigten gehalten worden. Der Predigtcharakter ist dann eine Fiktion.5 Lesepredigten konnten in Klöstern und Konventen oder von einzelnen Gläubigen verwendet werden. Von der Predigtnachschrift zu unterscheiden ist der Traktat, der aus Predigten entstehen kann. Zu denken ist dabei beispielsweise an katechetische Predigten, die zu Traktaten umgearbeitet werden können, zu einem Katechismus, gar zu einer katechetischen Summe. 1 Repertorium of Middle Dutch Sermons preserved in manuscripts from before 1550, Bde. 1 –3, hg. von Maria Sherwood-Smith und Patricia Stoop, Löwen 2003, 1909 Seiten; Bde. 4 –7, hg. von Daniël Ermens und Willemien van Dijk, Löwen 2008, 2443 Seiten; Projektleitung: Christoph Burger und Thom Mertens, von 2004 an unter Mitarbeit von Patricia Stoop (= Miscellanea Neerlandica XXIX, 1–7). 2 VERONICA O’MARA und SUZANNE P AUL: A repertorium of Middle English prose sermons, 4 Bde., Turnhout 2007. 3 Auf einen Band, der in dieser Reihe erschienen ist, komme ich weiter unten zurück: Roger Andersson (Hg.): Constructing the medieval Sermon, Turnhout 2007 (= Sermo: Studies on patristic, medieval, and reformation sermons and preaching 6). 4 Vgl. Beverly Mayne Kienzle (Hg.): The sermon, Turnhout 2000 (= Typologie des sources du Moyen Age occidental, fasc. 81–83). 5 Nicht allein für die mittelniederländische Predigt, sondern für die Predigt in der Volksprache im Mittelalter überhaupt hilfreich ist der Beitrag von T HOM MERTENS: De Middelnederlandse preek. Een voorbarige synthese, in: Thom Mertens, Patricia Stoop und Christoph Burger (Hg.): De Middelnederlandse preek, Hilversum 2009, S. 9–66.

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Die Repertorienarbeit hat eine Fülle neuer Ergebnisse erbracht und regt weitere Forschungen an. Ich hebe einige davon heraus, die in den Niederlanden und in Belgien entstehen. An dem Gesamtbestand der in Belgien und in den Niederlanden überlieferten volkssprachlichen Predigten haben übersetzte Predigten von Autoritäten wie Augustin, Gregor dem Großen oder Bernhard von Clairvaux, die ins Mittelniederländische übersetzt worden sind, einen großen Anteil. Eine vor kurzem in Antwerpen vorgelegte Dissertation weist nach, dass Nonnen des Klosters Jericho in Brüssel sehr viel selbständiger an der Gestaltung der Predigtnachschriften beteiligt gewesen sind, als man das angesichts der Bildungsbeschränkungen, mit denen Frauen zu kämpfen hatten, bisher für möglich gehalten hat.6 Eine weitere Arbeit soll einem Predigtzyklus gelten, der mit Hinweisen darauf versehen ist, wo in Gelderland im Osten der Niederlande die betreffenden Predigten jeweils mehrfach gehalten worden sind. Eine dritte hat Predigten aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zum Gegenstand, die im Unterschied zu der Behutsamkeit, die im 15. Jahrhundert vorherrschend war, wieder ganz unbefangen das Ziel der unio mystica mit Gott schon im irdischen Leben anstreben.7 Die Erforschung der volkssprachlichen Predigt bringt zur Zeit einige aufsehenerregende Ergebnisse hervor.

3. Latein und Volkssprache in der Predigt und im daraus erwachsenden Traktat Weil ihre gesamte Ausbildung sich in der lateinischen Bildungssprache abgespielt hatte, verfertigten Theologen ihre Predigtkonzepte in aller Regel auf Latein. Der Erfurter Theologieprofessor aus dem Orden der Augustinereremiten Johannes von Paltz sagt ganz unmissverständlich, er habe für eine lateinische Neubearbeitung die Konzepte herangezogen, aufgrund derer er zuvor in der Volkssprache gepredigt und auf der Basis seiner Predigten eine volkssprachige Schrift verfasst hatte.8 Dem Volk predigten 6

Vgl. P ATRICIA STOOP: Schrijven in commissie. Middelnederlandse biechtvaderpreken uit het Brusselse regularissenklooster Jericho in hun literaire context. Die Promotion hat am 20.5.2009 an der Universität Antwerpen stattgefunden. 7 Vgl. INEKE CORNET: Het Haagse prekenhandschrift 133 H 13. Exponent van een Gelderse mystieke renaissance met Europese uitstraling. Von der Promovendin erschien bereits: DIES.: Metaphors of Transcendence and Transformation in the Arnhem Mystical sermons (Royal Library The Hague, 133 H 13), Moses’Ascent of Mount Sinai as an Allegory for Mystical Experience, in: Ons Geestelijk Erf 79, Nr. 4 (2008), S. 369–396. 8 JOHANNES VON P ALTZ: Coelifodina, Werke 1, hg. von Christoph Burger und Friedhelm Stasch, Berlin / New York 1983, S. 3, Z. 8–9.17–19: „Cum nuper illustrissima vestra dominatio a mea exposceret parvitate, ut sermones quosdam quondam per me pra-

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Theologen dann in der Volkssprache. Predigte ein Mönch dagegen vor seinen Brüdern oder ein Hochschullehrer vor Mitgliedern der Universität, so sprach er lateinisch. Dasselbe galt natürlich bei Predigten vor Klerikersynoden oder Konzilien.9 Ein besonders interessanter Sonderfall liegt dann vor, wenn ein Prediger denselben Predigtstoff sowohl in der lateinischen Bildungssprache als auch in der Volkssprache behandelt hat und wenn beide Fassungen erhalten geblieben sind. Denn dann kann man vergleichen, wie er innerhalb des Mediums ‚Predigt‘ jeweils Akzente setzt, je nachdem, welchen Hörerkreis er erreichen will. Zwei solche doppelt überlieferte Predigten will ich nun vorstellen, eine von einem der Grundleger der Frömmigkeitstheologie, eine zweite von einem weniger herausragenden Vertreter. 3.1. Der Pariser Kanzler Jean Gerson predigt auf lateinisch und auf französisch über Matthäus 5, 5: „Selig sind die Trauernden (,denn sie werden getröstet werden‘)“. Von dem Kanzler der Pariser Universität und Hochschullehrer der Theologie Jean Gerson (1363–1429) sind zwei Predigten über Matthäus 5, 5 (Vulgata) erhalten geblieben. Sie sind beide vor einigen Jahrzehnten im Druck herausgegeben worden, wenn auch leider nicht wirklich kritisch auf der Grundlage aller verfügbaren Manuskripte.10 Die lateinische Predigt hielt Gerson vor Angehörigen der Pariser Universität am Allerheiligenfest, also am 1. November, des Jahres 1401 oder 1402. Am Tage darauf, Allerseelen, predigte er in der Pfarrkirche St. Séverin in Paris in der französischen Volkssprache. 11 Die beiden Predigten enthalten Querverweise aufeinander. In der lateinischen Predigt verspricht Gerson, er werde im akademischen Unterricht und in einer volkssprachlichen Predigt ausführlicher edicatos [...] sub quodam vulgari compilatos tractatu in Latinum ideoma nobilissimum transferrem vel potius Latinum ipsum hinc inde dispersum, ex quo vulgare sumpseram, in unum colligerem [...]“. 9 Zum Vergleich zwischen der lateinischen Gelehrtensprache und der deutschen Volkssprache im hohen und späten Mittelalter vgl. besonders die Beiträge von F. P. KNAPP und P ETER OCHSENBEIN, in: Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer (Hg.): Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988, Tübingen 1992. 10 Vgl. JEAN GERSON: Oeuvres complètes, 10 Bde., hg. von Palémon Glorieux, Paris 1960–1973. Band 7 ist in zwei Teilbänden erschienen. Diese Edition wird künftig zitiert mit Nennung des Editors Glorieux, des Bandes und der Seitenzahl. 11 Vgl. GERSON: Beati qui lugent [...] O benoitte Dame de paradis, ed. Glorieux, Bd. 7*, S. 549–560. Der Editor Glorieux geht davon aus, dass die Predigt im Jahre 1401 gehalten worden sei. Max Lieberman dagegen tritt dafür ein, es sei erst 1402 gewesen: MAX LIEBERMAN: Chronologie gersonienne, in: Romania: revue trimestrielle consacrée à l’étude des langues et des littératures romanes 70 (1948 / 49), S. 51–67.

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erklären, worauf er vor den Universitätsmitgliedern nur anspielen könne.12 In der volkssprachlichen Predigt verweist der Prediger zurück auf die vorige Predigt, die er am Vortage in der Universität gepredigt habe.13 Selbst wenn Gerson selbst oder ein Redaktor in die ursprünglich gepredigten Texte noch eingegriffen haben mag, gehe ich zunächst einmal davon aus, dass die überlieferten Predigttexte relativ getreu wiedergeben, was der Pariser Hochschullehrer gesagt hat. Jean Gerson ist zu dem Zeitpunkt, zu dem er diese Predigten hält, etwa 38 Jahre alt. Als Bauernsohn verdankt er den gesellschaftlichen Aufstieg zu seiner einflussreichen Position dem übrigens mit ihm gleichaltrigen Herzog von Burgund Philipp dem Kühnen (1363–1404). Dieser sein Protektor hat sich kurz zuvor auch als Lenker seiner Geschicke erwiesen. Hat er ihm doch befohlen, gegen seinen ausgesprochenen Wunsch aus der weniger umstrittenen Position eines Dekans des Kapitels von St. Donatianus in Brügge wieder auf die konfliktreichere Stelle des Kanzlers der Pariser Universität zurückzukehren. In Paris muss Gerson die Belange des Burgunderherzogs vertreten.14 Dabei würde er, wie er schreibt, gerne auf sein Amt als Theologieprofessor und Kanzler verzichten. Zu allem Übel ist dieses Amt auch noch schlecht bezahlt, er muss eine Pfarrei dazu haben, um sein Auskommen zu haben, wie er dem Papst in einer Bittschrift mitteilt. In den beiden Predigten, um die es hier geht, kommen diese persönlichen Probleme des Predigers freilich nicht zur Sprache. 3.1.1. Gersons lateinische Predigt Die Predigt vor den Mitgliedern der Universität15 nimmt in der modernen Edition sechzehneinhalb Seiten ein. Dem Editor Glorieux sind Nachschriften in drei Manuskripten bekannt geworden. Auf die Rezitation des Bibel12 GERSON: Beati qui lugent [...] Nos de beatu luctu… locuturi [...], ed. Glorieux, Bd. 5, S. 93 : „Dicemus quoque brevius quam tanta res expostulat, quoniam in scholastico exercitio et in verbo ad populum latiori sermone super hoc, Deo propitiante, tractabimus.“ 13 GERSON: Beati qui lugent [...] O benoitte Dame de paradis, ed. Glorieux, Bd. 7*, S. 549 (wie Anm. 11) : „saint et sainctes desquelsz nous feismes hyer solennité.“ Einen Vergleich der beiden Predigten habe ich auch angestellt in CHRISTOPH B URGER: Preaching for Members of the University in Latin, for Parishioners in French: Jean Gerson (1363–1429) on ‘Blessed are they that mourn’, in: Andersson (Hg.): Constructing the medieval Sermon (wie Anm. 3), S. 207–220. 14 Vgl. EDMOND VANSTEENBERGHE: Gerson à Bruges, in: Revue d’histoire ecclésiastique 31 (1935), S. 5–52: hier S. 23; CHRISTOPH B URGER: Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris, Tübingen 1986 (= Beiträge zur Historischen Theologie 70), S. 24–26. 15 Vgl. GERSON: Beati qui lugent [...] Nos de beatu luctu et consolatione locuturi [...], ed. Glorieux, Bd. 5, S. 91–107 (wie Anm. 12).

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verses: „Selig sind die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden“ in lateinischer Sprache16 folgt ein Hinweis darauf, dass eine Aussage Christi etwa gleichen Gehalts auch im Lukasevangelium zu finden sei: „Selig seid ihr, die ihr nun weint, denn ihr werdet lachen.“17 Diesen synoptischen Vergleich bei einem spätmittelalterlichen Theologen zu finden wird nur den verwundern, der nicht weiß, dass Gerson auch der Autor einer Evangelienharmonie ist.18 In einem einzigen, elegant formulierten Satz redet der Prediger Maria, die höchste aller Heiligen, an, flicht aber in diesen Satz auch ein, dass Gott aus den Augen der Heiligen bereits alle Tränen weggewischt hat, dass Maria die Königin des himmlischen Reichs und die Mutter des Gottes allen Trostes sei.19 Die Entscheidung des Theologieprofessors, sich in erster Linie für die Erbauung von Christen einzusetzen,20 hat seine intellektuellen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt. Darauf lässt der Prediger eine Betrachtung über die historische Situation folgen, in der Jesus die Bergpredigt ausgesprochen habe. Er versichert, Christi Lehre sei den Weisen der Welt verborgen.21 Sehr glaubwürdig ist das freilich nicht, denn gleich danach zitiert er eine Aussage des heidnischen Dichters Terenz: „Es gibt ebensoviele Meinungen, wie es Köpfe gibt.“22 Terenz wird man nicht gerade zum elementaren christlichen Glaubensgut rechnen wollen. Der Kanzler weiß aber eben sehr genau, dass seine Hörer von ihm nicht nur etwas von der Lehre Christi zu hören wünschen, die den ‚Weisen der Welt‘ ja gerade verborgen sein soll, sondern auch geistige Anregung. Sie wollen zwar als Christen angesprochen werden, aber eben auf hohem intellektuellem Niveau. Es ist Gerson ganz offenbar bewusst, dass er sich zu diesem Widerspruch äußern muss. Denn er nimmt nun eine Unterteilung der Christen in drei Gruppen vor: Die erste ist die der einfachen Christen ohne Bildung. 16

Matthäus 5,5 (Vulgata): „Beati qui lugent: quoniam ipsi consolabuntur.“ Lukas 6,21 (Vulgata): „Beati qui nunc fletis, quia ridebitis.“ 18 Vgl. dazu MARC VIAL: Zur Funktion des Monotessaron des Johannes Gerson, in: Christoph Burger, August den Hollander, Ulrich Schmid (Hg.): Evangelienharmonien des Mittelalters (= Studies in Theology and Religion 9), Assen 2004, S. 40–72. 19 GERSON: Beati qui lugent [...] Nos de beatu luctu et consolatione locuturi [...], ed. Glorieux, Bd. 5, S. 91 (wie Anm. 12): „[...] in hodierna celebritate sanctorum illorum, a quorum oculis abstersit Deus omnem lacrimam [Jesaja 25,8; beinahe wörtlich zitiert in Offenbarung 21,4] ita, ut non sit amplius ibi luctus neque clamor, te reginam inclytam civitatis huiusmodi sanctorum, de qua gloriosa dicta sunt, te matrem insuper illius, qui est Deus totius consolationis [2. Kor. 1,3], invocabimus pro gratia, qua egemus, impetranda dicentes: Ave, Maria, gratia plena!“ 20 Vgl. B URGER: Aedificatio (wie Anm. 14), 2. Kapitel: Die Konzeption. 1. Auf Erbauung, Frucht und Nutzen kommt es an: Das veränderte Wertungsschema Gersons, S. 40–55. 21 Mt 22,25 und Lk 10,21. 22 PUBLIUS T ERENTIUS AFER: Phormio 454: „Quot capita, tot sententiae.“ 17

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Sie ist ihrerseits nochmals zu unterteilen in zwei Untergruppen. Die einfachsten Gemüter halten sich einfach an Autoritäten, wie es auch die Schüler des Pythagoras getan hätten. Sie brauchen nicht Argumente, sondern Exempel: Heiligenlegenden, Viten der Kirchenväter, bestimmte theologische Traktate. Die andere Untergruppe der einfachen Christen lernt mit ganzem Herzen und Sinn. Von derartigen einfachen Christen, erklärt der Theologieprofessor, könne eher er selbst etwas lernen, als dass er sie zu belehren vermöge. Die zweite Christengruppe ist die der aufgeblasenen Weltweisen. Sie sind außerstande, auf die Seligpreisungen zu hören. Zur dritten Gruppe gehören die, die glauben, um verstehen zu können: sie sind gebildet, aber nicht eingebildet. Sagte doch schon Platon im Dialog ‚Timaios‘, man solle aus Gläubigkeit Vorteil ziehen.23 Hier an der Universität ist diese dritte Gruppe gut vertreten, schmeichelt der Prediger seinen Hörern. Sie nehmen die Autorität Christi ernst, der sprach: „Selig sind die Trauernden“, aber auch die philosophische Begründung, die dahinter steckt. Gerson will, wie er sagt, Cicero in dessen ‚Paradoxa Stoicorum‘ folgen. Anstelle des Adjektivs ‚beati‘ (selig) und der beiden Verben ‚lugent‘ (sie trauern) und ‚consolabuntur‘ (sie werden getröstet werden) des Halbverses in der Biblia Vulgata, den er seiner Predigt zugrund legt, gliedert der Prediger seine Ansprache nun durch die drei Nomina ‚beatitudo‘ (Seligkeit), ‚luctus‘ (Trauer) und ‚consolatio‘ (Trost). Er bezahlt einen Preis dafür: die Nomina appellieren weniger an das Gefühl. Aber er gewinnt technische Termini, wie sie den Hörern vertraut sind. In der volkssprachlichen Predigt am Folgetag dagegen wird er Adjektive wie ‚gesegnet‘ und ‚trauernd‘ verwenden, nicht die abstrakteren Nomina. Er weiß eben sehr genau, dass er den universitären Hörerkreis eher mit Begriffen ansprechen kann, die Hörer in einer Pariser Kirche dagegen mit Verben und einem Adjektiv, die auch in ihrer alltäglichen Wirklichkeit vorkommen. Denn wer wäre nicht manchmal traurig, wer wollte dann nicht getröstet werden, wer möchte nicht am liebsten selig sein? Zur Definition von ‚Seligkeit‘ zitiert der Prediger zunächst verschiedene philosophische Positionen. Im Anschluss an die ihm bekannte lateinische Übersetzung von Schriften des Aristoteles bezeichnet er ‚beatitudo‘ (Seligkeit) als die Verbindung des besten menschlichen Vermögens mit dessen bestem Gegenstand.24 In vier Betrachtungen zitiert er neben Augustinus zweimal Aristoteles, Cicero, Vergil und den Mythos von Sisyphos. Seinen zweiten Kernbegriff, ‚Trauer‘. bespricht der Prediger schon im Vorblick auf ‚Trost‘. Er bietet zunächst philosophische Definitionen an, 23

Vgl. GERSON: Beati qui lugent [...] Nos de beatu luctu et consolatione locuturi [...], ed. Glorieux, Bd. 5, S. 93 (wie Anm. 12): „sumendum esse compendium ex credulitate.“ 24 Vgl. ebd. S. 94: „beatitudo hominis sita est in coniunctione optimae potentiae humanae cum optimo obiecto suo.“

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zitiert Aristoteles und Vergil. Der Dichter habe ja von Aeneas gesagt, dieser habe in seiner Trauer bereits Trost empfunden. Und Boethius versicherte, es sei häufig besser, erträgliche Trauer zu erleiden als sich in zu ausbündigem Wohlergehen zu verlieren.25 Im dritten Teil behandelt Gerson den Begriff ‚Trost‘. Nach einer Definition dessen, was Trost sei, stellt er eine Verbindung vom Predigttext zum liturgischen Festtag her: Die Heiligen haben seit dem Erzvater Abraham durch Trauer Trost erlangt. Er preist Aussagen der Heiden Epikur (vermittelt durch Seneca) und Aristoteles so sehr, dass er sich verpflichtet fühlt, ihnen eine Vorform christlichen Glaubens zuzuschreiben.26 Die lateinische Predigt ist, nach dem damaligen Zeitgeschmack geurteilt, rhetorisch meisterhaft gestaltet. Satzkonstruktionen, die für unser heutiges Empfinden überladen sind, galten damals ja als kunstvoll. Gerson ist nicht umsonst mit dem französischen Humanisten Nikolaus von Clémanges befreundet. Er zitiert reichlich aus Schriften von Philosophen und Schriftstellern der klassischen Antike. Die Predigt ist klar strukturiert. Der Prediger definiert die Begriffe, die er verwendet. Er unterbaut seine Aussagen philosophisch und biblisch. Der Kanzler der Universität bietet den akademisch geschulten Hörern Glaubenswissen in einer Form dar, die ihnen intellektuelles Vergnügen bereitet. Falls die Universitätsmitglieder von dieser Predigt nicht geistlich erbaut waren, so hatten sie doch jedenfalls eine rhetorische Glanzleistung gehört. Die Gliederung der beiden Predigten Gersons im Überblick Jean Gerson: Beati qui lugent [...] Nos de beato luctu et consolatione locuturi, Glorieux, Bd. 5, S. 91–107 (wie Anm. 12).

Beatitudo: Quattuor considerationes (S. 95–97)

Jean Gerson: Beati qui lugent [...] O benoitte Dame de paradis, Glorieux, Bd. 7*, S. 549– 560 (wie Anm. 11). Merkvers : Ceux yci sont bieneureux Qui les cuers ont doloreux. Glorieux, Bd. 7*, S. 549 (wie Anm. 11).

Ein Herz, das von reuevoller Trauer erfüllt ist, befreit seine Freunde (die schon verstorbenen Eltern) von Leiden (aus dem Fegefeuer). Unterteilt in zwölf Punkte.

25 Vgl. ebd. S. 100: „fortuna moderate adversa securior est regulariter et optabilior quam multum prospera.“ 26 Vgl. ebd. S. 103: „Igitur erant fideles isti philosophi, opponet aliquis, aut absque fide intelligi possunt quae creduntur? Ubi est ergo illud: ‘nisi credideritis, non intelligetis’? [Augustinus] [...] ipsos intellexisse plene, quae dicebant, non assero, sed ita tamen sententiendum esse constanter affirmo.“

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Luctus: Quattuor considerationes (S. 98–100) Consolatio: Quattuor considerationes (S. 103–105)

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Beansprucht den größten Teil der Predigt (S. 551–558). Wenn ein Herz von reuevoller Trauer erfüllt ist, dann bewahrt es seine Freunde davor, allzu rigoros zu urteilen (nur sehr kurz behandelt). (S. 559–560) Wenn ein Herz von reuevoller Trauer erfüllt ist, dann erhält es frohe Ermutigung durch ein gutes Gewissen (nur sehr kurz behandelt). (S. 559–560)

3.1.2. Gersons Predigt in der französischen Volkssprache. Am darauffolgenden Tag, dem Fest Allerseelen, predigte Gerson in der Volkssprache in der Pariser Kirche St. Severin. In der Druckfassung ist diese Predigt 11,5 Seiten lang.27 Sie nimmt also nur zwei Drittel der Druckfassung der lateinischen Predigt vor Mitgliedern der Universität vom Vortag ein. Nachschriften in zwölf Manuskripten sind bekannt, viermal so viele wie solche der lateinischen Predigt. Nun kann sich das Zahlenverhältnis zwischen den zur Zeit bekannten erhalten gebliebenen Predigten in der lateinischen Gelehrtensprache einerseits und den Predigten in der französischen Volkssprache noch erheblich verschieben, sobald in Frankreich erst einmal verläßliche Kataloge der Handschriften vorliegen. Aber ich gehe davon aus, dass es auch dann dabei bleiben wird, dass die stärker auf Erbauung ausgerichtete volkssprachliche Predigt häufiger abgeschrieben worden ist als die lateinische, die vor allem den Intellekt ansprach. In der volkssprachlichen Predigt legt Gerson nur den ersten Halbvers aus: „Selig sind die Trauernden“. Vom Trost spricht er hier nicht. Ob er der Meinung ist, in der Volkssprache müsse er sich auf eine einzige leicht faßliche Botschaft beschränken oder ob er vor allem den Nutzen der Trauer einschärfen will oder was ihn sonst dazu gebracht haben mag, darüber kann man nur spekulieren. Er kondensiert die Aussage des Halbverses hier nicht auf Begriffe wie ‚Seligkeit‘ und ‚Trauer‘. Er verwendet vielmehr Adjektive wie ‚gesegnet‘ und ‚trauernd‘ und bleibt damit dem alltäglichen Leben näher als in seiner lateinischen Predigt vom Tag zuvor. Mehrere Male zitiert er einen Merkvers, den er offenbar selbst formuliert hat: „Selig sind [schon] hier [auf Erden] die, die trauernde Herzen haben.“28 Einen solchen Merkvers konnte auch ein wenig gebildeter Hörer sich einprägen. Das konnte nützlich sein. Sollte ein Vater sein Kind fragen, was es denn in der Predigt gehört habe, wie es durchaus gebräuchlich war, dann konnte das Kind mit diesem Vers antworten, weil er sich so gut einprägte.

27 Vgl. GERSON: Beati qui lugent [...] O benoitte Dame de paradis, ed. Glorieux, Bd. 7*, S. 549–560 (wie Anm. 11). 28 Ebd. S. 549: „Ceulx yci sont bieneureux / Qui les cuers ont doloreux.“

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Zuweilen streut der Theologieprofessor zwar auch in die volkssprachliche Predigt lateinische Sätze ein, denen in den meisten Fällen dann eine Übersetzung folgt.29 Aber er dosiert solche lateinischen Zitate stets so, dass kein Hörer sich überfordert fühlen muss. Er kann eher das behagliche Gefühl haben, hier von einem, der es wissen muss, über den Sinn des christlichen Daseins belehrt und ins Vertrauen genommen zu werden. Man könnte die Haltung des Predigers etwa so paraphrasieren: „Lieber Hörer, du bist auch einer von denen, die wissen, was sonst nicht jeder weiß!“ Nicht selten fügt Gerson französische Sprichwörter ein, die den Predigthörern gewiss vertraut gewesen sein werden: „Wer zu Lebzeiten lieb hat, vergisst im Tode nicht“,30 oder: „Ein Freund, der auch in der Not zu einem hält, ist ein wahrer Freund.“31 In einem fingierten Prozeß lässt er die personifizierte Untugend ‚Irdisches Vergnügen‘ gegen die ebenfalls personifizierte ‚Berechtigte Trauer‘ streiten. Irdisches Vergnügen fügt dreierlei Schaden zu. Berechtigte Trauer dagegen bringt dreierlei Vorteil. Doch liegt dem Hochschullehrer in der volkssprachigen Predigt wenig daran, alle Gliederungspunkte wirklich zu behandeln. Es geht ihm vor allem um den ersten Punkt, den er so zusammenfasst: Ein Herz, das reuevoll trauert, befreit seine Freunde aus harter Sklaverei. Wenn er ein ruhiges Gewissen haben kann, dann erfährt ein Christ Freude. Im Unterschied zur lateinischen Predigt des Vortags erwähnt der Prediger den Inhalt des zweiten biblischen Halbverses, den Trost, den Gott schenkt, nicht, wie oben schon erwähnt worden ist. Beinahe ein Drittel seiner Predigt verwendet Gerson für eine fingierte Bitte einer Mutter, die aus dem Fegefeuer heraus ihr Kind anfleht, für sie zu beten. Verdankt das Kind doch seinen Wohlstand dem Umstand, dass seine Mutter sich gegen Gottes Gebote vergangen hat.32 Am Ende dieser emotionalen Bitte muss Gerson seine Hörer aufrufen, sich wieder zu sammeln:33 Nicht wenige werden in Tränen baden. Die Ansprache einer Mutter, die sich aus dem Fegefeuer heraus an ihr Kind wendet, in Gersons

29 Gerson zitiert auf lateinisch Bibelstellen, Vergil, Augustin, das Ave Maria, das Breviarium Romanum sowie die Rechtsregel, es gelte beide Parteien anzuhören. 30 Ebd. S. 552: „Qui aime a vie, A mort n’oublie.“ 31 Ebd. S. 553: „Au besoing voit on qui amis est.“ 32 Vgl. ebd.: „‚Mon chier enfant‘, dit la mere qui est en la doloreuse prison de purgatoire, en peine et en tourment, ‚mon chier enfant entens a moy, regarde moy, escoute moy. Avise comment la main de la justice de Dieu est sur moy mise, qui par droit me tient en ce feu, en ceste flambe, en ceste tres angoisseuse affliction; avance toy, mon chier enfant, qui jadiz estoyes la joye de tout mon cuer, haste toy pour moy secourir, pour moy tirer et delivrer de ce tres doloreux tourment plus grief que langue ne pourroit dire ne cuer penser.“ 33 Vgl. ebd. S. 554: „Devotes gens, revenés a vous et a moy.“

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französischer Predigt ist meiner Ansicht nach ein Musterbeispiel für Seelenmassage. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Prediger auch in der volkssprachlichen Predigt nicht auf schmückende Attribute verzichtet. Aber der Ton ist insgesamt denn doch ein ganz anderer. Es liegt ihm nicht daran, alle Gliederungspunkte auch wirklich zu behandeln. Es kommt ihm nicht in erster Linie darauf an, durch Gelehrsamkeit zu beeindrucken. Er will das Gefühl ansprechen, und man darf annehmen, dass ihm das gelungen ist. 3.2. Der Erfurter Theologieprofessor Johannes von Paltz OESA veröffentlicht Predigten auf deutsch und auf lateinisch im Druck. Im Jahr 1490 trat der Erfurter Theologieprofessor aus dem Orden der Augustinereremiten Johannes von Paltz (etwa 1445–1511)34 als Unterkommissar des päpstlichen Legaten Kardinal Raimundus Peraudi, der in Sachsen und Brandenburg den Jubiläumsablass vertrieb, auf. In dieser Funktion predigte Paltz den Ablass auch in Schneeberg im Erzgebirge. Dort wurde seit zwanzig Jahren Silberbergbau betrieben. Zwei Stollen einer Silbermine trugen die Namen ‚Heiliges Kreuz‘ und ‚Gottes Gnade‘. Das brachte den Erfurter Augustiner auf den Gedanken, in einer seiner Ablasspredigten zu sagen, wie Bergknappen das Silbererz durch ihre Stollen erreichten, so könne ein Christ Gottes Gnade dadurch erlangen, dass er über das Leiden Christi meditiere.35 Dem sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen, der den größten Teil seiner Einkünfte aus den Erträgen des Silberbergbaus erzielte, gefiel diese Predigt des Paltz mit ihrer Verknüpfung himmlischer und irdischer Schätze gut, und er forderte ihn auf, sie drucken zu lassen. So kam es bereits 1490 erstmals zur Publikation der volkssprachlichen Schrift ‚Die himmlische Fundgrube‘.36 ‚Fundgrube‘ kann man am besten als ‚Bergwerk‘ übersetzen. Vier Predigten sind darin wiedergegeben, wobei allerdings nur die Predigt über das himmlische Bergwerk37 wirklich breit ausgeführt worden ist, während die anderen drei Predigten nur knapp wiedergegeben worden sind. Die Schrift ‚Die himmlische Fundgrube‘ war 34 Vgl. zu seiner Person und zu seiner Stellung in der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit BERNDT HAMM: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982; sowie DERS.: Paltz, Johannes von […], in: TRE 25, Berlin / New York 1995, S. 606–611. 35 Mit den Stollen des Bergwerks vergleicht Paltz die fünf Christus zugebrachten Wunden, die Schläge, die man ihm gab, die sieben Worte Jesu am Kreuz, Maria unter dem Kreuz ihres Sohnes, aber auch die gesamte Leidensgeschichte. 36 Vgl. J OHANNES VON P ALTZ: Die himmlische Fundgrube, hg. von Horst Laubner u.a., in: DERS.: Opuscula, Werke 3, hg. und bearb. von Christoph Burger u.a., Berlin / New York 1989 (= Spätmittelalter und Reformation 4), S. 201–253 (hochdeutsch) und S. 254–284 (niederdeutsch, ohne Anmerkungen ediert). 37 Vgl. ebd. S. 202,16–S. 236,13: Von dem leiden Cristi und teglicher betrachtung.

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sehr erfolgreich, bekannt geworden sind 21 Drucke. Außer aus inhaltlichen Gründen hat wohl auch ihr bescheidener Umfang zum Verkaufserfolg beigetragen: im modernen Druck ist sie nur 40 Seiten lang. Der Kurfürst-Erzbischof von Köln forderte den Erfurter Theologen auf, seinen aus Predigten erarbeiteten Traktat auch in der Sprache der Gelehrten herauszugeben. Johannes von Paltz kam dieser Aufforderung gerne nach, und zwölf Jahre nach der volkssprachlichen Schrift erschien 1502 seine lateinische ‚Coelifodina‘.38 Deswegen liegt der Inhalt von Paltz’ Predigten nun sowohl in der Volkssprache als auch in der lateinischen Bildungssprache vor. Das Eingehen des Theologen auf seine beiden unterschiedlichen Leserkreise, die volkssprachlichen Leser und die in der Bildungssprache geschulten, lässt sich besonders gut an einem Vergleich zwischen der gedruckten volkssprachlichen Predigt darüber, wie ein Christ selbst seinen Tod noch nutzen kann, und der lateinischen Bearbeitung dieses Themas in der lateinischen ‚Coelifodina‘ ablesen.39 3.2.1. Der deutsche Sermon über den Nutzen des Sterbens40 In dem volkssprachlichen Werk steht diese gedruckte Predigt als dritte. Ihr Text könnte in einer Stunde ausgesprochen werden, wenn er gepredigt werden würde. Ich konzentriere mich innerhalb des Textes nochmals auf den ersten Teil41 und lasse den zweiten, der den Untertitel trägt: „Von der kunst zu sterben“, weg. Die Gliederung des ersten Teils ist durchsichtig: Christus lehrte während seines Wirkens auf Erden drei Wege, selig zu werden. Aber neben diesen Wegen zeigte er noch am Kreuz einen Fußpfad auf, auf dem man selbst dann noch in die himmlische Herrlichkeit gelangen kann, wenn man es während seines Erdenlebens versäumt hat, einen dieser Wege zu gehen. Dieses ‚Sonderangebot’ will der Prediger anpreisen. 38

Vgl. P ALTZ: Coelifodina (wie Anm. 8). Die lateinische Schrift ist erheblich umfangreicher als die volkssprachliche. Paltz’ Text umfaßt im modernen Druck 527 Seiten. – Der lateinische Titel ist am besten als ‚Das himmlische Bergwerk‘ zu übersetzen. Einen Brief des Kardinallegaten Raimundus Peraudi an ihn und seinen Widmungsbrief der lateinischen ‚Coelifodina‘ an den Kurfürsten-Erzbischof von Köln nimmt Paltz in sein lateinisches Werk auf. Zu den Kontakten des Hochschullehrers mit dem Prälaten vgl. meine Einleitung zur ‚Coelifodina‘, S. XV. 39 In niederländischer Sprache habe ich beide Fassungen der Predigt miteinander verglichen in: CHRISTOPH BURGER: Latijns denken, Duits praten. Een preek van Johannes von Paltz OESA (ca. 1445–1511) over het nut van het sterven, in: Millennium. Tijdschrift voor Middeleeuwse studies, 12. jaargang, Nijmegen 1998, S. 3–12. 40 Vgl. P ALTZ: Die himmlische Fundgrube (wie Anm. 36), S. 239,1–S. 248,23: Von der wollgebrauchung des todes, damit ein mensch mag erwerben vergebung pen und schuld, ob er sust nie kein gut geton het, sunder vil ubels. 41 Vgl. ebd. S. 239,1–S. 243,11: Von der wollgebrauchung des todes.

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Den Predigthörern und Lesern seines Traktats ist die biblische Passage über den bußfertigen Schächer am Kreuz vertraut, der durch seine Bitte an Jesus noch kurz vor seinem Sterben das Himmelreich erlangte. Darauf kann der Prediger aufbauen. Für die Formulierung des Titels seiner Predigt hat Paltz in der Volkssprache viel mehr Wörter nötig als auf Latein. Das Wort „Wollgebrauchung“, das er als Übersetzung der lateinischen Äquivalente „acceptio“ oder „bonus usus“ prägt, wie sich dann in der lateinischen Fassung zeigen wird, hat sich in der deutschen Sprache nicht durchgesetzt. Doch enthält die volkssprachliche Fassung durchaus auch Aussagen, die in der lateinischen nicht wieder auftauchen werden. Paltz gibt hier eine zusätzliche, werbende Information: Dieses Angebot der Gnade noch in der Todesstunde gilt selbst dem, der während seines Erdenlebens nichts Gutes getan hat, sondern nur Böses. Attraktiver kann man das Angebot des Heils kaum noch machen. Mit dem volkssprachlichen Verbum ‚erwerben‘ gibt Paltz an, worauf es ihm ankommt: Selbst im Sterben, ja gerade im Sterben kann ein Christ bei Gott noch etwas verdienen! Das lateinische Aequivalent ist ‚mereri‘. Der darauf folgende deutsche Satz gibt Auskunft darüber, inwiefern von einem guten Gebrauch des Todes die Rede sein kann: „womit ein Mensch Vergebung der Schuld und der Sünde erwerben kann.“42 Es geht darum, in letzter Minute den Zugang zum Himmel zu kaufen.43 Die Reihenfolge der beiden Nomina erstaunt: zuerst nennt der Prediger die Strafe, dann erst die Schuld. Aber das mag von den Hörern her gedacht sein, die vor allem der Hölle und am liebsten auch dem Fegefeuer entkommen wollten und sich nicht so sehr darum sorgten, welche Schuld sie vor Gott hatten. Als biblischen Text wählt Paltz in der volkssprachlichen Predigt Apokalypse 14,13: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.“ In der lateinischen Bearbeitung zitiert er eine Glosse des Lombarden zu Philipper 42

Ebd. S. 239,1–2: „damit ein mensch mag erwerben vergebung pen und schuld.“ Das deutsche Wort ‚pen‘ übersetzt das lateinische ‚poena‘. Die lateinische Gerundivwendung „ad merendum“ konnte man zu Paltz’ Zeit in der deutschen Volkssprache noch nicht ähnlich knapp und präzise übersetzen wie im Lateinischen. Der deutsche Satz „damit ein Mensch mag erwerben“ hat mehr Wörter nötig und kann die finale Bedeutung weniger präzise formulieren. 43 Vgl. BERNDT HAMM: Den Himmel kaufen. Heilskommerzielle Perspektiven des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 21 (2006): Gott und Geld, Neukirchen-Vluyn 2007, S. 239–275; und DERS.: „Zeitliche Güter gegen himmlische eintauschen“ – Vom Sinn spätmittelalterlicher Stiftungen, in: Udo Hahn / Thomas Kreuzer / Susanne Schenk / Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Geben und Gestalten. Brauchen wir eine neue Kultur der Gabe?, Berlin 2008, S. 51–65. Zu der unverhohlenen Erwartung, mit Gott Handel treiben zu können, vgl. auch M ICHEL C LÉVENOT: Lieber Jesus, mach mich reich! Geschichte des Christentums im XIV. und XV. Jahrhundert, Paris 1987 (französisch), Luzern 1993 (deutsch).

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1,23: „Ich habe Lust, [vom Leibe] gelöst zu werden und mit Christus zu sein“. Diesen Bibelvers zitiert Paltz zwar auch in der volkssprachlichen Predigt, aber an späterer Stelle. Ganz unverhohlen leitet Paltz dazu an, wenn man denn während seines Erdenlebens zu wenig gute Taten vollbracht habe, noch in der letzten Lebensstunde die Güte Gottes zu nutzen und Verdienst zu erwerben. Viel besser ist es zwar, rechtzeitig sein Leben so einzurichten, dass man vor Gott bestehen kann. Hat ein Christ das aber versäumt, dann soll er nicht verzweifeln, sondern seine letzte Chance nutzen. Die Gliederung der beiden Predigten des Paltz im Überblick Johannes von Paltz OESA: Die himlische funtgrub, S. 239 (wie Anm. 36).

Johannes von Paltz OESA: Coelifodina, S. 204–205, S. 209–210 (wie Anm. 8).

Die drit sermon ist von der wollgebrauchung des todes, damit ein mensch mag erwerben vergebung pen und schuld, ob er sust nie kein gut geton het, sunder vil ubels.

De acceptione vel bono usu mortis

Sant Johanns spricht in dem buch der heimlichen offenbarung in dem virzehenden capittel: Selig seind die totten, die in dem herren sterben [Apc. 14,13]

Magister in Glossa super illud Ad Philippenses 1: Desiderium habens dissolvi et cum Christo esse … Qui non moritur aliquo istorum modorum, puta vel patienter vel delectabiliter, non moritur in domino [cf. Apc. 14,13] nec est in statu salutis … Ubi sciendum, quod dominus Iesus fuit sufficientissimus doctor regni, quia tam in vita quam in morte docuit, qualiter ad regnum coeleste veniremus. In vita docuit venire ad regnum tribus viis: Prima via est per violentiam …

Der herr Jesus, die weil er auf der erden ging, so leret er uns drei weg zu kommen: Der erst weg was ein weg der gewalttuung …

ad merendum remissionem poenae et culpae.

Der ander weg was der weg des steten, innigen gebets … Der drit weg was der weg des almusengebens .

Tertia via est per orationem …

Secunda via est per emptionem. Dise drei weg prediget Cristus, do er

Ista docuit Christus

Zwei spätmittelalterliche Predigten auf erden wandert oder do er an dem kreuz kam, do weiset er unß einen heimlichen fußpfad, zu dem ewigen leben zu kommen, das ist die wolgebrauchung deß todeß …

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in hac vita ante mortem suam. Sed quando mori voluit pendens in cruce … proposuit quartam viam veniendi ad regnum, scilicet bonum usum mortis …

3.2.2. Die lateinische Fassung des Sermo In der lateinischen ‚Coelifodina‘ erhält der Abschnitt ‚Vom guten Gebrauch des Todes‘ seinen Platz im dritten Hauptteil: ‚Von der Weise, gut zu sterben‘. Dieser Hauptteil nimmt im modernen Druck immerhin 67 Seiten ein.44 Den Abschnitt ‚Vom guten Gebrauch des Todes‘ hat der Verfasser allerdings in der lateinischen Fassung gegenüber der volkssprachlichen Fassung kaum erweitert: anstelle von viereinhalb Seiten beansprucht er nun sechs Seiten.45 Auch in der lateinischen Fassung schließt der Abschnitt ‚Von der Kunst gut zu sterben‘46 an ‚Vom guten Gebrauch des Todes‘ an. Paltz spricht darin, damit man sich den Inhalt gut merken kann, von zehn heilbringenden Gütern, die noch das Sterben bringen kann. Besonderes Interesse verdient ein handschriftlich überliefertes lateinisches Stück Text, das in einer Trierer Handschrift überliefert ist. Weil es vom Wortlaut des Abschnitts, der 1502 gedruckt worden ist, erheblich abweicht, handelt es sich wohl um ein Konzept, das Paltz zwischen dem Druck der volkssprachigen Schrift 1490 und dem der lateinischen Schrift 1502 verfasst hat.47 Während der Prediger und Traktatschreiber seine Ausführungen in der volkssprachlichen Fassung mit einem Bibelzitat eingeleitet hatte, wie oben bereits erwähnt worden ist, beginnt er im lateinischen Text mit einer Glosse des Petrus Lombardus. Wer sein Widmungsschreiben an Erzbischof Hermann von Hessen im Kopf hat, der erinnert sich an die dort formulierte Aussage: Die lateinische Schrift wird gebildeten Lesern willkommener sein und gerade dadurch denen, die von diesen Lateinkundigen unterwiesen werden, von höherem geistlichem Nutzen.48 Die so oft in völlig profanem Zusammenhang verwendeten Vokabeln ‚Nutzen‘ und ‚nützlich‘ können bei Theologen, die Ergebnisse akademischer Theologie für weniger Geschulte in der Volkssprache wiedergeben, einen geistlichen Klang erhal-

44

Vgl. P ALTZ: Coelifodina (wie Anm. 8), S. 161–228: De modo bene moriendi. Vgl. ebd. S. 204,14–S. 210,19: De acceptione vel bono usu mortis ad merendum remissionem poenae et culpae. 46 Ebd. S. 210,20–S. 228,3: De arte bene moriendi. 47 Vgl. ebd. meine Einleitung zur ‘Coelifodina’, S. XV. 48 Vgl. ebd. S. 3, Z. 19–20: „quo litteratis gratius et ex consequenti ceteris redderetur utilius […].“ 45

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ten. Es geht dann eben um Nutzen für das Erreichen der himmlischen Herrlichkeit. In der Fassung für Lateinkundige zitiert der Theologieprofessor ausgiebig Autoritäten, Gregor den Großen, den Sentenzenkommentar des Thomas von Aquin, die Schrift ‚De moribus‘ des Wilhelm von Auvergne und die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Dabei kann er aus der ‚Trostschrift gegen die Furcht vor dem Tode‘, einem Werk seines Lehrers Johannes von Dorsten, schöpfen. Paltz passt sich den Erwartungen des jeweiligen Leserkreises geschickt an. Für die lesekundigen, aber nicht lateinkundigen Leser beginnt er seine Ausführungen über den Nutzen des Sterbens mit einem Bibelzitat. Bei den lateinkundigen, aber nicht theologisch geschulten Pfarrern dagegen beginnt er mit einem erbauenden Wort der scholastischen Autorität Petrus Lombardus, und er unterstüzt seine Argumentation mit zahlreichen gelehrten Zitaten.

4. Inhalt und Medium Beide Prediger sind darin geschult, in der lateinischen Gelehrtensprache zu konzipieren, was sie sagen wollen, und auf der Grundlage ihrer Konzepte auf lateinisch oder in der jeweiligen Volkssprache zu predigen. Sie beherrschen das Medium ‚Predigt‘, und sie sind mit der Möglichkeit, Predigten zu Traktaten umzuarbeiten, vertraut. Sie stellen sich in ihren Predigten vorzüglich auf das Publikum ein, das sie jeweils erreichen wollen. Ihnen ist klar, dass eine Predigt in der Volkssprache emotionaler sein muss als eine Ansprache vor Mitgliedern der Universität beziehungsweise ein Handbuch für lateinkundige Priester. Ihre Gewohnheit, deutlich zu gliedern, lassen sie auch in der volkssprachlichen Predigt nicht fahren. Aber besonders in Gersons französischer Predigt wird deutlich, dass ihm die Gliederung, die er vor Augen hat, relativ gleichgültig ist, wenn er nur die Botschaft vermitteln kann, um die es ihm geht. Diese vier Predigten sind nicht umsonst überliefert worden, während viele andere dem Vergessen anheim gefallen sind. Alle vier sind beispielhaft darin, wie man die Heilsbotschaft so weitersagt, dass sie bei den Hörern und Hörerinnen offene Ohren findet.

Ablassinschriften des späten Mittelalters CHRISTINE MAGIN

1. Allgemeines Wie der wohl bekannteste päpstliche Ablass für St. Peter in Rom zeigt, mit dem der junge Martin Luther sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts intensiv und mit den allseits bekannten Folgen auseinandersetzte,1 wurden Ablässe oft vergeben, um Kirchenbauten zu finanzieren. Ein Ablass, lat. „indulgentia“ oder „absolutio“, ist der Nachlass der Strafe für bereits vergebene Sünden. Er wurde den gläubigen Christen „unter der Bedingung gewährt, dass bestimmte Gebete, Wallfahrten, Beiträge an den Kirchenbau oder andere fromme Leistungen“ erbracht worden waren.2 Ablässe lassen sich also zum einen im größeren Kontext der Frömmigkeitsgeschichte des späten Mittelalters betrachten, zum anderen konkret im Zusammenhang mit dem Bau einer Kirche oder der Errichtung eines Altares, der dadurch begünstigt wurde. Bevor es der Buchdruck ermöglichte, Gläubige in vorher ungekanntem Ausmaß auf Möglichkeiten des Ablasserwerbs aufmerksam zu machen,3 waren ergänzend zu den mündlichen Ablassverkündigungen und -predigten auch Ablassinschriften geeignete Medien für die Propagierung von Indulgenzen, denn sie konnten an einem prominenten, publikumsnahen Standort dauerhaft die Aufmerksamkeit der heilssuchenden Christen auf sich ziehen. Als eine grundsätzliche methodische Erkenntnis der Epigrafik gilt, dass sich alle Aspekte der Bedeutung einer Inschrift nur dann erschließen, wenn man ihren Funktionszusammenhang berücksichtigt, also ihren Standort bzw. das Objekt, auf dem sie angebracht ist. Ein ebenso einfaches wie einleuchtendes Beispiel soll diesen Sachverhalt illustrieren: Wenn eine mittel1 Vgl. dazu zuletzt DAVID B AGCHI: Luther’s Ninety-five Theses and the Comtemporary Criticism of Indulgences, in: R. N. Swanson (Hg.): Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe, Leiden/Boston 2006 (= Brill’s Companions to the Christian Tradition 5), S. 331–355. 2 Nach „Ablaß“, in Katalog: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. von P ETER JEZLER, München / Zürich 1994, S. 234. 3 Vgl. dazu den Beitrag von FALK E ISERMANN in diesem Band.

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alterliche Grabplatte aus einer Kirche entfernt und in einem Museum aufgestellt wird, trifft die Inschrift ‚Hier ruht der ehrenfeste und strenge Herr xy‘ nicht mehr zu. Von wissenschaftlichem Interesse ist neben der Kenntnis des situativen und funktionalen Zusammenhangs einer einzelnen Inschrift auch die grundsätzliche Frage nach der Entwicklung der pragmatischen Schriftlichkeit im späten Mittelalter: Welche Informationen wurden auf welchen Medien in welcher Form und Sprache und mit welcher Intention festgehalten oder präsentiert? Nicht nur in dieser Hinsicht sind neben der Handschriftenkultur des Mittelalters auch inschriftliche Quellen von Bedeutung, denn anders als immer wieder abgeschriebene und bearbeitete Texte sind Inschriften oft in ihrem authentischen Kontext, weil vielfach unverändert an genau dem Standort und in eben der Gestalt überliefert, die ihre Auftraggeber vorgesehen hatten. Prinzipiell können Inschriften klassifiziert werden nach dem Trägerobjekt – man spricht dann von Grabinschriften, Hausinschriften, Glockeninschriften etc. – oder nach dem inhaltlichen Texttyp: Besitzinschriften, Weiheinschriften, Bauinschriften etc. Der in diesem Beitrag betrachtete Inhaltstyp ‚Ablassinschrift‘ ist noch nicht systematisch untersucht worden.4 Eine erste, sicher noch zu vertiefende Sichtung der Quellen des deutschsprachigen Raumes5 hat bisher nur etwa 55 vorreformatorische Ab4 Einführend vgl. HARTMUT B OOCKMANN: Ablaß-„Medien“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983), S. 709–721; VOLKER HONEMANN: Vorformen des Einblattdruckes. Urkunden – Schrifttafeln – Textierte Tafelbilder – Anschläge – Einblatthandschriften, in: DERS. / Sabine Griese / Falk Eisermann / Marcus Ostermann (Hg.): Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000, S. 1–43, bes. S. 8f. zu Ablassurkunden, S. 16f. zu Ablässen. Nützlich ist auch die Bibliographie bei FALK E ISERMANN: Der Ablaß als Medienereignis, in: Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra (Hg.): Tradition and Innovation in an Era of Change. Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (= Medieval to Early Modern Culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 1), S. 99–128, hier S. 116–122. Nach wie vor unersetzlich, wenngleich nicht einfach zu benutzen, ist der „Klassiker“ von N IKOLAUS P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 2 Bde., Paderborn 1922; DERS.: Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Paderborn 1923; DERS.: alle Bde, 2. Auflage, Darmstadt 2000 (neu gesetzt, daher mit veränderter Seitenzählung); in Bd. 1 vgl. auch THOMAS LENTES: Bibliographie zur Ablassforschung nach Nikolaus Paulus, S. XL–LIX. Als konzise Einführung empfiehlt sich S IMONE ROVA: Ablaß, in: Ausstellungskatalog: Himmel, Hölle, Fegefeuer (wie Anm. 2), S. 234f. Vor allem zum 15. Jahrhundert vgl. NIKOLAUS STAUBACH: Romfahrt oder Selbsterfahrung? Der Jubiläumsablaß im Licht konkurrierender Kirchen- und Frömmigkeitskonzepte, in: DERS. (Hg.): Rom und das Reich vor der Reformation, Frankfurt a. M. u. a. 2004 (= Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 7), S. 251–270. 5 Gesucht wurde in den bisher erschienenen etwa siebzig Bänden der Reihe „Die deutschen Inschriften“ (= DI) sowie in weiterer Literatur. Besonders ergiebig war eine Umfrage unter den deutschen und österreichischen Inschriften-Kolleginnen und -Kollegen,

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lassinschriften in lateinischer und deutscher Sprache ergeben. Da ein festes Formular für diese Texte nur in Ansätzen zu erkennen ist, bietet sich eher eine Systematisierung nach inhaltlichen Kategorien an.6 1.1. Ablässe für das Beten vor Kultbildern Als die wohl älteste Ablassinschrift im Reichsgebiet kann die nach 1290 entstandene Halberstädter Messingtafel7 gelten, die nur rund 40 cm hoch ist und einst außen an der Liebfrauenkirche angebracht war (Abb. 1). Die dort verehrte Marienskulptur existiert noch heute. Wahrscheinlich handelt es sich bei der auf der Tafel dargestellten Sitzmadonna um die typisierte Wiedergabe dieser Skulptur. Der Hinweis auf die Ablässe von insgesamt etwas mehr als neun Jahren erfolgt durch die unregelmäßig gravierte, lateinische Inschrift in gotischer Majuskel. Dort ist allerdings nicht direkt von einem Ablass für das Beten vor Maria, sondern nur generell für die Kirche die Rede. Dieser ist an allen Marienfesten, am Tag der Kirchweihe und in der Oktav dieser Feste, also eine Woche später, zu erwerben. Die Höhe eines Ablasses wird oft nicht nur in Jahren und Tagen, sondern auch in Karenen angegeben. Eine Karene umfasst dabei den Fastenzeitraum von vierzig Tagen. „CARDINALES • ARCHIEPISCOPI • ET • EP(ISCOP)I • CONTV-LERV(N)T / ISTI • ECCL(ESI)E • VII • ANNOS • ET • XLV • DIES • INDVLGENC/IE • ET • X • KARRENAS • INSVP(ER) • D(OMI)N(V)S • NICOLAVS • PAPA • / IIII • DEDIT • ANNVM • ET • XL • DIES • D(OMI)N(V)S • INNOCEN/CIVS • PAPA • IIII • XL • DIES • HEC • INDVLGENCIA • D/VRAT • IN OMNIBVS • FESTIVITATIBVS • SANCTE • M/ARIE • ET • IN DIE • DEDICACIONIS • ET • PER OCTA/VAS • EARVM • SVMMA • INDVLGENCIE • SVNT • / VIII • ANNI • ET • LXXXV • DIES • ET • X • KARRENE •“8

Ein eigener, bedeutender Typus innerhalb der Kategorie der Kultbild-Ablässe sind Darstellungen der Gregorsmesse und des dazugehörigen Christus

die mir im Frühjahr 2008 von ihnen zusammengetragenes, noch nicht publiziertes Material großzügig zur Verfügung gestellt haben, wofür ich herzlich danke. 6 Besonders Falk Eisermann, Berlin / Greifswald, und Berndt Hamm, Erlangen, danke ich herzlich für viele anregende Ablass-Diskussionen zu fast jeder Tages- und Nachtzeit. 7 Halberstadt, Domschatz, Inv.-Nr. 32. 8 Übersetzung: ‚Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe haben dieser Kirche sieben Jahre und 45 Tage Ablass und [den Erlass] zehn vierzigtägiger Bußzeiten verliehen. Darüber hinaus gewährte der Herr Papst Nikolaus IV. ein Jahr und vierzig Tage, der Herr Papst Innozenz IV. vierzig Tage. Dieser Ablass besteht an allen Festtagen der heiligen Maria und am Tag der (Kirch)weihe und während ihrer Oktaven. Die Gesamtheit des Ablasses: Es sind acht Jahre und 85 Tage und zehn vierzigtägige Bußzeiten.‘ Vgl.: Die Inschriften der Stadt Halberstadt, ges. und bearb. von H ANS FUHRMANN, Wiesbaden 2009 (= DI 75), Nr. 27.

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als Schmerzensmann.9 Gemein ist den in verschiedenen Medien und Varianten überlieferten Gregorsmessen, dass das Betrachten des Bildes und die Leistung der vorgeschriebenen Gebete einer virtuellen Pilgerreise zur Kirche Santa Croce in Rom gleichkam: Das Nacherleben der dort durch Papst Gregor d. Gr. (590–604) erfahrenen Vision, dem einer mittel-alterlichen Legende zufolge der leidende Christus erschienen war, wurde möglich.10 Der Gläubige sieht quasi gemeinsam mit dem Papst den Schmerzensmann, was ihn für den Erwerb der mit diesem Bild verbundenen geistlichen Gnade des Ablasses qualifiziert. Solche Darstellungen sind gelegentlich als Steinrelief,11 relativ selten auch als gefasste Holztafel12 überliefert (Abb. 2). Das Standardformular für das Beten vor Kultbildern beginnt mit: ‚Wer 9 Dazu: Die Messe Gregors des Großen. Vision, Kunst, Realität. Katalog und Führer zu einer Ausstellung im Schnütgen-Museum der Stadt Köln, bearb. von U WE WESTFEHLING, Köln 1982; K ARSTEN KELBERG: Die Darstellung der Gregorsmesse in Deutschland, masch. phil. Diss. Münster 1983; GUNHILD ROTH: Die Gregoriusmesse und das Gebet „Adoro te in cruce pendentem“ im Einblattdruck. Legendenstoff, bildliche Verarbeitung und Texttradition am Beispiel des Monogrammisten d. Mit Textabdrucken, in: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (wie Anm. 4), S. 277–324; ESTHER MEIER: Die Gregorsmesse. Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtypus, Köln u. a. 2006. Vgl. auch die zahlreichen Beiträge in: ANDREAS GORMANS und THOMAS LENTES (Hg.): Das Bild der Erscheinung: die Gregorsmesse im Mittelalter, Berlin 2007 (= KultBild 3). 10 Vgl. MEIER: Gregorsmesse (wie Anm. 9), S. 30–37, 40–45. Meier behandelt den mit Darstellungen verbundenen und inschriftlich fixierten Ablass soweit ich sehe nur im Zusammenhang mit Wandmalereien (S. 207–209). Generell ist zu diesem Werk anzumerken, dass der Leser beim Besprechen einer Gregorsmesse, auf welchem Bildträger auch immer, oft nicht erfährt, ob diesem eine (Ablass-)Inschrift beigegeben ist; der Wortlaut der Texte wird von Fall zu Fall wiedergegeben – oder auch nicht. 11 Vgl. etwa eine steinerne Schmerzensmannskulptur außen an der Pfarrkiche von Langenlois (Österreich), in: Die Inschriften Niederösterreichs, Teil 3: Die Inschriften des politischen Bezirks Krems, ges. und bearb. von ANDREAS ZAJIC, Wien 2008 (= DI 72), Nr. 42 (1415?) mit Abb. 29; ebenso die besser erhaltene Gregorsmesse aus Rotmarmor, ehemals im Regensburger Dom in der Nähe eines Gregorsaltares, in: Die Inschriften der Stadt Regensburg II. Der Dom St. Peter (I. Teil bis 1500), ges. und bearb. von WALBURGA K NORR, W ERNER M AYER u. a., Wiesbaden 2008 (= DI 74), Nr. 255 (3. Viertel 15. Jh.) mit Abb. 92. 12 Die offensichtlich mehrfach restaurierte Ablasstafel aus der Zisterzienserinnenabtei Lichtenthal (um 1500, Leinwand auf Holz) ist ca. 75 cm hoch. Die Ablassinschrift in gotischer Minuskel lautet: „• wer • den • srin • kniuwind • ert • der • hat • ablavsz / xxxiiii • duse(n)t • iar • vn(de) • xii • iar • vn(de) sechs • vn(de) • xxx • mal / • xxx • tag • vn(de) • lx • hund(er)t • vn(de) • ist • bestät • von • diem • / • papst • clemens.“ Vgl. dazu künftig: Die Inschriften der Stadt Baden-Baden und des Landkreises Rastatt, ges. und bearb. von ILAS B ARTUSCH, Wiesbaden 2009 (=DI 78). Ein weiteres Beispiel in Katalog: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte, Nürnberg / Frankfurt 1983, S. 53, Nr. 52.

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den Schrein kniend verehrt [...]‘ bzw. ‚Wer die Figur kniend verehrt [...]‘. Diese, die hingebungsvolle Haltung der Gläubigen verkürzend bezeichnende Formel hat jüngst Berndt Hamm eindrücklich beschrieben und hergeleitet.13 An den Gregorsmessen und verwandten Motiven lassen sich im übrigen paradigmatische Phänomene des Medienwechsels bzw. der gegenseitigen Beeinflussung von Buchdruck und bildender Kunst, von Epigrafik und Typografie aufzeigen. Auch Grabmäler können als Träger von Ablassinschriften dienen. Auf dem Epitaph der 1475 verstorbenen Nürnberger Dominikanerin Dorothea Schürstab, heute im Germanischen Nationalmuseum, ist die Sterbeinschrift, der zunächst wichtigste Text auf einem Grabmal,14 nicht mehr erhalten, die dargestellte Gregorsmesse und der somit durch das Epitaph zu erwerbende Ablass waren jedoch sicher ebenso wirksame Mittel wie das Nennen ihres Namens und Todestags, um das Andenken an die Verstorbene zu sichern. Eine Gregorsmesse bot sich als Bildmotiv für die „Aufwertung“ eines Grabmals an, weil damit per se ein Ablass, üblicherweise von 14.000 Jahren,15 verbunden war. Darüber allerdings, wie oft dieses Programm für Epitaphien gewählt wurde, lässt sich bisher nur spekulieren.16 Insgesamt scheinen auf Epitaphien nur relativ selten Ablassinschriften angebracht worden zu sein, besonders häufig vielleicht im Nürnberger Raum. Auch auf dem Schürstab-Epitaph sehen wir wieder die bekannte Eingangsformel ‚Wer diese Figur kniend ehrt [...]‘. 1.2. Ablässe zur Unterstützung von Kirchenbauten und Altarweihen Ablässe kommen häufig im Zusammenhang mit Kirchenbauten und Altarweihen vor. Ihr Zweck war die Finanzierung von Bauten bzw. Bauteilen

13 BERNDT HAMM: Die Nähe des Heiligen im ausgehenden Mittelalter: Ars moriendi, Totenmemoria, Gregorsmesse, in: ders., Klaus Herbers, Heidrun Stein-Kecks (Hg.): Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007 (= Beiträge zur Hagiographie 6), S. 185–221, hier S. 202 mit Anm. 58, S. 205f. mit Anm. 67. 14 „Anno domini MCCCC im LXXV jar am vierten Ostertag [29. März 1475] starb Schwester Dorothea Schürstabin, Subpriorin des Klosters, der Gott genad und allen glaubigen Seelen“ Wortlaut nach Ausstellungskatalog: Martin Luther (wie Anm. 12), S. 54, Nr. 53. 15 Vgl. HAMM: Nähe (wie Anm. 13), S. 202f. mit Anm. 60. 16 Weitere Beispiele: Die Inschriften der Stadt Fritzlar, ges. und bearb. von THEODOR N IEDERQUELL, München 1974 (= DI 14), Nr. 56 (Grabstein, ehemals mit aufgemalten arma Christi, dazu lateinische Ablassinschrift, 1465), Nr. 83 (steinernes Epitaph mit lateinischer Inschrift: 11 Tage Ablass für je 5 Vaterunser und Ave Maria); Die Inschriften der Stadt Regensburg I, Minoritenkirche, ges. und bearb. von W ALBURGA KNORR und GERHARD ZIPP, Wiesbaden 1996 (= DI 40), Nr. 149 (steinernes Epitaph mit Relief der Gregorsmesse und deutscher Inschrift, 1502).

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oder der Ausstattung eines Altars; dazu zwei Beispiele in deutscher und lateinischer Sprache. „[...] Anno domini mo cccco lxx ii da gaben v kardinel ieklicher c tag aplaß in diß capelen vnd wert ewig nemlich v tag im iar bischoff mathis bestedigt den vnd gab auch xl tag.“17

Wie in diesem Fall erteilten Bischöfe üblicherweise vierzig Tage, Kardinäle hundert Tage Ablass. Die zweite Ablassinschrift aus dem Kloster Ebrach (Landkreis Bamberg) ist deshalb ungewöhnlich, weil an die Stelle der zu verrichtenden Gebete andere Leistungen, nämlich die Pflege der Paramente und der übrigen Altarausstattung, treten konnten: „Notum sit universis Christi fidelibus, quod reverendus in Christo pater et Dominus Dominus Georgius Episcopus Nicopolitanus SS. Theologiae professor ex speciali gratia ac devotione contulit omnibus et singulis vere poenitentibus, qui diebus patronorum festivis ac etiam feriatis coram hoc altari Sancti Nicolai seu etiam extra cancellum huius altaris devote flexis genibus dominicam orationem cum salutatione angelica dixerint aut etiam pallos, mapulos vel alia quaelibet pro decore huius altaris procuraverint, dederint, laverint seu rupta resarcierint, quocumque die ac etiam quotiescumque vel unum ex his devote perfecerint, pro qualibet vice 40 dies indulgentiarum criminalium et omnium venalium et unam carenam. Acta et facta sunt Anno 1480 4 calendas februarii sub abbate existente Domino Joanne SS. Theologiae professore eximio.“18

Weitere, jedoch relativ seltene Ablassinschriften-Typen sind 3. Ablasssummarien sowie 4. Texte auf Ablasstruhen. 1.3. Ablasssummarien Ablasssummarien sind Zusammenstellungen aller Ablässe für einen Altar, eine Kirche oder für einen ganzen Orden. Das prominenteste und meistzitierte Beispiel für eine Ablassinschrift ist das Ablasstriptychon für die 17

Die Inschriften des Großkreises Karlsruhe, ges. und bearb. von ANNELIESE SEELIMünchen 1981 (= DI 20), Nr. 63 (1472, Michaelskapelle in Untergrombach, Stadt Bruchsal). 18 Die Inschriften des Landkreises Bamberg bis 1650, hg. von RUDOLF M. KLOOS in Zusammenarbeit mit LOTHAR B AUER und mit Beiträgen von ISOLDE MAIERHÖFER, München 1980 (= DI 18), Nr. 71†. Übersetzung: ‚Bekannt sei allen Christgläubigen, dass der ehrwürdige Vater in Christus und Herr, Herr Georg, Bischof von Nikopolis, Professor der heiligen Theologie (Weihbischof von Würzburg), aus besonderer Gnade und Verehrung allen und jedem einzelnen, der wahrhaft bereut und an den Festtagen der Patrone, auch werktags, vor diesem Altar des heiligen Nikolaus oder auch außerhalb des Gitters dieses Altars demütig mit gebeugten Knien das Gebet des Herrn mit dem Englischen Gruß (Ave Maria) spricht oder auch Decken, Tücher oder anderes zum Schmuck dieses Altars besorgt, schenkt, wäscht oder repariert, an welchem Tage und wie oft er solches tut, jedesmal 40 Tage Nachlass der schweren und aller leichten Sünden und eine Karene erteilt hat. Geschehen und gemacht ist dies im Jahre 1480 am 4. Tag vor den Kalenden des Februar (29. Januar) unter dem Abt Herrn Johannes, hervorragender Professor der heiligen Theologie.‘

GER -ZEISS,

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Deutschordenskirche in Graz (1513). Es trägt ausführliche gemalte, lateinische und deutsche Inschriften. Die mit Pergament bezogenen Holztafeln sind geöffnet 136 cm breit, die Textedition umfasst elf Druckseiten.19 Zwar wird der potenzielle Leser der Inschriften direkt angesprochen („Item von den namhafftigen festen oder heyligen tagen findestu in diser tafel [...]“); die Frage, für wen diese Texte gedacht waren, welchen „Sitz im Leben“ eine so umfangreiche Schrifttafel eigentlich hatte, ist jedoch kaum zu beantworten.20 1.4. Ablasstruhen Auf einer kleinen Truhe aus dem Augustiner-Chorherrenstift St. Florian bei Linz in Oberösterreich steht „Jndvlgencie • Altaris / Sancti • sebastiani • / P • 1•5•22 P“. Die hölzerne, vergoldete Truhe ist 23 cm hoch, 44 cm breit und war speziell für die Aufbewahrung der Ablassurkunden eines

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Dazu AXEL EHLERS: Die Ablasspraxis des Deutschen Ordens im Mittelalter, Köln / Weimar 2007 (= Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 64), hier S. 264–271, 582–595, Abb. 8a–d. Auch Ausstellungskatalog: Martin Luther (wie Anm. 12), S. 52f. Nr. 50. 20 Führt man diese Frage gedanklich weiter, schließt sich daran diejenige nach den Wegen der Vermittlung von in Wort und Bild formulierten geistlichen Inhalten an „illiterati“, also Lateinunkundige und Laien an. Aus den Quellen ist keine Beschreibung bekannt, dass etwa ein Geistlicher die Bildszenen eines Altarretabels oder einer Bildtafel erläutert hätte. Solche Wege der Vermittlung muss es jedoch gegeben haben. In diese Richtung weist etwa das figürliche Grabmal für den Frankfurter Geistlichen Johannes Lupi (gest. 1468), der einen Zeigestock in der Hand hält und in der Inschrift als „doctor decem preceptorum“ bezeichnet wird. Zu diesem Grabstein gehört ein Zehn-GeboteRelief, zu dem als optisches Hilfsmittel Hände gehören, die durch die Anzahl der emporgestreckten Finger das jeweils bildlich dargestellte Gebot bzw. dessen Übertretung bezeichnen. Vgl. HARTMUT BOOCKMANN: Die Stadt im späten Mittelalter, Frankfurt a. M. u. a. 1986, S. 188f., Nr. 295f.; zu diesem Stück siehe auch DERS.: Über Schrifttafeln in spätmittelalterlichen deutschen Kirchen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40, 1984, S. 210–223 (mit Abb. der Reliefs), bes. S. 212f. Ich danke Ruth Slenczka, Glienicke, für den Hinweis auf dieses Beispiel. Zur medial und liturgisch mit zunehmendem Aufwand inszenierten Ablassverkündung und -werbung vgl. E ISERMANN: Medienereignis (wie Anm. 4); WILHELM ERNST W INTERHAGER: Die erste Werbekampagne am Anbruch der Neuzeit. Zur Ausprägung frühmoderner Werbemethoden in den großen Ablaßaktionen um 1500 – eine historische Skizze, in: Franz J. Felten, Stephanie Irrgang, Kurt Wesoly (Hg.): Ein gefüllter Willkomm. Festschrift für Knut Schulz zum 65. Geburtstag, Aachen 2002, S. 517–532; HANS VOLZ: Die Liturgie bei der Ablaßverkündung, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 11 (1966, erschienen 1967), S. 114–125. Es ist jedoch zu beachten, dass Informationen zur Ablasspropaganda für die Zeit vor dem 15. Jahrhundert kaum vorliegen.

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einzigen Altars bestimmt.21 Die Inschrift thematisiert also nicht Ablässe an sich, sondern benennt den kostbaren Truheninhalt. Die Gewährung von Ablässen war auch ein juristischer Vorgang, bei dem bestimmte kirchenrechtliche und notarielle Formalitäten zu beachten waren, jedoch wird dieser Aspekt in den Inschriften nur selten thematisiert. Ein nicht erhaltenes Beispiel aus dem rheinischen Karmeliterkloster Boppard, ursprünglich wohl aus dem Jahr 1465, bot immerhin nicht nur den Ablasstarif von vierzig Jahren, sondern auch die Informationen, dass das lateinische Original der Ablassurkunde in der Kirche verwahrt werde und deren volkssprachige Übersetzung „Worth zu Worth“ notariell beglaubigt worden sei. „[...] Vierzigh Jahr Ablasz verliehen. Wie solches zu ersehen in einem darüber aufgerichten schreiben, so allhier noch zur Zeit in Verwahrschafft aufgehalten wird und diese Copey Von Worth zu Worth aus dem Latein ins Teutsch Transvertiret, so durch uns gemeinen Notarii Handt unterzeichnet zu mehrer Testification auf gemeldeten Brief der Indulgens.“22

Indes ist nicht jede Inschrift, die sich mit einer rechtlichen Materie befasst, auch eine Urkundeninschrift, die sich des jeweils vorgeschriebenen Formulars bedient. Es fällt auf, dass Ablassinschriften als Urkundeninschriften im strengen Sinne kaum zu finden sind; die Form bzw. das Formular scheint hinter den Inhalt zurückzutreten.23

2. Ablasswerbung um 1400: vier Steintafeln an der Marienkirche der Hansestadt Rostock Die imposante Marienkirche, die bis heute die Silhouette Rostocks dominiert, war seit 1265 Hauptkirche der Hansestadt. Ihre Baugeschichte gibt viele Rätsel auf, denn die Informationen gerade aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts sind dünn und widersprüchlich. Nachweisbar ist bisher 21 Vgl. Albrecht Altdorfer. Die Gemälde, Gesamtausgabe von FRANZ W INZINGER, München / Zürich 1975, Anhang, Abb. A 3 und A 4, dazu Erläuterungen S. 135. Die Initialen P. P. stehen für den Namen des Stifters des Sebastiansaltares, den P(ropst) P(eter Maurer). 22 Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises I (Boppard, Oberwesel, St. Goar) ges. und bearb. von EBERHARD J. N IKITSCH, Wiesbaden 2004 (DI 60), Nr. 263 (1465 bzw. 2. H. 16. Jh.?). Das lateinische Original der Inschrift wurde wohl in der zweiten Hälfte des 16. Jh. ins Deutsche übertragen. Auch diese übersetzte Inschrift liegt nur noch in einer erneuerten Fassung des 19. bzw. 20. Jh. vor. 23 Der oben erwähnte „Textilablass“ aus Ebrach stellt nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in formaler Hinsicht eine Ausnahme dar, denn er beachtet das übliche Urkundenformular.

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nur ein massiver Planwechsel, der wohl der statischen Sicherung diente.24 Architektonisch fällt das sehr kurze Langhaus auf, das insgesamt einen kreuzförmigen Kirchengrundriss entstehen lässt, der an einen Zentralbau erinnert. Der wichtigste Zugang zur Kirche ist bis heute der durch das Portal des südlichen Querhausarms, der zum Markt ausgerichtet ist (Abb. 3). Nähert man sich der Kirche aus dieser Richtung, stößt man daher sogleich auf zwei mit Inschriften versehene Steintafeln, die außen angebracht sind; nach dem Betreten von St. Marien erblickt man zwei weitere Tafeln im Innenraum. Man könnte auch sagen, an den Inschriften kommt niemand vorbei, sie begleiten sozusagen jeden Besucher auf dem Weg in die Kirche (Abb. 4, 5). Es handelt sich um ein sehr qualitätvoll ausgeführtes und hervorragend erhaltenes Inschriften-Ensemble, das in einzigartiger Prägnanz Ablasswerbung und Marienfrömmigkeit um 1400 in lateinischer und deutscher Sprache illustriert, bisher aber nahezu unbekannt ist. Die erste dieser vier Inschriften ist in eine querrechteckige, schlichte Tafel eingemeißelt, die in die Wand rechts außen am Südportal eingelassen ist (Abb. 6). Addiert man die über den ersten drei Zeilen stehenden kleinen Wörter und römischen Ziffern, lässt sich das Jahr 1398 ermitteln, in dem – der Inschrift zufolge – das Ereignis stattfand, das Bauforscher und Historiker immer wieder beschäftigt: „octo anni + mo + ccc + xc“. Der erste Teil des Textes bis Z. 3 enthält eine bildhafte, in Verse gefasste Jahresangabe, die in leichter verständlicher, aufgelöster Form über den Zeilen wiederholt wird. Inschrift 1 (ohne Datum, 1398?) 1 „Octo • serpentes • caudas25 • (et)26 more • tenentes / 2 qui • triplo27 • fune • iungunt • tria28 • babbata • lune / 3 Prime • dando • crucem29 • girantes • prodere • luce(m) /4 gregorii festo • signant • quo • te(m)pore • mesto / 5 Gregori(us) • fregit • templu(m) • geor30 • hoc•q(ue) • • • relegit / 6 que(m) • paris • exemplu(m) • vite • virgo • sibi : templu(m) / 7 es • fer • ut • audita • sint • inse • nostra • petita / 8 C•onsilio • racionis31 • dustria32 • rosa • merendo / 24

Zur Baugeschichte von St. Marien vgl. künftig die Dissertation von J AN SCHRÖDER, TU Berlin. 25 Darüber in kleineren Buchstaben „octo anni“. 26 Tironisches et mit durchstrichener Haste; korrekt und der Übersetzung zugrunde liegend: „ex“. 27 Darüber in kleineren Buchstaben „mo“. 28 Darüber CCC. 29 Über dem Wortanfang xc in kleineren Buchstaben. 30 metri causa statt „Georgius“. 31 metri causa statt „oracionis“. 32 metri causa statt „industria“.

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9 esse • sui • memores • sua • det • brauiu(m) • capiendo / 10 orate • p(ro) • dictatore“33

Die Verben „fregit“ und „relegit“ (‚zerbrechen‘ oder ‚zerstören‘ bzw. ‚wieder herstellen‘) lassen keine Aussagen darüber zu, ob ein Teil der Kirche absichtlich niedergerissen wurde oder ob er vielleicht wegen statischer Mängel einstürzte. Im zweiten Teil der Inschrift (ab Z. 6) wird Maria als Jungfrau und als Institution Kirche (in ihrer konkreten Gestalt als Bauwerk St. Marien) angesprochen. Sie soll als Vermittlerin dafür Sorge tragen, dass die Gläubigen sich an Christus wenden dürfen, der dann als Gegenleistung das Seine geben soll: den himmlischen Lohn.34 Bilder für römische Ziffern haben ihre Tradition in historischen Merkversen, und zwar eher in den literarischen als in den inschriftlich ausgeführten Versen und vielleicht auch eher in der Volkssprache als im Lateinischen.35 Besonders im 14. Jahrhundert waren komplizierte Montagen von lateinischen Zahlwörtern in den Hexameter beliebt. Zum unbekannten ‚Dichter‘ („dictator“) der Inschrift: In der älteren Literatur wurde vermutet, es könne sich um Henning Wacholt handeln, der zur Zeit der Anbringung der Tafeln Pfarrer („rector“) von St. Marien war. Bezeichnenderweise schloss Henning Wacholt am 29. September 1399 einen Vertrag mit den Provisoren der Bauhütte: Die Bevölkerung Rostocks habe aus Verehrung für Maria und ihre Wunder beschlossen, die Kirche

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Übersetzung: ‚Acht Schlangen, die ihre Schwänze wie üblich hochhalten (darüber: acht Jahre, gemeint wahrscheinlich acht mal die römische Ziffer „i“), (und) die mit dreifachem Seil (= drei Hasten des „m“o als Ziffer 1000) drei Hufeisen (= „ccc“ für die Zahl 300) verbinden, wobei sie dem Neumond ein Kreuz zufügen (= „xc“ für die Zahl 90), bezeichnen umkreisend die Angabe des Tages für das Gregorius-Fest (12. März 1398), zu welcher traurigen Zeit Gregorius die Kirche zerbrach / zerstörte und Georg (23. April) sie wieder herstellte. Welchen du gebierst als Vorbild des Lebens, dem bist du, Jungfrau (Maria), eine Kirche. Sorge, dass unsere Gebete bei ihm erhört sind. Indem wir durch deinen Rat, durch (unseren) Eifer im Gebet, du Rose, es verdienen, seiner eingedenk zu sein, möge er das Seine geben, auf dass wir den (himmlischen) Lohn gewinnen. Betet für den Dichter.‘ Ältere Edition der Inschrift: FRIEDRICH SCHLIE: Die Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Grossherzogthums Mecklenburg-Schwerin. Bd. 1: Die Amtsgerichtsbezirke Rostock, Ribnitz, Sülze-Marlow, Tessin, Laage, Gnoien, Dargun, Neukalen, Schwerin 1896, S. 18; Mecklenburgisches Urkundenbuch (im Folgenden: MUB), Bd. 23, hg. vom Verein für Mecklenburgische Geschichte und Alterthumskunde, Schwerin 1911, Nr. 13277. 34 Ich danke Christine Wulf, Inschriftenkommission Göttingen, und Fidel Rädle, ebenfalls Göttingen, für ausführliche Hinweise zu dieser Inschrift. 35 Dazu BERND-ULRICH HUCKER: Historische Merkverse als Quellen der Landesgeschichte. Mit einer Sammlung norddeutscher Merkverse, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 120 (1984), S. 293–328.

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neu zu errichten und reicher auszustatten.36 Von einem Einsturz oder baulichen Mängeln ist nicht die Rede. Um die liturgische Verehrung zukünftig mit noch mehr Feierlichkeit und Aufwand gestalten zu können, erwarte man vom Papst besondere Ablässe und Gnadenerweise („aliquas speciales indulgencias et gratias“). Die zu erwartenden Mehreinkünfte aus diesen Ablässen hatten die Verantwortlichen also offensichtlich veranlasst, die Einnahmen schon im Voraus neu aufzuteilen.37 Darüber hinaus verspricht Wacholt für sich und seine Nachfolger, geeignete Geistliche einzustellen, die den zu erwartenden Ansturm von Gläubigen betreuen sollen, indem sie predigen und die Beichte abnehmen („illuminatos viros ad ministrandum populo verbi diuini pabulum preficiamus ac confessores instituamus“). Dieses Dokument belegt unabhängig von den Schrifttafeln, dass es sich bei der Ablasskampagne um eine von langer Hand – der des Henning Wacholt? – vorbereitete und durchorganisierte Maßnahme handelte, die nicht nur dem Bau von St. Marien zugute kommen, sondern auch die Attraktivität und Dignität der Kirche steigern konnte. Sollte dieser selbst den relativ langen lateinischen Urkundentext formuliert haben, könnten seine solchermaßen dokumentierten Lateinkenntnisse die Vermutung untermauern, dass er auch der Autor der Versinschrift ist, die die Forschung zur Baugeschichte von St. Marien immer wieder beschäftigt. Über die Ebene der Spekulation kommt man hier jedoch nicht hinaus, denn weder die Chronologie der Ereignisse selbst noch die zeitliche Reihenfolge der Schrifttafeln an St. Marien sind gesichert. Es ergibt sich ein vielteiliges Puzzle, von dem man nicht weiß, ob es sich jemals zu einem vollständigen und stimmigen Bild zusammensetzen lassen wird. Sicher ist, dass dieses Puzzle die Zusammenarbeit von Architekturfachleuten und Epigrafikern unter Einbeziehung der schriftlichen Quellen erfordert, damit möglichst alle historischen Informationen erfasst, gemeinsam ausgewertet und gegeneinander abgewogen werden können.38

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„universi populi(!) opidi Rozstok exitata deuocio censuit et decreuit eandem ecclesiam ... noua reedificatione et reparatione ac ornatu ampliori decenter exornandam“, MUB 23 (wie Anm. 33), Nr. 13514, S. 642f., Zitat S. 642. 37 Vgl. ANTJE GREWOLLS: Die Organisation des mittelalterlichen Pfarrkirchenbaues in den Städten Wismar, Rostock, Stralsund und Lübeck, in: Mecklenburgische Jahrbücher 111 (1996), S. 33–67, hier S. 36. 38 In diesem Zusammenhang danke ich Jan Schröder (Berlin; vgl. Anm. 24) und Frank Sakowski (Rostock), mit denen ich viele anregende Gespräche in dieser Sache geführt habe. Mein Dank gilt auch Wolfgang Eric Wagner (Rostock), der mich während einer denkwürdigen Stadtführung vor einigen Jahren das erste Mal auf die Steintafeln aufmerksam gemacht hat.

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Die zweite Inschrift39 außen links am Portal des südlichen Querschiffs ist konkreter und – wenigstens für norddeutsche Leser – leichter verständlich (Abb. 7). Sie ist ebenfalls auf einem querrechteckigen Stein ohne Rahmen angebracht, dessen untere Langseite leicht abgeschrägt ist. Inschrift 2 (ohne Datum) 1 2 3 4 5 6 7 8 9

„witlik • si • allen • cristenen • luden • de de • hulpe • vn(de) • / trost • in • eren • node(n) • vnde • sundheyt • in • ere(n) • krankheide(n) • / beghere(n) • dat • god • vormitdelst • siner • kony(n)glike(n) • moder / marien • sint der tid • dat ere • bilde der losinge eres / kindes ihesu (christi)40 • vanme cruce in desse • kerke(n) • qua(m) • vele / groter • wundertekene • gedan heft • vn(de) noch deyt • alle • / dage • in de(n) • ghene(n) de sik hyr •41 gelouet hebben • i(n) ere(n) node(n) • / •42 we hir syne • almose(n) to ghift de heft • lxxii werue 43 • C • dage • / aflates vn(de) • lv • karenen“

„Bekannt sei allen Christen, die Hilfe und Trost in ihren Nöten und Gesundheit in ihren Krankheiten begehren, dass Gott durch seine königliche Mutter Maria seit der Zeit, als ihr Bild der Abnahme ihres Kindes Jesu Christi vom Kreuz in diese Kirche kam, viele große Wunder vollbracht hat und immer noch an allen Tagen vollbringt an denjenigen, die sich hier in ihren Nöten [ihr] anvertraut haben. Wer hierzu seine Almosen gibt, hat 72 x 100 Tage Ablass und 55 Karenen.“ Die hier erwähnte wundertätige Pietà ist für das späte Mittelalter in St. Marien bezeugt und hat sich bis ins 18. Jahrhundert auch noch in der Kirche befunden.44 Ihr Standort war die Marienkapelle am Chorscheitel, sie war durch ein eisernes Gitter gesichert. Über der Kapelle waren zwei von den Pilgern zu sprechende niederdeutsche Gebete an die Wand geschrie39

Ältere Editionen der Inschrift: SCHLIE: Kunst- und Geschichtsdenkmäler Mecklenburgs 1 (wie Anm. 33), S. 19; MUB, Bd. 24, hg. vom Verein für Meklenburgische Geschichte und Alterthumskunde, Schwerin 1913, Erläuterung zu Nr. 13612. – Ich danke Andreas Bieberstedt, Rostock, für philologische Unterstützung bei der Übersetzung der niederdeutschen Inschriften 2–4. 40 „xpi“ am Original. 41 „hyr“ •] Wohl verbessert aus „hyn“. 42 Unter dem Worttrenner ein ausgemeißeltes „so“. 43 „werf“ = Mal (vgl. KARL SCHILLER und AUGUST LÜBBEN: Mittelniederdeutsches Wörterbuch, Bd. 5, Nachdruck, Vaduz 1995, S. 692; „Zahladverbien angehängt: ..mal“). 44 Vgl. GEORG V ITUS HEINRICH NIEHENCK: Beschreibung von der Sct. Marien-Kirche hie in Rostock (...), 2. Fortsetzung, in: Gemeinnützige Aufsätze aus den Wissenschaften für alle Stände, zu den Rostockschen Nachrichten, 24. Stück, Mittwoch, 11. Juni 1777, hier S. 114 mit Anm. 20: „Marien thor Lating genannt, da das Christusbild als vom Creutz genommen quer über der Marien Schooß gelegt. (...) Es ist diese papistische Reliquie (...) zwar noch, aber, wie es sich von selbst versteht, zu keinem Gebrauch mehr, vorhanden.“

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ben.45 Wer ‚Almosen gibt‘, erhält der Inschrift zufolge einen Ablass von mehr als 25 Jahren.46 Nicht beantwortet werden die Fragen: Wer hat diesen Ablass wann vergeben? An welchen Tagen ist er zu erwerben? Bemerkenswert ist der relativ hohe Ablasstarif vor dem Hintergrund, dass bis zum Ende des 14. Jahrhunderts in aller Regel nicht mehr als sieben Jahre gewährt wurden.47 Grundsätzlich denkbar ist auch, dass es sich dabei um die Summe mehrerer zu verschiedenen Zeiten verliehenen Ablässe handelt, um eine sog. Sammelindulgenz. Die einleitende Formel „witlik si allen cristenen luden“ gibt zwar lateinisches Urkundenformular wieder („Notum sit omnibus christi fidelibus [...]“), entspricht jedoch nicht dem der päpstlichen Ablassbullen („Bonifacius episcopus, servus servorum dei, universis Christi fidelibus presentes literas inspecturis [...]“).48 Der in dieser Inschrift gebotene Hinweis außen an der Kirche auf ein im Inneren zu verehrendes Gnadenbild ist eine Parallele zur Funktion der bereits besprochenen Halberstädter Ablasstafel. Während das jeweilige Kultbild in Halberstadt im Bild dargestellt ist, werden in Rostock sein Aussehen und seine Wunderkraft inschriftlich beschrieben. Die beiden äußeren Rostocker Tafeln 1 und 2 befinden sich wohl noch am ursprünglichen Standort. Ihr tadelloser Erhaltungszustand spricht zwar auf den ersten Blick gegen eine ununterbrochene Anbringung im Freien, das Südportal ist jedoch eine einigermaßen wettersichere Stelle. Beide Inschriften thematisieren in besonderem Maße die Marienfrömmigkeit, die in

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„O Maria dyn vulles Manenschyn, Der suender Nacht erluechtet syn Giff dat wy armen dener dyn Jm ewige Froewde mit dy syn Amen“ (erstes Gebet). „Maria bringe vns tho den Fro ewden klar Dat wy schowen apenbar an hogsten eren mit Christo“ (zweites Gebet). Wiedergegeben nach DIETERICH SCHRÖDER: Kirchen-Historie des Evangelischen Mecklenburgs, Teil 1, Rostock 1788, S. 291. Zum Standort der Marienkapelle vgl. ANTJE GREWOLLS: Die Kapellen der norddeutschen Kirchen im Mittelalter: Architektur und Funktion, Kiel 1999, Grundriss S. 293 (Kapelle O3). 46 7200 Tage und 55 Karenen (1 Karene = vierzig Tage; Summe 2200 Tage), insgesamt also 9400 Tage. 47 Auch unter Papst Bonifaz IX., der in den Inschriften 3 und 4 als Urheber von zwei Ablässen bezeichnet wird, waren nur ein bis sieben Jahre üblich, schon zehn bzw. zwölf Jahre kommen selten vor. Vgl. P AULUS: Geschichte des Ablasses (wie Anm. 4), S. 132. 48 Vgl. die Inscriptio einiger Ablässe: MUB 23 (wie Anm. 33), Nr. 13439 (Ablass zugunsten der Kirche des Franziskanerklosters St. Katharinen in Rostock, 1399 April 20); auch KARLHEINZ FRANKL: Papstschisma und Frömmigkeit. Die „Ad-instar“-Ablässe, 2 Teile, in: Römische Quartalschrift 72 (1977), S. 57–124, 184–247, hier S. 234 (Anhang 1: Ablass zugunsten der Pfarrkirche von Maria-Zell, 1399 August 17).

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der nicht datierten, volkssprachigen Inschrift 2 mit einem Ablass verbunden wird. Wirklich spezifisch, ausführlich und somit umso nachdrücklicher ist die Ablasswerbung auf den beiden hochrechteckigen, im Kircheninneren an zwei Vierungspfeilern angebrachten Tafeln 3 und 4. Auch diese Tafeln befinden sich noch am ursprünglichen Standort. Tafel 3 am südwestlichen Vierungspfeiler ist heute farbig gefasst und wird teilweise durch die 1574 bzw. 1724 errichtete Kanzel verdeckt (Abb. 8).49 Einige Stellen – in der folgenden Transkription in eckige Klammern gesetzt – sind am Original nicht einsehbar, daher erfolgt dort die Wiedergabe der Inschrift nach älteren Lesungen. Weil darüber hinaus die Syntax der Inschriften 3 und 4 gelegentlich elliptisch und daher schwer verständlich ist, werden in die Übersetzung um des besseren Textverständnisses willen Ergänzungen eingefügt, die teilweise eher als Interpretationsvorschläge denn als verbindliche Lösungen zu verstehen sind. Inschrift 3 (1. März 1400) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

„Bo(n)ifaci(us) biscop knecht der knechte godes / hat ghegeue(n) in de(n) • hochtide(n) • d(er) gebord • besnidi(n)g / twelfte(n) • vpsta(n)di(n)ge • he(m)meluar • des licha(m)mes (christi)50 / vn(de) pynkste(n) vn(de) der bord bodescop lichtmisse(n) he(m)m/ eluar vntfa(n)gi(n)ge • vn(de) va(n)di(n)ge51 • d(er) hilge(n) iu(n)gvr owe(n) / marie(n) • vn(de) d(er) gebord • su(n)te • ioh(ann)is des dopers • vn(de) der / ap(oste)le • pet(ri) vn(de) pauli vorbeno(met)52 vn(de) des hilge(n) ioh(ann)is / ap(osto)lis vn(de) ewa(n)geliste(n) • des patrone(n) • vn(de) der kerken / kerkewigi(n)ge • vn(de) i(n) der vire • aller hilge(n) vn(de) ok bi der / hochtide • d(er) gebord • twelfte(n) • vpsta(n)di(n)ge • he(m)mel[uar] / vn(de) vnses here(n) licham(m)es Un(de) d(er) gebord vn(de) [hemel]/ uar • su(n)te marie(n) • vn(de) gebord su(n)te ioh(ann)is vn(de) d(er) ap(oste)l(e) / petri vn(de) pauli vorben(omet) • achte dage(n) Un(de) bi sos d[a(n)e] / de nomede(n) hochtid pynxste(n) • su(n)der mid[del • vol]/ ge(n)de • alle dage soue(n) J[ar al de(n) cristene(n) lu]de(n)53 de / de kerke(n) • vns(er) leue(n) vrowe [M(arien) ere bilde]54 • y(n)nichlike(n) / soke(n) iarlike(n) • vn(de) to vulbri(n)gu(n)[ge de] kerke(n) ere hulp/ like(n) he(n)de • torecke(n) • warlike(n) ere sunde ruwe(n)de / vn(de) bichte(n)de van bote engesettet • an yewelike(n) / dage(n) d(er) hochtide • vn(de) vire vor[escrev]en souen • Jar /

49 Ältere Editionen der Inschrift: SCHLIE: Kunst- und Geschichtsdenkmäler Mecklenburgs 1 (wie Anm. 33), S. 19; MUB 24 (wie Anm. 39), Nr. 13604. 50 „xpi“ am Original. 51 Visitatio Marie, Besuch der Maria bei Elisabeth. 52 Wort „vorbenomet“ („vorgenannt“) hier ohne Sinn, denn Peter und Paul werden an dieser Stelle das erste Mal genannt. Abkürzung aufgelöst nach MUB. 53 „ald(e c)ristene lvde de, e und c fehlen“ (Schlie); „d[e]n [c]ristenenluden“ MUB. 54 „vrowe M(arien) ere bilde“] „M“ mit Kürzungsstrich, danach „ere bilde“ Schlie; „vrowe[n vnde]“ „ere bilde“ MUB.

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aflates • vn(de) also vele uertich dage • men in de[n] / dage(n) d(er) achte dage vn(de) der s[os] dage vorbenom(et) / hu(n)dert dage • aflat(es) to ewige(n)n kom(m)de • tide(n) bliue(n)d55 / Datu(m) rome ap(u)d s(an)c(tu)m • petru(m) k(a)l(endis) marcii po(n)tificat(us) n(ost)ri an(n)o v(n)deci(m)o : d[- - -]“56

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„Bischof Bonifaz, Diener der Diener Gottes, hat gegeben an den Hochfesten der Geburt, der Beschneidung, in den zwölf Tagen [zwischen Weihnachten und Epiphanias], der Auferstehung, an Himmelfahrt, Fronleichnam und Pfingsten; an der Geburt, Verkündigung, Lichtmess, Himmelfahrt, Empfängnis und Heimsuchung der heiligen Jungfrau Maria; zur Geburt des heiligen Johannes des Täufers, [am Tag der] Apostel Peter und Paul und des heiligen Johannes, des Apostels und Evangelisten, des Patrons; und am Kirchweihfest und zum Fest Allerheiligen; und auch am achten Tag [in der Oktav] nach dem Hochfest der Geburt, der zwölf Tage, der Auferstehung, der Himmelfahrt und unseres Herrn [Fron-] Leichnams [-fests] und der Geburt und Himmelfahrt der heiligen Maria und zur Geburt des heiligen Johannes und an den Tagen der bereits genannten Peter und Paul und an den sechs genannten [Tagen?], die dem Hochfest Pfingsten unmittelbar folgen: an allen diesen Tagen sieben Jahre allen Christen, die jährlich die Kirche Unserer Lieben Frau Maria [und?] ihr Abbild andächtig aufsuchen und zur Fertigstellung der Kirche ihre helfenden Hände reichen, die, durch die Buße befreit, aufrichtig ihre Sünden bereuen und beichten; an jedem der vorgenannten Tage der Hochfeste und Feiertage die genannten sieben Jahre Ablass und ebensovielmal 40 Tage, ausgenommen an den Tagen der Oktav und der sechs bereits genannten Tage hundert Tage Ablass; für ewige Zeiten geltend. Gegeben in Rom an St. Peter an den Kalenden des März, im elften Jahr unseres Pontifikats [...].“ Papst Bonifaz IX. gewährte also der Marienkirche am 1. März 1400 einen Ablass an sieben Hochfesten Christi, an vier Marienfesten und an weiteren Heiligenfesten, nämlich sieben Jahre (Z. 15) allen Christen, die das Marienbild jährlich besuchen und zur Vollendung des Kirchenbaus beitragen, bzw. sieben Jahre und 7 mal 40 Tage (Z. 21) sowie schließlich hundert Tage in der Oktav („achter dag“) nach den Festtagen. Unklar bleibt, wieso von zwei verschiedenen Ablasstarifen an den Hochfesten selbst die Rede ist. Unter dem römischen Papst Bonifaz IX. (1389–1404), der für den Kampf gegen seinen Rivalen in Avignon ungeheure Geldsummen benötigte, kam es zu einer flutartigen Vermehrung der Indulgenzen,57 die vor al55

„to ewigen tokomenden tiden bliuende“ MUB. Die Oberfläche der Tafel ist ab hier beschädigt, daher war keine Lesung des Textendes möglich. 57 Bonifaz IX. wurde am 2. November 1389 gewählt, am 9. November 1389 gekrönt und starb am 1. Oktober 1404. Zu seiner Ablasspraxis vgl. J AN HRDINA: Päpstliche Ab56

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lem als sog. Ad-instar-Ablässe erteilt wurden. Diese Bezeichnung geht darauf zurück, dass die Ablässe nach dem Vorbild berühmter, vor allem italienischer (Wallfahrts-)Kirchen58 an zahlreiche Gotteshäuser überall in der Christenheit verliehen wurden. Sie wurden in aller Regel als Plenarablässe aufgefasst und besonders unmittelbar vor und während der Jubeljahre 1390 und 1400 gewährt.59 Allein auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern erhielten zwischen 1399 und 1401 zahlreiche geistliche Einrichtungen einen Ad-instar-Ablass: die Antoniter in Tempzin, die Dominikaner sowie die Franziskaner in Stralsund, die Franziskaner in Wismar und Greifswald, die Marienkirche in Anklam sowie zwei Kapellen in Altentreptow und Demmin. In Rostock selbst bedachte der Papst bereits am 20. April 1399 das Franziskanerkloster St. Katharinen, die Dominikaner folgten am 30. Oktober 1400, und am 8. Juni 1401 wurde schließlich das Zisterzienserinnenkloster Heilig Kreuz mit einem solchen Ablass begabt.60 Die Ablasstarife des späten 14. Jahrhunderts und auch die Anzahl der Ablässe insgesamt sind jedoch verglichen mit denen des späten 15. Jahrhunderts noch durchaus überschaubar. Die erste Zeile von Inschrift 3 und die beiden letzten Zeilen scheinen direkt aus einer Urkunde übernommen zu sein, wobei die „intitulatio“ (die Angabe des „Absenders“) ins Niederdeutsche übersetzt, das lateinische Datum einer möglichen Ablassbulle jedoch beibehalten wurde. Sicher sind diese Zitate als eine Art Beglaubigungsmittel, sozusagen als Echtheitszeugnis zu verstehen. lässe im Reich unter dem Pontifikat Bonifaz’ IX. (1389–1404), in: DERS., Hartmut Kühne, Thomas T. Müller (Hg.): Wallfahrt und Reformation – Pout’ a reformace. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 2007 (= Europäische Wallfahrtsstudien 3), S. 109–130. Älter ist die Arbeit von MAX J ANSEN: Papst Bonifatius IX. (1389–1404) und seine Beziehungen zur deutschen Kirche, Freiburg i. Br. 1904 (= Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Geschichte 3, H. 3 u. 4). Die ausführlichste Untersuchung stammt von FRANKL: Ad instar (wie Anm. 48), vgl. bes. S. 70–73 mit dem eindrücklichen Fazit S. 73: „Sein Pontifikat war das goldene Zeitalter, wo man den Baum der Gnaden nur wenig zu schütteln brauchte, und es ging ein Platzregen von San Marco- und Portiuncula-Ablässen nieder, der bis an die Grenzen der abendländischen Christenheit fortrann.“ Kurz zu Bonifaz IX. auch STAUBACH: Romfahrt (wie Anm. 4), S. 255. 58 Hier, d. h. in Inschrift 4, die Kirche S. Marco in Venedig, ferner Portiuncula in Assisi; von geringerer Bedeutung waren im Reich Aachen und Einsiedeln; vgl. P AULUS: Geschichte des Ablasses (wie Anm. 1), S. 132. Dazu besonders FRANKL: Ad instar (wie Anm. 48), passim. 59 Für das elfte Pontifikatsjahr 1399 / 1400 (vgl. Anm. 57) sind alleine für das Deutsche Reich mehr als hundert Ablässe bezeugt; vgl. HRDINA: Ablässe (wie Anm. 57), Tabelle S. 119. 60 Die Zusammenstellung der Ablässe bei FRANKL: Ad instar (wie Anm. 48), S. 241f., konnte ergänzt werden durch unpublizierte Forschungsergebnisse von Jan Hrdina (Prag).

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Die vierte und letzte Tafel61 befindet sich am südöstlichen Vierungspfeiler, also gegenüber von Tafel 3 (Abb. 9). Auch hier sind die Buchstaben farbig hervorgehoben. Inschrift 4 ([14. März] 1400) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

„Pawes • Bonifacius • de negede • heft / gegeue(n) • an deme elfte(n) iare • na alse he pa/ wes geworde(n) was to deme buowete • vn(de) to d(er) / bewari(n)ge • desses iege(n)wardige(n) godeshuses / a(n) welkeme alse me(n) secht de koni(n)ghi(n)ne d(er) he(m)/ mele schyn(et) an vele(n) wv(n)derwerken • alle(n) / ware(n) ruowere(n) • vn(de) bichtede(n) cristlouigen / lude(n) • de ere hulplike(n) ha(n)treki(n)ge bereder doen / to entholdi(n)ge desses sulue(n) godeshuses an / islike(n) hochtide(n) vnser leue(n) vruwe(n) • vn(de) an / islike(n) veredage(n) • den hochtide(n) • vnser leue(n) / vruwe(n) • iarlike(n) su(n)der middel volge(n)de also / da(n)e • gnade • vn(de) aflat hir to wesende alse / dar is to venedie in su(n)te Marc(us) kerke(n) / a(n) deme dage • d(er) he(m)meluart u(n)ses here(n) • (ihesu) (christi)62 / dat is va(n) pine • vn(de) va(n) schvlt • vthgenome(n) de / sake dar me de(n) stol to rome • plichtlike(n) / v(m)me birade(n) scal to ewige(n) tide(n) ware(n)de“

„Papst Bonifaz IX. hat gegeben im elften Jahr, nachdem er Papst geworden war, für den Bau und zur Erhaltung dieses gegenwärtigen Gotteshauses, in dem, wie man sagt, sich die Königin der Himmel durch viele Wunderwerke zeigt, allen wahrhaft bereuenden und beichtenden christgläubigen Menschen, die bereitwillig ihre helfenden Handreichungen tun zum Unterhalt desselben Gotteshauses, an allen Hochfesten Unserer Lieben Frau und an jedem Feiertag, der den Hochfesten Unserer Lieben Frau jährlich unmittelbar folgt, eine dergestalte Gnade und den Ablass, dass sie hier wie in Venedig in der St. Markuskirche am Tag der Himmelfahrt unseres Herrn Jesu Christi sind [= dass sie hier denselben Ablass erhalten können wie in St. Markus am Himmelfahrtstag], das heißt [Ablass] von Strafe und Schuld, ausgenommen die Sachen, deretwegen man den [päpstlichen] Stuhl in Rom pflichtschuldig benachrichtigen soll [betr. päpstliche Reservatfälle, etwa Häresie]; für ewige Zeiten zu beachten.“ Wie bereits erwähnt, wurden Ad-instar-Ablässe in aller Regel als Plenarablässe aufgefasst. Durch ihren Erwerb glaubte man also, sich von allen Sündenstrafen, „a poena et a culpa“, befreien zu können. Den Gläubigen 61 Ältere Editionen der Inschrift: SCHLIE: Kunst- und Geschichtsdenkmäler Mecklenburgs 1 (wie Anm. 33), S. 20; MUB 24 (wie Anm. 39), Nr. 13612. 62 „ihu xi“ am Original.

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ersparte ein solcher „lukrativer“ Ablass darüber hinaus den weiten, kostspieligen und nicht ungefährlichen Weg über die Alpen. Die Bedeutung der Formel „a poena et a culpa“ war jedoch schon unter den Zeitgenossen und erst recht im späteren Disput zwischen lutherisch gesinnten und katholischen Forschern umstritten.63 So oder so – der Verfasser von Inschrift 4 legte besonderen Wert darauf, dass der vollkommene Ablasstarif wirklich deutlich wurde, und führte aus (Z. 16): „dat is van pine unde van schult“. Weitere Quellen, die die unvollständigen Aussagen der vier vorgestellten Inschriften ergänzen könnten, sind die Kirchenrechnungen von St. Marien, die Ablassbullen selbst sowie die Register der päpstlichen Kanzlei in Rom. Dem setzt die Überlieferung allem Anschein nach enge Grenzen. Die jährlichen Abrechnungen der Vorsteher der Marienkirche aus den Jahren 1386–1518 sind zwar „fast vollständig erhalten“, es fehlen jedoch ausgerechnet die für den Kirchenbau und die Ablassinschriften interessanten Jahrgänge 1390 bis 1401.64 Auch hinsichtlich der kurialen Überlieferung kommt man nicht wesentlich weiter, denn die Originale der Ablassbullen scheinen nicht überliefert. Jan Hrdina (Prag) hat sich in jüngster Zeit mit den Ablässen Bonifaz’ IX. beschäftigt65 und mir unpublizierte Arbeitsmaterialien, unter anderem eine Abschrift des Registereintrags in den vatikanischen Archiven zu der zuletzt besprochenen Inschrift, großzügig zur Verfügung gestellt.66 Dieser Registereintrag zeigt, dass der Verfasser der deutschen Inschrift sich eng an den Wortlaut der lateinischen Ablassbulle gehalten hat. Die theologisch brisante Formulierung „van pine vnde van schvlt“ ist indes ein Zusatz der deutschen Übersetzung, denn sie kommt im Registereintrag und damit wohl auch in der diesem Eintrag zugrundeliegenden Ablassurkunde nicht vor. Vergegenwärtigt man sich nun die wesentlichen Parameter der vier Rostocker Tafeln und die Textinhalte (vgl. den Anhang), gibt es, so meine ich, gute Gründe zu vermuten, dass aus den äußeren und inneren Merkmalen auf zwei Entstehungsvorgänge geschlossen werden kann, zwischen 63

Dazu FRANKL: Ad instar (wie Anm. 48), S. 203–220, auch die Zusammenfassung S. 232–234 mit einer Diskussion des heftig umstrittenen und oft missverstandenen Ablasses nicht nur von Sündenstrafen, sondern von den Sünden selbst. Dass die Empfänger der Ad-instar-Ablässe oft selbst nicht wussten, wie hoch beispielsweise der Tarif eines von ihnen erworbenen San-Marco-Ablasses war, und darüber in Venedig um Aufklärung baten, wird EBD.: S. 204–206, erläutert. 64 Nach GREWOLLS: Organisation (wie Anm. 37), S. 43–45. 65 Vgl. HRDINA: Ablässe (wie Anm. 57), S. 109–130. Älter ist die Studie von J ANSEN: Bonifatius (wie Anm. 57). 66 Archivio Segreto Vaticano, Registra lateranensia, T. 80, fol. 43. Vgl. auch FRANKL: Ad instar (wie Anm. 48), S. 242 (1400 März 14, aus Cod. vat. lat. 6952, fol. 251v); DEUTSCHES HISTORISCHES INSTITUT IN ROM (Hg.): Repertorium Germanicum 2.1 (1378– 1415), bearb. von Gerd Tellenbach, Berlin 1933–1938, Sp. 1022.

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denen ein nur geringer zeitlicher Abstand liegt. Die beiden außen angebrachten, querrechteckigen Tafeln unterscheiden sich zunächst hinsichtlich ihrer Form und des geringeren Textumfangs von den hochrechteckigen Tafeln an den Pfeilern innen, die wesentlich längere Inschriften bieten. Befasst man sich genauer mit den Buchstabenformen – eine zentrale Aufgabe der epigrafischen Arbeit – stellt man einerseits viele grundsätzliche Ähnlichkeiten zwischen den Tafeln außen und innen fest, es sind aber auch signifikante Unterschiede zu erkennen. Die Kürzungsstriche außen sind linear, innen konturiert; außen sind als Worttrenner auch Blüten zu sehen, innen durchgängig Hochpunkte; die Cauda des g außen erreicht den Unterlängenbereich, innen bleibt sie auf der Grundlinie. Der in Inschrift 2 genannte Ablass mit dem auffällig hohen Tarif von über 25 Jahren lässt sich historisch bislang nicht verifizieren. Das ist nicht ungewöhnlich, denn unechte oder gefälschte Ablässe waren weit verbreitet und kaum weniger populär als echte.67 Für den in Inschrift 3 genannten Ablass Bonifaz’ IX. ist die Tafel selbst die einzige Nachricht. Es werden verschiedene Ablasstarife genannt, die an verschiedenen Hochfesten und Feiertagen zu erwerben sind. Inschrift 4 lässt sich, obwohl nicht genau datiert, dank des genannten San-Marco-Ablasses einem Eintrag in den päpstlichen Registern zuordnen. Er ist vor allem an Marienfesten zu erwerben, stellt also eine sinnvolle Ergänzung zu Inschrift 3 dar. Zwischen dem ersten und zweiten päpstlichen Ablass liegen nur dreizehn Tage Zeitabstand. Für die Rostocker Ablässe des Jahres 1400 wie für fast alle anderen Kampagnen dieser Zeit gilt leider, dass außer der Tatsache der Ablassverleihung selbst keine Informationen zu ihrer lokalen und regionalen Propagierung oder auch zu den konkreten Umständen ihrer jeweiligen Verkündigung vorliegen. So wissen wir zum Beispiel nicht, ob dem Ablass ein großer Erfolg beschieden war, ob es also tatsächlich zu dem von Henning Wacholt erwarteten Ansturm der Gläubigen gekommen ist, von wo die Gläubigen kamen, ob für das Ereignis eine besondere Liturgie geschaffen oder besonders intensiv gepredigt und gebeichtet wurde und – nicht zuletzt – welche Einnahmen die Kirche aus dem Ablass gewinnen konnte. Anders als bei den durch Chroniken, zeitgenössische Berichte und normative Texte gut dokumentierten späteren Jubiläumsindulgenzen der Jahre 1475 und 1500 fehlt es für die Ad-instar-Ablässe der Zeit um 1400 nicht nur in 67

Zu unechten und gefälschten Ablässen vgl. HARTMUT B OOCKMANN: Ablaßfälschungen im 15. Jahrhundert, in: Horst Fuhrmann (Hg.): Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.–19. September 1986, Hannover 1988 (= Monumenta Germaniae Historica, Schriften 33), Teil V, S. 659–668. Auch K LAUS NASS: Ablassfälschungen im späten Mittelalter. Lothar III. und der Ablass des Klosters Königslutter, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 403–431.

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Rostock, sondern fast überall an Quellen, die eine qualitative Einordnung des jeweiligen „Events“ erlauben würden. Und wie bei den eingangs erwähnten Ablasssummarien des Deutschen Ordens ist es daher auch kaum möglich, die konkrete Gebrauchsfunktion der Rostocker Tafeln näher zu bestimmen oder eine tatsächliche Rezeption zu belegen. Auch wenn der historische Kontext dieser Tafeln weder im Zusammenhang mit der Baugeschichte von St. Marien noch im Kontext des spätmittelalterlichen Ablasswesens lückenlos geklärt ist, können sie doch als die mit Abstand ausführlichsten Ablassinschriften in Stein und allgemein als besonders frühes und interessantes Beispiel für epigrafische Ablasspropaganda, ja sogar für inschriftliche Heilsvermittlung überhaupt gelten.

Der Ablass als Medienereignis Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert FALK EISERMANN

Als ein Schlüssel zum Verständnis von Wesen und Wirkungen der Reformation gilt die Tatsache, dass sie ein Medienereignis von außergewöhnlichen Dimensionen war. Diesem Thema hat Berndt Hamm einen grundlegenden Aufsatz gewidmet, der aufzeigt, dass die Reformatoren wie selbstverständlich alle ihnen verfügbaren sprachlichen und symbolischen Medien in großer Intensität instrumentalisierten, auch neuartige publizistische Formen hervorbrachten und auf diese Weise einen grundlegenden quantitativen wie qualitativen Wandel der öffentlichen Kommunikation in Deutschland herbeiführten.1 Dass dieser Wandel jedoch allein und ursäch1

BERNDT HAMM: Die Reformation als Medienereignis, in: Jahrbuch für biblische Theologie 11 (1996), S. 137–166. – Bei dem vorliegenden Beitrag, der auf Wunsch der Herausgeber in diesen Band aufgenommen wurde, handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines gleichnamigen Aufsatzes, der zuerst erschienen ist in: Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra (Hg.): Tradition and Innovation in an Era of Change – Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit, Frankfurt a M. u. a. 2001 (= Medieval to Early Modern Culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 1), S. 99– 128. Für den Neuabdruck wurde der Text erweitert und in Bezug auf neu gefundene Drucke ergänzt, Literaturangaben und Nachweise zu inkunabelkundlichen Referenzwerken wurden aktualisiert, die Auswahlbibliographie am Ende des Originalbeitrags (S. 116– 122) ist entfallen. Eine englische Fassung des Beitrags erschien unter dem Titel: The Indulgence as a Media Event. Developments in Communication through Broadsides in the Fifteenth Century, in: Robert Swanson (Hg.): Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe, Leiden / Boston 2006 (= Brill’s Companions to the Christian Tradition 5), S. 309–330. – Inkunabelkundliche Referenzwerke werden mit folgenden Abkürzungen zitiert: Einbl.: Einblattdrucke des XV. Jahrhunderts. Ein bibliographisches Verzeichnis, hg. von der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Halle a. S. 1914 (Nachdruck Nendeln/Wiesbaden 1968) (= Sammlung bibliothekswissenschaftlicher Arbeiten, 35 / 36). GW: Gesamtkatalog der Wiegendrucke, bisher 11 Bde, Leipzig / Stuttgart 1925–2008ff., benutzt wird auch die Online-Datenbank des GW (www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de, zitiert als GW-Datenbank). VE15: FALK E ISERMANN: Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts

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lich Martin Luther und seinen Gefolgsleuten zu danken sei, dass die Reformation in dieser Hinsicht ohne Vorbild war, totale Veränderung und radikale Innovation brachte: Diese fast kanonische Lehrmeinung lehnt Hamm zu Recht ab. Schon in den Jahrzehnten vor der Reformation hatten sich die allgemeinen Kommunikationsbedingungen erheblich verändert, aufs Ganze gesehen vor allem durch die Erfindung des Buchdrucks, in Bezug auf geistliche Belange auch aufgrund einer aus verschiedenen Quellen gespeisten Intensivierung der öffentlichen Arti-kulation von Kirche und Frömmigkeit. Ihren wohl publikumswirksamsten Ausdruck fand die Frömmigkeitspraxis kurz vor der Reformation in den multimedialen Inszenierungen des Ablasswesens. Hamm hat das Verhält-nis von Ablass und reformatorischer Reaktion darauf in einer pointierten Formulierung zusammengefasst: „Das Medienereignis der reformatorisch-en Ablaßkritik stellt sich [...] als konsequente Fortsetzung des Medien-ereignisses der spätmittelalterlichen Ablaßpropaganda dar“.2 Der folgende Beitrag verfolgt das Ziel, diese zweifellos provozierende These anhand eines umfangreichen Ausschnitts aus dem vielfältigen spätmittelalterlichen Ablassschrifttum zu überprüfen und zu spezifizieren. Anknüpfungspunkt ist eine überlieferungsgeschichtliche Tatsache, die bereits geeignet erscheint, Hamms These zu stützen: Neben einer Vielzahl von mündlichen, bildlichen und symbolischen Medien bedienten sich die Propagandisten des Ablasses in ihren schriftlichen Verlautbarungen vor allem des Buchdrucks. In diesem Zusammenhang wurden ephemere Schriften geringen Umfangs in deutscher und lateinischer Sprache, vor allem Einblattdrucke, zu essentiellen Bestandteilen der auf den Ablass bezogenen Kommunikationsprozesse: Was der Reformation die gedruckte Flugschrift, das war dem Ablass der Einblattdruck.3 An den vielen Ablassdrucken des 15. Jahrhunderts lässt sich erkennen, wie öffentliche (und auch weniger öffentliche) Kommunikation gestaltet und gelenkt wurde, welche Zielgruppen angesprochen werden sollten und wie sich publizistische Mechanismen herausbildeten, die möglicherweise ein Muster für die von Hamm angesprochenen späteren Entwicklungen abgaben. Auf der Grundlage einer reichhaltigen Überlieferung ist zu fragen, unter welchen Umständen und von welchen Personenkreisen im 15. Jahrhundert Einblattdrucke bei der Vorbereitung und Durchführung von Ablasskampagnen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – VE15, 3 Bde, Wiesbaden 2004. Zu den im Text genannten Druckern vgl. FERDINAND GELDNER: Die deutschen Inkunabeldrucker. Ein Handbuch der deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts nach Druckorten, Bd. 1: Das deutsche Sprachgebiet, Stuttgart 1968. Bei Zitaten aus Inkunabeln sind Abkürzungen aufgelöst und die Schreibungen normalisiert. 2 HAMM: Reformation als Medienereignis (wie Anm. 1), S. 162. 3 Vgl. ebd., S. 141.

Der Ablass als Medienereignis

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verwendet wurden, welche Texte diese Drucke transportierten, wie sie im einzelnen bekanntgemacht wurden und welche Art der Rezeption ihnen zugedacht war. Für eine umfassende Kommunikationsgeschichte des Ablasses können diese Belege freilich nur Bausteine beibringen; eine solche Darstellung hätte zahllose weitere schriftliche Zeugnisse heranzuziehen: universitäre Gutachten, Predigten, Traktate und Sendbriefe, kritische wie apologetische Schriften, Handlungs- und Symbolmedien der Liturgie und des Heiligenkults, Gebete, Lieder, textierte Bilder, epigraphische Quellen4. Auch wäre das Untersuchungsfeld auf die anderthalb Jahrzehnte auszudehnen, die der Reformation unmittelbar vorausgingen, um die These zu stützen, dass hier Ansätze und Entwicklungen aufscheinen, die für kommende frömmigkeitsgeschichtliche Kommunikations- und Inter-aktionsprozesse prägend waren. Die Beschränkung auf die Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts und einige wietere auf den Ablass bezogene Inkunabeln mag damit zu rechtfertigen sein, dass dieses Quellenmaterial noch immer zu wenig gewürdigt wird.5 Buchdruck und Ablass fanden sehr schnell zueinander. Eher beiläufig notierte der Erfurter Bürgermeister Hartung Kammermeister in seiner thüringischen Chronik zum Jahr 1455: „In dem selbin jare quam abir ein legate von Rome gein Erffurtte und wiszete grosze bollen von unsirme heiligen vater, dem bobiste Nicolao dem funfften, inhaldene grosze gnade. Der selbe legate gab brive von sich den jhenen, die des aplas gebruchten, und er sammete groz gelt in der stad und uf dem lande.“6

4

Zu inschriftlichen Quellen vgl. den Beitrag von CHRISTINE MAGIN in diesem Band. Mit Ausnahme freilich der Studien von N IKOLAUS P AULUS (siehe Anm. 6). Vgl. des Weiteren etwa H ARTMUT B OOCKMANN: Über Ablaß-‚Medien‘, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983), S. 709–721, der neben Urkunden aber vor allem immobile Medien wie Schrifttafeln oder Epitaphien behandelt und den Buchdruck nur beiläufig berührt. Zum multimedialen Eventcharakter der spätmittelalterlichen Indulgenzkampagnen vgl. nun NIKOLAUS STAUBACH: Romfahrt oder Selbsterfahrung? Der Jubiläumsablaß im Licht konkurrierender Kirchen- und Frömmigkeitskonzepte, in: ders. (Hg.): Rom und das Reich vor der Reformation, Frankfurt a. M. u. a. 2004 (= Tradition – Reform – Innovation 7), S. 251–270. Eine vorzügliche Analyse der in einem bestimmten historischen Kontext verwendeten Ablassmedien und ihrer Überlieferungsformen gibt AXEL EHLERS: Die Ablasspraxis des Deutschen Ordens im Mittelalter, Marburg 2007 (= Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 64). 6 Die Chronik Hartung Cammermeisters, bearb. von ROBERT REICHE, Halle 1896 (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 35), S. 154f. Für alle historischen und theologischen (aber auch für kommunikationsgeschichtliche) Fragen grundlegend: NIKOLAUS P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 3 Bde, Paderborn 1922 / 1923. Als Quellenedition wichtig: Codex documentorum sacratissimarum indulgentiarum neerlandicarum. Verzameling van stukken betreffende de pauselijke aflaten in de Nederlanden (1300–1600), hg. von P AUL FREDERICQ, Den Haag 1922 (= Rijks Geschiedkundige Publikatien. Kleine Serie 21). 5

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Das war für Kammermeister offenbar keine spektakuläre Nachricht, als besonders sensationell beschreibt er die Ereignisse jedenfalls nicht. In der Geschichte des Buchdrucks markiert der Chroniktext allerdings einen besonderen Moment: Mit dieser Ablasskampagne erreichten nämlich erstmals7 Erzeugnisse der neuen Kunst in großer Zahl die Öffentlichkeit, und zwar die berühmten 30- und 31-zeiligen Ablassbriefe, die unter dem Namen des zyprischen Adligen Paulinus Chappe in den Jahren 1454 und 1455 gedruckt und vielerorts verteilt wurden.8 Erfurt bildet dabei so etwas wie einen Schwerpunkt der Überlieferung: Neben dem frühesten bekannten Exemplar vom 22. Oktober 14549 liegen fünf weitere Formulare vor, die bis 7

Möglicherweise plante schon Nikolaus von Kues im Jahr 1452 den Druck von Ablassbriefen, vgl. KAI-M ICHAEL SPRENGER: ‚volumus tamen, quod expressio fiat ante finem mensis Maii presentis‘. Sollte Gutenberg 1452 im Auftrag Nikolaus von Kues’ Ablaßbriefe drucken?, in: Gutenberg-Jahrbuch 74 (1999), S. 42–57. 8 VE15 C-14 und C-15 (GW 6555 und 6556). Vgl. FALK EISERMANN: ‚Hinter Decken versteckt‘. Ein weiteres Exemplar des 31zeiligen Ablaßbriefs und andere Neufunde von Einblattdrucken des 15. Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jahrbuch 74 (1999), S. 58 –74. Seit der Publikation des VE15 sind weitere Exemplare des Chappe-Ablassbriefs bekanntgeworden: 1. Landeshauptarchiv Magdeburg, Signatur: Außenstelle Wernigerode, Rep. H: Stolberg-Stolberg A I Nachtrag B Nr. 25; unklar, ob C-14 oder C-15, Verlust (wohl nach Würzburg ausgelagert und dort im 2. Weltkrieg vernichtet), nachgewiesen durch Notiz in LHA Magdeburg, Findbuch CB 1918, Bl. 151 Nr. 1; ausgestellt am 29. April 1455 (im Findbuch irrtümlich „1452“; vgl. JOHANNES MÖTSCH (Hg.): Regesten des Archivs der Grafen von Henneberg-Römhild, 2 Bde [durchgehende Seitenzählung], Köln / Weimar / Wien 2006 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe 13), S. 530f., Nr. 1111). 2. Cheb (Eger), Bibliothek des Franziskanerklosters, vier Bruchstücke, C-15:1, C15:4 oder C-15:6, Zuordnung unklar (persönliche Mitteilung von Michaela Bäumlová, Cheb). 3. Nationalbibliothek Prag, Signatur 39 H 30, C-15:4 (vgl. K AMIL B OLDAN: Egerer Exemplar eines 31zeiligen Ablaßbriefs von Gutenberg [?], in: Gutenberg-Jahrbuch 81 (2006), S. 221–224, Abb. S. 222f.); ausgestellt am 27. Februar 1455. Auch dieses Exemplar stammt aus der Franziskanerbibliothek Cheb und wurde im Jahr 2005 an die Prager Nationalbibliothek verkauft. Bibliographie zu gedruckten Ablassbriefen der Inkunabelzeit (bis ca. 1992): SEVERIN CORSTEN und REIMAR W ALTER FUCHS unter Mitarbeit von KURT HANS STAUB (Hg.): Der Buchdruck im 15. Jahrhundert. Eine Bibliographie, 2 Bde (durchpaginiert), Stuttgart 1988 / 1993 (= Hiersemanns Bibliographische Handbücher 7,1.2.), S. 122–124 und S. 723; eine Auswahlbibliographie auch in der ersten Fassung dieses Beitrags (wie Anm. 1). 9 VE15 C-15:4 (GW 6556, vierter Druckzustand); vgl. EISERMANN: ‚Hinter Decken versteckt‘ (wie Anm. 8), S. 61 Nr. 12. Das fragmentarisch überlieferte Exemplar, früher in der Sammlung Ernst Fischer, Freiburg / Weinheim, war lange verschollen. Es tauchte im Jahr 2004 beim Auktionshaus Reiss & Sohn in Königstein / Taunus wieder auf (vgl. Auktionskatalog Reiss & Sohn, Auktion 95, 19. –20. Oktober 2004, Königstein 2004, Nr. 458; Abb.: ebd., Taf. 7) und wurde von der John H. Scheide Library (in der University Library Princeton / NJ) erworben (persönliche Mitteilung von Paul Needham, Princeton).

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zum April 1455 in der Stadt ausgegeben wurden.10 Der Text der auf Pergament gedruckten Briefe lautet in Paraphrase: Als Gesandter und Generalbevollmächtigter des Königs von Zypern entbietet Paulinus Chappe allen Christgläubigen seinen Gruß. Wegen der Bedrängnis, in der sich Zypern befindet, hat Papst Nikolaus V. allen Gläubigen, die innerhalb des am 1. Mai 1452 beginnenden Zeitraums von drei Jahren einen Betrag für die Verteidigung des christlichen Glaubens beisteuern, erlaubt, dass geeignete Beichtväter ihnen einen vollkommenen Ablass und voll-kommene Vergebung einmal im Leben und einmal in der Todesstunde erteilen, wenn sie wahrhaftig gereut und gebeichtet haben. Durch einen handschriftlichen Eintrag in den dafür vorgesehenen Spatien des Ablassbrief-Formulars wird bestätigt, dass der Empfänger den geforderten Beitrag geleistet und dadurch das Recht erworben hat, von seinem Beichtvater gemäß der mitgeteilten „Forma absolutionis“ von seinen Strafen losgesprochen zu werden. Der Zypernablass war aus der Sicht der Ablasskommissare und ihrer Auftraggeber sicher ein Erfolg. Die erhaltenen Exemplare von VE15 C-14 und C-15, die einen Empfängernamen und Ausstellungsort aufweisen, sind – bei einer gewissen Konzentration in den Erzdiözesen Köln und Mainz – geographisch von Kopenhagen bis Konstanz und von St. Gallen bis nach Westfalen gestreut.11 Prototypisch für den Gebrauch gedruckter Texte im Ablasswesen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war nicht nur die weite Verbreitung, sondern auch die Tatsache, dass neben den Ablassbriefen schon in der frühesten Zeit des Buchdrucks auch andere Medien zum Einsatz kamen, nämlich die Kreuzzugsbulle „Cum his superioribus annis“ von Papst Calixtus III., die 1456 in deutscher und lateinischer Sprache erschien12, aus dem weiteren Feld der Türken- bzw. Kreuzzugspropaganda

10 Vgl. EISERMANN: ‚Hinter Decken versteckt‘ (wie Anm. 8), Übersicht S. 60–64 (Nr. 3, 10, 12, 17, 26, 31). 11 Vgl. ebd., S. 59f. und S. 64. 12 Deutsche Ausgabe: GW 5916; vgl. Die Türkenbulle Pabst Calixtus [sic] III. Ein deutscher Druck von 1456 in der ersten Gutenbergtype, in Nachbildung hg. und untersucht von P AUL SCHWENKE, mit einer geschichtlich-sprachlichen Abhandlung von Hermann Degering, Berlin 1911 (= Seltene Drucke der Königlichen Bibliothek zu Berlin 1); MARGARET B INGHAM STILLWELL: The Beginning of the World of Books 1450 to 1470. A Chronological Survey of the Texts Chosen for Printing during the First Twenty Years of the Printing Art, With a Synopsis of the Gutenberg Documents, New York 1972, Nr. 15; lateinische Ausgabe (GW 5916 / 10): ebd., Nr. 8. Online-Digitalisat der John H. Scheide Library in Princeton: http://diglib.princeton.edu/view?_xq=pageturner&_index=1&_ inset=1&_start=1&_doc=/mets/whsS2.4-calixtus.mets.xml. Vgl. auch FRIEDER SCHANZE: Der Buchdruck eine Medienrevolution?, in: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999 (= Fortuna Vitrea 16), S. 286 –311, hier S. 304.

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stammt auch der sogenannte Türkenkalender vom Dezember 1454.13 Obwohl hiermit bereits eine prägende Auswahl derjenigen Texttypen getroffen war, die später im gedruckten Ablassschrifttum eine bedeutende Rolle spielen würden, kam es zunächst nur zu sporadischen Aufträgen an die Druckereien. Zu nennen sind die Bulle „Ezechielis prophetae“, mit der Pius II. am 22. Oktober 1463 seine persönliche Teilnahme an einem zukünftigen Kreuzzug ankündigte, gedruckt in deutscher und lateinischer Sprache bei Peter Schöffer in Mainz14; ferner wurden in den 1460er Jahren einige Ablassbriefe von verschiedenen Offizinen in Köln, Mainz und Straßburg angefertigt.15 Erst während des Pontifikats Sixtus’ IV. in den Jahren zwischen 1471 und 1484 kam es zu einem enormen Aufschwung im Gebrauch von Drucken und besonders von Einblattdrucken zur Propagierung von Ablässen.16 Zwei Ereignisse waren hierbei von besonderer Bedeutung: einerseits das Jubeljahr 1475, andererseits die Landung der Türken in Apulien im Sommer 1480. Im Gefolge des Jubiläums wurden seit 1476 zahlreiche Ablässe zum Besten einzelner Kirchen verliehen, vor allem nach Deutschland. Bald darauf führten die Kämpfe in Italien und die Belagerung von Rho-dos zur Ausschreibung neuer Kreuzzugsablässe, die teilweise mit den Jubiläen konkurrierten, wodurch es zu Widerrufen und Verwicklungen in Bezug auf die Gültigkeit regionaler Indulgenzen kam.17 Schon vor dem Jubiläum hatte Sixtus zahlreiche Plenarablässe meist zugunsten des Kirchenbaus vergeben, so etwa „für etliche römische Kirchen, für zwei abgebrannte Kirchen in Erfurt, für die Abtei Egmond in Holland, 13

Vgl. Der Türkenkalender ‚Eyn manung der cristenheit widder die durken‘, Mainz 1454. Das älteste vollständig erhaltene gedruckte Buch. Rar. I der Bayerischen Staatsbibliothek, in Faksimile hg., Kommentar von FERDINAND GELDNER, Wiesbaden 1975. Online-Digitalisat der BSB München: http://mdz10.bib-bvb.de/~db/0001/bsb00018195/ images/index.html. 14 STILLWELL: The Beginning of the World (wie Anm. 12), Nr. 64a (lateinische Ausgabe), Nr. 64b (deutsche Ausgabe). 15 Vgl. FALK E ISERMANN und VOLKER HONEMANN: Die ersten typographischen Einblattdrucke, in: Gutenberg Jahrbuch 75 (2000), bes. S. 94–100; SCHANZE: Der Buchdruck eine Medienrevolution? (wie Anm.12), S. 305–309. 16 Vgl. P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 167– 169, S. 190–192, S. 204–210; EMIL GÖLLER: Deutsche Kirchenablässe unter Papst Sixtus IV., in: Römische Quartalschrift 31 (1923), S. 55–71; P ETER P. ALBERT: Sixtus’ des vierten Ablassbriefe für das Freiburger Münster, in: Freiburger Münsterblätter 11 (1915), S. 31–48. Zu Sixtus weiterhin EGMONT LEE: Sixtus IV and Men of Letters, Rom 1978 (= Temi e Testi 26); MASSIMO M IGLIO, FRANCESCA NIUTTA, DIEGO QUAGLIONI, CONCETTA RANIERI (Hg.): Un Pontificato ed una Città. Sisto IV (1471-1484), Atti del Convegno Roma, 3–7 Dieciembre 1984, Rom 1986 (= Istituto Storico Italiano per il Medio Evo. Studi Storici 154–162). 17 Vgl. P AULUS (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 207. Zu den Kreuzzugsablässen vgl. jetzt NORMAN HOUSLEY, Indulgences for Crusading, 1417–1517, in: Swanson (Hg.): Promissory Notes (wie Anm. 1), S. 277–307.

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die Karmelitenkirche in Posen, die Domkirche zu Königsberg, die Wallfahrtskirche in Loreto“18. Der Bauablass zugunsten der 1472 zerstörten Kirchen St. Marien (Dom) und St. Severi in Erfurt liefert das nächste Beispiel für die Verbindung von Ablass und Buchdruck, nämlich den 1473 entstandenen, nur in einem unvollständigen Exemplar erhaltenen Ablassbrief sowie dessen erst vor kurzem aufgefundene, vollständig erhaltene Druckvariante und die dazugehörige Bulle „Si populus israheliticus“, die in einer zwei Blatt umfassenden Ausgabe von Lukas Brandis in Lübeck hergestellt wurde.19 In den bisher genannten Beispielen zeichnet sich sehr deutlich ein mediales und publizistisches Muster ab. Die Ablasspropagierung bediente sich von Beginn an unterschiedlicher, jedoch eng miteinander verknüpfter Texttypen, die in Ein- und Mehrblattdrucken, teilweise auch schon in deutscher und lateinischer Sprache publiziert wurden, was darauf schließen lässt, dass die Drucke auf eine Rezeption durch unterschiedliche Adressatenkreise abgestellt waren. Voll ausgeprägt tritt diese Strategie der mehrschichtigen Nutzung des Buchdrucks im Dienst einer Indulgenz zuerst in den Kampagnen auf, die zwischen 1477 und 1484 zugunsten der Stiftskirche St. Maria, Andreas und Amandus in der schwäbischen Residenz Urach durchgeführt wurden.20 Ein chronologischer Überblick über die Uracher Druckwerke dieser Jahre vermittelt einen Eindruck von der besonderen Intensität und inhaltlichen Ausrichtung der den Ablass begleitenden Publizistik: 1476 nach Dezember 7: deutsches Summarium der von Papst Sixtus IV. am 7. Dezember 1476 erlassenen Ablassbulle für Urach (VE15 S-139), dazu gehört wohl das

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P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 168. GW 71 bzw. GW-Datenbank 0007110N; auch das vollständige Exemplar von GW 0007110N wurde in der Franziskanerbibliothek Cheb gefunden (vgl. Anm. 8). Zu dem Fragment GW 71 (VE15 A-36) vgl. FALK EISERMANN: Erfurter Ephemeriden. Perspektiven eines vielseitigen Mediums, in: Michael Ludscheidt und Kathrin Paasch (Hg.): Bücher und Bibliotheken in Erfurt, Erfurt 2000, S. 29–46, hier S. 31f.; ALBERT KAPR: Der Erfurter Ablaßbrief von 1473. Eine druckhistorische Studie zum 500. Jahr des Buchdrucks in Erfurt, in: Beiträge zur Inkunabelkunde 3,6 (1975), S. 30–37; zur Bulle: ERNST VOULLIÉME: Die Indulgenzbulle Papst Sixtus IV zum Besten des Wiederaufbaues der durch den großen Brand zerstörten beiden Stiftskirchen B. Mariae Virginis und S. Severi zu Erfurt vom 23. Febr. 1473, in: Nordisk Tidskrift för Bok- och Biblioteksväsen 10 (1923), S. 31–37. 20 Zu Urach allgemein vgl. WILFRIED SCHÖNTAG: Urach (1477–1517), in: Wolfgang Leesch, Ernest Persoons, Anton G. Weiler (Hg.): Monasticon Fratrum Vitae Communis, Teil II: Deutschland, Brüssel 1979 (= Archives et Bibliothèques de Belgique, Extranr. 19), S. 233–246; MARTIN B RECHT: ‚Moderne Frömmigkeit‘ und ‚gemeinsames Leben‘. Das Uracher Brüderhaus und seine Geschichte, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 78 (1978), S. 5–23. 19

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Fragment einer Bulle in lateinischer Sprache mit deutschem Summarium (S-43).21 Drucker: jeweils Konrad Mancz in Blaubeuren. 1477 nach Oktober 15: Summarium der Ablassbulle vom 15. Oktober 1477, lateinisch. Drucker: Mancz (VE15 S-140). 1478 nach Juli 11: Bulle „Pastoris aeterni“ vom 11. Juli 1478, lateinisch; dazu Summarien in lateinischer und deutscher Sprache auf einem Blatt. Drucker: jeweils Michael Greyff in Reutlingen (VE15 S-52 und S-141).22 1479 a) nach Juni 22: Bulle „Pastoris boni“ vom 22. Juni 1479, lateinisch. Drucker: Konrad Fyner in Urach, zwei Ausgaben (VE15 S-59 und S-60).23 b) nach Oktober 5: Gabriel Biel, Verkündigung der Bulle „Pastoris boni“ vom 22. Juni 1479, datiert 5. Oktober 1479, lateinisch. Drucker: Fyner (VE15 B-60). 1480 Ablassbriefe (hier und im Folgenden stets lateinisch). Drucker: Fyner, zwei Ausgaben (VE15 A-50 und A-51). um 1480 ein lateinisches und zwei lateinisch-deutsche Summarien. Drucker: Fyner (VE15 S-144 bis S-146). 1481 nach Januar 5: Bulle „Sancto ac pio desiderio“ vom 5. Januar 1481, lateinisch. Drucker: Greyff (VE15 S-97). 1481 oder 1484 (?) Ablassbrief. Drucker: Fyner (VE15 A-52, Datierung unklar). 1482 nach Dezember 7: Bulle „Sancto ac pio desiderio“ vom 5. Januar 1481 mit Breve vom 7. Dezember 1482, lateinisch. Drucker: Fyner, zwei Ausgaben (VE15 S-98 und S-99). 1483 a) Ablassbriefe. Drucker: Fyner, fünf Ausgaben (VE15 A-53 bis A-57). b) nach September 13: Bulle „Romanus pontifex“ vom 13. September 1483, lateinisch; dazu ein lateinisches Summarium. Drucker: Greyff, jeweils zwei Ausgaben (VE15 S-103 und S104 sowie VE15 S-142 und S-143). um 1483 Ablassverkündigung, deutsch. Drucker: Greyff (VE15 A-67). 1484 a) vor April 4: Georg Hartzesser, Ablassbrief. Drucker: [Leipzig: Konrad Kachelofen] (VE15 H-4).24 b) vor April 10: Benedikt von Helmstadt: Ablassbrief. Drucker: [Marienthal: Brüder vom gemeinsamen Leben] (VE15 B-39).25

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Vgl. Katalog der Inkunabeln in Bibliotheken der Diözese Rottenburg-Stuttgart, barb. von HERIBERT HUMMEL und THOMAS W ILHELMI unter Mitwirkung von GERD BRINKHUS und EWA DUBOWIK-B ELKA, Wiesbaden 1993 (= Inkunabeln in Baden-Württemberg, Bestandskataloge, 1), Nr. 638 (mit falscher Datierung auf 13. Dezember 1477). Die Bulle Sixtus’ IV. ist handschriftlich überliefert z. B. im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, J 1, Hs. 206 (Traditionsbuch von Bebenhausen), fol. 94 v–96 r. 22 Zu Greyffs Tätigkeit für den Ablass vgl. ELISABETH SOLTÉSZ: Ein bisher unbekannter Einblattdruck Michael Greyffs, betreffend die Ablassverkündigung des Papstes Sixtus IV., in: Gutenberg Jahrbuch 51 (1977), S. 72–74; MICHAEL HERZFELD: New Light on the 1480 Siege of Rhodes, in: The British Museum Quarterly 36 (1972), Nr. 3/4, S. 69–73. 23 Vgl. P ETER AMELUNG: Bemerkungen zum frühen Buchdruck in Urach, in: Schwäbische Heimat 7 (1976), S. 193–199; CURT F. B ÜHLER: Notes on Conrad Fyner’s Press in Urach, in: Gutenberg-Jahrbuch 11 (1936), S. 63–72. 24 Zu Hartzesser vgl. OLIVER AUGE: Stiftsbiographien. Die Kleriker des Stuttgarter Heilig-Kreuz-Stifts (1250–1525), Leinfelden-Echterdingen 2002 (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 38), S. 357–361 Nr. 142 sowie S. 707 (Register). 25 Benedikt, Rektor des Brüderhauses Marienthal, war von 1477 bis etwa Anfang 1479 als Vorgänger Gabriel Biels Propst von Urach; vgl. SCHÖNTAG: Urach (wie Anm. 20), S. 242 und S. 245.

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Mehr als zwei Dutzend verschiedene Einblattdrucke zu dieser vom Papst mehrfach verlängerten Ablasskampagne liegen also vor, mehrheitlich päpstliche Bullen und auf sie bezogene Summarien in Deutsch und Latein, in denen die wesentlichen Inhalte der Bullen erläutert wurden, dazu zahlreiche Ablassbriefe. Für die Bewältigung dieser Aufgaben zog man fünf Druckereien heran, meist aus der Umgebung, jedoch wurde zumindest gegen Ende auch im Rheingau und in Mitteldeutschland der Uracher Ablass propagiert, wie die in Marienthal bzw. Leipzig gedruckten Formulare VE15 B-39 und H-4 zeigen. Leider lässt sich anhand der erhaltenen Ablassbrief-Exemplare kein genaueres Bild vom Publikum zeichnen, denn die meisten Formulare sind nicht ausgefüllt oder weisen zwar Empfängernamen, aber keine Herkunfts- oder Ausstellungsorte auf. Der finanzielle Ertrag zeigt aber, dass der Publikumszulauf nichts zu wünschen übrig ließ, obwohl das eigentliche Anliegen der Indulgenz, der Um- und Weiterbau der Kirche, nur schleppend voranging: „Als bei der Fertigstellung im Jahr 1499 auch eine neue Orgel eingebaut und das Geläute (...) erweitert worden war, blieben immer noch 6600 Gulden von den eingegangenen Ablaßgeldern übrig“.26 Der Uracher Ablass, dessen an den Einnahmen ablesbarer Erfolg gewiss auch der in dieser Komplexität zuvor ungekannten Unterstützung des Buchdrucks zu verdanken war, kann als beispielhaft für die weitere Entwicklung gelten. In der Folgezeit waren gedruckte Bullen, Summarien und Ablassbriefe die wichtigsten Publikationsmedien für zahlreiche Indulgenzen in Deutschland. Auch für den Buchdruck neue mediale Typen treten erstmals im Zusammenhang des Uracher Ablasses auf. Traditionsbildend wirkte etwa VE15 B-60, eine Verkündigung der am 22. Juni 1479 erlassenen Bulle „Pastoris boni“, die am 5. Oktober desselben Jahres von Gabriel Biel, damals Propst von Urach, ausgestellt und als großformatiges Blatt mit einem Satzspiegel von 32 x 43 cm durch Konrad Fyner publiziert wurde; das einzige erhaltene Exemplar ist ein Pergamentdruck.27 Diese Ausgabe zeigt, dass man bei der Propagierung der Ablässe bemüht war, den Urkundencharakter und damit die Rechtsverbindlichkeit der päpstlichen Ablassverheißungen genau zu bewahren. Um einem Fälschungsverdacht vorzubeugen, der bei einem Druck selbstverständlich prinzipiell gegeben war, wählte man hier die traditionelle Publikationsform des Transsumpts. 26

KLAUS EHRLICH: Die Stiftskirche St. Amandi und Meister Peter Steinmetz von Koblenz, in: Friedrich Schmid (Hg.): Die Amanduskirche in Bad Urach, Sigmaringen 1990, S. 17–34, hier S. 21. 27 Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Ke XVIII 4.2 Nr. 8 Ink. Abbildung bei W OLFGANG SCHNABEL: Das Wirken der Brüder vom gemeinsamen Leben in Urach: „... daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen ...“ (1. Petrus 2,21), in: ... und sollst ein segen sein, zusammengestellt für den Festtag am 23. September 1990 aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des Einkehrhauses Stift Urach, Reutlingen 1990, S. 9–23, S. 13.

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Daher beschreibt Biel einleitend die materiellen Eigenschaften und die äußeren Merkmale der Urkunde, besonders das Siegel: Es sei aus Blei, mit einem Seidenfaden befestigt und rot- bis safranfarbig, wie es den Gepflogenheiten der römischen Kurie entspräche: „Bulla plumbea in filis sericis Rubei Croceique Coloris More romane curie“ (Z. 3). Es folgt der unveränderte Wortlaut des päpstlichen Schreibens, und abgeschlossen wird der Text durch die Angabe von Abfassungsort und -zeitpunkt des Transsumptes und der Zeugennamen. Das erhaltene Exemplar wurde von den beiden Notaren Gregor May und Mathias Horn mit dem Original kollationiert und seine vollständige Übereinstimmung mit diesem in ausführlichen handschriftlichen Auskultationsvermerken bestätigt; beide setzten neben die Notarsvermerke auch noch ihre Signete.28 Das Blatt ist das früheste gedruckte Zeugnis der Veröffentlichungsform ‚Transsumpt‘ im Ablasswesen und fand bald eine vielfältige Nachfolge. Im Jahr 1481 zum Beispiel veröffentlichte Paul Munthart, der Propst von St. Peter in Straßburg, ein ähnlich gestaltetes Mandat zu den Ablässen, die Sixtus IV. dem dortigen Reuerinnenkloster verliehen hatte, zusammen mit einem lateinischen Summarium, dem wiederum eine knappe deutsche Erläuterung beigegeben wurde (VE15 M-174). Wie Biel schickt Munthart dem Text des päpstlichen Schreibens die Bemerkung voraus, das originale Breve liege ihm in ordnungsgemäßem Zustand und korrekt besiegelt vor: „litteras sanctissimi in Christo patris et domini nostri domini Sixti divina providentia pape quarti breve nuncupatas (...) integre ut prima facie apparuit expeditas et sigillatas“.29 Ähnliche Publikationen gaben vor 1500 noch der Schweizer Geistliche Burkhart Stör, der Bischof von Lüttich Ludwig von Bourbon, sein Straßburger Amtskollege Albrecht von Bayern sowie der Merseburger Bischof Thilo von Trotha heraus.30 Auch die Authentizität von Übersetzungen wurde durch konventionelle Beglaubigungsmittel dokumentiert. Ein 28

Zu Horn, der von 1458 bis 1505 als kaiserlicher Notar und Kleriker des Bistums Speyer belegt ist, vgl. P ETER-J OHANNES SCHULER: Notare Südwestdeutschlands. Ein prosopographisches Verzeichnis für die Zeit von 1300 bis ca. 1520, Stuttgart 1987 (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Reihe B 90/99), Textband S. 198f. Nr. 569 (May wird dort nicht genannt). Auskultationsvermerke von Mathias Horn und Gregor May finden sich auch auf Exemplaren von VE15 S-59, S-98 und S-99 (Horn) und S-97 (May). 29 Vgl. ANTIQUARIAT J ACQUES ROSENTHAL: Einblattdrucke von den Anfängen der Druckkunst bis zum Tode Maximilians I. 1455–1519, mit Vorwort von Konrad Haebler, München 1932, S. 22f. Nr. 26. Einziges Exemplar: Staatsbibliothek zu Berlin –Preußischer Kulturbesitz, Signatur Wgdr. 71,8, das Zitat Z. 7–9. Bemerkenswert erscheint, dass Munthart dieses Blatt von Fyner in Urach herstellen ließ, obwohl natürlich auch in Straßburg Drucker zur Verfügung gestanden hätten. 30 Stör: VE15 S-57, vom Jahr 1480; Ludwig: VE15 L-97, von 1482; Albrecht: VE15 A-104, von 1486; Thilo von Trotha: VE15 T-10, vom Jahr 1491.

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Basler Notar bemerkte im Kolophon einer Übertragung einer päpstlichen Bulle des Jahres 1484: „Interpretata est presens copia a bulla originali sana et integra in vulgare theutonicum non mutata facti substantia per me Johannem Struss Curie Basiliensis notarium collateralem juratum et concordat cum eadem. Attestor ego idem notarius manu propria et subscripcione solita subcripta.“31

Diese Beglaubigungsformen entstammen den notariellen Kanzleitraditionen und -regeln, die sich im Lauf des Mittelalters herausgebildet und verfestigt hatten. Sie wurden unverändert auf die neuen Druckmedien übertragen, denn auch für diese galt, daß jedes Schriftstück ohne strenge Beachtung der äußeren Form und des Inhalts, ohne die Einhaltung des „stilus curiae“, von vornherein der Fälschung verdächtig war. Eine in ihrem Publizitätsdrang mit der Uracher Indulgenz vergleichbare, in ihrer geographischen Ausdehnung jedoch weiter ausgreifende Kampagne zur Propagierung eines Kreuzzugsablasses wurde zwischen 1480 und 1483 durch Kommissare aus dem Franziskanerorden durchgeführt.32 Verantwortlich war seit 1481 Emerich von Kemel, ein ehemaliger Provinzialvikar der sächsischen Observanten, dann Ordensprokurator an der Kurie.33 Von ihm stammt eine Reihe von Ablassbrief-Ausgaben aus den Jahren 1482 und 1483, die in Mainz, Nürnberg und Reutlingen gedruckt wurden (VE15 E-16 bis E-29). Bei Peter Schöffer in Mainz und Michael Greyff in Reutlingen ließ Emerich auch die zum Ablass zum besten des Türkenkrieges aufrufende Bulle „Domini et salvatoris nostri“ herstellen, die Sixtus IV. am 4. Dezember 1480 erlassen hatte, und zwar zusammen mit einem vom 15. März 1481 datierenden Breve, das Emerich als päpstlichen Kommissar für die Verkündung nördlich der Alpen legitimierte und die observanten Franziskaner zur Mitwirkung aufrief. Beide Texte wurden auf einem Blatt zusammengefasst und publiziert (VE15 S-95 und S-96). Kemel erteilte sicher auch den Auftrag für den Druck einer Ablassverkündigung, die der Mainzer Erzbischof Diether von Isenburg herausgegeben hatte

31 VE15 I-3, Innozenz VIII.: Bulle „Romanorum gesta pontificum“ betr. den Ablaß zum Besten der Spitalkapelle in Basel, 12. September 1484, übersetzt von Johannes Struss [Basel: Martin Flach], Z. 52–55. Benutztes Exemplar: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur Wgdr. 71,14. Vgl. FALK E ISERMANN: Päpstliches Schriftgut und Volkssprache im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 134 (2005), S. 446–476, hier S. 468f. 32 Vgl. P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 205f.; MARIO V IORA: Angelo Carletti da Chivasso e la Crociata contro i Turchi del 1480–81, in: Studi Francescani NS 11 (1925), S. 319–340. 33 Vgl. LEONHARD LEMMENS: Die Provinzialvikare der sächsischen Observanten, in: Beiträge zur Geschichte der sächsischen Franziskanerprovinz zum Heiligen Kreuze 3 (1910), S. 69–75, bes. S. 71f.

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(VE15 D-10).34 Der Höhepunkt der Kampagne lag im Jahr 1482, nachdem Sixtus am 15. Dezember des Vorjahres in einem weiteren Breve an Emerich hatte wissen lassen, dass der Kreuzzugsablass entgegen anderslautenden Gerüchten und trotz der Rückeroberung von Otranto und der Vertreibung der Türken aus Italien weiterhin in Geltung sei. Der Papst betonte, „daß der Ablaß nach wie vor gepredigt werden solle, da für das nächste Jahr eine Expedition gegen die Türken vorbereitet werde“.35 Auch diesen Aufruf ließ Emerich sogleich als Einblattdruck verbreiten.36 Zahlreiche deutsche Franziskaner folgten ihm und nahmen als Subkommissare an der Kampagne teil, wie man aus einer großen Zahl von Ablassbriefformularen ablesen kann, die unter ihrem Namen gedruckt wurden. Zu nennen sind der Nürnberger Guardian Johannes Ulrich Eysenflam (VE15 E-52 und E-53) und sein berühmter Ordensbruder Stephan Fridolin, dessen Name sich handschriftlich auf mehreren Exemplaren von VE15 A-23, A-26 und A-27 findet37; in Oberdeutschland waren außerdem der Frater Wilhelm Katzdaler (VE15 K-10 und K-11), der Bamberger Guardian Johannes Kaufmann (VE15 K-12 und K-13), sein Ingolstädter Kollege Ludwig Pupfel (VE15 P-28038) und Kaspar Waler, Guardian von Heilbronn (VE15 W-4), tätig. Im Norden verteilte der sächsische Provinzialvikar Heinrich Kannengeter die in Lübeck hergestellten Formulare (VE15 K-6 bis K-8), im Osten predigte den Ablass der Observant Johannes Nixstein, der seine diesbezüglichen Druckaufträge schon 1480 nach Magdeburg (Bartholomäus Ghotan) und zwei Jahre später an eine namentlich nicht bekannte, vermutlich mitteldeutsche Offizin, den sogenannten ,Drucker des Nixstein‘, vergab (VE15 N-9 bis N-12).39 Dazu kommen zahlreiche in Nürnberg hergestellte 34

Zur Druckerzuweisung vgl. VE15. GW 8342: [Speyer: Peter Drach]. P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 206f. 36 VE15 S-153, S-154 und GW-Datenbank M4251710. Die letztgenannte Ausgabe ist im VE15 noch nicht verzeichnet. Das erhaltene Fragment (nur unterer Teil) wurde erst im Jahr 2005 von meinem Kollegen Thomas Döring, dem ich für Mitteilungen zu seinem Neufund herzlich danke, in der Universitätsbibliothek Leipzig entdeckt. Bibliographische Daten: Sixtus IV.: Breve an Emericus de Kemel betr. den Ablaß zum Besten des Kampfes gegen die Türken. Rom, 15. Dezember 1481. [Leipzig: Markus Brandis]. ? x 225 mm. ? + 24 Z. Type: 1:85G. Exemplar: UB Leipzig, Signatur: Hist. Turc. 100(k). 37 Vgl. PETRA SEEGETS: Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin (gest. 1498) zwischen Kloster und Stadt, Tübingen 1998 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 10), bes. S. 36. 38 Nach Erscheinen des VE15 wurde ein weiteres, von P-280 abweichendes Fragment bekannt (vgl. Auktionskatalog Reiss & Sohn, Auktion 107, 23.–24. Oktober 2006, Königstein 2006, Nr. 1847), das sich jetzt in der BSB München befindet. 39 Vgl. FRITZ J UNTKE: Unbekannte Ablaßbriefe des XV. und XVI. Jahrhunderts, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 51 (1934), S. 547–555; HOLGER NICKEL: Zum Ablaßbrief des Johannes Nixstein, in: VOLKER HONEMANN u. a. (Hg.): Einblattdrucke des 15. 35

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Ausgaben ohne Ausstellernamen, die zumeist in Franken und Böhmen verteilt wurden (VE15 A-22 bis A-33).40 In den Zusammenhang dieser Kampagne gehört auch der mediengeschichtlich singuläre Fall eines rein xylographisch, also als Einblatt-Holzschnitt, hergestellten und in zahlreichen Blanko-Exemplaren überlieferten Ablassbrief-Formulars, das der Münchener Guardian Petrus Cristanni nach dem Vorbild eines typographischen Drucks herstellen ließ. Offenbar war es Cristanni – anders als seinen Kollegen in Franken – in der Kürze der Zeit nicht gelungen, eine geeignete Offizin für das Formular zu finden, so dass er stattdessen einen Holzschneider mit der Ausführung des Druckauftrags betraute.41 Insgesamt ist an der franziskanischen Kampagne neben der Quantität der Überlieferung der Umstand bemerkenswert, dass sich an den Ausstellern und sonstigen beteiligten Personen, an der Verteilung der Druckorte und an den erhaltenen Exemplaren deutlich ihr Organisationsprinzip ablesen lässt. Als strukturierendes Element der Kampagne diente die topographische Gliederung der ultramontanen Provinzen der Franziskaner, und für die örtliche Durchführung wählte Emerich das lokale Führungspersonal und wichtige Funktionsträger des Ordens. Auch die überall – bis hin zu dem Münchener Xylograph – weitgehend übereinstimmenden Texte der Ablassbriefe zeigen, dass die Kampagne straff organisiert und zentral gelenkt war. Es würde zu weit führen, alle vergleichbaren Indulgenzen und ihre Verbindungen zur Druckerpresse im Detail darzustellen. Ähnliche Überlieferungsprofile lassen sich auch für die Ablässe skizzieren, die mit den Namen der Kommissare Bartholomaeus de Camerino, Johannes de Cardona, Lucas de Tollentis und Rudolf Graf von Werdenberg verbunden sind, um nur die Aktivitäten der 1470er und frühen 1480er Jahre zu nennen.42 Das und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000, S. 467–477. 40 VE15 A-25 (Einbl. 891) ist in Einbl. unter dem Stichwort ‚Lune, Henricus‘ sortiert, jedoch war der Name in dem – heute verlorenen – einzigen bekannten Exemplar wohl handschriftlich eingefügt. Lune war Guardian des Franziskanerkonvents Eger und fertigte am 20. März 1482 auch ein Exemplar von VE15 A-24 aus. 41 Vgl. Anm. zu VE15 A-23. Dort werden bereits 27 erhaltene Exemplare erwähnt; während der Drucklegung dieses Beitrags wurden in der Staatsbibliothek zu Berlin zwei weitere Ausfertigungen als Makulatur in den Einbanddeckeln einer Inkunabel gefunden. 42 Camerino: VE15 B-13 bis B-26; Cardona: VE15 J-23 bis J-52 (Ablassbriefe), J-53 bis J-55 („Ordinatio“ für die Beichtväter); Tollentis: VE15 L-80 bis L-95 (Ablassbriefe), L-96 (Verkündigung eines päpstlichen Breve); Werdenberg: VE15 W-5 bis W-31. Einige Ausgaben des Lucas de Tollentis gehören zu den frühesten in den Niederlanden hergestellten Einblattdrucken, vgl. FALK E ISERMANN: Drucke im Kontext. Niederländische Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts, in: Robert Peters und Jos M. M. Hermans unter Mitarbeit von Anke Jarling (Hg.): Buch und Literatur in den östlichen Niederlanden und im nordwestlichen Deutschland. Vorträge des Kolloquiums vom 31. August bis 2. Septem-

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Uracher Beispiel und die franziskanische Kampagne zeigen exemplarisch, wie intensiv der Zugriff auf die Druckerpresse von Seiten kirchlicher Institutionen in dieser Zeit bereits war. Beide Überlieferungskomplexe sind auch insofern typisch für den Gesamtbefund, als sie sich auf Bauablässe (Urach) bzw. Kreuzzugsindulgenzen (Kemel) erstrecken, also die beiden Ablasstypen, für deren Propagierung im späten Mittelalter der Buchdruck besonders intensiv gebraucht wurde. Hingegen liegen zumindest aus dem 15. Jahrhundert kaum offizielle Indulgenzdrucke anderer Art – etwa bischöfliche Partikular- oder Sammelablässe43 – aus Deutschland vor. Urach steht auch stellvertretend für die große Zahl von Indulgenzen „ad instar iubilaei“, die Sixtus IV., wie bereits erwähnt, nach dem Heiligen Jahr 1475 nach Deutschland vergeben hatte.44 Sie sollten zum einen die Gläubigen, die Rom nicht hatten besuchen können, in die Lage versetzen, die geistlichen Gnaden des Jubeljahrs an ihren Heimatorten zu erwerben. Zum anderen waren finanzielle Bedürfnisse zu befriedigen, die aus zahlreichen aufwendigen Neu- oder Weiterbaumaßnahmen resultierten oder durch Reparaturen und Renovierungen hervorgerufen wurden und von denen neben den Kirchherren, die beim Papst wegen der Ablassvergabe vorstellig wurden, aufgrund detaillierter Abgaberegelungen selbstverständlich auch die römische Kurie profitierte. Auffallend oft treten in diesem Zusammenhang als Auftraggeber von Einblattdrucken kleinere Orte und fernab der Zentren gelegene Institutionen in Erscheinung, die mit neuen, zeitlich begrenzten Ablässen versehen worden waren und daraufhin schnellstmöglich eine größere Öffentlichkeit herzustellen versuchten: allein vor 1480 etwa Baden-Baden (VE15 S-44 bis S-46, S-50, S-51), Freiburg im Breisgau (VE15 S-48, S-65 und S-119), das Heiliggeist-Spital in Memmingen (VE15 S-53), die Zisterze Arnsburg (VE15 S-55 und S-56), das bedeutsame Damenstift St. Odilienberg im Elsaß (VE15 S-57), St. Blasius in Saarwerden (VE15 S-58) und die Stiftskirche in Oberhofen bei Göppingen (VE15 S-4745). Die Metropolen hingegen bedienten sich offenbar des Kommunikationsmittels Einblattdruck für ihre Ablässe in weit geringerem ber 2000 in der Johannes a Lasco-Bibliothek zu Emden, Münster 2006 (= Niederdeutsches Wort 46), S. 279–302, hier S. 283–286; zum Ablasswesen in den Niederlanden vgl. jetzt auch CHARLES M. A. CASPERS: Indulgences in the Low Countries, c. 1300–c. 1520, in: Swanson: Promissory Notes (wie Anm. 1), S. 65–99. 43 Zu den letztgenannten Ablässen vgl. ALEXANDER SEIBOLD: Sammelindulgenzen. Ablaßurkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, Köln u.a. 2001 (= Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde, Beiheft 8). 44 Vgl. P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 190– 192. 45 Vgl. HERIBERT HUMMEL: Ein gedruckter Ablaßbrief für das Göppinger Oberhofenstift aus dem Jahre 1477, in: Hohenstaufen Helfenstein. Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen 8 (1998), S. 55–60.

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Maß. Die Gründe hierfür liegen sicher nicht in Zufällen der Überlieferung, sondern in der Bevorzugung anderer medialer Typen und in anderen soziokulturellen Rahmenbedingungen. Beispielsweise wurde im Februar 1492 eine 76 Blatt umfassende Beschreibung der Ablässe und Heiltümer der Stadt Köln bei dem Drucker Johannes Koelhoff d. Ä. publiziert (GW 8), in der die Indulgenzen aufgeführt sind, die an den einzelnen Festtagen des Jahres in jedem Gotteshaus der Stadt zu erlangen waren. Diese Kombination aus Ablasskalender und Wegweiser durch die städtischen Kirchen orientierte sich zweifellos am Vorbild der wietverbreiteten „Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae“.46 Entsprechend der Quantitäten der in Köln zu erwerbenden Gnaden nahm der Druck einen Umfang an, der eine Publikation in Buchform nötig machte. Auch der Aspekt eines städtischen Adressatenkreises, der den Umgang mit gedruckten Büchern in der Volkssprache gewohnt war und bestimmte Ansprüche an solche Neuerscheinungen zu stellen pflegte, dürfte eine Rolle gespielt haben.47 Vergleichbare Sammelpublikationen sind auch für die Ablässe und Privilegien einzelner Kirchen, religiöser Gemeinschaften oder Territorien publiziert worden. Aus den Niederlanden kennen wir etwa die „Aflaten van de broederschap van Onzer Vrouwen gild en van S. Anna te Haarlem“ (Gouda, nicht vor 12. September 1494; GW 449), aus Mittel- und Norddeutschland die „Indulgentiae ecclesiae metropolitanae Magdeburgensis“ (Magdeburg, um 1483/84, GW-Datenbank M19808), die „Indulgentiae contra Mahumetum regi Poloniae concessae“ (Rostock, nach 5. Juli 1486; GW-Datenbank M12254), die „Privilegia et indulgentiae fratrum mendicantium“ (Leipzig, 1498; GW-Datenbank M35456) sowie die jeweils in mehreren Ausgaben erschienenen Privilegien und Ablässe der Franziskaner (z. B. Leipzig 149548). Die Ablass- und Privilegiensammlung der Antoniter erschien in lateinischer Fassung wie auch in nieder- und mitteldeut46 Vgl. NINE ROBIJNTJE M IEDEMA: Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Die ‚Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‘ (deutsch / niederländisch). Edition und Kommentar, Tübingen 2003 (= Frühe Neuzeit 72), bes. S. 398f. 47 Dabei ist zu betonen, dass der Anteil volkssprachiger Texte an der frühen Kölner Druckproduktion geringer ist als andernorts; vgl. URSULA RAUTENBERG: Überlieferung und Druck. Heiligenlegenden aus frühen Kölner Offizinen, Tübingen 1996 (= Frühe Neuzeit 30), S. 10–19. Das Kölner Ablassverzeichnis ist vielleicht nicht so sehr als ein Zeugnis des geistlichen Schrifttums anzusehen, sondern fügt sich – weil auch lokalgeschichtlich relevant – in die „deutlicher in Erscheinung tretende Tradition chronikalischer Literatur“ (ebd., S. 13) der Stadt ein. Interessante Beobachtungen zum Inhalt und zur Kompilationstechnik des unbekannten Bearbeiters bei EHLERS: Die Ablasspraxis des Deutschen Ordens (wie Anm. 5), S. 239–243. 48 GW-Datenbank M35447. Online-Digitalisat der BSB München: http://mdz10.bibbvb.de/~db/0003/bsb00030855/images/index. Zu den älteren Ablaß-Summarien der Franziskaner vgl. ROBERTO P ACIOCCO: I Fratri Minori ed i Summaria indulgentiarum. Cura d’anime e ‚falsificazioni‘ tra Due e Trecento, in: Franciscana 3 (2001), S. 119–189.

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schen Übertragungen (etwa Lübeck, um 1495, GW-Datenbank M3543710; Leipzig, um 1490–1495, GW-Datenbank M3543610). Eine eigenartige und – wie viele andere der hier genannten Drucke auch – noch nicht näher erforschte Sammlung von „indulgentiae, privilegia, gratiae et indulta“ seines Ordens veröffentlichte der Karmeliter Johannes Maria de Poluciis unter dem Titel „Mare magnum“ in Venedig (nicht nach 13. April 1496).49 Auch gedruckte Mirakel- und Heiltumsbücher transportieren häufig Ablasspublizistik einzelner Wallfahrts- und Gnadenorte; als ein noch wenig bekanntes Beispiel sei das erst kürzlich in der Berliner Staatsbibliothek gefundene und als Inkunabel identifizierte Büchlein „Ablaß und Gnade mit den Wunderzeichen der Fronleichnam-Kapelle bei Altenburg“ genannt, das um 1498 in Leipzig gedruckt wurde.50 Von großer Bedeutung für die Kommunikationsgeschwindigkeit und damit für die unmittelbare Wirksamkeit einer Indulgenz ist die Verfügbarkeit einer Druckerei am Ort oder in der näheren Umgebung. Wohl aus diesem Grund wurde im Jahr 1479, auf dem Höhepunkt der Uracher Ablasskampagne, die Offizin Konrad Fyners von Esslingen an den Ort des Geschehens, nach Urach, verlegt.51 Im Zuge einer Ablasskampagne für die berühmte Benediktinerabtei Montserrat musste der Drucker Johannes Luschner Anfang 1499 aus Barcelona „mit seiner ganzen Werkstatt nach dem Kloster hinaufziehen und dort neben vielen Büchern ritualen und erbaulichen Charakters noch 142.950 Ablassbriefe für Lebende und 46.500 für Verstorbene herstellen“.52 Auch dort, wo die Mobilisierung einer ganzen Offizin nicht möglich war, wurden enorme Anstrengungen unternommen, 49 GW-Datenbank M34812. Online-Digitalisat der Universitätsbibliothek Sevilla: http://fondosdigitales.us.es/books/digitalbook_view?oid_page=145106. 50 GW-Datenbank 0000910N. Vgl. HARTMUT KÜHNE: „...das kint mit einen pfunt wacs zum heiligen leycnam yn diß capell gelobt.“ Mitteldeutsche Mirakelbücher als Quellen zur Wallfahrtsgeschichte, in: Daniel Doležal und Hartmut Kühne (Hg.): Wallfahrten in der europäischen Kultur, Frankfurt a. M. u. a. 2006 (= Europäische Wallfahrtsstudien 1), S. 347 –366; zur Verbindung von Heiltums- und Ablasspropaganda vgl. FALK EISERMANN: Die Heiltumsbücher des späten Mittelalters als Medien symbolischer und pragmatischer Kommunikation, in: Rudolf Suntrup, Jan R. Veenstra, Anne Bollmann (Hg.), The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times – Medien der Symbolik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 2005 (= Medieval to Early Modern Culture – Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 5), S. 37–56. 51 Vgl. AMELUNG: Bemerkungen (wie Anm. 23), S. 196. 52 KONRAD HAEBLER: Gedruckte spanische Ablassbriefe der Inkunabelzeit, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 5 (1901 / 1902), S. 1–12 (zit. S. 5), S. 59–71, und ebd. 8 (1904 / 1905), S. 49–58. Zum spanischen Ablaßwesen des Mittelalters vgl. auch JOHN EDWARDS: „España es diferente“? Indulgences and the Spiritual Economy in Late Medieval Spain, in: Swanson: Promissory Notes (wie Anm. 1), S. 146–168, zur Presse in Montserrat besonders S. 153f.

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um mittels gedruckter Kommunikations-medien auf die geplanten Ablässe hinzuweisen. Da hierbei stets offizielle Stellen beteiligt waren, lassen sich die Publikationsumstände und die organisatorischen Maßnahmen, die einer Ablasskampagne vorausgingen, aus der amtlichen Überlieferung mancherorts vorzüglich rekonstruieren. Dies gilt etwa für die Xantener Viktorstracht von 1487 und die Berner Indulgenzen der 1480er Jahre; hier können die an die jeweils nächstliegenden Druckereien in Köln bzw. Basel ergangenen Aufträge ebenso wie Einzelheiten zu Herstellung und Vertrieb aus Rechnungs-büchern, Ratskorrespondenzen und aus den Drucken selbst bis ins Detail nachvollzogen werden.53 Manchmal wurden die Drucker von konkurrierenden Auftraggebern regelrecht drangsaliert, wie sich aus Briefen Johannes Bämlers aus Augsburg ablesen lässt, der im Frühjahr 1480 offenbar in großer Hektik einen riesigen Posten von Ablassbriefen, Summarien und Absolutionsformularen nach Nördlingen zu liefern hatte. Er mahnte seine Nördlinger Auftraggeber, sich mit eventuellen Nachbestellungen zu beeilen, da auch aus München schon zweimal binnen einer Woche wegen eines ähnlichen Auftrags angefragt worden sei; nicht ohne Stolz bemerkt er, er liefere „gut leßlich brieff als sy ye gedruckt seind worden, den gelerten vnd layen verstentlich und gut zelesen“.54 53

Zu Xanten vgl. GUIDO ROTTHOFF: Ein Kölner Einblattdruck von 1487 für Xanten, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 170 (1968), S. 264–267; SEVERIN CORSTEN: Der Ablaß zugunsten der Kathedrale zu Saintes. Seine Verkündigung am Niederrhein im Spiegel der Wiegendrucke, in: ebd. 177 (1975), S. 62–75; D IETER SCHELER: Die Xantener Victorstracht. Wallfahrt, Politik und Kommerz am Niederrhein im 15. Jahrhundert, in: Jürgen Petersohn (Hg.): Überlieferung – Frömmigkeit – Bildung als Leitthemen der Geschichtsforschung. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des 80. Geburtstages von Otto Meyer (Würzburg, 25. Oktober 1986), Wiesbaden 1987, S. 96–113; VOLKER HONEMANN, SABINE GRIESE, FALK E ISERMANN: Zu Wesen und Bedeutung des textierten Einblattdrucks im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Hagen Keller, Christel Meier, Thomas Scharff (Hg.): Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mit-telalter. Erfassen, Bewahren, Verändern, Akten des Internationalen Kolloquiums 8.10. Juni 1995, München 1999 (= Münstersche Mittelalter-Schriften 76), S. 333–348, bes. S. 334f. Zu Bern vgl. ADOLF F LURI: Die Beziehungen Berns zu den Buchdruckern in Basel, Zürich und Genf 1476–1536, Bern 1913; KARL J. LÜTHI: Der erste für Bern ausgeführte Druck von 1476 und sein Drucker, in: Schweizerisches Gutenbergmuseum 16 (1930), S. 151–153; HANS VON GREYERZ: Ablaßpredigten des Johannes Heynlin aus Stein (de Lapide) 28. September bis 8. Oktober 1476 in Bern, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 32 (1934), S. 113–171; DERS., Studien zur Kulturgeschichte der Stadt Bern am Ende des Mittelalters, in: ebd. 35 (1940), S. 177–491, besonders S. 281–312; KATHRIN UTZ-T REMP: Gottesdienst, Ablaßwesen und Predigt am Vinzenzstift in Bern (1484 / 85–1528), in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 80 (1986), S. 31–98. 54 Vgl. HELMUT PRESSER: Briefe des Augsburger Frühdruckers Hans Bämler aus dem Jahr 1480, in: Aus dem Antiquariat, Nr. 2, Februar 1978 (= Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 17), S. A 33-A 39, das Zitat transkribiert nach ebd., Abb. 1.

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Als charakteristisches Merkmal der behandelten Ablasskampagnen und als ein für ihr Gelingen wesentliches Prinzip lässt sich mithin das organisierte Ineinandergreifen unterschiedlicher Textformen bestimmen, ein eng koordinierter Einsatz von Schriftlichkeit auf den vorbereitenden und exekutiven Ebenen. Mit der zunehmenden Ausbreitung der „ars impressoria“ übernahmen Ein- und Mehrblattdrucke wesentliche kommunikative Funktionen in der Propagierung der Ablässe. Kosten- und Organisationsfragen55 dürften wesentlich dazu beigetragen haben, dass gedruckte Texte unterschiedlichster Art nunmehr auch außerhalb der Zentren des Buchdrucks verbreitet und von Bevölkerungskreisen rezipiert wurden, die zuvor nur selten mit Erzeugnissen der neuen Technik konfrontiert worden waren.56 Einige sehr hohe Auflagenzahlen sind bekannt, wobei nachdrücklich darauf hingewiesen sei, dass zwischen etwa 1475 und 1515 nicht mit einem linearen Ansteigen der Auflagenhöhen zu rechnen ist, sondern jeweils differenzierte Einzelbefunde vorliegen, die sich einer pauschalen Deutung weitgehend entziehen.57 In der Person und den Schriften des päpstlichen Legaten Raymund Peraudi findet das spätmittelalterliche Ablasswesen eine Bündelung, ohne die es nicht zu der immensen Popularität gelangt wäre, die später die radikale Kritik der Reformatoren hervorrief. Peraudis Aktivitäten wurden bereits verschiedentlich untersucht, so daß sie hier nicht erneut gewürdigt werden müssen.58 Ich will nur auf einige Details hinweisen, die die Schriftgebun55 Auf diesen Aspekt verkürzt M ICHAEL G IESECKE: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991, S. 230–237, die Bedeutung des Ablasses. Eine angemessene Würdigung der vor allem in Bezug auf historische und inkunabelkundlich-bibliographische Sachverhalte stark defizitären Darlegungen Gieseckes zum frühesten Buchdruck bei SCHANZE: Der Buchdruck eine Medienrevolution? (wie Anm. 12), S. 288–299. 56 Zu einem Beispiel aus dem frühen 16. Jahrhundert vgl. W OLFGANG SEIBRICH: Die Trierer Heiltumsfahrt im Spätmittelalter, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 47 (1995), S. 45–125, bes. S. 101f.: Aus den Quellen zur Trierer Heiltumsfahrt von 1515 sind neben mehreren Klöstern etwa 1.000 Einzelpersonen namentlich bekannt, die einen Ablassbrief erworben haben. Vgl. auch W ILHELM ERNST W INTERHAGER: Die erste Werbekampagne am Anbruch der Neuzeit. Zur Ausprägung frühmoderner Werbemethoden in den großen Ablaßaktionen um 1500 – eine historische Skizze, in: Franz J. Felten (Hg.): Ein gefüllter Willkomm. Festschrift für Knut Schulz zum 65. Geburtstag, Aachen 2002, S. 517–532; DERS.: Ablaßkritik als Indikator historischen Wandels vor 1517. Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 90 (1999), S. 6 –71. 57 Vgl. FALK E ISERMANN: Auflagenhöhen von Einblattdrucken im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Honemann, Griese, Eisermann, Ostermann (Hg.): Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (wie Anm. 39), S. 143–177, bes. S. 147–157. 58 Grundlegend weiterhin NIKOLAUS P AULUS: Raimund Peraudi als Ablaßkommissar, in: Historisches Jahrbuch 21 (1900), S. 645–682, sowie BERND MOELLER: Die letzten

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denheit seines Wirkens zeigen und Hinweise auf den Stellenwert geben, der den Einblattdrucken in seiner Verkündigungs-strategie zukam. Ein scheinbar nebensächlicher, gleichwohl sehr charakteristischer Aspekt von Peraudis umfangreicher Ablassbrief-Produktion59 zeigt sich zunächst bei dem verwendeten Material: Der größte Teil der bekannten Exemplare nämlich ist auf Pergament gedruckt, ein Phänomen, das zuvor, abgesehen von den frühen Formularen VE15 C-14 und C-15, in dieser Dichte nicht zu beobachten war. Die Verwendung des dauerhaften, aber kostspieligen Beschreibstoffs liegt mit einiger Sicherheit in einer theologischen Aufwertung des Ablassbriefs begründet, und zwar in der seit etwa 1477 von Peraudi entwickelten Lehre von den vier Hauptgnaden, die er in einer Ablaßkampagnen. Der Widerspruch Luthers gegen den Ablaß in seinem geschichtlichen Zusammenhang, in: Hartmut Boockmann, Bernd Moeller, Karl Stackmann (Hg.): Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Naturkunde – Theologie. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1983–1987, Göttingen 1989 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. F. 179), S. 539–567. Aus der älteren Literatur vgl. vor allem J OHANNES SCHNEIDER: Die kirchliche und politische Wirksamkeit des Legaten Raimund Peraudi (1486–1505), Halle a. S. 1882; GEBHARD MEHRING: Kardinal Raimund Peraudi als Ablaßkommissar in Deutschland 1500–1504 und sein Verhältnis zu Maximilian I., in: Forschungen und Versuche zur Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Festschrift Dietrich Schäfer zum 70. Geburtstag dargebracht von seinen Schülern, Jena 1915, S. 334–409. Eine moderne Monographie zu Peraudi ist ein echtes Desiderat. Aus den beiden vergangenen Jahrzehnten liegen zahlreiche Einzelstudien vor: URSULA RAUTENBERG: Der päpstliche Gesandte und Ablaßkommissar Raymundus Peraudi als Auftraggeber des Druckers Hermann Bungart – ein bisher unbeleuchtetes Kapitel Kölner Legendendrucke der Frühdruckzeit, in: Gert Rickheit und Sigurd Wichter (Hg.): Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse, Tübingen 1990, S. 185–199; ANDREAS RÖPCKE: Geld und Gewissen. Raimund Peraudi und die Ablaßverkündung in Norddeutschland am Ausgang des Mittelalters, in: Bremisches Jahrbuch 71 (1992), S. 43–80; T HOMAS VOGTHERR : Kardinal Raimund Peraudi als Ablaßprediger in Braunschweig (1488 und 1503), in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 77 (1996), S. 151–180; GABRIELA S IGNORI: Ein Ablaßprediger, ein Dorf und seine Legenden. Raimundus Peraudi und die Bauern des Dinkelbergs, in: Dieter R. Bauer und Klaus Herbers (Hg.): Hagiographie im Kontext. Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung, Stuttgart 2000 (= Beiträge zur Hagiographie 1), S. 155–200; ANDREA B OOCKMANN: Das zerstörte Gemälde der Gregorsmesse von Bernt Notke in der Marienkirche und der Aufenthalt des Kardinals Raimundus Peraudi in Lübeck 1503, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 81 (2001), S. 105–122; STAUBACH: Romfahrt oder Selbsterfahrung? (wie Anm. 5); GUNDA GAUS und ANJA RUTTER: Die Faszination des Ablasses: Kommissar Raimundus Peraudi in Westfalen, in: Gabriela Signori (Hg.): Heiliges Westfalen. Heilige, Reliquien, Wallfahrt und Wunder im Mittelalter, Bielefeld 2004 (= Religion in der Geschichte 11), S. 195–210; HOUSLEY: Indulgences for Crusading (wie Anm. 17), S. 286–299. 59 VE15 P-62 bis P-200 (inklusive einiger zweifelhafter bzw. wohl erst nach 1500 zu datierender Ausgaben). Abdruck des Standardformulars nach einer Ablassbrief-Ausgabe von 1488 bei HOUSLEY: Indulgences for Crusading (wie Anm. 17), S. 306f.

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Schrift mit dem Titel „Summaria declaratio bullae indulgentiarum plenissimarum iubilaei et cruciatae“ – zumeist abgekürzt bezeichnet als „Summaria declaratio“ – erläuterte. Diese in Einblattdrucken (VE15 P-57 bis P-61) und diversen kleinen Libellausgaben weit verbreitete „Decla+ratio“ bildete „die Grundlage der verschiedenen Ablaßinstruktionen des späten Mittelalters“.60 Zu den Hauptgnaden zählt neben dem Jubiläumsablass für die Lebenden, dem Ablass für die Verstorbenen und der Teilnahme an den geistlichen Gütern der Kirche auch der Ablass- oder Beichtbrief, das Confessionale.61 Peraudis Briefe enthalten immer eine „Forma absolutionis totiens quotiens“, also das Angebot einer unbegrenzten Anzahl von Beicht- und Absolutionsmöglichkeiten, im Gegensatz zu früheren Ablässen, die meist nur eine einzige Absolution im Leben und eine im Angesicht des Todes vorsahen. Diese auratisierende Erhebung des Ablassbriefs in den Rang einer Hauptgnade bedeutet, dass die Dokumente nunmehr von der einfachen Beichtquittung zu einer umfassenden geistlichen Lebens- und Jenseitsversicherung wurden. Aufgrund ihrer gesteigerten normativen Geltung und ihres langdauernden Hineinreichens in die Lebenswirklichkeit der Adressaten hatten sie mithin gewissen materiellen Haltbarkeitsansprüchen zu genügen. Dass dem Confessionale in der populären Wahrnehmung geradezu magische Qualitäten zugeordnet wurden, zeigt bereits eine Beschwerde Papst Pius’ II. aus dem Jahr 1462 über den in Kastilien gepflegten Brauch, den Verstorbenen Ablassbriefe in die Gräber mitzugeben: „literas indulgentiarum (...) in sepulturis defunctorum ponendo et similia que superstitionis sapient“.62 In Peraudis publizistischen Aktivitäten zeigt sich freilich nicht nur der Wunsch nach einer Steigerung der allgemeinen Heilsgewissheit, sondern ebenso der erhöhte Finanzbedarf der römischen Kurie. Eine in vielen Auflagen verbreitete, als „Articuli abbreviati“ bezeichnete Instruktion zur Kreuzzugsbulle „Domini et salvatoris nostri“ vom 11. Dezember 1488 unterrichtet darüber, welche Vorzüge mit dem Erwerb der Briefe verbunden sind.63 Die zunächst beträchtlich erscheinende Taxe von einem Gulden pro ausgegebenem Exemplar, so heißt es, dürfe niemanden verwundern: In Rom selbst müsse ein Ehepaar den doppelten Preis dafür entrichten. Ohnehin überträfen die hiesigen Briefe die römischen wie überhaupt die bisher 60

P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittealter (wie Anm. 58), S. 652. Vgl. P AULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 213; DERS.: Raimund Peraudi als Ablaßkommissar (wie Anm. 58), S. 652ff., zum Beichtbrief besonders S. 654f. 62 HOUSLEY: Indulgences for Crusading (wie Anm. 17), S. 283. 63 VE15 I-40 bis I-61, dazu die schwedische Ausgabe GW 2700 (Einbl. 375). Der Text der „Articuli“ liegt in vier Fassungen vor. Zum historischen Hintergrund vgl. PAULUS: Geschichte des Ablasses im Mittelalter (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 205 und S. 214f. 61

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üblichen Formulare in jeder Hinsicht: „der glichen zü Rome nit gegeben werden noch vorhyn yn menschen gedechtnyß so groß nye gegeben synt“.64 Beim römischen Ablass sei überdies ein ganzes Jahr lang jeden Freitag zu fasten, was bei Erwerb des angepriesenen Briefs nicht vonnöten sei. Diese Form der vergleichenden Werbung verfehlte ihr Ziel nicht. Auf dem Höhepunkt von Peraudis deutscher Kampagne in den Jahren 1488 bis 1490 verzeichnen wir jährlich über dreißig unterschiedliche AblassbriefAusgaben, die in Druckereien von Antwerpen bis Passau und von Lübeck bis Memmingen hergestellt wurden. Die Intensität der Verteilung läßt sich anhand nachweisbarer Absatzzahlen von bis zu 20.000 Stück unschwer nachvollziehen, und manche zeitgenössische Angabe zur Anzahl ausgegebener Exemplare liegt noch viel höher.65 Peraudi sicherte diesen einzigartigen Erfolg durch eine Reihe von lehrhaften und erläuternden Schriften, die meist als Einzelblatt oder kleines Heft gedruckt wurden. Neben der bereits erwähnten Unterrichtung über die Zusammenlegung der Jubiläumsund Kreuzzugsablässe in der „Summaria declaratio“ lag ihm besonders die Erklärung des stets umstrittenen Ablasses für die Verstorbenen am Herzen.66 Zu diesem Zweck ließ er neben einer Instruktion zur Unterstützung der Seelen im Fegefeuer („Instructio suffragandi animabus in purgatorio“) in Latein und in der Volkssprache (VE15 P-36 bis P-42) eine wietere Schrift mit dem Titel „De indulgentia data pro animabus in purgatorio“ publizieren, die sich nicht vorrangig an die Gläubigen richtete, sondern „an die theologische Fachwelt und den Klerus der Gebiete, in denen der Ablass gepredigt werden sollte. Dementsprechend folgt sie dem theologischen Argumentationsmodell der Zeit: Sie enthält nur Zitate aus den Dialogen Gregors des Großen und dem ‚Compendium theologicae veritatis‘ Hugos von Straßburg“67, also Textstellen, die die Rechtmäßigkeit 64

Zitiert nach VE15 I-56, einer deutschen Ausgabe der Fassung c der „Articuli abbreviati“, gedruckt von Schöffer in Mainz (benutztes Exemplar: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur Inc 1543,4), hier Z. 41f. 65 Vgl. EISERMANN: Auflagenhöhen von Einblattdrucken im 15. und frühen 16. Jahrhundert, (wie Anm. 57), S. 153f. In Vorau sollen 1490 über 50.000 Formulare binnen weniger Monate verteilt worden sein, vgl. MOELLER: Die letzten Ablaßkampagnen (wie Anm. 58), S. 555. 66 Vgl. NIKOLAUS P AULUS: Der Ablaß für die Verstorbenen im Mittelalter, in: Zeitschrift für katholische Theologie 24 (1900), S. 1–36. 67 W OLFGANG SCHMITZ: Die Kölner Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts, Köln 1979 (= Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 35), S. 12. Kompilator war der Franziskaner Johannes de Fabrica. Es ist unklar, ob es sich bei der erhaltenen Ausgabe VE15 P-35 um einen echten Einblattdruck handelt (vgl. Anm. in VE15). Alle weiteren Ausgaben von „De indulgentia“ umfassen mehrere Blätter. Der Erstdruck erschien wohl 1477 in Toulouse oder Lyon (GW-Datenbank M13532). Online-Digitalisat der Herzog

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des Ablasses für die Verstorbenen belegen sollten. Seine organisatorischen Bemühungen unterfütterte Peraudi mit weiteren gedruckten Ausschreiben, die sich an seine Subkommissare sowie an die Prediger und Beichtväter richteten, die vor Ort die Legitimation des Ablasses zu begründen hatten (z. B. VE15 P-11 bis P-21). Einzelne Aspekte der Viergnadenlehre, vor allem die Bedingungen von Geldspende, Gottesdienstbesuch und Beichte erläuterte schließlich ein nur lateinisch publizierter „Modus promerendi indulgentias sacrae cruciatae“ (VE15 P-43 bis P-56). Zwei Details aus Peraudis letzten Lebens- und Schaffensjahren zeigen nochmals mit aller Deutlichkeit, welche Anstrengungen er unternahm, um den Erfolg seiner Ablassverkündigungen in Stadt und Land sicherzustellen. Am 8. November 1502 verfügte der mittlerweile zum „legatus a latere“ erhobene Kardinal von Erfurt aus, dass der Ablass in der bevorstehenden Adventszeit nicht mehr nur in den Städten, sondern auch in kleineren Ortschaften, die nur etwa 500 Gläubige zählten, gepredigt werden solle.68 Und einem Lübecker Bericht aus dem Jahr 1503 zufolge führte er einen Dolmetscher mit sich, dessen Übersetzung von Peraudis lateinischer Predigt durch andere Geistliche an verschiedenen Stellen der Stadt wiederholt wurde; nicht nur das unmittelbar anwesende Publikum sollte ihn hören können, in der ganzen Stadt zugleich wollte er vernommen werden.69 Spätestens jetzt – oder soll man sagen: schon jetzt? – war der Ablass zu einem ubiquitären Ereignis geworden und auch zu einem Medienereignis außergewöhnlichen Zuschnitts. Peraudi meinte selbst: Hunderttausende von Sündern habe er allein in Deutschland auf den Weg des Heils zurückgebracht, „centena et centena milia animarum in Germania reducte sunt ad viam salutis“.70 Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung, zumal in den Städten, in den Jahrzehnten zwischen 1475 und 1515 mit dieser Form der Frömmigkeitspropaganda konfrontiert wurde, die meisten wenigstens einmal, manche mehrfach. So wissen wir etwa, dass ein gewisser Petrus Crabbe und seine Ehefrau Elisabeth sowohl im Juli 1478 als auch im April 1487 einen Ablassbrief in Mechelen erworben haben;71 und im Bamberger Klarissenkloster versicherte sich die Markgräfin

August Bibliothek Wolfenbüttel (Kölner Ausgabe, um 1490): http://diglib.hab.de/ wdb. php?dir=inkunabeln/511-2-theol-2f-2. 68 Vgl. P AULUS: Raimund Peraudi als Ablaßkommissar (wie Anm. 58), S. 676. 69 Vgl. SCHNEIDER: Die kirchliche und politische Wirksamkeit (wie Anm. 58), S. 82, nach CARL FERDINAND ALLEN: De tre nordiske Rigers Historie under Hans, Christiern den Anden, Frederik den Förste, Gustav Wasa, Grevefeiden 1497–1536, Bd. 1, Kopenhagen 1864, S. 321f. 70 P AULUS: Raimund Peraudi als Ablaßkommissar (wie Anm. 58), S. 677 mit Anm. 1. 71 VE15 L-80 und P-69; vgl. FREDERICQ: Codex documentorum (wie Anm. 6), S. 276 Nr. 197 und S. 313 Nr. 233.

Der Ablass als Medienereignis

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Dorothea von Brandenburg durch Erwerb zweier Formulare innerhalb kurzer Zeit im Juni und Oktober 1489 ihres Heils in besonderer Weise.72 Peraudis publizistische Aktivitäten, aber auch die entsprechenden Bemühungen anderer Ablassprediger und -kommissare, die vor, neben und nach ihm tätig waren, brachten einen grundlegenden Wandel im praktischen Gebrauch und in der alltäglichen Verfügbarkeit von Schriftmedien mit sich, eine substantielle Entgrenzung traditioneller Kommunikationsformen, die ohne den Einsatz des Buchdrucks nicht denkbar gewesen wäre. Somit treten in der Überlieferung der ephemeren Drucke der spätmittelalterlichen Ablasskampagnen die zukunftsweisenden Potenzen des neuen Mediums – schnelle Verfügbarkeit, formale Variabilität, simultane Omnipräsenz standardisierter Inhalte – wohl zum ersten mal scharf hervor, und die Frömmigkeitspropaganda erschuf sich auf diese Weise die ihr gemäßen Kommunikationsstrukturen. Wenn es also wenig später darum ging, neue theologische Ideen möglichst schnell und möglichst weit zu verbreiten: Was lag näher, als auf diese Strukturen zurückzugreifen?

72 VE15 P-141, Abb.: ebd., Tafelteil, Abb. 65. Zu Dorothea (1471–1520) vgl. FRANZ MACHILEK: Dorothea Markgräfin von Brandenburg, in: Fränkische Lebensbilder 12 (1986), S. 72–90, besonders S. 77f. Für die Niederlande gilt ähnliches: „[T]he earning of indulgences was a daily occurrence, which happened almost without notice“ (CASPERS: Indulgences in the Low Countries, S. 97).

Vervielfältigung, Heilsvermittlung und „Wahrheit“ Die Anfänge der gedruckten Gnadenbildreproduktion PETER SCHMIDT

Das Zeitalter der mechanischen Vervielfältigung beginnt in Europa nicht mit gedruckten Texten, sondern mit Bildern: Mittels druckgraphischer Verfahren wurden sie in großer Stückzahl reproduziert, lange bevor Gutenberg den Durchbruch beim Druck mit beweglichen Lettern erzielte. Auch wenn sich die zeitliche Ansetzung der „Anfänge“ in der jüngeren Forschungsdiskussion vom späten 14. Jahrhundert zum Beginn des 15. Jahrhunderts hin verschoben hat,1 besteht an der Priorität des gedruckten Bildes vor dem Buchdruck kein Zweifel. Die Mediengeschichte aber tut sich schwer mit der Einordnung dieses Phänomens. In den einschlägigen Handbüchern, die seit den 1980er Jahren in ungebrochen dichter Folge erscheinen, ist das frühe gedruckte Bild in der Regel nur als Fußnote präsent. Eine „printing revolution“, um es mit dem Wortlaut eines bezeichnenden Buchtitels zu sagen,2 war und ist offenbar nur im Sinn einer Informationsübermittlung vorstellbar, die allein als Verbreitung von Texten gedacht werden konnte und kann. Es gäbe gute Gründe dafür, dies aus bildwissenschaftlicher Sicht als eine typische Erscheinung der aus Texten geborenen Disziplinen zu kommentieren, für die Horst Bredekamp den Begriff „Anikonismus“ geprägt

1 Zum aktuellen Forschungsstand über den Beginn des Holzschnitts, dessen herkömmliche Datierung ins späte 14. Jahrhunderts ins Wanken geraten ist, siehe RICHARD S. FIELD: Der frühe Holzschnitt: Was man weiß und was man nicht weiß, in: Peter Parshall u. a. (Hg.): Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Katalog der Ausstellung Washington, National Gallery of Art, und Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum 2005, Washington 2005, S. 18–35, dort S. 20 zum Zweifel an der Existenz figürlicher Holzschnitte vor 1420, im gleichen Sinne P ETER SCHMIDT: Das vielfältige Bild: Die Anfänge des Mediums Druckgraphik, zwischen alten Thesen und neuen Zugängen, in: Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie oben), S. 36–56, dort S. 39. 2 Dieser Begriff entlehnt vom Titel des Buches von E LIZABETH L. E ISENSTEIN: The Printing Revolution in Early Modern Europe, Cambridge 1983.

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hat.3 Damit ist sie aber wohl noch nicht ausreichend erklärt. Der Bildausfall in der Geschichtsschreibung der frühen Vervielfältigungsmedien scheint auch mit einer tieferliegenden Unsicherheit bezüglich der medialen Positionsbestimmung der frühen Holz- und Metallschnitte und Kupferstiche zu tun zu haben. Liest man etwa Werner Faulstichs Mediengeschichte des Mittelalters – um ein typisches Beispiel für diese Gattung von Handbüchern zu nennen –, stellt man fest, dass der Holzschnitt durchaus als Mittel der Bildvervielfältigung, das der „Erfindung“ der Textvervielfältigung vorausging, genannt wird;4 doch bleibt es bei einer bloßen Erwähnung ohne Konsequenzen. Ernstgenommen wird der Holzschnitt erwartungsgemäß erst beim Thema der reformatorischen Publizistik – dort also, wo sich seine Funktionen glatt in ein modernes Verständnis der Printmedien einzufügen scheinen –, die Vorgeschichte aber bleibt im Dunklen. Das frühe gedruckte Bild wird forschungsgeschichtlich also in einem Paralleluniversum zur „Gutenberg galaxy“ verhandelt.5 Der Klagetopos vom vernachlässigten Material ist hier nicht angebracht: Schon im 18. Jahrhundert, als die Erforschung der frühen Druckgraphik einsetzte, herrschte Einigkeit darüber, dass es sich um eine Innovation von welthistorischer Dimension handelte.6 Die Holz- und Metallschnitte des 15. Jahrhunderts und ihre technischen Derivate waren deshalb das erste Bildmedium des Mittelalters und der frühen Neuzeit, das ab 1891 in einem auf Vollständigkeit zielenden Corpus erfasst werden sollte,7 die Katalogisierung der Kupferstiche sowie eine Fülle von Studien folgte sehr bald.8 Für die mediengeschichtlichen Synthesen der letzten Jahrzehnte aber schienen diese Corpora nicht das Erhoffte geliefert zu haben – zu erkennen 3

HORST BREDEKAMP: Das Bild als Leitbild. Gedanken zur Überwindung des Anikonismus, in: Ute Hoffmann (Hg.): LogIcons. Bilder zwischen Theorie und Anschauung, Berlin 1997, S. 225–245. 4 WERNER FAULSTICH: Medien und Öffentlichkeit im Mittelalter 800–1400, Göttingen 1996, S. 13; wenngleich mit der etwas kuriosen und durch nichts belegbaren Jahreszahl seiner Einführung „um 1398“. 5 Gemäß dem folgenreichen Titel von MARSHALL MCLUHAN: The Gutenberg Galaxy, Toronto 1962. 6 Zu den Druckgraphik-Studien des 18. Jahrhunderts vgl. H ANS KÖRNER: Der früheste deutsche Einblattholzschnitt, Mittenwald 1979 (= Studia iconologica 3), S. 12–16; P ETER P ARSHALL und RAINER SCHOCH: Der frühe Holzschnitt und die Rezeption des Primitiven, in: Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 1), S. 3–6. 7 W.[ILHELM] L.[UDWIG] SCHREIBER: Manuel de l8amateur de la gravure sur bois et sur métal au XVe siècle, 8 Bde., Berlin / Leipzig 1891–1911; erweiterte Auflage in deutscher Sprache: DERS.:Handbuch der Holz- und Metallschnitte des XV. Jahrhunderts, 8 Bde., Leipzig 1926–1930. 8 MAX LEHRS: Geschichte und kritischer Katalog des deutschen, niederländischen und französischen Kupferstichs im XV. Jahrhundert, 9 Bde. u. 9 Tafelbde., Wien 1908–1934.

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schon daran, daß sie in der Regel in deren Literaturverzeichnissen fehlen. Denn die Antwort auf die Frage nach dem Urknall geben sie nicht preis. Die war schon in den ersten Forschungen des 18. Jahrhunderts gestellt worden. Neben dem „Wann“ war das „Warum“ die zentrale Frage. Einem griffigen Erklärungsmodell entzog sich das Phänomen dabei jedoch immer wieder.9 Die verschiedenen Deutungsansätze und das komplexe Problem ihrer historischen Verifizierbarkeit können hier nicht Thema sein. Festzuhalten ist an dieser Stelle zunächst nur Folgendes: Die Medialität der frühen Druckgraphik ist paradoxerweise ein Problem. Gleichzeitig ist sie der entscheidende Aspekt für ihr Verständnis. Denn es besteht kein Zweifel daran, dass die neue Praxis, gleichartige Bilder in größerer Stückzahl auf mechanischem Wege mit relativ geringem Aufwand herzustellen, den Gebrauch und der Wahrnehmung von Bildern verändert haben muss. Von den vielen erstaunlicherweise noch offenen Fragen im Zusammenhang mit dem medialen Status der gedruckten Bilder des 15. Jahrhunderts kann und soll im vorliegenden Rahmen nur eine angesprochen werden – eine jedoch, die bei der Auseinandersetzung mit einem Vervielfältigungsmedium schon der sensus literalis dieses Wortes nahelegt: Was wird in diesem Medium überhaupt vervielfältigt? Zugegebenermaßen enthält schon die Frage ein begriffliches Problem. Denn sowohl mit dem Begriff der Vervielfältigung wie auch dem der Reproduktion lassen sich mindestens zwei verschiedene Dinge verbinden, die auch in Hinblick auf die Medialität relevant sind: Zum einen ein rein quantitativer Aspekt, nämlich die Herstellung einer Vielzahl von gleichartigen Produkten. Das trifft sowohl die Etymologie von „Vervielfältigung“ im Wortbestandteil „viel“, als auch beim Begriff „Reproduktion“ den biologischen Aspekt der Vermehrung. Zum anderen aber meint Reproduktion die getreue Wiedergabe eines Urbildes, im Sinne von „Nachbildung“. Spricht man vom Drucken als technischem Vorgang, können beide Aspekte zusammenfallen, müssen aber nicht. Wer etwas druckt, möchte eine größere Zahl von gleichartigen Exemplaren herstellen. Er will vervielfältigen im quantitativen Sinn, ob nun das in einen Holzblock geschnittene Bildmotiv oder einen mit Bleilettern gesetzten Text. Was aber will er reproduzieren, im Sinne von kopierend verbreiten? Dass er dies im 15. Jahrhundert in der Regel wollte, scheint in der kunst historischen Literatur immer ausgemacht gewesen zu sein. Hier kommt der Begriff der „Reproduktionsgraphik“ ins Spiel. Er wurde für die Druckgraphik der frühen Neuzeit geprägt, zu deren wichtigsten Funktionen die Wie9 Ein Überblick über die in der gängigen Modelle bei SCHMIDT: Das vielfältige Bild, in: Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 1), S. 37–43.

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dergabe bekannter Kompositionen, vor allem von Werken der Malerei, gehörte. Seit dem 16. Jahrhundert stärkte diese Aufgabe immer mehr die Marktposition dieses Bildmediums, im 17. und 18. Jahrhundert erreicht das Phänomen einen Höhepunkt.10 An seinem Beginn stehen Stiche wie das 1538 datierte und von Antonio Salamanca verlegte Kupfer, das Raffaels Transfiguration wiedergibt, ein schon zu Lebzeiten des Malers weithin bewundertes Gemälde. Neu daran ist eine Bildunterschrift, wie sie in der folgenden Zeit zum Standard für Reproduktionsstiche werden sollte: Erstmals wird dort der Name des Künstlers und der Ort des Werkes präzise bezeichnet; damit wird das „Original“ ganz bewußt aufgerufen, die Kopie gibt sich als solche zu erkennen und definiert sich durch ihre explizite Referentialität.11 Damit wird eine neue Qualität sicht-bar, die in Italien zwar seit dem späten 15. Jahrhundert vorbereitet wurde, in der klaren Selbstdefinition des gedruckten Bildes als getreue Wiedergabe eines berühmten Werkes in einem anderem Medium aber erst den Charakter der Reproduktionsgraphik gewinnt, der bis zum 19. Jahrhundert die Gattung bestimmen sollte. Als künstlerische Leistung zwar meist nicht hoch geschätzt, war die Gattung der Reproduktionsgraphik doch von eminenter Bedeutung für die Verbreitung von Bildwissen. Es schien nur allzu selbstverständlich, dem Bilddruck diese Funktion schon in seinen Anfängen im 15. Jahrhundert zuzuschreiben. Zu schließen war damit eine Wissenslücke auf dem Gebiet der Frühzeit der Druckgraphik, die so arm an Quellen und an konkreten Belegen für die Funktion der Bilder ist. Fritz Koreny legte schon mit dem Titel seiner Dissertation „Über die Anfänge der Reproduktionsgraphik nördlich der Alpen“12 nahe, dass der Kupferstich seit seinen Anfängen in den 1430er Jahren im Wesentlichen fremde Kompositionen wiedergegeben hätte. Nun kann der Begriff „Reproduktionsgraphik“ heute nicht mehr unschuldig nach seinem Wortsinn verwendet werden; er ist in seinem kunsthistorischen Gebrauch fest mit dem erwähnten neuzeitlichen Phänomen verbunden. Tatsächlich zeigen die von Koreny behandelten Beispiele, dass einige Kupferstiche seit der Mitte des 15. Jahrhunderts sich an die Kompositionen von Gemälden anlehnen oder einzelne Motive aus ihnen übernehmen. Gleichzeitig aber verdeutlichen sie einen ganz wesentlichen Unterschied zur „Reproduktionsgraphik“ im neuzeitlichen Verständnis: Die Sti10 Vgl. NORBERTO GRAMACCINI und HANS J AKOB MEIER: Die Kunst der Interpretation. Französische Reproduktionsgraphik 1648–1792, München 2003, S. 11–30, für einen Überblick über die frühneuzeitliche Geschichte der Reproduktionsgraphik. 11 Zu diesem Stich und den Anfängen der Reproduktionsgraphik in Italien vgl. die Synthese von P ETER P ARSHALL und D AVID LANDAU: The Renaissance Print 1470–1550, London / New Haven 1994, S. 162–168; dort auch weitere Literatur zu diesem Komplex. 12 Diss. Universität Wien 1968.

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che bedienen sich der Gemälde, um visuelles Rohmaterial zu gewinnen, aber sie geben sie in keinem einzigen Fall unter direktem Verweis auf das Vorbild (etwa in Bildbeischriften) wieder, sie bedienen sich nicht ihrer Berühmtheit. Absent ist der Aspekt der expliziten Referentialität, der für die Reproduktionsgraphik im neuzeitlichen Sinn konstitutiv ist. Das Verhältnis zwischen Vorbild und Nachbild bewegt sich im Bereich dessen, was aus der spätmittelalterlichen Werkstattpraxis der Vorlagenbeschaffung bekannt ist. Es geht allenfalls gelegentlich um die Teilhabe an erfolgreichen Kompositionen, um das Trittbrettfahren auf dem Erfolg bewährter Bilder, mit deren Kopien man nichts falsch machen kann. Es geht jedoch nicht darum, in der Nachbildung bewusst einen immateriellen Wert zu transportieren, der einem präzise bezeichneten autoritativen Urbild anhaftet. Genau dies aber postuliert eine der Standardthesen über den Ursprung des Bilddrucks. Ihr gemäß sei die Reproduktion von verehrten Gnadenbildern eine der zentralen Aufgaben der ältesten Bilddrucke gewesen, wenn nicht gar eines der Motive für die Entstehung des Bildmediums. Den weiten Bogen von der neuzeitlichen Reproduktion bekannter Kunstwerke zurück zur Vervielfältigung berühmter Kultbilder in den ersten Jahren des Bilddrucks schlagen noch Gramaccini und Meier in der Einleitung ihres 2003 erschienenen Bandes über die Reproduktionsgraphik des 17. und 18. Jahrhunderts.13 Der Gedanke ist nicht neu: Schon seit dem 19. Jahrhundert gehört es zu den Topoi der Literatur zum frühen Holzschnitt, die Wallfahrtsgraphik – und damit eine reproduktive Aufgabe – zu den bestimmenden Funktionen schon in den ersten Jahrzehnten des Mediums zu erklären.14 Die Handbücher zur frühen Druckgraphik, die die Meinungen bis heute prägen, zementierten das. Mit Paul Kristeller formulierte es einer der bedeutenden Graphikforscher am Beginn des 20. Jahrhunderts so: Die „frühen Erzeugnisse des Holzschnittes [...] wurden hauptsächlich zur Erinnerung an Wallfahrten verteilt“.15 Ähnlich schrieb es dreißig Jahre später Arthur M. Hind in seinem noch heute wichtigen Standardwerk zum frühen Holzschnitt,16 und spätestens dann hatte es sich zur nicht mehr hinterfrag13

GRAMACCINI und MEIER: Kunst der Interpretation (wie Anm. 10), S. 11–30. Von den Belegen aus der Frühzeit der Graphikforschung sei hier nur stellvertretend angeführt N IKLAS K INDLINGER, Nachricht von einigen noch unbekannten Holzschnitten, Kupferstichen, Steinabdrücken aus dem fünfzehnten Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1819, S. 7. 15 P AUL KRISTELLER: Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten, Berlin 1905, S. 22. 16 ARTHUR M. HIND: An Introduction to a History of Woodcut, Bd. 1, London / New York 1935, S. 93, nimmt schon für einige der ältesten Holzschnitte an, „that these […] preserved pictures venerated by the pilgrims at the shrines they visited“. 14

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ten Übereinkunft der Kunstgeschichte verfestigt.17 Auf dieser Basis formulierten Gramaccini und Meier noch 2003, dass „das primäre Ziel dieses Kunstzweigs in der Vervielfältigung von Spielkarten und verehrten Gnadenbildern lag“.18 Die Spielkarten-Theorie, die heute als unbewiesener und unbeweisbarer Forschungsmythos gelten muss, sei nicht weiter kommentiert.19 Für unser Thema ist nur die alte These von der Gnadenbildvervielfältigung von Belang und der Zusammenhang, in dem sie hier wiederholt wird: Mit ihr begründen die Autoren ihre Grundannahme, Druckgraphik wäre von Anbeginn an Reproduktionsgraphik avant la lettre gewesen, weil sie die Hauptaufgabe gehabt hätte, Kultbilder zu vervielfältigen, bevor sie dasselbe mit bekannten Gemälden berühmter Künstler tun konnte. Von der Ferne erinnert diese These an die Beltingsche Spiegelsymmetrie von Kultbild und Kunstbild.20 Bevor ein Meister der Kunst wie Raffael durch die Druckgraphik wiederzugeben war, müssen es die Hauptwerke des Kults gewesen – die Wallfahrtsbilder eben. Worauf aber stützt sich die so hartnäckig repetierte Behauptung, die Vervielfältigung von Gnadenbildern wäre auch chronologisch die primäre Aufgabe der Druckgraphik gewesen? Es ist unbestritten, dass das Wallfahrtswesen im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Marktsegmente für die Druckgraphik wurde. Holzschnitte und Kupferstiche geben von da an verehrte Gnadenbilder wieder und verstehen sich als „wahre Abbildung“, wie es die Texte auf vielen dieser Blätter ausdrücken (Abb. 1).21 Die Frage aber, zu welchem Zeitpunkt sich dieser Anspruch auf „Wahrheit“ – der in diesem Zusam-

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Aus jüngerer Zeit sei exemplarisch nur genannt: Ausstellungskatalog: Kunst um 1400 am Mittelrhein. Ein Teil der Wirklichkeit, Liebieghaus, Frankfurt am Main 1976, wo S. 86f. die Reproduktion von Gnadenbildern als für die Entstehung der Druckgraphik entscheidende Aufgabe angeführt wird. 18 GRAMACCINI und MEIER: Kunst der Interpretation (wie Anm. 10), S. 12. 19 Die Diskussion darüber referiert SCHMIDT: Das vielfältige Bild, in: Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 1), S. 39f. 20 HANS B ELTING: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. 21 Als repräsentatives Beispiel hier abgebildet: Die 1668 von Moritz Lang gestochene „Wahre Abbildung“ des Gnadenbildes vom Mariahilfberg bei Gutenstein, einer auf Blech gemalten Madonna, die in den 1660er Jahren Wunder zu wirken begann und 1668 zur Errichtung einer Kirche führte. Vgl. dazu u.a. GUSTAV GUGITZ: Österreichs Gnadenstätten in Kult und Brauch. Ein topographisches Handbuch zur religiösen Volkskunde in fünf Bänden, Bd. 2, Wien 1955, S. 102–105; HANS AURENHAMMER: Die Mariengnadenbilder Wiens und Niederösterreichs in der Barockzeit. Der Wandel ihrer Ikonographie und ihrer Verehrung, Wien 1956, Nr. 198, S. 166.

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menhang nicht philosophisch zu verstehen ist,22 sondern zunächst nur in der Bedeutung einer getreuen oder verlässlichen Nachbildung, einer Garantieerklärung für die Authentizität des Dargestellten – tatsächlich zum ersten Mal nachweisen lässt und welche Schlüsse aus einer solchen Chronologie zu ziehen sind, wurde bezeichnenderweise immer ausgespart. Verständlich wird das bei der Überprüfung der Materialcorpora zur Graphik des 15. Jahrhunderts. Denn das Ergebnis ist niederschmetternd: Die Behauptung von der Kultbildkopie als zentraler Aufgabe des Bilddrucks seit seinen Anfängen erweist sich bei genauerer Betrachtung weniger als ein Korrelat zu Hans Beltings Kult-und-Kunst-Konstruktion, sondern zunächst einfach als eine nicht überprüfte Übertragung neuzeitlicher Praxis auf das frühere 15. Jahrhundert, um eine Leerstelle im Wissen um Bildfunktionen zu füllen. Verfolgt man die Argumentationen der bisherigen Forschungsliteratur zum Ursprung der Reproduktionsgraphik aus dem Wallfahrtswesen, stellt man fest, dass niemals Material aus den ersten zwei Dritteln des 15. Jahrhunderts zum Beweis angeführt worden ist. Und wenn doch, dann waren es Heiligen- und Madonnenbilder, in denen auf rein assoziativem Wege plastische Vorbilder vermutet wurden, welche dann wiederum ohne weitere Argumente zu Kultbildern erklärt wurden.23 Auf dem harten Boden der Tatsachen erweist sich, dass der Holzschnitt mehr als ein halbes Jahrhundert lang betrieben wurde, ohne dass irgend jemand auch nur die geringsten Anstalten gemacht hätte, mit ihm Gnadenbilder zu reproduzieren. Die spätere Praxis zeigt, dass dies lukrativ gewesen wäre – trotzdem sind erst im letzten Drittel des 15. Jahrhundert die ersten zaghaften Versuche dazu festzustellen.

22 Zur Entwicklung des philosophischen Verständnisses vgl. den Überblick in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J OACHIM R ITTER u.a., Bd. 12, Darmstadt 2004, Sp. 47–170; dort allerdings ohne Hinweise auf die Bedeutungsgeschichte des deutschen Wortes „wârheit“, „Wahrheit“ etc. Eine Übersicht über Wahrheitskonzepte bei ARNO HOVEN: Wege zur Wahrheit. Eine typologische Studie über Wahrheitstheorien, Frankfurt am Main u.a. 1989 (= Studia philosophica et historica 13). Zur Wortbedeutung im späten Mittelalter siehe MATTHIAS LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1878, Sp. 690f.; ALFRED GÖTZE: Frühneuhochdeutsches Glossar, Berlin 7 1967, S. 223. 23 Das bekannteste Beispiele ist die Lambacher Pietà, Schr. 972a (Holzschnitte im Folgenden zitiert nach der Nummer in W.L. SCHREIBERS Handbuch (s. Anm. 7); vgl. KÖRNER: Der früheste deutsche Einblattholzschnitt (wie Anm. 6), S. 111, zu den Thesen, es handle sich um eine Kultbildkopie. Schlichte formale Begründung sind keine Seltenheit, etwa folgender Versuch jüngerer Zeit, den Holzschnitt einer hl. Katharina von Siena von einem populär verehrten Bild abzuleiten: „Die strenge Frontalität der Figur spricht dafür, daß ein Gnadenbild zugrunde liegt“ (zitiert nach: Ausstellungskatalog: Einblattholzschnitte des XV. Jahrhunderts aus dem Kupferstichkabinett Basel, Öffentliche Kunstsammlung, Kunstmuseum, 1994/1995, Basel 1994, S. 67).

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Abbildung 1: Moritz Lang, „Wahre Abbildung“ des Gnadenbildes vom Mariahilfberg bei Gutenstein, Kupferstich (Privatbesitz)

Abbildung 2: Engelweihe von Einsiedeln, Holzschnitt (Colmar, Bibliothèque de la ville)

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Der älteste Holzschnitt, der sich überhaupt mit einer Wallfahrt in Verbindung bringen lässt, stammt aus den 1450er Jahren. Und auch er ist bezeichnend für das moderne Missverständnis bezüglich des Verhältnisses zwischen Druckgraphiken und Gnadenbildern im 15. Jahrhundert: Er gibt nicht das Bild wieder, das dort verehrt wurde, sondern eine Szene der Legende, auf die die Wallfahrt zurückgeführt wurde. Es handelt sich um eine Darstellung der Engelweihe von Einsiedeln (Abb. 2).24 Signifikant ist auch, dass dieser Holzschnitt – obwohl er doch der älteste nachweisliche Beleg für die Funktion eines Holzschnittes im Wallfahrtswesen ist – in der Literatur, die genau diesen Punkt mit Leidenschaft diskutiert hat, weitgehend ignoriert wurde. Aus durchsichtigen Gründen freilich, denn er passte nicht ins gewünschte Bild und ist viel jünger, als man die ältesten Druckgraphiken im Pilgerwesen gern datiert hätte. Die Wallfahrt ins schweizerische Einsiedeln ist in der Literatur zur Druckgraphik des 15. Jahrhunderts ausgiebig behandelt worden – doch nicht wegen dieses Holzschnittes, auf den später noch näher einzugehen sein wird, sondern wegen der Kupferstiche, die aus Anlass der Jubiläumswallfahrt des Jahres 1466 ausgegeben wurden. Diese Jubelfeier hatte eine der größten Pilgerfahrten des späten Mittelalters im deutschsprachigen Raum ausgelöst. Die Kupferstiche, die der Monogrammist E. S. in drei unterschiedlichen Formaten für dieses Ereignis produzierte, sind die ersten gedruckten Bilder, die nicht nur die Gnadenstätte zeigen, sondern den Ort auch durch ihre Textierung explizit bezeichnen.25 Verehrt wurde in Einsiedeln zweierlei: Zunächst die angeblich von Christus selbst zusammen mit den Engeln und anderen heiligen Liturgen geweihte Gnadenkapelle, dann ein sekundär hinzugekommenes Marienbild.26 Aber weder die Kapelle noch die Marienfigur gibt der Kupferste24

Schr. 1942m. Aufgeklebt auf den hinteren Deckel der Handschrift ms 495 in Colmar, Bibliothèque de la ville. Vgl. zu dem Holzschnitt PETER SCHMIDT: L’usage de la gravure aux XVe et XVIe siècles au couvent d’Unterlinden, in: Ausstellungskatalog: Les dominicaines d’Unterlinden. Katalog der Ausstellung Colmar, Musée d’Unterlinden, 2000 / 2001, Bd. 1, Paris 2000, S. 226–247, dort S. 230–232. 25 Vgl. zu den drei Stichen PETER SCHMIDT: Die Kupferstiche des Meisters E. S. zur Wallfahrt nach Einsiedeln. Einige Überlegungen zum Publikum, Programm und Kontext; in: Stephan Füssel, Gert Hübner, Joachim Knape (Hg.): Artibus. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Festschrift für Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1995, S. 293–312, dort die ältere Literatur. 26 Grundlegend zur Wallfahrt immer noch ODILO R INGHOLZ: Wallfahrtsgeschichte Unserer Lieben Frau von Einsiedeln. Ein Beitrag zur Culturgeschichte, Freiburg i. Br. 1896; DERS.: Geschichte des fürstlichen Benediktinerstiftes U.L.F. von Einsiedeln, Einsiedeln 1904, S. 652–657; RUDOLF HENGGELER: Die Einsiedler Engelweihe, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 40 (1946), S. 1–30. Zu den Pilgerandenken siehe ODILO R INGHOLZ: Die Einsiedler Wallfahrts-Andenken einst und jetzt, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 22 (1918/19), S. 176–191, 232–242; FRITZ OSKAR

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cher so, dass sie wiedererkennbar wären. Die thronende Madonna sieht auf jedem der Stiche anders aus, von einer Gnadenbildreproduktion im neuzeitlichen Sinn kann keine Rede sein.27 Erschwerend kommt hinzu, dass damals das real existierende Gnadenbild nach einem Brand vermutlich eine stehende Madonna war, nicht einmal eine Sitzfigur, wie sie die Stiche des Meisters E. S. zeigen.28 Diesem ging es offenkundig um etwas ganz anderes als um die Formwiedergabe des tatsächlichen Gnadenbildes. Das erweist schon die genaue Betrachtung der Form der Kapelle auf dem Stich. Mit deren tatsächlicher Erscheinung, wie sie mehrere Ansichten überliefern,29 hat sie nicht zu tun (vgl. Abb. 3 und 4). Besonders merkwürdig ist die Form des Daches auf dem Kupferstich von 1466. Die Verbindung dieses mächtig geschwungenen Giebels mit dem restlichen Gebäude, vor allem mit dem Querbau darüber, ist architektonisch nicht zu erklären. Der Sinn der Konstruktion erschließt sich erst, wenn man das Vorbild auf anderem Gebiet sucht. Denn die eigentümliche Giebelform mit einer Kreuzblume als oberem Abschluss schließt nicht an das reale Gebäude an, sondern an die traditionellen Pilgerandenken aus Metall (Abb. 4 und 5).

SCHUPPISSER: Die Engelweihe der Gnadenkapelle von Einsiedeln in der frühen Druckgraphik, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 43 (1986) (= Festgabe für Ellen Judith Beer zum 60. Geburtstag), S. 141–150; OTHMAR LUSTENBERGER : Bild und Abbild. Einsiedler Pilgerzeichen, Einsiedler (Gnaden)-Kapellen, Einsiedler Gnadenbilder. Ein Forschungsbericht; in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 111 (2000), S. 257–295 27 Zu den Unterschieden vgl. SCHMIDT: Kupferstiche (wie Anm. 25); Abbildungen sind u. a. greifbar in: Ausstellungskatalog: Meister E.S. Ein Oberrheinischer Kupferstecher der Spätgotik, Katalog der Ausstellung Graphische Sammlung München und Kurstichkabinett Berlin 1986 / 1987 (Text Holm Bevers), München 1986, S. 128f.; Meister E. S. Alle 320 Kupferstiche, hg. von HORST APPUHN, Dortmund 1989, Abb. 78–80. 28 Zur vermutlichen Zerstörung der alten Sitzmadonna und ihrer Ersetzung durch die heute noch existierende stehende Figur siehe zuletzt JOACHIM SALZGEBER: Die Geschichte des gotischen Einsiedler Gnadenbildes, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 111 (2000), S. 191–203, S. dort S. 192f.; W ERNER OECHSLIN und ANJA B USCHOW OECHSLIN: Der Bezirk Einsiedeln I: Das Benediktinerkloster Einsiedeln, Bern 2003 (= Die Kunstdenkmäler des Kantons Schwyz. Neue Ausgabe 3,1 = Die Kunstdenkmäler der Schweiz 100), S. 394. Der Versuch von LINUS B IRCHLER: Vom ältesten Einsiedler Gnadenbild, in: Hanspeter Landolt (Hg.): Formositas Romanica. Beiträge zur Erforschung der romanischen Kunst, Joseph Gantner zugeeignet, Frauenfeld 1958, S. 84–106, eine in Privatbesitz aufgetauchte Holzfigur von höchst problematisch überarbeitetem Zustand als das erste Gnadenbild zu erweisen, entbehrt jeder Grundlage. 29 Vgl. die Dokumente bei HANS RUDOLF SENNHAUSER: Bemerkungen zu drei Aspekten der Einsidler Gnadenkapelle; in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 111 (2000), S. 103–136.

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Abbildung 3: Zeichnung der Gnadenkapelle im „Buch der Stifter und Gutthäter“ von Einsiedeln (Einsiedeln, Stiftsarchiv)

Abbildung 4: Meister E.S., „Kleine Madonna von Einsiedeln“, Kupferstich (Privatbesitz)

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Abbildung 5: Pilgerzeichen von Einsiedeln (Göteborgs Stadsmuseum)

Abbildung 6: [a] Konventssiegel des Benediktinerklosters Einsiedeln (Einsiedeln, Stiftsarchiv); [b] Pilgerzeichen von Rocamadour (Schleswig, Archäologisches Landesmuseum)

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Spätestens seit dem 14. Jahrhundert wurden diese aus einer Blei-ZinnLegierung gegossenen Pilgersouvenirs in Einsiedeln in großer Stückzahl hergestellt und verkauft.30 Die Hohlkehle des Giebels trägt hier wie dort ein für die Autorität des Bildes ganz wichtiges Element, nämlich die Inschrift, die die Identität des Wallfahrtsortes dokumentiert. Auf dem Stich lautet sie: „Dicz ƕ ist ƕ dis ƕ engelwich ƕ zun ƕ einsidlen“. Als man sich entschloss, auch Kupferstiche in das Sortiment der Pilgersouvenirs aufzunehmen, waren Bilder auf Papier als Träger dieser Aufgabe noch nicht etabliert. Ihr Produzent versicherte sich deshalb der Autorität des Mediums, das seit langem bekannt war und den Standard auf dem Gebiet der Pilgerandenken definierte, nämlich der Metallplaketten. Die Erinnerung an sie war für die Kupferstiche wichtiger als eine genaue Erinnerung an die Form des Gnadenbildes selbst. Nicht auf „wahre Abbildung“ im neuzeitlichen Sinn wurde Wert gelegt, sondern auf die durch das eingeführte Medium verkörperte Wahrheit. In Einsiedeln lag das besonders nahe, denn das Geschäft mit den metallenen Devotionalien florierte dort seit langer Zeit. Um dieses zu organisieren, hatte das Kloster zur Jubiläumswallfahrt ein eigenes „Zeichenamt“ eingerichtet.31 Während des zweiwöchigen Engelweih-Festes im Jahr 1466 rechnete das Amt nicht weniger als 130.000 verkaufte Pilgerzeichen ab.32 Der Metallguss ist ein von der Kunstgeschichte zu Unrecht missachtetes Vervielfältigungsmedium, das der Druckgraphik lange vorausging. Im Wallfahrtswesen war es durch das ganze Mittelalter hindurch das bestimmende Bildmedium. Bleiampullen als Pilgersouvenirs wurden schon im frühen Mittelalter aus dem Heiligen Land mitgebracht. In Europa beginnt die Produktion von Metallplaketten, die aus Steinmodeln in BleiZinn-Legierungen gegossen wurden, im großen Stil im 12. Jahrhundert.33 30

Aus der älteren Literatur zu den Pilgerzeichen sei hier nur genannt R INGHOLZ: Einsiedler Wallfahrts-Andenken (wie Anm. 26). Der Forschungsbericht von LUSTENBERGER: Bild und Abbild (wie Anm. 26) ist bezüglich der Pilgerzeichen (S. 263–266) lückenhaft, vgl. die Datenbank http://www.pilgerzeichen.de/ (letzter Zugriff 28.2.2009) Grundlegend zu den Metallplaketten aus Einsiedeln sind noch immer die Schriften von KURT KÖSTER, etwa sein monumentaler Aufsatz: Meister Tilmann von Hachenburg. Studien zum Werk eines mittelrheinischen Glockengießers des 15. Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung der als Glockenzier verwendeten Pilger- und Wallfahrtszeichen, in: Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung 8 (1957), S. 1–206. 31 R INGHOLZ: Wallfahrtsgeschichte (wie Anm. 26), S. 277. 32 Die Chroniken der Stadt Konstanz, hg. von P H. RUPPERT, Konstanz 1891, S. 260. 33 KURT KÖSTER: Pilgerzeichen und Pilgermuscheln von mittelalterlichen Santiagostraßen: Saint-Leónard, Rocamadour, Saint-Gilles, Santiago de Compostela. Schleswiger Funde und Gesamtüberlieferung, Neumünster 1983 (= Ausgrabungen in Schleswig 2), S. 17; DERS.: Mittelalterliche Pilgerzeichen, in: Lenz Kriss-Rettenbeck und Gerda Möhler (Hg.): Wallfahrt kennt keine Grenzen. Themen zu einer Ausstellung des Bayerischen Nationsmuseums und des Adalbert Stifter Vereins, München / Zürich 1984,

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Der Fall von Einsiedeln legt die Vermutung nahe, daß die neuen gedruckte Papierbildchen zunächst wenig Chancen hatten, sich gegen dieses traditionelle Medium durchzusetzen, das die Autorität des Gnadenortes transportierte. Und wenn es das neue papierene Medium wagte – und zwar mit neuen Waffen, nämlich einem erheblich höherem Raffinement und einer höheren visuellen Komplexität, wie es die Kupferstiche des Meisters E. S. zeigen – dann tat es offenbar gut daran, sich noch in der Form der Tradition dieses klassischen Mediums zu versichern. Die Autorität des metallenen Pilgerzeichens als Medium des Heils scheint in Einsiedeln noch in einem anderen Zusammenhang auf. In diesem zeigen sich gleichzeitig die Auswirkungen zweier charakteristischer Missverständnisse der Forschung – wobei das erste aus dem Bedürfnis resultiert, frühe Gnadenbildkopien zu identifizieren, das zweite paradoxerweise aus dem Ignorieren der medialen Autorität der metallenen Pilgerzeichen. Wie erwähnt, wurde das alte Mariengnadenbild von Einsiedeln vermutlich bei dem verheerenden Brand von 1465 vernichtet. Von dem Ersatz, der bald darauf angeschafft wurde, gibt es eine große Zahl von Kopien vor allem im Medium der Skulptur, doch reichen auch diese nicht vor die Zeit um 1500 zurück.34 Das Bedürfnis nach Spuren des ersten Kultbildes war deshalb besonders in der Lokalforschung groß. Die Ergebnisse der intensiven Suche danach waren allerdings dürftig: Sensationell schien zwar die „Wiederentdeckung“ der originalen Sitzmadonna, die den Brand doch überlebt haben sollte, in einer Privatsammlung;35 doch sind die Argumente für die Identifizierung mit dem Gnadenbild alles andere als überzeugend. Auf den ersten Blick etwas weniger abenteuerlich klang da die These, das älteste Siegelbild des Konvents von Einsiedeln, das eine thronende Madonna zeigt (Abb. 6a), sei eine Kopie des Gnadenbildes.36 Doch ist die S. 203–223, dort S. 204; ANDREAS HAASIS-B ERNER: Die Pilgerzeichen des 11.–14. Jahrhunderts. Mit einem Überblick über die europäische Pilgerzeichenforschung, in: Sebastian Brather, Christel Bücker, Michael Hoeper (Hg.): Archäologie als Sozialgeschichte. Studien zu Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im frühgeschichtlichen Mitteleuropa. Festschrift für Heiko Steuer zum 60. Geburtstag, Rahden 1999 (= Internationale Archäologie – Studia honoraria 9), S. 271–277, dort S. 272. Ein Überblick über das Material bei ANDREAS HAASIS -B ERNER: Pilgerzeichen des Hochmittelalters, Würzburg 2003 (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 94). 34 Vgl. den Überblick bei MATHILDE T OBLER: „Wahre Abbildung“. Marianische Gnadenbilder in der schweizerischen Quart des Bistums Konstanz, in: Der Geschichtsfreund 144 (1991), S. 11–426. 35 B IRCHLER: Einsidler Gnadenbild (wie Anm. 28), S. 84–106. 36 B IRCHLER: Einsidler Gnadenbild (wie Anm. 28), S. 102f., mit der gewagten Spezifizierung, das Siegel gäbe schon ein zweites Gnadenbild wieder, das ein erstes aus dem 12. Jahrhundert ersetzt hätte. Vgl. allgemein zum Siegel R INGHOLZ: Wallfahrtsgeschichte (wie Anm. 26), S. 48; DERS.: Anshelm von Schwanden, Abt des Stiftes U.L.F. zu Einsiedeln. Mit urkundlichen und artistischen Beilagen, in: Der Geschichtsfreund 42 (1887),

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Grundlage dieser Annahme bei Lichte besehen lediglich die nicht weiter hinterfragte Selbstverständlichkeit, mit der man davon ausging, dass das Gnadenbild, das so viele Pilger anzog, auch das Vorbild für das Siegel gewesen sein müsste. Die Spekulationen über die Gestalt des verlorenen Gnadenbildes haben verhindert, das Vorbild des erstmals an einer Urkunde von 1239 nachgewiesen Siegels auf breiter Materialbasis zu reflektieren. Deshalb wurde die verblüffende Ähnlichkeit des Siegelbildes mit einer Gruppe von Pilgerzeichen nie beachtet, die nur scheinbar weit weg führen von der Schweizer Abtei: Es handelt sich um den ältesten Typ der Pilgerzeichen des südfranzösischen Marienwallfahrtsortes Rocamadour (Abb. 6b).37 Rocamadour ist für die Geschichte der aus Weichmetall gegossenen Pilgerzeichen von zentraler Bedeutung: Es scheint der erste europäische Wallfahrtsort gewesen zu sein, an dem solche Objekte hergestellt wurden.38 Die große Zahl der erhaltenen Exemplare und die erstaunlich stabile S. 97–148, dort 113f. und Taf. 1; LUSTENBERGER: Bild und Abbild (wie Anm. 26), S. 173. 37 Zu dem hier abgebildeten Exemplar, das in Schleswig gefunden wurde, und den Pilgerzeichen aus Rocamadour allgemein K ÖSTER: Pilgerzeichen (wie Anm. 33). 38 Die erhaltenen Pilgerzeichen, die sich noch dem 12. Jahrhundert zuweisen lassen, stam-men – abgesehen vom Heiligen Land – aus Rocamadour, Canterbury und Santiago de Compostela, vgl. HAASIS-B ERNER: Pilgerzeichen des Hochmittelalters (wie Anm. 33), S. 23, S. 216, S. 272–274. Die ersten in Canterbury produzierten Pilgerandenken waren – nach dem Vorbild des Heiligen Landes – Ampullen, keine Plaketten, siehe BRIAN SPENCER: Pilgrim Souvernirs and Secular Badges, London 1998 (= Medieval Finds from Excavations in London 7), S. 34–133; DERS.: Canterbury Pilgrim Souvenirs Found in the Low Countries; in: H.J.E. VAN B EUNINGEN, A.M. KOLDEWEIJ, D. KICKEN (Hg.): Heilig en Profaan 2. 1200 Laatmiddeleeuwse Insignes uit openbare en particuliere collecties, Cothen 2000 (= Rotterdam Papers 12), S. 105–111; JENNIFER M. LEE: Searching for Signs: Pilgrims’ Identity and Experience Made Visible in the Miracula Sancti Thomae Cantuariensis, in: Sarah Blick und Rita Tekippe (Hg.): Art and Architecture of Late Medieval Pilgrimage in Northern Europe and the British Isles, Leiden / Boston 2005, S. 473–491, dort besonders S. 474f., 479f., 487. In Santiago wurde zu dieser Zeit vermutlich gerade erst begonnen, die dort ungefähr seit dem Jahr 1000 ausgegebenen Muscheln nun auch in Metall zu gießen, aber noch keine figürlichen Flachreliefs wie in Rocamadour hergestellt. Die immer wieder behauptete Herkunft von Pilgerzeichen aus Nazareth ist fraglich, die betreffenden Objekte sind in der Form ungewöhnlich und Zweifel sind angebracht, ob es sich überhaupt um Wallfahrtszeichen im eigentlichen Sinne handelt, vgl. das Material in: VAN B EUNINGEN, KOLDEWEIJ und K ICKEN: Heilig en Profaan (wie oben), S. 339; eine Diskussion der Herkunft aus Nazareth in: R.M. van Heeringen, A.M. Koldeweij, A.A.G. Gaalman (Hg.): Heiligen uit de modder. In Zeeland gevonden pelgremstekens, Utrecht 1987 (= Clavis Kunsthistorische Monografien 4), S. 105f., und bei DENIS B RUNA: Enseignes de pèlerinage et enseignes profanes, Paris 1996, S. 93f. Für die Produktion in Paris hatte sich dagegen ausgesprochen: LARS ANDERSSON: Jungfru Marie bedådelse. Ett parisiskt pilgrimsmärke i Visby, in: Fornvännen. Journal of Swedish antiquarian research 76 (1981), S. 30–35.

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Ikonographie lassen erkennen, dass das Kloster, das die Wallfahrt betreute, deren Entwicklung und Produktion kontrollierte.39 Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass schon in der 1172 / 73 im Kloster verfassten Mirakelsammlung eine Wunderheilung beschrieben wird, die eine solche Metallplakette der Muttergottes von Rocamadour – nicht das Gnadenbild selbst! – bewirkt haben soll.40 Die Erwähnung eines Pilgerzeichens als wundertätiges Objekt in einem Mirakelbericht ist außergewöhnlich und neu. Es ist bezeichnend, daß diese Erzählung mit den ersten Jahren der Praxis des Giessens und Verkaufens solcher Bilder zusammenfällt.41 Die Wallfahrtsabzeichen von Rocamadour besitzen ohne Ausnahme spitzovale Form mit einer Umschrift, die die zentrale Darstellung der thronenden Muttergottes einfasst. Die Mönche des Klosters hatten also eine traditionelle Siegelform als Gestalt ihrer Pilgerzeichen gewählt, und zwar eine, die vor allem bei Konventssiegeln anzutreffen ist, dort gelegentlich auch mit einem Marienbild im Zentrum.42 Das sollte allerdings keinen Bezug zum tatsächlichen Konventssiegel von Rocamadour herstellen, über 39 Die monopolistische Steuerung der Pilgerzeichenproduktion durch das Klosters lässt sich hier zum einen aus der ungewöhnlichen Uniformität der Produkte ableiten; im Kloster Einsiedeln, das eine der meistfrequentierten Wallfahrten des späten Mittelalters betreute, ist die Kontrolle durch ein „Zeichenamt“ jedoch in den Quellen belegt, s. RINGHOLZ: Wallfahrtsgeschichte (wie Anm. 26), S. 277. Zum anderen legt die Quelle, nach der der Verkauf von Plaketten im Jahre 1237 auch den Einwohner des Dorfes Rocamadour erlaubt wurde, nahe, daß es vorher das alleinige Privileg des Klosters war, siehe ERNEST RUPIN: Roc-Amadour. Étude historique et archéologique, Paris 1904, S. 234f. 40 Unter der Überschrift „De sacerdote per signum peregrinationis sanato“ wird geschildert, wie sich der Priester Wilhelm von Chartres, von einer tödlichen Krankheit gezeichnet, zum Sterben legt, seine verzweifelte Mutter aber die Madonna von Rocamadour anruft und ein Pilgerzeichen mit ihrer Darstellung auf den Siechenden legt, worauf dieser umgehend gesund wird: Les miracles de Notre-Dame de Roc-Amadour au XIIe siècle. Texte et traduction d’aprés les manuscrits de la Bibliothèque Nationale, hg. von EDMOND ALBE, Paris 1907, S. 135f. (liber I,37). Zur Quellenkritik des Textes vgl. u. a. MICHEL FRANÇOIS (Hg.): Le Livre des miracles de Notre-Dame de Rocamadour, Colloque Rocamadour, 19 au 21 mai 1972, Luzech 1973 (= Colloque de Rocamadour 2); MARCUS B ULL: The Miracles of Our Lady of Rocamadour. Analysis and Translation, Woodbridge 1999. 41 Die spätestens 1174 vollendete Vita Thomas Beckets von Guernes de Pont-SainteMaxence erwähnt im Zusammenhang mit den Ampullen, die Pilger am Grab des gera de kanonisierten Märtyrers in Canterbury erwerben konnten, auch die Pilgerzeichen aus Rocamadour als in Blei gegossene Bilder Mariae, siehe Guernes de Pont-Sainte-Maxence, La Vie de Saint Thomas Becket, hg. von EMMANUEL W ALBERG, Paris 1971, S. 181 V. 5897. 42 Die spitzovale Form wurde vorzugsweise von geistlichen Würdenträgern und Konventen gewählt, bei Siegeln weltlicher Personen und Korporationen sind sie zu jener Zeit äußerst selten; vgl. WILHELM EWALD: Siegelkunde, Berlin 1914, S. 180; ERICH K ITTEL: Siegel, Braunschweig 1987, S. 187.

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dessen damaliges Aussehen nichts bekannt ist.43 Der Grund für die Wahl dieser Form lag vielmehr darin, dem Pilgerzeichen die Autorität eines Siegels mit allen Assoziationen eines offiziellen Beglaubigungsmittels mitzugeben.44 Neben der Form transportiert die Umschrift der Metallplaketten ganz explizit die Prätention, ein Siegel zu sein. Auf dem hier abgebildeten Exemplar lautet sie (Abb. 6b):45 „+ SIGILLVM ƕ BEATE ƕ MARIE ƕ DE ROCAMADOR“. Bis in ein Detail wie das Kreuz in der oberen Spitze als Zeichen des Textbeginns und -endes schließt sich die Umschrift auch in der epigraphischen Erscheinung der Siegeltradition an. Rocamadour war eine der überregional bedeutenden Marienwallfahrten des hohen Mittelalters. Die Fundorte der Plaketten in ganz Europa legen Zeugnis vom Einzugsgebiet ab.46 Als man in Einsiedeln daran ging, ein Bild für das neue Typar zu entwickeln, orientierte man sich an den Pilgerzeichen dieses bildpublizistisch erfolgreichsten europäischen Marienwallfahrtsortes. Die Beziehung zwischen der Struktur der Autoritätsvermittlung, der Funktion und der Form dieser Bilder ist hier als Schleife zu beschreiben: Die Mönche von Rocamadour wählten die Form eines Konventssiegels, um ihren Wallfahrtsandenken Autorität zu verleihen; als die Mönche von Einsiedeln nach einer geeigneten Form für ihr Konventssiegel suchten, verließen sie sich auf die bewährte Form der bekanntesten Pilgerzeichen und kamen auf diesem Umweg zur Siegeltradition zurück. Das Marienbild aber, das nun ihr Siegel zierte, war keineswegs eine Kopie ihres eigenen Gnadenbildes, sondern ein Import aus Südfrankreich. Möglich 43

Ob der Konvent von Rocamadour im 12. Jahrhundert überhaupt schon ein Siegel führte und welche Form dieses gegebenenfalls hatte, ist nicht bekannt. Der älteste bekannte Abdruck stammt erst aus dem frühen 14. Jahrhundert; damals war das Siegel rund (RUPIN: Roc-Amadour (wie Anm. 39), S. 236). Die Annahme von H AASIS-B ERNER: Pilgerzeichen des Mittelalters (wie Anm. 33), S. 44, das Pilgerzeichen sei als „direkte Abformung des Konventssiegels“ entstanden, beruht auf dem Missverstehen seiner Informationsquelle – nämlich DENIS BRUNA: Enseignes de pèlerinage et identité du pèlerin, in: Les Cahiers de Saint-Michel de Cuxa 31 (2000), S. 59–63, dort S. 60f. – und ist nicht begründet. 44 Dabei geht es allein um das Spiel mit der Assoziation; de facto waren die Plaketten freilich kein rechtliches Beglaubigungsmittel. LUDWIG SCHMUGGE:, „Pilgerfahrt macht frei“ – Eine These zur Bedeutung des mittelalterlichen Pilgerwesens, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 74 (1979), S. 16–31, dort S. 29, bringt die seit dem 12. Jahrhundert erhobene Forderung, Jerusalempilger sollten ihre Wallfahrt durch offizielle Dokumente lokaler Autoritäten bestätigen lassen, mit der rasant ansteigende Produktion von Pilgerzeichen und dem Missverstehen ihres Dokumentcharakters in Verbindung. 45 Vgl. dazu KÖSTER: Pilgerzeichen (Anm. 33), S. 56 (Nr. R1), dort auch die ältere Literatur zu dem Stück. 46 Vgl. KÖSTER: Pilgerzeichen (wie Anm. 33) zum Netz der Fundorte, das von Brabant und Schleswig bis Norwegen, Schweden und England reicht.

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war das nur, weil die Mönche von Einsiedeln in den Plaketten aus Rocamadour weder präzise Kopien des dortigen Kultbildes sahen, noch ein Interesse hatten, die genaue Form des eigenen Bildes durch ihr Konventssiegel zu verbreiten. Dieser Exkurs hat zwar von der Druckgraphik des 15. Jahrhunderts weggeführt, aber einen Einblick in das schillernde Verhältnis zwischen der Autorität der Form (eines Gnadenbildes) und der Autorität eines Mediums (der metallenen Pilgerzeichen) gegeben. Weder im 13. noch im 15. Jahrhundert hatte man in Einsiedeln Interesse an der Produktion äußerlich genauer Kopien des Kultbildes – während man den Gegebenheiten des Mediums hohe Aufmerksamkeit widmete. Aufschlussreich in dieser Beziehung ist nicht nur der Meister E. S., dem im Jahr 1466 eine getreue Wiedergabe des Gnadenbildes viel weniger wichtig war als die Erinnerung an die traditionelle Form der Wallfahrtsandenken, sondern auch der schon genannte älteste Holzschnitt, der mit Einsiedeln in Verbindung steht (Abb. 2). Das in die 1450er Jahre zu datierende Fragment47 lässt noch die Gruppe von Bischöfen und Äbten erkennen, die nach der Legende im Jahr 948 die Kapelle des heiligen Eremiten Meinrad im 9. Jahrhundert weihen wollten. Zu sehen ist auch der Engel, der sie daran hindert, indem er auf die schon durch himmlische Liturgen erfolgte Weihe hinweist.48 Thema dieser ersten erhaltenen Graphik, die nachweislich mit einem Wallfahrtsort in Verbindung steht, ist also nicht das Gnadenbild, sondern eine Szene der Legende.49 Der Holzschnitt aus Einsiedeln schließt sich damit – wie einige Jahre später auch die Kupferstiche des Meisters E. S. – dem von den Metallplaketten vorgegebenen Typus an (vgl. Abb. 2 und 5). Alle anderen Holzschnitte des 15. Jahrhunderts, die zumindest prätendieren, Gnadenbilder wiederzugeben, sind jünger. Der chronologisch nächste – der um 1480 zu datieren ist – zeigt eine Pietà, die durch eine 47 Vgl. Anm. 24 mit den Angaben zu dem Holzschnitt. W.L. SCHREIBER: Handbuch (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 93, datiert das Blatt auf die Zeit der Jubiläumswallfahrt von 1466, was vom Kontext her nahe liegen würde, aber aus stilistischen Gründen mit Sicherheit zu spät ist. 48 Zwar ist ein Teil des Schriftbandes abgetrennt, doch ist noch das Wort „consecr“ zu lesen. Zu dieser Legende s. RINGHOLZ: Wallfahrtsgeschichte (wie Anm. 26), S. 8 f., 312–315 und 351 f.; RINGHOLZ: Einsiedler Wallfahrts-Andenken (wie Anm. 26), S. 652–657; HENGGELER: Einsiedler Engelweihe (wie Anm. 26), S. 17–20. 49 Rezipiert wurde dieser Holzschnitt bezeichnenderweise in dem in den 1460er Jahren entstandenen Blockbuch, das eine illustrierte Legende des hl. Meinrad und eine deutsche Übersetzung der päpstlichen Bulle zur Engelweihe von Einsiedeln enthält (Einsiedeln, Stiftsarchiv, DB 5, S. 49; vgl. das Faksimile: LEO HELBLING: Das Blockbuch von Sankt Meinrad und seinen Mördern und vom Ursprung von Einsiedeln, Einsiedeln / Zürich / Köln 1961).

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xylographische Inschrift als „maria zĤ monelswiler bij zabern“ ausgewiesen ist.50 Neben dem Vesperbild, das im elsässischen Monswiller Ziel einer regionalen Wallfahrt war,51 sind Szenen seiner Heilwirkung dargestellt. Aufschlussreich ist auch hier ein zweites Blatt, das sich auf denselben Gnadenort bezieht:52 Im Mittelpunkt einer sehr ähnlichen Komposition mit Wunderszenen steht auch hier die Schmerzensmutter, die ihren toten Sohn beweint; doch liegt dieser nicht wie bei einer klassische Pietà auf ihrem Schoß, sondern – in der Tradition von Darstellungen der Beweinung unter dem Kreuz – vor ihr auf dem Boden. Auf eine präzise Wiedergabe der verehrten Skulptur wurde auch hier kein Wert gelegt; relevant schien allein der religiöse Ausdrucksgehalt, der von formalen Details wie der genauen Position und Haltung der Figuren unabhängig war. Auch andere Holzschnitte belegen, dass es nicht um „wahre Abbildung“ einer Figur gehen musste, selbst wenn sie durch explizite Nennung des Gnadenortes genau identifiziert wurde. Ein kurz nach 1500 entstandenes Blatt, das von einer Sebastiansbruderschaft in Auftrag gegeben wurde, zeigt unter dem Schriftzug „S · MARIA ZVo YSTEIN“ eine halbfigurige Maria, doch auf einer stilisierten Wolke, die sie in eine abstrakte sakrale Sphäre rückt und sie eben nicht als konkretes Marienbild präsentiert.53 Die Ambivalenz zwischen der Wiedergabe eines Artefakts (des Gnadenbildes) und des nicht materiell, sondern geistig präsent gesetzten Zieles der Devotion (des / der Heiligen) bleibt auf manchen frühen Wallfahrtsbildern unaufgelöst. Etwa gleichzeitig mit der Pietà von Monswiller – um 1480 – ist ein Holzschnitt zu datieren, der im Kontext einer anderen elsässischen Wallfahrt entstanden ist. Er zeigt den in Rufach verehrten hl. Va-

50 Schr. 1016h in Dresden, Kupferstichkabinett. ROBERT BRUCK: Eine Holzschnittmadonna aus Monsweiler, in: Das Kunstgewerbe in Elsaß-Lothringen 5 (Juli 1904 – Juni 1905), S. 49–55, dort Abbildung auf S. 51. 51 Vgl. dazu J. FRIEDEL: Die Wallfahrt Unserer Lieben Frau von Monsweiler nebst nachträglichen Notizen über das Dorf, Trier 1875; DERS.: Die Wallfahrt unserer lieben Frau von Monsweiler, Saverne 1932. 52 Schr. 1016k in Basel, Öffentliche Kunstsammlung, als Depositum des Historischen Museums Basel. Abgebildet in: Ausstellungskatalog: Einblattholzschnitte des XV. Jahrhunderts (wie Anm. 23), Nr. 27, im Text S. 69 ohne Bezugnahme auf Monswiller. Trotz des fragmentarischen Zustands aber läßt sich dieselbe Gesamtkomposition wie Schr. 1016h rekonstruieren, mit dem Wappen des Straßburger Bischofs Albert von der PfalzMosbach (1478–1506) an derselben Stelle, so dass kein Zweifel daran besteht, dass es sich ebenfalls um ein Blatt zur Wallfahrt von Monswiller handelt. 53 Schr. 1694h. Der Ort ist mit Istein bei Lörrach zu identifizieren; SCHREIBER: Handbuch (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 189, hält die Basler Sebastiansbruderschaft für den Auftraggeber. Abgebildet in: W.[ ILHELM] L.[UDWIG] SCHREIBER: Holzschnitte des fünfzehnten Jahrhunderts in den Fürstlich Fürstenbergischen Sammlungen zu Donaueschingen, Straßburg 1907 (= Einblattdrucke des XV. Jahrhunderts 8), Nr. 20.

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lentin vor zwei am Boden liegenden Kranken54 und zwei Geheilten, die Votivgaben bringen (Abb. 7).55 Der xylographische Text enthält eine Anrufung des Heiligen und identifiziert den Gnadenort: „Sant valentin bit got fur vns / zu rufach“. Die Figur des Heiligen ist statuenhaft gegeben und legt die Assoziation einer Skulptur nahe. Dafür, dass eine konkrete Figur an einem konkreten Gnadenort gemeint ist, sprechen auch die an einer Stange aufgehängten Votivgaben. Gleichzeitig aber scheint der Heilige zu agieren, sein Segensgestus signalisiert aktive Kommunikation mit den Gläubigen vor ihm. Er steht nicht auf einer Plinthe, einem Sockel oder einem anderem, reale Skulptur evozierenden Element, sondern mitten unter den Kranken. Diese bewusste erzeugte Ambivalenz eines Heiligenbildes zwischen Hinweisen auf die Wiedergabe eines Artefakts im Wallfahrtskontext auf der einen Seite und der Präsentation eines Heiligen auf der Ebene sakraler Präsenz jenseits eines konkret definierten Raumes auf der anderen kennzeichnet mehrere Druckgraphiken. Stellvertretend sei hier nur noch der Holzschnitt eines hl. Antonius aus der Mitte des 15. Jahrhunderts genannt (Abb. 8).56 Gäbe es die um Hilfe flehenden und Gaben reichenden Gläubigen und die an einer Stange befestigten Votive nicht, würde man an eine räumlich unbestimmte Heiligendarstellung denken. Doch dieses Beiwerk legt zusammen mit der strengen Frontalität der Figur nahe, an eine verehrte Skulptur des hl. Antonius zu denken. Eine Gnadenbildkopie aber kann ihre Funktion der Erinnerung und Heilsvermittlung kaum erfüllen, wenn ihr nicht explizite Hinweise – wie etwa Bildbeischriften – beigegeben sind, die den Ort genau bezeichnen.

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Angespielt wird damit auf die „St. Valentins-Krankheit“ (Epilepsie). Schr. 1717b in Washington, National Gallery of Art. Dieselbe Komposition geben die Holzschnitte Schr. 1717 und 1717a wieder. Vgl. dazu: Ausstellungskatalog: Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 1), S. 309f (Nr. 98), dort auch die ältere Literatur. 56 Schr. 1215 in München, Staatliche Graphische Sammlung. Mit der älteren Literatur siehe den Ausstellungskatalog: Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 1), S. 295–298 (Nr. 93). 55

Vervielfältigung, Heilsvermittlung und „Wahrheit“

Abbildung 7: Der hl. Valentin von Rufach, Holzschnitt (Washington, National Gallery of Art)

Abbildung 8: Der hl. Antonius Eremita, Holzschnitt (München, Staatliche Graphische Sammlung)

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Auf dem Holzschnitt leisten die unspezifischen Wappenschilde mit dem Kreuz, die sich keinem Ort oder Orden eindeutig zuordnen lassen, dies nicht – doch spielen sie mit der Möglichkeit eines solchen Identifizierungsmittels.57 In diesem Sinne lässt sich wohl die ganze Darstellung beschreiben: Sie ist ganz allgemein als Heiligenbild zu lesen, stellt aber gleichzeitig den Bezug zu einem verehrten und wunderwirkenden Bildwerk her, entzieht sich aber dann der konkreten Verortung. Festzuhalten bleibt, das erst ab der Zeit um 1480 und auch dann nur vereinzelt das neue druckgraphische Vervielfältigungsmedium benutzt wird, um konkrete Gnadenbilder zu reproduzieren – wobei der Anspruch des „wahren Abbildens“ dann immer noch nicht im Mittelpunkt steht. Zu bedenken ist freilich, dass das Adjektiv „wahr“ auch noch auf den frühneuzeitlichen Wallfahrtsandenken mehr als nur die Präzision der Formwiedergabe meint, sondern auch so etwas wie „echt“ oder „authentisch“ in einem tiefergehenden Sinn. Noch für den Meister E. S. oder für seine Auftraggeber wurde die Wahrhaftigkeit der Einsiedler Wallfahrtsbilder eher durch den Anschluss an das bewährte und deshalb autoritative Bildmedium der Heilsübertragung garantiert als durch die Wiedererkennbarkeit des Gnadenbilds selbst. Der begleitende Text auf den Kupferstichen des Meister E. S. ist nicht Teil des Referenzsystems zwischen Kultbild und Abbild. Er verweist allgemein auf die Engelweihe, also den legendarischen Kern der Wallfahrt. Anders liegt der Fall, wenn der Text auf einer Druckgraphik tatsächlich explizit versichert, die vorliegende Darstellung gebe ein bestimmtes verehrtes Gnadenbild wieder. Das ist bei einer Gruppe von 14 erhaltenen Holzschnitten aus den 1450er und 1460er Jahren der Fall, die Maria im Ährenkleid darstellen.58 Dieser eigentümliche Gegenstand gab Anlass zu weitläufigen ikonographischen Spekulationen, die hier jedoch nicht Thema sind.59 Das Augenmerk soll allein auf die Tatsache gerichtet werden, dass 57 PETER P ARSHALL in: Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 1), S. 97f., zu den fruchtlosen Versuchen, das Wappen zu bestimmen. 58 Schr. *999x bis 1006. 59 Vgl. zu einer anderen Gruppe von Ährenkleid-Holzschnitte K URT RATHE: Ein unbeschriebener Einblattdruck und das Thema der „Ährenmadonna“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst 45 (1922), S. 1–33. Die Überlegungen zur Ikonographie zusammenfassend und ältere Literatur verzeichnend RUDOLF B ERLINER: Zur Sinnesdeutung der Ährenmadonna, in: Christliche Kunst 26 (1929 / 30), S. 97–112, wiederabgedruckt in ROBERT SUCKALE (Hg.): Rudolf Berliner (1886–1967). „The Freedom of Medieval Art“ und andere Studien zum christlichen Bild, Berlin 2003, S. 31–42; ALBERT W ALZER : Noch einmal zur Darstellung der Maria im Ährenkleid, in: Beiträge zur schwäbischen Kunstgeschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Werner Fleischhauer, Konstanz / Stuttgart 1964, S. 63–100; vgl. auch den Artikel Ährenkleidmaria von A LOIS THOMAS im Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, Rom u.a. 1968, Sp. 82–85.

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die Texte, die mehreren dieser Graphiken beigegeben sind, sie explizit als Reproduktionen bezeichnen. Das älteste Beispiel mit einer solchen Beschriftung ist ein um 1460 in Süddeutschland entstandener Holzschnitt, von dem sich ein Exemplar in München erhalten hat (Abb. 9).60 In der Rahmenleiste ist zu lesen: „Es ist czu wissen allermanigclichen Das das [pi]ld ist vnnser liebenn frauen pild als si in dem tempel was e das sy sand ioseph vermahelt ward also dyentenn ir die engel in dem tempel vns also ist sy gemalt in dem tum czu maylandt“. Demnach handelt es sich um eine Darstellung Mariae als Tempeljungfrau vor ihrer Vermählung mit Joseph, die einem Gemälde im Dom zu Mailand folgt. Zwei andere Holzschnitte besitzen einen etwas längeren Text, der das Urbild der Darstellung ebenso bezeichnet: „vnd also ist si in lamparten [= Lombardei] in dem thvom zĤ mailant gemalet“.61 Hinzugefügt sind hier noch Berichte über zwei Wunder, die Maria in Gestalt des Mailänder Bildes an einem deutschen Kaufmann und an der Herzogin von Mailand vollbracht haben soll; sodann wird darauf hingewiesen, dass es für jeden Gläubigen von Gewinn sein kann, in der Not Maria „in dieser figure“ um Hilfe anzurufen. Eine frühe Gnadenbildreproduktion im Medium der Druckgraphik, so will es auf den ersten Blick scheinen, und genauso ist es auch interpretiert worden – als eines der „Wallfahrtsandenken, die noch in der Ferne an ein besuchtes Heiligtum die Erinnerung festhalten sollen“.62 Nun ist viel über das hier genannte Gnadenbild im Mailänder Dom gerätselt worden. Festgehalten sei an dieser Stelle nur, dass die Quellen über das lombardische „Original“ merkwürdig spärlich fließen. Dass es sich dabei um eine Stiftung deutscher Kaufleute im späten 14. Jahrhundert gehandelt haben soll,

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Staatliche Graphische Sammlung, Schr. 1000. Abgebildet u.a. bei J OHANNES GRAUS: Maria im Ährenkleid und die Madonna cum cohazono vom Mailänder Dom, in: Kirchenschmuck. Monatsschrift für christliche Kunst und Kunstgeschichte N.F. 35 (1904), Nr. 5, S. 59–73, und Nr. 6, S. 101–114, hier S. 69; T HEODOR MUSPER: Der Einblattholzschnitt und die Blockbücher des XV. Jahrhunderts, Stuttgart 1976, Abb. 41; HENNING W ENDLAND: Deutsche Holzschnitte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Königstein 1980, Taf. 13; SABINE GRIESE: Vervielfältigung und Verfestigung. Einblatt-Druckgraphik des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Eckart Conrad Lutz u. a. (Hg.): Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001, Tübingen 2005, S. 335–359, Abb. 50. 61 Schr. VIII *999y (Zürich, ETH, Graphische Sammlung); nahezu gleichlautend der Text in der Variante Schr. 1000a (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek). 62 GRAUS: Maria im Ährenkleid (wie Anm. 60), S. 61. Als Reproduktion eines berühmten Wallfahrtsbildes wird es auch bezeichnet von G RAMACCINI und MEIER: Kunst der Interpretation (wie Anm. 10), S. 12.

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Abbildung 9: Maria im Ährenkleid, Holzschnitt (München, Staatliche Graphische Sammlung)

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wurde immer wieder behauptet; eine genauere Prüfung der Argumente ergibt allerdings, dass hier eine tendenziöse Interpretation problematischer Belege vorliegt.63 Verdächtig ist schon die Tatsache, dass es in Mailand keine Anhaltspunkte für eine Wallfahrt oder kultische Verehrung eines Marienbildes im Dom gibt, die man mit dem auf den Holzschnitten genannten „pild“ (was ein Gemälde ebenso sein kann wie eine Skulptur) in Verbindung bringen könnte.64 In dieselbe Richtung weist die Untersuchung des Verbreitungsgebiets der Reproduktionen. Die genannten Holzschnitte sind nach Süddeutschland zu lokalisieren. Neben diesen gibt es mehrere Gemälde seit den 1420er Jahren, die im bayerisch-österreichischen Raum mit Ausläufern in Böhmen und Tirol entstanden sind und denselben Typus wiedergeben, oft mit einem ähnlichen Verweis auf Mailand versehen wie die Graphiken.65 Die Lombardei selbst ist dagegen frei von Rezeptionsspuren des angeblichen Gnadenbildes.66 Auch ganz unabhängig von der kaum mehr definitiv zu klärenden Frage, ob es in Mailand tatsächlich ein solches gegeben hatte, ist offensichtlich, daß es jedenfalls vor Ort als verehrtes Gnadenbild keine Rolle gespielt haben kann. Nördlich der Alpen war es 63 Als Tatsache formuliert etwa bei HANS PETER HILGER: Alpenländische Galerie Kempten. Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums, München. Katalog, München 1991, S. 26. Eine Zusammenstellung der Hinweise auf den Mailänder Ursprung bei GRAUS: Maria im Ährenkleid (wie Anm. 60), W ALZER: Noch einmal zur Darstellung der Maria im Ährenkleid (wie Anm. 59) und MARKUS HÖRSCH: Die Bamberger „Judenkapelle“ und ihre Ährenkleidbilder, in: Beiträge zur fränkischen Kunstgeschichte 3 (1998), S. 83–107, hier S. 104f. Anm. 87, eine kurze Zusammenstellung der Quellen für ein angebliches Mailänder Ährenkleidbild, S. 99–101 eine Bibliographie zum Thema der Ährenkleidbilder. Quellenmäßig belegt ist nur, daß deutsche Kaufleute eine Marienfigur gestiftet hatten; Nachweise einer kultischen Verehrung gibt es keine. Die Identifizierung mit dem angeblichen Gnadenbild ist eine Interpretation, die sich allein auf die Beglaubigung durch die als „Kopien“ deklarierten Bilder stützt. 64 STEPHAN B EISSEL: Wallfahrten zu Unserer Lieben Frau in Legende und Geschichte, Freiburg i.Br. 1913, S. 141–146 stützt sich bei seinen Ausführungen über die angebliche Wallfahrt zu dem Mailänder Gnadenbild bezeichnenderweise fast ausschließlich auf die Bilder der Ährenkleidmadonna, die alle nördlich der Alpen entstanden sind, nicht auf lokale historische Quellen. 65 Zusammengestellt bei GRAUS: Maria im Ährenkleid (wie Anm. 60), HÖRSCH: Bamberger „Judenkapelle“ (wie Anm. 63) und MARTINA P IPPAL: Die „Maria im Ährenkleid“ der Stiftsgalerie Schlägl, in: Schlägl intern. Mitteilungsblatt des Stiftes Schlägl an seine Mitglieder und Freunde 9 (1983), Nr. 1, S. 37–49. 66 Ein von den Deutschen in Mailand verehrtes Marienbild wird zwar in den Akten Dombauverwaltung seit 1464 genannt, vgl. GRAUS: Maria im Ährenkleid (wie Anm. 60), S. 65, HÖRSCH: Bamberger „Judenkapelle“ (wie Anm. 63), S. 105 Anm. 87; dass diese ein älteres, zerstörtes Kultbild der Ährenkleidmaria wiedergegeben hätte, ist ein weiteres Produkt von Überinterpretation. Für eine Wallfahrt gibt es keinen einzigen Beleg. Zu prüfen wäre, ob das 1464 bei dem Maler Cristoforo de Motis in Auftrag gegebene Gemälde einer Madonna für die deutschen Kaufleute nicht vielmehr eine Rückwirkung der süddeutschen „Reproduktionen“ ist als eines angeblich verlorenen lokalen „Originals“.

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jedoch in Form von Reproduktionen – präziser ausgedrückt: Holzschnitten und Gemälden, die sich explizit selbst zu Reproduktionen erklären – von großer Bedeutung. Wir haben es hier also mit einem Gnadenbild zu tun, das allein in der Reproduktion präsent ist, während das „Original“ irrelevant gewesen zu sein scheint.67 Die Reproduktionen reproduzierten sich folglich gegenseitig, da eine formale Überprüfung an einem real existierenden „Original“ weder möglich noch nötig war. Ganz offensichtlich kam es dabei zu Missverständnissen, die zeigen, wie unsicher schon allein die Kenntnis des eigentlichen Gnadenortes war: Die Inschrift auf dem Gemälde in Salzburg sagt von der verehrten Marienfigur, sie befände sich „in lampartum in der stat Olana vnd in stat zu Mailant“.68 Das Gnadenbild wird hier auf zwei Städte verteilt. Ein Ort namens „Olana“ ist allerdings auf der Landkarte der Lombardei nirgends zu finden. Das etwas ältere Gemälde in Schlägl (um 1430)69 gibt vielleicht einen Hinweis auf die Entstehung des fiktiven Ortsnamens, den man allenfalls von dem durch Mailand fließenden Gewässer Olona ableiten könnte: Die Schreibweise ist hier „Osanna“, was als die in der Vulgata gebräuchliche latinisierte Form des Bitt- und Freudenrufes Hosianna den Verdacht einer korrumpierten Überlieferung nahelegt. Ein Gnadenort, dessen Name auf einem Missverständnis beruht, ist aber als tatsächlicher Standort eines verehrten Kultbildes mehr als suspekt. Das auf den Gemälden und Holzschnitten wiedergegebene Bild kann als ein gleichsam virtuelles Original verstanden werden, das nur in der als Reproduktion lebendig war. Über die rein mediale Existenz eines Inhalts, dessen Ursprung und Beglaubigung uninteressant geworden ist, ließe sich mit Mar-shall McLuhan ebenso trefflich spekulieren wie mit Jean Baudrillard oder Friedrich Kittler, ohne dass solche medientheoretischen Konzepte in Hinblick auf den historischen Sachverhalt weiterführen würden.70 Es 67 Vorsichtige Zweifel an einem tatsächlichen Bezug der Ährenkleidmarien zu einem in Mailand existenten Gnadenbild wagte nur W ALZER: Noch einmal zur Darstellung der Maria im Ährenkleid (wie Anm. 59), S. 88 zu äußern; THOMAS: Art. Ährenkleidmaria (wie Anm. 59), Sp. 83, versucht die Unstimmigkeiten mit der argumentativen Kapriole zu klären, das Bildmotiv wäre eine süddeutsche Erfindung gewesen, die es nach Mailand verschlagen hatte, von wo sie als Gnadenbildkopie wieder nach Deutschland zurückkam. 68 Salzburg, Museum Carolino Augusteum, um 1430–1440, abgebildet bei GRAUS: Maria im Ährenkleid (wie Anm. 60), S. 67, der Text dort S. 60 wiedergegeben. 69 Schlägl (Mühlviertel), Stiftsgalerie. Abgebildet u.a. bei PIPPAL: Die „Maria im Ährenkleid“ der Stiftsgalerie Schlägl (wie Anm. 65), S. 37. 70 Vgl. etwa zur Diskussion von Jean Baudrillards Simulationstheorie, nach der die von medialen Bildern behauptete Wirklichkeit wirklichkeitsmächtiger geworden sei als die Wirklichkeit selbst, in Hinblick auf historische Bildkonzepte CHRISTIANE KRUSE: Zur Medienfrage der Kunst am Beispiel eines ‚alten‘ Mediums: Plädoyer für eine integrative Kunstwissenschaft als Bildwissenschaft, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen der interdisziplinären Bild-

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ist jedenfalls kein Zufall, dass das neue Vervielfältigungsmedium des Holzschnitts eine zentrale Rolle bei der Verbreitung des angeblichen Mailänder Ährenkleid-Bildes spielte. Die Multiplikation eines Bildes war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ein probates Mittel, ihm Autorität zu verschaffen.71 Der Erfolg dieser Gruppe von Graphiken zeigt, dass die Frage des tatsächlichen Treueverhältnisses zwischen Urbild und Abbild von den Rezipienten unter diesen Umständen als unerheblich empfunden wurde, sofern die Bilder zusammen mit den begleitenden Texten das leisteten, was im jüngsten Diskurs um den Begriff der Medialität in der Vormoderne als zentraler Aspekt herausgearbeitet worden ist: das Herstellen von Präsenz.72 Die Vergegenwärtigung der potentiellen Heilswirksamkeit eines fernen Bildes ist das Ziel der Prätention, es getreu wiederzugeben. Präsenz und Glaubwürdigkeit waren jedoch nicht immer und nicht ganz voneinander abzukoppeln. Das bringt uns zurück zu der Frage, wo und wann ein Konzept von „wahrer Abbildung“ im Medium des Bilddrucks zuerst explizit thematisiert wird. Klar ist, dass es seit Anbeginn christlicher Bildpraxis beide Möglichkeiten gibt: Das Prinzip der Heilsübertragung eines verehrten Kultbildes ohne äußerlich präzise Form-Reproduktion auf der einen Seite, auf der anderen Seite formal durchaus genaue Kopien verehrter Ikonen. Was das vervielfältigte Bild betrifft, lässt sich der Augenblick genau benennen, in dem ein Druckerzeugnis für sich explizit in Anspruch nimmt, über die genaue Gestalt des Vorbildes getreu Auskunft zu geben. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde verstärkt am Konzept der „Wahrheit“ des vervielfältigten Abbildes gearbeitet. Ein zentrales Zeugnis für diesen Prozess ist ein Kupferstich, der explizit für sich in Anspruch nimmt, die Gestalt des Vorbildes genau wiederzugeben. In den 1490er Jahren bringt der Stecher Israhel van Meckenem eine Reproduktion der Mosaikikone der römischen Kirche S. Croce in Gerusalemme heraus

wissenschaft, Köln 2006, S. 70–84, dort S. 76. Zu den Konsequenzen von Friedrich Kittlers These, daß Medien nicht einfach übertragen, sondern das Übertragene selbst hervorbringen, für die Kulturwissenschaften vgl. etwa SYBILLE KRÄMER und HORST BREDEKAMP: Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die Diskursivierung der Kultur, in: dies. (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 11–22, dort S. 14. 71 Siehe zu diesem Aspekt GABRIELE W IMBÖCK: Die Autorität des Bildes – Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit, in: FRANK B ÜTTNER und dies. (Hg.): Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004 (= Pluralisierung und Autorität, hg. vom Sonderforschungsbereich 573 der LMU München 4), S. 9–41, dort S. 29–33. 72 Vgl. zur Diskussion um Medialität und Präsenz CHRISTIAN K IENING: Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen – Semantiken – Effekte, in: ders. (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 1), S. 9–70, dort besonders S. 20–25, sowie die anderen Beiträge in diesem Band.

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(Abb. 10, 11).73 Die Ikone hatte sich zu einem verehrten Kultbild entwickelt, nachdem die Kartäuser von S. Croce sie erfolgreich mit der Legende verbunden hatten, Papst Gregor der Große hätte sie zur Erinnerung an seine berühmte Vision Christi als Schmerzensmann in Auftrag gegeben.74 Der Text der Nachbildung des Bocholter Kupferstechers ist signifikant für den Referenzcharakter. Am unteren Rand steht: „Hec ymago contrefacta est ad instar et similitudinem illius prime ymaginis pietatis custodite in ecclesia sancte crucis in vrbe romana […]“. Wenn man den verwendeten Begriffen, von denen gleich noch die Rede sein wird, keine Gewalt antun will, lässt sich das etwa folgendermaßen übersetzen: „Dieses Bild ist in gleicher Gestalt und Ebenbildlichkeit dem ersten Bildes des Schmerzensmannes nachgeschaffen, das in der Kirche zum Heiligen Kreuz in der Stadt Rom bewahrt wird“. Signifikant für den neuen Anspruch sind die Worte „ad instar et similitudinem“ sowie der Terminus „contrefacta“. Auf letzteren und sein weiteres Bezugsfeld hatte schon Peter Parshall die Aufmerksamkeit gerichtet;75 doch bedürfte er noch weiterer begriffsgeschichtlicher Forschungen, vor allem in Hinblick auf seine mittelalterliche Verwendung. Gründlich aufgearbeitet ist dieses Wortfeld erstaunlicherweise nicht, obwohl es in der deutschen Kunstliteratur spätestens seit der Dürerzeit eine wichtige Rolle spielt. Das Wort „contrafactus“ ist in der lateinischen Literatur des Mittelalters in dieser Bedeutung nicht präsent. Wenn „contrafacere“ benutzt wird, dann meist in völlig anderem Bezug – etwa im Sinne von „zuwiderhandeln“ oder „vergelten“.76 73

L. 167. Vgl. dazu LEHRS: Geschichte und kritischer Katalog (wie Anm. 8), Bd. 9, S. 176–178; FRITZ KORENY: Hollstein’s German Engravings, Etchings and Woodcuts 1400–1700, Bd. 24, Textband, Blaricum 1986, S. 75; HENK VAN OS: The Art of Devotion in the Late Middle Ages in Europe 1300–1500, Amsterdam 1994, S. 110–112. Eine kleinere Version vom selben Stecher ist L. 166. 74 CARLO B ERTELLI: The Image of Pity in S. Croce in Gerusalemme, in: Douglas Fraser, Howard Hibbard, Milton J. Lewine (Hg.): Essays in the History of Art Presented to Rudolf Wittkower, London 1967, S. 40–55; HANS BELTING: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, S. 65–68; DERS.: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 379–381; ESTHER MEIER: Ikonographische Probleme: Von der „Erscheinung Gregorii“ zur „Gregorsmesse“, in: Andreas Gormans und Thomas Lentes (Hg.): Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter, Berlin 2007 (= KultBild 3), S. 38–57, S. dort 41f.; HEIKE SCHLIE : Erscheinung und Bildvorstellung im spätmittelalterlichen Kulturtransfer: Die Rezeption der Imago Pietatis als Selbstoffenbarung Christi in Rom, in: ebda, S. 58–121, S. dort 63f. 75 PETER P ARSHALL: Imago contrafacta: Images and Facts in the Northern Renaissance, in: Art History 16 (1993), S. 554–579. 76 Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, red. von OTTO PRINZ, Bd. 2., München 1999, kennt nur diese Bedeutungen von „contrafacere“ (Sp. 1765f.); für „contrafactio, contrafactum“ auch die Bedeutung Gegenleistung (Sp. 1766).

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Abbildung 10: Israhel van Meckenem, Kupferstich nach der Ikone von S. Croce in Gerusalemme (Berlin, Kupferstichkabinett)

Abbildung 11: Mosaikikone (Rom, S. Croce in Gerusalemme)

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Vergleichweise selten erscheint es in der Bedeutung von „imitari“.77Häufig dagegen taucht es in der deutschen Literatur als Lehnwort aus dem Französischen auf, abgeleitet vom Partizip „contrefait“. Das französische Wort hatte sich erst allmählich von einer negativen Bedeutung im Sinne von „gefälscht“ oder „arglistig getäuscht“ oder „billig nachgemacht“ zu einem wertneutraleren Sinn entwickelt.78 Auch das deutsche Wort „kunterfeyt“ ist anfangs meist im gleichen negativen Sinne nachgewiesen.79 Noch der Dichter Hans Vintler († 1419) verwendet es als direktes Gegenteil von „wahr“.80 Erst im Lauf des 15. Jahrhunderts wird es häufiger so verwendet, wie es später etwa Albrecht Dürer in seinen Schriften tun sollte, nämlich im Sinne von „porträtiert“ oder „nach der Natur beobachtet“.81 Für den Wortgebrauch im Kontext der Reliquienverehrung ist die Heiltumstafel von 1494 in Andechs aufschlussreich, auf der das Wiedergeben der Reliquiare im Medium der Malerei als „abcontervayen“ bezeichnet ist.82 So wie es Israhel van Meckenem benutzt, scheint „contrefacta“ jedenfalls ein rück-latinisiertes deutsches Lehnwort aus dem Französischen zu sein. Seine Nennung auf dem Kupferstich geht der im 16. Jahrhundert aufkommenden Verwendung des Begriffs Contrafactur für eine musikalische Übertragungsform und eine literarische Parodie lange voraus.83

77 Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. 2, Paris 1842, S. 573. Dort auch ein Beleg für „contrafactus“ im Sinne von „fictus“. 78 HUGO SOULAHTI: Der französische Einfluss auf die deutsche Sprache im dreizehnten Jahrhundert, Bd. 1, Helsingfors 1929 (= Mémoires de la Société Néo-Philologique de Helsingfors 8), S. 138f. Ein frühes und kunstgeschichtlich bedeutsames Zeugnis für die positivere Bedeutung ist die Beischrift „contrefais al uif“ zur Zeichnung eines Löwen im Skizzenbuch des Villard de Honnecourt (fol. 24v), auch wenn deren Studium „nach dem Leben“ in Zweifel gezogen werden darf. Abb. in: Carnet de Villard de Honnecourt. D’apres le manuscript conservé à la Bibliothèque nationale de Paris (n° 19093), hg. von ALAIN ERLANDE-B RANDENBURG, Paris 1986, pl. 48. Die Notiz ist intensiv diskutiert worden, von ERNST H. GOMBRICH: Art and Illusion, London, 2. Auflage, 1962, S. 68, bis J AMES B UGSLAG: „contrefais al vif“: Nature, Ideas and Representation in the Lion Drawings of Villard de Honnecourt, in: Word & image 17 (2001), S. 360–378. 79 SOULAHTI: Der französische Einfluss (wie Anm. 78), S. 138f. 80 In seinen „pluemen der tugent“ heißt es: „wârheit reden âne lug und âne kunterfeit“, s. LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 22), Bd. 3, Sp. 690. Zur Bedeutung von „kunterfeyt“ als falsch oder nachgemacht, siehe ebda., Bd. 1, Leipzig 1872, Sp. 1782f. 81 Deutsches Fremdwörterbuch, hg. von HANS SCHULZ, OTTO B ASLER, ALAN K IRKNESS, Bd. 1, Straßburg 1913, S. 385. 82 Vgl. dazu GRIESE: Vervielfältigung und Verfestigung (wie Anm. 60), S. 316 Anm. 1. 83 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. etwa T HEODOR VERWEYEN und GUNTHER W ITTING: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat, Konstanz 1987 (= Konstanzer Bibliothek 6); KURT HENNIG: Die

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Es ist nicht auf den ersten Blick einsichtig, wieso Israhel van Meckenem ein solches nicht unmittelbar verständliches lateinisches Kunstwort verwendete.84 Am ehesten ist es damit zu erklären, dass der Verfasser der Textzeilen mehrere Begriffe der Wahrheitstreue akkumulieren wollte. Die Formel „ad instar et similitudinem“, in der sich schon zwei ähnliche Begriffe zur Bekräftigung präziser Abbildlichkeit gegenseitig stützen, ist sowohl in der theologischen Literatur als auch in der Urkundensprache geläufig.85 Das ungebräuchliche Partizip „contrefacta“ dagegen lässt darauf schließen, dass der Text möglicherweise deutsch konzipiert wurde – wobei man bei der Suche nach wahrheitsbekräftigenden Vokabeln auf „kunterfeyt“ kam – und dann ins Lateinische übertragen, wobei die Schwierigkeit der Übersetzung durch etymologischen Rückgriff gelöst wurde. Die wortreiche Betonung der Präzision der Nachbildung weist zwar zum einen auf eine besondere Qualität des Kupferstichs hin, hat aber zum anderen die Konsequenz, dass die Vermitteltheit des Bildes hervortritt. Das ist bei Gnadenbildkopien in anderen Medien keineswegs selbstverständlich. Als ein beliebiges Beispiel sei nur das etwa gleichzeitig entstandene Triptychon genannt, auf dem ein Graf von Oettingen die römische Marienikone von S. Maria del Popolo von einem Augsburger Maler kopieren ließ. Die Rahmeninschrift besagt: „DAS IST DIE WIRDIG PILTNVS DER ALLER SELIGSTEN IVNCKFRAWEN MARIE [...] ALS SANT LAUX DER EWANGELIST GEMALT HAT“.86

geistliche Kontrafaktur im Jahrhundert der Reformation. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Volks- und Kirchenliedes im 16. Jahrhundert, Halle 1909. 84 Martin Luther gibt mit „controfect“ einen interessanten Beleg dafür, dass die RückLatinisierung noch zu seiner Zeit als Neologismus empfunden wurde („man heiszts itzt con-trofect, wenn ein bilde eben und gleich gemacht ist dem, des bilde es ist“: Deutsches Wörterbuch, hg. von J ACOB und W ILHELM GRIMM, Bd. 2, Leipzig 1860, Sp. 636). 85 So baute etwa Moses nach dem Kommentar des Philipp von Harveng zum Hohenlied die Stiftshütte „ad instar et similitudinem“ des von ihm geschauten himmlischen Vorbilds (PL 203, 563C). In Verträgen wird die Formel zur Bezeichnung eines vom Handwerker oder Künstler nach einer bestimmten Vorlage auszuführenden Werks verwendet. So heißt es 1469 im Vertrag mit Francesco Laurana über eine Madonnenfigur, er solle sie „ad instar et similitudinem“ einer Madonna in der Kirche des Konvents von S. Maria Annunciata in Trapani ausführen (G IOACCHINO DI M ARZO: Delle belle arti in Sicilia, Bd. 3, Palermo 1862, S. 185). Zum Gebrauch von „ad instar“ sowie „ad similitudinem“ in Bezug auf mittelalterliche „Architekturkopien“ siehe W ERNER HAFTMANN: Rezension von Otto Lehmann-Brockhaus, Schriftquellen zur Kunstgeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts, Berlin 1938, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 8 (1939), S. 285–290. Zur Bedeutung der Formel im klassischen Latein siehe E DUARD W ÖLFFLIN: Art. Instar, ad instar, in: Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik 2 (1885), S. 581–597. 86 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum. Abb. in: Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter, Katalog der Ausstellung Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 2000. Nürnberg 2000, S. 221f.; GABRIELA S IGNORI: Das spätmit-

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Betont wird, dass dies das Bild des hl. Lukas „ist“, nicht „nachbildet“; das Referenzverhältnis wird nicht thematisiert. Israhel van Meckenem dagegen macht deutlich: Dies ist nachgemacht. Und signalisiert damit eine andere Stufe des medialen Bewusstseins.87 Schließlich ist der gemeinsame Nenner der Bedeutungen von „kunterfeyt“ zwischen „arglistig gefälscht“ oder „präzise beobachtet“ der von etwas Sekundärem oder Vermitteltem.88 Der Text unter dem Kupferstich expliziert ja sogar die Mehrstufigkeit der Vermittlung: Mit der Ikone versuchte Papst Gregor die Gestalt wiedergeben zu lassen, in der ihm Christus in seiner Vision erschienen war;89 das Abbild dieses Erinnerungsbildes ist dann der Stich. Im Unterschied zu den zahllosen Darstellung der Gregorsmesse bezieht sich der Kupferstich nicht direkt auf die legendäre Vision, sondern auf deren handfestes bildliches Dokument. In der Betonung dieser Unmittelbarkeit lag ein unschätzbarer Mehrwert: Die seit der Zeit um 1400 inflationär auftretenden Bilder der Gregorsmesse bedienten sich für die Darstellung Christi sehr verschiedener Typen des Schmerzensmannes. Dem aufmerksamen Betrachter dieser Zeit dürfte diese Variabilität nicht entgangen sein: Sie musste die Darstellungen als bildliche Fiktionen nach einem visionären Erlebnis erscheinen lassen. Gerechtfertigt war sie durch die Unbestimmtheit der Legendentexte in diesem Punkt. Wenn in der modernen kunsthistorischen Literatur die Ikone von S. Croce häufig als Voraussetzung für die Bildprägung der Gregorsmesse genannt wurde,90 so ist das nicht durch den Befund der Bildüberlieferung gedeckt. Diese nämlich zeigt, dass der Typus von S. Croce erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und dann zunächst nur sporadisch als Vorlage für die Darstellung der visionären Christuserscheinung diente.91 telalterliche Gnadenbild: Eine nachtridentinische invention of tradition?, in: David Ganz und Thomas Lentes (Hg.): Rahmen-Diskurse. Kultbilder im konfessionellen Zeitalter, Berlin 2004, S. 302–329, dort 303f. 87 Zur Frage, inwieweit sich Medialität erst durch den Anspruch der Vermittlung eines Wirklichen außerhalb des Informationsträgers definiert, vgl. K IENING: Mediale Gegenwärtigkeit (wie Anm. 72), dort S. 22. 88 Das betrifft auch noch den erst später auftauchenden Begriff der Kontrafaktur für musikalische und literarische Formen, worauf P ARSHALL: Imago contrafacta (wie Anm. 75), S. 573f., aufmerksam gemacht hat. 89 Der Kupferstich-Text sagt über die Ikone: „quam fecerat depingi sanctissimus Gregorius papa magnus post habitam ac sibi ostensam desuper visionem“. 90 Exemplarisch für das gängige Handbuchwissen zum Thema sei das Wörterbuch zur christlichen Kunst, hg. von HANNELORE SACHS, ERNST B ADSTÜBNER, HELGA NEUMANN, Leipzig / Berlin 1983, S. 157, angeführt: Dort heißt es zur Gregorsmesse: „Voraussetzung für entsprechende Bilder scheint eine doppelseitige Mosaikikone des 13. oder 14. Jahrhunderts in S. Croce gewesen zu sein“. 91 Ein Überblick bei ESTHER MEIER: Die Gregorsmesse. Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtypus, Köln / Weimar / Wien 2006; siehe auch die Datenbank: Gregors-

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Tatsächlich nämlich existierte das Bildthema der Gregorsmesse und die zugehörige Legende schon lange bevor man die im 14. Jahrhundert in S. Croce auftauchende Ikone damit zwingend in Verbindung brachte.92 Diese Beziehung effektiv propagiert zu haben, war das Werk der Kartäuser von S. Croce.93 Diese Kirche war seit langem ein Zentrum des Erinnerung an Jerusalem als Stätte des Leidens Christi gewesen, ausgestattet mit Passionsreliquien, deren Geschichte auf die Kaiserin Helena zurückgeführt wurde und damit auf die christliche Frühgeschichte Roms. Etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen des Kupferstichs der Ikone wurde eine weitere reliquiengeschichtliche Sensation inszeniert: 1492 kam bei Bauarbeiten am Triumphbogen von S. Croce wunderbarerweise der Titulus des Kreuzes Christi wieder zum Vorschein, den ebenfalls Helena aus dem Heiligen Land mitgebracht haben soll.94 Dieser Fund wurde bildpublizistisch schnell verbreitet. Mehrere xylographische Einblattdrucke geben die Gestalt der Reliquie im Bild und die Fundumstände im Text wieder. Auf dem Exemplar, das sich im Besitz Hartmann Schedels erhalten hat (Abb. 12), erklärt der xylographische Textblock, dass die Abbildung das Brett in der wahren Länge und Breite des Originals wiedergibt. 95 Heilige Längenmaße nachmeßbar wiederzugeben, ist eine alte Methode der Heilsvermittlung.96 Sie diente der Vergegenwärtigung, ohne der Weg über die Formwiedergabe zu gehen.

messe – eine bildwissenschaftliche Datenbank, http://gregorsmesse.uni-muenster.de (letzter Zugriff 31.1.2009). 92 Zur Verbreitung der Legende vgl. M EIER: Gregorsmesse (wie Anm. 91), S. 40–52, zum Überlieferung der Bilder ebda., passim. 93 BERTELLI: Image of Pity (wie Anm. 74), S. 49–51; BELTING: Das Bild und sein Publikum (wie Anm. 74), S. 66f. 94 Vgl. zur Reliquienauffindung und ihren kunsthistorischen Folgen bei MEREDITH G IL: Antoniazzo Romano and the Recovery of Jerusalem in Late Fifteenth-Century Rome, in: Storia dell’Arte 83 (1995), S. 28–47. 95 Vorgebunden dem Exemplar des Liber Chronicarum aus Hartmann Schedels persönlichem Besitz, München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 287. Nicht verzeichnet bei SCHREIBER: Handbuch (wie Anm. 7). Genannt in: Bayerische Staatsbibliothek Inkunabelkatalog, Bd. 5, Wiesbaden 2000, S. 83f.; abgebildet in: Die Graphiksammlung des Humanisten Hartmann Schedel, Katalog der Ausstellung München, Bayerische Staatsbibliothek, 1990, bearb. von BÉATRICE HERNAD, München 1990 (= Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge 52), S. 55 Abb. 25. 96 ADOLF J ACOBY: Heilige Längenmasse. Eine Untersuchung zur Geschichte der Amulette, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 19 (1929), S. 1–17, 181–216; LOUIS GOUGAUD: La prière dite de Charlemagne, in: Revue d’histoire ecclesiastique 20 (1924), S. 211–238, S. 223–227; THOMAS LENTES: Die Vermessung des Körpers Christi, in: CHRISTOPH GEISSMAR-BRANDI und ELEONORA LOUIS (Hg.): Glaube Hoffnung Liebe Tod, Wien 1995, S. 144–147.

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Abbildung 12: Abbildung und Nachricht vom Fund des Kreuzestitulus, Holzschnitt (München, Bayerische Staatsbibliothek)

Abbildung 13: Titulus des Kreuzes Christi (Rom, S. Croce in Gerusalemme)

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Auf diesem Holzschnitt aber wird sie mit einem Tatsachenbericht zuzüglich einer bildlichen Reproduktion mit Objektivitätsanspruch verbunden und gewinnt dadurch eine neue Qualität. Denn den weitesten Raum des Textes nimmt die Schilderung der Fundgeschichte ein. Damit gehört der Holzschnitt nicht nur zur Kategorie der ReliquienReproduktion, sondern steht gattungsmäßig auch in der Nähe dessen, was man später „Neue Zeitung“ nennen wird – also der Publi-kation denkwürdiger Nachrichten im Druck.97 Das Blatt gibt eine tatsächlich sehr präzise Abbildung des Bretts (Abb. 13), die zum einen die zur Sensationsmeldung gehörige Bildberichterstattung liefert, zum anderen aber auch der Heilsvermittlung im traditionellen Sinn dient. Der Text des Kupferstichs Israhels van Meckenem, in den 1490er Jahren entstanden, ist der erste bekannte schriftliche Beleg für die explizite Verknüpfung der Mosaikikone, die seit dieser Zeit zusammen mit dem Kreuzestitulus im gleichen Raum verehrt wurde, mit der legendarischen Schmerzensmann-Vision Gregors des Großen.98 Es wäre darüber nachzudenken, ob der Stich nicht so sehr ein Zeugnis der Verehrung der Ikone war als vielmehr ein Mittel, diese damals erst langsam einsetzende Verehrung bewusst zu fördern – die Vision nämlich fester an das konkrete Objekt zu binden und so die religiöse Attraktivität der Kirche S. Croce in Gerusalemme zu steigern; und ob er also in einem größeren Kontext der neuen Aktivitäten der 1490er Jahre um die Heiltümer dieser Kirche steht. Das muss vorerst freilich dahingestellt bleiben, sofern keine neuen Belege für einen konkreten Auftrag durch die Kartäuser südlich oder nördlich der Alpen an einen der damals berühmtesten Stecher vorliegen.99 Auf jeden Fall verdeutlicht der Kupferstich eine Qua97

Grundlegend zum Publikationstyp der „Neuen Zeitung“ immer noch K ARL SCHOTFlugblatt und Zeichnung: Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum, Bd. 1, Berlin, 1922, S. 152–190; MICHAEL SCHILLING: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700, Tübingen 1990, S. 91–103; SABINE GRIESE: Falsche Gulden, gefälschte Ablässe, unerwünschte Bischöfe. Einblattdrucke als publizistische Gattung im Spätmittelalter, in: Verhandlungen des historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 137 (1997), S. 49–67; FALK E ISERMANN: Mixing Pop and Politics: Origins, Transmission, and the Readers of Illustrated Broadsides in Fifteenth-Century Germany, in: Kristian Jensen (Hg.): Incunabula and Their Readers. Printing, Selling and Using Books in the Fifteenth Century, London 2003, S. 159–177, 266–271. 98 SCHLIE: Erscheinung und Bildvorstellung (wie Anm. 74), S. 63. 99 Die These Hechts, dass sich die Mosaikikone und die Legende quasi von selbst aneinander banden – „eine steuernde Instanz ist dabei nicht zu erkennen“ (zitiert nach CHRISTIAN HECHT: Von der Imago pietatis zur Gregorsmesse. Ikonographie der Eucharistie vom Hohen Mittelalter bis zur Epoche des Humanismus, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 36 (2005), S. 9–44, dort S. 32) – ist sicher zu autopoietisch gedacht; vgl. dagegen zur Arbeit der Kartäuser von S. Croce an der Propagierung ihrer Ikone und Heiltümer B ERTELLI: Image of Pity (wie Anm. 74), S. 49–51; BELTING: Das

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lität der frühen vervielfältigten Kultbildkopie, die einem Topos der jüngeren Literatur zur Druckgraphik des 15. Jahrhunderts diametral entgegensteht: Groß war die Verlockung, Walter Benjamins Begriff des Verlusts der Aura durch die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken auf die Anfänge des vervielfältigten Bildes zu übertragen.100 Das wird allerdings weder Benjamin gerecht, der die frühen Holzschnitte und Kupferstiche nur beiläufig in der Vorgeschichte des von ihm beschriebenen modernen Phänomens erwähnt und seiner These einen ganz anderen Kunstbegriff zugrundelegt,101 noch dem mediengeschichtlichen Befund. Denn der Stich Israhels van Meckenem ist eines der besten Beispiele dafür, wie sich durch die Vervielfältigung und Verbreitung eines Bildes Aura erst konstituiert.102 Es ist kaum Zufall, dass der Begriff „kunterfeyen“ zur Bezeichnung einer neuen Abbildqualität in diesen Jahren auch in anderem publizistischen Kontext auftaucht. Das Werk, in dem er 1485 programmatisch verwendet wurde, nannte William Ivins zu Recht einen „milestone in the history of scientific thought“:103 Es handelt sich um den „Gart der Gesundheit“ bzw. „Hortus sanitatis“, ein Pflanzenbuch, das der Mainzer Domherr und biBild und sein Publikum (wie Anm. 74), S. 66f. Den Rang Israhels van Meckenem in der zeitgenössischen Wertschätzung verdeutlicht J AKOB W IMFELING: der in seinem Werk: Epitoma rerum Germanicarum usque ad nostra tempora, Straßburg 1505 (= VD16 W 3382), fol. XXXIXv die hochgeschätzen „Icones Israheli Alemani“ noch vor den Werken Martin Schongauers und Albrecht Dürers erwähnt. 100 Etwa KÖRNER: Der früheste deutsche Einblattholzschnitt (wie Anm. 6), S. 77–83. Besonders schlicht und deutlich führt es etwa REBEL aus: „Das Gnadenbild wird gebrochen in seinem konkreten Status, Heilswirklichkeit ‚hier und jetzt‘ zu vergegenwärtigen; es wird ihm kultischer Gehalt abgezogen und auf die vielen Hunderte oder gar Tausende von Holzschnittblättern (‚Abzüge‘) übertragen. Ein Prozess ist damit eingeleitet, den W. Benjamin als ‚Verlust der Aura‘ apostrophiert hat“. Zitiert nach ERNST REBEL: Faksimile und Mimesis. Studien zur deutschen Reproduktionsgraphik des 18. Jahrhunderts, Mittenwald 1981 (= Studien und Materialien zur kunsthistorischen Technologie 2), S. 7. 101 Zu den wenigen Autoren, die betonen, dass sich auf dem Gebiet der frühen Druckgraphik mit Walter Benjamin nicht argumentieren lässt, gehört FRANK B ÜTTNER: Thesen zur Bedeutung der Druckgraphik in der italienischen Renaissance, in: Robert Stalla (Hg.): Druckgraphik. Form und Funktion, München /Berlin 2001, S. 9–15, dort S. 10. 102 Horst Bredekamp hat am Beispiel der Fotografie darauf hingewiesen, dass auch präzise Reproduktion die Aura keineswegs zwangsläufig mindert, sondern stärken kann: HORST BREDEKAMP: Bildmedien, in: Hans Belting u. a (Hg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung. Siebte, überarb. und erw. Aufl., Berlin 2008, S. 363–386, dort S. 368–370. 103 W ILLIAM M. IVINS: A Neglected Aspect of Early Printmaking, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin 7 (1948), S. 51–69, dort S. 55f. An der Richtigkeit ändern auch die kritischen Hinweise nichts, dass etwa die Hälfte der abgebildeten Pflanzen – vor allem die schwer zugänglichen – auf ältere Illustrationen zurückgehen, vgl. K LAUS N IEHR: als ich das selber erkundet und gesehen hab. Wahrnehmung und Darstellung des Fremden in Bernhard von Breydenbachs Peregrinationes in Terram Sanctam und anderen Pilgerberichten des ausgehenden Mittelalters, in: Gutenberg-Jahrbuch 76 (2001), S. 269– 300, dort S. 289.

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schöfliche Kämmerer Bernhard von Breydenbach initiiert und herausgegeben hatte.104 Der Prolog erläutert, dass die empirische Basis für viele der Darstellungen eine Reise ins Heilige Land war, auf die Breydenbach einen Zeichner mitgenommen hatte, um die Kräuter nach der Natur zu zeichnen.105 Dieser Zeichner und Maler, Erhard Reuwich, firmierte zwei Jahre nach dem „Gart der Gesundheit“ selbst als Verleger des gedruckten Reisebericht Bernhards von Breydenbachs über diese Fahrt ins Heilige Land.106 Die Illustrationen dieses Buchs gehören nicht nur in Hinblick auf die Technik des Holzschnitts zu den innovativsten Produkten ihrer Zeit. Die Landschafts- und Stadtveduten beruhen in neuartigem Maße auf exakter Beobachtung.107 Der Anspruch geht über einen Pilgerbericht weit hinaus; er schließt an das Kräuterbuch an zielt auf Wissensvermittlung. Der Prolog zeigt auch hier, welche Rolle dabei den Holzschnitten zugemessen wurde. Die genaue Wiedergabe, so heißt es dort, diene dazu, dass dieses Wissen „dester gemeyner wĤrde“.108 Es geht um Vervielfältigung und Verbreitung. 104

H 8948. Faksimile: Hortus Sanitatis, deutsch. Peter Schöffer, Mainz 1485. Mit einem Nachwort von W.L. Schreiber: Die Kräuterbücher des XV. und XVI. Jahrhunderts, München 1924; zu den Holzschnitten siehe REINMAR W ALTER FUCHS: Die Mainzer Frühdrucke mit Buchholzschnitten 1480–1500, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 2 (1958), S. 1–129, dort S. 81–95; H ORST KUNZE: Geschichte der Buchillustration in Deutschland. Das 15. Jahrhundert. Textband, Leipzig 1975, S. 319–332. 105 Siehe Prolog, ohne Seitenzählung (zweite Seite der Vorrede). Zur Entstehungsgeschichte siehe etwa den Überblick bei FUCHS: Mainzer Frühdrucke (wie Anm. 104), S. 31–71; CHRISTIANE H IPPLER: Die Reise nach Jerusalem. Untersuchungen zu den Quellen, zum Inhalt und zur literarischen Struktur der Pilgerberichte des Spätmittelalters, Frankfurt a. M. u. a., S. 147–161; MICHAEL HERKENHOFF: Die Darstellung außereuropäischer Welten im Druck deutscher Offizinen des 15. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 180– 204. 106 HC 3956, GW 5075. Die Illustrationen abgebildet bei ALBERT SCHRAMM: Der Bilderschmuck der Frühdrucke, Bd. 15, Stuttgart 1932, Abb. 1-24; K UNZE: Geschichte der Buchillustration (wie Anm. 104), Bildband, Taf. 253–274; aus der reichen Literatur zu dem Druck sei nur genannt FUCHS: Mainzer Frühdrucke (wie Anm. 104), S. 31–71; mit der neueren Literatur FREDERIKE T IMM: Der Palästina-Pilgerbericht des Bernhard von Breidenbach von 1486 und die Holzschnitte Erhard Reuwichs, Stuttgart 2006. 107 Die Einwände – etwa von N IEHR: Wahrnehmung und Darstellung (wie Anm. 103) oder T IMM: Palästina-Pilgerbericht (wie Anm. 106) – dass die Studien „nach dem Leben“ mehrfach mit tradiertem Wissen aus sekundäre Quellen vermengt sind, tun der Sache keinen Abbruch; wie N IEHR: Wahrnehmung und Darstellung (wie Anm. 103), S. 300, selbst resümiert, fordert nur das moderne Bedürfnis nach glasklaren Epochen kennzeichen eine klinisch reine und von Tradition unberührte Naturbeobachtung. Zu den schlecht begründeten Einwänden von Timm (wie Anm. 106) hat Falk Eisermann Stellung genommen: Mit Polemik und ‚Propaganda‘: Neues zu einem spätmittelalterlichen Palästina-Reisebericht. In: IASLonline [4. 11. 2009], URL:. 108 Bernhard von Breydenbach, Die heyligen reyssen gen Jherusalem, Mainz: Peter Schöffer für Erhard Reuwich 1486, fol. 10r.

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Mit dem Mimesis-Diskurs, der südlich der Alpen zu jener Zeit einsetzt, ist das nicht zu verwechseln. Es geht nicht um die nachahmende Fähigkeit der Kunst gegenüber der Natur und der sichtbaren Wirklichkeit, sondern funktional und medial begründet um die Vermittlung von „visual fact“, wie es Peter Parshall genannt hat.109 Wenige Jahre später operiert dann Israhel van Meckenem mit der „wahren Abbildung“, dem „contrefactum“ der Ikone von S. Croce. Dieses Phänomen lässt sich in seiner Bedeutung nicht relativieren unter Hinweis darauf, dass es Gnadenbildkopien in der einen oder anderen Form schon immer gegeben habe;110 das hieße den neuen medialen Status dieses Kupferstichs und seine spezielle Strategie der Autoritätsbegründung ignorieren. In den 1480er und 1490er Jahren ist in Hinblick auf das Bewusstsein des „wahrhaftigen“ Abbildens offenkundig etwas in Bewegung gekommen. Erst jetzt beanspruchen vervielfältigte Bilder in neuer Weise, verlässliche Informationen zu liefern – und zwar sowohl über profane Dinge wie auch über Gnadenbilder. In die gleiche Richtung geht das Phänomen, dass in diesen Jahren begonnen wird, den Holzschnitt zum visuellen Verkünden von Nachrichten einzusetzen, und zwar mit dem Anspruch strenger Faktizität. Das Beispiel der Drucke mit der Abbildung des Kreuzestitulus von S. Croce belegt, dass dieser Anspruch und die Funktion der Heilsvermittlung durch die „Wahrheit“ der Wiedergabe des Heiltums Hand in Hand gehen können. Neue Funktionen und traditionelle Argumentationsstrukturen schließen sich keineswegs aus. Das „contrefactum“, die „wahre Abbildung“ der Ikone von S. Croce auf dem Kupferstich Israhels van Meckenem stellt sich Ergebnis verschiedener miteinander verflochtener Prozesse dar, die aber die gleiche Richtung nahmen. Das Bemühen um Konkretisierung eines unscharfen Verhältnisses zwischen Visionslegende und zugehöriger Bildformel der „imago pietatis“, der Versuch der Kartäuser von S. Croce, dies in für sie nützliche Bahnen zu lenken, das neue Bewusstein für die Potenz des gedruckten Bildes in der Vermittlung von „visual fact“ (Parshall) wie auch in der Begründung von Autorität durch Vervielfältigung treffen hier zusammen. Das Konzept von wahrer Abbildung und Übermittlung einer wahren Nachricht als Aufgabe des Holzschnitts hatte sich zu diesem Zeitpunkt gerade etabliert. Chronologisch kommt man damit nicht vor die programmatischen Buchprojekte Bernhards von Breydenbach zurück. Die aber machen deutlich, dass es der Buchdruck und die damit verbundenen neuen Reflexionen des Zusammenwirkens von Bild und Text unter den Bedingungen der Verviel109

P ARSHALL: Imago contrafacta (wie Anm. 75), S. 555. Für einen Überblick über dieses Phänomen vgl. etwa: Retaining the Original. Multiple Originals, Copies, and Reproductions, hg. von KATHLEEN PRECIADO, Hanover / London 1989 (= Center for Advanced Studies in the Visual Arts Symposium Papers VII. = Studies in the History of Art 20). 110

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fältigung und Verbreitung waren, die auch dem außerhalb des Buchkontexts auftretenden gedruckten Bild entscheidende Impulse in Hinblick auf seine Rolle und seine Möglichkeiten gaben. Erst jüngst war in einer wissenschaftlich gemeinten Einführung über die frühen Holzschnitte zu lesen: „Man darf letztere daher als das erste Massenmedium bezeichnen“.111 Versucht man aber auf der Basis der nachweisbaren Gebrauchsfunktionen zu bleiben, enttäuschen sie diese mediengeschichtliche Erwartung vollständig.112 Das Problem ist dabei die Erwartung, nicht die Lückenhaftigkeit der Quellen. Die Frage, wieso das Medium des vervielfältigten Bildes, das spätestens um 1420 technisch voll ausgereift dasteht, so lange nicht für die Zwecke genutzt wurde, die wir aus moderner Sicht ganz selbstverständlich von einem visuellen Vervielfältigungsmedium erwarten würden – also Reproduktion, Nachrichtenverbreitung und auch Einsatz zu politischen Zwecken – ist von der falschen Richtung her gestellt. Tatsache ist, daß bis weit nach der Jahrhundertmitte im Medium des Holzschnitts fast ausschließlich religiöse Stoffe behandelt werden, unter Verwendung traditioneller Schemata, die innerhalb des Mediums immer wieder kopiert werden;113 erst zögerlich kommen dann wenige profane Themen auf; als Nachrichten- und Propagandamedium wird es aber erst in den konfessionellen Auseinandersetzungen des frühen 16. Jahrhunderts zielgerichtet genutzt. Die zitierte Äußerung über den Holzschnitt als Massenmedium ist nichts anderes als die unzulässige Verdichtung einer modernen Erwartung zum angeblichen historischen Faktum. Der Erwartung nämlich, jedes Vervielfältigungsmedium müsse zu jeder Zeit ein Massenmedium im neuzeitlichen Sinn sein und dementsprechend funktionieren. Diese Erwartung extrapoliert moderne Erfahrung auf das 15. Jahrhundert. An ihrer Basis rütteln aber auch die neueren Forschungen zu den ersten Jahrzehnten des Textdrucks mit beweglichen Lettern, speziell den textierten Einblattdrucken. Weder ist dort „Masse“ in der Produktion noch „Masse“ als Publikum nachzuweisen.114 Zu beobachten sind langsame Prozesse der Be111 ERNST REBEL: Die Entwicklung der grafischen Techniken im 15. Jahrhundert, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 3 (1999), S. 45–58, dort S. 48 112 Vgl. zur Diskrepanz zwischen der These vom Massenmedium und dem empirischen Befund SCHMIDT: Das vielfältige Bild (wie Anm. 1). 113 Zu den Ketten von Kopien innerhalb des druckgraphischen Mediums s. exemplarisch SCHMIDT: Das vielfältige Bild (wie Anm. 1), S. 45f., 105–118. 114 FALK E ISERMANN: Bevor die Blätter fliegen lernten. Buchdruck, politische Kommunikation und die ,Medienrevolution‘ des 15. Jahrhunderts, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.): Medien der Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2003 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), S. 289–320. Im gleichen Sinne siehe F RIEDER SCHANZE: Der Buchdruck eine Medienrevolution?, in: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea 16), S. 287–

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wusstwerdung der Möglichkeiten des neuen Bildmediums – parallel zu langsamen Prozessen der Veränderung von Bedürfnissen. So wie die sogenannte Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern mehrere Jahrzehnte lang die anhaltende Produktion und Beliebtheit von Handschriften nicht ernsthaft tangieren konnte, hielten sich auch traditionelle Bildfunktionen zäh, ebenso die Verbindungen zwischen Bildformen und -medien. Das Beispiel des Devotionaliengeschäfts von Einsiedeln hat gezeigt, dass lange kein Interesse an „wahren Abbildungen“ des Gnadenbildes im Medium des gedruckten Papierbildes sichtbar ist. Längerfristig sollte sich freilich der Buchdruck mit beweglichen Lettern ebenso durchsetzen wie die gedruckte Gnadenbildreproduktion zum Markterfolg wurde. Eine Medienevolution, keine -revolution. Ein Forschungsdesiderat besteht deshalb immer noch darin, die Prozesse, im Laufe derer sich die bildlichen Vervielfältigungsmedien ihrer Möglichkeiten bewusst werden und sich auf der Rezipientenseite die Vorstellungen von der Autorität und „Wahrhaftigkeit“ der Bildmedien wandeln, genauer zu fassen. Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass dies auch zentrale Fragen betrifft wie die, was ein Reproduktionsmedium überhaupt reproduzieren soll. Die „wahre Abbildung“ wird erst im späten 15. Jahrhundert zu einer explizit formulierten Aufgabe.115 In diesem Begriff ist in diesem Zusammenhang vordergründig kein Verständnis von Wahrheit im philosophischen Sinn enthalten, sondern zunächst die Bedeutung einer getreuen oder verlässlichen Nachbildung.116 Gleichzeitig erinnern die changierenden Abbildqualitäten, die im Umfeld der Engelweih311; HANS J ÖRG KÜNAST: Die Augsburger Frühdrucker und ihre Textauswahl. Oder: Machten die Drucker die Schreiber arbeitslos?, in: Johannes Janota und Werner Williams-Krapp (Hg.): Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, Tübingen 1995 (= Studia Augustana 7), S. 47–57. Zu Recht beginnt der Band von North über Kommunikationsrevolutionen nicht im Jahrhundert der „Erfindung“ des Bild- und Buchdrucks: MICHAEL NORTH: Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien 1995. 115 Begriffsgeschichtlich besser untersucht ist der durch Formeln wie „warhaffte Bildnis“ auf Begleittexten ausgedrückte Wahrheitsanspruch von Porträts, siehe KLAUS N IEHR: Verae imagines – Über eine Abbildqualität in der frühen Neuzeit, in: Büttner und Wimböck (Hg.): Das Bild als Autorität (wie Anm. 71), S. 261–302. 116 Zur Wortbedeutung im späten Mittelalter siehe LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 22), Bd. 3, Sp. 690f.; ALFRED GÖTZE: Frühneuhochdeutsches Glossar, 7. Aufl., Berlin 1967, S. 223. Zur Entwicklung des philosophischen Verständnisses vgl. den Überblick im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hg. von J OACHIM RITTER u.a., Bd. 12, Darmstadt 2004, Sp. 47–170; dort allerdings ohne Hinweise auf die Bedeutungsgeschichte des deutschen Wortes „wârheit, Wahrheit“ etc. Eine Übersicht über Wahrheitskonzepte bei ARNO HOVEN: Wege zur Wahrheit. Eine typologische Studie über Wahrheitstheorien, Frankfurt am Main u.a. 1989 (= Studia philosophica et historica 13).

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Wallfahrt von Einsiedeln sichtbar werden, an die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Objektivität, die Lorraine Daston für die wissenschaftliche Illustration herausgearbeitet hat.117 Bei der Kultbildreproduktion sind diese beiden Kategorien zwangsläufig nicht immer klar zu trennen. Die mediale Vermittlung des Heils stand aber auch nach dem Aufkommen der bildlichen Reproduktionsmedien im 15. Jahrhundert in einem veränderlichen Verhältnis zum Objektivitätsanspruch der „wahren Abbildung“. Das Medium der wenig elaborierten Weichmetallreliefs konnte durchaus mehr Autorität transportieren als der raffinierte Kupferstich. Das Material und die Geschichte des Mediums konnte schwerer wiegen als die Autorität der genauen Form.118 Und präzise ausgearbeitete Graphiken konnten sich gleichzeitig ohne Probleme eines nur scheinwahrhaftigen Modus der Bildwiedergabe bedienen. Der Umgang mit vormodernen Kultbildern bringt, so hat es Martin Büchsel provokativ formuliert, für moderne Interpreten offenbar häufig die Gefahr der „Bildhypnose“ mit sich.119 Sie verlieren unter dem Druck der Erwartung, die sie selbst an die Wirkung des interpretierten Gegenstands stellen, den klaren Blick auf die historischen Befunde. Ähnlich verhielt es sich mit der Forschungsgeschichte des Verhältnisses von Kultbildern und den Anfängen des druckgraphischen Reproduktionsmediums. Die Vorstellung von der massenmedialen Heilsvermittlung durch das gedruckte Bild erweist sich vor allem als Ergebnis der Rückprojektion frühneuzeitlicher Beobachtungen zur Gnadenbildreproduktion auf die zugegebenermaßen schwer greifbaren Anfänge des Mediums. Man könnte meinen, dass hier ironischerweise die „invention of tradition“ der Gegenreformation, die nicht nur manch vergessene mittelalterliche Skulptur wieder hervorgeholt und zum Kultbild aufgebaut, sondern auch für den tatsächlich entscheidenden Schub der Produktion von Wallfahrtsbildern auf Papier gesorgt hatte, späte und unabsichtliche Wirkung in der kunsthistorischen Literatur gefunden hatte.120 Eine Bildgeschichte als Mediengeschichte, die nicht nur Ahnenforschung für moderne Phänomene sein möchte, erfordert aber auch hier die Bereitschaft, die Unebenheit und Nichtlinearität von historischen Prozessen auszuhalten. 117

LORRAINE DASTON: Bilder der Wahrheit, Bilder der Objektivität, in: Jörg Huber (Hg.): Einbildungen, Zürich / New York 2005 (= Interventionen 14), S. 117–153. 118 Vgl. zu diesem methodischen Komplex im weiteren Sinne: W ULF OESTERREICHER, GERHARD REGN, W INFRIED SCHULZE (Hg.): Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, (= Pluralisierung und Autorität, hg. vom Sonderforschungsbereich 573 der LMU München 1), Münster u. a. 2003. 119 MARTIN B ÜCHSEL: Die Entstehung des Christusporträts. Bildarchäologie statt Bildhypnose, Mainz 2003. 120 Vgl. zur Konstruktion des katholischen „Gnadenbildes“ im Zeitalter der Konfessionalisierung SIGNORI: Das spätmittelalterliche Gnadenbild (wie Anm. 86).

Der fromme Fürst Medialität des Heils und landesherrliche Selbstrepräsentation GURY SCHNEIDER-LUDORFF

Die Reformation rief viele Akteure auf den Plan. So auch Landesherren wie Landgraf Philipp von Hessen (1504–1567), Kurfürst Johann Friedrich I. (1503–1554) oder Herzog Ottheinrich von der Pfalz (1502–1559). Ihrem Selbstverständnis nach waren sie für das Seelenheil der Untertanen und das Landeswohl verantwortlich: Sie lasen die Bibel und die Schriften der Reformatoren, mischten sich selbstbewusst in die theologischen Debatten ein und nahmen entscheidenden Einfluss auf die religiösen Veränderungen ebenso wie auf die politischen und gesellschaftlichen Konstellationen. Ihre Überzeugung, mit der Einführung reformatorischer Veränderungen in ihrem Territorium fromme Fürsten und Förderer der neuen Lehre zu sein, setzten sie dann auch medial um. Dem Selbstverständnis entsprechend war es ihr Anliegen, sich sichtbar als Teilhaber an der Geschichte des Heils zu präsentieren. Damit wirkten sie auf je unterschiedliche Weise auf das sich entwickelnde reformatorische Bildprogramm ein und trugen zur Ausprägung neuer symbolischer Normbildungen sowie zum Entstehen neuer Bewusstseinslagen und Öffentlichkeitskulturen bei. Der Beitrag geht exemplarisch vor und greift zu jedem der Fürsten einen zentralen Aspekt heraus, an dem sich die Verbindung von Medialität des Heils und Selbstrepräsentation aufzeigen lässt.

1. Der Erbe der Heiligen. Philipp von Hessen und die landesherrliche Armenfürsorge Im Jahr 1518 hatte Kaiser Maximilian den dreizehnjährigen Philipp von Hessen für mündig und regierungsfähig erklärt. Als einer der ersten Fürsten, die die Reformation in ihren Territorien einführten, agierte er zunächst völlig in der Kontinuität eines spätmittelalterlichen Landesherren, wenn er sich in seinem Selbstverständnis als christliche Obrigkeit für das geistliche Wohl seiner Untertanen vor Gott verantwortlich erachtete. Im Blick auf die

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neue reformatorische Lehre sah er sich jedoch zunehmend zur eigenen theologischen Meinungsbildung und zur theologischen Reflexion und Legitimation seines fürstlichen Handelns herausgefordert.1 Luthers deutsche Bibelübersetzung sowie dessen Schriften gestatteten ihm schon Mitte der 20er Jahre des 16. Jh. ein intensives Selbststudium und die Bildung eines eigenständigen theologischen Urteils. Dieses orientierte sich an der Schrift, die er als maßgebend und grundlegend für sich entdeckte. In der Tat ist es frappierend, mit welcher Stetigkeit, Vehemenz und Konsequenz er auf jenem Kriterium reformatorischer Erkenntnis, nämlich dem Schriftprinzip beharrte, das er für sich als Hauptkriterium gewählt hatte. Seine biblischen Erkenntnisse verteidigte er auch gegen theologische Autoritäten wie Martin Luther oder Philipp Melanchthon oder bezichtigte jene aufgrund seiner eigenen biblischen Studien der Inkonsequenz. Damit orientierte er sich faktisch an jenem Grundsatz, der für die Frühphase der Reformation maßgeblich geworden und 1519 nach der Leipziger Disputation erstmals von Philipp Melanchthon ausformuliert worden war: Am 9. September 1519 hatte dieser in seinen Baccalaureatsthesen die Heilige Schrift zur alleinigen Norm und damit das humanistische Schriftprinzip für die Reformation für verbindlich erklärt. Zwar war das sola-scriptura-Prinzip Mitte der 1520er Jahre bereits als zentral etabliert, doch ist festzustellen, dass es bei Luther selbst stets sekundär neben der Rechtfertigungslehre stand, dieser also schon früh ein Interpretationskriterium für die Schriftgemäßheit von Glaubensaussagen bestimmt hatte. Dies lässt sich bei Philipp von Hessen nicht feststellen. Bis weit in die 40er Jahre hinein bewahrte er jenes der Frühphase der Reformation entstandene Prinzip und auch danach blieb es Zielpunkt seiner Position im Glaubensstreit. So war die Schrift jenes Kriterium, das für ihn maßgeblich für das reformatorische Selbstverständnis und die theologische Auseinandersetzung wurde. Aber nicht nur das, die Orientierung an der Schrift wurde Basis für die reformatorische Umgestaltung seines Territoriums und Maßstab für die anstehenden Reformen, die er in den Rahmen der Heilsgeschichte einzuordnen und medial zu positionieren suchte. Diese Verschränkung von fürstlicher Selbstrepräsentation und Medialität des Heils lässt sich an folgendem Beispiel zeigen: der Gründung jener zentralen Institution der territorialen Reformpolitik, mit der Philipp von Hessen seinem Reformationsprogramm – nach Klosterauflösung und Gemeindevisitationen, nach der Gründung von Universität und Pädagogium in Marburg, der Stipendieneinrichtung und der Einführung des „Gemeinen

1 Vgl. dazu und zum Folgenden GURY SCHNEIDER-LUDORFF: Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim, Leipzig 2006 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 20).

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Kastens“ – mit der Stiftung der vier Landeshospitäler Haina und Merxhausen, Gronau und Hofheim ein weiteres Element hinzufügte. Auch wenn er sie aus den umgewidmeten Gütern reicher Klöster finanzierte und dabei noch einen Teil abzweigte, um die landesherrliche Schatulle zu füllen und die Kriegsschulden zu begleichen, war dies ein Novum, da es eine kostenlose Armen- und Krankenversorgung für die Landbevölkerung darstellte2. Es handelte sich hier um eine landesherrliche Stiftung nach der neuen Lehre: So nannte die Stiftungsurkunde als Zweck, dass die Stiftung Gott zu Ehre und dem Nächsten zum Nutz vorgenommen worden sei. Zugleich war diese Stiftung auf Ewigkeit ausgerichtet und diente dem nicht unumstrittenen Landesherrn zum Ruhm, da er als protestantischer Landesfürst die neue Lehre im Rahmen des Gemeinen Nutzen umgesetzt hatte3. Nicht zuletzt spiegelt die landesherrliche Stiftung ein neues Selbstbewusstsein des evangelischen Landesherrn wider. Der Landgraf dokumentierte durch seine Stiftung, dass er die Verantwortung für seine Untertanen in einer vorbildlichen Weise und über seinen Tod hinaus übernommen hatte. Damit postulierte er den Anspruch, zugleich zum genuinen Erben seiner Ahnfrau, der Heiligen Elisabeth geworden zu sein. Und hier konnte sich der Landgraf auch der Zustimmung Martin Luthers sicher sein. Dieser hatte in seiner Schrift „Der 82. Psalm ausgelegt“ von 1530 das soziale Handeln der heiligen Elisabeth gerade den Fürsten als vorbildlich vorgestellt: „Aber wenn ein fürst odder fürstin ein mal ynn ein spital gienge und dienete da den armen und wüssche yhn die füsse etc., wie man von S. Elisabeth lieset und wie noch ynn welschen landen etliche grosse leute thun, o das were ein trefflich ding, das gleisset und kann augen auff sperren und sich rhümen lassen uber alle tugent.“4

Auch wenn Philipp nicht daran dachte, selbst in dieser Weise tätig zu werden, war er doch bereit, die implizite Vorbildfunktion zu übernehmen. Zudem bot sich hier ein hervorragendes Legitimationsmodell für seine bislang kritisch beäugten Reformmaßnahmen, die intensiver Überzeugungsund Legitimationsmaßnahmen theologischer und juristischer Art bedurften.5 Dies nicht zuletzt, weil sich der Landesfürst weiterhin dem Vorwurf 2

Vgl. dazu ebd. S. 99–125. Zur Diskussion um den Gemeinen Nutzen in der Reformationszeit vgl. MOHAMMED RASSEM: Art. Wohlfahrt, Wohltat, Wohltätigkeit, Caritas, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhard Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VII, Stuttgart 1992, S. 595–636. Zur hessischen Programmschrift zum Gemeinen Nutzen vgl. J OHANNES FERRARIUS: Von dem Gemeinen nutze/in massen isch ein ieder/er sey Regent / ader unterdan/darin schicken sal / den eygen nutz hindan setzen/und der Gemeyn wolfahrt suchen, Marburg 1533. 4 WA 31 / I , S. 201,5–9. 5 Zur juristischen Diskussion und Auseinandersetzung über die Verwendung des Klosterbesitzes auf den Reichstagen und vor dem Reichskammergericht vgl. DIEDRICH 3

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ausgesetzt sah, die Klostergüter zur Schuldentilgung und eigenen Bereicherung – also zum eigenen Nutzen – zu verwenden.6 Für ein Territorium, das sich der Reformation angeschlossen hatte und mit dem Anspruch auftrat, ein christliches Gemeinwesen neu zu gestalten, war eine theologische Legitimation unabdingbar. Dies geschah auf medialer Ebene: Zum einen durch die Schrift des Juristen Johannes Ferrarius, der in diesem Rahmen ein theologisches Programm des Gemeinen Nutzens entwarf.7 Zum anderen durch ein Bildprogramm, das den Fürsten samt seiner Reformen in ein Beziehungsgefüge mit einer Heiligen setzte und somit in die Geschichte der Heiligen und in die Heilsgeschichte insgesamt einordnete: dem Hainaer Philippsstein von 1542 (Abb. 1).8 In verdichteter Form stellt der Philippsstein seine Theologie an vier Gestalten dar: einem Fabelwesen, der Harpyie, als Identifikation des Mönchtums, ihr gegenüber die Heilige Elisabeth, die einen vor ihr sitzenden Armen mit einem Huhn und Wasser versorgt. Auf der anderen Seite, den Dreien gegenübergestellt: Landgraf Philipp samt seinem überdimensionierten Familienwappen. Weiterhin finden sich diverse Spruchtafeln. Der Stein

KRATSCH: Justiz – Religion – Politik. Das Reichskammergericht und die Klosterprozesse im ausgehenden 16. Jahrhundert, Tübingen 1990; W OLFGANG FRIEDRICH: Vom Kloster zum Hospital – Rechtsgrundlagen kirchlicher Stiftungen in Hessen vor und nach der Reformation, in: Arnd Friedrich / Fritz Heinrich / Christina Vanja (Hg.): Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte, Petersberg 2004, S. 63–78. 6 Vgl. dazu die unter dem Namen des FERRARIUS erschienene Legitimationsschrift „Was der Durchleuchtig hoch geporn Fürst vnnd Herr/Herr Philips Landtgraffe zu Hessen / Graffe zu Katzen-Elnbogen / zu Dietz / zu zigenheyn vnd zu Nidda / als eyn Christlicher Fürst mit den Closterpersonen / Pfarrherrn / vnd Abgöttischen Bildnussen in seyner gnaden Fürstenthumbe auß Göttlicher geschrifft fürgenommen hat“, die mehrfach den Hinweis gibt, dass der Landgraf sich den Vorwurf gefallen lassen musste, die Reformmaßnahmen würden zu seinem eigenen Nutzen durchgeführt. Am Beispiel Hainas lässt sich zugleich zeigen, dass dies in der Tat der Fall war. So war nur etwa ein Fünftel des ehemaligen Zisterzienservermögens zur Versorgung des Hospitals vorgesehen; der Großteil floss in die landgräfliche Schatulle, vgl. dazu ECKHARD G. FRANZ: Landgraf und Kloster. Die Zisterzienserabtei Haina vor und während der Reformation, in: Walter Heinemeyer / Tilman Pünder (Hg.): 450 Jahre Psychiatrie in Hessen, Marburg 1983, S. 21– 34: hier S. 30. 7 Vgl. dazu und zum Folgenden: SCHNEIDER-LUDORFF: Der fürstliche Reformator (wie Anm. 1), S. 118–126. 8 Abbildungen von Gils ebd. S. 1. Auch in: Heinemeyer / Pünder (Hg.): Psychiatrie in Hessen (wie Anm. 6), S. 1. Zur Entstehung und den Deutungsmöglichkeiten des Bildprogramms des Philippsteins siehe auch KARL E. DEMANDT: Die Hohen Hospitäler Hessens. Anfänge und Aufbau der Landesfürsorge für die Geistesgestörten und Körperbehinderte Hessens (1528–1591), in: Heinemeyer / Pünder (Hg.): Psychiatrie in Hessen (wie Anm. 6), S. 57–62.

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Abbildung 1: 450 Jahre Psychiatrie in Hessen, hg. v. Walter Heinemeyer und Tilman Pünder, Marburg 1983, S. XII.

dokumentiert die scharfe reformatorische Mönchs- und Klerikerkritik, denn diejenigen, die im höchstem Maße gegen das Prinzip des Gemeinen Nutzens verstoßen, weil sie nur den Eigenen Nutzen leben, sind in der Figur der Harpyie dargestellt und werden mit dem Mönchtum identifiziert.9 Das Mönchtum sieht die reformatorische Kritik als obsolet an. Damit wird auch die Zuständigkeit der Klöster für die Armenfürsorge infrage gestellt. Denn mit dem Rechtfertigungsgedanken erhielt auch die Armenversorgung eine neue Fundierung. Sie war nun nicht mehr als gutes Werk vor Gott nötig, um das Seelenheil zu erlangen und gegebenenfalls die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen – oder einen Ablass für die begangenen Sünden zu erwirken; die Nächstenliebe sollte nun Frucht des Glaubens sein: Dank für die Gnade Gottes und seine Zuwendung zum sündigen und zugleich gerechtfertigten Menschen, Ausdruck des gläubigen Christen, der durch Gottes bedingungslose Anerkennung seiner selbst zur Nächstenliebe befähigt und verpflichtet ist.

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Vgl. dazu HANS-J ÜRGEN GOERTZ: Antiklerikalismus und Reformation, Göttingen 1995; HENRY J. COHN: Reformatorische Bewegung und Antiklerikalismus in Deutschland und England, in: Wolfgang J. Mommsen / Peter Alter / Robert W. Schribner (Hg.): Stadtbürgertum und Adel in der Reformation, Stuttgart 1979, S. 309–329.

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Die Kritik am Mönchtum implizierte weiterhin die Ablehnung der Heiligen als Fürsprecherinnen und Fürsprecher vor Gott, als Wunder vollbringende Gestalten, als Schutz der Gläubigen. Und hier ist auffällig, dass sich auf dem Stein überlebensgroß auch die Figur der Elisabeth befindet. Man fragt sich: Was hat eine Heilige – die deutsche Heilige seit dem 13. Jahrhundert – auf einer ehemaligen Altarplatte in einer explizit sich als reformatorisch verstehenden Hospitalskirche zu suchen?10 Die Heilige Elisabeth tritt hier in neuer Gestalt auf. Sie ist eingewoben in ein neues reformatorisches Konzept vom Gemeinen Nutzen im Sinne landesfürstlicher Armenfürsorge. Sie ist dem eigennützigen Gebaren der Mönche im Bildprogramm entgegengesetzt als Vorbild der aus dem christlichen Glauben heraus handelnden Dienerin der Armen. Damit ist und bleibt sie Inbegriff der tätigen Barmherzigkeit – aber nicht als Heilige, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut und damit als Vorbild für alle Christinnen und Christen, auch für den Landesfürsten. Zugleich stellt jedoch die Armenfürsorge der Elisabeth ein Modell dar, das für die Erfordernisse des Territoriums als überholt angesehen werden musste: Die von Einzelnen willkürlich und unsystematisch zugewandte Fürsorge konnte kein zukunftsträchtiges Konzept für den Umgang mit Bedürftigen im Territorium darstellen und musste somit den Gemeinen Nutzen als Ziel des christlichen Gemeinwesens verfehlen. Seine Herstellung war nur durch eine territorial strukturierte Fürsorge und gerechte Gesetze möglich und nur durch den Landesfürsten zu garantieren. So stellt der Philippsstein die Heilige Elisabeth und den Landgrafen in ein wechselseitiges Beziehungsgefüge. Sie gilt als Ahnherrin der Dynastie und zugleich als eine dem Volk zugewandte barmherzige Fürstin und Patronin. Auch wenn sie hier nicht mit ihren Attributen als Heilige dargestellt ist, sondern – im reformatorischen Sinne – als barmherzige, königliche Fürstin mit Witwenschleier und Krone, blieb sie doch in den Augen der an dem Philipps-stein vorbeigehenden, sie betrachtenden Untertanen weiterhin die bekannte und vertraute Heilige. Und dies war durchaus intendiert. Sie übernahm in dem Bildprogramm jedoch noch eine weitere Rolle: die der Fürstin und Landesmutter über die Zeiten hinweg. Denn wie zu sehen ist, fehlt dem Landgrafen die Gattin an seiner Seite. Nun war aber auch den Zeitgenossen allzu gut bekannt, dass der Landgraf zur Zeit der Errichtung des Philippssteins mit zwei Frauen gleichzeitig verheiratet war: seit 1524 mit Christine von Sachsen und seit 1540 zugleich mit Margarethe von der Saale, der Frau, die er nach ausführlicher Konsultation mit Luther,

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Vgl. DEMANDT: Verfremdung und Wiederkehr der Heiligen Elisabeth, Marburg 1973 (= Marburger Reihe 3), S. 112–155: hier S. 114.

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Melanchthon und Bucer geheiratet hatte.11 Gegen alle Absprachen war die zweite Ehe natürlich nicht geheim geblieben. Es fehlte also dem Landgrafen eine Fürstin, die die Aufgaben im Blick auf die frühneuzeitliche Repräsentanz der Staatssymbolik übernehmen konnte12 – und zugleich dem Fürsten über seine moralisch wie rechtlich prekäre Situation hinweghalf. In seiner Ahnin Elisabeth hatte der Landgraf diese mächtige Legitimationsfigur. Zum einen als weibliches Gegenüber, das ebenso die Fortführung der Dynastie repräsentierte wie eine legitime fürstliche Ehefrau, ja sogar noch auf eine genuine eigene Tradition als Mutter des Herrscherhauses verweisen konnte. Und zum anderen legitimierte der implizite Verweis auf die Heilige die reformatorischen Maßnahmen des Landgrafen: Philipp konnte an die der Fürstin und Königstochter zugeschriebene Tradition der fürsorgenden Landesmutter anknüpfen, die zugleich eine beliebte Heilige war, und sich zugleich als weltliche Obrigkeit darstellen, die – sowohl nach humanistischem wie reformatorischem Verständnis von Röm 13 – von Gott eingesetzt ist, für das sittliche und religiöse Wohl der Untertanen sorgt. Es ist jedoch offensichtlich, dass hier eine Spannung herrscht, denn Philipp stellte sich zum einen in die Tradition seiner Ahnherrin. Zum anderen überbot er sie; er setzte das konsequenter und planmäßiger um, wofür Elisabeth nur mit ihren begrenzten Mitteln hatte kämpfen können – und er überführte die Armenfürsorge in ein neues Modell: Durch die Auflösung der Klöster erfolgte eine strukturelle Veränderung der Armenfürsorge, die im Territorium den Gemeinen Nutzen befördern und, wie der Fürstenspruch erklärte, zum Erhalt der Ehre Gottes dienen sollte. Die Hospitalgründungen des Landgrafen wurden so zum genuinen Bestandteil des Gemeinen Nutzens, der mit der wahren christlichen Nächstenliebe identifiziert und als neues Modell der Armen- und Krankenversorgung im Sinne Elisabeths als wohltätiger Heiligen und Landesmutter vorgestellt wurde. Die bislang auf Einzelne bezogene Fürsorge wurde zur staatlichen Fürsorge und zum Zeichen der wahren reformatio. Und da Philipp von Hessen als einziger der Fürsten auf eine Heilige in seiner Familie verweisen konnte, postulierte er mit dem Bildprogramm als reformatorischer Fürst auch 11

Vgl. dazu MAX LENZ: Briefwechsel Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen mit Bucer, Bd. 1 und 2, Leipzig 1880f.; W ILLIAM W ALKER ROCKWELL: Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen, Marburg 1904 [ND Münster 1985]. 12 Auf die Bedeutung der Fürstin in der frühneuzeitlichen Staatssymbolik weist ausdrücklich MANFRED RUDERSDORF: Die Generation der lutherischen Landesväter. Bausteine zu einer Typologie des deutschen Reformationsfürsten, in: Anton Schindling / Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 7, Münster 1997, S. 137–170: hier S. 163–167 hin. Auf die Ähnlichkeit der Elisabeth mit der ersten Gattin des Landgrafen, Christine von Sachsen, hat DEMANDT: Die Hohen Hospitäler (wie Anm. 8), hingewiesen.

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wahrhafter Erbe der Heiligen zu sein. Damit zeichnete er sich und sein reformatorisches Handeln in eine Geschichte des Heils ein.

2. Heiliges Erbe. Johann Friedrich als Bewahrer des Erbes Luthers Johann Friedrich I. von Sachsen war der erste Kurfürst, der mit Luther aufwuchs und auch politisch bewusst lutherisch wirken wollte.13 Geboren wurde Johann Friedrich 1503 in Thorgau als Sohn Johanns von Sachsen und seiner Gemahlin Sophie von Mecklenburg. Nach der offiziellen Übernahme der Regierungsgeschäfte im Jahr 1532 beförderte Johann Friedrich die Belange der Evangelischen und profilierte sich selbst auch weit über den territorialen religionspolitischen Rahmen hinaus. Nach dem Augsburger Reichstag 1530 gestaltete sich die Situation für die Evangelischen zunehmend schwieriger. Es kam zum Krieg, bei dem die im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossenen protestantischen Stände von den Truppen Kaiser Karls V. 1547 besiegt wurden. Die beiden Bundeshauptleute Johann Friedrich I. und Philipp von Hessen gerieten nach ihrer Niederlage fünf Jahre in kaiserliche Gefangenschaft. Für Kurfürst Johann Friedrich hatte dies weitere beträchtliche Konsequenzen. Der Kaiser hatte Johann Friedrich I. zum Tode verurteilt, wohl aber auch deshalb, um die Annahme der Kapitulationsbedingungen zu erzwingen. Als er die Wittenberger Kapitulation unterschrieb, wurde das Todesurteil in Gefangenschaft umgewandelt, die Kurwürde aber entzogen; Johann Friedrich, einer der mächtigsten protestantischen Fürsten, hatte seine Macht verloren. Die Kurwürde wurde ihm aberkannt und seinem Cousin übertragen, der schon lange danach geschielt und sich daher im Schmalkaldischen Krieg mit dem Kaiser verbündet hatte. Das Territorium wurde drastisch dezimiert.14 Übrig blieben zwei voneinander getrennte Territorien in Thüringen, die Gebiete um Eisenach und Gotha sowie Weimar und Jena. Johann Friedrich wählte Weimar als neue Residenzstadt und gründete – als Ersatz für die Wittenberger Universität – die Universität in Jena. Seine Freilassung hat er nur wenige Jahre überlebt und sich seither als Märtyrer stilisiert, der für den protestantischen Glauben gelitten hatte. Zu13 Vgl. dazu und zum Folgenden Volker Leppin / Georg Schmidt / Sabine Wefers (Hg.): Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006. 14 Mit diesem Vertrag verloren die Ernestiner zugleich die Kurlande, ihren Anteil an der Markgrafstadt Meißen, die Rechte am sächsischen Bergbau und die böhmischen Lehen. Das bedeutete etwa zwei Drittel Gebietsverlust. Regionen mit wirtschaftlich ertragreichem Umfeld wurden der anderen Linie, dem neuen Kurfürsten Moritz von Sachsen zugesprochen.

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dem war er bemüht, die theologische Deutungshoheit über seine neue Situation zu bestimmen, indem er postulierte, dass sein Territorium – obwohl dezimiert – und er – obwohl vertrieben – das wahre Erbe Luthers und dessen Lehre angetreten habe. Er suchte diese Sicht der Dinge auch medial umzusetzen. Deutlich wird dies an einem Bildprogramm, das in den letzten Lebensjahren entstand und zugleich ein theologisches und politisches Vermächtnis darstellt: der Flügelaltar in der Stadtkirche St. Peter und Paul, der heutigen Herderkirche (Abb. 2). Dabei handelt es sich um einen etwa fünf Meter breiten und drei Meter hohen Altaraufsatz aus Holz, der 1553 von Lucas Cranach d. Ä. begonnen und 1557 von dessen Sohn, Lucas Cranach d. J., vollendet worden ist. Das Thema der Mitteltafel ist ein genuin reformatorisches. Es ist die „Erlösung des Menschen allein aus Glauben“. Mittelpunkt ist der Gekreuzigte. Aber das allein macht das Bild noch nicht zu einem Reformationsbild. Bemerkenswert sind die Personen, die Teil der Kreuzigungsszene sind und damit Teil der Heilsgeschichte. Das mittelalterliche Altarbild, das eine Kreuzigungsszene darstellt, kennt neben dem Kreuz in der Regel Johannes, den Lieblingsjünger, und die Mutter Maria als Zentralgestalten. Hier nun ist es Johannes der Täufer. Er ist Künder des Kommens Jesu Christi und Interpret des Todes Christi am Kreuz. Er weist auf den Gekreuzigten. Und es stehen noch zwei andere Personen unter dem Kreuz, zu diesem Zeitpunkt schon verstorben zwar, aber den Zeitgenossen noch bekannt. Ein Theologe und ein Maler: Martin Luther und daneben, weißbärtig, Lucas Cranach d. Ä. Ihn trifft der Blutstrahl aus der Seitenwunde Christi – eine ganz besondere Ehre, die sich der Sohn des Malers hat einfallen lassen.15 Der Reformator neben ihm weist mit der Hand auf die Worte des Neuen Testaments. Beide Figuren sind in die Position Marias eingerückt. Dies ist deshalb aufschlussreich, weil Maria in der mittelalterlichen Theologie und Ikonographie eine Mittlerfunktion hat. Diese ist hier auf Luther und Cranach übergegangen mit einer verblüffenden Konsequenz: Sie sind die Referenzfiguren, die für das neue Verständnis des Glaubens – der der alte ist – Auskunft geben. Sie verweisen auf die Heilige Schrift – die hier prominent ins Bild gesetzt ist. Und sie stehen unter dem Kreuz Christi, als wären sie in der Todesstunde selbst dabei gewesen. Die Darstellung auf dem Flügelaltar ist eine Kurzform der lutherischen Rechtfertigungslehre. Aber neben der theologischen Ebene, die die Rechtfertigung des Menschen durch die Gnade Gottes allein und im Glauben an

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Dazu HANS B ELTING: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005, S. 182–189.

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Abbildung 2: Flügelaltar von Lucas Cranach d. Ä. 1553 begonnen, von Lucas Cranach d. J. 1555 vollendet. Weimar, Herderkirche St. Peter und Paul

Jesus Christus ohne vorheriges Erbringen guter Werke ins Bild setzt, findet sich noch eine weitere Ebene: die des Bekenntnisses und Vermächtnisses. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hierbei die fünf Personen auf den beiden Altarflügeln. Auf dem linken Flügel ist Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige samt seiner Gattin, Sybilla von Jülich Kleve dargestellt. Auf dem rechten Flügel die drei Söhne der beiden. Alle fünf verharren andächtig in Gebetshaltung. Bei der Fertigstellung des Bildes waren die beiden Herrscherpersonen bereits über ein Jahr verstorben, aber es ist anzunehmen, dass sie als Stifter des Flügelaltars Einfluss auf die Darstellung oder zumindest auf den Inhalt genommen haben. Das macht das Bild in einem doppelten Sinne zu einen Testament: Im Sinne eines Bekenntnisses und im Sinne eines Vermächtnisses. Und im Sinne der Selbstinterpretation und Selbstdarstellung des frommen evangelischen Fürsten. Wie Luther und Cranach unter dem Kreuz ist auch die Fürstenfamilie in die Heilsgeschichte einbezogen: Was damals geschah, geschieht hier und jetzt. Unmittelbar. Das Heil ist präsent. Und alle, die dabei stehen, die To-

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ten und die Lebenden, die andächtige Fürstenfamilie – und selbst die heutigen Betrachterinnen und Betrachter – sind Teil des Heilsgeschehens und damit Teil der Heilsgeschichte. Ordnet man den Flügelaltar in den historischen Kontext um 1555 ein, ist dies nicht nur ein Reformationsbild, sondern zugleich auch ein Scharnierbild zwischen Reformation und Konfessionalisierungszeit. Und damit wäre eine dritte Ebene zu nennen, die hier zum Ausdruck kommt, die konfessionspolitische. Denn indem man Luther und Cranach und nicht wie später Melanchthon und Luther unter dem Kreuz inszeniert, wird hier ein besonderer Anspruch erhoben: Das ist unser Luther. Oder vielmehr: Luther ist unser! Der Fürst als Stifter des Flügelaltars hat im Diskurs der seit dem Tode Luthers 1546 aufbrechenden theologischen Streitigkeiten unter den lutherischen Parteien um die rechte Interpretation seiner Lehre eine deutliche Position, die er prominent in der Kreuzigungsszene darstellen lässt: Zwar ist alles verloren, aber Luther ist unser! Dies implizierte den Anspruch, dass die Lehre Luthers als ein heiliges Erbe nur in seinem Territorium und nur an seiner Universität Jena angemessen bewahrt werden konnte.16

3. Weitergabe des Erbes. Ottheinrich von der Pfalz und die Heilige Schrift Ottheinrich war ein Renaissancefürst par exellence, ein Liebhaber der Kunst und Musik, der Architektur. Und vor allem der Bücher.17 Aber auch er war theologisch interessiert. Seine Sammeltätigkeit im Dienste der Reformation ist nicht hoch genug einzuschätzen. Er wurde 1502 als Sohn des Pfalzgrafen Ruprecht und seiner Gemahlin Elisabeth von Bayern-Landshut in Amberg in der Oberpfalz geboren. Als die Kurpfalz 1504 ihre Erbansprüche auf Bayern-Landshut geltend machte, brach der Landshuter Erbfolgekrieg aus, da die Hauptlinie der Herzöge von Bayern in München diesen Erbanspruch der Pfalz ablehnte. Mit der Niederlage der Pfalz ging der Anspruch verloren, Pfalzgraf Ruprecht starb, bald darauf seine Gemahlin. 16 Vgl. dazu auch VOLKER LEPPIN: Bekenntnisbildung als Katastrophenverarbeitung. Das Konfutationsbuch als ernestinische Ortsbestimmung nach dem Tode Johann Friedrichs I., in: Ders. / Schmidt / Wefers (Hg.): Johann Friedrich I (wie Anm. 13), S. 295– 307. 17 Zu Ottheinrich s. KLAUS REICHOLD: Der Himmelsstürmer. Ottheinrich von der Pfalz-Neuburg (1502–1559), Regensburg 2004; Pfalzgraf Ottheinrich. Politik, Kunst und Wissenschaft im 16. Jahrhundert, hg. v. Barbara Zeitelhack im Auftrage der Stadt Neuburg, Regensburg 2002; FRITZ GROSSE: Image der Macht. Zum Bild hinter den Bildern bei Ottheinrich von der Pfalz (1502–1559), Petersberg 2003.

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Als Ausgleich der Erbansprüche der beiden Söhne Ottheinrich und Philipp wurde im „Kölner Spruch“ von 1505 die „Junge Pfalz“, das Fürstentum Neubur geschaffen und den beiden Söhnen übertragen. Ihr Vormund war bis zu ihrer Volljährigkeit Pfalzgraf Friedrich, der Bruder des Vaters. Die Pfalz wurde noch vier Jahre lang von ihrem Großvater Philipp regiert. 1522 wurden Ottheinrich und Philipp für volljährig erklärt und übernahmen die selbständige Regierung des Fürstentums Neuburg. Sie regierten zunächst gemeinsam, teilten aber 1535 das Land unter sich. 1518 hatte Ottheinrich am Augsburger Reichstag teilgenommen, wo sich Luther vor Cajetan verteidigen musste. Auf dem Wormser Reichstag, auf dem Karl V. die Reichsacht über Luther verhängte, war er wohl nicht zugegen gewesen, denn er hatte eine Pilgerreise in das Heilige Land angetreten. Ein deutliches Zeichen, dass er auf dem Boden der altgläubigen Kirche stand. Wann Ottheinrich mit den Ideen der reformatorischen Bewegung in Kontakt kam, ist in der Forschung umstritten. Fest steht, dass es in seinem Fürstentum prominente Anführer der neuen Lehre gab, so zum Beispiel Johann Eberlin, der sich von seinem Gelübde als Barfüßermönch losgesagt hatte, und Caspar Amman, ein Augustiner-Eremit aus Launingen, den er verhaften ließ, weil er offen lutherisch predigte. Zudem warnte Ottheinrich seit 1523 und in den folgenden Jahren seine Untertanen vor den neuen Predigern, vor dem Gift der „Lutterischen und seiner Anhäenger verdampten opinion“ und vor Luther. Wenige Jahre später hatte sich die Meinung des Herzogs anscheinend geändert. Im Jahr 1535 bezeichnete der päpstliche Nuntius Pier Paolo Vergerio Ottheinrich „als schwankend in Fragen des Glaubens“. Und in der Tat suchte Ottheinrich 1539 um die Aufnahme in den Schmalkaldischen Bund. Auch wenn aufgrund dessen, dass er – verschuldet, wie er war –, den Bundesbeitrag nicht bezahlen konnte und ihm deshalb die Aufnahme verweigert wurde, zeigt sich doch hier die öffentliche Parteinahme für die Protestanten. Als 1541 der Bruder Philipp seinen Landesteil mitsamt den Schulden an Ottheinrich übergab, begann dieser als alleiniger Regent des Landes sich mit der Umsetzung der Reformation zu befassen. Nach dem Tod seiner Frau Susanna 1543, die am alten Glauben festgehalten hatte, fiel auch die persönliche Rücksichtnahme. Ottheinrich führte in Neuburg die Reformation ein. Andreas Osiander, der ehemalige Nürnberger Reformator, verfasste das Reformationsmandat, bald darauf wurde die Kirchenordnung eingeführt und eine Druckerei eingerichtet. Jedoch verschärfte sich die finanzielle Lage, so dass Ottheinrich 1544 schließlich die Regierung an die Landstände zurückgeben und das Land verlassen musste. Er lebte in den kommenden Jahren in Heidelberg und Weinheim. Es war absehbar, dass er Nachfolger des kinderlosen Kurfürs-

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ten Friedrich II. werden würde. In dieser Zeit des Exils ging Ottheinrich seine Leidenschaft, Bücher, Münzen und Medaillen zu sammeln, nach. Schwerpunkt seiner Interessen war die aktuelle wissenschaftliche und theologische Literatur. In seiner Neuburger Kammerbibliothek hatte die Theologie mit über 150 Bänden den breitesten Raum eingenommen. Es waren größtenteils zeitgenössische Schriften, in denen aktuelle Fragen der Reformation diskutiert wurden. 1552 erhielt Ottheinrich sein Fürstentum Neuburg zurück und übernahm 1556 die Herrschaft in Heidelberg als Kurfürst. Auch hier führte er die Reformation ein. Hatte Ottheinrich sich bisher eher um das eigene Wohl ab um das Gemeinwohl gekümmert, das als Landesfürst ja seine erste Aufgabe war, muss man konstatieren, dass er sich nun um das Wohl und Seelenheil seiner Untertanen bemühte: Denn er startete er eine umfassende Bildungsoffensive: Er modernisierte die Heidelberger Universität und besetzte die Lehrstühle neu. Er ließ neue Schulordnungen einführen, ließ Bibeln, Katechismen und Psalmen drucken, die dann kostenlos auf den Jahrmärkten verteilt wurden. Jeder und jede, der oder die des Lesens kundig war, sollte sich ein eigenes Urteil über den Glauben bilden können. Oder man sollte sich aus der Bibel vorlesen lassen. In den Dienst dieser Bildungsoffensive stellte er auch seine Bücher und seine Druckerei. Er vereinigte die Buchbestände der Universität, der Stiftsbibliothek in der Heiliggeistkirche und der Schlossbibliothek der Kurfürsten von der Pfalz zur Bibliotheca Palatina. Mit dieser Vereinigung der Buchbestände und der Umgestaltung der Universität Heidelberg schuf er ein protestantisches Zentrum der Lehre. Nach dem Vorbild der Universität Wittenberg stand eine umfangreiche Bibliothek zur Verfügung, die jedoch nicht im Schloss, sondern in der Stadt ihren Platz fand und damit für Lehrende und Studenten gut zugänglich war. Schon der Bestand der ehemaligen Kammerbibliothek Ottheinrichs zeigt, dass es dem Fürsten nicht nur ums Büchersammeln ging. Damit verbunden war zugleich auch das Interesse, sich am theologischen Diskurs zu beteiligen und sich für den Kampf des neuen Glaubens gegen die Altgläubigen zu rüsten. So gehört Ottheinrich zu den ersten deutschen Fürsten, die die Publizistik bewusst und öffentlich in den Dienst ihrer kirchenpolitischen Ziele stellten.18 Er stand in dieser Zeit in Kontakt mit vielen Reformatoren, so auch mit Kaspar Hedio. Mit ihm beriet er eifrig, welche Werke zur Stärkung der evangelischen Lehre ins Deutsche übersetzt werden könnten. Schon in Neuburg war seinerzeit eine Druckerei eingerichtet worden, die zahlreiche evangelische Schriften druckte. Philipp Melanchthon sprach 18 Vgl. dazu KARL SCHOTTENLOHER: Pfalzgraf Ottheinrich und das Buch. Ein Beitrag zur Geschichte der evangelischen Publizistik, Münster 1927 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 50/51).

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in seiner dem neunten Teil der Bücher Martin Luthers (1569) vorangestellten Widmung 155719 dem Fürsten seine Anerkennung für die der evangelischen Lehre geleisteten Dienste aus. Eine der letzten Förderungen Ottheinrichs war die Planung einer großen Bibel-Ausgabe durch den Frankfurter Verleger Sigismund Feyerabend. Erschienen ist sie erst nach seinem Tod, enthält aber noch sein Bildnis und den Hinweis auf das hohe Engagement des verstorbenen Kurfürsten für das Werk (Abb. 3). Es heißt darin, dass von den Verlegern dieses Werk „nicht freventlich in Angriff genommen worden wäre, wenn nicht Kurfürst Ottheinrich darob ein gnädigstes Gefallen gehabt und aus christlichem Eifer, das Wort Gottes und das allein seligmachende Evangelium unseres Herrn Jesu Christi zu befördern, Hilf und Vorschub gnädigst zugesagt und mit der Tat zugleich bewiesen hätte“.20 Gedacht war sie als eine neue Ausgabe der Bibel in deutscher Sprache, welche in Konkurrenz treten sollte zu den Wittenberger Median-Prachtbibeln. Textbasis war die Bibelübersetzung Martin Luthers von 1545.21 Für die Buchillustrationen engagierte man den Nürnberger Kupferstecher Virgil Solis. So erschien 1560 eine Bibelausgabe, die in mancher Hinsicht von der Wittenberger Tradition abwich, wofür die Frankfurter teilweise heftige Kritik ernteten.22 In Kursachsen setzten die Verteidiger der Wittenberger Tradition ein Verkaufsverbot dieser Bibelausgabe durch. Die Feyerabendbibel als Konkurrenzmodell zur Wittenberger Bibel war also das letzte Buchprojekt, das Ottheinrich beförderte. Sein Ziel war es, durch dieses Medium die Erkenntnisse der Reformation, dass der Glaube an der Heiligen Schrift und mit der Heiligen Schrift überprüft werden müsse, zu festigen. Hier zeigt sich das Selbstbewusstsein als protestantischer Landesfürst, der diese Grundlage des Glaubens allen seinen Landeskindern zugänglich machen wollte. Das erste Buchprojekt, das Ottheinrich befördert hatte, war eine hundert Jahre alte Handschrift des Neuen Testaments.23

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CR 9 (1842), S. 221ff. Vgl. SCHOTTENLOHER: Pfalzgraf Ottheinrich (wie Anm. 18), S. 59. 21 Biblia, das ist die ganze heilige Schrift deutsch, Sigismund Feyerabend, David Zöpfer 1560. 22 Biblia Das ist/Die ganzte Heyli=ge Schrifft/Teutsch. D. Mart. Lut. Sampt einem Register/vnd schoenen Figuren. M.D.LX. Getruckt zu Franckfurt am Mayn.[Frankfurt am Main, David Zöpfel, Johann Rasch und Siegmund Feyerabend] 1560. 23 Vgl. dazu BRIGITTE GULLACH / ULRICH MONTAG: Ottheinrichs deutsche Bibel. Der Beginn einer großen Bibelsammlung, München 2002; Die Ottheinrich-Bibel. Das erste illustrierte Neue Testament in deutscher Sprache. Begleitbuch zu den Ausstellungen anlässlich der Zusammenführung der Ottheinrich-Bibel im Jahre 2008, hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek, München 2008. 20

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Abbildung 3: Kolorierter Holzschnitt mit Porträt Kurfürst Ottheinrichs von der Pfalz aus Vorsatz der Bibelausgabe für Kurfürst Ludwig VI. von david Zöpfel, Johann Rasch und Sigmund Feyerabend, Frankfurt a. M. 1560, Karlsruhe, Badische Landesbibliothek

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Er ließ diese aus seinem dynastischen Erbe überkommende Handschrift aufwändig und kostbar restaurieren. Und es ist auffallend, dass Ottheinrich ausgerechnet in den Jahren 1530-32 die Vollendung der Illuminierung unter Dach und Fach brachte, in einer Zeit, in der sich der Buchdruck längst durchgesetzt hatte. Damals zählte er noch nicht zu den Reformationsfürsten. Dennoch zeigt sich hier das Interesse, die Schrift als Laie selbst zu lesen und in der eigenen Sprache zu verstehen. Luther hatte dies den Fürsten in seiner Adelsschrift von 1520 nahe gelegt. Die Schriften Luthers waren weit verbreitet, sein theologisches Gedankengut allzumal. Und auf dem Augsburger Reichstag 1530 hatten die Evangelischen schließlich ihr Bekenntnis vorgestellt. Melanchthon war derjenige, der das Schriftprinzip als Norm eingeführt hatte. Gerade bei den Fürsten, wie sich am Beispiel Philipps von Hessen und auch Ottheinrichs zeigen lässt, wurde die Bibellektüre institutionenkritisch zum Ausgangspunkt, sich in die Fragen des Glaubens einzumischen. Hier war das Instrumentarium, um sich ein eigenes Urteil im Glauben zu bilden. Und da war es erst einmal unwichtig, ob man sich zu den Altgläubigen oder zu den „Lutterischen“ zählte. Der Einzelne musste sich über die Dinge des Glaubens informieren, dies ging nur, wenn er die Bibel lesen konnte. So verband Ottheinrich mit dem Auftrag an den Maler Gehrung zu Beginn der 1530er Jahre, die 100 Jahre alte Handschrift zu illuminieren, zweierlei: Den Anspruch, als Fürst seine Bibel zu lesen und durch die kostbare Ausgestaltung der Heiligen Schrift und der Verbreitung der neuen Lehre Gott die Ehre zu erweisen. Wie es sich für einen frommen Fürst gehört. Nicht umsonst ist auch dieser Einband mit seinem goldenen Bild geprägt. Er wählte bei seinem ersten Bibelprojekt nicht die Lutherbibel, von der das Neue Testament seit 1522 vorlag, und ließ sie ausgestalten, nein, er zählte sich ja noch zu den altgläubigen Fürsten. Aber er nahm implizit die reformatorische Forderung nach eigener Bibellektüre auf. Und er wählte die kostbare deutsche Handschrift des Neuen Testaments aus seinem Erbe. Das war unverdächtig. Denn er führte faktisch das Interesse seines spätmittelalterlichen Vorfahren Ludwig VII., der sie hundert Jahre vorher in Auftrag gegeben hatte, fort, stellte sich offiziell in dessen Tradition und vollendete dessen Erbe. Es kommt nicht von ungefähr, dass das erste und das letzte Buchprojekt, das Ottheinrich beförderte, eine deutsche Bibelübersetzung war. Bibelübersetzungen waren schon per se Institutionenkritik: Sie machten der Kirche und den Theologen das Recht streitig, über Fragen des Glaubens und des Heils allein Auskunft zu geben und zu entscheiden. Sie befähigten die Gläubigen zur Mündigkeit in Glaubensfragen. Und dies galt auch für die Landesherren. Ottheinrich hat das früh erkannt und erst einmal seine eige-

Der fromme Fürst

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ne Heilige Schrift für sich selbst ausmalen lassen. In den letzten Lebensjahren hat er seine Erkenntnis über die Fragen des Glaubens und des Heils mit seiner Bildungsoffensive auch an seine Untertanen weitergegeben. Die Bibel als Heilige Schrift in deutscher Sprache war das Medium, das die Präsenz des Heils gewährleistete: Ein heiliges Erbe also, das er weitergeben wollte und an dem alle Untertanen partizipieren sollten.

Medien lutherischer Memorialkultur Eine exemplarische Studie zur Jenaer Stadtkirche VOLKER LEPPIN

In einer grundlegenden Studie hat vor einiger Zeit Berndt Hamm anhand von Epitaphien gezeigt, wie sich im Luthertum die Memorialkultur gegenüber dem Humanismus verschoben hat1. Aus einem Lobpreis des Gelehrten, der noch im Tod über sein Werk identifiziert wurde, wurden zunehmend Darstellungen, die statt der je individuellen Leistung des Verstorbenen seinen rechten Glauben in den Vordergrund stellten. Es ist offenkundig, dass es sich hierbei, am repräsentativen Objekt, auch um eine Umsetzung der Rechtfertigungsbotschaft handelt, die im Angesicht Gottes nicht auf das Tun und Leisten des Menschen schaut. Neben diesem theologischen Aspekt ist aber auch nach dem medialen zu fragen: Gerade die lutherische Todesmemoria kennt eine signifikante Erweiterung der Möglichkeiten, des Verstorbenen zu gedenken, die Ernst Koch geradezu „zu einem konfessionsunterscheidenden Merkmal der Kirchen der Wittenberger Reformation“ werden sieht2. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehrt sich die Zahl von Leichenpredigten3, die Preis des Verstorbenen mit theologischer Deutung des Todesgeschicks im Allgemeinen, gegebenen-

1 BERNDT HAMM, Normierte Erinnerung. Jenseits- und Diesseitsorientierung in der Memoria des 14. Bis 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 22 (2007) 197–251. 2 ERNST KOCH, Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563–1675), Leipzig 2000 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen II/8), 250. 3 S. zu dieser für das Luthertum so wichtigen Gattung E BERHARD W INKLER, Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener, München 1967 (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus 34); RUDOLF LENZ (Hg.), Studien zur deutschsprachigen Leichenpredigt der frühen Neuzeit, Marburg 1981 (Marburger Personalschriften-Forschungen 4); Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. 4 Bde., Stuttgart 1975–2004; auf die Bedeutung der Leichenpredigten verweist auch HAMM, Erinnerung 250.

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falls auch seine besondere Gestalt im vorliegenden Fall verbinden4. Im Idealfall waren dabei biographische Würdigung und eigentliche Predigt deutlich unterschieden, wie etwa eine Bemerkung von Johann Major in seiner Leichenpredigt auf Johann Gerhard zeigt, mit der er beides voneinander deutlich unterscheidet: „AVff vollführete Erklärung vnsers Leichtexts vnd beschlossener Predigt / wil vns gebühren / daß wir auch des außerwehleten Rüstzeugs Christi Jesu vnsers lieben vnnd nunmehr seligen Herrn DOCTORIS J OHANNIS GERHARDI nicht vergessen“.5

Über Theologie konnte man unter Absehung von der Person sprechen – und doch tat man dies aus Anlass einer Person: In dieser Spannung befindet sich die klassische Leichenpredigt, der dadurch zwar nicht eine Doppelbotschaft, aber eben doch eine sehr komplexe Botschaft eignet. In medialer Hinsicht hat sie nicht nur gegebenenfalls inhaltlich eine andere Ausrichtung als Epitaphien, sondern auch im Blick auf das erreichbare und erreichte Publikum, das wiederum für die Leichenpredigt vielfach ein doppeltes ist: Primär richtet sie sich an die Trauergemeinde, sekundär aber, wenn sie in gedruckter Form vorliegt, auch an ein anonymes Publikum, das offenbar ein Interesse an dieser Art der Todesverarbeitung hatte. Wiederum wird hier die angesprochene Komplexität deutlich, insofern dieses Interesse einerseits durch die mehr oder minder bekannte Person, der die Memoria der Predigt gilt, geweckt worden sein kann oder auch durch deren besonderes Geschick im Tode, andererseits aber auch durch die allgemeine Thematik des Todes und der Vergänglichkeit. Gegenüber dem Epitaph, das seine Adressatenschaft räumlich klar definiert in dem Kirchenraum besaß, in dem es aufgestellt war, bedeutete dies eine erhebliche Erweiterung, zugleich auch eine Konzentration. Mochte man im Fortleben des Epitaphs, zumal wenn es im Gottesdienstraum eine exponierte Stellung besaß, noch das Fortleben spätmittelalterlicher Suche nach einer Präsenz der Memoria

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DIARMAID MACCULLOCH, Die Reformation. 1490–1700, München 2008, 747f, weist auf die für die Evangelischen bestehende Notwendigkeit hin, Rituale rund um den Tod zu finden, die den Verlust der aufwändigen Totenmesse kompensieren konnten. 5 Christliche / Wehemuetige Trawer=| vnd Leichpredigt | aus der 2. Corinth. 12. V. 9. | Laß dir an meiner Gnade genuegen / denn | meine Krafft ist in den Schwachen maechtig. | Bey der Volckreichen / Trawrigen Leich=| bestattung | Des thewren werthen Manns | Herrn | JOHANNIS | GERHARDI,| … Theologiae Doctoris und Pro=| fessoris auff der Fuerstl. Saechsischen Uni-|versitet Jena /| Gehalten in der Pfarrkirchen den 20.| Augusti 1637.| Von | JOHANNE MAJORE der heiligen Schrifft Doctore | Professore Pfarrherrn und Superintendenten doselbst, Jena: Ernst Steinmann 1637, Fiiiv. Die Predigt ist ediert in: Johann Gerhard, Sämtliche Leichenpredigten nebst Johann Majors Leichenrede auf Gerhard, hg. v. J OHANN ANSELM STEIGER, Stuttgart – Bad Cannstatt 2001 (Doctrina et pietas I /10), 251–315. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.

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nahe am Altar sehen6, so war der Bezug der Leichenpredigt unzweifelhaft diesseitig. Angesichts dieser Erweiterung medialer Möglichkeiten, wie sie allgemein beobachtbar ist, erscheint es sinnvoll, die unterschiedlichen Funktionen – vorwiegend medialer Art, die Epitaphien und Leichenpredigt für die Todesmemoria im konfessionellen Luthertum einnahmen, in Fallbeispielen zu untersuchen, um so ihren Ort in der lutherischen Konfessionskultur etwas genauer bestimmen zu können7. Dies kann zunächst nur anhand von Mikrostudien erfolgen, wozu hiermit ein Beitrag anhand der im Zusammenhang der Jenaer Stadtkirche St. Michael feststellbaren Formen von Todes-Memoria erfolgen soll8. Zugrunde gelegt wird dabei eine kleine Gruppe von Personen, für die sowohl Epitaphien erhalten bzw. gut beschrieben sind als auch Leichenpredigten vorliegen.

1. Die Quellen Nach den beschriebenen Suchkriterien kommen insgesamt vier Fälle für die genauere Untersuchung in Frage. Dabei sind die Epitaphien und Grabsteine nicht erhalten, aber nach den in die Sammlung der Inschriften der Stadt Jena von Luise und Klaus Hallof aufgenommenen älteren Beschreibungen rekon-struierbar9. Die Leichenpredigten liegen im Druck vor. Im Einzelnen handelt es sich in chronologischer Reihenfolge der Todesjahre um: 1. Johann Balthasar Geymann (ca. 1573–1590): Was diesen Fall auffällig – und möglicherweise interessant für das anonyme Lesepublikum – machte, war das junge Alter des Verstorbenen: 1590 hatte er sich in Jena immatrikuliert und war kurz danach sechzehnjährig verstorben. Ihm wurde ein marmornes Epitaph an der „Lincken Seiten“ des Chores aufgestellt, vermutlich an der Nordseite, also unter der heute noch erhaltenen steinernen

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S. hierzu MARIA DEITERS, Individuum – Gemeinde – Raum. Zur nachreformatorischen Ausstattung von St. Marien und St. Nikolai in Berlin, in: Evelin Wetter (Hg.) Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa, Stuttgart 2008, 41–56. 7 Zum Begriff s. THOMAS KAUFMANN, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006 (SuR 29). 8 Zur Jenaer Stadtkirche s. VOLKER LEPPIN / MATTHIAS W ERNER (Hg.), Inmitten der Stadt St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, Petersberg 2004. 9 Die Inschriften der Stadt Jena bis 1650. Bearb. v. LUISE und K LAUS HALLOF, Berlin 1992 (Die deutschen Inschriften 33: Berliner Reihe 5).

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Empore der Stadtkirche aus dem frühen 16. Jahrhundert10; das Epitaph stellte den Verstorbenen vor einem Kruzifix dar11, verwies also gleichermaßen auf seine Frömmigkeit wie auf das paradigmatische Aufgehobensein des Todes in Jesus Christus. Die Leichenpredigt stammt vom damaligen Jenaer Superintendenten und Professor der Theologischen Fakultät Samuel Fischer12. Markanteste Auffälligkeit an dieser Leichenpredigt13 ist die ausführliche Widmungsvorrede an Johann Christoph Geymann, den Vater des Verstorbenen, die die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung des frühen Todes des Sohnes deutlich macht, weswegen Fischer hier auch ausdrücklich auf den Charakter als Exempelliteratur verweist14. 2. Johannes von Schröter (ca. 1513–1593): In diesem Falle resultiert die Bedeutung des Todes nicht aus dessen besonderen Umständen, sondern aus der bedeutenden Persönlichkeit. Johannes von Schröter war für die Jenaer Universität, die 1548 im Schatten des Interims als Hohe Schule gegründet worden war15, von eminenter Bedeutung. Die Tatsache, dass er zeitweilig als Leibarzt Ferdinands I. fungierte, hat ihn nach seiner Rückkehr in die thüringische Heimat zum Vermittler gemacht, dem es gelang, Ferdinand dazu zu bewegen, dass er der Hohen Schule 1557 die Universitätsprivilegien übertrug, so dass sie 1558 als privilegierte Universität eröffnet werden

10 S. hierzu ENNO BÜNZ, Klosterkirche – Bürgerkirche. St. Michael in Jena im späten Mittelalter, in: Leppin / Werner, Inmitten der Stadt 10–-137, 114. 11 Hallof, Inschriften 87. 12 S. zu ihm: KARL HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954, 107. 13 Leichpredigt | BEy dem Begreb=| nuss / des weiland Gestrengen / Edlen vnd | Erhnvesten D. Iohannis Balthasari Geymans /| Des auch | Gestrengen / Edlen / vnd Ehrnvesten / Herrn | Johann Christophori Geymans / zu Galsbach / vnnd | Traetteneck / auff Wahlen / der Roemischen Keyserlichen … | … maiestet / etc. Forneh=| men / vnnd des Ertzhertzogthumbs Osterreich / ob der | Enss / Landt Raths / Hertzliebsten Sons: | Welcher den 30. Septembris … | … in … | Jena / ent-| schlaffen / vnd den 1. Octobris / in die Pfarrkir=| chen daselbs gelegt ist /| Gethan durch | Samuelem Fischerum, der heiligen Schrifft Docto =| rem / Professorem, Pastorem vnd Superintendenten | daselbsten.|, Jena: Tobias Steinman 1590. 14 Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Fiiiv. 15 S. hierzu HELMUT G. W ALTHER, Die Gründung der Universität Jena im Rahmen der deutschen Universitätslandschaft des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 135 (1999) 1-21; J OACHIM B AUER / DAGMAR B LAHA / HELMUT G. W ALTHER, Dokumente zur Frühgeschichte der Universität Jena 1548 bis 1558, Weimar / Jena 2003 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 3/I); HELMUT G. W ALTHER, Von Leipzig nach Jena (1409-1548). Tradition und Wandel der drei wettinischen Universitäten, in: VOLKER LEPPIN / GEORG SCHMIDT / S ABINE W EFERS (Hg.), Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006 (SVRG 204), 129–153.

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konnte16. Ihr erster Rektor wurde Schröter, und dieses Amt hatte er noch mehrfach inne. Angesichts dieser überragenden Bedeutung für Jena und insgesamt für die lutherische Bildungslandschaft17 überrascht es nicht, in welch hohem Ausmaß Todesmemoria für ihn gepflegt wurde, was zugleich ein Indiz dafür ist, dass diese jedenfalls in einem bestimmten Verhältnis zur irdisch erbrachten Leistung des Verstorbenen stehen konnte. Für Schröter sind Grabstein, Epitaph und gedruckte Leichenpredigt bekannt. Der Grabstein war im Mittelschiff der Kirche untergebracht und umriss in knappen Stichworten die Biographie des Verstorbenen, ergänzt um zwei elegische Distichen in Ich-Form mit einem Gebet an Christus um Erbarmen: „Hic positus gelida recubo, Schroeter[us] in urna, Corpus humum repetit, spirit[us] astra subit. Christe, mei miserere, tuo me sanguine lotum Participem vitae, Christe, fac esse tuae.“18

Schröters Epitaph stand bis Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts an der Südwand des Chores der Jenaer Stadtkirche. Es zeigte im unteren Teil die Taufe Christi, darüber seine Himmelfahrt. Texte waren Gedenkverse der Nachfahren Schröters. Die literarische Memoria ist eindrucksvoll: 1593 erschien die Leichenpredigt des Georg Mylius, Theologiepro16

S. Aufbrüche – 450 Jahre Hohe Schule Jena, Jena 1998, 128f. Aufgrund dieser Umstände ist bis heute strittig, ob das Jahr 1548 oder 1558 als Gründungsjahr der Salana gelten solle (s. HELMUT W ALTHER, Gründung, der sich dezidiert für eine Gründung im Jahre 1548 einsetzt). In der Tat spricht bildungsgeschichtlich mehr für das frühere „unprivilegierte“ Jahr als für das spätere – nicht zuletzt die komparatistische Erwägung, dass bis heute die Universität Marburg auf ausdrückliche kaiserliche Privilegierung warten muss: Die 1527 erfolgte Gründung wurde lediglich im Nachhinein – 1541 – vom Kaiser bestätigt (s. hierzu GURY SCHNEIDER-LUDORFF, Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homburger Synode bis zum Interim, Leipzig 2006 [Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 20], 61–98). Angesichts dessen, dass jedenfalls in der Theologie das erste Jahrzehnt schon außerordentlich lebendig und profiliert war (s. Thomas Kaufmann, Die Anfänge der Theologischen Fakultät Jena im Kontext der ‚innerlutherischen‘ Kontroversen zwischen 1548 und 1561, in: Leppin / Schmidt / Wefers, Johann Friedrich I., 209–258), ist dies auch für diese Fakultät gut nachvollziehbar. 17 Zum Konzept der Bildungslandschaft s. MATTHIAS ASCHE, Bildungslandschaften im Reich der Frühen Neuzeit – Überlegungen zum landsmannschaftlichen Prinzip an deutschen Universitäten in der Vormoderne, in: Daniela Siebe (Hg.), „Orte der Gelahrtheit“. Personen, Prozesse und Reformen an protestantischen Universitäten des Alten Reiches, Stuttgart 2008 (Contubernium 66), 1–44. 18 Hallof, Inschriften 91, dort auch die folgende Übersetzung: „Hier ruhe ich, Schröter, in einer kalten Urne bestattet; der Leib sucht wieder die Erde auf, der Geist aber steigt zu den Sternen. Christus, erbarme dich meiner! Durch dein Blut gewaschen, mach, Christus mich zum Teilhaber an deinem Leben.“

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fessor in Jena, im Druck19. Angehängt waren eine Rede des Rektors der Salana sowie zahlreiche lateinische und griechische Epigramme. 3. Sophia Eulenbeck (gest. 1603): Biographisch ist über Sophia Eulenbeck vor allem überliefert, dass sie Ehefrau des Juristen Daniel Eulenbeck war, der seit 1573 Professor der Rechte in Jena und zeitweilig Rektor der Salana gewesen war20. Es war wohl diese Ehe, die auch eine umfassende Todesmemoria für sie ermöglicht hat. In ihrem Fall sind nämlich sowohl Grabstein und Epitaph als auch eine Leichenpredigt erhalten. Der Grabstein, der Sophia Eulenbeck vornehmlich als Gattin ihres Mannes identifizierte, befand sich im südlichen Seitenschiff von St. Michael21: „Anno Christi MDCIII die 22. Jan[uarii] ist in Gott seelig verschieden die Ehrentugendsame Fraw Sophia: H[errn] D[octoris] Danielis Eulenbecks eheliche Hausfraw, geborne Schmiedin, dern Seel Gott gnade“. Die größte Auffälligkeit an dieser Inschrift ist die Sprache: Sie ist in Deutsch verfasst, während sonst eher die lateinische Sprache üblich ist – nicht zuletzt auch beim Grabstein ihres Mannes22. Mit diesem zusammen erinnerte ein Epitaph an Sophia Eulenbeck23. Es soll sich nach einer Angabe aus dem 17. Jahrhundert „an Mittags Wänden“ befunden haben, wobei nicht klar ist, ob damit Chor oder Schiff gemeint ist; die sonstige Situierung von Epitaphien legt nahe, dass es sich um die Südwand des Chores handelte, zwingt aber nicht zu dieser Annahme. Das Epitaph war ursprünglich nur für den Ehemann gedacht, wurde dann aber von den Kindern erweitert, so dass es auch Sophia galt. Beide Verstorbenen knieten in der endgültigen Fassung gemeinsam vor dem Gekreuzigten und dem Jüngsten Gericht. Die größte Auffälligkeit im Text des Epitaphs ist, dass alle Kinder aufgezählt werden, die gemeinsam für die Stiftung dieses Gedenkens an ihre Eltern verantwortlich waren. Die Leichenpredigt stammt wiederum von Georg Mylius24, und auch in diesem Falle war eine Gedenkrede des Rektors beigegeben. 19

Ein Christliche Leichpredigt /| Gehalten| Bey der Begrebnis | des weyland Edlen / Ehrn-vesten vnd | Hochgelarten / nun aber in Gott seligen Her=| ren Johannis Schroeteri des eltern / der Artzney fur=| trefflichen vnd weitberuembten Doctoris / der Vniver=| sitet Jena ersten gewesenen Rectoris: Welcher | … verschieden den letzten | Martij / vnd volgends den 2. Aprilis | Christlich in der Pfarrkirchen da=| selbst zur Erden bestattet | worden. | Durch | Georgium Mylium der H. Schrifft Do= | ctorn vnd Professorn zu | Jhena, Jena: Donat Richtzenhan 1593. 20 Hallof, Inschriften 96. 21 Hallof, Inschriften 114. 22 Hallof, Inschriften 96. 23 Hallof, Inschriften 115. 24 Christliche Leichpredigt | Aus den Worten Pauli | Rom. 6. | Der Suenden Sold / ist der Tod. Bey | Christlicher Begraeb=| nues der Ehren vnd Tugentsamen Fraw=| en Sophia / des weiland Ehrnvhesten vnd Hoch=| gelarten Herrn Daniel Eulenbecken / der Rech=| ten Doctorn und Professorn &c. hinder=| lassener Wittiben. | Welche | Den 20. Ianuarii in

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4. Johann Gerhard (1582–1637). Die Biographie des bedeutendsten Vertreters der Jenaer Theologie im 17. Jahrhundert, ja, vielleicht, der lutherischen Orthodoxie überhaupt, muss hier nicht in extenso dargelegt werden25. Der in Quedlinburg geborene Theologe hatte nach seinem Studium in Wittenberg, Jena und Marburg bekanntlich zunächst die Superintendentur in Heldburg, dann ab 1615 die Landessuperintendentur in Coburg inne, ehe er 1616 als Professor nach Jena ging, wo er bis zu seinem Tode 1637 blieb und neben seiner umfassenden theologischen Tätigkeit mehrfach das Rektorat innehatte. Von ihm ist ein Grabstein bekannt26 sowie eine Leichenpredigt von Johann Major, deren noch im Todesjahr erfolgter Druck27 eine ähnliche Opulenz aufweist wie im Falle Schröters: Neben einer Rede des Rektors sind zahlreiche Epigramme aus dem Jenaer Kontext, aber auch von weiter entfernten Gelehrten beigegeben; eingeleitet wird sie durch eine Vorrede an Gerhards Witwe Maria. Darüber hinaus ist eine Lobesrede, eine laudatio funebris, von Johnn Michael Dilherr mit einer Fülle angehängter carmina lugubria erhalten28. Die ortsbezogene Sammlung hat also lediglich vier Beispiele erbracht, an denen sich etwas zum Zusammenhang von Grabstein bzw. Epitaph und Leichenpredigt sagen lässt, noch dazu sind diese Beispiele äußerst disparat: der jung verstorbene Student lässt sich mit dem mehrfachen Rektor so wenig vergleichen wie mit der Ehefrau eines bedeutenden Juristen, zudem stammen von den vier Leichenpredigten zwei vom selben Autor – die folgenden Ausführungen können angesichts dieser Quellenbasis lediglich Beispiele für das Funktionieren von Todesmemoria in den verschiedenen Medien geben und analysieren. Sofern sich Folgerungen allgemeinerer Art ziehen lassen, kann diese Verallgemeinerung nur hypothetisch erfolgen und steht unter dem Vorbehalt weiterreichender Untersuchungen solcher komplexer Zusammenhänge von Todesmemoria. Ihre wichtigste Funktion besteht möglicherweise darin, auf die Wichtigkeit solcher Untersuchungen für ein tieferes Verständnis der mit Reformation und Konfessionalisierung verbundenen Wandlungsprozesse hinzuweisen.

Gott seliglich ver=| schieden / und den 23. hernach … zur Erden ist bestattet | worden. / Gehalten zu Jehna | Durch Georgium Mylium…, Jena: Tobias Steinmann 1603. 25 S. hierzu z.B. J OHANN ANSELM STEIGER, Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1997. 26 Hallof, Inschriften 188. 27 Major, Trawer- und Leichpredigt Johann Gerhard. 28 J. MICHAELIS | DILHERRI FR. | Prof. Publ.| Laudatio Funebris, | VIRO | supra laudem posito | JOHANNI | GERHARDO, |…, o.O.o.J.

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2. Inhaltliche Dimensionen Weiterreichende inhaltliche Aussagen über den Tod, den Umgang mit ihm und seine Folgen für das Leben und Sterben, enthalten naheliegender Weise hauptsächlich die ausführlicheren textlichen Medien, also die Leichenpredigten. Die wichtigste Funktion, die sich mit der Todesmemoria verbindet, ist dabei die der Kontingenzbewältigung. Unmittelbar eindrücklich können die Epitaphien den Trost im Tod hervorheben, insofern die verschiedenen Bildprogramme, auch wenn sie nicht mehr erhalten, sondern nur durch Beschreibungen rekonstruierbar sind, eines sofort deutlich machen: dass christliches Sterben ein Sterben in Christus ist29. Der Kruzifix zeigt dies ebenso unmittelbar an, wie die in der Himmelfahrt Christi enthaltene Verheißung, deren Grund zudem durch die Darstellung der Taufe vor Augen gestellt wird. Der Trost verbindet sich aber immer wieder auch mit der Weise der Bereitung zum Sterben. In unterschiedlichen Formen, natürlich auch in unterschiedlicher Ausführlichkeit und unterschiedlichem Explikationsgrad wird daher in den verschiedenen Medien der Vorgang des Sterbens und das Geschick des Todes reflektiert. Das wichtigste Moment dabei ist die immer wiederkehrende Betonung des seligen Sterbens. Sie erscheint selbst auf den textlich knapp gehaltenen Grabsteinen30, mindestens in der ganz knappen Form wie auf dem Grabstein Schröters, der verzeichnet: „placide obiit“ 31. Erst recht erscheint dies natürlich ausführlich in den Leichenpredigten. So heißt es etwa über Schröter in der Predigt des Mylius: „Denn so bald jn Gott mit besorglicher leibes schwachheit ange-griffen / hat er vor wenig tagen sich mit aller andacht seiner sterbligkeit erinnert / seiner sünden ernstliche berewung unnd bekentnis angestelt / vnnd hierwider trost und sterckung seines glaubens von dem lieben Predigampt aus der hochtröstlichen Absolution / furnemlich aber dz tewre pfand der vergebung seiner sünden bey gleubigem vnd andechtigem gebrauch des H. Abendmals des Leibs und Blutes JHEsu CHRisti gesuchet / vnnd als zu einem Viatico vnnd gleitspfennig zu sich genomen“32. 29 Zu diesem Aspekt einer christuszentrierten Memoria in lutherischen Epitahpien s. Hamm, Erinnerung 246. 30 Wenn STEFANIE KNÖLL, Geistesadel. Grabmonumente für Professoren in Oxford, Leiden und Tübingen im 17. Jahrhundert, in: MARK HENGERER (Hg.), Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2005, 71–89,75, von einem akademischen und moralischen Kapital spricht, das zur Schau gestellt werde, gilt dies sicher in weit höherem Maße für das Epitaph als für den knappen Grabstein. Methodisch wird man aber erwägen müssen, ob das an Bourdieu angelegte ökonomisierte Vokabular geeignet ist, den spirituellen Hintergrund der Memoria angemessen zum Ausdruck zu bringen. 31 Hallof, Inschriften 91. 32 Mylius, Christliche Leichpredigt Johann Schröter Ciiiir-v.

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Gegenüber der knappen Notiz über das selige Entschlafen fällt hier auf, in welchem Maße die kirchliche Einbindung des Sterbens in den Vordergrund gestellt wird – dies erinnert durchaus an entsprechende Passagen spätmittelalterlicher ars-moriendi-Literatur33, deren ursprünglicher Sitz im Leben ja sogar die Handreichung für Priester in der Sterbebegleitung war34. Dies musste freilich dort so wenig wie bei Luther sakramental zugespitzt sein: Luther selbst hatte auf jede sakramentale Begleitung im Tod verzichtet und sich ganz auf das Gebet zu Gott konzentriert, vor allem den wiederholten Ausruf von Ps 31,6: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist, du hast mich erlöst, Gott der Wahrheit“35. Seine eigene Empfehlung im Sermon von der Bereitung zum Sterben36 von 1519 hatte gelautet: „Solch zu richten und bereytung auff diße fart steht darynne zum ersten, das mann sich mit lauterer beycht (ßonderlich der großisten stuck, und die zur zeyt ym gedechtnuß muglichs vleyß erfunden werden) und der heyligen Christenlichen sacrament des heyligen waren leychnams Christi und der ölung versorge, die selben andechtig begere und mit großer zuvorsicht empfahe, ßo man sie haben mag. Wo aber nit, soll nit deste weniger das vorlangen und begere der selben trostlich seyn und nit darob zu seher erschrecken.“37

Diese in entsprechenden Relativierungen des sakramentalen Geschehens in der spätmittelalterlichen Mystik38 wurzelnde poimenische Zusicherung, dass dort, wo, wohl mangels Priester, ein Sakrament nicht erreichbar ist, kein Grund zur Furcht besteht, bedeutet keine prinzipielle Absage an eine sakramentale Sterbebegleitung; diese wurde vielmehr in den reformatorischen Sterbebüchern in vielfachen Wandlungen anempfoheln39, und entsprechend gestalten es nun auch die Leichpredigten. Mylius betont eigens die Folge von Buße, konzentriert in der Absolution und Abendmahl und stellt dabei auch noch ausdrücklich das „Predigampt“ in den Mittelpunkt: Sterben ist ein Vorgang, in dem der Mensch auch und immer noch auf den 33 Zur ars moriendi nach wie vor grundlegend: Mary Catherine O’Connor, The Art of Dying Well. The development of the ars moriendi, New York 1966; zur Einbettung in die Todeskultur des Mittelalters: Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 663f. 34 S. RAINER RUDOLF, Art. Ars moriendi I. Mittelalter, in: TRE 4, Berlin / New Aork 1979, 143–149, 144. 35 S. JOACHIM B AUER, Martin Luther. Seine letzte Reise, Rudolstadt 1996, 82f; vgl. Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006, 345. 36 Zur zentralen Bedeutung dieses Textes in der reformatorischen Transformation der spätmittelalterlichen artes-moriendi-Literatur s. AUSTRA REINIS, Reforming the Art of Dying. The ars moriendi in the German Reformation (1519–1528), Aldershot 2006, 47– 82. 37 WA 2,686,9–16. 38 VOLKER LEPPIN, Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter, in: ZKG 112 (2001) 189–204. 39 Reinis, Reforming the Art of Dying 250f.

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äußeren Zuspruch des Wortes durch das Amt verwiesen bleibt, und vorbildhaftes Sterben ist dasjenige, das sich in Begleitung durch dieses Wort vollzieht. Dass es verkürzend wäre, hier generell einen Prozess der Verkirchlichung des Sterbens anzunehmen, zeigt eine andere Äußerung desselben Predigers. Für Sophia Eulenbeck nämlich hebt Mylius keineswegs einen amtlich-kirchlichen Charakter ihrer Vorbereitung auf das Sterben hervor, sondern betont eher den individuell-meditativen Umgang mit der Heiligen Schrift, der auf liturgisch eindrucksvolle Weise in die Verarbeitung des Todes aufgenommen wird. Den Predigtvers der Leichenpredigt auf Sophia Eulenbeck nämlich, Röm 6,23: „Der Sünde Sold ist der Tod“ hat sie nach den Worten des Predigers vor ihrem Tod bedacht und sich so auf den Tod vorbereitet40. Wie stark hier der meditative Umgang mit der Heiligen Schrift im Vordergrund steht, zeigt die Metapher, in der Mylius erklärt, Sophia Eulenbeck habe sich „mit Betrachtung des H.Worts Gottes daheimen vnnd zu Hause“ geradezu ein „Klösterlein in jhrer Wohnung zugerichtet“41. Es ist auffällig, dass Mylius diese Verklösterlichung lutherischen Alltags keineswegs negativ bestimmt, ja, es dient ihm geradezu dazu, Kritik an Sophia Eulenbeck zu entkräften, die sich gegen deren seltenen Gottesdienstbesuch wandte. Vergleicht man dieses Votum für eine individualisierte, an mittelalterliche und römisch-katholische Frömmigkeitsformen anknüpfende Haltung mit der stark ekklesialen in der Schröter-Predigt, so wird deutlich, in welch hohem Maße ein und derselbe Prediger individueller Kultur des Sterbens das Wort reden konnte. Freilich galt selbstverständlich für Sophia Eulenbeck wie für Schröter, dass auch in dieser von der lutherischen Normalfrömmigkeit abweichenden Ausprägung von Religiosität die Rechtgläubigkeit im Wortbezug gegeben und für die Einschätzung durch den Prediger leitend ist. Gutes Sterben ist ein Sterben im rechten Glauben – das gilt natürlich nicht minder für den Theologieprofessor: Johann Anselm Steiger hat darauf hingewiesen, dass Johann Gerhard schon mit einundzwanzig Jahren ein Testament verfasst hat, das geradezu exemplarisch für lutherische Bereitung zum Sterben stehen kann, indem es zeigt, wie der junge Sterbende im rechten Glauben vor Gott tritt42. Dieses Jugendtestament war in der Befürchtung des Todes geschrieben, der dann aber zu diesem Zeitpunkt nicht eintrat. Der alt gewordene Professor Johann Gerhard verfasste ein neues Testament, das der geänderten Lebenssituation schon allein darin Rechnung trug, dass es einige pragmatische Empfehlungen für künftige Jenaer 40

Mylius, Christliche Leichenpredigt Sophia Eulenbeck Aiiiv. Mylius, Christliche Leichenpredigt Sophia Eulenbeck Diiir. 42 JOHANN ANSELM STEIGER, Das Testament und das Glaubensbekenntnis des todkranken 21-jährigen Johann Gerhard (1603), in: ders., Johann Gerhard 159–227. 41

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Berufungen enthielt. Im Blick auf seinen Glaubensstand aber legte er wie schon als junger Mann Wert auf die Versicherung seiner Rechtgläubigkeit – so berichtet es Major in seiner Predigt: „Sein Lehr und Glauben betreffend / gebe er vns als seinen Collegen hiermit zuvernehmen / daß er bey selbiger / wie er sie schrifft-lich vnd mündlich tradirt vnd wider Papisten / Calvinisten vnd andere Ketzer defendirt, gedencke zuverharren / vnnd wolle auch mit solchem Glauben dermal eins am jüngsten Tage für dem Richterstuel Jesu Christi mit frölichem Hertzen erscheinen: daß wir jhme Zeugnis geben wolten“43.

In diesem Zeugnis, noch dazu vor den Kollegen ausgesprochen, wird retrospektiv geradezu die gesamte Tätigkeit des Theologieprofessors zur Sterbensbereitung: Es ist ja nicht allein der einfache Glaube, auf den Gerhard vor dem Richterstuhl erscheinen will, sondern der vom Theologieprofessor verteidigte, und es sind die anderen Theologieprofessoren, die hiervon Zeugnis ablegen sollen. Freilich verkürzt sich auch das Leben eines Johann Gerhard nicht auf die theologische Profession, sondern Major hebt auch sein Glaubensleben hervor, spricht, wiederum unter offenkundiger Betonung des kirchlichen Bezuges, „allermeist von seiner pietet, die er mit emsigen Gebet mit steter Besuchung der Sontäglichen Frühe vnd Vesper / wie auch der Wochenpredigten / Jtem sonderbarer Andacht vnd auffmercken / (denn er auch vnter den Predigten niemals ein Auge zugethan) und mit exemplarischen Leben bewiesen“44.

Der Hinweis darauf, dass Gerhard die Predigten aufmerksam verfolgt hat und dabei nicht eingeschlafen ist, ist gerade wegen seiner Entsprechung zu anderen normativen Texten wie Visitationsakten oder auch den Konfessionsbildern45, auch ein Indiz dafür, in welchem Maße hier der individuelle Tod der bedeutenden Persönlichkeit zur Exempelhaftigkeit erhoben und in ihm das rechte lutherische Glaubensleben vorbildhaft dargestellt wird – darin gewinnt die Leichenpredigt über die individuelle Memoria hinaus einen Zug, den sie mit der spätmittelalterlichen ars moriendi teilt, und dies auch noch in einem Horizont, der dieser Memorialkultur auch inhaltlich entspricht, insofern wie in dieser Thema nicht allein die letzte Sterbephase ist, sondern das ganze Leben, das auf den Tod hinführt und in Rechtschaffenheit von Lehre und Leben von vorneherein so gestimmt ist, dass es diesem entspricht. Ähnlich dürften auch die Bildprogramme der Epitaphien zu verstehen sein, wenn in ihnen die Verstorbenen in Verehrung Christi gezeigt werden: Da sie – vor dem Kruzifix – als noch innerweltlich vorgestellt werden, handelt es sich hierbei ja um eine – positive – Aussage über 43

Major, Trawer- und Leichpredigt Johann Gerhard (Ed. Steiger), 312, 27–313,4. Major, Trawer- und Leichpredigt Johann Gerhard (Ed. Steiger) 309,10–14. 45 W OLFGANG B RÜCKNER, Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die illustrierte Confessio Augustana, Regensburg 2007 (Adiaphora 6), 184. 44

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ihr Verhältnis zu Jesus Christus und die ihm angemessener Weise entgegengebrachte pietas. Diese starke Verzahnung von Tod und Lebensführung und der darin eingeschlossene normative Aspekt ebnen auch den Weg dazu, die Todeserfahrung und die Beerdigungssituation unmittelbar in gelegentlich geradezu moralisierende Anweisungen für die Lebensführung umzumünzen. Die biblische Auffassung, dass das Gericht sich nach den Werken vollzieht, ist in den Predigten durchaus präsent, nicht nur in der oben zitierten Aussage über das Kollegenzeugnis für Gerhard im Jüngsten Gericht, sondern auch in einem Verweis von Mylius, dass man Schröter am Jüngsten Tag Zeugnis für seine vielen guten Werke ablegen werde46. Der Betonung der Werke und des guten Lebens insgesamt entspricht es, dass Mylius in derselben Predigt zum Tode Schröters sehr direkt moralische Folgerungen für das Leben der Christen zieht: „Klugheit aber ist / vnnd heisset / wenn gehörige und gibürliche werck vnnd nachvolge / mit guter wissenschafft vberein stimmen / vnnd der Mensch das wissen seiner sterbligkeit bey jhme / zu anrichtung aller guter werck / vnnd hinwiderum zu abstellung alles bösen vngebürlichen wesens frucht vnnd frommen schaffen lasset“47.

Dass die Sterblichkeit zu guten Werken motivieren sollte, war schon angesichts des Todes eines Achtzigjährigen eine naheliegende Folgerung – der Tod eines jungen Mannes konnte erst recht zu einer solchen Mahnung verwendet werden und wurde es in der Tat: Samuel Fischer nutzte die Gelegenheit der Leichenpredigt auf Johann Balthasar Geymann dazu, über diejenigen zu wettern, die nur in Fleischeslust und dergleichen lebten und fügte die angesichts des jugendlich Verstorbenen eindrückliche Mahnung an „Wenn der Mensch nimmer leben magk / so fengt er an in grosse klag / will dann allererst fromm leben / Ich sorg fürwar / die Göttlich gnad / die er allzeit vorachtet hat / wird schwerlich ob jme schweben.“48 (Fiiiiv-Gir)

Und Fischer nahm sogar den potenziellen Einwand vorweg, dass ja gerade der frühe Tod eines tugendsamen Menschen – und als solchen hatte er Geymann ja zu loben – zeige, dass gutes Verhalten eben nichts bringe. Im Gegenteil: Geymann steht wie alle Menschen wegen ihrer Sündigkeit unter der Strafdrohung Gottes und wird damit zum besonderen Exempel, an dem sich ablesen lässt, wie bedrohlich diese Strafe ist: „Hebt nun Gott an / in seinem Heiligtumb zu straffen / vnnd greifft / so fromme Christliche wohlgezogene Hertzen / so plötzlich an / was wirdt wohl denen begegnen / welche

46

Mylius, Christliche Leichpredigt Johann Schröter Ciiir. Mylius, Christliche Leichpredigt Johann Schröter Biiiir. 48 Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Fiiiiv-Gir. 47

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jnen weder mit Gottseligkeit / vleis / kunst / zucht / noch tugendt zuuorgleichen sindt? Thut das Gott am grünen Holtz / was wirdt am dürren geschehen?“49

Vor diesem Hintergrund einer individuellen Lebensbetrachtung fällt auch der Blick auf Gottes Wirken im Leben sehr unterschiedlich aus: Neben sim-plen Tun-Ergehens-Konstruktionen, nach denen etwa ein Mylius ganz ungeschützt sagen kann, Gott habe Schröter durch seinen Reichtum gesegnet50, kann derselbe Mylius auch erklären, dass die Prüfung durch das Kreuz Jesu Christi ein besonderes Zeichen Gottes sei51. Nicht nur die spezifisch christliche Haltung im Leben wird in den Predigten in den Blick genommen, sondern immer wieder finden sich auch Bewertungen des Lebens und des Todes insgesamt. Dabei ist ein lebensabwertender Zug in den Predigten unverkennbar, wenn etwa Mylius in seiner Predigt auf Schröter darauf verweist, dass selbst die schönsten Blüten des Lebens wie ein Noah sterben müssten, weil sie Fleisch sind52. Dass auch diese Abwertung des Lebens die lutherische Frömmigkeitskultur an einem entscheidenden Punkt in die longue durée mittelalterlicher Religiosität stellt, ist den Autoren selbst bewusst: In der Predigt auf Sophia Eulenbeck verweist Mylius etwa auf die „heilige Märterin“ Caecilia, die erklärt hatte, nicht der Mensch sterbe, sondern allein sein Jammer und Elend53 - sehr bewusst also partizipiert Mylius hier an der monastischen Einstellung einer Abwertung der Welt und sieht nicht die geringste Notwendigkeit, hierzu in Distanz zu treten. Dass dies nicht nur an dem Kontext der Eulenbeck-Predigt mit ihren auch sonst spürbaren Anklängen an die mittelalterliche Religiosität liegt, zeigt eine Aussage desselben Mylius in der Predigt auf Schröter: „Ist doch der Mensch ein eitel schendlicher Kot / weil er noch lebet / vnnd wenn der Mensch todt ist / so fressen jhn die schlangen vnd würme“ 54.

Das literarische Motiv der Abschätzigmachung des Fleischlichen hat offenkundig das Mittelalter überdauert und lebt in der lutherischen Konfessionskultur fort. Neben dem Leben kommt, selten genug, auch das Jenseits in den Blick: Die Predigten neigen nicht zur Ausmalung des Jenseits, sondern bleiben 49

Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Fiiiv. Mylius, Christliche Leichpredigt Johann Schröter Ciiiv. 51 Mylius, Christliche Leichenpredigt Sophia Eulenbeck Diiiv; ähnlich Major, Trawerund Leichpredigt Johann Gerhard (Ed. Steiger) 309,15–17; zur Bedeutung dieses Gedankens in der lutherischen Frömmigkeitskultur s. WERNER ELERT, Morphologie des Luthertums. 1. Bd.: Theologie und Weltanschauung des Luthertums hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert, München ³1965, 412f. 52 Mylius, Christliche Leichpredigt Johann Schröter Biiir. 53 Mylius, Christliche Leichenpredigt Sophia Eulenbeck Aiiir-v. 54 Mylius, Christliche Leichpredigt Johann Schröter Biiir. 50

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meist, wie ja die Epitaphien mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts auch, an der Schwelle hierzu stehen. Lediglich in der Predigt über Geymann, in der die Konstellation des frühen Todes in besondere Weise greifbar die Notwendigkeit der Tröstung mit unterschiedlichen Argumenten aufwarf, gibt es eine Andeutung über den jenseitigen Zustand: „Das E.G. vnnd H. Son seliger / nicht Todt ist / sondern nur schlefft vnnd ruhet von seiner arbeit / vnd alldieweiln Christus sein leben / so mus auch sterben sein gewinst sein.“55

Die Anspielung auf Phil 1,21 unterstreicht die christologische Vermittlung des Trostes, wie sie sich bildlich auch in verschiedenen Epitaphien findet, in denen Verstorbene vor dem Kruzifix dargestellt werden – nicht zuletzt ja auch das oben erwähnte Epitaph Geymanns selbst: Jesus Christus als der Trost, das begründet dann für Fischer auch, dass Christen sich von den Heiden unterscheiden: Statt wie diese zu trauern, könnten sie christlich vertrauen56. Georg Mylius freilich, der mit Geymann eng verbunden war – Geymann hatte bei ihm Unterkunft genommen57 und war in seinen Armen gestorben58 teilte die christologische Ausschließlichkeit in der Begründung des Trostes, die Fischer in seiner Predigt auf Geymann vornahm, nicht: Ihm war nicht allein die Erlösung in Christus Grund des Trostes, sondern auch die Einsicht in die Endlichkeit des Menschen, wie sie etwa am Beispiel des Anaxagoras deutlich wird, der bei der Mitteilung vom Tod seines Sohnes gesagt haben soll, er wisse, dass er sterblich sei59.

3. Mediale Funktionen Die ausgeführten Deutungen des Todes finden sich, wie erwähnt, nicht zufällig in dem ausführlichsten Medium, das hier zur Quellengrundlage gewählt wurde: den Leichenpredigten. Die dort zu findenden Aussagen finden zwar Entsprechungen auf Grabsteinen und Epitaphien, ein durchgängiger inhaltlicher Vergleich lässt sich aber aufgrund der unterschiedlichen Intensität und Ausführlichkeit der Aussagen nicht durchführen. Gleichwohl kann der etwas genauere Blick auf die sich in ihnen äußernde Todesmemoria dazu beitragen, ihre jeweilige unterschiedliche Funktion und damit ihren je spezifischen medialen Beitrag zu bestimmen. Die drei vorgestellten Medien religiöser Todesverarbeitung lassen sich dabei – wie55

Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Biiir. Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Fii r-v. 57 Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Aiiiv. 58 Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Biiv. 59 Mylius, Christliche Leichenpredigt Sophia Eulenbeck Cjr. 56

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derum unter dem angedeuteten Vorbehalt, dass das vorliegende Vergleichsmaterial nicht sehr umfangreich ist und Verallgemeinerungen nur mit großer Vorsicht zulässt – unterschiedlich einordnen. Für die Grabsteine ist es charakteristisch, dass jedenfalls die textliche Re-präsentation der Memoria kurz ist (über bildliche Darstellungen ist jedenfalls in den beiden hier vorliegenden Fällen nichts zu erfahren), in der Regel reduziert auf einen Verweis auf die verstorbene Person und, knapp skizziert, ihre Bedeutung sowie ihr seliges Sterben. Als Adressat des Grabsteins, der, soweit rekonstruierbar, in der Regel im Kirchenschiff untergebracht ist, kommen einerseits die Hinterbliebenen in Betracht, die gezielt den durch den Grabstein gekennzeichneten Ort der Grablege aufsuchen, andererseits die Gemeinde, die in eher zufälliger Konfrontation mit dem Grabstein während der Bewegung in der Kirche auf den Verstorbenen hingewiesen wird. Die Reichweite ist dadurch lokal begrenzt, die inhaltliche Extension stark auf das personale Gedächtnis im Sinne des Hinweises auf den Begräbnisort konzentriert. Das ist bei den Epitaphien schon etwas anders, bei denen insbesondere die räumliche Situierung im Kirchenraum irritierend ist: In der Regel befinden sie sich wie oben bereits erwähnt, im Altarraum. Der Gemeinde werden sie so vornehmlich beim – in der Stadtkirche täglich gefeierten60 – Abendmahl sichtbar, also in einer liturgischen Situation, die gerade von Andacht erfüllt und nicht von dem Blick auf die Umgebung geprägt sein sollte. Ihre mediale Funktion ist damit nur schwer erklärbar bzw. es fragt sich, welcher Kommunikationssituation sie eigentlich als Medium dienen sollen: Die Aufstellung des Grabsteins im Kirchenschiff hat offenbar eine höhere Chance auf allgemeine Aufmerksamkeit als die des Epitaphs im Chorraum. Angesichts dieses offenkundigen kommunikativen Defizits sticht die Kontinuität zu spätmittelalterlicher Praxis ins Auge, und Maria Deiters hat die interessante These vorge-tragen, dass die Situierung der Epitaphien im Raum für eine relativ ungebrochene Fortsetzung spätmittelalterlicher Vorstellungen von einem „durch eine besondere Anwesenheit Gottes privilegierten Raum“ innerhalb der Kirche, eben dem Altarraum, darstelle61. Freilich scheint diese Vermutung ohne textliche Belege gewagt, da sie schwerlich dem Verständnis des Altars im Luthertum entspricht. Gleichwohl ist die bleibende Suche nach dem Chor als einem privilegierten Raum auffällig. Am Ehesten wird man wohl annehmen dürfen, dass die primär bildliche Argumentation des Epitaphs es ermöglichte, diesen Bereich als besonders hervorgehoben wahrzunehmen und zu nutzen, also dem Text eine untergeordnete Bedeutung für die mediale Funktion der Epita60 S. ERNST KOCH, St. Michael und seine Pfarrer im 17. und 18. Jahrhundert, in: Leppin / Werner, Inmitten der Stadt, 153–162, 154f. 61 Deiters, Individuum 55.

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phien zu geben, auch wenn es erst dieses Text ist, der den personalen Bezug des Epitaphs eindeutig erschließt – das Epitaph aber unterscheidet sich von den Grabsteinen eben gerade dadurch, dass der Akzent nicht auf dem Text, sondern auf dem Bild liegt, weswegen auch die primäre Botschaft dieser Memorialgegenstände nicht das erst durch den Text erschlossene individuelle Gedächtnis sein dürfte, sondern das durch den Bild erschlossene angemessene Verhalten der pietas, so dass diese Analyse der möglichen medialen Funktion der Epitaphien bestens zu dem oben zu den Leichenpredigten Herausgearbeiteten passt, denen ja auch neben der individuellen Erinnerungsgestalt ein stark paränetisch verallgemeinernder Zug eignet. In jedem Falle teilen die Epitaphien mit den Grabsteinen durch ihre Lokalisierung im Kirchenraum nicht nur die lokale Begrenztheit der Memorialisierung, sondern verstärken diese sogar noch. Inhaltlich reicht das Spektrum bei ihnen allerdings weiter. Allein schon das Bildprogramm ermöglicht eine theologische Aussage über den Tod und den Trost in ihm, wobei die christologische Zentrierung dieses Trostes im Mittelpunkt steht. Über diese theologische Aussage hinaus aber enthalten die Bilder auch eine spezifische Memorialkomponente, insofern die verehrende Haltung der jeweiligen Verstorbenen vor dem Kruzifix ja, wie dargelegt, auch eine Aussage über deren pietas ist. Sofern es sich hier aber nicht um allgemeine Paränese, sondern um individuell zurechenbare Memoria handelt, wird diese erst durch die – für die meisten Betrachter nicht erkennbaren, weil erst aus der Nähe und bei genauerer Betrachtung lesbaren – Texte erschlossen. Die darin enthaltenen Hinweise auf die Verstorbenen gehen nun aber auch inhaltlich gelegentlich noch einen Schritt weiter als die Bilder und stellen nicht nur das vorbildliche und damit nachahmenswerte religiöse Leben der Verstorbenen in den Mittelpunkt, sondern gelegentlich kann es auch zu einer ausdrücklichen Hervorhebung ihrer persönlichen Leistungen kommen, am Deutlichsten im Falle Schröters, bei dem nicht allein ausdrücklich der Begriff der memoria fällt62, sondern dessen Leistung für die Jenaer Universität in starkem Maße hervorgehoben wird, wenn dem Epitaph zu entnehmen ist, er unus, also wohl: „er allein“ habe der Salana die Privilegien erwirkt. Das Epitaph wird damit nicht nur zum Hinweis auf religiös angemessene Haltung des Lutheraners, sondern dient durchaus auch dem Preis des Verstorbenen – und nicht nur seinem Preis, sondern auch, und das gehört zu den markantesten Merkmalen der hier zu beobachtenden Memorialkultur: dem derjenigen, die die memoria pflegen: Auf dem Epitaph Schröters heißt es auch, diese hätten Schröter „H(oc) S(ui) D(esiderii) M(onumentum)“ gesetzt63. Sprachlich ist dies kaum anders aufzulösen als: „dieses Denkmal ihrer [d.h. der Nachfahren] Sehnsucht“. Da62 63

Hallof, Inschriften 92. Hallof, Inschriften 92.

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mit aber wird die Memorialfunktion eine doppelte: Zugleich mit der Erinnerung an den Verstorbenen wird auch die Trauer bzw. Sehnsucht der Stiftenden selbst zum Memorialgegenstand: Das Epitaph ist nicht nur Ausdruck von Trauer, sondern zugleich auch ihre Dokumentation. Ausdruck derselben Haltung ist es, wenn die Nachfahren, die das Epitaph gestiftet haben, namentlich genannt werden, wie im Falle Geymanns, bei dem die Eltern zwar nicht ausdrücklich als Stifter identifiziert, aber durch ihre namentliche Nennung doch auch selbst auf Dauer zum Gegenstand des Gedächtnisses gemacht werden. Allein schon durch ihre textliche Form unterscheiden sich die Leichenpredigten selbstverständlich vom Grabstein wie vom Epitaph. Für ihr Verständnis als Medium lutherischer Memorialkultur sind die unterschiedlichen Kommunikationssituationen zu bedenken, in denen sie begegnen konnten: Die ursprüngliche Kommunikationssituation ist die mündliche, für die es auch ein klares Adressatenprofil gibt: die bei dem Trauergottesdienst versammelte Gemeinde, die mit den Hinterbliebenen nicht identisch ist, aber zu starken und für den Prediger besonders wichtigen Teilen von diesen gebildet wird. Dieser ganz unmittelbare Bezug auf die Gemeinde vor Ort schlägt gelegentlich noch in der Druckfassung durch, wenn etwa Georg Mylius wie erwähnt Sophia Eulenbeck gegen den schlechtem Ruf aufgrund ihres mangelnden Gottesdienstbesuchs verteidigt und darauf verweist, sie habe sich aufgrund ihrer Erkrankung zu Hause predigen lassen64. Diese Kommunikationssituation ist grundsätzlich für jede Leichenpredigt des 16. oder 17. Jahrhunderts als primäre vorauszusetzen. Die hier untersuchten Leichenpredigten haben aber noch in eine weitere Kommunikationssituation hinein Wirkung entfaltet: Sie sind ja als Druckwerke erhalten, und insofern gibt es für sie auch eine Situation, in der sie für ein prinzipiell anonymes Publikum produziert wurden: Es gab offenbar ein über den unmittelbaren Traueranlass hinausgehendes Interesse an solchen Predigten. Wenigstens ein Teil des Publikums, das hieran Interesse hatte, gehörte deutlich gebildeten Kreisen an – sonst wären die erwähnten lateinischen, zum Teil sogar griechischen Beigaben schwer erklärlich. Die Attraktivität der Leichenpredigten liegt wohl daran, dass ihre äußere Form sie zu einer Art von Exempelliteratur macht – diesen Anspruch, über ein Exempel zu sprechen, erhebt Fischer in seiner Predigt zum Tode Geymanns sogar ausdrücklich65 und erhebt so den individuellen Tod eines jungen Mannes zu allgemeiner Bedeutung. Dieser Charakter als Exempelliteratur ergibt sich aus dem Zusammenspiel von allgemeinen Teilen und individuumsbezogenen: Die Predigt selbst ist in der Regel allgemein auf die Auslegung eines biblischen Textes und damit verbunden des Todesge64 65

Mylius, Christliche Leichenpredigt Sophia Eulenbeck Diiiir. Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Fiiiv.

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schicks der Menschen oder auch, wie oben ausgeführt, der angemessenen Lebensführung ausgerichtet. Platz für individuelle Bezüge ergeben sich in der Regel vor allem aus den Widmungsvorreden oder den Beigaben wie den erwähnten Epigrammen bei Schröter und Gerhard. So spiegelt sich im Einzelschicksal die grundsätzliche Bedeutung von Leben und Tod und umgekehrt. Damit entsprechen die Leichenpredigten in ihrer Funktion, wie oben verschiedentlich angesprochen, bestimmten Aspekten der spätmittelalterlichen ars-moriendi-Literatur, mit der sie die deutenden und vor allem normativen Einordnungen des Todesgeschicks teilen. Während aber die artes moriendi zu einer starken Typisierung des allgemeinen Todesgeschicks neigten, bot der unmittelbare Bezug auf ein individuelles Schicksal in den Leichenpredigten die Möglichkeit, vielfältigen individuellen Formen des Todesgeschicks in plastischer Weise Raum zu geben: Trotz der schmalen Quellenbasis begegneten in den hier untersuchten Fällen höchst unterschiedliche Einzelschicksale, die jeweils auf ihre Weise bemerkenswert sind und an denen sich auch Allgemeines zum Tod ablesen lässt, die aber ihrerseits nicht in ein allgemeines Raster des Todesverständnisses eingeordnet werden können. Und der individuelle Bezug nicht auf den allgemeinen Vorgang der Bereitung zum Sterben, sondern speziell auf eine spezifische Memorialsituation, den Tod eines einzelnen Menschen, gibt noch einer weiteren Dimension Raum, die in den mittelalterlichen artes moriendi kein großes Gewicht hatte: der Trauer der Hinterbliebenen. Die Belehrung, wie man leben soll, um recht zu sterben, ist nur ein, deutlich an das späte Mittelalter anknüpfender, Aspekt der Leichenpredigten. Aus ihrer primären Kommunikationssituation und deren Reflex auch in der gedruckten Fassung ergibt sich darüber hinaus auch der Trostaspekt für die Hinterbliebenen. Erkennbar ist dies vor allem, wo dem Druck eine Widmung an sie beigegeben ist, am Deutlichsten in der Vorrede Samuel Fischers an Johann Christoph Geymann, den Vater des jung verstorbenen Johann Balthasar Geymann: Fischer stellt dem trauernden Vater den biblischen David als Vorbild vor Augen und erinnert an dessen Trauer angesichts des Todes seines ersten Sohnes mit Bathseba: Er sei schon bald wieder aus seiner Trauer aufgestanden und in das Haus des Herrn gegangen66, mit anderen Worten: Die Trauer hat ihn nicht aus seinen religiösen Normalvollzügen gerissen. Dass dahinter eine echte religiöse Krise beim Vater steht, dringt ebenfalls in diesen Reflexionen durch: Fischer erwähnt, dass „der Wunderbare vnnd verborgene Gott“ – also der deus absconditus – die Bitten des Vaters nicht erhört habe67. In dieser Situation wird der Trost nicht christologisch vermittelt, sondern durch einen Verweis auf die Begrenztheit des Menschen im Angesicht Gottes aufgehoben: „Denn es stehet 66 67

Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Aiir-v. Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Aiiir.

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doch vnser / vnnd aller Menschen / wes standes die sindt / leben vnnd sterben / in Gottes henden“68. Es legt sich nahe, dass solche Äußerungen besonders offen für die Rezeption durch Menschen in vergleichbaren Situationen der Trauer waren. Auch die höchst individuelle Ansprache an den trauernden Vater also hat einen allgemeinen Bezug, dem aber die Individualität ein hohes Maß an Kon-kretion gibt. Freilich endet die Bedeutung der Leichenpredigt nicht mit diesen Elementen allgemein poimenischer Art, sondern in auffälliger Weise, und stärker als beide anderen Medien lutherischer Todesmemoria dienen die Leichenpredigten zwar nicht generell, aber doch im Einzelfall auch dem unverhohlenen Preis des Verstorbenen. Dies ist offenkundig im Falle Schröters und Gerhards: Die Beigaben diverser Reden und Epigramme auf sie dient offenkundig nicht allein dazu, durch diese zusätzlichen Texte weitere Formen der Todesverarbeitung über die Predigt hinaus zu eröffnen – dies mag auch ein Aspekt sein. Viel auffälliger aber ist gerade durch die Fülle und willkürlich anmutende Sammlung dieser Epigramme – und erst recht durch die für Gerhard erwähnte Gattung der laudatio funebris69 –, dass sich in ihnen die Bedeutung des Verstorbenen spiegelt: Wer so vielfach gepriesen wird, hat offenkundig im Leben eine herausragende Bedeutung gehabt. Die eingangs angesprochenen Auswanderung der Verherrlichung des Verstorbenen aus bestimmten Medien der lutherischen Todesmemoria, die sich schon im Vergleich der Epitaphien mit den Grabsteinen nur zum Teil bestätigt hat, insofern in Letzteren durchaus auch Motive der Verherrlichung zu beobachten sind, stellt sich in diesem Sinne eher als transformierende Umverlagerung dar: Sie findet nun im Medium der gedruckten Leichenpredigt statt – und eine mediale Analyse wird darin weniger eine Reduktion als eine Steigerung sehen, denn im Unterschied zum Epitaph ist der Druck ja in seiner räumlichen Verbreitung viel weiter reichend, und prinzipiell dürfte auch die zeitliche Erstreckung dieser Memoria nicht geringer veranschlagt worden sein als im Falle eines Epitaphs: Gilt dessen mediale Funktion vor allem der Gemeinde vor Ort – und dies auch noch, wie oben gezeigt – gegebenenfalls in eingeschränkter Form, so ist die Verherrlichung durch das gedruckte Epigramm der gesamten Gelehrtenwelt zugänglich. Wie bei den Epitaphien lässt sich dabei aber auch eine Ausweitung der Memorialkultur auf die Trauernden beobachten: Wer ein Epigramm auf einen anderen Menschen dichtet, zeigt darin seine Verehrung für diesen Menschen – aber er zeigt auch seine eigene poetische Befähigung, dieser Verehrung Ausdruck zu geben.

68 69

Fischer, Leichpredigt Balthasar Geymann Aiiiir. Dilherr, Laudatio Funebris.

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Fazit Der Durchgang hat selbst anhand einer ganz schmalen Quellenbasis gezeigt, dass das Luthertum über eine Vielfalt von Medien der Todesmemoria mit je spezifisch unterschiedlicher medialer Funktion verfügte. Während Grabstein und Epitaph dabei zunächst Fortsetzung mittelalterlicher medialer Kommunikation sind, kann die gedruckte Leichenpredigt als eine tatsächliche Innovation70 angesehen werden, wie sie überhaupt erst im Gutenberg-Zeitalter möglich war, nun aber im Rahmen der Todesmemoria als durchaus eigener Beitrag zu dieser mit einer eigenen Funktion genutzt wurde. Im Einzelnen ergeben sich bei der Betrachtung der Medien lutherischer Memorialkultur drei wichtige Aspekte: der Umgang mit dem Preis der Toten, die Einbeziehung der Perspektive der Überlebenden und die Frage der Verbindung von Allgemeinheit und Individualität. Der Preis der Toten hat dabei auf dem Grabstein keinen Platz, auf dem Epitaph nur einen begrenzten. Er wanderte weitestgehend in die Leichenpredigt aus und erfuhr damit eine räumliche Entschränkung, unter medientheoretischen Gesichtspunkten also eine enorme Erweiterung seines potenziellen Wirkungskreises; nimmt man noch hinzu, dass das Druckmedium hier eine viel größere Ausführlichkeit erlaubte als das Epitaph, so kann man neben der Steigerung des Adressatenkreises auch von einer großen Erhöhung des informationellen Gehalts ausgehen. Anders ausgedrückt: Wo es gewünscht wurde, konnte mehr Menschen in größerer Ausführlichkeit das Lob der Toten gesungen werden als in einer Kultur, für deren Todesmemoria der wichtigste Ausdruck das Epitaph war. Ein weiterer, ebenfalls in den Leichenpredigten, aber nicht nur in ihnen festzumachender Aspekt ist, dass die Medien der Memorialkultur im Luthertum in neuer Weise der Perspektive der Überlebenden Raum gaben. Dies zeigt sich zum einen unmittelbar im Blick auf die Trauernden, am Eindrücklichsten im Falle des Vaters von Greymann, der in Fischers Vorrede direkt seelsorglich angesprochen und getröstet wird, so dass hier nicht nur, wie in der Leichenpredigt, das Todesgeschick biblisch gedeutet und vertieft wird, sondern auch die Trauerhaltung. Und die Trauernden hatten auch selbst Gelegenheit, ihre Trauer zu dokumentieren: Das oben zu den Stifternennungen auf den Epitaphien Ausgeführte, gibt hiervon beredtes Zeugnis ab und stellt zugleich den Übergang zwischen Trauerausdruck und Selbstmemorialisierung als Trauernder dar – eine Grenze, die in den Epigrammen bei Schröter und Gerhard unter Umständen schon überschritten ist, insofern sich in ihnen der Trauernde oder Mitleid Bekundete der Gelehrtenwelt wie der Nachwelt zugleich selbst als Dichter präsentiert. 70

Vgl. BERNDT HAMM, Wie innovativ war die Reformation?, in: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000) 481–497.

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Sind schon hierdurch sehr unterschiedliche Personengruppen – die Verstorbenen einerseits, die Überlebenden und unter ihnen besonders die Hinterbliebenen andererseits – in die Memorialkultur einbezogen, so gewinnt diese schließlich einen hohen Grad an Allgemeinheit: Sowohl die Bilder der Epitaphien, die die fromme Haltung der Verstorbenen zeigen, als auch die oben gedeuteten paränetischen Aspekte der Leichenpredigten schaffen einen Zusammenhang des je und hier bedachten individuellen Geschicks mit dem allgemeinen Todesgeschick, der den Tod deutend in das Leben der Glaubenden hineinnimmt. Und die besondere Leistung der lutherischen Memorialkultur lag darin, durch die Exempelliteratur der Leichenpredigt der individuellen Vervielfältigung des Todesgeschicks Rechnung zu tragen und diese Vielfalt gleichwohl in eine gemeinsame christliche Deutungsperspektive hineinzustellen. Es wurden nicht wie in den artes moriendi allgemeine Regeln zum Umgang mit Tod und Sterben gegeben, sondern sehr konkrete Einzelschicksale wurden vor biblischem Hintergrund beleuchtet und gedeutet. In dieser mehrfachen Perspektive wird die spezifische Transformationsgestalt der lutherischen Memorialkultur gegenüber dem Mittelalter deutlich: Die verschiedenen Züge des Tradierten, insbesondere das Anknüpfen an bestimmte Funktionen der ars-moriendi-Literatur, aber auch das Aufgreifen raumgestaltender Zuordnungen bei den Epitaphien, haben ihr eigenes Gewicht, sie gehen aber in eine Konzeption neuzeitlicher Memoria ein, in der die Individualität der Todesschicksale ein neues Gewicht erhält: Bei den Verstorbenen ebenso wie bei den Überlebenden und nicht zuletzt auch bei den Rezipienten der Medien der Memorialkultur, denen diese dazu dienen können, ihr eigenes Schicksal im allgemeinen gespiegelt zu sehen. In dieser individualisierten Memorialkultur wurde in der Tat ein Medium von ganz entscheidender Bedeutung: der Buchdruck, der es ermöglichte, in dem neuen Medium der Leichenpredigt zugleich raumentschränkend und intensivierend das Gedächtnis der Verstorbenen zu pflegen.

Frühe Massenmedien im Internet Das Münchner Datenbankprojekt „Konfessionelle Bildpublizistik der Frühen Neuzeit“ TIM LORENTZEN Über die Medialität seines Gegenstands muss dieser Beitrag1 in doppelter Hinsicht reflektieren: In ihm geht es um die Erschließung frühneuzeitlicher Massenmedien mit Hilfe eines gegenwärtigen. Wird auf den folgenden Seiten also von einer Datenbank die Rede sein, die ihren Benutzern mühelos Druckerzeugnisse konfessioneller Bildpublizistik des 16. und 17. Jahrhunderts bereitstellt, so erfüllt sich die Aufgabe keineswegs in einem bloßen Projektbericht. Vielmehr kann der Zugang nur exemplarischer Art sein, um aktuelle Grundfragen kirchengeschichtlicher Arbeit mit Bildquellen zu problematisieren. Von solchen methodologischen Problemen ausgehend, werde ich daher im folgenden zunächst einige Vorüberlegungen zu einer kirchenhistorischen Bildkunde referieren, die an unserem Institut (Lehrstuhl Prof. Oelke, Ludwig-Maximilians-Universität München) bei der Arbeit mit frühneuzeitlicher Druckgraphik leitend gewesen sind, sich aber genausogut auch für andere Epochen unseres Faches verstehen lassen. In einem zweiten Schritt wird knapp das hier in Frage kommende Material zu charakterisieren sein, bevor drittens über Aufbau und Benutzung unserer Forschungsdatenbank Konfessionelle Bildpublizistik der Frühen Neuzeit gesprochen werden kann. 1. Wer als evangelischer Kirchenhistoriker das Quellenpotential von Bildern nutzen will, wird bald auf fundamentale Schwierigkeiten stoßen: Hinter das sola scriptura scheint die Bedeutung des Bildes im Protestantismus weit zurückzutreten. Obwohl die Kirchen der Reformation reiche ikonographische Traditionen besitzen, blieb stets eine latente Skepsis gegenüber dem Bild als solchem. Die Geschichtswissenschaften, deren konventionel1

Beim Aufbau der hier vorzustellenden Datenbank haben sich mit großem Einsatz die nacheinander am Lehrstuhl für Kirchengeschichte II beschäftigten Hilfskräfte Clarissa Frobenius, Maike Goldhahn und Regina Dietl verdient gemacht; zugleich erwies sich das computertechnische Engagement von Philipp Stoltz als überaus hilfreich.

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Tim Lorentzen

ler Methodenkanon maßgeblich im evangelischen Preußen des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, sind auch aus diesem Grund stets vorrangig am geschriebenen Wort orientiert gewesen.2 Eine evangelische Kirchengeschichtsschreibung, die Bilder nicht nur illustrativ, sondern als Quellen ersten Ranges heranzöge, scheint daher ein Widerspruch in sich selbst zu sein. In den letzten zwei Jahrzehnten ist es in den Geschichtswissenschaften zwar zu einer Hinwendung zum Bild und seinem Quellenpotential gekommen, so dass vielfach von einem visual oder gar iconic turn die Rede ist,3 doch ist damit noch keine allgemein akzeptierte Ergänzung des konventionellen Methodenarsenals einhergegangen. Für den Hamburger Historiker Rainer Wohlfeil und seine Frau Trudl Wohlfeil stellte sich dieses Feld als der „steinige Boden“ dar, so schrieben sie 1982, „auf dem der Historiker arbeitet, wenn er Bilder [...] als Quellen verwendet.“ Wo Bilder bis dahin überhaupt in die geschichtswissenschaftliche Anleitungs- und Einführungsliteratur eingegangen waren, mussten Wohlfeils feststellen, „daß in ihr vornehmlich das Material vorgestellt und klassifiziert wird, Vorschläge zur Sammlung, Aufbewahrung und Verzeichnung unterbreitet und Überlegungen zum Quellenwert vorgetragen werden, sie jedoch nur bedingt hilfreich ist in Fragen der Bildanalyse und der Vermittlung von Methoden zur umfassenden geschichtswissenschaftlichen Erschließung von Bildern“.4 Trotz einzelner früherer Vorstöße in die-

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Die klassischen Anleitungen zur Geschichtswissenschaft von Johann Gustav Droysen bis Ahasver von Brandt geben nicht zu erkennen, dass die Notwendigkeit einer eigenen Methodik zur historischen Arbeit mit Bildern überhaupt gesehen worden wäre. Vgl. J OHANN G. DROYSEN: Grundriß der Historik, Leipzig 1868; DERS.: Historik. Vorlesungen über Enzy-klopädie und Methodologie der Geschichte, München 1937; AHASVER VON BRANDT: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart u.a. 141996 (= Urban-Taschenbücher 33). – Lediglich Ernst Bernheim, der bildliche und schriftliche Tradition im Übrigen unterschiedslos behandelte, benannte in einem knappen Absatz den springenden Punkt: „Die Verwertung dieser Quellen als Zeugnisse ist oft erschwert infolge des Umstands, daß wir nicht wissen, was im ganzen oder im einzelnen durch ein Bild, eine Skulptur dargestellt und damit gemeint ist“ – es ist die Frage nach der Bedeutung des Bildes, nicht nur nach seiner Wirklichkeitstreue. Auch Bernheim vermied freilich den konsequenten Schritt zu einer eigenen Methodik. Vgl. ERNST BERNHEIM: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig 5–61908, S. 506 (Hervorhebung T.L.). 3 Vgl. die ursprüngliche Begriffsprägung bei GOTTFRIED B OEHM: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38: hier S. 13. 4 RAINER und TRUDL W OHLFEIL: Landsknechte im Bild. Überlegungen zur ,Historischen Bilderkunde‘, in: Peter Blickle (Hg.): Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag am 23. Mai 1982, Stuttgart 1982, S. 104–119.

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se Richtung5 herrschte also noch vor einem Vierteljahrhundert erheblicher Klärungsbedarf. Seitdem hat sich freilich einiges getan. Aufbauend auf dem kulturwissenschaftlichen Ansatz von Aby Warburg6 und dem Konzept der ikonographisch-ikonologischen Bildanalyse von Erwin Panofsky7 entwickelte Rainer Wohlfeil ein eigenes Modell der „Historischen Bildkunde“, das er 1991 in einem gleichnamigen Sammelband zur Diskussion stellte.8 Es geht davon aus, dass jedem Bild, unabhängig von unserem ästhetischen Einverständnis, ein „historischer Dokumentensinn“ eignet, der unter Beachtung bestimmter ikonographisch-ikonologischer, kulturgeschichtlicher und historiographischer Regeln entschlüsselt werden kann, sofern jedes Bild „nicht nur geprägt ist durch seinen Schöpfer, sondern wesentlich auch bestimmt durch dessen Einbindung sowohl in Traditionen und Konventionen als auch in sein soziales Umfeld.“9 Die Historische Bildkunde fragt darum grundsätzlich nicht nach der künstlerischen Qualität eines Bildes, wie auch der Zweck einer solchen Arbeit nicht im Bild selbst zu suchen ist. Es gilt also keineswegs, das Kunstwerk als solches zu erklären (es muss nicht 5 Vgl. etwa REINHART STAATS: Theologie der Reichskrone. Ottonische „Renovatio Imperii“ im Spiegel einer Insignie, Stuttgart 1976 (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters 13): hier S. 1–18 zur theologiegeschichtlichen Relevanz der ikonologischen Arbeit. 6 Vgl. EDGAR W IND: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik, in: Ekkehard Kaemmerling (Hg.): Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme, Köln 1979 (= DuMont-Taschenbücher 83; Bildende Kunst als Zeichensystem 1, ursprünglich in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), Beilageheft), S. 165–184. 7 Vgl. besonders ERWIN P ANOFSKY: Einführung. Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin, in: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts), Köln 1978 (= DuMont-Taschenbücher 33), S. 7–35; DERS.: Ikonographie und Ikonologie. Einführung in die Kunst der Renaissance, in: ebd., S. 36–67. 8 Vgl. RAINER W OHLFEIL: Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in: ders. und Brigitte Tolkemitt (Hg.): Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele, Berlin 1991 (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 12), S. 17–35; vgl. zu Beispielen kirchengeschichtlicher Anwendung von Wohlfeils Modell H ARRY OELKE: Konfessionelle Bildpropaganda des späten 16. Jahrhunderts: Die Nas-Fischart-Kontroverse 1568 / 71, in: Archiv für Reformationsgeschichte 87 (1996), S. 149–200; WERNER STEINWARDER: Romanische Kunst als politische Propaganda im Erzbistum Lund während der Waldemarzeit. Studien, besonders zum Bild der Heiligen Drei Könige, Frankfurt a.M. u.a. 2003 (= Beihefte zur Mediaevistik 3); Tim LORENTZEN: Ideologische Usurpation. Die nationalsozialistische Umgestaltung der Stiftskirchen zu Braunschweig und Quedlinburg als Zeichenhandlung, Wolfenbüttel 2005 (= Quellen und Beiträge der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig 15); DERS.: Almosenbretter, Opferstöcke und Gemeine Kästen – Quellen zur Armenfürsorge vor und nach der Reformation, in: Harald Meller u. a.(Hg.): Luthers Lebenswelten, Halle an der Saale 2008 (= Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte 1), S. 369–376. 9 W OHLFEIL: Methodische Reflexionen (wie Anm. 8), S. 22.

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einmal ein Kunstwerk sein), sondern es gilt Fragen zu beantworten, die außerhalb des Bildes liegen, und zu deren Beantwortung das Bild – wie andere Quellen auch – wichtige Aufschlüsse geben kann. Ebenso wie jedes schriftliche Dokument (eine Urkunde etwa, für die als Hilfswissenschaft die Diplomatik bereitsteht), so müsste auch das Bild etwa quellenkritisch überprüft werden, müsste nach Form und Inhalt, Autorschaft und möglichen Rezipienten, seinem Stil und Niveau, dem zugrundeliegenden Zeichenhaushalt, besonderen Signalen, erhellenden oder störenden Auffälligkeiten, Zitaten und Tropen befragt werden und vieles mehr – doch keineswegs, um das Objekt selbst zu erklären, sondern um mit Hilfe eines dergestalt erschlossenen Objekts die weitergespannten historischen (in unserem Fall kirchen- und theologiegeschichtlichen) Fragen beantworten zu können. In diesem Sinne geht die von Rainer Wohlfeil vorgeschlagene Methode von der noch ganz interpretationsfreien ,Vorikonographischen Beschreibung‘ eines Bildes aus, fragt dann zweitens in einer ,Ikonographischhistorischen Analyse‘ nach den verwendeten Bildzeichen und ihrer Interpretation in ihrem soziohistorisch-soziokulturellen Kontext und vor dem Hintergrund vergleichbarer künstlerischer und literarischer Quellen, und sie zielt auf der dritten Stufe endlich auf Erschließung jenes ,Historischen Dokumentensinns‘ der einzelnen Bildquelle im jeweiligen Fragehorizont des Historikers oder der Historikerin. Die hilfreichen Analyseschritte, die Wohlfeil für die drei Erkenntnisstufen vorschlägt, bedürfen an dieser Stelle keiner Wiederholung. Es versteht sich, dass dabei der methodische Erfahrungsschatz der Kunst- und Literaturwissenschaften eine kaum zu überschätzende Rolle spielen muss. Ikonographie und Ikonologie10, mittelalterliche Bedeutungskunde11 und barocke Emblematik12 stellen funktionierende Systeme gesetzmäßig lesbarer Zeichen bereit, die von den Geschichtswissenschaften nur vereinzelt und zögerlich aufgenommen wurden, ohne bisher in den Kanon notwendiger Grundlagen- und Hilfswissenschaften zu münden. Doch auch die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aufblühende Semiotik13 und die Sprechakttheorie14, die Medien10

Vgl. etwa P ANOFSKY: Sinn und Deutung (wie Anm. 7); Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von Engelbert Kirschbaum, dann Wolfgang Braunfels, Sonderausgabe, 8 Bde., Rom u. a. 1994. 11 Vgl. etwa FRIEDRICH OHLY : Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977. 12 Vgl. etwa ARTHUR HENKEL und ALBRECHT SCHÖNE (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe, Stuttgart u.a. 1996. 13 Vgl. etwa UMBERTO ECO: Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe von Jürgen Trabant, München 81994 (= Uni-Taschenbücher 105). 14 Vgl. grundsätzlich J OHN L. AUSTIN: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart 2002 (= Reclam

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und Kommunikationswissenschaften15 sowie die jüngsten Überlegungen zur Theorie der Erinnerung und des kulturellen Gedächtnisses16 wären dazu imstande, eine Historische Bildkunde weiter anzureichern, so dass das Wohlfeilsche Modell inzwischen bei weitem nicht den Schlusspunkt der Entwicklung darstellt. Demgemäß ist die Literatur heute stark angewachsen, wobei sich die Themenvarianz erheblich verbreitert hat.17 Jüngste Beispiele einer Integration bildkundlicher Anleitungen in die geschichtswissenschaftliche Einführungsliteratur lassen gleichwohl erkennen, dass in methodologischer Hinsicht noch wenig Einigkeit herrscht, indem biswielen etwa die Verwendbarkeit von Bildern noch immer an ihrer Realitätsnähe gemessen, ,fehlerhafte‘ oder ,manipulierte‘ Darstellungen dagegen als minderwertig eingestuft werden.18 Freilich wird auch zu bedenken sein, ob eine dezidiert kirchen- und theologiegeschichtliche Methodik zur Bildanalyse nicht auch bestimmte Spezifikationen gegenüber einer allgemeinhistorisch verstandenen Bildkunde vornehmen müsste. Vier Besonderheiten wären dabei speziell für unser Fach zu bedenken, die ein eigenes Regelwerk wünschenswert erscheinen lassen: Erstens ist die Rolle des Bildes im Christentum stets umstritten gewesen. Anders als die Allgemeingeschichte muss die Kirchenund Theologiegeschichte darum auch das ihr eigene Kontroversenspektrum zwischen Bilderverbot und Bilderkult berücksichtigen, besonders an epochalen Wendemarken.19 Dabei ist zweitens (im Sinne unseres Tagungs-

Universal-Bibliothek 9396); Zur Anwendung vgl. ansatzweise MARGIT KERN: Performative Schriftbilder im konfessionellen Zeitalter: Die Wende der Reformation vom Wort zum Bild, in: Thomas Kaufmann, Anselm Schubert und Kaspar von Greyerz (Hg.): Frühneuzeitliche Konfessionskulturen. 1. Nachwuchstagung des VRG Wittenberg, 30.09. –02.10.2004, Gütersloh 2008 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 207), S. 263–287. 15 Vgl. zunächst den Beitrag von Daniel Meier in diesem Band und die dort angegebene Literatur. 16 Vgl. J AN ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992 (= C.H. Beck Kulturwissenschaft); ALEIDA ASSMANN: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999 (= C.H. Beck Kulturwissenschaft). 17 Vgl. etwa ROLF REICHARDT: Bild- und Mediengeschichte, in: Joachim Eibach und Günther Lottes (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002 (= Uni-Taschenbücher 2271), S. 219–230; BERND ROECK: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004; GERHARD P AUL (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006. 18 Vgl. HERBERT EWE: Bilder, in: Friedrich Beck und Eckart Henning (Hg.): Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln u.a. 42004, S. 140–148. 19 Vgl. jetzt REINHARD HOEPS (Hg.): Handbuch der Bildtheologie, Bd. I: Bild-Konflikte,. Paderborn u.a. 2007. Der im Übrigen hilfreiche Band ist für die systematische

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themas) zu bedenken, dass es stets um das Heil ging, nicht um Geschmacksfragen. Anders als die Allgemeingeschichte muss unser Fach deshalb auch vom dominanten Ernst dieser Perspektive, ebenso jedoch von dessen epochen- und ortsabhängiger Dynamik profunde Kenntnis haben und hierauf bei der Interpretation von Bildern besonders Acht geben. Dazu kommt drittens, dass das Christentum eine ihm typische Kommunikationsgeschichte des Bildes kennt, insofern die Schrift – trotz des dekalogischen Bilderverbots – während vieler Jahrhunderte den höheren Gesellschaftsschichten, besonders dem Klerus, aber mehr noch dem Mönchtum, vorbehalten war. Anders als die Allgemeingeschichte muss daher eine dezidiert kirchen- und theologiegeschichtliche Bildkunde untersuchen, inwiefern Bilder als Medien für Laien und Illiterate geeignet waren (was oft, aber nicht grundsätzlich dasselbe war), und welche beabsichtigten oder unbeabsichtigten Wirkungen dies bei solchen Gruppen hatte. Und viertens schließlich muss im Rahmen theologischer Forschungen auch stets ein ‚konfessioneller Vorbehalt‘ eingeräumt werden. Anders als Allgemeinhistoriker sind kirchengeschichtlich arbeitende Universitätstheologen in der Regel auch einer Konfession verpflichtet, in deren Dienst ihre Arbeit steht. Das kann, wie jedem einleuchten wird, bei der Deutung bestimmter Sorten religiöser Bilder vielfache Auswirkungen auf die Ergebnisse haben, zum Beispiel bei polemischen Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts. 2. Spezieller Bedarf an einer Historischen Bildkunde zeigte sich früh bei der Arbeit mit illustrierten Flugblättern der Reformationszeit und des konfessionellen Zeitalters: „Like many historians who work on the German Reformation, I found that my eye was caught by the striking appearance of the illustrated broadsheets of that era – their vitality, their lack of inhibition, their frequently bizarre and sometimes puzzling themes“, so beschrieb Bob Scribner rückblickend die Faszination, die von solchen Drucken ausging. „However, further reflection on the nature and purpose of the broadsheets identified them primarily as a form of propaganda and this provided the springboard for more detailed exploration.“20 Bei der weiteren Erkundung solchen Materials war mithin zu bedenken, dass bloße Wirklichkeitsnähe offenbar kein ausreichender Beurteilungsmaßstab wäre – vielmehr war kommunikations-pragmatisch vom Aspekt der Meinungs- und Handlungsbeeinflussung der Rezipienten auszugehen. Damit jedoch war ein hermeneutischer Zugang erforderlich, der dem speziellen Charakter solcher Blätter in vollem Umfang Rechnung tragen müsste, und Arbeit an Bildern freilich ungeeignet und lässt insbesondere aus protestantischer Sicht signifikante Lücken erkennen; vgl. T IM LORENTZEN: Arbitrium 1 / 2008, S. 1–8. 20 ROBERT W. SCRIBNER: For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Oxford 21994, S. xiii.

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der nicht nur jeweils partiell die Bilder aus kunsthistorischer, die Texte aus sprach- und literaturwissenschaftlicher oder etwa den Schriftsatz aus verlagsgeschichtlicher Perspektive erklärte.21 Scribner selbst griff hierfür in seiner Darstellung der Popular Propaganda for the German Reformation bereits auf die Ansätze von Warburg und Panofsky zurück, reicherte sie jedoch durch semiotische Überlegungen an, um seinem sozialhistorischen Interesse Rechnung zu tragen: „Recourse to semiology was suggested not only by an awareness of the limitations of iconography, but also by a perception of the importance of a wider popular cultural context for understanding how images worked in any given society.“22 Harry Oelke, der anhand illustrierter Flugblätter ein Phasenmodell der Konfessionsbildung im 16. Jahrhundert entwickelte, fügte dem quellenanalytischen Instrumentarium zusätzlich kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen hinzu, die der Interpretation des Materials weitere Schärfe verleihen konnten.23 Unterdessen schritt auch die wissenschaftliche Erschließung und Publikation illustrierter Flugblätter voran. Nachdem 1970 der Leipziger InselVerlag eine luxuriös gestaltete Faksimilemappe mit Kommentarband24 vorgelegt hatte und in den darauffolgenden Jahren eine amerikanische Ausgabe zum German Single-Leaf Woodcut25 sehr rasch anwuchs, war es seit 1980 vor allem der Münchner Literaturwissenschaftler Wolfgang Harms, der mit einer monumentalen, exzellent kommentierten Ausgabe26 21

„Auf diese Weise konnte das Flugblatt wie ein Steinbruch benutzt werden, aus dem sich jedes Fach nahm, was es brauchte. Aber die einem Konzept unterworfene wechselseitige Kontextualisierung von Text- und Bildteil und die Situationsgebundenheit von Entstehung und Wirkung des einzelnen Blattes wurden erst spät beachtet“, so diagnostizieren die frühere Forschungslage auch W OLFGANG HARMS und MICHAEL SCHILLING: Einleitung, in: Dies.: Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Traditionen – Wirkungen – Kontexte, Stuttgart 2008, S. 7. 22 SCRIBNER: Simple Folk (wie Anm. 20), S. xvii. 23 Vgl. HARRY OELKE: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter, Berlin/New York 1992 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 57), S. 32– 36; DERS.: Konfessionelle Bildpropaganda (wie Anm. 8). 24 HERMANN MEUCHE (Hg.): Flugblätter der Reformation und des Bauernkrieges. 50 Blätter aus der Sammlung des Schloßmuseums Gotha, Kat. v. Ingeborg Neumeister, Leipzig 1976. 25 MAX GEISBERG (Hg.): The German Single-Leaf Woodcut 1500–1550, 4 Bde., New York 1974; W ALTER L. STRAUSS (Hg.): The German Single-Leaf Woodcut 1550–1600. A Pictoral Catalogue, 3 Bde., New York 1975; DERS. und DOROTHY ALEXANDER (Hg.): The German Single-Leaf Woodcut 1600–1700. A Pictoral Catalogue, New York 1977. 26 W OLFGANG H ARMS, z.T. mit M ICHAEL SCHILLING (Hg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, bisher 6 Bde., Tübingen 1980–2005; ferner erschienen: W OLFGANG HARMS u. a. (Hg.): Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl, Tübingen 1983 (= Deutsche Neudrucke Barock 30); DERS.: Illustrierte Flugblätter aus

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und durch zahlreiche weitere Publikationen27 die Grundlagen heutiger Flugblattforschung legte. Die Herausgabe dieses Quellenmaterials war eine Pionierarbeit. Denn schon durch ihre äußere Form als Einblattdrucke mit enger Verbindung aus Text und Bild fielen solche Blätter in der Regel durch die herkömmliche Aufbewahrungssystematik der Bibliotheken und wurden oft nur zu Päckchen gebündelt und ohne eindeutige Katalogisierung aufbewahrt. Auch der gewissenhafteste Bibliothekar mochte zweifeln, ob es sich nun um Kunstwerke oder vielleicht um Zeitungen oder Plakate handelte – oder doch nur um Schund. Eine Autorensystematik schied von vornherein aus, da nicht wenige Blätter anonym erschienen.28 Dass zahlreiche Exemplare stark zerlesen sind, sich bisweilen gar nur ein einziges erhalten hat, tat bei der Suche sein Übriges. Entsprechend schwierig gestaltete sich für Harms die Materialsuche: „Im September 1970 fragte er in der Wolfenbütteler Herzog August-Bibliothek, ob er illustrierte Flugblätter im Original sehen könne. Etwas verlegen wiesen ihn Bibliothekarinnen auf zwei größere Schubladen hin, in denen neben vielen gänzlich andersartigen Einzeldrucken mit Bildern tatsächlich auch derartige Blätter lagen. Es waren wohl genau diejenigen illustrierten Flugblätter, die in einem Brief an Herder vom 10. Januar 1779 Lessings Bewunderung gefunden hatten, doch waren sie gefaltet, manchmal mehrfach in scharfen Bügen, so daß die Gefahr des Zerreißens drohte, wenn man sie zu rasch zu Gesicht bekommen wollte.“29 Die unter solchen Bedingungen zusammengebrachten Drucke wurden in mittlerweile sechs nach größeren Sammlungen geordneten Bänden reproduziert und – mit wenigen Ausnahmen – ausführlich kommentiert. Diese Harmssche Ausgabe stellt der Forschung also Material zur Verfügung, das auf anderem Wege kaum noch oder nur unter Erschwernissen wie den angedeuteten benutzbar wäre. So knapp sich allerdings die formale und funktionale Gemeinsamkeit bestimmen lässt – einseitig bedruckter, an eine universelle Öffentlichkeit gerichteter Papierbogen mit enger Bezugnahme von Bild und Text – so ausufernd ist zugleich die Themenvielfalt des Materials, die sich in der Ausgabe sachgemäß widerspiegelt: Illustrierte Flugden Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe, Coburg 1983 (= Kataloge der Kunstsammlungen der Veste Coburg 40). 27 Vgl. nur exemplarisch die Bilanz von HARMS/SCHILLING: Das illustrierte Flugblatt (wie Anm. 21) und die dort angeführte Literatur. 28 In den Anfangsjahren der Reformation war entschiedene Anonymität von Flugschriften und -blättern ein charakteristisches Novum; vgl. T HOMAS KAUFMANN: Anonyme Flugschriften der frühen Reformation, in: Bernd Moeller mit Stephen E. Buckwalter (Hg): Die frühe Reformation als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199), S. 191–267. 29 HARMS/SCHILLING: Das illustrierte Flugblatt (wie Anm. 21) S. 8f.

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blätter brachten Sensationsnachrichten über spektakuläre Katastrophen, Kriege, Kriminalfälle, Feierlichkeiten, Missgeburten, seltsame Himmelserscheinungen – ebenso wie fromme Wunderberichte oder, in der Reformationszeit mit rapide steigender Tendenz, scharfe Polemik, aber auch kluge Argumentation im Rahmen konfessioneller Bildpublizistik. Die zuletzt genannte Gruppe ist kirchen- und theologiegeschichtlich natürlich am aussagekräftigsten. Doch eine scharfe Trennung ist unmöglich. Zwar lassen sich nachrichtliche und propagandistische (auf Meinungsbeeinflussung zielende) bzw. agitatorische (auf Handlungsbeeinflussung zielende) Funktionen der illustrierten Flugblätter unterscheiden; jedoch konnten durchaus auch Mitteilungen und Propaganda aufs engste vermischt sein (z.B. wenn eine tatsächliche oder fingierte Himmelserscheinung oder Missgeburt als göttliches Zeichen im Konfessionsstreit gedeutet wurde), und schon die von Scribner so ostentativ hervorgehobene Kategorie ,Propaganda‘ ihrerseits reicht kaum aus, um das gesamte Spektrum politischer und religiöser Beeinflussungsmöglichkeiten in der gebotenen Differenziertheit beschreiben zu können. So muss neben der beabsichtigten Beeinflussung von Meinungen und Handlungen stets auch die Heilsfrage als authentisches Thema der konfessionell ausgerichteten Bildpublizistik berücksichtigt werden. Sie darf nicht in jedem Fall als nur vorgeschobenes Argument zur Erreichung niederer Interessen simplifiziert werden. Illustrierte Flugblätter stellen ihrerseits freilich nur einen Teilaspekt konfessionellen Bildgebrauchs in der Frühen Neuzeit dar und sind darum innerhalb eines reichen Gesamtspektrums visueller Medien dieser Epoche zu interpretieren. Dabei wäre nicht nur an Druckgraphik zu denken, an illustrierte Flugschriften, Emblembücher, Bibeln, Titelholzschnitte oder Portraitblätter, sondern beispielsweise auch an konfessionsspezifische Neuschöpfungen in der Tafelmalerei, in den Ausmalungen und Ausstattungen von Kirchen, Spitälern und Rathäusern, in der Sepulchral- und Memorialkultur, auf liturgischem Gerät oder in der Numismatik. Etliche Motive und Bildprogramme, aber auch die ihnen zugrundeliegenden Argumentationsstrukturen, finden sich daher in unterschiedlichsten visuellen Kontexten, wodurch eine strikte Isolation einzelner Gattungen sich in der historischen Praxis zumeist verbietet. Die großen Ausstellungen zum Lutherjubiläum 1983 trugen diesem Variantenreichtum erstmals in voller Breite Rechnung.30 Dabei wurden Bilder konsequent als Teil des Geschehens 30

Vgl. Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte, Kataloge des Germanischen Nationalmuseums, Frankfurt am Main 1983; WERNER HOFMANN (Hg.): Luther und die Folgen für die Kunst. Hamburger Kunsthalle 10. November 1983 – 8. Januar 1984, München 1983; HARMS: Illustrierte Flugblätter Coburg (wie Anm. 26).

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und damit als Quellen ersten Ranges interpretiert, nicht mehr nur als Illustrationen schon anderweitig erschlossener und bekannter Sachverhalte. So wurde dieses Jahr gleichsam zu einer heuristischen Zäsur mit nachhaltiger Wirkung auf die Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung.31 3. Harry Oelke, der für einige seiner Studien32 illustrierte Flugblätter und andere Erzeugnisse der Druckgraphik unterschiedlichster Provenienzen verarbeitet hatte, verfolgte seit 2003 die Absicht, dieses divergente Material auf einer einheitlichen Oberfläche elektronisch zu speichern, um für die weitere Forschungsarbeit an seinem Lehrstuhl rasch und pragmatisch darauf zugreifen zu können. Es galt also, aus der thematischen Vielfalt der Harmsschen und anderer Ausgaben diejenigen Drucke zusammenzustellen, die erkennen ließen, dass sie für den Einsatz in den konfessionellen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit geeignet und zur Glaubens-, Meinungs- oder Handlungsbeeinflussung tendenziell an die gesamte Öffentlichkeit gerichtet waren. Für eine solche Sammlung bot sich die Einspeicherung hochauflösender Scans in eine Datenbank an. Bei ihrer technischen Umsetzung folgten wir drei Vorentscheidungen: Erstens schien es weder klug noch überhaupt erforderlich, die mühselige Arbeit der bisherigen Sammler wiederholen zu wollen, insofern von vornherein nicht die Absicht bestand, von den Originalen her vorzugehen. Denn zweitens sollte die Datenbank grundsätzlich auf die Arbeit am Lehrstuhl zugeschnitten sein, während an eine Nutzung durch Dritte zunächst nur sekundär gedacht war. Das schloss von Anfang an eine didaktische oder anderweitig öffentliche Form der Präsentation, Kommentierung, Musealisierung aus. Und drittens sollte zunächst nach einer bereits entwickelten und erprobten Lösung gesucht werden, statt erst kosten- und zeitraubend eine eigene Datenbank schaffen zu müssen. Der Münchner Kunsthistoriker Hubertus Kohle riet uns zu einer Beteiligung an einem größeren Bilderpool, der gleichsam genossenschaftsartig alle von den Mitgliedern eingespielten Daten zugleich allen zur Weiterarbeit überlässt. So kam es zur Mitwirkung bei Prometheus, einem deutschlandweit verteilten Bildarchiv, an dem das

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Vgl. OELKE: Konfessionsbildung (wie Anm. 23), S. 25. Vgl. ebd.; DERS.: Konfessionelle Bildpropaganda (wie Anm. 8); DERS.: „Da klappern die Steinn... und das Maul plappert“. Der Rosenkranz im Zeitalter der Reformation, in: Beat-Urs Frei und Fredy Bühler (Hg.).: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, Bern 2003, S. 86–97; DERS.: Papst, Türken und Christen. Ein Kinderlied Martin Luthers als Medienereignis der Reformation, in: Sonntagsblatt. Evangelische Wochenzeitung für Bayern, 31. Oktober 2004, S. 24–26; DERS.: Bilderkampf als Mittel zum Erfolg, in: Die Nordelbische, 12. Februar 2006; DERS.: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steur des Papsts und Türken Mord...“. Ein Kinderlied Luthers im Medienereignis Reformation, in: Lutherjahrbuch 75 (2008), S. 141–168. 32

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Kunsthistorische Institut in München mit einer eigenen Datenbank vertreten ist. Eine Partizipation über diesen Weg schien uns am günstigsten. Also wurden studentische Hilfskräfte an unserem Lehrstuhl beauftragt, unter Anwendung der genannten Kriterien die einschlägigen Ausgaben33 zu durchforsten, darüber hinaus auch einige Ausstellungskataloge und reformationshistorische Sekundärliteratur. Neben die illustrierten Flugblätter im engeren Sinne traten bisweilen auch mehrblättrige Flugschriften mit hohem Bildanteil34, vereinzelt auch Titelholzschnitte von Flugschriften, die sonst nur Text aufweisen, und andere Formen persuasiv eingesetzter Druckgraphik, zum Beispiel Portraits35. Die ausgewählten Objekte wurden von den Studierenden eingescannt und mittels einer elektronischen Eingabemaske mit möglichst knappen, aber präzisen Angaben zu den Bildund Textautoren, zum Erscheinungsjahr, zur Publikationsform und zum bibliographischen Fundort versehen. In einem späteren Durchgang wurde eine maßvolle Verschlagwortung nach konfessioneller Heimat und literarischer Klassifikation des jeweiligen Blattes hinzugefügt. Das auf diese Wiese nach einheitlichen Kriterien zusammengestellte Material wurde portionsweise in ArteMIS überführt, die Bilddatenbank des Münchner Instituts für Kunstgeschichte. In ihr stehen mithin Bilder aus allen kunstgeschichtlichen Epochen zur Verfügung, von denen unsere eigene Sammlung nur einen Bruchteil ausmacht. ArteMIS wiederum beteiligt sich zusammen mit 48 weiteren Bilddatenbanken in ganz Deutschland am verteilten Bildarchiv Prometheus, wo alle diese Sammlungen mit weit mehr als einer halben Million Bildern unterschiedlichster Provenienz durch eine gemeinsame Benutzeroberfläche erschlossen sind. Das Urheberrecht verlangt freilich eine Zugangslizenz, womit jedoch kein Veröffentlichungs- oder Verwertungsrecht an den geschützten Aufnahmen eingeräumt wird.36 Worin liegt der spezifische Mehrwert einer digitalisierten Sammlung, wie sie jetzt an unserem Lehrstuhl in überschaubarem Format zur eigenen und innerhalb von Prometheus in größerem Rahmen zur allgemeinen Verfügung steht, im Unterschied zu einer gedruckten Ausgabe? Erstens: Die in 33 Im Einzelnen waren dies: HARMS/SCHILLING: Deutsche illustrierte Flugblätter (wie Anm. 26); HARMS: Illustrierte Flugblätter Coburg (wie Anm. 26); HOFMANN: Luther und die Folgen (wie Anm. 30); Martin Luther und die Reformation (wie Anm. 30); OELKE: Konfessionsbildung (wie Anm. 23). 34 So etwa das von Philipp Melanchthon und Johannes Schwerdtfeger konzipierte, von Lucas Cranach d.Ä. illustrierte Passional Christi und Antichristi (1521). Diese antithetische Flugschrift gilt als „Paukenschlag“, der die reformatorische Bildpolemik eröffnete; OELKE: Konfessionsbildung (wie Anm. 23), S. 230. 35 Vgl. MARTIN W ARNKE: Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image, Frankfurt am Main 1994 (= kunststück). 36 Derzeit, im Herbst 2009, bestehen rund 8000 Einzelzugänge und 100 Campus- und Institutslizenzen. Zugang und Lizenzbedingungen unter www.prometheus-bildarchiv.de.

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Prometheus bereitstehenden Bilder dürfen für Lehrveranstaltungen und Vorträge verwendet werden, besonders aber auch für die wissenschaftliche Beschäftigung in der eigenen Studierstube. Der Zugriff auf den divergenten Bildbestand ist in elektronischer Form und durch die einheitliche Erschließung deutlich erleichtert. Freilich fehlt jetzt gegenüber der gedruckten Fassung der Kommentar wie auch weitere Instrumente der gedruckten Ausgaben, wodurch es immer noch unerlässlich ist, diese zur Hand zu nehmen. Das erscheint nur auf den ersten Blick als Rückschritt – denn auch bei der Verwendung schriftlicher Quellen, eines Urkundenbuchs etwa, durfte bisher auf die Hinzunahme von Literatur und Hilfsmitteln nicht verzichtet werden, und durch keine Edition im Internet ist bislang die ergänzende Arbeit mit Druckwerken obsolet geworden.37 Zweitens nützt der enorme Bildbestand, in dem die etwa 500 durch uns eingebrachten Druckgraphiken nurmehr einen kleinen Bestandteil bilden, insbesondere der Vergleichbarkeit unserer Flugblätter mit anderen Bildern außerhalb des eigenen Sammelgebiets. So können einzelne Motive der frühneuzeitlichen Bildpublizistik unmittelbar mit der ikonographischen Tradition des Hoch- und Spätmittelalters verglichen und anschaulich aus ihr hergeleitet werden. Bekannt ist, dass evangelische Bildautoren illustrierter Flugblätter sich häufig dieser frommen Bildtraditionen bedienten, die Motive jedoch für ihre Zwecke karikierten, polemisch kontrastierten oder gar konterkarierten. Solche kompositorisch oft ausgefeilten Störungen der alten Frömmigkeit können aus dem immensen Bestand von Prometheus nunmehr recht einfach veranschaulicht werden. Ähnliches gilt für die Nachwirkung einzelner Motive bis in unsere Tage. Das hängt drittens mit den Vorzügen der Suchinstrumente zusammen, mit denen innerhalb einer einzelnen Datenbank oder im gesamten Verbund bestimmte Künstler, Schlagworte oder Bildmotive recherchiert werden können. Die von uns eingespielten Bilddateien wurden primär mit dem gemeinsamen Schlagwort ,Flugblatt‘ versehen, um den eigenen Bestand innerhalb von ArteMIS und Prometheus auch künftig leicht isolieren zu können. Die eigene Sammlung kann sekundär nach konfessioneller Ausrichtung der Blätter durchsucht werden (nur bei deutlichem Bezug auf Luther ist präzisierend ,lutherisch‘ statt ,evangelisch‘ verschlagwortet worden) und nach literarischer Klassifikation (etwa ,Andachts-‘, ,Historien-‘, ,Prodigien-‘, ,Kriminalblatt‘ usw., wobei die Zuordnung auch konfessionsspezifisch vorgenommen wurde, so dass im evangelischen Bereich ,Lehr-‘ statt ,Andachtsblatt‘ dominiert). Ferner erlauben es die Suchfunktionen, 37

Das gilt selbst bei Hinzufügung weiterer Informationen, Integration von Hypertexten und so weiter. Vgl. insgesamt P ATRICK SAHLE: Digitale Editionstechniken und historische Quellen, in: Stuart Jenks und Stephanie Marra (Hg): Internet-Handbuch Geschichte, Köln u.a. 2001 (= Uni-Taschenbücher 2255), S. 153–166.

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z.B. nach Bild- und Textautoren oder in zeitlicher Eingrenzung zu recherchieren. Losgelöst von ihrem bisherigen Publikationskontext in den modernen Ausgaben stellen sich die Blätter nun auf einer einheitlichen Benutzeroberfläche als intersubjektiv interpretierbare Einzelobjekte dar, auf deren Lektüre wir uns bei der historischen Forschung unter alten und neuen Fragestellungen stützen können. Hierbei wäre zunächst der medien- und kommunikationshistorische Aspekt zu bedenken, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Faches Kirchengeschichte: Die illustrierten Flugblätter waren ein neues Massenmedium ihrer Zeit, das im ,Kommunikationsprozeß‘ nicht nur der frühen Reformation gemeinsam mit den Flugschriften, den Predigern, aber auch Winkeldiskussionen, Gesang und Aktionen die ,reformatorische Öffentlichkeit‘ prägte.38 Für die Wirkung beim ,gemeinen Mann‘ spielte besonders bei den Flugblättern neben der deutschen Sprache, dem überschaubaren Umfang und auch dem hierdurch geringeren Kaufpreis das enge Ineinander von Bild- und Textargumentation eine kaum zu überschätzende Rolle. Dabei waren es zuerst die Reformatoren, die sich eifrig der neuen Medien bedienten – und damit auch der persuasiven Möglichkeiten der Druckgraphik. Die altgläubige Seite dagegen stieg in den Bilderkampf erst zögerlich ein und konnte dann kaum aufholen, weil sich viele Drucker rasch auf den lukrativeren Absatz von Reformationspublizistik spezialisiert hatten.39 Das allzu simple Schema von katholischer Schaufrömmigkeit und evangelischer Bilderfeindlichkeit kann angesichts des Quellenbestands also nicht aufrechterhalten werden. Selbst bekannte Bilderkritiker wie Andreas Bodenstein von Karlstadt40 und

38

Vgl. BERND MOELLER: Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: Hartmut Boockmann (Hg.): Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, Göttingen 1994 (= Abhandlungen der Akad. der Wissenschaften in Göttingen; phil.-hist. Klasse 3,26); ROBERT W. SCRIBNER: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen?, in: Hans-Joachim Köhler (Hg.): Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980, Stuttgart 1981 (= Spätmittelalter und frühe Neuzeit 13), S. 243– 259; DERS.: Simple Folk (wie Anm. 20); RAINER W OHLFEIL: ,Reformatorische Öffentlichkeit‘, in: Ludger Grenzmann und Karl Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart 1984, S. 41–52; OELKE: Konfessionsbildung (wie Anm. 23), S. 92–138. 39 Vgl. RICHARD G. COLE: The Reformation in Print: German Pamphlets and Propaganda, in: Archiv für Reformationsgeschichte 66 (1975), S. 93–102. 40 Vgl. etwa HANS-GEORG THÜMMEL: Karlstadts und Cranachs „Wagen“ von 1519, in: Jörg Haustein und Harry Oelke (Hg.): Reformation und Katholizismus. Beiträge zu Geschichte, Leben und Verhältnis der Konfessionen. Festschrift für Gottfried Maron zum 75. Geburtstag, Hannover 2003 (= Reformation und Neuzeit 2), S. 66–96.

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Huldrych Zwingli41 griffen zu Beginn ihres reformatorischen Wirkens noch gern auf die populären Möglichkeiten der Druckgraphik zurück. Dass Bilder von Bilderstürmen überliefert sind (auf evangelischen Flugblättern nämlich!), spricht für sich. Am gespeicherten Gesamtbestand illustrierter Flugblätter lässt sich also auch die Popularisierung einzelner Theologumena beobachten. Besonders hierzu, nicht nur vordergründig bei sozialgeschichtlichen Fragestellungen, müssen Bild und Text gleichwertig interpretiert werden. Ein Beispiel wären jene illustrierten Flugblätter, auf denen, meist nur durch eine Mittelsäule geteilt, die altgläubige Messfeier und der reformatorische Wortgottesdienst antithetisch kontrastiert wurden, indem die evangelische Gemeinde unter dem Kreuz und der Gnade Christi versammelt war, die luxuriös ausgestattete Feier der Altgläubigen hingegen unter seinem Gericht stattfand oder mit ihrem Personal gleich in den Höllenschlund abgeräumt wurde. Der stets theologisch begründete Kontrast von ,falschem‘ und ,wahrem‘ Gottesdienst war regelmäßiges Thema von evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, einer Textsorte mithin, die primär für das geistliche Personal gedacht war. Theologen wie Martin Bucer und Johannes Bugenhagen hatten hierfür solche Begründungsmuster entwickelt, wonach ,falscher‘ Gottesdienst auf die kostspieligen Bilder im Kirchenraum, ,wahrer‘ dagegen auf die eigentlichen Bilder Christi gerichtet sei, seine Armen am Rande der Gesellschaft nämlich (nach Mt 25 und Lk 16,19–31).42 Die illustrierten Flugblätter konkretisierten nun freilich die unterschiedlich ausgestatteten Gottesdiensträume (auch die bilderlosen) im Bild, bei anschaulicher Kulmination spezifischer Kennzeichen von Kirchlichkeit, und verschärften die Antithetik als „eschatologische Konfrontation“43. Simplifizierungen wie diese werden die Wahrnehmung der kommunizierten Botschaft bei einfachen Leuten gewiss befördert haben, zumal dann, wenn sie mit den Faktoren ,Warnung‘ oder ,Angst‘ operierten, und wenn dem Rezipienten zugleich eine freundlichere Alternative angeboten wurde.44 Die illustrierten Flugblätter in ihrer Gesamtheit geben mithin auch reichen Aufschluss über solche Popularisierungsstrategien, die stets 41

Vgl. etwa CHRISTINE GÖTTLER: Das älteste Zwingli-Bildnis? – Zwingli als Bild-Erfinder: Der Titelholzschnitt zur „Beschribung der götlichen müly“, in: Hans-Dietrich Altendorf und Peter Jezler (Hg.): Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation, Zürich 1984, S. 19–39. 42 Vgl. T IM LORENTZEN: Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge, Tübingen 2008 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 44), S. 165–170 et passim. 43 SCRIBNER: Flugblatt und Analphabetentum (wie Anm. 38), S. 73. 44 Vgl. HANS-JOACHIM KÖHLER: Fragestellungen und Methoden zur Interpretation frühneuzeitlicher Flugschriften, in: ders.: Flugschriften (wie Anm. 38), S. 1–27: hier S. 8; OELKE: Konfessionsbildung (wie Anm. 23), S. 250f.

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unauflöslich mit der Heilsfrage verknüpft waren. Daher ging es in Wort und Bild stets aufs Ganze. Bisweilen jedoch wurden die heftigen konfessionellen Auseinandersetzungen auch von irenischen Tönen begleitet – ablesbar an Flugblättern, die in Wort und Bild das Gemeinsame des Christentums in den Vordergrund stellten.45 Bekannt wurde das Blatt Geistlicher Rauffhandel von 1619, das auf seiner linken Bildhälfte einen Kirchenraum zeigt, in dem der Papst, Luther und Calvin in wüste Handgreiflichkeiten verwickelt sind, auf der rechten dagegen einen in freier Dorflandschaft betenden Hirten – die fromme Einfalt, die Christus auf ihrer Seite hat. Der Text beklagt das Gezänk, das jede Möglichkeit einer Einigung von selbst ausschließt: „Der Babst die Heiligthumb verehrt / Luther und Calvin solchs abwehrt. Babst und Luther die Bilder leidn / Calvinus sagt: man soll sie meidn.“ Damit bedient sich das Blatt zwar der mittlerweile eingeübten satirischen Formen und verwendet sogar die erprobte Antithetik als Gestaltungsmittel, erkennt jedoch keiner der zerstrittenen Lehren das Heil zu und konterkariert auf diese Weise das formale Konzept bisheriger Blätter. So wie dieses Beispiel durch den Beginn des großen Konfessionskrieges veranlasst wurde, der später der Dreißigjährige heißen würde, lassen sich viele weitere illustrierte Flugblätter mit den großen Zäsuren der Reformationszeit und des konfessionellen Zeitalters in Zusammenhang bringen – doch dürfen sie dabei nie als bloße Illustrationen für längst bekannte Sachverhalte gesehen werden, sondern waren ihrerseits Teil des Geschehens und sind darum heute eigenständige Quellen, die der übrigen verbalen Überlieferung in jedem Fall neue Aspekte hinzufügen können. 4. Vor kaum 15 Jahren schlug der große Umberto Eco vor, die Buchbestände größerer Bibliotheken Seite für Seite einzuscannen und in einen zentralen Computer einzuspeisen. Dann könnte man sich an jedem Platz der Welt das Gewünschte kurzerhand ausdrucken. „Ich will hier nicht erzählen“, fuhr er fort, „wie die Lage heute ist, sondern wie sie in Zukunft sein könnte, wenn es gelingt, einige nicht unbeträchtliche technische Schwierigkeiten zu lösen. Wie wenn man vor ein paar Jahrzehnten eine Herztransplantation beschrieben hätte: Technisch war sie noch nicht machbar, aber unmöglich war sie nicht, wie wir inzwischen gesehen haben.“46 Wie wir inzwischen gesehen haben, war seine Vision tatsächlich machbar, schneller

45

Vgl. insgesamt OELKE: Konfessionsbildung (wie Anm. 23), S. 429–436 und Abb.

51. 46

UMBERTO ECO: Das Buch, ein technisch vollendetes Meisterwerk, in: ders.: Neue Streichholzbriefe, München 1997, S. 8–12.

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sogar als erwartet.47 Doch paradoxerweise stützt sich die Geschichtsschreibung immer noch primär auf das Wort – trotz der fortschreitenden Erschließung so großer Bildbestände. Diese werden auch heute in erster Linie von Kunstwissenschaftlern genutzt. Die systematische Auswertung von Bildern im Sinne historischer Quellen mit lesbarem Dokumentencharakter müsste nun rasch den technischen Möglichkeiten folgen. Anfänge dazu sind gemacht. Die Reformationsgeschichtsschreibung hat hier in jüngster Zeit einen Weg geebnet, der nun langsam auch hinsichtlich anderer Epochen beschritten wird.

47 Erinnert sei nur an das unüberschaubare (urheberrechtlich freilich problematische) Projekt von google.books – freilich ohne die Möglichkeit, Ausdrucke anzufertigen. Doch auch historische Editionen und Datenbanken im Internet sind in den vergangenen Jahren in kaum vorhersehbarem Maße angewachsen; vgl. noch als Zwischenstand SAHLE: Digitale Editionstechniken (wie Anm. 37).

Autorenverzeichnis CHRISTOPH BURGER Emeritierter Professor für Kirchengeschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam. FALK EISERMANN Leiter des Referats Gesamtkatalog der Wiegendrucke / Inkunabelsammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. JOHANNA HABERER Professorin für Christliche Publizistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. BERNDT HAMM Professor für Kirchengeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. VOLKER LEPPIN Professor für Kirchengeschichte und Leiter des Instituts für Spätmittelalter und Reformation an der Eberhard Karls Universität Tübingen. TIM LORENTZEN Wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für Kirchengeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. CHRISTINE MAGIN Leiterin der Arbeitsstelle Inschriften (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen) an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald. DANIEL MEIER Akademischer Rat an der Abteilung für Christliche Publizistik der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. SUSANNE SCHENK Assistentin am Lehrstuhl für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. PETER SCHMIDT Mitarbeiter am Projekt „Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. GURY SCHNEIDER-LUDORFF Professorin für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Personenregister Abaelard, Peter 49f. Achahilidis, Heilige 70 Adalbert von Samaria 28 Albert von der Pfalz-Mosbach, Bischof 163f. Albrecht von Bayern, Bischof 130 Amman, Caspar 198 Anaxagoras 18 Anna von Klingnau 76 Anselm von Canterbury 27–40 Antonius Eremita, Heiliger 164f. Antworter, Georg 106 Aristoteles 91f., 100 Augustinus, Aurelius 20, 87, 91f., 94 Balduin I. von Jerusalem, König 37 Bämler, Johannes 137 Bartholomaeus de Camerino 133 Becket, Thomas 160 Beda Venerabilis 52 Benedikt XII., Papst 72, 76 Bernhard von Waging 78f. Bernhard von Clairvaux 50, 52, 56f., 78, 87 Berthold, Bruder 71 Biel, Gabriel 128–130 Bonhoeffer, Dietrich 24 Bonifaz IX., Papst 113–119 Brandis, Lukas 127 Breydenbach, Bernhard von 181 Bucer, Martin 193, 241 Bugenhagen, Johannes 240 Cäcilia, Heilige 217 Cajetan, Thomas de Vio 198 Calixtus III., Papst 125 Calvin, Johannes 83, 241 Chappe, Paulinus 124f. Christine von Sachsen, Landgräfin 192f. Cicero, Marcus Tullius 91 Crabbe, Elisabeth 142 Crabbe, Petrus 142

Cranach, Lucas d. Ä. 195–197, 237 Cranach, Lucas d. J. 195f. Cristanni, Petrus 133 Cristoforo de Motis 169 Diether von Isenburg, Erzbischof von Mainz 131 Dilherr, Johann Michael 211 Dorothea von Brandenburg-Kulmbach, Markgräfin 142f. Dorsten, Johannes von 100 Dürer, Albrecht 174, 180 Eberlin von Günzburg, Johann 198 Elisabeth von Thüringen 24, 189f., 192f. Elisabeth von Bayern-Landshut, Herzogin 197 Emmerich von Kemel 131f. Epikur 92 Eulenbeck, Sophia 210, 214, 217, 221 Eulenbeck, Daniel 210 Eysenflam, Johannes Ulrich 132 Ferdinand I., Kaiser 208 Ferrarius, Johannes 190 Feyerabend, Sigismund 200f. Fischer, Samuel 208, 216, 218, 221 Flach, Martin 131 Franck, Sebastian 82 Fridolin, Stephan 50, 132 Friedrich der Weise, sächs. Kurfürst 95 Friedrich II. der Weise, pfälz. Kurfürst 198f. Frodelina 37 Fyner, Konrad 128–130, 136 Gehrung, Matthias 202 Gerhard, Johann 206, 211, 214–216, 222, 224 Gerhard, Maria 211 Gerson, Johannes (Jean) 88–94, 100

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Personenregister

Geymann, Johann Balthasar 207, 216, 218, 221f., 224 Geymann, Johann Christoph 208, 222, 224 Ghotan, Bartholomäus 132 Goethe, Johann Wolfgang von 22 Gregor der Große, Papst 35, 52, 64, 87, 100, 104, 141, 172, 176, 179 Gregor VII., Papst 27f. Greyff, Michael 128, 131 Guernes de Pont-Sainte-Maxence 160 Hartzesser, Georg 128 Haspel, Jörg zu Bibrach 56, 58 Hedio, Kaspar 199 Heinrich I. von England, König 29f. Helena, Flavia Julia 177 Helmstadt, Benedikt von 128 Herder, Johann Gottfried 234 Hermann von Hessen, Erz- u. Fürstbischof 96, 99 Honnecourt, Villard de 174 Horn, Matthias 130 Hugo Ripelin von Straßburg 141 Humbert II. von Savoyen, Graf 37 Innozenz IV., Papst 103 Innozenz VIII., Papst 75f., 131 Ivo von Chartres 27f. Johann Friedrich I., sächs. Kurfürst 187, 194–197 Johann der Beständige, sächs. Kurfürst 194 Johannes XXII., Papst 63 Johannes de Cardona 133 Johannes de Fabrica 141 Kachelofen, Konrad 128 Kammermeister, Hartung 123f. Kannengeter, Heinrich 132 Karl V., Kaiser 194, 198 Karlstadt, Andreas Bodenstein von 239 Katharina von Siena 151 Katzdaler, Wilhelm 132 Kaufmann, Johannes I., Abt von Ebrach 106 Kaufmann, Johannes 132 Koehlhoff, Johannes d. Ä. 135 Kues, Nikolaus von 124

Lanfrank von Bec 27f., 30 Lang, Moritz 150, 152 Laurana, Francesco 175 Lessing, Gotthold Ephraim 234 Lucas de Tollentis, Bischof von Sebenico 133 Ludolf von Sachsen 73 Ludwig VI., pfälz. Kurfürst 201 Ludwig VII. von Bayern-Ingolstadt, Herzog 202 Ludwig von Bourbon, Bischof 130 Lune, Henricus 133 Lupi, Johannes 107 Luschner, Johannes 136 Luther, Martin 22, 24, 26, 75, 101, 122, 175, 188f., 194-198, 200, 202, 213, 241 Major, Johann 206, 211, 215 Malcolm III. von Schottland, König 29 Margarete von der Saale 192 Margarete von Schottland, Königin 29 Mathilde von England, Königin 27–41 Maximilian I., Kaiser 187 May, Gregor 130 Meckenem, Israhel van 171, 173–176, 179f., 182 Meinrad, Heiliger 162 Meiser, Hans 22 Meister E. S. 46–48, 51, 57, 153–155, 162, 166 Meister des Veldener Hochaltarretabels 64, 66 Melanchthon, Philipp 188, 193, 199, 202, 237 Moritz, sächs. Kurfürst 194 Munthart, Paul 130 Mylius, Georg 209–214, 216–218, 221 Niehenck, Georg Vitus Heinrich 112 Nikolaus IV., Papst 103 Nikolaus V., Papst 125 Nikolaus von Clémanges, 92 Nixstein, Johannes 132 Osiander, Andreas d. Ä. 198 Ottheinrich, pfälz. Kurfürst 187, 197–203 Paltz, Johannes von 50, 52, 61, 71, 76, 87, 95–100

Personenregister Paschalis II., Papst 30 Peraudi, Raimundus 95, 138–143 Petrus Damiani 56 Petrus Lombardus 97, 99f. Peucer, Thomas 14 Philipp von Harveng 175 Philipp der Streitbare, Pfalzgraf u. Herzog von Pfalz-Neuburg 198 Philipp I. von Hessen, Landgraf 24, 187– 194, 202 Philipp II. der Kühne, burgund. Herzog 88 Pius II., Papst 126, 140 Platon 91 Poluciis, Johannes Maria de 136 Pupfel, Ludwig 132 Pythagoras 91 Radegundis, Heilige 70 Raffael (da Urbino) 148, 150 Rasch, Johann 200f. Reuwich, Erhard 181 Romuald, Heiliger 56 Rudolf von Werdenberg, Graf 133 Ruprecht von der Pfalz, Erzbischof u. Kurfürst 197 Salamanca, Antonio 148 Schedel, Hartmann 177 Schöffer, Peter 126, 131, 181 Schongauer, Martin 180 Schröder, Dietrich 113 Schröter, Johannes von 208f., 211f., 214, 216f., 220, 222, 224 Schürstab, Dorothea 64, 66, 75, 105 Schwenckfeld, Kaspar von 82

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Schwerdtfeger, Johannes 237 Seneca, Lucius Annaeus 92 Seuse, Heinrich 46 Sixtus IV., Papst 126-128, 130, 134 Solis, Virgil 200 Sophie von Mecklenburg, Königin 194 Stieler, Kaspar 14f. Stör, Burkhart 130 Struss, Johannes 131 Susanna von Bayern-München, Prinzessin, Markgräfin, Pfalzgräfin 198 Sybille von Jülich-Kleve-Berg, sächs. Kurfürstin 196 Tauler, Johannes 69 Thomas von Aquin 100 Trotha, Thilo von 130 Urban II., Papst 30 Valentin, Heiliger 163–165 Vergerio, Pier Paolo 198 Vergil 91f., 94 Vintler, Hans 174 Wacholt, Henning 110f. Waler, Kaspar 132 Wilhelm von Chartres 160 Wilhelm I. der Eroberer, König 29f. Wilhelm von Auvergne 100 Wimpfeling, Jakob 180 Zöpfer, David 200f. Zwingli, Huldrych 240