Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert: Studien zu Schlüsselbegriffen unserer Zeit [Reprint 2014 ed.] 9783486833881, 9783486567069

Masse und Macht sind Schlüsselbegriffe zum Verständnis der Moderne. Die Einbeziehung einer wachsenden Zahl von Menschen

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German Pages 199 [200] Year 2003

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Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert: Studien zu Schlüsselbegriffen unserer Zeit [Reprint 2014 ed.]
 9783486833881, 9783486567069

Table of contents :
Einleitung
Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert
The Life and Death of a Long Peace: Austro-German-Russian Relations, 1763-1914
Vom Kabinettskrieg zum totalen Krieg: Der Gestaltwandel des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert
Wechsel, Wandel und Dauer der Staatsformen im 19. und 20. Jahrhundert - Anmerkungen zur Geschichtlichkeit und Normativität von Verfassungen
Pars pro toto? Die Entwicklung der Parteien vom Honoratiorenklub zur Massenbewegung und der demokratische Staat
Medienmacht und Massen Wirkung. Von der fragmentierten Öffentlichkeit zur internationalen Kommunikationsgemeinschaft?
Rad der Geschichte? Über die Rolle der deutschen Montanindustrie in der sozialen und politischen Verfassung des späten Kaiserreichs
„Wissen ist Macht“: Vom Rang durch Geburt zur Qualifizierung durch Bildung
‘The thin crust of civilisation’, the masses, power and political religions
Autorenverzeichnis

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Masse und Macht

Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert Studien zu Schlüsselbegriffen unserer Zeit Herausgegeben von Ulrich Lappenküper Joachim Scholtyseck Christoph Studt

R. Oldenbourg Verlag München 2003

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2003 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagentwurf: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-56706-3

Inhalt

Einleitung

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Peter Stadler Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert

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Paul W. Schroeder The Life and Death of a Long Peace: Austro-German-Russian Relations, 1763-1914

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Michael Salewski Vom Kabinettskrieg zum totalen Krieg: Der Gestaltwandel des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert

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Josef Isensee Wechsel, Wandel und Dauer der Staatsformen im 19. und 20. Jahrhundert - Anmerkungen zur Geschichtlichkeit und Normativität von Verfassungen

67

Winfried Becker Pars pro toto? Die Entwicklung der Parteien vom Honoratiorenklub zur Massenbewegung und der demokratische Staat

103

Georg Rudinger Medienmacht und Massenwirkung. Von der fragmentierten Öffentlichkeit zur internationalen Kommunikationsgemeinschaft?

127

Klaus Tenfelde Rad der Geschichte? Über die Rolle der deutschen Montanindustrie in der sozialen und politischen Verfassung des späten Kaiserreichs

145

Horst Möller „Wissen ist Macht": Vom Rang durch Geburt zur Qualifizierung durch Bildung

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Inhalt

Michael Burleigh 'The thin crust of civilisation', the masses, power and political religions

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Autoren Verzeichnis

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Einleitung

Masse und Macht sind Schlüsselbegriffe zum Verständnis unserer Zeit. Die allmähliche Einbeziehung einer wachsenden Zahl von Menschen in politische Entscheidungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert brachte scheinbar paradoxe Ergebnisse mit sich: Der Demokratisierung und Emanzipation breiter Schichten, die bislang von der politischen Partizipation ausgeschlossen gewesen waren, stand ein Anwachsen des Gewaltpotentials und im 20. Jahrhundert sogar die Entstehung massengestützter totalitärer Regime gegenüber. Als Elias Canetti im Jahr 1961 sein Werk über ,glasse und Macht" vorlegte, war er als Miterlebender von der Dynamik dieses merkwürdigen Wechselverhältnisses fasziniert und beunruhigt zugleich. Der moderne Mensch folgte auf der einen Seite unter bestimmten Voraussetzungen geradezu blind dem Diktat eines Tyrannen oder einer Weltanschauung. Auf der anderen Seite waren Massen nicht nur Opfer, sondern auch Täter, die Minderheiten verfolgen, Regierungen stürzen und selber die Macht и8иф1егеп konnten. Diese Überlegungen folgten älteren Untersuchungen von Gustave Le Bon und José Ortega у Gasset. Letzterer hatte 1930 beschrieben, daß „das Heraufkommen der Massen zur vollen sozialen Macht" als eine Tatsache anzusehen sei, die „das öffentliche Leben Europas in der gegenwärtigen Stunde - sei es zum Guten, sei es zum Bösen - entscheidend" bestimme. Die hier angestellten Überlegungen - so hat Hans Maier kürzlich erneut und zu Recht betont - werden bislang von Historikern und Sozialwissenschaftlem noch „viel zu wenig genutzt". Dies mag daran liegen, daß Canetti bevorzugt auf das Verhalten archaischer Gesellschaften abhob, obwohl ihm durchaus an einer Analyse der modernen Gesellschaft gelegen war. Jedenfalls waren diese Überlegungen der Ausgangspunkt für eine Tagung, die vom 6. bis zum 8. Dezember 2001 in Bonn abgehalten wurde. Dieses Symposion hat versucht, gestützt auf die mittlerweile weiter vorangeschrittene Forschung, die Anregungen Canettis mit der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert abzugleichen und auf breiter Basis mit ausgewiesenen Experten zu diskutieren. Die folgenden knappen Skizzen mögen das Erkenntnisinteresse der Organisatoren andeuten.

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Einleitung

Die gewaltigen Fortschritte der Naturwissenschaften mit ihren noch unabsehbaren zukünftigen Möglichkeiten und Gefahren, die sich fornüerende Massengesellschaft, der allmählich Konturen gewinnende Weltverkehr in einer ausgreifenden Weltmarktwirtschaft, der wachsende Einfluß der veröffentlichten und öffentlichen Meinung, ein immer radikalerer Imperialismus, der nur noch wenig mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts gemein hatte: Schon vor der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert waren die optimistischen Zukunftserwartungen durch einen unübersehbaren Zug der Ambivalenz gekennzeichnet. Liberalen Hoffnungen und sozialistischen Heilserwartungen, die auf die Einbeziehung und Partizipation der Bevölkerung bauten, standen nun auch pessimistische Stimmen gegenüber. Ob auch die Demokratisierung im 19. Jahrhundert neue Gewaltpotentiale schuf - oder alte anwachsen ließ ist in der Forschung umstritten. Je nachdem, ob man den offenen Charakter des demokratischen Prozesses betont oder eher den demagogischen Charakter totalitärer Regime im 20. Jahrhundert hervorhebt, fällt die Antwort unterschiedlich aus. Die Janusköpfigkeit dieser Entwicklung zur Moderne zeigt Peter Stadler (Zürich) in einem einführenden Vortrag über Masse und Macht auf. Die sich in vielerlei Formen bemerkbar machende Einbeziehung von Volksmassen in das politische Geschehen signalisierte mentalitätsgeschichtlich und politisch einen Aufbruch zu neuen Ufern. Das Gefühl der Sekurität, das im 19. Jahrhundert nicht zuletzt durch einhegende Großmachtpolitik und beruhigenden Fortschrittsglauben gleichermaßen gewirkt hatte, verlor mit der Zeit seine Anziehungskraft. An seine Stelle trat eine Suche nach dem Wagnis. Die Normalität des Friedens und die Vergeßlichkeit, was seine Bedingungen angeht, weckten geradezu das Bedürfnis nach dem außergewöhnlichen Risiko. Während das 19. Jahrhundert noch durch ein Konzert der Großmächte, begrenzte Konflikte und eine immer wieder gefundene Beschränkung, auch Selbstbeschränkung gekennzeichnet war, präsentierte sich das junge 20. Jahrhundert von einer geradezu atavistischen Seite. Kolonialismus und Imperialismus waren Vorboten eines Denkens, dessen barbarischer Charakter sich bald schon in Sozialdarwinismus und Rassenwahn zeigen sollte. Ein Überlegenheitsgefühl der eigenen Kultur und Politik offenbarte sich in einem unerbittlichen Kampf, der alle Gesellschaftsschichten einer Nation gegen einen vermeintlichen äußeren Feind zusammenband. Alle wesentlichen Ideologien, die das 20. Jahrhundert bestimmt haben, zeigten sich hierdurch inspiriert. Sie reflektierten den Glauben des „survival of

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the fittest": als Kategorie der Nation, als Kategorie der Rasse oder als Kategorie der Klasse. Erst heute, nach der Beendigung der weltumspannenden bipolaren Auseinandersetzung, deuten sich neue Konstellationen an. Paul W. Schroeder (Urbana, USA) nähert sich den beschriebenen Phänomenen auf spezifische Art und Weise in seinem Tagungsbeitrag The Life and Death of a Long Peace: Austro-German-Russian Relations, 1763-1914. Ihren Ausbruch erlebte dieses neue Massenempfinden im Ersten Weltkrieg, der zur „Urkatastrophe" (George F. Kennan) des 20. Jahrhunderts geriet. Kriege waren bislang meist noch regional beschränkt gewesen; nun erfaßten sie geographisch und geistig ganze Nationen. Front und Heimat verschwammen im gleichen Maße, wie das Völkerringen „total" wurde. Während die Nachrichtentechnik die Logistik des Krieges revolutionierte und technische Neuerungen die Waffenwirkung verbesserten, konnten zunächst die Eisenbahn, später Flugzeuge immer größere Truppenkontingente rasch von einem Kriegsschauplatz zum anderen bringen. Zugleich war eine Massenbegeisterung für den Krieg zu spüren, die sich zwar in der „levée en masse" der französischen Revolutionskriege bereits angekündigt hatte, im Ersten Weltkrieg aber ungeahnte Ausmaße erreichte: Das Volk eroberte gleichsam den Staat und wurde zum „Volk in Waffen". Durch den Beitrag von Michael Salewski (Kiel) Vom Kabinettskrieg zum totalen Krieg: Der Gestaltwandel des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert werden diese Zusammenhänge und der Wandel des Kriegsbildes dargestellt. Die Janusköpfigkeit war ein Charakteristikum der neuartigen Ideologien, die ihre Macht mit dem Massencharakter ihrer jeweiligen Gefolgschaft legitimierten. Die progressiven Züge, mit denen sich diese Bewegungen schmückten, basierten auf der Einbeziehung des Volkes. Nicht mehr Vertreter von Partikularinteressen oder das Sprachrohr von Lobbyisten wollten diese Bewegungen sein, sondern eine neue Volksgemeinschaft schaffen. Versatzstücke der „volonté générale" Rousseaus konnten sich hier ebenso finden wie schwärmerische Gedanken der Utopisten. Für den Machterhalt wurde das Spiel mit der Masse immer bedeutender: Weil eine organische Einheit von Regierung, Wirtschaft und Gesellschaft erreicht werden sollte, wirkte es verführerisch, mit neuen Modellen die vollständige Repräsentation der Nation durchzusetzen und erstmals die breite Masse der Bevölkerung zu integrieren. Dieses Modell konnte ein demokratisches sein - mußte es aber nicht. Denn

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Einleitung

zugleich wurden auch Konzepte des totalitären Staates entworfen. Hier sollte dem Staat die umfassende - und sogar die totale - Führungsaufgabe zufallen. Diesen politischen Gestaltwandel untersucht Josef Isensee (Bonn) in seinem Tagungsbeitrag über Wechsel, Wandel und Dauer der Staatsformen im 19. und 20. Jahrhundert - Anmerkungen zur Geschichtlichkeit und Normativität von Verfassungen. Die Psychologie der Massen und das Problem der Massenmobilisierung fanden zunehmend Beachtung. Neuartige Missionsideen, die dem bürgerlichen Denken der liberalen Demokratie bis dahin eher fremd gewesen waren, konnten im französischen Bonapartismus der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals ihre Kraft entfalten. Von dem hier zu beobachtenden Populismus, der auf der Herrscherseite durch die Elemente eines Cäsarismus gekennzeichnet war, führen viele Verbindungsstränge zum totalitären Messianismus der radikalen Volksideologien des 20. Jahrhunderts. Die Protagonisten des Marxismus-Leninismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus glaubten, daß ihre „Bewegungen" von einer kleinen Avantgarde oder Elite angeführt werden müßten, von professionellen Revolutionären, die als Katalysatoren zur Herstellung eines revolutionären Massenbewußtseins dienen sollten. Winfried Becker (Passau) behandelt dieses Thema im Rahmen seines Beitrags über Pars pro toto? Die Entwicklung der Parteien vom Honoratiorenklub zur Massenbewegung und der derrwkratische Staat. Rituale erhielten ebenso große Bedeutung wie die Propaganda. Hatten schon in der Französischen Revolution die Wandzeitungen ihre Wirkungsmacht erwiesen, stieg die öffentliche Meinung im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich zur „Vierten Macht" auf. Während die englischen Massenblätter im Verlauf des Krimkrieges sogar strategieentscheidend sein konnten, wuchs die Bedeutung der „Yellow Press" in den folgenden Jahrzehnten weiter an. Propaganda, öffentliche Aufmärsche und Massenversammlungen wurden immer häufiger eingesetzt, um die Volksmassen zu beeinflussen und die Herrschaft zu sichern. Indem man die neuen Kommunikationsmöglichkeiten ausnutzte, schuf man die Illusion einer Gesellschaft, in der bisher bestehende soziale Schranken aufgehoben waren oder doch an Bedeutung verloren. Im Gegenzug bediente sich die Bevölkerung ihrerseits der zunehmenden Möglichkeiten, um sich zu informieren und sich politisch Gehör zu verschaffen. Georg Rudinger (Bonn) behandelt diese Aspekte aus der Perspektive des Psychologen unter dem Titel Medienmacht und Massenwirkung. Von der

Masse und Macht

fragmentierten meinschaft?

Öffentlichkeit zur internationalen

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Kommunikationsge-

So wie sich - nicht zuletzt durch neue technische Errungenschaften - im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein „politischer Massenmarkt" herausbilden konnte, wirkte die Industrielle Revolution nicht nur auf dem Gebiet der Ökonomie beschleunigend. War die Kutsche noch den Privilegierten vorbehalten gewesen, so führte das Eisenbahnwesen zu einer „Demokratisierung" der Fortbewegung. Solchen positiven Entwicklungen standen problematischere Tendenzen gegenüber: Umweltzerstörung, Luftveφestung, Zivilisationskrankheiten, Entstehen eines Proletariats traurigster Sorte. Einerseits erleichterte der technologische Fortschritt das Zusammenwachsen einer Welt, die im übertragenen Sinne kleiner wurde, andererseits konnte sich der Einzelne dem Ansturm der Massen kaum noch entziehen. Klaus Tenfelde (Bochum) beleuchtet diese Aspekte mit Hilfe des von ihm mit Bedacht gewählten Beispiels der Bedeutung der Montanindustrie in seinem Tagungsbeitrag Rad der Geschichte? Über die Rolle der deutschen Montanindustrie in der sozialen und politischen Verfassung des späten Kaiserreichs. Der Massencharakter der modernen Gesellschaft beruhte auf traditionalen und revolutionierenden Elementen. Er führte, bewußt und unbewußt, zu einer Egalisierung und Modernisierung der europäischen Welt, der mit der schrittweisen Abdankung des Adels als nahezu ausschließlicher Führangsschicht einherging. Zugleich wuchs das Bewußtsein für die Bedeutung von Bildung: Verbürgerlichung und ein stetiger Professionalisierungsschub führten in weiten Kreisen der Bevölkerung zu einem gesteigerten Selbstbewußtsein. Auf dem Weg vom „Rang durch Geburt" zum „Rang durch Bildung" kam es auch in diesen Bereichen zu einem Massenphänomen. War die Welt des frühen 19. Jahrhunderts noch durch eine Elitekultur geprägt, so ist im Medienzeitalter eine Massenkultur vorherrschend. Auch hier sind Massen- und Machtpotentiale wirksam, wie Horst Möller (München) in seinem Beitrag über „Wissen ist Macht": Vom Rang durch Geburt zur Qualifizierung durch Bildung zeigt. Die diabolische Mischung von „Verführung und Zwang" (Hans-Ulrich Thamer), die sich geschickt auf die neuartige Massendynamisierung stützte, war ein wesentliches Strukturelement politischer Herrschaft im

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Einleitung

20. Jahrhundert. Die demokratisierenden und zugleich auch demagogischen Elemente modemer Gesellschaften hatten sich jedoch bereits seit der Zeit der Französischen Revolution in Europa angedeutet. Die Faszination der Massenbewegung des 20. Jahrhunderts, die sich von den vermeintlich „überlebten" liberaldemokratischen Versuchen des 19. Jahrhunderts scheinbar so positiv unterschied, erklärt sich auch aus der Tatsache, daß diese massengestützte Herrschaft mit ihren Mythen, Symbolen und Zeremonien eine Art neuer Religion in einer säkularisierten Welt symbolisierte, wie sie u. a. George Mosse anschaulich in seinem Werk über die ,J*iationalisierung der Massen" beschrieben hat. In diesem Sinn soll durch einen abschließenden Beitrag von Michael Burleigh (Stanford, USA) die zentrale Frage aufgeworfen und behandelt werden, inwiefern die politischen Religionen seit 1789 die Geschichte bestimmt haben, die - entgegen dem noch im 19. Jahrhundert verankerten Fortschrittsglauben - das 20. Jahrhundert zum „Age of Extremes" (Eric Hobsbawm) haben werden lassen. Burleighs Überlegungen tragen den Titel 'The thin crust of civilisation', the masses, power and political religions. Zweifellos kann das Symposion nicht den Anspruch erheben, über wichtige Einzelergebnisse hinaus eine Synthese zu präsentieren. Hierfür ist es zu früh, weil die Forschung in diesen Fragen vielfach erst am Anfang steht. Aber die auf dem Symposion angesprochenen Fragen sollen nicht zuletzt als Anstoß verstanden werden, weiter über die Problematik nachzudenken und die Forschung über das Verhältnis von „Masse und Macht" anzuregen, die richtungweisend sein kann. Daß diese Tagung in so angenehmer Atmosphäre und so hochrangiger Besetzung stattfinden konnte, verdanken die Herausgeber der großzügigen Unterstützung der Thyssen-Stiftung und der Hanns-MartinSchleyer-Stiftung. Ein weiteres Dankeswort gebührt dem Präsidenten der Stiftung Haus der Geschichte, Herrn Prof. Dr. Hermann Schäfer, der für diese wissenschaftliche Zusanunenkunft sein Haus zur Verfügung stellte.

Peter Stadler

Masse und Macht

Masse und Macht: die Dialektik dieser beiden Stich- und Schlagworte durchzieht in wechselnder Aktualität die Geschichte seit der Französischen Revolution. Gewiß haben sie schon vorher eine Rolle gespielt, faßbar seit dem deutschen Bauernkrieg und den späteren Bauernrevolten, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, auch in revolutionären Erschütterungen von Südeuropa/Neapel über die Schweiz und Frankreich nach England und weiter bis zu den Pugatschew'schen Unruhen des 18. Jahrhunderts in Rußland. Aber das waren vorübergehende Protuberanzen in einer Welt, die monarchisch-aristokratisch beherrscht und von oben immer wieder unter Kontrolle gebracht wurde. Im revolutionären Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts verlor jedoch dieses Schema des Ablaufs - Erhebung der Massen, Repression durch Staatsgewalt - seine Gültigkeit: Die Masse überbordete bereits in der „grande peur", den Bauemerhebungen des Sommers 1789, in welchen die angestaute Wut und Frustration über Ungleichheiten sich entluden, bis die einseitigen feudalen Belastungen nicht nur deklarativ in der Opfemacht vom 3./4. August 1789, sondern wirklich und restlos mit der Beseitigung der Feudalität durch die Jakobinerherrschaft im Sommer 1793 beseitigt waren. Dieses Ende der Ungerechtigkeit überdauerte auch die nachrevolutionären Umwälzungen und erklärt, warum die Masse der Bauern fortan gegen jede konterrevolutionäre Erschütterung immunisiert blieb, sofern der Staat auf eine Restitution feudaler Belastungen verzichtete. Aber das Wort .Jakobinerherrschaft" macht zugleich klar, daß den bäueriichen wie übrigens auch den städtischen Massen Grenzen gesetzt waren von einer diktatorialen Staatsgewalt, die keinen Umschlag ins Chaotische hinnehmen wollte. Das gilt dann erst recht für die napoleonische Ära mit der entscheidenden Akzentverschiebung, daß der Feldherr und Kaiser es verstand, die Massen überhaupt nicht mehr in Erscheinung treten zu lassen, so daß sie der Macht untergeordnet blieben auch noch zu der Zeit, als diese napoleonische Staatsordnung gänzlich zerfiel. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere hat ihre Ursache in dem tiefen Schock, den die als Proletarierterror empfundene Revolution in großen Teilen der Bevölkerung Frankreichs hinterließ und mit dem

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Peter Stadler

Stigma des „nie mehr" brandmarkte über das 19. Jahrhundert hinaus, ja bis zu den Reaktionen auf die 1968er Studentenrevolte, die - durch Femsehen und sonstige Medien auf eine Großfläche projiziert - übertriebene Eindrücke hinterließ und zum letztmaligen Sieg De Gaulles führten. Damit aber kommen wir zu einem Definitionsproblem. Was Masse ist, glaubt jedermann zu wissen, ohne sie doch genau definieren zu können. Leider versagt hier auch das Lexikon „Historische Grundbegriffe", das uns einen Artikel über diesen wichtigen Begriff vorenthält, während es sich einige Seiten zuvor ausführlich über ,>lacht" äußert. Nun ist „Masse" nicht einfach gleichbedeutend mit einer Menge von Menschen, sie ist ein politisierbarer Begriff. Massen entstehen dann, wenn sie auf irgend etwas ausgerichtet sind, sich in Erwartungshaltung befinden. Solange die Menschen einfach ziellos fluktuieren, entsteht dieser Eindruck nicht; es muß Spannung da sein, gerichtet auf ein bestimmtes Ziel, das aber nicht aus den Massen selbst hervorgeht, sondern ihnen gewiesen wird. Diese Fremdsteuerung gestattet es, die eigene Überlegung und Kritik weitgehend auszuschalten und sich dem Kollektiv anheimzugeben. Einer der ersten Diagnostiker dieses Phänomens war bekanntlich Gustave Le Bon, weitgereister Psychiater und Arzt, der Nepal und den Orient kannte, sich als Ethnologe in die frühen Kulturen vertiefte, zum Erforscher der Massen jedoch über dem Studium der Französischen Revolution wurde. Darin war er angeregt und geleitet durch Hippolyte Taine, den konservativen Historiker und Analytiker der großen Umwälzung, die nach seiner Überzeugung den Grund zum modernen Frankreich legte - deshalb der Titel des Hauptwerkes ,JLes origines de la France contemporaine". Diese Ursprünge finden sich in der Revolution wie in Napoleons Diktatur. Le Bon geht davon aus, daß die alten Ideologien mitsamt den alten Gesellschaftsstützen schwinden und einstürzen, bedroht und verdrängt durch die Macht der Massen, die das neue Zeitalter prägen und bestimmen werden. Die negative Konnotation des Begriffs wird in der Folge noch eindeutiger. Die Ansprüche der Massen laufen auf den Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft hinaus mitsamt den Expropriationen, ja der Ausmerzung aller oberen Юassen überhaupt, kurz auf die Wiederherstellung eines primitiven Kommunismus. Fast Oswald Spengler antizipierend dekretiert Le Bon: Wenn das Gebäude der Zivilisation morsch werde, seien es stets die Massen, die dessen Zusammensturz herbeiführen. Und er empfiehlt den Staatsmännern als letzte Zuflucht die Kenntnis der Massenpsychologie; nicht um die Massen zu beherrschen, sondern um nicht von ihnen beherrscht zu wer-

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den. Und die Diktatoren und Möchte-gem-Diktatoren aller Richtung säumten nicht, sich diese Aufforderung zu eigen zu machen, auch wenn sie - wie z. B. Hitler - kaum je direkt darauf Bezug nahmen. Im weiteren betont Le Bon, die Masse sei nicht einfach eine Summe der sie bildenden Individuen, vielmehr dadurch etwas Neues, daß die Persönlichkeit schwindet und eine Kollektiv-Seele an ihre Stelle tritt, die einem eigenen Gesetz gehorche, der „loi de l'unité mentale des foules" (dem Gesetz der mentalen Einheit der Massen). Und er erinnert an Herbert Spencers These, wonach die in der Chemie sich verbindenden Partikel ein neues Aggregat bilden, das völlig verschieden ist von den Bestandteilen, die zu seiner Bildung beitrugen. Träte dieses Neue nicht in Erscheinung, so bliebe es bei einer Ansammlung von Individuen durchschnittlicher Intelligenz, bei ihren Reaktionen und Gefühlen. In der Masse hingegen opfert das Individuum seine bewußte Persönlichkeit einer unbewußten auf, bis zur Selbstvemichtung. Diesem Zustand der Hypnose können sich jeweilen nur starke Einzelpersönlichkeiten entziehen, oft unter Lebensgefahr, dann aber sind sie imstande, die Hypnose im eigenen Interesse zu nutzen. Eine derartige Auswertung des kollektiven Massenerlebens zeigt das Prestige oder Charisma einer einzelnen Persönlichkeit wie Robespierre oder Napoleon, denen gegenüber jede kritische Vernunft ausgeschaltet erscheint. So verzichtete der revolutionäre Nationalkonvent unter dem Druck der Jakobiner auf die Immunität seiner Mitglieder und setzte damit jeden einzelnen dieses höchsten Gremiums der Selbstvernichtung aus. Ein späteres Beispiel: Noch bei Napoleons Rückkehr von Elba wirkte sein Charisma so suggestiv, daß Frankreichs restaurierte Staatsordnung vor seiner Erscheinung zusammenbrach, so daß die Macht ihm widerstandslos zufiel - dies, obschon der Gewaltherrscher als Eroberer doch völlig Bankrott gemacht hatte. Le Bons Prognose ist demnach pessimistisch: Ähnliches werde sich stets wiederholen. Eine neue Kultur, von einer starken Rasse getragen, kann sich wohl eine Zeitlang schöpferisch entfalten, aber dann beginnen Stagnation und Zerfall, bis zuletzt die Zeit ihr Zerstörungswerk vollendet. Le Bon spricht von einem Zyklus und beschließt sein Werk mit den Worten: «Passer de la civilisation en poursuivant un rêve, puis décliner et mourir dès que ce rêve a perdu sa force, tel est le cycle de la vie d'un peuple» (S. 180 der 27. Α.). Auf deutsch: „Sich von der Zivilisation wegwenden, indem man einem Traum nachläuft, dann dem Ende zugehen und sterben, sobald der Traum seine Kraft verioren hat, das ist der Zyklus des Lebens eines Volkes." Die Psychologie der Massen erschien 1895. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 1912, kam das Alterswerk

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Peter Stadler

des Siebzigjährigen „La Révolution française et la psychologie des Révolutions" heraus. Das Buch, am Ende einer langen Friedensperiode geschrieben, bringt keine wesentlichen Neuerkenntnisse über die Massenpsychologie hinaus. Indem es die terreur der Revolution mit der Inquisitionspsychose des konfessionellen Zeitalters vergleicht, wagt der Autor jedoch den Ausblick, daß ein Triumph des Sozialismus ähnliche Konsequenzen zeitigen würde (S. 204). Kurz nach dem Krieg hat sich Siegmund Freud in einer kleinen Schrift ,>lassenpsychologie und Ich-Analyse" (1921) mit Le Bon auseinandergesetzt, zustimmend und doch weiterführend. Er unterstreicht den Doppelaspekt der Massen, vermerkt, „daß im Beisammensein der Massenindividuen alle individuellen Hemmungen entfallen und alle grausamen, brutalen, destruktiven Instinkte, die als Überbleibsel der Urzeit im Einzelnen schlummern, zur freien Triebbefriedigung geweckt werden. Aber die Massen sind unter dem Einfluss der Suggestion auch hoher Leistungen von Entsagung, Uneigennützigkeit, Hingebung an ein Ideal fähig. Während der persönliche Vorteil beim isolierten Individuum so ziemlich die einzige Triebfeder ist, ist er bei den Massen sehr selten vorherrschend." Ja, nach Freud, kann man sogar „von einer Versittlichung des Einzelnen durch die Masse" sprechen (S. 18-19). Zu dieser Ambivalenz gehört allerdings auch, daß die Massen nie den Wahrheitsdurst kennen. „Sie fordern Illusionen, auf die sie nicht verzichten können. Das Irreale hat bei ihnen stets den Vorrang vor dem Realen..." Damit stehen sie dem Neurotiker nahe, für den „nicht die objektive, sondern die psychische Realität" gelte (S. 21). Was Freud den Zugang zur Psychoneurose eröffnet, ist der Begriff der Libido, den er auf die Masse überträgt, indem er den libidinösen Charakter an zwei Beispielen der Masse aufzeigen zu können glaubt: der Kirche und der Armee, die beide durch die Liebe - im einen Fall der Liebe zu Christus als der Verköφerung Gottes, im andern durch die zum Heerführer und Führer zusammengehalten werden; eine gewagte Konstruktion und zugleich eine Konzession an seine Sexuallehre. Gemessen an der affektiven Bindung zur Person des Heerführers spiele das Ideal der Vaterlandsliebe eine sekundäre Rolle. Ohne die Fürsorge des Feldherrn löse sich die Truppenmasse auf, ebenso wie die kirchlichen Massen ohne die liebevolle Bindung an Christus zu zerfallen drohen. Die libidinöse Organisation der Masse ist also ein Freud'sches Grundelement. Le Bon und Freud haben eines gemeinsam: Sie sehen und beurteilen die Masse von außen wie Ärzte (die sie ja auch waren) als letztlich krankhaftes Phänomen. Das schien ihnen die einzig mögliche Voraus-

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Setzung einer sachlichen Analyse zu sein. Einen anderen Ansatz verfolgt der Soziologe Theodor Geiger, der generationsmäßig auf Max Weber folgte und als Professor in Braunschweig durch die nationalsozialistische Machtergreifung erst nach Dänemark, dann nach Schweden vertrieben wurde. In der Bundesrepublik erhielt er bis zu seinem Tode 1952 keine Professur mehr. Massen erscheinen in seinem Buch „Die Masse und ihre Aktion" (1926, Nachdruck 1987) als Begleiterscheinung der Revolution - Revolution aber ist „Umsturz sinnentleerter und Aufbau werterfüllter Gestalten" (S. 58), also keineswegs nur Destruktion. Dem hätte auch Le Bon zustimmen können, als er in Bonapartes Konsulatsverfassung die Wiederherstellung einer monarchischen Ordnung viel straffer als in der überwundenen des Absolutismus - sah. Das Kollektivwesen ,>lasse" ist nach Geiger Komponente jeder Revolution. Revolutionär aber wird sie, weil die Schicht der Proletarier, die sie bildet, entrechtet ist oder sich entrechtet fühlt, sie wird charakterisiert durch die Nichtanerkennung jener Sphäre, von der sie (als Proletariat) ausgeschlossen ist. Sofern die Masse aber nicht revolutionär tätig ist, sondern ruht, ist der ihr angehörende Mensch nur relativ Proletarier; seine ablehnende Haltung ist verdeckt durch ein widerwilliges oder provisorisches Wirken in der bestehenden Gesellschaft, d. h. der proletarische Mensch ist zugleich in dem System der Gesellschaft und außerhalb desselben. Dieser Widerspruch bilde den Schlüssel zur Seele des Proletariers überhaupt. Sehr anschaulich verbildlicht Geiger diese Situation mit folgenden Worten: „In den unterirdischen Kellergelassen beherbergt sie [sc. die Gesellschaft] das unheimliche Gespenst Masse, das dem Hausherrn sein Heim zu verleiden gewillt ist. Es wird ihn zwingen, die alten Hallen zu verlassen, oder es wird mit unwiderstehlicher Geisterhand den Bau in Schutt und Asche legen" (S. 74). In diesen Worten offenbart sich viel Revolutionsverständnis, und der Soziologe verweist auf Anlässe, welche die Explosion auslösen können: „Hungersnot, ein verlorener Krieg, ein eklatanter Fall von Klassenjustiz u. a. m." (S. 75). Der explosiv gewordene Haß gelte dann den sichtbaren Wertsymbolen und Zweckapparaten der Macht. Sehr anders, mondän und gegenwartsbewußt schrieb einer der Erfolgsautoren der Zwischenkriegszeit, der Spanier José Ortega y Gasset, dessen „Aufstand der Massen" („La rebelión de las masas") 1930 erschien und in Deutschland so erfolgreich war, daß sich der Verfasser veranlaßt fand, eigens für diese Übersetzung ein Vorwort beizusteuern, in welchem er seine deutsche Studienzeit in Erinnerung rief. Ortega sieht seine Zeit bestimmt durch das Heraufkommen der Massen zur vollen sozialen Macht, und zwar ist die Gesell-

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Schaft immer eine dynamische Einheit zweier Faktoren, der Eliten und der Massen. Dabei ist die Masse nicht einfach Arbeiterschaft, sondern: ,>lasse ist der Durchschnittsmensch" (S. 72). Dieses Axiom korrigiert den herkömmlichen Begriff durchaus nach oben, es sind nicht Proletarier, sondern Menschen der modernen Konsumgesellschaft, die sich alles mögliche leisten können, ohne individuell Besonderes beizutragen. Und er zieht einen Bogen zurück ins 19. Jahrhundert, findet dieses „seinem Wesen nach revolutionär". Allerdings ist jenes Rebellentum weniger auf der Walstatt der Barrikadenkämpfe zu suchen, die nur anekdotische Schnörkel sind, als in der grundstürzenden Neuheit der Existenzbedingungen, in die es den Durchschnittsmenschen versetzte. Es stellte das öffentliche Leben auf den Kopf. „Revolution ist nicht Auflehnung gegen die bestehende Ordnung, sondern Aufrichtung einer neuen, welche die überlieferte stürzt." Das also ist die eigentliche Revolution der Massen, die stillschweigende, aber höchst effiziente Modernisierung ihrer Lebensgewohnheiten. „Der gewöhnliche Mensch lebt heute leichter, bequemer und sicherer, als früher der Mächtigste. Was schert es ihn, daß er nicht reicher ist als andere, wenn die Welt es ist und ihm Straßen, Eisenbahnen, Hotels, Telegraph, körperliche Sicherheit und Aspirin zur Verfügung stellt?" (S. 116-117). Diese Gedankengänge durchziehen das ganze Buch und entdramatisieren die Gegenwartssituation so sehr, daß der Leser sich fragen muß, wie so wenige Jahre nach dieser Diagnose der spanische Bürgerkrieg in seiner explosiven Brutalität entbrennen konnte. Vielleicht deshalb, weil die „Herrschaft der Schaufenster", die Ortega y Gasset in einem Kapitel seines Buches geistvoll beschrieb, im zurückgebliebenen Spanien jener Zeit außerhalb der Großstädte doch noch keine Realität darstellte. Die bisherigen Interpretationen sind allesamt Außenansichten und ergänzen sich dank unterschiedlicher Perspektiven. Eine gute Ergänzung dazu bietet ein Schriftsteller, der sich autobiographisch zu dem Phänomen äußert, wie er sich daran heranarbeitete, bis daraus sein theoretisches Hauptwerk erwuchs: wir meinen Elias Canetti, der, in Bulgarien geboren, die Jugend teils in England, Zürich, Deutschland, aber vorzugsweise in Wien verlebte, aus welcher Stadt ihn der Anschluß vertrieb. Später wurde er berühmt, sogar Nobelpreisträger - aber das berührt uns hier noch nicht. Im zweiten Band seiner Lebensgeschichte („Die Fackel im Ohr", benannt nach der Zeitschrift von Karl Kraus) schildert er die verschiedenen Etappen seines wachsenden Interesses. Zuerst wird der 17jährige 1922 kurz vor dem Abitur in Frankfurt Zeuge einer Massendemonstration gegen Rathenaus Mörder. Tief beeindruckt

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ergreift er instinktiv die Partei der Demonstranten. Weit elementarer erfaßt ihn fünf Jaiire später am 15. Juli 1927 in Wien der Sturm auf den Justizpalast, den er gleichfalls als Augenzeuge miterlebt. Vorangegangen war ein Zusammenstoß im Burgenland, wobei Arbeiter getötet, die Täter aber freigesprochen worden waren. Das Organ der Regierungspartei titelte den Vorfall ,^in gerechtes Urteil", was eine gewaltige Demonstration der Arbeiter auslöste, die im Brand des Justizpalastes gipfelte. Die Polizei erhielt Schießbefehl und tötete 90 Demonstranten. Die Erregung wirkte im Autor noch mehr als fünfzig Jahre später nach. Begleiterscheinungen trugen dazu bei, etwa das Verhalten eines Mannes, der aus sicherer Entfernung jammernd ausrief: „Die Akten verbrennen! die ganzen Akten!", und sich durch keine Vorhaltungen von seinem Wehklagen über den Aktenverlust abbringen ließ. Canettis Stellungnahme: ,J^ichts ist geheimnisvoller und unverständlicher als die Masse. Hätte ich sie ganz begriffen, so hätte ich mich nicht mehr als dreißig Jahre damit getragen, sie zu enträtseln, und so wie die anderen menschlichen Phänomene möglichst vollkommen darzustellen und nachzuvollziehen", und er fährt fort: „Auch wenn ich alle konkreten Details aneinanderreihen würde, aus denen dieser Tag für mich bestand, hart, ungeschminkt, ohne Verringerung und ohne Übertreibung, gerecht werden könnte ich ihm nicht, denn er bestand aus mehr. Immer war das Brausen der Wogen vernehmbar, das diese Einzelheiten an die Oberfläche spülte..." (S. 236). Im weiteren stellt er fest, daß die Masse keinen Führer braucht, um sich zu bilden. Es gab „hie und da, sehr selten" Menschen, die im Sinne der Masse sprachen, doch war ihre Bedeutung minimal. Wenn es etwas gab, was die Massen entfachte, dann war es der Anblick des brennenden Justizpalastes. „Die Salven der Polizei peitschten sie nicht auseinander, sie peitschten sie zusammen" (S. 237). Das Juli-Geschehen wurde für ihn zum traumatisierenden Erlebnis, das ihn noch wochenlang im Banne hielt. Als er wenig später die Wohnung wechselte, merkte er an Geräuschimmissionen, daß er sich in Hörweite eines Fußballstadions eingemietet hatte, und diese Nähe belebte seine Erregung neu: „Es fällt mir schwer, die Spannung zu beschreiben, mit der ich dem unsichtbaren Match aus der Feme folgte... Damals, vom Orte ihres Anlasses abgelöst, von hundert Umständen und Details nicht beeinträchtigt, bekam ich ein Gefühl für das, was ich später als DoppelMasse begriff und zu erklären versuchte" (S. 241). Die Faszination dominierte ihn dermaßen, daß ihm sein Chemiestudium gleichgültig wurde und er sich der Schriftstellerei zuwandte. Leider brechen seine Erinnerungen mit dem Jahre 1937 ab, so daß er den Untergang Österreichs im

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Doppelgriff einer militärischen Intervention und einer gesteuerten Massenbewegung nicht mehr schildern konnte. Und es vergingen Jahrzehnte, bis endlich 1960 sein opus magnum „Masse und Macht" erschien, das nochmals zwanzig Jahre später in einer Neuauflage herauskam. Canetti beginnt mit einigen Grundvoraussetzungen, die einleuchten und bisher nicht so gesehen worden waren. Er erkennt einen Ursprung des Massenempfmdens paradoxerweise in Berührungsängsten und in Bedrängungen durch Unbekanntes, die den Menschen in Furcht versetzen und ihn zur Annäherung an seinesgleichen veranlassen, um in dieser Nähe Schutz zu ñnden. Deshalb liebt die Masse die Dichte, vergleichbar Tieren während eines Gewitters. In ähnliche Richtung weisen das Verfolgungsgefühl und die daraus entspringende Verunsicherung. „Immer ist die Masse etwas wie eine belagerte Festung, aber auf eine doppelte Weise belagert. Sie hat den Feind vor den Mauern, und sie hat den Feind im Keller" (S. 21 der A. von 1980). Das erinnert an Geigers Verbildlichung. Die Verängstigung äußert sich in verschiedenen Formen der Entladung. Der Drang, zu wachsen und zu expandieren ist der Masse eingeboren, sie trachtet nach Menschengewinn, und ihrem Wachstum sind kaum Grenzen gesetzt. Die Entladung kann verschiedene Formen annehmen, so die Zerstörungssucht, die nicht einfach sinnlos ist, sondern sich gegen Symbole der Herrschaft und der sozialen Überlegenheit richtet, gegen Schaufenster, Kunstwerke oder Gotteshäuser, wie gegen Automobile und Villen. Demgegenüber gibt es diverse Formen und Modelle der Zähmung, beispielsweise die durch Weltreligionen mit ihrem umfassenden und disziplinierenden Herrschaftsanspruch über die Gläubigen, die - um als Masse zu wirken - unter sich möglichst gleich und gleichberechtigt sind. Da die Masse eine Richtung will, braucht sie eine gleichartige Bewegung, ablesbar am Rhythmus der Schritte in sakralen Formen, vergleichbar dem Herdentrott, auch denen des rituellen Tanzes. Deshalb ist jede Stockung gefährlich, vollends die Panik, welche die Masse durch den Schreckensruf „Rette sich wer kann" mit jäher Auflösung bedroht. Man sieht: Canetti beschränkt sich im Unterschied zu früheren Analysen nicht auf den abendländischen Raum, sondern greift weltweit aus mit ethnologisch-anthropologischen Fragestellungen. Gemessen an alledem, tritt die Macht als Gegenkraft zu den Massen spät in Erscheinung, wie sie auch in unserer Betrachtung bisher mehr traditionell als Staatsgewalt mit allem Zubehör - wie Armee, Polizei, Administration - in ihrer instrumentalen Zuspitzung zur Bürokratie und sonstigen Mitteln der Repression auftritt. Dazu gehören natürlich auch die Medien, soweit sie vom Staat kontrolliert oder beeinflußt sind. Wo

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immer Massen aggressiv sichtbar werden, folgt auch die Entfaltung der Macht, zumeist erfolgreich. Wenn sie aber unterliegt wie in der Französischen Revolution, wird sie von den neuen Machthabem vereinnahmt und in ihrem Sinne umfunktioniert zum Instrument der Terreur. Dieser Lauf der Dinge kennzeichnet weniger das 19. Jahrhundert, wo die herkömmliche Ordnung meist nur vorübergehend aus den Angeln geriet (Beispiel: die Pariser Commune), als das 20. mit seinen Gewaltübernahmen durch Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Vorangegangen war eine schrittweise Demokratisierung, vor allem in Form der Erweiterung des Wahlrechts, das von vielen Zeitgenossen (z. B. Jacob Burckhardt) als Vorstufe eines Massenzeitalters verstanden oder mißverstanden wurde. Daher denn auch die fast hysterische Ablehnung der als Umsturzpartei verschrieenen, wählerstarken Sozialdemokratie, nebst dem Versuch, dagegen Dämme zu errichten, was sich nicht nur in der Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen, sondern auch in der Einführung eines gestuften Wahlrechts in Sachsen manifestierte. Als in der Weimarer Republik die Sozialdemokraten - wie schon in Rußland zuvor vorübergehend die Menschewiki - zur Macht gelangten, fanden sie sich bald schon ihrerseits dem Doppeldruck von rechts und links ausgesetzt, der sie schließlich zerrieb. Hitler selbst hat im 12. Kapitel seines Kampfbuches „die Nationalisierung der Massen" als eines der operationellen Hauptziele seiner Bewegung hingestellt und rückblickend betont: „Hätten die Gewerkschaften im Kriege die Interessen der Arbeiterschaft auf das rücksichtsloseste gewahrt, hätten sie selbst während des Krieges dem damaligen dividendenhungrigen Unternehmertum tausendmal durch Streik die Bewilligung der Forderungen der von ihnen vertretenen Arbeiter abgepresst, hätten sie aber in den Belangen der nationalen Verteidigung sich ebenso fanatisch zu ihrem Deutschtum bekannt, und hätten sie mit gleicher Rücksichtslosigkeit dem Vaterlande gegeben, was des Vaterlandes ist, so wäre der Krieg nicht verlorengegangen" (S. 370 der Volksausgabe von 1934). Hier wird nun vehement die sozialistisch-antikapitalistische Komponente der Bewegung herausgestrichen, zugleich aber und widersprüchlich dazu die Wunschvorstellung eines durch nationalistisch-klassenkämpferische Haltung der Arbeiterschaft zu gewinnenden Krieges verbunden. Auf diesen historischen Optativ des „hätte/wäre" folgen Trivialitäten wie diese: „Wer die breite Masse gewinnen will, muß den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet. Er heißt nicht Objektivität, also Schwäche, sondern Wille und Kraft." Oder: „Die Nationalisierung unserer Masse wird nur gelingen, wenn bei allem positiven Kampf um die

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Seele unseres Volkes ihre internationalen Vergifter ausgerottet werden" (S. 371-372). Hier nun tritt hinter der Masse, diktierend und befehlend, die Macht der Staatsgewalt hervor, von der allein diese Ausrottung der sogenannten „Vergifter" ausgehen kann. Die Ausführungen Canettis über Macht finde ich im ganzen nicht so überzeugend wie seine Analyse der Masse. Gut sind seine Beobachtungen zum Krieg mit dem Doppeldruck der aufeinandeφrallenden Heermassen oder zum militärischen Befehl: Er hat den Charakter des Endgültigen und Undiskutablen, ist älter als die Sprache, sonst könnt ihn der Hund nicht verstehen. Wesentlich am Befehl ist, daß er eine Handlung auslöst, wozu es nicht unbedingt des Wortes bedarf. Ein ausgestreckter Finger, der in eine Richtung weist, kann die Wirkung eines Befehls haben. Der Befehl an Viele hat insofern speziellen Charakter, als er bezweckt, aus den diversen Befehlsempfängem eine Masse zu machen. Die Erziehung des Soldaten beginnt damit, daß ihm viel mehr verboten wird als den übrigen Menschen. Er ist ein Gefangener, der sich den Mauern angepaßt hat, und dies im Unterschied zu den anderen Gefangenen. Neben der offenen Disziplin gibt es die mehr verdeckte, die Befehlserwartung, in welcher der Soldat fortwährend lebt. Ein weiteres, mehr ziviles Beispiel der Befehlserwartung zeigt sich bei der Pilgerreise der Muslime nach Mekka mit dem stehend verbrachten Warten auf dem Berg Arafa einige Stunden von Mekka entfernt; dieses Stehen wird ausgefüllt mit einer Predigt, welche die Versammelten mit dem Ruf „Herr, wir harren deiner Befehle" entgegennehmen. Canetti geht den Formen der Machtausübung, die er auf Reisen seiner späteren Lebenszeit in Afrika oder Indien kennenlemte, mit explorativem Eifer nach. Das Ritual etwa beim Königswechsel eines Negerreiches, bisweilen mit der Tötung des jugendlichen Thronanwärters verknüpft, ist ein Beispiel, das allerdings mehr der Völkerkunde angehört. Um zur engeren Geschichte zurückzukehren: Das 20. Jahrhundert zeigt deutlich, daß der Dualismus von Masse und Macht sozusagen immer zugunsten der Macht entschieden wurde, gerade auch in Diktaturen. Sehe ich recht, so ist kaum eine von ihnen spontan und direkt durch die Gewalt der Masse beseitigt worden. Zumeist schuf eine militärische Niederlage die Voraussetzung, wie im Falle des italienischen Faschismus mit den Massenerhebungen nach dem Sturz Mussolinis - ihr Ausbruch kam übrigens nach dem deutschen militärischen Eingreifen sehr rasch wieder unter Kontrolle. Ein Beispiel einer gelungenen revolutionären Entmachtung ist diejenige Ceaucescus in Rumänien, paradoxerweise durch eine vom Regime organisierte Massendemonstration veran-

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laßt, die dann umschlug und zur Vertreibung und Hinrichtung des Gewalthabers führte. Das andere Beispiel, Milosewitsch in Belgrad, folgt mehr dem herkönunlichen Paradigma der vorangegangenen militärischen Niederlage, die der Staatschef zwar im Amt überlebte, der er aber infolge der ökonomischen Konsequenzen wie der politischen Isolierung dann doch unterlag. Der Nationalsozialismus blieb trotz der akuten Krise des 20. Juli und trotz des militärischen Debakels vermöge seiner intakten Befehls- und Machtstruktur bis zuletzt im Sattel, ebenso wie die Sowjetunion, die zwar durch den schweren Rückschlag in Afghanistan eine tiefgreifende Schwächung eriitt, schließlich aber doch einem Machtkollaps von der Spitze her erlag. Ebenso der Fall der DDR, die in dem Augenblick einbrach, als die sowjetische Schutz- und Herrschaftsmacht sichtbar darauf verzichtete, ihre beschirmenden Funktionen weiterhin wahrzunehmen. Hingegen konnte sich die exponierteste der kommunistischen Diktaturen allen Erwartungen und Hoffnungen zum Trotz behaupten: Kuba, wo das System sich offensichtlich auf einen inneren Konsens zu stützen vermochte, der nicht zuletzt in der stolzen Selbstbehauptung gegenüber der jahrzehntelangen quasi Kolonialmacht USA wurzelt. Bleibt, wenn wir von diktatorischen Restbeständen wie Irak und Nordkorea mit ihrer Konfrontationspolitik absehen, die Supermacht China, wo ein kluges Management und eine schrittweise Annäherung an den Konsumkapitalismus zwar unübersehbar eine neue Klassengesellschaft schuf, aber vielleicht gerade dadurch Unzufriedenheiten im Zaum halten konnte. Bleibt abzuwarten, ob die Falung-gongBewegung Ausmaße und populären Rückhalt gewinnt, die dem System gefährlich werden könnte. Hier liegt ja überhaupt ein Kem unserer Fragestellung. Die moderne Demokratie besitzt mit ihren plebiszitären und parlamentarischen Institutionen ein Instrumentarium der Ventile, das zwar immer wieder zu internen Krisen führen kann, letztlich aber lebens- und systemerhaltende Funktionen der Selbstreinigung von Fall zu Fall besitzt, sichtbar geworden an Beispielen amerikanischer Präsidenten wie Nixon oder Clinton und ähnlichen Skandalen in europäischen Staaten. Was vorübergehend nach schweren Krisen aussah, wirkte sich längerfristig purifizierend aus. Gewiß ist die Masse damit nicht direkt angesprochen, aber im Grunde geht es doch um sie, denn jedes demokratische Regime lebt letztlich von ihrer Zustimmung. Abschließend darf man festhalten, daß die Massen in der Geschichte nicht so häufig in Erscheinung treten, wie man gemeinhin annimmt. Manche in der Geschichtstradition als Massenerhebungen etikettierte

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Ausbrüche sind keine gewesen, beispielsweise die Oktoberrevolution von 1917, die eigentlich mehr nur ein Putsch war. Ähnliches gilt von der faschistischen Gewaltübemahme in Rom, die von der damaligen Regierung widerstandslos hingenommen wurde. Vollends entsprang die NSMachtergreifung von 1933 mehr einer Kabinettsintrige, getragen von der Zustimmung durch die Wählermassen, die allerdings zu dem Zeitpunkt bereits zurückging und mit einiger Hinhaltetaktik wohl schon bald abgeklungen wäre. Die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben nur wenig neue Aspekte geboten. Hinzugekommen sind die Massenwanderungen als Armutserscheinungen, welche die reichen Länder heimsuchen und von diesen allenfalls widerwillig hingenommen, kaum aber systematisch abgewehrt werden. Sie sind in gewissem Sinne an die Stelle revolutionärer Massenerhebungen getreten. Neu sind sie deshalb, weil in früheren Zeiten die technischen Möglichkeiten der Migration noch nicht gegeben waren, auch fehlte damals jede Aufnahmebereitschaft seitens der anvisierten Länder. Ob die Bewegung jemals zum Stillstand kommt, ist fraglich; jeder ans Ziel gekommene Emigrationsschub erhöht den Anreiz. Zudem gibt es Länder von gewaltigen wanderungswilligen Bevölkerungsressourcen, die sich bis jetzt noch nicht in Bewegung gesetzt haben, wie China oder Indien. Mir ist unvergeßlich, wie ein chinesischer Kollege, als ich die Repression der Demokratiebewegung in seinem Lande beklagte, mich mit der leicht maliziösen Antwort zum Schweigen brachte: „Warten Sie nur, bis die Demokratie bei uns verwirklicht ist und dann die Auswanderungen in den Westen einsetzen." Möglich sind aber auch Erosionserscheinungen, die den Wohlstand der reichen Länder allmählich zernagen, deren Attraktivität und damit auch die „Herrschaft des Schaufensters" (um nochmals Ortega y Gasset anzuführen) mindern. Allerdings bleibt das fast ebenso spekulativ wie eine Wettervorhersage. Fest steht, daß die klassische Rivalität der Großen Mächte weitergeht, in deren Windschatten es auch zu Massenerhebungen kleineren Ausmaßes wie der Intifada kommen mag - dies auch als Ersatz für die bisher nicht eingetretene Massenerhebung islamischer Völker. Ich sage dies heute freilich mit Vorbehalten, da mein Vortrag vor dem 11. September 2001 geschrieben wurde und deshalb möglicherweise partiell überholt erscheinen mag. Doch wollte ich ihn auch nicht einfach dieser Katastrophe angepaßt umredigieren, da er mir in seinen historischen Teilen auch jetzt noch tragfähig vorkommt. Denn auch der „Islam" (um dieses pauschale Etikett anzuwenden) hat sich nicht als monolithischer Block erwiesen, der auf Gegnerschaft zum Westen und zu den

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Vereinigten Staaten eingeschworen wäre. Sogar die Formel „Arm gegen Reich" ist nicht ganz schlüssig, da die engere Gefolgschaft des Terrorismus keine Agglomeration von Armen darstellt, eher als eine solche von fanatischen, gut ausgebildeten Wohlstandsmuslimen - allerdings mit der aktiven Anhängerschaft gewisser Gruppierungen, die ihrer Führung bis zur Selbstvemichtung anhängen. Dem Konflikt liegt aber noch eine andere Ursache zugrunde, die gerade Massen mobilisieren kann: Haß und Angst angesichts der wirtschaftlichen Supermacht, wie sie die USA mit ihren Gefolgschaftsmächten nun einmal darstellen, und denen man nichts außer dem Glauben an ein kommendes Gericht über diese als ungerecht empfundene Weltordnung entgegenstellen kann. Afghanistan erscheint oder erschien unter dieser Perspektive als Vorkämpfer der Unteφrivilegierten, die nicht nur in Asien, sondern auch in Afrika und Lateinamerika ein gewaltiges Menschenarsenal aufweisen. Jeder Rückschlag des Westens wird hier genüßlich registriert, der Terrorismus als erlaubtes Mittel gegen eine Welt der überdimensionierten Wolkenkratzer und des auftrumpfenden Kapitalismus gutgeheißen. Und die nahezu unkontrollierte weltweite Migration kann solche Unzufriedenheiten überall zur Explosion bringen. Noch etwas kommt hinzu. Im Westen, vorab im europäischen Westen, genießt Amerika immer noch ein unerschüttertes Ansehen. Man verdankt ihm wesentlich die Zerschlagung des verhaßten Dritten Reiches sowie die Bremsung und schließliche Auflösung des nicht minder gehaßten und gefürchteten Weltkommunismus. Dieser Ruhm hat sich kaum auf die Dritte Welt übertragen, für die Faschismus und Kommunismus nicht eine wirkliche Lebensgefahr bedeuteten, von regionalen Bedrohungen abgesehen, etwa durch Japan in Ost- und Südostasien oder durch die Sowjetunion in Afghanistan. Gerade für dieses Land aber folgte eine Bedrohung der anderen, der russischen die vom islamischen Extremismus als ebenso gefährlich eingestufte amerikanische. Doch ist es bisher - wie gesagt - nicht oder noch nicht zu einer islamischen Massenerhebung gegen Amerika gekommen, vielleicht auch deshalb, weil dem Islam trotz dem anscheinend unlösbaren Palästinaproblem die Gleichgestimmtheit und Zielgerichtetheit ebenso fehlt wie dem heutigen Christentum. Dies das vorläufige und ins weltpolitisch geweitete Ergebnis unserer Betrachtung, die vieles noch offenläßt, wenn man das globale Potential an Unzufriedenheiten und Sprengkräften bedenkt. Man sieht, die Thematik wird den Historiker auch künftig nicht aus ihrem Bann entlassen.

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sondern in stets neuen Metamorphosen beschäftigen. In diesem Lichte hat unser Referat den Charakter einer vorläufigen Zwischenbilanz.

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The Life and Death of a Long Peace: AustroGerman-Russian Relations, 1763-1914

I trust that I may present this lecture in a somewhat more personal and informal manner than might be expected or usual in German academic circles. This is the American style, and I remain incurably American even (or especially) in my efforts here to deliver this lecture in German. In this informal vein, let me first explain briefly why I chose not to speak on the topic suggested for my contribution to this symposium, which applied the title of Ludwig Dehio's well-known book, Gleichgewicht oder Hegemonie, to the 19* century. This was a reasonable proposal and even a generous one, since it afforded me the chance, if I chose, once again to advance and defend my views in a controversy which I had something to do with reviving, namely, whether or not the Vienna System rested on a balance of power or on certain kinds of hegemony, and whether in general the politics of balance of power or those of hegemony are more conducive to international peace and stability. I chose not to pursue this opportunity in the belief that the controversy had pretty well run its course and exhausted its fruitfulness. If, however, it would help not to revive it, but to promote a kind of religious peace on it, I can state where I still stand on what were the main points at issue. If this brief restatement contains no real concessions on my part, it at least involves some more careful formulations to meet the objections raised. First, balance of power and hegemony are not polar opposites or mutually exclusive, but intertwined and inseparable. Every hegemony includes at least enough distribution of power to keep it from being simply empire - that is, enough to keep the hegemon from doing whatever it wants in defiance of all the rest. At the same time every actual distribution of power contains elements of hegemony, regional and/or general, and most schemes for a certain so-called "balance of power" represent aspirations to hegemony. Second, balance and balancing are the essence of international politics, as they are of society and life in general - but they do not reduce to power politics, the practice of balancing power with other power. "Po-

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liticai equilibrium" is a better term to describe the general condition desired and needed for a stable international system, both because it is a better translation of the actual language of 19"* century diplomacy and politics and because it better connotes the actual complicated and variegated balance needed - a balance of rights and duties, satisfactions and performances, status and responsibilities as well as balance of power. Third, hegemonies are a fact of international politics, neither good nor bad in themselves. It is not true (this is directed more against certain political scientists and international relations theorists than historians) that they are inherently unstable, or that the natural, almost inevitable response of powers faced with actual or threatening hegemony is to coalesce against them and try to overthrow them. Historically, the dominant response of such powers has been to try to join them or hide from them. Finally, instead of making either hegemony or balance of power the key to international stability and peace, scholars should focus on what kinds of hegemony and balance of power are stable and durable or not, and why. In the case of hegemonies, I would suggest that in order to be durable, they need to be and be perceived as natural, invulnerable, and at least tolerable if not benign. Hegemonies that fit this prescription have proved remarkably durable; those that do not, have not. Now to a theme hopefully somewhat fresher, and equally central to the IÇ"' century European states system. The last half of my title, "Austro-German-Russian Relations, 1763-1914," is quite conventional - surprising perhaps only for its enormous scope, more suited to a threevolume work than a lecture. But the first half may raise an eyebrow or two: "The Life and Death of a Long Peace." For we do not think of these three great powers during this era as peaceful countries, nor do we conceive of the history of international politics in general as the story of peace. Quite to the contrary, the prevailing assumption is that at least until sometime in the recent past the history of international politics has been predominantly the history of war and conflict. This is so, we suppose, for structural reasons - the great number of diverse actors, their divergent interests and inevitable conflicts in the competition for scarce resources, and the structure of anarchy, i. е., the absence of any recognized law or effective lawgiver and enforcer. The only differences within the general reign of war in international affairs, really, lies in variations in its frequency, duration, extent, and intensity in different eras. The only question raised about this reign of war would seem to be whether at some time in the recent past, the most plausible dates being 1945, the start of John Lewis Gaddis's well-known Long Peace, or

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1989, the end of the Cold War, the pattern changed from one of structural conflict and endemic war to one of overall cooperation and general relative peace, and recent and current events seem to bring even this question into discredit. I believe, however, that this assumption is incorrect, and propose first to assert very briefly, sketchily, and dogmatically a different interpretation of the overall course of international history over the centuries, and then use the Austro-German-Russian example to illustrate it and the difference it makes in inteφreting history. This view rests on fundamental premises about international history which I will state here nakedly, without evidence or even illustration, in order to reach the main theme. 1. International history is at least as much the history of peace as it is of war. That is, it involves the quest by its various units for different ends and goods in international affairs through the creation of a viable and durable international order as it does the quest for various ends and goods through state-organized violence. The two kinds of quests for goods, by peace and by war, are in fact interwoven and inseparable; neither can be understood without the other. 2. Peace (i. е., international order) is not just the absence of war - a condition of being left alone, not overtly threatened or attacked, such as Robinson Crusoe enjoyed on his desert island or as some isolated communities and societies may experience in history. Peace as international order means a general condition in international society in which member states or other units can carry on vast numbers of international transactions and interchanges of many kinds under orderly, controlled conditions without the constant threat or experience of organized inter-unit violence. Peace is therefore not merely more complicated than war, which though complex in practice is simple in nature and purpose (to impose one's will on the enemy and prevent it from imposing its will on oneself); peace is also inherently more artificial, the product of artifice, than war. Wars often simply happen, through loss of control and entropy. Peace always requires purposeful contrivance and governance, the establishment and maintenance of order and system. 3. Peace is therefore harder to account for and explain than war. Most wars (all the ones in history with which I am familiar) are easy to explain in two broad senses - why wars in general can and do happen, and what events, causes and issues were in general involved in bringing a particular war on. All the historical controversy and debate over the origins of wars concerns details, the weighting and assessment of different factors. In contrast, the origins and growth of peace are often difficult to

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detect and to explain, and the explanation and analysis of peace remains a great neglected task for international history and social science. 4. This task becomes still more important if (as I claim) international history increasingly contains in concrete empirical reality more peace than war. Whether war has grown or declined over the centuries between, say, 1450 and 1945 is a debatable question whose answer depends on complex calculations and controversial assumptions.' But if international peace is defined as it was earlier, then unquestionably peace has grown and developed enormously over these centuries. Vast, vital areas of international life once historically in the zone of war, governed only by force, fraud, and violence, are now predominantly in the zone of peace - international trade and finance, travel by land, sea and air, exploration and discovery, communications of all kinds, scientific, technical, and cultural exchange, tourism, ownership and use of property, even to some extent civil and human rights - and this sphere of international peace is being constantly expanded. The ready answer to this apparently rose-colored view of the history of international politics as one of progress toward peace, i. е., greater international order, is that all this seeming growth in peace and order is actually very fragile, permanently on notice to quit or be laid off, because new forms of disorder and war remain a permanent possibility and any large-scale war almost automatically destroys this whole nexus of peace, at least temporarily and for its participants. The next general war could conceivably destroy everything for everyone. Certainly this point must be taken seriously. However, another kind of evidence of the historic growth and development of peace, litüe recognized or noted, speaks directly to the unarticulated assumption behind this view that the permanent structural possibility of large-scale war remains the dominant ' Some of the factors involved would be the definition of war as opposed to informal but widespread violence, the distinction between international and civil war, the calculation of losses and damage due to war as opposed to other concurrent and collateral causes, the number and size of the units in the international system at different times, the size and extent of the wars, their numbers and extent in relation to numbers and size of units involved within size of system as a whole, etc. I am not arguing that these problems are insoluble or that little work has been done on them - quite the contrary. TTie statistical and quantitative study of war is an impressive industry, beginning with the pioneer work of Quincy Wright and Lewis Richardson and stretching down to the many works of J. David Singer and his collaborators and the Coordinates of War project today. For a very useful survey and analysis, see Jack S. Levy, War in the Modem Great Power System, 1495-1975, Lexington, KY 1983. However, as a historian I remain unconvinced that statistical and quantitative research, however valuable and sophisticated it is, can finally answer this question.

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reality in international politics. That assumption is that so long as wars remain possible, they must be expected eventually to happen. Like streetcars, one will sooner or later come along, as they always have. New causes and occasions for war arise as the old ones are overcome or die away. Any long peace, since 1945 or whenever, must therefore be regarded as a temporary, ephemeral phenomenon. The historical answer to this assumption, and the main argument of this essay, is that wars have not in fact come along like streetcars, and that the phenomenon of long peace is not new, restricted to Europe and certain parts of the world since 1945, but rather something familiar. As a result of historical development, a number of recognizable, important instances of long peace have occurred in the European and world states system ever since the mid-18"' century, in particular since 1815. How can one show this and at least make it plausible in a brief essay? Heinz Duchhardt, the leading authority on international politics in early modem Europe, has suggested that a fundamental shift occurs over the course of the 18"* century in the development of the European states system, dividing the late medieval/early modem system from the modem one, so that the practice of international politics in the 17"' century is closer to that of the late 14"· or early 15"' than the 18'\ and that of the 18'" closer to the 19'" and 20"' centuries than the 17'". Thus the conventional dates of 1494 for the beginning of a genuinely European intemational politics as opposed to a predominantly local Italian one or 1648 for the foundation of the modem system of mainly sovereign secular states are misleading.^ Whether or not Duchhardt is right on this latter score, his suggestion of an IS'" century divide seems to me entirely sound and perceptive in respect to a point central to our concems: the capacity of the units involved in the game of intemational politics to impose order on the system as a whole and thereby to avoid or reduce war and expand the possibility of peace. A fair generalization about intemational politics in the 15'", 16'", or 17'" centuries is that most wars that could have started, did, and that most serious crises led within a relatively short time to war. As Duchhardt and many other scholars of early modem Europe have shown, this was not due to the lack of a desire for order and peace, or of ideas and instruments for trying to achieve it. All the institutions and practices that would later be effective for peace and order in the 19'" century - institutionalized diplomatic machinery, the balance of power, the Concert of ^ See his magisterial survey of 18"" century international politics, Balance of Power und Pentarchie 1700-1785, Paderborn 1997.

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Europe, congresses and conferences, special associations and leagues for peace, mediation and arbitration by neutrals, international law were known, developed, and to some extent tried in this era.^ With some possible exceptions (e. g., Francis I of France or Charles XII of Sweden) the leading princes and statesmen of early modem Europe wanted durable order and peace as well as conquest or glory; some of them pursued it almost desperately, others, including Louis XIV, were driven to seek it. Yet nothing really worked well for any long time. However, one explains the bellicism of early modem Europe, whether one emphasizes the weakness, fragility, and internal incompleteness and instability of most of the unit-actors and the resulting deficits in equality, institutionalization, and autonomy throughout the system,or the destabilizing and conflict-breeding propensities of the prevailing system of territorial possession through dynastic succession,^ or the underdeveloped state of early modem diplomatic instruments, practices, and rules and the limited choices they offered govemments and rulers^ or blames it on many other obvious factors - the lack of stable power relationships and of geographic coherence in the system of states, or the fragility of all alliances and interstate ties, or the divisive impact of religious and dynastic rivalries, or the persistence of so-called feudal elements in politics (divided and limited sovereignty, overlapping jurisdictions, the existence of actors like Poland, the German Empire, and many small ecclesiastical, princely, and urban units that could not play the same game as the major states but also could not be ignored) - whatever the sources and causes of war-proneness in early modem Europe, the inescapable conclusion is that the international system could not successfully manage them to the end of significantly preventing war and producing widespread peace and stability. But increasingly in the 18"^ and 19"' centuries it could. Starting in the early 18"' century (a convenient date and tuming point being the Peace

' Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert, Darmstadt 1976; Duchhardt, Studien zur Friedensvermittlung in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1979; Duchhardt, ed., Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und früher Neuzeit, Cologne 1991. * Johannes Burkhardt, „Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas", Zeitschrift für Historische Forschung 24, 4, 1997, pp. 5 1 0 74. ' Johannes Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus, Berlin 1979. ^ Heinz Duchhardt, ed., Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume europäischer Außenpolitik im Zeitalter Ludwigs XIV, Berlin 1991.

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of Utrecht in 1713-15), continuing through the wars of the mid-century, and climaxed by the revolutionary and imperialist wars at its end and the transformation produced by the Vienna Settlement of 1815, we see emerging a more stable, comprehensive state system endowed not merely with permanent players and better and more widely acknowledged rules, practices, and institutions, but also as a result with greater ability to manage international politics short of overt war. To some extent in the 18"· century, to an even greater extent in the 19"^, most wars that could have happened did not happen; most crises were managed more or less successfully.^ The most striking proof of this lies in instances of long peace, both general and specific. By a general long peace I mean a significant period in which there was no major war at all within the core international system, though there might be important peripheral conflicts (just as there have been in the post-1945 long peace). The two obvious instances of this in Europe are the Vienna-era peace of 1815-1854 and the Bismarckian and post-Bismarckian peace of 1871-1914. In both periods, no wars were fought between major powers in Europe, despite many crises and occasions for it. Both these eras of general peace are well known and often analyzed and need no discussion here. Far less recognized, but equally striking, are specific instances of long peace - i. е., cases in which two or more powers, historic rivals and frequent foes in war, cease to fight each other even while their rivalry persists in some fashion, or cases in which important areas or regions, long the foci of war because of the conflicting vital interests centered on them, cease being arenas of war for long periods of time even while retaining much of their strategic, political, and economic importance. Here is a list of such instances, simply named here because this audience needs no explanation of the details: 1. The Swiss long peace, 1815 to the present. 2. The long peace in the Low Countries, 1815-1914. 3. Peace in the Baltic between Russia, Sweden, and Denmark, general from 1721, complete from 1815 on.

^ Two illustrations of this point: A recent book by Jost Dülffer and others entitled Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg (1865-1914), Munich 1997, examines an impressive list of instances of wars avoided by deescalation in the last half of the century. Such a book could not be written on the 17' century or before. Neither could a book on successful cases of crisis management such as J. L. Richardson's Crisis Diplomacy. The Great Powers since the Mid-Nineteenth Century, Cambridge 1994.

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4. Peace between Great Britain and the United States, 1814 to the present. 5. Peace between Great Britain and France, 1815 to the present. 6. General peace between Great Britain and Russia, 1762 to the present - a peace, to be sure, broken twice, in 1808-12 and more seriously in the Crimean War, but nonetheless persisting over more than two centuries in which both states were often world rivals and usually deeply divided politically and ideologically. I do not claim that these instances of long peace before 1945 are mysteries. Some explanations of the individual cases are reasonably clear and fairly obvious, and a satisfactory explanation of the growth of peace as a general phenomenon, though it is fairly complicated and cannot be presented and defended here, is also no secret or mystery. I contend simply that these instances of general and specific long peace before 1945 are real historical phenomena and should be taken seriously; that they add up to something important; and that they should not be ignored or dismissed with purely individual, ad hoc, contingent explanations as if there were nothing significant to discuss or explain. The argument, in other words, is part of a general protest against a widespread unexamined and unarticulated assumption in international relations scholarship, that war needs explanation as an individual and collective phenomenon while peace does not. There is another instance of long peace before 1945, however - the triangular peace prevailing between the Habsburg Monarchy, PrussiaGermany, and Russia from 1763 to 1914 - that is more puzzling than these first six. It is also different from them - in character and importance, in structure and causes, in the reasons for both its amazing duration and its ultimate demise, and in the implications both its duration and its final breakdown have for the question of the future of major war today. The rest of this essay will therefore concentrate on it. Proving the existence of a long peace between Austria, PrussiaGermany, and Russia from 1763 to 1914 is simply a matter of facts and dates. From 1762 to 1914, Prussia, later the core of Imperial Germany, and Russia never went to war.® Similarly, Austria (after 1867 AustriaHungary) and Russia never really fought each other from the time Russia first emerged on the European scene early in the 18"* century as a

The one apparent exception proves the rule: in 1812 Napoleon forced the Prussian government, entirely against its will, to support his invasion of Russia as an auxiliary of France.

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major power until 1914.' The case of Prussia and Austria, to be sure, is more complicated. They had been mortal enemies in two major wars between 1740 and 1763, remained bitter rivals for decades thereafter in Germany and eastern Europe, particularly Poland, and fought two wars over Germany - the first brief and indecisive in 1778-9, the second brief and decisive in 1866. Nonetheless, these were the only two overt wars they fought in a long, close, intimate relationship in which each was always for the other an important neighbor, often the most important one - a relationship therefore that always involved tension and rivahy. Yet even between these two oft-times traditional enemies the relations over these 150 years were overwhelmingly those of peace.'" What was just said about Austro-German relations, that the two powers were always intimately involved with each other and always had occasions for conflict, applies to all three powers and says something special about this peace. Statistically, most peace between many dyads and triads in the world (e. g., between Mexico, Switzerland, and India) could be described as negative peace. War is absent simply because the units have no relations important enough to provide occasions for it. Some of the six instances of long peace previously listed can be partly explained by this." Between these three great powers, however, peace ' Again the apparent exceptions prove the rule. In 1809 under strong French pressure Russia half-heartedly fulfilled its alliance commitment to Napoleon by declaring war after Austria had opened war on France. In 1812 Napoleon coerced Austria as France's satellite ally into taking a role in the 1812 campaign. Without Napoleon's coercion, neither would have fought each other, and in neither case did they fight very hard. To guard against a possible objection, it could be argued that the dates of 1763 to 1914 for this long peace, while formally correct, are misleading because the character of the triangular relationship and the so-called peace for the first fifty years was entirely different from that of later eras. From 1763 to 1792, though only one small war occurred between Austria and Prussia in 1778-9, the relations between all three were so tense and managing their crises involved so much violence and instability (two major Eastern wars, the first Partition of Poland, frequent war scares) that peace between them was almost an accident. Had France not forced them to fight her, they would surely have fought each other. Thus the real long peace dates only from 1813 to 1914. The argument has some validity, and in any case the dates are not central here. Nonetheless, these three powers did stay at peace with each other through this period of constant crises and wars, for some of the same reasons and using some of the same means employed later, so that the broader dates can be defended. " However, one cannot assume that the dying out or obsolescence of old causes for rivalry will lead to a long peace. A major counter-example is the relationship between France and the Habsburg Monarchy from 1715 to 1918. With the Peace of Utrecht, all the main traditional reasons accounting for Habsburg-Valois and Habsburg-Bourbon rivalry since 1494 disappeared or became obsolescent. The two powers instead came to have important shared interests and common rivals and enemies. Yet they remained

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never could be of this kind. It had to be positive and active, the product of conscious policy and effort leading to relations that transcended the mere avoidance of war. This was the case. Most of the time these three rival powers were also allies and partners cooperating with one another in wary distrust. This long triangular peace with its special character required special causes. Many of the factors that help explain other instances of peace between great powers do not apply to it at all. For example, it helps to preserve peace if the powers concerned have no common frontiers, and therefore no territorial disputes or clashes. Or peace may result if one of the rivals drops out of the great power competition, yielding the palm to the other. Or one rival or both may come to feel naturally secure from attack, in the way Britain once felt secure in its island position and naval supremacy and the United States in its geographical isolation. One need only mention these common causes of peace to see their irrelevance here. Other factors often favorable to great-power peace do apply in certain respects to this one, but when closely examined seem to have done little to produce it, or actually to have worked mainly against it. A contest for supremacy between rivals can be ended and durable peace ensue if one of them wins so clear-cut and irreversible a victory that the loser decides to accept the verdict or cannot resume the contest (e. g., Russia and Sweden after 1721, Britain and France in their colonial and naval struggle after 1815). Here this applies to Prussia's victory over Austria in 1866, sealed by Germany's victory over France in 1870 - but only to this one instance of rivalry. Moreover, this outcome, if it promoted peace between these two powers, did not do so for the triangular relationship as a whole. While Prussia's victory solved the struggle for mastery over Little Germany, it did not solve the German question in general, but instead in the wider context of Central and Eastern Europe raised it to a new, ultimately more dangerous level. Old and new aspects of the German question went unanswered and became more critical than before - the fate of the Habsburg Monarchy with its mixture of AustroGermans and other peoples, the relations of this newly united and powerful Germany to the non-German peoples of Eastern Europe, the reacri vals most of the time, fought six wars between 1715 and 1918, some of them major and prolonged ones, and never succeeded in becoming effective allies or partners. See Paul W. Schroeder, "A Pointless Enduring Rivalry. France and the Habsburg Monarchy, 1715-1918", in: William R. Thompson, ed., Great Power Rivalries, Columbia, SC 1999, pp. 60-85.

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tion of Russia to this new Germany, and finally - most fateful of all the specter of a contest between Teuton or Slav for mastery in Eastern Europe. Ideological solidarity and cultural affinity can sometimes foster peace (e. g., between Britain and the United States). This has some relevance here. A sense of ethnic and cultural affinity no doubt helped cement the Austro-Prussian alliance after 1879, at least between Reichsdeutsche and Austro-Germans, and feelings of monarchical kinship and solidarity undoubtedly helped sustain good relations between all three governments, especially from 1815 to the mid-19"' century. But these factors were never very powerful, always outweighed and easily trumped by other ideological, cultural, religious, and ethnic differences between the three powers and within them, especially later in the century. Shared goals and programs can help promote peace. The three powers did have common goals of combating revolution and preserving the existing political, territorial, and social status quo for part of this time, again especially from 1815 to 1854. But for much of the time, especially before and after this era, their internal programs and aims drove them apart rather than together. Chances for peace improve if rival states realize that the stakes of their rivalry are not worth a war and their differences can be satisfactorily compromised. One can see instances where this feeling helped preserve peace in this relationship, especially between Austria and Prussia (e. g., in 1779, 1791, 1795, and 1849-50), but on the whole the reverse was true. Even the issues on which they managed to reach compromises (the joint partitions of Poland in 1772-1795 and the revision of that partition in 1814-15, or the German settlements in 1814-15 and in 1849-50) were bitterly contested, left behind bad feelings, and remained potential sources of rivalry, and the most critical and perennial bones of contention (for Austria and Prussia, Germany, and for Austria and Russia the Balkans) defied easy compromise or settlement. It also promotes peace if rivals recognize that even a victorious war against the foe would create new enemies, dangers, and losses outweighing the possible gains. Again, this recognition helped at various times to keep one or more of these powers from taking the plunge into war, e. g., Austria against Russia in 1772 and against Prussia in 1794-5, all three over the Polish-Saxon question in early 1815, and Austria and Germany against Russia until 1914. Yet equally clearly this is not an adequate or central explanation for the long peace. There were quite a few occasions between 1763 and 1914 when one or more of the three

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powers discounted this danger, calculating that it could start a war against one of the others, localize it, win it, and profit from it without suffering serious adverse consequences. Yet only twice did any of these states actually seize on these supposed opportunities - Frederick II of Prussia unsuccessfully in 1778 and Bismarck successfully in 1866. Sometimes international agreements promote peace between rivals over a contested area or issue by shielding it or fencing it off from greatpower conflict. Neutralizing Switzerland and Belgium are obvious examples. This approach also played a role in this triangular peace. The German Confederation established at the Vienna Congress served at least to keep Austro-Prussian rivalry in Germany under control from 1815 to 1866; certain international agreements over the Near East (e. g., the Münchengrätz Convention in 1834 and the Straits Convention in 1841) helped manage Austro-Russian rivalry in the Balkans. But these arrangements clearly broke down in time, without destroying the general peace between the three powers. Economic interdependence and trade can under some circumstances promote peace. Economic ties between these powers, especially between Prussia/Germany and the other two, were always important and grew steadily more so right up to 1914. Yet their economic relations actually did more to create tension and disputes than to promote peace and friendship between them, even between Germany and Austria as allies. Finally, one particular tool for promoting peace between rivals was certainly vital and central to this long peace: the restraining alliance. This means an alliance, whether formal or informal, that serves, intentionally or not, primarily not for puφOses of power politics, i. е., capability aggregation, military security and possible war, but for management, as an instrument for influencing, controlling, and managing the policy of other states, in particular one's ally. Such alliances are common and important; in fact, every alliance, however prominent its power-political and security features are, also includes this managerial purpose and function to some extent.'^ There are other well-known examples of alliances that functioned almost entirely as instruments of restraint keeping two rivals tied together so that they could not go to war the Austro-French alliance from 1763 to 1792 and the Austro-Italian alliance from 1882 to 1914. Nowhere else, however, were restraining 12 Paul W. Schroeder, "Alliances, 1815-1945. Weapons of War and Tools of Management", in: Klaus Knorr, ed.. Historical Dimensions of National Security Problems, Lawrence, KN 1976, pp. 227-Í2.

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alliances more prominent and important than in this triangular relationship; nothing accounts more for the way in which peace was fostered and war avoided between them than the ways in which the various partners, one of them usually leading the way, used restraining alliances to manage the policies of the others. I will return to this point in a bit more detail later, remarking here only that without these instruments this long peace could not have survived, and once the last hope of reviving some form of restraining alliance between these powers disappeared as it did after 1908, the problems of managing this delicate, crucial triangular relationship became insuperable. Yet to recognize that restraining alliances made this long peace possible and workable does not really solve the problem of whv it survived and worked. It only tells how it did, indicates the main instrument and method but not the driving motive. The question of why the three powers so often chose this method of managing their relations short of direct confrontation and war and why they finally abandoned it remains open. Thus we have a remarkable phenomenon - a long peace in which three great powers, always potential and usually actual rivals, territorially contiguous, having many conflicting and overlapping interests that always supplied occasions and potential causes for war, always armed against each other, always believing in the legitimacy of war as the ultimate weapon in international politics, never willing to sacrifice their vital interests or great power status for the sake of peace and tranquility, nonetheless managed to spend 150 years not just in avoiding war with each other, but mostly in being each others' partners and allies. This long peace was not merely remarkable, but extremely important, central to the workings of the international system. From the year (1763, to be precise)'^ that it became clear that these three states, all recent entries into the great power club, would be permanent members of it, they and the region they shared and dominated. Central, Eastern, and Southeastern Europe, became and remained the epicenter of European politics. The French Revolution and Napoleon temporarily changed things, and had Napoleon been more reasonable his victories could have led to a more permanent shift of the balance of power westward. But as things went, these powers after 1815 and the region they controlled formed the center of European politics even more than before, and peace between them made possible the long IQ"* century peace in Europe. True, there For a convincing argument that Russia and Prussia only gained full acceptance and recognition as great powers with the end of the Seven Years War, see H. M. Scott, The Emergence of the Eastern Powers, Cambridge 2001.

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was a Pax Britannica on the seas and overseas that contributed considerably to European stabiUty. Its dechne with Britain's loss of undisputed industrial, commercial and imperial hegemony late in the century and its shift from informal paramountcy to formal empire in the age of New Imperialism helped undermine that stability. But there was never a Pax Britannica on the Continent; the notion that peace was maintained there by Britain's holding the balance of power as arbiter is a myth. As for France, whether it was acting as a revisionist power after 1815 or as a revolutionary one in 1848-49 or as a would-be hegemon as in the 1850's and early 1860's, it always did more to disturb the peace than effectively to organize and manage it. Just as Austro-German-Russian peace gave the 19* century in Europe its relative peace and stability, so the breakdown of that peace accounts for the collapse of the system into a general war. It is not the case that general war merely happened finally to break out in 1914 between these powers in Southeastern Europe; only here, in this region and between them, could a general war break out. The breakdown of the AustroGerman-Russian relationship was the root cause of the war. There were many other important sources of rivalry and tension in Europe and the world, of course, but none of them caused World War One, and none really could have. Anglo-German rivalry over commerce, colonies, general European and world politics, and above all the naval race, was serious and by 1914 perhaps insoluble, but it never came close to causing these two powers to go to war over it. By 1914 Britain had clearly won the naval race, and though Admiral Tiφitz refused to admit it, the German government knew this perfectly well and was concentrating on the land arms race it had hitherto neglected and was in danger of losing.''^ Anglo-German colonial issues were being settled, and their commercial and industrial rivalry was something over which neither wanted to fight or could have.'^ Franco-German rivalry, superficially over AlsaceLorraine and more profoundly over the mutual insecurity and threat their respective arms and alliances created, was an even more serious and incurable problem. Yet again, barring some extraordinary incident Stig Förster, Der doppelte Militarismus. Die Deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-Quo-Sicherung und Aggression 1890-1913, Stuttgart 1985; David Stevenson, Arrmaments and the Coming of War. Europe, 1904-1914, Oxford 1996; Ivo N. Lambi, The Navy and German Power Politics, 1862-1914, Boston 1984; Herbert Schottelius und Wilhelm Deist, eds., Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland, 18711914, Düsseldorf 1972. " Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, Munich 1984.

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(and a whole series of incidents had occurred from 1875 to 1913 and been managed) this rivalry would not cause a war. The French refused to renounce Alsace-Lorraine, but by 1914 had lost any desire some might have had for a war to retake it,'^ and Germany had never wanted another round with France. Twice in the decade before 1914 it passed up good opportunities for a preventive war. Austro-Italian rivalry over the Adriatic, the western Balkans, and Italian irredentism was particularly bitter - each side in secret regulariy referred to the other as the enemy - but once again this rivalry could not start a war (barring an Austrian preemptive attack which Austria's sometime chief of staff, Conrad von Hoetzendorf, regularly advocated and the Austrian emperor and government regularly rejected). Both powers were too weak, vulnerable, and fearful to launch a war on their own, and boüi were allied to Germany, which would not permit it. Balkan tensions were of course extremely high, and Mediterranean, Middle Eastern, and North African ones only somewhat less so. Yet again, unless Austria, Germany, and Russia went to war over any of these issues, they could not produce a general war. The only place World War One could have started was where it did, between these three powers, over the fate of Central, Eastem, and Southeastern Europe. This bold conclusion suggests another, even more sweeping: had the breakdown of this long peace not issued in this war, one cannot see how a second world war could have arisen over basically the same central issue. If any of this is true, it makes obvious the need for careful analysis of this long peace. It is less obvious but even more important to approach the question from the standpoint of explaining peace rather than war that is, from the standpoint of what made this long peace possible and sustained it rather than primarily what caused its final demise. The reason is not merely that this is a fresher approach or even that it concentrates on what is puzzling and needs explanation, the arrival and survival of this long peace, while its ultimate breakdown is not a surprise. The main reason is rather that to approach this relationship from the perspective of the origins of the war without first understanding how this long peace was possible and worked is to take hold of the wrong end of the

'' John F. V. Keiger, France and the Origins of the First Worid War, London 1983; Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre, Paris 1977. For evidence that from 1871 on French policy was more centered on security against Germany than on revanche, see various works of Allan Mitchell on the German influence on France after 1871, especially his Victors and Vanquished. The German Influence on Army and Church in France after 1870, Chapel Hill, NC 1984.

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Stick - like trying to explain a fatal heart attack without first understanding how a healthy cardiovascular system works. Plainly a serious historical analysis worthy of the topic is impossible here. All I can offer here is enough sketchy history to support and make understandable certain key points as to what made this long peace possible and why it broke down - at the risks, inevitably, of great oversimplification and of having them strike many as too simple, too ungrounded, or plain wrong. One obvious fact about this long peace is that it went through drastic changes and metamoφhoses over time. A capsule characterization of its various stages might read like this: 1. 1763-92: A period of bitter Austro-Prussian rivalry which Russia, the overall hegemon, both contained and exploited for its aggressive purposes. 2. 1792-1815: Repeated crises and breakdowns in the triangular relationship that were in part the result of the threat from Revolutionary and Napoleonic France, and that helped make this threat so intolerable that finally all three powers learned the need to manage their rivalry within an overall solidarity and cooperation in war and peace. 3. 1815-48: An Austro-Prussian partnership and latent rivalry in Germany, and an Austro-Russian partnership and latent rivalry in the Near East, both carried on under the aegis of an inactive Russian hegemony. 4. 1848-71: Alienation between Austria and Prussia in 1848 and after, followed by alienation between Austria and Russia and Prusso-Russian rapprochement during and after the Crimean War, resulting in an end to Russia's support for Austria's position in both Italy and Germany and Russia's acceptance of Prussia's successful campaign to expel Austria from Germany, on top of its previous loss of Italy. 5. 1871-90: a period of labile German half-hegemony both in this triangular relationship and in Europe generally, serving to control a growing Austro-Russian rivalry in the Near East. 6. 1890-1908: breakdown of the Russo-German connection and the growth of German-Russian rivalry in terms of their alliances, economics, public attitudes, and world policy, but no threat of war; meanwhile a limited Austro-Russian cooperation to manage their rivalry in the Balkans. 7. 1908-14: irreversible alienation of Russia from Austria-Hungary (though not the reverse), and a growing, almost irreversible alienation of Russia from Germany, accompanied by and expressed in an accelerated arms race and heightened threat perception.

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This bare outline, simply by illustrating the checkered history of this long peace, shows further how a number of plausible explanations for its long life and ultimate demise will not do. The reason cannot be simply a balance of power, for the power relationships within the triad were not stable, were usually not balanced in the conventional sense (there was almost always a hegemon, either Russia or Germany) and when power became most evenly balanced in a military and strategic sense, from 1890 on, the triangular peace began to break down. It would be easier to argue that different kinds of hegemony sustained the peace, but that does not really suffice either. One cannot ascribe the peace to the fact that all three needed their mutual alliance against a common foe or foes. This was true only part of the time, and did not guarantee peace between them even then. Overall, the story of their relationships contains more fear of betrayal of their mutual alliance and defection from it than confidence of loyalty to it. Nor was it that the three powers stuck together out of a lack of alternatives, inability to find other allies. All three repeatedly pursued other alliances and alignments, often at the expense of one or both of the others. Nor does the answer lie in a tradition of prevailing mutual trust and confidence, or a readiness to accept a particular leadership and peck order within the triad; the contrary is mainly true. One has to conclude that some things even more basic than these common motives for cooperation and solidarity among great powers undeφinned this long peace. I see three factors at work here, so overlapping and interlocking that combined they virtually constitute a single whole. First, throughout this era the three individual powers recognized that they had security concerns that, if not stricdy mutual, were at least compatible. Each could hope to gain at least some security through good relations and close ties with the others. Russia always considered a "friendly" Prussia/Germany and Austria as a valuable buffer or glacis against threats from the west, and a useful aid in projecting its influence westward. Austria always saw a "friendly" Russia as valuable for securing one among its numerous vulnerable frontiers, and Russia as an important if troublesome ally against other threats. Prussia/Germany viewed Russia in much the same way. Both German powers always knew that cooperation between them, if achieved, would not only aid their respective defenses against other threats, especially from France, but would also keep Russia from exploiting their rivalry. Second, they all realized that each faced certain general or regional problems from which they could not exclude the other two, at least not without grave danger and the possible use of force, and that these prob-

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lems could be best handled jointly. Obvious examples of shared problems are the questions of Poland, the Ottoman Empire and the Balkan states, the defense of the monarchical order and their conservative political and social systems; and to a certain extent the internal problems each had with discontented national minorities. These two broad motives, shared security concerns and shared managerial tasks, are part of a broader third which forms the real bedrock of their relationship. All three powers learned, especially through their desperate experiences in the Napoleonic wars, that like it or not, they had to accept, tolerate, and endorse the existence of the others as great powers. Each might not like what one or both of the others were doing, but recognized that there was no alternative or substitute for having the other two there and dealing with them as permanent, indispensable neighbors. This meant acknowledging and taking seriously into account their vital internal interests and the influence and interests they had in their respective neighborhoods, all more or less shared. It meant further accepting that the problems they had with these other two powers could not really be solved by trying to eliminate them or reduce them to manageable size through military force, but had to be solved or managed politically, i. е., through mutual arrangement and compromise. It meant recognizing also that eliminating any of the others as a great power, no matter how troublesome or dangerous it might be, was not an option because destroying or greatly weakening it would bring the whole system down and create even worse, more unmanageable problems for the other two. There is nothing strange or mysterious about this mutual recognition of complex interdependence within the system, the tacit acceptance and endorsement of the existence and vital interests of other great powers as necessary to one's own and bound up with it. This is or should be a selfunderstood principle of any working, stable international system. One of the basic functions of the balance of power is supposed to be to preserve the existence and functions of all essential actors. But this principle, even when widely understood, endorsed and adopted (which it often is not), is by no means usually followed in international politics, and it certainly does not follow automatically or regularly from normal balance of power politics - quite the contrary. Therefore particularly in this case, where the existence and vital interests of these three great powers were so intimately intertwined and complex and the threats to them so numerous and pervasive over so long a time, it required more than this principle plus a vague shared outlook and a general attitude of good will

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among them to keep this long peace going. In other words, this thesis that the peace rested upon a mutual acceptance and endorsement by these three powers of their complex interdependence needs a lot of demonstration through concrete historical evidence. One would need to show (and I think one could show, though not here) that not just in quiet times but at a series of critical moments and junctures, one or another or all three of these great powers, faced with a serious practical choice between respecting and supporting the existence of the others as great powers or letting them go down or even bringing them down, chose the former alternative in a concrete fashion. Precisely this, I contend, happened repeatedly, from the very beginning of this long peace in 1763 until very late in it, in 1904-6, but it would take far too long to show it here. This bedrock principle was not merely evident in individual decisions and policies. It was institutionalized and carried out by more or less formal institutions and practices - partly those of the European Concert, but above all through the instrument mentioned earlier, restraining alliances. To a considerable degree one can write the whole history of this long peace in terms of the restraining alliances between these three powers and what happened to them - the parallel Russo-Prussian and Russo-Austrian alliances after 1764, the failed alliances of 1792-1807, the successful one forged in 1813-14, the so-called Holy Alliance after 1815, the Austro-Prussian restraining alliance in Germany and the Austro-Russian one in the Balkans, the Prusso-German restraint of both Austria and Russia in the Crimean War, the Three Emperors League, the Three Emperors Alliance, the Reinsurance Pact, the Miirzsteg Punctation (1903-7), and the disastrous failure of the last serious attempt to revive the Austro-Russian Balkan entente and the Three Emperors League in 1908. An obvious rejoinder is: If this peace was so great, why did it die so horrible a death? Who or what destroyed it? My answer to that vast question will be even more brief and unsatisfactory than it has been to other questions raised here, but it must at least be indicated. If one approaches this breakdown from the usual standpoint of explaining war, that is, how and why these powers went to war with each other in 1914, then a variety of answers remains possible even after the enormous mass of facts and inteφretations have been surveyed and weighed time and again, as they already have been. No final answer is possible, though the conventional one, chiefly blaming the Central Powers for starting it and

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seeing Russia as reacting essentially in self-defense, is as good as any and better than most. If, however, as I have tried to argue here, the real question is not who or what started the war, but who or what caused the breakdown of this peace, then the answer becomes much clearer and quite different. For then the question is, which of these powers abandoned or overthrew the bedrock principle of this peace, the mutual recognition of their complex interdependence as great powers, and the resulting necessity of maintaining each other's existence and vital interests as such? The answer to that question, I contend, is clear: neither Germany and Austria-Hungary, but Russia. Once again I cannot review the mass of evidence necessary to support this assertion convincingly. Suffice it to say here that while one can reasonably accuse Germany and Austria-Hungary of many faults and follies before the war, one charge that simply will not hold is that either of them ever intended to destroy Russia, or reduce it to manageable status, or ignore or trample on its vital interests as a great power. The whole tendency of their policy, as is obvious, was directly the opposite: to conciliate Russia, try to woo it away from France and Britain and back to their side, make deals with it, and reestablish the old monarchical alliance. The only German initiative that can plausibly be seen as violating Russia's vital interests was the Liman von Sanders affair, and the haste with which Germany withdrew from that is proof that if the move was intended as such, it was quickly repented of. As for Austria-Hungary, from 1897 on its Balkan policy was explicitly based on cooperation with Russia, even in 1908. The last two Austrian foreign ministers. Baron Aehrenthal and Count Berchtold, were the most pro-Russian ones Austria-Hungary had had since Count Rechberg fell in 1864. Had the Central Powers wanted to bring Imperial Russia down they could easily have done it, probably without war in 1904-5, by war with good prospects for easy military victory in 1908-9. They never thought of it, and did just the opposite. The evidence on the other side is equally clear. Russia's support for the existence of Austria-Hungary as a great power, equivocal since the Crimean War and in decline since the Eastern Crisis of 1875-8, had turned to indifference even before the Bosnian Crisis. Following that and Russia's supposed (actually self-caused and self-imposed) humiliation in it, Russian indifference to the fate of Austria-Hungary turned to active hostility and a fixed, clear-cut policy of isolating it and keeping it inactive until, as was expected, it would collapse internally.

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Rather than cite the mass of evidence for this inteφretation/^ let me merely keep the argument from resting on naked assertion by quickly reviewing two incidents to show how, well before the supposedly decisive breach between Russia and the German powers in 1908-9, Russia had already abandoned the central pillars of this long peace vis-à-vis Austria-Hungary. Incidentally, they also illustrate how events take on a different light if viewed from the standpoint of explaining peace rather than explaining war. The first incident, fairly well known, occurred in 1899, when the French Foreign Minister Théophile Delcassé negotiated with Russia a гeinteφretation of their alliance changing it from a simple defensive alliance directed solely against the German-Austrian Dual Alliance into a general instrument for upholding the European balance of power. While Delcassé had broad strategic purposes in mind, he had a particular reason for seeking this change at this time. Austria-Hungary was currently undergoing a severe internal crisis raising the possibility of its internal collapse and breakup, and Delcassé wanted to insure that France and Russia together with Italy would control the resulting territorial partition and prevent Germany from taking any Austrian territories dangerous to them, especially Trieste and an outlet to the Adriatic.'* It is no suφrise that Delcassé, a pure French nationalist and Realpolitiker, should pursue this policy. It is significant, however, that Russia readily agreed without protest to view Austria-Hungary's potential demise and breakup solely from the standpoint of competitive power politics and use it simply to gain greater military security and relative advantage. The incident says little directly about the origins of the war in 1914. It says volumes about the decline and breakdown of the long peace. The second incident, unlike the first, has gone almost unnoticed in the literature. In late 1904 and early 1905, when Russia was already in deep trouble in its war with Japan and feeling the rumblings of revolutionary

One clear sign can be mentioned, however. Two excellent books describe and analyze Russian official and public opinion and decision-making in this era: David M. MacDonald, United Government and Foreign Policy in Russia, 1900-1914, Cambridge, MA 1992 and Caspar Ferenczi, Aussenpolitik und Öffentlichkeit in Russland, 1906-1912, Husum 1982. Both implicitly make clear that while there were always pro-Western and pro-German parties and factions, there was never a voice, much less a party, favoring a pro-Austrian policy or connection. This notion was simply out of bounds. Indeed, one argument used for a rapprochement with Germany was that then Germany would clamp down on Austria-Hungary and force it to stop obstructing Russian aims. Christopher Andrew, Theophile Delcassé and the Making of the Entente Cordiale. A Reappraisal of French Foreign Policy, 1898-1905, New York 1968.

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discontent at home, but when Austria-Hungary was also undergoing another internal crisis over the threat of Hungarian independence, the German Foreign Office, acting through its émìnence grise, Count Holstein, twice proposed to Russia that Germany and Russia discuss the Austro-Hungarian situation and reach a secret agreement to cooperate in defending Austria-Hungary's independence and territorial integrity, perhaps also neutralizing it under their joint aegis. The Russians never replied to this proposal or even acknowledged it (which if nothing else was a diplomatic insult). Once again, if one's goal is to explain the origins of World War One in the usual way, one can dismiss this incident as unimportant, a transparent German ploy to wean Russia into its camp away from France, which the Germans were certainly trying to do. But if one's purpose is to explain the life and death of the long AustroGerman-Russian peace, and if the bedrock presupposition of this peace was that each power recognize the importance of the others' continued existence and respect it, then this incident becomes significant indeed. This proposal to my knowledge represented the only time any great power proposed any collective international action to meet the danger Austria-Hungary's possible collapse posed to Europe and the general peace. Moreover, the remedy suggested by Germany, though obviously self-interested, was also quite in accord with the tradition, spirit, and requirements of this long peace. It was analogous, for example, to the Münchengrätz and Berlin conventions for the joint maintenance of the Ottoman Sultan's throne, or Russia's intervention in Hungary in 1849, or Bismarck's refusal to let either Austria or Russia destroy each other by war in the Eastern Crisis of 1875-8. Yet at this juncture Russia, itself in even deeper revolutionary trouble than Austria-Hungary and dependent on German and Austrian benevolent neutrality to keep the Tsarist regime afloat, rejected even a slight gesture in the direction of such a policy. Holstein correctly concluded that Russia would do nothing to help insure the survival of Austria-Hungary, partly not to offend the Panslavs, partly to keep all its options open.'^ I will not pursue any further implications the theme and thesis of this essay might have in regard to the 19"' century international system or other even broader subjects - the nature of international relations as a whole, international relations theory in general, and the future of major war today. It may of course have little to contribute on these questions. But if it serves merely to turn historical and social science inquiry, par-

" Norman Rich, Friedrich von Holstein, 2 vols., Cambridge 1965.

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ticularly in the Anglo-American worid, a degree or two more away from explaining war and toward explaining peace, it will have been worthwhile.*

*This essay is a shortened and revised version of an essay presented at a conference on 'The Waning of Major War' held at Notre Dame University (Indiana, USA) April 6-8, 2001 and intended for ultimate publication in a volume of essays from this conference.

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Vom Kabinettskrieg zum totalen Krieg: Der Gestaltwandel des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert

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.Aloltke in seinem Arbeitszimmer in Versailles", so hat Anton von Werner ein Gemälde genannt, das den Mann mit der Mütze und den breiten roten Biesen in einem Interieur zeigt, das die Assoziation mit einem fürstlichen „Kabinett" von selbst auslöst; schwere samtene Portieren, ein prunkvoller Lüster, getäfelte Wände, große Ölbilder. Moltke sitzt in einem biedermeierlichen bequemen Sessel, zu seiner Linken stapeln sich auf einem Tisch Bücher und Karten, und eine Karte hängt halb herunter. Das Kabinett wirkt düster, nicht zuletzt Folge des hellen Sonnenlichtes, das in der Feme in einen angrenzenden Raum fällt. Moltke studiert etwas, möglicherweise eine Karte, und da Sedan vorbei ist, mag man vermuten, hier gehe es um Paris. Oder schon um jene unerhört-unanständigen Vorgänge, die sich mit dem Namen Gambetta verknüpften? In Wirklichkeit war alles inszeniert, und noch heute wirkt das Bild rätselhaft: Wollte Moltke protestieren? Wollte er etwas demonstrieren? Daß es ein Kabinett auch außerhalb des Schlosses gab? Schlösser waren auch im bürgerlichen Zeitalter beliebte Orte, in denen Kriege ausgeheckt, von denen aus sie geführt, in denen sie beendet wurden; das Schloß von Versailles nahm dabei den prominentesten Platz ein, und wenn im nämlichen Schloß dann auch ein Kaiser proklamiert wurde, so troff dies alles förmlich von Symbolik. Noch Dönitz wird seine Atlantikschlacht vom Schlößchen Kemevel an der Atlantikküste aus leiten, und Lothar-Günther Buchheim hat in seinem Roman „Die Festung" jene gespenstische Szene beschrieben, in der mitten im Chaos des Zusammenbruchs vom Spätherbst 1944 ein hoher Stab im angenehmen Ambiente eines schönen Schlosses wohl seine eigene Vernichtung plant.

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Krieg und Symbol: Aus den realen Schlössern werden imaginäre Burgen; die feste Burg Martin Luthers generierte nicht nur 1914 ihren Frieden, sondern war eine hochgebaute Wartburg mit Zinnen und Türmen. Auf der höchsten Spitze die „Felsennester" und „Adlerhorste". Von ganz oben schweift der Blick des Feldherm, des roi connétable, des Kaisers, des „Führers" über das Land, bis zum fernen Horizont; im Gewimmel der Burg, der „Festung Europa" ist solcher Blick unmöglich, er wird von Wehrmauern und Westwällen verstellt, in der Festung tummeln sich die Massen, es ist Krieg, totaler Krieg, wie Ludendorff den Kampf einer Festung nannte. Oder Krieg als Kur? Bad Ems, Bad Kissingen, Bad Kreuznach - Kurgärten als virtuelle Schlachtfelder und diplomatische Blaupausen; die Helden denken und reden im Duft der Rosen, sie lauschen dem Gezwitscher der Vögel, während seine Majestät, zuletzt etwas ernst, seiner Exzellenz, dem französischen Botschafter bedeuten, daß man derlei Engagements nicht nehmen könne. Wilhelm und Benedetti, Otto und Herbert von Bismarck, Bethmann Hollweg und Wilhelm IL Wer jenen eleganten Raum betritt, in dem die Verstümmelung Rußlands beschlossen wurde, ahnt es schon: Wenn es denn schon keine Kabinettskriege mehr gab oder geben konnte, so sollte wenigstens das Ambiente des Kabinetts erhalten bleiben. Das schöne Schloß von Pless und die Entscheidung zum unbeschränkten U-Bootkrieg; die Pittoreske von Bad Kreuznach und der erbarmungslose Diktat„frieden" von Brest-Litowsk wenn das total paßt, dann hier. Die NATO schlug ihr europäisches Hauptquartier anfänglich im Schloß von Fontainebleau auf, und was aus Churchills Cabinet War Rooms werden soll, darüber wird in London trefflich diskutiert. Es fiele nicht schwer, all dies psycho- und psychoanalytisch-historisch zu deuten, aber mit der postmodemen Spielerei soll nun Schluß sein. Ausgangspunkt ist die Frage: Sind der Kabinettskrieg und der totale Krieg tatsächlich etwas qualitativ völlig voneinander Unterschiedenes, und falls das der Fall ist: Wo lägen diese Unterschiede und wichtiger: Warum wurden aus Kabinettskriegen totale Kriege, genauer: wie konnte die Idee des totalen Krieges dem Kabinett entkommen? Denn um auch das gleich abzumachen: Einen „totalen" Krieg hat die Menschheit bisher ebensowenig erlebt wie das Kant'sehe „Ding an sich" gesehen. Aber die Idee des totalen Krieges stand seit der Romantik, seit Carl von Clausewitz und Jean Paul wie ein Gespenst vor den Türen aller Kriegs-

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kabinette - und es war romantisch, begreift man das Wort Romantik so, wie es die moderne Volkskunde tut.' Der totale Krieg war für die Zeitgenossen „des alternden Immanuel Kant", wie sich Friedrich von Berahardi ausdrücken sollte,^ das Natürliche, das Äußerste, das Entgrenzte, eben deswegen „romantisch". Weil jedoch der Kant'sehe Naturzustand, der des Krieges, dennoch den Erben der Aufklärung und der Französischen Revolution als empörend, als widerchristlich gelten konnte, bedurfte er mehr denn je der Rechtfertigung, und diese Rechtfertigung bestand in der Idee seiner Einhegung. Es war Clausewitz, der das am perfektesten zustandebringen sollte, sind seine einleitenden Kapitel zu „Vom Kriege" doch nichts als die Beschwörung des Monstrums, des natürlichen Gangs des Krieges, der ohne Ausnahme und in eisernen logischen Schritten, an denen Hegel gewiß seine helle Freude gehabt hätte, ins Äußerste, Radikale, Absolute wies. Unabänderlich, zwingend, anthropologisch bedingt. Wie hilflos wirken auf den heutigen Leser seine Beschwörungen: daß es die Gegner zum Äußersten nicht kommen ließen, daß die Politik sich in den Krieg mischen und ihn zähmen werde. „Das Rätsel Clausewitz" hat es jüngst Andreas Herberg-Rothe genannt.^ Ich finde es überhaupt nicht rätselhaft, und die Widersprüche in seiner Lehre, im ersten, dem einzigen überhaupt vollendeten Kapitel in geradezu unverschämter Weise nebeneinanderstehend, sind kein Zeichen intellektueller Hilflosigkeit, wie die vermeintlichen Schüler Clausewitz', von Schlieffen über Ludendorff bis Liddell Hart und Raymond Aron, einigermaßen gönnerhaft meinten, sondern nichts als das Essentielle des realen Krieges. Der Krieg, den Clausewitz meint, das ist er eben nicht mehr: der Kabinettskrieg. Genauer: Der Clausewitz'sehe Krieg definiert den Kabinettskrieg neu, um ihn vor dem all out-Krieg, dem Massenkrieg der Zukunft zu retten. Wer wie Clausewitz am eigenen Leib erfuhr, wie die Welt und die Maßstäbe des alten Europa in Stücke gingen, wird aber an kein Regelwerk mehr geglaubt haben, dieser Unglaube und die verzweifelte Hoffnung, zum Glauben an den Kabinettskrieg zurückzukehren, spiegelten sich in seinem Werk.

' Harm-Peer Zimmermann, Ästhetische Aufklärung. Zur Revision der Romantik in volkskundlicher Absicht, Würzburg 2001. ^ Friedrich von Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart/Berlin ®1917, S. 9. ' Andreas Herberg-Rothe, Das Rätsel Clausewitz. Politische Theorie des Krieges im Widerstreit, München 2001.

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Und so etwas wie Angst, wenn er ein ganzes Bündel von Argumenten beibrachte, warum das Äußerste, das Absolute nicht eintreten werde, könne. Das „dürfe" fehlte bezeichnenderweise. Diese Palliative waren es, die sein Buch zur Bibel werden lassen konnten - wie Kants Traktat zum Ewigen Frieden auch, was zunächst paradox erscheinen will. Aber beide, Kant wie Clausewitz, hatten das Gleiche gesagt: Der Naturzustand unter den Völkern, so Kant, sei der Krieg; die menschliche Natur, so brachte es Clausewitz auf den Punkt, definiere sich in Antagonismen, Antinomien, in Konkurrenzen, die notwendig in den Krieg führten, und zwar den totalen, absoluten Krieg - es sei denn, der Friede werde „gestiftet", und zwar durch „Republiken", also Demokratien, so der eine, oder der Krieg werde eingehegt, durch den Staatsmann, die Politik, so der andere. Beides war seinerzeit utopisch: Demokratien gab es nicht, und die Politik selbst drängte ins Äußerste - dafür steht ein Name: Napoleon. Die Beschwörung des Monstrums. Wer immer die geifernden Kriegslieder aus der Zeit der Befreiungs- und Freiheitskriege liest,'* die unsäglichen Tiraden eines Jahn, Fichte, Arndt, selbst des Freiherm vom Stein, in denen der Gegner das schlechthin Böse, der Satan, das „Tier aus der Tiefe" ist, dem wird klar, daß der totale, der absolute Krieg gegen Napoleon nur an der Banalität scheiterte, daß die Mittel zu seiner Führung und zur Massen Vernichtung nicht vorhanden waren; wie umgekehrt Napoleon, der seine Kriege als solche aus dem Kabinett geführte gedeutet wissen wollte - was ihm bekanntlich annähernd, aber nicht immer gelang - nicht über die Mittel verfügte, um Rußland und England physisch auszulöschen - es ist ihm, dank Alexanders, ja auch nicht mit Preußen gelungen; gewollt hat er es ebenso wie einst Maria Theresia. Dennoch geriet der Krieg 1813 in die Nähe des Clausewitz'sehen Äußersten - allein das Wort ist verräterisch: Völkerschlacht. Völker standen widereinander auf, und nicht nur jene, die dem königlichen Aufruf "An Mein Volk" gefolgt waren. Diese "Völker" waren militärisch organisiert und gingen in Form von Heeren einander an die Gurgel. Leipzig kostete 120 ООО Tote - notabene in drei Tagen. Stalingrad 1943 war so gesehen „billiger", Nagasaki auch. Der Wille zum Äußersten war da, a priori und durch nichts mehr zu beschwören. Die staatliche Vernichtung Polens, 1795 abgeschlossen, 1815 abgesegnet, - was der eigentliche Skandal war - zeigte, daß die harmonische Vorstellung vom Recht des

Viele Beispiele bei Hasko Zimmer, Auf dem Altar des Vaterlandes, Frankfurt/M. 1971.

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Staates und der Völker auf friedliche Existenz nichts galt - Wien und Münchengrätz zum Trotz. Bekanntlich hat sich Clausewitz selbst aktiv dazu hergegeben, um das den Polen zugefügte Unrecht zu bekräftigen, aber gestorben ist er wie Hegel, Gneisenau und so viele andere, ganz banal an der Cholera von 1831. Die Vorstellung, der Kabinettskrieg, wie er nach 1648 Mode wurde, sei Ausdruck der Aufklärung und der Staatsräson, der Rationalität, der Rechenhaftigkeit, der Emotionslosigkeit und merkantilen Denkens gewesen; die Idee, der ICrieg sei wie ein Schachspiel, mit festen Regeln auf einem begrenzten Spielfeld zu führen, war immer nur ein Traum, allerdings ein schöner. Moltke hat ihn noch im ersten Satz seiner Geschichte des deutsch-französischen Krieges beschworen: „Es sind vergangene Zeiten, als für dynastische Zwecke kleine Heere von Berufssoldaten ins Feld zogen, um eine Stadt, einen Landstrich zu erobern, dann in die Winterquartiere rückten oder Frieden schlossen." Daß Ruhe die erste Bürgeφflicht sei, wenn der König eine Bataille verlöre: dieser Satz wurde berühmt, weil er so ungewöhnlich war, er beweist nicht die kühle Rationalität des Krieges von 1806, sondern das Gegenteil. Weil sie sie nicht bis zum „Äußersten" verteidigt hatten, wurden sie erschossen: die Kommandanten der preußischen Festungen. Weil er die seine bis ins Extrem verteidigt hatte, konnte Clausewitz Karriere machen und aus der praktischen Anschauung seine theoretische Lehre vom Krieg als dem Äußersten entwickeln. Dabei hatten die Füsillierten nur getan, was Clausewitz später weismachen wollte: daß es im Krieg nicht zum Äußersten kommen muß. Was wir landläufig mit dem Begriff „Kabinettskrieg" verbinden, ist ein Euphemismus - vielleicht trifft er auf den friderizianischen „Kartoffelkrieg" zu, aber das ist es dann auch gewesen. Nur weil die „Philosophes" mit Voltaire an der Spitze es behaupteten, war es doch nicht wahr: daß Heinrich IV. von Frankreich, der große Sonnenkönig, Karl XII. oder Friedrich II. gezirkelte, kabinettreife Kriegsstückchen aufgeführt, während neben den Schlachtfeldern die Bauern friedlich gepflügt hätten. Wenn sie pflügten und ernteten, während nebenan Kriegslärm die Luft füllte, so um Fourage für Rößer, Veφflegung für Männer und Weiber im Heer und im Troß zu schaffen, den Truppen Unterkunft bereitzustellen. Das kostete manchen Bauems und manches Dorfes Existenz, und wenn es die Feinde waren, die derlei begehrten, oft auch das Leben. Daß alles, was einen Rock trug, wohlfeile Kriegsbeute war das war so selbstverständlich, daß die männlich dominierte Kriegsge-

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schichte nonchalant darüber hinweggegangen ist - ein gefundenes Fressen für die Gender-Militär-Forschung von heute. Man braucht nicht zu erklären, warum die aufgeklärten Fürsten diese Fratze des Krieges gerne verhüllten, und da sie selbst, oder ihre Ministres und Generäle, ihre Dichter und Hofhistoriographen, nicht aber die Bauern und die Kümmerexistenzen auf dem platten Land lesen, schreiben und artig räsonnieren konnten, sind ihre „Generalprincipia" vom Kriege, ihre "Henriaden", ihre Testamente, ihre Instruktionen, ihre philosophischen Traktate überliefert und sonst fast nichts. Schlachten und Kriege in Form und Verse zu bringen: darauf verstanden sich Friedrich der Große und Voltaire hervorragend, aber die moderne Militärgeschichte der Frühen Neuzeit^ hat es längst doch deutlich gemacht: Der angeblich homöopathisch dosierte „Kabinettskrieg" war immer nur eine Wunschvorstellung oder war es faute de mieux, sprich der Ressourcen. Sind wir erst einmal über die traditionelle kriegsgeschichtliche Vorstellung hinweg, daß Krieg immer dann ist, wenn uniformierte Soldaten auf uniformierte Soldaten schießen und sonst nicht, so verschwimmen die Grenzen zwischen dem Typus des Kabinettskrieges und des modernen Massenkrieges des 20. Jahrhunderts. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Idee der Soldatenmassen, an der schon Hans von Seeckt nach 1918 gezweifelt hatte, im modernen High Tech Krieg obsolet geworden ist; wie sehr der moderne Krieg geradezu an mittelalterliche Verhältnisse erinnert: Da wird eine handvoll perfekt technisch-militärisch ausgerüsteter Soldaten in ferne mittelalterliche Wüsten transferiert - und wie einst ein kleines feines Ordensheer durchfährt diese Truppe die gelobten und ungelobten Lande nach Belieben. Daß die Zeit der Massenheere offensichtlich endgültig vorbei ist, hat der Afghanistankrieg nur noch bestätigt. Man sieht: Der Massenkrieg im Sinne von Heeresmassen ist ein zeitlich ziemlich eng begrenztes Phänomen von ungefähr eineinhalb Jahrhunderten. Der Krieg aber als Totalität ist zu allen Zeiten ein Massenphänomen gewesen. Es gilt also zu unterscheiden: Masse ist nicht gleich Masse. In allen Epochen der bekannten Geschichte, man kann bis auf die Zeit der Perserkriege zurückgehen, wurde die Masse der Bevölkerung durch den Krieg aufs schwerste in Mitleidenschaft gezogen; es ist nicht nötig auf Thukydides' Peloponnesischen Krieg oder Grimmelshausens Simplicius Simplizissimus zu verweisen. Es galt genauso während der

' Für sie mögen die Namen Sicken, Kunisch, Kroener, Hagemann stehen - es gibt viele andere.

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Kriege Ludwigs XIV., man versetze sich in Gedanken nach Heidelberg, den Spanischen Erbfolgekrieg, man stelle sich die durchstochenen Deiche und deren Folgen in Holland vor Augen, des Siebenjährigen Krieges, man denke an die russische Besatzung in Ostpreußen - danach wurde es schlimmer. Wenn Krieg ein, nolens volens gewiß, gesamtgesellschaftliches Ereignis, besser: eine allgemeine Katastrophe, ein wahres Unglück war und immer gewesen ist, so taugt die Unterscheidung zwischen Kabinettskrieg und totalem Krieg nicht. Gleichwohl muß sie ihre Berechtigung haben, hätten die Veranstalter dieses Symposion mir sonst doch nicht die Aufgabe zugewiesen, die Entwicklung vom Kabinettskrieg zum totalen Krieg nachzuzeichnen.

IL Die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts hatten mit denen des 19. nur wenig zu tun, dennoch gab es sie. Das galt für den Interventionskrieg in Spanien, den Krimkrieg, den österreichisch-französischen, der in Villafranca endete, den gegen Dänemark von 1864, auch noch für den preußisch-österreichischen Krieg von 1866. Der, so hat es Moltke formuliert, ging um Machtstellung, nichts sonst, ein Abstraktum, destillierte Staatsräson. Zeitlich parallel gab es Kriege, denen man das Etikett „Kabinettskrieg" a priori nicht zubilligen möchte: die von 1830, 1848 in Polen, den in Schleswig-Holstein und in Italien. Unter den vermiedenen Kriegen, von denen es bekanntlich einige gab,® wäre wenigstens der von 1840 alles andere als ein Kabinettskrieg gewesen, und so sehr der von 1870 als solcher beginnen sollte, so sehr entartete er - zum blanken Entsetzen von Moltke. Aber auch der von 1866 galt vielen als „Bruderkrieg", und was man in Amerika in den sechziger Jahren beobachten konnte, hatte mit einem Kabinettskrieg rein gar nichts zu tun. Ob im Kabinett ersonnen, vom Kabinett oder einem Fürsten gebilligt und befohlen: Entscheidend für einen Kabinettskrieg war der Gedanke, daß es nach dem Krieg friedlich weitergehen, innen- und ständepolitisch alles so bleiben würde, wie es vor dem Krieg war. Das war ein funda-

' Jost Dülffer/Martin Kröger/Rolf-Harald Wippich, Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg 1865-1914, München 1997.

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mentaler Unterschied zu den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts, aber auch zum Typus des Revolutionskrieges und des Bürgerkrieges, wie sie sich seit 1776 bzw. 1792 entfaltet hatten. Der Kabinettskrieg war ein Staatenkrieg, kein Völkerkrieg, und deswegen konnten die unterschiedlichsten Nationalitäten sich in einem Heer vereinen. Die Regeln des Staates galten auch für ihn, definierten ihn geradezu. Deswegen starb er mit der Idee des Staates als einer Maschine, wenn diese durch jene des Volkes, der Nation, des lebendigen geistigen Organismus Möserscher, Herderscher, auch hegelianischer Provenienz ersetzt wurde. Dieses Phänomen läßt sich in jener breiten Grauzone zwischen Staaten- und Völkerkriegen beobachten, die zwischen den Jahreszahlen 1776 und 1815 liegen. Es kam in diesen Jahrzehnten mehr als einmal zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen; Valmy und Goethe mögen als Stichwort genügen. Oder man nehme den Herzog von Braunschweig auf der einen, Camot auf der anderen Seite: Hier wohlformulierte, gavottenhaft-gezirkelte militärische und politische Absichtserklärungen; ein kleines, wenn auch nicht feines Söldnerheer internationalen Zuschnitts, dort atem- und regellose Nationalgarden und nationale Propagandasprüche: Frauen sollen Scharpie zupfen, Greise auf den Märkten Patriotismus predigen: Leveé en masse. Man weiß, was es mit diesen Massen auf sich hatte: А т о ф Ь е Zusammenrottungen von Armen und Ärmsten, Frustrierten und Abenteuerlustigen, Entwurzelten - aber sie sind alle Citoyens, und das unterscheidet sie fundamental von den Truppen eines Herzogs von Braunschweig. Diese Soldaten-Bürger strömten allerdings nicht zusammen, um das Vaterland zu retten, sondern unter dem Druck einer sich immer totalitärer gebärdenden Konventsherrschaft - und wenn es ein paar Pfund Brot gab oder ein paar neue Stiefel. Aber die Idee war da: Masse und Krieg. Wenn die Masse dynamisiert wird, entbindet sie neue, ungeahnte Kräfte, nur weil sie Masse ist; sie erdrückt alles, sie ist nicht aufzuhalten. Noch gab es sie wohl nicht, aber die Vorstellung war naheliegend: Dampfwalze. Wer immer die Inszenierung von Valmy gesehen hat, anläßlich des Bicentennaire 1989, dem wird es erinnerlich sein: der aufbrüllende Waldrand eines locus amoenus, hinter dem sich eine langgezogene und dichtgestaffelte Wand von Hubschraubern erhebt und in der Luft wie Klingsors Speer stehenbleibt - pure militärische Energie, die moderne Inszenierung einer Idee: der militärischen Masse, die in Valmy über die Kabinett-Soldaten siegte, sich patriotisch über sie erhob, genauer: ihnen standhielt, was das Entscheidende war, und sie damit in den Orkus der Geschichte beförderte.

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Robespierre war es gewesen, der zuerst gegen den Krieg gewettert und ihn dann leidenschaftlich gefordert hat - man erkennt den Paradigmenwechsel: Als es 1792 um die Frage geht, ob man der Arroganz des Kaisers und seiner militärischen Lakeien entgegentreten soll, ist der Unbestechliche ganz noch in der Idee jenes Krieges befangen, der das vergangene Jahrhundert geprägt hatte, und der war allemal nicht revolutionär, sondern systemstabilisierend gewesen. Daß der Massen- und Völkerkrieg das System auflösen kann, das faszinierte Robespierre. Und jene, die mit dieser Herausforderung fertigwerden mußten. Wenn der Krieg gegen Napoleon, nachdem der gegen die Revolution so kläglich gescheitert war, mit exakt jenen Mitteln und Methoden vorbereitet und geführt wurde, die „an sich" systemverändernd wirkten, so war dies bloß Folge einer dira nécessitas; der Einsicht, daß es anders nicht ginge und deswegen in Kauf zu nehmen sei - vorübergehend, das war der stille Konsens in den Regierungen aller Staaten, die gegen Napoleon kämpften. Dabei war den Mannen um Boyen, Gneisenau, Schamhorst wohl bewußt, welchen Tiger sie ritten. Thomas Stamm-Kuhlmann hat gezeigt, wie schwer es dem König fiel, dieses in seinen Augen böse Spiel mitzumachen, wie zögernd er sich zu seinem „Aufruf an Mein Volk" durchrang, wie sehr ihn das treulose Verhalten des allertreuesten York in Tauroggen empörte, wie schwer es ihn ankam, den rebellischen Stein wieder in Gnaden aufzunehmen. Den Teufel Napoleon mit dem Beelzebub der mobilisierten Nation auszutreiben: Darum ging es, und nachdem das gelungen, war es das Bestreben aller Konservativen, nun diesen Beelzebub wieder loszuwerden: Die preußisch-deutsche Militärgeschichte wird nach 1815 einzig durch den Gedanken der Kabinette bestimmt, mit dem Spuk der Landwehr ein rasches Ende zu machen, aus dem Heer wieder ein Königsheer, kein Nationalheer im Wortsinn zu machen, es einzuschwören auf den Herrscher, nicht das Volk. Zwar wagte es niemand mehr, am Institut der allgemeinen Wehrpflicht prinzipiell zu rütteln - de facto war sie abgeschafft - es ging nach 1815 um eine Ent-Militarisierung der Bevölkerung. Sie ist annähernd gelungen. Das Wehewort von den Preußen, die nicht schießen, steht dafür. Moltke hat es gehaßt und darüber lamentiert - wie auch Leopold von Ranke oder Jakob Burckhardt, sein Lehrer Leo, viele andere, denn daß Krieg an sich „gut" sei, bestätigte nicht nur der fulminante Brief Moltkes an Bluntschli. Warum es innerhalb von fünfzig Jahren im historischen Selbstverständnis nicht nur der Deutschen - das nämliche Phänomen ñndet sich in Frankreich, dafür mag Alfred de Vigny stehen - zu einer nahezu kompletten Verdrängung der Entsetzlichkeiten der Kriegs-

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période von 1792 bis 1815 gekommen war, harrt noch einer plausiblen Erklärung, auf alle Fälle senkte sich seit dem Ende des Krimkrieges die Hemmschwelle zum Krieg dramatisch, und im Jahrzehnt von 1859 bis 1870 sollte es zu einer explosiven Kettenreaktion von Kriegen kommen, und jetzt erst ließ sich Clausewitz beim Wort nehmen: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln." Der Geist oder Ungeist des Massenkrieges, des totalen iCrieges, wie er seit 1792 aus der Flasche entwichen war, schien wieder eingesperrt. „Mit Masse": das war wieder ein bloß militärischer Fachbegriff, Moltke hat ihn verwendet. Die politische Entwicklung im Zeitalter von Restauration und Realpolitik schien mit dem Phänomen von Massenheeren glänzend fertiggeworden zu sein, indem aus zivilen Bürgern gleichsam auf Knopfdruck nunmehr königliche Soldaten wurden - und es zeitlebens blieben: dank allgemeiner Wehrpflicht, dank des Reservistensystems, dank der Kriegervereine, deren Mitgliederzahlen in die Millionen gingen. Stig Förster hat gezeigt, wie aus solchen Verhältnissen das hervorging, was er den „Militarismus von unten" genannt hat. Die Sache war paradox genug: Auf der einen Seite schien es mit den Kriegen von 1864 bis 1871 zu einer Wiederauferstehung der Idee des Kabinettskrieges gekommen zu sein - ich erinnere an das eingangs beschriebene Wemersche Bild - , auf der anderen Seite durchseuchte die Idee Krieg fortan die ganze Gesellschaft - vom König bis zum Schulmeister, der angeblich Königgrätz gewonnen hatte. Daraus mußte sich notwendig die Idee des Massenkrieges als eines totalen Krieges ergeben, wenn es der Staatsführung nicht mehr gelingen sollte, ihre Kriege auch in Zukunft in engbegrenzten Räumen, in engbegrenzter Zeit und mit engbegrenztem Ziel zu planen und zu führen. Schon der alte Moltke hat bekanntlich daran gezweifelt, daß dies in Zukunft möglich sein werde, ich erinnere an seine düsteren Prognosen von einem kommenden sieben-, ja dreißigjährigen Krieg. Genau darum sollte der Diskurs in der Nach-Moltke-Ära gehen; Arden Buchholz, Jehuda L. Wallach, Martin van Creveld u. a. haben dies in klugen Studien analysiert. Die fatale Rolle, die hierbei Friedrich von Bemhardis „Deutschland und der nächste Krieg" gespielt hat, wurde schon von Gerhard Ritter richtig eingeschätzt, denn es war ein fundamentaler Unterschied, ob sich die Bevölkerung in harmlosen Kriegervereinen organisierte, die sich an den schönen Kriegsbildem von 1866

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und 1870/71 erbauten, wie es jüngst Frank Becker gezeigt hat', oder auf einen kommenden Krieg konditioniert werden sollte. In diesem Umfeld ist das entstanden, was man dann seit dem Ersten Weltkrieg die „Heimatfront" nennen sollte. Dahinter stand die Idee, daß Heimat und Heer, Front und Hinterland ein einziges großes Kriegstheater bildeten. Damit aber verwischte sich auch der Unterschied zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten - eine wesenüiche Voraussetzung für jene Entartung des Krieges, die uns automatisch vor Augen steht, wenn wir den Begriff „Krieg" denken. Wie aktuell dieses Problem ist, zeigt die jüngste internationale Diskussion um den Status der in Guantanamo gefangengehaltenen Taliban- und Al Kaida-Kämpfer. Die prekäre Balance zwischen einem gleichsam „modernen" Kabinettskrieg, wie er typischerweise 1866 geführt worden war, und dem Völker- und Weltkrieg der Zukunft, wie ihn ja nicht nur Bemhardi, sondern beispielsweise in England auch Herbert George Wells prophezeiten, konnte nur solange aufrechterhalten werden, als es nicht um existentielle Dinge ging. Kamen die ins Spiel, so mußte jedes zukünftige Kriegsszenario wie von selbst zum Massenkrieg, zum totalen Krieg hin sich entwerfen, in dem Punkt hatte Bemhardi sogar recht. Um so bemerkenswerter ist es, daß 1914 kein Volksheer, sondern ein Königsheer, genauer: viele Königsheere und eine kaiserliche, nicht eine Volksmarine in den Ersten Weltkrieg zogen - Reminiszenz an jenen Versuch zur Quadratur des Kreises, der 1813/15 nur knapp gelungen war. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß zu Beginn des Ersten Weltkrieges an einen Massenkrieg, gar einen außer Kontrolle geratenden totalen Krieg niemand dachte, was später Ludendorff verbittert der Reichsleitung vorgeworfen hat, dabei hätte er nur vor der eigenen Haustür kehren müssen. Allein die Räson des Schlieffenplanes, auch in seiner modifizierten Form, der ja mit einem Super-Sedan - Schlieffens „Cannae"-Syndrom - kalkulierte und damit ganz noch jenen Denkmustern gehorchte, die von Moltke d. Ä. entwickelt worden waren, zeigte, daß auch die militärische Elite nicht mit einem langen totalen Massenkrieg, sondern mit einem kurzen Krieg rechnete. Erst das Scheitern an der Marne mit den bekannten Folgen konnte daher jene Ideen entbinden, für die gewöhnlich der Name Ludendorff steht. Der „totale Krieg", wie er mit dem Hilfsdienstgesetz und dem Hindenburgprogramm von 1916 und 1917 ansatzweise verwirklicht werden sollte - was in der Praxis be-

^ Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001.

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kanntlich scheiterte, ebenso übrigens, um das gleich abzumachen, wie nach 1943, als Goebbels den totalen Krieg verkündete - , löste die alten Kriegsmuster ab, die bis 1871 anscheinend immer wieder funktioniert hatten, und sie sollten sich in den nächsten zwanzig Jahren nicht mehr wiederherstellen lassen. Die Idee des totalen Krieges war weder politisch noch fachmilitärisch je untersucht worden, und wenn es ein Kathedergelehrter wie Hans Delbrück vorsichtig versuchte, erntete er Widerstand und Spott. Der totale Krieg wurde nach 1916 improvisiert, er war keine logische Fortentwicklung, geschweige denn Fortschritt, keine philosophische Antithese zum Kabinettskrieg. Die Idee des Fortschritts war vor 1914 ganz umgekehrt nicht militärisch, sondern zivil, besser: zivilisatorisch besetzt, jede Weltausstellung demonstrierte es. Die Aufregung über Moltkes gar nicht so schönen Traum kann man nur verstehen, wenn man die tapferen Bemühungen der Bluntschli, Goubaroff, Bloch, Nobel, Suttner, sogar des russischen Zaren als ernsthaftes Bemühen wertet, in die Zukunft den Frieden, nicht aber den Krieg zu entwerfen, und schon gar nicht einen totalen, einen Massenkrieg. Dies auch schon deshalb nicht, weil im Zuge der Industrialisierung und Verwissenschaftlichung des Krieges der Zeitpunkt absehbar schien, zu dem nicht mehr große Heeresmassen, sondern kleine High-tech-Einheiten die Entscheidung herbeiführen würden. Nicht jeder kann ein Flugzeug fliegen, einen Panzer fahren, mit hochkomplizierten optischen und mechanischen Kriegswaffen umgehen. Ein „totaler Krieg", der nun wahllos alles mobilisierte, was Volk und Gesellschaft zu bieten hatten, war etwas durch und durch Un-Geistiges, Rückschrittliches, ein Schlag ins Gesicht aller aufgeklärten Kriegstheorie von Jomini bis Schlieffen, und deswegen konnte Ludendorff mit seiner Schrift zum „Totalen Krieg" seine Fachkollegen von Reinhardt und Seeckt bis zu Groener und Hammerstein überhaupt nicht begeistern, geschweige denn die auf dem Boden der Weimarer Verfassung handelnden Politiker - vielleicht mit Ausnahme von Brüning und Schleicher - , aber wieweit standen die noch auf besagtem Verfassungsboden? Seeckt, nicht Ludendorff wurde Stresemanns militärischer Berater; Ludendorff, nicht Seeckt, marschierte am 9. November 1923 mit Hitler zur Feldhermhalle. Das erklärt sich leicht, nimmt man nun die Idee des totalen Krieges in der Perzeption zur Kenntnis, wie sie ihm Hitler verleihen sollte. Was mag in Hitler vorgegangen sein, als er die beiden letzten Sätze des Ludendorffschen Büchleins über den „Totalen Krieg" las? „Nur dann verdient das Volk einen Feldherm, wenn es sich in seinen Dienst, d. h. in den Dienst des Führers des totalen Kriegs stellt, der um

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seine Lebenserhaltung geführt wird. In solchem Fall gehören Feldherr und Volk zusammen, sonst - ist der Feldherr für das Volk zu schade." Ich denke, es liegt auf der Hand, daß das Thema Hitler und der Krieg den hier gegebenen Rahmen sprengen würde, so mögen einige wenige Stichworte genügen. War für Moltke der Krieg ein „Glied in Gottes Weltordnung", so für Hitler Gottes Weltordnung der Krieg. Nicht in der Praxis, da scheiterte er kläglich, wohl aber in der Theorie war Hitler der erste und einzige Politiker, der mit der Idee des totalen Krieges emstgemacht hat. War es bisher bei allen unterschiedlichen Meinungen hinsichtlich des Stellenwertes des Krieges im Gefüge der menschlichen Gesellschaft doch unbestritten, daß es neben Kriegs- auch Friedenszeiten gab, wobei es das Bestreben der zivilisierten Völker sein mußte, die Kriege immer kürzer und die Friedensperioden immer länger zu machen, ging es Hitler um die Eliminierung des Friedens als des ,JJormalzustandes" unter den Völkern. Er wollte nicht nur den totalen, er wollte den immerwährenden Krieg, wobei die gleichsam klassischen Staatenkriege nur den Anfang machen sollten und am wenigsten gemeint waren. Das war nur zum Teil originell. Frank-Lothar Kroll hat gezeigt^, woher Hitler seine Ideen nahm - nicht zum geringsten Teil aus seinem Verständnis der Antike, vor allem jener Periode der römischen Geschichte, in der praktisch ununterbrochen Krieg geführt wurde, sei es in Form von Staaten- oder Bürgerkriegen, also bis zu Augustus. Auch die vermeintlich germanische Geschichte der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters war für Hitler ein brauchbares Muster; der Germanenzug nach Süden wie später dann nach Osten konnte, so wie dies Himmler betonen sollte, nur dann zuende gehen, wenn das ganze Römische Reich erobert, der ganze Osten germanisch besiedelt war. Das tendierte schon zur Weltherrschaft - und damit paradoxerweise zu einem endlosen Weltfrieden. Den wollte Hitler aber auch dann nicht, der Krieg mußte weitergehen. Joe Haldeman, ein amerikanischer SF-Schriftsteller, hat die Idee des „Ewigen Krieges" als Gegenstück zu Kants „Ewigem Frieden" in einem beeindruckenden SF-Roman durchdacht^: Da kämpfen kleine, hoch' Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1998. ' Ich gehe davon aus, daß nicht jeder Historiker derlei kennt, also: Joe Haldeman, Der ewige Krieg (The Forever War), München 2000. Der Fortschritt im Bewußtsein des Friedens wird deutlich, wenn der nämliche Autor 1997 ein weiteres SF-Werk vorlegte: Der ewige Frieden (The Forever Peace), München 2000.

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technisierte galaktische Heere, ähnlich wie dies Himmler für seine militärischen Sommerexpeditionen jenseits des Urals vorschwebte, seit Jahrhunderten um den Besitz von Galaxien, und der Krieg geht endlos weiter - weil das Weltall unendlich ist, es also immer wieder neue Galaxien zu erobern gibt. Auf der Erde geht aber alles endlich zu, das wußte auch Hitler, und deswegen mußte er seine Idee des ewigen, des totalen Krieges in andere Dimensionen transformieren - damit er unendlich weitergehen konnte. Die Idee war ebenso einfach wie entsetzlich: Der Krieg wird gegen andere Rassen geführt, und da in seiner Weltanschauung es eine Hierarchie von den Herrenrassen zu den minderwertigen und den lebensunwerten Rassen gab, konnte der Krieg solange fortgeführt werden, bis nur noch die hochwertigste der Herrenrassen übrigblieb - und das konnte dauern, zumal das biologische Phänomen der Mutation schon dafür sorgte, daß es immer wieder zu bekämpfende Rassen geben würde. Die jüngste Genderforschung, wie sie beispielhaft Ute Planert, Susanne Omran oder Bram Dijkstra'" betreiben, geht sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter: Im Nationalsozialismus sei die Idee angelegt, auch das weibliche Geschlecht als minderwertige und daher langfristig auszurottende „Rasse" einzustufen. Daß das nicht nur Spekulation ist, haben diese Untersuchungen im Zusammenhang mit Otto Weininger und den politischen Folgen von "Geschlecht und Charakter" deutlich gemacht. Die Idee des totalen, des ewigen, des Massenkrieges führte sich so ad absurdum, und dies bemerkenswerterweise zu einem Zeitpunkt, als eine auch nur flüchtige Betrachtung der Weh anscheinend bestätigte, daß der totale Krieg nun Wirklichkeit geworden war - oder wie anders könnte man die Atomblitze über Hiroshima und Nagasaki, die Hölle von Auschwitz und ach was sonst noch alles, deuten? Und waren nicht buchstäblich ganze Völker in den Krieg verwickelt, Kriegsopfer geworden - wie die Juden, die Sinti, die Roma? Die Ostpreußen, die Schlesier? War die Idee des totalen Krieges nicht aufs grausamste verwirklicht? An Hitlers Maßstäben gemessen keineswegs, so zynisch das klingen mag. Zum einen waren nicht, wie geplant, alle Juden ermordet worden, zum anderen nicht alle Japaner atomar verglüht (was nicht geplant war. Ute Planert (Hrsg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt/M./New York 2000; Susanne Omran, Frauenbewegung und "Judenfrage". Diskurse um Rasse und Geschlecht nach 1900, Frankfurt/M./New York 2000; Bram Dijkstra, Das Böse ist eine Frau. Männliche Gewaltphantasien und die Angst vor der weiblichen Sexualität, Hamburg 1999.

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wie man redlicherweise hinzusetzen muß)." Was jedoch viel entscheidender ist: Es hat nach dem schlimmsten aller Kriege wieder einen Frieden gegeben. Sicherlich, er war eine schwere Geburt, gegen die die des Bismarckschen Kaiserreiches eine Sturzgeburt gewesen war, aber dafür befinden wir uns seit 1945 wenigstens in Europa und Amerika in der längsten Friedensperiode der Geschichte überhaupt. Zwar ist dieser Friede durch viele kleine, häßliche Kriege durchsetzt, er ist gleichsam kriegerisch befleckt, aber der Stoff der gegenwärtigen Weltgeschichte ist der Frieden, nicht der Krieg. Nach wie vor werden die Massen von diesen kleinen Kriegen bedrängt, in sie verwickelt, insofern sind es auch jetzt Massenkriege, doch wäre es unbillig zu leugnen, daß die Masse der Massen friedlich lebt und leben kann. Gerade weil zum ersten Mal in der Geschichte ein totaler Krieg im eigentlichen Wortsinn möglich wäre - in den sechziger Jahren waren rund 64 ООО Atomsprengköpfe vorhanden, und die hätten, allesamt gezündet, das Ende der Erdgeschichte herbeigeführt - ist es um so wichtiger, sich wieder auf die Prinzipien des Kabinettskrieges zu besinnen - falls Demokratien überhaupt Kabinettskriege führen können. Das galt lange als unmöglich, doch scheint inzwischen manches in diese Richtung zu weisen. Natürlich wäre es töricht, wollte man die Idee des Kabinettskrieges nun preisen oder als Modell anbieten - das kann nach wie vor nur Kants Idee vom „ewigen Frieden" sein, aber solange es den nicht gibt, ist es zweckmäßig, das Regelwerk des Kabinettskrieges zu kennen, zu modernisieren und, wenn es denn nicht anders möglich ist, anzuwenden. Nicht die Bevölkerung, der Staat muß über diese Kompetenz verfügen, er allein auch dieses Gewaltmonopol verantwortlich besitzen. Deswegen ist auch die Idee der Staatsräson nicht überholt, auch wenn sie sich gegen den Meinungsterror der Demoskopie nur schwer durchsetzen kann. Jüngst hat Klaus Hildebrand in der FAZ auf Friedrich List verwiesen und ihn so zitiert: „Macht ist wichtiger als Reichtum, weil eine Nation vermittelst der Macht nicht bloß sich neue produktive Quellen eröffnet, sondern sich auch im Besitz der alten und ihrer früher erlangten Reichtümer behauptet, und weil das Gegenteil von Macht - die Unmacht - alles, was wir besitzen, nicht nur den Reichtum, sondern auch unsere produktiven Kräfte, unsere Kultur, unsere Freiheit, ja unsere Nationalselbständigkeit " Immerhin waren 10% der Amerikaner dafür, die japanisciie „Rasse" physisch zu vernichten - auf diesen erschreckenden Befund macht aufmerksam: Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Stuttgart/München 2000, S. 377.

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in die Hände derer gibt, die uns an Macht überlegen sind." Oder an terroristischer Energie, um es zu aktualisieren. Die Hände zu ringen und den Krieg zu verdammen, ist leicht, und wer sich für einen Krieg entscheidet, das wußte schon Bismarck, ich erinnere an seine Olmützrede, wird schuldig, unvermeidlich. Diese Tragik bewußt zu machen, sollte zu den Aufgaben einer modernen Militärgeschichte gehören. Kabinettskrieg und totaler Krieg waren immer nur Stereotype, es hat sie in lupenreiner Form nie wirklich gegeben. Gleichwohl ist es wichtig, sie nicht nur mit dem Interesse des Historikers, sondern mit der Verantwortungspflicht des Staatsmannes und Politikers zu durchdenken, rechtzeitig, denn in einen unbedachten Krieg zu geraten kann schon heißen, ihn zu verlieren.

Josef Isensee

Wechsel, Wandel und Dauer der Staatsformen im 19. und 20. Jahrhundert Anmerkungen zu Geschichtlichkeit und Normativität von Verfassungen

Endgültigkeitsanspruch der Demokratie - Zur Teleologie der Verfassungsgeschichte 1. Ende der Geschichte - jetzt? Als der totalitäre Sozialismus in Mittel- und Osteuropa zusammenbrach, politisch wie moralisch diskreditiert, blieb der Verfassungsstaat des Westens, seines letzten Widersachers ledig, einsam auf der Walstatt der politischen Systeme zurück. Der Eindruck war allgemein, daß nun, zweihundert Jahre nach der französischen Revolution, die Epoche der großen Verfassungskämpfe beendet sei, die mit eben dieser Revolution begonnen hatte, als der Verfassungsstaat, die Verbindung von Demokratie, Menschenrechten und Gewaltenteilung, in die europäische Geschichte eingetreten war. Er hat alle seine Widersacher überlebt: die Erbmonarchie und den Cäsarismus des 19. Jahrhunderts, die links- und die rechtstotalitären Herrschaftsformen des 20. Nun sei das Ende der Geschichte gekommen, meinte im Jahre 1989 Francis Fukuyama^. Die ideologische Evolution der Menschheit habe mit der Demokratie des Westens ihr Ziel erreicht. Die Verwirklichung der Demokratie bleibe zwar hier und da verbesserungsbedürftig. Nicht verbesserungsfähig sei jedoch die Idee der Demokratie. Sie bilde die endgültige Regierungsform. Die wirklich großen Fragen seien abschließend gelöst. Das schließe nicht aus, daß es weiterhin Ereignisse geben werde, auch große und bedeutende Ereignisse. Doch Geschichte, mit

1 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest 1989, Nr. 16, S. 3ff.; Oers., The End of History, New York 1992 (deutsche Ausgabe: Das Ende der Geschichte, München 1992).

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Hegel und Marx verstanden als ein einzigartiger kohärenter Prozeß, als ein zielgerichteter Verlauf, der die Erfahrungen aller Menschen aller Zeiten umfasse und ermögliche, die Kategorien „primitiv" oder „fortschrittlich", „traditionell" oder „modern" auf verschiedene Gesellschaftsnormen anzuwenden, gehe zu Ende, weil nun die Menschheit eine Gesellschaftsform erreicht habe, die ihren tiefsten Sehnsüchten entspreche. - Näher besehen, soll also nicht die Geschichte als solche ihr Ende gefunden haben, sondern die Verfassungsgeschichte, und auch diese nicht schlechthin, sondern als die Geschichte der großen Ideen und Strukturen. Auch in dieser Reduktion behält die These Fukuyamas ihren eschatologischen Charakter. Sie reiht sich ein in den Chiliasmus, wie er seit Joachim von Fiore immer wieder zum Ausbruch gelangt. Bisher haben die Chiliasten wie Karl Marx das Endreich des irdischen Heils in die Zukunft verlegt, auf einen dies certus an, incertus quando, und sich gehütet, einen bestimmten Zeitpunkt zu nennen, an dem das Endreich anbrechen werde. Hier erweist sich Fukuyama als originell. Er verlegt das Ende der Geschichte in die Gegenwart, in das Jahr der demokratischen Weltrevolution 1989, das so glücklich mit dem Jahr der französischen Revolution 1789 korrespondiert. Die Datierung ist allerdings auch das einzig originelle Moment an Fukuyamas Aufsehen erregendem Buch. Im übrigen entspricht es herkömmlicher demokratischer Ideologie, die sich mit dem Fortschrittsglauben der Aufklärung verbündet hat: daß in der Demokratie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Vernunft zur Wirklichkeit fänden und damit die politische Entwicklung auf ihr höchstes Ziel gelange, hinter das sie nicht mehr zurückfallen könne. In Kants Vision bewegt sich die Menschheit auf eine republikanische Verfassung zu. Unter den Aspekten und Vorzeichen der französischen Revolution behauptete er, dem Menschengeschlechte die Erreichung dieses republikanischen Zwecks und hiermit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können. „Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat". Auch mögliche Fehlschläge und Rückfälle beirren Kant nicht in seinem Fortschrittsglauben. Denn jene Begebenheit, die Revolution, sei „zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einflüsse nach, auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern, bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche

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dieser Art erweckt werden" und am Ende eine gefestigte, dauerhafte Verfassung hervorbringen sollte^. - Demokratie, so lehrt Karl Marx, verhalte sich zu allen übrigen Staatsformen als zu ihrem Alten Testament^. Demokratie gilt als das Neue Testament, mit dem die Offenbarung abgeschlossen ist. So versteht sich Demokratie denn auch nicht als eine Staats- und Regierungsform unter anderen, sondern als die allein richtige, die universal verbindliche, die endgültige. Sie wehrt sich gegen historische wie kulturelle Relativierungen. Eine Verabsolutierung der Demokratie war der politischen Philosophie der Antike fremd. Aristoteles galt sie als ethisch gleichwertig der Monarchie und der Aristokratie, wie diese anfällig für Mißbrauch, geneigt zur Entartung, labil in ihrem Bestand'*. Daher war sie, wie Polybios es darstellte, einbezogen in den ewigen Kreislauf von Aufstieg, Verfall und Wechsel, dem das Gemeinwesen nur entrinnen könnte, wenn es die stabilisierenden Elemente der drei „guten" Staatsformen zu einer Mischverfassung vereinigte, wie sie, so glaubte Polybios, in der römischen Republik verwirklicht war^. Doch die Geschichte fand nicht ihr Ende in der römischen Republik, sondern die römische Republik endete in der Geschichte. Überhaupt zeigt sich, daß so manche Gesellschaft, die sich auf der Höhe der Zeiten und als Erfüllung aller wesentlichen Tendenzen wähnte, einer Selbsttäuschung erlag, aus der sie die Bewegungen der Geschichte rasch wieder herausreißen sollte^. 2. Legitimationsmonopol der Demokratie im Völkerrecht Die Utopie der endgültigen Demokratie findet Rückhalt in der Realität und im Recht der heutigen Staatenwelt. Die Ideen der Demokratie des Westens übten einen politischen Sog aus, dem die einzelnen Staaten nur schwer widerstehen können. Das heißt nicht, daß sich alle der etwa 200 ^ Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in: Oers., Werke (hrsg. von Wilhelm Weischedel), Bd. VI, Darmstadt 1964, S. 261 (361 - Hervorhebung im Original). ^ Karl Marx, Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie (1841/42), in: Ders., D i e Frühschriften (hrsg. von Siegfried Landshut), Stuttgart 1953, S. 2 0 (48). " Aristoteles, Politik, 1 2 7 8 b - 1 2 8 1 a . ' Polybios, Historien, VI. ® Ein solches Beispiel ist, w i e Klaus Hildebrand aufweist, der optimistische Glaube des Viktorianischen England an den sicheren Sieg der überlegenen Weltanschauung des „liberalen Systems", das Konzept einer „world unity", die das „Ende der Geschichte" zu markieren schien ( N o Intervention. D i e Pax Britannica und Preußen 1 8 6 5 / 6 6 - 1 8 6 9 / 7 0 , München 1997, S. 4 7 , 414).

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bestehenden Staaten unversehens in Demokratien verwandelt hätten. Es läßt sich noch nicht einmal mit Sicherheit feststellen, daß auch nur jeder zweite deren Kriterien entspräche. Doch alle unterwerfen sich wenigstens äußerlich der Hegemonie der politischen Idee. Ein Staat, der auf Legitimität in der internationalen Gemeinschaft Wert legt, erweist den Menschenrechten seine Reverenz und gibt sich aus als Demokratie. Hinter dem semantischen Konsens steckt vielfach abgrundtiefer Dissens in der Sache. Politische Heuchelei ist im Spiel. Doch Heuchelei, „der Zoll, den das Laster der Tugend entrichtet", bekundet die Macht der Prinzipien, deren Einhaltung sie vortäuscht. - Dokument der Übereinstimmung ist eine Verfassungsurkunde, die in Stil wie Inhalt den amerikanischen und französischen Mustern des 18. Jahrhunderts entspricht. Eine solche Urkunde gehört heute zur Grundausstattung eines Staates. Selbst- und Militärdiktaturen fügen sich dem Brauch. Die wenigen, heterogenen Ausnahmen wie Großbritannien, Israel, Saudiarabien und Bhutan bestätigen die Regel. Das Legitimationsmonopol des Verfassungsstaates wird zunehmend abgesichert durch das Völkerrecht. Herkömmlich stellte es allein auf die Effektivität der Staatsgewalt ab, nicht auf die Legitimität, und erkannte die Staaten als gleichberechtigte Völkerrechtssubjekte an, gleich ob sie demokratisch oder autokratisch, rechtsstaatlich oder polizeistaatlich organisiert waren. Die typischen Regelungsmaterien der Verfassung, Staatsform, Staatsorganisation, Staat-Bürger-Beziehungen, gehörten zur domaine réservé des souveränen Staates. Heute greifen völkerrechtliche Regelungen auf diesen Vorbehaltsbereich über. Sie schränken die nationale Gestaltungsfreiheit ein und fordern demokratische Verhältnisse im Innern und die Wahrung menschenrechtlicher Prinzipien^. Die frühere Indifferenz des Völkerrechts in der Frage der Staatsform geht tendenziell über in Identifikation mit der Demokratie, und zwar Demokratie westlicher Observanz. Die Anerkennung eines Staates wird zunehmend davon abhängig gemacht, daß seine Regierung demokratisch legitimiert ist. Die Vereinten Nationen betrachten es als ihre Aufgabe, die Demokratie der Staaten zu fördern und zu diesem Zweck Wahlen zu sichern und zu beobachten*. Vollends verstehen sich regionale Organisationen in zunehmendem Maße als Wächterin demokratischer und menschenrechtlicher Grundsätze im nationalen Bereich. So vereinbarten die Teil' Zu dieser Entwicklung Helmut Rumpf, Der internationale Schutz der Grundrechte und das Interventionsverbot, Baden-Baden 1981, S. 5 I f f . ^ Juristisch distanzierte Sicht der internationalen Praxis: Karl Doehring, Völkerrecht, Heidelberg "1999, S. 53, 334f., 423; Knut Ipsen, Völkerrecht, München "1999, S. 373ff.

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nehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) auf ihrem Treffen in Moskau 1991, „den demokratischen Fortschritt unumkehrbar zu machen" und „im Falle eines durch undemokratische Mittel herbeigeführten Sturzes oder des versuchten Sturzes einer rechtmäßig gewählten Regierung eines Teilnehmerstaates die rechtmäßigen Organe dieses Staates, die für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen, mit großem Nachdruck zu unterstützen, um ihrer gemeinsamen Veφflichtung nachzukommen, sich jeglichem auf eine Verletzung dieser Grundrechte abzielenden Versuch entgegenzustellen"'. Die westlichen Staaten setzen ihre wirtschaftliche Macht im Dienste ihrer politischen Ideen ein und knüpfen Entwicklungshilfe an die Auflage, daß die Regierungen der Empfängerländer die von den Geberländem definierten Standards der good governance einhalten, zu denen demokratische Beschlußfassung wie Transparenz des Regierens gehören, marktwirtschaftliche Grundsätze, Korruptionsabwehr, Meinungs- und Pressefreiheit'". Unter verfassungsstaatlichen Vorzeichen, demokratisch gewendet, erhebt sich wieder eine Heilige Allianz, die ihre Legitimitätsvorstellungen absichert. Eine Diktatur, mag sie sich auch nach außen friedlich verhalten, provoziert als solche schon politische und wirtschaftliche Sanktionen, wie sie sich Südafrika in der Apartheidära zugezogen hatte. Heute drohen darüber hinaus militärische Eingriffe. Die bloße Existenz einer Diktatur gerät zur möglichen Rechtfertigung für demokratische Staaten, gegen das Land Krieg zu führen, um es zu „befreien". Tendenziell baut sich eine globale Demokratieaufsicht, Verfassungszensur und Menschenrechtspolizei auf. Aus dem Arsenal des 19. Jahrhunderts kehrt die humanitäre Intervention unter neuen, nunmehr menschenrechtlichen Vorzeichen in die internationale Praxis zurück, vormals Instrument der Großmächte, schwächere Staaten, zumal den „kranken Mann am Bosporus", militärisch zu domestizieren und im Namen christlicher Moral ihren Expansions- und Einflußbedürfnissen gefügig zu machen, dient sie heute der einzigen Weltmacht, die noch verblieben ist, als Instrument, um ihren weltmissionarischen Drang, Demokratie und Menschenrechte im Lichte ihrer Inteφretation zu verbreiten, wobei - Zufall oder Plan -

' Dokument des Moskauer Treffens der Konferenz über die Menschliche Dimension der KSZE vom 3. Oktober 1991 (II. 17.2 und 3), in: EuGRZ 1991, S. 495 (498). Dazu Matthias Herdegen, Völkerrecht, München 2000, S. 44f.

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die moralische Absicht und das macht- und wirtschaftspolitische Interesse in der Regel konvergieren".

3. Die Rückkehr der Geschichte Die Demokratie ist ein Geschöpf der Kultur des Westens, der sich als repräsentativ für das Universum der Menschheit versteht, seinen politischen Ideen globale Geltung zuweist und der, kraft seiner wirtschaftlichen, technischen, militärischen Potenz, dem Geltungsanspruch Nachdruck verleiht. Soweit er Widersprüche zu anderen Kulturkreisen wahrnimmt, erscheinen sie ihm als Zeichen der Rückständigkeit, die sich im Zuge der Entwicklung von selbst auflösen werde. Er verdrängt das Risiko, daß die Widersprüche, zumal zur islamischen Welt, unversöhnlich sein könnten, und erklärt die Diskussion über einen „Clash of Civilisations"'^ für politisch inkorrekt. Doch gerade die Globalisierung provoziert die Gefahr eines fundamentalen Kampfes der Kulturen, in dem das Legitimationsmonopol des westlichen Verfassungsmodells zerbrechen könnte. Auch innerhalb der europäischen Staatenfamilie ist nicht Ruhe eingezogen, nachdem sich allseits nationalstaatlich-demokratische Strukturen herausgebildet haben. Nun geraten die Strukturen wieder in Bewegung durch den Prozeß der europäischen Einung, die zu einer Ausweitung des supranationalen Staatenverbundes führt, zu einer Auszehrung mitgliedstaatlicher Kompetenzen und entsprechender Zunahme der supranationalen und die, wenn sie derzeit noch keine europäische Staatlichkeit erreichen kann, wenigstens eine europäische Verfassung aufrichten will, die einer Staatsverfassung traditionellen Zuschnitts entsprechen soll. " Zur humanitären Intervention des 19. Jahrhunderts: Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 388ff. Exemplarisch zum Interventionismus der britischen Großmacht Hildebrand (wie Anm. 6), S. 7ff. Zu den heutigen Tendenzen: Kelly Kate Pease/David D. Forsythe, Human Rights, Humanitarian Intervention and World Politics, in: Human Rights Quarterly Vol. 15 (1993), S. 290ff.; Josef Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte, in: JZ 1995, S. 421ff.; Otto Kimminich, Der Mythos der humanitären Intervention, in: AVR 33 (1995), S. 430ff.; Dietrich Murswiek, Souveränität und humanitäre Intervention, in: Der Staat 35 (1995), S. 31ff.; HermannJosef Blanke, Menschenrechte als völkerrechtliche Interventionstitel, in: A V R 36 (1998), S. 257ff.; Dieter Deiseroth, „Humanitäre Intervention" und Völkerrecht, in: NJW 1999, S. 3084ff.; Doehring (wie Anm. 8), S. 43Iff.; Hartmut Maurer, Idee und Wirklichkeit der Grundrechte, in: JZ 1999, S. 689 (695ff.); Herdegen (wie Anm. 10), S. 230ff.; Burkhard Schöbener, Die humanitäre Intervention im Konstitutionalisierungsprozeß der Völkerrechtsordnung, in: KJ 2000, S. 55ff. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilisations, New York 1996.

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Rerum novarum cupidi, wie sie sind, widerstrebt es den Menschen, sich mit den bestehenden Strukturen auf Dauer abzufinden. Diese bleiben immer unvollkommen; und was an ihnen gut ist, muß den jeweiligen politischen Akteuren nicht auch gut erscheinen. Der Drang nach Veränderung findet immer neue Nahrung in sachbegründeten Einsichten und Absichten wie in Ehrgeiz, Profilierungsbedarf und Parteienkampf. Die politischen Bewegungen werden niemals zur Ruhe kommen. Wenn sich der äußere Konflikt der politischen Systeme erledigt, so verlagert er sich nach innen, und das System lädt sich mit Spannung auf. Nach dem äußeren Sieg des Verfassungsstaates brechen die inneren Verfassungskämpfe auf zwischen konstitutioneller Demokratie und Jakobinertum, zwischen rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Strebungen, zwischen Chancengleichheit, Gerechtigkeit nach Quoten, zwischen Gedankenfreiheit und political correctness, Pragmatismus und zivilreligiösem Eiferertum. Nach welthistorischer Eschatologie und demokratischen Endgültigkeitsprätentionen meldet sich die Verfassungsgeschichte wieder zurück. Die Lage entspricht immer noch der Beschreibung, wie sie Leopold von Ranke 1836 gegeben hat: „Wir finden die Welt von bürgerlichen Verfassungen eingenommen. Aber darum hört die Produktion keinen Augenblick auf. Aus dem Unscheinbaren erhebt sich durch eine neue Belebung das Gewaltige; aus der Zerstörung selbst erwachsen, es ist wahr, unter Zuckungen, aber doch haltbar, neue Formen. Dies zu beobachten, die Regel des Werdens zu finden, halte ich für wichtiger, und es ist mir wenigstens interessanter als alle von ihrem Gegenstande getrennte Reflexion."'^

II. Normativität versus Geschichtlichkeit 1. Geltungs- und Identitätsanspruch der Verfassung In den bürgerlichen Verfassungen liegt die Tendenz, die Regel des Werdens, der Ranke nachspürt, dem einmal erreichten Zustand des Staates Dauer zu verschaffen, dadurch, daß sich die Verfassungen ihrerseits

Leopold von Ranke, Politisches Gespräch (1836), in: Ders., Die großen Mächte. Politisches Gespräch, Göttingen 1963, S. 44 (58f.).

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ZU Rechtsnormen erheben. Das Recht greift gleichsam dem Rad der Geschichte in die Speichen und versucht, es aufzuhalten. Diese Prätention ergibt sich nicht daraus, daß die vorgesehene Ordnung aus sich heraus stabil, daß in ihr das goldene Gleichgewicht der Dinge hergestellt und der höchstmögliche Gipfel des Fortschritts erreicht wäre; vielmehr gründet sie allein auf dem kategorischen Anspruch der Verfassung als Gesetz: ita ius esto. Die Metapher von Fels und Strom liegt nahe: hier die feste Ordnung der Verfassung, dort der Fluß des politischen Lebens. In ihr, so mag man es deuten, erfüllt sich der alte Traum, daß nicht Menschen herrschen, sondern das Recht. In dieser Vorstellung manifestiert sich der Vemunftglauben der Aufklärung, daß die Ordnung des Staates machbar und alle sozialen Beziehungen mit dem Instrumentarium des Rechts lenkbar seien. Die Eigenschaft einer Rechtsnorm versteht sich für eine Verfassung nicht von selbst. Viele der Verfassungsurkunden in Geschichte und Gegenwart erreichen keine Normativität, erschöpfen sich in Programmen und Bekenntnissen, in Menschheitsbelehrung und Volkskatechese, in leerer Rhetorik, wenn nicht gar in Potemkinschem Schwindel'''. Es bedurfte eines langen historischen Prozesses, bis sich der Typus der normativen Verfassung durchgesetzt hat, wie ihn das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland repräsentiert'^. Die normative Verfassung, Gesetz nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach, existiert auf der Ebene des Sollens. Daher steht sie der Emile Boutmy stellt das amerikanische und das französische Verständnis der Menschenrechte im 18. Jahrhundert einander gegenüber: hier ein oratorisches Meisterstück, mit dem kein Gericht etwas anfangen könne, dort das praktische Interesse an juristischer Durchsetzbarkeit (Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von Georg Jellinek [1902], dt. in: Roman Schnur [Hrsg.], Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, S. 78 [88]). Zu den außerrechtlichen Funktionen des Verfassungsgesetzes Josef Isensee, Vom Stil der Verfassung, OpladenAViesbaden 1999, S. 57ff. " Historische Genese der Normativität, zumal des Vorrangs der Verfassung: Ulrich Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts (1973), in: Ders., Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, Beriin 1978, S. 633ff. (642f., 651, 653); Ders., Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. von Christian Starck, 1. Bd., Tübingen 1976, S. 1 (40); Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485ff.; Deri., Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. I, Heidelberg '2003, § 2 Rn. 59ff.; Hasso Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: Ders., Recht - Politik - Verfassung, Frankfurt/M. 1986, S. 261 (280ff.); Dieter Grimm, Entstehung und Entwicklung einer rechtlichen Verfassung, in: HStR Bd. I, Heidelberg '2003, § 1 Rn. Iff.

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Wirklichkeit des staatlichen Handelns gegenüber und beansprucht, es zu steuern und zu begrenzen, Maßstab und Zielvorgabe zu sein. Sie ist darauf angelegt, feste und bleibende Form zu geben. Typisches Thema des Verfassungsgesetzes ist die Feststellung der Staats- und Regierungsform: „Frankreich ist eine unteilbare, weltliche und soziale Republik" (Art. 2 Abs. 1 S. 1 Verfassung von 1958). „Italien ist eine demokratische auf Arbeit gegründete Republik" (Art. 1 S. 1 Verfassung von 1947). „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Art. 1 Weimarer Reichsverfassung von 1919). „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz von 1949). Feststellungen wie diese haben nicht deskriptiven, sondern präskriptiven Charakter. Sie bestimmen, welche Gestalt das Gemeinwesen haben soll und verfestigen ihre Strukturen. Im Aggregatzustand des Rechts scheinen sie dem historischen Wandel entzogen. Die Verfassung definiert ihren Geltungsanspruch selbst, auch in zeitlicher Hinsicht. In der Regel strebt sie nach unbegrenzter Dauer. Vorläufige Verfassungen sind Notlösungen, durch anomale Umstände erzwungen, also Ausnahmen, welche die Regel der Endgültigkeit bestätigen. Die Revision eines Verfassungsgesetzes ist nur zulässig, wenn und soweit dieses sie gestattet. Als das einzige Gesetz der staatlichen Rechtsordnung legt die Verfassung die Bedingungen selbst fest, unter denen ihre Abänderung möglich ist. Diese aber sind beim Typus der normativen Verfassung strenger als die für die Änderung einfacher Gesetze'^. Besonders streng sind die Anforderungen, die das Grundgesetz vorgibt. Es verlangt, daß die Änderung nur durch ein Gesetz erfolgen darf, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt, und daß dieses Gesetz der Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat bedarf. Einen Kernbestand von Grundsätzen, welche die Identität der Verfassung ausmachen, entzieht es überhaupt einer möglichen Revision.

Eine Anomalie war die in Bayern 1949 durch Richterrecht eingeführte Möglichkeit, die Landesverfassung durch Volksentscheid unter den gleichen Bedingungen zu ändern wie einfache Gesetze. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat seinen Fehler inzwischen korrigiert und die verfassungsstaatliche Normalität wieder hergestellt. BayVerfGH, Entscheidung v. 17.9.1999, in: BayVBl. 1999, S. 719 (722ff.). Dazu Josef Isensee, Verfassungsreferendum mit einfacher Mehrheit, Heidelberg 1999, S. 39ff.

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Es verbannt alle Versuche, sie auch nur zu „berühren" aus der Zone der Legalität. Das Grundgesetz stellt sich selbst unter „Ewigkeitsgarantie" (wie die Unantastbarkeitsklausel im Juristenjargon heißt). Selbst die unter den Auspizien der deutschen Teilung vorgesehene, im Emstfall jedoch nicht realisierte Möglichkeit, das Grundgesetz im Zuge der Wiedervereinigung durch eine gesamtdeutsche Verfassung abzulösen (Art. 146 GG), enthielt, darüber waren sich die Inteφreten einig, den stillschweigenden Vorbehalt, daß die Substanz des europäischen Verfassungsstaates, Menschenrechte, Gewaltenteilung und parlamentarische Demokratie, nicht zur Disposition stünden'^. Unveränderlichkeit und Unsterblichkeit der Verfassung sind normative Postulate, die ihre Geltung im Reich des Sollens haben. Systemtheoretisch gewendet: das Verfassungsrecht erweist sich als autopoetisches, selbstreferentielles System. Die Kategorie der Revolution paßt nicht in dieses System. Das heißt nicht, daß die reale Möglichkeit der Revolution durch die Verfassung beseitigt wäre. Doch sie liegt jenseits des Horizonts verfassungsgesetzlicher Schutzvorkehrungen. Sie beseitigt die bestehende Verfassung unter selbstermächtigter Berufung auf Gründe der Legitimität, die, falls die Revolution Erfolg hat, ihrerseits die Basis für eine neue Verfassung abgeben. Sie unterwirft sich keinem Gesetz, sie gibt es. Eine Revolution kann man nicht regeln'^. Man kann sie nur machen. Das Verfassungsgesetz bildet ein Kontinuum der rechtlichen Geltung, innerhalb dessen die Normen wie auch deren Bausteine, die Begriffe, Sinnidentität wahren. Damit läuft sie freilich Gefahr, in Widerspruch zu politischen Bedürfnissen und zur Staatsraison zu geraten und den Anschluß an die herrschenden Wertvorstellungen der Gesellschaft zu verlieren. Das Bundesverfassungsgericht nimmt diese Risiken in Kauf: die Grundentscheidung der Verfassung bestimme Gestaltung und Auslegung der gesamten Rechtsordnung. „Auch der Gesetzgeber ist ihr gegenüber nicht frei; gesellschaftspolitische Zweckmäßigkeitserwägungen, ja staatspolitische Notwendigkeiten können diese verfassungsrechtliche Schranke nicht überwinden (...). Auch ein allgemeiner Wandel der

" Dazu Josef Isensee, Die Schlußbestimmung des Grundgesetzes, in: HStR Bd. VII, 1992, § 166 Rn. 22. Zur Relevanz des Art 146 GG nach der Wiedervereinigung, ebd., Rn. 48ff. (Nachw.). " Das ist keine Binsenweisheit. Denn das Grundgesetz enthält in dem Artikel über das Widerstandsrecht aller Deutschen (Art. 20 Abs. 4) die Regelung eines irregulären, unstaatlichen Rechts. Analyse: Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1969, S. 78ff., 97ff.

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hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen - falls er überhaupt festzustellen wäre - würde daran nichts ändern können"'^. 2. Unausweichlichkeit des Verfassungswandels a) Das Phänomen Der normative Anspruch der Verfassung auf Geltungskontinuität und Sinnidentität dürfte den Historiker wenig beeindrucken, wenn er auf das Phänomen des Verfassungswandels blickt: die Änderung des Inhalts oder der normativen Kraft der Verfassung ohne korrespondierende Änderung des Textes^". Ein eindrucksvolles Exempel bietet die Verfassung des zweiten Kaiserreichs in ihrer Entwicklung von 1871 bis 1918^'. Der Fürstenbund wandelte sich in den Nationalstaat. Der Kaiser, zunächst primus inter pares im Kreise der deutschen Fürsten, erhob sich zum Reichsmonarchen. Die föderativen Elemente des Bundesstaates bildeten sich zurück, die unitarischen verstärkten sich. Das Reich gewann an Macht auf Kosten der Länder. Auf Reichsebene verschob sich das Gleichgewicht der Befugnisse vom Bundesrat auf den Reichstag. Die starke Position des Reichskanzlers, wie sie Bismarck bei der Schaffung der Verfassung nach eigener Fasson zugemessen hatte, wurde abgelöst durch das persönliche Regiment des Kaisers,^^ dieses wiederum im Laufe des Weltkrieges durch das unpersönliche und unsichtbare Regiment der Obersten Heeresleitung. Die aufstrebenden politischen Parteien gewannen an Einfluß. Die dominierende Obrigkeitsstaatlichkeit bot zunehmend den

" BVerfGE 39, 1 (67) - Abtreibung. ^^ Klassische Darstellungen: Paul Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, Dresden 1895; Georg Jellinek, Verfassungsänderung und VerfassungsWandlung, Berlin 1906, S. 21ff. (Nachdruck hrsg. und eingeleitet von Walter Pauly, Goldbach 1996). Dazu Heinrich Amadeus Wolff, Verfassungswandel und ungeschriebenes Verfassungsrecht im Werke Georg Jellineks, in: Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek: Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2002, S. 133ff. Nachw. zur heutigen Lehre: Pauly, ebd., S. XX Anm. 1; Peter Radura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: HStR Bd. VII, Heidelberg 1992, § 160 Rn. 13ff Eindrucksvolle Darstellung Emst Rudolf Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung, in: HStR Bd. I, Heidelberg ^2003, § 4 Rn. 4ff. Aus zeitgenössischer Sicht: Laband (wie Anm. 20); Erich Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung (1917), in: Ders., Autorität und Freiheit, Gesammelte Schriften , Bd. I, Göttingen 1960, S. 143ff ^^ Zu der Wende unter dem Aspekt der Außenpolitik Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1801-1918, München ^1994, S. 27ff

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drängenden demokratischen Tendenzen Raum^^ Der bürgerliche Rechtsstaat nahm mit der Arbeiterschutzgesetzgebung soziale Züge an. Der Druck des Weltkrieges forcierte einzelne dieser Tendenzen. Was zunächst nur als interimistische Not- und Ausnahmeregelung erschien, erwies sich am Ende als verfassungsübergreifende Umstrukturierung: die Zentralisierung und Parlamentarisierung der Reichsgewalt, der Aufbau des Sozial- und Interventionsstaates. Die Mutationen vollzogen sich in der Staatspraxis. Der ursprüngliche Text der Verfassung blieb im wesentlichen unangetastet. Das ist keine Besonderheit der Reichsverfassung von 1871. Vielmehr ist es das Schicksal, dem keine Verfassung auf Dauer entgeht: daß sich ihr Inhalt den wandelnden Vorstellungen und Bedürfnissen anpaßt, gleich, ob ihr Wortlaut förmlich geändert oder ergänzt wird. Die 24 Amendments, die der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 angefügt wurden, spiegeln nicht annähernd die Entwicklung wider, die ihre Substanz in mehr als zwei Jahrhunderten erfahren hat^"*. Das gilt auch für das deutsche Grundgesetz, das in einem halben Jahrhundert seiner Geltungsdauer immerhin 51 Änderungsgesetze über sich hat ergehen lassen müssen. Die (Mac-Arthur-)Verfassung Japans von 1947 unter analogen Umständen wie das Grundgesetz - Kriegsniederlage und Besatzungsprotektorat - geschaffen, ist seither in keinem Punkte revidiert worden; gleichwohl hat sie sich im Wechsel der Lagen, der nicht minder erheblich war als für Deutschland, als flexibel erwiesen. Selbst das Gebot, daß niemals mehr Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Mittel zur Kriegsführung unterhalten werden (Art. 9 Abs. 2), hat sich in den Händen der politischen Führung als hinreichend biegsam erwiesen, um den Aufbau einer bewaffneten Macht zur Landesverteidigung, neuerlich auch zur Teilnahme an militärischen Interventionen der Vereinten Nationen nicht im Wege zu stehen^'. Spiegelung in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs: Christoph Schönberg, Das Parlament im Anstaltsstaat, Frankfurt/M. 1997. Ein Exempel bildet der Umschwung der Judikatur des Supreme Court zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des „New Deal" Präsident Roosevelts („switch in time that saved nine [judges]"). Dazu David P. Currie, Die Verfasung der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankfurt/M. 1988, S. 21, 25, 77; Herbert A. Johnson, American legal and constitutional history, San Fancisco/London 1994, S. 557f., 580ff., 598ff.; Timothy J. Conlan, Courtin Devolution: The U.S. Supreme Court and Contemporary American Federalism, in: Rainer-Olaf Schultze/Roland Sturm (Hrsg.), The Politics of Constitutional Reform in North America - Coping with New Challenges, Opladen 2000, S. 129 (131). Hiroaki Kobayashi, Der Verfassungswandel als Auslegungsmaxime - dargestellt an Art. 9 der japanischen Verfassung, in: Festschrift für Klaus Stern, München 1997,

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b) Verfassungstheoretische Analyse Die Divergenz, die aufscheint zwischen dem Anspruch der Verfassung auf Sinnidentität und der Realität des Verfassungswandels, läßt sich auflösen, wenn man die Bedeutungen des Homonyms „Verfassung", die hier zum Zuge kommen, unterscheidet^^. Das Wort bezeichnet zum einen die Verfassung, in der ein Staat ist: die bestehenden Machtverhältnisse {Realverfassung)·, zum anderen die Verfassung, die ein Staat hat: die rechtliche Grundordnung {normative Verfassung). Die Verschiebung der Machtlage ist noch kein Verfassungswandel, aber sie vermag, einen solchen auszulösen. Er vollzieht sich jedoch innerhalb der normativen Verfassung. Bei dieser ist wiederum begriffliche Unterscheidung geboten zwischen der Verfassung im formellen Sinne, dem Verfassungsgesetz, dem Verfassungsvertrag oder der sonst in einer Urkunde verbrieften Regelung, und der Verfassung im materiellen Sinne, der rechtlichen Grundordnung des Staates. Verfassungswandel tritt ein, wenn sich die materielle Verfassung ändert, indes die formelle gleich bleibt. Der identische Text des Verfassungsgesetzes wird neu inteφretiert, so daß er für die Beteiligten des staatlichen Lebens andere Bedeutung gewinnt als zuvor. Der Wandel erfaßt die Rechtsüberzeugungen und die Rechtspraxis. „Was einer Zeit als verfassungswidrig erscheint, stellt sich der folgenden Epoche als verfassungsmäßig dar, und so erleidet die Verfassung durch Wandlung der Interpretation selbst eine Wandlung. Und nicht etwa nur der Gesetzgeber kann solche Wandlung hervorrufen: auch die Praxis der Parlamente sowie der Gerichtsbehörden kann solches tun und tut es wirklich. Sie haben die Gesetze und daher auch die Verfassungsgesetze zu inteφretieren, und unter ihrer Hand kann ein Verfassungsgesetz allmählich eine ganz andere Bedeutung im Rechtssystem erhalten als ihm ursprünglich innewohnte. Inteφretation ist nicht etwa eine ephemäre Zugabe zur Verfassungsnorm. Vielmehr ist sie die Bedingung der Möglichkeit, daß die Norm in die Realität eingreift und das staatliche Leben steuert, daß der ideelle Geltungsanspruch sich in reale Wirksamkeit umsetzt. Das Verfassungsgesetz als solches hat nur papierene Existenz; nicht selten bleibt es auch dabei. Es ist darauf angewiesen, daß die Personen und Institutionen, an S. 167ff.; José Llompart, Die japanische Verfassung, in: Rechtstheorie 30 (1999), S. 47 (51,56f.). Übersicht über die Begriffe von Verfassung mit Nachw.: Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR Bd. I, Heidelberg ^1995, § 13 Rn. 129ff., 136ff. " Jellinek (wie Anm. 20), S. 9.

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die es sich richtet - Staatsorgane wie gesellschaftliche Potenzen, Amtsträger wie Bürger - , seine Imperative aufnehmen und umsetzen. Sie können aber nur verwirklichen, was sie verstanden haben und wie sie es verstanden haben. Jede Norm wird mediatisiert durch ihre Inteφreten. Während die Norm als solche objektiv und starr ist, bringen die Inteφreten subjektive und bewegliche Momente in die Rechtsanwendung ein. Diese ist nicht bloß Reproduktion des im Gesetz vorgegebenen Inhalts, sondern dessen schöpferische Vergegenwärtigung. Der Rechtsanwender konkretisiert die Norm dadurch, daß er sie aus Eigenem anreichert. Rechtsanwendung ist notwendig auch Rechtserzeugung^^. Die Umsetzung des Verfassungsgesetzes ist ein permanenter Prozeß, und dieser befindet sich in stetigem Fluß. Das eingangs gezeichnete Bild von der Verfassung als dem Felsen, an dem sich der Fluß des politischen Lebens bricht, bedarf der Korrektur. Auch die Verfassung fließt, doch mit anderem Gefalle als die Politik. Die Möglichkeit des Wandels zieht damit in das Verfassungsrecht ein. Die ungeschichtliche Normativität öffnet sich der Geschichte. 3. Perspektive

des Historikers - Perspektive des Juristen

Das Phänomen des Verfassungswandels stellt sich unterschiedlich dar dem Beobachter, also dem Historiker aus der Distanz der Zeit und aus der Distanz der Wissenschaft, und dem Akteur, etwa der Regierung, welche die Verfassung zu beachten und umzusetzen hat, oder dem Gericht, das verbindlich über die Inteφretation entscheidet. Der Jurist, der aufgrund seiner rechtswissenschaftlichen Kompetenz Vorschläge für amtliche Entscheidungen macht, versetzt sich hypothetisch in die Rolle eines Akteurs. Der Akteur blickt allein auf die Normativität der Verfassung und vernachlässigt ihre Geschichtlichkeit. Der Akteur kann den Wandel der Verfassung bewirken. Doch anstreben und betreiben darf er ihn nicht. Seine Aufgabe ist es, die sinnidentische Verfassung anzuwenden, nicht aber, ihr einen anderen Sinn beizulegen. Wenn er von der bisherigen Auslegung abweicht, so darum, weil diese sich als unstimmig erwiesen hat und er kraft besserer Einsicht den von Anfang an richtigen Inhalt aufdeckt oder weil mit dem Wegfall entscheidungsrelevanter Umstände die bisherige Auslegung, die sich auf die Umstände bezog, überholt ist. Ein Verfassungsgericht, das offen den Verfassungswandel proklamierte, verlöre seine Legitimation, weil es Die bedeutendste verfassungstheoretische Studie aus jüngerer Zeit: Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999, S. 262ff. (Nachw.).

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sich zum Herrn über die Verfassung erhöbe, an die es doch gebunden ist. Überdies verlöre sich der für die Gewahenteilung erhebliche Unterschied zwischen richterlicher Auslegung und politischer Gestaltung des Rechts. Nur solange sich das Gericht zu dieser Bindung und damit zur Verfassung als unverrückbarer Vorgabe bekennt, wahrt es die Chance, daß seine Auslegung allgemeine Zustimmung findet. Kein Gericht und kein Staatsorgan sonst ist im Verfassungsstaat ermächtigt, den Verfassungswandel zu betreiben. Der Handelnde, der nach Goethes Diktum immer gewissenlos ist, bewahrt sich die Unschuld, weil ihm die Außen- und Femsicht auf sein eigenes Tun fehlt. Der Historiker erlangt die Fähigkeit, die Wirkungen des Handelns zu beobachten, und die Freiheit, sie zu beurteilen, durch die Distanz, die er zur Welt des Handelns einnimmt.

III. Quis interpretabitur? über Wahrheit und Gemeinwohl, über Gerechtigkeit und über richtiges Normverständnis kann man immer streiten - das ist die skeptische Grundannahme, von welcher der moderne Staat ausgeht. Er begnügt sich damit, Klarheit darüber zu stiften, wer über den Streit entscheidet. Das aber muß letztlich eine staatliche, nicht eine gesellschaftliche Stelle sein, damit sich der Staat als Entscheidungs-, Macht- und Friedenseinheit konstituieren und als souverän gegenüber den Mächtigen der Gesellschaft behaupten kann. In dieser hobbesianischen Prämisse waren sich denn auch die Parteien der Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts einig (von anarchistischen Randgruppen abgesehen). Umkämpft war jedoch, welche Stelle innerhalb der Staatsorganisation, welches Staatsorgan, letztverbindlich entscheidet, die Krone oder die Volksvertretung. Inhaltliche Verfassungsfragen verwandelten sich somit in Kompetenzfragen. Kompetenz aber ist das rechtliche Wort für Macht. Die Kompetenz zum Letztentscheid prägt die reale wie die normative Verfassung. Das Schicksal des Verfassungsgesetzes hängt davon ab, welches Staatsorgan es maßgeblich inteφretiert. Es bestimmt damit über den effektiven Inhalt wie über die rechtliche Wirksamkeit.

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1. Der preußische Budgetkonflikt als Lehrstück Der preußische Verfassungskonflikt bildet ein Lehrstück. In ihm riß der Dissens auf zwischen dem Abgeordnetenhaus und dem König über ihre jeweiligen Kompetenzen, damit die Frage der Souveränität. Anlaß war der Streit, wie nach der Verfassung zu verfahren sei, wenn beide Seiten sich nicht auf ein Budget verständigten. Dahinter stand die Sachfrage, ob Entscheidungen über das Militärwesen allein dem Monarchen zustünden oder ob er auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen sei^^. Die Verfassung enthielt keine ausdrückliche Regelung. Für das Abgeordnetenhaus stand fest, daß die Regierung ohne Ermächtigung durch das Etatgesetz nicht befugt sei, Ausgaben zu tätigen. Die Regierung hielt dagegen, daß, wenn die zuständigen Staatsorgane sich nicht verständigten, sich das Notrecht der Regierung ergebe, die Geschäfte ohne Staatshaushaltsgesetz weiterzuführen. Denn der Krone seien alle Rechte, die die Verfassung nicht ausdrücklich anderen Staatsorganen übertragen habe, verblieben. Die in der Verfassung nicht geregelte Kompetenz, auch ohne Etatgesetz den Fortgang der Staatsgeschäfte zu sichern, stehe daher der Exekutive zu. Für Bismarck stand fest: wenn kein Budget zustande komme, sei tabula rasa. Die Verfassung biete keinen Ausweg; denn da stehe Interpretation gegen Interpretation^". Das staatliche Leben aber lasse sich nicht anhalten. Ihm genügte die Notwendigkeit, „daß der Staat existiere und daß er nicht in pessimistischen Anschauungen es darauf ankommen läßt, was daraus wird, wenn man die Kassen schließt"^'. Er räumte ein, daß die Verfassung das Gleichgewicht der Gewalten in der Budgetfrage offenhalte und keine die andere zum Nachgeben zwingen könne. „Wird der Kompromiß dadurch vereitelt, daß eine der beteiligten Gewalten ihre eigene Absicht mit doktrinärem Absolutismus durchführen will, so wird die Reihe der Kompromisse unterbrochen und an ihre Stelle treten Konflikte, und Konflikte ... werden zu Machtfragen. Wer die Macht in Händen hat, geht dann in seinem Sinne vor, weil das Staatsleben auch nicht einen Problemanalyse Emst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Stuttgart u. a. П963, S. 333ff.; Rainer Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: HStR Bd. I, Heidelberg 32003, § 2 Rn. 44. ^^ Otto von Bismarck, Rede vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses am 30. September 1862, in: Ders., Die gesammelten Werke, Bd. 10, Berlin 1928, S. 138. Bismarck, Rede vor dem Abgeordnetenhaus vom 27. Januar 1863, in: Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart u. a. ^1961, Nr. 51.

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Augenblick stillstehen kann"^^. Bismarck, der die Macht in Händen hielt, legte in seinem Sinne die Verfassung aus, stellte die Lücke fest und entschied, wie sie auszufüllen war. - Das Abgeordnetenhaus wiederum operierte auch im eigenen Sinne, griff nach der Macht und versuchte, die Gewichte der Verfassung zu eigenen Gunsten zu verschieben. Es nahm einen Verfahrensstreit um Rederecht und Anwesenheitspflicht von Ministem zum Anlaß, deren Abberufung zu erzwingen und so indirekt das parlamentarische Regierungssystem aufzurichten „in der Überzeugung, daß zwischen den Ratgebern der Krone und dem Lande eine Kluft besteht, welche nicht anders als durch einen Wechsel der Personen, und mehr noch, durch einen Wechsel des Systems ausgefüllt werden wird"". Der König aber gab nicht nach. Er wehrte sich gegen das Bestreben des Abgeordnetenhauses, „sein verfassungsmäßiges Recht der Teilnahme an der Gesetzgebung als ein Mittel zur Beschränkung der verfassungsmäßigen Freiheit Königlicher Entschließungen zu benutzen". Dem Art. 45 der Verfassungs-Urkunde entgegen, wonach der König die Minister ernenne und entlasse, wolle das Haus ihn nötigen, sich mit Ministem zu umgeben, welche diesem genehm seien; es wolle dadurch eine verfassungswidrige Alleinherrschaft des Abgeordnetenhauses anbahnen^"*. Hier wie dort fungierten Staatsorgane als Richter und Partei in Personalunion. Verfassungsinteφretation war ausschließlich Sache der Macht. Recht behielt, wer auf Dauer politisch (und militärisch) Erfolg hatte. Der Verlierer bewilligte hinterdrein die Indemnität, wobei offen bleiben mag, ob er damit das Recht oder ob er sein Gesicht wahren wollte. Ein anachronistisches Gedankenexperiment: Preußen hätte in den Jahren von 1862 bis 1866 über ein Verfassungsgericht heutigen Zuschnitts verfügt und dieses hätte über den Streit zu entscheiden gehabt. Der Gedanke liegt freilich nicht ganz fem. Immerhin hatte die Opposition im Abgeordnetenhaus während des Budgetkonflikts den Entwurf über ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz eingebracht, das die Ministeranklage bei jeder vorsätzlichen oder fahrlässigen V^fassungsverletzung einführen sollte^^ Der Entwurf wurde mit 246 gegen 6 Stimmen

^^ Bismarck, Rede vom 27. Januar 1863 (wie Anm. 31). ^^ Zitat: Adresse des Abgeordnetenhauses an den König vom 22. Mai 1863, in: Huber (wie Anm. 31), Nr. 58. ^ Erlaß König Wilhelms I. vom 26. Mai 1863 auf die Adresse des Abgeordnetenhauses, in: Huber, (wie Anm. 31), Nr. 59. Diese Klage war freilich unter Vorbehalt gesetzlicher Regelung in Art. 61 der revidierten Verfassung vorgesehen.

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angenommen, scheiterte jedoch am König und am Herrenhaus^®. Wäre das Gesetzesvorhaben verwirklicht worden, so hätte der Konflikt einen völhg anderen Verlauf nehmen können^^. Doch zurück zu der Annahme, daß ein Verfassungsgericht, wie es heute in Deutschland üblich ist, in einem Organstreit über den Budgetkonflikt hätte befinden müssen. Vermutlich hätte seine Entscheidung einer der Lösungen entsprochen, die zeitgenössische Juristen und Politiker vorgeschlagen hatten: daß das letztjährige Haushaltsgesetz vorläufig weitergelte, daß die durch gesetzliche Veφflichtungen oder dringende Staatsinteressen erforderlichen Ausgaben weiter geleistet werden dürfen, daß nach den Geboten des Wohlstandes die Regierung nach Ermessen handeln dürfe^^. Dagegen hätte sich ein Gericht kaum zu dem Gedanken verstiegen, das Problem jenseits von Recht und Unrecht zu verorten, wie Gerhard Anschütz zwei Generationen später es rückblickend versucht: die Finanzverwaltung müsse zwar von Verfassungs wegen weitergeführt werden, doch wie, das sei nicht juristisch beantwortbar. Es liege keine Lücke im Gesetz (d.h. im Verfassungstext) als vielmehr eine Lücke im Recht vor, welche durch keinerlei rechtswissenschaftliche Begriffsoperationen ausgefüllt werden könne. „Das Staatsrecht hört hier a u f Ein Rechtsgelehrter konnte sich hinter einem solchen Sophismus verstecken; ein Richter hätte es nicht gekonnt, ohne sich der Rechtsverweigerung schuldig zu machen. Denn wenn er konzediert hätte, daß die Haushaltswirtschaft auch in etatloser Zeit nicht stillstehen dürfe, hätte er auch der Regierung das Recht zum Handeln zugestehen müssen. - Dem rechtlichen Legalitätsdenken wäre auch die Ansicht der konservativen Partei fremd gewesen, daß mit dem Scheitern des Etatgesetzes die Verfassung „unvollziehbar" geworden sei, so daß der vorkonstitutionelle Zustand der absoluten Machtvollkommenheit des Monarchen wieder aufgelebt wäre mit der Folge, daß die Regierung, ermächtigt durch den Monarchen, den Etat hätte allein aufstellen können"*". Ein Gerichtsurteil, das aus einer Störung des Verfassungsvollzugs auf die Vernichtung der Verfassung Zum Gesetzgebungsverfahren Huber (wie Anm. 29), S. 312f. " Hypothetische Prognose Huber (wie Anm. 29), S. 66. Übersicht über die Positionen Georg Meyer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, München und Leipzig '1919, S. 903ff. (Nachw.). '' Gerhard Anschütz in: Meyer/Anschütz (wie Anm. 38), S. 906. Fundierte Kritik: Huber (wie Anm. 29), S. 338ff. Kritik Paul Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preußischen Verfassungsurkunde unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes (1870), in: Ders., Abhandlungen und Rezensionen, Leipzig 1983, S. 131 (210f.) mit Nachw. Anm. 51. Dazu auch Meyer/Anschütz (wie Anm. 38), S. 903f.

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geschlossen und die frühere, durch die bisherige Verfassung abgelöste Staatsform reanimiert hätte, hätte einen Staatsstreich von oben bedeutet. Doch es lohnt nicht, über das hypothetische Ergebnis zu spekulieren. Wesentlich wäre vielmehr gewesen, daß die Bedingungen der Entscheidung sich verändert hätten. Entschieden hätte nicht eine der Konfliktparteien, sondern ein konfliktneutraler Dritter, in rechtsstaatlicher Distanz, kraft persönlicher, sachlicher, organisatorischer Unabhängigkeit, außerhalb des politischen Machtkampfes stehend, eine Institution ohne politisches Eigeninteresse. Die Existenz eines funktionsfähigen Verfassungsgerichts setzt voraus, daß die Machtfragen im Sinne der Verfassung entschieden und Verfassungsfragen nunmehr als Rechtsfragen zu behandeln sind. Ein Richter räsoniert nicht über die Voraussetzungen seiner Tätigkeit. Als Maßstab der Entscheidung hätte ihm nichts weiter zur Verfügung gestanden als die Verfassung, die er nach den Regeln juridischer Kunst und den Geboten des rechtlichen Ethos hätte auslegen müssen. Selbst wenn er am Ende nicht anders entschieden hätte wie Bismarck, so hätte es doch aufgrund der Verfassung als Norm entschieden, diese damit in ihrer normativen Wirksamkeit bestätigt und gestärkt. Es macht einen Unterschied, ob die Inteφretation sich aus juridischem Normverständnis ableitet oder ob sie durch politisches Interesse vermittelt wird, ob sie sich auf richterliche Autorität stützt oder auf militärische Fortune. Im Disput über die Einführung der Ministerklage in Preußen 1863 kamen die konträren Auffassungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit idealtypisch zur Geltung. Nach Bismarck erhielte der Richter mit der Kompetenz zur Entscheidung über verfassungsrechtliche Zweifelsfragen die Befugnis eines Gesetzgebers; er wäre, seiner Funktion zuwider, „berufen, die Verfassung authentisch zu inteφretieren oder materiell zu vervollständigen". Die Regierung habe nicht geglaubt, daß von dem einzelnen Urteilsspruche eines Gerichts, wie es sich nach der subjektiven Ansicht der Mehrheit herausstellen würde, die politische Zukunft des Landes, die Machtverteilung zwischen der Krone und dem Landtage sowie zwischen den Häusern des Landtages abhängig gemacht werden dürfe. Diese staatsrechtliche Frage könne nur von der Gesetzgebung, nur von der Verständigung zwischen den Faktoren der Gesetzgebung entschieden werden"". Die Gegenposition vertrat ein Jurist, der Abgeordnete Rudolf von Gneist: dem Gericht werde durch das Ministerverantwortlichkeitsgesetz nicht die authentische Interpretation der Verfas-

"" Sten. Ber. des preuß. Abgeordnetenhauses, 1863, Anlagen, Bd. 4, S. 436f.

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sung aufgetragen, sondern die Deklaration des vorgegebenen Verfassungswortlauts; es gehe nicht um Fortbildung der Verfassung, sondern um deren Aufrechterhaltung; nicht die subjektive Meinung des Richters solle entscheiden, vielmehr habe das Gericht deren objektiven Sinn gegenüber der Willkür der Regierung durchzusetzen; der Richterspruch solle nicht die Zukunft binden, sondern diese sei bereits gebunden durch die beschworene Verfassung'*^. Die Disputanten redeten aneinander vorbei. Gneist argumentierte aus juristischer Sicht, der des virtuellen richterlichen Akteurs, in der Auslegung nur als Aufdeckung des immer schon vorhandenen Sinnes erscheint. Bismarck dagegen aus der des außenstehenden Beobachters, dem Interpretation eigene Leistung des Interpreten ist, damit ein Faktor der Macht"*^. Keine der Begründungen ist durch die andere widerlegbar. Die Politik freilich muß sich zwischen den Lösungen entscheiden. Preußen entschied sich im Verfassungskonflikt gegen die richterliche Lösung. Wenn der Bonner Verfassunggeber sich f^ür eine solche entschieden hat, so nicht weil er die Einwände Bismarcks in ihrer verfassungstheoretischen Substanz für entkräftet hielt, sondern weil das Recht überhaupt einen höheren Stellenwert im Verfassungssystem gegenüber der Politik erhalten sollte und weil er in die juridische Macht der Gerichtsbarkeit höheres Vertrauen (oder geringeres Mißtrauen) setzte als in die politische der Regierung und des Parlaments. 2. Das Recht des letzten Wortes im Verfassungskonflikt Auch im Verfassungsstaat der Gegenwart hängt die normative Kraft der Verfassung davon ab, welches Staatsorgan das Recht des letzten Wortes über die Auslegung hat: ein politisch handelndes Organ - wie das Parlament in England, der Reichspräsident der Weimarer, der französische Staatspräsident der fünften Republik - oder ein von der politischen Aktion ausgeschlossenes, nicht mit Initiativbefugnis ausgestattetes Organ. Hier wiederum macht es einen Unterschied, ob es sich um ein Juristenkollegium handelt, wie es das deutsche Bundesverfassungsgericht darstellt, oder ein Gremium von Notabein, ein Senat verdienter Staatsmänner, ein Ältestenrat in der Tradition der Gerusia Spartas oder ein Ephorat neuer Art. Bei solchen Kollegien mag man mehr Gespür für politische Notwendigkeiten und gesellschaftliche Akzeptanz, mehr Lebensnähe und Anpassungsbereitschaft erwarten, bei jenem mehr Sinn Ebd., S. 958. S. o. II. 3.

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für die Stringenz des Rechts"^. Richter dagegen sind von ihrem Status her eifersüchtig darauf bedacht, ihre sachliche Unabhängigkeit gegenüber den politischen Potenzen zu bewahren. Ein Gericht als maßgebliche Instanz zur Verfassungsinteφretation bietet die relative Gewähr, daß die Verfassung beiträgt zur Herrschaft des Rechts.

IV. Der Wechsel der Staatsform und die alte Verfassung 1. Revolution mit Hilfe vorhandener Strukturen Die Revolution bedeutet ihrer Idee nach den Bruch der staatsrechtlichen Kontinuität und den voraussetzungslosen Neuanfang. Sie beseitigt eine Verfassung, um eine neue aufzurichten. Sie selber aber hat keine Verfassung. Sie folgt ihren eigenen Regeln. Diesem Bild entspricht die demokratische Doktrin der verfassunggebenden Gewalt: daß das Volk sich kraft seiner originären Souveränität eine Verfassung gibt, keinem positiven Gesetz unterworfen, an kein vorgegebenes Verfahren gebunden: ein originärer Schöpfungsakt, gleichsam creatio ex nihilo·*^. Die Vorstellungen werden von der historischen Wirklichkeit nicht eingelöst. Das Volk im status naturalis ist gar nicht fähig, einen Willen zu aktualisieren. Das vermag es nur in organisierter Form über vorgegebene Verfahren. Das Volk muß bereits verfaßt sein, um sich eine Verfassung geben zu können. Zu Recht stellt Hegel fest, daß die Frage, wer eine Verfassung machen könne, sinnlos sei, denn ohne Verfassung sei nur ein „bloßer atomistischer Haufen von Individuen" beisammen. Die Frage setze also eine Verfassung voraus, so daß das Machen der Verfassung in Wahrheit nur eine Veränderung sei"^. Die französische Revolution, der Prototyp der demokratischen Revolution, ging nicht vom französischen

** Immer noch aufschlußreich Carl Schmitts Analysen in: Der Hüter der Verfassung (1931), Berlin ^ 9 6 9 , S. Iff., 12ff, 132ff. Die klassischen Texte: Emmanuel Joseph Siéyès, Préliminaire de la Constitution, Paris 1789 ; ders., Qu'est-ce que c'est le tiers état ?, Paris 1789. Zur Lehre und ihrer Umsetzung durch die französische Revolution Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, Tübingen 1909. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 273 (Ausgabe von Johannes Hofmeister, Hamburg "1955, S. 239).

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Volk im Ganzen aus - dieses war überhaupt nicht aktionsfähig - , sondern von den Vertretern des dritten Standes in der Ständeversammlung, die, obwohl nur von den Angehörigen ihres Standes gewählt, kaum einem Sechstel der Gesamtbevölkerung'*^, sich zur Vertretung der ganzen Nation erhoben. Am Anfang der Revolution stand die Selbstermächtigung ihrer Akteure. Die Nation aber war nicht Handlungssubjekt, sondern lediglich Referenzsubjekt. Zu mehr ist es denn auch in der Geschichte demokratischer Revolutionen nicht gekommen''^. Auch in den Massendemonstrationen, die seit dem Oktober 1989 das Ende der sozialistischen Diktatur in der DDR auslösten, agierte nur eine Minderheit, die für sich reklamierte: „Wir sind das Volk" - eine Selbstermächtigung freilich, die durch das verfaßte Volk mit überwältigender Mehrheit durch seine Wahlentscheidung am 18. März 1990 bestätigt wurde. Die französische Revolution ging aus von einer Einrichtung des ancien régime, den Generalständen, die den Konnex mit der bisherigen Legitimationsordnung dadurch zerschnitten, daß sie sich zur Nationalversammlung erklärten. Die Revolution bediente sich der Strukturen der alten Ordnung, um sie im Ganzen zu sprengen. Im Jargon der deutschen Kulturrevolution von 1968: es handelte sich um einen Akt des „Umfunktionierens". Die alte Staatsform leistete, freiwillig oder erzwungen, Hilfsdienste für den Übergang in die neue. Die Prozedur einer solchen Legalitätsleihe ist typisch für den Staatsstreich, dessen Betreiber aus einem verfassungsmäßigen Staatsamt heraus nach der unbegrenzten Macht greifen, so Napoleon, der aus der Stellung als Erster Konsul der Republik sich selbst zum erblichen Kaiser der Franzosen ernannte, oder auf seinen Spuren Louis Napoleon, der die Position des gewählten Präsidenten als Steigbügel nutzte, um sich zur Kaiserwürde aufzuschwingen und die Präsidialdemokratie in das Second Empire des plebiszitären Cäsarismus zu überführen. Die Abkehr der Sowjetunion vom totalitären Sozialismus vollzog sich als Revolution von oben innerhalb des Parteiund Staatsapparates. Die Ablösung des Apartheidsystems in Südafrika erfolgte im Zusammenwirken der nachdrängenden politischen Kräfte, die Mandela und Ministeφräsident de Klerk repräsentierten - im Nebeneinander der improvisierten Runden Tische und der bisherigen Staatsorgane. Die resignierende Ordnung übernahm eine Art Leihmut-

Dazu Maguérite Vanel, Histoire de la nationalité française d'Origine, Paris 1945, S. 98ff., 102f. "" Dazu Josef Isensee, Das Volk als der Grund der Verfassung, Opladen 1995, S. 42ff., 48.

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terschaft für ihre Nachfolgerin. Die alte Verfassung galt für das Interim fort, doch nunmehr als Verfassung in Liquidation. Die Beispiele zeigen, daß es im staatlichen Leben keinen voraussetzungslosen Neuanfang gibt. Die künftige Staatsform entwickelt sich im Schöße der alten (es sei denn, daß sie von außen, durch eine fremde Besatzungsmacht etwa, oktroyiert wird). Die Anknüpfung an die vorhandenen Strukturen kann sich in der jeweiligen Situation als unumgänglich oder wenigstens als nützlich erweisen, gleichsam als Gebot revolutionärer Effizienz und Ökonomie. Mehr noch: sie kann den Bruch, den der Wechsel des politischen Systems bewirkt, mildem, wenn nicht gar verdecken, und der Revolution den Nimbus der Legalität zuführen. Paradigma ist die „legale Revolution" Hitlers. 2. Zerstörung einer Demokratie mit den Mitteln ihrer - Hitlers „legale Revolution"

Verfassung?

Die „legale Revolution" erscheint als Widerspruch in sich, weil die Revolution nach hergebrachtem Verständnis wesenhaft illegal ist. Gleichwohl erhob das nationalsozialistische Regime den doppelten Anspruch, durch Revolution und zugleich legal, also in den Bahnen der Weimarer Reichsverfassung, an die Macht gelangt zu sein. Den Charakter der Revolution kann man ihm nicht absprechen. Denn es zerstörte den Verfassungsstaat von seinen Fundamenten her und setzte an seine Stelle den totalitären Führerstaat, an dem alle Weimarer Verfassungsstrukturen zerbarsten, die demokratischen, die rechtsstaatlichen, die föderalen wie die Normativität des Rechts überhaupt. Aus der Sicht des neuen Systems war die Eroberung der Macht „eine wirkliche Revolution", und zwar nicht nur im weltanschaulichen und geistigen Sinne, sondern auch im politischen und rechtlichen. „Die nationalsozialistische Revolution hat die Weimarer Verfassung als Gesamtsystem beseitigt; sie hat zugleich die völkische Verfassung aufgerichtet""".

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So Emst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg ^1937/39, S. 44. Vgl. auch Ulrich Scheuner, Die nationale Revolution, in: AöR n. F. 24 (1934), S. 166ff., 261ff. - In historischer Perspektive deutet Klaus Hildebrand den Nationalsozialismus als „Revolution gegen die Revolution" (Das Dritte Reich, München '1995, S. 229). Zustimmend Thomas Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte, München ^1986, S. 58. Vgl. auch Richard Löwenthal, Die nationalsozialistische „Machtergreifung" - eine Revolution?, in: Deutschlands Weg in die Diktatur (hrsg. von Martin Broszat u. a.), Berlin 1983, S. 42ff.

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Dagegen erheben sich Einwände aus einem teleologischen Verständnis von Revolution, das nur im liberalen, im sozialistischen Sinne „fortschrittliche" Veränderungen als solche gelten läßt^°. Doch ein offenes Verständnis stellt nicht auf den Inhalt der Verfassungen ab, die gestürzt oder aufgerichtet werden. Der Begriff erfaßt den Wechsel von der autokratischen zur demokratischen Verfassung wie dessen Umkehrung. Revolution in diesem Sinne war die Ersetzung der Autokratie des Zaren durch die Autokratie der Partei Lenins, ebenso deren Ablösung durch die Präsidialdemokratie Jelzins. Entscheidend ist die Auswechslung der Legitimitätsbasis des politischen Systems, damit das Abreißen der staatsrechtlichen Kontinuität, der staatsrechtliche Neubeginn: Es kommt auf den Effekt an, nicht auf die Mittel. Diese können gewalttätig oder friedlich, illegal (aus der Sicht der alten Ordnung) oder legal sein. Eine legale Revolution ist daher keine begriffliche Unmöglichkeit. Doch die Prätention der Legalität hält der juristischen Analyse nicht stand, die das Zustandekommen des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 an den Normen der Weimarer Reichs Verfassung mißt, und zwar in der Interpretation, wie sie der herrschenden Staatspraxis und -lehre entsprach. Der Reichstag war nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt, weil die kommunistischen Abgeordneten von der Sitzung rechtswidrig femgehalten wurden; desgleichen nicht der Reichsrat, weil in ihm Delegierte des „Reichsbeauftragten für Sicherheit und Ordnung" mitwirkten, nicht aber, wie es die Verfassung vorsah, ausschließlich Mitglieder der Landesregierungen^'. Doch die nachträgliche juristische Untersuchung ist müßig. Denn die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit sind nicht politisch wirksam geworden. Der Effekt der Legalität trat ein: der Schein der rechtlichen Kontinuität nach innen wie nach außen, damit die Überleitung der Loyalität des öffentlichen Dienstes, der Armee und der Bürgerschaft, die Aufrechterhaltung der diplomatischen Beziehungen. Die Methode der Legalität diente dazu, so das Urteil eines zeitgenössischen Staatsrechtslehrers, Erschütterungen der äußeren Ordnung zu verhindern, die unvermeidbar gewesen wären, wenn man jede technische Anknüpfung an den früheren Rechtszustand abgelehnt hätte. „Die Übersicht über Begriffe, Theorien und historische Erscheinungen Winfried Becker, Revolution, in: Staatslexikon (hrsg. von der Görres-Gesellschaft), 4. Bd., Freiburg u. a. ^1985, Sp. 891ff. " Umstritten ist, ob die Einschüchterung und Täuschung der Reichstagsabgeordneten die Rechtswidrigkeit des Gesetzes auslösen konnten. Zur Verfassungsmäßigkeit: Hans Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 197 (217ff.); Rolf Grawert, Die nationalsozialistische Herrschaft, in: HStR Bd. I, Heidelberg '2003, § б Rn. 5.

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Legalität bedeutet eine äußere Überbrückung der Kluft, die in Wahrheit zwei wesensverschiedene Ordnungen trennt"'^. In dem Abgrund aber lauerte die Gefahr des Bürgerkriegs. Der Brücke bedurfte es nicht mehr, nachdem die Eroberer die andere Seite, die Gegenlegalität, erreicht hatten. Diese ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie die Weimarer Legalität nur nutzten, um die Weimarer Verfassung zu vernichten: „Wenn wir in das Parlament einzogen, so nicht um des Parlamentarismus willen, sondern um uns in unserem Kampfe gegen den Parlamentarismus der Waffen zu bedienen, die uns der Parlamentarismus zur Verfügung stellte"'^. Die förmliche Aufhebung der Weimarer Verfassung erschien nach der gelungenen Revolution als überflüssig: „Der Name Adolf Hitler ist ein Programm, in dem der äußerste und tödliche Kampf gegen das Weimarer System ein Kernpunkt ist. Als der Reichspräsident V. Hindenburg die Führung der Reichsregierung in die Hand Adolf Hitlers gelegt hatte und das Volk sich in seiner Mehrheit zu dieser Entscheidung bekannte, war die Weimarer Verfassung tot"^''. Freilich galten einzelne Bestimmungen des Verfassungsgesetzes fort, nunmehr jedoch nur im Range einfacher verwaltungs- oder zivilrechtlicher Normen. Das neue Regime gab sich selber keine förmliche Verfassung. Dazu wäre es in der Hektik seiner Entwicklung kaum fähig gewesen. Der bloße Schein einer Selbstbindung an das Recht hätte für die Machtausübung hinderlich werden können. Die herrschende Staatsrechtslehre der Weimarer Ära hatte die Möglichkeit einer legalen Revolution offengehalten. In ihrer positivistischen Sicht mußte die Befugnis der gesetzgebenden К0фег8с11апеп zur Verfassungsänderung gegenständlich unbeschränkt sein, weil der Verfassungstext keine gegenständliche Schranke aufwies. Änderbar waren nach Gerhard Anschütz alle Verfassungsnormen „ohne Unterschied des Inhalts und der politischen Tragweite", daher auch die Staats- und Regierungsform des Reiches und der Länder (Republik, Demokratie, Wahlrecht, Parlamentarismus, Volksentscheid, Volksbegehren) und „andere prinzipielle Fragen wie Grundrechte und Bundesstaatlichkeit"^^ Nach Richard Thoma beruhte die Weimarer Verfassung „nicht nur his" Huber (wie Anm. 29), S. 49. " Joseph Goebbels, Rede vor der deutschen Presse bei der Verkündung des Schriftleitergesetzes am 4. Oktober 1933, zitiert nach: H. Schmidt Leonhardt/P. Gast, Das Schriftleitergesetz, '1944, S. 9 (10). Huber (wie Anm. 29), S. 46ff. (51f.). - Historische Rückschau Hans Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: HStR Bd. I, Heidelberg ^2003, § 5 Rn. 85. " So Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Beriin '''1933, Art. 76 Anm. 3 (S. 403).

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torisch auf einer Ermächtigung, sondern immer gegenwärtig auf einer frei widerruflichen Duldung der Mehrheit der Nation". Das sei die, „vielleicht gewagte, aber in ihrer Folgerichtigkeit großartige Erfassung der Idee der freien demokratischen Selbstbestimmung ... Unmöglich aber, vom Standpunkt des Demokratismus und des Liberalismus, von dem die Auslegung auszugehen hat, kann das, was die entschiedene und unzweifelhafte Mehrheit des Volkes auf legalem Wege will und beschließt (und stürzte es selbst die Grundsäulen der gegenwärtigen Verfassung um) als Staatsstreich oder als Rebellion gewertet werden!"^® Eben das tat Carl Schmitt. Er führte die Unterscheidung ein zwischen dem Verfassungsgesetz und der (positiven) Verfassung als der „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit". Die zur Verfassungsrevision ermächtigten Staatsorgane, ihrerseits Schöpfungen der Verfassung, dürften nicht die Verfassung selbst, die Bedingung ihrer Existenz, antasten. Das sei nur dem originären pouvoir constituant möglich, nicht den pouvoirs constitués. Diese könnten nicht im Wege einer parlamentarischen Zwei-Drittel-Mehrheit die Weimarer Republik in eine absolute Monarchie oder eine Sowjet-Republik umwandeln, auch nicht in eine Erbmonarchie des Hauses Hohenzollem^^. Schmitt wirft freilich die psychologische Frage auf, „ob vielleicht das deutsche Volk, dessen Bedürfnis nach legalem Schein stärker ist als sein politischer Sinn, eine im Wege des Art. 76 eingeführte Beseitigung der bisherigen Verfassung eher hinnehmen würde, als eine im Wege des Putsches oder der Revolution versuchte Verfassungsvemichtung"^^. Carl Schmitts psychologische Einschätzung sollte sich 1933 bewahrheiten, seine juristische Inteφretation aber ohne Erfolg bleiben. Die Verfassungsrevision diente dazu, die politische Grundentscheidung auszuwechseln. Die Demokratie wurde im demokratischen Verfahren liquidiert. Das Grundgesetz jedoch, im Unterschied zur Weimarer Reichs Verfassung auf streitbare Selbstbehauptung angelegt, machte sich die Position Carl Schmitts zu eigen, indem es der verfassungsändernden Gesetzgebung verwehrt, die Prinzipien, welche die Identität der Verfassung ausmachen, auch nur zu berühren (Art. 79 Abs. 3). Dabei mag offen bleiben, ob diese inhaltliche Schranke der Verfassungsrevision - im Sinne

Richard Thoma, Das Reich als Demokratie, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Bd., Tübingen 1930, S. 186 (194f.). " Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 'l928, S. 26, 104. " Schmitt (wie Anm. 57), S. 104.

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der Lehre Schmitts - nur deklaratorisch oder ob sie konstitutiv ist^'. Ziel ist es, eine weitere legale Revolution zu verhindern. Das Grundgesetz will die Revolution, wenn es sich ihrer in der Sache schon nicht erwehren kann, wenigstens zwingen, ihr wahres Gesicht zu zeigen, indem es ihr die Maske der Legalität entreißt^". Im Jahre 1992 erhielt die Gewähr der Selbstbehauptung des Verfassungsstaates eine weitere Dimension dadurch, daß die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union ebenfalls nicht die Identität des Grundgesetzes antasten darf (Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG). 3. Die leninistische DDR

Verfassung in der demokratischen

Revolution

der

Cum grano salis läßt sich die Revolution der DDR von 1989 als das spiegelverkehrte Bild der NS-Revolution von 1933 deuten^'. Die Umwälzungen vollzogen sich gewaltlos. Beide strebten danach, den Vorteil der Legalität zu nutzen, um einen möglichst schonenden Übergang zu erreichen. Doch die erborgte Legalität erwies sich hier wie dort als prekär. In der kritischen Phase zwischen Oktober 1989 und März 1990, als das SED-Regime dem immer stärkeren Druck der Öffentlichkeit zu weichen begann, verschob sich der Schwerpunkt der Entscheidungsmacht, der Sitz der Souveränität, mehrfach: vom Zentralkomitee der SED auf den Ministerrat und die Volkskammer, von diesen auf den zentralen Runden Tisch, schließlich zurück zur Volkskammer, bis diese durch Wahl vom 18. März 1990 eine neue, erstmals demokratische Grundlage erhielt^l Die DDR-Verfassung von 1968/1974 wurde unter dem Druck der Ereignisse durch vier Änderungsgesetze in einzelnen Punkten förmlich geändert^^ Doch die Fortgeltung der Verfassung als ' ' Dazu Reinhard Mußgnug, Carl Schmitts verfassungsrechtliches Werk und sein Fortwirken im Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio oppositorum, Berlin 1998, S. 517ff. Vgl. auch Schneider (wie Anm. 54), § 5 Rn. 83, 87. ^ Vgl. Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in; HStR Bd. II, Heidelberg ^1995, § 19 Rn. 34ff. Zur Eigenschaft als Revolution: Wilfried Fiedler, Die deutsche Revolution von 1989: Ursachen, Verlauf, Folgen, in: HStR Bd. VIII, Heidelberg 'l995, § 184 Rn. 13ff.; Thomas Würtenberger, Die Verfassung der DDR zwischen Revolution und Beitritt, in: HStR Bd. VIII, Heidelberg '1995, § 187 Rn. Iff., 40ff. " Dazu Würtenberger (wie Anm. 61), § 187 Rn. 24ff.; Uwe Thaysen, Der Runde Tisch - oder wo blieb das Volk?, Opladen 1990, S. 16f. und 71ff. " Dazu Würtenberger (wie Anm. 61), § 187 Rn. 13ff.

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solche wurde nicht von Grund auf in Frage gestellt. Die Funktion aber, die ihr im politischen Geschehen zukam, war widersprüchlich. Sie wirkte als Hebel der Revolution wie als Bremse, als Übergangshilfe wie als totes Papier. Jedenfalls entfaltete sie sich in bisher ungeahnten Facetten. Selbst die aufrührerischen Demonstranten beriefen sich auf sie, vor allem auf die in ihr verbrieften Grundrechte der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit. Sie nahmen die förmliche Verfassung beim Wort. Doch dazu waren die Grundrechte nicht bestimmt. Sie waren Bestandteil des totalitären Konzepts von Staat und Gesellschaft, in das sich der Einzelne einzugliedern hatte. Für den Individualismus und den Subjektivismus, der das wesentliche Grundrechtsverständnis prägt, war kein Raum. Dieses Verständnis aber machten sich die Rebellen gegen die Diktatur zu eigen. So kehrten sich die Normen der Verfassung gegen ihre Urheber. Revolution durch Auswechslung der Interpretationsfolie der Verfassung. Das Verfassungsgesetz wurde selektiv angewendet. Die revolutionären Grundentscheidungen liefen an ihm vorbei: Die Entscheidungen für den Verfassungsstaat, für die soziale Marktwirtschaft, für die deutsche Einheit. Doch die Abkehr vom sozialistischen (Pseudo-)Wahlsystem über die Nationale Front und die Einführung offener, freier, allgemeiner Wahlen wurde durch förmliche Änderung der Verfassung vollzogen. Der Sache nach wurde damit die Identität des sozialistischen Systems vernichtet. Der leninistische Geist der Verfassung war nunmehr tot. Brachstücke des Verfassungsgesetzes wurden freilich weiterhin angewendet. Sie fungierten praktisch als Organisations- und Verfahrensstatut für die Volkskammer und den Ministerrat. Doch ein normativer Vorrang kam ihnen nicht zu. Den hatten sie freilich auch unter der Ägide der SED nicht besessen, die sich dem Recht nicht unterwarf, sondern sich seiner nach politischer Zweckmäßigkeit bediente und es nach der Maxime sozialistischer Parteilichkeit handhabte". Als sich nach der Volkskammerwahl die Staatsorgane, nunmehr auf demokratischer Grundlage, konstituierten, kamen, zumal aus Kreisen der Linken, welche die Wahl verloren hatten, und über westdeutsche Berater Bestrebungen auf, die abgestorbene Verfassung von 1968/1974 wiederzubeleben, ihr, analog zum Gmndgesetz, Bindungswirkung für die gesamte Staatsgewalt und den Vorrang vor dem übrigen staatlichen ^ Vgl. Georg Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in: HStR Bd. I, Heidelberg ^2003, § 11 Rn. 13ff., 28ff.; Josef Isensee, Rechtsstaat - Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: HStR Bd. IX, Heidelberg '1997, § 202 Rn. 54ff., 59ff. (Nachw.).

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Recht zuzuerkennen, verfassungsdurchbrechende Maßnahmen auszuschließen und jede förmliche Änderung an eine Zweidrittelmehrheit der Volkskammer zu binden. Politische Arglist und juridische Einfalt wirkten bei diesem Reanimierungsversuch zusammen. Wäre er gelungen, so hätte er der Verfassung eine normative Kraft zugeführt, wie sie ihre leninistischen Urheber niemals vorgesehen hatten, und ein rechtliches Netz geknüpft, in dem sich die Demokratie hätte verfangen können. Die demokratische Revolution hätte sich dem postumen Reglement des alten Systems unterwerfen sollen. Der neue Verfassungslegalismus gipfelte in der Forderung, daß der neugewählte Ministeφräsident Lothar de Maizière und die Mitglieder seiner Regierung den Eid auf die Verfassung von 1968/1974 ablegen sollten, wie es eben diese Verfassung gebot (Art. 79 Abs. 4). De Maizière weigerte sich. Nach heftigem Streit fand die Volkskammer zu einer Kompromißlösung, einer Eidesformel, die sich nicht auf die Verfassung, sondern auf „Recht und Gesetze" bezog, also auf die nunmehr geltende, neue Ordnung: „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des Volkes widmen, Recht und Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde"^^. Die legalistische Welle brach sich. Zwar wurde in der Folgezeit das Verfassungsgesetz nach seinen eigenen Verfahrensbedingungen hier und da geändert, doch mehr als Demonstration des breiten parlamentarischen Konsenses denn als Zeichen von Verfassungsloyalität. Die nunmehr geltende materielle Verfassung der Revolution fand Ausdruck in dem rechtsförmlichen Verfassungsgrundsätzegesetz, das die Volkskammer, die zugleich als Parlament und Konstituant fungierte, am 17. Juni 1990 verabschiedete. Es proklamierte Strukturen, Ziele und Aufgaben des Verfassungsstaates, insbesondere die Grundrechte wirtschaftlicher Freiheit, und erhob den Anspruch auf den Vorrang vor der alten DDR-Verfassung und der gesamten Rechtsordnung. Diese waren den Verfassungsgrundsätzen entsprechend auszulegen und anzuwenden (Art. 1 Abs. 2 S. 1). Das Grundsätzegesetz hob alle Rechtsvorschriften auf, „die den Einzelnen oder Organe der staatlichen Gewalt auf die sozialistische Staats- und Rechtsordnung, auf das Prinzip des demokratischen Zentralismus, auf die sozialistische Gesetzlichkeit, das sozialistische Rechtsbewußtsein oder die Anschauungen einzelner Bevölkerungsgruppen oder Parteien verpflichten" (Art. 1 Abs. 2 S. 2).

" Art. 7 9 A b s . 4 S. 2 D D R - V e r f . , G B l . D D R 1 9 9 0 1 , S. 2 2 9 .

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Damit war das Verfassungsgrundsätzegesetz zur wahren Verfassungsurkunde der Revolution geworden, indes die alte Verfassung normativ degradiert (wenn auch nicht förmlich aufgehoben), durch die Zulassung von Verfassungsdurchbrechenden Gesetzen (Art. 9 Verfassungsgrundsätzegesetz) fragmentiert und nur bei Bedarf nach erborgter Legalität genutzt wurde^^. Effektiven Verfassungsrang erlangten auch die Staatsverträge mit der Bundesrepublik Deutschland. Zur Schaffung eines regulären neuen Verfassungsgesetzes, das die Staatlichkeit der DDR verfestigt hätte, kam es im Sog der nationalen Einung nicht mehr. Das Verfassungsgesetz, auf das sich die DDR unaufhaltsam zubewegte, war das Grandgesetz. Rechtlich gesehen war mit dem Beitritt die Existenz der DDR als Staat erledigt, deren Verfassungsfragen erloschen, der Wechsel der Staatsform vollzogen. Doch die Folgeprobleme bestehen weiter. Das alte Regime wirkt nach in dem Erbe, das es hinterlassen, auch in den Verwüstungen, die es angerichtet hat. Wenn die Verfassungsordnung wechselt, so bleiben doch die Menschen mit ihren Erfahrungen, Gepflogenheiten, Bedürfnissen, Hoffnungen, ihrer mentalen Prägung. Keine Revolution des 19. und des 20. Jahrhunderts war so tief und umfassend wie die der DDR. Sie ergriff nicht nur die Staats- und Regierangsform, sondern auch Wirtschaftsordnung, Kultur, Lebensstil. Der totalitäre Sozialismus hatte sein Endziel zwar verfehlt, das kommunistische Endreich, aber sein Zwischenziel erreicht: die Zerstörang der bürgerlichen Gesellschaft, in ihr eine Lebensvoraussetzung des Verfassungsstaates. Die innere Wiedervereinigung wird sich über Generationen hinziehen, der Ost-West-Limes durch Deutschland und Europa noch nach einem Jahrhundert erkennbar bleiben.

V. Verfassungskontinuität jenseits staatsrechtlicher Brüche Wo das Recht scharfe Zäsuren macht, zeigt die Geschichte gleitende Übergänge, partielle Beharrung. Wo jenes ein statisches Kontinuum wahrnimmt, sieht diese kontinuierliche Dynamik, in Rankes Worten: ^ Zur verfassungspolitischen Praxis in der Endphase der DDR Würtenberger (wie Anm. 61), § 187 Rn. 30ff. Zur normativen Bedeutung der alten Verfassung ebd., Rn. 39ff.

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„ein lebendiges Dasein, das seiner Natur nach in unaufhörlicher Entwicklung, unaufhaltsamem Fortschritt begriffen ist"^^. Die Sichtweisen widersprechen sich nicht, sie ergänzen einander. Sein und Sollen, der Idee nach reinlich zu trennen, beeinflussen sich wechselseitig und sind aufeinander verwiesen. Das wird deutlich bei der Neuschöpfung einer Verfassung. Es handelt sich um die höchste Norm der staatlichen Rechtsordnung. Daher gibt es keine Norm, aus der sie sich ableiten, und keine, die ihren Inhalt oder das Verfahren ihrer Erzeugung festlegen könnte. Die normative Lücke läßt sich nicht durch die Vorstellung schließen, daß ein Willensakt des souveränen Volkes den Ursprung bilde, die Ausübung seiner verfassunggebenden Gewalt. Das ist ein demokratischer Mythos, der das Dilemma des Anfangs verschleiert, nicht aber löst^^. Ein Willensakt am Ursprung, von wem auch immer ausgehend, kann nur einen normativen Geltungsanspruch erheben. Ob er erfüllt wird, das entscheidet sich in der Wirklichkeit des staatlichen Lebens über die Personen und Mächte, an die sich die Verfassung wendet; und das nicht durch einen einmaligen Akt der Annahme (deshalb sind Verfassungsreferenden von zweifelhaftem Wert), sondern in einem permanenten Prozeß, einem plébiscite de tous les jours; auch nicht durch feierliche Bekenntnisse, sondern durch das Faktum, daß sie sich tatsächlich in den Bahnen der Verfassung bewegen: Verfassungskonsens durch konkludentes Handeln. So gewinnt die Verfassungsnorm ihre Wirksamkeit aus der Wirklichkeit. Diese entscheidet nicht nur darüber, ob die Norm effektiv Geltung erlangt, sondern auch, welchen Inhalt sie für ihre Adressaten annimmt. Der Vemunftsabsolutismus der Aufklärung, der meint, nach souveränem Belieben über die Ordnung des staatlichen Lebens verfügen zu können - die Prämisse der Lehre des Abbé Siéyès über den pouvoir constituant - stößt auf die Grenzen seiner Möglichkeiten. Diese Bedingung der Wirksamkeit wird eher erfaßt in der historisierenden Sicht der Romantik, die das Recht als werdend, wachsend und sterblich begreift. Eichendorff spottet über die „Wut, Verfassungen zu machen". Es genüge nicht, einen künstlichen Freiheitsbaum aufzurichten: ,>Iit und in der Geschichte der Nation muß die Verfassung, wenn sie nicht eine bloße Komödie bleiben soll, organisch emporwachsen, wie ein lebendiger Baum, der das innerste Mark in immergrünen Kronen dem Himmel zuwendend sich selber stützt und hält und den Boden beschirmt, in dem

Ranke (wie Anm. 13),S.71. Näher Isensee (wie Anm. 48), S. 43ff., 68ff.

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er wurzelt"^'. In seiner Kritik an Siéyès schreibt Carlyle: eine Konstitution, „unter der die Menschen wirklich leben wollen und leben werden, wird allein diejenige sein, welche mit ihren Überzeugungen übereinstimmt, mit ihrem Glauben in Bezug auf diese ganze wunderbare Welt und auf die Rechte, Pflichten und Befugnisse, die sie innerhalb derselben haben: eine Konstitution also, die durch die Notwendigkeit selbst und, wenn nicht durch eine gesehene, dann doch durch eine ungesehene Gottheit sanktioniert ist"™. Die Geschichte kennt keinen totalen Neuanfang. Auch die radikalste Revolution kann immer nur einzelne Strukturen des Gemeinwesens verändern. Sie kann nicht das Staatsvolk und nicht das Staatsgebiet auswechseln. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als an die realen Gegebenheiten anzuknüpfen, die sie vorfindet: an das Machtpotential der Staaten, an die Leistungsfähigkeit und die Bedürfnisse der Bevölkerung, an Mentalität und Bildungsstand, Wirtschaftskraft und Lebensstandard. Das neue Regime hat das Erbe des alten anzutreten und abzuarbeiten, die Folgen seiner Leistungen und seines Versagens. Die Restauration der Bourbonen im Jahre 1814 mußte dort beginnen, wo Napoleons Empire aufgehört hatte. Der Wiederaufbau des Verfassungsstaates in Deutschland nach 1945 vollzog sich auf dem Trümmerfeld, das die Hitlerdiktatur hinterlassen hatte, aber auch unter Nutzung der moralischen Ressourcen und Erfahrungen, jener Sekundärtugenden, die sich in der Zwangserziehung durch das totalitäre Regime entwickelt hatten: Arbeitsdisziplin und Konsumaskese, Pflichtbewußtsein und Anspruchslosigkeit. Der Sowjetsozialismus wirkt heute - trotz seines Zusammenbruchs - auf dem Boden der vormaligen DDR nach, weil sich die Geschichte von viereinhalb Jahrzehnten nicht rückgängig machen läßt. Die Realität kennt, anders als das Prozeßrecht, keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Nicht zufällig ermittelt die Demoskopie hierzulande mehr als zehn Jahre nach der Wiedervereinigung die Stinunungsund Meinungslage immer noch gesondert nach West- und Ostdeutschen. Die Praxis, so stellt die Systemtheorie in der ihr eigenen Abstraktheit fest, kann den Komplexitätsdruck nur reduzieren durch Übernahme der Geschichte als Handlungsgrundlage^^

^ Joseph von Eichendorff, Politischer Brief (1832), in: ders., Werke (hrsg. von Wilhelm Kosch), Bd. 10, Regensburg 1911, S. 345 (359). ™ Thomas Carlyle, Die französische Revolution (1837), dt. Ausgabe 1. Bd., Leipzig 1927, S. 223f. Niklas Luhmann, légitimation durch Verfahren, Darmstadt ^1975, S. 149.

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Mit dem Macht- und Strukturwechsel ändern sich nicht die geopolitischen Bedingungen des Landes, auch nicht die objektiven außenpolitischen Interessen. Die außenpolitische Staatsraison überdauert die innere Verfassung. Deren Wechsel kann eine Wende auslösen; doch gibt es keinen Automatismus. Die Versuche, ein monistisches Erklärungsmuster für die inneren Bedingungen der auswärtigen Politik zu finden und eine allgemeine Gesetzmäßigkeit aufzudecken, sind müßig^^. Seit Kant kommen immer wieder Vorstellungen auf, daß die Staatsform des Volkes bereits die Außenpolitik determiniere, daß Demokratien ihrem Wesen nach friedfertig seien (zumindest im Verhältnis zu anderen Demokratien), im Unterschied zu kriegslüsternen Autokratien^^. Diese euphorische These könnte die Gegenthese provozieren, daß der Weltmissionarismus, der vielen Demokratien seit der amerikanischen und französischen Revolution eignet, staatsformspezifische Aggressivität erzeugt. Wesentlich ist jedoch: „Die Regeln der Staatengesellschaft, das Phänomen der wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht reduzierbaren Macht und die Wirksamkeit der in der zeitverhafteten Gedankenbildung von handelnden Staatsmännern vorwaltenden Mentalität treten zwischen derlei schlichte Zuordnungsversuche von Innen- und Außenpolitik. Ja, sie verleihen der in einen internationalen Zusammenhang gestellten Außenpolitik eines Nationalstaates, nolens volens, ein gar nicht zu unterschätzendes Maß an Autonomie gegenüber der jeweils ganz unterschiedlichen inneren Form eines Staates."^"^ Der Verfassunggeber ist wohl nicht einmal in der Lage, die Organisation des Staates in allen ihren Strukturen zu ändern. Seinem Zugriff unterliegt ohnehin nur die Staatsform, nicht aber die Grundstruktur, welche die Staatlichkeit des (modernen) Staates ausmacht^^. Doch eine neue Verfassung kommt nicht umhin, teilweise an ihre Vorgängerin anzuknüpfen (Verfassung jeweils im materiellen Sinne verstanden). In der französischen Revolution setzte sich der Volkssouverän auf den Thron des Monarchen, den Thron aber, die innere Souveränität des Staates, behielt er bei; das Organisationskonzept des zentralistischen Gesetzund Verwaltungsstaates machte er sich zu eigen^®. Die russische Okto" Dazu mit Nachw. Hildebrand (wie Anm. 22), S. 93ff. " Das Urbild: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), A23f., in: Ders., Werke (hrsg. von Wilhelm Weischedel), Bd. VI, Darmstadt 1964, S. 191 (205f.) - zur republikanischen Verfassung. ^^ Hildebrand (wie Anm. 22), S. 107f. " Näher Isensee (wie Anm. 26), § 13 Rn. 23ff., 26ff. Grandlegend Alexis de Tocqueville, L'Ancien Régime et la Révolution, 1856.

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berrevolution führte zu einem Wechsel des Herrschaftspersonals, der Herrschaftsgremien und der Herrschaftsideologie; doch die neuen Herren setzten die zaristische Autokratie fort und bauten ihr Herrschaftsinstrumentarium aus. Das Verfassungswerk der Paulskirche scheiterte zwar äußerlich, weil es nicht rechtlich in Kraft trat; doch unterschwellig gelangte es zu Wirksamkeit. Es hat die verfassungsrechtlichen Leitvorstellungen der Deutschen nachhaltig geprägt. Sein Einfluß ist erkennbar in der revidierten Verfassung Preußens wie in der Erfurter Unionsverfassung, in der Weimarer Reichsverfassung und selbst noch im Grundgesetz . Die Grundrechte, die sich auf der Ebene der Verfassung nicht durchsetzen konnten, flössen in die einfachen Gesetze ein, so in das Freizügigkeitsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1867 und in die Gewerbeordnung von 1869, die ihrerseits Reichsrecht werden sollten^^. Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung von 1871 wirkt fort in der grundgesetzlichen Einrich79

tung des Bundesrates . Der Bonner Verfassunggeber hat den Namen aufgegriffen und damit mehr bewirkt als semantische Übereinstimmung. Der Name zieht die Sache nach sich und schafft die Vermutung von Kontinuität, die der widerlegen muß, der einen rechtlichen Unterschied behauptet. Die favor traditionis spricht dafür, daß der Bundesrat im Rahmen seiner Kompetenzen an der politischen Führung des Bundes beteiligt und nicht darauf beschränkt ist, unpolitische Belange der Ausführung des Bundesrechts, die Sicht der Landesadministration zur Geltung zu bringen. Als im März 2002 die Vertreter Brandenburgs im Bundesrat unterschiedlich über das Zuwanderungsgesetz votiert hatten und sich später der Streit erhob, welche Folgen sich daraus für die Gültigkeit der Abstimmung ergäben, griffen die Verfassungsinterpreten - Juristen wie Publizisten, Theoretiker wie Prozeßvertreter - auf Geschichte, Recht und Praxis des Bismarck'sehen Bundesrates zurück. Die staatsrechtlichen Klassiker des zweiten Kaiserreichs, Paul Laband wie Adolf Arndt senior, kamen zu neuen Ehren. Da die Verfassung sich in der Geschichte entfaltet, vermag sie auch nicht deren Ende herbeizuführen oder auch nur anzuzeigen. Das Hochgefühl von 1989, das Ende sei gekommen, ist längst verflogen. Es würde, falls es wiederkehren sollte, trügerisch bleiben. Klaus Hildebrand ist " Näher Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, Neuwied 4 9 9 8 , S. 80ff.; Walter Pauly, Die Verfassung der Paulskirche und ihre Folgewirkungen, in: HStR Bd. I, Heidelberg '2003, § 3 Rn. 47ff., 52ff., 54ff. Dazu Pauly (wie Anm. 77), § 3 Rn. 51. Zu Bismarcks Konzept Kaufmann (wie Anm. 21), S. 187ff.

Wechsel, Wandel und Dauer von Staatsformen

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auch als vorwärts gekehrter Prophet zu verstehen, wenn er zum England des liberalen Äon feststellt: „Die viktorianische Überzeugung, man nähere sich gleichsam dem ,Ende der Geschichte', da die überlegene Weltanschauung des ,Liberalen Systems' gesiegt habe, erwies sich mehr und mehr als ein zwar verständlicher, vielleicht sogar sympathischer und dennoch gravierender Irrtum. Allmählich holte die historische Entwicklung das weit vorausgeeilte England wieder ein, und zwar nicht nur im Sinne des machtpolitischen Kampfes der überlieferten Gewalten, sondern auch des weltanschaulichen Wettbewerbs konkurrierender Potenzen. Großbritannien wurde in die Tradition europäischer Machtpolitik zurückgeführt, die ihm lange Zeit nahezu abgelebt vorgekommen war"«o.

Hildebrand ( w i e A n m . 6), S. 4 1 4 .

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Pars pro toto? Die Entwicklung der Parteien vom Honoratiorenklub zur Massenbewegung und der demokratische Staat

Eine Partei ist eine Vereinigung von Personen mit gleichen politischen Überzeugungen, die den Zweck verfolgen, bestimmte staatliche Ziele zu verwirklichen'. Die Besinnung auf eine solche zugegebenermaßen einfache, für den Unterricht in politischer Bildung passende Definition erscheint heute fast wieder als notwendig, um sich nicht in der verwirrenden Vielfalt der historischen SpezialStudien oder der politologischen Typologie zu verlieren, die eine nahezu uferlose Diskussion über Wesen, Organisation, System und Geschichte politischer Parteien seit den Schriften von Lord Bolingbroke, Montesquieu und Edmund Burke hervorgebracht hat. Genauer besehen beginnt die Geschichte der Parteien nicht einmal mit den Objekten dieser Publikationen der Aufklärung und Gegenaufklärung; wir kennen Parteiungen und Faktionen aus den griechischen Stadtstaaten und dem Römischen Reich, aus der Hocharistokratie und den Städten des Mittelalters; im Zeitalter der Reformation begegnen wir den Konfessionsparteien^. Moderne Parteien des 19. bis ' Paul Grebe, Die politischen Parteien in Vergangenheit und Gegenwart. Dargestellt für den staatsbürgerlichen Unterricht, Wiesbaden 1950, S. 3. Weitere Definitionen des Parteibegriffs: Hans Fenske, Deutsche Parteiengeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn u. a. 1994, S. 9-15; Klaus von Beyme, Partei, Fraktion, in: Otto Brunner/Wemer Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 677-733; Sigmund Neumann, Die Parteien der Weimarer Republik. Mit einer Einführung von Kari Dietrich Bracher, Stuttgart u. a. ''1977 ( ' l 9 3 2 unter dem Titel: Die politischen Parteien in Deutschland), S. 15-19; weiterführende Literaturhinweise ebd. S. 112f., 140f; Ludwig Bergsträsser, Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, hrsg. von Wilhelm Mommsen mit einer Bibliographie von Hans-Gerd Schumann, MünchenAVien " l 9 6 5 ('l921), S. 13f ^ Peter Haungs, Politische Parteien, I-V, in: Staatslexikon, hrsg. von der GörresGesellschaft, Bd. 4, Freiburg/Basel/Wien ^1988, Sp. 4 7 1 ^ 8 0 (mit Literatur); ders., Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, ^1981; Maurice Duverger, Les partis politiques, Paris '°1976 ('l951), S. 2 3 f f , Introduction.

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21. Jahrhunderts können gemäß ihren Zielen in Patronage-, Klassen-, Weltanschauungs- und Interessenparteien eingeteilt werden. Je nachdem, in welchen Systemen sie wirken, können sie als totalitäre „Einheitsparteien" oder Vielheitsparteien, die dem System eines demokratischen Parteienpluralismus entsprechen, angesehen werden. Gemäß soziologischen Kriterien und demokratischen Partizipationsmodellen spricht man von Honoratioren-, Volks- oder Massenparteien, von Mehrheits- und Regierungsparteien. Die sog. „catch-all-party" wirft nach Otto Kirchheimers bekannter Definition ideologischen Ballast ab, um sich möglichst breiter Wählergunst zu versichern^. Ausgerechnet auf regionaler Basis begegnen wir in der föderalistischen Bundesrepublik Deutschland einer sog. „Staatspartei" südlich der Mainlinie", eine Bezeichnung, die aber auch die SPD der Bundesrepublik in Anspruch genommen hat, und auch die CDU wurde schon als Staatsgründungspartei bezeichnet. Das Wachstum und die Unentbehrlichkeit der Parteien in sich modernisierenden Staaten oder in demokratischen Systemen führte schon um 1900, dann in den 1930er, 1960er und 1990er Jahren international zu erheblicher Kritik am sog. „Parteienstaat", dessen Krise diagnostiziert oder dessen baldiges Ende vorausgesagt wurde. Indes gilt, daß z.B. in der Bundesrepublik Deutschland neben den Parteien als maßgeblichen Faktoren des öffentlichen Lebens die Massenmedien, die öffentliche Verwaltung, die Interessenverbände oder das Verfassungsgericht eine allerdings nicht durchwegs unabhängige eigene Existenz behaupten. Wir leben heute in einem bürokratischen Anstaltsstaat mit tief verästelten Systemen sozialer Sicherung und Steuerung; er ist das Ergebnis ^ Otto Kirchheimer, Parteienstruktur und Massendemokratie in Europa, in: Gilbert Ziebura (Hrsg.), Beiträge zur allgemeinen Parteienlehre. Zur Theorie, Typologie und Vergleichung politischer Parteien, Darmstadt 1969, S. 288-318. - Der Aspekt des „Systems" als Fragestellung einer Parteiengeschichte: Heine Kaack, Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystem, Opladen 1971. „Staatspartei" im Hinblick auf eine gewisse Verwurzelung in der bayerischen Tradition, auf eine Tendenz zur Identifizierung mit dem bayerischen Staat; typologisch eher eine Mehrheits- und Regierungspartei, die aus aktueller europäischer Perspektive (1998) mit dem Streben nach „bayerischer Identität" „ein vitales Regionalbewußtsein artikuliert": Alf Mintzel, Die CSU. Anatomie einer konservativen Partei 1945-1972, Opladen 1975, ^1978; ders., Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg - Gewinner und Verlierer, Passau 1998, S. 282. Thomas Schlemmer, Aufbruch, Krise und Erneuerung. Die Christlich-Soziale Union 1945 bis 1955, München 1998, S. 475-^86 u. ö. sieht die CSU unter Hans Ehard (1949-1955) in „Stagnation" und „Sklerose", danach erst habe unter Generalsekretär Fritz Zimmermann eine rasche organisatorische Konsolidierung eingesetzt; vgl. unten Anm. 20.

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einer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Entwicklung. Trotz des alarmierenden demographischen Befunds der letzten dreißig Jahre ist ihm die Bevölkerung noch nicht so weit abhanden gekommen, daß er mit den bescheidenen Mitteln direkter Demokratie regiert werden könnte. Um Einblicke in die Geschichte der modernen Parteien und der von diesen mitbestimmten politischen Entwicklung zu gewinnen, ist also der weite Spagat zu durchmessen, der im Sinne der eingangs gegebenen Definition zwischen der Bildung von Personenvereinigungen und der Verwirklichung der von diesen ins Auge gefaßten politischen oder staatlichen Ziele liegt. Oder es geht, mit den Worten Sigmund Neumanns, um das Beschreiben der dialektischen „Spannung von Repräsentanz eines Besonderen und gleichzeitiger Ganzheitserfassung", die dem Parteibegriff organisatorisch und wesenhaft zugrundeliegt^. Demzufolge lenkten schon Max Weber und Maurice Duverger ihren Blick auf die Organisation und Struktur der Parteien als Kriterien ihrer Typologie, auf die Formen und Anteile ihrer Mitgliederzahl und Wählerschaft, die die eigentlichen Voraussetzungen ihrer Aktivität in Gesellschaft und Staat bildeten und insofern auch allgemeine verfassungsgeschichtliche Entwicklungen widerspiegelten^. So konnten Entwicklungsschritte von der Honoratioren- zur Massenpartei oder überhaupt erst zur geschlossenen Partei- und Fraktionsbildung aufgezeigt werden, die wiederum von der historischen Situation in den jeweiligen Ländern abhängig waren. Für den Typus einer frühen Parteibildung, in der zwei potentielle Mehrheitsparteien miteinander konkurrieren, steht bekanntlich England; Moisei Ostrogorski hat vor dem Hintergrund des Wandels zur individuellen Gesellschaftsauffassung neben den britischen die amerikanischen Parteien behandelt und auch die Ideen der Parteientwicklung Frank' Neumann (wie Anm. 1), S. 19; ihm geht es um die „gesellschaftliche Struktur und Funktion der Parteien" („Komiteeparteien oder Kadeφarteien" mit Schwerpunkt in der Fraktion und „Massenparteien" in einem fortgeschrittenen Politisiemngsstadium - mit oder ohne „Apparat"). Das Problem wurde schon 1952 thematisiert von Otto Heinrich von der Gablentz, Politische Parteien als Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte. Vortrag, gehalten an der Deutschen Hochschule für Politik am 16. Mai 1952, Berlin 1952, S. 8 12.

' Wie Anm. 2; deutsche Ausgabe: M. Duverger, Die politischen Parteien, hrsg. von S. Landshut, Tübingen 1959 (Orig.-Ausg. Paris 'l951); Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann (Studienausgabe), Tübingen 1980, S. 167-169. Problematisch ist, daß M. Weber „traditionale Dienerschaften" zur Wesensdefinition der Parteien heranzieht, den „Interessentenbetrieb" betont und sogar plan ausführt: „Parteien können alle Mittel zur Erlangung der Macht anwenden": für demokratische Parteienforscher eine Vernachlässigung normativer Aspekte.

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reichs mit einbezogen'. Anstelle der sich konservierenden Ständeordnung in Kontinentaleuropa entsteht in England eine aus niederem Adel und höherem Bürgertum zusammengesetzte Führungsschicht, die sich in Vereinen, Presseorganen, Klubs gesellschaftlich entfaltet und eine aus freien Wahlen gebildete Nationalvertretung dominiert. Besonders vor und nach der Glorreichen Revolution bildeten sich die großen Parteien der Whigs und Tories in den Auseinandersetzungen („cleavages") um die großen Fragen, die die Nation bewegten. Es ging um die Abgrenzung der Konfessionen, um die Kandidaten für die Thronfolge, die außenpolitische Rivalität mit Frankreich und Spanien®. Beide Parteien widersetzten sich den übertriebenen Ansprüchen auf Kontrolle oder Gängelung, die von der Krone erhoben wurden, aber beide standen dem König auch wieder zur Verfügung, ob als parlamentarische Stützen des Ministeriums oder als abrufbereite neue Administration. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bereicherten die von Adam Smith propagierten Ideen der wirtschaftlichen Freiheit, dann Thomas Paines Ideen der natürlichen Gleichheitsrechte das ideologische Konfliktpotential der Parteien, ihre Tendenzen zur Kohäsion und Opposition. Aber erst das 19. Jahrhundert brachte, seit den Wahlrechtsreformen von 1832 und 1867, mit dem Aufbau der Wahlorganisationen den Typus der zielstrebig und konzentriert auftretenden modernen parlamentarischen Partei hervor, die nun erst ihrer Konkurrentin und deren Hilfstruppen in Kirche und Gesellschaft ein selbstverständliches, verfassungs- bzw. herkommensrechtliches Existenzrecht zuerkannte. Der Erste Weltkrieg leitete einen folgenschweren Wandel im englischen Parteiensystem ein'. Die Labour Party beerbte die in sich gespaltenen und geschwächten Libera-

^ M. Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties. Translated from the French by Frederick Clarke, Vol. I-II, New York 1970 ('1902), I, S. 30-33; Moisei Ostrogorski, La démocratie et les partis politiques. Textes choisis et présentés par Pierre Rosanvallon, Paris 1979. - M. Ostrogorski 0854-1919), gebürtiger Russe, studierte Politikwissenschaft in Frankreich, unternahm mehrere Studienreisen in die USA und nach Großbritannien (für sein Hauptwerk La démocratie et l'Organisation des partis politiques) und wurde noch Abgeordneter der ersten Duma in Rußland für die (liberale) Partei der Kadetten. ® Brian W. Hill, The Growth of Pariiamentary Parties 1689-1742, London 1976, S. 2 2 7 230. ' Verdreifachung des Elektorats 1918 durch den Representation of the People Act: Keith Robbins, The Eclipse of A Great Power. Modern Britain 1870-1975, London/New York ••1989 ('1983), S. 129-136; Ivor Bulmer-Thomas, The Growth of the British Party System, Vol. I (1640-1923), Vol. II (1924-1964), London ^1967 ('1965), I, S. 221ff.; ders.. The Party System in Great Britain, London 1953, S. 44ff., 148ff.; Kurt Kluxen, Geschichte und Problematik des Pariamentarismus, Frankfurt/M. 1983, S. 157-172.

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len, der Kampf mit der Liberalen Partei um die Hauptrolle als Widersacher gegen die Konservativen dauerte aber bis 1929. So blieben das Zwei-Parteien-System, das zu Lasten der kleineren Parteien und der regionalen Sonderbestrebungen ging, und der es umfangende nationale Grundkonsens erhalten. Die britischen Großparteien nahmen erheblichen Einfluß vor allem auf innenpolitische Weichenstellungen, wie z.B. Labours Verstaatlichungskurs 1945 bis 1951 und Margaret Thatchers Wirtschaftsliberalismus zeigen, während ein gewisser Basiskonsens in der Außenpolitik, etwa bezüglich der NATO-Zugehörigkeit und der besonderen Beziehungen zu den USA, erhalten blieb. Innere Rivalitäten der Parteien und die wechselnde Qualität ihres Führungspersonals ergaben sich aus ihrer vergleichsweise offenen Struktur und hatten erhebliche Auswirkungen auf Sieg oder Niederlage und damit auf die politischen Gestaltungschancen. Frankreich kennt eigentlich Massenparteien erst aus der Zeit der Volksfront 1936 bis 1938 und aus den Jahren des Tripartisme 1945 bis 1947, in denen nach der Befreiung eine kurzlebige Koalition aus Volksrepublikanem, Sozialisten und Kommunisten regierte'". Dennoch war für dieses Land ein hoher Politisierungsgrad kennzeichnend, der bis in vorrevolutionäre Zeiten zurückreichte. Die Sociétés de pensée, die Freimaurerlogen und Salons entfachten eine rege Diskussionskultur, Montesquieu betonte die Bedeutung von Zwietracht und Parteienstreit für die Erringung politischer Freiheit. Doch liefen - im Unterschied zu England - die politischen Auseinandersetzungen zunächst an den staatlichen Machtzentren und Repräsentativorganen vorbei oder richteten sich gegen diese; eine öffentliche Meinung entstand mehr als Gegenkultur zu dem vorherrschenden Absolutismus. Nach der Restaurationsepoche, in der die „Notabein" die politische Vorherrschaft errangen, und der bonapartistischen Periode Napoleons IIL mobilisierte erst die überraschend langlebige Dritte Republik das mittlere und kleine Bürgertum für die Identifikation mit dem republikanischen Staat. Dessen ideologischer Säkularismus und Antiklerikalismus trieb wieder die Konservativen und Katholiken in eine grundsätzliche Opposition, die allerdings schon vor Beginn der Ralliements-Politik von 1892 gelockert wurde". Pierre Lévêque, Histoire des forces politiques en France, T. 1 (1789-1880), T. 2 (1880-1940), T. 3 (de 1940 à nos jours), Paris 1992, 1994, 1997, T. 3, S. 4 7 9 ^ 8 8 . " Gérard Cholvy/Yves-Marie Hilaire, Histoire religieuse de la France contemporaine, T. 2 (1880/1930), Toulouse 1989 ('l986), S. 67ff.; Jean-Marie Mayeur, Les débuts de la Troisième République 1871-1898, Paris 1973, S. 102ff.; Ch. Seignobos, Politische Geschichte des modernen Europa. Entwicklung der Parteien und Staatsformen 18141896, Leipzig 1910 (deutsch nach der 5. Aufl. von 1907), S. 193.

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Ein reges Parteileben entwickelte sich z.B. in den lokalen Komitees und Wahlorganisationen der 1901 gebildeten radikalsozialistischen Partei und der 1905 entstandenen Section française de l'internationale ouvrière (SPIO). Doch der einzelne Abgeordnete blieb trotz der vielen Versuche, ihn an seine örtlichen Wähler und Komitees imperativ zu binden, der ganzen Nation verantwortlich. Der Charakter der Honoratiorenparteien gründete zum guten Teil gerade in dem demokratischen Beharren der Lokalkomitees und Fédérations auf ihrer Freiheit und Autonomie gegenüber zentralen Autoritäten; einerseits kam es zur Ausbildung eines repräsentativen Systems mit einer recht individuellen Stellung der Abgeordneten im Parlament; andererseits wurde gegenüber abweichenden Gruppen immer wieder der Anspruch erhoben, sich mit der dezidiert säkularistischen, antiklerikalen und national ambitioniert auftretenden Republik zu identifizieren'^; der Versuch der Democratic chrétienne, das Evangelium als Auftrag zu individueller und letztlich demokratischer Entfaltungs- und Gestaltungsfreiheit zu inteφretieren, zeugt von entsprechendem Anpassungsdruck. Trotz der Gewissenserforschung über die Gründe des unrühmlichen Untergangs der Dritten Republik, die nicht zuletzt in deren fluktuierendem und instabilem System von Honoratiorenparteien gesucht wurden, bildeten sich auch in der Vierten und Fünften Republik keine langfristig dominierenden Großparteien heraus - der Unterschied etwa zu Westdeutschland und Großbritannien war deutlich. Seit 1958 war die präsidiale Exekutive erheblich gestärkt, in der Vielfalt des sich wandelnden Parteienwesens blieben ältere Traditionslinien der politischen Kultur sichtbar: Der Legitimismus und Konservatismus hatte Nachfolger in den verschiedenen Formen des Gaullismus gefunden, zu dem seit den 1950er Jahren die Bataillone des geschwächten Katholizismus, aber auch ehemalige Orléanisten und Rechtsliberale stießen; auf der Linken war die bis 1789 zurückzuverfolgende radikale Demokratie numerisch zwar auf Restbestände reduziert, die hier eindeutig vorherrschende sozialistische und selbst die kommunistische Partei gaben jedoch vor, den demokratischen Weg zur Verwirklichung sozialistischer Ideen zu bevorzugen - ihr Zugeständnis an die revolutionär-republikanische Tradition der französischen Nation. Anders als bei vergleichbaren europäischen Staaten trug in Deutschland das Parteiensystem von vornherein stark föderalistische Züge, zurückzuführen auf eine schon im Mittelalter grundgelegte territoriale Pluralität. In der Sprache des 19. Jahrhunderts ausgedrückt, repräsentierRudolf von Albertini, Parteiorganisation und Parteibegriff in Frankreich 1789-1940, in: Historische Zeitschrift 193 (1961), S. 5 2 9 - 6 0 0 , 571.

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ten die Parteien der staatssouveränen Länder, nach 1918 der Volks- und Freistaaten, pars pro toto ihre jeweilige historische Individualität, zu der auch die Konfessionalität gehörte. An die katholische badische Volkspartei Jakob Lindaus, die Bayerische Patriotenpartei'^, beide Ende der 1860er Jahre gegründet, wäre hier zu erinnern, an die Bayerische Volkspartei der Weimarer Republik, die Bayempartei nach 1945, die sächsische Volkspartei, die nach 1871 in der Sozialdemokratischen Arbeiteφartei aufging, und an die in der 48er Tradition stehende Deutsche Volkspartei Württembergs'"*. Gegen den preußischen Unitarismus der Reichsgründung richtete sich im Nordwesten die Deutschhannoversche Partei von 1869'^, die, 1933 untergegangen, eine gewisse Fortsetzung in der 1945 gegründeten, christlich, föderalistisch und antisozialistisch gesinnten Niedersächsischen Landespartei (seit 1947 Deutsche Partei) fand. Im Unterschied zu den (regionale) Bauern- und Arbeiterschichten einbeziehenden Volksparteien rekrutierten sich die demokratischen und die liberalen Bewegungen, die erstmals in der 1848er Revolution mit einer gewissen Einheitlichkeit hervortraten, mehr aus den elitären bildungsbürgerlichen Bevölkerungsteilen. Was sie insofern an sozialer Repräsentativität vermissen ließen, gedachten sie dadurch wettzumachen, daß sie nach der Niederlage von 1848 und vollends im Zeichen der kleindeutsch-preußischen Einheitsbestrebungen Bismarcks dem beschränkten Partikularismus den Kampf ansagten und sich entschlossen neben den dynastischen und militärischen Kräften der staatlichen Macht zu Vertretern der Ganzheit der Nation und ihres Einheitswillens aufwarfen. Der Föderalismus, die Konfessionsunterschiede, die exklusive nationalliberale Kulturstaatsidee und die sozialen Verwerfungen des anhebenden Industriezeitalters förderten die Ausgestaltung des stark programmatisch, ja doktrinär ausgerichteten deutschen Parteiensystems. '' Vgl. Dieter Albrecht (Bearb.), Joseph Edmund Jörg. Briefwechsel 1846-1901, Mainz 1988; ders. (Hrsg.), Die Protokolle der Landtagsfraktion der bayerischen Zentrumspartei 1893-1914, Bd. 1-5, München 1989-1993. Auf das (vernachlässigte) Phänomen der im Reichsgründungsprozeß überrollten „Volksparteien" wies hellsichtig schon Karl Buchheim hin: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Vorgeschichte - Aufstieg - Niedergang, München 1969, S. 71ff.; Dieter Langewiesche, Liberalismus und Demokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung, Düsseldorf 1974; Gerlinde Runge, Die Volkspartei in Württemberg von 1864-1871. Die Erben der 48er Revolution im Kampf gegen die preußischkleindeutsche Lösung der nationalen Frage, Stuttgart 1970. " Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und politischer Katholizismus 18661918. Die Deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreiches, Düsseldorf 1987; vgl. Frank Wende (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte der Parteien in Europa, Stuttgart 1981, S. 96f., 91f.

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Dieses wies bis zu seinem Untergang im Jalir 1933 überwiegend Honoratiorencharakter auf, obwohl es in der Weimarer Republik verstärkt zum Aufbau von Parteiapparaten kam. Dabei determinierte die Schichtenzugehörigkeit nicht eigentlich die Parteiwähler oder -mitgliedschaft, sondern das Programm wirkte häufig als schichtenübergreifendes Organisationsprinzip. Außerdem ergaben sich die für Deutschland typischen Zusammenhänge zwischen Milieubindung und Politisierung, dem Versäulungsphänomen in den Niederlanden vergleichbar'^. Aus wirtschaftlichem Eigeninteresse oder ökonomischem Klassenbewußtsein handelten am ehesten noch die Deutschkonservativen und ihr äußerster Widerpart, die Sozialistische Arbeiteφartei bzw. (seit 1890) Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die eigentümlicherweise in der „guten alten Zeit" des Kaiserreichs zur stärksten Partei Deutschlands wurde. Aber die Sozialdemokraten gewannen nur die protestantischen Arbeiter; die Deutschkonservativen erfaßten vorwiegend die großagrarischen Gruppen des preußisch-ostelbischen Adels, während dessen Standesgenossen in Süddeutschland mehr der katholischen Zentrumspartei oder dem Liberalismus zuneigten und adlige Namen in der ersten Führungsriege der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei, die spöttisch auch JungLithauen genannt wurde, reichlich vertreten waren. Den Charakter einer Volkspartei - mit allerdings überwiegend (bildungs-)bürgerlicher Führung - verkörperte zwischen 1870 und 1933 am ehesten noch die Deutsche Zentrumspartei, doch mußte sie sich nach 1918, den Ausbau zu einer wirklich breit fundierten Volkspartei verfehlend, mit absteigender Mobilisierungskraft auf den minoritären katholischen Bevölkerungsteil beschränken'^.

Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973; zur spezifischen Isolierung deutscher Parteien durch die Ausbildung einer „Subkultur" und „Binnenmoral" in einem katholischen (Zentrum) und sozialistischen Milieu (SPD): M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel u. a. (Hrsg.), Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 371-393, 390f. Statt der These der Hemmung der Demokratie durch Milieubildung könnte auch der Theorieaspekt der „Segmente" der Gesellschaft geradezu voraussetzenden „Consociational Democracy" erwogen werden: Arend Lijphart, Democracy in Plural Societies. A Comparative Exploration, New Haven/London 1977, S. 48-52; vgl. für spätere Entwicklungen: Herbert Kühr (Hrsg.), Vom Milieu zur Volkspartei. Funktionen und Wandlungen der Parteien im kommunalen und regionalen Bereich, Königstein/Ts. 1979, S. 9-16. Mit Blick auf die zeitweilige Dominanz wirtschaftlicher Interessen in den meisten Parteien bemerkte schon Bergsträsser (wie Anm. 1), S. 18: „Die Zentrumspartei fällt ganz aus dem Schema einer materialistischen Deutung heraus"; vgl. Ursula Mittmann,

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Erst der selbstverschuldete Untergang dieses in der Weimarer Demokratie zu staatstragender Bedeutung nicht aufsteigenden Parteiensystems schuf die Grundlagen für die Entstehung und Durchsetzung koalitionswilliger und mehrheitsfähiger Groß- oder Integrationsparteien in der Bundesrepublik. Diese neu oder wieder gegründeten Parteien gingen gleichsam der westdeutschen Staatsbildung voraus und traten als Verfechter eines neuen, demokratischen Staatsgedankens auf, den sie mittels ihrer Programme und ihres politischen Wirkens im Volk zu verankern gedachten, um dieses gegen einen erneuten Ansturm irrationaler, den Einheitsstaat propagierender Massenbewegungen zu immunisieren^^ Der viele, auch politisch geschulte Menschen überraschende Aufstieg des Nationalsozialismus hatte Deutschland und der Welt eine erschrekkende Lektion erteilt, der auch die neuen Parteigründer keineswegs mit Patentrezepten gegenübertreten konnten. Die Anfälligkeit der Massen für nationalistisch verbrämtes Ressentiment und Haß zeugte von einer in tiefere Schichten der Seelenlage hinabreichenden Wertevergessenheit, die etwa Hermann Rauschning 1938 mit dem Begriff der „Revolution des Nihilismus" zu erfassen suchte. Seine These ist, daß eine selbsternannte Elite, die zur traditionellen Lebenskultur erforderlichen Anstrengungen und Festlegungen mißachtend, sich durch die Manipulation der Massen, die Zerstörung bisheriger Lebenswerte und die Okkupation des staatlichen Gewaltmonopols eine Herrschaft neuer Art erobert habe, die auf ständigen Aktionismus, die Mobilisierung der Massen und die Einpflanzung von Feindbildern sowie auf die Vernichtung konkurrierender Instanzen hinausgelaufen sei. Paradoxerweise richtete sich die Stoßkraft der faschistischen und nationalsozialistischen Massenparteien gegen liberale oder demokratische Regierungen, während die ihnen in mancherlei Hinsicht verwandten national- und Sozialrevolutionären Bewegungen, etwa die Carbonari und Guiseppe Mazzini in Italien, die Fenian Brotherhood in Irland (1858), die Anarchisten in Rußland oder die kroaFraktion und Partei. Ein Vergleich von Zentram und Sozialdemokratie im Kaiserreich, Düsseldorf 1976, S. 165f.; Karsten Ruppert, Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923-1930, Düsseldorf 1992, S. 413f.; grundlegend die Forschungen von Rudolf Mersey. " Neumann (wie Anm. 1), S. 8ff. (K.D. Bracher); Kaack (wie Anm. 3), S. 158; Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn ^1992; Eckhard Jesse, Die Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte und System, München 1994; „klassische" Dokumentensammlung: Ossip K. Flechtheim (Hrsg.), Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, Bd. 1 9, Beriin 1962-1968.

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tisch-serbischen Nationalisten vor 1914 gegen autokratische oder monarchisch-militärische Regimes aufbegehrt hatten. Eine pragmatischere Erklärung für den Sieg des Faschismus und des Nationalsozialismus war sicherlich in der Tatsache zu finden, daß der Staat in Italien und Deutschland bis 1918 auf liberalen oder konservativen Minderheiten geruht hatte, die eine nur konstitutionell oder kryptoparlamentarisch legitimierte Herrschaft ausgeübt hatten, und daß deswegen größeren Bevölkerungsschichten die Heranführung an die Ausübung politischer Verantwortung verwehrt worden war. So war das Bestreben demokratischer Parteigründer nach 1945 verständlich, den Staat nunmehr auf breitere Fundamente zu stellen und sich selbst zunächst eine dementsprechende Basis zu schaffen. So überwanden die Unionsparteien bisherige konfessionsbedingte Hemmnisse politischer Willens- und Meinungsbildung, indem sie sich als interkonfessionelle Sammlungsbewegungen konstituiertenDie SPD legte die Fesseln der proletarischen Arbeiter- und Klassenpartei ab, indem sie sich spätestens im Godesberger Programm zur auch für die Angestellten wählbaren Volkspartei öffnete^®. Natürlich traten diese Parteien sogleich in die Auseinandersetzung um die Übernahme der Staatsführung ein. Die dadurch ausbrechenden Streitigkeiten überdeckten aber wohl ein grundlegenderes Phänomen: daß nämlich jenseits programm- und politikbedingter Führungskämpfe doch ein grundlegend neuer Weg beschritten wurde und ein neues Staatsverständnis sich anbahnte: Das Gemeinwohl sollte im Wettstreit und Zusammenwirken der verantwortungsbewußten demokratischen Parteien und stattlicher Wählermehrheiten ermittelt, nicht mehr von vorgeblich objektiven Instanzen, die selbst den demokratischen Prozessen entzogen und interessenpolitischen Einflüssen ausgeliefert seien, definiert werden. Der Organisationsgrad zumal der Union entsprach aber jahrzehntelang nicht diesem neuen staats" Schlemmer (wie Anm. 4), S. 10-12; Dorothee Buchhaas, Die Volkspartei. Programmatische Entwicklung der CDU 1950-1979, Düsseldorf 1981; Winfried Becker, CDU und CSU 1945-1950. Vorläufer, Gründung und regionale Entwicklung bis zum Entstehen der CDU-Bundespartei, Mainz 1987; Günter Buchstab/Klaus Gotto (Hrsg.), Die Gründung der Union. Traditionen, Entstehung und Repräsentanten, München ^1990; Hans-Otto Kleinmann, Geschichte der CDU 1945-1982, Stuttgart 1993. ^^ Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945-1965, Berlin 1982; Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei - Volkspartei - Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992; Hermann Schmitt, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Mintzel/Oberreuter (wie Anm. 18), S. 133-171; Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848-1990, Bonn 'l991.

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tragenden Anspruch der potentiell große Mehrheiten erstrebenden oder repräsentierenden Parteien. Eher in Deutschland, Italien und England als in Frankreich schien die zweite Nachkriegszeit die Parteien einer idealtypischen Entwicklung zuzuführen, deren Eckpunkte schon 1932 von Sigmund Neumann und deutlicher 1961 von Thomas Nipperdey beschrieben worden sind: Die Perspektive der wissenschaftlichen Parteiengeschichte dieser und anderer bekannter Autoren setzte bei einem Eraanzipationsmodell an, das die aktive Beteiligung breiter Volksschichten an der Staatsführung, die Anpassung der Honoratiorenparteien an die „Struktur der modernen Gesellschaft", beruhend auf deren „innerparteilicher Emanzipation"^', zu modernen Zielen der parteigeschichtlichen Prozesse erklärte. Solche Betrachtungsweisen und Kategorienbildungen verbanden wissenschaftliches Erkenntnisinteresse mit demokratischen Intentionen; insofern sind sie nicht als im Ansatz politisch und historisch wertneutral zu charakterisieren; sie bildeten aufmerksame Reaktionen auf die beschriebenen Defizite oder schweren Fehlentwicklungen. Lassen sich solche Kategorien heute zur saturierten Deskription einer partei- und gesellschaftspolitischen Erfolgsgeschichte der jüngsten Vergangenheit verwenden, oder werden sie nicht vielmehr von systemimmanenten Entwicklungen infragegestellt oder enttäuscht? Daß die Ausrichtung der staatlichen Organisation auf die Mitwirkung der vielen Einzelnen geradezu auf die Verhinderung breiter Partizipation hinausgelaufen sei, hat bereits vor 100 Jahren Ostrogorski, der schon genannte Pionier der Parteienhistorie, eindrucksvoll analysiert. Ausgerechnet am Beispiel der amerikanischen Parteien suchte er nachzuweisen, daß die Bürger, statt durch die Nominierungsprozeduren des caucus ihre Macht und Mitwirkung zu steigern, sich ihres Einflusses beraubt, ja sich der Freiheit ihres politischen Gewissens begeben hätten. Diese spezifische Form der Kandidatenaufstellung habe nur das reibungslose Funktionieren der Staatsmaschinerie erleichtert, zu Konformismus geführt, die Mitwirkung möglichst vieler Individuen an der politischen Willensbildung vereitelt und damit das Gegenteil des erstrebten Zwecks erreicht^^. Wenn, um andere Beispiele für neueste ParteiengeschichtsThomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961, S. 399; vgl. Neumann (wie Anm. 1), S. 15. ^^ Ostrogorski (wie Anm. 7), II, S. 539ff.; die Regierung werde infolge der Selbstinthronisierung des autonomen Individuums, das seine Macht den Parteien ausgeliefert habe, gerade wieder ein Instrument der herrschenden Klasse, zu einem Monopol und privaten Interessen ausgeliefert. Die vielfältigen gesellschaftlichen Probleme würden auf einen parteipolitischen Dualismus reduziert. Ebd., S. 607f. u. 615ff.

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Schreibung zu nennen, Alf Mintzel für die CSU und Wulf Schönbohm für die CDU den Ausbau der internen Organisation, des Parteiapparats, damit verbunden die Zunahme und bessere Erfassung der Mitglieder als unerläßliche Errungenschaften des Aufstiegs zur „modernen Volkspartei" herausstellen^^, so ist aus einem historischen Blickwinkel anzumerken, daß die modernen Parteien mit ihren respektablen Apparaten heute weitgehend ohne die im 19. Jahrhundert übliche Verankerung im gesellschaftlichen und voφolitischen Raum auskommen müssen. Von manchen Honoratiorenparteien wurden Leistungen der Basis-Politisierung erbracht, die bei modernen Parteistrategen geradezu Neidgefühle hervorrufen könnten. Um 1860 schufen sich der Deutsche National verein und die Deutsche Fortschrittspartei in Preußen ein identitätsbildendes Netz von Vereinen, Komitees und Presseorganen mit einer Tendenz zur „Vereinsdemokratie"^''. Die Zentrumspartei konnte sich auf die Unterstützung durch die verschiedenen katholischen Berufsorganisationen und durch andere gesellschaftliche Gliederungen verlassen, die dennoch selbständig blieben wie z.B. der katholische Klerus und die 1899 gegründeten christlichen Gewerkschaften^^. Auf der Ebene des mittleren Partei-Managements konnten recht große Komitees wirken: Das Zentral-Wahlkomitee der Kölner Zentrumspartei umfaßte 1892 215 Mitglieder^®, das höher angesiedelte Comité directeur der bürgerlich-republikanischen Alliance républicaine et démocratique von 1902 250 Mitglieder^^, das general committee der Liberal Association der

^^ W i e Anm. 4. Wulf Schönbohm, Die C D U wird moderne Volkspartei. Selbstverständnis, Mitglieder, Organisation und Apparat 195G-1980, Stuttgart 1985, S. 17, 2 1 : Von einer Volkspartei mit Honoratiorencharakter in den 1950er Jahren wurde die C D U in den 1960er, 1970er Jahren zur Massen- und Apparatpartei auch aufgrund der Oppositionsrolle seit 1969. ^^ Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1 8 5 7 - 1 8 6 8 . Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994, S. 1 0 0 - 1 1 9 ; Gerhard Eisfeld, Die Entstehung der liberalen Parteien in Deutschland 1 8 5 8 - 1 8 7 0 . Studie zu den Organisationen und Programmen der Liberalen und Demokraten, Hannover 1969, S. 1 0 0 - 1 1 0 . Nicht zu vergessen die Katholikentage und der Volksverein: Gotthard Klein, Der Volksverein für das katholische Deutschland 1 8 9 0 - 1 9 3 3 . Geschichte, Bedeutung, Untergang, Paderborn u.a. 1996. Ulrich von Hehl, Zum politischen Katholizismus in Rheinland-Westfalen 1 8 9 0 - 1 9 1 8 , in: Kurt Düwell/Wolfgang Köllmann (Hrsg.), Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 2, Von der Reichsgründung bis zur Weimarer Republik, Wuppertal 1984, S. 5 6 - 7 1 , 6 4 ; Herbert Lepper (Bearb.), Volk, Kirche und Vateriand. Wahlaufnife, Aufrufe, Satzungen und Statuten des Zentrums 1 8 7 0 - 1 9 3 3 . Eine Quellensammlung zur Geschichte insbesondere der Rheinischen und Westfälischen Zentrumspartei, Düsseldorf 1 9 9 8 . " Albertini (wie Anm. 12), S. 582f.

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Stadt Birmingham urn 1877 sogar 480 Mitglieder^^ Die Heranbildung parlamentarischer Führeφeгsönlichkeiten mit beträchtlichem Anhang und kontinuierlicher Reputation war im Notabein- und Honoratiorensystem vielleicht sogar eher möglich als unter den Bedingungen primär verwaltender Parteipolitik, wo verengte Kader und angewachsene Apparate eine gewisse Mittelmäßigkeit des Führungspersonals begünstigten, die nicht eben für die Übernahme höchster Staatsämter qualifizierte^'. Solche historischen Relativierungen mögen nur von bescheidenem Erkenntniswert sein; die Gesellschaft ist jedenfalls im 20. Jahrhundert viel konformistischer und atomistischer geworden, als das in früheren Jahrhunderten vorstellbar zu sein schien. Mit den Problemen des modernen Parteienstaats hat sich auf einer mehr theoretischen Ebene der Staatsrechtler und Politikwissenschaftler Gerhard Leibholz auseinandergesetzt. Er unterzieht den Parteienstaat der Bundesrepublik einer ebenso kritischen wie prinzipiell bejahenden Analyse und unterscheidet deren „parteienstaatliche Demokratie" von der „traditionellen, parlamentarisch-repräsentativen Demokratie", in welcher die der ganzen Nation verpflichteten Repräsentanten in freiem Diskurs um die dem Gemeinwohl angemessenen Entscheidungen gerungen hätten. Wie die „plebiszitäre Demokratie" beruhe der „Parteienstaat" mit seinen „parteimäßigen Bindungen" und dem Fraktionszwang nicht auf der dual angelegten Idee der Repräsentation, sondern auf dem Identitätsprinzip, dessen Herrschaft nicht zuletzt dem auf rechtlichem und sozialem Gebiet siegreich vordringenden Egalitarismus zu verdanken sei: „Wie in der plebiszitären Demokratie der Wille der Mehrheit der Aktivbürgerschaft mit dem jeweiligen Gesamtwillen identifiziert wird, wird in einer funktionierenden parteienstaatlichen Demokratie der Wille der jeweiligen Parlamentsmehrheit in Regierung und Parlament mit dem Gesamtwillen identifiziert"^". Bekanntlich hat Leibholz die Rückkehr zum liberal-repräsentativen Parlamentarismus als Ausweg verworfen, vielmehr zur Sicherung der Freiheit entschlossen die Demokratisierung der mit

Ostrogorski (wie Anm. 7), I, S. 167f. So schon Nipperdey (wie Anm. 21), S. 3 9 5 ^ 0 3 . ^ Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, Berlin ^1960, S. 226, 229, 221-247, 118ff., 102f., 28-35; das Werk erschien in 3. Aufl. Berlin 1966 und erstmals 1929 als Habilitationsschrift (Berlin) unter dem Titel: Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentationssystems; vgl. Klaus Helberg, Gerhard Leibholz und die Neugründung der Demokratie in Deutschland, in: Claus-Dieter Krohn/Martin Schumacher (Hrsg.), Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000, S. 231-241.

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dem Staat teil-identischen Parteien verlangt und ihnen einen angemessenen Platz als Zwischenglieder von Staat und Gesellschaft im Verfassungsgefüge zuweisen wollen. Seine Charakterisierung demokratischer Führung aufgrund des parlamentarischen Mehrheitsprinzips unterscheidet sich eindeutig von Robert Michels' Analyse der Partei der „sozialen Revolution", die zur subversiven Eroberung des Staates schreite: „Die politisch-revolutionäre Massenpartei ist ein Staat im Staate, welche theoretisch die erklärte Absicht verfolgen soll, den Gegenwartsstaat auszuhöhlen und zu untergraben, um ihn endlich durch ein von Grund aus verschiedengeartetes Staatswesen zu ersetzen"^'. Man darf hinzufügen, daß etwa das Grundgesetz der Bundesrepublik unverfügbare und durch Mehrheitsentscheidungen nicht veränderbare Grundwerte und Rechtsgüter vorgibt wie Achtung vor dem menschlichen Leben, Entfaltungsfreiheit, Toleranz, Neutralität und Parität. Ein Parlamentarismus-Theoretiker von Rang wie Leibholz betrachtete also die Identität mit dem Willen des gesamten Volks anstrebende Massen- oder Mehrheitspartei zwar auch gewissermaßen als den Endpunkt einer demokratischen Entwicklung. Er wollte aber die neuen Gebilde bestimmten Konditionen staatspolitischer Führung und Verantwortung unterworfen wissen. Dazu zählten die Gewährleistung freier Willensbildung, die Schaffung von Verantwortungsbewußtsein, die Wiederkehr der Repräsentation innerhalb der Parteien, die wechselseitige Ermöglichung von Demokratie, Disziplin und Führung. Nicht auf der Höhe dieser Reflexion befanden sich die Anhänger der außeφarlamentarischen Opposition, die am Ende der 1960er Jahre im frei, allgemein, geheim und demokratisch gewählten Parlament und seiner Regierung eine reaktionär, autoritär und patriarchalisch strukturierte Staatsführung zu bekämpfen vorgaben. Während die stille Gelehrtenarbeit des auch in der Praxis bewährten Verfassungsrichters Leibholz, die auf immanente Kritik, doch grundsätzliche Bejahung des Parteienstaats Bundesrepublik hinauslief, keine großen Wirkungen entband, konnten die vehementen Parlamentarismus-Kritiker spektakuläre Erfolge feiern. Ihre durchschlagende Parole vom Demokratiedefizit, das internationale Auftreten von Protestbewegungen und ein nicht nur in Deutschland zu beobachtender

Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, hrsg. von Frank R. Pfetsch, Stuttgart "1989, S. 345; vgl. Richard Löwenthal, Totalitäre und demokratische Revolution, in: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der TotalitarismusForschung, Darmstadt 1968, S. 359-381, 375.

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tiefgreifender kultureller Wandel leiteten einen Paradigmenwechsel in der Parteiendebatte und auch neue politische Entwicklungen ein. Die Beziehung zwischen Bürgern und Parteien durchlief einen Transformationsprozeß. Die an traditionellen Werten, am Vaterland, an der Erhaltung von Wohlstand und Freiheit, an der Existenzsicherung orientierten Bürger größerer europäischer Länder gehörten zunehmend nur mehr der älteren Generation der vor 1940 Geborenen an. Die Wählerbindungen gegenüber den sog. etablierten oder staatstragenden Parteien lockerten sich. Vor allem nach 1970 geborene jüngere Wähler zeigten sich, will man jüngsten sozial wissenschaftlichen Untersuchungen glauben, „de-aligned", tendierten zur Übernahme postmodemer oder postmaterialistischer Einstellungen und zum Anschluß an neo-populistische, alternative Gruppen und Bewegungen, die bestimmte, den bisherigen politischen Konsens aufkündigende Forderungen erhoben^^. Als freiheitseinschränkend empfundene familiäre und kirchliche Bindungen wurden abgestreift. Die postmoderne Partizipationsrevolution zielte an hergebrachten demokratischen Institutionen vorbei auf die kompromißlose Realisierung von plötzlich hochstilisierten Teilzielen gesellschaftlicher und politischer Entwicklung. Sie proklamierte eine Verweigerungshaltung gegenüber dem sog. Konventionellen oder Normalen, ein grundsätzliches Mißtrauen, das der Regierang, dem herkömmlichen Politikverständnis und dem gesamtgesellschaftlichen System entgegengebracht werden müsse. Dem korrespondierte ein zugleich grappenbezogen praktizierter und subjektiv empfundener Aktivismus, der hedonistisch oder instrumentell-rational gedeutet werden konnte'^. Politische Absicht und wissenschaftliche Analyse vermischten sich im Statement von Sozialwissenschaftlem, die eine „silent revolution", eine „culture shift" konstatierten, die weite Teile der im Wohlstand aufgewachsenen jüngeren Generation der fortgeschrittenen Industriegesellschaften erfaßt und sie postmaterialistischen Bedürfnissen und Idealen zugeführt hät-

Richard Topf, Electoral Participation, in: Hans-Dieter Klingemann/Dieter Fuchs (Ed.), Beliefs in Government, Vol. 1, Citizens and the State, Oxford 1995, S. 27-51, 42, 50; Roberto Biorcio/Renato Mannheimer, Relationships between Citizens and Political Parties, ebd., S. 206-226; Kluxen (wie Anm. 9), S. 267ff. Richard Topf, Beyond Electoral Participation, in: Klingemann/Fuchs (wie Anm. 32), S. 52-91, 73; zur empirischen Ermittlung der Voraussetzungen von Konfliktbereitschaft und Protesthaltungen auch: Max Kaase/Alan Marsh, Political Action. A Theoretical Perspective, in: Samuel H. Barnes u. a. (Ed.), Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills, CA/London 1979, S. 27-56.

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ten^'*. Die Parteien und Institutionen hatten in der Tat Konkurrenz von den „neuen sozialen Bewegungen" erhalten. Deren erklärte Ziele, endlich völlige Abrüstung und weltweiten Frieden, totalen Umweltschutz und kompromißlose Frauenemanzipation zu verwirklichen, wurden unterfüttert von dem „alten" Argument, daß Individualität und Autonomie durch die Einfügung in die Zwänge repräsentativ sich verstehender politischer Parteien aufgehoben und korrumpiert würden. Die zunächst als Einzelkämpfer auftretenden sozio-kulturellen Kritiker der korrupten Wohlstandsgesellschaft und ihres angeblich obsoleten Parteiengefüges beschritten allerdings selbst den Weg zur Bewegung und Parteibildung, gut ablesbar an dem Aufstieg der Grünen^^. (Der Übergang zu organisierter Gewalt und Terror bleibt hier außer Betracht.) Die wahlstrategisch und medientaktisch operierenden „catch-all-parties" oder Volksparteien reagierten entgegenkommend und zuweilen hilflos: Sie suchten sich den neuen Werten und Konjunkturen unter dem Eindruck ihrer Anpreisung in den Medien zu öffnen und riskierten damit eine Verwischung ihres Profils; so erweckten sie den Eindruck programmatischer Unsicherheit oder Unverbindlichkeit; ihnen drohte Ansehens- und Kompetenzverlust in der Öffentlichkeit. Die neuen Herausforderungen beeinträchtigten und veränderten den für die Konstituierung demokratischer Staatsführung unerläßlichen Wettbewerb von Massen- und Mehrheitsparteien, die eine Regierungsbeteiligung über den möglichst breiten Konsens ihrer Wählerschaften erstrebten. Die bisher dadurch erreichte Stabilität wurde als undemokratisch verdächtigt. Daß sie ein hohes Gut unter den veränderten Bedingungen demokratischen Staatslebens nach 1945 dargestellt hatte und ihr Verlust schwer zu verschmerzen sei, blieb eigentümlich unreflektiert. Man machte sich zu wenig bewußt, daß ein demokratischer Staat nicht Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Westem Publics, Princeton, NJ 1977; ders., Culture Shift in Advanced Industrial Society, Princeton, NJ 1990, S. lOff., 422-433; Elinor Scarbrough, Materialist Postmaterialist Value Orientations, in: Jan W. van Deth/Elinor Scarbrough (Ed.), Beliefs in Government, Vol. 4, The Impact of Values, Oxford 1995, S. 123-159. Claus Offe, Reflections on the Institutional Self-Transformation of Movement Politics. A Tentative Stage Model, in: Russell J. Dalton/Manfred Kuechler (Ed.), Challenging the Political Order. New Social and Political Movements in Western Democracies, Cambridge 1990, S. 232-250, 242f.; eher wirtschaftliche Ursachen (Verlierer und Gewinner der ökonomischen Modernisierung) sieht hinter den „New social Movements" Hanspeter Kriesi, Movements of the Left, Movements of the Right. Putting the Mobilization of two New Types of Social Movements into Political Context, in: Herbert fötschelt u. a. (Ed.), Continuity and Change in Contemporary Capitalism, Cambridge 1999, S. 3 9 8 ^ 2 3 .

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mehr in derselben Weise stabil уегкофег! oder repräsentiert werden konnte wie der monarchische Staat mit seiner longue durée. In einer Demokratie wie der Bundesrepublik war ein objekthaft gedachtes Einheitszentrum der Staatsgewalt oder -Souveränität offenbar nicht mehr gegeben, auf das die klassischen" Partizipations- und Repräsentationsmodelle, mit denen die systematische Politikwissenschaft die Funktion der Parteien, Verbände und Parlamente im Staat zu erfassen gewöhnt war^^, hätten bezogen werden können. Die vordem bestehenden großen Kerne gesellschaftlich-politischer Interessenartikulation, die als Gegenmächte der Parteien angesehen werden konnten, gehören - in Deutschland allerdings mit Ausnahme der Gewerkschaften - in vielen europäischen Ländern und in den USA längst der Vergangenheit an oder haben eine sekundäre oder tertiäre Rolle bezogen: Dazu zählten etwa die Dynastien, das Militär, mit besonderen Vollmachten ausgestattete Staatsmänner, eine eigenständige und selbstbewußte Bürokratie, unabhängige Großverbände oder mit dem Staat kooperierende gesellschaftliche Institutionen wie der Adel oder (mit Einschränkungen) die^Kirchen; Frankreich und die USA erhielten sich immerhin die Präsidentschaft als überragendes Kompetenzzentrum. Die demokratischen Volksparteien, in Westdeutschland die großen Errungenschaften der Nachkriegszeit, werden aber nicht nur von kessen Außenseitern bedrängt, sondern in der Spaß- und Freizeitgesellschaft als Show- und Talkobjekte präsentiert zum Anfassen und Ausprobieren oder gar zum Wegwerfen wie verbrauchtes Konsumgut^^. Die Propagierung der Effizienz der Wirtschaft - so lebenswichtig diese ist - als Politiksurrogat bietet ebenfalls keine Lösung des Problems. Dieser Zustand scheint selbst für die aufbegehrenden Alternativen oder die gemäßigten Staatsskeptiker einigermaßen unbefriedigend zu sein. In seiner Gunnar Myrdal Lecture an der Universität Stockholm von 1990, abgedruckt in der sozial-demokratischen US-Zeitschrift Dissent, konstatiert Michael Walzer^^ ein Defizit an Zusammenhalt und Organisation in Staat und Gesellschaft. Für gewisse historisch legitimierte Lösungsversuche der Staatsorganisation sieht er in der Gegenwart keinen Platz mehr: 1) Die neo-klassische Republik des Aktivbürgertums, die

^^ Heinrich Oberreuter, Pluralismus und Antipluralismus, in: ders. (Hrsg.), Pluralismus. Grundlegung und Diskussion, Opladen 1980, S. 13-35, 25ff. Dazu u. a.; Thomas Meyer, Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt/M. 2001, S. 119-132: „Mediokrität und Infantilisierung"; Andreas Dömer, Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M. 2001. The Idea of Civil Society, in: Dissent (Spring 1991), S. 2 9 3 - 3 0 4 .

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bis in die Antike zurückzuverfolgen sei, sei mit ihrem demokratischen Idealismus in der komphzierten und anstrengenden Arbeitswelt der Gegenwart längst nicht mehr zu verwirklichen; 2) der ,Jclassische" Marxismus biete keine akzeptable Lösung für die Organisation des Staats, weil er die Staatsgewalt unzulässig unterschätze; 3) die kapitalistische Vision, den Staat nach reinen Marktgesichtspunkten neu zu ordnen und weitgehend zu entmachten, reduziere den Bürger zum bloßen Konsumenten und beruhe auf den irrealen Prämissen von vornherein gleicher Wettbewerbschancen; 4) auch der klassische Nationalstaat, der das Individuum mit dem Volk und seiner Geschichte identifizierte, scheide wegen seiner kulturellen Abschließung und seiner Gegnerschaft gegen Minderheiten als umgreifendes staatliches Gestaltungsprinzip aus. Walzer plädiert statt dessen für das Konzept der „civil society", die allerdings einzelne nützliche Elemente aus den aufgeführten historischen Staatsorganisationen adaptieren soll. In die Gesellschaften der fortgeschrittenen kapitalistischen oder sozialdemokratischen Staaten, so sein Befund, ist eine schwer erträgliche soziale Beziehungslosigkeit eingezogen; daraus folgen Desorganisation, Gewaltbereitschaft, Entfremdung und Einsamkeit. Solidarität und Hilfsbereitschaft, die kameradschaftliche Zusammenarbeit im Alltagsleben, sind geschwunden, die sozialen Grundlagen in Familie und Erziehung sind tief geschwächt^'. Gefordert ist nichts weniger als ein Neuaufbau der Gesellschaft von unten. Ehrgefühl, Vertrauen, „civility", „civil friendship" müssen wieder in das soziale und politische Leben einziehen'"'. Dem Staat soll die Aufgabe zufallen, die Netzwerke der neu zu bildenden, kleinen, überschaubaren, nach Beruf, gesellschaftlichem Engagement, selbstgewählten Pflichten einzurichtenden Verantwortungsgemeinschaften zu schützen und zu begünstigen. Die Mitwirkung in Parteien, an Wahlkämpfen rückt dabei in den Hintergrund; „small-scale activities" wie Eintreten für ethnische MinVgl. Mihali Csikszentmihalyi, Contexts of Optimal Growth in Childhood, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences 112/1 (1993), S. 31-56; zum Hintergrund der Säkularisierung und Entchristlichung westlicher Gesellschaften (1956, nach andern 1963, 1965 einsetzend) Alan D. Gilbert, The Making of PostChristian Britain, London 1980; Sydney E. Ahlstrom, A Religious History of the American People, New Haven 1972; Adrian Hastings, A History of English Christianity 19201985, London 1986; Gérard Cholvy/Yves-Marie Hilaire, Histoire religieuse de la France contemporaine, T. 3 (1930-1988), Toulouse 1988; Hugh McLeod, Religion and the People of Western Europe 1789-1989, Oxford 1997. Michael Walzer, Toward a Theory of Social Assignments, in: W. Knowlton/R. Zeckhauser (Ed.), American Society, Cambridge, MA 1986, S. 79-96; vgl. Frank Heam, Moral Order and Social Disorder. The American Search for Civil Society, New York 1997, S. 17If.

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derheiten oder feministische Anliegen, sind gefragt'". Andere Anwälte der „civic Community" schlagen den Bogen zurück bis zu Alexis de Tocquevilles Preis der moralischen und intellektuellen Assoziationen als der eigentlichen Konstituentien einer neuen Gesellschaft der Freien und Gleichen. Gegenüber dem neo-absolutistischen Europa seiner Zeit hatte Tocqueville auf die in den USA wirksame gesellschaftliche Kraft ziviler Organisationen hingewiesen, unter denen er allerdings weniger die politischen Parteien als die Vereinigungen der Industrie verstand'^^. Hätten aber diese neuen bürgerschaftlichen Institutionen, so wäre zu fragen, die Kraft und Fähigkeit, die aus dem Nation-Bildungsprozeß des 19. und 20. Jahrhunderts hervorgegangenen Stabilitätsgaranten, zu denen letztlich auch die demokratischen Parteien zu rechnen sind, zu ersetzen"*^? Man ist geneigt zu zweifeln, ob ein entsprechendes Problembewußtsein empirische Studien erfaßt hat, die sich auf die bloße Ermittlung politischer Verhaltensdispositionen oder Einstellungen beschränken. Auch in abgeklärt sozialwissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Dekade hallt der politik-kritische Unterton der großen Aufbruchstimmung der ausgehenden 1960er Jahre nach. Substantielle sachliche Erörterungen und Abgrenzungen, etwa wie weit die Staatssphäre aus welchen Gründen und bei welchen gegebenen Voraussetzungen reichen solle, sind bei Verfechtern der „civil society" eher selten anzutreffen. Ihre gutwillig anmutenden Selbstfmdungsbemühungen erwecken angesichts einer komplizierten, oft Zerreißproben ausgesetzten Gesellschaft einen zuweilen bukolischen Eindruck. Doch ist vieles an ihrer Kritik berechtigt, verdienen manche ihrer Vorschläge Beherzigung. Ihr Irrtum, den schon Ostrogorski beging, besteht darin, das Leben des Staats und des Gemeinwesens zu sehr auf gesellschaftliche und alltägliche Prozesse Walzer, Idea (wie Anm. 38). ^^ „There are not only commercial and industrial associations in which all take part, but others of a thousand different types - religions, moral, serious, futile, very general and very limited, immensely large and very minute [...] Thus the most democratic country in the world now is that in which men have in our time carried to the highest perfection the art of pursuing in common the objects of common desires and have applied this new technique to the greatest number of purposes". Zitiert nach Robert D. Putnam/Robert Leonardi/Raffaela Y. Nanetti, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modem Italy, Princeton, NJ 1993, S. 89f., rekurrierend auf: Α. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Teil 1, 1835, Teil 2, 1840; deutsche Ausg. München 1976 (aus dem Französ. übertragen von Hans Zbinden). Colin Crouch, Social Change in Western Europe, Oxford 1999, S. 425, 411f. (Postmodernismus); Bedeutung des „nation building" für demographische Prozesse: Susan Cotts Watkins, From Provinces into Nations. Demographic Integration in Western Europe 1870-1960, Princeton, NJ 1991.

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eingeengt zu sehen und die genuin politische Komponente menschlichen Zusammenlebens zu vernachlässigen. In der Politik allerdings geht es um Existentielles. Individuen und Gemeinschaften wollen leben und überleben. Dazu bedarf es der Normen und Institutionen. Nach der Meinung des eigenwilligen spanischen Kulturphilosophen José Ortega y Gasset hat sich das Phänomen der Masse im 19. Jahrhundert dort ausgebildet, wo diese Erfahrung, vor allem aufgrund der technischen Revolution und ihrer Folgen, den Menschen abhanden kam. Keineswegs nur die sog. Unterschichten hätten sich angewöhnt, die von anderen produzierten Güter der Zivilisation für absolut selbstverständlich zu halten und nicht mehr als Leistung und Frucht von Entsagung zu würdigen. Den Massen sei die Erfahrung von Begrenzung, Verpflichtung, Abhängigkeit und Druck, die in frühen Jahrhunderten selbstverständlich gewesen sei, abhanden gekommen. Daraus resultiere ihre Leichtgläubigkeit, ihre Anfälligkeit für Krisen und demagogische Verführer, ihr Verzicht auf Sinngebung, zuletzt die Stagnation der europäischen Kultur. Weil dieser Autor schon in den 1920er Jahren davon ausging, daß das Rad nicht mehr zurückzudrehen war und daß in den parlamentarisch verfaßten Staaten, die er gegen den Faschismus verteidigte, die Entscheidung bei den Massen lag, verlangte er, zu einem tieferen, existentiellen, vitalen Bewußtsein zurückzukehren. Ein Mittel, dies zu erreichen, schien ihm in der Idee des europäischen Zusammenschlusses zu liegen, die er zehn Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs propagierte, um die herrschende politische Lethargie und die daraus unvermeidlich folgende Regression der europäischen Zivilisation zu überwinden. Das Werden der europäischen Nationen mit ihrer willkürlichen Vereinheitlichung von Sprache und Kultur, Volksvertretung und Regierung, sah er als Resultat bewußten politischen Planens und Wollens an, das sich auch zur Übertragung auf größere Einheiten eigne'*^. Die Nationen oder die Staaten der Zukunft könnten auf das tägliche Plebiszit - nach Emest Renan - nicht verzichten; anders aber als in den auf Gefolgschaft gegründeten Staatswesen der Alten Welt erforderten die modernen Gemeinschaften, immer wieder bewußt und für eine große Anzahl von Menschen nachvollziehbar Akte der Verantwortung zu setzen, um Rückschritte zu vermeiden und inneren Zusammenhalt zu gewährleisten. José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen. Übersetzung von Helene Weyl, hrsg. von Ernesto Grassi, München 1958 (span. 1930: La rebelión de las masas), S. 40-70, 109ff., 124-131. Vgl. Klaus Hildebrand, Nation, in: Winfried Becker u. a. (Hrsg.), Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn u. a. 2002, S. 599f.

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1st man für solche Anregungen offen und überblickt man den glücklichen Gang der europäisch-atlantischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, wo grundlegende Orientierungen und Partnerschaften aus dem Zusammenwirken parlamentarischer, von demokratischen Parteien organisierter Staaten hervorgingen, so erscheint das Wirken der aus der Erfahrung diktatorischer Irrwege hervorgegangenen Volksparteien weiterhin als sinnvoll und unentbehrlich. Für Parteipolitik wie für Politik allgemein gilt: daß sie moralische Qualität hat, daß sie freie, flexible, schöpferische, Gemeinsinn voraussetzende Aktivität ist, insofern grundlegend verschieden - trotz aller ihr anhaftender Unvollkommenheiten von autokratischer und totalitärer Unterdrückung'*^. Die Zivilgesellschaft mit ihren wieder notwendig gewordenen Tugenden kann ohne Politik und Wettbewerb"® nicht bestehen. Volksparteien werden benötigt als Organe der Entscheidungsfindung und Agenturen des inneren Zusammenhalts eines demokratischen Staates, der nicht mehr auf Zwang und sozusagen höheren Vorgaben eines verabsolutierten Staatsbegriffs beruht. Ihre Pflicht bleibt, auf neue Entwicklungen zu reagieren, sich nicht dem hedonistischen Zeitgeist oder dem Massengeschmack auszuliefern, ihrem Volk Aufgaben, Programme und Alternativen zu präsentieren, ihm existentielle Gefährdungen bewußt zu machen und ihm damit die tägliche Abstimmung über die Zukunft seiner Zivilisation zu erleichtem und transparent zu machen. So bleibt den Volksparteien keine andere Wahl, als sich zu Anwälten eines recht verstandenen Gemeinwohls aufzuschwingen, wenn nötig auch in der kämpferischen Auseinandersetzung mit romantischer Kulturkritik, leichtfertigem Utopismus und unbedarftem „Gut-Menschentum". Wenn - möglichst nur in Grenzsituationen und schweren Entscheidungen - der Identifikation fordernde oder de facto bewirkende Mehrheitswille gilt, dann muß auch Platz sein für Führung und auf Popularität beruhende Autorität. Daß aus der demokratischen Identifikation mit der Idee des allgemeinen Besten gemäß dem Leibholz'sehen Ansatz die Gefahr von Unterdrückung und Totalität drohe, ist nicht ein für allemal von der Hand zu weisen; um so unerläßlicher sind Freiheitsgarantien zu fordern, die abstrakt begründet werden müssen, die aber inzwischen auch schon konkret der Erfahrung mit demokratischem Regieren zu entnehmen sind. Welche Ansätze zur Ermittlung eines Regelwerks zivilisierten staatliBernard Crick, In Defence of Politics, Harmondsworth/New York 1983 (^1982, '1962), S. 140-194, Chapter 7: In Praise of Politics; vgl. Kluxen (wie Anm. 9), S. 273f. Peter Mair, Party System Change. Approaches and Inteφretations, Oxford 1997, S. 199-223: Party Systems and Structures of competition.

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chen Zusammenlebens können aufgezeigt werden? Die Tendenz zur Identifikation mit der Gesamtheit eines Staatswesens enthält auch Elemente der Unmittelbarkeit, den Aufruf zur Selbsttätigkeit, Selbstregulierung und Selbstfmdung ohne Einschaltung einer vermittelnden Fremdinstanz. In den USA begünstigt sie die Neigung zum nationalen Konsens anläßlich von Krisen und äußeren Herausforderungen. Durch ihre Geschichte als demokratisch ausgewiesene Parteien dürfen sich schon aus politischer Klugheit, um der wachsenden Politikverdrossenheit vorzubeugen, gegenseitig nicht kriminalisieren, sondern sollten sich als legitime politische Konkurrenten um die Führung im Staat anerkennen; darin besteht z.B. der fundamentale Unterschied zwischen den modernen politischen Parteien Englands und ihren die Verdrängung und kompromißlose Bekämpfung des Gegners nicht scheuenden Vorläufern im 17. und 18. Jahrhundert. Eine Aufgabe der „civil society" könnte auch darin bestehen, die Volksparteien wieder mehr im Vorfeld gesellschaftlicher Organisationen zu verankern, während eine zur gänzlichen Professionalisierung drängende Partei-Organisation bei bestimmten Rahmenbedingungen heute Gefahr läuft, den „Abschied von der Massenpartei" zu gewärtigen''^; Rückhalt in einer gegliederten Gesellschaft zu haben, war eine Stärke der Zentrumspartei und anfänglich auch der Unionsparteien. Heute ist anscheinend der viel kritisierte Staatszuschuß an die Stelle dieses parteipolitischen Subsidiaritätsprinzips getreten. Die Chance zum Wechsel muß institutionell gewährleistet sein, dazu bedarf es unbedingt der Freiheit und Unabhängigkeit der Presse sowie der anderen Medien; dazu gehört auch die Offenlegung finanzieller Abhängigkeit nach außen hin eigenständig auftretender Zeitungen von mächtigen Massenparteien. Wie das Beispiel Italiens zeigt, kann die jahrzehntelange Vormachtstellung einer Partei sogar in einen Parzellierungsprozeß der gesamten Parteienlandschaft münden; das unterscheidet freie von unfreien Gesellschaften. In Massenparteien ist oft eine innerparteiliche Gruppenbildung zu beobachten; dadurch kann ihr Streben nach Vorherrschaft begrenzt werden. So gewann der republikanische Präsident Dwight D. Eisenhower für seinen Kurs der Mitte Zulauf von Seiten der Demokratischen Partei der USA. In der Bundesrepublik bildete es geradezu den Regelfall, daß die Massenparteien der CDU und CSU und der SPD auf Koalitionen mit kleineren Partnern angewiesen waren. Bekanntermaßen hemmen auch andere, 1ппефаг1е1ИсЬе oder vom Grundgesetz gebotene Konsensmechanismen die Tendenz zur Karsten Grabow, Abschied von der Massenpartei. Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung, Wiesbaden 2000.

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Identifikation der Mehrheitsparteien mit dem Gesamtwillen. Die föderalistische Struktur der Bundesrepublik setzt sich z.B. bis in die Landesverbände der CDU fort, die ähnlich wie die CSU, sehr die Bedürfnisse der jeweiligen Bundesländer zu berücksichtigen geneigt sind. Der Bundesrat steht seiner Funktion nach außerhalb der eigentlichen Parteipolitik, wenn er auch oft von dieser beeinflußt oder gar instrumentalisiert wird. Wegen der auf Kommunal-, Länder- und Bundesebene abzuhaltenden Wahlen findet die allgemeine Partizipation auf drei unterschiedlichen Ebenen statt. Das in Deutschland absolut dominierende Proportionalwahlrecht gibt kleineren Parteien eine Chance und bremst die sich über starke Minderheiten hinwegsetzende Bildung knapper Mehrheiten. Allerdings diente in den Anfängen der Bundesrepublik die Einräumung der Dezision an die von Regierungsparteien getragene parlamentarische Mehrheit ein notwendiges Gegengewicht gegen die in der Besatzungszeit geförderten und erstarkten föderalen Kräfte und gegen die Bildung entscheidungsschwacher Großer oder All-Parteien-Koalitionen. Schließlich ist auch der deutsche „Parteienstaat" gehalten, die Institutionen bis zu einem erheblichen Grad in ihrer Eigenständigkeit zu achten. Das gilt besonders für die Verfassung, das Grundgesetz, das nicht willkürlich interpretierbar ist. Das Bewußtsein der Veφflichtung gegenüber dem Grundgesetz sollte eigentlich so groß sein, daß sich für staatstragende Parteien parlamentarische Koalitionen mit dem rechten oder linken Extremismus von selbst verbieten. Aber auch die dem Arbeits-, Wirtschafts- und Kulturleben dienenden Institutionen sollten ihre historisch gewachsene Eigenart bewahren dürfen. Ihre Unabhängigkeit liegt, schon um auf bestimmten Gebieten wie der Wissenschaft konkurrenzfähig zu bleiben, im wohlverstandenen Interesse der das Subsidiaritätsprinzip beachtenden Regierungs- und Mehrheitsparteien. Sachverstand sollte mehr gelten als ideologische Voreingenommenheit oder kurzschlüssiges Effizienzdenken. In der Weimarer Republik war die Besetzung staatlicher Stellen mit Abgeordneten oder Mitgliedern der Parteien (Zentrum, SPD, Liberale) als Fortschritt zu werten, weil bis dahin hohe Beamtenfunktionen meist angeblich unparteiischen Konservativen vorbehalten gewesen waren. Andererseits riß in der Republik Österreich und in der Bundesrepublik der Mißbrauch ein, das passende Parteibuch auch für gänzlich unpolitische Stellenbesetzungen zu verlangen. Es scheint heute in Deutschland fast utopisch, einen Personentransfer von beruflich hochqualifizierten und lebenserfahrenen Menschen in die Politik zu fordern, der in den USA eine Selbstverständlichkeit ist.

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Winfried Becker

Der institutionelle Aspekt kann schließlich auch auf die Außenpolitik bezogen werden. Mehr als zuvor wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Demokratie im Verbund der demokratisch verfaßten Völker erfahren. Die Europäische Union und darüber hinaus die Völkergemeinschaft geben heute den Einzelstaaten schon oft Normen und Weisungen vor, die in einem bestimmten Umkreis das Entstehen einer durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Autarkie gehaltenen Diktatur kaum noch zulassen. Pluralität ist ein modernes, aber auch allgemein gültiges, normales Gesetz des menschlichen Zusammenlebens. Recht besehen dürfte kein Widerspruch darin liegen, sie zu erhalten und zu mehren und dennoch die Führung des demokratischen Gemeinwesens mit seinen verfassungsrechtlich garantierten, ideellen Grundlagen demokratisch verfaßten und zugleich entscheidungsfähigen Volks-, Mehrheits-, Regierungs- und Massenparteien auf Zeit zu überantworten. Ja man kann sogar so weit gehen zu behaupten, daß sie angesichts der geschilderten konstitutionellen und institutionellen Einschränkungen und der eigenen bereits entwickelten Konsensstrukturen keine Graswurzel-Revolution benötigen, sondern durch ihre Existenz - wie in der Adenauer-Ära zuerst bewiesen - demokratische politische Handlungsfähigkeit erst verbürgen. Auch angesichts der Zuwanderungsprobleme könnte das Identifikationsmodell neue Aktualität gewinnen, wenn es die Loyalität zur staatlichen Gemeinschaft, zu einer gemeinsamen, historisch fundierten Kultur befördern würde. Freilich ruht auf allen Mehrheitsentscheidungen, die im übertragenen Sinne der Aktivbürgerschaft des klassischrepublikanischen Idealtyps getroffen werden, ein besonders hohes Maß von Verantwortung.

Georg Rudinger Medienmacht und Massenwirkung. Von der fragmentierten Öffentlichkeit zur internationalen Kommunikationsgemeinschaft?

Medienmacht Die Formel „Medienmacht und Massenwirkung" geht von einer Annahme aus, die so alt ist wie die Medien selbst, nämlich: Medien und Macht gehen Hand in Hand (vgl. etwa Murdoch, Turner, Berlusconi)'. Es wird dabei natürlich auch immer wieder unterstellt, daß Massenmedien wirken^. Diese stillschweigende oder auch explizite Annahme ist es sicherlich, die auch dazu führt, daß Macht über Medien begehrt ist, einmal abgesehen davon, daß Medienmacht Bekanntheit und Reichtum mit sich bringt, so daß solche Sekundärmotive durchaus zu berücksichtigen sind. Die Macht der Medien ist unter wirtschaftlichem Aspekt in der Tat beträchtlich. Das Umsatzvolumen der 50 größten Medienkonzerne betrug im Geschäftsjahr 1998 insgesamt 258 Milliarden Euro, dies ist eine Steigerung von 60 Prozent in einem Zeitraum von drei Jahren. Noch beeindruckender ist der Umsatzsprung bei den ersten zehn Unternehmen der Rangliste: von 70 Milliarden Euro auf 134,4 Milliarden Euro (plus 86 Prozent). Dabei werden die Prozesse von Machtkonzentration und ' Am Beispiel seines eigenen Konzems führte jedoch Hermann Ullstein vor, daß Organisationsmacht nicht gleichbedeutend mit Meinungsherrschaft war. Tag für Tag hätten seine Massenblätter in der „Kampfzeit" der frühen 1930er Jahre das Idol der Massen zu demontieren versucht, und trotzdem sei Hitler auch von der eigenen liberalen Leserschaft gewählt worden. Wäre das heute so noch möglich? ^ Vgl. Margot Berghaus, Wie Massenmedien wirken. Ein Modell zur Systematisierung, in: Medien und Kommunikationswissenschaft 47 (1999), S. 81-199; Heinz Bonfadelli, Medienwirkungsforschung II: Anwendungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, Konstanz 2000; Hans-Bernd Brosius, Modelle und Ansätze der Medienwirkungsforschung. Überblick über ein dynamisches Forschungsfeld, Bonn 1997; Peter Winterhoff-Spurk, Medienpsychologie. Eine Einführung, Stuttgart 1999; Ders., Kassensturz - zur Lage der Medienpsychologie, in: Zeitschrift für Medienpsychologie 13 (2001), S. 3-10.

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vertikaler Integration allen Prognosen nach noch erheblich an Wucht und Geschwindigkeit zunehmen. Große Konzerne werden entweder Medienkonzerae oder gar keine mehr sein^. Das Wachstum von Medienkonzemen wird als Lokomotive und symbolisches Leitmotiv für Strukturwandel und Globalisierung angesehen. Wie wird aber am Ende dieses Weges vom ,J4euigkeitentrödler" des 18. Jahrhunderts über die ersten großen Pressetrusts und Nachrichtenagenturen, über Citizen Kane und Hugenberg bis zu Disney, Microsoft und AOL-Time Wamer, das alle wichtigen Kommunikationsmittel und publizistischen Kanäle beherrschende Weltmedienuntemehmen letztendlich aussehen? Mediengeschichte, die dies nachzeichnet (und prognostiziert), ist in erster Linie als integraler Teil einer umfassenden Politikgeschichte zu betrachten, einer Politikgeschichte, die Herrschaft auch als öffentliche Darstellung von Machtansprüchen versteht, die ihr Augenmerk auf die sich wandelnden Formen der Inszenierung und Medialisierung von Herrschaft richtet, und die berücksichtigt, daß sich politisches Handeln unter dem Einfluß der Wirklichkeitsinterpretation durch die Medien selbst ständig verändert·*. Es entwickelte sich eine spezifische Nähe und eine neue, wechselseitige Abhängigkeit zwischen Politik und Medien^. So konnte die gezielte Preisgabe von Herrschaftswissen zwar durchaus auf loyales Verhalten bei den bevorzugten Journalisten rechnen, eine Informationssperre bei den Betroffenen aber eben auch eine umgekehrte Reaktion auslösen: „Wenn ich Journalisten mit Neuigkeiten versehe, dann tun sie mir auch einen Dienst, aber wenn ich sie nicht damit versehe, dann tun sie mir keinen Dienst", auf diese lakonische Herrschaftsformel brachte Konrad Adenauer einmal den Sachverhalt. Es ist zwar ein alter Irrglaube der Politiker, daß man - gleichsam losgelöst von realen politischen Konzepten und Leistungen - im Bündnis mit Medienkonzemen und ihren Lenkern Wahlen gewinnen könne, andererseits aber können Parteien und einzelne Politiker auf Dauer wohl kaum noch

' Vgl. Lutz Hachmeister/Günther Rager, Wer beherrscht die Medien? Die 50 größten Medienkonzeme der Welt, München 2000. Vgl. Andreas Schulz, Der Aufstieg der „vierten Gewalt". Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 65-97. ' Vgl. Kari-Rudolf Körte, Politik und Medien, Herausforderungen für die vergleichende Regierungslehre, Vorlesungsskript 2001, verfügbar unter: www.karl-rudolfkorte.de/polmed.html.

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gegen mächtige Medienuntemehmen handeln, wenn sie in ihrem Metier überleben wollen^. Zur Beschreibung und Analyse des Verhältnisses von Mediensystem und politischem System gibt es einige Paradigmen. Das Spektrum reicht dabei von der Vorstellung zweier voneinander unabhängiger Systeme („Gewaltenteilungsparadigma") über die Annahme einer Grenzverschiebung des einen Systems auf Kosten des anderen („Instrumentalisierungs"- bzw. „Dependenzparadigma") bis hin zu der Ansicht, es existiere eine Interdependenz („Symbioseparadigma") beider Systeme, bzw. es komme sogar zu deren Verschmelzung („Supersystem")\

Massenkommunikation Die Kommunikationswissenschaft war in ihren Anfängen unlösbar mit dem Massenbegriff verbunden, der seinerseits mit ausgesprochen negativen sozial- und kulturkritischen Assoziationen einherging. Der zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierenden Massenpsychologie lag paradoxerweise ein individual-psychologischer Ansatz zugrunde, der auf dem Schema von Suggestion und Nachahmung basierte. Man glaubte, daß im Verlaufe der Industrialisierung und der damit verbundenen Urbanisierung die Primärgruppenbindungen weitestgehend zusammengebrochen seien. Da der soziale Rückhalt fehle, seien die sozial isolierten Menschen charismatischen Massenführem (bzw. den modernen Massenmedien) wehrlos ausgeliefert*. Im Zusammenhang mit dem Be® Vgl. Peter Winterhoff-Spurk, Politische Eliten in der Mediengesellschaft, München 1999. ^ Otfried Jarren/Hans-Jürgen Arlt, Kommunikation, Macht, Politik, in: WSI-Mitteilungen 50 (1997), S. 480-486. ' Der französische Arzt und Soziologe Gustave Le Bon (Psychologie des foules, Paris 1895) prognostizierte, daß das kommende Zeitalter das ,^eitalter der Massen" sein werde. Dabei steht das Verhältnis von Führer und Masse im Zentrum der Analyse von Le Bon. Eine starke Persönlichkeit zwinge der nach Führung dürstenden Masse ihren Willen auf. Le Bon stand mit seinen Thesen keineswegs alleine. So sah der italienische Kriminalanthropologe Scipio Sighele (La folla delinquente, Florenz 1891) in der Masse einen Nährboden, „auf dem sich der Bacillus des Bösen sehr leicht entwickelt und in dem der des Guten fast immer zugrunde geht, weil er darin nicht seine Lebensbedingungen findet." Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (Der Aufstand der Massen, München 1961) schrieb: „Wenn die Masse selbständig handelt, tut sie es nur auf eine Art: sie lyncht." Der Sozialpsychologe Peter Hofstätter (Die Kritik der Massenpsy-

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griff ,>lassenkommunikatìon" bezeichnet Masse eine Vielzahl von Rezipienten in ihren sozialen Bindungen. Der Massenbegriff ist von Konzepten wie „soziales Aggregat", „Kollektiv", „Menge", „Publikum" usw. nicht eindeutig abgegrenzt. Auf keinen Fall ist damit heute, wie in frühen massenpsychologischen Ansätzen, eine größere Anzahl von Menschen gemeint, die unter bestimmten situativen Bedingungen geßhlsmäßig zu einer Einheit zusammengeschlossen sind und zu reinen Affekthandlungen verleitet werden können. Die folgende Begriffsbestimmung stellt eine Erweiterung der klassischen Definition von Maletzke aus dem Jahr 1963 dar': Im Massenkommunikationsprozeß werden * Inhalte, die im überwiegenden Maße für den kurzfristigen Verbrauch bestimmt sind (z. B. Nachrichten, Unterhaltung), * in formalen Organisationen mittels hochentwickelter Technologie hergestellt und * mit Hilfe verschiedener Techniken (Medien) * zumindest potentiell gleichzeitig einer Vielzahl von Menschen (disperses Publikum), die für den Kommunikator anonym sind, * öffentlich, d. h. ohne Zugangsbegrenzung, * in einseitiger (Kommunikator und Rezipient können die Position nicht tauschen, die Beziehung zwischen ihnen ist asymmetrisch zugunsten des Kommunikators) und * indirekter Weise (ohne direkte Rückkoppelung) * mit einer gewissen Periodizität der Erzeugung kontinuierlich angeboten. Unter ,^assenkommunikationsmitteln " (Medien) sind also technische Mittel zu verstehen, die zur Verbreitung von Inhalten an ein Publikum dienen. Diese Kriterien eignen sich zur Beschreibung der Massenkommunikation durch Medien wie Presse, Radio und Femsehen. Für die sogenannten „Neuen Medien" scheint diese Definition allerdings nicht mehr adäquat. Der Begriff ,J4eue Medien" wird vor allem als Oberbegriff für eine Vielzahl von neuartigen Produkten und Diensten aus dem chologie, Hamburg 1957) faßte die Gedanken der Massenpsychologen folgendermaßen zusammen: „Vergewaltigt zu werden, von Führern, Reklamechefs, Propagandisten und Scharlatanen - so scheint es - , ist das Hauptanliegen der ,der Masse'; und wo sie nicht vergewaltigt wird, möchte sie doch mit dem Angebot wertlosen Tands und banaler Oberflächlichkeit in einen apathischen Schlummer gewiegt werden." Die Vorstellung über den Charakter der Massenmedien wurde durch derartiges kulturpessimistisches Gedankengut entscheidend geprägt. ' Gerhard Maletzke, Psychologie der Massenkommunikation: Theorie und Systematik, Hamburg 1963.

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Computer-, Telekommunikations- und Medienbereich verwendet. Diese Produkte und Dienstleistungen haben im wesentlichen drei gemeinsame Merkmale: * Die Möglichkeit der interaktiven Nutzung * Die integrative Verwendung verschiedener Medientypen (Multimedia) * Digitale Technik als Basis Die Interaktivität ist in der Tat ein herausragendes Merkmal zahlreicher Multimedia-Anwendungen, bei denen der Nutzer über vielfältige Eingriffsmöglichkeiten verfügt, und so die Inhalte erst auf seine Spezifikation hin in einer bestimmten Form dargestellt oder generiert werden. Viele interaktive Dienste weisen auch Komponenten inteφersonaler Kommunikation auf. Damit geht auch ein elementarer Wandel im Verständnis von Massenmedien einher. Von einer massenhaften Verbreitung an ein disperses Publikum kann in diesem Zusammenhang nicht mehr gesprochen werden, denn die Entwicklung geht unter dem Einfluß der Neuen Medien hin zu einer „On-Demand-Kommunikation", einer Kommunikation auf Wunsch'".

Gesellschaftliche Folgen neuer Kommunikationstechnologie Die Einführung neuer Kommunikationstechnologien war stets von Vorbehalten, Befürchtungen und Kritik begleitet. Andererseits werden damit aber auch große Erwartungen und neue Chancen verbunden. Allerdings ist man bei einer Einschätzung der Chancen und Gefahren noch großenteils auf Spekulationen angewiesen. Von der Verwirklichung von Multimedia wird auf der einen Seite ein Schub für das Informationsniveau der Gesellschaft erwartet. Darin liegt nämlich nicht nur ein ökonomisches Potential, sondern auch ein solches für die Entwicklung des Bildungsstandes. Der Zugriff auf Informationen erweitert sich und steht im Prinzip jedem offen. Vielfaltige Kommunikation wird danach in Zukunft den Lebensalltag der Menschen bestimmen und ihre ErlebnisVgl. Hermann Meyn, Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland, überarb. u. aktual. Neuaufl. Berlin 1996; H. Stip, Das Fernsehen und die neuen Medien, in: Media Visionen 2000 plus. Dokumentation der Medientage München '99, München 1999; Bundeszentrale für politische Bildung, Massenmedien, Online-Manuskript, verfügbar unter: www.bpb.de/info-260/bodv-i-260-imp.html [31.10.2001].

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welt bereichem". Auf der anderen Seite wird auf potentielle negative Konsequenzen von Multimedia hingewiesen. Die Nutzung von Multimedia-Techniken werde je nach finanziellen und intellektuellen Möglichkeiten unterschiedlich sein. Insofern könne sich die Wissensklufi zwischen „Informationsreichen" und „Informationsarmen" noch vertiefen. Außerdem drohe bei manchen Techniken der Verlust von Primärkontakten und damit eine soziale Isolierung. Auf normativer Ebene wird es als Funktion der Medien in einer Demokratie betrachtet, einen Beitrag zur politischen Willensbildung zu leisten und es jedem Gesellschaftsmitglied zu ermöglichen, sich zu informieren, um sich als mündiger Bürger an der Entscheidungsfindung im Staat zu beteiligen'^. Die Vorstellung, daß die Medien in der Lage sind, diese Aufgabe zu erfüllen, wird jedoch von der WissenskluftHypothese in Frage gestellt. Sie behauptet, daß die Ausweitung des Informationsangebots nicht automatisch einen Wissensanstieg zur Folge habe. Massenkommunikation könne dysfunktionale Konsequenzen für eine Gesellschaft bewirken, da nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen von Medieninformationen profitierten, sondern im Gegenteil bestehende Ungleichheiten sogar noch verstärkt würden.

Wirkungsforschung Die Frage nach der Wirkung ist eigentlich die Kernfrage der Konmiunikationswissenschaft. In den Anfängen ging es natürlich um die Wirkung von Presse und Hörfunk, in den letzten Jahrzehnten verschob sich das Gewicht hin zum Femsehen mit einem explodierenden Forschungsaufkommen und in jüngster Zeit werden zunehmend auch die neuen inter" Vgl. Jürgen Wilke, Strukturwandel durch neue Kommunikationstechnologien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 46 (1996), В 32, S. 3-15. Zu den am häufigsten genannten gesellschaftlichen Funktionen der Massenmedien (Vgl. Jürgen Wilke, Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999) zählen dabei die folgenden: Informationsfunktion, Herstellung von Öffentlichkeit, Artikulationsfunktion, Vermittlerfunktion, Kompensationsfunktion, Reduktion von Komplexität, Thematisierungs-, Selektions-, Strukturierungsfunktion, Kritik- und Kontrollfunktion, Sozialisationsfunktion, Bildungs- und Erziehungsfunktion, Integrationsfunktion, Rekreationsfunktion bzw. Gratifikationsfunktion (Unterhaltung), und Ankurbelung der Wirtschaft durch Werbung.

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aktiven computerzentrierten Medien (Multimedia) einbezogen. Der Frage der Medienwirkung kann man aber nicht nur bezüglich der empirischen Forschungsergebnissen nachgehen, sondern auch von den theoretischen Ausgangspositionen her'^. Nach einer in der Literatur verbreiteten Darstellung lassen sich vier Phasen der Medienwirkungsforschung unterscheiden'''. Reiz-Reaktions-Wirkungsschema Die Anfangsjahre der empirischen Wirkungsforschung waren geprägt von der Vorstellung übermächtiger Medienwirkungen. Massenmedien galten als Überredungsmaschinen mit persuasiver Macht, die in der Lage sind, nach einem behavioristischen Reiz-Reaktions-Schema Wirkung hervorzurufen (auch transmission belt oder hypodermic needle). Vielleicht sind gerade die frühen Filme wie Citizen Kane oder auch Orson Wells' Hörspiel über die Invasion der Marsmenschen in dieser Richtung interpretiert worden, wiewohl spätestens seit Lazarsfelds'^ two-step-flow of communication und opinion leader-КтШ diese Auffassung nicht mehr emsthaft vertreten werden konnte. Lazarsfelds Untersuchungen in den 40er Jahren markieren sozusagen die erste Modifikation dieser bis dahin vorherrschenden Wirkungsannahme. Das Zwei-Stufen-Fluß-Modell und das Meinungsführerkonzept Bei der Wirkung von Massenkommunikation spielen inteφersonale Kommunikationskanäle eine zentrale Rolle. Vor allem unentschlossene Wähler und solche, die ihre Meinung im Laufe der Zeit änderten, wiesen auf die Bedeutung interpersonaler Kommunikation hin. Lazarsfeld identifizierte Personen, die in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld Dabei arbeitet man mit Begriffsapparaten aus der Geschichte, der Politologie, der Soziologie, der Kulturwissenschaft. Darauf werde ich mich im folgenden nur sehr bedingt einlassen können, da ich mich in die Rolle des empirischen Wissenschaftlers begebe, der der Frage nachgeht, inwieweit die auch im Untertitel formulierten Implikationen und Konsequenzen nachweisbar sind, welcher nahe legt, daß es einen (vielleicht gar positiv bewerteten) Entwicklungsprozeß gibt, der in die internationale Kommunikationsgemeinschaft mündet, und der unterstellt, daß wir uns (früher) in fragmentierter Öffentlichkeit bewegt haben. Vgl. u. a. Hans-Bemd Brosius (wie Anmerkung 2); Jo Groebel/Peter WinterhoffSpurk (Hrsg.), Empirische Medienpsychologie, München 1989; U w e Hasebrink u. a., Mediennutzung und Medienwirkung. Hans-Bredow-Institut für Medienforschung 2001, verfügbar unter: www.rrz.uni-hamburg.de [15.10.2001]. " Paul Felix Lazarsfeld/Robert King Merton, Mass communication, popular taste and organized social action, in: Wilbur Schramm (Hrsg.), Mass communication, Urbana 1948, S. 4 9 2 - 5 1 2 .

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einen größeren Einfluß auf die Meinungsbildung ausübten als andere. Diese wurden als „Meinungsführer" (opinion leader) bezeichnet'^. Uses and gratification -Ansatz Der Perspektivenwechsel zum Nutzen- und Belohnungsansatz {uses & gratification) in den 60er/70er Jahren stellt die zweite Modifikation dar. Es geht nicht mehr um die einseitige Fragestellung, was machen die Medien mit den Menschen, sondern auch um die Gegenfrage, was machen die Menschen mit den Medien'^. Konstruktivismus versus Abbildtheorie Als dritte Modifikation läßt sich das Eingehen des sog. Konstruktivismus in die Theorie der öffentlichen Kommunikation ansehen, der die abbildtheoretischen Positionen ablöst'^. Es herrscht Konsens, daß die Mediennutzer bei der Rezeption ihre eigene Bedeutung konstruieren, anstatt die Medieninhalte in einer extern vorgegebenen Bedeutung in ihren Köpfen einfach abzubilden. Damit kommen zwei neue Konzepte ins Spiel, nämlich Selektivität und inteφersonale Beziehungen. Es geht also um Selektionsvorgänge und Bestimmungsfaktoren auf Seiten des Publikums. Das Problem in der öffentlichen Diskussion scheint zu sein, daß das alte Konzept Medienreize als Ursache für Einstellungs- und Verhaltensänderung bei den Rezipienten (also abbildungstheoretisches Wirk-Konzept) immer noch das gängige ist: Medien, speziell das Leitmedium Femsehen, liefern die Vorbilder bzw. die Ursachen, denen die Zuschauer nach dem Muster des Modellemens folgen bzw. denen sie ausgesetzt sind. Man könnte fast vermuten, daß diese Vorstellungen sich vielleicht deswegen so hartnäckig halten, weil sie einerseits für das Alltagsverständnis sehr plausibel erscheinen, andererseits die Urängste vor den Medien als „big brother" perfekt bedienen. Dieses Modell „Medien als Vorbilder, Rezipienten als Abbilder" oder Nachahmer kommt natürlich immer wieder ins Spiel, gerade wenn es um Gewalt in den Medien geht, weil dann einfache Argumentationsfiguren durch moralische Unterfütterung eher akzeptiert werden.

Vgl. Paul Felix Lazarsfeld/Bemard Berelson/Hazel Gaudet, The peoples choice. How the voter makes up his mind in a presidential campaign, New York 1944. Vgl. auch Michael Schenk/Patrick Rössler, Das unterschätzte Publikum, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1994), S. 261-295. " Vgl. auch Daniela Kloock/Angela Spahr, Medientheorien. Eine Einführung, München 2000.

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Systemische Sichtweise von Medienwirkungen Hinter den Begriffen Wirkung und Wirkungsforschung stehen in der Regel also immer noch theoretische Vorannahmen, die einer eindimensionalen theoretisch-historisch überholten Perspektive aus der Frühzeit des Forschungszweiges veφflichtet sind. Heutzutage muß man das Forschungsfeld der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medieneinflüssen allerdings breiter definieren. Das impliziert nutzerorientierte Ansätze, kulturelle Auswirkungen und sozialen Wandel durch Massenmedien, aber eben auch, daß Massenmedien ihrerseits in größere Kontexte eingebettet sind. Das bedeutet, Soziologie, Psychologie, Kulturwissenschaften, Politologie gehören neben der Kommunikationswissenschaft zu den Disziplinen, die sich damit zu beschäftigen haben. Ähnlich wie in der Soziologie, Psychologie und Biologie, die sich mit komplexen Sachverhalten wie Familiensystemen, Organisationssystemen, Gesellschaftssystemen und Ökosystemen beschäftigen, kann man Theorien mit Wirkungsbegriffen linearer Kausalität nicht mehr folgen, sondern - dieses Wort ist vielleicht schon fast abgenutzt - man sollte sich einer systemtheorischen Sichtweise zuwenden, d. h. einfache Ursache-Wirkung-Ströme lassen sich nicht mehr ausmachen'®. Das Fehlen einer direkten, linearen Beziehung zwischen Inhalt und Wirkung berechtigt allerdings nicht zu dem Schluß, Wirkungen seien nicht zu erwarten^''. Zur Untersuchung und Beschreibung von Medienwirkungen ist es sinnvoll, ein System ineinander geschachtelter und ineinander vemetzter Subsysteme bzw. Hierarchieebenen zugrunde zu legen. Man

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Vgl. George Sanderson, Marshall McLuhan and the psychology of television: Commentary, in: Canadian Psychology 35 (1994) 4, S. 3 5 0 - 3 5 5 ; Rupert Riedl, Strukturen der Komplexität, Berlin 2000. ^ Systemtheoretisch läßt sich z. B. die Werbekommunikation wie jede Kommunikation als Synthese dreier Selektionen denken, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen. Die Kommunikation ist realisiert, wenn und soweit Verstehen zustande kommt, was gerade im Fall der Werbung stark von der Aufmerksamkeit des Rezipienten abhängt. Eine vierte Selektion liegt außerhalb der elementaren Kommunikation und setzt diese voraus: die Annahme bzw. Ablehnung des mitgeteilten Selektionssinns als Grundlage für eigenes Verhalten (vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984). Das Verstehen einer Werbebotschaft beinhaltet ja nicht, daß man sie auch akzeptiert und sein Handeln danach ausrichtet. Kritische Distanz zur Werbung wäre dann völlig unmöglich (Uli Gleich, Aktuelle Ergebnisse der Werbewirkungsforschung. Media Perspektiven 3, ARD-Forschungsdienst 2001, S. 1 4 9 154).

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könnte von einem Mehrebenenmodell^' im theoretischen und, wenn es denn zu empirischen Analysen kommt, auch im empirischen statistischmethodalen Sinne sprechen.

Soziales Umfeld versus Massenmedien Auf der ersten allgemeinsten Ebene konkurrieren die Einflußmöglichkeiten des sozialen Umfeldes mit denen der Massenmedien. In der Literatur wird unterstellt, daß das soziale Umfeld über die mächtigeren Wirkungspotentiale verfügt, während die Medien im Vergleich dazu eine nachrangige Position einnehmen. Vor- und außermediale Faktoren der Person, ihrer Lebensumstände und ihrer sozialen Beziehungen geben die Bedingungen vor, nach denen Mediennutzung überhaupt erst erfolgen und Medienwirkung möglich werden kann. Der primäre Charakter und damit auch die primären Wirkungsweisen des sozialen Umfeldes und der persönlichen Kommunikation im Vergleich zur Massenkommunikation lassen sich evolutionstheoretisch begründen^^. Die primäre Instanz hat Aufsichts- und Steuerungsmacht gegenüber den Wirkungen von Massenmedien. Medienangebote werden selektiert, kommentiert, für relevant erklärt oder verworfen. Der primäre Lebenskontext beginnt im Grunde also schon bei der Mediennutzung, denn es sind die Lebensumstände, die itüt unterschiedlichen Rezeptionsgewohnheiten korrelieren; die Rezeption ist schließlich die notwendige Bedingung für die Wirkung. Schon Mediennutzung läßt sich heutzutage bei der unterschiedlichen Ausprägung unterschiedlicher Lebensstile nicht mehr präzise vorhersagen, d. h. die Fraktalisierung beginnt bei der Nutzung und pflanzt sich bis tief in die Verästelungen der Wirkung fort. Jüngere Untersuchungen über die Prozesse der politischen Meinungsbildung stützen diesen Befund. Auch hier hat sich die große Bedeutung der persönlichen Kommunikation und sozialen Lebensumstände als Steuerungsinstanz für Medieneinflüsse herausgestellt. Festgestellt wurde sogar eine Schutzschildfunktion der homogenen sozialen Gruppen und sozialer Netzwerke im Massenkommunikationsprozeß. Wo allerdings Vgl. auch Ulrich von Alemann, Die politischen Parteien, die Medien und das Publikum, verfügbar unter; www.fernuni-hagen.de/law/forum/alemann.html [19.06.2001]. ^^ Vgl. dazu u. a. auch Luhmann (wie Anm. 20).

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im sozialen Umfeld Mängel bestehen, ist die Steuerang unsicher und schlagen die Medien wahrscheinlich unkontrolliert und unkontrollierbar durch.

Medium versus Medieninhalt Wirkung von Medien im allgemeinen fragt nach Wirkung jenseits aller konkreten Inhalte. Die bedeutsamsten strukturellen Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und soziokulturellem Wandel resultieren aus dem bloßen Vorhandensein der (elektronischen) Medien jenseits des Programminhaltes. Allein die Existenz und Verfügbarkeit eines Mediums, wie beispielsweise des Femsehens, hat kulturelle Auswirkung und betrifft damit alle Mitglieder einer Kultur unabhängig von ihren individuellen Rezeptionsakten und selektiv rezipierten Inhalten. Gesamtkulturell sind damit die Medienwirkungen möglichen Inhaltswirkungen übergeordnet. In der Medien- und Kommunikationswissenschaft gibt es zwei Ansätze in diesem Bereich, die cultivation analysis und die Mediumthoeorie^\ Beide umfassen mehr als Wirkungsforschung. Bei der cultivation analysis liegt der Akzent auf der Sozialisation bzw. Kultivation der gesamten Gesellschaft durch das Medium als solches. Die empirische Basis stellen große Erhebungen über lange Zeiträume dar; aus Inhaltsanalysen z. B. von Fernsehprogrammen werden stabile Darstellungsmuster, Weltbilder und Werte herausgefiltert und mit Realitätsvorstellungen von Fernsehzuschauern verglichen. Das Medium ist die Botschaft soll heißen, daß die persönlichen und sozialen Auswirkungen jedes Mediums - d. h. jeder Ausweitung unserer eigenen Person - (somit gibt McLuhan auch eine Definition dessen, was er unter Medien versteht), sich aus der Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas ergeben, die es der Situation des Menschen bringt; z. B. hat die Eisenbahn der menschlichen Gesellschaft nicht (nur) Mobilität und Transport gebracht, sondern auch und vor allem das Ausmaß früherer menschlicher Funktionen vergrößert und beschleunigt und damit vollkommen neue Arten von Städten und neue Arten der Arbeit und Freizeit geschaffen. Dasselbe gilt fürs Auto, Flugzeug, etc.

" Vgl. Marshall McLuhan, D i e magischen Kanäle, Frankfurt/M. 1970.

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und natürlich für die Kommunikationsmedien^"*. Die Untersuchungsmethoden der Medien dürfen nicht nur auf ihren Inhalt abzielen, sondern auf die Feldbeziehung zwischen Medium und kulturellem Nährboden, in dem das betreffende Medium wirksam ist. Dies schließt soziale und psychische Auswirkungen ein. Soziale und psychische Auswirkungen Ähnlich wie frühere Medien an Raum und Zeit gebundene soziale Schranken überwanden, scheinen computervermittelte Kommunikationsmedien nun auch die Grenzen der Identität zu überwinden: Wir können so tun, als wären wir eine andere Person, oder können gar vorgeben, wir seien gleichzeitig mehrere andere Menschen. Dieser neuen Qualität will ich nicht unter persönlichkeitspsychologischer oder gar klinisch-psychologischer Perspektive nachgehen, wiewohl die Fragen der Kommunikationssucht oder eines sich verändernden Identitätsbegriffes angeschlossen werden könnten, sondern ich gehe ihr nach unter dem sehr handfesten Aspekt der Abwicklung von (sensiblen) Geschäften {e-commerce, e-business) oder Behörden(vor)gängen {e-administration ) oder gar Politik im Internet {e-politicsf^. Das Internet hat hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Politik vielfach große Hoffnungen geweckt, die nicht selten utopische Züge tragen. Dabei werden Visionen von einer „elektronischen Demokratie" bzw. „Cyberdemokratie" entwickelt. Kritiker des Repräsentationsprinzips erhoffen sich einen Durchbruch der direkten Demokratie bis hin zur Abschaffung von Parteien und Verbänden oder sogar des Parlaments. Frühere Kommunikationsmedien (Telegraph, Telefon, Radio, Femsehen) überwanden die traditionellen zeitlichen und räumlichen Barrieren, die Menschen voneinander getrennt haben, und änderten damit auch das menschliche Denken. Menschen, die lesen und schreiben können, denken anders als nicht alphabetisierte Menschen oder auch als Menschen „postalphabetisierter" Kulturen, und sie haben auch ein anderes Selbstbewußtsein. Heute hat jeder, der z. B. ein Handy besitzt, eine Macht über Zeit und Raum, die antike Herrscher niemals zu begehren wagten. Menschen, für die eine solche Macht gewohnter Bestandteil ihrer Realität ist, denken auch von sich in besonderer Weise. Jede Ausweitung in den Raum, ob nun der Haut, der Hand oder des Fußes, berührt das ganze psychische und soziale Gefüge. Heute - so McLuhan schon 1964 - haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben, mehr noch: wahrscheinlich befinden wir uns schon in der Endphase der Ausweitung des Menschen, nämlich der technischen Analogiedarstellung des Bewußtseins (Assoziation: Internet als weltumspannendes neuronales Netz). Politik-digital.de, Vom e-Business zu e-Politics? Elektronische Demokratie, verfügbar unter: www.politik-digital.de [15.10.2001].

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Aufgrand der Menge an verfügbaren, nicht durch die Zwischenstation der auswählenden und bearbeitenden Journalisten verzerrten Informationen komme es zu einer weitreichenden Transparenz des politischen Prozesses, und das Ideal des umfassend informierten und an den politischen Prozessen beteiligten Bürgers werde Realität. Die interaktiven Möglichkeiten gestatteten es dem Bürger, seine Meinung in den politischen Prozeß einzubringen. Dabei herrsche Chancengleichheit in der Interessenartikulation, da sich aufgrund der geringen Kosten eines Internet-Auftritts auch ressourcenschwache Gruppen Gehör verschaffen könnten. Auch ein verstärktes Gemeinschaftsgefühl und ein besserer Zusammenhang der Bürger werden erwartet. Nicht zuletzt wird auch die Hoffnung geäußert, daß das Internet aufgrund seiner dezentralen Struktur und seiner mangelnden Kontrollierbarkeit ein geeignetes Instrument für Bürgerrechtsbewegungen und Dissidenten in autoritären Staaten darstelle und das Ende des Totalitarismus einläuten könnte^®. Diese Vorstellungen beschreiben allerdings bestenfalls das Potential des Internets. Dessen Realisierung hängt von der Fähigkeit und Bereitschaft der politischen Akteure und der Bürger ab, die entsprechenden Möglichkeiten auch zu nutzen^^. Entscheidend ist die Herstellung eines Äquilibriums zwischen Authentizität, Identität, Anonymität und Vertrauen^®. Differenzierung und Individualisierung Unübersehbar ist ein hoher Grad an Differenzierung im gesamten Bereich der allgemeinen Massenkommunikation, und ein Ende dieses Differenzierungsprozesses ist nur theoretisch abzusehen: Von der Masse über die Zielgrappe zum Individuum. „The Daily Me" nennt Negroponte die Zeitung der Zukunft^^. Die Differenzierung im Bereich der traditionellen Massenkommunikation hat die einzelnen Anbieter und Angebote verändert. Neben die allgemeinen (Massen-) Medien treten immer mehr Zielgruppenmedien einhergehend mit Individualisierung der Medientechnik, die die modernen Gesellschaften seit gut einem Jahrhundert prägt (Telegraphenamt, Telefon, PC, Internet). Die durch „neue Medien" oder genauer: fortgeschrittene Medienstmkturen erzeugten Informations- und Kommunikationsumgebungen bewirund den Beginn des global vernetzten Terrorismus'. Vgl. WDR.de, Mehr Demokratie per Internet, verfügbar unter: www.wdr.de/onIine/news 2/e_demokratie [28.11.2001]. ^ Siehe schon Helmut Krauch, Computer Demokratie, Düsseldorf 1972. Vgl. Christian J. Langenbach/Otto Ulrich, Elektronische Signaturen, Berlin 2002. Vgl. Nicholas Negroponte, From being digital to digital beings, in: IBM Systems Journal 39 (2000), S. 4 1 7 - 4 1 8 .

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ken bereits heute nachhaltige Veränderungen sozialer und individueller Selbstbeschreibungen. Gesellschaften würden fragmentiert, globale Medienmächte .okkupierten' die Sinne des Menschen, die Beschleunigung der Informationen sei .totalitär', die durch einzelne Gesellschaften nicht mehr kontrollierbare Medienevolution führe zur Dissoziation von Akteur und System und letztlich zur Dissoziation von Subjekt und Gesetz. Menschliche Kommunikation wird intensiver, .intelligenter' und reichhaltiger mit nichtmenschlichen Kommunikationsträgem verwoben. Dies beeinflußt Organisationsstrukturen, Lehrformen, Wissens- und Lemstile ebenso wie menschliches Selbstverständnis und Zukunftsvorstellungen, Realitätskonzepte und Existenzerwartungen. Scheinbar konträr zu dieser immer feineren Ausdifferenzierung entwickelt sich eine thematische Monopolisierungstendenz, die ebenfalls mit der stärkeren Publikumsorientierung zusammenhängt^". Fast tagtäglich ist registrierbar, wie sich die Beobachtungsleistung der Massenmedien auf ein, zwei Themen fokussiert, gegen die alle anderen Angebote nur unter „femer liefen" oder gar nicht zur Kenntnis genommen werden^'. Hier wirkt der klassische Mechanismus von Publikumsattraktionen: Erst einige, dann mehr, weil mehr schließlich viele und weil viele am Ende alle. Diese „Tagesthemen" werden nach allen Regeln der journalistischen Kunst aufbereitet, ausgeleuchtet, ausgebreitet. Nur wer dazu etwas zu sagen hat. hat an diesem Tag etwas zu sagen. Medienwandel Das System der klassischen Massenkommunikation erlebt also tiefgreifende Veränderungen, die insbesondere gekennzeichnet sind durch * Differenzierungsprozesse im Mediensystem selbst, ausgelöst durch technische Innovationen und ökonomische Entwicklungen. * Destabilisiemng des Ordnungsrahmens der Medien (Privatisierung. Deregulierung. Internationalisierung) und - dadurch bedingt - . Trotz der Entwicklungen zur weiter fragmentierten und individualisierten Mediennutzung hat vor allem die Werbewirtschaft kein Interesse daran, daß traditionelle Massenmedien verschwinden - sie werden als „Tools" für Marketing, Werbung und PR dringend gebraucht. Und das breite Publikum hat sich an ein „von außen" gestaltetes Programmangebot so gewöhnt, daß es nicht plötzlich alle kollektiven Unterhaltungsund Informationserlebnisse meiden wird. Mit einer eingefahrenen TV-Show wie „Wetten, daß ..." erreicht das ZDF im Schnitt 15 Millionen Zuschauer, der ARD-„Tatort" hat ein Regelpublikum von sieben Millionen. Vgl. Hans-Bernd Brosius/Gabriel Weimann, Who sets the agenda?, in: Communication research 23 (1996), S. 5 6 1 - 5 8 0 .

Medienmacht und Massenwirkung

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* eine stärker werdende ökonomische Ausrichtung (Medien als profitable Dienstleistungsuntemehmen statt als kulturpolitische Einrichtungen). Aktuelle Analysen des Femsehprograrrmis der Bundesrepublik zeigen, daß es - erklärbar aus der Zunahme an Sendern und Sendezeit (Rundum-die-Uhr-Ausstrahlung) - zwar einen Zuwachs an aktueller politischer Berichterstattung gibt, aber diese wird seltener ausgelöst durch „Entscheidungspolitik". Gewalthandlungen und Möglichkeiten der Visualisierung beeinflussen, ob überhaupt berichtet wird. Insgesamt ist in der Berichterstattung die Konfliktorientierung gegenüber der Konsensorientierung größer geworden. Die eingangs geschilderte, ehemals durchaus feste Beziehung ,J4assenmedien und Politik" wird brüchiger und zufälliger. Trends in der politischen Femsehberichterstattung, die aufgrund ökononüscher Faktoren noch an Bedeutung zunehmen dürften, sind * stärkerer Unterhaltungsbezug auch in Nachrichtensendungen (Infotainment), * Personalisierung und „Intimisierung", * Popularisierung von Themen und Sachverhalten, * Dominanz zentraler Akteure (Eliten-Bonus), * steigender Nachrichtenwert von ,JEvents": Aktionismus, Sensationalismus, Konflikt, Gewalt.

Wirkung von Medien-Inhalten? Einzelne Medieninhalte haben also ein vergleichsweise nachrangiges Wirkungspotential gegenüber dem Medium selbst. Trotzdem, so unterstellt man, zeitigen natürlich auch Inhalte ihre Wirkungen. Hier ist jedoch eine weitere Differenzierung notwendig zwischen Thema und Information einerseits und Einstellungen und Meinungen über diese Themen andererseits. Es geht also um die Unterscheidung zwischen kognitiven und persuasiven Wirkungen, d. h. zwischen der Beeinflussung durch Themen- bzw. Sachinformationen einerseits und Meinungen und Einstellungen (bzw. „attitudes") andererseits. Luhmann^^ sieht das Zusammenspiel von Information und Meinung dergestalt, daß öffentliche Meinung die Gesellschaft dadurch integriert, ^^ Wie Anm. 20.

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daß gesellschaftliche Aufmerksamkeit in gleiche Richtung gelenkt wird. Gemeinsame Themen entstehen, gedeihen und vergehen. Solche Themenkarrieren laufen in den und durch die Massenmedien ab. Wenn einzelne Themen in aller Munde sind, bündeln sie die Aufmerksamkeit und wirken integrierend. Anders als es der Begriff öffentliche Meinung nahelegt, besteht die Integration aber keineswegs darin, daß alle Leute über dieses Thema dieselbe Meinung vertreten, sondern daß sie über dasselbe Thema diskutieren {agenda setting). Diese Doppelstruktur muß erhalten bleiben, denn wenn Thema und Meinung zusammenfallen, wenn es also zu einem Thema nur noch eine Meinung gibt, so legt das den Verdacht der Manipulation nahe. Statt öffentlicher Meinung sollte man sagen öffentliches Thema. Als gesichert kann gelten, daß von den Massenmedien tatsächlich agenda setting Effekte ausgehen. Ob nun Einstellungen aus den Massenmedien übernommen werden oder nicht, auf jeden Fall muß die Aufmerksamkeit für das Thema vorangehen^^. Wie Massenmedien Einstellungen oder tatsächliches Verhalten beeinflussen, ist die älteste Frage in der Wirkungsforschung und steht in der öffentlichen Diskussion weiterhin im Mittelpunkt, während die Wissenschaft sich anderen Themen zuwendet. In diesem Zusammenhang ist Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale als Theorie der öffentlichen Meinung zu erwähnen. Sie versteht anders als Luhmann die gemeinschaftsbindende Kraft der öffentlichen Meinung auf der Einstellungs- und Meinungsebene und leitet daraus ihre These ab, daß Menschen, die u. a. aus den Medien den Eindruck gewinnen, ihre Meinung weiche von der Mehrheitsmeinung ab, darüber schweigen, um sich nicht zu isolieren^'*.

'' Die wichtigste Rolle kommt den Medien im Stadium der Aufmerksamkeitsweckung zu. Interpersonale Kommunikation ist demgegenüber in der Adoptionsphase von der größten Bedeutung (Niels Werber, Zweierlei Aufmerksamkeit in Medien, Kunst und Politik, verfügbar unter www.heise.de/tp/deutsch/special/auf/6310/1 .html [26.06.2001]. Das heißt, Massenmedien können das Wissen beeinflussen und Informationen über Innovationen vermitteln, sie ändern aber selten Einstellungen und Verhalten. Hierfür ist die interpersonale Kommunikation besser geeignet. ^ Konformität werde in einer Gesellschaft belohnt, ein Verstoß gegen das übereinstimmende Urteil dagegen bestraft. In allen menschlichen Gesellschaften ließen sich Integrationsverfahren feststellen, die auf der Furcht des Einzelnen vor Mißachtung, Lächerlichkeit und Isolation basierten. Diese „Isolationsfurcht" wird als anthropologische Konstante gesehen. Der „Konformitätsdruck", d. h. der Druck, sich einer Meinung anzuschließen, bewirke soziale Integration (Konsistenztheorie - Einstellung und Verhalten in Einklang bringen). Insgesamt läßt sich der Prozeß der Schweigespirale unter Einbeziehung des Medieneinflusses mit Elisabeth Noelle-Neumann (Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale, erw. Ausg. Frankfurt/M. 1996, S. 359)

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Medien stellen also Informationen über die Welt zur Verfügung, geordnet nach Themen. Das gemeinsame Wissen und die gemeinsame Struktur, die natürlich ihrerseits beide ständig im Wandel sind, haben für die Gesellschaft integrative Kraft. Auf diesem Themen- und Informationssektor bei den kognitiven Wirkungen liegen die relativ größten Potenzen. In dieser Hinsicht können Medieninhalte ihren größten Einfluß ausüben (vgl. auch den Ansatz des agenda setting). Auf der Meinungsebene werden die Medienwirkungen für schwach gehalten, weil Individuen zu den als wichtig empfundenen Themen stabile Einstellungen und Meinungen haben, die kaum noch beeinflußt werden. Einstellungen und Meinungen werden doch eher im direkten sozialen Umfeld gebildet, dort stabil gehalten und von da aus durch die von ihren Bedürfnissen und Interessen gesteuerten Mediennutzer in Medieninhalte projiziert. Gewandeltes Publikum: Von der Masse zum fraktalen Klientel Der soziale Wandel (Differenzierung, Pluralisierung, Globalisierung) ist folgenreich für alle - für wirtschaftliche, staatliche und gesellschaftliche Organisationen und wirkt sich insbesondere aus auf rasch wechselnde und schwierig prognostizierbare Erwartungshaltungen. Wandel und Komplexität sind im Zusammenhang mit Modemisierungsprozessen nicht neu, doch neu ist zum einen die Wandlungsgeschwindigkeit und zum anderen die Tatsache, daß Richtung und Folgen des Wandels kaum noch abgeschätzt und organisatorisch integriert werden können^^. Das Publikum ist günstigenfalls anspruchsvoll und wählerisch, schlimmstenfalls gar störrisch geworden. Entsprechende Stichworte finden sich inzwischen in vielen Leitartikeln: Die Stammkunden sterben aus, die Zahl der Mitglieder schwindet, die soziale Zusammensetzung der Mitglieder schwankt, die Zahl der Aktiven wird geringer, Dauerbindungen sind kaum noch herstellbar, die Ansprüche an Service und individuellen Nutzen steigen, die Zahl der Wechselwähler nimmt eben-

folgendermaßen beschreiben: „Der Medientenor bzw. die Veränderung des Medientenors läuft der Veränderung der Einschätzung des Meinungsklimas durch die Bevölkerung voraus. Die Veränderung der Einschätzung des Meinungsklimas läuft der Änderung der eigenen Einstellung voraus. Das Verhalten - Redebereitschaft - folgt der Einschätzung des Meinungsklimas in einer Interaktion, die den Spiralprozeß hervorbringt." Vgl. Manfred Faßler, Netzwerke. Einführung in die Netzstrukturen, Netzkulturen und verteilte Gesellschaftlichkeit, München 2001.

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SO ZU wie die Bereitschaft zum punktuellen Engagement in unterschiedlich ausgerichteten Gruppierungen. Die „wählerische" Klientel zeichnet sich also dadurch aus, daß sie sich flexibel verhält und sich immer weniger in feste (soziale) Gruppen einbinden läßt. In den vielfältigen - zudem sich fortlaufend ändernden sozialen Umwelten steigt damit der multifacettierte Bedarf an Information und Kommunikation. Dieser steigende Bedarf korrespondiert mit den geschilderten Kommunikationsmöglichkeiten. Die Technologie erlaubt internationale Kommunikation, ermöglicht aber auch Interaktion und Individualisierung und führt damit zur Fragmentierung und Fraktalisierung der „Masse"!

Resumeé Eine Geschichte der modernen Medien, die erst in Bruchstücken geschrieben ist^^, sollte sich auf zwei Aspekte konzentrieren: Zum einen auf die Frage, wie sich unsere Lebensformen unter dem Einfluß der Medien verändert haben und gegenwärtig weiter verändern; und zum andern auf die Tatsache, daß die Wirklichkeitskonstruktion durch die Medien in das Handeln und die Realitätswahmehmung gesellschaftlicher Akteure eingreift. Um die Bedeutung dieser Ebene historischer „Realität" zu verstehen, müssen Theorien der Massenbeeinflussung, die die historischen Fehleinschätzungen politischer Entscheidungsträger im Umgang mit den Medien widerspiegeln, verworfen werden. Auszugehen ist dagegen von einem dynamischen System konkurrierender Realitätsinteφretationen in Politik, Öffentlichkeit und Medien. Nicht die „Macht der Medien" im Sinne ihrer zentralen Deutungskompetenz, sondern rasch wechselnde Kommunikationssituationen und Wirklichkeitsinterpretationen sind charakteristisch für die heutige und sicher auch zukünftige Mediengesellschaft.

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Vgl. A n m . 4.

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Rad der Geschichte? Über die Rolle der deutschen Montanindustrie in der sozialen und politischen Verfassung des späten Kaiserreichs* L In seinem großen Überblick zur Außenpolitik des „vergangenen Reichs" hat Klaus Hildebrand den Epochen-Einschnitt zwischen Bismarck und dem, was folgte, auch ganz knapp wirtschaftsgeschichtlich interpretiert: Die wirtschaftliche Entwicklung im Wilhelminischen Kaiserreich stehe „der bislang praktizierten Saturiertheit des Reiches diametral entgegen", heißt es an zentraler Stelle'; weiter ist von einer „Entscheidung" die Rede, „sich vom patemalistischen Staat der Vergangenheit zu verabschieden und die industrielle Massengesellschaft der Zukunft zu fördern", damit dann eher zu versöhnen statt zu entzweien, was gewiß durch die „Verbesserung der Lebensbedingungen aller Klassen" maßgeblich erleichtert wurde. Und schließlich: „Politisierung des Gesellschaftlichen" sowie „Vergesellschaftung des Staatlichen", das waren die innenpolitischen Grundtendenzen jener heftigen, der imperialistischen Epoche^. Die wirtschaftliche Entwicklung also als ein ,Дad der Geschichte", das diese in Gang gehalten, womöglich gar beschleunigt und schwer überwindliche Gegensätze erzeugt hätte, ja außenpolitische Spannungen beschwert oder zusätzlich verursacht hätte? Dies müßte, von 1890 rückwärtsblickend, für die Außenpolitik einschließen, daß Bismarcks Politik der Saturiertheit die wirtschaftliche Entwicklung des Reichs * Die Titel-Fragestellung verdanke ich den Konferenz-Organisatoren; sie wurde nach einigen Überlegungen übernommen, aber der Untertitel präzisiert. Der Beitrag gibt im Wesentlichen den Vortragstext wieder, der mit nur wenigen Anmerkungen versehen wurde. ' Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Stuttgart 1995, S. 150. ^Ebd., S. 151.

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gehemmt hätte - davon wird man angesichts der Wachstumsraten der 1880er Jahre sicher nicht sprechen können. Das Problem scheint vielmehr das Stimmungstief jenes Jahrzehnts gewesen zu sein, das sich zuletzt gegen den alten Reichskanzler bündelte und verbündete: Die Preis-Deflation hielt noch an, das war ein internationales Phänomen, und insofern trifft das Wort von der „Großen Depression" wohl nach wie vor einen wichtigen Kem^. Dies sollte sich während eines kurzfristigen Aufschwungs in den Jahren 1889/90, der zunächst von neuerlichen Krisenjahren abgelöst wurde, dann aber nachhaltig seit 1895 ändern. Während der beiden nun folgenden Wachstumsjahrzehnte sollte es nur noch zu sehr kurzen konjunkturellen Krisen kommen; der Eindruck eines zeitweilig überschäumenden Wirtschaftsbooms in dieser Epoche der Hochindustrialisierung ist kaum zu bestreiten. Ich will im Folgenden die wirtschaftlich begründete, im Bereich der Wirtschaft noch zunehmende, in der deutschen Innenpolitik, darüber hinausgehend, außerordentlich gewichtige Rolle der Schwerindustrie während dieser beiden Jahrzehnte erörtern. Es ist das Argumentationsziel dieses Essays, der eigenartigen gesellschaftlichen und politischen Verfaßtheit des späten Kaiserreichs eine bedeutende Mitverantwortung an dieser Übersteigerung der Rolle der Schwerindustrie, die nach 1918 teilweise böse Folgen haben sollte, zuzuweisen. Schon ziemlich zu Beginn des zwanzigjährigen Aufschwungs, im Jahre 1896, hat ein englischer Beobachter ein natürlich längst schon in der Forschung zur Kenntnis genommenes Buch mit dem Titel „Made in Germany" veröffentlicht, auf das bekanntlich ein ganzer Mythos zurückgeht. Hieraus sei etwas ausführlicher zitiert: "Take observations. Gentle Reader, in your own surroundings; ... you will find that the material of some of your own clothes was probably woven in Germany. Still more probable is that some of your wife's garments are German importations, while it is practically beyond a doubt that the magnificent mantles and jackets wherein her maids array themselves on their Sundays out are German-made und German-sold, for only so could they be done at the figure. ... The toys, and the dolls, and the fairy books which your children maltreat in the nursery are made in Germany; nay, the material of your favourite (patriotic) newspaper had the same birthplace as like as not. Roam the house over, and the fateful mark will greet you at every tum, from the piano in your drawing room to the mug on your kitchen dresser, blazoned though it be ' Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, Neuauflage Frankfurt/M. 1976.

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with a legend, Ά Present from Margate'. Descend to your domestic depths and you shall find your very drain-pipes German-made. You pick out of the grate the paper wrappings from a book consignment, and they also are 'made in Germany'. You stuff them into the fire, and reflect that the poker in your hand was forged in Germany. As you rise from your hearthrug you knock over an ornament on your mantelpiece; picking up the pieces you read, on the bit that formed the base, 'Manufactured in Germany'. And you jot your dismal reflections down with a pencil that was made in Germany. ... You go to bed, and glare wrathfully at a text on the wall; it is illuminated with an English village church, and it was 'Printed in Germany'."'* Das Rad der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung hatte mithin England erreicht und löste bereits Ängste, überrollt zu werden, zu einem Zeitpunkt aus, als es doch eben erst begann, sich geschwinder als bisher zu drehen. Es war gewiß eine neue Erfahrung, daß deutsche Exportwaren nunmehr die Insel erreichten - bis zur Zeit der Reichsgründung waren die Warenströme eher umgekehrt geflossen. Die Rießrichtung war nun, und zwar schon in der Bismarckzeit, mindestens beidseitig geworden, und wer die Palme davontragen sollte, das war auch für die Zukunft längst nicht ausgemacht: Nicht erst seit 1895 drängte ein neuer Palmenträger von jenseits des Atlantik auf die Märkte, und nur von Frankreich war noch nicht viel zu vernehmen.

IL Es ist merkwürdig, daß die mit dem ausführiichen Zitat bezeichneten Zustände wohl eigentlich seither erst eingetreten sind, denn die Volumina der Außenhandelsstatistik, die zuverlässig erst für die Zeit seit etwa 1880 vorliegt, weisen auf der Exportseite Stagnation und auf der Importseite eine Zunahme um immerhin ein Viertel im Jahrzehnt der 1880er Jahre auf.^ Im Jahre 1890 überstieg der Import des deutschen Zollgebietes den Export noch um rund ein Fünftel. Man muß aber hinzufügen, daß diese Differenz maßgeblich auf die Importe von NahrungsErnest Edwin Williams, Made in Germany, London 1896. ' Im Folgenden nach den einschlägigen Tabellen in Walther G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin u. a. 1965.

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und Genußmitteln zurückging. Auch bei den Rohstoffen war das Reich verständlicherweise Importnation, und das galt in geringerem Umfang auch bei den Halbwaren, während bei den Fertigwaren zu diesem Zeitpunkt der Export bereits das Vierfache des Imports ausmachte. Insofern spiegelt unser Zitat, indem es den Import von lang- und kurzlebigen deutschen Konsumgütem in England besonders hervorhebt, in der Tat ein bereits zur Mitte der 90er Jahre erreichtes Übergewicht, aber erst seit 1895 sollte sich der deutsche Außenhandel binnen knapp zweier Jahrzehnte vervielfachen: Der Export verdreifachte sich, im Jahre 1913 wurden Waren im Wert von über zehn Milliarden Mark ausgeführt (im Jahre 1895 waren es erst 3,3 Milliarden Mark gewesen). Die Importe nahmen in deutlich geringerem Umfang zu, so daß das Reich in der unmittelbaren Vorkriegszeit eine nahezu ausgeglichene Export-ImportBilanz aufwies. Diese war jedoch beim Import weiterhin zu mehr als einem Drittel durch Nahrungs- und Genußmittel bestimmt, während diese beim Export nur leicht mehr als zehn Prozent ausmachten. Das heißt: Anders als 1895 beherrschten bei den Exporten in der Zeit vor dem Kriegsausbruch die Fertigwaren das Bild. Mehr als die Hälfte der gewaltigen Exportsumme von rund zehn Milliarden Mark bestand aus Fertigwaren; beim Import waren es weniger als zehn Prozent. Auch bei den Halbwaren sind 1895 noch deutlich mehr Güter ein- als ausgeführt worden. Im Jahr vor dem Kriegsausbruch überstiegen die Ausfuhren die Einfuhren um etwa ein Viertel. Hinter solchen nüchternen Zahlen verbergen sich gewaltige Verschiebungen. Mit dem anhaltenden konjunkturellen Aufschwung der 1890er Jahre wurde das Deutsche Reich zur Handelsnation vornehmlich im Bereich der Fertigwaren, wie es ja auch in dieser Phase mit seinem Anteil an der Weltindustrieproduktion Großbritannien deutlich überflügelte. Unser englischer Kommentator hatte also die Richtung, die das Rad der Geschichte nehmen würde, richtig erkannt, wenn man auch zum genaueren Nachweis selbstverständlich die deutsch-englische Handelsbilanz näher zu betrachten hätte. Kein Zweifel, während des gesamten 19. Jahrhunderts hatte das Rad der Geschichte im Sinne der Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung zumal in England an Fahrt gewonnen, aber gebaut, besser: gegossen und geschmiedet, wurde es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend und ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in gewaltigen Mengen eben auch in Deutschland. Die Firma Krupp etwa verdankte ihren Aufstieg nicht etwa den Kanonen, diese kamen erst seit der Reichsgründungszeit in erheblichem Umfang hinzu, sondern den Rädern: Alfred Krupp hielt ein Patent auf Her-

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Stellung nahtloser Eisenbahnreifen, und dieses Patent vor allem hat ihn reich gemacht®. Die Firma profitierte ungemein auch bei der Herstellung von Schienen von den Rückkoppelungseffekten des Eisenbahnbaus. Ohne daß man - selbstverständlich - die wirtschaftliche Entwicklung der beiden Vorkriegsjahrzehnte hierauf reduzieren dürfte, läßt sich an dem Familienuntemehmen Krupp doch geradezu beispielhaft die ungeheure Expansion der deutschen Industrie in diesem Zeitraum verdeutlichen - wenn auch gerade diese Firma bis 1918 an der Produktion von Fertigwaren im Bereich des Kriegsmaterials zwar einen übergroßen, beim Friedensmaterial hingegen so gut wie keinen Anteil hatte. Krupp produzierte Rohstoffe (Kohle und Erz) und darüber hinaus vor allem stählerne Halbfertigwaren. Nach dem Reichsgründungsboom hatte die Firma bis Mitte der 1880er Jahre eine Durststrecke durchwandern müssen, war sogar 1874 in einen gefährlichen Strudel geraten, aber seit 1895 wuchs das Unternehmen geradezu stürmisch. Das ging jetzt, bei hohen Schwankungen, zu etwa 40 Prozent auf die Herstellung von Kriegsmaterial zurück. Zwischen 1895 und 1913 nahm der Umsatz der Kruppschen Werke auf das Siebenfache zu, während die Belegschaft sich nur ungefähr verdreifachte und in der Gußstahlfabrik in Essen, dem eigentlichen Kern des Unternehmens, sogar hinter diesem Wachstum deutlich zurückblieb. Mit anderen Worten: Der Zuwachs an Wertproduktivität war ungeheuerlich, das Unternehmen verdiente im Gesamtzeitraum mehr als gut, so gut, daß es bei Ausbruch des Krieges über finanzielle Reserven verfügte, die ihm sogar die gewaltigen Investitionen des Hindenburg-Progranmis fast aus eigener Kraft ermöglichen sollten. Es kostete alle Mühe, die Gewinne zu verstecken, denn Krupp war ein besonderer unter den deutschen Konzemen: Die Nähe zum Kaiserhaus und zur deutschen Politik insgesamt schien es nicht zu gestatten, die wirklich erzielten Gewinne in Gestalt von Dividenden zu beziffern. Stets wurden nur „politische Dividenden" ausgewiesen, aber das Unternehmen thesaurierte seine Überschüsse reichlich: in Pensionsfonds, im Immobilienerwerb, auf diesen oder jenen Bilanz-Konten. Soviel nur zum Reichtum dieses Konzems, der, streng genommen, noch gar keiner war: Alle ihm zugehörigen Unternehmen, das Grusonwerk in Magdeburg und die Germaniawerft in Kiel, waren im strikten Sinn Betriebe, die der einzig Rechtspersönlichkeit genießenden und mithin bilanzierenden Gußstahlfabrik in Essen zugehörten. Gänzlich ® Vgl. jetzt vor allem Lothar Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000; siehe auch Klaus Tenfelde (Hrsg.), Bilder von Krupp. Fotographie und Geschichte im Industriezeitalter, München ^2001.

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unübersichtlich ist bisher die Beteiligungspolitik, sie harrt noch vollständig der Erforschung. An Rheinmetall, dem Düsseldorfer Konkurrenten, besaß Krupp bei Kriegsausbruch mindestens 40 Prozent der Anteile, die insgeheim durch den Düsseldorfer Kommerzienrat Trinkaus verwaltet wurden; nach 1918 sollten die Anteile auf mehr als 50 Prozent gesteigert werden, so daß Krupp trotz der Bedingungen des Versailler Vertrages, die der Firma nur die Herstellung von Kanonen mit einem Kaliber von mehr als 17 Zentimetern erlauben sollten, mittelbar die gesamte Kanonenproduktion des Deutschen Reichs auch in Zukunft in der Hand behalten sollte. Für die Zeit vor 1914 gelang es der Firma, über ihre Rheinmetall-Beteiligung sogar die von ihr selbst sozusagen verschlafene Haupterfindung im Kanonenbau dieser Zeit, den automatischen Rohrrücklauf, einigermaßen zu kontrollieren. Dieser Konzern war ungemein mächtig. Man fragt sich, ob diese Macht dem Genie des wichtigsten Firmengründers, Alfred Krupp, seinem 1902 verstorbenen Sohn Friedrich Alfred, den besonderen Organisationsformen des Unternehmens, seiner Marktmacht infolge marktbeherrschender Stellungen in bestimmten Bereichen, dem allgemeinen Aufstieg der Montanindustrie in diesem Zeitraum oder der spezifischen Gunst des politischen Umfeldes jener beiden Jahrzehnte gedankt war. Letzteres, die politische Konstellation, interessiert in besonderem Maße. Eben weil Krupp ein Privilegierter unter den deutschen Konzemen war, liegt die Frage nahe, ob der Aufstieg Deutschlands zu einer WeltIndustriemacht neben einer Fülle anderer Gründe nicht auch der eigenen verfassungspolitischen und gesellschaftlichen Konstellation zugeschrieben werden muß, in der, nachdem am Ende der Bismarckzeit eine günstigere Weltkonjunktur eingesetzt hatte, die deutsche Industrie in bisher nicht gekannten Wachstumsschritten expandieren konnte. Über welche politischen Wachstumsvorteile verfügte das Deutsche Reich? Es ist dies ein Problem, das selbstverständlich nicht nur aus einem Vergleich mit England, sondern vor allem mit den Vereinigten Staaten beantwortet werden müßte, und so weitgehend wird im Folgenden nicht argumentiert.

III. Die Hauptfrage dieses Symposiums, jene nach Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert, sei also zugespitzt auf die Frage nach der Macht

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der Montanindustrie unter den Rahmenbedingungen des späten Kaiserreichs - und nach der Macht der .^lassen", die erstere machtgeschützt und gleichsam ungewollt erzeugte. Immer noch, ja wie es scheint: jetzt erst recht, wuchs die Schwerindustrie mit riesigen Schritten, und zwar vor dem Hintergrund eines gleichermaßen ungewöhnlich hohen Bevölkerungswachstums. Zwischen Jahrhundertwende und Kriegsausbruch nahm die Bevölkerung jähriich um 1,0 bis 1,4 Prozent zu, und das dürften, läßt man Sonder-Umstände wie die Zuwanderung nach Westdeutschland in der Zeit nach 1945 einmal außer Betracht, die höchsten je erzielten Wachstumsraten der Bevölkerung in der deutschen Geschichte gewesen sein. Die Bevölkerungsvermehrung war ländlichen sowie, jetzt rasch zunehmend, industriestädtischen Ursprungs, denn die notwendigen Arbeitskräfte der Schwerindustrie wurden zwar auf dem Lande geboren, übertragen jedoch die hohe ländliche Gebürtigkeit in die Städte. Und die damit im Zusammenhang stehenden, beträchtlichen Bevölkerungsverschiebungen hin zu den schwerindustriellen Zentren sowie die Strukturen der Bevölkerung dieser Zentren vermittelten gerade der Schwerindustrie das Antlitz einer nachgerade vorwärtsstürmenden Jugendlichkeit. Das Nettoinlandsprodukt^ ist 1895 erstmals wieder stark, und zwar um 4,7 Prozent, gestiegen, und ähnliche Wachstumsraten wurden fortan beinahe in jedem Jahr, sieht man vom Krisenjahr 1901 ab, erzielt. Obwohl sich die Kohlenförderang schon in den 1880er Jahren auf einem sehr hohen Stand befunden hatte, stieg der Anteil des Bergbaus am Nettoinlandsprodukt weiterhin stark an. Er hatte zur Zeit der Reichsgründung zwei Prozent betragen, im letzten Jahrfünft des 19. Jahrhunderts lag er bei knapp drei Prozent und bei Kriegsausbrach bei knapp vier Prozent. Somit hat sich der Anteil des Bergbaus am Nettoinlandsprodukt, das für sich außerordentlich stark wuchs, zwischen Reichsgründung und Kriegsausbrach ungefähr verdoppelt, während derjenige des sonstigen Gewerbes „nur" um ein Viertel zunahm. Entsprechend entwickelte sich die Straktur der Gesamtbeschäftigung; als ein Merkmal auch künftiger Jahrzehnte deutscher Wirtschaftsentwicklung gerieten nun insbesondere die Dienstleistungen in einen strukturellen Rückstand. Zu einem ähnlichen Urteil gelangt man, wenn man die Wertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen betrachtet: Jene des Bergbaus versiebenfachte sich zwischen Reichsgründung und Kriegsausbrach, die der (sonstigen) Industrie vervierfachte sich „nur". Ab 1895 verdreifachte sich die

^ Im Folgenden wieder nach Hoffmann (wie Anm. 5).

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des Bergbaus, die der Industrie und des Handwerks verdoppelte sich annähernd. Allerdings sind in der Industrie noch die Leistungen der Hüttenbetriebe enthalten. Gerade diese Werke expandierten seit den 1880er Jahren mächtig. Redet man also vom Aufstieg der neuen Leitbranchen, der Chemieindustrie und der Elektrizitätswirtschaft, in den beiden Vorkriegsjahrzehnten, so möge man die tatsächlichen Wachstumsdimensionen im Blick behalten: Die Montanindustrie übertraf alle. Das war in den Vereinigten Staaten nicht anders, und auch in England hatten diese Gewerbe die Wachstumsgrenzen noch nicht erreicht. Berücksichtigt man die außerordentlich hohen Investitionen, die die Schwerindustrie erfordert, dann dürfte die Verdoppelung desjenigen Anteils am Kapitalstock, der gewerblich investiert war, zwischen Reichsgründung und Kriegsausbruch zu ganz wesentlichen Teilen in die Montanindustrie geflossen sein. Der Anteil der Landwirtschaft am Kapitalstock halbierte sich demgegenüber, jener der nichtlandwirtschaftlichen Wohnungen nahm um etwa ein Drittel zu. Betrachten wir zunächst auch einige grobe Indikatoren auf der Verteilungs- und Arbeitsseite der Aufbringungsrechnung. Richard Tilly hat festgestellt, daß nicht nur die Real-, sondern auch die Nominaleinkommen vor 1914 hinter den nun erzielten Produktivitätszuwächsen deutlich zurückblieben. Auch nach Hoffmann sank zwischen 1895 und 1913 der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen von 73,1 auf 70,9 Prozent; der Anteil der Kapitaleinkommen stieg entsprechend, und so überrascht es nicht, in der Berufszählung von 1907 eine bereits ein Zehntel der erwerbstätigen Bevölkerung übersteigende Gruppe von „Berufslosen", weithin kapitalzehrenden „Rentnern", zu finden^. Der Reichtum wurde ungleicher verteilt, und wenn sich endlich einmal jemand einer Untersuchung der erzielten Gewinne der Montanindustrie im Vergleich zur Entwicklung der Arbeitseinkommen widmen könnte, so wäre wohl zu konstatieren, daß sich die Differenzen in diesen Branchen am deutlichsten steigerten. Dabei ist die jährliche Arbeitszeit in der Gesamtindustrie zwischen 1895 und 1913 nur ganz leicht, um wohl acht Prozent, in der kurzen Nachkriegszeit bis 1925 dann bekanntlich sehr stark, um ungefähr 15 Prozent, gesunken^. Im Montangewerbe blieb die Arbeitszeit vor 1914 strikt gleich, denn im Bergbau wurde immer schon Richard H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834-1914, München 1990, S. 142; Hoffmann (wie Anm. 5), S. 456ff. ' Vgl. hierzu u. a. Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S. 369ff.

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acht Stunden täglich gearbeitet, und Manipulationen fanden durch Ausbeziehungsweise Einrechnung der Ein- und Ausfahrzeiten statt, während in der Hüttenindustrie die Arbeitgeber mit Zähnen und Klauen die unsägliche zwölfstündige Schichtzeit zu verteidigen vermochten. Es ist nicht zu übersehen, daß nach den vorliegenden Indices die Realeinkommen der Arbeitnehmer stiegen, und zwar auch in der Montanindustrie. Noch das stärkste Wachstum war aber, und zwar wegen der Preisdeflation, in den 1880er Jahren erzielt worden. Das spätere Wachstum blieb dahinter deutlich zurück, und in manchen Teuerungsjahren nach der Jahrhundertwende waren Einbußen zu verzeichnen. Die Verschlechterung der Verteilungsposition der Arbeitnehmer kontrastiert merkwürdig mit dem gleichzeitigen Aufstieg der Gewerkschaften. Diese selbst gerieten deshalb auch um 1910 in eine scharfe Kontroverse, nachdem Karl Kautsky mit dem später Lenin zugeschriebenen Argument des puren Trade Unionismus im Hinterkopf den Gewerkschaften Erfolg- und letztlich Nutzlosigkeit vorgeworf^en hatte: „Sisyphusarbeit oder positive Erfolge?", so fragte die Generalkommission der freien Gewerkschaften in einer weit verbreiteten Broschüre, und die Verbände hatten darin Mühe, dem Angriff irgendwelche Zahlen entgegenzusetzen. Es gibt auch andere, wichtige Argumente, die dafür sprechen, den Aufstieg der Organisationen der Arbeiterbewegungen seit 1895 eben nicht in erster Linie der generellen wirtschaftlichen Entwicklung oder gar noch den zweifellos vorhandenen Erfolgen in Lohnauseinandersetzungen zuzuschreiben, sondern sehr viel stärker den politischen Rahmenbedingungen und der durch diese geförderten, ausgeprägten Milieubildung'". Gerade dies ließe sich nun an der Montanindustrie erweisen; es muß an dieser Stelle auf Details verzichtet werden. In der Eisen- und Stahlerzeugung blieb die Entwicklung der Gewerkschaften ganz und gar hinter dem in Facharbeiter-Berufen erlangten Stand zurück: Es gab kaum einen Streik von irgendwelcher Bedeutung, die Hüttenwerke als Eingangsgewerbe zuwandernder Arbeiter hatten kaum mit Gewerkschaften zu tun. Das galt selbst für Krupp, der in Essen weit mehr Facharbeiter beschäftigte, aber die Firma hat diese bis zum Kriegsausbruch höchst erfolgreich zu einem Viertel in einem „gelben" Werkverein organisieren können. Auch im Bergbau erzielten die Gelben im Jahrfünft vor Vgl. die Beiträge in Ulrich Borsdorf (Hrsg.), Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945, Köln 1987; sowie in Hans Mommsen (Hrsg.), Arbeiterbewegung und industrieller Wandel. Studien zu gewerkschaftlichen Organisationsproblemen im Reich und an der Ruhr, Wuppertal 1980.

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Kriegsausbruch bedeutende Zuwächse. Hier gab es insgesamt vier Gewerkschaften, darunter zwei einigermaßen mächtige, die sich gegenseitig ausmanövrierten und in den drei großen Massenstreiks der Jahre 1889, 1905 und 1912 Erfolge nur deswegen zu verzeichnen hatten, weil es, mit Ausnahme des letzten Streiks, gelang, die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu ziehen, so daß Verbesserungen dann allerdings nur durch die Gesetzgebung in Gang gebracht werden konnten - Verbesserungen der Einkommenssituation wurden von der Untemehmerseite zum Teil präventiv „gewährt", zum Teil versteckt nach den Streikbewegungen „nachgeholt", aber niemals im Zusammenhang von Streikbewegungen, und dann gar Tarifvertragsverhandlungen, eingeräumt. Der „Herr-im-Hause"-Standpunkt ließ dies nicht zu". Die Untemehmerhaltung war verhärtet und richtete sich zunehmend gegen Untemehmerkollegen der verarbeitenden Industrie, die sich auf weiten Strecken längst schon zu Tarifverträgen verstanden hatten. Die Verbände-Forschung der letzten drei Jahrzehnte hat sehr überzeugend gezeigt, wie andere, zumal in den Behörden, duckten, wenn die mächtigen Gestalten der Montanindustrie das Wort erhoben, und das traf ja fatalerweise auch in der Nachkriegszeit weiter zu, als der relative Anteil der Wertschöpfung dieser Branchen zu sinken begann'^.

IV. Welche Gründe lassen sich nun, etwas systematischer gefasst, für die mächtige Rolle der Montanindustriellen in der Zeit des späten Deutschen Kaiserreichs anführen? Zunächst seien betont 1. die historischen Merkmale der von der Schwerindustrie erfaßten Gewerbegruppen. In der älteren Gewerbeverfassung gehörte der Hüttenbetrieb zum Bergbau, und er ist aus dieser Verwandtschaft vorwiegend wegen unterschiedlicher Besteuerung erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in manchen deutschen Teilregionen später, entlassen worden. " Vgl. hierzu Bernd Weisbrod, АгЬе11£еЬефо1111к und Arbeitsbeziehungen im Ruhrbergbau. Vom „Herr-im-Haus" zur Mitbestimmung, in: Gerald D. Feldman/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter, Unternehmer und Staat im Bergbau. Industrielle Beziehungen im internationalen Vergleich, München 1989, S. 107-162. Vgl. neuerdings Stefan Przigoda, Unternehmensverbände im Ruhrgebiet. Zur Geschichte von Bergbau-Verein und Zechenvorstand 1858-1933, Bochum 2002.

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Die Sonderrechtlichkeit der Arbeitsverhältnisse blieb im Bergbau auch über die bergrechtliche Zäsur von 1865 hinweg erhalten, und auch in der Hüttenindustrie findet sich später noch ein sozialpolitisches Instrumentarium, das auf die bergbaulichen Ursprünge zurückgeht. Bergbau, das war früher eine staatsdurchtränkte, vom Mythos der „Urproduktion" getragene Branche gewesen, in der sich monarchische Autorität über die Rechtsform des Bergregals bis noch zum letzten Hilfsarbeiter in streng hierarchischer Gliederung fortsetzte. Zu einem geringen Teil ist der Autoritätsverlust des Staates durch die liberale Bergrechtsreform mittels staatlichen Bergwerkseigentums, das nach der Wende zum 20. Jahrhundert verstärkt worden ist'^, kompensiert worden. Die urtümliche Bergbauverfassung ragt deshalb in der Montanindustrie bis weit in die Moderne; mehr noch, die ersten Wachstumsphasen der industriellen Revolution vollzogen sich noch in der Klammer des alten Bergrechts, gegen das die Untemehmerseite jahrzehntelang ankämpfte. Sie besaß demnach einen zeitlich erheblichen Emanzipationsvorsprung, den sie selbst, zumal in der Hüttenindustrie, auch durch Rekurs auf besondere technische Zuständigkeit zu begründen verstand. Die Montanindustrie hatte mithin in älterer Zeit längst schon eine vergleichsweise feine, auch sozial schützende Arbeitsorganisation und Belegschaftsstruktur aufgewiesen, in der im Zuge der Reformen die Untemehmerschicht beinahe bruchlos in das vom Staat hinterlassene Autoritätsvakuum zu rücken vermochte. Auch die damit verbundenen Bürokratismen setzten sich einstweilen durchaus fort. Hingegen wurde die bisher montantypische soziale Verantwortlichkeit vor allem während der schweren Wirtschaftskrise seit 1874 ganz gezielt abgestreift. 2. Eher von innen betrachtet, wiesen die Montangewerbe strukturbildende Einflüsse von erheblichem Gewicht auf. Dazu gehörte zum einen der geringe Grad an erforderlichen Qualifikationen, diese ließen sich leicht in Anlem-Verhältnissen erwerben. Berg- und Hüttenarbeit war, seitdem die Betriebe große Dimensionen annahmen, ausgeprägt Massenarbeit mit zahlenmäßig geringerem Aufsichtsbedarf. Das drückte sich vor allem in der Relation der Angestellten zu den Arbeitern aus. Der montanindustrielle Großbetrieb betonte das Erfordernis von Herrschaft im Sinne organisatorischer Ordnung der Arbeit und Hierarchiebildung, nicht im Sinne eines besonderen Qualifikationswissens - wiewohl der „Stolz des Bergmanns", das rührte aus ständischer Zeit her, gem gerade damit verbunden wurde. Durch den ungeheuren PersonalVgl. Dietmar Bleidick, Die Hibemia-Affäre. Der Streit um den preußischen Staatsbergbau im Ruhrgebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bochum 1999.

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bedarf im Zuge der großbetrieblichen Expansion gelangten Arbeiterscharen in die Betriebe, die ihrerseits aus ländlichen Regionen kamen und rigide Unterordnungsverhältnisse gewohnt waren. Zusätzlich begünstigte die Zuwanderung durch Fraktionierung der Herkunftsgruppen von den Ansässigen die Ausübung innerbetrieblicher Herrschaft. Man kann deshalb sagen, daß der rasch expandierende Großbetrieb an sich bereits günstigere Voraussetzungen zur Herausbildung betrieblicher Machtstrukturen bot. Er bedurfte darüber hinaus, gerade in der Montanindustrie, eines erheblichen Kapitaleinsatzes, und dieser Umstand rückte frühzeitig Verwertungsinteressen in den Vordergrund. 3. Die Untemehmerschicht der Montanindustrie wies Besonderheiten auf. Für den Bergbau galt, daß in der Phase der Liberalisierung beamtete Herrschaftsträger regelrecht arbeitslos und von der Untemehmerseite angeworben wurden, weil vornehmlich akademisch ausgebildete Bergbeamte über das erforderliche technische, markscheiderische, geologische, juristische und bürokratische Wissen zu verfügen schienen. Auch wenn die Bergbau-Bürokratie mit der weiteren Expansion des Gewerbes bald ihre ursprünglichen Dimensionen erreichen und deutlich überschreiten sollte, brachte die Phase der Reformen doch eine deutliche Verquickung der Führungsschichten. Das schlug sich auch im gesellschaftlichen Leben bis hin zum Konnubium der Unternehmer- mit den Beamtenfamilien nieder. Die Bergassessoren-Clique''* vermittelte auf diese Weise der Untemehmerseite einen erheblichen Statusgewinn, und sie versuchte ihrerseits, ihren relativen Ansehensverlust durch Betonung des Akademikerprivilegs auszugleichen. Der Austausch zwischen beiden Führungsschichten Schloß auch materielle Interessen ein. Er beeinträchtigte die bergpolizeilichen Funktionen der verbliebenen Fachbeamten und machte für mindestens vier Generationen, zwischen 1860 und 1960, die Führungsschicht des Bergbaus zu einer quasi-bürokratischen Elite, die, materiell äußerst gut ausgestattet, die eingegangenen Verbindungen auch im Sinne von Regierungsnähe zu nutzen verstand. Es wurde selbstverständlich, daß Berghauptleute und sonstige führende Fachbeamte nicht nur als Ehrengäste zu Untemehmerveranstaltungen kamen, sondern dort sprachen und sonstwie mitwirkten. Mit gewissen regionalen Schattierungen unterschieden sich dabei die Verhältnisse in Oberschlesien oder im Saarland wenig von denen an der Ruhr. Solches Zusammenwirken läßt sich nicht zuletzt bei der politischen BeaufsichtiVgl. hierzu Bernd Faulenbach, Die preußischen Bergassessoren im Ruhrbergbau, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 225-242.

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gung der Arbeitnehmer beobachten. Es schien selbstverständlich, daß die Untemehmerseite pseudo-polizeiliche Autorität beanspruchte, etwa darin, daß den Angestellten und vertrauenswürdigen Arbeitern der Hütten- und Zechenwehren die Qualität von Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft mit dem Recht zum Waffentragen beigegeben wurde. Der Grubenmilitarismus schlug sich nicht nur, dort noch am wenigsten, in der Uniformierung von Traditionsvereinen nieder. Er verfügte über handfeste Ordnungsorgane. In den großen Hüttenbetrieben wurde ganz ähnlich verfahren. 4. Das schnelle Wachstum beider Branchen begünstigte und betonte unternehmerische Herrschaft. Im Hinblick auf die Belegschaftsbildung wurden hierzu schon Argumente vorgetragen; die relative Unstrukturiertheit der nichtbetrieblichen Daseinsverhältnisse begünstigte, darüber hinaus, diejenige Autorität der Untemehmerseite, die nicht unmittelbar mit dem Betrieb verbunden sein mußte, vor allem im politischen Raum. Mit Hilfe des Dreiklassenwahlrechts beherrschte die Unternehmerseite weitgehend die Organe der kommunalen Selbstverwaltung. Ordnungsund Investitionsentscheidungen wurden mit Rücksicht auf Expansionsund Machterhaltungsinteressen der Betriebsführangen getroffen. Das ist ein sehr weites Feld, das sich vor allem an der Eingemeindungsproblematik zwischen 1870 und 1930 genau ausmessen ließe. 5. In den beiden Hauptbranchen der Montanindustrie und damit in den Montanregionen schufen rasches Wachstum und die Beschäftigungsform sehr spezifische gesellschaftliche Formationen. Es gab in diesen Regionen kaum jenen Mittelstand, den die Mittelstandsideologie längst schon als Puffer gegen die Proletarisierung stilisiert hatte. Montanarbeit war Männerarbeit, so daß junge Frauen kaum eine andere Chance hatten, als den Hafen der Ehe möglichst frühzeitig anzusteuern. Eben dies begründete hohe Fruchtbarkeit und Großfamilienbildung, mit der Folge gleichartiger Lebensweisen und Fortpflanzung jenes konservativen Modus der Familienbildung stets auch in die nächste Generation, denn die Montan-Herren ließen die Ansiedlung anderer Gewerbe als der eigenen möglichst nicht zu. Die Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse wurde durch die Wohnweise und Kolonienbildung bestärkt. Herrschaftsbeziehungen dokumentierten sich bis hinein in die Architektur der Wohnquartiere. Die Art der Herrschaft schuf zugleich eine spezifische Freiheit der Beherrschten und sehr eigentümliche Solidarstrukturen. 6. Die Montanuntemehmer herrschten politisch in einem engeren Sinn und in einem weiteren Sinn. In einem engeren Sinn nahmen sie Machtfülle durch Verbände-Politik, in den Kommunen, besonders dann im

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unmittelbaren Behördenkontakt sowie im preußischen Abgeordnetenhaus, vermutlich noch mehr als im Reichstag, wahr. Der Übergang zu einer Manager-Elite mochte einen partiellen Rückzug der Eigentümer aus politischen Aktivitäten einschließen, aber bis 1919 standen die Parlamente sowieso nicht so sehr im Zentrum unternehmerischer Initiativen. Der Bismarcksche Schwenk zum Bündnis von Roggen und Stahl verhalf gerade diesem Teil der Unternehmerschaft zu einem gleichsam staatstragenden Ansehen. Das gilt zumal in einem eher verfassungspolitischen Deutungszusammenhang. Die Exklusion der arbeitenden Massen ergänzte sich und wurde möglich durch die beherzte Inklusion der unternehmerischen Elite. Man kann, weitergehend, behaupten, daß die konstitutionelle Konfiguration die keineswegs nur in Märkten ruhende machtpolitische Untemehmeφosition entscheidend stärkte. Sie begünstigte beispielsweise, wie Hans-Peter Ullmann wiederholt betont hat'^, den politischen Einfluß via Verbandspolitik. Sie begünstigte weiter eine quasi-ständische Vergesellschaftung der Montan-Untemehmerelite, ohne daß man gleich von Feudalisierung sprechen müßte. Der nach außen vor allem durch Wahlrechte privilegierte politische Einfluß formte, rückwirkend, an der Exklusion der Unternehmer- und Bergbeamtenschaft mit. Die Montanunternehmer bildeten eine machtgestützte, kleinzahlige Elite aus, die regional die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse beherrschte und national ein über die Maßen wichtiges Wort mitzureden verstand.

V. Die Firma und die Familie Krupp stehen nachgerade prototypisch für diese Merkmale der Untemehmer-Elite in schwerindustriellen Ballungsregionen vor 1914. Wenn Lothar Gall die Ähnlichkeiten von Bismarck und Alfred Krupp betont,'® so läßt sich diese Sichtweise nicht nur wegen der Studienbekanntschaft gleichermaßen auf Wilhelm II. und Friedrich Alfred Krupp beziehen. Zwar behielten die Firma und die sie führende Untemehmerfamilie auch in der Nachfolgegeneration Merkmale " Etwa: Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt/M. 1995, S. 129. Gall (wie Anm. 6), u. a. S. 128, 188-190.

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des Besonderen, aber eben darin wirkten sie auch stets als eine Art schwerindustrieller Leitfirma im politischen Raum, die überdies wegen ihrer Unentbehrlichkeit vor allem im Waffengeschäft das besondere Staatsvertrauen erhoffen und erwarten konnte. Das symbolisierte sich in den Kaiserbesuchen wie in den Aufwartungen der Krupp-Familie bei Hofe, eine beinahe herzliche Beziehung, mit der noch jede kaiserliche Reichsleitung zu rechnen hatte. Der letzte Kaiser-Besuch in Essen fand noch Anfang Oktober 1918 statt. Ihn umgab eine seltsam unwirkliche Atmosphäre beiderseitiger Niedergeschlagenheit." Die übersteuerte Macht der Montanindustriellen zumal im späten Kaiserreich kontrastierte mit einem gründlich verschiedenen Machtbezug der „arbeitenden Massen". Die Frage läßt sich stellen, ob nicht der Erfolg der Hochindustrialisierung, wie er in dem eingangs geschilderten handelspolitischen Überholvorgang gegen England ausgedrückt ist, auch auf den halbautoritären politischen Rahmen zu beziehen ist, den das konstitutionelle Kaiserreich bot. Es ließe sich dann von einer semiautoritären Hochindustrialisierung reden. Die Reichsgründung schuf eine unvergleichliche Rechtssicherheit für unternehmerisches Handeln gerade auch im Vergleich zu den Handlungsbedingungen in den vorher maßgeblichen Rechtsräumen. Zusätzlich stellten Reichstag und Reichsregierung im Jahrzehnt nach der Reichsgründung auf dem Weg der Gesetzgebung in sehr erheblichem Umfang die weiter erforderlichen Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsverkehr bereit. Damit wurden die handels-, Unternehmens- und wirtschaftspolitischen Spielräume gewaltig erweitert und abgesichert; die gesellschaftspolitischen Folgen sind von den Handelnden wenig bedacht worden. Indem der Staat fortan jene Kräfte, die unternehmerisches Handeln marktwirtschaftlich kontrollieren würden, insbesondere die aufstrebende Arbeiterbewegung, wirksam domestizierte und zeitweilig sogar gewaltsam unterband, kann von einer staatsmachtgestützten Handlungsfreiheit der montanindustriellen Unternehmerschaft gesprochen werden. Das resultierte in einer gesellschaftspolitischen Übersteuerung des Untemehmereinflusses, die sich in fataler Weise im politischen Kräftespiel der Weimarer Republik, mithin vor allem in dem Augenblick auswirken sollte, in dem die Monarchie und deren spezifische Formen der Vergesellschaftung entfielen. Wir können hier nicht ausführlich behandeln, welche Formen der Macht die neuen Massen, vor allem die weiter stark zunehmende Arbeiterklasse, unter den politischen Bedingungen des Kaiserreichs entfalte" Vgl. Klaus Tenfelde, Krapp in Krieg und Krisen. Untemehmensgeschichte 1924, in: Lothar Gall (Hrsg.), Krapp im 20. Jahrhundert, Berlin 2 0 0 2 , S. 1 5 - 1 6 5 .

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ten. Auch hier besteht der Verdacht systemgebundener Fehisteuerangen. Jean Jaurès hat auf dem Amsterdamer Kongress der II. Internationale August Bebel und den deutschen Sozialdemokraten vorgeworfen, ihr überragender, in Europa einzigartiger Organisationserfolg paare sich mit einer gleichermaßen einzigartigen politischen Ohnmacht - eine gewiß zutreffende Beobachtung'®. Man könnte diesen Organisationserfolg, übrigens nicht nur in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, der schlichten quantitativen Ausdehnung der „arbeitenden Massen" zuschreiben, aber das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Denn gerade die neuen Arbeiter der Hochindustrialisierangsphase, unter ihnen jene der Hüttenbetriebe, waren schwer zu organisieren. Anders vielmehr: Die gesellschafts-, verfassungs- und allgemeinen politischen Rahmenbedingungen vor allem des Bismarckreichs konturierten die Massen. Zuerst war es die Repressionspolitik mit dem Höhepunkt des Sozialistengesetzes, die einen großen Teil der Arbeiterschaft aus den Anstrengungen zur inneren Integration der Gesellschaft in der Monarchie ausschloß. Diese Politik stigmatisierte den wichtigsten Teil der neuen gesellschaftspolitischen Bestrebungen und erlaubte diesen mithin allenfalls den Weg in die Radikalisiemng. Während es vor dem Sozialistengesetz noch eine Vielzahl konkurrierender Strömungen und unterschiedlicher organisatorischer Traditionen in den Arbeiterbewegungen gegeben hatte, kam der Anti-Düring gleichsam zur rechten Zeit, und der programmatischen Entwicklung hin zum Erfurter Programm von 1891 lässt sich eine gewisse Zwangsläufigkeit unterstellen und entnehmen. Während in England der weit überwiegende, reformbereite Teil der Arbeiterschaft Schritt für Schritt bis hin zur vernünftigerweise späten Gründung der Labour Party integriert und allenfalls ein radikaltheoretischer Rest, und das auch nur ganz bedingt, stigmatisiert wurde, verblieb im Kaiserreich die gesamte Arbeiterschaft unter Einschluß der sie zunehmend vertretenden sozialistischen Strömung außerhalb der Gesellschaft - und das schmiedete die Arbeiter und ihre Bewegung erst so recht zusammen. Verschiedene sozusagen untypische Entwicklungen müssen hierauf bezogen werden: Der Aufstieg der christlichen Gewerkschaften läßt sich nur vor dem Hintergrand der radikalisierten sozialistischen Arbeiterbewegung, ihrer scharfen Monarchie-Feindschaft und ihres Internationalismus verstehen. Diese Spaltung schwächte die deutschen Arbeiterbewegungen bis 1933. Die Verzimmerang einer eher politisch als sozialökonomisch definierten Arbeiterklasse als Grandlage " Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Amsterdam 14.-20. August 1904, Berlin 1904, S. 3 7 - 3 9 .

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der sozialistischen Bewegung verdeckte die politischen Wirkungen solcher Fragmentierungen, die typischerweise aufgrund der Entwicklung der Märkte in den Arbeiterbewegungen spürbar werden. Anders als in England und den USA, ordneten sich deutsche Facharbeiter ganz selbstverständlich der Arbeiterklasse als Teil einer großen sozialen Bewegung ein, ja übernahmen darin die Führung. Den konservativen Tory-Worker findet man in Deutschland nicht, es sei denn, man sucht ihn bei den „Gelben" und vielleicht in den evangelischen Arbeitervereinen und bei den christlichen Gewerkschaften. In der verfassungs- und gesellschaftspolitischen Rahmensetzung durch das Kaiserreich sind also ethnische und politische Fragmentierungen pointiert und marktabhängige Fragmentierungen eher unterdrückt worden. Man kann und muß dies weiterverfolgen, bis hinein in die mehr und mehr milieubezogene Sozialisation der Arbeiterschaft, die noch dazu im Zeitablauf erblich wurde. Zugleich wurde, wie weiter oben dargelegt, die verteilungspolitische Position der Arbeiterseite unterhöhlt und ausgehöhlt. So hat die politische Gestaltungskraft des Kaiserreichs auch die Massen derjenigen Menschen, die den Unterschichten zugehörten, nicht ungeformt gelassen und ihre Lebenslagen auch materiell maßgeblich bestimmt. Sie hat sie eigenartig verformt, indem sie sie in Milieus zwang, ihnen Bildung vorenthielt und sie gleichwohl verdeckt integrierte. Spricht man von der „Politisierung des Gesellschaftlichen", so mag man zunächst an die Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts und zweifellos auch an zahlreiche Tendenzen einer Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhaltens- und Handlungsweisen denken. Man wird aber die Umformungen und Verformungen, die einer viel zu lange währenden gesellschaftlichen Übergangsverfassung geschuldet waren, nicht übersehen dürfen.

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„Wissen ist Macht": Vom Rang durch Geburt zur Qualifizierung durch Bildung I. Wissen ist Macht - dieses auf Francis Bacon zurückgehende Schlagwort ist Ausdruck der Ohnmacht, nicht aber der Macht, genauer: „Wissen ist Macht" bedeutet Programm und nicht Realität. Wer ohne ein Amt, ohne eine öffentliche Instanz zu sein, die Macht des Wissens beschwor, der besaß ganz offensichtlich keine Macht. Die Realität des 17. Jahrhunderts war der durch Geburt bestimmte Platz in der ständischen Ordnung. „Von Natur aus haben gutgeartete Menschen den Wunsch nach Wissen": So urteilte schon mehrere Generationen vor Bacon Leonardo da Vinci'. Und trotz des Fundaments, das dieses Universalgenie gelegt hatte, beklagte die gegen das „Organon", d. h. die Logik des Aristoteles gerichtete und deshalb ,^iovum Organon" (1620) genannte Schrift Bacons den Stillstand in den wissenschaftlichen Erkenntnissen und begründete eine neue, die induktive Methode wissenschaftlicher Erkenntnis, die die neuzeitlichen Naturwissenschaften prägte: Durch diese Methode sollten die Geheimnisse der Natur entschlüsselt und dadurch beherrschbar gemacht werden. Der damaligen Wissenschaft stellte Bacon ein schlechtes Zeugnis aus und beklagte, daß die Gelehrten nicht müde würden, in der ungeheuren Menge der Bücher endlose Wiederholungen zu produzieren. Freilich wußte Bacon, daß er nicht allein eine neue Wissenschaft begründete, sondern daß es noch lange Zeit dauern würde, bis Wissen tatsächlich Macht sei. So beschreibt er in seinem Buch ,J4ova Atlantis", das erst postum 1638 veröffentlicht wurde, das Haus Salomons, zu dem auch Forschungsstätten gehörten. Doch handelte es sich bei ,J4ova Atlantis" um eine Utopie, nicht aber um Deskription der Wirklichkeit. Leonardo da Vinci, Philosophische Tagebücher, hrsg. von Guiseppe Zamboni, Hamburg 1958, S. 13: „Naturalmente Ii omini boni disiderano sapere". Vgl. auch: Ladislao Reti (Hrsg.), Leonardo. Künstler - Forscher - Magier, Frankfurt/M. 1974.

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Schon im 18. Jahrhundert hat man einen plausiblen Zusammenhang von Bacons Salomonischem Haus mit der 1660/1662 in London zur Naturforschung gegründeten ältesten englischen Akademie der Wissenschaften, der Royal Society, hergestellt. Der als Großsiegelbewahrer und Lordkanzler zeitweilig durchaus einflußreiche Francis Bacon war vielleicht als Staatsmann mächtig, nicht aber als Gelehrter und Philosoph. Seine Werke errangen Einfluß erst nach seinem Sturz als Politiker, ja erst nach seinem Tode. Bacons Wissen war also zu seinen Lebzeiten noch nicht Macht, wurde aber zur Macht durch seine Wirkung auf die Naturwissenschaften und seine Wirkung auf die europäische Aufklärung, es handelte sich dabei aber noch nicht um politische Macht. Auch die Aufklärer erhoben das Schlagwort „Wissen ist Macht" zum Programm, beschränkten es aber nicht auf die Natur, sondern bezogen alle anderen Wissenschaften ein. Wissenschaften dienten der ständigen Ausdehnung des Wissens, der Aufklärung der Finsternis, der Gewinnung der Wahrheit: Alexander Popes berühmte Grabinschrift für Newton in der Westminster Abbey lautete denn auch: „Die Natur und ihre Gesetze lagen im Dunkeln: Gott sprach: Es werde Newton! Und es ward Licht."

II. Wissen und Wissenschaft sollten dem gemeinen Nutzen dienen und nicht Selbstzweck bleiben, Wissen sollte zur gesellschaftlichen Macht werden, indem sich Gesellschaft und Politik nach den Erkenntnissen der Wissenschaft richten sollten. Kein Zufall ist es deshalb, daß sich seit dem 17. und 18. Jahrhundert moderne Wissenschaften wie Demographie, Ökonomie, Soziologie und Kameralwissenschaften zu entwickeln begannen. Sie gewannen konkreten Einfluß auf die Politik des frühmodemen Fürstenstaates: Beispiele bilden etwa die merkantilistische Wirtschaftspolitik und die Bevölkerungspolitik - so folgte die Wirtschaftspolitik zu Zeiten Colberts in Frankreich oder die „Peuplierungspolitik" der brandenburgischen Kurfürsten den damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Weitere Exempel ließen sich leicht hinzufügen, etwa die Finanzverwaltung oder der Versuch von Turgot in Frankreich, mit Hilfe physiokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien als Generalkon-

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trolleur der Finanzen die fundamentale Krise der vorrevolutionären Monarchie zu meistern. Turgot bildet aber zugleich ein Beispiel für die Macht des Wissens wie für seine Ohnmacht: Erst 1774 ins Amt gelangt, wurde er schon 1776 entlassen, gerieten seine Reformen doch sofort in massiven Konflikt mit den wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Privilegierten; ohne breite gesellschaftliche Akzeptanz bekam er nur für eine kurze, allzu kurze Zeit die Chance, seine Theorien zu realisieren, sein Wissen blieb ohnmächtig. Das 17. und mehr noch das 18. Jahrhundert bauten wahre Kathedralen des Wissens. Hatte schon Johann Heinrich Aisted 1630 eine siebenbändige Enzyklopädie herausgegeben, war ihm der katholische Theologe Louis Moréri seit 1674 mit seinem Universallexikon, das bis 1759 in 20 Auflagen verbreitet wurde, gefolgt, so versuchte Pierre Bayle in seinem berühmten „Dictionnaire historique et critique" seit 1699 nicht eine Darstellung des Richtigen, sondern des Falschen zu geben. Aber diese Werke standen schon zu ihrer Zeit in einer Tradition und fanden immer weiter ausufernde Nachfolger, in Italien durch Coronelli, in England durch Chambers, in Deutschland durch das zwischen 1732 und 1754 in insgesamt 68 Bänden herausgegebene „Große vollständige UniversalLexicon" von Johann Heinrich Zedier. Und schließlich darf die berühmteste aller Enzyklopädien, die von Diderot und d'Alembert nicht fehlen: Sie erschien in insgesamt 34 Bänden mit 60 200 Stichwörtem von 1751 bis 1780. Die bis 1789 vermutlich in 24 900 Exemplaren verkaufte „Encyclopédie" stellte angesichts des bedeutenden Preises durchaus einen wirtschaftlichen Erfolg dar, wie Robert Damton^ gezeigt hat. Die Enzyklopädien sollten gesichertes Wissen darstellen und gesellschaftlich wie politisch verfügbar machen, insofern verwundert es nicht, daß sich der preußische König Friedrich II. sogar während des Siebenjährigen Krieges den jeweils neuesten Band bringen ließ: Aber auch dieses Beispiel zeigt beides, Wirksamkeit und Anstößigkeit des Wissens. Friedrich verschlang die dicken Wälzer und mißbilligte immer wieder ihr zuweilen radikales Programm. Denn tatsächlich unterschied sich Diderots und d'Alemberts Werk von den gängigen Enzyklopädien insofern, als es nicht allein Bestandsaufnahme des gesicherten Wissens war, sondern aus ihm programmatische Ziele radikaler Aufklärung ableitete - Ziele, die Theologie und Kultur, Politik und Gesellschaft, Naturwissenschaften und Wirtschaft gleichermaßen betrafen.

^ Robert Damton, The Business of Enlightement. A Publishing History of the Encyclopédie, 1775-1800, Cambridge, Mass./London 1979.

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Aber der Drang zur enzyklopädischen Bestandsaufnahme hatte sich mit den genannten umfangreichen Werken längst nicht erschöpft, so gab beispielsweise Johann Georg Krünitz seit 1773 die „Ökonomische Enzyklopädie" heraus: Als sie Generationen später 1858 unter leicht modifiziertem Titel endlich zum Abschluß kam, umfaßte sie nicht weniger als 242 Bände. Trugen Lexika im 19. Jahrhundert im Titel häufig die zusätzliche Angabe „für die gebildeten Stände", so sollten sie im 18. Jahrhundert ständetranszendierend sein. Bildung war, weil sie aus Prinzip nicht auf einzelne Stände beschränkt bleiben sollte, ein gesellschaftspolitisches Programm, das Sprengstoff barg. Dies galt zwar für manche Sektoren des Wissens auch schon vorher, kollidierten doch viele der erwähnten Werke meist aus theologischen Gründen mit der Zensur, weswegen sie oft anonym und mit fiktivem Druckort publiziert wurden, so wurde das Dictionnaire von Pierre Bayle nicht in Paris, sondern in Amsterdam veröffentlicht. Und auch die Encyclopédie hatte in dieser Hinsicht ihre Probleme.

III. Wenngleich Bildung und Wissen im 18. Jahrhundert noch keineswegs Angelegenheit der Massen sein konnten, zielte doch schon die Programmatik „Wissen ist Macht" auf Breitenwirkung, indem sie im Prinzip nicht den privilegierten Ständen vorbehalten blieb. Zudem wurde eine Qualifikation eingeführt, die nicht der geltenden geburtsständischen Ordnung entsprach, sondern individuell zu erwerben war. Daran hatten durchaus auch die frühmodernen Fürstenstaaten Interesse, die seit Mitte, spätestens aber Ende des 18. Jahrhunderts sowohl das Schulwesen ausbauten, als auch für bestinmite Tätigkeiten im Staatsdienst berufsqualifizierende Ausbildungsgänge und Prüfungen einführten. Diese Sektoren wurden zur Domäne bürgerlicher Schichten, sie konnten unterhalb der durch Geburt dem Adel vorbehaltenen Stellen im Staatsdienst aufsteigen. Gelehrte Berufe, die immer stärker „professionalisiert" wurden, bildeten insofern eine tendenziell einfiußreiche soziale Schicht, die zwar in der gesellschaftlichen Hierarchie noch keinen rechten Platz besaß, insofern aber auch deren Statik offenbarte. Friedrich der Große - dem nur kleine Zeiten das Attribut „groß" versagen - erklärte konsequent: „Der Dienst in der Justiz, Finanzwirtschaft,

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Diplomatie und Armee ist für den Edelmann gewiß ehrenvoll. Aber alles wäre verloren in einem Staate, wenn die Geburt über das Verdienst siegte"^. Die Einführung von Universitätsreifeprüfungen folgte 1788, nachdem für Juristen im Zuge der Coccejischen Justizreformen schon früher staatlich kontrollierte Qualifikationen eingeführt worden waren. Bereits seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verlief soziale Mobilität in Preußen anders als in Frankreich nicht mehr primär über Ämterkäuflichkeit. So gelangt der Straßburger Rechtshistoriker Marcel Thomann zu dem Schluß, eine soziologische Analyse der „dynamischen Elite Kontinentaleuropas zwischen 1720 und 1789 zeigt, daß sie eine einheitliche, durch eine originelle Universitätsbildung charakterisierte Schicht bildet. Die größte Anzahl dieser ,Grand Commis' der Verwaltung, des Gerichtswesens, der Kirchen und der Universitäten haben in Halle, Marburg, Leipzig, Jena oder auch Straßburg oder Leyden Wolffsche Philosophie und Naturrecht studiert"'*. Zweifellos handelte es sich um diejenige Schicht, die Beamten, die Hegel später als „allgemeinen Stand" bezeichnete - denjenigen Stand, der kein partikulares Interesse vertrat, sondern die Staatsräson. Andere Sozialgruppen, beispielsweise die Hofmeister, bildeten ebenfalls eine Schicht, die zwar nicht durch Einkommen und gesellschaftliche Autonomie, aber durch Bildung und engen Kontakt mit den Oberschichten, in deren Haushalt sie die Kinder unterrichteten, gewisse Aufstiegschancen erhielten und partiell in einer Art sozialer Exterritorialität lebten, die aus der ständischen Ordnung zunehmend herausfiel.

IV. Begrenzt war diese Schicht in quantitativer Hinsicht aber schon deshalb, weil die Lesefähigkeit im 18. Jahrhundert zwar ständig zunahm, aber doch nur von einer kleinen Minderheit der Bevölkerung erreicht wurde.

^ Über die Erziehung, in: Die Werke Friedrich des Großen, hrsg. von Gustav Berthold Volz, Bd. 8, Berlin 1913, S. 263. Marcel Thomann, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie Christian Wolffs in der juristischen und politischen Praxis des 18. Jahrhunderts, in: Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preußen, hrsg. von Hans Thieme, Beriin/New York 1979, S. 121133, hier S. 127. Vgl. grundsätzlich Horst Möller, Fürstenstaat oder BUrgemation. Deutschland 1763-1815, Beriin 1989, S. 356.

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Auch wenn die Schätzungen darüber differieren, so ist sich doch die Forschung einig, daß die Mehrzahl der Europäer am Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht lesen konnte. Im Schnitt des 18. Jahrhunderts geht man davon aus, daß ungefähr 10 Prozent der Deutschen lesen konnten, neueste Schätzungen liegen etwas höher. Wie stark die Zahl der Lesekundigen zunahm, läßt sich an dem Ausmaß erkennen, in dem der Anteil anwuchs: von 15 Prozent um 1770 auf 25 Prozent um 1800 und 40 Prozent um 1830. Das hieß aber so wenig wie heute, daß tatsächlich viel gelesen wurde. Lesefähigkeit enthält auch keine Aussage darüber, was gelesen wurde - bei vielen Lesekundigen beschränkte sich die Lektüre noch auf die Bibel und das Gesangbuch bzw. landesherrliche Verordnungen. Für die Zeit um 1800 nimmt man an, daß das eigentliche Lesepublikum nur 1 Prozent der Bevölkerung des Alten Reiches umfaßte, also etwa 240 ООО Personen. Hinzu kam, daß selbst bei Aufklärern darüber räsoniert wurde, ob nicht eine zweckbezogene, standesspezifische Bildung sinnvoller sei als Allgemeinbildung, ob die Volksaufklärung nicht ihre Grenzen haben solle, ja es wurden sogar Traktate gegen die Lesesucht veröffentlicht^. Von solchen utilitaristischen Begrenzungen der Bildung, die jedoch auch unter den Aufklärern umstritten waren, rückte zwar das neuhumanistische Bildungsideal des frühen 19. Jahrhunderts ab, doch wurde damit Bildung noch nicht Allgemeingut, sondern mehr und mehr zu bürgerlicher, ja zu elitärer Bildung, bevor seit Mitte des 19. Jahrhunderts Arbeiterbildungsvereine den Klassencharakter der Bildung beenden wollten und damit zum ständetranszendierenden Ideal der Aufklärung zurückkehrten. Wenn Wilhelm Liebknecht 1872 konstatierte „Wissen ist Macht Macht ist Wissen", dann mag man das in Analogie zu Ferdinand Lassalles Diktum „Verfassungsfragen sind Machtfragen" sehen, doch entsprach es der durch die Aufklärung ins Gesellschaftliche gewendeten Formel des Francis Bacon. In welcher Weise damit aber eine soziale Mobilität revolutionären Ausmaßes gemeint war, das erkannten nicht allein die Sozialisten, die sich die bürgerliche Bildung aneignen wollten, sondern auch die gebildeten Bürger, die Bildung ihrerseits schon seit dem 18. Jahrhundert auch als Instrument der Adelskritik und im 19. zur Durchsetzung eigenen Klasseninteresses ansahen. Und in Theodor Fontanes Roman „Der Stechlin", in dem die Spannung von Altem und Neuem leitmotivisch ist, heißt es: „Der Hauptgegensatz alles Modemen ^ Horst Möller, Vernunft u. Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt^vl. "1997, S. 271.

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gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu betätigen. Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein"^. Das mochte übertrieben sein, zeigt doch ein Blick auf zeitgenössische Karrieren die damalige Realität: Im Jahre 1890 waren neun von zehn preußischen Ministem adliger Herkunft^ selbst 1914 waren es immerhin noch sieben von elf. Von den zwischen 1890 und 1918 amtierenden insgesamt 32 Reichsstaatssekretären war die Hälfte adliger Herkunft, von den restlichen sechzehn wurden acht während ihrer Amtszeit oder nach ihrem Ausscheiden nobilitiert. Otto Hintze hat jedoch zu Recht konstatiert, daß sich allmählich eine „adlig-bürgerliche Amtsaristokratie" herausbildete®. Trotzdem gab der ahnungsvolle Satz Fontanes die Richtung an, die vom geburtsständischen Privileg zur Qualifikation durch Bildung führte. Er veranschaulicht, wie fundamental die soziale Veränderung empfunden wurde, wie schnell sich der gesellschaftliche Wandel in diesen Jahrzehnten nach langer Inkubationsphase vollzog und wie sehr die prinzipielle Rechtsgleichheit auch als Chancengleichheit begriffen wurde - als Chancengleichheit, die sich im Erwerb von „Bildungspatenten" mindestens ebenso realisierte wie im bloß wirtschaftlichen Erfolg. Wissen wurde zur gesellschaftlichen Macht, die zwar durch individuelle Qualifikation erworben, aber durch kollektive Kräfte Breitenwirkung und politische Bedeutung erlangte. Aber sind Bildung und Wissen deshalb schon Massenphänomene?

V. Wenngleich Massenbewegungen als politische Machtfaktoren älter sind und in unserem Zusammenhang mit der Französischen Revolution seit

® Theodor Fontane, Sämtliche Werke, hrsg. von Waher Keitel, Bd. 5, München 1966, S. 271. ^ Rudolf Morsey, Die Oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867-1890, Münster 1957, S. 244ff. ' Vgl. Otto Hintze, Der Beamtenstand, in; Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2: Soziologie und Geschichte, hrsg. u. eingeleitet von Gerhard Oestreich, 2. erw. Auflage, Göttingen 1964, S. 66-125.

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1789 wirksam wurden, so sahen die Soziologen doch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts denjenigen Zusammenhang von Masse und Macht, der auf die Problemstellung des 20. Jahrhunderts vorauswies. Am Beginn dieser massenpsychologischen Literatur stehen die im Jahr 1891 bzw. 1895 veröffentlichten Bücher von Scipio Sighele folla delinquente" (Die kriminelle Masse), und weit bekannter Gustave Le Bons „Psychologie des foules". Sie stehen mit dem ebenfalls zeitgenössischen Buch von Gabriel Tarde .J^'opinion et la foule" und Sigmund Freuds ,>Iassenpsychologie und Ich-Analyse" am Beginn eines Genre, das in modifizierten und im Ansatz höchst unterschiedlichen Thesen - insbesondere in den 1920er und 1930er Jahren - eine zunehmende Beunruhigung über Kollektivseele, Wirksamkeit, Steuerbarkeit und Gewaltsamkeit der Massen zeigt. Kaum eine zeitgenössische Diagnose, die das Thema nicht behandelte. Einen Kulminationspunkt erreichte diese Diskussion um 1930, als José Ortega y Gasset seinen berühmten Essay rebelión de las masas" ( „Der Aufstand der Massen") veröffentlichte. Auch in Deutschland beschäftigten sich seit Emst Tollers ,^lasse Mensch" (1921) so unterschiedliche Autoren wie Karl Jaspers, Emst Robert Curtius, Helmuth Plessner, Karl Mannheim, Theodor Geiger, Hans Freyer, Siegfried Kracauer oder Emst Jünger in der einen oder anderen Weise mit dem Problem der Masse und ihren Relationen zu Macht und Politik, zu Bildung und Wissen. Und es ist nur im äußerlichen Sinne ein Zufall, daß die Zeit um 1930 gleich mehrere einschlägige Werke hervorbrachte, die sich nicht zuvörderst mit der Massenpsychologie im Sinne Le Bons, sondern mit den kulturellen und politischen Konsequenzen des Phänomens Masse beschäftigten, ja ihr Zeitalter als Zeitalter der Massen interpretierten. Ein durchgängiges Problem bildete dabei die Frage nach dem Verhältnis von Masse, Wissen und Technik. Konstatierte Karl Jaspers in seinem 1931 veröffentlichten zeitkritischen Essay „Die geistige Situation der Zeit" ebenso knapp wie sibyllinisch: „Technik und Masse haben einander hervorgebracht. Technische Daseinsordnung und Masse gehören zusammen"', so bezeichnete Oswald Spengler 1932 die Erfindung der Maschine „als listigste aller Waffen gegen die Natur, die überhaupt möglich ist"'". Damit zog Spengler nicht allein die Konsequenz aus Bacons Ziel, die Natur durch Wissen zu beherrschen, sondem benannte auch die demo-

' Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931, zitiert nach der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Aufl., Berlin 1971, S. 34. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, München 1931, S. 73.

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graphische und politische Dimension, wenn er aus der Naturbeherrschung die beispiellose Bevölkerungsvermehrung, aus der Industrie Reichtum und politische Macht der Staaten herleitete: Die damals stärksten Industriestaaten Großbritannien, Deutschland, Frankreich und die USA mußten deshalb zugleich die stärksten Militärmächte sein". „Wissen ist Macht" bedeutete für Spengler insofern technisches Wissen, als sich die Industrie eines Staates in volkswirtschaftlichen Reichtum, in politische und schließlich militärische Potenz umsetzte: Dies ist eine Diagnose, die den Aufstieg der Industriemächte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, ihre Aufrüstung und Flottenpolitik und schließlich den Ersten Weltkrieg als Erfahrungshintergrund hatte, diese Entwicklung aber noch nicht als abgeschlossen ansah: „Wieder zeigt sich die Verwandtschaft, ja fast Identität von Politik, Krieg und Wirtschaft. Der Rang der militärischen Macht ist vom Rang der Industrie abhängig"'^. Und tatsächlich setzte sich der Siegeszug der technologischen Innovation im Zweiten Weltkrieg noch weiter in Militärtechnik um und machte die Folgen modemer Kriege damit noch verheerender als sie es schon im Ersten Weltkrieg gewesen waren. Naturbeherrschung und technisches Wissen erlaubten die Ernährung der Massen, aber im buchstäblichen Sinne auch ihren Verbrauch, wie die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs zeigten, in dem auch die Soldaten als Material galten: Der zum „Wörterbuch eines Unmenschen" gehörige Begriff „Menschenmaterial" war nicht erst eine Erfindung der nationalsozialistischen Ideologie, wenngleich sie dessen extreme Form bildete. Das technische Wissen, die Entwicklung der Maschinenwelt, waren es aber auch, die nach Meinung von Zeitkritikem wie Hans Freyer die Massen im 19. Jahrhundert für die Idee der sozialen und politischen Revolution prädestinierte: „Erst als die Hölle der mechanischen Webstühle von Lancashire, erst als die brutale Maschine der hochkapitalistischen Produktion die Arbeitermassen im Takte der Konjunkturen vom grünen Lande ansog und aufs weiße Pflaster ausspie, erst als die Männer Hände, die Weiber Hände, die iCinder Hände geworden waren, deren stumpfsinnige Fingerfertigkeit märchenhafte Profite versprach, wenn der Hunger sie billig gemacht hatte, - erst im Angesicht dieses Proletariats konnte eine Philosophie der Revolution gefunden werden ..." schrieb er 1931 in seiner Kampfschrift gegen den bürgerlichen Geist

" E b d . , S . 75f. Ebd., S. 76.

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„Revolution von rechts"'^. Auch Freyer konstatierte: „Die Technik schleuderte mit einer chaotischen Produktivität ihre neuen Mittel und Mächte empor, und der Glaube, daß das auf Anruf so weitergehen werde, war allen Mitlebenden selbstverständlich"'''. In der „industriellen Gesellschaft" ist der „Mensch nicht Subjekt dieser Welt, sondern Posten in ihrer Rechnung: Konsument und Arbeitskraft. Je reiner das Prinzip durchgeführt wird, je vollständiger die Volkskräfte ihm unterworfen werden, desto abstrakter wird das System, desto ferner rückt es dem Menschen"^^ Das Problem der Masse hatte sich aber nicht allein als demographisches, wirtschaftliches, militärisches und auf die Technik bezogenes Problem gezeigt, sondern als eminent politisches: Die demokratisch verfaßten Staaten waren Massendemokratien, die Parlamente repräsentierten nicht mehr durch Herkunft, Vermögen und Bildung begrenzte soziale Schichten, sondern sollten - legitimiert durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht - die umfassende Repräsentation des gesamten Volkes darstellen. Als in den 1920er Jahren in allen großen europäischen Demokratien eine fundamentale Krise des Parlamentarismus diagnostiziert wurde, da leiteten die Experten diese mehr oder weniger offen aus ihrem Massencharakter ab.'^ Von Harold J. Laski über Moritz Julius Bonn bis zu Rudolf Smend wurde der Strukturwandel des Parlamentarismus erkannt, der seine staatsrechtliche und politikwissenschaftliche Dimension durch eine soziologische veränderte: Aus dem rationalen und liberalen Diskursmodell des John Stuart Mill wurde das gesellschaftliche Integrationsmodell Smends: Es zog aus der Tatsache die Konsequenz, daß im Parlament die sozialen und ökonomischen Antagonismen der gesamten, in sich äußerst heterogenen Gesellschaft repräsentiert waren. Hierbei handelte es sich nicht mehr um eine geburtsständisch oder auch im Sinne Otmar Spanns ständestaatlich und ganzheitlich strukturierte organische Gesellschaft, sondern um eine pluralistisch-atomisierte und durch permanente soziale Dynamik charakterisierte Gesellschaft. Die Einschätzung, daß Masse und Chaos zusammengehören, förderte integrative Gesellschaftsmodelle, sie schufen, wie Ferdinand Tönnies in seinem unter dem Titel „GeHans Freyer, Revolution von rechts, Jena 1931, S. 10. Ebd., S. 45. " Ebd., S. 47. Vgl. Horst Möller, Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik, in: Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen/Hans-Helmuth Knütter/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987, S. 140ff.; sowie Horst Möller, Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998.

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meinschaft und Gesellschaft" erstmals 1887 veröffentlichten und immer wieder nachgedruckten Werk, eine Verbandslehre, die naturhaftorganische und zweckgerichtete Verbände unterschied. Diese soziologische Diagnose verband sich seit den 1920er Jahren mehr und mehr mit der Aufforderung an die Politik, das Problem der Massendemokratie nicht allein zu erkennen, sondern auch zu lösen. Aufgabe des Parlaments müsse der politische Ausgleich und die Integration antagonistischer Interessen in der Klassengesellschaft sein. Das Problem war wissenschaftlich erkannt, aber nicht gelöst: Diese Einschätzung zeigte erneut die diagnostische Macht und die politische Ohnmacht des Wissens, war es doch während der 1920er und frühen 1930er Jahre die vorherrschende Überzeugung, daß die Parlamente der Massendemokratie ihrer politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Integrationsaufgabe immer weniger gerecht wurden. Und dies galt gleichermaßen für die Politik, gleich, ob dem Parlamentarismus von links ein bürgerlicher Klassencharakter unterstellt oder von rechts eine berufsständisch organische GUederung der Gesellschaft gegen die massenhafte Atomisierung infolge formalisierter Gleichheit der Stimmen gefordert wurde. Und auch die politische Mitte war mit ihrer eigenen verfassungspolitischen Lösung unzufrieden und bastelte, wenn sie nicht bloß reagierte, während der Weimarer Republik ständig an Reformkonzepten. „Reichsreform" war seit Inkraftsetzung der Verfassung 1919 das verfassungspolitische Programm. Auch der geistvollste Kritiker des damaligen Parlamentarismus, Carl Schmitt, verwies auf das Problem der Masse. In seiner wirkungsmächtigen Polemik „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus", die zuerst 1923 erschien, benannte er nicht ohne Süffisanz die „Kritik an der demokratischen Grundlage dieses parlamentarischen Systems, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr gefühlsmäßig war und aus der alten klassischen Tradition westeuropäischer Bildung, aus der Angst der Gebildeten vor einer Herrschaft der ungebildeten Masse entsprang"'^ Für Carl Schmitt resultierte die „Krisis des heutigen Parlamentarismus" nicht aus der Gegnerschaft von Bolschewismus und Faschismus, sondern aus „den Konsequenzen der modernen Massendemokratie und im letzten Grunde dem Gegensatz eines von moralischem Pathos getragenen liberalen Individualismus und eines von wesentlich politischen Idealen beherrschten demokratischem Staatsgefühls ... (dem)

" Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Grundlage des heutigen Parlamentarismus, Beriin "1969, S. 29.

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in seiner Tiefe unüberwindliche(n) Gegensatz von liberalem Einzelmensch-Bewußtsein und demokratischer Homogenität"'*. Hatte schon Franz Grillparzer bemerkt, „erträglich ist der Mensch als einzelner; im Haufen steht die Tierwelt gar zu nah", so führte die Diskussion über den Massencharakter der modernen Welt schnell zu der Frage, welche Rolle der Intelligenz, den Gebildeten, also der Elite in der Massendemokratie zukomme. Dabei emanzipierte sich diese Diskussion aber durchaus von denjenigen, die Intelligenz und Dummheit ein und derselben Person attestierten, je nachdem, ob sie als Individuum oder als Kollektivwesen auftritt. Für letztere stehen etwa die Bemerkungen Friedrich Schillers: ,Jeder sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig; sind sie in софоге, gleich wird euch ein Dummkopf daraus", oder auch Gustave Le Bons: , 3 s ist die Dummheit, nicht der Geist, was sich in den Massen akkumuliert". Folglich geht die Reflexion von Karl Jaspers von der Überzeugung aus, nur der Einzelne könne zum Wesentlichen der Existenz gelangen, während die Zeitkritik von Ernst Robert Curtius sich Rettung von der gebildeten Elite als sozialer Gruppe verspricht. In seinem 1932 veröffentlichten Essay „Deutscher Geist in Gefahr" findet sich ein Abschnitt über ,^lasse und Elite", von dem man meinen könnte, er kritisiere die Bildungsreformer der 1960er und 1970er Jahre: ,JDie parlamentarische Parteienherrschaft und Ämterbesetzung hat das Ergebnis gehabt, dem Aufstieg der Unbegabten (zum akademischen Studium Unbegabten) Tür und Tor zu öffnen. Die dringlichste Universitätsreform würde darin bestehen, dieses Tor wieder zu schließen und die Zulassung zur Universität zu erschweren." Die Mißstände hatten nach Curtius „ihre letzte Wurzel in dem ungeklärten Verhältnis zwischen Masse und Elite", und noch allgemeiner gesagt, dem „Verhältnis von Demokratie und Kultur"". Mit Karl Jaspers und Rudolf Smend beklagte auch Emst Robert Curtius die ,>Iassenausbildung" an der Universität, die Verwandlung der deutschen Universität in eine Allerweltsuniversität, schließlich die Verschulungstendenz, die sowohl die geistige Substanz als auch ihre Weltgeltung bedrohe: ,Де mehr die Nation Masse wird, umso nötiger sind ihr Eliten. Man kann die Massenbildung gutheißen, unter der Voraussetzung, daß sie von einer ebenso intensiven Bemühung um Elitenbildung begleitet" ist. „Für keine Staatsform sind Eliten unentbehrlicher als für die Demokratie. Das Bewußtsein von diesem Sachverhalt scheint der " Ebd., S. 23. " Emst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/Berlin ^1932, S. 73.

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deutschen Demokratie noch weitgehend zu fehlen. Sie darf sich dann aber auch nicht wundem, wenn die Eliten in die Opposition treten"^". Und auch hier besteht eine Analogie zur Politik: Auf Führungsauslese könne der demokratische Parlamentarismus nicht verzichten, hatte bereits am Ende des Ersten Weltkriegs Max Weber in seiner Artikelserie „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland" konstatiert^'.

VI. Ganz offenbar bedeutete auch 1932 Wissen noch lange nicht Macht, Masse und Wissen aber galten als Gegensätze, wo also blieb das Wissen, wenn die Masse die Macht übernahm? Folgt man der zeitgenössischen Literatur, etwa dem 1926 veröffentlichten Buch „Die Masse und ihre Aktion" des Soziologen Theodor Geiger (der zeitweilig marxistischen Positionen nahestand), so wird „bei der Masse der kollektive Willensgehalt ohne Mitwirkung individualer Intelligenz bestimmt... Eine Gruppe besitzt keine Intelligenz im landläufigen Sinne, d. h. ihre Urteils- und Willensbildungen sind nicht rational, sondern emotional bestimmt... in der Masse dominiert die Kundgebung"^^. Vergleichbare Einschätzungen finden sich auch bei anderen Soziologen. Auf unser Thema bezogen heißt dies: Die Macht der Masse beruht nicht auf Wissen oder der Zugänglichkeit für logische Argumentation, auch wenn Emst Jüngers ,J)er Arbeiter" (1932) eine Welt der Wissenschaft spiegelt. ,glasse und Macht" hat also mit „Wissen ist Macht" zunächst einmal nichts zu tun. Wir sind bei den erwähnten Zeitdiagnosen, die sich seit den Jahren um 1930 mit dem Problem von Masse und Macht beschäftigen, an einem emeuten Wendepunkt angelangt: Wurde das Problem der Massendemokratie analysiert, so geriet aufgrund ihrer Probleme und Gefährdungen, aber auch der realen politischen Erfahmngen, beispielsweise der Machtergreifung Mussolinis in Italien, zunehmend das zentrale Problem der Epoche in den Blick: Ganz offenbar stand die Existenz von Massendemokratien in einem dialektischen VerEbd., S. 76f. Max Weber, Gesammelte politische Schriften, 3. vermehrte Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1971. ^^ Theodor Geiger, Die Masse und ihre Aktion, Stuttgart 1926, S. 131.

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hältnis zum modernen Typus der ideologiegeleiteten Führerdiktatur. Und nicht zufällig wurden die „Honoratiorenparteien" zunehmend von „Massenparteien" verdrängt. Es geht also um den zutiefst verstörenden Tatbestand, daß - vom russischen Beispiel abgesehen - die Massendemokratie die Voraussetzung der Diktaturen modernen Typs war. Das rabulistische Changieren mit den Begriffen Demokratie und Diktatur verweist auf das Problem. Das gilt sowohl für den Kommunismus, in dem die „Diktatur des Proletariats" - anders als in der real existierenden bolschewistischen Parteidiktatur - ja als Diktatur der Mehrheit galt, es gilt aber auch für das andere Extrem des verfassungspolitischen Spektrums, in dem Carl Schmitt die Führerdiktatur als Ergebnis einer demokratisch legitimierenden Mehrheitsentscheidung erklärte. Wie sehr sich die Extreme berühren, belegt allein schon Carl Schmitts Bemerkung: „Bolschewismus und Fascismus ... sind wie jede Diktatur zwar antiliberal, aber nicht notwendig antidemokratisch ... Vor einer, nicht nur technischen, sondern auch im vitalen Sinne unmittelbaren Demokratie erscheint das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und cäsaristische Methoden nicht nur von einer acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Substanz und Kraft sein können"^^

VII. Wenn also der Massencharakter gleichermaßen als Voraussetzung der Demokratie wie als ihre Gefährdung durch die Diktatur angesehen wird, wenn die Ausdehnung von Bildung und Wissen auf die gesamte Gesellschaft als Fortschritt und Fundament des Kulturstaates betrachtet, zugleich aber wie noch 1951 von Hendrik de Man als „Vermassung und Kulturverfall" diagnostiziert wird, worin liegt dann die Macht des Wissens? " Carl Schmitt (wie Anm. 17), S. 22f. Schmitts Buch „Die Diktatur", zuerst 1927, behandelt sowohl staatstheoretisch als auch verfassungsgeschichtlich das Thema von Bodin bis zu den Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts; der knappe Abschnitt über den Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung, mit dem das Buch endet, enthält einen verfassungsrechtlichen Kommentar dieses Artikels, weniger politische Interpretationen wie im vorangegangenen Zitat.

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Zweifellos war seit dem 18. Jahrhundert durch den Ausbau des Schulund Hochschulwesens das allen sozialen Schichten vermittelte Wissen erheblich angestiegen, der soziale Aufstieg durch berufliche Qualifikation und Fachwissen zur Selbstverständlichkeit geworden. Und ebenso eindeutig war die privilegierte Besetzung von Stellen und Ämtern aufgrund sozialer Herkunft jedenfalls im Prinzip seit der Revolution von 1918/19 definitiv beseitigt; positiv ausgedrückt: Im Normalfall entschied die berufliche Qualifikation, die sich der einzelne erworben hatte, sofern es nicht um politische Ämter ging. Der Begriff Bildung^", dessen heute gängige Bedeutung sich im wesentlichen im 18. Jahrhundert, unter anderem durch Klopstock entwikkelt hatte, wandelte dennoch seinen Sinn, dies zeigen allein schon die vielen Wortverbindungen, etwa Berufsbildung, Fortbildung, Weiterbildung usw. Und noch bezeichnender ist es, daß „Bildungspolitik" als Teil der Kultuφolitik ein Begriff unserer Zeit ist. Bildungspolitik ist aber zugleich Teil der Gesellschaftspolitik, wie schon ein einziges, für unsere Thematik aufschlußreiches Beispiel dokumentiert: Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes vom April 1964 betrug das durchschnitüiche Lebenseinkommen eines Erwerbstätigen mit Universitäts- bzw. Hochschulabschluß damals 650 ООО DM, ein Erwerbstätiger ohne solchen Abschluß erreichte demgegenüber durchschnittlich weniger als die Hälfte, nämlich etwa 315 ООО DM an Lebenseinkommen^'. Nicht allein das Einkommen, auch der Platz in der sozialen Hierarchie ist vom Hochschulabschluß abhängig. So gelangte Morris Janowitz 1958 zu dem Ergebnis, daß 66 Prozent der Personen mit Universitätsabschluß zur Oberschicht gehörten, aber nur 2 Prozent derjenigen mit Volksschulabschluß^^. Andere Untersuchungen kamen während der 1960er Jahre, die mit dem bildungspolitischen Paukenschlag von Georg Pichls Buch „Die deutsche Bildungskatastrophe" (1964) eröffnet wurden, zu dem Ergebnis: In bezug auf Bildungschancen gebe es eine kollektive Benachteiligung von Kindern aus Arbeiterfamilien. Aufgabe der bildungspolitischen Offensive mußte es also sein, Chancengleichheit herzustellen. Daran war auch die Wirtschaft interessiert, da die immer

Rudolf Vierhaus, Bildung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508-551. " Max Planck Institut für Bildungsforschung (Hrsg.), Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Reinbek b. Hamburg 1980, S. 219. Soziale Schichtung und Mobilität in Westdeutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialphilosophie, 10 (1958), S. 1-38, hier S. 20.

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differenziertere Arbeitswelt entsprechende, also höhere Berufsqualifikationen einer größeren Zahl von Erwerbstätigen erforderte. Doch ging es bei diesen individuell zu erwerbenden, durch faktische Chancengleichheit aber kollektiv zu sichernden Möglichkeiten um Lebenschancen, Beruf, Einkommen - das sind aber nicht oder zumindest nicht zwangsläufig Kriterien politischer Macht: „Wissen ist Macht" bedeutet also Fachwissen, technokratische Qualifikation für unterschiedliche Sektoren, ist letztlich politik- und systemunabhängig, benötigen doch moderne Industriegesellschaften, seien sie demokratisch verfaßt, autoritär oder diktatorisch regiert, gleichermaßen derartige Qualifikationen. Mit anderen Worten: Bildungspolitik dient nicht der Bildung, sondern der beruflichen Qualifikation, Wissen ist zunächst Fachwissen, der Appell, auch Allgemeinwissen sei nötig, bleibt unspezifisch. Der Wissensgesellschaft dienen Spezialqualifikationen, die technisierte Informationsgesellschaft macht die Information über alles und jedes zum Gebrauchsgut, das auf einem Markt immer schneller umgeschlagen wird. Auf diesem Markt kann Wissen durchaus Macht sein. Diese Macht ist aber nicht in erster Linie politische Macht, zumal selbst das Wissen über politische Zusammenhänge, über Politiker, für sich genommen nichts besagt, sondern von der medialen, in jedem Fall selektiven Vermarktung solcher Informationen abhängt. Daß angesichts der allgemeinen Schulpflicht nicht mehr das Problem des Analphabetentums besteht, oder anders gesagt, in modernen Gesellschaften die Lesefähigkeit der Normalfall ist und sich insofern die Anteile im Vergleich mit der Zeit um 1800 umgekehrt haben, zeigt den fundamentalen Wandel, obwohl diese Feststellung eine Binsenweisheit ist. Und ebenso bekannt ist, daß die Universitäten aufgrund der bildungspolitischen Offensive zu Massenuniversitäten geworden sind und dies in einem Ausmaß, das die erwähnte Klage von Emst Robert Curtius von 1932 nahezu unverständlich macht. Ein Beispiel zeigt dies: An der Universität Bonn studierten im WS 1930/31 insgesamt 5612 Personen, sie war damals gleichauf mit Köln und nach Berlin, München und Leipzig die viertgrößte deutsche Universität. Die Gesamtzahl der damaligen Universitätsstudenten betrug 95 807^^. Hinzu kamen insgesamt 28 870 Studierende an Technischen Hochschulen. Nimmt man die übrigen Hochschulen verschiedenen Typs hinzu, an denen es damals 9602 Studenten gab, dann gab es einschließlich der Ausländer bei einer Bevölkerung von etwas mehr als 62 Millionen (ohne Saargebiet) gut 134 ООО Studenten, und auch unter zusätzlicher Berücksichtigung der " Statistik des Deutschen Reiches 1931, S. 431.

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Hochschulen für Musik bzw. Bildende Künste belief sich die Zahl der Studierenden nur auf ungefähr 140 ООО. In der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin betrug die Gesamtzahl der Studierenden im Sommersemester 1951 knapp 103 ООО, die der Universität Bonn gegenüber 1930 nur geringfügig gesteigert 6548^1 Im Wintersemester 2000/2001 studierten an der Universität Bonn insgesamt 36 907 Studierende, die Gesamtzahl der Studierenden in Deutschland betrug nahezu 1,8 Millionen bei einer Bevölkerungszahl von etwa 82 Millionen. Der Vergleich dieser Zahlen von 1930 und 2000 und ihrer Relation mit der Bevölkerungszahl demonstriert, wie unterschiedlich die Perzeption von Masse und Massenuniversität ist. Nicht weniger bemerkenswert ist die rapide Vergrößerung der Studentenzahl in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie ist selbst bei Berücksichtigung unterschiedlicher Vergleichsgrößen (Bevölkerungszahl, Territorium, Erweiterung des Spektrums der Hochschultypen durch Fachhochschulen) enorm. Wir müßten also in einer Gesellschaft leben, die als Wissensgesellschaft zu bezeichnen ist, zumal wenn man die große Zahl gut ausgebauter Schulen und sonstiger Bildungseinrichtungen berücksichtigt. Ist unsere Gesellschaft aber tatsächlich eine Gesellschaft, in der Wissen Macht ist oder stellt sich etwa das Problem der Masse - und damit der Elitenbildung - noch viel dringlicher als in den Generationen, die sich zuerst mit diesen Themen auseinandergesetzt haben? Auch diese Frage kann nur differenziert beantwortet werden. Denkt man an Francis Bacons Ziel der Naturbeherrschung durch Wissen, dann scheint dies oftmals in geradezu gigantischem Ausmaß erreicht - aber als ein Wissen, daß sich fachspezifisch autonom wähnt, während die Generationen des 17. und 18. Jahrhunderts es noch an die „Göttliche Ordnung" binden wollten, wie schon im Titel des bevölkerungswissenschaftlichen Hauptwerks des 18. Jahrhunderts von Johann Peter Süßmilch zum Ausdruck kommt. Auch das Wissen ist - in mehrfacher Hinsicht - säkularisiertes Wissen, das der Bildung bedarf - der Bildung, nicht der berufsbezogenen Ausbildung. Eine ganz andere Frage ist freilich, wie Machtausübung bzw. Machtakkumulation durch Wissen in bestimmten gesellschaftlichen Subsystemen, beispielsweise Universitäten und Gremien ausgeübt wird: Pierre Bourdieu liefert in seinem Buch „Homo academicus" für die Wissenschaften instruktive Beispiele, wer es unterhaltsamer will, kann es in Dietrich Schwanitz' „Campus" finden. Doch hat dies eher mit gruppenStatistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1952, S. 70.

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dynamischen Prozessen denn mit dem Problem der Masse zu tun. In jedem Fall aber wohnt der Wissende auch bei Elias Canetti in der Gelehrtenstube: Die „Welt im Kopf macht seinen Sinologen Peter Kien nicht einmal dauerhaft gegenüber seiner Haushälterin mächtig. Insofern symbolisiert sein Roman „Die Blendung" eher die Ohnmacht des Wissens als seine Macht. Die Macht stand für Canetti, anders als noch für die frühen Autoren von Gustave Le Bon bis zu José Ortega y Gasset, in seinem Werk „Masse und Macht" in dialektischer Beziehung zur Masse und nicht zum Einzelnen. Canettis Unterscheidung verschiedener Massentypen zehrte von der Erfahrung des Jahrhunderts der Massen. Aber auch die Wissenschaft mußte vor ihrer Macht spätestens seit der Entwicklung der Atombombe und auch vor der Möglichkeit des Klonens von Menschen erschrecken. Deshalb war Hendrik de Man schon 1951 zu dem Schluß gelangt: „Der faustische Mensch hat seinen Willen zur Macht über die Natur so lange und erfolgreich betätigt, bis die Angst vor der entfesselten Naturmacht ihn erzittern läßt"^'. Wußte Francis Bacon, welchen Prometheus er da entfesseln wollte? Konnte Bacon ahnen, von welch tiefem Paradox die moderne Welt, die Welt des 20. Jahrhunderts, geprägt war? Hätte er wissen können, in welcher Weise „Entzauberung" (Max Weber) und Rationalisierung in extremen Irrationalismus und Barbarei umschlugen? Konnte er ahnen, wie extreme Steigerung des Wissens die Unfähigkeit zu seiner humanen und politischen Meisterung erst bloßlegte? Kein Zufall ist es jedenfalls, daß Theodor W. Adornos und Max Horkheimers „Dialektik der Aufklärung", die interpretatorisch in der Antike ansetzt, aber verstört und verstörend in der Gegenwart endet, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 erschien.

Hendrik de Man, Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit, Bern 1951, S. 145.

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'The thin crust of civilisation', the masses, power and political religions

The organizers of this symposium were kind enough to include a cryptic quotation in my title. Overcoming the minor confusion of 'veneer' with 'crust', my older, more literary-minded friends eventually identified the source, a book published in 1922 called Little Essays of Love and Virtue by the British sexologist Havelock Ellis, with a passage in which he remarked: 'All civilization has from time to time become a thin crust over a volcano of revolution'. Leaving aside such an improbable beast as a British 'sexologist', I wish to frame this talk with oblique reference to Joseph Conrad, the great Anglo-Polish novelist. He is of some relevance to any discussion of totalitarianism, not least because large passages of Hannah Arendt's Origins drew upon Conrad's fictional accounts of European imperialism. Even the term 'banality of evil' which became the Leitmotif of her account of the Eichmann trial, comes from Conrad's account of Russian nihilist terrorists in Under Western Eyes. Politically conservative, Conrad was not a religious man, but he wrote perceptively on what we might call the interdependence of the personal and the political, and, with his global experience as a former master-mariner, on the far-flung exotic mirrors in which civilised man glimpsed his primitive self The eruption in the heartlands of civilised Europe of atavistic attachments, and their complex relationship to our religious traditions, are among the themes I wish to address.' In 1920 Conrad's friend, the philosopher Bertrand Russell, spent five weeks in Bolshevik Russia as part of a Labour Party delegation. Russell was appalled by what he saw in Russia. This revulsion extended to the regime's ghoulish leaders, notably Lenin, laughing at the thought of the class enemy meeting a sticky end, and the literal wasteland of desolation Russell witnessed as his party endured, rather than enjoyed, a recreational voyage along the Volga, which was not without its Conradian

' On Conrad's life see Jocelyn Baines, Joseph Conrad. A Critical Biography, London

1960.

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Michael Burleigh

features, such as mosquitoes and sickness. Russell wrote up the Russian trip as an instant book, in which he was careful to omit impressions recorded in his letters, including the bizarre view, confided to Lady Ottoline Morrell, that the Bolshevik regime was 'an aristocracy ... composed of Americanised Jews'. Russell summed up his Bolshevik experience as follows: Ί felt that everything I valued in human life was being destroyed in the interests of a glib and narrow philosophy, and that in the process untold misery was being inflicted upon many millions of people'.^ Russell could not quite find the appropriate analogy for what he had seen. In a few pages, this notorious sceptic alighted upon the French Directory; Cromwell's Puritans; Plato's guardians; and the followers of Mohammed, before he concluded: 'The war has left throughout Europe a mood of disillusionment and despair which calls aloud for a new religion, as the only force capable of giving men the energy to live vigorously. Bolshevism has supplied the new religion'. He was hugely relieved to have left, remarking in the same letter to Ottoline Morrell: 'No vestige of liberty remains, in thought or speech or action. I was stifled and oppressed by the weight of the machine as by a cope of lead'. Such parallels also struck clerical, conservative and liberal opponents of Italian Fascism. In April 1923 the opposition journalist Amendola wrote: 'to possess power is not enough: [Fascism] wants to own the private conscience of every citizen, it wants the 'conversion' of Italians ... Fascism has pretensions to being a religion ... the overwheening intransigence of a religious crusade. It does not promise happiness to those who convert; it allows no escape to those who refuse baptism'.^ So far from being ashamed or outraged, the Fascists began to wear these criticisms with pride. As a leading Florentine Fascist remarked: 'If our opponents say to us, we are totalitarians, Dominicans, implacable, tyrannical, then don't be frightened by these adjectives. Embrace them with honour and pride ... don't refute them! ... We want to be Dominicans ... We want to be tyrannical!''' ^ Bertrand Russell, The Practice and Theory of Bolshevism, London 1920, pp. 15 ff.; and for his private correspondence see The Autobiography of Bertrand Russell, Boston 1968, p. 172, especially his letter to Ottoline Morell dated 25th June 1920; see also Ronald Clark, The Life of Bertrand Russell, London 1975, p. 380; and Ray Monk, Bertrand Russell. The Spirit of Solitude 1872-1921, New York 1996, pp. 572 ff. ' Emilio Gentile, The Sacralization of Politics in Fascist Italy, Cambridge, Mass. 1996, p. 32. ^ Ibid., p. 63.

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Before long, some observers began to compare Bolshevism and Fascism, or Nazism and Bolshevism simply as variant pseudo-religions. The Italian Catholic politician and Sicilian priest Luigi Sturzo dubbed these regimes a form of 'Stato L'Animo', and wrote: 'Bolshevism, Fascism and National Socialism are religions and must be religions'. In line with Alcide de Gasperi's pre-First World War criticism of the nationalist 'religione della patria', Sturzo began to speak of 'statolatry', that is the worship of the state itself. This view was in tum reflected in the Pius XI's 29 June 1931 encyclical Non Abbiamo bisogno, in which Fascism was described as 'an ideology which openly resolves itself into a true, a real pagan worship of the State'^. One of the first to give these impressions more developed form was Waldemar Gurian, a Russian-Jewish scholar who converted to Roman Catholicism and lived for a time in inter-war Germany, before moving to Notre Dame in North America. Gurian's analyses of Bolshevism as a totalitarian political religion may have owed something to his negative view of the extreme rightwing Action Française as a form of 'secularised Catholicism'. Be that as it may, in his 1932 book, Bolshevism: Theory and Practice, Gurian explained that: 'The Bolshevik outlook is, in short, determined by the adoption of a particular programme of political and social revolution as a religious creed. For Bolshevism, Marxism is not merely a sociological theory, a political method, but a revelation to be received with unquestioning faith, which admits of no doubt or radical criticism. This absolutism leads to the rejection of all moral obstacles that impede the execution of the party programme, the latter of course being the advent of the Bolsheviks to power' The advent of Fascism in Italy and National Socialism in Germany led other commentators to follow Gurian in giving casual impressions regarding 'political religions' more systematic form, just as others would gradually elaborate the insight that these regimes aspirations were best described as 'totalitarian'. In April 1938 the self-styled 'pre-Reformation Christian', Eric Voegelin, published a rather olympian essay which claimed that the modem ^ See Elisa Carrillo, Alcide de Gasperi. The Long Apprenticeship, Notre Dame 1965, p. 9, in a report de Gasperi delivered in August 1902 to the Assocation of Trentine Catholic University Students; see also Richard A. Webster, The Cross and the Fasces. Christian Democracy and Fascism in Italy, Stanford 1960, p. 96. ' Waldemar Gurian, Bolshevism. Theory and Practice, London 1932, p. 65; for appreciations of Gurian see 'The Gurian Memorial Issue'. The Review of Politics, 1955, 17, including impressions of Gurian by Hannah Arendt, Hans Kohn and Jacques Maritain.

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divinisation of class, state, race or nation, merely updated medieval gnostic heresies, by replacing the possibility of salvation in the hereafter with its certainty in the here and now/ At exactly the same time, the Manchester Guardian's former Berlin correspondent, Frederick Voigt, published a remarkable book called Unto Caesar, which combined a more lightly-wom philosophical and theological learning, some of it informed by the writings of the Swiss theologian Karl Barth, with a canny journalist's observations of the movements and men around him.® Here is Voigt on the differences between Lenin and Hitler: 'Lenin is a rationalist, though only within the narrow confines of the irrational Marxist myth. Hitler's mind is more intuitive. He has a sense, quite foreign to Lenin, of the dark, daemonic forces that move masses of men. For Lenin, religion is something unreal that can be explained out of existence. Hitler sees in religion a very formidable power, but useful to his purpose. Lenin is an open foe of Christianity, but so great is his contempt for all religions ... that he thinks they will simply disappear as men and women become 'enlightened' and thereby become Marxists. Hitler would inject his doctrines of race and nationhood into the Christian religion and so deprive it of its transcendental, eschatological character ... and making it secular, harness it to his purpose. Lenin is a would-be destroyer of religion, Hitler a corrupter of religion ... Lenin would destroy the altar, or at least promote its decay. Hitler would preserve the altar while replacing the Cross of Christ by the Swastika'.' Many of these insights were also evident in an instant book. The Totalitarian Enemy published in London by the erstwhile heterodox Leftist, Franz Borkenau, in 1940. Like Voigt, who became a 'Burkean neo-Tory', Borkenau was drifting, radically, from the simple-minded socio-economic analyses of 'Fascism' characteristic of the contemporary European Left to being one of the founders of the Congress for Cultural Freedom, the CIA's modest response to massive Communistinspired subversion during the first Cold War.'" ^ Eric Voegelin, Die politischen Religionen, 2nd edition, Munich 1996; see also the ground-breaking study by Norman Cohn, The Pursuit of the Millennium. Revolutionary Millenarians and Mystical Anarchists of the Middle Ages, revised second edition, Oxford 1961. ° For Voigt's life and thought see Markus Huttner, Totalitarismus und Säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn 1999, pp. 99 ff. ' F. A. Voigt, Unto Caesar, London 1938, p. 57. For an indifferent study see William David Jones, The Lost Debate. German Socialist Intellectuals and Totalitarianism, Urbana, Chicago 1999, pp. 118-124; and more

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Borkenau described the National Socialists as 'negative Christians' who turned 'all the elements of the religious spirit', such as abnegation, devotion, and self-sacrifice to a 'negative end'. They were 'men in a state of ferocious revolt against the tenets of Christianity, and therefore worshippers of all that in the Christian tradition is regarded as Satanic'." So far we have heard several voices, including Catholics and Jews, conservatives, liberals, former-Communists, skeptics and so forth, striving to comprehend the advent of disconcerting political phenomena through a discourse permeated by talk of religion. Naturally, interpreting political phenomena in these terms was no coinage of the inter-war era. In his The Ancien Regime and the Revolution Alexis de Tocqueville built on an insight derived from both Schiller's History of the Thirty Years War and Edmund Burke's contemporaneous Thoughts on French Affairs, regarding the way in which, as after the Reformation, the 'theoretical dogmas' of the French Revolution transcended any local political attachments.'^ By 'theoretical dogmas' Burke meant what we mean by 'ideology'. Tocqueville pushed this line further: 'Because the revolution seemed to be striving for the regeneration of the human race even more than the reform of France, it lit a passion which the most violent political revolutions had never before been able to produce. It inspired conversions and generated propaganda. Thus, in the end, it took on that appearance of a religious revolution which so astonished contemporaries. Or rather, it itself became a new kind of religion, an incomplete religion, it is true, without God, without

successfully Birgit Lange-Enzmann, Franz Borkenau als politischer Denker, Berlin 1996, pp. 137 ff. " Franz Borkenau, The Totalitarian Enemy, London 1940, p. 140. Alexis de Tocqueville, The Old Regime and the Revolution, edited and with an introduction and critical apparatus by François Furet and Françoise Mélonio, Chicago 1998, 1, pp. 99-101. Recent discussions of the concept of political religion include Philippe Burrin, 'Political Religion. The Relevance of a Concept', History & Memory, 1997, 9, pp. 321-349 and, albeit restricted to Germany, Wolfgang Hardtwig, 'Political Religion in Modern Germany. Reflections on Nationalism, Socialism, and National Socialism', Bulletin of the German Historical Institute, Washington D.C. 2001, 28, pp. 3-27, together with a rather ill-informed commentary by Jane Caplan that politically caricatures those who have written in these terms and avoids any philosophical or theological complexity, pp. 28-36. By contrast see the important studies by Hans Maier, Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg im Breisgau 1995, and his edited collections Totalitarismus und Politische Religion. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, 2 volumes, and Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt am Main 2000.

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ritual, and without life after death, but one which nevertheless, like Islam, flooded the earth with its soldiers, apostles and martyrs'. Now although Tocqueville's notes and revisions show that he had intellectual difficulties with these analogies, there was some point to them in the sense that Mirabeau wrote that the Constituent Assembly was designed to 'regenerate' France; called the ensuing National Assembly 'the inviolable priesthood of national policy'; the Declaration of the Rights of Man 'a political gospel' and the 1791 Constitution a new religion 'for which the people are ready to die'.'^ Tocqueville was wrong about the lack of ritual, for as Mona Ozouf has shown, the Jacobin phase of the French Revolution developed its own elaborate public cults, based on reason, or worse, virtue, as part of a concerted attempt to 'déchristianisé' France, before the cult of the 'Supreme Being' was inaugurated to reverse this process.''* The revolutionaries, a new class of men and women, also sought to impose a new moral code based on an amalgam of Roman Republican stoicism and Rousseauiste communitarian sentimentality, as exemplified, in the first case, by the paintings of David such as his Oath of the Horatii or Death of Marat. The nationalisms of nineteenth-century Europe (and beyond) annexed this sacralised political style and used it in order to mediate more effectively between the nation and its people. The art and rhetoric of nineteenth-century European nationalism, whether one thinks of Garibaldi, Mazzini, Michelet, Mickiewicz or Verdi, was saturated with quasireligious emotion, even though few took things so literally as the disciples of Garibaldi who in 1864 fashioned a catechism which included the immortal line: 'Thou shalt not kill, except those who bear arms against Italy'. An 1863 calendar lithograph consists of Garibaldi's haloed bust on an altar, bedecked with muskets, canon balls, and a nice arrangement of bayonets.'^ Michelet was explicit in regarding nationalism as a substitute for a defunct Christianity, writing: 'It is from you that I shall ask for help, my noble country, you must take the place of the God who escapes us, that you may fill within us the immeasurable abyss which extinct Christianity has left there'. For Michelet the Revolution itself rather than its ephemeral secular cults became a religion. The Third Republic's efforts " Ibid., 'Notes and Variants' 1, pp. 324-329. Mona Ozouf, Festivals and the French Revolution, Cambridge, Mass. 1988. ^^ Adam Zamoyski, Holy Madness. Romantics, Patriots and Revolutionaries 17761871, London 2000, pp. 408 f, and Omar Calabrese (ed.), Modern Italy. Images and History of a National Identity, Milan 1982,1, p. 48 for the 1863 lithograph of Garibaldi.

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to institutionalise festivals were by and large a flop, with only the huge public funerals of Victor Hugo or Michelet himself producing much posthumous popular response. The absolutisation of the nation, with its promise of collective eternal transcendance, led to its sacralisation, with the hand of God evident in the 1871 victory of Protestant Germany, and its 'Kultur', over the mere 'civilisation' of French Catholicism, a theme of providential mission which the Protestant English nation and its propagandists had already pioneered as a means of explaining how in 1588 or 1605 the English had triumphed over the Roman Catholic powers of darkness. Both the nineteenth-century nation states and what we would call activists and lobbyists collaborated in establishing the festivals, rituals, spaces and symbols in which each nation worshipped itself, either in the guise of the past or the present, or some mythologised fusion of both. Some of these things were state-sponsored monuments like that to King Victor Emmanuel II; others like Hermann the German or the ubiquitous Bismarck towers were the product of enthusiastic nationalists within the German population.'® Among the working classes, a pre-scientific Utopian Christian-Socialism sat uncomfortably with Marxist atheism, whose critics, of course, regarded that, rightly I think, as a pseudoreligious doctrine of salvation. For there was some point in this comparison too, judging by either Proudhon's warnings to Marx 'let us not make ourselves the chiefs of a new religion', or the rebuke which Wilhelm Liebknecht delivered to the revisionist Eduard Bernstein: 'Islam was invincible as long as it believed in itself ... But the moment it began to compromise ... it ceased to be a conquering force ... Socialism can neither conquer nor save the world if it ceases to believe in itself. Like many religions (or sects) one can think of, nineteenth-century socialism tried to create a sort of ghetto, in which the socialist would not encounter troublesome thoughts, if not from cradle to grave, then from cradle to crematorium."

" Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, pp. 133-173. " One of the earliest explorations of these themes is Vernon Lidtke, 'August Bebel and German Social Democracy's Relation to the Christian Churches', Journal of the History of Ideas, 1966, 27, pp. 245-264; for a more skeptical recent view see Sebastian Prüfer, Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890, Göttingen 2002; Berthold Unfried/Christine Schindler (eds.), Riten, Mythen und Symbole - Die Arbeiterbewegung zwischen 'Zivilreligion' und Volkskultur, Vienna 1999, pp. 34 ff.

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This diffuse religiosity, with its diminishing reference to the transcendental, seems to many scholars to be part of a much more complex process of secularisation. Its milestones would include the progressive féminisation of religion as men looked elsewhere; the challenge to a religious view of the world from anticlericals, liberals, socialists, and many scientists, or, more weakly, the evolution of the higher forms of Protestantism into a cultured humanism, in which, as Thomas Nipperdey once remarked, an Easter Sunday could just as agreeably pass listening to Wagner's Parsifal as Bach's St Matthews Passion.'® In his 1927 essay, The Future of an Illusion, the atheist Sigmund Freud has an imaginary opponent say: 'If you want to expel religion from our European civilisation, you can only do it by means of another system of doctrines; and such a system would from the outset take over all the psychological characteristics of religion- the same sanctity, rigidity and intolerance, the same prohibition of thought - for its own defence'. Of course, you too might object, that in some countries secularisation hardly happened at all - especially if, like Ireland or Poland, national self-assertion or self-preservation was intimately bound up with Roman Catholicism, or in Northern Ireland a beleaguered evangelical Protestantism. Likewise, you might point to the relative health, if that is what it is, of religion in the USA, at least in terms of the numbers of those who claim to attend a multitude of churches. But the proponents of secularisation will respond by explaining that, in the Polish case, the strength of Catholicism has ebbed with the downfall of an alien Communist tyranny, while the American case simply reflects the transitional anxieties of an immigrant society, or how ethnic groups maintain and assert their identities through the generations. Be that as it may, I think it is undeniable that across much of Europe, something called secularisation occurred, whether in terms of the separation of church and state; 'disenchanted' explanations of how and why things happen - most people call the ADAC rather than St. Christopher when their car breaks down - or the substitution of a transferable religiosity, focused on art, science, sport and politics, or what you will, for a more severe tradition whose focus is on the immutable and transcenden-

" Thomas Nipperdey, 'Religion und Gesellschaft. Deutschland um 1900', Historische Zeitschrift, 1988, 246, p. 605; and his Religion im Umbrach. Deutschland 1870-1918, Munich 1988, especially pp. 140 ff. " Sigmund Freud, The Future of an Illusion, New York 1961, pp. 65 f ; for one of the best discussions of secularization see Hugh McLeod, Secularisation in Western Europe 1848-1914, London 2000.

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tal. It seems to me that the totalitarian political religions were the malign face of these developments, for we should not be too hard on those who 'worship' a pop star or football club, and that they were products of the great shock with which the last century began.^'' The First World War gave enormous impetus to the sacralisation of politics as well as to the less remarked reverse process of the nationalisation of religion, as the clergy localised the flow of the milk of human kindness to their own belligerent nation. The conviction that 'Gott ist der Gott der Deutschen' was mirrored by the claim that He was an Englishman. Hopes for an early victory turned into daily fatalities of over six thousand men, drawn out over more than four years. The agony of mass death amidst mud, barbed wire, shells and poison gas fuelled religious yearnings, a Durkheimian effervescence, which was sometimes reflected in a turning to such things as spiritualism, as well as lucky coins and rabbit's feet. As one observer of the British Army put it: 'The soldier has got religion. I am not sure that he has got Christianity The First World War, and its aftermath, in some countries, of defeat, disappointed national ambition, and bloody revolution, acted as a forcing house, radicalising many of the trends of which we have spoken, with one form of totalitarian extremism feeding off the other. The symbolism of death and resurrection, dedication to the nation, the mystic qualities of blood and ultimate sacrifice, the cults of heroes and martyrs, the masculine communion of the trenches, led to the notion of a sacralised politics as a more satifying response to the multiple contigencies of post-war life than either liberal politics or transcendental religion. If the 1914-18 war produced the social ferment, and hence mass appetency, for a compelling new faith, its own imagery and rhetoric were absorbed into the mass, metapolitical creeds of Fascism and Nazism, with Hitler as the unknown soldier who returned alive from armageddon to speak on behalf of the bronze mute-men memorialised in Europe's monuments. The cultural shards of a shattered world were reassembled by a generation of arrogant political 'artistes', beginning with the poet ^^ See the recent collection of essays edited by Gerd Krumeich and Hartmut Lehmann, 'Gott mit uns'. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000. The British literature includes Alan Wilkinson, The Church of England and the First World War, London 1978. ^^ Hans-Ulrich Thamer, 'Politische Rituale und politische Kultur im Europa des 20. Jahrhunderts', Jahrbuch für Europäische Geschichte, 2000, 1, pp. 7 9 - 9 7 ; and George Mosse, The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich, Ithaca 1975.

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D'Annunzio's madcap antics on a balcony in Fiume and ending with the tragedy of Thomas Mann's Brother Hitler in Germany. Audaciously and knowingly these personalities and their propagandists constructed cultic spaces and symbols, eclectically pillaged from remote as well as recent times, from paganism and Christianity, or from the 'Red Dragon' of the European labour movement. In Italy, Mussolini's Fascists liberally pillaged the central symbols of the Risorgimento, but stripped them of any romantic-universalist connotations. Mussolini's newspaper, II Popolo d' Italia evoked Mazzini's L'Italia del Popolo. The latter's Young Italy movement was echoed in the Fascist hymn Giovinezza or 'Youth'. Even the Fascists black shirts were what one might call an anarcho-syndicalist 'cover version' of the slaughtermens's red smocks which Garibaldi's Italian Legion acquired in Montevideo, while they were defending Uruguay against neighbouring Brazil and Argentina. The object of what ambassador François-Poncet dubbed 'holy mania' was twofold. Garish colours, raucous noise and tribal drum beats would heighten the contrast with democratic, gray, senescence. Spectacle would replace what Hitler dismissed as the dreary 'Tagesfragen', 'Tagesdinge', or 'Tageskram' of parliamentary politics in Weimar, which tragically failed to enthuse the nation with its anemic celebrations of its own republican constitution. Why couldn't Ebert, the Jewish publisher Ullstein asked, try to match the cavalry parade which accompanied Poincaré at Longchamps?^^ The Nazis's choreography of hundreds of thousands was also a counterfeit version of mass political participation, whereby the mass and the leader came into direct conununion without intermediate institutions, and individuals could give vent to ugly thoughts in the darkness which provided collective anonymity. In the ancient Franconian city of Nuremberg, the Nazi Party spent up to eight days at a time worshipping its leader and itself; while every November in Munich, it recalled the twenty-three 'Ur-Martyrs' whose 'blood sacrifice' had paved the way for the reborn Reich in rituals designed to drink the cup of pathos to the last drop. The so-called 'blood banner' of the Movement played a prominent role in both ceremonies.^^ God knows what emotions were stirred by the anticipation; the drum beats; the torches; the heathen flags; and the darkness! George Orwell implied this in his rather gentle 1940 review of Mein Kampf •when he wrote that: ^^ Hermann Ullstein, The Rise and Fall of the House of Ullstein, London 1940, pp. \A2143. ^^ Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow 1996.

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'Hitler ... knows that human beings don't only want comfort, safety, short-working hours, hygiene, birth-control, and, in general, common sense; they also, at least intermittently, want struggle and self-sacrifice, not to mention drums, flags and loyalty-parades'.^'* Finally, all of these parties more or less exhibited what you might call the sociological characteristics of churches, with their canonical texts, apostates and heresy hunts, as well as existential sanctions for those brave few who decided to lapse or opt out. Clearly, some sort of pseudo-religious appetency, as opposed to simply the honing of Hitler's image as self-less leader by skillful propaganda, characterised the way in which a small sect of core believers became, in the space of a few years, an imposing mass movement. What are to make of the man who stretched out his hand through the cordon of SS men guarding the Führer, who found that the exclamation 'Heil' would not spring from his over-excited throat. He felt his hand being pressed by Hitler who stared into his eyes. What is more worrying is what followed, namely 'My comrades, witnesses of my good fortune, gather round me. Each one wants to shake the hand which had rested in the right hand of the Führer'. To be involved with this anti-party was to find life's ultimate рифозе, or what one supporter called 'the enormous elementary power of the Führer'. He went on: 'whenever I worked for the Movement and applied myself for our Führer, I always felt that there was nothing higher or nobler I could do for Adolf Hitler and thereby for Germany, our people, our fatherland ... The real content of my life is my work for and commitment to Hitler and towards a National Socialist Germany The German journalist Konrad Heiden wrote what I think is the greatest biography of the man he called 'the Anti-Christ', even if it breaks off in 1934 when Heiden had to flee the country. For there is much about Hitler that does indeed resemble the Anti-Christ, at least in the sense that Signorelli depicted that figure in one of the bays in Orvieto cathedral. Hitler's own uses of religion served multiple functions. Although no one has investigated the subject very thoroughly, this lapsed Austrian Catholic seems to have been a deist, who also espoused the 'iron laws of ^^ George Orwell, 'Mein Kampf, New English Weekly, 21 March 1940, reprinted in: Peter Davidson (ed.), The Complete Works of George Orwell, London 1995, 12, pp. 116-118. ^^ Ian Kershaw, The Hitler Myth. Image and Reality in the Third Reich, Oxford 1987, p. 30.

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nature' with a religious fervor.^^ He certainly regarded the JudeoChristian tradition as enfeebling the racial will, although that did not stop him ransacking its vocabulary of belief, deliverance, pathos and pity.^^ In line with nineteenth-century liberals he detested 'political Catholicism', that is the involvement of priests in secular affairs, while envying the Church's tenacity and the totality of its hold on its adherents. In some senses, it would take the experience of Fascism and Nazism for the Roman Catholic Church (and the Protestant churches in Germany) to normalize its relations with liberalism. Like the early Bolshevik regime, the Nazis tried tactics of divide and rule against the Christian churches, with the muscularly militant German Christians standing in for the Orthodox Renovationists, and sundry neopagans for the Bolshevik League of the Militant Godless.^^ Hitler allowed the so-called German Christians their head, until their attempts to widen the appeal of Protestantism by making its content approximate that of Nazism so as to hijack the latter's mass following, caused Hitler more trouble than they were worth.^' There the parallels with Bolshevism ended. Hitler was shrewd enough to disown those of his followers, such as Himmler or Rosenberg, who seemed to want to convert the Party into a cult or sect, let alone a denomination of international Fascism. He wanted it to be a 'church', although only Goebbels made that point explicitly. The July 1933 Concordat with the Holy See conferred respectability on the Nazi regime while neutralising 'political Catholicism', although the Nazis did not respect the boundaries established in that agreement, and soon went onto the offensive against the Catholic clergy for alleged currency speculation or sexual peccadillos. By con^^ Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, Munich 1998; and more popularly Michael Rissman, Hitlers Gott. Vorsehungsglaube und Sendungsbewusstsein des deutschen Diktators, Zürich 2000; see also the still valuable older study by Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971. See Detlev Grieswelle, Propaganda der Friedlosigkeit - Eine Studie zu Hitlers Rhetorik 1920-1933, Stuttgart 1972, especially pp. 43-63; James Rhodes, The Hitler Movement. A modern Millenarian Revolution, Stanford 1980; as well as the seminal articles and lectures by Uriel Tal, 'Political Faith of Nazism Prior to the Holocaust', Tel Aviv 1978; and 'Structures of German "Political Theology" in the Nazi Era', Tel Aviv 1979, a collection of Tal's writings as Faith, Hope and Nazism, London 2003. See Robert Conquest, Religion in the USSR, New York 1968; William Fletcher, The Russian Orthodox Church Underground 1917-1970, Oxford 1971; and Daniel Peris, Storming the Heavens. The Soviet League of the Militant Godless, Ithaca 1998. Doris L. Bergen, Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill 1996.

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trast, in the later 1920s, the aggressively atheist Bolsheviks literally attacked the Orthodox Church, murdering as many as 42,000 clergy between 1918 and the later 1930s, and reducing the number of churches in Russia to 2.5% of the 1920 total.^" As I mentioned earlier, Frederick Voigt described Hitler as a corrupter of religion. In a sense this made his challenge more insidious than that of Bolshevism, whose explicit attempt to destroy Christianity ironically resulted in an efflorescence of faith in the Soviet Union despite, or perhaps because of, the fact that the Orthodox Church was stripped of legal rights and its property and subordinated to the GPU. You can see this mirrored in the response of the Papacy to the advent of totalitarianism, in the sense that Pius XI's two March 1937 encyclicals, condemned a trait of Nazism - ironically enough, racism - while Communism was declared to be 'intrinsically perverse' and condemned entirely. This doctrine of the 'lesser evil' has haunted the churches for the entire postwar era. In general terms. Hitler claimed for himself the ability to transform national perdition into redemption. More specifically, the Bible and Lord's Prayer were hijacked whenever he needed an especially stirring rhetorical flourish, as when in an early speech he spoke of 'the new German kingdom of greatness and power and glory and justice. Amen'.^' On one notorious occasion, a recording of church bells was used to imply that a speech had been delivered within Königsberg cathedral. The hand of God was routinely invoked to 'explain' the 'miracle' of his own providential election: 'That is the miracle of our age that you have found me ... that you found me among so many millions! And that I found you, that is Germany's good fortune!'. Much of this was designed to reassure traditional opinion, which in the case of both churches, responded to his claims to be carrying out a form of moral regeneration. In his first proclamation as head of government, Hitler promised that his government would 'extend its strong, protecting hand over Christianity as the basis of our entire morality, and the family as the germ cell of the body of our Volk and State'. A couple of weeks later he vowed that: 'It shall be our task to burn out those manifestations of degeneracy in literature, theater, schools, and the press - that is, in

^^ For contemporary accounts of these campaigns see (Anon, ed.) The Persecution of the Catholic Church in the Third Reich. Facts and Documents, London 1940, pp. 263-328. " Max Domarus, Hitler. Speeches and Proclamations 1932-1945, London 1990, 1, p. 250, speech dated 10 February 1933.

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our entire culture' a vow which soon took the form of proscribing and burning books.^^ Having been victimised by aggressive liberalism for about a century, and seen their brothers and sisters in Christ murdered by Bolsheviks and then by Mexican and Spanish anticléricale the churches conditionally embraced an explicitly anti-liberal, anti-Marxist political movement, whose communitarian rhetoric was also not without resonance among believers, but with reservations about its deification of the State and 'scientific' racialism. Let us tum briefly to an especially insidious example, for Nazism was as much about jangling collection boxes held aggressively by shiny-faced boys and girls as about boots connecting with helpless faces. The Christian virtue of Charity was appropriated, not primarily to care for needy 'national comrades', but in the form of the National Socialist People's Welfare organisation, to involve up to seventeen million people in this relatively innocuous Party formation, while simultaneously further diminishing the churches radius of activity to purely spiritual functions." 'Sometimes when I see shabbily dressed girls, shivering with cold themselves, collecting with infinite patience for others who are cold, then I have a feeling that they are all apostles of a certain Christianity! This is a Christianity which can claim for itself as no other can: this is the Christianity of a sincere profession of faith, because behind it stands not the word, but the deed!' That was from a speech Hitler delivered in 1935. Cynical foreign policy manouevres, such as the 1938 Anschluß with Austria, were construed as miracles of the 'faith that can move mountains'. Who would notice when Christ apparently went to work in the Temple to cleanse it of 'the same Jews whom He called vipers, sons of Satan, devils, with whom the same Saviour wanted no peace'. This being the sort of slippery shift that is of the essence of what Voigt meant by calling Nazism a 'corrupter of religion'. The churches' sincere concerns with neo-pagan sectarians within Nazism were, as Waldemar Gurian astutely noted in his 1936 Hitler and the Christians, akin to mistaking parasitic 'robber bands' attached to, but also dispensable to, a larger army whose relations with Christianity were much more intimate, in the sense that a tumor grows into and out

" Ibid., 1, p. 233, speech dated 1 February 1933. '' The best study of Nazi welfare organizations remains H. Vorländer, Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard am Rhein 1988.

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of an organ.^'' In fact, Nazism wrapped itself in several of the surrogate faiths of the nineteenth-century, including the arts and sciences, although I think the recent emphasis on bastardised science has begun to distract from the role of bastardised religiosity, while as yet, no one has seen fit to study Hitler as a caricature of the nineteenth-century romantic artist. To adapt an insight of Weber's, without too much mental effort we can 'tune in' to currents like eugenics, which doubtless animated a tiny percentage of professional people involved with Nazism, while sending a shudder down the spines of anyone contemplating their own dysfunctional families, but we are almost tone deaf nowadays to the religious elements which may have moved hundreds of thousands. For the potency of Nazi ideology is surely impossible to comprehend without some discussion of quasi-theological categories. Here, I think, all talk of neo-paganism or occultism is slightly beside the point: an antiquarian diversion from the main point. Nazism was the ideological legatee of those who had already reconciled racial science and religion, by acribing a racially-redemptive mission to the racially defined chosen people. Unlike the great transcendental monotheisms, Nazism offered redemption in the here and now, at least for a racial-elect, once the final apocalyptic clash of 'Aryan' and 'Jew' had been won. As Saul Friedländer has argued, this fusion probably came from those who tended the dead maestro's legacy at Bayreuth. A vulgarised Darwinist scientific reductionism and bombastic Nietzscheanism, further provided the amoral claptrap needed to liberate the 'new man', in itself a concept which owes much to Christian notions of rebirth, from allegedly defunct traditional values. Severally, these lofty progenitors enabled the artistgenius-messiah Hitler to distinguish his Movement from the folk beliefs of mere peasants or the dusty little racist certainties of the academic proletariat. Rather like the farm boy or garage mechanic who could become a somebody by slipping on Party uniform, Mr and Mrs Everyman were being told they were part of the racially-elect elite too. In a specific sense, Nazism reconciled the otherwise conflicting forces of elitism and mass democracy.^^ Now so far I have merely drawn attention to ways of studying mass politics which owe something to the vocabulary of our shared religious inheritance, and to the insidious ways in which Fascist and Nazi usurpa-

^ Waldemar Gurian, Hitler and the Christians, London 1936, p. 59. See especially Saul Friedländer, Nazi Germany and the Jews. The Years of Persecution 1933-1938, London 1998.

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tion of that vocabulary made them more difficult to combat than the outright assault on religion in the Soviet Union. I want to tum finally to another subject which it is not fashionable to address, namely how these regimes attempted to tum these beliefs into new moralities, or rather, how they literally sought to engineer a 'new man' or 'new woman'. The new type, actually a group of off-duty SS men, was well-observed by the aristocratic diarist, Friedrich ReckMalleczewen, disporting themselves in a Berlin basement nightclub in early 1939: 'The first thing is the frightening emptiness of their faces. Then one observes, in the eyes, a kind of flicker from time to time, a sudden illumination. This has nothing to do with youth. It is the typical look of this generation, the immediate reflection of a basic and completely hysterical savagery ... woe to Europe if this hysteria that confronts us now gets free rein. These young men would tum the paintings of Leonardo into an ash-heap if their Fuhrer declared them degenerate ... Or they will peφetuate still worse things and worst, most dreadful of all, they will be totally incapable of even sensing the deep degradation of their existence'.^® Now it is superflous, in this context, to follow men such as these into their element of destruction. The ideas of throwing over the 'old Adam', or of becoming someone else through baptism, conversion or joining a religious order are, of course, deeply embedded in the Christian tradition. As Norman Cohn showed in his great study of medieval millenarians, the project of actually realising heaven on earth, existed as a sort of gnostic counterpoint to orthodox Christianity before assuming secular guises in the course of the late eighteenth and nineteenth centuries. Marx's concept of man's alienation is a story of perdition and redemption: from a capitalist world in which atomised man is an unreal shadow among more tangibly real 'things' to communism where he could realise his multifarious potentialities as critic, hunter, fisherman or shepherd in a society which would undergo no further evolution, and in which the shadowman would reassume substantiality. The sinless proletariat would be the agent of redemption, even if this might involve its imposing a sinful dictatorship to ensure that the forces of evil did not regroup or rally. In Russia, the Bolshevik 'party of the new type' employed German Marxism to mask the older indigenous figure of the revolutionary intellectual establishing his or her authority through the incantation of populism, scientism and the tactics of terrorism. The Party was the Friedrich-Percyval Reck-Malleczewen, Diary of a Man in Despair, London 1995, p. 74, entry dated April 1939.

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holy water in which deracinated intellectuals, like Lenin himself, would be rebaptised as part of the proletarian vanguard who would reforge mankind and society through apocalyptic revolutionary violence. Like monks they took on a new being through a symbolic change of name: 'Anvil', 'Hammer', 'Man of Steel' being preferred in these circles to anything gentler. Trotsky described the 'new man' that Soviet society would engender: 'Man will be incomparably stronger, intelligent, and finer: his body will be more harmonised, his movements more rhythmic and his voice will become more musical. The forms of everyday life will take on a dynamic theatricality. The average human type will be raised up to the level of Aristotle, Goethe and Marx. And over this mountain chain new peaks will come into view'. Trotsky's aim was a 'new socio-biological type - if you like, the creation of a superman'.^^ This brings me to another nineteenth-century philosopher who was much taken with this idea, although the term over-man is probably better than 'superman', with its connotations of Clark Kent. Nietzsche's Übermensch was a composite of antique rulers. Renaissance condottiere, the romantic genius, Carlyle's great men, and Darwinian evolution from lower to higher species. The death of God ushers in a time of nihilism in which the 'last man' sinks into paralysing banality and triviality. It also heralds the arrival of the Übermensch, men who awake from the narcolepsy of false religious consciousness. The 'new man' was simply the 'old man' stripped of Christian values and their secular analogues, the embodiment of a 'transvaluation of values'. Things considered evil in the Christian tradition were converted into virtues. Of course, in reality, the 'over-man' when he appeared was an ignoble demi-human predator, just as the Soviet 'new man' was little more than helot in overalls. Both regimes tried to engineer a 'new being' through a controlled education system; by the marginalisation or obliteration of those espousing other values; and the positive extolling of individuals with the desired abstract attributes. The boy martyrs Pavel Morozov here; Hitlerjunge Quex there. The SA man Horst Wessel on the one hand; the superhuman miner Alexei Stakhanov on the other. But beyond this, intelligent contemporaries noted a more insidious form of moral corruption. As when an anonymous Christian correspondent of the exiled SPD compared what was happening to the renewal of a railway ^^ For the above see Gottfried Kilenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Munich 1994, especially pp. 109 ff.; and Arthur Klinghoffer, Red Apocalypse. The Religious Evolution of Soviet Communism, Lanham 1996.

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bridge. At first passengers on trains remarked the heightened activity, but eventually hardly glanced up from their newspapers as they commuted across this work in progress. In the meantime, each bolt, girder, and rail had been replaced, so that the new bridge resembled the old only in its Platonic essence. Something like that had occurred under National Socialism. This project was massively focused on young people, on the grounds that the older generation was corrupted by the past, while the young were the key to controlling the future. Anyone dubious about Nazism's totalitarian aspiration should read the 1938 speech in which, after reviewing the progress of every child of ten and upwards to maturity through Nazi formations. Hitler concluded with the promise that 'they will not be free again for the rest of their lives'. The ways in which this goal of moral reconstruction were pursued involved both marginalising traditional sources of authority, such as clerics, teachers, and even parents, as the loyalties of the young were re-routed to paramilitary youth formations. This was not just a matter of young people being over-occupied through politicised activities outside home or school, but the 'empowerment', as we may as well call it, of children vis à vis priests and teachers, and the re-introduction into the household of alien beings with attitudes and opinions which sometimes radically jarred with those of their gentler parents. Once venerable universities were wrecked by radicalised students, to whom every professor mindful of his career, had to pander. For just as Nazism managed to blend the quintessential Christian virtue of Charity, for the racial elect, with terror for the racially condemned, or if you like bathos with brutality, so totalitarian regimentation was shot through with a rhetoric of liberation. As the Nazi pedagogue-in-chief Ernst Krieck clumsily put it: 'blood and race are the place upon which man attains a consciousness of himself and thus freedom. Race and blood are unavoidable primeval forces with primeval power, and in accepting the yoke of these forces man is liberated from enslavement to reason, logic, and other sterile forms of the human spirit'. Worse, in this witches whirlygig of the familiar and the unfamiliar, one might, following centuries of theological casuistry which justified slaughtering Moslems, heretics, pagans and sometimes Jews, speak of love in the same breath as killing. Most of history's mass murderers have invoked the moral high ground, but surely none so disturbingly as Himmler, when in one of the rare occasions he spoke publicly of the fate of the Jews he remarked: 'We had the moral right, we had the duty towards our people, to destroy this people who wanted to destroy us ... All in all, however, we can say that we have carried out

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this most difficult of tasks in a spirit of love for our people. And we have suffered no harm in our inner being, our soul, our character'. But there is no need here to elaborate on the view from the abyss. Rather than follow the teleological pull towards those ultimate horrors, let's end where we began.^® I started by mentioning Joseph Conrad and his friend Bertrand Russell. Borrowing a famous phrase from the English 'sexologist' Havelock Ellis, Russell once said of Conrad: Ί felt... that he thought of civilised and morally tolerable human life as a dangerous walk on a thin crust of barely cooled lava which at any moment might break and let the unwary sink into fiery depths'.^^ The narrator Marlow in Conrad's Heart of Darkness speaks of a 'remote kinship with this wild and passionate uproar' of the savages. Conrad's The Secret Agent ends with Winnie Verloc plunging a carving knife into the chest of her husband Adolf, the anarchist agent provocateur responsible for the death of her idiot son Stevie as he tripped while carrying a bomb destined for the Royal Observatory in Greenwich Park - a target chosen as a symbol of 'bourgeois' belief in scientific progress. 'Into that blow ... (she had put all the inheritance of her immemorial and obscure descent, the simple ferocity of the age of caverns, and the unbalanced nervous fury of the age of barrooms'.'*" We have already encountered that potentiality in ReckMalleczewen's diary. Here I have merely intimated how that savagery came to be so closely entwined with religion or something very uncomfortably like it. A theme of some topicality as other religious fanatics from other times, traditions and places steer hijacked aircraft into the major symbols of the world's greatest democracy.

Doc-1919-PS International Military Tribunal 29, pp. 110-173. For the long-range view of how the pure 'we' sought to eliminate the impure 'they' see Bairington Moore, Jr., Moral Purity and Persecution in History, Princeton 2000. ' ' Baines, Joseph Conrad, p. 536. Joseph Conrad, The Secret Agent, London 1907, p. 234.

Autorenverzeichnis

Winfried Becker, geb. 1941, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau Michael Burleigh, geb. 1955, Kenan Professor of History an der Washington and Lee University, Lexington (Virgina) Josef Isensee, geb. 1937, em. Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn Horst Möller, geb. 1943, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte Georg Rudinger, geb. 1942, Professor für Psychologie an der Universität Bonn Michael Salewski, geb. 1938, Professor für Neueste Geschichte, 19. und 20. Jahrhundert an der Universität Kiel Paul W. Schroeder, geb. 1927, em. Professor des Department of History der University of Illinois, Urbana (Illinois) Peter Stadler, geb. 1925, em. Professor an der Universität Zürich für Neuere und Schweizergeschichte Klaus Tenfelde, geb. 1944, Professor und Geschäftsführender Leiter des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum