Marxismusstudien. Zweite Folge

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SCHRIFTEN DER EVANGELISCHEN STUDIENGEMEINSCHAFT

MARXISMUSSTUDIEN Zweite Folge

Beiträge von I. FETSCHER, CH. GNEUSS, H. H. GROOTHOFF, E. MATTHIAS, E. METZKE, R. NÜRNBERGER, TH. RAMM, E. THIER

herausgegeben von IRING FETSCHER

J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN

TRENT UNIVERSITY LIBRARY

SCHRIFTEN DER EVANGELISCHEN STUDIENGEMEINSCHAFT 5

BERICHTIGUNG Marxismusstudien. Zweite Folge

In dem Beitrag von Erich Matthias sind eine Reihe von Ver¬ weisen in den Anmerkungen zu korrigieren: In Anm. 2), S. 153 muß es heißen: (s. S. 151, Anm. 2). In Anm. 1), S. 156 muß es heißen: (s. S. 153, Anm. 2). In Anm. 2), S. 157 muß es heißen: (s. S. 153, Anm. 2). In Anm. 3), S. 157 muß es heißen: (s. S. 155, Anm. 1). In Anm. 2), S. 158 muß es heißen: s. den Aufsatz von Chri¬ stian Gneuss in diesem Band S. 198 ff. In Anm. 1), S. 165 muß es heißen: vgl. auch den BernsteinAufsatz von Christian Gneuss in diesem Band S. 225. In Anm. 1), S. 167 muß es heißen: vgl. S. 166, Anm. 1. In Anm. 3), S. 172 muß es heißen: s. S. 166, Anm. 3. In Anm. 1), S. 176 muß es heißen: Für die Frage der Budget¬ bewilligung vgl. oben Abschn. V, bes. S. 167, Anm. 4. In Anm. 1), S. 179 muß es heißen: Vgl. dazu die oben, S. 173, Anm. 2, zitierte Arbeit. In Anm. 1), S. 180 muß es heißen: (s. oben, S. 156, Anm. 2). In Anm. 1), S. 187 muß es heißen: (Artikelserie »Was nun?«, s. o. S. 182, Anm. 2). In Anm. 4), S. 190 muß es heißen: (»Was nun?«, s. o. S. 182. Anm. 2).

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MARXISMUS¬ STUDIEN Ziveite Folge

Beiträge von I. FETSCHER, CH. GNEUSS, H. H. GROOTHOFF, E. MATTHIAS, E. METZKE, R. NÜRNBERGER, TH. RAMM, E. THIER herausgegeben von IRING FETSCHER

1957 J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN

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© J. C. B. Molir (Paul Siebeck) Tübingen 1957 Alle Rechte Vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen Printed in Germany Satz und Druck: Ernst Klett, Stuttgart Einband: Heinr. Koch, Großbuchbinderei, Tübingen

Dieser Band ist gewidmet dem Andenken von ERWIN METZKE geb. am 3. 7.1906, gest. am 3. 7.1956

Die

in

den

beiden Bänden

der Marxismusstudien

enthaltenen

Arbeiten wie die ganze Arbeit der von der Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien ins Leben gerufenen Marxismus-Kommission ist nicht zu denken ohne das Wirken des Mannes, der am Morgen seines 50. Geburtstages durch einen Herzschlag plötzlich aus seinem zeitlichen Dasein abberufen worden ist. Sein Vorwort zum 1. Bande zeigt, wie er selbst den der Kommission gestellten Auftrag verstanden hat. Der Bescheidenheit des Verfassers entsprechend, läßt er kaum ahnen, was Erwin Metzke zur bisherigen Ausführung des Auftrages beigetragen hat. Sein in diesem 2. Band enthaltener Aufsatz gibt eine Vorstellung von dem, was von ihm, der soeben nach dem Tode von Johs. Hoffmeister die Fortführung der kritischen Hegel-Ausgabe übernommen hatte, vor allem für die Erhellung der geistesgeschichtlichen Ursprünge des Marxis¬ mus zu erwarten war. Was er uns und unserer Arbeit aber bedeutete, geht weit darüber hinaus — manchem ist es vielleicht, wie es der Carossa-Vers sagt, ganz erst „beim Scheiden offenbar“ geworden. Er hat uns zusammengeführt und zusammengehalten.

Seiner menschlichen

Herzlichkeit, seiner Kunst der Fragestellung und Gesprächsführung, seiner sich selbst immer zurückhaltenden Bereitschaft zum Hören und Geltenlassen, seiner Fähigkeit zu treffender Formulierung und Inter¬ pretation ist es zu danken, wenn dieser Kreis von Historikern, Sozio¬ logen, Philosophen, Juristen, Nationalökonomen und Theologen, die sich vorher kaum kannten, zu einer engen Arbeitsgemeinschaft zusammen¬ wuchs, die uns für alle ähnlichen Kreise zum Vorbild geworden ist. Erwin Metzke war es auch, der immer wieder die Linien bis zu den theolo¬ gischen Hintergründen auszog. Der Sinn des Kreises, em Verständnis

92128

VI

Widmung

der von Marx ausgehenden Bewegungen in ihren letzten geistigen Be¬ ziehungen zu gewinnen und dadurch der christlichen Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit den Fragen der Gegenwart zu helfen, blieb dadurch allen bewußt, und Metzkes eigene Art, sein Christsein und die eben daraus entspringende Achtung für jeden eigenen Weg, machte Menschen verschiedener Glaubenshaltung willig zur unbefangensten Mitarbeit. Sein Vermächtnis bestimmt auch unsere weitere Arbeit. Hat ihr Niederschlag, den wir in diesen Bänden vorlegen, die unvermeidliche Kühle wissenschaftlicher Sachlichkeit, so steht dahinter, wie es eben an Erwin Metzke sichtbar war, die Leidenschaft des bewußt lebenden Zeit¬ genossen, der nach seinem Ort in der Zeit und seiner Hoffnung über der Zeit fragt und dem die christliche Botschaft dieses Fragen gleichzeitig bedrängend und verheißungsvoll macht. Die Erschütterung über den plötzlichen Weggang eines Mannes, der uns zum Freund geworden war, ist aufgehoben in der Gemeinschaft des Evangeliums, die der Tod nicht trennt.

V orwort Nach drei Jahren kann die „Marxismuskommission der Studien¬ gemeinschaft der Evangelischen Akademien“ einen weiteren Band „Studien“ vorlegen* 1). In der Zeit seit dem Erscheinen des ersten Bandes haben sich die politischen Konstellationen mannigfach verändert, aber die im Vorwort von Erwin Metzke aufgezeigte Problematik ist in nichts überholt, sondern vielmehr in ihrer Dringlichkeit nur erneut bestätigt worden. Gerade die seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 vermehrt einsetzende Diskussion hat sichtbar gemacht, daß sich das Wesen des sowjetischen Marxismus nicht in Stalins Dogma tisierungen erschöpft, sondern nur aus der Geschichte der Entwicklung der Marxschen und Engelsschen Lehren insgesamt erfaßt und gedeutet werden kann. Auf der anderen Seite haben die heftigen Auseinander!) Seit Drucklegung der ersten Folge der „Marxismusstudien“ (vgl. dort S. V) wurden auf Jen halbjährlich stattfindenden Sitzungen folgende Themen behan¬ delt: Die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Sowjet-Pädagogik (Froese, Hamburg) — Die Sowjetpädagogik der Gegenwart (Abel, Braunschweig) — Der Kommunismus in China (Seufert, Freiburg i. Br.) — Kommunismus in Korea (Fraenkel, Berlin) — Kommunismus in Jugoslawien (Lieb, Basel) — Rousseau und Marx (Landshut, Hamburg) — Marx und der Marxismus in ihrem Verhältnis zur Französischen Revolution (Nürnberger, Göttingen) — Marx und Proudhon (Thier, Friedewald) — Der Syndikalismus (Gerlach, Northeim) — Die syndikalistischen Elemente in unseren heutigen sozialistischen Theorien (Pirker, Köln) — Bernstein (Gneuss, Hannover) — Kautsky (Matthias, Bad Godesberg) — Rosa Luxemburg (Thier, Friedewald) — Über den Stand der ideologischen Diskussion in Rußland (Scheibert, Köln) — Die Dialektik bei Hegel, Marx und Engels (Landgrebe, Köln) — Über die utopischen Elemente der Theorie von Marx und Engels (Ramm, Freiburg i. Br.) — Die anthropologischen Grundlagen der Planung (Kux, Zürich) — Die utopischen Elemente bei den russischen Revolutionären (Scheibert, Köln) — Ver¬ änderungen in der Gesellschaftsstruktur der Sowjetzone (Lange, Berlin)

Klassen¬

struktur und Klassenbegriff im Lichte der heutigen soziologischen Forschung (Dahrendorf, Saarbrücken) — Der Marxsche Klassenbegriff (Thier, Friedewald und Fetscher, Tübingen) — Das Problem von Geschichte und Klassenbewußtsein bei

Lukäcs

(v. Oertzen, Göttingen).

Vorwort

VIII

Setzungen um das Verhältnis von Hegel und Marx, die in der Sowjet¬ union und vor allem auch in der Sowjetzone stattfanden, gezeigt, wie sehr selbst die

Behandlung derartiger Fragen dort vom Kurs der

politischen Generallinie abhängig ist1). Die Ereignisse in Polen und Ungarn haben nach der Periode

eines

stürmischen ,,Tauwetters“ wieder

zu einer Verhärtung der Fronten geführt, die nicht ohne Einfluß auf rein philosophische Probleme geblieben ist und u. a. in der Entpflichtung des hegelianisierenden Marxisten Ernst Bloch in Leipzig zum Ausdruck kam. Wenn aber die Kommission auch in erster Linie ihr Augenmerk auf geistesgeschichtliche Zusammenhänge richtet, so war bei der Eigenart des Marxismus und seiner historischen Spielarten von vornherein die Berücksichtigung zahlreicher empirischer Zusammenhänge und Ereig¬ nisse nötig. So kam es häufig zu fruchtbarem Gedankenaustausch zwischen Historikern, Philosophen und Theologen, und auch juristische und soziologische Gesichtspunkte wurden zur Geltung gebracht. Nur der nationalökonomische Aspekt der Marxschen Lehren, der noch bis vor dreißig Jahren als die „Hauptsache“ angesehen wurde, blieb so gut wie unberücksichtigt. Das geschah einmal deshalb, weil es sich gezeigt hat, daß der Kern des Marxschen Denkens nur von einem hinter die ökono¬ mischen Zusammenhänge zurückfragenden Denken voll erfaßt werden kann, zum anderen, weil die Zusammensetzung der Kommission aus vorwiegend

geistesgeschichtlich-philosophisch

interessierten

Wissen¬

schaftlern den ökonomischen Gesichtspunkt notwendig zurücktreten ließ. Daß das so entstandene Marxbild nach dieser Seite hin einer Er¬ gänzung und Korrektur bedarf, ist uns dabei durchaus bewußt. Die Thematik der Sitzungen folgt einem von Jahr zu Jahr von der Kommission selbst erarbeiteten Plan. Dabei gehen die Forschungen vornehmlich in zwei Richtungen. Einmal in Richtung auf eine philo¬ sophische Klärung der zentralen Begriffe und Lehren des Marxismus und ihrer historischen Wurzeln, zum anderen auf eine Erkenntnis des Zu¬ sammenhangs von Ideologie und geschichtlicher Realität. In dieser stets berücksichtigten Spannung ist m. E. die Eigentümlichkeit und der Vorzug der Kommissionsarbeit zu erblicken, weil sie verhindert, daß die philosophische Diskussion Selbstzweck wird und die historische For') Vgl. die noch nicht abgeschlossene Diskussion in der „Deutschen Zeitschrift f. Philosophie“, Berlin 1954, Heft 3ff. Die Abkehr von der Stalinschen Verurteilung Hegels zeigt u. a. der Aufsatz von I. Chljabitsch, „Zur Einschätzung des philo¬ sophischen Erbes Hegels“ im „Kommunist“, Moskau 1956, Heft 17, deutsch in „Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge“, 1957, S. 430—448.

Vorwort

schling

beim

bloßen

Registrieren

der Fakten

IX

stehenbleibt.

Dieses

Ineinandergreifen von philosophischer Begriffsklärung und historischer Forschung wird auch an den Beiträgen des vorliegenden Bandes sichtbar. Die Arbeiten von Gneuss, Matthias, Nürnberger, Ramm und Thier sind unmittelbar aus Referaten hervorgegangen, die vor der Kommission gehalten wurden, die von Groothoff und mir sind eigens für den vorliegen¬ den Band geschrieben. Am 3. Juli 1956 wurde uns Erwin Metzke, der langjährige Vorsitzende unserer Kommission, durch einen jähen Tod genommen. Was er für uns alle und unsere gemeinsame Arbeit bedeutet hat, sucht die Widmung zum Ausdruck zu bringen. Es wäre uns aber schmerzlich gewesen, wenn dieser zweite Band ohne einen Beitrag Erwin Metzkes hätte erscheinen müssen. An der Abfassung eines umfassenden Aufsatzes, den er seit langem plante, hat ihn sein plötzlicher Tod gehindert. Um so dankbarer sind wir dem Herausgeber der Tübinger Ringvorlesung „Der Mensch im kommunistischen System“ (Tübinger Studien zur Geschichte und Po¬ litik Nr. 8), daß er uns den gleichzeitigen Abdruck des dort erschienenen Vortrages gestattet hat. Was hier in gedrängter Fülle ausgeführt wird, gibt einen Begriff von dem, was wir von Erwin Metzke zu erwarten hatten, und ist zugleich bereits ein gewichtiger Beitrag zu dem heute wieder so aktuellen Thema Hegel und Marx. Auf der Herbsttagung 1956 übernahmen Ludwig Landgrebe und Richard Nürnberger gemeinsam den Vorsitz der Kommission.

„Die

Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien“, auf deren An¬ regung hin die Marxismuskommission zusammentrat und die bisher ihre Arbeit trug, hat vor kurzem durch den Zusammenschluß mit der Evan¬ gelischen Forschungsakademie Christophorus-Stift Rechtsform und Na¬ men geändert. Die Marxismuskommission wird auch im Rahmen der neuen „Evangelischen Studiengemeinschaft“, die aus diesem Zusammen¬ schluß hervorgegangen ist, das begonnene Werk unverändert fortsetzen1). I. Fetscher

i) Ein weiterer Band der „Marxismusstudien“, der u. a. einen Beitrag über „das Problem der Dialektik bei Hegel, Marx und Engels“ enthalten wird, ist bereits geplant.

Inhaltsverzeichnis Widmung Dr. IRINGFETSCHER, Tübingen

Vorwort.VII Prof. Dr. ERWIN METZKE f, Tübingen

Menscli und Geschichte im ursprünglichen Ansatz des Marx’schen Denkens .

1

Dr. IRING EETSCHER, Tübingen

Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltan¬ schauung .

26

Prof. Dr. RICHARD NÜRNBERGER, Göttingen

Die Französische Revolution im revolutionären Selbstverständnis des Marxismus .

61

Dr. THILO RAMM, Ehrenstetten b. Ereiburgi. Br.

Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von Marx und Engels.

77

Dr. ERICH THIER, Friedewald über Betzdorf/Sieg

Marx und Proudhon.120 Dr. ERICH MATTHIAS, Bad Godesberg

Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkriege.151 Dr. CHRISTIAN GNEUSS, Hannover

Um den Einklang von Theorie und Praxis. Eduard Bernstein und der Revisionismus.198 Dr. H. H. GROOTHOFF, Hankensbüttel

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung in der europäischen und der sowjetischen Pädagogik.227

Mensch und Geschichte im ursprünglichen Ansatz des Marx’schen Denkens* von ERWIN METZKE f

Wer Wesen und Weg des Kommunismus begreifen will, muß auf Karl Marx zurückgeben. Diesen Rückgang fordert sowohl die Entwicklungs¬ geschichte wie der eigene Anspruch der gegenwärtigen Parteien der gan¬ zen Welt. Sie alle beziehen sich zurück auf Marx. Das Recht dieses An¬ spruchs ist freilich nicht unbestritten, doch wird für den, der der Meinung *) Der Anfang des Tübinger Vortrages von Erwin Metzke lautete ursprünglich: „Das Interesse an Karl Marx hat in unserer Zeit seine stärksten Impulse durch die Diskussionen erhalten, die der Kommunismus durch seine expansive Entwick¬ lung entfacht hat. Aber diese Diskussionen haben zugleich in ihrem Verlauf dazu geführt, die Gedankenwelt von Karl Marx allzusehr nur noch aus der Perspektive der Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus, und zwar einer bestimmten Ausprägung, die er vor allem durch Stahn und den Stalinismus erhalten hat, zu sehen. Dieser Tendenz haben auch die besonders wirksam gewordenen Darstellungen des dialektischen Materiahsmus, die G. A. Wetter und J. M. Bochenski gegeben haben, starken Vorschub geleistet. Marx erscheint so schheßlich nur noch in der Ferne, fast mehr in Verlegenheit bringend, denn als Ursprung erfaßt und über¬ dies als Moment des nur unter dem verengten Gesichtspunkt einer selbst bereits fixierten Auffassung vom dialektischen Materiahsmus. Gerade das aber ist die Frage: 1. ob unter diesem Gesichtspunkt die Gesamtbewegung des Marxismus-Leninis¬ mus in ihren zentralen Antrieben und in ihrem fundamentalen Rückbezug auf Marx voll in den Blick kommt, 2. ob nicht auch die Aufgabe einer kritischen Auseinandersetzung verkürzt und zugleich unterschätzt wird, sofern, wie ich meine, erst im Rückbesinnen auf Bedeutung und Tragweite des Grundansatzes von Karl Marx die Schicht der Aus¬ einandersetzung erreicht wird, in der nicht nur diese oder jene materialistischen Lehren, sonderen die tieferen geistigen Voraussetzungen zum Problem werden. Ein solches Rückbesinnen führt notwendigerweise in die Dimension philosophischen Fragens.“ Marxismusstudien II

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Erwin Metzke f

2

ist, daß der Weg zum Sowjetkommunismus von seinem Ursprung abge¬ führt hat, die Notwendigkeit, nach Marx zurückzufragen, nur um so dringlicher. Ohne Rückbesinnen auf ihn bleibt auch die kritische Ausein¬ andersetzung mit dem Gesamtsystem der kommunistischen Welt- und Lebensauffassung an der Oberfläche. Diese Rückbesinnung aber muß eine philosophische sein. Das ist freilich nicht selbstverständlich. Gerade weil die eminente politische Bedeutung von Karl Marx unbestritten ist, stellt sich die Frage in den Weg: Ist eine besondere philosophische Er¬ örterung notwendig? Ist sie überhaupt lohnend? Geht es denn Marx selbst überhaupt um Philosophie und Theorie ? Und wenn man bei ihm schon von Theorie sprechen will, handelt es sich nicht lediglich um natio¬ nalökonomische Theorie ? Dazu ist zu sagen: daß der gesamte Marxismus seit Marx und unter Berufung auf ihn den Anspruch erhoben hat, wissen¬ schaftlicher Sozialismus zu sein und zwar in einem universellen und philosophischen Sinn. „Theorie“ wird für Marx, wie für Engels, wie für Lenin, geradezu zum dynamischen Element der revolutionären Bewe¬ gung selbst. Theorie und Praxis sind eine ursprüngliche Einheit. Der Einwand, daß doch gerade die philosophisch-wissenschaftlichen Grundlagen des Marxismus, sofern sie durch den Materialismus be¬ stimmt sind, wissenschaftlich veraltet und überholt seien, daß sich also eine ernsthafte Beschäftigung mit ihnen erübrige —- dieser Einwand verkennt, daß genau dies inzwischen höchst fragwürdig geworden ist, ob sich der dialektische Materialismus, sofern er von Marx herkommt — und er erhebt diesen Anspruch —•, von dem herkömmlichen mechani¬ stischen und naturalistischen Vulgärmaterialismus aus zureichend be¬ greifen läßt, und ob deshalb die herkömmliche Kritik an den materiali¬ stischen Thesen die Kernposition des Marxismus überhaupt getroffen hat. Gewiß ist die Entwicklung des Marxismus im 19. Jahrhundert über Engels in die Bahn des allgemeinen Materialismus eingebogen. Ist dies aber erstens die ursprüngliche Bahn ? Und lassen sich zweitens die revo¬ lutionären Impulse und die ideelle Stoßkraft des Kommunismus aus Theorien über die Materie oder über den Geist als Gehirnprodukt er¬ klären oder auch nur verständlicher machen? Was jedenfalls häufig, auch noch heute als Widerlegung des dialektischen Materialismus angeboten wird, trifft im besten Fall die unterste Stufe der ideologischen Schulung. Die Frage hat besondere Aktualität durch die jüngste Entwicklung und das Ab rücken des sowjetischen Kommunismus von Stalin bekom¬ men. Durch Stalin hatte der dialektische Materialismus eine dogmatische

Mensch und Geschichte

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Verfestigung erfahren, in der die Elemente des Materialismus des 19. Jahr¬ hunderts erneut stark wirksam geworden waren. Bei Lenin, auf den sich angesichts der gewandelten Situation der Blick zurücklenkt, liegen die Dinge schon anders. Er hat sich von jedem Vulgärmaterialismus abge¬ setzt und als Kern seines Materialismus den Realismus bezeichnet: „Die einzige Eigenschaft der Materie, an deren Anerkennung der philosophi¬ sche Materialismus gekettet ist, ist, die objektive Wirklichkeit zu sein, außerhalb unserer Erkenntnis zu existieren.“ Geht man auf Marx zurück, so muß man feststellen, daß bei ihm der Vulgärmaterialismus am allerwenigsten die Grundlage bildet. Schon die länger bekannten, aber zumeist zu wenig beachteten Thesen des jungen Marx über Feuerbach von 1845 konnten darüber Aufklärung geben, daß Marx gerade in kritischer Abgrenzung von dem Materialismus seiner Zeit seine eigene Position verstand und bestimmte. Bereits in der ersten dieser Thesen sieht Marx den „Hauptmangel alles bisherigen Materia¬ lismus — den Feuerbachschen mit eingerechnet“ — darin, daß er die Wirklichkeit nur unter der Form des „Objekts“ kennt. Und er kann gegen diese Einseitigkeit des Materialismus ausdrücklich den Idealismus ausspielen, weil er die menschliche Tätigkeit philosophisch ins Licht gerückt hat. Nicht weniger aufschlußreich ist Marxens Abwendung von der „materialistischen Lehre“, daß der Mensch Produkt der Umstände sei. Diese Lehre vergesse, so sagt Marx wörtlich, „daß die Umstände von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß“. Auch die Marxsche Religionskritik hat ihren Ursprung nicht in mate¬ rialistischen Prinzipien, sondern in einer anthropologisch zentrierten Wendung gegen die metaphysisch-theologische Tradition. Marx nimmt dabei Gedanken auf, wie sie sich damals allgemein im Raum der LinksHegelianer fanden und von Feuerbach programmatisch in dem Satz aus¬ gesprochen wurden:, ,Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie.'' Das heißt: es sind vergegenständlichte, menschliche Nöte und Wünsche, die sich in den religiösen Aussagen aussprechen. Diese Zurückführung der Theologie auf die Anthropologie wird für Marx Voraussetzung seiner eigenen, weitergehenden Kritik.

I. Das entscheidende Ereignis, durch das der ursprünglich eigene Einsatz des Marxschen Denkens erst voll sichtbar wurde, war die Entdeckung

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der philosophisch-ökonomischen Manuskripte des jungen Marx aus seiner Pariser Zeit, vor allem aus dem Sommer 1844. Sie sind erst seit 1931 bekannt und 1932 erstmals veröffentlicht worden. Genau aus diesem Grunde aber pflegt sich hier sofort ein gewichtiger Einwand gegen den Rückgang auf diese Manuskripte und gegen ihre auszeichnende Bewertung zu erheben. Denn, wenn diese Manuskripte bis 1932 unbekannt gewesen sind, so konnten sie geschichtlich auch nicht wirksam werden und sind deshalb, so folgert man, für das Verständnis des Marxismus ohne Bedeutung. Dieser ein wenig kurzschlüssige Ein¬ wand übersieht, daß wir in diesen Texten die Wurzeln, die in die Tiefe getriebenen Wurzeln zu fassen bekommen, aus denen das ganze Denken von Marx seine Kraft gezogen hat — noch bis in die letzte Verästelung hinein. Dieser wurzelhafte Charakter der Manuskripte wird durch das Nicht-ans-Tageslicht-Treten nicht gemindert,

sondern nur bestätigt.

Ganz ähnlich ist ja auch Hegels Denken zunächst unter der Erde ge¬ wachsen, und wir haben bei ihm sehen gelernt, was gerade ein solches nach außen nicht sichtbar gewordenes Wachstum, das sich uns erst nach¬ träglich aus dem Nachlaß erschlossen hat, an innerer produktiver und weiterwirkender Macht enthält, und wie von ihm her ein neues Gesamt¬ verständnis von Hegels Philosophieren sich entwickelte. Deshalb hatte Herbert Marcuse durchaus recht, als er schon 1932 kurz nach Veröffentlichung der Aufzeichnungen in einem ersten philo¬ sophischen Interpretationsversuch sagte: „Diese Manuskripte können die Diskussion über den Ursprung und den ursprünglichen Sinn des historischen Materialismus, ja, der ganzen Theorie des „wissenschaft¬ lichen Sozialismus“ auf einen neuen Boden stellen.“1) Erst seit 1945 freilich konnte sich diese zunächst mehr esoterisch bleibende Entdeckung des jungen Marx in Deutschland auswirken. Wenden wir uns Marxens Manuskripten zu, so bemerken wir jedenfalls sehr bald, daß in ihnen von Materie oder materialistischen Theorien nicht die Rede ist. Diese Reflexionen wollen gewiß auf den „Grund“ gehen, sie wollen radikal sein; das heißt, sie wollen nach einem Wort von Marx, „die Sache an der Wurzel fassen“. „Die Wurzel für den Menschen aber“, so fährt die Stelle fort, ist „der Mensch selbst“ — nicht etwa die Natur oder die Materie. Materie und Natur erscheinen überhaupt nur in Korrelation zum Menschen, zum tätigen, arbeitenden, wirkenden Menschen. Die Natur x) Herbert Marcuse, Neue Quellen zur Grundlegung des historischen Materialis¬ mus, in „Die Gesellschaft“, 9. Jg. Berlin, 1932, S. 136—174.

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wird zum „Stoff, aus welchem und mittels welchem sie produziert“, sie wird zum „Mittel“ des Lebens, zum „Lebensmittel“1). Die Natur tritt überhaupt erst durch die Arbeit des Menschen hervor; „Die Natur abstrakt genommen, für sich, in der Trennung vom Menschen fixiert, ist für den Menschen nichts“, sie ist „sinnlos“, ein bloßes „Gedankending“2). Deshalb ist für Marx auch Feuerbachs naiver Naturalismus unhaltbar, und es ist unrichtig, wenn Wetter sagt, daß Marx im Anschluß an Feuer¬ bach die Natur als primäre Eealität gesetzt habe3). Er wirft Feuerbach in der deutschen Ideologie ausdrücklich vor, daß für ihn die „umgebende sinnliche Welt“ ein „unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes sich stets gleiches Ding“ sei, für Marx ist sie dagegen ein „Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, mid zwar in dem Sinne, daß sie ein ge¬ schichtliches Produkt ist“, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren jede auf den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie und ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizierte. Selbst die Gegenstände der einfachsten „sinnlichen Gewißheit“ sind ihm nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben. „Der Kirschbaum ist, wie fast alle Obstbäume, be¬ kanntlich erst vor wenig Jahrhunderten durch den Handel in unsere Zone verpflanzt worden und wurde deshalb erst durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der sinnlichen Gewißheit< Feuerbachs gegeben.“ So ist diese Tätigkeit eines fortwährenden konkreten Arbeitens und Schaffens, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert4). Die Naturwissenschaft aber, von der sich Feuerbach hat beeinflussen lassen, gehört selbst in den Zusammenhang der menschlichen Tätigkeit, der menschlichen Arbeit und bleibt durch ihn bedingt5). Zwar weiß Marx natürlich, daß der Mensch „von der Natur lebt“; aber er bestimmt dieses Verhältnis sofort näher so: daß Pflanzen, Tiere, Steine, Luft, Licht, wie sie „theoretisch“ einen „Teil des menschlichen Bewußtseins bilden“, so „auch praktisch einen Teil des menschlichen Lebens und der mensch-

1) Marx- Engels- Gesamtausgabe, I. Abteilung, Bd. 3. S. 84, „Nationalökonomie u. Philosophie“ ed. Thier, Berlin und Köln, 1950, S. 143. 2) a. a. 0. S. 170; Thier, S. 264. 3) Gustav A. Wetter, Der dialektische Materialismus, seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion, Freiburg, 1952, S. 28 entsprechend S. 31, 40. 4) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 5, S. 33. 5) a. a. 0. S. 38/39.

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liehen Tätigkeit“ ausmachen. Sie erscheinen, wie Marx anschaulich sagt,

,,in der Form der Nahrung, Heizung, Kleidung, Wohnung,

etc.“. Ja die „Universalität des Menschen“ erscheint praktisch darin, daß er die ganze Natur zu seinem unorganischen Körper macht, insofern sie ein „unmittelbares Lebensmittel“ und das „Werkzeug seiner Lebens¬ tätigkeit“ ist. Die Natur wird zum Feld der Bearbeitung und Bewährung für den Menschen. „Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens“, das so sich selbst „in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut, sofern die Objektivation auf das Subjekt zurückweist1). Diese Gedanken bewegen sich offenkundig im Raum der neuzeit¬ lichen Metaphysik der Subjektivität, die in einem neu gewonnenen Selbst und Weltbewußtsein des Menschen gründet und sowohl materialistische wie idealistische Denksysteme aus sich hervorbrachte. Vom mechani¬ stischen Materialismus speziell aber sind Marxens Gedanken denkbar weit entfernt, wenn man auch nicht sofort von idealistischen Gedanken¬ gängen sprechen sollte. Das ganze Einteilungsschema von Materialismus und Idealismus reicht nicht aus; es ist uninteressant. Es geht weder um Materie noch um Ideen; es geht bei Marx um das „werktätige Gattungs¬ leben“, und zwar als ein leibhaftes, sinnliches, reales Tätigsein: dies tätige Subjekt, das die Natur durch seine Arbeit sich unterwirft, tritt in das Zentrum des Weltverständnisses2). Im Zusammenhang dieser Erkenntnisse taucht das bleibende Grund¬ problem des Marxschen Denkens ursprünglich auf. Denn die Arbeit, durch die sich der Mensch über die Natur erhebt und sich zu ihrem Herren macht, hat ihn zugleich paradoxerweise in eine neue Abhängigkeit ge¬ bracht, die nicht auf irgendeine Naturkausalität zurückgeht, sondern eine Abhängigkeit von der eigenen Produktion und den eigenen Produk¬ ten des Menschen ist. So macht das eigene, arbeitende Produzieren des Menschen den arbeitenden Menschen zum Moment, zum Produkt in seinem Produktionsprozeß. „Diese Konsolidation unsres eigenen Produktes zu einer sachlichen Gewalt über uns, trolle

entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt,

die unsrer Kon¬ unsere Berech¬

nungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung“3). Diese anonyme Macht der „YerhältX) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 3, S. 87ff., Thier S. 148ff. 2) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 3, S. 89, Bd. 5, S. 34. 3) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 5, S. 22f.

Mensch und Geschichte

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nisse“, die den Menschen zu ihrem Produkt macht, „entmenscht“ den Menschen. Wir stehen vor der am tiefsten greifenden Erkenntnis von Marx, die er im Durchdenken dieser Erfahrungen gewinnt: der Erkenntnis der Selbst¬ entfremdung des Menschen durch seine eigene Produktion; mit ihr hat er einen neuen Gesamtaspekt für das Verständnis des geschichtlichen Schicksals des Menschen unserer Epoche eröffnet, sofern seine Grund¬ situation dadurch bestimmt wird, daß er von dem System der gegen¬ ständlichen Organisationen, die er selbst geschaffen hat, immer mehr abhängig wird und ihre Eigengesetzlichkeit ihn in seinem Menschsein aufsaugt und verbraucht. Der Begriff der Selbstentfremdung ist deshalb in den heutigen Diskussionen der Sozialwissenschaft unentbehrlich geworden. Martin Heidegger hat in seinem Humanismusbrief von diesem Gedanken der Entfremdung gesagt, daß eben durch ihn „die marxistische Anschauung von der Geschichte der übrigen Historie überlegen“ sei. Marx selbst hat das Entfremdetsein zunächst als „ökonomisches“ Faktum seiner Zeit entdeckt1). Er sieht es im Zusammenhang mit dem Prozeß der Arbeitsteilung, der Entwicklung des Privateigentums, des Konkurrenzwesens und des Geld- und Warenmarktbereichs. Er hat dieses Faktum der Entfremdung in seinen Erscheinungsweisen eindring¬ lich sichtbar gemacht. Ich hebe zur Verdeutlichung die Grundmomente hervor, die freilich in dieser Zusammenfassung bei Marx selbst nicht zu finden sind. Die Entfremdung wirä erfahren: 1. Im Verhältnis des Menschen zu dem Produkt seiner Arbeit, wört¬ lich: „Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand.“ Das Leben aber, das er dem Gegenstand durch seine Arbeit verliehen hat, tritt ihm „feind¬ lich und fremd“ gegenüber, sobald der Gegenstand, das Produkt der Arbeit, ihm selbst nicht mehr zu eigen gehört, sondern ihm „entrissen wird und in eine andere Hand übergeht: jetzt gehört er einer „fremden Macht“; er kann nicht mehr über ihn verfügen, und muß ihn sich für teures Geld kaufen, obgleich er ihn selbst verfertigt hat. Diese Entfrem¬ dung der Sache wird um so mächtiger, je weiter die Arbeitsteilung geht. 2. Mit der Entfremdung des Produktes tritt zugleich eine Entfremdung von der natürlichen Welt überhaupt ein, sofern ja für Marx die Natur¬ gegebenheiten als Mittel des Lebens: als Wohnung, Nahrung, Heizung verstanden werden. Deutlich wird vor allem eine Entfremdung von der

i) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 3, S. 82; Thier, S. 141 f.

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Erwin Metzke f

Umwelt als meiner Lebenswelt. Der Wilde in seiner Höhle mag sich wie der „Fisch im Wasser“ fühlen. Aber eine Kellerwohnung kann, wie Marx sagt, nicht als Heimat erfahren werden, zumal der Vermieter „täglich auf der Lauer stehe“, um ihn hinauszuwerfen.1) 3. Tritt die Entfremdung im Verhältnis zum „Akt des Produzierens“ auf, sofern dem Arbeiter seine Tätigkeit nicht selbst gehört, sondern dem, für den er arbeitet. Der Arbeitende findet sich in der Arbeit deshalb nicht „bejaht“, „sondern verneint“, er fühlt sich „nicht wohl, sondern unglücklich“. Er „fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit“2). 4. Nicht nur der Arbeitsakt ist dem Menschen entfremdet, sondern der Arbeitende ist sich selbst, seinem Menschsein im Ganzen entfremdet. Denn er muß nicht nur seine Arbeitskraft, sondern sich selbst veräußern; er wird geradezu selbst zur Ware und eine „um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er produziert“. Er wird also nicht mehr als Mensch gewertet, sondern nur noch als Teil der Produktionsmaschinerie, wie denn auch der Arbeitslohn zu den Instandhaltungskosten des Betriebs gehört und lediglich der Erhaltung der Arbeitskraft dient3). 5. Entfremdung tritt ein gegenüber der Aufgabe der menschlichen Gattung, sofern die wahre menschliche Lebenstätigkeit nicht der bloßen Bedürfnisbefriedigung dient. Die bloße Erhaltung der physischen Exi¬ stenz ist tierisch. Der Grundunterschied des menschlichen Tuns vom tierischen Leben besteht im Aufbau einer ihm eigenen gegenständlichen Welt, in der sich der Mensch „universell“ und „frei“ von physischen Be¬ dürfnissen“ darstellt. Der Mensch „formiert“ deshalb auch nicht, wie das Tier, nur- nach dem „Bedürfnis der species“, der es angehört, sondern unabhängig davon z. B. auch „nach den Gesetzen der Schönheit“4). Das alles sagt Marx

nicht irgendein idealistischer Kulturphilosoph.

6. Entfremdung tritt ferner auf zwischen den verschiedenen Lebens¬ sphären, etwa zwischen Wirtschaft und Moral. Wenn etwa jemand — um es an einem Beispiel, das Marx selbst gibt, zu erläutern — den Natio¬ nalökonomen fragen würde, ob es den Gesetzen der Nationalökonomie zuwiderlaufe, Mädchenhandel zu treiben, so würde dieser antworten: „Meinen Gesetzen handelst du nicht zuwider; aber sieh dich um, was J) a. a. 0. S. 135f.; Thier S. 212

2) a. a. 0. S. 85f.; Thier S. 146

3) a. a. 0. S. 98; Thier, S. 161.

4) a. a. 0. S. 88f.; Thier, S. 150.

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Frau Base Moral und Base Religion sagt ... “. Jede der Sphären, in sich selbst schon entfremdet, verhält sich „entfremdet zu der anderen Ent¬ fremdung“1). 7. Entfremdet wird der Mensch schließlich vor allem vom anderen Menschen. Denn, indem seine Arbeit nicht ihm selbst gehört, gehört sie einer fremden Macht; nicht die Natur, nicht die Götter sind diese fremde Macht, sondern andere Menschen, für die er arbeitet2). Die Macht der anderen Menschen über ihn aber erweist sich wie keine andere als „unmenschlich“3). Dieser Entfremdungsvorgang trifft nach Marxens Überzeugung genau¬ so den Menschen, der nicht auf der arbeitenden, sondern auf der be¬ sitzenden Seite steht. Nur empfindet dieser den Entfremdungszustand nicht selbst: weil er für ihn nicht drückend ist. In der,,HeiligenFamilie“ heißt es: „Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfrem¬ dung als ihre eigene Macht, und besitzt in ihr den Schein einer mensch¬ lichen Existenz“ (MEGA I, 3. 205 f.). Eine Entfremdung und Verkehrung des Menschlichen bleibt es trotzdem. Das macht Marx besonders deutlich, indem er die „verkehrende Macht des Geldes“ zeigt. Wer Geld hat, kann kaufen, was er selbst seinem Sein nach nicht ist und nicht besitzt. Die Eigenschaften des Geldes werden zu seinen eigenen Eigenschaften. Marx zitiert Goethes Faust, in dem Mephisto sagt: „Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, sind ihre Kräfte nicht die meinen?“4). Ebenso drastisch heißt es in bezug auf ein Shakespeare-Zitat: „Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft, ist durch das Geld vernichtet.“5) Es kann jede Eigenschaft austauschen, macht Schönheit und Liebe käuflich und „zwingt“ auch „das Sichwidersprechende zum Kuß“. Setze man den Menschen dagegen in sein wahres menschliches Verhältnis, so könne er „Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen“. Daraus ergibt sich: Der Mensch selbst erzeugt durch sein eigenes Wirken und Produzieren die Entfremdung. Die Analyse eines zunächst ökonomischen Faktums enthüllt dieses factum als Ergebnis eines facere, als ein Produkt des menschlichen Tuns. Nur im Durchbrechen der SachJ) a. a. 0. S. 132; Thier, S. 206.

2) a. a. 0. S. 90f.; Thier, S. 152f.

3) a. a. 0. S. 136; Thier, S. 212.

4) a. a. 0. S. 146; Thier, S. 227.

®) a. a. 0. S. 147; Thier, S. 228.

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ebene und im Bückgang auf die ursprüngliche, zugrunde liegende Ebene menschlichen Handelns ist das ökonomische Faktum als solches zu be¬ greifen — und nicht nur zu begreifen; nur so ist auch die Macht und Übermacht der Sachen zu brechen. In der Einsicht, daß die Macht der Sachen, die Macht des Materiellen, das heißt aber auch die Macht des Materialismus, ihre Ursprünge im Menschen selbst hat, erreicht Marxens Kritik, die sich damit geradezu als Kritik des Materialismus erweist, ihre größte Tiefe: der Ursprung der Macht des Materiellen liegt letztlich darin, daß der Mensch selbst vom „Haben“ und „Habenwollen“ be¬ sessen ist. Die Herrschaft der Kategorien des „Habens“ und „Besitzenwollens“ sieht Marx daher nicht nur im Kapitalismus, sondern auch im „rohen und gedankenlosen Kommunismus“ noch wirksam1). Man hat gemeint, daß dieser kritischen Aufdeckung der Entfremdung bei Marx selbst keine eigene positive anthropologische Konzeption ent¬ spreche. Das ist irrig. Sie wird von Marx selbst in immer wieder neuen Formulierungen, wenn auch nirgends als eine geschlossene systematische Theorie entwickelt. Der Mensch ist in seinem Wesen weder von der Materie noch vom Tier her zu begreifen, sondern er macht sich selbst zu dem, was er ist — und zwar durch seine Arbeit; in seinem nach außen sich auswirkenden, sich äußernden Tun bildet sich sein Menschsein. Es stellt sich selbst im Produzieren und in den produzierten Werken her und dar, beides, Produ¬ zieren und Produkt, gehört unlösbar zusammen. Keineswegs ist für Marx also Entäußerung schon als solche Entfremdung im negativen Sinne. Es gilt nur die Entäußerung des Menschen selbst zu sehen und sie als solche in das Menschsein zurückzunehmen. So kann Marx die Arbeit als das „Fürsichwerden des Menschen“ in der „Entäußerung“ begreifen, und er kann zugleich die „Geschichte der Industrie“ und das „gegenständliche Dasein der Industrie“ als das aufgeschlagene Buch der ,,menschlichen Wesenskräfte“, als die „sinnlich vorliegende menschliche Psychologie“ bezeichnen. Die Psychologie könne, so meint Marx in kritischer Zu¬ spitzung, nicht zu einer „wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden“, solange sie nur nach innen blicke, dieses äußere „Buch“ der „Industrie“, in dem sich unser Menschsein darstellt, für sie aber zuge¬ schlagen ist und ein so „ausgebreiteter Keichtum des menschlichen Wirkens ihr nichts sagt“2). In diesem Zusammenhänge will das Wort verstanden werden, daß für den „sozialistischen Menschen“ die „sogeb a. a. 0. S. 112; Thier, S. 177. 2) a.a. 0. S. 122; Thier, S. 193.

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nannte Weltgeschichte“ nichts als die „Erzeugung des Menschen durch die menschhche Arbeit“ ist1). Denn erst durch den „gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens“, der sich also in bestimmten Objektivationen darstellt, vermag sich auch der „Reichtum der subjektiven mensch¬ lichen Sinnlichkeit“ zu entwickeln. Das heißt: durch die produzierten Werke etwa der Musik, der Kunst überhaupt — die Beispiele sind von Marx — vermögen sich auch erst das „musikalische Ohr“ und der „Sinn der Augen“ für die „Schönheit der Form“ auszubilden und weiterzu¬ bilden2). Marx kann daher sagen, daß die „Bildung der fünf Sinne“ eine „Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte ist“. Deshalb gelangt aber auch der Mensch nur in der Gesellschaft zu seinem wahren, universellen, vollen Menschsein. Und deshalb eben ist für Marx der Mensch ursprüng¬ lich und unaufhebbar ein gesellschaftliches Wesen — ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“. Alle jene Versuche, den Menschen zu¬ nächst robinsonhaft als Einzelnen zu begreifen, überhaupt Mensch und Gesellschaft abstrakt gegenüberzustellen, haben immer wieder seine beißende Kritik hervorgerufen3). Deshalb ist aber schließlich Marxens Grundsatz überhaupt nicht als ein anthropologischer im engeren Sinne zu begreifen: es muß vielmehr von vornherein die geschichtliche Dimen¬ sion mithineingenommen werden. Anthropologische wie soziologische Probleme werden zu Problemen des Geschichtsprozesses. Der gesell¬ schaftlich-geschichtliche Prozeß der Vergegenständlichung des mensch¬ lichen Tuns erweist sich als notwendige Bedingung alles Mensch Wer¬ dens — sofern nur durch das Heraussetzen von Werken rückwirkend die menschlichen Kräfte geweckt und ihre Höherentwicklung angeregt wird. In der Geschichte vollzieht sich die „Geburt“ des Menschen „durch sich selbst“: sie ist sein „Entstehungsprozeß“4). Gerade in diesem produktiven Prozeß, der nicht auf die nur wirtschaft¬ liche Produktion eingeschränkt ist, steckt freilich zugleich die geschicht¬ liche Möglichkeit, daß die Produkte des menschlichen Tuns Eigenmacht und Übermacht über den Menschen gewinnen, daß sich also der Mensch durch seine eigenen Äußerungen, in denen er sich entäußert hat, zugleich sich selbst entfremdet: was als Objektivation die Verwirklichung des Menschseins ermöglicht, macht sie zugleich unmöglich, indem sie über¬ mächtig wird und die Freiheit in Fesseln schlägt und den schöpferischen Menschen in ein von ihm selbst verfertigtes Netz verstrickt. b a. a. 0. S. 125; Thier, S. 198.

2) a. a. 0. S. 120; Thier, S. 190.

3) a. a. 0. S. 117; Thier, S. 185.

4) a. a. 0. S. 125; Thier, S. 198.

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II. Für diesen ganzen dialektischen Zusammenhang von Verwirklichung und Vergegenständlichung, Entäußerung und Entfremdung, dessen Erkenntnis das Verständnis von Mensch und Geschichte in ein völlig neues Licht rückt, ist Marx der Blick durch Hegel geöffnet worden. Durch Hegel haben die von Marx verwandten Begriffe ihre philosophische Prägung und ihre dialektische Dynamik erhalten. Hegels philosophische Arbeit hat nicht nur den Boden bereitet, sondern ist als produktive Kraft in das eigene Denken von Karl Marx eingegangen. In seinem Ver¬ hältnis zu Hegel stoßen wir auf die Ursprünge seiner eigensten Konzep¬ tion des gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesses, der eben durch diese Hegelschen Ursprünge von allem Vulgärmaterialismus durch eine Kluft geschieden ist. Damit aber ist auch gesagt: Eine Diskussion der Grund¬ ansätze des Marxschen und des marxistischen Denkens kann nicht bei Marx selbst stehenbleiben, sondern muß auch Hegel einbeziehen. Diese Bedeutung Hegels für Marx ist lange verdeckt gewesen, weil auch das Hegelverständnis selbst lange verschüttet war. Ein dürftiges und weit¬ hin falsches Hegelbild, ein ganz schematischer und äußerlicher Begriff der Dialektik — dazu noch die bekannte Formel vom „Zusammenbruch des Idealismus“ — ließen völlig übersehen, daß Hegels gedanken- und wirklichkeitsgeladenes Philosophieren gerade bei seinen radikalsten Kritikern am tiefsten weitergewirkt hat: bei Kierkegaard und in noch geschichtsmächtigerem Bezüge bei Marx. Die Einsicht in die Bedeutung Hegels für Marx ist gleichwohl nicht neu, sie ist auch nicht erst durch die sogenannte bürgerliche Wissenschaft gewonnen worden; es ist Lenin gewesen, der den Zusammenhang zwischen Marx und Hegel mit großem Nachdruck hervorgehoben hat. Er suchte selbst durch den Bückgang auf Hegel das dialektische Denken im Mar¬ xismus philosophisch zu erneuern. In den aus seinem Nachlaß heraus¬ gegebenen Bemerkungen zu Hegel, die von seinem intensiven Studium Hegels, vor allem der Hegelschen Logik während seiner Berner Emi¬ grantenzeit zeugen, heißt es an einer nun schon fast berühmt gewordenen Stelle: „Man kann das Kapital von Marx und besonders das 1.Kapitel nicht vollkommen begreifen, wenn man nicht die ganze Logik Hegels durchstudiert und begriffen hat. Folglich hat nach einem halben Jahr¬ hundert keiner von den Marxisten Marx begriffen!“ Durch Lenin ist auch sichtbar geworden, welche Bedeutung Hegel für ein tieferes Be¬ greifen des geschichtlich-dynamischen Elements im dialektischen Mate-

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rialismus überhaupt hat. Die Bedeutung dieser Zusammenhänge des Marxismus mit Hegel ist freilich selbst heute noch, auch in so wichtigen Büchern, wie denen von Wetter und Bochenski, nicht zureichend er¬ kannt, (wohl auch ein Grund dafür, daß das Bild des dialektischen Materialismus bei Wetter und Bochenski so eigentümlich statisch wirkt, — aber das ist ein Thema für sich). Marx selbst hat nie bestritten, daß die Begegnung mit der Philosophie Hegels für ihn entscheidend war. Schon der große Brief vom 10. Nov. 1837 an seinen Vater1) verrät die Leidenschaft seines Ringens mit Hegels „Weltphilosophie“, deren groteske „Felsenmelodie“ ihm nicht behagt. Er hat ihr damals noch zu entrinnen gesucht; aber sie hat ihn nur um so mehr an sich gekettet. Aber auch noch viele Jahrzehnte später, als er es selbst für angebracht hielt, seine Distanz zu Hegel stärker zu betonen, im Nachwort zur 2. Auflage des Kapitals von 1873, hat Marx anerkannt, was er Hegel verdankte. Er betont dort, daß er sich in einer Zeit, in der der deutsche Bildungsphilister „Hegel als toten Hund“ behandelte, offen als Schüler jenes großen Denkers bekannt habe. Es käme nur darauf an, „den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken“. In den Pariser Manuskripten hebt er als das „Große an der Hegelschen Phäno¬ menologie“ nachdrücklich hervor, daß sie die „Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt“, nämlich als Prozeß der „Entäußerung und Aufhebung dieser Entäußerung“, und daß Hegel bereits das Wesen der Arbeit und den „gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirk¬ lichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift“2). Nicht diese oder jene Begriffe und Einsichten sind dabei das Wesent¬ liche, sondern entscheidend ist das neue Fundament, das Hegel für das philosophische Gesamtverständnis von Mensch und Welt gelegt hat. Hegel hat erkannt, daß das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit, das im abendländischen Denken seit der parmenideischen Einsicht in die Einheit von Denken und Sein von einer verewigten metaphysischen Zuordnung des Denkens und Seins her verstanden worden ist, sich nicht einfach als eine fertig gegebene zeitlos zusammenstimmende Einheit voraussetzen läßt. Er hat diese Einheit, an der er in vertieftem Ver¬ stehen festhielt, nicht mehr als immer vorhandene Harmonie, sondern als Prozeß des Werdens verstanden. Auf diese Art konnte er die faktischen Gegensätze, die Erfahrungen des Widerstreits und der Entzweiung in

1) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 1, 2. Halbband, S. 213 ff. 2) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 3, S. 156; Thier, S. 242f.

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ihrem vollen Gewicht in die Verwirklichung der Einheit von Vernunft und Wirklichkeit aufnehmen. Gerade die Gegensätze und Widersprüch¬ lichkeiten sind es, durch die hindurch als vorwärtstreibende Momente die versöhnende Einheit sich bildet. Die Negationen selbst w-erden für Hegel zur produktiven Vermittlung. Die Geschichte aber wird zum aus¬ gezeichneten Ort dieses durch die Gegensätze sich hindurchkämpfenden „dialektischen“ Seinsprozesses. Die „ungeheure Arbeit derWeltgeschichte“ ist der den Menschen selbst als verantwortlich Handelnden einsetzende Realprozeß, durch den der Geist in einer schöpferisch fortschreitenden, im Entäußern aber zugleich sich erinnernden und vertiefenden Dialektik zu sich selbst kommt. In der Geschichte tritt die Wahrheit in dialek¬ tischer Brechung ans Licht. Dialektik hat deshalb bei Hegel nichts mit einer klappernden Begriffsmühle zu tim, sie ist kein Denkschema und keine beliebig anwendbare Methode, sondern die je und je neu sich bildende konkrete Vollzugsform der durch ihr Anderssein hindurch sich vollziehenden Seinsverwirklichung. Diese Dialektik — Marx spricht von der „Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip“1) — hat sich schon dem jungen Hegel erschlossen, und zwar — bevor er noch den Begriff Dialektik verwandte — in der Auseinandersetzung mit der Erfahrung der „Positivität“; und hier an der Quelle wird am immittelbarsten deutlich, in welcher Weise Hegel für Marx den Weg gebahnt hat. Unter Positivität versteht Hegel nämlich alles, was als „starre feindliche Objektivität“ oder als „totes Kapital“ dem lebendigen Geist entgegengesetzt ist und als nur „äußere Satzung“ und „mechanischer Brauch“ die Freiheit erstickt, den Menschen also sich selbst entfremdet. Der entscheidende Schritt zur Dialektik in Hegels philosophischem Denken ist in dem Augen¬ blick vollzogen, in dem er erkennt, daß diese starre, feindliche Positivität die eigene Äußerung und Entäußerung des Subjektes ist, ja daß sie ein immer wiederkehrendes, notwendiges Moment im Prozeß geistigen Wer¬ dens darstellt. Der Geist muß die Positivität, die ihm zunächst als fremd, als negativ entgegentritt, als sem eigenes anderes begreifen, durch dessen Entgegenstehen er erst zu sich selbst zu kommen vermag. Der Wider¬ spruch, der von den ,, 0 bj ektNationen

ausgeht, wird damit geradezu

zum produktiven Moment des Werdeprozesses. Die Wahrheit seines Menschseins realisiert sich allein im Durchgang durch die Gegensätze der Geschichte. J) a. a. 0. S. 156; Thier, S. 242f.

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III. Aber der in der Erkenntnis dieser Dialektik offen zutage liegende Zusammenhang zwischen Hegel und Marx ist selbst dialektisch. Er ent¬ hält den Gegensatz in sich. Der Tiefe des Zusammenhangs entspricht die Tiefe des Widerstreits. Denn eben dort, wo Marx am engsten mit Hegel verbunden ist, setzt bekanntlich zugleich seine schärfste Kritik ein. Was Marx gegen Hegel einwendet, ist dies: Hegels Philosophie ziele darauf, alle Vergegenständlichung denkend aufzuheben, während es darauf ankomme, nur die unmenschlichen (ent¬ fremdeten) Formen der Vergegenständlichung praktisch aufzuheben; gerade diese in ihrer faktisch-brutalen Realität aber blieben bei Hegel unverändert. Damit aber bekunde Hegel zugleich, daß er den Menschen nur als denkendes, geistiges, spirituelles Wesen versteht. So werde also bei Hegel einerseits der Gegenstand zum bloßen „Ge¬ dankenwesen“ und andererseits der „wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch“1), zu einem abstrakten Bewußtsein2) (Hegel macht, so heißt es schon in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie3), die Idee zum Subjekt und das wirkliche, menschliche Subjekt zum Prädikat). Alle Aufhebungsprozesse spielen sich bei Hegel, wie Marx meint, also nur im Bewußtsein, nicht in der Wirklichkeit ab. Bevor wir diese Kritik selbst kritisch beleuchten, heben wir zunächst den fruchtbaren Ansatzpunkt heraus, den Marx im Zuge seiner Ausein¬ andersetzung mit Hegel für seine eigene Gedankenentwicklung gewinnt und durch den sein eigener Ansatz sich weiter vertieft. Marx faßt das Welt Verhältnis nicht vom Bewußtsein, aber ebensowenig etwa von phy¬ sischen Prozessen her, sondern vom ganzen Menschen aus, in der Leib¬ haftigkeit seines „inhaltsvollen, lebendigen, sinnlichen, konkreten Tätig¬ seins“ — des Tätigseins eines „gegenständlichen natürlichen Wesens“: „gegenständlich“ aber heißt hier: in real gegebenen Gegenstandsbezügen existieren, nur „an wirklichen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern können“4). Da der Mensch ein natürlich-leibhaftes Wesen ist, müssen auch die Gegenstandsbezüge leibhaft-sinnlich sein. Aus diesem Grunde bezeichnet Marx auch die „Empfindungen, Leidenschaften“ des Men¬ schen nicht lediglich als „anthropologische Bestimmungen“, sondern 4) a. a. 0. S. 160; Thier, S. 248. 2) a. a. 0. S. 156; Thier, S. 242. 3) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., 1. Bd., 1. Halbband,, S. 410. 4) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., 3. Bd., S. 160; Thier, S. 249.

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als „ontologische Wesensbejahungen“1):

im

real-sinnliehen

Gegen¬

standsbezug erfährt sich der Mensch selbst konkret seinshaft. So ist der „Hunger“ das „gegenständliche Bedürfnis eines Leibes nach einem außer ihm seienden, zu seiner Integrierung und Wesensäußerung unentbehrlichen Gegenstände“2). Kommt es hier also doch zum Primat der Natur ? Doch dies Gegenstandsverhältnis, durch das der Mensch auf die Natur bezogen ist, ist andererseits nicht einfach naturhaft da, sondern es ist von Natur Geschichtliches. Es bildet sich durch die Geschichte, in der der Mensch, wie Marx sagt, seinen „Entstehungsakt“ hat. Auch hier bleibt die Natur, auf die der Mensch in seiner Existenz ange¬ wiesen ist, korrelativ einbezogen in das Existenzverhältnis. Deshalb kann Marx sagen: „Die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Men¬ schen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur“3). Und so bestätigt gerade das Natur Verhältnis, daß, wie Marx wiederum wörtlich mit aller Eindeutigkeit formuliert, die „Geschichte“ die „wahre Naturgeschichte des Menschen“ ist4). In diesen Zusammenhän¬ gen gelingt es Marx, das Gegensatzschema von Idealismus und Materia¬ lismus, wenn auch noch nicht begrifflich zu durchbrechen, so doch in Bewegung zu bringen. „Wir sehn hier“, so schreibt er selbst, „wie der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist“5). Diese Grundkonzeption des Verhältnisses von Mensch und Natur als einer geschichtlich bedingten und geschichtlich geformten Gegenstands¬ beziehung bleibt für Marx bestimmend, aber er bleibt mit ihr auch noch auf dem Boden Hegels. Jenes vielzitierte, spätere Wort aber aus der Kritik der politischen Ökonomie, daß „nicht das Bewußtsein des Men¬ schen ihr Sein bestimmt“, sondern„umgekehrt“, versteht unter Sein nicht Materie oder Natur, denn: es ist das „gesellschaftliche Sein“ der Menschen, wie der Fortgang der Stelle ausdrücklich sagt. Und wenn in der Tat die „materiellen Lebensbedingungen“ in den Mittelpunkt treten, so nicht aus dem Eigengewicht des Materiellen heraus, sondern aus der b b 3) 4) 6)

a.a. 0. S. 145; Thier, S. 226. a.a. O. S. 161; Thier, S. 249. a. a. O. S. 116, vgl. S. 122; Thier, S. 184, vgl. S. 194. a. a. 0. S. 162; Thier, S. 251. a. a. 0. S. 160; Thier, S. 248.

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geschichtlichen Dialektik des Gegenstandsbezugs und der in ihr gesetzten Möglichkeit der Verdinglichung. Sie ist es, die den materiellen Verhält¬ nissen ein eigenes, gegenstehendes Gewicht gibt; aber diese materiellen Verhältnisse bleiben auf Grund derselben Dialektik doch immer zurück¬ bezogen auf die „menschliche Aktion“ (Deutsche Ideologie1)). Auch wenn sie als gegeben „vorgefunden“ werden, bleiben sie ein „historisches ge¬ schaffnes Verhältnis zur Natur“, das daher auch wieder geändert und aufgehoben werden kann2). Spott gießt Marx deshalb über Proudhon aus, der nicht begreift, daß die „ökonomischen Formen“ und „sozialen Verhältnisse“ nur „vorübergehende und historische“ Verfestigungen menschlicher Tätigkeit „und auch die ökonomischen Kategorien“ keine „ewigen Gesetze“ sind (Elend der Philosophie). Gerade das ist das Ziel der menschlichen Geschichte für Karl Marx, daß der Mensch dazu ge¬ langt, die „.Mächte und Verhältnisse“ — auch und gerade die Produk¬ tionsverhältnisse -— zu „kontrollieren“ und zu „beherrschen“, um sich so aus der Entfremdung zu lösen und seine Freiheit zu verwirklichen.

IV. Aber diese zentrale Konzeption, die Marx im Hineingraben in Hegels philosophischen Wurzelgrund gewonnen hat, gerät im Vollzug der kri¬ tischen Absetzung von Hegel auf eine Bahn, auf der der ursprüngliche Denkansatz und das ursprüngliche humanistische Anliegen Marxens zum Moment einer revolutionären Dynamik werden, die nun erst den Gesamt¬ anspruch seines Denkens sichtbar macht und zugleich auch den Grund¬ ansatz neu sehen läßt. Dieser erweist sich nun als ein solcher, der von vornherein Hegel nur in sehr bestimmter, transformierter Weise in sich aufzunehmen vermochte. Und auch das Erkennen der Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens und des menschlichen Weltverhältnisses tritt gerade auf der eigenen Gedankenbahn von Marx in ein sehr verändertes Licht: Zunächst zur Hegel kritik selbst, die die eigenen Intentionen von Marx scharf hervortreten läßt: diese Kritik wirkt mit ihrem Ausspielen der Wirklichkeit, der wirklichen Veränderungen, der wirklichen Behebung der Nöte gegenüber einem Nur-Verstehen und nur gedanklichen Auf¬ heben der Entfremdung zunächst freilich allzu eingängig und plausibel. Das ist verdächtig. Und in der Tat hat auch Marx in seiner Kritik, wie !) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 5, S. 10. 2) a. a. 0. S. 27. Marxismusstudien II

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erst recht viele andere weniger gewichtige Hegel-Kritik, gerade das, was Hegel von allem Bewußtseins- und Ideenidealismus unterscheidet, ver¬ kannt: Für Hegel ist der Bewußtseinsprozeß, sofern sich in ihm eine Auf¬ hebung der Entfremdung vollzieht, nicht etwas von der Wirklichkeit Iso¬ lierbares : er ist vielmehr Zum-Bewußtsein-Kommen eines Seinsprozesses, Fürsichwerden eines Ansichseins. Das Bewußtsein ist deshalb für Hegel nicht freischwebend, sondern Bewußtsein des Menschen, und zwar in seiner Geschichtlichkeit. Die Stufen des Bewußtseins und die Formen des Geistes, die die Phänomenologie des Geistes beschreibt, bilden sich im Element realer Auseinandersetzung mit der Härte der Wirklichkeit: Das zeigt die Realdialektik — um eine solche, nicht um bloße Begriffsdialek¬ tik handelt es sich — der Begierde ebenso wie die von Herr und Knecht oder die von Tugend und Weltlauf und von Schuld und Schicksal. Das Subjekt selbst erfährt hier die Gewalt des Entgegentretenden, durch das es selbst ein anderes wird: Ohne in den Widerstreit des Weltgeschehens selbst einzutreten, wird es nicht es selbst. Hegels eigenes Philosophieren ist gerade selbst aus der ursprünglichen Erfahrung der Entzweiung der Gegensätze von Bewußtsein und Wirklichkeit erwachsen. Es ist die geniale Leistung der Hegelschen Phänomenologie des Geistes, daß sie die üblichen Gegensätze und Dualismen von Bewußtsein und Gegenstand, Vernunft und Wirklichkeit, Idee und Realität, Wissen und Glauben, Theorie und Praxis philosophisch aufgearbeitet und in einen tieferen, tragenden Zusammenhang, in dem auch alle „Verdinglichung“ sich kritisch auflöst, aufgenommen hat. Hegel hat als erster begriffen, daß Geist Arbeit ist und Arbeit Geist. Worum es ihm geht, sind nicht lediglich Formen des Bewußtseins, sondern „Gestalten der Welt“, aus deren Gesamtzusammenhang sich Subjekt und Objekt, die Ge¬ danken und die sogenannten Tatsachen, das Verstehen und das Ver¬ ändern erst als solche und zugleich in ihrem Verhältnis zueinander begreifen lassen. Das hat freilich im 19. Jahrhundert niemand mehr recht begriffen, nicht einmal Hegels eigene Schüler. Indem aber für Marx der für Hegel zentrale und ursprüngliche Seins¬ bezug des Denkens nicht mehr besteht, muß er Hegels Begriff des Den¬ kens mißverstehen. Er gewinnt allerdings durch dieses Nichtmehrver¬ stehen Hegels gerade die Möglichkeit, das Denken zum verfügbaren technisch-subjektiven Instrument zu machen, das sich beliebig auf be¬ liebige Objekte anwenden läßt; und er gewinnt auf diese Art zugleich den Ansatz, den Geschichtsprozeß im Ganzen in den Griff zu bekommen. Es

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wird von hier aus auch begreiflich, daß Marxens Humanismus in den Materialismus Umschlagen kann, und in der Fortentwicklung umge¬ schlagen ist, sofern die gesamte Wirklichkeit — einschließhch des Men¬ schen — schließlich zum Material technischer Planung und Herstellung wird. Die Dialektik wird damit zum verfügbaren Prinzip und in der Folge zur bloßen Methode herabgesetzt. Die Geschichte selbst aber kann, was sie für Hegel nie war, Objekt antizipierender Planung werden: sie wird in ihrem Werden vorweggenommen. Das alles heißt, daß Marx Hegels Denken nicht umkehrt — das hat er nicht vermocht —, sondern daß er sich dem in ihm enthaltenen Seinsanspruch entzieht und so sich den Raum für die eigene Konzeption schafft. Was Marx durch die Abkehr von Hegel gewonnen hat, enthält eine Reihe höchst kritischer Probleme: Hegel hat mit seiner Philosophie zu begreifen gesucht, „was ist“ — indikativisch — wie er immer wieder gegen alle Aufspreizungen der Subjektivität — sei es der ratio, des bloßen Gefühls oder gewalttätigen Wollens — m seiner Kritik am heftigsten war. Hegel hat es für „töricht“ gehalten, zu „wähnen, irgendeine Philosophie sehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus“; geht sie darüber hinaus, baut sie nur eine eigene erdachte postulierte Welt auf, wie sie sein soll; diese existiert wohl, aber nur „im Meinen, einem weichen Element, dem sich alles Beliebige einbilden läßt“ (Vorrede zur Rechtsphilosophie). Das schließt für Hegel nicht aus, daß die Geschichte fortschreitet, daß es unhaltbare Zustände gibt, die der Änderung bedürfen. „Wer wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll“ (Enzyklopädie, § 6). Auch Marx selbst gibt ausdrücklich zu, daß Hegels Dialektik die Mittel zur kritischen Überwindung des Bestehenden enthält: „In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wort¬ führern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Unterganges einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, als nach ihrer vergänglichen Seite aufgefaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist1)“. Das Zum-Bewußtsein-Kommen wird für Hegel selbst zur „inneren Geburtsstätte“ eines neuen Werdens, das freilich aller Willkür, allem Beheben durch das Gewicht der in ihm aufgehobenen, das aber heißt: in ihm enthaltenen Geschichte entzogen ist. Es geht Hegel um die Einsicht r) Nachwort zur zweiten Auflage des ,,Kapital , Volksausgabe, Berlin 1947, Bd. I, S. 18.

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in die Nichtigkeit sowohl wirklichkeitsloser Vernunftforderungen wie vernunftloser Wirklichkeit. Für Marx, und zwar schon für den jungen Marx, gewinnt der Mensch — und hier entsteht eine andere Fahrtrichtung — den Boden der Vernunft allein im „Vorgriff“ ■—unter Verzicht auf jeden Rückgriff: das „wahrhaft Vernünftige“ verwirklicht sich erst und allein in der Zukunft, nämlich durch die kommende, wahre kommunistische Gesellschaft, für die der „himmelstürmende Kampf“ des Proletariats den Weg bahnt. Diese Zukunftsgesellschaft selbst ist freilich für Marx, der sich scharf von allem utopischen Sozialismus distanziert, kein bloßes Postulat, keine utopische Konstruktion. „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vor stellt“1)', die zu¬ künftige kommunistische Gesellschaftsform geht vielmehr notwendig aus den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft hervor; sie ist eine bereits,,unter unseren Augen vor sich gehende geschichtliche Bewegung“: Vollzug einer durch wissenschaftliche Analyse feststellbaren „unwider¬ ruflichen“, wenn auch keineswegs kausal-mechanisch wirkenden ge¬ schichtlichen Notwendigkeit. An dieser Stelle mit der Kritik einzusetzen, ist allgemein üblich geworden, dabei wird jedoch verkannt, daß Marx hier auf den Spuren Hegels in die Tiefe des produktiven Zusammenhangs von geschichtlicher Notwendigkeit und verantwortlichem Vollzug zu dringen sucht. Mit der Alternative von mechanistisch verstandenem Determinismus und Indeterminismus läßt sich die Problematik dieser Notwendigkeit jedenfalls nicht fassen; eher schon von dem Gedanken der Vorsehung her, sofern dieser das verantwortlich aktive Handeln ebenfalls nicht ausschließt, sondern fordert; nur ist diese Vorsehung bei Marx dem Geschichtsprozeß schlechthin immanent. Jedenfalls trifft der seit Rudolf Stammlers Vorgang oft wiederholte Einwand, daß man doch keine Partei gründen könne, um ein naturgesetzlich erfolgendes Ereignis, etwa eine Mondfinsternis zu beschleunigen oder zu begünstigen, nur die vulgär¬ materialistischen Deutungen, nicht jedoch Marxens Konzeption einer geschichtlichen Notwendigkeit, die durch das menschliche Handeln selbst hergestellt wird und die gerade zu verantwortlicher Aktivität verpflichtet. Aber dieser Vollzug geschichtlicher Notwendigkeit steht zugleich — und hier erheben sich freilich entscheidende kritische Fragen — radikal antithetisch zu aller bisherigen Geschichte, die insgesamt zur bloßen b Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 3, S. 207.

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Vorgeschichte herabgesetzt wird. Ihr Sinn liegt allein in der Zukunft, von der die Geschichte selbst in ihrer Un-Vernunft und Un-Wahrheit ent¬ hüllt und negiert wird. Mit ungewöhnlicher Apodiktizität wird diese Antithese Zukunft — bisherige Geschichte von Marx durchgeführt; es gibt keinerlei Riick-sicht mehr und keinerlei „Vermittlung“ (die doch der Zentralbegriff der Hegelsehen Dialektik ist). Der Umschlag erfolgt deshalb dadurch, daß der in der bürgerlichen Gesellschaft enthaltene Gegensatz zwischen den Besitzenden und den Proletariern kompromißlos auf die äußerste Spitze getrieben wird: es ist der „völlige Verlust des Menschen“, durch den die „völlige Wiedergewinnung des Menschen“, seine restitutio in integrum möglich werden soll1). Der völlige Verlust ist verkörpert im Proletariat. Aus dem Bewußtsein seiner „Entmen¬ schung“ erfolgt der „gewaltsame Umsturz“, durch den das Proletariat seine Herrschaft und durch sie die totale Emanzipation des Menschen begründet; denn es kann sich nicht erheben — wie es kennzeichnend und eindeutig genug im „Kommunistischen Manifest“ heißt —, ohne daß der gesamte Schichtenbau des ganzen bisherigen Gesellschaftsgefüges „in die Luft gesprengt wird“. Die Grundlegung selbst ist eine von Grund auf umstürzende. Die kommunistische Gesellschaft kann sich nur verwirklichen durch einen Bruch mit allem Überkommenem, durch eine Absage an alles Vor¬ gegebene, durch eine Negation der ganzen bisherigen Geschichte mit ihrem ständigen Wandel der gesellschaftlichen Seinsformen. Es gibt keine „Versöhnung“, wie bei Hegel, sondern es bleibt bei der Antithese. Die geschichtliche Dialektik selbst bricht ab. Es geht um die Herstellung eines vollkommenen, von nun an deshalb gleichförmigen, wandlungslosen Gesellschaftszustandes. Dieser Zustand ist als ein solcher in der Konzeption von Marx auch über die Negation der Negation noch hinaus; er „bedarf überhaupt einer solchen Vermitt¬ lung nicht mehr“2), — obgleich er doch zu seiner Verwirkhchung das im Kapitalismus entwickelte industrielle Niveau voraussetzt. Es ist ein absoluter Zustand „endzeitlicher“ Vollendung. Marx setzt ihn radikal von allem ab, was bisher Weltgeschichte gewesen ist — darin eschatologisch denkend —, aber er versteht diese Vollendung als eine solche, die durch den Menschen selbst prinzipiell herstellbar ist. Gerade die totale Ablösung von der bisherigen Geschichte eröffnet die Chance radikalen Neubeginns. 1) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., 1. Bd., 1. Halbband, S. 620. 2) Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., 3. Bd., S. 125; Thier, S. 198.

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Es kann deshalb hier auch nicht von einer Wendung im Denken von Karl Marx die Rede sein, als werde der Gesellschaftsanalytiker nun auf einmal zum kryptoreligiösen Schwärmer mit glühendem Herzen. Man wird auch nicht von einem unklaren Gemisch von Wissenschaft und Eschatologie sprechen dürfen; sondern es handelt sich um das sehr klare und konsequente Verfolgen des Gedankens der Emanzipation des Men¬ schen. Gerade das gibt dem Denken von Marx seine Stoßkraft, daß der kommende Endzustand dem Bannkreis der bisherigen Geschichte ent¬ rückt wird, sie „transzendiert“, aber diesseitig transzendiert, und eben dadurch gerade zugleich zum Bereich unbehinderten, menschlichen Verfügens, Planens und Manipulierens gemacht werden soll. Nur so kann die Zukunft in die Hand des Menschen kommen. (Ob man deshalb mit Löwith im prophetischen Messianismus seine Basis sehen darf, ist mir zweifel¬ haft.) Aus diesem Grunde wird es begreiflich, daß der geschichtliche Vollzug der revolutionären Wandlung sich auf eine Änderung der Wirtschafts- und Eigentumsordnung reduziert, damit aber das Humane dem Ökonomischen untergeordnet wird. Erst hier und an dieser Stelle kommt es zur Fixie¬ rung auf das Ökonomische — eben weil es als manipulierbar erscheint und nur so geschichtliches Werden in den Griff zu bekommen ist, wäh¬ rend der ursprüngliche Ansatz das Ökonomische ja gerade in den Gesamt¬ zusammenhang des Humanen zurückgenommen hatte. Auch diese Wendung zum Primat des Ökonomischen bleibt nur konsequent, weil sie geradezu zum Hebel der Realisierung der Selbstmächtigkeit des Menschen wird. Der Mensch gewinnt so die Möglichkeit, die Welt des Gesellschaftlich-Geschichtlichen

zum

bloß technischen Problem zu

machen, zur Frage eines Kunstgriffs, zu einer Frage der bloßen Ver¬ waltung von Sachen. Gegenüber Hegels Gedanken des dialektischen Vollzugs geschicht¬ licher Notwendigkeit ist eine fundamentale Änderung eingetreten: Der bei Hegel in aller Dialektik der Gegensätze die Kontinuität begründende Geschichtsbezug ist von Marx preisgegeben. Die bisherige Geschichte dient höchstens zum Absprung. Marx denkt in seiner RevolutionsKonzeption radikal ungeschichtlich. Der Kommunismus ist für ihn bereits das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“1). Das geschichtliche Ge¬ schehen selbst hat ebensowenig ein eigenes Geschehen wie die Zukunft. Es ist endgültig begriffen. Der zukunftgestaltende Geschichtsvollzug selbst kommt nicht, wie bei Hegel, aus der substantiellen Tiefe konb Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., 3. Bel., S. 114; Thier, S. 181.

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kreten, geschichtlichen Werdens und dem in ihm enthaltenen Seinsan¬ spruch, sondern gerade aus der totalen Tilgung dieses Anspruchs, der getilgt ist um der alle Ansprüche uneingeschränkt auf sich ziehenden Zukunftsgesellschaft willen. Jede geschichtliche Bindung ist gelöst; das Gewesene wird abgestoßen. Es gibt keine Erneuerung, sondern: eine schlechthin neue Welt wird gebaut — in dieser Welt, aber jenseits aller bisherigen Geschichte, jenseits ihrer Plagen und Mühen, ihres langsamen Werdens und ihrer imvorhersehbaren Ereignisse verschwimmen auch die Konturen des konkreten Menschen. Es fügt sich in diese Gedanken einer prinzipiellen Yorwegnahme von „Geschichte und Zukunft“, daß die wahre kommunistische Gesellschaft nicht nur die Überwindung der negativen Momente und Entfremdungs¬ zustände in der bisherigen Gesellschaft ist, sondern alle Gegensätze aus¬ löschen, jede grenzensetzende Negation beseitigen soll. Für Hegel war es dagegen eine entscheidende Erkenntnis gewesen, daß einerseits der Ge¬ schichtsprozeß selbst alle erstarrten, die Lebensentwicklung erstickenden, nur negativ wirkenden Formen abstößt und abstoßen muß wie „welke Blätter“, daß deshalb auch immer erneut Kritik des Bestehenden durch¬ aus erforderlich ist, und von ihm selbst auch geübt worden ist, daß aber andererseits der Mensch in den Gegensätzen und im Negativen ein stän¬ diges Widerstandselement und in ihm die Wirklichkeitssubstanz des Werdens zu erfahren bekommt, das niemals einfach aus der Welt zu schaffen ist. Hegel konnte sagen, daß sogar das Leben Gottes sich wohl als ein „Spielen der Liebe mit sich selbst ‘ beleuchten ließe, daß aber auch diese Idee zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab¬ sinkt, „wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und die Arbeit des Negativen darin fehlt“ (Vorrede zur Phänomenologie). Hegels Auf¬ heben der Gegensätze war also nie ein total negierendes Auslöschen: sondern gerade ein Aufbewahren auf höherer Stufe: es war negatio, conservatio und sublatio. Bei Hegel wartet deshalb das Weltsein nicht darauf, erst vom Men¬ schen in Ordnung gebracht zu werden; es trägt in sich selbst den Logos, den kein endlicher Geist erdacht oder erschaffen hat, aus der Seinswahr heit allein gewinnt vielmehr auch erst der Mensch seine eigene Wahrheit und Würde. Es gilt auch und gerade um der menschlichen Freiheit willen, deren Bewahrung Hegel niemals gleichgültig gewesen ist, „in dem, was an und für sich ist, zu stehen“ (Rechtsphilosophie). Was Hegel in das Bewußtsein gehoben hat, war wohl die Mündigkeit und Selbstverant¬ wortlichkeit des Menschen, aber nicht die SelbstmocR Ihre Durchsetzung

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Erwin

Metzke f

aber ist für Marx das Ziel der Geschichte. Für ihn tritt der Mensch der kommunistischen Gesellschaft, der Natur und Geschichte sich unter¬ worfen und die Welt schlechthin in Materie der Bearbeitung verwandelt hat, als eine letzte Wirklichkeit auf, die sich aus allem Begrenzenden be¬ freit hat. Es gibt kein Gegenüber mehr und keine vorgeordnete Wirk¬ lichkeit ■— nichts, was Grenze sein oder Maße setzen könnte. Es gibt keinen Platz mehr für ein Unverfügbares. Gerade die Absetzung jeder vor- und übergeordneten Wirklichkeit wird zur Voraussetzung der Selbstsetzung und Selbstverwirklichung des Menschen als souveränen Subjekts. Der Mensch ist nur noch sich allein Maß und sich selbst „höch¬ stes Wesen“. Er beansprucht für sich selbst das vom abendländischen Denken Gott zugesprochene Prädikat: causa sui1). Es liegt nur noch allein in seiner Hand, Welt und Gesellschaft in ihren perfekten Zustand zu versetzen und so den Prozeß der absoluten Selbstverwirklichung zu vollenden. Der Mensch schließt sich damit selbst ein in den Prozeß seiner Selbstproduktion. Um die Bedeutung dieser Konzeption der vollkommenen Zukunfts¬ gesellschaft zu erkennen, wird man sich eines klarmachen müssen: In dieser Konzeption tritt dem Menschen der Neuzeit, der als ,,deus in terris

das „regnum hominis“ in der Welt aufrichten wollte, nur die

gradlinige und totale Durchführung seines eigenen Wollens und seiner eigenen Prinzipien entgegen. Hier vollendet sich der Prozeß, durch den die Welt einschließlich der Wirklichkeit des Menschen selbst zum Roh¬ stoff totaler Machtausübung wird. Wir erkemien hier die Zusammen¬ hänge, die von Bacons Programm der Weltbemächtigung und Descartes’ methodischer Eversio, seiner Ausräumung alles Vorgegebenen, über Rousseaus Konzeption des reinen Menschen und Fichtes Titanismus bis zu den gegenwärtigen Formen der modernen Subjektivität und ihres ontologischen Nihilismus reichen mid ebenso in Pragmatismus, Positi¬ vismus und Existentialismus sichtbar werden: sofern sie alle das vorge¬ gebene Sein in seinem ursprünglichen Anspruch auflösen, indem alles nur vom Subjekt her seine Legitimation erhalten soll. Aus diesem Gesamtzusammenhang erst wird die volle Stoßkraft der revolutionären Konzeption von Marx, der Anspruch des Umstürzens von Grund auf in seiner Tiefe faßbar. Jetzt erst wird begreifbar, daß hier das Problem der modernen Welt selbst radikal, d. h. von der Wurzel, d. h. vom Menschen her gestellt wird und sich nicht mehr abschieben läßt. b a. a. O. S. 124f.; Thier, S. 197.

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Jetzt erst, durch die Konsequenz, mit der Marx seine Konzeption durchgeführt hat, kommt die ungelöste Spannung, die in ihr enthalten ist, in ihrer sprengenden Gewalt zum Bewußtsein: Was nämlich die voll¬ endete Selbstmacht des Menschen in aller Welt auch in der vollkom¬ mensten Gesellschaftsorganisation davor zu bewahren vermag, daß sie sich gegen ihn selbst wendet. Jetzt erst wird auch erkennbar, wie sehr viele der gewohnten Abferti¬ gungen des Marxismus an der Oberfläche gebheben sind. Es kann nur zu leichtfertigem Hochmut führen, wenn man meint, es genüge die Prin¬ zipien des mechanistischen Materialismus zu widerlegen, in der Dialektik Widersprüche aufzuzeigen und Stalins Thesen zu zerpflücken. Die kritische Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxismus erreicht erst dann und nur dann die tragenden Grundlagen, wenn sie zugleich zur kritischen Besinnung auf unser eigenes Seins- und Ge¬ schichtsverständnis führt.

Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung von IRING FETSCHER

Die vorliegende Betrachtung stellt einen Versuch dar. Es soll skizzen¬ haft gezeigt werden, wie sich der Marxismus im Laufe der Entwicklung von der „Aufhebung“ der Hegelschen Philosophie in der selbstbewußten Aktion des Proletariates zu einer diesem Proletariat verdinglicht gegen¬ überstehenden Weltanschauung gewandelt hat. Diese Transformation selbst aber soll nicht als „Schuld“ einzelner Denker hingestellt, sondern aus den geschichtlichen Bedingungen heraus verstanden, wenn nicht in ihrer Fatalität aufgezeigt werden. Das Ausspielen des jungen Marx gegen den erstarrten Marxismus unserer Tage wird von den Apologeten der Sowjetideologie als ein ty¬ pisches Verfahren bourgeoiser Mystifikation gebrandmarkt.1) Es wäre in der Tat unhaltbar und müßig, wenn aus dem bloßen Gegensatz zwischen reifem Werk und Jugendkonzeption eine Verurteilung abgeleitet würde. Im Falle von Marx ist es aber so, daß in seinen philosophischen Früh¬ schriften der Schlüssel zum Verständnis des gesamten nationalökono¬ mischen und politischen Werkes liegt, das nur von hier aus in seiner Geschlossenheit richtig aufgefaßt werden kann2 *). ’) Vgl. z. B. die Kritik, die Karl Morf an Heinrich Popitz’ „Der entfremdete Mensch“, Basel, 1953, in der „Deutschen Zeitschrift f. Philosophie“, 3. Jg., 1955, Heft 4, S.527—535, übt. „DieWiederentdeckung des frühen Marxschen,Humanismus4 ... ist nicht von ungefähr zum Hauptanliegen einer nicht geringen Zahl westlicher Marx-Interpreten geworden. Wenn ... der ,wahre Marx1 der Marx der Frühschriften sein sollte, dann erfolgt zwangsläufig eine Abwertung der Spätschriften und ihre Re¬ vision in Hinblick auf die noch ,philosophisch-anthropologische1 Jugendperiode.“ 2) Vgl. Siegfried Landshut, Einleitung in „Karl Marx, Die Frühschriften“, Stutt¬ gart, 1953; Ludwig Landgrebe, Hegel und Marx, in: Marxismusstudien, Tübingen, 1954; Jean Hyppolite, De la structure du »Capital« et de quelques presuppositions philosophiques de l’oeuvre de Marx, in: Etudes surMarx et Hegel, Paris, 1955.

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Philosophie des Proletariats

Während aber dieser einheitsstiftende Ausgangspunkt und Hinter¬ grund des Marxschen Werkes in Vergessenheit geriet, entfaltete Friedrich Engels in seinem „Auti-Dühring“ und anderen Schriften die proletarische Weltanschauung des „dialektischen Materialismus“. An die Stelle der in der selbstbewußten Aktion des Proletariates aufgehobenen Philosophie trat die mit Hilfe der Dialektik weltanschaulich verarbeitete „Wissen¬ schaft“. Das geschah aber nicht zufällig, sondern genau in dem Maße, in dem sich die unmittelbaren Heilserwartungen des revolutionären So¬ zialismus als Selbsttäuschungen herausstellten,

als die Revolution

ausblieb und der schon totgesagte Kapitalismus einen neuen Aufschwung nahm1). Der von Marx ursprünglich visierte Zentralgedanke wurde nun als „Endziel“ religiös verklärt und der Hauptakzent seiner Leistung auf den Aufweis der „mit naturgesetzlicher Notwendigkeit“ sich voll¬ ziehenden Selbstzerstörung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verlegt. An die Stelle der kollektiven und selbstbewußten proletarischen Aktion trat vorerst die Organisation des Proletariats innerhalb der bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Die organisatorische Einheit aber sollte weltanschaulich garantiert und gefestigt werden. Das kulturell in die kleinbürgerlich-nationale Umwelt hineinwachsende Proletariat mußte sich auch ideologisch von seinem Milieu unterscheiden. Die Abwehr weltanschaulicher Überfremdungsversuche ist denn auch der Anlaß zu Engels’ philosophischem Hauptwerk, dem Anti-Dühring, gewesen. Die von Engels propagierte dialektisch-materialistische Weltanschauung kann man als eine Subtilisierung der damals allgemein herrschenden vulgärmaterialistisch-monistischen Konzeptionen kennzeichnen. Ein¬ zelne Züge der als universelle Bewegungstheorie verstandenen Dialektik wurden zur verstehenden Deutung der Natur herangezogen und die einheitlich, für Natur wie Geschichte geltende Dialektik als ein Beweis für die Richtigkeit des historischen Materialismus angesehen. So suchte i) Vgl. Karl Korsch, Marxismus und Philosophie, 2. Aufl., Leipzig, 1930: „Dieser besondere, nur für die Geschichte von ,Marxismus und Philosophie maßgebende Gesichtspunkt rechtfertigt insbesondere auch die unter anderen Gesichtspunkten nicht genügend differenzierte Abgrenzung der zweiten dieser Entwicklungsperioden, die ich mit der Junischlacht 1848 und der daraus folgenden Epoche eines unerhörten kapitalistischen Aufschwunges und der gleichzeitigen Zermalmung ader in der vorhergehenden geschichtlichen Epoche bereits entstandenen Organisationen und Emanzipationsträume der Arbeiterklasse in den fünfziger Jahren des 19. Jahr¬ hunderts beginnen und bis etwa um die Jahrhundertwende fortdauern lasse (S. 7).

Iring Fetscher

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Engels — und nach ihm Lenin und seine Anhänger — das Prestige der Naturwissenschaften zur Stützung des Ansehens der Marxschen Lehren heranzuziehen. Der Glaube an die Allmacht der Naturwissenschaften wurde auf die Marxsche Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft übertragen. Während Marx die Philosophie in der selbstbewußten historischen Aktion des Proletariates konkret im dialektischen Sinne des Wortes „aufheben“ wollte, wurde sie jetzt — im Stile der Zeit — durch angebliche ,,Wissenschaft“ verdrängt1). Die Durchdringung von Selbst¬ bewußtsein und Tat wurde gelöst und das organisierte Proletariat trat auf die eine — seine „wissenschaftliche Weltanschauung“ ihm gegenüber auf die andere Seite. Diese Verdinglichung und Entfremdung des Bewußtseins zu einer weltanschaulichen Gestalt spiegelte — wissens¬ soziologisch gesehen — jedoch nur die disziplinierte Ordnung der Organi¬ sation und die Heranbildung einer autoritären Führer-Hierarchie. Jede Verfestigung dieser Ordnung mußte auch zu einer Verhärtung der Ideologie führen, während umgekehrt bei größerer innerparteilicher Demokratie sich die Konturen einer einheitlichen Weltanschauung ver¬ wischten und die geschichtlich-kulturelle Differenziertheit des Prole¬ tariates zum Ausdruck kam. Nicht zufällig hat sich gerade dort, wo ein großes und hochstehendes Proletariat noch nicht vorhanden war, die „proletarische Weltanschau¬ ung“ des dialektischen Materialismus besonders stark verhärtet und das namentlich, nachdem die Periode einer wirklichen Revolution (von unten) vorüber war. Zusammen mit Aufbau und Erstarrung der hierarchischen Parteiorganisation kam es zu einer Ausgestaltung der Engelsschen Lehren, die wiederum nicht zufällig alle Züge einer ,Scholastik' trug. Die Konservierung der von Engels in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorgetragenen Thesen führte — entgegen der ursprünglichen Intention — zu einer geistigen Verspießerung des Prole¬ tariates, dem künstlich jene kleinbürgerliche Weltanschauung des ver¬ gangenen Jahrhunderts erhalten wurde. Darwinsche Entwicklungslehre

1) Vgl. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), Berlin, 1953: „Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamt¬ zusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen — die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte“ (S. 29, Hervorhebungen von mir).

29

Philosophie des Proletariats

und Marxscher historischer Materialismus wurden schon von Engels auf eine Stufe gestellt1). Der fundamentale Unterschied, der zwischen einer Erkenntnis von außerhalb der Menschheit ablaufenden Kausalzusammen¬ hängen und einer die proletarische Menschheit umgestaltenden Selbst¬ erkenntnis besteht, wurde damit verwischt. Aus einer Theorie, die sich durch die zur Tat führende Selbstbewußtwerdung des Proletariates „verwirklichen“ wollte, entwickelte sich eine „Weltanschauung“, die das Proletariat „haben“ sollte. Durch den Einbau in den umfassenden dialek¬ tischen Materialismus wurde auch der historische Materialismus von Marx qualitativ verändert und zu einem Bestandteil dieser verdinglichten Ideologie gemacht. Die revolutionäre Weltanschauung lief neben der politischen Praxis einher und stand ihr meist fremd gegenüber. Karl Kautsky konnte zugleich der — auch von Lenin bis 1914 anerkannte ideologische Hauptexponent dieser Weltanschauung und ein im politi¬ schen Tageskampf durchaus revisionistischer Politiker sein2). Der dialek¬ tische und historische Materialismus war für die deutsche Sozialdemo¬ kratie vielleicht ein organisatorisches Bedürfnis, aber keine notwendige Voraussetzung der von pragmatischen Gesichtspunkten und demo¬ kratischen Traditionen bestimmten Politik. Das konnte selbstverständ¬ lich Lenin und Stalin nicht hindern, auf Grundlage der gleichen Welt¬ anschauung eine radikal andersartige Politik — entsprechend ihrer Auffassung von den Bedürfnissen der Lage in Rußland

zu begründen.

Wenn die Ideologie bei Kautsky und seinen Anhängern zur Beruhi¬ gung des revolutionären Gewissens diente, so wurde sie bei Lenin und noch mehr bei Stalin zur Rechtfertigung der jeweiligen politischen Aktion. In beiden Fällen entsprach ihre faktische Funktion kaum der behaupteten Bedeutung: wissenschaftliche Grundlage der politischen Entscheidung zu sein. Lenin unterschied sich von Kautsky und sei¬ nen Anhängern weniger durch seine dialektisch-materialistische Welt¬ anschauung als vielmehr durch seinen politischen Scharfblick, seine geniale Führungsbegabung und seinen aktiven revolutionären Gestal¬ tungswillen. Erst Anfang der zwanziger Jahre kam es bei einer Reihe von Denkern zu einer Erneuerung des Marxschen Denkansatzes. Die Genialität des 1) Vgl. Friedrich Engels, Rede am Grabe von Karl Marx: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwick¬ lungsgesetz der menschlichen Geschichte“ (Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgew. Schriften, Berlin, 1953, Bd. II, S. 156). 2) Vgl. hierzu den Beitrag von Erich Matthias in diesem Bande fe. 151

197.

Iring Eetscher

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Werkes

„Geschickte und Klassenbewußtsein“

von

Georg Lukäcs1)

zeigt sich vor allem darin, daß er — ohne die aufschlußreichste Marxsche Jugendarbeit „Nationalökonomie und Philosophie“2) kennen zu kön¬ nen — dem dort entwickelten Ansatz von Marx erstaunlich nahekam. Natürlich trug auch seine Herkunft von der bürgerlichen Hegel-Renais¬ sance zu dieser Verwandtschaft der Gedankengänge bei. Die oben ') Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, kl. rev. Bibliothek, Bd. 9, Berlin, 1923. Kritiken vom Standpunkt des sowjetischen Marxismus: A. Deborin: „Lukäcs und seine Kritik des Marxismus“ in „Arbeiterliteratur“, Wien, 1924, Nr. 10, S. 615f. und Sinowjew in „Internationale Pressekorrespondenz“, 4. Jg., 1924. Vom sozialdemokratischen Standpunkt kritisiert Lukäcs Karl Kautsky in der „Gesellschaft“, I., Juni 1924, und Siegfried Marek in „Neukritische und neuhegelsche Auffassung der Dialektik“ in der „Gesellschaft“, Bd. I, 1924, S. 573ff. Marek spielt den neukantianischen Standpunkt von Max Adler und Alb. Kranold gegen Lukäcs’ „unkritischen“ Hegelianismus aus. Diese Auseinandersetzung wird breiter ausgeführt im Zusammenhang seines Buches „Die Dialektik im Denken der Gegenwart“, Tübingen, 1929, 1. Halbband, S. 119—135. Zur aktuellen Diskussion um Lukäcs’Jugendarbeit vergleiche auch: Maurice Merleau-Ponty, Les aventures de la dialectique, Paris, 1955, und die orthodoxe Kritik an diesem Buch von kommu¬ nistischer Seite: Garaudy, Cogniot u. a. ,Mesaventures de Fanti-marxisme, les malheurs de M. Merleau-Ponty“, Paris, 1956. Dort ist auch ein Brief von G. Lukäcs abgedruckt, in dem er sich ausdrücklich von seinem Werk distanziert: „.. . J’etais encore en train de passer de la philosophie de Hegel au marxisme. De plus ce marxisme etait ä l’epoque absolument sectaire et charge de survivances luxembourgistes. Ma position de cette epoque est caracterisee par une fausse reponse aux questions les plus importantes de la dialectique. Ainsi dans la negation partielle de la theorie du reflet; ainsi dans le rejet de la dialectique dans la nature etc. Ce livre est donc un produit typique d’une epoque de transition avec toutes ses contradictions interieures, son eclectisme et sa confusion“ (S. 158f). Ein Schüler von Georg Lukäcs, Luden Goldmann, schreibt: „Aujourd’liui Lukäcs est revenu de cet idealisme excessif qu'il qualifie lui meine d'apocalyptique‘‘ (Sciences humaines et philosophie, Paris, 1952). Vgl. auch Georg Lukäcs’ autobiographische Schilderung seines „Weges zu Marx“ (1933), abgedruckt in der Festschrift zu seinem siebzigsten Geburtstag. Berlin, 1955. 2) Erste Veröffentlichung in Marx-Engels-Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 3, Berlin, 1932, „Zur Kritik der Nationalökonomie mit einem Schlußkapitel über die Hegelsche Philosophie“. Gleichzeitig in Landshut-Mayer, Karl Marx, der Hist. Materialismus, Kröner-Verlag, 1932. Einzelausgabe von Erich Thier, Nationalökonomie u. Philo¬ sophie, Köln, 1950. Neuerdings auch (mit Ausnahme des Abschnittes „Kritik der Hegelschen Dia¬ lektik und Philosophie überhaupt“, der in K. Marx und F. Engels, Die Heilige Familie und andere philos. Frühschriften,Berlin, 1953, abgedruckt ist) in: MarxEngels, Kleine ökonomische Schriften, Berlin, 1955. Die letztgenannte Ausgabe bringt den MEGA-Text mit einer Reihe von Verbesserungen und ist damit die z.Z. zuverlässigste.

Philosophie des Proletariats

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behauptete ideologische Verwandtschaft von Kautsky und Lenin zeigte sich bei der Reaktion auf das zweite bedeutsame Werk der „MarxRenaissance“:

Karl

Korschs

„Marxismus und Philosophie“* 1),

das

ebenso wie das von Lukäcs von den Sowjetideologen — aber auch von Karl Kautsky selbst — heftig kritisiert wurde. Der Rückgang von der allumfassenden materialistischen Weltanschauungslehre auf die Theorie vom selbstbewußt handelnden Proletariat war innerhalb der offiziellen Parteien nicht mehr möglich. In der Sowjetunion nicht, weil dort eine staatskapitalistische Diktatur über ein Bauernland als Diktatur des Proletariats ausgegeben wurde und daher keine echte, auf breiter Grundlage und in Freiheit sich entfaltende Bewegung des (in Wirklichkeit eine kleine Minderheit darstellenden) Proletariats möglich war2). Im Westen nicht, weil sich dort das Proletariat (das nirgends die absolute Mehrheit der Bevölkerung zu umfassen vermochte) vom revolutionären zum

reformistischen

Standpunkt

entwickelte.

Die

philosophische

Überlegenheit dieser Denker steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer politischen Wirksamkeit, die Ideologisierung und Simplifizierung des Marxismus scheint ein imvermeidliches Schicksal zu sein. Wenn Engels dem Bildungsbedürfnis des deutschen Proletariats folgend eine umfassende Weltanschauung entwarf, so hat Lenin vollends diese Weltanschauung ausschließlich unterm Gesichtspunkt ihrer Nütz¬ lichkeit gesehen. Zweck war die einheitliche Ausrichtung der russischen (und womöglich auch der außerrussischen) Arbeiterbewegung, der Glaube i) Vgl. die kritische Einleitung des Herausgebers der russ. Ausgabe der 1. Auflage von „Marxismus und Philosophie“ Gr. Bammel, Moskau, 1924, und die in allen wesentlichen Punkten gleichlautende Kritik von Karl Kautsky in „Die Gesellschaft“ I, 3. Juni 1924, S. 306ff. z) Vgl. das aufschlußreiche Buch des ehemaligen Kommunisten Arthur Rosen¬ berg, Geschichte des Bolschewismus; von Marx bis zur Gegenwart, Berlin, 1932. Rosenbergs Hauptthese läuft darauf hinaus, daß die Sowjetunion kein sozialistischproletarischer Staat, sondern eine staatskapitalistische Diktatur der Parteiführung darstellt, und daß die KPdSU infolge dieser ihrer Rolle auch nicht die effektive Führung der revolutionären Weltbewegung ausüben kann. Die nationalstaatlichen und staatskapitalistischen Interessen der Sowjetunion fallen nicht mit denen der kommunistischen

Parteien

bzw.

der

ausländischen

Proletariate

zusammen.

„... indirekt rechtfertigt die Existenz der (nichtproletarischen) Bauernmassen die Partei und Apparatdiktatur über Sowjetrußland“ ... „Die volle geistige Freiheit, die zur echten sozialistischen Gesellschaft gehört, ist freilich in Sowjetrußland nicht vorhanden, weil die herrschende Parteidiktatur

ohne

eine

dogmatisch

starre, für jeden verbindliche Lehre, den sogenannten Leninismus, nicht leben kann.“ (S. 229.)

32

Iring Fetscher

an. den möglichen Sieg und an die Wirksamkeit der revolutionären Aktion der Partei, die Gewißheit der Überlegenheit der eigenen „wissenschaft¬ lichen“ Weltanschauung gegenüber allen konkurrierenden Ideologien und das absolute Vertrauen in die auf dieser „Grundlage“ autoritär herr¬ schende Führungsgruppe. Die geschichtliche Entwicklung hat so zu einer Reproduktion des ideologischen Bewußtseins auf einer neuen (höheren?) Stufe geführt. Während die bourgeoise Geschichtsideologie die Herrschaft allgemeiner Ideen behauptete, in Wirklichkeit jedoch von dem Willen der Menschen unabhängige Strukturzusammenhänge sich zu einer ihnen gegenüberstehenden Macht verdinglicht hatten, besteht die proletarische Geschichtsideologie darin, daß sie die rationale Herrschaft des im dialektischen Materialismus zum Ausdruck kommenden proletarischen Klasseninteresses (das angeblich mit dem Menschheitsinteresse überein¬ stimmt) behauptet, während in Wahrheit eine kleine Führungsclique so¬ wohl dieses Interesse selbst wie auch seinen ideologischen Ausdruck souverän manipuliert und interpretiert. Der Gedankengang der vorliegenden Arbeit setzt ein mit der Marxschen Kritik an der Ideologiehaftigkeit des bürgerlichen Bewußtseins, ent¬ wickelt dann den Kern der Philosophie des selbstbewußten Proletariates, in dem Marx den Gegensatz von Idealismus und Materialismus über¬ wunden hat und deutet die Bedeutung dieses Gedankens für das Marxsche Lebenswerk an. In einem zweiten Abschnitt wird der Aufbau einer proletarischen Weltanschauung (des dialektischen Materialismus) durch Engels und in einem dritten die Fortbildung derselben durch Lenin skizziert. Dabei kommt es darauf an, den radikalen Bruch sichtbar zu machen, der zwischen dem philosophisch-revolutionären Anliegen von Marx und der ideologisch-reaktionären Absicht der Sowjet-,,Wissenschaft¬ ler“ besteht. Es wäre freilich verkehrt, wollte man in diesem Bruch einen vollkommenen Verlust der Kontinuität erblicken. Selbstverständlich sind auch in der heutigen Sowjetideologie Elemente der Marxschen Philosophie enthalten, aber sie sind dort gleichsam auf das Proknstesbett einer scheindialektischen Dogmatik gespannt und ihres revolutionären Stachels beraubt. Die realen Bedürfnisse einer konkreten geschichtlichen Situation, wie die der sowjetrussischen Führungsschicht, können jedoch gerade nach marxistischer Überzeugung keineswegs als bloße Zufälle abgetan oder als Entstellungen einer ursprünglich „reinen“ Wahrheit kritisiert werden. Wir stellen nur fest und wenden den Marxschen Begriff der „Verdinglichung auf eine Ideologie an, die von sich selbst behauptet, „wissenschaftliche Weltanschauung“ zu sein.

Philosophie des Proletariats

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I. Die Überwindung des Gegensatzes von Materialismus und Idealismus in der selbstbewußten Aktion des Proletariates „Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.“ Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung.

Karl Marx stellt am Ausgang der bürgerlichen Epoche. In seiner Selbstinterpretation kommt er nach der Vollendung des bürgerlichen Selbstverständnisses in der deutschen Philosophie und in der klassi¬ schen Nationalökonomie der Engländer. Seine Aufgabe kann nur sein, das Überlieferte „aufzuheben“ mid den „engen Horizont“ der bürger¬ lichen Welt in der Tat und durch die Tat zu transzendieren. Auf¬ hebung setzt Aneignung voraus und eine Durchdringung des Über¬ kommenen, das dieses „besser versteht, als es ihre Exponenten selbst verstanden haben“. Dialektisches Aufheben entwickelt „der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien“, es knüpft ans Immanente an und treibt es durchs Bewußtmachen über sich selbst hinaus. Was also ist diese bürgerliche Wirklichkeit und die zu dieser Wirklichkeit hinzu¬ gehörige, sie ergänzende Ideologie und wie kaim sie aufgehoben und überwunden werden ? Die bürgerliche Ideologie ist eine falsche Widerspiegelung einerfalschen Wirklichkeit1). Sie ist weder die richtige Widerspiegelung einer falschen, noch die falsche Widerspiegelung eurer richtigen Welt. In ihrer doppelten Falschheit hegt jedoch keine dialektische Aufhebung der Falschheit als solcher, sondern die Aufforderung, jene falsche Wirklichkeit erst einmal zu einer „richtigen“ zu machen, auf Grund deren dann eigentliche Wahr¬ heit erst möghch wird. Näher ist die bourgeoise Ideologie durch ihren Ideahsmus gekennzeich¬ net, durch eine Lehre, welche die Idee zu einem selbständigen, von der übrigen Wirklichkeit isolierten Faktor macht und in ihr die eigentliche Triebkraft geschichtlich-gesellschaftlicher Entwicklung erblickt. Diese Ideologie (im engeren Sinne) ist in zwiefacher Hinsicht falsch: a) absolut (in sich) falsch ist die Verselbständigung und Isolierung des Ideellen zu einer von der geschichtlichen Totalität unabhängigen Substanz. b) relativ (bezogen auf die von ihr visierte Realität) falsch ist die Behauptung, daß das Ideelle, das Bewußtsein die eigentliche historische Triebkraft sei. i) Als typische bourgeoise Ideologie hat Marx weniger Hegels Philosophie als die der Hegelianer seiner Zeit im Auge. Marxismusstudien II

3

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Die absolute Falschheit könnte theoretisch durch eine ideologisch bleibende Korrektur beseitigt werden, wenn sie nicht eine notwendige Folge der relativen Falschheit wäre, die ohne Korrektur der von ihr falsch wiedergegebenen und sie zugleich hervortreibenden Wirklichkeit nicht richtiggestellt werden kann. Die Wirklichkeit der bourgeois-kapitalistischen Welt ist falsch, weil in ihr objektive, vom Wissen und Wollen der Menschen unabhängige materielle Prozesse das Schicksal der Menschen bewirken1), während der !) Vgl. Marx, „Das Kapital“: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen

Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies quid pro quo werden die Arbeitsprodukte Waren ... Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Ver¬

hältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des mensch¬ lichen Kopfes mit eignem Leben begabt, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden ...“ (Volksausgabe, Berlin, 1947 Bd. I, S. 77f.). „Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eigenen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eigenen

Hand beherrscht“ (a. a. 0., S. 653). Der gleiche Gedanke wird auch noch im 3. Band des Kapital formuliert: „Endlich verhält sich .. . der Arbeiter in der Tat zu dem gesellschaftlichen Charakter seiner Arbeit ... als zu einer ihm fremden Macht . ..“ (Bd. III, S. 105). „So wächst die Macht des Kapitals, die im Kapitalisten perso¬ nifizierte Verselbständigung der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen gegen¬

über den wirklichen Produzenten. Das Kapital zeigt sich immer mehr als gesell¬ schaftliche Macht, deren Funktionär der Kapitalist ist,

. . . aber als entfremdete,

verselbständigte gesellschaftliche Macht, die als Sache der Gesellschaft gegenüber¬ tritt“ (a. a. 0, S. 293). In den Jugendschriften findet sich der Gedanke der Ent¬ fremdung und der Herrschaft der verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisse über den Menschen überall, ich will nur zwei besonders charakteristische Stellen zitieren: „Es ist endlich notwendig, daß ... das Grundeigentum unter der Gestalt des Kapitals seine Herrschaft sowohl über die Arbeiterklasse als auch über die Eigen¬ tümer selbst zeigt. Damit tritt dann an die Stelle des mittelaltrigen Sprichworts: nulle terre sans seigneur, das andre Sprichwort: l’argent n’a pas de maitre, worin die ganze Herrschaft der totgeschlagenen Materie über den Menschen ausgesprochen ist“ (MEGA, 1. Abt. Bd. 3„ S. 77). „Die Entäußerung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußern Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben,

35

Philosophie des Proletariats

Mensch seinem „Gattungswesen“ nach ein bewußt sein Wesen (und sich selbst als Gattung) produzierendes Wesen ist* 1). Mit anderen Worten: die bourgeois-kapitalistische Welt ist falsch, weil in ihr „Entfremdung“ statthat, weil in ihr das Resultat der bewußten Einzelhandlungen aller (isolierten) Individuen sich zu einer ihnen gegenüberstehenden materiellen Macht ver-selbständigt, ent-fremdet und ver-dinglicht hat. Die relative Falschheit der bourgeoisen Ideologie beruht also darauf, daß sie von der falschen Welt behauptet, in ihr gehe es mit rechten Dingen zu, daß sie die Fehlerhaftigkeit der falschen Welt verschleiert, indem sie die verdinglichte Übermacht materieller Verhältnisse zu einem autonomen, ideellen Faktor macht und so die Menschen geistig mit ihr versöhnt (Hegel). Marx’ erster Schritt besteht in der Kritik der eben dargelegten bourgeois-ideologischen Verschleierung der falschen bourgeois-kapitali¬ stischen Welt. Die kritische Zerreißung des Schleiers ist die Voraus¬ setzung der Aufhebung der Fehlerhaftigkeit von Ideologie und Wirklich¬ keit: sie läßt das Handeln zugleich als nötig und als möglich erscheinen. das er dem Gegenstand verliehen hat, ihm feindlich und fremd gegenübersteht.“ (A. a. 0., S. 83f. Hervorhebungen meist von mir). 1) Vgl. Nationalökonomie und Philosophie, z.B. „Indem aber für den sozialisti¬ schen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die

Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß“ (MEGA, 1. Abt., Bd. 3, S. 125, Hervorhebungen von mir). Das „Gattungswesen“ des Menschen besteht darin, daß er sich seine Wesenheit erst erarbeiten muß, indem er sich „vergegenständlicht“. Diese Vergegenständlichung ist die kollektive Leistung der Kultur in der Arbeit der vergesellschafteten Mensch¬ heit (bzw. des jeweiligen Kulturkreises). Zu sich selbst kommt der Mensch erst dann, wenn er sich diese vergegenständlichte Weit allseitig aneignen, in Besitz nehmen kann. Erst durch diesen Prozeß wird die „Natur für ihn

erst im Laufe der

geschichtlichen Ver-menschlichung schafft er sich menschliche „Sinne , die eine menschliche Aneignung ermöglichen. Dieser Zusammenhang wird erstmals vom Standpunkt des Proletariats aus durchsichtig, weil jetzt die Verhüllungen der Entfremdung wegfallen und die gesamte Wirklichkeit (die Totalität der geschicht¬ lich-menschlichen Welt) nicht nur als eigne „Tathandlung“ begriffen, sondern auch

bewußt vollzogen wird. Da die Eigentümlichkeit des Menschen darin liegt, daß sein (menschliches) Tun durch das Bewußtsein vermittelt ist, kommt erst im Proletariat der Mensch ganz zu sich selbst, während er bislang nur „uneigentlich

lebte. Der

Mensch als „Gemeinwesen“, als Wesen, das sich eins weiß mit der Gemeinschaft, verwirklicht also nach Marx die absolute souveräne Freiheit und erfüllt damit ein von Marx stillschweigend aus der philosophischen Tradition übernommenes Ideal. 3*

Iring Fetscher

36

Die Notwendigkeit des Handelns beruht moralisch auf der aufgewiese¬ nen Falschheit der bourgeois-kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die das menschliche Gattungswesen sich selbst (in jedem Einzelmenschen) entfremdet, faktisch auf der Not des Proletariates, das arbeitend diese Ent-fremdung bis zum Hungertod an sich zu vollziehen gezwungen ist1). Die Möglichkeit des Handelns beruht darauf, daß diese falsche, ent¬ fremdete Welt, wenngleich unbewußt, immer schon eine von den Men¬ schen selbst geschaffene ist. Daß man den Menschen also nur zu sagen braucht, daß sie durch die Art ihrer Tätigkeit jene entfremdeten Mächte selbst schaffen, um ihnen damit auch schon das Mittel zu zeigen, die Entfremdung zu überwinden2). In dem Augenblick, da sie sich der Tatsache bewußt werden, daß die Entfremdung aus ihrem eigenen ent¬ fremdeten Tun hervorgeht, haben sie auch schon die Fähigkeit erworben (allerdings erst sobald es sich wirklich um die selbstbewußte Klasse handelt), sie durch ein anderes Tim zu überwinden. Dieses die Entfremdung überwindende Handeln kann kein indi¬ viduelles sein. Denn das in seiner Isoliertheit bewußte Handeln der Individuen hatte ja gerade im Ganzen jene unbewußten und ungewollten Resultate gezeitigt, die Marx Entfremdung nannte. Nur ein bewußtes Zusammenhandeln, eine kollektive Tat mit einem entsprechenden kol¬ lektiven Bewußtsein kann die Entfremdung aufheben. Die gesellschaftlichen Gruppen der bourgeois-kapitalistischen Welt sind Klassen, die sich voneinander nicht mehr durch verschiedene recht¬ liche, sondern nur noch durch verschiedene ökonomische Funktionen (Stellungen innerhalb der Produktionsverhältnisse) unterscheiden. Das Proletariat zeichnet sich dadurch gegenüber den anderen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft aus, daß es unter der von ihm unbewußt geschaffenen Ent-fremdung leidet, nur leidet, während die Bourgeoisie zugleich Nutznießerin dieser Entfremdung ist3) und sich deshalb der sozialen Ursachen ihres „Unbehagens an der Kultur“ (Freud) nicht bewußt werden kann. Das Leiden des Proletariats ist also eine wesent¬ liche Voraussetzung des Prozesses der Bewußtwerdung, der zur re¬ volutionären Umgestaltung (zur kollektiven Tat) führen soll. 1) Vgl. MEGA, 1. Abt., Bd. 3, S. 84ff. und öfter. 2) Vgl. MEGA, 1. Abt., Bd. 3, S. 93, und Herbert Marcuse in „Die Gesellschaft“ 1931. 3) „Zunächst ist zu bemerken, daß alles, was bei dem Arbeiter als Tätigkeit der

Entäußerung, der Entf remdung, bei dem Nichtarbeiter (d. h. beim Bourgeois, IF) als Zustand der Entäußerung, der Entfremdung, erscheint“ (MEGA, 1. Abt., Bd. 3, S. 94).

37

Philosophie des Proletariats

Der zweite Schritt der Marxschen Theorie ist die eigentliche Überwin¬ dung der falschen Welt und mit ihr der falschen Ideologie der Bourgeoisie. Diese Überwindung kann nicht darin bestehen, daß die falsche Welt auf den Kopf gestellt wird, weil sie damit nicht aufhören würde falsch zu sein, sondern allein darin, daß an die Stelle der unbewußt produzierten falschen eine bewußt produzierte richtige Welt gesetzt wird. Der Prozeß, richtiger die Tat, durch die ineins die falsche Welt des Kapitalismus richtig gemacht und ihre falsche Spiegelung aufgehoben wird, ist die von dem seiner selbst bewußten Proletariat durchgeführte Revolution. In dem seiner selbst bewußten und auf Grund dieses Bewußtseins kollektiv handelnden Proletariat ist die Trennung und Isolierung des ideellen

(bewußten)

und

des

materiellen

(lebendigen,

objektiven)

Momentes überwunden, die für die bürgerliche Ideologie kennzeichnend war. Zugleich aber ist in ihm auch die Entfremdung überwunden, die dazu geführt hatte, daß objektive, vom Bewußtsein der Menschen nicht gesteuerte und nicht steuerbare Prozesse über ihre Köpfe hinweg ihr Schicksal bestimmten. Mit anderen Worten: das Bewußtsein hat im gleichen Augenblick aufgehört „idealistisch“ (ideologisch) zu sein, als die gesellschaftliche Wirklichkeit auf hörte „materialistisch“ zu sein1). In der kollektiven selbstbewußten Aktion des Proletariats ist zugleich die „Idee“ Gestalt bzw. Tat und die „Materie“ (die Geschichte) bewußt — richtiger selbstbewußt — geworden. Es gibt jetzt keine isolierte und isolierbare,, Ideologie“ mehr, sondern nur noch das selbstbewußte (tendenziell die Gesamtgesellschaft umfas¬ sende) Proletariat, das in eins auf Grund dieses Bewußtseins tätig ist. In gewisser Weise wird also jetzt die relative Falschheit der bourgeoisen Ideologie durch die Veränderung der Wirklichkeit zur Wahrheit gemacht, denn jetzt ist es das Bewußtsein, das geschichtliche Selbstbewußtsein der Menschen, das ihr Schicksal bestimmt. Aber es ist das KlassenbewaQt&em des zur umwälzenden Praxis vereinten Proletariates, das wohl jenseits der bürgerlich-kapitalistischen Welt, nicht aber in einem jenseitigen

i\

;;wir sehen hier, wie der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich

sowohl von dem

Idealismus

beide vereinigende Wahrheit

als dem ist“

Materialismus

(MEGA,

unterscheidet und zugleich ihre

1. 3., S. 160.

,Man sieht, wie Subjektivismus und Objektivismus,

mus,

Hervorhebungen von mir).

Spiritualismus und Materialis¬

Tätigkeit und Leiden erst im gesellschaftlichen Zustand

damit ihr Dasein von mir).

als solche Gegensätze

verlieren“

ihren Gegensatz, und

(a. a. 0., S. 121. Hervorhebungen

38

Iring Fetscher

Ideenhimmel existiert. In dieser selbstbewußten Aktion be-währen, (be-wakrheiten und verwirklichen) die Menschen ihr Gattungswesen, das sie deshalb auch nicht mehr als Idee oder absoluten Geist ins Transzen¬ dente zu projizieren versucht sind. In ihrer Aktion übersteigen sich die selbstbewußt gesellschaftlich Handelnden selbst. Statt eines „jenseitigen Himmels“ produzieren sie eine vermenschlichte Welt, die sie allseitig sich anzueignen vermögen1). Die Menschheit vermenschlicht sich selbst im vollen Bewußtsein ihrer Tat und vollzieht so bewußt und rational den die Totalität der Wirklichkeit umfassenden Geschichtsprozeß. Während die bisherige Geschichte nur insofern menschliche Geschichte war, als durch sie und in ihr der Mensch entstand, wird sie fortan zur eigentlichen Geschichte des Menschen, weil die Menschheit im Proletariat ihr bewußtes Subjekt geworden ist, ohne deshalb aufzuhören, zugleich „Objekt“ oder, richtiger, „Substanz“ der Geschichte zu sein2). So ist das Proletariat zum realen Subjekt-Objekt (Lukäcs) der Geschichte geworden: „wir haben nach dem bereits angeführten prophetischen Wort von Vico unsere Geschichte selbst gemacht, und wenn wir die ganze Wirklichkeit als Geschichte ... zu betrachten imstande sind, so haben wir uns tatsäch¬ lich zu dem Standpunkt erhoben, wo die Wirklichkeit als unsere ,,Tat¬ handlung aufgefaßt werden kann“3). In diesem Gedanken fand die aktivistische Philosophie des jungen Marx wie Georg Lukäcs’ ihre Krönung. Zunächst muß erkannt werden, daß eine solche Philosophie denkbar und in sich konsequent ist. Es handelt sich um eine übersteigernde „Fort-setzung des Hegelschen Denkens. Soll die geschichtliche Bewe¬ gung nicht nur im Rückblick verstehend aufgehoben, sondern im Vor¬ blick bewußt gestaltet werden, so muß an die Stelle eines sich kontem1) ”Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, empfinden, wollen, tätig sein, heben, kurz alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegen¬ stand ist die Betätigung der menschlichen Wirklichkeit ... “ (a. a. 0., S. 118. Hervor¬ hebungen bis „allseitige Art an“ von mir). 2) „. .. die Bewegung der Geschichte ..., die noch nicht wirkliche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Subjekts, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen ist“ (MEGA 1, Abt. 3, S. 153. Hervorhebungen von mir). 3) Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein. S. 160. Hervorhebungen von mir.

Philosophie des Proletariats

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plativ mit dem Weltgeist identifizierenden Weisen ein die gesamte (menschlich-geschichtliche) Wirklichkeit umfassendes und gestaltendes Subjekt-Objekt treten. Der Geist wird abgelöst durch seine Inkarnation im Proletariat. Wie der objektive Sinn des geschichtlichen Verlaufes zum Selbstbewußtsein kommt in dem Denker, der in sich die diesen tragende Gedankenbewegung mitvollzieht und sich so in ihn einfügt, so kommt der bislang unbewußt erlittene Entwicklungssinn der ökonomisch-sozialen Geschichte der Menschheit zur selbstbewußten Aktion in der revolutionä¬ ren (umwälzenden) Tat des Proletariats. Das selbstbewußt handelnde Proletariat bejaht ineins den Sinn der bisherigen Geschichte und die diesen Sinn erst erfüllende, weil vollendende eigne geschichtliche Aktion. Drei Gründe veranlaßten Marx dazu, diese entscheidende welthistori¬ sche Rolle dem Proletariat zuzuschreiben: Erstens nahm er an, daß das Proletariat auf Grund der Entwicklungs¬ gesetze der kapitalistischen Gesellschaft immer zahlreicher werden und eines Tages den größten Teil der Menschheit umfassen werde1). Zweitens erblickte er in der sich immer mehr zuspitzenden Spannung zwischen dem menschlichen Selbstbewußtsein einerseits und der fak¬ tischen Verdinglichung und Entfremdung der proletarischen Existenz (der Existenzweise des Lohnarbeiters) andererseits die Wurzel eines zur

Tat treibenden Leidens-, eines radikalen, an die Wurzel des Menschsems rührenden Leidens, das daher auch nur durch eine radikale, die gesamte Wirklichkeit von der Entfremdung heilende und sie so vermenschlichende Revolution überwunden werden könnte. Drittens erwartete er von der faktischen (technisch bedingten) Koope¬

ration der Arbeiter — trotz aller zersetzenden Korruption durchs kapita¬ listische System und seine individualistisch-egoistischen Ideologien — ein gewisses Maß an Solidarität und Kameradschaft, das diese Klasse zu einer echten kollektiven Aktion prädisponieren würde. Das erste Motiv ist sozialökonomisch, das zweite metaphysisch (ja geradezu ,theologisch‘), das dritte psychologisch. Wenn auch das Haupt¬ werk von Marx in erster Linie dem Nachweis der „naturgesetzlichen Zerfallstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft dient, so klingt doch auch in ihm noch die Lehre von der Entfremdung an, deren Ursachen im Verhältnis der Lohnarbeit aufgezeigt werden2). Der Schwerpunkt der Marxschen Arbeiten hat sich freilich von 1846 an immer mehr zur 1) Daß er sich in dieser Prognose getäuscht hat, zeigen alle neueren Bevölke¬ rungsstatistiken der entwickelten Industriegesellschaften. 2) Vgl. das Kapital, Bd. I, S. 77f., S. 653, Bd. III, S. 105, 293 usw.

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Iring Fetscher

sozialökonomischen Begründung seiner Philosophie des Proletariates hin verschoben. Der einheitsstiftende Gedanke blieb im Hintergrund mid wurde von vielen (auch sozialistischen) Zeitgenossen nicht mehr erkannt. Diesen — hier notwendig stark schematisierten Zusammenhang — muß man sich gegenwärtig halten, wenn man die Bedeutung und die Ursachen der

Entwicklung

einer

umfassenden

,, Weltanschauungslehre“

des

Marxismus durch Engels, Dietzgen, Lenin und seine Fortsetzer verstehen will. Für Marx vollzog sich das Be-greifen des alle Wirklichkeit (die Totalität) umfassenden Geschichtsprozesses zugleich mit dem Er-greifen der Macht durchs Proletariat, das sich so zum Subjekt-Objekt desselben konstituiert. Die dialektische Evolutionslehre, die Engels und Lenin entwickeln, bildet die weltanschauliche Klammer der Parteiorganisation des Proletariates und verdinglicht Elemente von dessen lebendigem Selbstbewußtsein zu einer „Ideologie“. Die naiv realistische Erkenntnis¬

theorie von Dietzgen und Lenin ist ebenso symptomatisch für diesen Prozeß der Zerreißung der Einheit von Subjekt und Objekt wie die Betonung der dialektischen (durch „Sprünge“ vermittelten) Einheit von Natur und Geschichtswelt, die nicht mehr durchs lebendige Tun der Menschen vermittelt, sondern ursprünglich, von der Materie her (also einseitig von der Objektseite aus) verstanden wird. Nach Marx vollzog sich der große dialektische Umschlag durch die wechselseitige Durch¬ dringung der sich zum Gedanken hindrängenden Wirklichkeit und des zur Wirklichkeit hindrängenden Gedankens1): in der Begegnung von Philosophie und Proletariat, von in Aktion umschlagendem Selbst-bewußtsein und zum Selbstbewußtsein kommendem (sozialökonomischem) Prozeß2). An die Stelle dieses Zu-sich-Kommens der Totalität tritt bei Engels der (schlecht) unendliche Progreß der Evolution, dessen quali¬ tative „Sprünge“ freilich dialektisch gedeutet werden. Die fortschreitende Elimination der umwälzenden Funktion des Bewußtseins und der Kategorie der Totalität kennzeichnet die Entwicklung des dialektischen Materialismus von seinen Anfängen bis hin zum späten Stalin. Dieser Entwicklung soll im folgenden noch etwas weiter nachgegangen werden.

b „Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen“ (MEGA 1,1. Hbb., S. 616. Hervorhebungen von mir). b 2) ”I)er KoPf dieser Emanzipation (der Deutschen zu Menschen, I. F.) ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie“ (a. a. 0., S. 621).

Philosophie des Proletariats

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II. Die Entwicklung des dialektischen Materialismus durch Friedrich Engels Von einer „dialektisch-materialistischen Weltanschauung“ der pro¬ letarischen Bewegung kann man strenggenommen erst seit dem Erschei¬ nen von Engels

Kritik an Eugen Dühring (1877—78 im Leipziger

„Vorwärts ) sprechen. Später haben freilich namentlich die russischen „orthodoxen“ Marxisten versucht, schon in den Frühschriften von Marx Ansätze und Formulierungen dieser Weltanschauung zu finden, Stalin hat sich nicht gescheut, zu diesem Zwecke willkürlich Textstellen aus dem Zusammenhang zu reißen1). Obgleich sich Engels stets — als enzyklo¬ pädisch gebildeter Mensch — für naturwissenschaftliche Probleme interessiert hat2), entstand diese Ausweitung der sozialistischen Theorie keineswegs aus „innerem Antrieb“: „Im Gegenteil“, schreibt er in der alten Vorrede, „mein Freund Liebknecht wird bezeugen, wieviel Mühe es ihn gekostet hat, bis er mich bewog, die neueste sozialistische Theorie des Herrn Dühring kritisch zu beleuchten3).“ Das Motiv, das zur Entstehung dieser weltanschaulichen Grundschrift des Dialektischen Materialismus führte, ist eindeutig ein parteitaJctisches: der „jungen und eben erst definitiv geeinten Partei“ sollte keine „Ge¬ legenheit zu sektiererischer Spaltung und Verwirrung gegeben werden“4). Der große Publikumserfolg der Schriften Dührings auch in proletarischen Kreisen verriet ein offensichtliches Interesse an allgemein weltanschau¬ lichen Fragen, wenn dieses Interesse daher nicht von den marxistischen Ideologen selbst befriedigt wurde, entstand die Gefahr, daß — trotz der Überlegenheit der Marxisten auf dem Gebiet der geschichtlich-wirtschaft¬ lichen Analyse — andere Strömungen die Arbeiterschaft für sich gewan¬ nen. So wenigstens müssen die Erwägungen der Marxisten dieser Zeit ausgesehen haben. Die weltanschauliche Ausweitung der Theorie ist eine Folge der Konkurrenz auf ideologischem Gebiet! Jede Konkurrenz aber 1) Vgl. Stalin über dialektischen und historischen Materialismus, Ausgabe mit kritischem Kommentar von I. Fetscher, Frankfurt, 1956, S. 66, wo eine Stelle aus der „Heiligen Familie“ über Hobbes so aus dem Zusammenhang gerissen wird, daß der Eindruck entsteht, Marx schildere seinen eigenen Standpunkt. Johannes Lanz in: Ost-Europa Jg. 3, S. 197f., weist einen noch eklatanteren Fall von Fälschung durch Kürzung eines Zitates in Stalins Schrift „Anarchismus oder Sozialismus“ von 1906/07 nach. 2) Vgl. Ernst Bloch: Friedrich Engels als Polyhistor, in Deutsche Zeitschr. f. Philosophie, 3. Jg., 1955, S. 669—677. 3) Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Berlin, 1951, S. 29. 4) a. a. 0., Unterstreichungen von mir.

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führt zu einer gewissen Verähnlichung der konkurrierenden Partner. Wie Marx Hegel nur durch ein Zuendedenken und Radikali sieren von dessen Ansatz zu überwinden vermochte, so kann Engels Dühring oder Häckel — nur bekämpfen, indem er sie überbietet. Bei dieser Kritik spielt erstaunlicherweise die Methode der Ideologieentlarvung überhaupt keine Rolle1). An keiner Stelle werden die Schiefheiten und Irrtümer des Gegners wissenssoziologisch auf bestimmte Eigenarten klassenbedingter Sehweise zurückgeführt, wenn man von der gelegentlich auftauchenden Qualifizierung „kleinbürgerlich“ absehen will, die nicht weiter begründet wird. Engels’ Kritik benützt dagegen in erster Linie die Hegelsche Dialektik als Maßstab zur Beurteilung, und zwar die dialektische Logik, wie sie in der Enzyklopädie und in der großen Logik niedergelegt ist. Während also für den jungen Marx die Phänomenologie des Geistes im Mittelpunkt der Auseinandersetzung und Anknüpfung stand, tritt jetzt an die Stelle des jungen Hegel der alte. Engels lehnt freilich wie Marx das „System Hegels“ nach wie vor als „idealistisch“ ab, was ihn aber nicht hindert, seinerseits nach einem System zu suchen. Zwar heißt es in der alten Vorrede: ,,... so wenig es mir einfallen kann, dem System des Herrn Dühring ein andres System entgegenzusetzen ...“ Aber zwei Seiten weiter wird bereits betont, daß die empirischen Naturwissen¬ schaften systematisch nach ihrem inneren Zusammenhang geordnet werden müßten, wobei das theoretische (philosophische) Denken allein helfen könne. Bei dieser Aufgabe spielen die dialektischen Kategorien eine entscheidende Rolle. Die Dialektik aber enthält „den Keim einer umfassenderen Weltanschauung“2). a) Der ganze Gegensatz zwischen der Marxschen Philosophie des Proletariates und Engels tritt zutage, wenn wir untersuchen, wie von den *) Überhaupt scheint Engels für die gesellschaftliche Bedingtheit auch des natur¬ wissenschaftlichen Erkennens kein Auge zu haben. So wendet er z. B. gegen Dühring ein, Darwin habe „keine Malthussche Brille“ gebraucht, um den Kampf ums Dasein in der Natur wahrzunehmen (Anti-Dühring, S. 82). Es war aber doch bezeich¬ nend, daß es erst damals zu dieser Entdeckung bzw. zur ersten systematischen Berücksichtigung dieses Faktums in einer Theorie kam. Stets pflegen die Menschen aus den unmittelbaren Erfahrungen des gesellschaftlichen Lebens heraus neue Kategorien zu entwickeln, mit denen sie die Welt immer wieder neu und unter neuen Gesichtspunkten interpretieren. Was wir heute auch ohne Malthussche Brille sehen, das wurde seinerzeit erst auf Grund jener Analogie von Tier- und Menschen¬ welt ins Bewußtsein gehoben und formulierbar gemacht. 2) Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), Berlin, 1948, S. 165. Hervorhebungen von mir.

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beiden Denkern die „Aufhebung der Philosophie“ verstanden wird. Für Marx ist diese Aufhebung nur möglich durch eine „Verwirklichung“, eine Radikalisierung, die an die Stelle der Befreiung durchs Anders¬ denken eine Befreiung durchs Um-gestalten setzt, somit ineins die Philosophie überwindend und ihr Anliegen erfüllend. Für Engels sieht der Zusammenhang so aus: „Der alte Materialismus wurde ... negiert durch den Idealismus. Aber in der weiteren Entwicklung der Philoso¬ phie (!) wurde auch der Idealismus unhaltbar und negiert durch den modernen Materialismus. Dieser, die Negation der Negation, ist nicht die bloße Wiedereinsetzung des alten, sondern fügt ... den ganzen Gedan¬ keninhalt einer zweitausendjährigen Entwicklung der Philosophie und Naturwissenschaft sowie dieser zweitausendjährigen Geschichte selbst“ hinzu. „Es ist überhaupt keine Philosophie mehr, sondern eine einfache Weltanschauung, die sich

...

in den wirklichen Wissenschaften zu

bewähren und zu bestätigen hat1).“ Die Engelssche „Aufhebung“ der Philosophie besteht also in ihrer Verwandlung in eine ,,einfache Welt¬ anschauung“ bzw. in die Einzelwissenschaften, in denen allein diese Weltanschauung sich manifestiert. Demi „wenn Natur- und Geistes¬ wissenschaft die Dialektik in sich aufgenommen, wird all der philo¬ sophische Kram — außer der reinen Lehre vom Denken — überflüssig, verschwindet in der positiven Wissenschaft“'2'). Wenn aber die Philosophie — ganz im Stile der Zeit — nicht mehr durch die kollektive Befreiungstat verwirklicht, sondern durch die Wissenschaften ersetzt wird, tritt not¬ wendig auch an die Stelle des einen und entscheidenden weltgeschicht¬ lichen dialektischen Umschlags der unendliche Progreß der naturwissen¬ schaftlichen Erkenntnis und der materiellen Produktion3). Der Ersatz des Marxschen Absoluten — der weltgeschichtlichen Befreiungstat des Proletariates, in dessen Aktion sich Sein und Bewußtx) a. a. O., S. 170. Hervorhebungen von mir. 2) Dialektik der Natur (s. o.), S. 223. Hervorhebungen von mir. 3) Vgl. zu der Frage des Verhältnisses von Marx und Engels die detaillierte Untersuchung von Hermann Bollnow. Engels Auffassung von Revolution und Entwicklung in seinen „Grundsätzen des Kommunismus“ (1847) im ersten Band der Marxismusstudien. Hermann Duncker weist in seinem Vorwort zur Ost-Berliner Neuausgabe dieser Engelsschen Frühschrift (1955) darauf hin, daß Stalin sich wiederholt und nach¬ drücklich auf sie berufen habe (J. W. Stalin Werke, Bd. 7, S. 201/202, Bd. 8, S. 221 bis 223 und 266—274, Bd. 9, S. 75—84). Damit liefert er eine schöne Bestätigung für die These, daß sich die Sowjetideologie stärker an die Engelssche Tradition als an das eigentliche Marxsche Erbe hält.

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sein als Tat durchdringen — durch den unendlichen Progreß hat aber auch praktisch-politische Konsequenzen. Mit ihm verschiebt sich der Akzent der Befreiungsaktion von der Selbstbefreiung der im Proletariat zu sich kommenden Menschheit (von der entfremdeten Welt) zur Be¬ freiung der in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen gefangenen Expansionstendenzen der Produktivkräfte. Ein Gedanke, der freilich schon für Marx von zentraler Wichtigkeit war, jetzt aber

nach

Wegfall des systematischen Grundgedankens des jungen Marx — aus¬ schließlich in den Mittelpunkt rückt. Am krassesten kommt das schlie߬ lich in Stalins Schrift über dialektischen und historischen Materialismus zum Ausdruck, wo als Norm zur Beurteilung richtigen politischen Handelns immer wieder „die realen Bedürfnisse der Entwicklung des materiellen Lebens der Gesellschaft“1) angeführt werden. Theoretisch wird freilich vom Engels-Leninschen Marxismus betont, daß mit dieser Befreiung der Expansionstendenz der Produktivkräfte zugleich auch die Menschheit befreit wird, weil nach erfolgter prole¬ tarischer Revolution ein Konflikt zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen unmöglich geworden und die Produktions¬ anarchie überwunden ist. Freiheit wird auch in diesem Zusammenhang (nicht nur gegenüber der untermenschlichen Natur) als „Einsicht in die Notwendigkeit“ bezeichnet, und der Unterschied zwischen kapitalisti¬ scher und sozialistischer Gesellschaft besteht dann lediglich darin, daß die vereinzelt und chaotisch produzierenden Kapitalisten blind und hinterrücks

von

den

Entwicklungstendenzen

der

Produktivkräfte

beherrscht werden, was zu krisenhaften Konflikten führt, während die sozialistische Gesellschaft auf Grund der Kenntnis dieser Tendenzen (oder — wie es heißt — „Gesetze“) der Entwicklung die Produktion zentral plant und damit bewußt ihnen folgend alle Konflikte vermeidet. Im sowjetischen Marxismus von heute steht eine „objektivistische“ Interpretation dieser Entwicklungsgesetze einer „subjektivistischen“ gegenüber, eine notwendige Konsequenz der Zerreißung des ursprüng¬ lichen Verbandes, die sich auch in den verschiedenen „Abweichungen“ von der Generallinie immer wieder manifestiert hat. Diese konstituiert sich dann regelmäßig aus einer Abwehr nach rechts und links, w odurch der Schein einer höheren dialektischen Einheit entsteht, während in Wahr¬ heit nur eine eklektische Vermittlung gefunden wird, die den jeweiligen

J) Stalin über dialektischen und historischen Materialismus (ed. Fetscher), S. 79, 83, 84.

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realen Bedürfnissen Rechnung trägt1).

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Für Marx bedeutete diese

„rationelle Regelung“ des Stoffwechsels der Menschen mit der Natur nur die Basis des wirklichen Reiches der Freiheit. Erst „jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Not¬ wendigkeitais seiner Basis auf blühen kann. Die Verkürzung des Arbeits¬ tags ist die Grundbedingung.“2) Das darf nicht so verstanden werden, als wolle Marx hier nur der „Freizeitbeschäftigung“ freiheitlich-menschlichen Charakter zusprechen; vielmehr glaubt er, daß die heute gesell¬ schaftlich notwendige Arbeit erst bedeutend eingeschränkt werden muß, bevor die Anbeit aufhören kann, Arbeit — d. h. als Last empfundene Tätigkeit — zu sein, um echte „Selbstbetätigung“, um die freie Äußerung des menschlichen Wesens zu werden. In dem Bedürfnis, die Bedeutung der sozialistischen Revolution hervorzuheben, wird jener entscheidende Unterschied zwischen der Freisetzung der Produktivkräfte und der wahren Befreiung des Menschen von der heutigen Sowjetideologie so gut wie ganz verschwiegen. Die Sozialisierung der Produktionsmittel, die für Marx vor allem eine praktisch-notwendige Voraussetzung der Befreiung war, wird zum Selbstzweck gemacht. b) Der Unterschied zwischen Marx und Engels, den wir bei den Formen der „Aufhebung der Philosophie“ gesehen haben, tritt ebenso deut¬ lich bei ihrer Auffassung der Natur zutage. Für den jungen Marx ist die außermenschliche Natur ein philosophisch und praktisch (für die politische Praxis) irrelevantes Gebiet. Wenn die geschichtlich-gesell¬ schaftliche Welt als das eigentliche Totum aufgefaßt wird, dann kann das Verhältnis des Menschen zur Natur und das der Natur zum Menschen nur je eine Seite dieser Totalität bilden; eine isolierte Betrachtung außer¬ halb dieses Bezuges käme einer ideologischen Auffassung gleich und wäre notwendig unwahr. Das Wahre ist für Marx wie Hegel immer das Ganze. Deshalb weist z. B. Marx auch die Frage nach dem Entstehungsakt des Menschen mit dem Hinweis auf die Geschichte ab, denn „die ganze soge¬ nannte Weltgeschichte (ist) nichts anders ... als di & Erzeugung des Men¬ schen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Men¬ schen .. .“3). In der Deutschen Ideologie heißt es: „Wir kennen nur eine 1) ygp Z- B. die Auseinandersetzung Lenins und Stalins mit den „Ökonomisten und den Linksradikalen und später die Diskussion zwischen dem „menschewisierenden Idealismus“ Deborins und dem Mechanizismus von Bucharin. 2) Das Kapital, Berlin, 1949, Bd. III, S. 874. 3) MEGA,, 1. Abt., Bd. 3, S. 125. Hervorhebungen von mir.

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einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet ..., in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes .. . nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig. Die Geschichte der Natur, die sogenannte Naturwissenschaft, geht uns hier nicht an; . . .£il). Die Natur hat nur Geschichte in bezug auf den Menschen, der Mensch nur in bezug auf die Natur. Das Werden der Natur zum Menschen ist nicht die Entwicklung des biologischen Substrates, sondern der Prozeß der Vermenschlichung der Natur und seiner eigenen Natur durch den arbeitenden Menschen. Die Natur wird daher bei Marx aufgehoben in die menschliche Geschichte, in der erst die Natur „für den Menschen“ ent¬ steht. Bei Engels dagegen wird mit Hilfe einer dialektisch interpretierten Evolutionstheorie der Unterschied von Natur und Geschichte verwischt. „Die Dialektik ist ... weiter nichts als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Men¬ schengesellschaft und des Denkens.“* 2) Damit wird der eine entscheidende dialektische Umschlag: das Zusichselbstkommen des Geschichtsprozesses in der kollektiven Tat des Proletariats, notwendig nivelliert. Die gesamte Wirklichkeit ist in Bewegung und Entwicklung begriffene Materie, und das menschliche Denken (als eine der „Bewegungsformen“ derselben) folgt naturgemäß dem gleichen dialektischen Gesetz. Mit dieser Verall¬ gemeinerung der dialektischen Struktur wird aber gerade der spezifische dialektische Zusammenhang von (Klassen-) Bewußtsein und geschicht¬ licher Bewegung zerstört: die revolutionäre Ver-wirklichung der Philo¬ sophie verschwindet aus dem Gesichtskreis. Da dem die objektive Dialektik der Natur „abbildenden“ oder „widerspiegelnden“3) Denken keine aktive Rolle zukommt, muß die Parallelisierung von Natur und Gesellschaft auch zu einer Vernachlässigung des „bewußten Momentes“ im Geschichtsprozeß führen. Auch hier schwankt die Deutung fortan zwischen einer „linksradikalen“ Überschätzung und einer „rechten“ Unterschätzung der bewußten Aktion, zwischen der die Generallinie ein eklektisches Kompromiß zustande bringt. x) MEGA, 1. Abt., Bd. 5, S. 567. Hervorhebungen von mir. 2) Anti-Dühring, S. 173. Hervorhebungen von mir. 3) Die bei Engels entwickelte Abbildtheorie findet sich zuvor schon ausführlich dargelegt von Joseph Dietzgen, Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit, 1869. W. I. Lenin hat auf Engels und Dietzgen fußend die „Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus“ in seinem philosophischen Hauptwerk „Materialismus und Empiriokritizismus“ weiter ausgebaut (1908).

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Engels sieht wohl einen Unterschied der Entwicklung von Natur und Gesellschaft, doch stellt er ihn so dar, daß er letztlich vernachlässigt werden kann: „In der Natur sind es ... lauter bewußtlose blinde Agentien, die aufeinander einwirken und in deren Wechselspiel das allgemeine Gesetz zur Geltung kommt . .. Dagegen in der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewußtsein begabte ... auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichts geschieht ohne bewußte Absicht, ohne gewolltes Ziel. Aber dieser Unterschied, so wichtig er für die geschichtliche Untersuchung, namentlich einzelner Epochen und Begebenheiten ist, kann nichts ändern an der Tatsache, daß der Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht wird. Denn auch hier herrscht an der Oberfläche der Zufall. . . ., in den meisten Fällen durchkreuzen und widerstreiten sich die vielen gewollten Zwecke. So führen die Zusammenstöße der zahllosen Einzelwillen und Einzel¬ handlungen auf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbei, der ganz dem in der bewußtlosen Natur herrschenden analog ist . . . A1) Indem Engels hier nur von den Individuen spricht, die ganz wie bei Hegel von der „List der Vernunft“ beherrscht werden, unterschlägt er die Rolle des Klassenbewußtseins, in dessen punktuell-revolutionärem Durchbruch jeweils der Entwicklungssinn der Geschichte sichtbar und sich selbst bewußt wird. Ein Prozeß, der freilich erst im Klassenselbstbewußtsein des Proletariates, das endgültig den historischen Entwicklungssinn realisiert, ganz zu sich kommen wird. Durch die Unterschlagung der Rolle des die Wirklichkeit und mit ihr sich selbst um-wälzenden Klassenbewußt¬ seins und durch das Weglassen der entscheidenden Perspektive aufs selbstbewußt bandelnde Proletariat nähert Engels den Geschichtsprozeß dem Naturprozeß an und verflacht die Dialektik. Die geschichtlichgesellscbaftlicbe Totalität kann in der selbstbewußten proletarischen Tat zu sich kommen — nicht aber die Natur, die der unendliche Progreß der naturwissenschaftlichen Forschung nie in ihrer Ganzheit zu fassen ver¬ mag. Nur auf dem Boden des spekulativen Idealismus eines Hegel konnte auch die Natur im dialektischen Denken des Menschen ,,zu sich gelangen“, vom materialistischen Standpunkt aus ist das unmöglich. Wenn daher Engels Naturprozeß und Gesellschaftsprozeß gleichsetzt, hebt er den entscheidenden philosophischen Gedanken von Marx not¬ wendig auf. An die Stelle des jungen Marx (der vom jungen Hegel her i) Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deut¬ schen Philosophie in Karl Marx-Friedrich Engels, Ausgew. Schriften, Bd. II, S. 364.

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weiterdachte) tritt der von seinen spiritualistischen Voraussetzungen losgelöste alte Hegel1). Je größer aber die faktisch-ideologische An¬ näherung ist, desto stärker wird der Unterschied betont. Es kann, nebenbei gesagt, geradezu als ein „Gesetz“ behauptet werden, daß, je größer die weltanschauliche Verhärtung und Systematisierung des dialektischen Materialismus ist, desto stärker der Unterschied, ja der Gegensatz zu Hegel betont wird2), während umgekehrt Denker wie Lukäcs, Korsch und Marcuse, die von Marx’ Frühschriften und seiner Lehre vom Proletariat ausgehen, ohne Gefahr der Grenz Verwischung seine Hegelnähe betont haben. In Wirklichkeit unterscheidet sich der junge Marx radikaler von Hegel als der Engels des Anti-Dühring und der Dialektik der Natur. Während der eine Hegel aus seinem eigenen Anliegen heraus überwunden, konkretisiert, realisiert und aufgehoben hat, hat ihn der andere lediglich kastriert. c) Die Hauptthesen des dialektischen Materialismus von Engels, die bis heute zum festen Bestand der marxistisch-leninistischen Ideologie gehören, sind rasch aufgezählt: 1. „Die Einheit der Welt besteht in . .. b Vgl. Friedrich Engels „Hegel —■ dessen .. . Zusammenfassung und rationelle Gruppierung der Naturwissenschaften eine größere Tat ist als all der materia¬ listische Blödsinn zusammen“ (Dialektik der Natur, S. 217) und „Wenn Hegel die Natur als Manifestation der ewigen ,Idee‘ in der Entäußerung ansieht,und dies ein so schweres Verbrechen ist, was sollen wir sagen zum Morphologen Richard Owen: ,Die urbildliche Idee war lange vor der Existenz jener tierischen Arten, die sie jetzt verwirklichen, in verschiedenen solchen Formen auf diesem Planeten verkörpert' (Nature of Limbs, 1849). Wenn das ein mystischer Naturforscher sagt, der sich nichts dabei denkt, so geht’s ruhig hin, wenn aber ein Philosoph dasselbe sagt, der sich etwas, und zwar au fond das Richtige, wenn auch in verkehrter Form, dabei denkt, so ist es Mystik und ein unerhörtes Verbrechen“ (a. a. 0„ S. 219. Hervor¬ hebung von mir). Die Nähe Engels’ zum idealistischen Monismus Hegels ist größer als die Verwandtschaft von dualistischem Platonismus und Hegelianismus. Der aus der Resistance hervorgegangene französische humanistische Intellektuellen-Marxismus empfand den hier beschriebenen Gegensatz von Marxschem Anliegen und marxistischer Orthodoxie so stark, daß er ebenfalls den „alten Hegel“ mit der Sowjetideologie identifizierte: „La question d’aujourd’hui“, heißt es bei Merleau-Ponty, „est de savoir si le vieux Hegel aura raison du jeuneMarx“ (Humanisme et Terreur, Paris, 1947, S. 162). Vgl. hierzu auch die interessanten Aus¬ führungen von R. W. Meyer über Merleau-Ponty und das Schicksal des franzö¬ sischen Existentialismus in der Philosophischen Rundschau, 3. Jg., S. 129_165. 2) Vgl. die Diskussion in der sowjetzonalen Deutschen Zeitschrift für Philosophie über das Verhältnis von Marxscher und Hegelscher Dialektik in Anschluß an einen Artikel von Rugard Otto Gropp (2. Jg„ Heft 1 u. 2, 1954), der die Behauptung auf¬ stellte, die Marxsche Dialektik habe mit der Hegelschen so gut wie nichts zu tun, von vielen Diskussionsteilnehmern jedoch sehr scharf zurückgewiesen wurde.

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ihrer Materialitätll); 2. „Die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit, und ein Sein außerhalb der Zeit ist ein ebenso großer Unsinn wie ein Sein außerhalb des Raums2)“; 3. „Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie und nirgends hat es Materie ohne

Bewegung

gegeben,

oder kann es sie geben . .. Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in Beziehung auf diese oder jene bestimmte Bewegungs¬ form.“3) Eine nähere Differenzierung der verschiedenen Formen der Bewegung (mechanische, chemische, biologische, bewußtseinsmäßige) ermöglicht sodann dem dialektischen Materialismus, qualitativ verschie¬ dene Arten von Materie anzunehmen, ohne deshalb auf die monistische These verzichten zu müssen. Die qualitativ verschiedenen Bewegungs¬ formen (bzw. Materiearten) werden mit Hilfe des dialektischen Gesetzes des Umschlagens von Quantität in Qualität auseinander entwickelt und in einen zugleich systematischen und genetischen Zusammenhang gestellt4). So gut sich aber derartige dialektische Denkformen auf alle möglichen naturwissenschaftlichen Forschungsreswltote anwenden lassen und

so einleuchtend eine dialektische Darstellungsweise auch sein mag5),

dem Materialisten muß sich doch das Problem ergeben, wie es zu einer sinnvollen Genesis in Natur und Geschichte kommen kann, warum aus q Anti-Dühring, S. 51.

2) a. a. O., S. 61.

3) a. a. 0., S. 70.

4) a. a. 0., S. 53, 145ff.

5) „Indem Marx also den Vorgang als Negation der Negation bezeichnet, denkt er nicht daran, ihn dadurch beweisen zu wollen als einen geschichtlich notwendigen. Im Gegenteil: Nachdem er geschichtlich bewiesen hat, daß der Vorgang in der Tat teils sich ereignet hat, teils noch sich ereignen muß (!), bezeichnet er ihn zudem als einen Vorgang, der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz vollzieht“ (Anti-Dühring, S. 164. Hervorhebungen von mir). Im Nachwort zur 2. Auflage des Kapital schreibt Marx: „Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Kon¬ struktion a priori zu tun“ (Bd. I, S. 17. Hervorhebung von mir). Die Darstellungs¬ weise ist freilich im Fall des „Produktionsprozesses des Kapitals“ nicht so unwesent¬ lich wie für die Prozesse der außermenschlichen Natur, denn den einen haben wir — wie Vico bemerkt hat — selbst gemacht, die anderen laufen unabhängig von uns ab. Nur das von uns selbst Gemachte vermögen wirganz zu verstehen: der von Menschen bewußt zustande gebrachte Naturprozeß gehört zur Welt des Menschen (zur Kultur) und bekommt damit einen verstehbaren Sinn. Dialektische Interpretation der Natur unabhängig vom Tun der Menschen eignet sich einen Sinn an, der unbewußt zuvor vom Menschen in sie hineingetragen wurde. Marxismusstudien II

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den einfacheren immer kompliziertere Bewegungsformen hervorgehen. Der einzig konsequent materialistische Standpunkt scheint der zu sein, der die faktische Entwicklung als wesentlich zufällig begreift, denn eine Tendenz auf SinnVerwirklichung kann er ja, ohne sich untreu zu werden, in der einfachen, toten Materie nicht gut annehmen. Engels aber betont ausdrücklich gegen Haeclcel: ,,Daß die Materie das denkende Menschen¬ hirn aus sich entwickelt, ist ihm ein purer Zufall ... In Wahrheit aber ist es die Natur der Materie, zur Entwicklung denkender Wesen fortzu¬ schreiten, und dies geschieht daher auch notwendig immer, wo die Bedingungen ... dazu vorhanden.“1) Die dialektisch verstandene Evo¬ lution ist also zugleich eine logisch notwendige wie im Hegelschen System. In die reine Materie muß hineingelegt werden, was Hegel in den ihr vorausliegenden Logos projiziert hat und aus diesem in die Natur als sein Anderssein übergehen ließ. Bis auf die Elimination der vor dem enzyklopädischen Gang liegenden und ihn ermöglichenden Logik ist das Hegelsche System also übernommen! Das dialektische Denken ermöglicht seinem Wesen nach ein Verstehen der Bewegung. Der von den Natur- oder Gesellschaftswissenschaften beschriebene, konstatierte Prozeß wird durch seine dialektische Dar¬ stellung verstehbar. Das dialektisch bewegliche Denken vermag die objektive Bewegung sich anzueignen. Eine solche weltanschauliche Aneignung naturwissenschaftlicher Forschungsresultate

(und Hypo¬

thesen) versucht im Grunde auch Engels, wie sein Gegner Diihring. Alle derartigen Versuche haben aber mit der Naturwissenschaft selbst und mit ihren Methoden nichts zu tun. Diese Kluft zu verwischen und die „dialektische Weltanschauung , die alle wissenschaftlichen Ergebnisse zu assimilieren weiß, selbst als wissenschaftlich hinzustellen, ist seit Engels immer wieder — vergeblich — versucht worden. Eine „Methode zur Auffindung neuer Resultate“2) kann sie jedenfalls auf dem Gebiete der Naturwissenschaft kaum genannt werden. Dagegen hat die mate¬ rialistische Dialektik das Festhalten überholter weltanschaulicher Posi¬ tionen — ihre verbale Konservierung bei verändertem Forschungs¬ stand — ermöglicht und wird immer wieder dazu verwendet, die auch m der Sowjetunion anerkannten wissenschaftlichen Fortschritte mit dem veralteten monistisch-materialistischen W eltbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu versöhnen. Dieses Weltbild selbst, das mit dem

J) Dialektik der Natur, S. 221. Hervorhebung von mir. 2) Anti-Dühring, S. 165.

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von Dühring lind Haeckel weithin übereinstimmt1), wird mit geradezu religiösem Fanatismus festgehalten. Zu diesen Dogmen gehört die „Ewig¬ keit der Materie“, der „unendliche Progreß der menschlichen Erkennt¬ nis“, die „Materialität der gesamten Wirklichkeit“ die Unendlichkeit des Universums und die Nichtexistenz eines jenseitigen göttlichen Wesens.

III. Der Ausbau des dialektischen Materialismus zur verbindlichen Weltanschauung der Partei durch W. I. Lenin2) Während in den entwickelten Industriestaaten die sozialistische Bewegung allmählich das weltanschauliche Element immer stärker zurücktreten ließ, von politischen Tagesfragen und gewerkschaftlichen Machtkämpfen fast ausschließlich in Anspruch genommen wurde und allmählich auch Teil an der politischen Verantwortung bekam, verlief die Evolution in Rußland grundsätzlich anders. In diesem rückständigen Agrarland faßte der Marxismus zunächst in der Intellektuellenschicht Fuß und wurde auf rein ideologischer Ebene diskutiert. Den metaphy¬ sisch und religiös interessierten Intellektuellen mußte auch der Marxismus metaphysischen und religiösen Charakter annehmen, auch ihr Atheismus war noch von religiösem Fanatismus gefärbt. Diesem Bedürfnis konnte freilich der Engelssche dialektische Materialismus nicht ohne weiteres genügen. Es boten sich zahlreiche „Ergänzungen“ des historischen Materialismus an, die namentlich bei einigen deutschen intellektuellen Marxisten verbreitet waren. Durch solche Bemühungen war aber die !) So teilt Engels mit Haeckel den materialistischen Monismus, den er aber im Unterschied zu diesem dialektisch differenziert, während jener ihn mit dem Mecha¬ nismus identifiziert. Bei Haeckel wie bei Dühring findet Engels immer wieder Anleihen (unbewußte oder bewußte) aus Hegels Logik. Gegen den Dühringschen Satz „Von der Mechanik in Druck und Stoß bis zur Verknüpfung der Empfin¬ dungen und Gedanken reicht eine einheitliche und einzige Stufenleiter von Ein¬ schaltungen“ hat Engels nur einzuwenden, daß hier die dialektische Kategorie des qualitativen Sprunges außer acht gelassen wird (Anti-Dühring, S. 78). Evolutio¬ nismus, Materialismus und Atheismus teilt er mit beiden Denkern, auch wenn Engels ein direktes Vorgehen gegen die Religion, wie es Dühring fordert, für über¬ flüssig hält (S. 395), weil dieser phantastische Reflex der fremden Macht des Kapi¬ tals, die heute noch das Leben der Menschen beherrscht, mit dieser Macht selbst von alleine verschwinden werde. 2) Lenins Bedeutung für die Entwicklung der Weltanschauung des dialektischen Materialismus habe ich ausführlicher gewürdigt in meinem Aufsatz „Die Ent¬ stehung des dialektischen Materialismus als metaphysischer Weltanschauung

in

„Zeitschrift f. Theologie u. Kirche“, 50. Jg., 1953, S. 184—207. 4*

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weltanschauliche Einheit der sozialistischen Bewegung in Rußland gefährdet, und eine andere als eine geistige Einheit gab es zunächst ja nicht. Da die zeitgenössische deutsche Philosophie von der erkenntnis¬ theoretischen Fragestellung beherrscht wurde, und auf diesem Gebiet von den Klassikern Marx und Engels nur Andeutungen Vorlagen (namentlich bei Engels), erschien die Formulierung einer „materialisti¬ schen Erkenntnistheorie“ als dringliches Desiderat. „Marx und Engels. . . richteten ... die größte Aufmerksamkeit auf den Aufbau der Philosophie des Materialismus nach oben, d. h. nicht auf die materialistische Er¬ kenntnistheorie, sondern auf die materialistische

Geschichtsauffas¬

sung“1). Die kantianischen und machistischen Marxisten glauben aber, einen „Materialismus oben“ mit einem „Idealismus unten“ — im Bereich der Erkenntnis der Natur — verbinden zu können. Lenin ist überzeugt, daß jede derartige Abweichung von einem einheitlichen und allumfassen¬ den Materialismus auch zu politischer Richtungslosigkeit und damit zur Ohnmacht führen muß. Der Kantianismus eines Sozialisten ist ein Zugeständnis und damit eine Stärkung der bürgerlichen „ideologischen Front“. „Man kann aus dieser, aus einem Guß geformten Philosophie des Marxismus (!) ...

nicht einen einzigen wesentlichen Teil weg¬

nehmen, ohne ... der bürgerlich-reaktionären Lüge in die Arme zu geraten.“1) Der politische Kampf, der vorerst in einem Ringen um die weltanschau¬ liche Orientierung der Intellektuellen Rußlands besteht, ist in erster Linie ein ideologischer. Lenins politische Genialität zeigt, sich darin, daß er ideologische Fragen nie als Selbstzweck behandelt, sondern von taktischen und strategischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten aus an¬ geht. Die Leninsche Erkenntnistheorie ist naiver Realismus, sie geht davon aus, daß „die Natur, die Außenwelt .. . unabhängig von Bewußtsein und Empfindung des Menschen“ besteht2). Terminologisch hält Lenin jedoch an der Bezeichnung Materialismus fest, weil „das Wort Realismus, von den Positivisten und anderen Wirrköpfen, die zwischen Materialismus und Idealismus schwanken, abgenutzt worden ist“3). Den realistischen Wirklichkeitsbegriff bezeichnet Lenin als „philosophischen Begriff der Materie“ und stellt ihn dem vom jeweiligen Forschungsstand abhängigen 1) W.I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, dt. Moskau, 1947, S. 355a. a. O., S. 351. 2) a. a. 0., S. 66. Hervorhebungen von mir, vgl. S. 14, 68, 80f. usw. 3) a. a. 0., S. 52.

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„physikalischen Materiebegriff“ gegenüber. Die Form des Materialismus ändert sich dann mit jeder „eine Epoche bestimmenden Entdeckung auf naturgeschichtlichem Gebiet“, aber das Wesen des Materialismus bleibt hiervon unberührt. Während Engels in seiner Polemik gegen Dühring und Haeckel Wert darauf legte, deren mechanistisch-materialistische Ansichten dialektisch zu vertiefen, kommt es Lenin gegenüber den neu¬ kantianischen und machistischen Positionen vor allem auf die Verteidi¬ gung des Materialismus an. Der von Engels (in seiner Dialektik der Natur, die Lenin 1908 natürlich nicht kennen konnte) so scharf kritisierte Haeckel wird daher von Lenin vorbehaltlos anerkannt1). Die Dialektik dient jetzt zur Verteidigung des Materialismus, nicht mehr zu seiner Vertiefung! Das Wesen des Erkenntnisprozesses wird von Lenin wie von Engels als „Widerspiegelung der Materie im menschlichen Bewußtsein“ aufgefaßt. „Die Welt, die sich ewig bewegende Materie, wird von dem sich bewegen¬ den und sich entwickelnden menschlichen Bewußtsein widergespiegelt“, in der Erkenntnis kommt es zu einer „Übereinstimmung zwischen dem die Natur widerspiegelnden Bewußtsein und der im Bewußtsein wider¬ gespiegelten Natur“2). An einer anderen Stelle heißt es, daß die Empfin¬ dungen die Materie „kopieren, photographieren, abbilden“3). Damit ist die entscheidende Problematik allen Erkennens verfehlt und durch eine bloße Behauptung ersetzt. Es wird nicht verständlich, warum über die Empfindung hinaus¬ gegangen werden muß, wenn diese doch die Wirklichkeit der Materie „photographiert“. Die gesamte Dialektik der sinnlichen Gewißheit, die Hegel so überzeugend dargelegt hat, scheint vergessen zu sein, ebenso die Problematik der kategorialen Formung des Erkenntnisgegenstandes in der Kantschen Erkenntnistheorie. Über diesen Standpunkt führen die Aufzeichnungen zur Hegelschen Logik hinaus, die Lenin 1914 in Bern gemacht hat und die 1932 aus seinem Nachlaß veröffentlicht worden sind4). Dort heißt es u. a. „Die Erkenntnis ist die ewige, unendliche Annäherung des Denkens an das Objekt. Die Widerspiegelung der Natur im menschlichen Denken ist nicht ,tot‘, nicht ,abstrakt', nicht ohne Bewegung, nicht ohne Widersprüche, sondern im ewigen Prozeß der Bewegung, der Entstehung und Aufhebung 1) a. a. 0., S. 376. 2) a. a. 0., S. 137. 3) a. a. 0., S. 128. 4) W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Exzerpte und Randglossen, Berlin, 1949.

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von Widersprüchen aufzufassen“1). Der Prozeß der dialektischen Vertie¬ fung der Erkenntnis geht — wie bei Hegel — von der sinnlichen Wahr¬ nehmung über die Vorstellung zum Denken, zur Erkenntnis der Gesetze von Natur und Geschichte fort. Dabei entfernt sich der Erkennende in gewissem Sinne von seinem Gegenstand, die Erkenntnis wird immer „vermittelter“, immer indirekter, gleichzeitig aber wird sie durch diesen Abstand, durch diesen ,,Bruch mit der Spontaneität“ vertieft, sie gewinnt einen Ausblick über Zusammenhänge, die der sinnlichen Wahrnehmung und der Vorstellung unerreichbar sind. „Dadurch, daß das Denken vom Konkreten zum Abstrakten aufsteigt, entfernt es sich — wenn es richtig ist (NB) ... — nicht von der Wahrheit, sondern kommt ihr näher. Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes, die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Worte alle wissenschaftlichen (richtigen, emstzunehmen¬ den, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, getreuer, vollständiger wider. Vom lebendigen Anschauen zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis — das ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität . . . “2). Daß sich aus diesen Hegel nahekommenden Formulierungen Schwierigkeiten fin¬ den materialistischen Standpunkt ergeben, liegt auf der Hand. Es ist aber aufschlußreich festzustellen, daß diese Vertiefung der naiv-realisti¬ schen Abbildtheorie durch Lenin eine Übertragung seiner Auffassung vom politischen Klassenkampf auf die Naturerkenntnis darstellt. Wie nämlich das bloße Empfinden außerstande ist, tiefere und um¬ fassendere Zusammenhänge der Wirklichkeit zu erfassen, so gelangt auch das proletarische Klassenbewußtsein in seinem tradeunionistischen Alltag nicht über den unmittelbar ökonomischen Aspekt des Klassen¬ kampfes hinaus. „Das proletarische Klassenbewußtsein kann (daher) in den Arbeiter nur von außen hineingetragen werden, d. h. aus einem Be¬ reich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, ist das Gebiet der Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, das Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen“3). Lenin interpretierend schreibt Lukäcs: „Dazu ist der Bruch mit der Spontaneität unerläßlich . .. erst durch diesen Bruch können die Totalität der wirkenden Kräfte der Gesellschaft, ihre Richtung, ihre Gesetzmäßigx) a. a. O., S. 115. 2) a. a. O, S. 89. Hervorhebungen z. T. von mir. 3) U. I. Lenin, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Moskau, 1946, Bd. I, S. 240.

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keit, die Möglichkeiten ihrer Beeinflussung erkannt ... werden.“1) Die außerhalb des proletarischen Daseins stehenden sozialistischen Intellek¬ tuellen vermögen auf Grund des „Bruches mit der Spontaneität“ den Gesamtbereich der Gesellschaft zu überblicken und die revolutionäre politische Aktion des Proletariats zu lenken. Sie allein können aus der Partei eine „Avantgarde aller revolutionären Kräfte“ machen, weil sie für jedes konkrete Ziel alle geeigneten Bundesgenossen heranzuziehen wissen, um als echte „Volkstribunen“ die politischen Operationen zu leiten. Im spontanen ökonomischen Kampf des Proletariates hegen nur „Keime des politischen Klassenbewußtseins“, wie in der Empfindung erst Keime der Naturerkenntnis liegen; um sie zu entwickeln, muß ein „Bruch“ erfolgen, muß man „reculer pour mieux sauter, zurückweichen, um sicherer zu treffen“2). In seiner über Engels hinausgehenden Ver¬ tiefung der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus spiegelt sich also Lenins praktisch-politische Erkenntnis wider, jene Erkenntnis, die seine Überlegenheit über alle anderen russischen Sozialisten aus¬ machte. Zugleich klingt hier — wenigstens vorübergehend — auch wieder jene Synthese von „Philosophie und Proletariat“ an, die der junge Marx in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie propa¬ giert hatte. Die besonderen Umstände der russischen Revolution brachten es freilich mit sich, daß aus einer Bauern- und Arbeiterrevolution unter Führung der Intellektuellen-Partei schließlich eine Diktatur über die Bauern und übers Proletariat hervorging, und daß eine den Gesamtbereich von Wirtschaft, Gesellschaft und Ideologie beherrschende politische Führung weniger ein Klassenbewußtsein aus vorhandenen Keimen „entwickelte“, als es vielmehr mit geistigem und materiellem Zwang manipulierte. In dem Maße aber, als faktisch das Bewußtsein einer kleinen Führungsclique (und schließlich fast eines einzigen Mannes) die sowje¬ tische Wirklichkeit gestaltete, wurde in der Ideologie ein materialisti¬ scher Determinismus gelehrt, der als eine Rechtfertigung der herrschen¬ den Macht angesehen werden muß. In der etablierten sowjetischen Welt wird der dialektische Materialismus zur Rechtfertigungsideologie der Parteiherrschaft und zum Instrument der Aufrechterhaltung einer unerbittlichen geistigen „Disziplin“. Es bleibt abzuwarten, ob auf die

1) Georg Lukdcs, Volkstribun oder Bürokrat (1940) in „Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker“, Berlin, 1948, S. 194. Hervorhebung von mir. 2) W. I. Lenin, Aus dem philos. Nachlaß, S. 216.

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Abkehr von Stalin eine Abkehr von der unter seiner Führung erfolgten Dogmatisierung der Weltanschauung folgt. Die vorstehende Untersuchung sollte zeigen, wie sich die Weltanschau¬ ung des dialektischen Materialismus im Gegensatz zum Marxschen Ansatz zu einer politischen Ideologie entwickelt hat. An die Stelle einer das Anliegen der Philosophie ver-wirklichenden Aufhebung derselben trat ihre 'positivistische Auflösung und die Aufgabe, ein umfassendes System der Natur(wissenschaften) zu dialektischer Einheit zu bringen. An die Stelle der als Totalität verstandenen geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer adäquaten (Selbst)Erkenntnis trat die Natur und Geschichte nivellierende dialektische Deutung der Evolutionstheorie (Darwin-Marx). An die Stelle des ,,Zu-sich-selbst-Kommens“ der geschichtlich-gesell¬ schaftlichen Substanz im Selbstbewußtsein des Proletariats, des wirklichen Subjekt-Objekts der Geschichte, trat das sich in schlecht-unendlichem Progreß vertiefende Beivußtsein der dem Subjekt gegenüberstehenden „objektiven, materiellen Wirklichkeit“ von Natur und Geschichte, die naiv-realistische Erkenntnistheorie. Die von Marx als Rhythmus des geschichtlichen Lebens erfaßte Dialektik

wurde

zum methodischen

Instrument pervertiert und damit ihrem Wesen entfremdet, denn diese Methode ist „von ihrem Gegenstände und Inhalte nichts Unterschiedenes; ... es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt“ (Hegel). Die von Marx visierte Befreiungstat endlich wurde — unausgesprochen — als „ohnmächtiges Ideal“ in unerreichbare Ferne projiziert, so daß der geschichtliche Weg der Mensch¬ heit wie der der Naturwissenschaften als ein schlecht unendlicher Progreß erscheint. Die Ursachen dieser Perversion des Marxschen Ansatzes sind nicht in der denkerischen Unzulänglichkeit der Exponenten dieser Entwicklung zu suchen, sondern in politisch-psychologischen Notwendigkeiten. Die Marxsche Theorie entstand in ihren systematischen Grundzügen, bevor Marx das wirkliche Proletariat kannte (vgl. Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, wo das Proletariat und seine welthistori¬ sche Mission geradezu „deduziert“ wird). Die realen Aufgaben der Organisation einer Massenpartei im Westen und einer revolutionären Avantgarde in Rußland gaben der Marxschen Theorie eine bestimmte Funktion. Es würde gerade den Marxschen Einsichten widersprechen, wenn man annehmen wollte, die faktische Funktion einer Theorie sei ohne Einfluß auf ihren Inhalt. Von entscheidender Tragweite ist freilich auch die Tatsache geworden, daß marxistische Revolutionen bisher nur

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in ausgesprochen rückständigen Agrarländern stattfanden, wo von einer selbstbewußten Aktion des Proletariats keine Rede sein konnte. Es waren vielmehr kleine revolutionäre Minderheiten (von ehemals bürgerlichen Intellektuellen), die in Rußland und China mit Hilfe einer straffen, ideologisch durch den Marxismus-Leninismus geeinten Parteiorgani¬ sation, gestützt auf bäuerlich-kleinbürgerliche Massen, die „proletarische“ Revolution durchführten. Diese erfolgreichen Revolutionäre (Lenin, Stalin, Mao Tse Tung) zeichneten sich in erster Linie durch großen Realismus und soziologischen Klarblick gegenüber ihren ideologischen Kritikern aus. Die „reinen Marxisten“ waren vielleicht die besseren Philosophen, bestimmt aber die schlechteren Politiker. Die Marxsche Vision vom selbstbewußt handelnden und damit die Wirklichkeit und sich umwälzenden freien Proletariat ist immer wieder einmal von mehr oder weniger außerhalb der politischen Aktion stehen¬ den Intellektuellen in den Mittelpunkt der Marx-Rezeption gestellt worden. Georg Lukäcs und Karl Korsch haben sie 1923 erneuert, als eine Periode revolutionärer Umwälzungen in Europa soeben zu Ende ging, und Maurice Merleau-Ponty hat zusammen mit anderen im Anschluß an das revolutionäre Erlebnis der Resistance das gleiche versucht. Aber Lukäcs hat sein Buch „Geschichte und Klassenbewußtsein“ später selbst ver¬ urteilt1), und die anderenDenker standen oder stellten sich außerhalb des politischen Kampfes der Partei. Der revolutionäre Humanismus blieb eine auf kleine Intellektuellencliquen beschränkte Episode.

Es ist

aussichtslos, das Anliegen des jungen Marx gegen den orthodoxen J) Vgl. Lukäcs’ Selbstcharakteristik in dem Aufsatz „Es geht um den Realismus11 (1938), abgedruckt in „Essays über Realismus“, Berlin, 1948: „Geschichte und Klassenbewußtsein — reaktionär wegen seines Idealismus, wegen seiner mangel¬ haften Auffassung

der Widerspiegelungstheorie,

wegen

seines

Leugnens

der

Dialektik in der Natur“ (S. 158). Diese Einschätzung findet sich schon in dem Aufsatz „Mein Weg zu Marx“ (1933), abgedruckt in „Georg Lukäcs, zum siebzigsten Geburtstag, Berlin 1955“. „Mein Buch ,Geschichte und Klassenbewußtsein1 (1923) zeigt sehr klar diesen Übergang (vom Hegelianismus zum Marxismus, I. F.). Trotz des bereits bewußten Versuchs, Hegel durch Marx zu überwinden und „aufzuheben , wurden entscheidende Fragen der Dialektik noch idealistisch gelöst (Naturdialektik, Abbüdtheorie etc.). Die noch immer festgehaltene Luxemburgsche Akkumulations¬ theorie mischte sich unorganisch mit einem ,yultTulinks-subj&ktivistische,n Aktivis¬ mus“ (S.229. Unterstreichung von mir). In allerjüngster Zeit ist Lukäcs gegenüber Merleau-Pontys „Les aventures de la dialectique1 ausdrücklich von seinem Jugendwerk abgerückt in Mesaventures de l’anti-marxisme, les 1956.

Vgl. oben Anm. 3., S. 29f.

(Paris, 1955) noch einmal „Garaudy, Cogniot

usw.

malheurs de M. Merleau-Ponty“, Paris,

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dialektischen Materialismus zu verteidigen, weil sich seine Vision offenbar als irreal erwiesen hat. So tief sein revolutionärer Aktivismus (und Mystizismus) auch sein mochte, er hat vor der politischen Wirklich1) Die Ereignisse in Polen und Ungarn im Herbst 1956 sowie die Tatsache, daß dort gerade marxistisch denkende humanistische Intellektuelle gegen das stalinistische Regime auftraten, haben in der DDR zu einer heftigen Polemik der Expo¬ nenten der Parteidoktrin der »SED gegen eine Reihe unabhängiger marxistischer Denker geführt. Zielscheibe der parteioffiziellen Kritik ist dabei u. a. Ernst Bloch, dessen geistvolle Bücher auch in der westlichen Welt bekannt sind. Bloch versteht den Marxismus als eine humanistische Philosophie der Hoffnung, wobei er ganz be¬ wußt eschatologische Aspekte der religiösen Tradition übernimmt. In einer Akademieabhandlung vom 27. 10. 1955 „Differenzierungen im Begriff Fortschritt“, die am 31. 8. 1956 im Druck erschien, hat Bloch eine Reihe von Thesen vertreten, die eine Kritik vom Standpunkt der Sowjetideologie geradezu herausfordern mu߬ ten und an denen die Unvereinbarkeit von Marxscher Philosophie und EngelsLeninscher „wissenschaftlicher Weltanschauung“ sehr schön zutage tritt. Während bei Bloch im konsequenten Zuendedenken des philosophischen Ansatzes der „Wis¬ senschaftsanspruch“ aufgegeben werden muß, sind seine Gegner genötigt, zugunsten der „Wissenschaftlichkeit“ dem Marxschen Humanismus und der endzeitlichen Perspektive der Geschichtsphilosophie abzusagen. Die Grundthesen der Blochschen Abhandlung sind: 1. Die Geschichtszeit ist von der linearen und qualitätslosen physikalischen Zeit prinzipiell zu unterscheiden. Sie ist — entsprechend dem dialek¬ tischen Gesetz der wechselseitigen Durchdringung von Inhalt und Form — quali¬ tativ von der Naturzeit zu unterscheiden. In verschiedenen Epochen und Welt¬ gegenden verläuft die Geschichtszeit selbst verschieden schnell, ist qualitativ diffe¬ renziert. 2. Dementsprechend ist auch der Fortschritt auf einem Sektor der Gesamt¬ entwicklung nicht notwendig parallel mit dem eines anderen (vor allem spricht B. von einer „ungleichmäßigen Entwicklung im Technik-Unterbau und im Überbau“). 3. Die Geschichte unterscheidet sich wesentlich von der Natur dadurch, daß sie ein „Ziel“ und nur deshalb auch einen endgültig realisierbaren „Sinn“ hat. Die Natur darf aber nicht als bloßes „Vorher“ von diesem Sinn (dem progressiv sich heraus¬ bildenden Humanum) ausgeschlossen werden. Es ist daher eine zweite (nicht physi¬ kalische) Naturzeit anzusetzen, die die Beziehung der Natur auf die SinnerfüUung durch den Menschen und seine Geschichte schon im Auge hat. Bloch fordert gerade¬ zu eine „marxistische Kosmologie“ (S. 42), ohne die eine marxistische Anthropolo¬ gie nicht möglich sei. Damit sucht Bloch den Dualismus bei Engels aufzuheben, der einerseits einen kontinuierlichen (schlecht) uziendlichen Progreß der Mensch¬ heit und andererseits „einen ewigen Kreislauf, in dem sich die Materie bewegt“ ge¬ lehrt hat (vgl. Dialektik der Natur, Berlin, 1951, S. 27f.). Die Sinnlosigkeit des kos¬ mischen Kreislaufs stellt für Blochs philosophisches Denken den Sinn des mensch¬ lichen Fortschritts in Frage, während Engels hier offenbar kein Problem zu sehen vermochte. Gegen alle drei Grundthesen Blochs richtet ein Autorenkollektiv (Prof. Schulz, Dozent Dr. Horn, Assistenten Kurst, Handel, Rochhausen und Wahl) in der wiss. Beilage der ostzonalen Studentenzeitung „Forum“ (Februar 1957) seine Kritik.

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keit nicht standgehalten. Das humanistische Anliegen ging auf dem Wege zur integralen Verwirklichung verloren, die Exponenten der Ideologisierung des Marxismus vollzogen nur das Urteil der Geschichte. Die Die erste These wird einfach als unwissenschaftlich verworfen, da ja in der Sowjet¬ ideologie der prinzipielle Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften stets geleugnet worden ist. Die Bezeichnungen „langsam“ und „schnell“ hätten ja über¬ haupt nur einen Sinn, wenn sie auf eine Zeit bezogen würden, die Zeit sei ihrem Inhalt gegenüber neutral. Da Bloch, um seinen Gedanken anschaulich zu machen, sich auf den Riemannschen Raum berufen hatte, gehen seine Kritiker vor allem auf die Unzulänglichkeit dieses Vergleiches und seines Verständnisses der modernen Physik ein. Die zweite These wird — wohl wegen ihres besonders heiklen Charak¬ ters — nicht ausdrücklich erwähnt, aber dafür wird um so heftiger die Lehre vom „Fernziel“ und Endziel der Geschichte zurückgewiesen: „man könne den Fort¬ schritt unmöglich an einem fernen Ziel messen. Weder der Wissenschaft noch der gesellschaftlichen Praxis sei damit gedient“ (S. 11), denn „wer könnte über weite Räume der Geschichte hinweg angeben, wohin und wozu sich die einzelnen Gesell¬ schaftskörper entwickeln ...

?“ (S. 12.) Dagegen könne man den Fortschritt

„messen, auch ohne daß ein letztes „Ziel“ schon sichtbar sei“, man brauche hierzu z. B. nur den Kapitalismus mit dem Sozialismus vergleichen! Hier wird deutlich sichtbar, wie sehr die Apologeten des Ulbricht-Regimes den kritischen Maßstab der Marxschen Anthropologie und seiner Endzielvorstellung fürchten. Auf der gleichen Seite werden sogar ausdrücklich alle Formeln wie „Vermenschlichung des Men¬ schen“, „Überwindung der Entfremdung“ usw. als gefährlich vage, z. T. schon zu Schlagworten gewordene Bezeichnungen verworfen. „Jede Orientierung des Fort¬ schritts auf ein vages, fernes Ziel aber führe zu politischer Desorientierung“ (a.a.O.). Und, als sei es noch nötig, auf die aktuelle politische Bedeutung der Polemik zu verweisen, wird an dieser Stelle auch noch der Petöfizirkel mit den beiden Intellek¬ tuellen Julius Hay und Tibor Dery als warnendes Beispiel genannt. Der junge Marx ist als Staatsfeind erkannt und verworfen! Kein Zufall also, wenn in der neuen ost¬ deutschen Marx-Ausgabe die wichtigste philosophische Jugendarbeit von Marx, das Pariser Manuskript von 1844, ausdrücklich fortgelassen wird, mit der Bemer¬ kung, daß es nur für „Spezialisten“ von Interesse sei. Als eindeutiges und zulängliches Hauptkriterium des Fortschritts führen schlie߬ lich die Bloch-Kritiker den „Stand der Produktion“ an, der schon von Stalin in seinem Katechismus (über dialektischen und historischen Materialismus) zu einem Fetisch gemacht worden ist. Nicht mehr die Vermenschlichung des Menschen, son¬ dern die maximale Steigerung der Produktion wird damit das Ziel. An die Stelle eines erreichbaren Endes tritt der schlecht unendliche Progreß; an die Stelle eines möglichen Abschlusses der gleiche Zwang zur Expansion, der den kapitalistischen Wirtschaftsprozeß kennzeichnet; an die Stelle einer Befreiung des Menschen vom naturnotwendigen Zwang des Wirtschaftsprozesses die vollständige Unterwerfung der Werktätigen, deren Menschlichkeit sich darauf reduziert, daß sie „die weitvollsten Produktionsmittel“ sind. Der Verzicht auf Erfüllung durch die revolu¬ tionäre Befreiung fordert aber zugleich dessen Ersatz durch eine „Weltanschau¬ ung“, die damit genau jene Funktion erfüllt, die Marx fälschlich der Religion zu-

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Iring Fetscher, Philosophie des Proletariats

Sehnsucht der Intellektuellen Westeuropas nach einer „echten

Marx-

schen Revolution ist eine Illusion, die ideologische Verhärtung des Marxismus zum dialektischen Materialismus eine „Ironie des Schicksals — oder eine „List der Vernunft“1). Fußnote x) s. S. 58. schrieb. Sie wird zum Opium, das den Schmerz über den trostlosen Zwang zu end¬ loser expansiver Produktion betäuben soll. Der Marxismus, der sich selbst als die letzte, alles Utopische hinter sich lassende Utopie begriff und den Bloch noch einmal so zu deuten versuchte, ist endgültig zur Ideologie geworden, auch und gerade, wenn er sich als Wissenschaft gebärdet.

Die Französische Revolution im revolutionären Selbstverständnis des Marxismus1 von RICHARD NÜRNRERGER

Die Untersuchung des Verhältnisses, in dem der „Marxismus“ zur Französischen Revolution steht, geht von der alltäglichen Beobachtung aus, daß die Art des Verhältnisses zur Vergangenheit, in der Mannig¬ faltigkeit seiner Motive als Ganzes gesehen, für das Selbstverständnis der Menschen wirksam ist — jeweils bis in die abgeleitetsten Klischees, die vielleicht längst die ursprünglich lebendigen Beziehungen kaum noch erkennen lassen, weil sie in Vergessenheit geraten sind. Nicht zu übersehen ist freilich auch, daß ebenso wirksam ist, wo ein Ver¬ hältnis zur Vergangenheit gar nicht vorhanden ist, das Koordinaten¬ system der menschlichen Existenz zwischen Vergangenheit und Zukunft aus dem Bewußtsein der Menschen ausgelöscht ist. „Wie ich die Ge¬ schichte sehe, das ist zumindest mitbestimmend für die Art und Weise, wie ich mich im Rahmen der Geschichte benehme“ (Th. Litt)2). Von diesen Voraussetzungen aus besitzt die Feststellung Gewicht, daß das Selbstverständnis der Menschen im 19. Jahrhundert von der Art und Weise ihrer Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution so entscheidend mitbestimmt wurde, wie für die Menschen des 20. Jahrhun¬ derts die Art ihrer Auseinandersetzung mit der bolschewistischen Re¬ volution bestimmend ist. Die kritische Beschäftigung — zunächst — von Marx mit der Franzö¬ sischen Revolution ist schon deshalb kein zufälliges Thema, sondern 1) Eine Zusammenfassung des Referates für die Kommission ist bereits erschienen in „Offene Welt“, Nr. 36, 1955, S. 79f., nach einer überarbeiteten Wiederholung des Vortrages in der Evangelischen Akademie Loccum im Februar 1955. 2) Der Mensch vor der Geschichte o. J., S. 15.

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vielmehr geradezu von zentralem Interesse für das Verständnis von Marx selbst, den Marxismus auch, schließlich für die Geschichte des 19. Jahr¬ hunderts. Zur Eigenart des Verhältnisses von Marx zur Französischen Revolution gehört auch, daß es nicht bestimmt wird von einem theoreti¬ schen Interesse an der begrifflichen Durchdringung einer Katastrophe, sondern Bedeutung besitzt von dem Interesse an der Diagnose der eigenen Zeit her, die mit der Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts beginnt. Die Gegenwart der Menschen des 19. Jahrhunderts beginnt ja doch in sehr ähnlicher Weise mit der Französischen Revolution, wie unsere Gegenwart mit der bolschewistischen Revolution in Rußland. Diese Diagnose ist bei Marx (und im Marxismus) aber vor allem wich¬ tig als Voraussetzung für die eigene revolutionäre Aktion; sie besitzt schließlich auch eine unmittelbare Beziehung zu unserer eigenen Gegen¬ wart, weil das marxistische Selbstverständnis zur Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution gehört, d. h. zum Verständnis der Dynamik unseres Jahrhunderts. Was das heißt, wird vielleicht am besten deutlich, wenn man sich der Beurteilung der Französischen Revolution durch die Liberalen erinnert: für sie war die Revolution ein politisch-sozialer Prozeß von begrenzter Dauer. Die Französische Revolution ist außerdem bezeichnenderweise im liberalen Sprachgebrauch, der bis heute noch vielfach Geltung besitzt, die „große“ Revolution gewesen; der Durchbruch einer neuen Welt am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich gilt — im Für und Wider — als entscheidend für die neue Weltordnung. Dagegen gehören — nicht zufällig — Männer wie Tocqueville, Lorenz von Stein, Karl Marx zu denjenigen, die, gleichzeitig lebend, begriffen hatten — so verschieden sie ihrer Herkunft und Gesinnung nach auch waren —, daß die Französische Revolution nicht nur eine Epoche der französischen Geschichte gewesen ist. Ihr Blick geht tiefer, sie sehen die Französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts vielmehr in dem größeren Zusammenhang der Revolutionierung der modernen Welt im ganzen, ja sie gewinnen die Einsicht, daß die moderne Welt im Grunde, d. h. in ihrem geschichtlich geprägten Wesen, überhaupt revolutionär ist. Im Rhythmus der revolutionären Dynamik bildet die Französische Revo¬ lution nur die erste Etappe; sie ist die politische Revolution, sie hat die politische Gleichheit der Menschen errungen. Das ist aber nur ein Anfang; die nächste Epoche in der revolutionären Entwicklung wird die soziale Revolution sein: sie ist die Revolution der Zukunft, sie erst wird die wahrhaft große Revolution sein.

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So wie Tocqueville in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts nach den USA reist, um die Demokratie zu studieren, so reist wenige Jahre später Stein nach Frankreich, um den Sozialismus und Kommunismus zu studieren. Mit Recht immer wieder gerühmt sind die Ergebnisse seiner Studien, die er in seinem zuerst 1842 erschienenen Buch veröffentlichte1). Darin heißt es gleich zu Anfang: „Die Zeit der rein politischen Bewe¬ gungen in Frankreich ist vorbei. Es bereitet sich eine andere vor, nicht weniger ernst und gewaltig; wie sich am Ende des vorigen (18.) Jahr¬ hunderts ein Stand des Volkes gegen den Staat empörte, so sinnt jetzt eine Classe desselben darauf, die Gesellschaft umzuwälzen, und die nächste Revolution kann schon jetzt (1842) nur noch eine soziale sein“ (ebd. p. III). Was er mit dieser Bemerkung meinte, erläuterte Stein als ein an Hegel geschulter Denker im universalhistorischen Aspekt gleich selbst: „Ist jene soziale Richtung des französischen Lebens eine wahre und durch die Geschichte selbst begründete, so ist sie, wenn auch nur als eine ferne Zukunft, gleichfalls in dem unsrigen enthalten (ebd. p. IV). Das Proletariat ist das gemeinsame europäische Element, das den Boden für die soziale Bewegung bildet. Sozialismus und Kommunismus gehören zusammen, sie sind beide „ein einheitliches Resultat unseres bisher im Verborgenen fortschreitenden Lebensprozesses unserer neuesten Ge¬ schichte“ (ebd. p. IX). „Plein de tristesse“ hat dann im Winter 1850/51 Tocqueville in seinen Erinnerungen2), einem der bedeutendsten Bücher des 19. Jahrhunderts, nach den deprimierenden Erfahrungen des Revolutionsjahres 1848/49 seine Erkenntnisse über die nicht endenwollende Revolution niedergeschrieben. Voll tiefer Resignation, wie sie nur je ein Mensch im 19. Jahrhundert empfunden hat, konstatierte Tocqueville, daß nach so viel enttäuschenden Illusionen die Revolution noch kein Ende gefunden habe, sie höre nicht auf, denn sie sei immer dieselbe. „Je älter wir werden, desto mehr entfernt und verdunkelt sich ihr Ziel. Wird das Ende eine vollständigere und tiefere soziale Umwandlung sein, als unsere Väter sie 1) „Der Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreich. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte“, Leipzig 1842. Hier hat uns nicht zu beschäftigen, ob, wie oft behauptet worden ist, Marx von diesem Buch beeinflußt worden ist oder nicht (vgl. E. Thier, Einleitung zur Neuausgabe von Nationalökonomie und Philosophie 1950, S. 55, dazu). 2) Souvenirs (Gallimard 1942) p. 74. Nach dieser ersten vollständigen Ausgabe die erste deutsche Gesamtübersetzung 1955, vgl. auch die feinsinnige Auswahl¬ ausgabe von Salomon, Zürich 1938, S. 169 f.

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voraussahen und wollten ... ? Oder wird das Ende ganz einfach, jene intermittierende Anarchie sein, die wohlbekannte chronische und unheil¬ bare Krankheit der alten Völker? Ich selbst kann es nicht sagen, ich weiß nicht, wann diese lange Reise zu Ende geht. Ich bin es müde, immer wieder trügerische Nebel für Ufer zu halten. Oft frage ich mich, ob dieses feste, schon so lange gesuchte Land existiert, oder ob es nicht unser Schicksal ist, ewig auf dem Meere zu kreuzen.“ Im schärfsten Gegensatz zu diesen Reflexionen steht zunächst bei dem jungen Marx (vor dem Schicksalsjahr 1848) die große Hoffnung, die gespannte Erwartung auf die kommende soziale Revolution. Sie hatte in Paris ihren Inhalt bekommen durch die Beschäftigung mit der Franzö¬ sischen Revolution. Vollgesogen mit Hegel und Feuerbach kam Marx als politischer Flüchtling in das „foyer brülant“ der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts. In einer interessanten Ähnlichkeit hatte auch ihn, wie den jungen Hegel, sein Weg von der Zeitkritik zur Kulturkritik geführt, und Kulturkritik hieß zugleich Religionskritik. Aus dieser Welt kom¬ mend, erlebte er nun in Paris, wie sehr die ungebrochenen Traditionen von 1789 Frankreich noch bewegten, wie vor allem die Epoche von 1789 in Verbindung mit den Enttäuschungen über die Julirevolution von 1830 noch in einem „offenen Horizont“ gesehen wurde. Marx machte die persönliche Bekanntschaft mit den linksradikalen Gruppen, Gesinnungs¬ genossen Babeuf’s, selbst Teilnehmern (wie Michelangelo Buonarotti) an dem mißglückten Staatsstreich von 1796, der kommunistischen Episode in der Französischen Revolution. Marx hat sich nachweislich unter dem Einfluß dieser Erfahrungen mit der Geschichte der Französi¬ schen Revolution beschäftigt, während er gleichzeitig durch die Ideen dieser Radikalen seine Perspektiven für die Auseinandersetzung mit ihr erhielt. Diese Pariser Jahre (1843—45) sind für die Ausbildung der Marxschen Revolutionstheorie höchst wichtig geworden; der Anteil, den die fran¬ zösischen Frühsozialisten an ihr haben, ist durch die neueren, vor allem französischen Forschungen1) für uns viel deutlicher geworden, als er früher gesehen wurde. Die historische Standortbestimmung, das revo¬ lutionäre Selbstverständnis des jungen Marx, ist deshalb nicht zufällig auch von seinem Verhältnis zur Französischen Revolution mitbestimmt. Von diesen Radikalen hörte Marx die kommunistischen Forderungen

b Ich nenne hier statt anderer die bedeutende Gesamtdarstellung „Histoire des idees sociales en France“ von Maxime Leroy, bisher 3 Bände, 1946, 1950, 1954.

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Babeuf s und seiner Anhänger: daß nicht politische Gleichheit genüge, sondern daß sie ergänzt werden müsse gerade auch durch wirtschaft¬ liche Gleichheit; denn die „politische Emanzipation“, die die Franzö¬ sische Revolution inaugurierte, sei eben doch noch keine „menschliche Emanzipation“; entscheidend sei der Unterschied zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Das Ziel ihrer Hoffnungen ist die „klassenlose Gesell¬ schaft“: erst sie wird die „menschliche Emanzipation“ vollenden1). Die Französische Revolution gewinnt für das revolutionäre Selbst¬ bewußtsein des jungen Marx nun ganz im Sinne der radikalen Gesinnungs¬ genossen eine hervorragende Bedeutung, ja man kann geradezu sagen, daß seine Revolutionstheorie damals erst ihre historische Tiefendimension erhalten hat, seine revolutionäre Zukunftserwartung erst historischen Zusammenhang bekommt. Er hat gelernt, daß die Französische Revo¬ lution Ideen hervorgebracht hat — und diese geben jener erst wahrhaft revolutionäre Bedeutung —, welche über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes hinausführen. Die revolutionäre Bewegung von wirklich historischem Rang, sagt Marx jetzt, beginnt im cercle social; sie unter¬ hegt freilich „für einen Augenblick“ in der mißlungenen Verschwörung Babeufs, aber sie hatte die kommunistische Idee wenigstens hervor¬ getrieben. „Diese Idee, konsequent ausgearbeitet, ist die Idee des neuen Weltzustandes“, auf den die geschichtliche Entwicklung hindrängt2). Nach dem Sturz Robespierre’s beginnt freilich die „politische Auf¬ klärung“ sich erst „prosaisch“ zu verwirklichen. In den Jahren des Direktoriums bricht die bürgerliche Gesellschaft „in gewaltigen Lebens¬ strömen“ hervor, „die Menschenrechte hören auf, bloß in der Theorie zu existieren“. Sie sind das „Lebenszeichen“ der neu entstandenen bürger¬ lichen Gesellschaft. Von dieser Auffassung aus ist durch den Staatsstreich der 18. Brumaire nicht etwa die revolutionäre Bewegung überhaupt „Beute Napoleons“ geworden, sondern nur die liberale Bourgeoisie; mit ihm siegt der revolutionäre Terrorismus über die gleichfalls revolutionär begründete bürgerliche Gesellschaft, freilich, Napoleon war kein „schwärmerischer Terrorist“, wie Marx sagt, er wußte, was er tat, als er nach dem Sieg am 18. Brumaire die bürgerliche Gesellschaft als Grundlage des neuen, modernen Staates in Frankreich anerkaimte. Zum vollen Sieg, zur Ver1) Vgl. hier auch die Einwirkung dieser Kreise auf Heinrich Heine: Juli 1842: Erwartung der Weltrevolution, „Der große Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie“. S. A. Kaehler: Über einige politische Visionen des 19. Jahrhunderts = Nachrichten der AK Gö 1/1954 Nr. 4, S. 82f. 2) „Heilige Familie“ MEGA I, 3, S. 295. Marxismusstudien II

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wirklichung ihrer Wünsche von. 1789 kommt die liberale Bourgeoisie in Frankreich endlich jedoch erst 1830 nach der Beseitigung der Konterrevo¬ lution (nach 1815), in der Julirevolution. Jetzt habe sich nmi auch mit aller wünschenswerten Deutlichkeit gezeigt, daß der konstitutionelle Repräsentativstaat nicht mehr das Ideal des Staates an sich, nicht mehr das Heil der Welt überhaupt und der allgemein menschliche Zweck sei, sondern — als höchst bemerkenswertes Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung seit 1789 für das rechte revolutionäre Verständnis — daß der Repräsentativstaat „offizieller Ausdruck“ der ausschließlichen Macht der liberalen Bourgeoisie sei, die politische Anerkennung der Interessen des liberalen Bürgertums. Aus dieser Tatsache ergibt sich für Marx die nicht weniger wichtige Konsequenz für die radikale revolutionäre Aktion: die Französische Revolution von 1789 ist deshalb 1830 noch nicht beendet; die Julirevolution ist vielmehr nur eines der Momente in der allgemein revolutionären Entwicklung, siegreich ist in ihr nur im Bewußtsein seiner sozialen Bedeutung das liberale Bürgertum gewesen. Marx feiert dagegen Babeuf: der cercle social sei die wahrhaft revolutionäre Bewegung in der Französischen Revolution gewesen, weil Babeuf das Interesse der breiten Masse vertreten und gegen das Eigentum als Quelle alles Übels gekämpft habe. Deshalb kritisiert Marx auch Robespierre ablehnend als kleinbürgerlichen Revolutionär, weil er am Eigentum festhielt. Das Wesentliche an der Französischen Revolution ist für Marx ihr „Under¬ ground“: nur bei ihm hat die Zukunft, schon begonnen; in ihr wird, das ist die für das revolutionäre Selbstverständnis des Marxismus wichtig gewordene Konsequenz, die bürgerliche Woge der Revolution überrollt werden von der „radikalen“, d. h. der kommunistischen. Die bürgerlich¬ liberale und die bürgerlich-radikale (d. h. die jakobinische) Revolution rücken für Marx eng zusammen. Beide — um in dem eben gebrauchten Bilde zu bleiben —■ gehören zur selben Woge der revolutionären Dynamik. Dazu gehört ferner, daß in der bürgerlichen Auffassung der Revolution von 1789 deren wahrer geschichtlicher Sinn verkannt wird. Diese Ansichten gehören seitdem zur historischen Substanz der Theorie der Revolution, wie sie Marx (mit Engels) im kommunistischen Manifest in Verbindung mit seinem bekannten, von Hegel stammenden Mythus von der „Dialektik“ der Geschichte als einer revolutionären Entwicklung auseinandergesetzt hat. Die Analyse der Französischen Revolution, die Marx in jenen Jahren beschäftigt, dringt aber noch tiefer: seine ätzende Kritik decouvriert die bisherige Entwicklung der Revolution schonungslos mit der Unterschei-

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düng von „Idee“ und „Interesse“ in der revolutionären Bewegung1). Ent scheidend für die Beurteilung des Tatbestandes ist, wie die Massen sich zu den Zielen der Bewegung stellen: inwieweit sind die Menschen wirklich für die Zwecke, die verkündet werden, „interessiert“, inwieweit ent¬ sprechen diese Zwecke ihren eigenen Interessen? Oder inwieweit sind sie für diese nur „enthusiasmiert“? Das sind die kritischen Fragen an jedes geschichtliche Ereignis: „die ,Idee‘ blamierte sich immer, soweit sie von dem ,Interesse4 unterschieden war“. Für Marx lehrt die historische Erfahrung allerdings, „daß jedes massenhafte, geschichtlich sich durch¬ setzende ,Interesse£ zuerst in der ,Idee‘ oder ,Vorstellung' weit über seine wirklichen Schranken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Inter¬ esse schlechthin verwechselt“. Diese Differenzierungen ermöglichen Marx die Zersetzung des liberalen Mythus von der Revolution von 1789, sie enthalten eine soziologische Kritik an dem Mythus von den für alle Men¬ schen geltenden Rechten, die in aller Schärfe die liberalen und die Marxschen Auffassungen konfrontiert. Die Revolution von 1789 war ganz gewiß, Marx läßt da gar keinen Zweifel aufkommen, im „Interesse“ der Bourgoisie, für diese war die Revolution nicht etwa „verfehlt“, sie hatte vielmehr durch sie alles „gewonnen“ — „so sehr der ,Pathos' verraucht und so sehr die ,enthusiastischen' Blumen, womit dieses Interesse seine Wiege bekränzt, verwelkt sind“2). Aber das ist eben nur die Perspektive der Bourgeoisie; „verfehlt“ ist die Revolution von 1789 jedoch für die Masse, die in den politischen „Ideen“ der bürgerlichen Revolution nicht die Idee ihres wirklichen „Interesses“ besaß. Deren wahres Lebens¬ prinzip fiel deshalb nicht mit dem Lebensprinzip der Revolution zu¬ sammen. Auch die Bedingungen für die „Emanzipation“ sind liier und dort wesentlich verschieden, und der Unterschied der „Interessen“ wird so zum Gegensatz, letzten Endes zur Feindschaft gesteigert; historisch zeigt sich das in der Dynamik der revolutionären Entwicklung3). 1) ihe Heilige Familie = Die Frühschriften (ed. Landshut), 1955, S. 319ff. 2) Die Frühschriften, S. 320. ’-j Vgl. dazu aber auch die interessante Verschiebung der Akzente unter dem Eindruck des veränderten Zeitgeschehens in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 15.12.1848 (AuswahlBerlin 1949, K.Marx — Fr. Engels „Die Revolution von 1848‘-, S. 183) XRhZ vom 15. XII. 1848: „Die Revolution von 1648 und 1789 waren keine englischen und franzrjsischev. Revolutionen, sie waren Revolutionen europäischen Stils. Sie waren nicht der Sieg einer bestimmten Klasse der Gesellschaft über die alte Ordnung-, sie waren die Proklamation der politischen Ordnung für die neue eurojxiische Gesellschaft. Die Bourgeoisie siegte in ihnen; aber der Sieg der Bourgeoisie war damals der Sieg einer neuen GeseUschaftserrdnung. ... Die Revolution von 1648 war 5*

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Die folgenreiche Konsequenz aus dieser Stellungnahme zu den Ereig¬ nissen in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts ist, daß die Franzö¬ sische Revolution von 1789 gar nicht die wirkliche große Revolution gewesen ist: diese wird erst die Zukunft bringen, das heißt jetzt rein quantitativ: „mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird (für die prophetische Fernsicht von Marx) der Umfang der Masse, deren Aktion sie ist, zunehmen: je größer die Masse wird, um so mehr wird sich zeigen, daß die geschichtliche Aktion ihre Aktion ist“. Diese Polemik lebt davon, daß die Französische Revolution noch nicht zu Ende ist. Die Julirevolution von 1830 zeigte nur ohne Umschweife, was der bisherigen revolutionären Entwicklung wirklich zugrunde lag: die Tendenz zur Machtergreifung der Bourgeoisie. 1830 siegte eine aus¬ gesprochen bürgerliche Revolution, die die Phrasen von 1789 endgültig abgelegt hat. Dieses Ergebnis ist höchst wichtig und wertvoll für das revolutionäre Selbstbewußtsein: denn diese Einsicht lehrt, daß es nun weitergehen muß zum Siege der neuen, der wahrhaft großen Revolution. Diese Diagnose seiner Zeit hat den Sinn, die notwendig kommende neue Phase der Revolution begreiflich zu machen; in diesem Zusammenhang bedeutet das Verhältnis zur Französischen Revolution Orientierung in der eigenen Gegenwart1). die Revolution des 17. Jahrhunderts über das 16. Jahrhundert, die Revolution von 1789 der Sieg des 18. Jahrhunderts über das 17. Jahrhundert. Diese Revolutionen drückten mehr noch die Bedürfnisse der damaligen Welt als der Weltausschnitte aus, in denen sie vorfielen, Englands und Frankreichs.“ Der ganze Passus ist pole¬ misch gegen die preußische Märzrevolution gerichtet. — Für die Nachwirkung dieser Auffassung auf Lenin s. u. S. 69f. ') Vgl. Fr. Engels, Einleitung (1895) zu Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frank¬ reich (1850), Berlin 1951, S.9: „Als die Februarrevolution ausbrach, standen wir alle, was unsere Vorstellung von den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärer Bewegungen betraf, unter dem Bann der bisherigen geschichtlichen Erfahrungen, namentlich derjenigen Frankreichs. Diese letztere war es ja gerade, die die ganze europäische Geschichte seit 1789 beherrscht hatte, von der auch jetzt wieder das Signal zur allgemeinen Umwälzung ausgegangen war. So war es selbstredend und unvermeidlich, daß unsere Vorstellungen von der Natur und dem Gang der in Paris, im Februar 1848, proklamierten „sozialen“ Revolution, der Revolution des Proletariates, stark gefärbt waren durch die Erinnerungen der Vorbilder von 1789—1830.“ Diese Sätze sind außer ihrem Erinnerungsgehalt an die Revolution von 1848 auch

bezeichnend

für den

Wert,

den

die

revolutionären

Erinnerungen

im

ganzen für Engels (zum Unterschied von Marx) besitzen: „Färbungen“ des Zeit¬ geschehens, d. h., sie geben diesem keine historische Tiefe durch eine lebendige Tradition.

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Mit diesen hochgespannten Erwartungen durchlebte Marx dann 1848 die anscheinend endlich zum Durchbruch kommende Revolution. Er kommt eigens aus dem englischen Exil nach Deutschland, um an der Revolution teilzunehmen, um den Ereignissen als Agitator und Kommentator der revolutionären Entwicklung in der Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung“ (nach dem mißglückten früheren Unternehmen einer Rheinisch en Zeitung) nahe zu sein. Um so bitterer ist die Enttäuschung über den Ver¬ lauf der Revolution, die in der ironischen Bemerkung liegt, daß es ja gar nicht etwa die erwartete große Revolution sei, die sich abgespielt habe, sondern nur die Farce einer Revolution1 2). Zynisch resümierte Marx seine Erfahrungen in der Schrift über den ,,18. Brumaire des L. Bona¬ parte“ (1851), die die berühmten und erinnerungsreichen Bezeichnungen von Parteien, Daten und Begriffen aus der Revolution von 1789 auf die 2. Republik und das 2. Kaiserreich übertragen hat — und damit dem boshaften Spott preisgab: Dieser 18. Brumaire sei nur eine schlechte Wiederholung der Machtergreifung Napoleons I. Wichtiger noch ist, daß sie damit in die marxistische Begriffswelt eingegangen sind und 100 Jahre später von den Bolschewisten auch auf die russischen Verhältnisse be¬ zeichnenderweise angewendet wurden. — In diesen Bemerkungen zeigt sich aber außerdem auch noch, daß das ganze Konzept von Marx durch den Verlauf dieser „schlechten“ Revolution durcheinandergekommen ist. Nicht zu Unrecht hat man deshalb sagen können, Marx sei zeitlebens ein 48er, ein geschlagener, aber nicht besiegter Rebell gewesen ). Meist wenig beachtet, gehört diese Schwerpunktverlagerung von Marxens Interessen im ganzen seiner revolutionären Aktivität doch in den Zu¬ sammenhang der Wirkungen der „unvollendeten Revolution“ von 1848. Jetzt beginnt ein neuer Abschnitt in Marxens Entwicklung, erfüllt von ungeduldigem Warten und Diagnostizieren der wechselnden Situation3). 1) Vgl dazu z. B. auch Tocqueville, Souvenirs (1942) p. 82: „L’Histoire de la Revolution“ de M. Thiers, les „Girondins“ de M. de Lamartine, d’autres ouvrages moins celebres, mais fort connus, et surtout les pifeces de theätre avaient rehabihte la Terreur et l’avait rendue en quelque Sorte ä la mode. On faisait donc parier, dans la langue enflammee de 93, les passions tiedes du temps, et l’on eitert & tout moment l’exemple et le nom d’ülustres scelerats, auxquels on n avait m 1 energie ni meme le desir sincere de ressembler. 2) R WÜbrandt, K. Marx ANuG 1918, S.15. Vgl. dazu auch Marx an Engels 13. II. 1863:

• die gemütlichen delusions und der fast kindliche Enthusiasmus,

mit dem wir’vor Februar 1848 die Revolutionsära begrüßten, sind zum Teufel.“ 3) Vgl. hierzu H. Rothfels, Marxismus und Außenpolitik = Memecke Festschrift 1922.

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Jetzt beginnt auch nicht zufällig das intensive Studium der Industrie¬ gesellschaft und ihrer „Gesetze“ im Britischen Museum von früh bis in die Nacht, um der revolutionären Erwartung nach dem Debacle des Revolutionsjahres 1848/49 die „wissenschaftlich“ fundierte Gewißheit der zukünftigen Weltverwandlung zu geben — über die philosophischen Konzeptionen des Hegelschülers hinaus. Damals glaubte Marx, in ein paar Monaten mit der Nationalökonomie fertig zu sein; erst 1867 er¬ schien nach mancherlei Mühen jedoch bekanntlich der 1. Band des „Kapitals“. Als Resume der historischen Erfahrungen seit 1789 ergibt sich jetzt von 1848 für Marx, daß die Revolution des 19. Jahrhunderts die Toten ihre Toten begraben lassen muß, um bei ihrem eigenen Inhalt anzu¬ kommen. Was heißt das? Die Antwort, die Marx damals gegeben hat, ist zunächst verblüffend: der revolutionäre Ausgangspunkt für die revo¬ lutionäre Entwicklung muß erst geschaffen werden. Die Erfahrung der verfehlten Revolution von 1848 lehrt, daß die wahre, echte, große Revolution doch noch nicht am Ziel ist, sondern „noch auf der Reise durch das Fegefeuer“. Aus dieser Lage ergeben sich verschiedenartige Konsequenzen, für Marx sehr wesentlich ist die neue Taktik der revolutionären Aktion. Wenn nach Hegel „die höchste Ruhe und Stufe, die irgendetwas erreichen kann, diejenige ist, in welcher sein Untergang beginnt“, so ergibt sich für Marx nach den Erfahrungen von 1848 die sehr wichtige Überlegung, daß alles darauf ankommt, die Vollendung des bestehenden Staates zu seiner größten Machtfülle zu fördern, weil erst dann der Umschlag, die „Explosion“, die Revolution erfolgreich sein kann. Die revolutionäre Entwicklung steigert nach dieser Konzeption deshalb erst die parlamentarische Gewalt zu ihrer höchsten Entfaltung, um sie stürzen zu können. Jetzt, d. h. nach dem Staatsstreich Louis Bonapartes (1851 ff.), vollendet die Revolution zunächst die Exekutiv¬ gewalt. Sie zwingt diese Gewalt geradezu zu ihrer höchsten Ausbildung m ihren bürokratischen und militärischen Organisationen im Kampf gegen die radikale Revolution: gegen die Revolution ist die Verstärkung der Regierungsgewalt einfach notwendig — das kennzeichnet die Lage. Wenn die Revolution diese zweite Hälfte ihrer Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitz aufspringen und jubeln: „Brav gewühlt, alter Maulwurf!“ (S. 1021).) Dann ist der große Moment des revo-

b ygl. Hegel WW (ed. Glöckner) S. 685: „Nur der Geist ist Fortschreiten. Oft scheint er sich vergessen, verloren zu haben; aber innerlich sich entgegengesetzt, ist

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lutionären Umschlages gekommen, das soll heißen: dann beginnt erst die wahrhaft große Revolution; die Hauptbeute der siegreichen Revo¬ lution im Kampf um die Macht wird die Besitznahme dieses unge¬ heuren Staatsgebäudes sein. An diese Gedanken hat später nicht zufällig Lenin unmittelbar vor Beginn der Oktoberrevolution in Rußland unter dem Zwang der Lage, in der Erwartung der Machtergreifung der Bolschewisten mit ihren unaufschiebbaren enormen praktischen Aufgaben, vor die sie sich gestellt sahen, angeknüpft. Zu den Problemen der revolutionären Aktion gehörte ganz wesentlich eben die Stellung des Staates in der Revolution. Lenins revolutionäres Selbstbewußtsein orientierte sich 1917 in ..Staat und Revolution“* 1) gerade auch an Marxens Interpretation der revolutio¬ nären Tradition von 1851/52 durch einen Vergleich der Französischen Revolution von 1789 und der Revolution von 1848 mit ihren Folgen. Sehr bezeichnend für den „praktischen Theoretiker“ des Marxismus ist es, mit welchem Interesse er an Marxens Gedanken herantritt: Lenin hebt zunächst hervor, daß gegenüber dem Kommunistischen Manifest der „Marxismus“ hier einen „gewaltigen Schritt“ vorwärts mache; und Lenin resümiert selbst gleich in polemischer Zuspitzung das, was ihm das Bemerkenswerte an dem „18. Brumaire“ ist: „alle früheren Revolutionen haben die Staatsmaschinerie vervollkommnet, man muß sie aber zer¬ schlagen, brechen“. Das Wichtigste war begreiflich für Lenin m der Er¬ wartung der Machtergreifung im Herbst 1917 die praktische Frage, wie die „Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen erfol¬ gen soll“. Weil Marx im „18. Brumaire“ diese taktische Frage nicht nur stellt, sondern auch in einer für Lenin maßgeblichen Weise beant¬ wortet, gerade deshalb ist diese Schrift im revolutionären Sozialismus so wichtig geworden. Lenin hat (in „Staat und Revolution“) freilich bei der Erörterung der Hauptgedanken von Marx sofort die m dieser Schrift nicht angeschnittene Frage scharf gestellt: „wodurch diese zu vernich¬ tende Staatsmaschinerie zu ersetzen sei“, sagt dann aber gleich selbst,

er innerliches Fortarbeiten — wie Hamlet vom Geiste seines Vaters sagt, ,-Brav ge¬ arbeitet, wackerer Maulwurf1 [Hamlet I, 5]

bis er, in sich erstarkt, jetzt che Erd¬

rinde, die ihn von seiner Sonne, seinem Begriffe, schied, aufstoßt, daß sie zusammen¬ fällt “ Ferner eb. S. 691: „Auf sein Drängen (des Geistes) — wenn der Maulwur^ im Innern fortwühlt - haben wir zu hören, und ihm Wirklichkeit zu verschaffen. Freundlicher Hinweis von Dr. Fetscher. i) Sämtliche Werke XXI, S. 643ff.; Einzelausgabe Bhi. 1948, S. 39.

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daß diese Frage erst später, im Jahre 1871 in der Pariser Kommune „von der Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt wurde“1). Nicht weniger wichtig ist nun aber auch die Verschiebung der Vor¬ stellung vom Rhythmus der Französischen Revolution bei den Bolsche¬ wisten aus einem technisch-instrumentalen Interesse an der Vergangenheit gegenüber der geschichtlich fundierten Revolutionstheorie von Marx:

sie wird in diesen Kreisen zum Mythus vom Verlauf der

Revolution, losgelöst von der geschichtlich einmaligen Lage. Sehr bezeichnend für diesen Umsetzungsprozeß des revolutionären Selbst¬ verständnisses in seinem Verhältnis zur Vergangenheit ist, daß sich Lenin 1905, in der ersten russischen Revolution, vor allem für den Ablauf des Überganges von der liberalen zur radikalen Revolution bei der eigenen Orientierung in der revolutionären Gesamtlage jener Monate interessierte: im Mittelpunkt steht auch hier die Frage des revolutionären Aktivisten nach dem Kairos der revolutionären Aktion. Man sieht dabei, wie die Marxsche Lehre vom Rhythmus der revolutionären Entwicklung hier praktisch gewendet wird, wie letzten Endes auch hier das für die revolu¬ tionäre Interpretation der jeweiligen Lage (d. h. ja aber gleichzeitig auch für den Einsatz der revolutionären Aktion) charakteristische Entwick¬ lungsschema sichtbar wird, das aus der Geschichte der Französischen Revo¬ lution abgelesen worden ist: ein Zeugnis mehr für ihre in echtem Sinne „epochale“ Bedeutung für das revolutionäre Selbstverständnis im Mar¬ xismus. „Die bürgerliche Revolution ist für das Proletariat im höchsten Maße vorteilhaft.“ Weshalb? Weil sie am entschiedensten die Überreste der alten Zeit (zu diesen gehört auch die Monarchie) hinwegfegt und die „breiteste, freieste und schnellste Entwicklung des Kapitalismus im aller vollsten Umfang gewährleistet“2). Die bürgerliche Revolution ist im Interesse des Proletariats sogar unbedingt nötig; denn je konsequenter sie ist, um so sicherer wird der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoi¬ sie für den Sozialismus siegreich sein. Gerade auf den Kampfcharakter der notwendigen Umgestaltung kommt es Lenin ganz besonders an, auf den revolutionären Weg, „denn der Weg der Reformen ist der Weg des ) Die Bedeutung der Pariser Kommune für das revolutionäre Selbstverständnis des Marxismus ist ein Thema für sich, so gewiß es in dem weiteren Zusammenhang der Bedeutung der revolutionären Tradition vor allem im Bolschewismus höchst wichtig ist. Vgl. neuestens Charles Rihs: La Commune de Paris, sa structure et ses doctrines — Etudes d’histoire economique, politique et sociale 1957. 2) Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution 1946 S. 44. ’ ’

Französische Revolution

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Hinhaltens, der Verschleppung, des qualvoll langsamen Absterbens der faulen Teile des V olksorganismus . .. Der revolutionäre Weg ist der Weg der raschen, für das Proletariat am wenigsten schmerzhaften Operation“. Den Sieg der sozialistischen Revolution sieht Lenin im Spiegelbild der Jakobinerherrschaft: „Nach Jakobinerart werden wir dann mit dem Zarismus oder, wenn ihr wollt, plebejisch fertig werden.“1) Und er erinnert daran, daß Marx 1848 in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ geschrieben hatte, der ganze französische Terrorismus sei nichts als eine „plebejische Manier gewesen, mit den Feinden der Bourgeoisie . .. fertig zu werden“2). Mehr nur eine literarische Redensart ist dann freilich die Bemerkung, daß die Jakobiner der modernen Sozialdemokratie die Bolschewiki seien. Lenin fügt sofort hinzu: man solle ja nicht etwa denken, die Bolschewiki wollten die Jakobiner von 1793 unbedingt nachahmen. „Wir haben nicht das alte, sondern ein neues Programm. Der Vergleich soll nur klar¬ machen, daß sich die Vertreter der fortgeschrittensten Klasse des 20. Jahrhunderts des Proletariats, d. h. die Sozialdemokratie, ebenso in zwei Flügel teilen, wie die Vertreter der fortgeschrittensten Klasse des 18. Jahrhunderts, der Bourgeoisie, in Girondisten und Jakobiner.“ Das war 1905. Die bolschewistischen Revolutionäre von 1917/18 bedie¬ nen sich nicht nur immer wieder des Vokabulars der Französischen Revolution, wichtiger ist noch, daß jenseits der historischen Remi¬ niszenzen an die Französische Revolution und die Parallelisierung des Ablaufs der russischen mit der Französischen Revolution die weltgeschicht¬ liche Bedeutung der Oktoberrevolution für das revolutionäre Selbst¬ verständnis erst im Vergleich mit der Französischen Revolution hervor¬ tritt. Die großzügige, weit ausschauende Rede Lenins nach Abschluß des Brester Friedens (vom 8. März 1918) ist in den tieferen Schichten der Analyse der revolutionären Situation nur zu verstehen von den historischen Zusammenhängen aus, die wir hier aufzuzeigen versuchen. Sie ist eines der großartigsten Zeugnisse für die Sicherheit des revolutionären Selbst¬ verständnisses in der modernen, revolutionären Welt. Mit „der Aera der sozialistischen Revolution“, die jetzt begonnen hat, ist im Jahrhundert¬ rhythmus der revolutionären Gesamtbewegung vom 19. zum 20. Jahr¬ hundert eine neue Epoche eröffnet; mit ihr ist im Vergleich mit 1789 nicht nur eine weitere, sondern nun eben die entscheidende weitere Stufe der revolutionären Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert erreicht, der

q ebd. S. 53. 2) Auswahl aus der NRhZ, a. a. 0. S. 183.

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Richard Nürnberger

Beginn der sozialistischen Revolution, die als die Revolution der Zu¬ kunft im 19. Jahrhundert herbeigesehnt oder auch mit Schrecken nach der politischen bürgerlichen Revolution von 1789 erwartet worden war. Die russische Revolution ist die wahrhaft große Revolution für das Proletariat als Träger einer neuen für alle geltenden Weltordnung, in der Idee und Interesse der großen Zahl zusammenfallen. Der Fortgang der bolschewistischen Revolution begründet deshalb bezeichnenderweise auch ein neues Verhältnis der Bolschewisten zur Französischen Revolution. Nach der Beendigung des Bürgerkrieges kon¬ zentrierte Trotzki nicht zufällig sein revolutionäres, technisch-instru¬ mentales Interesse an der Geschichte der Französischen Revolution vor allem auf den Übergang von der radikalen Revolution zum „Thermidor“ als „Kristallisierung einer neuen, privilegierten Schicht, die Schöpfung eines neuen Unterbaues für die ökonomisch herrschende Klasse“, zu deren Anwärtern nach seiner Soziologie der Revolution das Kleinbürger¬ tum und die Bürokratie gehören.1) Von Babeuf reden die Bolschewisten nur noch am Rande und vor allem nicht mehr im Sinne von Marx: zur Stärkung und Klärung ihres revolu¬ tionären Selbstbewußtseins brauchen sie ihn nicht mehr. In schillernder Bedeutung wird j etzt von Trotzki in seinem Konkurrenz¬ kampf mit Stalin, der über die persönlichen Rivalitäten ja weit hinaus¬ geht, das Wort von der „thermidorianischen Reaktion“ benutzt. Stalin wird für Trotzki der typische Thermidorianer —- nicht zuletzt auch mit Bezug auf die Außenpolitik: die Beendigung der äußeren Bedrohung und die Begründung der Herrschaft der Bürokratie über die Bewegung gehören für Trotzki zusammen. „Thermidorianer“ ist für ihn aber über die Charakterisierung Stalins hinaus zu einem für ihn höchst bezeich¬ nenden politischen Schlagwort überhaupt im Kampf für die „permanente Revolution“ geworden. Natürlich war er viel zu klug, um nicht zu wissen, wie vieles die russischen von den französischen Thermidorianern trennte. Das Wort gehört jedoch zu den Requisiten der marxistischen Publizistik und in dieser Abwandlung zu dem umfassenden Vorgang der Ablösung von Marx im Bolschewismus. Als,,Führer der thermidorianischen Reaktion“ist Stalin für Trotzki der Totengräber der Revolution geworden. Höcht geistreich hat er in einer eigenen Schrift 1936 auseinandergesetzt2), daß durch die Thermidorianer die Revolution an die „Bürokratie“ verb Trotzki: Stalin 1952, S. 59. 2) The revolution betrayed — what is the Soviet Union and where is it going? NY 1937 bes. S. 86ff.

Französische Revolution

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raten worden sei. Dagegen sei das Wesen der Revolution, wie es an ande¬ rer Stelle heißt, daß die Masse ihr eigenes Exekutivorgan wird. „Tritt die Masse aber von der Bühne, wandert sie ab, zieht sie sich in ihre Wohnwinkel zurück, verstört, desillusioniert, müde, dann verfällt die Arena und wird um so trostloser, je weiter der bürokratische Apparat sie besetzt. l) Trotzki wußte freilich auch darüber Bescheid, daß die „Büro¬ kratisierung“ die Erfahrung bestätigt: daß dem revolutionären Vorstoß die Reaktion oder die Konterrevolution folge. Wichtiger ist jedoch noch die Parallelisierung der Entwicklung der Französischen Revolution zum Cäsarismus bzw. zum Bonapartismus als eine Krisenerscheinung mit der Entwicklung der Sowjetunion. Das Stalinregime sei eine Variation des Bonapartismus — allerdings eines Bonapartismus neuer Art, wie es sie früher noch nicht gegeben habe. Der Sowjetbonapartismus sei nur zu begreifen aus der verzögerten Weltrevolution; eine siegreiche revolutio¬ näre Bewegung in Europa würde den Sowjet-Bonapartismus (genauso übrigens wie den Faschismus) erschüttern und Sowjetrußland für die sozialistische Zukunft retten2). Im Gegensatz zu den „Verrätern“, „Stalinisten“, ist das Ziel der permanenten Revolution die Revolutionierung der ganzen Welt. Daß es in Rußland überhaupt nicht zur Herrschaft der Bourgeoisie gekommen sei, beruhe auf der Tatsache, daß diese inzwischen sowieso in aller Welt hinfällig wurde, während die Bourgeoisie am Ende des 18. Jahrhunderts den Fortschritt vertreten habe. Die Frage drängt sich allerdings auf, ob durch den Vergleich der bolschewistischen Revolution mit der französischen jene wirklich noch zu fassen ist. Ist sie nicht inzwischen etwas ganz anderes geworden, hat sie sich nicht schon längst als etwas ganz anderes decouvriert, das sich den marxistischen Kategorien entzieht? Sind die Grenzen der Analogie nicht schon lange sichtbar geworden? Das führt noch zu einer weiteren Beobachtung von allgemeinerer Bedeutung. Es kommt der Tag, an dem die Bewegung der Masken nicht mehr bedarf, d. h. der Vor¬ bilder, an dem sichtbar wird, daß sie etwas Eigenes, Selbständiges gewor¬ den ist, eigene historische Bedeutung gewonnen hat, selbst Vorbild geworden ist. In diesem Sinne hat Marx einmal das Verhältnis der fran¬ zösischen Revolutionäre zum römischen Republikanertum beschrieben. „Die neue Gesellschaftsformation einmal hergestellt“, heißt es im „18. Brumaire“, „verschwanden die vorsintflutlichen Kolosse und mit ihnen das wiederauferstandene Römertum. Die bürgerliche Gesellschaft b Trotzki, Stalin, S. 514. 2) The revolution betrayed S. 273 ff.

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Richard Nürnberger, Französische Revolution

in ihrer nüchternen Wirklichkeit hatte sich ihre wahren Dolmetscher und Sprachführer erzeugt.“1) Das gilt letzten Endes auch für das Verhältnis der bolschewistischen zur Französischen Revolution. Indem diese ihre Vorbildlichkeit verliert, wird ihre Bedeutung auf ihre Stellung in der Vorgeschichte der sozialisti¬ schen Revolution beschränkt. Die Historisierung geht wie überall mit dem Verlust der Vorbildlichkeit Hand in Hand2). Die kapitalistische Welt habe ihre hohen Ideale in der Epoche der Französischen Revolution gehabt, so erklärte Mikojan auf dem XX. Parteitag der KPdSU, sie bringe aber an ihrem Lebensabend keine fortschrittlichen Ideen mehr hervor. Die Ideale seien überholt und neue, auf den Fortschritt der Menschheit orientierte, habe die kapitalistische Gesellschaft nicht und könne sie nicht haben, denn sie sei eine absterbende Ordnung, sie befinde sich bereits im Troß der Geschichte3). Ein ganz neuer Horizont scheint sich zu eröffnen, seit auf dem letzten Parteitag die Vorbildlichkeit der revolutionären Entwicklung in Rußland, genauer noch: der russischen Revolution von dem ZK in Moskau selbst aufgegeben worden ist, nachdem Stalin sie noch im Herbst 1952 beson¬ ders nachdrücklich betont hatte. Es kann aber gar kein Zweifel sein, daß die taktische Elastizität, die jetzt eingeräumt wird, im Zusammenhang mit, der revolutionären Gesamtentwicklung gesehen werden muß. Es ist heute noch eine offene, wenn auch viel diskutierte Frage, ob Sowjet¬ rußland auf die Dauer seine Vorrangstellung in der kommunistischen Welt in der bisherigen Weise behalten wird; ein Wandel würde ver¬ mutlich auch für das revolutionäre Selbstverständnis nicht voraus¬ zusehende Folgen mit ganz neuen Aspekten haben. x) Der 18. Brumaire, 1946, S. 10. 2) Vgl. dazu die sehr kritischen und klugen Bemerkungen Lenins aus dem Früh¬ jahr (April/Mai) 1920 über die internationale Bedeutung der russischen Revolution in „Der ,Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, Berlin 1946, S. 5/6 (SW 25): „Im gegebenen historischen Zeitpunkt liegen die Dinge nun einmal so, daß das russische Vorbild allen Ländern etwas, und zwar etwas überaus Wesent¬ liches aus ihrer unvermeidlichen und nicht fernen Zukunft offenbart.“ 3) Diskussionsreden auf dem XX. Parteitag der KPdSU, Berlin 1956, S. 99. Vgl. dazu aber auch W. Leonhard, Die Revolution entläßt ihre Kinder, 1955, S. 45: Studium der Jakobinerdiktatur zur Zeit der „Säuberungen“: „Das ist ein ganz gefährliches Buch, das Du da bringst: hat nicht gerade die Jakobinerdiktatur durch die Prozesse und den revolutionären Terror ihre Basis eingeschränkt und damit letzten Endes, gewollt oder ungewollt, zum Sieg der Konterrevolution beigetragen ? ... Abends gingen mein Freund und ich am Moskwaufer spazieren und diskutierten eifrig über die Probleme der Französischen Revolution.“

Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von Marx und Engels1 von THILO RAMM

I. Es gehört zu den verblüffendsten Phänomen, daß in der umfangreichen Literatur über den Marxismus eine systematische Untersuchung darüber fehlt, welche Vorstellungen Marx und Engels über die künftige Gesell¬ schaftsordnung nach Durchführung der siegreichen Kevolution des i) jm Text werden folgende Abkürzungen zur Kennzeichnung der Schriften und Ausgaben von Marx und Engels verwandt: AD Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissen¬ schaft (Anti-Dühring), Berlin 1953 (Bücherei des MarxismusAW I, II I—IV QB

Leninismus, Bd. 3). Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften, 2 Bde., Berlin 1953. Karl Marx / Friedrich Engels, Briefwechsel, 4 Bde., Berlin 1950. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen

Ökonomie

(Rohentwurf 1857/58), Berlin 1953 (fotomechanischer Nachdruck der Moskauer Ausgabe von 1939 u. 1941). GS

I, II

KÖS

Karl Marx und Friedrich Engels, Gesammelte Schriften 1852—1862, hrsg. v. D. Rjazanov, 2 Bde. Stuttgart 1917. Karl Marx und Friedrich Engels, Kleine ökonomische Schriften. Ein Sammelband, Berlin 1955 (Bücherei des Marxismus-Leninismus,

Bd. 42). MEGA I_VII Karl Marx und Friedrich Engels, Historisch-Kritische Gesamt¬ ausgabe, Erste Abteilung. Im Auftrag des Marx-Engels-Instituts Moskau, hrsg. v. D. Rjazanov, später v. V. Adoratskij, Frankfurt am Main, ab Bd. 2 Berlin, 1927 ff. Schriften, die sowohl in den Ausgewählten Schriften (AW) als auch in der MarxEngels-Ausgabe (MEGA) erschienen sind, werden nach den Ausgewählten Schriften zitiert. Die Zitate aus dem „Elend der Philosophie“ erfolgen nach der Übersetzung von E. Bernstein und K. Kautsky, Berlin 1947.

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Thilo Ramm

Proletariats hatten1). Dem unbefangenen Betrachter scheint, daß jede ernsthafte politische Würdigung einer Theorie, die Weltgeschichte ge¬ macht hat, mit der Frage einsetzen müßte, was ihre Begründer an die Stelle der von ihnen so heftig angegriffenen liberalen Ordnung eigentlich setzen wollten. Und auch der Streit um die wahren Erben dieser Theorie, der zu so erbitterten Diadochenkämpfen geführt hat — angefangen von den Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie um den Revisionismus über Leninismus und Stalinismus bis zum Titoismus •—5

entbehrt ohne die Antwort auf eine solche Frage zumindest einer

Dimension. Fügt man dazu das Interesse der ideengeschichtlichen Forschung, tiefer in die Gedankenwelt beider Denker einzudringen und sie besser als bisher in die Entwicklungsgeschichte des Sozialismus einzu¬ ordnen, so bestehen Gründe genug, eine solche Untersuchung vorzu¬ nehmen. Die so umrissene Aufgabe begegnet erheblichen methodischen Schwie¬ rigkeiten. Marx und Engels haben an keiner Stelle ein geschlossenes Bild der künftigen Ordnung entworfen, und es wird später noch zu klären sein, weshalb sie dies unterlassen haben. Ihre Auffassung muß deshalb aus zahlreichen Einzeläußerungen der verschiedensten Lebensabschnitte re¬ konstruiert werden, und damit wird die Grundfrage jeder Marx- und Engels-Interpretation berührt, ob man von einer Kontinuität ihres Denkens sprechen kann. — Doch bliebe das so gewonnene Bild auch dann dürftig genug, wenn es nicht durch die Kritik von Marx und Engels und ihre Analyse der von ihnen Vorgefundenen Gesellschaftsordnung sowie durch die von ihnen vorgeschlagenen Übergangsmittel indirekt ergänzt werden könnte. Kritik und Analyse zeigen, welche Elemente der liberalen Ordnung verworfen und welche von ihnen auch in die neue Gesellschaft übergehen werden

ist doch nach jeder Entwicklungsphilosophie und

somit auch nach der materialistischen Geschichtsauffassung in der Gegenwart der Keim der Zukunft enthalten. Bei diesem Verfahren ist J) Eine wichtige Vorarbeit in dieser Richtung bildet die Arbeit von Ralf Dahrendorf, „Marx in Perspektive. Die Idee des Gerechten im Denken von Karl Marx“, Hannover 1952, die aus der Hamburger phil. Dissertation des Verf. hervor¬ gegangen ist. Sie führt den Nachweis, daß die kommunistische Ordnung nach der Vorstellung von Marx „absolut“ und „total“ gerecht, also die endgültige Ordnung der Menschheit überhaupt sei. Die vorliegende Untersuchung will hingegen den Versuch unternehmen, das Bild der Ordnung selbst möglichst konkret nachzu¬ zeichnen. Dabei konnte die allerdings nicht vollständige Sammlung der Äußerungen von Marx über die kommunistische Gesellschaft (Dahrendorf, S. 167ff.) dankbar benutzt werden.

Die künftige Gesellschaftsordnung

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freilich höchste Vorsicht geboten, und dies gilt auch für die Verwertung der Übergangsmittel, denn diesen haftet noch eine Zwiespältigkeit an: Sie sind ebenso von der alten, vorrevolutionären Situation geprägt, wie sie auch die Elemente der neuen Ordnung in sich tragen. Begonnen werden soll mit der Darstellung der Konzeption von Marx, es folgt dann die entsprechende Untersuchung bei Engels1). Anschließend soll das Verhältnis ihrer Ordnungsvorstellung zur Theorie ihrer Vorläufer, der „Utopisten“ Saint-Simon, Fourier und Owen, umxissen werden. Die Zusammenfassung der Ergebnisse und ein erster Versuch ihrer Auswer¬ tung bilden den Abschluß dieser Arbeit. Der Hauptzweck der Untersuchung, eine genaue und zuverlässige Darstellung des Bildes der künftigen Gesellschaft bei Marx und Engels zu geben, bedingte auch die Art der Darstellung. Beide Denker mußten in möglichst großem Umfange selbst zu Worte kommen, während der Verfasser als Interpret zurückzutreten hatte.

II. 1. Als Ausgangspunkt der Untersuchung der Theorie von Marx sollen einige Sätze aus dem „Kommunistischen Manifest“ dienen: „Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Gewalt im eigent¬ lichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern.“ (AW I, S. 43.)

An dieser Stelle erwähnt Marx einen konkreten Unterschied zwischen der von Klassengegensätzen beherrschten Staats- und Gesellschafts¬ ordnung der Vergangenheit und der klassenlosen Gesellschaft der Zu¬ kunft, jener „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (a. a. O.)2). Die Funktion 1) Eine solche Trennung empfiehlt sich deshalb, weil das theoretische Verhältnis von Marx und Engels sehr umstritten ist und sachliche Abweichungen behauptet werden; in jüngster Zeit wird Engels insbesondere die Vulgarisierung der Marxschen Theorie vorgeworfen. 2) Vgl. hierzu auch die Stelle aus dem „Elend der Philosophie“, S. 188, die offen¬ sichtlich als Vorlage diente: „Die arbeitende Klasse wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassen¬ gegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.“

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Thilo Ramm

des bisherigen Staates der Sicherung von Klassenvorteilen und der Niederhaltung der unterdrückten Klasse entfällt, und es erhebt sich die Frage, welche Konsequenzen dies für die Struktur des Staates überhaupt hat. Versucht man, den Unterschied von politischer und öffentlicher Gewalt konkreter zu fassen, so zeigt sich im Lebenswerk von Marx, angefangen von seiner „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“ und den Artikeln der „Rheinischen Zeitung“ bis zum „Bürgerkrieg in Frankreich“ und zur „Kritik des Gothaer Programms“, eine interessante und bedeutsame Kontinuität: der Kampf gegen die Bürokratie. Mit schneidender Schärfe hat der junge Marx sie angegriffen. In seinen Anmerkungen zum Ab¬ schnitt „Regierungsgewalt“ in Hegels Rechtsphilosophie zeichnet er sie als „Korporation des Staates“. Sie hat das „Staatswesen in ihrem Besitz, es ist ihr Eigentum“, und dies führt dazu, daß der Staatszweck zum Privatzweck, „zu einem Machen von Karriere“ wird. Weiterhin wirft Marx der Bürokratie vor, sich nach außen abzuschließen: „Der allgemeine Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst durch bewahrt.“

die Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation

Die Legitimation einer solchen Trennung von Beamten und Bürgern durch das Examen zerpflückt er unbarmherzig: „In einem vernünftigen Staat gehört eher ein Examen dazu, Schuster zu werden als exekutiver Staatsbeamter, denn die Schusterei ist eine Fertigkeit, ohne die man ein guter Staatsbeamter, Staatsbürger, ein sozialer Mensch sein kann, aber das nötige Staatswissen ist eine Bedingung, ohne die man im Staat außer dem Staat lebt, von sich selbst, von der Luft abgeschnitten ist. Das Examen ist nichts als eine Freimaurerformel, die gesetzliche Anerkennung des staatsbürgerlichen Wissens als eines Privilegiums.“

Diese Kritik gipfelt darin, die praktische Nutzlosigkeit der bürokrati¬ schen Geschäftigkeit zu erweisen: „Die Bürokratie ist ein Kreis, aus dem niemand herausspringen kann, ihre Hierarchie ist eine Hierarchie des Wissens, die Spitze traut den unteren Kreisen die Einsicht ins Einzelne zu, wogegen die unteren Kreise der Spitze die Einsicht ins Allgemeine Zutrauen, und so täuschen sie sich wechselseitig.“ (MEGA I, I, S. 455 ff.)

Derselbe Vorwurf, nicht das wirkliche Leben mit seinen Problemen bewältigen zu können, findet sich auch, ganz konkret zugespitzt, in einem Artikel der Rheinischen Zeitung1). Marx hatte in der Zeit, als er diesen Angriff gegen die Bürokratie formulierte, noch nicht die materialistische Geschichtsauffassung ausx) Rechtfertigung des Korrespondenten an der Mosel MEGA I, 1. 367 f.

Die künftige Gesellschaftsordnung

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gebildet. Aber auch dann blieb er seiner Auffassung treu. Einige Jahre später, in der „Deutschen Ideologie“, erweiterte er das Thema und begriff es nunmehr als Verselbständigung der Staatsmacht. Während der Epoche der absoluten Monarchie habe die besondere Sphäre, welcher durch die Teilung der Arbeit die Verwaltung der öffentlichen Interessen zugefallen sei, eine „abnorme Unabhängigkeit“ erhalten, die in der modernen Bürokratie noch weitergetrieben sei. Diese Konstituierung des Staates zu einer scheinbar selbständigen Macht sei für andere Länder nur vorübergehend, nur eine Übergangsstufe gewesen, während sie in Deutschland bis jetzt beibehalten worden sei (MEGA V, S. 176/77). Sieben Jahre später, in seiner Schrift „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“, fällt die Begrenzung auf Deutschland weg. Marx sieht nunmehr die Entwicklung der Exekutivgewalt „mit ihrer ungeheuren bürokratischen und militärischen Organisation, mit ihrer weitschichtigen und künstlichen Staatsmaschinerie“, jenes „fürchterlichen Parasiten¬ körpers“, wie er sie nennt, als allgemeines Phänomen der modernen Geschichte an. An der stärkeren Ausbildung der Exekutivgewalt sind alle beteiligt gewesen, so in Frankreich: die Revolution, Napoleon I., die Bourbonen nach ihrer Restauration, die Juli-Monarchie und endlich die parlamentarische Republik in ihrem Kampf gegen die Revolution. „Alle Umwälzungen vervoll komm rieten diese Maschinerie statt sie zu brechen. Die Parteien, die abwechselnd um die Herrschaft rangen, betrachteten die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudes als die Hauptbeute des Siegers.“ Und nun fällt das entscheidende Wort, daß die künftige Revolution alle ihre Kräfte der Zerstörung gegen die Exe¬ kutivgewalt konzentrieren werde (AWI, S. 307). Diese Äußerung stammt aus dem Jahr 1852, als der Staatsstreich Napoleons III. die Hoffnung auf eine Wiederbelebung der revolutionären Strömung von 1848 zunichte gemacht hatte. Fast zwanzig Jahre später greift Marx sie auf, um die Verbindung von dem von der Öffentlichkeit längst vergessenen 48er Kommunismus zur Erhebung der Pariser Kommune herzustellen, jenem Aufstand von Parisern Arbeitern nach Abschluß des deutsch-französi¬ schen Waffenstillstandes1), der keineswegs etwas mit dem Marxismus zu tun hatte, sondern im Gegenteil von Anhängern des großen Gegenspielers von Marx, von Pierre-Joseph Proudhon, und von Anhängern des alten Putschisten Auguste Blanqui ausgegangen war.

i) In seinem Brief an Kugelmann vom 12. April 1871, AW II, S. 435, bezeichnet Marx seine frühere Äußerung als Vorwegnahme der Ideen der Pariser Kommune. Marxismusstudien II

6

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Thilo Ramm

Das von Marx eindeutig bejahte Anliegen der Pariser Kommune ist die Zerschlagung der „zentralisierten Staatsmacht mit ihren allgegenwärtigen Organen: stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit und Richter¬ stand“ (Bürgerkrieg, AW I, S. 488) oder, wie Marx auch bezeichnender¬ weise in Anknüpfung an seine früheren Gedankengänge sagt, „das Zerbrechen der bürokratisch-militärischen Maschinerie“ (Brief an Kugel¬ mann a. a. 0., S. 435). An die Stelle des stehenden Heeres tritt das bewaffnete Volk. Die Polizei wird entpolitisiert, vor allem aber wird jede funktionale Selbständigkeit der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt beseitigt. Abgeordnete, Beamte und Richter werden unterschiedlos wählbare, V olksbeauftragt e.

verantwortliche und

jederzeit

absetzbare

Diese Angaben im „Bürgerkrieg in Frankreich“, jener Schrift, in der Marx die Adressen des Generalrats der Kommunistischen Internationale an die Pariser Kommune zusammenfaßte, können dazu benutzt werden, um die Unterscheidung von öffentlicher und politischer Gewalt zu ver¬ tiefen. Die Beseitigung des Klassenstaates bedeutet für Marx auch die Zerschlagung eines verselbständigten und eigenständigen Staatsapparates, dessen Kern im Bereich der vollziehenden und richterlichen Gewalt das Sonderrecht des Beamten mit allen seinen spezifischen Sicherungen dar¬ stellt. Die künftige Ordnung versucht demgegenüber dem Prinzip der Volkssouveränität einen ganz konkreten Inhalt durch die unterschiedslose Wählbarkeit, die Verantwortlichkeit mid die jederzeitige Abberufbarkeit der Staatsdiener zu geben. In diesem Wesensunterschied zwischen bestehender und künftiger Ordnung liegt eine erste bedeutsame Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von politischer und öffentlicher Gewalt. Aber der Unterschied reicht noch tiefer in den staatlichen Auf bau hinein, wie sich aus weiteren Ausführungen von Marx im „Bürgerkrieg in Frankreich“ ergibt. Noch im Manifest erschien Marx die politische Zentralisation als historisches Ergebnis der Tätigkeit der Bourgeoisie unproblematisch (AW I, S. 28). Und im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ meinte er, die moderne Gesellschaft bedürfe der staatlichen Zentralisation (AW I, S. 314). Im „Bürgerkrieg in Frankreich“ hingegen bejaht er die Kommu¬ nalverfassung, die der Gesellschaft alle Kräfte zurückgebe, die bisher der „Schmarotzerauswuchs Staat“ aufgezehrt habe (AW I, S. 493). Auch sie gehört zur Formel des Zerbrechens der Staatsmaschinerie. Aber zur Würdigung dieses Novums muß beachtet werden, daß es für eine Nation bejaht wurde, die die geschichtliche Entwicklung bereits zu einer sehr

Die künftige Gesellschaftsordnung

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weitgehenden Homogenität geführt hatte. Die Kommunalverfassung bedeutet somit für Marx keineswegs die Anerkennung ursprünglicher Verschiedenheit oder eines föderalistischen Systems. Insofern konnte er mit Recht schreiben: „Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung.“

Außerdem sollten aber auch „wenige, aber wichtige Funktionen“ für eine Zentralregierung übrigbleiben (AW I, S.439), und damit ergibt sich eine weitere Brücke zur alten Auffassung. Um welche Funktionen es sich dabei handelt, erwähnt Marx allerdings nicht, und insofern kann erst die Betrachtung sämthcher Staatsaufgaben in der künftigen Ord¬ nung die Frage klären, welche tatsächhche Bedeutung jenes Bekenntnis von Marx zur Kommunalverfassung hat. Eine solche Betrachtung führt aber wiederum tiefer in die Ausgangsproblematik des Unterschiedes von öffentlicher und politischer Gewalt ein. Auf die Frage nach einem inhaltlichen Unterschied zwischen öffent¬ licher und politischer Gewalt als einem Unterschied in den Auf¬ gaben weist Marx selbst hin, wenn er im „Bürgerkrieg in Frankreich“ davon spricht, daß die „berechtigten Funktionen“ der alten Staatsmacht den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden sollen (AW I, S. 492). Noch klarer heißt es in der „Kritik des Gothaer Programms“, die Frage, welche „gesellschaftlichen Funktionen, die den jetzigen Staatsfunktionen analog sind, in einer kommunistischen Gesell¬ schaft übrigbleiben“, sei nur wissenschaftlich zu beantworten (AW II, S. 24). Da Marx sie unbeantwortet gelassen hat, muß die Antwort aus seinen Schriften zu entwickeln gesucht werden. Dabei ist von dem bürgerlich-liberalen Staat auszugehen, wie ihn Marx vor Augen hatte1). Zu dieser Zeit waren die Aufgaben des Staates auf ein Minimum beschnitten. Es gab keine staatliche Sozialpolitik, die wirt¬ schaftliche Macht war ganz in den Händen des Einzelnen, und selbst die Erziehungsaufgabe wurde dem Staat vom Liberalismus streitig gemacht. Seine Verwaltungstätigkeit beschränkte sich auf ein Mindestmaß. Als die eigentlichen Staatsfunktionen erschienen Wilhelm von Humboldt, der i) Die deutschen Verhältnisse, denen zunächst die scharfe Kritik des jungen Marx galt, bilden nur das Vorstadium für die Entwicklung zum bürgerlich-liberalen Staat. Vor der proletarischen Revolution steht daher in Deutschland noch die bürgerliche (vgl. etwa Manifest, AW I, S. 54). Die Erörterung dieses für die Beurteilung des Revolutionärs Marx wichtigen Problemkreises gehört systematisch zur Revolutions¬ theorie und fällt damit aus dem Rahmen dieser Arbeit. 6*

84

Thilo Ramm

mit seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ der konsequenteste Verfechter der liberalen Theorie gewesen ist, allein die Garantien der Sicherheit der Bürger durch Abwehr äußerer Angriffe und die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung. Die Bedeutung dieser Grundfunktionen des liberalen Staates in der zukünftigen Gesellschaft gilt es nun zu untersuchen. Dabei läßt sich die Frage, wie weit die erste Funktion in der künftigen Ordnung eine Rolle spielt, relativ einfach beantworten. Nach der Erwartung des „Kommunistischen Manifests“ trägt die Revolution des Proletariats internationalen Charakter.

Die „vereinigte Aktion, wenigstens

der

zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung“, Die Ausbeutung einer Nation durch die andere, die allein auf den Klassen¬ gegensatz zurückgeführt wird, verschwindet. „Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“ Die soziale Homogenität, die schon während der Herr¬ schaft der Bourgeoisie durch das Verschwinden nationaler Absonderung und Gegensätze „mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleich¬ förmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse“ vorbereitet worden ist (AW I, S. 40), ist die Garantie des Friedens. Im „Bürgerkrieg in Frankreich“ formuliert Marx diesen Gedanken noch schärfer. Er setzt der alten Gesellschaft mit ihrem „politischen Wahnwitz“ das Bild einer neuen entgegen, „deren inter¬ nationales Prinzip der Friede sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht — die Arbeit“ (AW I, S. 462). Wie sich Marx die Bezie¬ hungen der kommunistischen Nationen untereinander vorgestellt hat, ob er an übernationale Einrichtungen oder endlich, mit fortschreitender Beseitigung der nationalen Besonderheiten, an einen Weltstaat gedacht hat, läßt sich seinen Schriften nicht entnehmen. Auch das Verhältnis zu den unterentwickelten Völkern bleibt unerörtert, wenngleich sich hierfür Schlüsse aus den Slawenartikeln in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ ziehen lassen, in denen Marx auf Grund der Hegelschen Theorie der welt¬ historischen Völker die Gewaltanwendung prinzipiell bejaht1). Aber b Zu diesem systematisch ebenfalls zur Revolutionstheorie gehörigen Thema vgl. auch die Äußerung von Engels in seinem Brief an Bernstein v. 22. Februar 1882, in: „Die Briefe von Fr. Engels an Eduard Bernstein“, hrsg. v. E. Bernstein, Berlin 1925, S. 57 f. Dort hält er, allerdings in abgeschwächter Form, an den früheren Gedanken über die welthistorischen Völker fest und sieht in der Existenz der kroatischen

und

montenegrinischen

„Naturvölker“

mitten

in

Europa

einen

Anachronismus. Interessanterweise hat auch Ferdinand Lassalle die Hegelsche Vorstellung übernommen, bei ihm erhält sie sogar eine sehr viel stärkere Bedeutung

85

Die künftige Gesellschaftsordnung

diese gilt allenfalls für das Übergangsstadium* 1); das Endstadium, die endgültige Ordnung, ist nach Marx’ Ansicht jedenfalls eine Friedens¬ ordnung. Damit entfällt aber die Schutzfunktion des Staates nach außen. Die Sicherheit nach innen hat Marx in seiner Streitschrift „Die Heilige Familie“ gestreift, als er sich mit der Hegelschen Straftheorie befaßte, jenem „spekulativen Schönheitspflästerchen des alten ius talionis“, wie er sie nennt. Seine Kritik gipfelt darin, daß „eine Straftheorie, welche zugleich im Verbrecher den Menschen anerkennt, dies nur in der Abstrak¬ tion, in der Einbildung tun“ kann, „eben weil die Strafe, der Zwang, dem menschlichen Verhalten widersprechen“. Dieser zwiespältigen Theorie setzt er als eigene Auffassung entgegen: „Unter menschlichen Verhältnissen wird die Strafe wirklich nichts anderes sein als das Urteil des Fehlenden über sich selbst. Man wird ihn nicht überreden wollen, daß eine äußere, ihm von andern angetane Gewalt eine Gewalt sei, die er sich selbst angetan habe. In den andern Menschen wird er vielmehr die natürlichen Erlöser von der Strafe finden, die er über sich selbst verhängt hat, d. h„ das Verhältnis wird sich geradezu verkehren.“ (MEGA III, S. 356/57.)

Marx spricht sich somit eindeutig nicht allein für die Aufhebung der Strafe, sondern, durch ihre Gleichsetzung mit dem Zwang, auch für dessen Abschaffung in der künftigen Ordnung aus. Denn jene „mensch¬ lichen Verhältnisse“ sind,

wie

die Pariser Manuskripte

mit

aller

Deutlichkeit zeigen, die Wirklichkeit der künftigen Ordnung. Zwischen diesen Manuskripten und jener Stelle aus der „Heiligen Famihe

besteht

ein unmittelbarer Zusammenhang. Wenn in ihnen die Aufhebung des Privateigentums als die „vollständige Emanzipation der menschlichen Sinne und Eigenschaften“ bezeichnet oder wenn davon gesprochen wird, daß die Gesellschaft „den Menschen in diesem ganzen Reichtum seines

für die Entwicklung zur künftigen Ordnung (vgl. dazu Ramm, „Ferdinand Lassalle als Rechts- und Sozialphilosoph“, Meisenheim 1956, 2. Aufl., S. 88 ff., bes. S. 97f.). i) Die Unterscheidung zwischen Übergangsstadium und Endstadium, die für die Gruppierung revolutionärer Denker von wesentlicher Bedeutung ist (vgl. Ramm, „Die großen Sozialisten als Rechts- und Sozialphilosophen“, Bd. I, Stuttgart 1955, S. 26f.), erweist sich bei Marx insofern als schwierig, als die proletarische Revolution zwar einen grundlegenden Einschnitt bringt, die endgültige Ordnung aber erst allmählich herbeigeführt wird. (Vgl. hierzu auch S. 100f.) Andererseits ist aber auch kraft der geschichtlichen Entwicklung die Gesellschaft in einem Übergang zur künftigen Ordnung begriffen. Die proletarische Revolution trennt also nur den von dem Menschen bewußt herbeigeführten Übergang von dem sich bis dahin unbewußt vollziehenden Prozeß ab.

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Wesens, den reichen und tief-allsinnigen Menschen als ihre steteWirklich¬ keit“ produziert (MEGA III, S. 118,121), dann erhält dieses auch in den Spätschriften festgehaltene1) Zukunftsbild seine Konkretheit erst durch die Beseitigung des Zwanges, der als solcher menschlichem Verhalten widerspricht. Es ist die Zukunftserwartung, die Marx aus seiner ersten Kenntnis der französischen Arbeiterverbindungen gewonnen hat, von denen er begeistert schreibt: „Die Brüderlichkeit ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen“ (MEGA III, S. 135).2)

Das Ergebnis scheint demgemäß ganz eindeutig zu sein. Die Unter¬ scheidung zwischen politischer und öffentlicher Gewalt läge demnach inhaltlich in der Abschaffung jeden Zwangs oder, wie sich auch sagen ließe, der Klassenstaat ist ganz allgemein Unterdrückung und Zwang, die Zukunftsgesellschaft hingegen die totale Freiheit. Von hier aus erschiene Marx als Anarchist, als Vertreter einer natürlichen, sich selbst regulierenden Gesellschaftsordnung ohne Zwang. Die Dinge hegen jedoch keineswegs so einfach, da die Frage nicht umgangen werden kann, ob Marx die Ansicht, die er als 26jähriger 1844 vertrat, auch später bei¬ behalten hat. So hat er sich über die künftige Beseitigung des Zwanges viel zurückhaltender geäußert, wie etwa seine Äußerung in einem Artikel von 1853 über die Todesstrafe zeigt: „Eigentlich ist Strafe nichts anderes als ein Verteidigungsmittel der Gesellschaft gegen irgendeine Verletzung ihrer Lebensbedingungen. Was für eine erbärmliche Gesellschaft ist das, die kein besseres Verteidigungsmittel kennt als den Scharf¬ richter.“3)

Aber diese Äußerung klingt weitaus nüchterner und realistischer. Sie wendet sich direkt nur gegen die Todesstrafe als der problematischsten Strafart, und man könnte aus ihr fast eine Legitimation der Strafe als Verteidigung der Gesellschaft ablesen. Ursache dieser Nüchternheit scheint nun nicht allein ein äußeres Moment, die Rücksichtnahme auf die x) So spricht Marx noch in der „Kritik des Gothaer Programms“ (AW II, S. 17) von der abseitigen Entwicklung der Individuen. 2) Daß dies keineswegs eine momentane oder nicht für die Öffentlichkeit gedachte Äußerung war, zeigt die Wiederholung in der „Heiligen Familie“ (MEGA III, S. 256): „Man muß das Studium, die Wißbegierde, die sittliche Energie, den rast¬ losen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennengelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können.“ 3) New York Daily Tribüne vom 28. Januar 1853, GS I, S. 80/81.

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Mentalität der amerikanischen Zeitungsleser, gewesen zu sein. Schon in der „Deutschen Ideologie“, in der allerdings ebenfalls die schließliche Beseitigung der politischen Einrichtungen durch die kommunistische Revolution erwähnt wird (MEGA Y, S. 359), ist der Überschwang der Pariser Manuskripte nicht mehr spürbar, als Marx nach dem Menschen der künftigen Ordnung fragt. Sehr vorsichtig und zurückhaltend unter¬ scheidet er konstante Begierden, „welche unter allen Verhältnissen existieren und nur der Form und Richtung nach von verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen verändert werden“, und relative Be¬ gierden, „die ihren Ursprung nur einer bestimmten Gesellschaftsform, bestimmten Produktions- und Verkehrsbedingungen verdanken“. Die ersten werden auch in der kommunistischen Organisation nur ver¬ ändert, indem ihnen die Mittel zur normalen Entwicklung gegeben werden, die andern werden ganz und gar ihrer Lebensbedingungen beraubt. „Welche Begierden nun unter der kommunistischen Organisation bloß verändert und welche aufgelöst werden sollen, läßt sich nur auf praktische Weise, durch Ver¬ änderung der wirklichen praktischen Begierden, nicht durch historische Verglei¬ chungen mit früheren geschichtlichen Verhältnissen entscheiden.“1) (MEGA V, S. 596.)

Dies ist nicht mehr eine unbedingte Aussage, sondern nur noch eine Fragestellung. Im „Elend der Philosophie“ und im „Kommunistischen Manifest“ endlich wird von der „eigentlichen“ politischen Gewalt gesprochen und damit der Unterschied zur öffentlichen Gewalt der künf¬ tigen Ordnung relativiert. In dieselbe Richtung geht die Frage nach den berechtigten Funktionen der alten Staatsgewalt, und endlich könnte, dem Wortsinne entsprechend, die Verwendung des Begriffes Gewalt auf die Bei¬ behaltung des Zwanges hinweisen. — Vergleicht man diese Einzeläuße¬ rungen miteinander, so erscheinen sie unvereinbar zu sein, und dies würde auf einen Bruch in der Entwicklung der Marxschen Theorie deuten. Ein solcher Nachweis wäre aber von entscheidender Bedeutung für die Marx]) Als Beispiele für „fixe“ Begierden nennt Marx den Geschlechtstrieb oder das Bedürfnis zu essen. Er fährt dann fort: „Die Kommunisten denken auch gar nicht daran, diese Fixität ihrer Begierden und Bedürfnisse aufzuheben ...; sie erstreben nur eine solche Organisation der Produktion und des Verkehrs, die ihnen die normale, d. h. nur durch die Bedürfnisse selbst beschränkte Befriedigung aller Bedürfnisse möglich macht.“ Für die Beurteilung dieser nicht in die Reinschrift aufgenommenen Stelle ist die Frage entscheidend, was sonst noch unter den Begriff „fixe Begierden“ fällt — sie hat Marx ,wie die Textstelle zeigt, offenlassen wollen.

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Forschung. Die Beantwortung dieser schwerwiegenden Frage soll jedoch vorerst zurückgestellt werden. Zuvor ist noch auf eine andere Frage in Zusammenhang mit dem Unterschied zwischen öffentlicher und politischer Gewalt einzugehen. Während bisher nur die künftige Verminderung staatlicher Aufgaben behandelt wurde, erfahren diese auch eine bedeutsame Erweiterung durch die Hauptforderung, auf die Marx nach der materialistischen Geschichtsauffassung seine Revolutionstheorie konzentrieren mußte: die Zentralisation der Produktionsmittel in den Händen des Staates (Mani¬ fest, AW I, S. 42). Ihre Verwirklichung bringt die bedeutsamste Erweite¬ rung der öffentlichen Aufgaben und die entscheidende Strukturverände¬ rung gegenüber der liberalen Ordnung. 2. Zentralisation der Produktionsmittel in den Händen des Staates und Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln sind für Marx ein und dasselbe. In einer Nachlaßschrift ,,On Nationalisation of Land“ hat er sich eindeutig für das nationale Eigentum am Boden aus¬ gesprochen. „Das Land an assoziierte Landarbeiter zu übergeben, würde heißen, die ganze Gesellschaft einer besonderen Klasse von Produzenten auszuliefern“ (KÖS, S. 321). In der „Kritik des Gothaer Programms“ schreibt er, daß es in der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft keinen Austausch der Pro¬ dukte der Produzenten geben werde (AW II, S. 15). An die Stelle des einzelnen Individuums soll somit nicht die Gruppe als Eigentümerin treten, so daß das kapitalistische System nur auf einer höheren Ebene fortexistierte1). Der Bruch mit diesem ist vielmehr vollkommen, wie in der doppelten Veränderung des Eigentumsbegriffes deutlich wird: Mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln verschwindet der liberale Eigentumsbegriff, eine Sache nach Belieben gebrauchen zu dürfen; er wird nicht etwa auf die Gesamtheit übertragen, sondern — als Umschlagen von der Quantität in die Qualität — wesens1) aufschlußreich ist Marx’ Kritik an den „zudringlichen und großmäuligen Aposteln der genossenschaftlichen Produktion“: „Wenn die genossenschaftliche Produktion nicht eitel Schein und Schwindel bleiben, wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Pro¬ duktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigene Leitung nehmen und der beständigen Anarchie und den periodisch wiederkehrenden Kon¬ vulsionen,^ welche das unvermeidliche Schicksal der kapitalistischen Produktion sind, ein Ende machen soll — was wäre das andres, meine Herren, als der Kommu¬ nismus, der ,mögliche1 Kommunismus?“ (Bürgerkrieg, AW I, S. 495.) Es gibt also für Marx nur das Entweder-Oder: Kapitalismus oder Kommunismus.

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mäßig verändert, indem eine treuhänderische Beziehung zu den Sachen geschaffen wird: „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familiae den nachfolgenden Genera¬ tionen verbessert zu hinter lassen.“ (Kapital III, S. 826.)

Weiterhin stellt die Aufhebung des Privateigentums an den Produk¬ tionsmitteln — als „Enteignung der Enteigner“ (Bürgerkrieg AW I, S. 495) -— für den Arbeiter das vordem verlorengegangene individuelle Eigentum wieder her1), allerdings nunmehr auf einer höheren Stufe: „auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“ (Kapital I, S. 803/4.)

Der Arbeitnehmer erhält damit erneut eine persönliche Beziehung zur Arbeit, und hiervon verspricht Marx sich das Überflüssigwerden der „Disziplin, die der Kapitalist über die kombinierten Arbeiter ausübt“, wobei er schon jetzt auf deren Fortfall beim Stücklohn hinweist (Kapital III, S. 103). Allerdings bildet dies nicht den einzigen Schutz gegen Unwirtschaftlichkeit — an derselben Stelle verweist Marx auch auf die „Dressur und Bildung der Arbeiter“ und somit auf zwei Faktoren, die in der künftigen Gesellschaft ebenfalls verwandt werden und der öffent¬ lichen Gewalt zugehören. So hatte die „öffentliche und imentgeltliche Erziehung aller Kinder“ schon zu den Forderungen des Manifests gehört (AW I, S. 43, vgl. auch S. 39). Auch in einer letzten Hinsicht enthält die zunächst rein negativ klin¬ gende Formel der Aufhebung des Privateigentums an den Produktions¬ mitteln einen wichtigen Aufschluß. Es entfällt die „Ausbeutung der einen durch die andern“ (Manifest AW I, S. 36), und damit entsteht für jeden die Notwendigkeit zu arbeiten. Der „gleiche Arbeitszwang für alle“, den das Manifest noch als besonderes Mittel erwähnt (AW I, S. 42), ist damit institutionell gewährleistet. Oder, positiv ausgedrückt: „Einmal die Ar¬ beit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf eine Klasseneigenschaft zu sein.“ (Bürgerkrieg AW I, S. 494.)

!) Vgl. hierzu Manifest, AW I, S. 38: „Ihr entsetzt euch darüber, daß wir das Privateigentum aufheben wollen. Aber in eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben; es existiert gerade dadurch, daß es für neun Zehntel nicht existiert.“

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3. Positiv bedeutet die Aufhebung des Privateigentums an den Pro¬ duktionsmitteln die Ermöglichung der planmäßigen vorherbestimmenden Kontrolle der Gesellschaft über die Produktion (Kapital III, S. 213 und I, S. 25). Als Auswirkungen einer solchen zentralen Produktionslenkung verspricht sich Marx die Beseitigung der Anarchie, die die Ursache der periodischen Wirtschaftskrisen bildet. Dies ist der Sinn seiner Worte: „den Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihr als einer blinden Macht beherrscht zu werden.“ (Kapital III, S. 874.)

Die Lenkung tritt an Stelle der bisher von dem Verhältnis Angebot und Nachfrage bestimmten Wirtschaftsordnung. In einer knappen Be¬ merkung im „Elend der Philosophie“ weist Marx darauf hin, daß die richtige Proportion zwischen Angebot und Nachfrage nur in solchen Zeiten mögüch gewesen sei, als die Produktionsmittel beschränkt waren und der Austausch sich in außerordentlich engen Grenzen vollzog. Jetzt gilt dies nicht mehr. „Schon durch die Instrumente, über welche sie verfügte, gezwungen, in ständig größerem Maße zu produzieren, kann die Großindustrie nicht die Nachfrage abwarten. Die Produktion geht der Konsumtion voraus, das Angebot erzwingt die Nachfrage“ (a. a. 0., S. 87).

Mit dieser Umkehrung steht in engem Zusammenhang, daß die kapi¬ talistische Überproduktion auch in der künftigen Ordnung beibehalten wird, wobei sie als „relative Überproduktion“ einen neuen Sinn und eine unschädliche Richtung erhält. Sie wird zu einer Vorausproduktion, die naturgegebene — etwa durch Schwankungen der Sterblichkeits- oder Geburtenziffer — Konsumschwankungen auszugleichen vermag (Kapital II, S. 473). Nur in Zusammenhang mit dem Versprechen möglichst rascher Ver¬ mehrung der Produktionskräfte (Manifest AW I, S. 42) scheint zunächst die kurze Bemerkung im Kapital zu stehen, daß die Maschine in einer kommunistischen Gesellschaft einen ganz anderen Spielraum habe als in der bürgerlichen (I, S. 411, Anm. 116a). Ihre Bedeutung reicht jedoch viel tiefer. Die Weiterentwicklung der Maschine gehört zu den unmittel¬ barsten Anliegen von Marx, denn sie bietet den ökonomischen Hebel zur Überwindung der alten Arbeitsteilung. Im Anschluß an seitenlange Zitate aus Andreiv Ure’s „Philosophie der Manufaktur oder industrielle Ökonomie“ schreibt Marx im „Elend der Philosophie“: „Was die Teilung der Arbeit in der mechanischen Fabrik kennzeichnet, ist, daß sie jeden Spezialcharakter verloren hat. Aber von dem Augenblick an, wo jede

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besondere Entwicklung aufhört, macht sich das Bedürfnis nach Universalität, das Bestreben nach einer allseitigen Entwicklung des Individuums fühlbar. Die auto¬ matische Fabrik beseitigt die Spezialisten und den Fachidiotismus“ (S. 159).

Die Aufhebung der Arbeitsteilung ist für Marx somit schon in der Fabrik durch die Egalisierung der Tätigkeit zur Wirklichkeit geworden. Und damit wird für ihn der Beruf als der bestimmte, ausschließliche Kreis der Tätigkeit, der dem einzelnen aufgedrängt wird und aus dem er nicht heraus kann (Deutsche Ideologie, MEGA V, S. 22), hinfällig. Hier liegt die Erklärung, weshalb erst bei Regelung der allgemeinen Produk¬ tion durch die Gesellschaft in der Gemeinschaft mit anderen die persön¬ liche Freiheit möglich wird (a. a. 0., S. 22 und 64). Persönliche Freiheit ist die Befreiung vom Joch des Berufes1). Auf sie legt Marx den Schwer¬ punkt seines Freiheitsbegriffes und muß dies auch auf Grund des durch die materialistische Geschichtsauffassung begründeten Vorranges des ökonomischen Moments. An dem Gedanken des Fortfalles der alten Teilung der Arbeit (Kapital I, S. 514, vgl. hierzu früher vor allem Deutsche Ideologie, MEGA V, S. 359 und 417) hat Marx bis zuletzt festgehalten und als eine Folgeerscheinung auch das Verschwinden des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit angesehen (Kritik des Gothaer Programms, AW II, S. 17). Er bildet den Mittelpunkt seiner Ordnungsvorstellung wie auch seiner Geschichtsphilosophie, und in ihm liegt die letzte und tiefste Erklärung der Lehre vom Zerbrechen der Staatsmaschinerie. Wie der Staat aus der Teilung der Arbeit als verselbständigte Macht hervorgegangen ist (vgl. Deutsche Ideologie, MEGA V, S. 321, 342, 65), so ist umgekehrt die Aufhebung der Arbeitsteilung mit der Zerschlagung dieses Apparates notwendig verknüpft. Hat die Untersuchung bewiesen, daß die Ab¬ schaffung des Staates für die Zukunft möglich ist, weil seine früheren Funktionen entfallen, so konkretisiert andererseits die Aufhebung der Arbeitsteilung die Beteiligung des einzelnen an den öffentlichen An¬ gelegenheiten. Seine allseitige Ausbildung macht ihn für sie geeignet und führt ihn zu diesen hin, da sie das Universelle repräsentieren. Wenn in der künftigen Ordnung jeder seinen vielfältigen Interessen nachgehen kann, oder, wie es in der „Deutschen Ideologie“ heißt, „heute dies, morgen jenes tun, morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehi) Vgl. hierzu auch Deutsche Ideologie, MEGA V, S. 270, 22 u. ö. Wie sehr Marx in der Trennung zwischen Arbeit und Beruf von der Lehre Adam Smith abhängig ist, zeigen seine Ausführungen in GR, S. 24/25, und in den Pariser Manuskripten, MEGA III S. 109/10.

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zucht treiben, nach dem Essen kritisieren“ kann, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden (a. a. 0., S. 22), so ist damit freilich keines¬ wegs gesagt, daß der einzelne selbst bestimmen dürfe, ob und was er arbeiten will. Marx hat vielmehr im Kapital durchaus zwischen dem „Reich der Notwendigkeit“ und dem „Reich der Freiheit“ unterschieden. Im ersten besteht die Freiheit nur in der gemeinschaftlichen Kontrolle über die Produktion, die mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den der menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollzogen werden soll. Auf ihm als der Basis ruht das Reich der Freiheit, das erst dann beginnt, „wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“. Dort gilt auch die „menschliche Kraftentwicklung als Selbstzweck“. Nur von dieser Unterscheidung aus läßt sich verstehen, daß die Verkürzung der Arbeitszeit auch für die kommunistische Ordnung von Bedeutung ist (Kapital III, S. 873/74). Das Bild der künftigen, durch die Aufhebung der alten Arbeitsteilung — nicht aber der Arbeitsteilung als solcher — charakterisierten Ordnung kann man sich nach zwei Äußerungen von Marx im Manifest konkreter vorstellen. Unter den Übergangsmaßregeln wird aufgeführt: „Vereinigung des Betriebes des Ackerbaus und der Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Gegensatzes von Stadt und Land“ (AW I, S. 42). In der „Deutschen Ideologie“ hatte Marx diesen Gegensatz als nur innerhalb des Privateigentums möglich und als „krassesten Ausdruck der Subsumtion des Individuums unter die Teilung der Arbeit“ angesehen. Seine Aufhebung bezeichnet er als „eine der ersten Bedingungen der Gemeinschaft“ (MEGA V, S. 39/40). Weiterhin findet sich in den Über¬ gangsmaßregeln des Manifestes aber auch die Forderung, die Erziehung mit der materiellen Produktion zu vereinigen (a. a. 0., S. 43), die später in der „Kritik des Gothaer Programms“ (AW II, S. 17) oder im „Kapital“ auftaucht, daß der „technologische Unterricht, theoretisch und praktisch, seinen Platz in den Arbeiterschulen erobern werde“ (I, S. 514). Erst die allseitige Vorbereitung des Jugendlichen, die ihn früh mit der Produktion vertraut werden läßt, schafft die reale Grundlage für die Arbeitsteilung. 4. Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln bedeutet aber nicht nur Beseitigung der Arbeitsteilung, sondern auch Fortfall des Geldsystems. Schon in der „Heiligen Familie“ hat Marx in ihm die Spitze der „Unmenschlichkeit der heutigen Lebenspraxis“ gesehen (MEGA III, S. 284) und die „praktische, gegenständliche“ Aufhebung von „Eigentum, Kapital, Geld, Lohnarbeit und dergleichen“ gefordert (a. a. 0., S. 224). Aber diese Abschaffung des Geldsystems bedeutet keineswegs die Rück-

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kehr zu einer Naturalwirtschaft — getroffen werden soll nur die „Verselb¬ ständigung des allgemeinen Tauschmittels“, in der die Verselbständigung der Produktions- und Verkehrs Verhältnisse am deutlichsten hervortrete (Deutsche Ideologie, MEGA V, S. 374/75) oder, wie es später nüchterner heißt, das Geldkapital (Kapital II, S. 314). Daher kann auch Marx erklären, daß das sogenannte Arbeitsgeld kein Geld sei. „Die Produzenten mögen meinetwegen papierene Anweisungen erhalten, wofür sie den gesellschaftlichen Konsumtionsvorräten ein ihrer Arbeitszeit entsprechen¬ des Quantum entziehen. Diese Anweisungen sind kein Geld. Sie zirkulieren nicht.“ (Kapital H, S. 359/60.)

5. Neben diesen vorwiegend negativ erfolgten Abgrenzungen der künftigen Ordnung von der gegebenen — Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, Beseitigung der alten Arbeitsteilung, Ab¬ schaffung des Geldkapitals — kommt den positiven Auffassungen von Marx über die Grundsätze der Produktionslenkung besondere Bedeutung zu. Diese richtet sich nach der „gesellschaftlichen Nützlichkeit“ der einzelnen Gegenstände. Diese im „Elend der Philosophie“

(S. 82)

gegebene Formel läßt sich durch die im „Kapital“ (III, S. 932/33) -und in der „Kritik des Gothaer Programms“ (AW II, S. 14/15) enthaltenen Erörterungen über die Verteilung der Arbeitsprodukte konkretisieren. Verbrauchte Produktionsmittel sind zu ersetzen, ein zusätzlicher Teil wird für die Ausdehnung der Produktion verwandt, es wird ein Keserveoder Assekuranzfonds gegen Mißfälle oder Störungen durch Natur¬ ereignisse gebildet. Daneben steht die Notwendigkeit, die allgemeinen, nicht zur Produktion gehörenden Verwaltungskosten zu decken1), für die Befriedigung gemeinschaftlicher Bedürfnisse wie Schulen, Gesundheits¬ vorrichtungen etc. zu sorgen und einen Fonds für Arbeitsunfähige zu bilden. Nur innerhalb dieser durch die ökonomischen Erfordernisse gesetzten Grenzen besteht Entscheidungsfreiheit. Marx engt damit die Befugnisse der öffentlichen Gewalt durch Sätze ein, die aus der Natur der Sache selbst hervorgehen. Er entwickelt sie aus dem kapitalistischen System (vgl. Kapital III, S. 932/33), und dieser Umstand verleiht seiner Arbeit im „Kapital' ‘ eine unmittelbare Beziehung zur künftigen Ordnung: Ihre politische Bedeutung liegt nicht allein in der Kritik des kapitalisti¬ schen Systems, sondern ebenso

in der Herausarbeitung künftiger

!) Die neue Ordnung kennt damit auch die unproduktive Beschäftigung, so etwa die gesellschaftliche „Buchführung“, unter der Marx die „Kontrolle und ideelle Zusammenfassung des Produktionsprozesses einschließlich der Preisbestimmung“ versteht (Kapital II, S. 129 und 127).

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Ordnuugsgrundsätze, die als solche schon in der bestehenden Ordnung im Ansatz vorhanden sind. Bei einer kritischen Analyse der Sätze von Marx wird deutlich, wie sehr bei der Bewertung der einzelnen Faktoren — der Höhe der allgemeinen Verwaltungskosten, der Schulen, der Gesundheitsvorrichtungen, der Versorgung der Arbeitsunfähigen — Ermessensentscheidungen möglich sind. Daher konzentriert sich mm alles auf die Frage, wem jene Entschei¬ dung über die Produktion zusteht. Marx selbst stößt auf dieses Problem, wenn er sagt: „Es bleibt nach Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, aber mit Beibehaltung gesellschaftlicher Produktion, die Wertbestimmung vorherrschend in dem Sinn, daß die Regelung der Arbeitszeit und die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter die verschiedenen Produktionsgruppen, endlich die Buchführung hier¬ über, wesentlicher denn je wird.“ (Kapital III, S. 907.)

Damit ist erneut auf das schon früher behandelte Problem einzugehen, wem die Erledigung der öffentlichen Aufgaben in der künftigen Ordnung anvertraut werden soll. 6. Über die Träger der öffentlichen Gewalt vermag die zustimmende Kommentierung der Pläne der Pariser Kommune Aufschluß zu geben: Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegen¬ heiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt ver¬ walten und diese Bezirksversammlung dann wieder Abgeordnete zur National¬ delegation in Paris schicken.“ (AW I, S. 492.)

In der „Nationaldelegation“ liegt aber der Schwerpunkt des Staates. Marx dürfte als Leitbild der französische Konvent vorgeschwebt haben, jenes „Maximum der politischen Energie, der politischen Macht und des politischen Verstandes“, wie er ihn einmal charakterisiert hat (MEGA III, S. 13) — zur direkten Demokratie, die Gracchus Babeuf im Anschluß an die Verfassung von 1793 propagiert hatte1) und die 1848 von vielen Sozialisten gefordert wurde, neigte er nicht und hatte sie früher als „Unsinn“ abgetan2). Der neue Konvent, wie jene Nationaldelegation J) Vgl. über den 1797 hingerichteten Führer der „Verschwörung für die Gleich¬ heit“, Ramm, „Die großen Sozialisten“, Bd. I, S. 131 f.; die Umsturzpläne der Verschwörer sind in „Der Frühsozialismus“, ausgewählte Quellentexte, hrsg. von Th. Ramm, Stgt. 1956, S. 6ff., wiedergegeben, eine Sammlung der Veröffent¬ lichungen Babeufs enthält die von Schlechte übersetzte (Berlin 1956) Anthologie „Babeuf, Textes Choisis“ von G. und C. Willard (Paris 1950). 2) Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I, 1, S. 542; dort tut Marx dar, die Forderung der direkten Demokratie sei nur aus der Vorstellung des politi¬ schen Staates als der von der bürgerlichen Gesellschaft getrennten Existenz hervor¬ gegangen.

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genannt werden könnte, ist nicht mehr so allmächtig wie der frühere. Auf Grund des indirekten Wahl Verfahrens, der jederzeitigen Abberufbarkeit seiner Mitglieder, ihrer Bindung an die Instruktionen der Wähler und des Grundsatzes ihrer Verantwortlichkeit (a. a. 0., S. 493) ist er der direkten Kontrolle der Bezirksversammlung ausgesetzt, wie diese der Kon¬ trolle der Gemeindeversammlungen und damit des Volkes1). Mit dieser staatsrechtlichen Konstruktion, die dem organisatorischen Aufbau des Kommunistenbundes nach den Statuten von 1847 entspricht2), sucht Marx das Prinzip der Volkssouveränität möglichst weitgehend zu reali¬ sieren. Gleichzeitig schafft er aber auch ein System der Machtkontrolle. Und dies ist um so wichtiger, als er jede Gewaltenteilung ablehnt, wie aus seiner Kennzeichnung der Kommune hervorgeht: „Nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit“ (a. a. 0., S. 491).

In der vollziehenden Tätigkeit dürfte dabei der Schwerpunkt dieser Körperschaft liegen. Wenn auch die Äußerung des jungen Marx, das Ziel der Volkswünsche solle nicht die gesetzgebende Gewalt, die „meta¬ physische Staatsfunktion“, sondern die Regierungsgewalt, der „Wille in !) Das allgemeine Stimmrecht erhält damit einen neuen Sinn, den Marx in sehr interessanter und aufschlußreicher Weise privatrechtlich charakterisiert: „Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herr¬ schenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, soll das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buch¬ halter in seinem Geschäft auszusuchen. Und es ist bekannt genug, daß Gesell¬ schaften ebensogut wie einzelne in wirklichen Geschäftssachen gewöhnlich den rechten Mann finden und, falls sie sich einmal täuschen, dies bald wieder gut¬ zumachen wissen“ (Bürgerkrieg in Frankreich, AW I, S. 492). Die strenge Bindung und Überwachung der Abgeordneten läßt es nicht zu, mit dem Begriff der Reprä¬ sentation zu arbeiten. Marx hat schon in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilo¬ sophie“ darauf hingewiesen, daß in der künftigen Ordnung die Bedeutung der gesetzgebenden Gewalt als einer repräsentativen Gewalt gänzlich verschwindet. „Die Gesetzgebende Gewalt ist hier Repräsentation in dem Sinne, wie jede Funktion repräsentativ ist, wie z. B. der Schuster, insofern er ein soziales Bedürfnis verrichtet, mein Repräsentant ist, wie jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d. h. eine Bestimmung meines eigenen Wesens repräsentiert, wie jeder Mensch der Repräsentant des anderen ist. Er ist hier Repräsentant nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und was er tut (MEGA I, 1, S. 542). 2) Vgl. insbesondere Art. 13 und Art. 25, MEGA VI, S. 642/43. Über den Anteil von Marx und Engels an der Reorganisation des Kommunistenbundes vgl. Friedrich Engels, „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten“, AW II, S. 323.

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seiner praktischen Energie“ sein (Kritik der Hegelschen Rechtsphilo¬ sophie MEGA I, 1, S. 543), primär unter revolutionärem Aspekt zu sehen ist, so weist sie doch auf ein wichtiges Moment zur Beurteilung der gesetzgebenden Gewalt hin. Sieht man von der Sonderproblematik des Übergangs zum Endstadium ab, so wird in der Tat die Gesetzgebungs¬ funktion unbedeutend neben dem Gesetzes Vollzug. Dies rührt nicht allein daher, daß durch die Aufhebung der Klassengegensätze und des Privat¬ eigentums die Lebensverhältnisse vereinfacht worden sind, sondern ergibt sich vor allem auch daraus, daß Marx selbst die Ordnungsgesetze der künftigen Gesellschaft aufgedeckt hat — hier tritt eine sonst nur noch in der Revolutionstheorie nachweisbare, unmittelbare Verklammerung von Persönlichkeit und Lehre zutage. Schon der junge Marx hatte es als Aufgabe der Legislative angesehen, „das wirkliche Gesetz zu entdecken und zu

formulieren“

(Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I,

1, S. 543), und behauptet, der Wille eines Volkes könne ebensowenig über die Gesetze der Vernunft hinaus als der Wille des Individuums (a. a. 0., S. 468). Und wenn er demnach für die Gegenstände der Legislative die Zuständigkeit des „Wissens“ für gegeben ansah, so hat er es später im „Kapital“ unternommen, die grundlegenden Gesetze der künftigen Ord¬ nung für die Lenkung der Produktion zu entwickeln. Entsprechendes gilt aber auch, wie die vorliegende Untersuchung zeigt, für den Aufbau der Gesellschaft ganz allgemein. Die Zuständigkeit des künftigen Gesetz¬ gebers wird auf einige, wenn auch wichtige, Ermessensfragen beschränkt -— und auch diese dürften überwiegend durch Sachnotwendigkeiten vor¬ gezeichnet sein. So tritt notwendig im Endstadium die vollziehende Tätigkeit in den Vordergrund, wobei, wenn die Parallele zum Konvent weiterverfolgt wird, der Nationaldelegation die Auswahl und Über¬ wachung ihrer Emissäre zukommt. Noch eine andere Frage wird geklärt: die Bedeutung der Bejahung der Kommunalverfassung für die Marxsche Ordnungsvorstellung. Der Schwerpunkt der künftigen Gesellschaft liegt in der Wirtschaft. Träger der wirtschaftlichen Macht sind aber die Gesamtheit und nicht die Ge¬ meinden. Mit seinem Vorbehalt weniger, aber wichtiger Funktionen für die Zentralgewalt hat Marx die eigentliche Entscheidung getroffen. Den¬ noch ist seine Bejahung der Kommunal Verfassung keineswegs ohne Be¬ deutung. Die Gemeinde ist die unterste staatliche Einheit. In ihr spielt sich das eigentliche Leben ab, und in ihrem Bereich werden auch grund¬ sätzliche politische Entscheidungen über das Wahlrecht und die stete Kontrolle der Kreisvertreter getroffen — allerdings wirken sie sich auf

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Grund des stufenförmigen Aufbaus der Gesellschaft nur mittelbar aus. Weiterhin dürften aber auch den Kommunen die Ernennung der Ar¬ beitsvorgesetzten zustehen — dies ergibt sich gegenüber der National¬ delegation aus der grundsätzlichen politischen Machtverteilung; in bezug auf die Arbeitnehmer läßt sich aus der bei der Ablehnung der direkten Demokratie erkennbar gewordenen Verwerfung des Unmittelbarkeits¬ prinzips schließen, daß der Vorgesetzte nicht durch seine Untergebenen gewählt werden soll. Als Ergebnis zeigt sich, daß Marx die eigene Vorstellung in den Plänen der Pariser Kommune wiedergegeben und damit von der praktischpolitischen Bewegung bestätigt sah. Wenn er sie als deren Auffassung berichtete, so ist dies nicht als Bekenntnis geistiger Abhängigkeit zu werten. Der Taktiker Marx war sich bewußt, daß nicht seine indi¬ viduellen Ansichten, sondern die Pläne der Kommune — dank des weltweiten Interesses an ihrem Aufstand — größere Beachtung finden würden. 7. In einer letzten Plinsicht bedarf das Bild der künftigen Ordnung der Vervollständigung. Bisher ist das Schicksal der Familie unbehandelt geblieben. Im Manifest (AAV I, S. 39/40) hat sich Marx zu ihrer Auf¬ hebung bekannt, und noch deutlicher heißt es in den Pariser Manu¬ skripten : „Die positive Aufhebung des Privateigentums, als die Aneignung des mensch¬ lichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d. h. gesellschaftliches Da¬ sein“ (MEGA III, S. 115).

Aber damit ist noch nicht ausgesagt, in welcher Form das Zusammen¬ leben der Geschlechter künftig geregelt werden soll; die bürgerliche Ehe, die auf Kapital und Privaterwerb beruht (AW I, S. 39), verwirft Marx eindeutig, ebenso aber auch die Weibergemeinschaft, eine damals inner¬ halb des „rohen Kommunismus“ weitverbreitete Forderung (MEGA III, S. 112). Nur an einer einzigen Stelle, in einem Artikel der Rheinischen Zeitung über den Ehescheidungsgesetzentwurf Savigny’s, hat er das Problem konkret angepackt. Dort hat er sich für die Erschwerung der Scheidung ausgesprochen: „Der Gesetzgeber ehrt die Ehe, erkennt ihr tiefes sittliches Wesen an, wenn er sie für mächtig genug hält, viele Kollisionen bestehen zu können, ohne sich selber einzubüßen. Die Weichheit gegen die Wünsche der Individuen würde in eine Härte gegen das Wesen der Individuen, gegen ihre sittliche Vernunft, die sich in sittlichen Verhältnissen verkörpert, Umschlägen“ (MEGA I, 1, S. 319). Marxismusstudien II

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Auch an einer anderen Stelle, in einer heftigen Polemik gegen Gustav Hugo als dem Begründer der historischen Rechtsschule1), tritt Marx’ Wertschätzmag der Ehe hervor. Dort charakterisiert er sie als „Heiligung des Geschlechtstriebs durch die Ausschließlichkeit, die Bändigung der Triebe durch die Gesetze, die sittliche Schönheit, die das Naturgebot zu einem Moment geistiger Verbindung idealisiert“ (MEGA I, 1, S. 256). Da beide Äußerungen aus dem Jahr 1842 stammen, erhebt sich wieder die Frage, ob Marx nicht später seine Auffassung geändert hat, denn der durch die Verweigerung der Ehescheidung in höchstpersönlichen Dingen ausgeübte Zwang auf die Individuen scheint doch seiner zwei Jahre später geäußerten Ansicht zu widersprechen, daß Zwang amvereinbar mit menschlichen Verhältnissen sei2). Die konkrete Antwort läßt sich aus der Bemerkung entwickeln: „Wäre die Ehe nicht die Basis der Familie, so wäre sie ebensowenig Basis der Gesetzgebung, als es etwa die Freundschaft ist.“ (MEGA I, 1, S. 318.) Marx’ scheidungsfeindliche Argumentation geht von der Annahme aus, daß „beinahe jede Ehescheidung eine Familienscheidung ist“ (a. a. 0., S. 317), oind bezieht sich damit auf die individualistische Gesellschaftsordnung, in der der Familie vor allem durch die Versorgung und die Erziehung der Kinder bedeutsame Auf¬ gaben übertragen worden sind. Diese aber sollen in der künftigen Ordnung der Gesellschaft zufallen, so daß die Familie auf die Ehe, auf das Ver¬ hältnis der Geschlechter zueinander, reduziert wird. Damit geht aber nach der Auffassung von Marx die Ehe von dem Bereich der Gesetz¬ gebung in den rechtsfreien Raum über und wird der Freundschaft gleichgestellt. Die Auflösung dieser vermeintlichen Widersprüchlichkeit legt die Vermutung nahe, daß auch der früher aufgezeigte Widerspruch zwischen der Abschaffung und Beibehaltung des Zwanges in der künftigen Ordnung erklärt werden kann. Abgesehen davon, daß sich auch sonst, bei der Erörterung der Bürokratie oder der Aufhebung der Arbeitsteilung und des Geldsystems, die innere Kontinuität des Marxschen Denkens gezeigt hat, spricht vor allem für die Richtigkeit dieser Vermutung die Persön¬ lichkeit von Marx selbst. Bei ihm vollzog sich die geistige Auseinander¬ setzung in einem langsamen imd fast schwerfällig anmutenden kontinuier¬ lichen Prozeß. Jeder intellektuellen Leichtfertigkeit fern, feilte er bis zum b „Das Philosophische Manifest der historischen Rechtsschule“, MEGA I, 1, S. 251 ff. Über Hugo vgl. Fritz v. Hippel, „Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan“, 1931, und F. Eichengrün, Die Rechtsphilosophie Gustav Hugos 1936. 2) Vgl. hierzu das Zitat aus der „Heiligen Familie“, S. 85.

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letzten an seinen Formulierungen und scheute sich vor vorzeitigen Ver¬ öffentlichungen. Den besten Beweis hierfür bietet die Entstehungs¬ geschichte des „Kapitals“, aber auch über den Chefredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung von 1848/49 hat sich Friedrich Engels beklagt, weil er zu langsam und zu gründlich arbeite, eben nicht zum Journalisten geboren sei1). Bei einem solchen Menschen2) erscheint eine grundlegende Wandlung der Konzeption sehr unwahrscheinlich, und dennoch wird eine solche Annahme von den Marx-Interpreten insoweit vertreten, als sie zwischen der „idealistischen“, von der Hegelschen Philosophie beein¬ flußten .Schaffensperiode des jungen Marx und der Zeit nach Ausbildung der materialistischen Geschichtsauffassung unterscheiden. Wie wenig dies berechtigt ist, zeigt Marx’ Polemik gegen Adam Smith aus den Jahren 1857/58. Er gebraucht dort dieselbe „idealistische “Argumentation wie fünfzehn Jahre früher bei der Erörterung der Ehe, wenn er dartut, daß in der Notwendigkeit zu arbeiten selbst keine Einschränkung der Freiheit liege: „Allerdings erscheint das Maß der Arbeit selbst äußerlich gegeben, durch den zu erreichenden Zweck und die Hindernisse, die zu seiner Erreichung durch die Arbeit zu überwinden. Daß aber diese Überwindung an sich Betätigung der Freiheit — und daß ferner die äußeren Zwecke den Schein bloß äußerer Naturnotwendigkeit ab¬ gestreift erhalten und als Zwecke, die das Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden —, also als Selbstverwirklichung, Vergegenständliehung des Subjekts, daher reale Freiheit, deren Aktion eben die Freiheit, ahnt A. Smith ebensowenig." (GR, S. 505.)

Die Selbstverwirklichung der Individuen in der und durch die Arbeit, ihre reale Freiheit, Ist erst in der künftigen Ordnung möglich, weil dann *) Vgl. Gustav Mayer „Friedrich Engels", Bd. I, 2. Aufl., Haag 1934, S. 302. Wie sehr Marx selbst an brieflichen Äußerungen feilen konnte, zeigen die vier Entwürfe seines Briefes an Vera Zasulic auf deren Frage nach der Bedeutung der russischen Dorfgemeinschaft für die soziale Entwicklung Rußlands (Marx-EngelsArchiv, Bd. I, Frankfurt 1925, S. 309ff.). 2) Außer der individuellen Situation ist noch die typische Lage des revolutionären Denkers zu berücksichtigen. ALs solcher steht er der ihn umgebenden Wirklichkeit feindlich gegenüber. Damit verliert er den natürlichen Halt, den jede Ordnung dem Denken bietet (auf diese Abhängigkeit des Denkens vom Sein hingewiesen zu haben, gehört zu den großen Verdiensten von Marx). In dieser Isolierung kommt es zu einer Verschmelzung von Theorie und Persönlichkeit, so daß jede grundlegende \ eränderung der theoretischen Konzeption eine Art Selbstzerstörung der Persönlichkeit wird. Zu die-ser Selbstgefährdung tritt die Zerstörung der geistigen Unfehlbarkeit für die Anhänger, und ferner gibt die grundlegende Änderung der eigenen Konzep¬ tion den Gegnern die gefährlichste Waffe in der geistigen Auseinandersetzung in die Hand. Vgl. zu diesen Fragen Ramm, „Die großen Sozialisten“, Bd. I, S. 24.

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die Arbeit ihren früheren abstoßenden Charakter als Sklaven-Frondeoder Lohnarbeit, als äußere Zwangsarbeit verloren hat1). Derselbe Schluß kann aber auch für die Ehe gezogen werden. Wird die Basis der bürgerlichen Familie: das Kapital, der Privaterwerb beseitigt, so wird auch sie zur Selbstverwirklichung der Individuen. Und genauso, wie Marx in der freien Arbeit „zugleich verdammtesten Ernst, intensivste Anstrengung“ sieht (GR, S. 505), so zeigen seine früheren Äußerungen über die Ehe, daß auch dort die Freiheit nicht mit Nachgiebigkeit gegen die individuelle Willkür gleichzusetzen ist2). Gerade dieses Aufgreifen der klassischen Unterscheidung von Freiheit und Willkür der deutschen idealistischen Philosophie, das in jener Äußerung über die Arbeit ent¬ halten ist, dient Marx dazu, die Einheitlichkeit seiner Konzeption der nachrevolutionären Gesellschaft zu sichern. Wie die berühmte Stelle in der „Kritik des Gothaer Programms“ über die Verteilung des Arbeits¬ produktes in der kommunistischen Gesellschaft zeigt, unterscheidet er in dieser zwei Phasen. Die erste ist die, die „eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt“ (AW II, S. 16). In ihr erfolgt die Verteilung entsprechend der Arbeitsleistung. Für die zweite „höhere“ Phase, „nach¬ dem die Arbeit nicht mehr Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“, gilt der Grundsatz: Jedem nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen (a. a. 0., S. 17). Über die völlige Konsumtionsfreiheit hinaus weist der Satz, daß die Arbeit das erste Lebensbedürfnis geworden sei, sogar auf die Entbehrlichkeit des institutionell gewährleisteten Arbeitszwanges hin3). Beide Phasen unter¬ scheiden sich somit dadurch voneinander, daß in der ersten noch Zwang —]) Vgl. ausführlich hierüber auch die Pariser Manuskripte, MEGA III, S. 84f. 2) Die in der Übereinstimmung zwischen den Äußerungen über die Ehe und über die Arbeit zutage tretende Kontinuität der Auffassung ist auch für die Inter¬ pretation

der

Pariser Manuskripte

zu

beachten.

Der

vielgebrauchte Begriff

„Sinnlichkeit“ und selbst der Satz „Der sinnliche Ausbruch meiner Wesenstätigkeit ist die Leidenschaft, welche damit die Tätigkeit meines Wesens wird“ (MEGA III, S. 124) dürfen nicht als Bekenntnis zur Willkür gewertet werden. Ohnehin muß bei der Verwertung der „Pariser Manuskripte“ der „Feuerbachkultus“ in Rechnung gestellt werden, der den älteren Marx selbst „humoristisch anmutete“ (Brief an Engels v. 24. April 1864, BW III, S. 458). 3) Dieser Satz wird bestätigt durch den Hinweis in GR, S. 505, „daß das Indi¬ viduum ,in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschick¬ lichkeit, Gewandtheit1 auch das Bedürfnis einer normalen Portion Arbeit hat“.

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in der Form des Leistungslohnprinzips — existiert, während er in der anderen bereits beseitigt ist. Da sich aber dieser Zwang nur gegen die Willkür richtet, bleibt somit auch in der ersten Phase die Freiheit unangetastet. Zur letzten Auflösung des Freiheitsproblems gelangt man über die Sätze, in denen Marx die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen die Arbeit zur menschlichen Selbstverwirklichung wird: „Die Arbeit der materiellen Produktion kann diesen Charakter nur erhalten dadurch, daß 1. ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2. daß sie wissenschaft¬ lichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierte Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktions¬ prozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Natur¬ kräfte regelnde Tätigkeit erscheint (GR, S. 505)1).

Diese Äußerung ward ergänzt durch eine andere, in der Marx von dem ,,realen Setzen der individuellen Arbeit als gesellschaftlicher und vice versa“ (GR, S. 175)2) spricht. Die Beseitigung des Gegensatzes von gesellschaftlich und individuell ist aber keineswegs auf die Arbeit allein beschränkt, sondern gilt allgemein für die künftige Ordnung: „Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung— erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäußerung — ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens. Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch — und dies ist notwendig — die Daseinsweise des individuellen Lebens ein mehr besondres oder allgemeines individuelles Leben ist. Als Gattungsbewußtsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben und wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Denken, wie umgekehrt das Gattungs¬ dasein sich im Gattungsbewußtsein bestätigt und in seiner Allgemeinheit als denkendes Wesen für sich ist. Der Mensch — so sehr er daher ein besondres Individuum ist, und grade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirklichen individuellen Gemeinwesen — ebensosehr ist er Totalität, die ideelle Totalität, das subjektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich, wie er auch in der Wirklichkeit sowohl als Anschauung und wirklicher Geist des gesellschaftlichen Daseins wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerung da ist.

!) Über den wissenschaftlichen Charakter der Arbeit vgl. auch GR, fe. 599/6002) Dieses Verhältnis gilt selbst für die isolierte Tätigkeit, des Individuums, wie aus den „Pariser Manuskripten“ zu entnehmen ist (MEGA III, S. 116): „Allein, auch wenn ich wissenschaftlich etc. tätig bin, eine Tätigkeit die ich selten (nicht selbst, wie in MEGA, die dem Inhalt entsprechende Verbesserung ist in der Neuausgabe in KÖS, S. 130, verzeichnet) in unmittelbarer Gemeinschaft mit anderen ausführen kann, so bin ich gesellschaftlich, weil als Mensch, tätig.“

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Denken und Sein sind also zwar unterschieden, aber zugleich in Einheit mitein¬ ander.“ (ök. Phil. Man., MEGA III, S. 117.11)

Die prinzipielle Entgegensetzung von Individuum und Gemeinschaft fällt somit in der künftigen Ordnung weg, und die Beseitigung dieser Spannung ist auch für deren konkrete Ausgestaltung von entscheidender Bedeutung, denn Zwangsgewalt ist eben nur die fremde Gewalt. Die Unterwerfung des einzelnen unter die Autorität des industriellen Funk¬ tionärs, dessen Legitimation die Wahl durch die Gemeinschaft darstellt, ist aber kraft jener Identität von Individuum und Gemeinschaft keine fremde Gewalt. Marx bleibt allerdings bei dieser Auffassung nicht stehen. Genauso wie er eine konkrete Sicherung vor Mißbrauch der Autorität durch die jederzeitige Abberufbarkeit des Funktionärs schafft, gewährt er dem Individuum die Möglichkeit zu eigener Entfaltung — eben als der Besonderheit. Hierin liegt die Bedeutung der Arbeitszeitverkürzung. Sie ist nicht nur in ökonomischer Hinsicht für die Gemeinschaft wichtig: „Die Ersparnis von Arbeitszeit gleich Vermehrung der freien Zeit, d. h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktiv¬ kraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit“ (GR, S. 599).

Ihre letzte und tiefste Bedeutung liegt in der Umwandlung des Menschen selbst: „Die freie Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist — hat ihren Besitzer natürlich in ein anderes Subjekt verwandelt, und als dies andere Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß“ (a. a. O.).

Mit dieser Theorie vom neuen Menschen wird der innerste Kern der Marxschen Lehre bloßgelegt. Dieser neue Mensch ist der Mensch, der zu seinem eigentlichen Selbst gekommen ist. Die kommunistische Gesell¬ schaft beseitigt die Störungselemente der bisherigen Ordnungen, die die zwischenmenschlichen Beziehungen getrübt und verfälscht haben. „Setze den Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du Kunst genießen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluß auf andere Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhält¬ nisse zum Menschen — und zu der Natur — muß eine bestimmte, dem Gegenstand

r) Diese Stelle führt nur den Gedanken weiter aus, der bereits in Marx’ Schrift „Zur Judenfrage“ enthalten ist. Danach ist die menschliche Emanzipation erst dann vollbracht, wenn der Mensch „in seiner individuellen Arbeit, in seinen indi¬ viduellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist“ (MEGA I, 1, S. 599).

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deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein.“ (ök. phil. Man. MEGA III, S. 149.)

Marx sah in einer solchen Zukunftserwartung die Verwirklichung einer bereits in den „Naturnotwendigkeiten“, in den „menschlichen Wesens¬ eigenschaften“ angelegten Ordnung, die schon in den früheren Ordnun¬ gen trotz aller Verkehrungen sichtbar war. So hebt er bei der Schilderung der bürgerlichen Gesellschaft hervor, daß deren egoistische Individuen sich nur in ihrer „unsinnlichen Vorstellung und unlebendigen Abstrak¬ tion“ zum Atom, zum „beziehungslosen, selbstgenügsamen, bedürfnis¬ losen, absolut vollen, seligen Wesen“ aufgebläht hätten. Die Wirklichkeit hingegen habe sich um diese Einbildung nicht gekümmert. „Jede seiner Wesenstätigkeiten und Eigenschaften, jeder seiner Lebenstriebe wird zum Bedürfnis, zur Not, die seine Selbstsucht zur Sucht nach andern Dingen und Menschen außer ihm macht.“ (Heilige Familie, MEGA III, S. 296.) Von der Erkenntnis einer solchen geschichtlichen Kontinuität hatte Marx die Frage aufzuwerfen vermocht, welche menschlichen Begierden konstant und welche relativ, d. h. in ihrer Existenz an frühere Ordnun¬ gen gebunden seien. Hier hegt der Ansatzpunkt zur Gewinnung eines überzeitlichen, ewigen Menschenbildes, das seinerseits wiederum zum Bewertungsmaßstab früherer Ordnungen zu werden vermag. Die letzte Durchsicht geschichtlicher Vorgänge ist so erreicht, die nur am Ende der Geschichte möglich ist. Die bisherige Menschheitsgeschichte als Ge¬ schichte von Klassenkämpfen, von Auseinandersetzungen zwischen Un¬ terdrückern und Unterdrückten (Manifest, A.W. I S. 23) hat ihr Ende gefunden; es gibt dann zwar noch gesellschaftliche Evolutionen, aber keine politischen Revolutionen mehr (Elend der Philosophie, S. 189). Mit der kommunistischen Ordnung als der endgültigen menschlichen Ordnung hat die geschichtslose Zeit begonnen. Nichts anderes drückt jener Satz aus, in dem Marx den Kommunismus als vollendeten Natu¬ ralismus und als vollendeten Humanismus zugleich bezeichnet. „Es ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Exi¬ stenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufge¬ löste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ (ök.-phil. Man., MEGA III, S. 114.)

In dieser Konfrontierung von bisheriger Geschichte und kommunisti¬ scher Ordnung — trotz der materialistischen Geschichtsauffassung tritt das naturrechtlich-aufklärerische Element der Marx sehen Theorie

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in letzter Klarheit hervor. Aber, wie man es auch auffassen und deuten mag, es führte zu einer groben Vereinfachung und Verflachung der MarxDiskussion, wenn seine Realisierbarkeit mit den Schlagworten ,,Utopie“, „Eschatologie“ oder „Chiliasmus“ von vornherein abgetan würde. Der rationale Kern der OrdnungsVorstellung von Marx liegt darin, daß sie die zwischenmenschlichen Beziehungen dadurch unproblematischer und spannungsfreier gestalten will, daß sie dem Individuum die Zuständig¬ keit in wirtschaftlichen — als den letztlich entscheidenden — Dingen nimmt, dafür allerdings im Verhältnis zum Gemeinwesen seine politische Zuständigkeit erheblich erweitert. Die Prüfung, ob diese These zutrifft, fällt in den Aufgabenbereich der rechtswissenschaftlichen Disziplin. Da¬ bei darf allerdings nicht außer acht gelassen werden, daß Marx die Be¬ seitigung des Zwanges erst für das Endstadium verspricht, dem eine Zeit vorausgeht, in der „die Arbeiterklasse lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden“ (Bürgerkrieg, AW I, S. 495). Auch in dieser Erkenntnis der Schwierigkeiten des Überganges, die ebenfalls an anderer Stelle, in der früher erwähnten Trennung zweier Phasen der kommunistischen Gesellschaft, sichtbar wird, zeigt sich der Realismus von Marx. Ob dieser mit zunehmendem Alter stärker hervor¬ getreten ist und dazu geführt hat, die Übergangsepoche auf Kosten des Endstadiums auszudehnen und so die Abschaffung des Zwanges hinaus¬ zuschieben — eine solche Fragestellung gehört zur Untersuchung der Revolutionstheorie und ist nicht Gegenstand dieser Abhandlung. Für sie genügt vielmehr die Feststellung, daß die Äußerungen von Marx aus den verschiedensten Lebensabschnitten auf einer einheitlichen Konzeption beruhen. Sie ist, was das Endstadium anbetrifft, am reinsten in den Pariser Manuskripten dargestellt, so daß diese den Schlüssel zur Inter¬ pretation der Spätschriften bieten.

III. 1. Die Rekonstruktion der künftigen Gesellschaftsordnung bei Engels ist wesentlich leichter als bei Marx. Vor allem an zwei Stellen: in seinen Reden in Elberfeld über den Kommunismus (Februar 1845)1) und in den b Bei ihrer Verwertung ist angesichts des Urteils von Engels über seine „nase¬ weise Jugendzeit“ — erst von Marx habe er gelernt, wie man arbeiten müsse (Brief an Bebel vom 24. Juli 1885 in „Karl Marx und Friedrich Engels, Briefe an Bebel, Liebknecht, Kautsky und andere“, Bd. I, Moskau 1933, S. 400) — Vorsicht geboten.'

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„Grundsätzen des Kommunismus“ (Oktober 1847), dem Vorentwurf zum „Kommunistischen Manifest“, dann aber auch in seinen Spät¬ schriften, hat sich Engels ausführlicher — und viel sorgloser und unbekümmerter als Marx — zu diesem Thema geäußert. 2. In seiner ersten Elberfelder Rede legt Engels die Gründe für das Verschwinden der politischen Gewalt in der künftigen Ordnung dar. Die Hauptursache für das Vorhandensein einer großen Zahl von Justiz- und Verwaltungsbehörden in der bestehenden Gesellschaft erblickt er in dem sozialen Krieg aller gegen alle, dessen brutale, barbarisch-gewaltsame Form bei einzelnen, namentlich Ungebildeten, das Verbrechen sei (MEGA IV, S. 374). Infolgedessen kann Engels, gestützt auf die schon jetzt zu bemerkende Milderung der gewaltsamen Ausbrüche der Leidenschaft durch die fortschreitende Zivilisation, das Ende der bisherigen Zwangs¬ gewalt über den Menschen proklamieren. „Die Verbrechen gegen das Eigentum fallen da von selbst weg, wo jeder erhält, was er zur Befriedigung seiner natürlichen und geistigen Triebe bedarf. DieKriminaljustiz hört von selbst auf, die Ziviljustiz, die doch fast lauter Eigentumsverhältnisse oder wenigstens solche Verhältnisse, die den sozialen Kriegszustand zur Voraus¬ setzung haben, behandelt, fällt ebenfalls weg; Streitigkeiten können nur dann seltne Ausnahmen sein, wo sie jetzt die natürliche Folge der allgemeinen Feind¬ schaft sind, und werden sich leicht durch Schiedsrichter schlichten lassen“ (a.a. O., S. 374/75).

Dasselbe gilt für die Verwaltungsbehörden, die ebenfalls in dem fort¬ währenden Kriegszustand die Quelle ihrer Beschäftigung haben. Was den Schutz des Staates nach außen anbetrifft, so hält Engels einen Angriffs¬ krieg der kommunistischen Gesellschaft selbst für undenkbar, da diese sehr gut wisse, daß sie kein Äquivalent erlange. Sie verliere nur Menschen und Kapital, während sie höchstens ein paar widerwillige, also eine Störung in die soziale Ordnung bringende Provinzen erlangen könne. Für einen Verteidigungskrieg sei kein stehendes Heer vonnöten, da reiche die Waffenübung der Einwohner aus (a. a. 0., S. 376). Marx und Engels treffen sich somit zu einer Zeit, als sie noch nicht zu einer engeren Zu¬ sammenarbeit gelangt waren1), grundsätzlich in der Abschaffung der Strafe und des Zwanges. An dieser Übereinstimmung ändert sich auch später nichts. Wenn Engels vorschlägt, für die künftige Ordnung das Wort „Staat“ durch „Gemeinwesen“ zu ersetzen, oder wenn er ausführt,

i) In der Vorrede zur „Heiligen Familie“ (MEGA III, S. 179) wird noch von den künftigen selbständigen Schriften gesprochen, in denen sie — „versteht sich, jeder von uns für sich“ — ihre positive Ansicht darstellen würden.

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der Staat sei nur eine vorübergehende Einrichtung1), er mache sich unter der Herrschaft des Proletariats selbst überflüssig, oder es gebe, „sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründete Kampf ums Einzeldasein“ beseitigt sei, nichts mehr ,,zu reprimieren, das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat nötig“ mache (AD, S. 347) — dann stimmt er in all diesen Aussagen mit Marx überein. In einem Brief an Bebel von 1875 weist er darauf hin, daß jene berühmte Formel vom Absterben des Staates (AD, S. 348) nicht ihm, sondern Marx gehöre. Schon das „Elend der Philosophie“ und das Manifest hätten gesagt, „daß mit der Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich auflöst und verschwindet“ (AW II, S. 34). Engels gibt mit seinen Äußerungen oder auch mit jenem anderen berühmt gewordenen Satz, die ganze Staatsmaschinerie werde „ins Museum der Altertümer neben das Spinnrad und die bronzene Axt versetzt“ (Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, AW II, 199), nur die zündende Formulierung, inhaltlich sagt er jedoch nichts Neues aus. Dasselbe gilt auch für seinen bekannten Satz im Anti-Dühring: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“ (a. a. 0., S. 347).

Wie Marx setzt auch er Staat, politische Gewalt und politische Autorität miteinander gleich2) und beseitigt in der künftigen Ord¬ nung keineswegs das Über- und Unterordnungsverhältnis schlechthin. Sich gegen die spanischen Anarchisten wendend, betont er vielmehr auf Grund der ökonomischen Gegebenheiten die Notwendigkeit der Autorität:

1) Die sachliche Abweichung, die sich aus Engels’ Thesen von der kommunisti¬ schen Revolution in einem Lande ergibt, ist später dadurch weggefallen, daß er sich zu der Lehre von der gleichzeitigen Revolution der zivilisierten Völker (England, Amerika, Frankreich und Deutschland) bekannte (Grundsätze des Kommunismus, MEGA VI, S. 516). 2) Diese Gleichsetzung geht aus Engels’ Äußerung über das Einschlafen der politischen Autorität des Staates (AD, S. 354) und, noch deutlicher, aus seiner Abhandlung „Von der Autorität“ von 1873, AW I, S. 606, hervor: „Alle Sozialisten sind einer Meinung darüber, daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache, administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten.“

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„Die Autorität in der Großindustrie abschaffen zu wollen, bedeutet die Industrie selbst abschaffen zu wollen; die Dampfmaschine vernichten, um zum Spinnrad zurückzukehren.“

Nur insoweit vermag er seinen Gegnern entgegenzukommen, als „die soziale Organisation der Zukunft die Autorität einzig auf jene Grenzen beschränken wird, in denen die Produktionsbedingungen sie unvermeid¬ lich machen“ (AW I, S. 605/06). Er distanziert sich damit zugleich von dem Begriff Zwang, der auf den politischen Bereich beschränkt bleibt, denn das Wort Autorität weist weniger auf die tatsächlich-rechtliche Machtstellung eines Vorgesetzten, als auf dessen geistige Überlegenheit und praktische Bewährung hin. 3. Engels konkretisiert und veranschaulicht somit die Aussage von Marx über die künftige öffentliche Organisation1), und dies gilt auch für das Bild der künftigen Ordnung in wirtschaftlicher Hinsicht. Er wieder¬ holt nicht nur, daß mit der Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln die Krisen wegfallen, die Überproduktion nicht nur beibehalten, sondern sogar ausgedehnt wird und die Großindustrie einen ungeahnten Aufschwung nimmt (Grundsätze MEGA VI, S. 516/17). In seiner ersten Elberfelder Bede weist er vielmehr auch auf die Vermehrung der Produktivkräfte durch die Eingliederung bisher nicht voll ausgela¬ steter Arbeitnehmer (MEGA IV, S. 376ff.) und auf die Vorteile der Beseitigung des Zwischenhandels (a. a. 0., S. 372f.) hin. In seiner reali¬ stischen Konzeption der neuen Ordnung ist er weit davon entfernt, in ihr etwa ein irdisches Paradies zu sehen. Nichts zeigt dies drastischer als ein Brief an Marx, in dem er, auf den französischen Frühsozialisten Louis Blanc anspielend, die „Lanzenbrecher von der Science sociale, von der loi de la production süffisante“ unbarmherzig verspottet. „Gottvoll mit ihrem Jagen nach dieser unbekannten loi sind die Kerls. Sie wollen ein Gesetz finden, womit sie die Produktion verzehnfachen. Sie suchen, wie der Fuhrmann der Fabel, den Herkules, der ihnen den sozialen Karren aus dem Dreck holen soll. Der Herkules liegt in ihren eigenen Armen. Die loi de la production

!) Bedeutsam ist in dieser Beziehung auch seine Bejahung der Kommunalver¬ fassung. In seiner Kritik des Erfurter Programms taucht als „Andeutung des nicht Sagbaren“ die Forderung auf: „Vollständige Selbstverwaltung in Provinz, Kreis und Gemeinde durch nach allgemeinem Stimmrecht gewählte Beamte. Abschaffung aller von Staats wegen ernannten Lokal- und Provinzialbehörden.“ Sie hält er für wichtiger als die direkte Gesetzgebung durch das Volk und die unentgeltliche Rechtspflege, „ohne die wir am Ende auch vorankommen.“ (Marx - EngelsLenin - Stalin, Zur deutschen Geschichte II, 2, Berlin 1954, S. 1136.)

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süffisante besteht darin, daß man suffisamment produziert. Können sie das nicht, hilft ihnen kein Zauberspruch.“ (Brief vom 21. Januar 1848, BW I, S. 111.)

Den Mechanismus der künftigen Ordnung verdeutlicht Engels, wenn er in seiner ersten Elberfelder Rede die Wichtigkeit der Statistik für die zentrale Produktionsleitung erwähnt, die von der Ermittlung des indivi¬ duellen Durchschnittsbedürfnisses auszugehen hat. „Ist eine solche Statistik einmal organisiert, was in einem oder zwei Jahren leicht geschehen kann, so wird sich der Durchschnitt des jährlichen Konsums nur im Verhältnis der steigenden Bevölkerung verändern; es ist also ein leichtes, zur gehörigen Zeit vorauszubestimmen, welches Quantum von jedem einzelnen Artikel das Bedürfnis des Volkes erfordern wird“ (a. a. 0., S. 373).

Ein letzter wichtiger Aufschluß ergibt sich endlich aus einer Äußerung von Engels über die Erziehung. Danach setzt die gemeinsame und plan¬ mäßig von der ganzen Gesellschaft betriebene Industrie Menschen voraus, deren Anlagen nach allen Seiten hin entwickelt sind, die imstande sind, das gesamte System der Produktion zu überschauen. Die Vorausset¬ zungen hierfür schafft die Erziehung: „Die Erziehung wird die jungen Leute das ganze System der Produktion rasch durchmachen lassen können, sie wird sie in Stand setzen, der Reihe nach von einem zum andern Produktionszweig überzugehen, je nach dem die Bedürfnisse der Gesellschaft oder ihre eigenen Neigungen sie dazu veranlassen.“ (Grundsätze des Kommunismus, MEGA VI, S. 518.)

Engels bestätigt damit die Bedeutsamkeit des technologischen Unter¬ richts der Jugend als der Grundlage für die Aufhebung der Arbeits¬ teilung1). Andererseits zeigt aber auch seine Äußerung, daß in der künftigen Ordnung das Individuum nicht grundsätzlich in der Wahl des Arbeitsplatzes frei ist. Auch in dieser Hinsicht dominiert das Reich der Notwendigkeit. 4. Wie viele konkreten Äußerungen von Engels in seinem Manifest¬ entwurf hat Marx auch seine positive Aussage über die Familie nicht in den endgültigen Text aufgenommen. Nach Engels’ Ansicht sollte die gesellschaftliche Erziehung in Nationalanstalten und auf Nationalkosten von dem Augenblick an beginnen, an dem die Kinder der ersten mütter¬ lichen Pflege entbehren können (MEGA VI, S. 515). Mit der gemein¬ schaftlichen Kindererziehung und der Beseitigung des Privateigentums b Über die Aufhebung der Arbeitsteilung schreibt Engels in den „Grundsätzen des Kommunismus“, MEGA VI, S. 517: „Die Existenz der Klassen ist hervor¬ gegangen aus der Teilung der Arbeit, und die Teilung der Arbeit in ihrer bisherigen Weise fällt gänzlich weg.“

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entfielen die beiden Grundlagen der bisherigen Ehe, die Abhängigkeit des Weibes vom Mann und der Kinder von den Eltern. Dadurch „wird das Verhältnis der beiden Geschlechter zu einem reinen Privat Verhältnis, welches nur die beteiligten Parteien angeht und worin sich die Gesell¬ schaft nicht zu mischen hat“ (a. a. 0., S. 519). Während diese Auffassung mit Marx’ Ansicht übereinstimmt, klingt in Engels’ nach dem Tode von Marx veröffentlichter Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privat¬ eigentums und des Staates“ ein neuer Gedanke an: „Ist nur die auf Liebe gegründete Ehe sittlich, so auch nur die, worin die Liebe fortbesteht. Die Dauer des Anfalls der individuellen Geschlechtsliebe ist aber nach den Individuen sehr verschieden, namentlich bei den Männern, und ein positives Aufhören der Zuneigung oder ihre Verdrängung durch eine neue leidenschaftliche Liebe macht die Scheidung für beide Teile wie für die Gesellschaft zur Wohltat. Nur wird man den Leuten ersparen, durch den nutzlosen Schmutz eines Scheidungs¬ prozesses zu waten.“ (AW II, S. 223.)

Ein tieferer Gegensatz zwischen diesen Sätzen und der strengen Ehe¬ auffassung von Marx ist kaum denkbar — und er tritt keineswegs allein im theoretischen Bereich, sondern auch in der Lebensführung beider Denker hervor1). Ihre Auffassungen vom neuen Menschen, zu der sich auch Engels bekannt hat (Grundsätze des Kommunismus, MEGA VI, S. 517), unterscheidet sich somit in einem wichtigen Punkt, der von dem Gleichklang ihrer Formeln: „Vollständige Emanzipation aller mensch¬ lichen Sinne und Eigenschaften“ (Ök.-phil. Man. MEGA III, S. 119) und „vollständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen“ (AD, S. 350) überdeckt wird. In Engels’ Freiheits¬ vorstellung kommt der Sinnlichkeit und der Triebhaftigkeit ein viel stärkeres Gewicht zu als bei Marx, der sie durch das Gebot sittlicher i) Der Briefwechsel mit Marx gibt einigen Aufschluß über das Verhältnis des jungen Engels zum anderen Geschlecht, bei dem das Verhalten gegen die Lebens¬ gefährtin des früheren Mitkämpfers Moses Hess menschlich schwer begreiflich ist (Brief vom 14. Januar 1848, BW I, S. 107/08). Einen „Feinschmecker in allem, was Wein und Weib betrifft“, charakterisiert ihn Gustav Mayer a. a. 0., Bd. I, S. 319, für sein „tolles Jahr“. Ob in Engels’ Verzicht auf die Eheschließung mit Mary und Lizzy Burns nur die Absage an die bürgerliche Konvention oder auch der Vor¬ behalt enthalten ist, die Neigung anderen Frauen zuzuwenden, kann zumindest als Frage aufgeworfen werden. Ebenso läßt sich auch vorstellen, daß in dem bekannten Zerwürfnis zwischen Marx und Engels anläßlich des Todes von Mary Burns (vgl. Briefe vom 8., 13., 24. und 28. Januar 1863, BW III, S. 140ff.) nicht nur das häusliche Elend von Marx und seine „kühle Denkungsweise“ eine maßgebliche Rolle gespielt haben, sondern auch eine letzte Nichtübereinstimmung in jenen sittlichen Werturteilen.

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Selbstverwirklichung in Schranken hält1). Während bei Engels der neue Mensch im Grunde nur der alte, von den bisherigen Schranken befreite Mensch ist, ist der neue Mensch, wie ihn Marx sieht, von der Sittlichkeit und der Vernunft getragen. Von dieser theoretischen Divergenz her kann vielleicht auch erklärt werden, weshalb sich Engels stärker als Marx um ein konkretes Bild der künftigen Ordnung bemüht hat. Marx konnte auf Grund jenes Ethos des neuen Menschen die institutioneile Sicherung als zweitrangiges Problem beiseite schieben, während sie für Engels auf Grund seines Menschenbildes in den Vordergrund treten mußte. Begnügt man sich nicht damit, diesen wichtigen theoretischen Unter¬ schied aus der verschiedenen Persönlichkeitsstruktur beider Denker zu erklären, so stellt sich die Frage, ob nicht verschiedene Einflüsse ma߬ gebend gewesen sind. Damit wird ihr Verhältnis zu den „großen Uto¬ pisten“ Saint-Simon, Fourier und Owen berührt. IV. 1. Marx und Engels haben sich verschiedentlich mit ihren Vorgängern befaßt: Engels vor allem in der „Deutschen Ideologie“, dann in seiner Vorrede von 1874 zum „Deutschen Bauernkrieg“ und im „Anti-Dühring“ (1877/78), Marx im „Kommunistischen Manifest“ mid an einzelnen Stellen des „Kapitals“. 1845 hatten beide geplant, eine „Bibliothek der vorzüglichsten sozialen Schriftsteller des Auslands“ herauszugeben2), doch scheiterte dieses Vorhaben aus äußeren Gründen, und es erschien nur eine, von Engels bearbeitete, Fourierübersetzung2). Durchmustert man die Aussagen von Marx und Engels, so fällt zunächst auf, wie unterschiedlich die Urteile von Engels über die großen Utopisten sind. In der „Deutschen Ideologie“ schreibt er: „Diese Systeme verlieren bei der Entwicklung der Partei alle Bedeutung und werden höchstens nominell als Stichwörter beibehalten.“ (MEGA V, S. 445.) 1) Auch noch an anderer Stelle wird diese Gegensätzlichkeit deutlich: bei der Er Ziehung. Engels bezeichnet Fouriers Ausführungen hierüber als „bei weitem das Beste, was in der Art existiert“, und rühmt seine „genialen Beobachtungen“ (Deutsche Ideologie, MEGA V, S. 498). Er steht also der Denkweise Fouriers um vieles aufge¬ schlossener gegenüber als Marx, der sie grundsätzlich verwirft (vgl. S. 115) und der für die Erziehung nur das kühle Wort übrig hat: Der Produktionsprozeß sei „Diszi¬ plin mit Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet“ (GR, S. 599/600). Marx’ Kritik an Fourier läßt sich somit in gewisser Hinsicht auch auf Engels anwenden. 2) Vgl. über den Bibliotheksplan Engels’ Briefe vom 22. Februar und 17. März 1845, BW I, S. 21 und 22ff. Das von Engels bearbeitete „Fragment Fouriers über den Handel“ ist neu abgedruckt in „Der Frühsozialismus“, S. 31 ff.

Die künftige Gesellschaftsordnung

111

Ein Jahr später, bei der Veröffentlichung der Fourierübersetzung, stellt er voller Enthusiasmus die Arbeiten der Franzosen und Engländer sogar über die eigenen: „Was die Franzosen oder Engländer schon vor zehn, zwanzig, ja vierzig Jahren gesagt — und sehr gut, sehr klar, in sehr schöner Sprache gesagt hatten, das haben die Deutschen jetzt endlich,

seit

einem

Jahre,

stückweise

kennengelernt

und

verhegelt, oder im allerbesten Falle haben sie es nachträglich noch einmal erfunden und in viel schlechterer, abstrakterer Form als ganz neue Erfindung drucken lassen. Ich nehme hiervon meine eigenen Arbeiten nicht aus.“ (MEGA IV, S. 410.)

Und in der Vorrede zum „Bauernkrieg“ zählt er Saint-Simon, Fourier und Owen „bei aller Phantasterei und bei allem Utopismus zu den bedeutendsten Köpfen aller Zeiten“ (AW II, S. 619). Marx’ Urteil im Manifest ist viel vorsichtiger und zurückhaltender, wenngleich niemals außer acht gelassen werden darf, wie sehr seine summarische Zusammenfassung der Vorläufer von taktisch-politischen Motiven beeinflußt ist. Von seiner ausführlichen Stellungnahme inter¬ essiert in diesem Zusammenhang nur folgende Stelle: „Ihre positiven

Sätze über die zukünftige Gesellschaft, z. B. Aufhebung des

Gegensatzes zwischen Stadt und Land, der Familie, des Privaterwerbes, der Lohn¬ arbeit,

die

Verkündung

der gesellschaftlichen

Harmonie,

die

Verwandlung

des

Staates in eine bloße Verwaltung der Produktion — alle diese Sätze drücken bloß das Wegfallen des Klassengegensatzes aus, der eben erst sich zu entwickeln beginnt, den sie nur noch in seiner ersten gestaltlosen Unbestimmtheit kennen. Diese Sätze haben daher noch einen rein utopistischen Sinn.“ (AW I, S. 52.)

Marx tut die positiven Sätze seiner Vorgänger weder als falsch ab, noch akzeptiert er sie als richtig. Durch seine vorsichtige Distanzierung behält er sich ihre kritische Überprüfung und die Annahme des ihm richtig dünkenden Kernes vor. 2. Den englischen Frühsozialisten Robert Owen1) hat Marx am höchsten geschätzt. Ihn zitiert er im „Kapital“ häufiger und verteidigt ihn gegen Angriffe. Wie Exzerpthefte beweisen, hat er mehrere seiner Schriften genauestens gekannt2). Die theoretische Übereinstimmung zwischen

1) Vgl.

über ihn Ramm,

„Die großen Sozialisten“,

Bd.

I,

S.

387ff.

und die

Quellentexte im „Frühsozialismus“, S. 185ff. 2) Es sind dies die Schriften: „The Book of the New Moral World“, Bd. I bis IV, London

1840—1844,

„A

New

View

of Society“,

London

1813,

„Six

Lectures

Delivered at Manchester“, Manchester 1837, „Lectures on the Marriage of Priesthood of the Old Immoral World“, 4. Aufl., Leeds 1840 (nach MEGA VI, S.611; die Exzerpthefte stammen aus den Jahren 1845—1847) und „Essays on the Formation of the Human Character“, London 1840 (GR, S. 599).

Thilo Ramm

112

Marx und Owen ist keineswegs unbedeutend. Von Owen stammt die Idee des Arbeitsgeldes, er hat Erziehung und materielle Produktion mitein¬ ander vereinigen wollen, und auf ihn geht auch die Forderung des Manifestes zurück, den Betrieb der Industrie mit dem des Ackerbaus zu vereinigen und auf die allmähliche Beseitigung des Gegensatzes von Stadt und Land hinzuwirken (AW I, S. 42). Den Beweis hierfür erbringen Äußerungen von Engels. In seiner ersten Elberfelder Rede hat sich Engels ausdrücklich auf Owens Vorschläge als den „praktischsten und am meisten ausgearbeitetsten“ bezogen, nach denen an die Stelle der jetzigen Dörfer und Städte große Paläste gesetzt werden sollten, die zwei- bis dreitausend Menschen bequem beherbergen können (MEGA IV, S. 378). In den „Grundsätzen des Kommunismus“ taucht dieser Gedanke wiederum auf: „Errichtung

großer

Paläste

auf

den

Nationalgütern

als

gemeinschaftliche

Wohnungen für Gemeinden von Staatsbürgern, welche sowohl Industrie wie Acker¬ bau treiben und die Vorteile sowohl des städtischen wie des Landlebens in sich ver¬ einigen, ohne die Einseitigkeiten und Nachteile beider Lebensweisen zu teilen.“ (MEGA VI, S. 515.)

Von dort ist dieser Gedanke, freilich seiner konkreten Ausgestaltung beraubt, in das Manifest übergegangen1). Aber Engels hat sich auch später noch hinsichtlich der Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land auf die „Mustergebäude“ Owens und des hierin mit diesem überein¬ stimmenden Fourier bezogen (Zur Wohnungsfrage, AW II, S. 559). Und im „Anti-Dühring

hat er über die von Owen als Maßnahmen gegen das

irische Elend projektierten kommunistischen Kolonien so geurteilt: „In

seinem

definitiven

Zukunftsplan

(ist)

die

technische

Ausarbeitung

der

Einzelheiten mit solcher Sachkenntnis durchgeführt, daß, die Owensehe Methode der Gesellschaftsreform einmal zugegeben, sich gegen die Detaileinrichtungen selbst vom fachmännischen Standpunkt wenig sagen läßt“ (a. a. 0., S. 324).

Sieht man in Engels den Anhänger Robert Owens, so läßt sich seine in einem Brief an Bebel vom März 1875 geäußerte Zukunftsvorstellung verstehen: „Von Land zu Land, von Provinz zu Provinz, von Ort zu Ort sogar wird immer eine gewisse Ungleichheit der Lebensbedingungen bestehen, die man auf ein Mini¬ mum reduzieren, aber nie ganz beseitigen können wird.“ (AW II, S. 34.)

b Die

neunte

Übergangsmaßregel für

die

fortgeschrittensten

Länder

lautet:

„Vereinigung des Betriebes von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die all¬ mähliche Beseitigung des Gegensatzes von Stadt und Land.“ (AWT I, S. 42.)

Die künftige Gesellschaftsordnung

113

Es läßt sich schwer vorstellen, daß Engels in seiner späteren Schaffens¬ periode solche Äußerungen getan hätte, wenn er sich nicht der vollen Übereinstimmung mit Marx bewußt gewesen wäre. Aber auch hiervon abgesehen: Die von Marx selbst in der „Deutschen Ideologie“ angekün¬ digte Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land deutet in Ver¬ bindung mit jener Stelle im Kommunistischen Manifest zwingend darauf hin, daß Marx selbst in jenen Vorschlägen Owens die Lösung dieser Frage erblickt hat. Nimmt man dies an, so erklärt sich auch die zunächst so merkwürdig anmutende und zu dem Bild von Marx nicht passende rasche Bejahung der Ideen der Pariser Kommune: sie erschienen ihm nur als Bestätigung seiner eigenen von Owen übernommenen Anschau¬ ung1). Die unterste staatliche Einheit der künftigen Ordnung sind da¬ nach jene kleinen Gemeinden, wie sie sein Vorgänger projektiert hatte. Sie entsenden ihre Delegierten in die Bezirks Versammlungen, die wieder¬ um die Wahl zur Nationaldelegation vollziehen. Erst die Interpretation der Kommunalverfassung durch Owens Pläne gibt ein ganz konkretes Bild der neuen Ordnung und ermöglicht zugleich auch, sich die Abschaffung des Zwanges realistisch vorzustellen. An seine Stelle tritt nicht allein die Erziehung, sondern vor allem auch die öffent¬ liche Meinung. Die Kleinheit der untersten staatlichen Einheit und die enge Lebens- und Wohngemeinschaft in einem Gebäude, jenem „Natio¬ nalpalast“, wie es Engels nennt, stellt die Individuen unter stete Über¬ wachung und verleiht auf diese Weise der öffentlichen Meinung als regu¬ latives Prinzip ein sehr bedeutsames Gewicht. Das rational-begrifflich Nichtfaßbare erhält so eine viel stärkere Bedeutung als in der liberalen i) Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß Marx von der Pariser Kommune beeinflußt worden ist. Er hat dies selbst in der Vorrede vom 24. Juni 1872 zum Manifest (AW I, S. 16), unter Bezugnahme auf eine Stelle aus dem Bürgerkrieg (a. a. 0., S. 488) zugegeben: „Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß ,die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann1.“ Hieraus geht jedoch klar hervor, daß nicht die Zerstörung des Staatsapparats im Endstadium für Marx das Neue war, sondern die Vorwegnahme dieses Aktes bei der Machtergreifung des Proletariats (als weiteren Beweis vgl. auch schon Manifest AVV I, S. 34: „Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Ge¬ sellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.“). Die von Marx vorgenommene Re¬ vision beschränkt sich somit auf die Revolutionstheorie, ist aber selbst hier nur partiell — bezüglich der Kommunalverfassung. Die Notwendigkeit, die bürokra¬ tisch militärische Maschinerie zu zerstören, hatte Marx bereits 1852 erkannt (vgl. hierzu S. 81). Marxismusstudien XI

8

114

Thilo Ramm

Gesellschaft. An die Stelle des Rechts tritt die Sitte — oder wenn ein Unterschied zwischen ihnen noch anerkannt würde, dann nicht mehr als wesensmäßiger, sondern bei der grundlegenden Veränderung der menschlichen Beziehungen nur als formaler. Wie weit Marx und Engels Owen gefolgt sind, läßt sich nicht eindeutig feststellen. Immerhin besteht die Möglichkeit, daß sie ihn auch hin¬ sichtlich der Abschaffung der Strafgewalt als Vorbild genommen haben. Dann aber läge es wiederum nahe, daß sie seine letzte Konsequenz ebenfalls übernahmen, die auf der Gleichsetzung von künftiger Ordnung und Vernunft beruht: Wer sich gegen die Gesellschaftsordnung der Zukunft feindlich stellt, zeigt damit, daß er keine Vernunft besitzt und wird als Geisteskranker in das „Krankenhaus für körperlich, geistig und sittliche Kranke“ bis zu seiner Genesung eingewiesen1). — Fest steht nur, daß Marx und Engels keineswegs die Ordnungsvorstellung Owens in ihrer Ganzheit übernommen haben. Sie kennen nicht seine auf der Wert¬ schätzung der Empirie beruhende Altershierarchie und vor allem ver¬ ändern sie seine Gesellschaftsstruktur insofern grundlegend, als sie nicht den Schwerpunkt des wirtschaftlichen Lebens in die einzelnen Gemeinden verlegen. Obwohl diese unmittelbar in die Produktion eingeschaltet sind — die Lebensgemeinschaft ist auch eine Produktionsgemeinschaft —-, ist der Träger der wirtschaftlichen Macht das Gemeinwesen, so daß auf diese Weise dem Aufkommen eines Gemeindeegoismus vorgebeugt wird. 3. Auch der französische Frühsozialist Charles Fourier ist von Marx verschiedentlich, wenn auch erheblich weniger als Owen, zitiert worden, doch ist das Verhältnis zu ihm ungleich kühler und distanzierter. Marx schätzt ihn als Kritiker der bestehenden Gesellschaftsordnung hoch ein2) x) Vgl. Ramm, „Die großen Sozialisten“, Bd. I, S. 449. Diese These war Marx und Engels nachweisbar zumindest in der Form bekannt, die ihr Wilhelm Weitling in seiner 1842 erschienen Schrift „Garantien der Harmonie und Freiheit“ gegeben hatte. (Vgl. hierzu Ramm, a. a. 0., S. 494f.) Für eine unmittelbare Kenntnis spre¬ chen Marx’ Lektüre von Schriften Owens (vgl. S. 111 Anm. 2) und sein Hinweis in der „Heiligen Familie“, daß nach Owen „Strafe und Belohnung die Heiligung der gesellschaftlichen Rangunterschiede und der vollkommene Ausdruck einer knech¬ tischen Verworfenheit“ sei (MEGA III, S. 365). 2) Vgl. etwa das Lob in der „Heiligen Familie“: „Meisterhafte Charakteristik der Ehe“ (MEGA III, S. 375), oder im Brief an Annenkow vom 28. Dezember 1846 (AWII, S. 423). Darüber hinaus dürfte Marx auch den Gedanken, aus dem Verhältnis zwischen Mann und Frau auf die Bildungsstufe der Menschheit zu schließen (Ök-Phil. Manuskripte, MEGA III, S. 113), von Fourier entlehnt haben.

Die künftige Gesellschaftsordnung

115

— und diese Wertschätzung hat sich bei Engels noch gesteigert1). Aber Marx ist nicht bereit, die von Fourier entwickelte Ordnungsvorstellung oder auch nur deren philosophische Grundlegung2) zu übernehmen. Die Ursache ist nicht etwa, daß Fourier Anhänger eines allerdings unter starker Kontrolle der Gesellschaft stehenden Privateigentums war. Für Marx war vielmehr Fourier als Denker nicht tief genug. Er erkannte ihn als Vorläufer an, weil er das „große Verdienst“ hatte, nicht die Aufhebung der Verteilung, sondern der Produktionsweise selbst in höherer Form als letztes Ziel ausgesprochen zu haben (GR, S. 505). Aber seine bedeutende Theorie von der anziehenden Arbeit bezeichnet er nur als „grisettenmäßig naiv“ und stellt seiner Auffassung von der Arbeit als „bloßen Spaß, bloßem amusement“ (GR, S. 599) die eigene Deutung der Arbeit als individuelle Selbstverwirklichung entgegen. Von Fouriers Vor¬ schlägen hat Marx in Übereinstimmung mit Engels (Grundsätze des Kommunismus, MEGA VI, S. 515) nur die „Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau“, in das Manifest aufgenommen (AW I, S. 42) und damit durch diese übergemeindlichen Vereinigungen zur Erledigung gemeinsamer Arbeiten das Owensche Zukunftsbild korrigiert. Dank der grundsätzlichen Übereinstimmung von Owen und Fourier bezüglich jener kleinen Gemeinschaften brauchte Marx nicht auf Fourier zurückgreifen, dessen unsystematische Schreib- und Denkungsweise ihm viel ferner stand als Owens kühle und sachliche Berechnung von Organisationsproblemen. Auf Engels hat hingegen Fourier viel stärker und unmittelbarer gewirkt, vor allem dürften Verbindungslinien von diesem zu Engels’ Eheauffassung führen3 4 *). 4. Ausgesprochen kühl ist Marx’ Verhältnis zu dem französischen Frühsozialisten Henri de Saint-Simon11). Im „Kapital“ erinnert er daran, daß dieser erst in seinem „Nouveau Christianisme“ als Wortführer der arbeitenden Klasse aufgetreten sei, während er vordem nur die moderne 1) Vgl. das Zitat auf S. 110. Noch im „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ (AW II, S. 303, Anm. 1) erwähnt Engels seine — allerdings unverwirklicht gebliebene — Absicht, Fouriers „brillante Kritik der Zivilisation“ wieder¬ zugeben. 2) Vgl. über Fourier Ramm, „Die großen Sozialisten“, Bd. I, S. 318ff. und die Quellentexte im „Frühsozialismus“, S. 92ff. 3) Dies gilt nur für die grundsätzliche Betrachtungsweise und nicht für die konkreten Vorschläge Fouriers, die Engels als Phantasie nicht ernst nimmt (Deutsche Ideologie, MEGA V, S. 407). 4) Vgl. über ihn Ramm, „Die großen Sozialisten“, Bd. I, S. 216 ff. und die Quellcntexte im „Frühsozialismus“, S. 22 ff. 8*

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bürgerliche Gesellschaft gegen die feudale verherrlicht habe (a. a. 0., III, S. 653); Engels vermerkt hierzu allerdings in einer Anmerkung, Marx habe später nur mit Bewunderung vom Genie und enzyklopädischen Kopf Saint-Simons gesprochen. Immerhin sind spärliche Übereinstim¬ mungen nachweisbar. So taucht etwa das große Thema Saint-Simons, der Kampf gegen die unproduktive Klasse der Regierenden, in Marx’ Polemik gegen die Exekutivgewalt wieder auf. Und Engels hat im „Anti-Dühring“ darauf hingewiesen, daß schon Saint-Simon die Ab¬ schaffung des Staates, „die Überführung der politischen Regierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen und eine Leitung von Produk¬ tionsprozessen“ klar ausgesprochen habe. Wenn er bei ihm die „geniale Weite des Blickes“ rühmt, „vermöge deren fast alle nicht streng ökono¬ mischen Gedanken der späteren Sozialisten bei ihm im Keim enthalten sind“ (AD, S. 319), so liegt die Vermutung nahe, daß in Saint-Simons Plänen einer bundesstaatlichen Vereinigung der fortgeschrittensten Länder der Schlüssel für die Gestaltung der Beziehungen zwischen nationalen kommunistischen Staaten zu erblicken ist. 5. Versucht man nunmehr, das Verhältnis von Marx und Engels zu ihren Vorläufern zu charakterisieren, so zeigt sich, daß Engels’ positive Formulierung, daß diese Denker „zahllose Dinge genial antizipierten, deren Richtigkeit wir jetzt wissenschaftlich nachweisen“ (Vorrede zum Bauernkrieg, AW I, S. 619), sachlich viel richtiger ist, als etwa die Äußerung von Marx: In der Utopie von Fourier, Owen usw. sei die Ahnung und der phantastische Ausdruck einer neuen Welt enthalten (Brief an Kugelmann v. 9. Okt. 1866, AW I, S. 432). Denn Marx und Engels verdanken ihren Vorläufern sehr viel, ohne diese ist ihre Vor¬ stellung der künftigen Ordnung undenkbar. Aber der Unterschied ihrer Formulierungen zeigt zugleich auch den Grad ihrer Abhängigkeit. Engels ist in viel stärkerem Maße geneigt, von seinen Vorgängern zu übernehmen, während Marx vorsichtig prüft, vieles ändert, und das Übernommene mit neuem Gehalt versieht. In der stärkeren Beeinflussung durch die Utopisten wird man auch den Grund dafür zu suchen haben, weshalb Engels die neue Ordnung konkreter auszugestalten vermochte als Marx, und sie erklärt vor allem die grundsätzliche unterschiedliche Auffassung vom neuen Menschen, wie sie etwa in der Bewertung der Ehe zutage getreten ist. Erkennt man dies, so zeigt sich, daß Engels Bemerkung, die deutsche Arbeiterbewegung sei die Erbin der deutschen klassischen Philosophie (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philo-

Die künftige Gesellschaftsordnung

117

Sophie, AW II, S. 375) und der deutsche theoretische Sozialismus stehe auf den Schultern Saint-Simons, Fouriers und Owens (Vorrede zum Bauernkrieg, AW I, S. 618/19), die Genealogie des Marxismus richtig wiedergibt. Dies gilt nicht nur ganz allgemein für das Verhältnis von der aus der Hegelschen Dialektik entwickelten materialistischen Geschichts¬ auffassung zu der von den „Utopisten“ beherrschten Ordnungsvorstel¬ lung, sondern auch, wenngleich mit Einschränkungen, für das Verhältnis von Marx und Engels zueinander. Marx stellt stärker die Verbindung zur klassischen deutschen Philosophie, Engels die zu den „Utopisten“ her, und dieser Unterschied hat sich bis in ihre Ordnungsvorstellungen ausgewirkt. V. 1. Mit dieser Deutung von Marx und Engels ist die Untersuchung über die ursprüngliche Aufgabe, ihr Bild der künftigen Gesellschaft zu rekon¬ struieren, hinausgedrungen und hat eine erste Konsequenz aus dem bedeutungsvollen Ergebnis gezogen, daß in der Theorie von Marx und Engels neben der materialistischen Geschichtsauffassung und der Revolutionstheorie auch eine konkrete Ordnungsvorstellung ihren Platz hat. Sie nimmt zwar nicht den gleichen Rang wie diese ein, so daß mit Recht der Name von Marx und Engels nicht mit ihr, sondern mit ihrer Ge¬ schichtsauffassung und Revolutionstheorie verbunden wird. Dennoch ist sie für die Interpretation der Gesamttheorie und der Persönlichkeit beider Denker nicht unwesentlich. Sie bestätigt vielmehr die alte Er¬ kenntnis, daß jeder Revolutionär ein Ziel vor Augen hat, die Vorstellung der künftigen Ordnung. 2. Eine letzte Frage ist bisher offengeblieben: weshalb Marx und Engels nirgends selbst ihr Bild von der zukünftigen Gesellschaft voll¬ ständig wiedergegeben haben. Der wichtigste Grund liegt zweifellos in der Tatsache, daß Marx und Engels hierin nicht den Schwerpunkt ihrer Leistung gesehen haben und es ihnen vielmehr darauf ankam, ihr eigentliches methodisches und revolutionäres Anliegen durchzusetzen. Ein weiterer Grund ist wohl in der Scheu von Marx zu sehen, sich in dieser Beziehung letztlich festzulegen. Ein dritter endlich beruht auf taktischen Überlegungen. Marx und Engels ziehen im Manifest eine deutliche Trennungslinie zu den sozialistischen und kommunistischen Schulen ihrer Zeit1). Ihr großes politisches Ziel ist die Einigung der weit i) Vgl. hierzu Ramm, „Die großen Sozialisten“, Bd. I, S. 17f.

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Thilo Ramm

verzweigten Bewegung. Sie konnte aber damals nicht erreicht werden, wenn die Gestaltung der künftigen Ordnung in den Vordergrund gerückt wurde. Die Streitigkeiten zwischen Saint-Simonisten, Fourieristen, Owe¬ nisten oder die endlosen Debatten im Kommunistenbund über die künftige Ordnung und das Schicksal Wilhelm Weitlings zeigten, daß auf dieser Grundlage keine Einigkeit zu erzielen war. Darüber hinaus hätte aber auch ein Bekenntnis zu den „Utopisten“ zu einer Schwächung der revolutionären Triebkraft der Bewegung geführt, da diese keineswegs ihre Theorien auf die revolutionäre Tat konzentrierten. Gegen ihr Bestreben einer friedlichen Umformung der Gesellschaft wendet sich die Hauptkritik des Manifestes, und aus dem Bestreben, sich in diesem Punkte mit aller Schärfe von den Vorgängern zu distanzieren, resultiert das Mißverständnis, das das wirkliche Verhältnis von Marx und Engels zu den „Utopisten“ bislang überschattet hat. Nicht zuletzt brachte aber auch der Verzicht auf die eingehende Darstellung der eigenen Ordnungsvorstellung den Vorteil, die eigene Position vor Auseinandersetzungen mit den Verteidigern der bestehenden Ordnung zu schützen, die in jedem Fall, einerlei, ob sie die Verwirklichungsmöglichkeit dieser Vorschläge an¬ zweifelten oder auf Gemeinsamkeiten mit der bestehenden Ordnuns verwiesen, die Revolutionsbereitschaft der Anhänger geschwächt hätten. Diese aus der Situation von 1848 getroffene Entscheidung leitete eine für die Geschichte des Marxismus wichtige Entwicklung ein. Für Marx und Engels war sie ohne Bedeutung. Sie besaßen eine OrdnungsVorstel¬ lung und hofften, sie als praktische Revolutionäre verwirklichen zu können. Für die nachfolgende Führergeneration der deutschen Sozial¬ demokratie wirkte sich jedoch die taktische Entscheidung des Manifestes aus. Bei ihr erhebt sich die Frage, inwieweit gerade das Zurückdrängen der Ordnungsvorstellungen, deren Neubelebung trotz einiger Versuche, den Kontakt zu den Frühsozialisten zu erhalten1), nicht gelang, ihr politisches Verhalten am Ende des ersten Weltkriegs, ihre Absage an die Revolution, bestimmt hat. Die Rekonstruktion der Ordnungsvorstellung von Marx und Engels eröffnet eine konkrete und daher fruchtbare Auseinandersetzungs¬ möglichkeit. Sie vermag ein natürliches Gegengewicht gegen die in letzter Zeit allzusehr unter theologischem Aspekt betriebene MarxInterpretation2) zu bieten. Die Aufgabe derselben hat nicht darin zu

b Vgl. hierzu Ramm, Einleitung zum „Frühsozialismus“, S. VIII f. 2) Vgl. hierzu Ramm, „Die großen Sozialisten“, Bd. I, S. 13 ff.

Die künftige Gesellschaftsordnung

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liegen, das revolutionäre Pathos, das allen neuen Theorien eigene Ver¬ sprechen der Vollkommenheit ihrer Vorschläge, als Eschatologie oder Prophetie zu charakterisieren. Sie muß vielmehr zur unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Wollen des historischen Marx und des historischen Engels führen. Dabei vermag die Herausarbeitung ihrer Ordnungsvorstellung den fast schon zum Mythos gewordenen Zielen der Aufhebung des Privateigentums und der Arbeitsteilung und der Ab¬ schaffung der Zwangsgewalt einen klaren und bestimmten Inhalt zu geben. Erkennt man, wie realistisch Marx und Engels trotz ihrer Vor¬ stellung vom neuen Menschen gedacht haben, so läßt sich eine sachliche Diskussion über die Vorzüge und Nachteile der von ihnen erstrebten Ordnung, die Richtigkeit ihrer Begründung und die Zeitgebundenheit ihrer Vorstellung führen.

Marx und Proudhon1 von ERICH THIER

1. Pierre Joseph. Proudhon (1809—1865), aus Besangon stammend, war der Sohn eines Küfers in einer großen Brauerei, die Mutter war Dienstmagd. Als Ältester von fünf Kindern blieb ihm nur der autodidak¬ tische Weg der Selbstbildung. Die Liebe zum Land, zur Familie, zum Kleinbesitz blieb ihm sein Leben lang zu eigen wie das Verlangen nach Büchern. Der Freischüler wurde Schriftsetzer und Korrektor, ging als Geselle auf Wanderschaft und blieb trotz allen späteren literarischen Ruhms seinem Herkommen verbunden. Er fühlte sich als unmittelbarer Sproß und Vertreter des niederen Volkes, mehr als des „Proletariats“, und die Kennzeichnung als „Kleinbürger“ verletzt ihn weniger, als sie ihn charakterisiert. Seine Sprachstudien, seine Art der Belesenheit usw. lassen sich viel besser auf die Schusterstube Jacob Böhmes als auf den Hörsaal zurückführen. Dabei war er dennoch einer der wenigen „Gebil¬ deten“ des 19. Jahrhunderts, die aus eigenem Antrieb Hebräisch lernten, um das Alte Testament wirklich verstehen zu kömien. Deutsch hat er freilich nie gelernt, und so muß der Hinweis auf die Görlitzer Schuster¬ stube doch wohl abgewandelt werden zu dem auf einen kleinen Bauernhof in der Nähe der Rebenfelder seiner Heimat. — Der Stipendiat der heimischen Akademie ging 1838 nach Paris. Eine Arbeit über den Sabbat der Israeliten, in der Moses unversehens zum philosophierenden und sozialen Zeitgenossen wurde, verschaffte ihm einenPreis. Zur europäischen Berühmtheit — oder Verruchtheit — wurde er durch seine 1840 erschie¬ nene Schrift über das Eigentum. Von seinem Leben ist noch mitzuteilen, daß er lange arbeitslos war, dami Besitzer einer kleinen Druckerei wurde, b Verselbständigter Abschnitt aus einem Manuskript „Gestaltwandel des Mar¬ xismus“.

Marx und Proudhon

121

um später nach kurzer und widerwillig ergriffener politischer Rolle als Abgeordneter das Gefängnis kennenzulernen. Er ging dann nach Belgien, um die letzten Jahre kränklich und zurückgezogen lebend in dem Pariser Vorort Passy zu verbringen. Daß sein Weib getreulich zu ihm stand, gehört zu seiner Charakteristik, die ohne seinen Lobpreis der Familie nicht vollständig wäre. Genauso gehört zu ihm, daß er trotz literarischer Erfolge nie aus der Daseinsnot für längere Zeit entlassen wurde. Marx war neun Jahre jünger als Proudhon. Die Zeitspanne ist groß genug, um den verschiedenen literarischen Start der beiden verständlich zu machen. Später trat sie kaum noch hervor. Rückblickend erscheinen Marx und Proudhon als Generationsgenossen. Sie waren es jedenfalls in dem Sinne, daß sie den gleichen kritischen Bezug zu der sich vor ihnen ausfaltenden industriellen Gesellschaft hatten. Am 16. 10. 1842 hatte Marx in der „Rheinischen Zeitung“ das „scharfsinnige Werk“ Proudhons gerühmt. Er nennt keine besondere Schrift Proudhons. Es ist aber kein Zweifel daran möglich, daß sich seine Bemerkung auf die rasch zu einem düsteren europäischen Ereignis gewordene Schrift Proudhons von 1840 über das Eigentum — „Qu’est-ce que la propriete? ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement“ — bezog. Die peitschende Aus¬ sage, daß Eigentum Diebstahl sei — „c’est le vol“ —, hatte der bürger¬ lichen Welt den unheimlichen „revenant“ vorgestellt, von dem 8 Jahre später das Kommunistische Manifest in seinen ersten Sätzen sprach: „Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst des Kommunismus.“ Jedenfalls meinte man allgemein, daß Proudhon als Kommunist zu verstehen sei. Proudhon schien den bürgerlichen Zeitgenossen seine Drohung mit geradezu satanischem Zynismus auszusprechen. Ob das wirklich so war, hat damals kaum jemand nachgeprüft. Daß nicht die bloße und plumpe Nivellierungssucht hinter seinen Aussagen stand, hat als einer der wenigen Zeitgenossen Lorenz von Stein, der preußische Staatssozialist und ausgezeichnete Kenner der französischen Sozialgeschichte ab 1789, erkannt. Es sei, führte er aus, in Proudhons Schrift nicht die Verwerfung des Eigentums schlechthin vollzogen, sondern die des nicht selbst arbeitenden Kapitals und also jener Fonds, die bereitstanden, um in der Produktion zinstragend angelegt zu werden. Marx hat in solchem Zusammenhang später von der „ursprünglichen Akkumulation“ gesprochen, welche erst den Erwerb des technischen Aggregats ermöglichte. Proudhon dachte freilich nicht nur an die großen, auf Verwendung wartenden Schätze, sondern an jede Form des rentensüchtigen Besitzes. In dem Aufweisen

122

Erich Thier

des Gegensatzes solchen Eigentums zu der Eigentumslosigkeit der Arbeit erkannte Lorenz von Stein die eigentliche Absicht der Schrift: ,,Das ist es, was Proudhon ... zuerst und mit einer ebenso großen Schärfe als Rücksichtslosigkeit aussprach. Und darum war jenes Werk ein so bedeutsames Zeichen der Zeit; es hatte einen guten Grund, daß es die allgemeine Aufmerksamkeit in höherem Maße auf sich zog als alle sozialen (lies: sozialistischen) Schulen zusammengenommen.“ Steins Darstellung war bereits Ergebnis einer Reflexion. Es waren 10 Jahre vergangen, „seitdem Proudhon zum erstenmal auftrat. In dieser Zeit hat er sich einen Namen gemacht, den viele mit Bewunderung, viele mit Haß, aber den vielleicht niemand mit Liebe ausspricht.“1) Von den französischen Ouvriers galt das damals gewiß nicht; es galt auch später nicht von ihnen und nicht von einem erheblichen Teil der „kleinen Leute“ der französischen Provinz. Proudhon stammte aus ihren Reihen, und er ist ihnen — wie schon gesagt — immer in einer ganz ursprüng¬ lichen und unreflektierten solidarischen Bindung nahegeblieben. Seine 1837 der Akademie von Besan§on gegebene Versicherung, daß er immer „nach den Mitteln suchen werde, die physische, moralische und intellek¬ tuelle Lage der ärmsten und zahlreichsten Klasse zu verbessern“, hat ihm diese Klasse abgenommen und geglaubt. — Daß freilich Lorenz von Stein ihn nicht liebte, war offenkundig. Ihm blieb Proudhon der Geist, der stets verneint: „Er hat mit allen gebrochen, mit der Reaktion, mit der Demo¬ kratie, mit dem Sozialismus; denn er ist durch und durch eine negative Natur, der nichts genügt, weil sie nichts findet, das nicht der Kritik die Hälfte ihres Lebens lassen müßte. Er hat nichts gescheut, vor nichts sich zurückgezogen, nichts geglaubt, nichts gehört; er hat von jeher nur für das gestrebt, von dem sein kritischer Instinkt ihm sagte, daß es das gerade Gegenwärtige aufheben werde. Er war darum nicht fähig, eine Schule zu bilden, aber er war auch nicht fähig, in dem Zusammenbrechen aller Schulen mit unterzugehen.“2) Wird das aus der Sicht eines HegelEpigonen in Gegenwärtigkeit übersetzt, so steht das Bild eines radikalen Existentialisten vor uns. Das Rätsel Proudhon ist mit solcher Kennzeichnung keineswegs gelöst. Immerhin versuchte Lorenz von Stein tiefer einzudringen, weil er ein Gespür für das Lebendige und das in ihm beschlossene Geheimnis hatte. Er setzte dabei wiederum bei der Diskussion um das Eigentum an. d Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. Neuausgabe 1921, III, S. 345. 2) a. a. 0., S. 344.

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Proudhons Frage gellt dahin, ob dies „gerecht“ sei. Dabei setzte er ein Naturrecht auf „Okkupation“ als ein allgemein, für alle und für alles gültiges. Das Recht aller auf alles kann nicht durch das des einzelnen auf das einzehie aufgehoben werden. „Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß der einzelne der einzelnen Sache bedarf, und daß sich mithin um jede einzelne Persönlichkeit ein Kreis von Sachen bildet, die sich dem Leben derselben einverleiben, und deren Wegnehmen mithin dieses Eigenleben stören, oder gar zerstören würde.“1) Aber die Ansprüche der Gesellschaft stehen gegen die der Person; beide schließen sich wechselseitig aus. Dieses harte Gegeneinander versucht Proudhon nun durch eine Funktionalisierung des Eigentums lebensmäßig zu bezwingen. Am Eigentum wird „Besitz“ und „Gebrauch“ unterschieden. Die Güter sind für den ein¬ zelnen „nur da zu seinem Gebrauche; sobald er sie nicht gebraucht, sind sie nicht sein, sondern gehören sie wieder allen“. Eigentum als bloßes Haben und willkürhaftes Verfügen: „C’est le vol“; Eigentum als Ergebnis der Arbeit und daraus folgernder Nutznießung der guten Dinge von Brauchbarkeit als freundlicher Gaben der Gesellschaft: „C’est la. liberte: ces deux propositions sont egalement demontrees et subsistent l’une ä cöte de l’autre.“ Wird anstelle der Verantwortung vor der anonymen Gesellschaft die vor dem lebendigen Gott bezeugt, so kann der Blick frei werden für die alttestamentliche Wurzel solcher Aussagen. Im Alten Testament ist Eigentum von Gott gewährtes Erblehen. Es wäre gewiß völlig falsch, die Beziehungen von da zu Proudhon im einzelnen genau festlegen zu wollen; aber noch das alttestamentliche Erlaßjahr („Schemitta“), demzufolge immer nach sieben Jahren die Schulden erlassen werden sollen2), und Proudhons „Heimfallsrecht“ (droit d’aubaine) sind stilmäßig verwandt. Die Verbindung ist gegeben durch Proudhons Preisarbeit über das hebräische Sabbatjahr. Gewiß steht Proudhons Erwägung über die Bin¬ dung des Eigentums an die Arbeit auch in anderen Zusammenhängen. Sie werden in ihrer Spannweite sowohl durch den Bezug der Verbindung von Arbeit und Eigentum bei John Locke, Adam Smith wie bei den deutschen Staatssozialisten — angefangen bei Eichtes Statuierung des Eigentums als Recht auf Handlung — deutlich. Eine Unterströmung des „Zeitgeistes“ kam Proudhon jedenfalls entgegen. Von dem alttestamentlichen Bezug her, der ihm eigentümlich ist, läßt sich im übrigen b a. a. 0., S. 353. 2) Vgl. F. Horst, Das Eigentum nach dem Alten Testament. In: Das Eigentum als Problem evangelischer Sozialethik (Kirche im Volk, Heft 2), 1949.

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eine andere Unterströmung erkennen, die z. B. in der Reformationszeit bei Zwingli hervortritt. Eigentum ist diesem keine heilige Sache, sondern Symptom unserer Unheiligkeit. Daswird in Formulierungen festgehalten, die stilmäßig an die Proudhons vom Eigentum als Diebstahl gemahnen1). Weil aber bei Proudhon nicht der lebendige Gott, sondern die Gesellschaft angerufen wird, blieb der Zusammenhang verborgen. Und dennoch wird erst in ihm Proudhon wirklich verständlich. Lorenz von Stein blieb dies auf jeden Fall unbekannt.Proudhon sieht nach ihm zwar ganz richtig „Besitz“ und „Gebrauch“ als Momente des Eigentums, vermag die funktionale Verbindung beider aber weder zu erkennen noch anzuerkennen und endet daher bei ungeschlichteten Antithesen. „Hier gibt es keinen Mittelweg; entweder der einzelne ist in allem absolut rechtlos, oder er hat ein absolut ausschließendes Recht gegen jeden einzelnen an dem Inhalt seiner äußeren Lebenssphäre.“2) Dabei konnte Stein als Beleg für seinen Realismus — so verstand er seine Stellungnahme — verbuchen, daß die soziale Wirklichkeit diese un¬ geschlichteten Gegensätze als Wirklichkeit der industriellen Gesellschaft und ihres Rechts einerseits wie als die dieses Recht negierende Ideologie der sich radikalisierenden proletarischen Bewegung andererseits in sich enthalte. Zu dem „Realismus“ Steins gehört die Anerkennung dieser Situation als der des Klassenkampfes, in der man sich entscheiden muß: entweder — oder; tertium non datur. — Proudhon dürfe danach eigentlich nur die Alternative wählen, „Rechtsphilosoph“ oder „Kommu¬ nist“ zu sein. „Rechtsphilosoph“ sein hieß in Steins Sprachgebrauch, die in Hegels „Rechtsphilosophie“ von 1821 vorfindlichen Aussagen über die Verbindung von Person und Eigentum als notwendige und gleichsam providentielle, von der „Idee“ geforderte anerkennen. Der „Kommunist“ aber war aus dem Bereich dieser Zuordnung von Person und Sache und damit aus einem unteren, aber den Bau stützenden Bereich der „Sitt¬ lichkeit“ ausgetreten und dessen Verächter. Er war damit auch von der „Idee“ abgeschieden und abgesondert. So Lorenz von Stein. Bei Marx wurde das Verhältnis dann freilich wirklich umgedreht, als er vom Privateigentum aussagte, daß es uns „so dumm und einseitig“ mache, „daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben“. An die Stelle aller Sinne ist nunmehr „der Sinn des Habens“ getreten, und damit ist das Menschenwesen auf seine „absolute Armut . .. redub Vgl. S. W. Locher, Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, 1954, S. 33. 2) Lorenz von Stein, a. a. 0., S. 354.

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ziert“1). Diese Zerstörung des Reichtums des menschlichen Wesens ist auch für Marx Klassenkampf; es gehört zur Charakteristik von Lorenz von Stein, daß er ihn zuerst als solchen in entsprechender Tiefe der Aus¬ einandersetzung verstand. Er hat ihn einmal im „sozialen Königtum“ für iiberbrückbar angesehen und wurde damit zum Begründer des Staats¬ sozialismus in Deutschland2).Zumeist war er ihm jedoch zeitentsprechen¬ der Ausdruck der ewigen Polarität, die zwischen Idee und Wirklichkeit, Freiheit und Abhängigkeit, Leben und Tod errichtet ist. Weil das bei ihm immer resignierter und zugleich spielerischer wurde, konnte er mit dem absoluten Ernst der Aussage bei Proudhon nichts anfangen. So wurde ihm unbegreiflieh, daß Proudhon das Entweder—Oder seinerseits nicht voll¬ zog. Proudhon „verstand nichts als die Kritik der Rechtsphilosophen und Kommunisten zu geben“. Proudhons Kennzeichnung der früh¬ kapitalistischen Eigentumsverfassung als der „Ausbeutung des Schwa¬ chen durch den Starken“ mußte er wohl oder übel als sachbezogene Aussage hinnehmen. Der (für Marx unmöglichen) Kennzeichnung des Kommunismus als „Ausbeutung des Starken durch den Schwachen“ schließt er sich mit Zustimmung an. Wenn aber Proudhon den Leser zu bedenken bittet, daß er, „ausgehend von einem Paradoxon“ zuletzt „mit einem Paradoxon“ enden müsse, so sind solche Aussagen für Lorenz von Stein nur in der Eitelkeit des Subjektes gegründet. „Leerer .. . sind wenige Sätze in der sozialistischen Literatur Frankreichs.“3) 2. In dieser ärgerlichen Abstandnahme von Proudhon begegnen sich nun der Rechtsphilosoph (Lorenz von Stein) und der Kommunist (Karl Marx). Marx begann, wie schon berichtet, ursprünglich mit einer geradezu bewundernden Anerkennung Proudhons. Sogleich nach seiner Übersied¬ lung nach Paris (1844) hatte er sich dann auch mit ihm selbst in Verbin¬ dung gesetzt. Das ging nicht gut aus. Er berichtet, daß er jenen dort „während langer, oft übernächtiger Debatten ... zu seinem großen Schaden mit Hegelianismus zu infizieren“ vermochte, „den er doch bei seiner Unkenntnis der deutschen Sprache nicht ordentlich studieren konnte“4). In dieser Aussage ist die kritische Wendung bereits vollzogen. Gleichwohl bemühte sich Marx noch nach der Übersiedlung nach Brüssel (1846) um Proudhons Mitarbeit an einer vertraulichen internationalen x) Karl Marx, Nationalökonomie und Philosophie, ed. Thier, 1950, S. 187. 2) E. Thier, Rodbertus, Lassalle, Adolph Wagner, 1930, S. 11 fl. 3) Lorenz von Stein, a. a. 0., S. 364. 4) Brief an J. B. v. Schweitzer vom 24. 1. 1865 in: K. Marx, Elend der Philo¬ sophie. Ausgabe 1952, S. 4L

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Korrespondenz. „Das ist ein Schritt vorwärts in der literarischen Aus¬ drucksform der sozialen Bewegung, mit dem Ziel, sich von den Schranken der Nationalität zu befreien.“ Proudhon antwortete und warnte vor Dogmatismus. „Um Gottes willen, versuchen Sie nicht, nachdem wir alle anderen Dogmatismen zerstört haben, nun unsererseits Dogmen in die Menschen zu pumpen. Verfallen wir nicht in den Widerspruch Ihres Landsmannes Martin Luther, der, sofort nachdem er die katholische Theologie gestürzt hatte, sich an die Arbeit begab, unter großem Ge¬ brauch von Exkommunikationen und Bannflüchen eine protestantische Theologie zu schaffen. Machen wir uns nicht, weil wir an der Spitze der Bewegung stehen, zu Chefs einer neuen Intoleranz. Gebärden wir uns nicht als Apostel einer neuen Beligion . . . Betrachten wir eine Frage niemals als erschöpft, und wemi wir unser letztes Argument verbraucht haben, dann fangen wir, wenn es nötig ist, mit Beredsamkeit und mit Selbstironie von vorne an. Unter diesen Bedingungen werde ich mit Vergnügen bei Ihrem Unternehmen mitmachen. Andernfalls, nein.“ (Brief vom 17. 5. 1846.) Was Proudhon da über Luther sagt, gehört zu der schiefen Anschauung der Reformation, wie sie in Frankreich etwa auch bei St. Simon und Comte, mit anderen Akzenten bei den Restaurationspolitikern deMaistre, Bonald usw., zu finden ist. Es kann hier übergangen werden. Marx konnte die Aussagen insgesamt damals zweifellos nur als Ausweichen von der revolutionären Aktion ansehen, und den mitschwingenden Ton morali¬ scher Beurteilung vertrug er wahrlich nicht. Es kam zu keiner Zusammen¬ arbeit. Von dem nach der Lektüre von Proudhons „Systeme des contradictions economiques, ou Philosophie de la unsere“ geschriebenen Briefe Marxens vom 18. 12. 1846 an den russischen Liberalen, Schriftsteller und Gutsbesitzer P. W. Annenkow bis zu der schneidenden und ver¬ letzenden Schärfe der Gegenschrift „Misere de la Philosophie“ (1846/47) vollzog sich der nie wieder verharschte persönliche Bruch mit Proudhon. Proudhon hatte sein Werk Marx mit der Bitte um scharfe Kritik zu¬ gestellt: „J’attends votre ferule critique.“ In dem gleichsam abschlie¬ ßenden Brief vom 21. 1. 1865 an Lassalles Nachfolger in der Leitung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, J. B. von Schweitzer, bestätigte Marx, daß diese Antwort „unserer Freundschaft für immer ein Ende machte“. Von nun an war Proudhon für Marx „Philosoph, Ökonom des Kleinbürgertums“: „In einer fortgeschrittenen Gesellschaft, und durch den Zwang seiner Lage, wird der Kleinbürger einesteils Sozialist, andernteils Ökonom, d. h., er ist geblendet von der Herrlichkeit der

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großen Bourgeoisie und hat Mitgefühl für die Leiden des Volkes. Er ist Bourgeois und Volk zugleich. Tief drin in seinem Gewissen redet er sich stolz ein, unparteiisch zu sein, das rechte Gleichgewicht gefunden zu haben, das den Anspruch erhebt, etwas anderes zu sein als der rechte Mittelweg (juste milieu). Ein solcher Kleinbürger vergöttlicht den Widerspruch, der Kern seines Wesens ist. Er ist bloß der in Auktion ver¬ setzte soziale Widerspruch. Er muß durch die Theorie rechtfertigen, was er in der Praxis ist, und Herr Proudhon hat das Verdienst, der wissen¬ schaftliche Interpret der französischen Kleinbourgeoisie zu sein, was ein wirkliches Verdienst ist, da die Kleinbourgeoisie ein integrierender Bestandteil aller sich vorbereitenden Revolutionen sein wird.“ Wo immer Marx sich seitdem über Proudhon äußerte —- im Briefwechsel mit Engels, Annenkow, von Schweitzer, Kugelmann, in Anmerkungen und Fußnoten zum „Kapital“: immer wird jener so vorgestellt und karikiert.Wo immer (und oft genug hämisch und absprechend) vom Kleinbürger bei Marx die Rede ist, liegt der Verweis auf Proudhon nahe. Wie bei Hegel Begeg¬ nungen mit Zeitgenossen und mit historischen Gestalten Zusammengehen und etwa im Bild der „schönen Seele“ Jesus und Hölderlin verbunden sind, so werden bei Marx in häßlichem Gezänk und verletzendem Spott Bedeutungen aufgegriffen, die für ihn zugleich Notwendigkeit an sich haben. Das ist trotz der Peinlichkeit des Verfahrens in seiner sachlichen Bedeutung festzuhalten. Die Begegnung mit Proudhon ging so als ein im erörterten Sinne notwendiges und zugleich aufzuhebendes Moment ein in Marxens Realdialektik des gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesses. Proudhon war für Marx so immer ganz nah und sogleich immer schon übergangen: der inkorporierte „Widerspruch“ als „integrierender Be¬ standteil aller sich vorbereitenden Revolutionen“ ist vorhanden und zugleich schon ausgetilgt. Was aber vermag der von der „Rechtsphilosophie“ und vom,Kommu¬ nismus“ gleichermaßen Angeklagte zu seiner Verteidigung zu sagen?: „Je suis plus convaincu que jamais qu’il n’y a pas place pour moi dans ce monde, et je me regarde comme en etat d’insurrection perpetuelle contre l’ordre de choses.“1) Da klagt die ganze Tragik eines Lebens¬ wagnisses, welches das Scheitern zwischen den in Wirklichkeit und Ideologie so abgegrenzten und befestigten Positionen der „Rechts¬ philosophie“ und des „Kommunismus“ längst als notwendig begriffen hat. Aber noch im Schmerz des Scheiterns und des Verkanntseins lebt die

b Corre3poad ancs de P. J. Proudhon, 1875, Bd. II.

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Überzeugung, daß nur ,,les contradictions“ das Leben bergen und behüten. Der Scheiternde ist in seinem tiefsten Bewußtsein der eigentliche Sieger. Die eben mitgeteilte Klage stammt vom 5. 2. 1846. Am 17. 5.1846, also wenige Monate später, erging der berühmte Brief an Marx, in dem der immerwährende Revolutionär Proudhon in Gelassenheit und deutlich empfundener innerer Überlegung diesen zur Aufgabe der revolutionären Gewaltanwendung ermahnt. Was bedeutete das Marx noch? Proudhon aber wird erst in der Spannung zwischen jenen beiden Briefen recht gesehen. 3. Aber was hat es mit den „contradictions“ nun eigentlich auf sich? Sie sind ersichtlich nicht beschränkt auf die Sphäre des Eigentums, wenn¬ gleich sie hier zunächst wahrgenommen wurden. In Wahrheit sind sie für Proudhon ebenso der Schlüssel zur Welt, wie dies für Hegel-Marx die Dialektik war. Die Seele selbst ist antagonistisch konstruiert: ,,Nous ne vivons, ne pensons, quepar une serie d’oppositions.“1) ,,Citoyen et Etat, Homme et Dieu“ stehen in Spannung, Widerspruch und Zusammengehörig¬ keit in einem. Aber nicht allein zwischen den so unterschiedenen und doch aufeinander bezogenen Kategorien, sondern in jeder Kategorie selbst sitzt die contradiction als ihr eigentliches Leben und zugleich als die Möglich¬ keit ihrer Zerstörung. Was am Begriff des Eigentums schon gezeigt war, versuchte Proudhon an denen der Arbeitsteilung, der Konkurrenz, des Kredits usw. aufzuweisen. Proudhon hat seit 1839 geglaubt, das von ihm sozusagen als Urphänomen Angesprochene und Gemeinte in Kants Lehre von den „Anti¬ nomien“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ geradezu als Modell der eigenen Überzeugungen anschauen und beschlagnahmen zu können. Diese Antinomien sind bei Kant „eine ganz natürliche Antithetik, auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen braucht, sondern in welche die Vernunft selbst, und zwar unvermeidlich, gerät und dadurch zwar vor dem Schlummer einer eingebildeten Überzeugung, den ein bloß einseitiger Schein hervorbringt, bewahrt, aber zugleich in Versuchung gebracht wird, sich entweder einer skeptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegen¬ teils Gehör und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“2) Was von Kant skeptisch, was von ihm dogmatisch genannt wurde, wird auch von J) P. J. Proudhon, Systeme

des Contradictions economiques ou Philosophie

de la Misere. Nouvelle edition, 1923, I, S. 311. 2) I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Inselausgabe, S. 326.

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Proudhon abgelehnt. In der Auflösung der Antinomie in ein Entweder— Oder sah er mit Bezugnahme auf Kant den Tod seiner und jeder „gesun¬ den Philosophie“! Diese Antinomien (der Unendlichkeit oder der End¬ lichkeit der Welt in zeitlicher und räumlicher Ausdehnung, ihrer Teilbar¬ keit, der Kette der Ursachen) beweist Kant ja nun wechselseitig mit ihrem kontradiktorischen Gegenteil, wobei zunächst die These durch Widerlegung der Antithese und vice versa begründet, und jede Behaup¬ tung also ebenso bewiesen wie widerlegt wird. Kant sieht im Bestehen und der Nichtauflöslichkeit der Antinomien nicht nur den indirekten Beweis für den transzendentalen Idealismus seiner Baum- und Zeit¬ lehre. Es liegt ihm darüber hinaus daran, von hier aus jeden Versuch einer rationalen Kosmologie als „eine Idee“ zu entlarven. Die regulative Bedeutung der Antinomien ist eine eingeschränkte imd zugleich not¬ wendige : sie begründen die Unerfüllbarkeit und zugleich die Unabwend¬ barkeit empirischer Forschung; ein in sich unendliches Sollen, das immer erneut zu nunmehr von vornherein einsichtigen Paradoxien führen muß und sich aus der immanenten Fragestellung doch immer wieder entzündet. Wie Kant systematisch weiterschreitet zu den Kategorien, den in den Urteilsformen enthaltenen konstitutiven Grundbegriffen des reinen Ver¬ standes, die erst den Aufbau der Welt und ihrer Gegenstände für ihn ermöglichen, wie er über die Erkenntniskritik zur Ethik der „Praktischen Vernunft“ weiterschreitet, ist hier nicht zu erörtern. Proudhon hat das alles jedenfalls keineswegs im Sinne der Kantischen „Kritik“ mitvollzogen — bei aller Verneigung vor dem Philosophen, „rimmortel Kant“. Ohne jegliche methodische Sicherung und syste¬ matisches Bemühen übersetzt er die erkenntnistheoretische Fragestellung ohne weiteres in soziologische Aussagen über die paradoxale Beschaffen¬ heit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ohne zu spüren, wie er diese dabei — im Sinne Kants—als eine rationale Soziologie konstruiert: „Je fais le Systeme des antinomies de la Societe, ä peu pres comme Kant avait fait la critique des antinomies de la raison.“1) „Proudhon le (Kant) comprenant, ou l’interpretait librement, ä sa fa§on, qui n’etait point la kantienne.“ Und doch ist er ihm auch nicht durchaus fern, „gräce ä cette transmission sourde qui se fait par mille canaux divers“2). (H. deLubac.) Die an sich naheliegende Aneignung der soziologischen Antinomie in Kants Bestimmung der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen in der

x) Nach H. de Lubac, Proudhon et le Christianisme, 1945, S. 155. 2) a. a. 0., 153 u. 155. Marxismusstudien II

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Schrift über die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ hat Proudhon hingegen nicht aufgegriffen. Kant versteht dort „unter dem Antagonismus die ungesellige Gesellschaft der Menschen, d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. .. . Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt.“1) Wie dies mit der verborgenen Teleologie des Geschichtsverlaufes bei Kant verbunden ist, braucht hier nicht dargestellt zu werden, wenngleich in dem, was bei Kant „die Natur will“, und der konstanten und zugleich in verborgenerWeise teleologisch bestimmten „Moral“ Proudhons gewisse Stil Verwandtschaft aufzuweisen wären. Es würde der Nachweis freilich alles hier folgende schon voraus¬ setzen. Zudem würde ohne Beachtung der prinzipiellen Gewichtigkeit der Gegenwärtigkeit bei Proudhon die Bedeutung der Antinomie bei ihm entschärft. — Wenn Henri de Lubac ihm bescheinigt, daß die Antinomien bei ihm nicht wie bei Kant „sont une sorte de mur auquel finalement la raison se heurte“, sondern „les lois de la pensee en rnarche“2), so hat er recht und unrecht zugleich. Wenn Proudhon, „nouvel Heraclite“, seine antagonistische Konzeption auf Universum und Gesellschaft überträgt, so ist er gewiß von Kant entfernt. Seine Auffassung der Paradoxien im Ethischen und im gesellschaftlichen Leben sind aber in unterirdischem Zusammenhang von Kant her einsichtig zu machen. H. de Lubac sieht auch das rechte Beziehungsgefüge (mit Einschluß der Generationsspannen zu Kant hin), wenn er „une (autre) ressemblance“ konstatiert: „Dans un contexte aussi different que possible, avec Kierkegaard.“3) Es ist hier noch einmal ein Wort über Proudhons Bildungsgang zu sagen. Sein Werk ist das eines Autodidakten, der — mit dem Blick für wesentliche Sachverhalte begabt — in seiner Unbedingtheit nicht selten übersieht, wie sehr Distinktionen zu beachten sind und wiederum das Wesentliche auf dem Hintergrund des Unwesentlichen erscheint. Mit der Möglichkeit des Zuganges zu den Schichten immittelbaren Erlebens aus¬ gestattet, vermag er häufig der Versuchung nicht zu widerstehen, das zufällig da oder dort Aufgegriffene von der Besonderung zu lösen und selbständig, aber dem ursprünglichen Zusammenhang fremd, zu ver¬ arbeiten. Marx hat schon recht, wenn er sagt, daß „selbst da, wo nur Altes reproduziert wird, Proudhon selbständig findet; daß das, was er ß Hartensteinausgabe IV, S. 146 f. 2) H. de Lubac, a. a. 0., S. 156. 3) a. a. 0., S. 161.

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sagt, ihm selbst neu war und als neu gilt“1). Was er übersieht, ist, daß innerhalb solcher Überdeckungen Proudhon sich selbst ausspricht. Die Überdeckungen machen, daß das, was tragisch anmutet, dann freilich zuweilen auch den Anschein des Komischen gewinnen kann. Aber hinter dem unfreiwillig Komischen steht wiederum immer ein tragischer Aspekt. Der philosophischen Bildung der deutschen Hegelianer Lorenz von Stein und Marx mußte Proudhons Versicherung, daß er „ausgehend von einem Paradoxon, auf jedem Schritt einem Paradoxon begegnen konnte und mit einem Paradoxon enden mußte“, als Rederei erscheinen. Auch die bei Lorenz von Stein immer spielerischer werdende und im faktisch unbehobenen Gegensatz verharrende Dialektik ist immer noch im for¬ malen Dreitakt von Thesis—Antithesis—Synthesis gebaut und in ihrer gesellschaftlichen Relevanz

sogleich geschichtsbezogen.

Indem nun

Proudhon seinerseits die Hegelsche Dialektik aufgreift, wird sie von ihm, der bewußt in Gegenwärtigkeit verharrt, mit innerer Notwendigkeit der historischen Gerichtetheit entkleidet, die sie gerade noch bei Lorenz von Stein und durchaus bei Marx hat. Marx kann dies nur ironisch konstatieren: „Für Herrn Proudhon hat jede ökonomische Kategorie zwei Seiten, eine gute und eine schlechte. Er betrachtet die Kategorien, wie der Spießbürger die großen Männer der Geschichte betrachtet: Napoleon ist ein guter Mann, er hat viel Gutes getan, er hat auch viel Schlechtes getan. Die gute Seite und die schlechte Seite, der Vorteil und der Nachteil zusammengenommen, bilden für Herrn Proudhon den Widerspruch in jeder ökonomischen Kategorie. Zu lösendes Problem: die gute Seite bewahren und die schlechte beseitigen.“ Das wird nun ebenso boshaft wie einleuchtend demonstriert, z. B. an der Behandlung der Konkurrenz bei Proudhon. Diese hat eine „gute Seite : „Sie gehört ebenso wesentlich zur Arbeit wie die Teilung ... Sie ist notwendig zur Herbeiführung der Gleichheit.“ Sie hat eine „schlechte Seite“: „Das Prinzip ist die Voraussetzung seiner selbst. Seine sicherste Wirkung ist, diejenigen, welche es mit sich reißt, zu verderben.

Das fordert eine

„allgemeine Betrachtung“: „Die Unzuträglichkeiten, die es zur Folge hat, entstanden ebenso wie das Gute, welches es mit sich bringt ..., rein logisch: dem Prinzip.“ Und hieraus resultiert die „Aufgabe“: Es gilt, „das Prinzip der Vermittlung“ zu suchen; „es kann sich also hier nicht darum handeln, die Konkurrenz aufzugeben, eine Sache, die ebenso

!) K. Marx, Elend der Philosophie, a. a. 0., S. 40.

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unmöglich ist wie die Aufhebung der Freiheit; es handelt sich darum, das Gleichgewicht ... derselben zu finden“1). 4. Bevor in die weitere Erörterung eingetreten wird, mag eine Zwischen¬ bemerkung erlaubt sein. — In dem Stadium des Bolschewismus, da dieser nach eigener Aussage bereits „sozialistisch“ geworden und somit ganz in der Nähe der Endstation „klassenlose kommunistische Gesellschaft“ angelangt ist, ergab sich mit einiger Notwendigkeit die Frage, welche Form von Dialektik anstelle der über sich hinausweisenden Dialektik der Klassenkampfsituation zu treten habe. Bei aller theoretischen Versiche¬ rung des weiteren Fortschritts in Richtung der endgültigen „klassenlosen Gesellschaft“ war mit der Behauptung der faktisch bereits erreichten Klassenlosigkeit und des Umschlags von Revolution in Evolution ja eine vorläufige — insgemein sehr nachdrücklich betonte — Gegenwärtigkeit der Bewährung und des Vollzugs sozialistischer Gemeinschaft erreicht. Der nun prätendierte Ersatz des Klassenkampfes durch „sozialistische Selbstkritik“ und „sozialistischen Wettbewerb“ aber setzt antinomische Spannungen voraus, deren „schlechte Seite“ auszumerzen und deren „gute Seite“ zu entwickeln ist! Steht Proudhon nunmehr hinter Marx, Lenin und Stalin? —Was Marx als vorgebliche Dialektik bei Proudhon beschreibt, ist nun gewiß nicht Dialektik im Sinne Hegels. Hier wird vielmehr in einem scheinbar Festen und Gewissen ein innerer Widerspruch erkannt. Dieser Widerspruch führt aber weder zur „Verneinung“ (im Hegelschen Sinne) mit ihrem Ernst und Schmerz und mit der Gedidd und Arbeit des Negativen, noch wird sie auf höherer Ebene zu neuer Ver¬ mittlung. These und Antithese werden nicht aufgehoben, um in ihren Gehalten bewahrt zu bleiben. Marx hat so zweifellos recht mit der Entlarvung der angeblichen Hegelschen Dialektik bei Proudhon als eines Mißverständnisses Hegels, daß darüber nicht viele Worte zu verlieren sind. Proudhon ging es ähnlich wie Moses Heß, dem Halbautodidakten unter den deutschen Früh¬ sozialisten. Beide suchten für die sie bedrängenden Gedanken nach Aus¬ drucksformen und ergriffen diese, wo sie und wie sie sich ihnen darboten. Die Einflüsse konnten wechseln, die Grunderlebnisse blieben. Henri de Lubac hat das bei Proudhon deutlich gesehen. „On peut donc dire, si l’on veut, que Proudhon fut hegelien dans les Contradictions economiques comme il avait ete fourierien et comtien dans la Creation de l’ordre, — ce qui n’est pas conceder beaucoup. On peut meme ajouter a. a. 0., S. 165.

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qu’il n’a pas mieux compris Hegel qu’il n’avait compris Fourier. La verite est qu’il etait lui-meme, et qu’il ne se servait des autres que pour mieux se trouver lui-meme.“1) Marx konnte das Hegelsche Gewand von Proudhons Schultern reißen. Fiel aber wirklich der Herzog, als der Mantel fiel? Marx machte mm andererseits Proudhon wiederum zum unbewußten Hegelianer, insofern er ihm unterstellt, daß er angesichts der unbegriffenen realsoziologischen Entwicklung „die Hypothese von der sich offen¬ barenden Universalvernunft“ annimmt. „Herr Proudhon verwechselt die Ideen mit den Dingen.“ Bei ihm findet sich „Hegelscher alter Kohl, das ist keine Geschichte — Geschichte der Menschen —, sondern heilige Geschichte — Geschichte der Ideen. Nach seiner Ansicht ist der Mensch bloß das Werkzeug, dessen sich die Idee oder die ewige Vernunft zu ihrer Entwicklung bedient.“2) Diese Kritik ist völlig analog der gleichzeitig vollzogenen Hegelkritik bei Marx konstruiert: „Hegels Geschichts¬ auffassung setzt einen absoluten oder abstrakten Geist voraus. Innerhalb der exoterischen Geschichte läßt er dabei eine spekulative, esoterische Geschichte Vorgehen.“3) Martin Buber hat neuerdings betont, daß

„diese Hegelisierung

Proudhons . .. ins Leere (trifft). Kein Mensch hat redlicher als Proudhon die soziale Wirklichkeit seiner Zeit nach ihrem Geheimnis befragt.“4) Das ist zunächst eine Behauptung. Buber stützt sie vorerst mit dem Hinweis, daß Proudhon die Aussage Marxens aus dem „Elend der Philosophie“, wonach „die ökonomischen Kategorien ... nur die theore¬ tischen Ausdrücke der sozialen Beziehungen der Produktion sind“, zustimmend kommentiert habe: „Das ist genau das, was ich sage. Die Gesellschaft bringt die Gesetze und die Stoffe ihrer Erfahrung hervor.“ Damit ist ja nur freilich Proudhon noch nicht zum Marxisten geworden. Geahnt hat Marx den eigentlichen Unterschied, ohne ihn fassen zu können. Wenn die Kategorien für Proudhon „das verborgene und ewige Leben der Menschen sind, wie kommt es dann, erstens, daß es Entwick¬ lung gibt, und zweitens, daß Herr Proudhon nicht konservativer ist? Er erklärt diese offenbaren Widersprüche durch ein ganzes System des Antagonismus. “ 5) *) H. de Lubac, a. a. 0., S. 149. 2) K. Marx, Elend der Philosophie, S. 8. 3) a. a. O., S. 381. 4) Martin Buber, Pfade in Utopia, 1950, S. 47. s) Iv. Marx, Elend der Philosophie, S. 12.

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Gibt es für Proudhon Entwicklung? Ist der Kevolutionär nicht zugleich zutiefst konservativ? Die Fragen sind gestellt! Die Antwort fordert die erneute Hinwendung zu den Antagonismen. — Es gilt für Proudhon, den Gegensatz im Wesen der Sache, der prinzipiell unbehebbar ist, durch¬ zustehen. Ordnung ist danach der für das Leben fruchtbar gemachte Widerspruch, nicht dessen logische und zugleich historische Überwin¬ dung. In allen Bereichen des Daseins ist die polare Spannung erfahrbar als Ausgesetztsein des Menschen an diese Gegensätzlichkeit, die in ihrer Qual zuweilen kaum noch erträglich ist. Gerade im Durchstehen dieser Qual aber wird das Leben bewahrt und erhalten. Die Gegensätze erscheinen als solche von Individuen, von gesellschaftlichen Gruppen, von Staaten; aber auch von Ideen und Prinzipien: „C’est avoir une idee tres fausse de l’ordre du monde et de la vie universelle, que d’en faire un opera. Je vois partout des forces en lutte; je ne decouvre nulle part, je ne puis comprendre cette melodie du grand Tout, que croyait entendre Pythagore.“1) Wird der Streit nicht durchstanden, so treten die Gegen¬ sätze unbezwungen auseinander, und jeder Pol beansprucht den Menschen unausweichlich und wie das Schicksal selbst. Für das Durchstehen der Spannung aber hat Proudhon den Ausdruck „defatalisation“ geprägt. Gerade im Hineingestelltsein in die Spannung wird im Leben selbst nämlich neue Möglichkeit frei, die vorher nicht erkannt war. Darum ist die feste und bergende Hülle des Systems für Proudhon nicht vorhanden: ,,De Systeme, je n’en ai pas; j’en repousse formellement la supposition. Le Systeme de rhumanite ne sera reconnu qu’ä la fin de l’humanite.“2) Es mag das existentielle Dialektik genannt werden, und es darf in ihrem Bereich bei Würdigung aller Unterschiede auf Kierkegaards Ablehnung des Systems beim Abschluß seiner Hegelkritik verwiesen werden: „Ein System des Daseins kann nicht gegeben werden. Also gibt es auch ein solches nicht? Keineswegs. Das liegt aber auch nicht in dieser These. Das Dasein ist ein System für Gott, aber für einen existierenden Geist kann es ein System nicht sein.“3) Martin Buber hat Proudhons Haltung so verstanden: „Proudhon war ein Mann, der die Kraft und den Mut hatte, sich in den Widerspruch zu versenken und ihn auszuhalten. Er blieb zwar nicht darin, wie Unamuno meint, der ihn deshalb mit Pascal vergleicht; aber er blieb so lange darin, b P. J. Proudhon, De la Justice dans la Revolution et dans l’Eglise. Nouvelle edition, 1930ff., III, S. 405. 2) de Lubac, a. a. 0., S. 152. 3) Kierkegaard, Phil. Brocken, I, S. 192.

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als nötig war, um ihn in seiner ganzen Grausamkeit zu erfassen, so lange, als nötig war, um den Kampf der Elemente, den Widerstreit der Gegen¬ sätze in Gedanken voll auszutragen.“ Daher hat der auf das Nahe und Gegenwärtige gerichtete Wille eine Dimension in sich, die die Bestimmung des Kleinbürgerlichen weit hinter sich läßt. Das Schlechte weglassen und das Gute fördern, kann die Haltung des „juste milieu“ sein. Es gibt Partien bei Proudhon, die so zu deuten sind. Es kann sich aber auch um das herbe Herausarbeiten des Lebens aus den Klammern und Verkru¬ stungen des Tödlichen handeln. Dann wird ein antagonistisches, immer gefährdetes, immer erneut als Aufgabe gestelltes Gleichgewicht möglich: „Dans une äme maitresse d’elle -meme, dans une societe bien ordonnee, les forces ne luttent un moment que pour se reconnaitre, se contröler, se confirmer et se classer . . . Dans la eite, les forces cooperatives se balancent.“1) ,,Qui dit harmonie ou accord, en eff et, suppose necessairement des termes en Opposition. Essayez une hierarchie, une prepotence: vous pensiez faire de l’ordre, vous ne faites que de l’absolutisme.“2) Der junge Hegel hat vom Widerspruch einmal gesagt: „Was im Reich des Toten Widerspruch ist, ist es nicht im Reich des Lebens.“ In dieser Aussage kann (rein dem Wortlaut nach) Proudhon noch immer erkannt werden. Freilich zielt Hegels Aussage dem Sinn nach in eine andere Dimension. Weil Gegensätzlichkeit für Proudhons Begriff im Wesen der Welt, der Gesellschaft und des Menschen angelegt ist, muß er den Ort bejahen, da der Widerspruch zur Entscheidung, zum Ausharren, zur praktischen Bewährung aufruft. Das ist aber die Gegenwart. Marx nennt den Wider¬ spruch im Wesen des Gegenwärtigen „Entfremdung“. Er projiziert von der Entfremdung nach rückwärts einen unentfremdeten Zustand und nach vorwärts die Wiederaufhebung der Entfremdung. Sein Herz und sein Instinkt ist der Wiederherstellung oder der „Reintegration“ ver¬ haftet, und damit wird die Entfremdung zum transitorischen Moment. Proudhon ist dieser Weg der Vorwegnahme eines nichtentfremdeten Zustandes verschlossen. Und so oft Marx und Proudhon die gleichen Vokabeln gebrauchen, legen sie ihnen im Banne dieser Verschiedenheit des Ansatzes einen anderen Sinn zugrunde. Sie müssen sich mißverstehen. Beide sprechen sie von Privateigentum, Arbeitsteilung, Konkurrenz, Revolution. Beide sind sie von der unerhört großen Bedeutung der sozialen Faktoren in der von beiden kritisch und leidenschaftlich gekennzeichneten Unordnung ihrer Zeit überzeugt. Es ist daher möglich, 1) p. J. Proudhon, La Guerre et la paix. Nouvelle edition, 1927, S. 137. 2) P. J. Proudhon, De la Justice, a. a. 0., III, S. 256.

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bei Proudhon immer wieder Stellen ausfindig zu machen, die Parallelen zu Marxens historisch-materialistischer Geschichtsauffassung zu sein scheinen. Und dennoch ist Marx völlig im Recht, wenn er sich klar absetzt von Proudhon. Im Ökonomischen liegt bei ihm der Pfeil des Geschichtlichen: „Dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. Soweit sind diese Ideen, diese Kategorien ebensowenig ewig wie die Verhältnisse, die sie ausdrücken. Sie sind historische, ver¬ gängliche, vorübergehende Produkte.“1) Das führt in der weiteren Aus¬ gestaltung bei Marx bis hin zu der Aussage, daß es eine Epoche des „letzten gesellschaftlichen Antagonismus“ gibt, jenseits dessen Über¬ windung die Vorgeschichte der Menschheit beendet ist. Proudhon fühlt sich seinerseits hiervon nicht betroffen. Weil die Antagonismen jetzt und hier zu durchstehen sind, verliert die geschicht¬ liche Dimension für ihn die ausschlaggebende Bedeutung. Sie wird zur Sphäre bloßer Veränderungen, die immer erneut Gegenwärtigkeit aus sich entlassen und die Antagonismen reproduzieren. 5. Durch nichts kann dieses Ausgeliefertsein des Menschen an Grund¬ spannungen besser gekennzeichnet werden als durch die vorgegebene und sich fortgesetzt erneuernde Stellung des Menschen gegenüber den autoritären Mächten. Die erste dieser autoritären Mächte ist Gott. Als autoritäre Macht beansprucht er den Menschen völlig und reißt ihn somit aus der Lebendigkeit der Spannungen; er macht den Menschen zu seinem Sklaven. Im Christentum ist dieser jeder Religion immanente Autoritäts¬ anspruch für Proudhon zuhöchst gesteigert. Das Christentum war für ihn so die „große Revolte gegen das heidnische Fatum“, weil es das unper¬ sönliche Schicksal durch die persönliche Vorsehung ersetzt. Diese ist für ihn Wirklichkeit. Weil die Vorsehung Autorität ist, weil sie nicht anders verstanden werden kann denn als alles umfassende Prädestination, gerade darum ist sie — unmenschlich. Sie löst die Antagonismen auf und mit ihnen die menschliche Freiheit. Weil aber ohne die Freiheit der Mensch nicht menschlich sein kann, zerstört ihn die Vorsehung. Proudhon zögert nicht zu sagen, daß Gott „ist“; aber er fügt sofort hinzu: „Dieu, c’est le mal.“ Das klingtblasphemisch und verzweifelt zugleich; es ist beides zugleich. „Man sage uns nicht: die Wege Gottes sind unerforschlich! Wir haben sie erforscht und in blutigen Lettern den Beweis seiner Ohnmacht, b K. Marx, Elend der Philosophie, S. 130.

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wenn nicht seiner Böswilligkeit gelesen ... Ewiger Vater oder Jehova, wir kennen Dich: Du bist, warst und wirst ewig auf Adam neidisch und der Tyrann des Prometheus sein.“1) Wie läßt sich Gottes Vorsehung mit der kreatürlichen Freiheit, wie läßt sie sich mit dem Leid in der Welt vereinen? ,,Eh bien, voila justement ce que Dieu, le Dieu de la Providence, a fait dans le gouvernement de l’humanite; voila ce dont je l’accuse. II savait de toute eternite, puisque, apres six mille ans d’experience douloureuse, nous, morteis, l’avons decouvert, que l’ordre dans la societe, c est-ä-dire la liberte, la richesse, la Science, se realise par la conciliation d idees contraires qui, prise chacune en particulier pour absolues, detaient nous precipiter dans l’abime de misere: pourquoi ne nous a-t-il point avertis?“2) Gott macht den Menschen verantwortlich für das, was er tut. Aber er verweigert ihm die Kraft, den Auftrag zu vollziehen. Er stellt Forde¬ rungen und wirkt das Gegenteil. Wie viele haben das alles in der Geschichte der Christenheit längst vor Proudhon und nach ihm erlebt und sind beinahe zerbrochen am Deus absconditus? Luther schrieb an Erasmus, es sei „der gewöhnlichen Ver¬ nunft äußerst anstößig, daß Gott nur seinem eigenen Willen folgt, wemi er die Menschen im Stich läßt, verhärtet, verdammt. Denn es scheint, als hätte er seine Freude an den Sünden und der ewigen Qual der Unglück¬ lichen, während in der Predigt die Größe seiner Barmherzigkeit und Güte gerühmt wird. Es scheint, als müsse man deshalb Gott für unbillig, grausam, für imerträglich halten. An diesem Anstoß sind viele bedeutende Menschen aller Zeiten gescheitert. Und wer sollte nicht daran Anstoß nehmen? Ich selbst wurde dadurch mehr als einmal bis in den tiefsten Abgrund der Verzweiflung hinabgeschleudert, so daß ich wünschte, niemals geboren zu sein, bis ich erfuhr, wie heilsam diese Verzweiflung ist — und wie nahe der Gnade.“3) Ohne das Evangelium folgt aus dem Erleb¬ nis des Scheiterns an Gott Verzweiflung, Gotteshaß und Lästerung. Es soll nicht eine weiterreichende Parallele Luther-Proudhon versucht werden. Sie wäre gefährlich, weil sie spezifisch katholische Momente noch in der Wendung gegen die römische Kirche bei Proudhon übersehen würde. Als Aufweis der Hiobslinie der Leiden war sie bis hin zum Aus¬ druck der Verzweiflung an Gott — als einer christlichen Erfahrung! — zulässig. Proudhon blieb aber in der Verzweiflung und im Haß befangen. b Zitiert nach Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. 1953, S. G6. 2) P. J. Proudhon, Systeme des Contradictions, I, S. 379. 3) Zitiert nach W. Eiert, Morphologie des Luthertums, 1931, I, S. 20.

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Darum wird es für ihn „die erste Pflicht jedes intelligenten und freien Menschen, sich den Gottesgedanken unablässig aus Kopf und Hirn zu schlagen“1). Darum konnte er Momente der Religionskritik Feuerbachs aufnehmen, um sie immer wieder zu verwerfen. Darum bleibt sein Versuch, die Religion in der Anlage des Menschen angelegt zu sehen, im ständigen Widerspruch zu seiner Anerkennung Gottes als des Gegenüber des Menschen. Während für Marx „die Kritik der Religion ... im wesentlichen beendigt“ war2), blieb Proudhon noch hassend an Gott gebunden. „On n’a jamais fini de se debattre contre Dieu.“3) Darum kam er auch nie von der Bibel los. „Proudhon est dans notre litterature un des grands representants de la tradition biblique“, hat H. de Lubac von ihm gesagt4). Donoso Cortes wußte, daß seine sozialen Theorien zutiefst „negativ“ theologisch fundiert sind und ihnen deshalb theologisch begegnet werden müsse. Georges Sorel sah in ihm einen Erben „der französischen Theologie. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Wieder¬ geburt der Proudhonstudien, die man heutzutage (1921) bemerkt, dazu beitragen wird, den laizistischen Geist zur Theologie zurückzu¬ führen.“5) Die Kirche ist für Proudhon die irdische Entsprechung der göttlichen Autorität. Sie könnte diese nicht bewahren, wenn sie das Leid ohne Sinn ließe. Darum muß sie den Menschen für sündig erklären. Diesseitige Leiden sind nach ihrer Lehre daher Strafe, wohingegen das Reich Gottes jenseitig und demnach für das Wagnis der Existenz unzugänglich bleibt. Würde sich der Mensch nicht als der Erbsünde unterworfen ansehen, so wäre er frei für das Engagement im gesellschaftlichen Antagonismus — und er muß daher gegen Gott stehen. Die Kirche aber muß als Stütze der Autorität Gottes an der Erbsünde und damit am Fortbestehen der Un¬ gleichheit festhalten. (Wenn irgendwo, so ist hier der antiklerikale Proudhon im Bereich der katholischen Tradition geblieben. Er konnte das peccatum originale auch in der Gestalt des kantischen „radikalen Bösen“ nicht denken, wiewohl er — wie noch zu zeigen ist — den immer erneuten und somit immer vorhandenen sozialen Sündenfall kennt. Aber die sincerite ist — wie ebenfalls noch zu erwähnen — zu verstehen als Unzerstörtes im Menschen.) b 2) 3) 4) 5)

Löwith, a. a. 0., S. 65. Karl Marx, Der historische Materialismus (Kröner), I, S. 263. H. de Lubac, a. a. 0., Kap. VI, Abs. 3. a. a. 0., S. 136. Löwith, a. a. 0., S. 211.

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Zwischen den Formeln ,,la propriete c’est le vol“ imd ,,Dieu c’est le mal“ besteht, wie H. de Lubac nachdrücklich hervorhebt, ein Zusammen¬ hang, der über agitatorische Leidenschaft da wie dort hinausreicht. Proudhon sah die Kirche seiner Zeit als „etat“ auf der Seite der Reaktion, welche gerade die schlechte Eigentumsform festhält und heiligt. H. de Lubac zitiert die Aussage eines Abbe Merigot aus der katholischen Revue „Le Defenseur“ vom Oktober 1820: „Les missionnaires .. . sont conduits par la volonte expresse de notre roi ... Ceux qui les desapprouvent sont donc opposes aux voeux du monarque Tres Chretien et de toute la France; ils sont les ennemis declares de la patrie ... Ils veulent la division des sujets, leur alienation irreconciliable avec le tröne; ils veulent une guerre formelle contre le ciel.“1) Es ist schmerzlich, als deutsche Parallele zu dieser Gleichsetzung von Thron und Altar ausgerechnet J. H. Wiehern anführen zu können: „Es gilt die Rettung der bürgerlichen Welt, um deswillen wir uns treu zu unserem Vaterlande halten; es gilt die Gewin¬ nung des besten, ewigen Vaterlandes, um deswillen wir uns treu und mutig wie bisher der Kirche anschließen; denn die Innere Mission ist ebenso wahrhaft patriotisch, als sie das Schwert führt gegen die, welche sich gegen die Kirche erheben.“2) Leon Bloy hat rückblickend im Zeit¬ spiegel von Balzacs Werk dort die Kirche nur „comme un engin de gouvernement“ gesehen3). Neben der Aussage vom Eigentum als Diebstahl stand bei Proudhon die andere; daß es „la liberte“ sei. Fordert die in die blasphemische Aus¬ sage „Dieu c’est le mal“ eingeschlossene Erschütterung durch den Deus absconditus nicht eine „antagonistische“ — und könnte hier der Deus revelatus erfahren werden? Proudhon schien auf dem Wege hierzu zu sein. „L’humanite et la divinite sont d’abord antagonistiques; si Dieu et l’homme sont opposes, ils sont par cela meme necessaires l’un ä l’autre.“4) Gott braucht den Menschen, wie dieser Gott. Die Erfahrungen vom Zusammenhang von Reaktion und Kirche in der Revolution von 1848, „la justice poursuivie par l’Eglise“, warfen Proudhon in die bloße Ent¬ gegensetzung zurück. Daß er zu Positionen wie der von Kierkegaard, oder auch von Leon Bloy gelangt wäre, ist unwahrscheinlich, so nahe er ihnen bisweilen erscheint. Er konnte 1843 noch dankbar in dieser für ihn „letzten Stunde des Christentums“ dessen Segnungen gedenken, und q H. de Lubac, a. a. 0., S. 198. 2) E. Thier, Die Kirche und die soziale Frage, 1950, S. 51. 3) H. de Lubac, a. a. 0., S. 198. 4) H. de Lubac, a. a. 0., S. 190.

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zwanzig Jahre später begriff er die Krise des 19. Jahrhunderts vom Ver¬ fall der christlichen Grundlagen der westlichen Zivilisation her. Faktisch wurde er in der unbezwungenen Entgegensetzung zum Theologen des „Fortschritts“. Neben der Religion, von ihr geheiligt, ist der Staat für Proudhon die andere große autoritäre Macht. „Le Gouvernement est de droit divin ou il n’est pas.“ Er ist als historisches Gebilde notwendig, bevor die gesellschaftlichen Antagonismen erstarkt sind, und er muß sie aus seinem autoritären Wesen heraus auch dann noch verneinen. Er wird zu gewissen Reformen gedrängt, aber seinem eigentlichen Wesen nach ist er am Status quo fixiert. Er wird in die Contradictions hineingerissen; „la meilleure forme de Gouvernement ... est une idee contradictoire“, heißt es in den Bekenntnissen des Revolutionärs von 1848. Weil aber der Staat in seinem Wesen gefangen ist, wird er — auch in demokratischer Form — zur Autorität tendieren. „La puissance de l’Etat est une puissance de concentration; donnez-lui l’essor, et toute individualitedisparaitra bientöt, absorbee dans la collectivite.“1) Bei alledem schwingt die Einsicht oder die Überzeugung mit, daß der Staat gegenwärtig in einer Krise begriffen ist, die vom Heraufkommen der Gesellschaft als einer um Eigenstän¬ digkeit ringenden neuen Konstellation berichtet. Das ist manchen Ein¬ sichten von Lorenz von Stein und durchaus denen von Marx entsprechend: „Nur der politische Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, daß das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zu¬ sammengehalten wird.“2) Die Belege ließen sich häufen. Und dennoch bricht auch hier der unbezwnngene Unterschied der Grundhaltungen auf. Für Proudhon sind die autoritären Mächte im Wesen des Menschen insofern angelegt, als dieser von Natur aus geneigt ist, sich seiner Freiheit zu entäußern —; sozusagen (und wie schon erwähnt) in einem immer wiederholbaren sozialen Sündenfall. Diese Entäußerung wirkt sich paradoxerweise aus als gesellschaftliche Spontaneität des Willens zur Autorität: „De meme que la Religion, le Gouvernement est une manifestation de la spontaneite sociale, une preparation de l’Humanite ä un etat superieur.“3) Insofern besteht Stilverwandtschaft unter den autoritären Gebilden: sie alle transzendieren ihre Gewalt oder verstehen b P. J.Proudhon, Theorie de la Propriete, 1866, S. 144. 2) K. Marx, Aus dem literarischen Nachlaß, II, S. 227. 3) P. J. Proudhon, Les confessions d’un revolutionnaire. Nouvelle edition 1926 S. 62.

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sie als transzendente; sie alle drängen auf Unterwerfung des einzelnen unter ihre Autorität. Zugleich stehen sie untereinander und in ihrem Verhältnis zum antagonistischen Prozeß der Gesellschaft in Koexistenz. ,, Alle Prinzipien sind in der Geschichte gleichzeitig wie in der Vernunft.“1) An dieser Stelle mm bricht der schärfste Gegensatz von Marx und Proudhon auf. Das „Kommunistische Manifest“ schließt mit dem Rufe nach der Vereinigung der Proletarier aller Länder. Die Internationale suchte diese Vereinigung in Form zu bringen und eben damit als Macht zu etablieren. Diese konnte nur als zentralistische verstanden werden. Am 20. 7. 1870 schrieb Marx an Engels: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so ist die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisa¬ tion der deutschen Arbeiterklasse.“ Dieser „Zentralismus“ der sozialen Bewegung ist es, der Proudhon auf das tiefste beunruhigte. 1861 sah er „ein Fieber der Zentralisation ... die Welt (durchziehen); man möchte sagen, die Menschen seien dessen müde, was ihnen an Freiheit bleibt, und begehr¬ ten bloß, es zu verlieren.“ 1848 wandte er sich gegen die von Louis Blanc geforderten „sozialen Werkstätten“, „in denen die Arbeiterschaft einregimentiert und endgültig durch die Staatsräson der Brüderlichkeit verknechtet würde, wie sie es in diesem Augenblick durch die Staatsräson des Kapitals zu werden im Begriff ist. Was hätten die Freiheit, das allgemeine Glück,

die Zivilisation gewonnen?

Nichts. Wir hätten Ketten ge¬

wechselt.“2) Die Koexistenz der autoritären Mächte stellt sich in verän¬ derter Gestalt her. Am Horizont taucht dabei die Vision der sozialen Revolution und als ihr Abschluß der Totalitarismus auf. 1860 schreibt Proudhon, man „darf sich nicht mehr täuschen. Europa ist der Ordnung und des Gedankens müde; es tritt in die Ära der brutalen Kraft, der Verachtung der Grundsätze.“ Einige Monate später: „Die Gemetzel -werden kommen, und die Entkräftung, die auf diese Blutbäder folgen wird, wird entsetzlich sein. Wir werden das Werk des neuen Zeitalters nicht sehen, wir werden in der Nacht kämpfen; man muß sich darauf einrichten, dieses Leben ohne allzuviel Traurigkeit zu ertragen, indem wir unsere Pflicht tun. Helfen wir einander, rufen wir einander im Dunkel an, und jedesmal, wo sich die Gelegenheit dazu bietet, üben wir Gerechtig¬ keit.“ Von der Nacht, die hervorzubrechen droht, nimmt er an, daß sie mindestens ein Zeitalter, wenn nicht mehrere hindurch anhalten wird. „Ich werde nur das Übel sehen, ich werde mitten in der Finsternis sterben.“ Der religiöse Sozialist Eduard Heimann hat in Erinnerung an 0 Zitiert nach M. Buber, a. a. 0., S. 50. 2) Zitiert nach M. Buber, a. a. O., S. 56.

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diese düsteren Prognosen, die sich zugleich auf Reaktion und Diktatur des Proletariats beziehen, Marx bezichtigt, daß er „durch seine Schmähungen das Andenken des großen Proudhon für mehrere Generationen auszu¬ löschen versuchte“. „Erst jetzt wird Pierre Joseph Proudhon allmählich als Verfechter der einzigen, wirklich demokratischen Alternative zur Diktatur des Proletariats und ihrer faschistischen Entsprechung an¬ erkannt.“1) 6. Der Umschwung von dem alten koexistenten Gefüge von Autoritäten in Richtung auf ein neues hin geschieht in der Zeitfolge und ist insofern gewiß geschichtlich. Geschichte ist -— von Proudhon aus gesehen — wesentlich Erneuerung der Koexistenz von Autoritäten. Sie ist allerdings zugleich auch der immerwährende Abbruch von Autoritäten und zugleich Aufbruch gegen sie. Sie ist so gesehen in der Zeitfolge mul dennoch sozusagen immer am Platz. Den Abbruch der alten Autoritäten beschrieb Proudhon in immer neuen Wendungen in seinen Analysen der Zeit von 1789 bis 1848 und der eingeschlossenen Charakteristik der Revolutionen selbst, wobei in der Abfolge der staatlichen Formen auch immer wieder die retardierenden Momente gesehen werden. So ist der Revolutionär Robespierre für Prou¬ dhon in Wahrheit eine verhaßte autoritäre Gestalt. Gleichzeitig hat die sich unaufhörlich vollziehende Revolution den Charakter eines unaufhalt¬ samen Säkularisationsprozesses. Und endlich wirken sich schubweise revolutionäre Krisen in jedem der autoritären Systeme und gegen sie aus, welche neue Vorstellmagen der Gerechtigkeit enthüllen. Das geschah, als Jesus die Gleichheit der Menschen vor Gott verkündete. Die Reformation und Descartes (!) stellten die Gleichheit vor dem Gewissen und vor der Vernunft her. Die soziale und ökonomische Gleichheitsforderung der Gegenwart birgt in sich die Möglichkeit der Gleichsetzung des Menschen mit dem Menschen. „Nous sommes arrives, par le cours naturel des evenements, ä une epoque palingenesique, oü l’humanite, sauvage ä son berceau, apres s’etre continuellement approchee de Dieu, com me une planete de son soleil, par la religion, la monarchie et la propriete, doit, par l’action combinee des trois principes revolutionnaires, la liberte d’examen, la souverainete du peuple, le droit au travail, s’eloigner de plus en plus de son mysterieux et inaccessible foyer, et parcourir, mais en sens contraire, une autre parabole. Sachons donc ce qui va passer en nous-

ß Eduard Heimann, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, 1949, S. 161.

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memes, afin d’y prendre volontairement la part d’initiative qui convient ä des etres libres, car toute resistance est impossible.“1) In diesem Ringen ohne Ende geschieht also mm doch fortgesetzt und in emem Prozeß der menschlichen Reife ein Neues, das sich in zwei Dimensionen erstreckt. Der Kampf gegen die Autoritäten zwingt zum menschlichen Zusammenstehen. Der Weg hierzu führt über die indi¬ viduelle Auflehnung des Homrne revolte gegen die autoritären Mächte, in welcher das Individuum seine Selbstverantwortlichkeit in deren Erleb¬ nis entdeckt. Sie besteht eben darin, daß die eigene Verantwortung auf keine fremde Autorität mehr abgewälzt werden kann. Damit wird diese Individualität zum Index möglicher und erreichter Freiheit; ,,le criterium de l’ordre social. Plus l’individualite est libre, independante, initiatrice, dans la societe, plus la societe est bonne; au contraire, plus l’individualite est subordonnee, absorbee, plus la societe est mauvaise.“2) (Brief vom 12. 10. 1851.) Will der sich verantwortliche Mensch nicht seinerseits zur Autorität werden, bedarf er der Einsicht in seine Grenzen, die als ,,Aufrichtigkeit‘‘ — sincerite — Aufstand und Bescheidung in einem ist. In der sincerite wird der Mitmensch als Ergänzung entdeckt. Das ist der Akt der Geburt der positiven Antagonismen. Ihr Wesen ist mitmensch¬ liche Begegnung. Das Aufbrechen der Menschlichkeit ist verbunden mit der Entdeckung von Mitmensch lichkeit, ohne welche gesellschaftliche Antagonismen imdenkbar sind. Nicht der einzelne steht nunmehr den geschichtlichen Gewalten gegenüber, sondern die Gruppe. Diese Gruppen sind von Proudhon gänzlich unsystematisch gedacht; sie werden empi¬ risch wahrgenommen, und der Ort ihrer Wahrneh tnung ist jeweils zugleich anerkannter Ort ihres Bestehens. So ist das Dorf Gruppe, wie die ArbeiterAssoziation es ist. Der Betrieb kann zur bergenden Hülle einer Gruppe werden. Im Wechselspiele der Gruppen untereinander wiederholt sich die Urspannung der Polarität, die auch hier immer wieder durchstanden werden muß und gerade darin das wechselseitige Leben der Gruppen stützt und bezeugt. Diese Wechselseitigkeit nennt Proudhon „Mutualis¬ mus“ = Gegenseitigkeit. Der Mutualismus ist menschliche Begegnung, die immer wieder auch eine gewisse institutionelle Festigung erfährt, welche freilich andererseits zur Gefährdung werden kann. Daher handelt es sich hier keineswegs um so etwas wie ein Gleichgewicht der anta¬ gonistischen Kräfte, welches sich gleichsam notwendig oder gar mechanisch q p. j. Proudhon, Le Droit au travail et le droit de propriete. Nouvelle edition, 1938, S. 184. 2) P. J. Proudhon, Correspondance, IV, S. 375.

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ergibt. Das dynamische Gleichgewicht muß immer erneut errungen werden; es besteht in diesem Ringen. „Ringen und Gleichgewicht“ sind die Geburtsstätte der „Justice“. In der Gerechtigkeit (Justice) tritt anstelle des religiös-autoritären „Respect de la Divinite“ die „Moral“ als „le respect de la dignite humaine“. „La Justice . .. c’est le respect, spontanement eprouve et reciproquement garanti de la dignite humaine, en quelque personne et dans quelque circonstance qu’elle se trouve compromise, et ä quelque risque que nous expose sa defense.“1) Man kann diese Gerechtigkeit im sozialen Bereich bezeichnen als gesetzte Ordnung, welche immer erneut zu vollziehen ist. Der Tausch¬ bankversuch Proudhons vom Jahre 1848 gehört zu diesen Ansätzen von gesetzter Ordnung im Bereiche mutualistischer Begegnungen. Er ist in mancherlei Weise lehrreich, wiewohl er schon der Verhaftung und der Gefängnisstrafe Proudhons wegen nicht wirklich durchexerziert wurde. Die Gegenseitigkeit sollte dabei in solcher Unmittelbarkeit statuiert werden, daß Zins und Rente als Zeichen des die Völker mit Armut bedrohenden und den Güterkreislauf hemmenden autoritären „Rechts auf Tribut beseitigt werden konnten. An ihre Stelle sollte aber nun nicht etwa der neue autoritäre Zentralismus eines Großplanes, sondern ein mit Hilfe von Kreditausweitung jedem nach seinen Gaben und Fähigkeiten offenstehendes System freien Austausches treten. Persönliche Tüchtig¬ keit und nicht verwandtschaftliche Beziehungen oder ererbter Reichtum sollten die Grundlage für einen „freien Kredit“ bdden, der zu einer vom „Recht auf Tribut“ befreiten „Wertbildung“ führen würde. Gewiß sind hier utopische Momente wahrnehmbar; zumal die Annahme einer ständigen Zunahme der Produktivität als Ergebnis mutualistischer Begegnung gehört hierzu. Und dennoch kann ein Nationalökonom vom Range Eduard Heimanns hier auch Ansätze einer weiterführenden Theorie erkennen. „Lange mißachtet, sind diese Projekte in jüngster Zeit wieder zu Ansehen gelangt, seitdem Keynes mit so viel Nachdruck betont hat, daß es der Zinsfuß ist, der die Produktion niedrig hält. Aber auch Keynes selbst, so großzügig er sich zu vielen seiner Vorläufer bekannt hat, ist sich seltsamerweise nicht bewußt geworden, daß der erste Platz in seiner Ehrenliste Proudhon zusteht.“2) W ie die deutschen Staatssozialisten, wie der ökonomische Liberalismus von Smith bis Ricardo, wie Marx wurde Proudhon bei seinen wirtschaftIichen Überlegungen zu einer Arbeitswertlehre geführt. Sie knüpft 1) P. J. Proudhon, De la Justice, a. a. O., I, S. 316.

2) Eduard Heimann, a. a. 0., S. 162 f.

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äußerlich gesehen an die Bestimmungen der Engländer an, hat aber nicht deren theoretisch aufschließende Bedeutung, sondern wird (wie bei Rodbertus) umgeformt zu einem Mittel praktischer Bewältigung des Tausches in einer zinslosen Wirtschaft. Die aufgewandte Arbeitsmenge ist Maßeinheit, welche dem unmittelbaren Tausch der Güter zugrunde liegt. Engels hat die Verwandtschaft gesehen. In der Einleitung zu einer von ihm besorgten Ausgabe des „Elend der Philosophie“ heißt es: „Wie konnte er (Marx) wissen, daß, indem er auf Proudhon losschlug, er den damals selbst dem Namen nach unbekannten Rodbertus, den Strebergott von heute traf?“1) Steckt in dem Anarchisten Proudhon ein verkappter Staatssozialist? DieVorstellung ist unwahrscheinlich. Es sind die Extreme, die sich hier berühren. Der Wert zerlegt sich bei Proudhon in „Tausch¬ wert“ (Valeur en echange ou d’ophiion) und „Gebrauchswert oder Wert an sich“ (Valeur d’usage ouvaleur en soi). Beide sind zugleich gegeben und stehen in einem antagonistischen Verhältnis. Der Nutzwert kann über den Tauschwert hinauswachsen oder umgekehrt. Autoritäre Macht bedient sich dieser Gegensätze (der Seltenheit natürlicher oder künstlicher Art usw.) und begründet das kapitalistische System der Konkurrenz, woraus Handels- und Absatzkrieg, niedrige Löhne, Ungleichheit der Vermögen usw. fließen. Die Antinomie ist aber nicht allein Todesurteil, sie ist auch Rechtfertigung der politischen Ökonomie. Die Veränderlich¬ keit des antinomisch bestimmten Wertes ist zugleich das Zeichen seiner Konstitutionsfähigkeit (le signe authentique de sa constitutionalite) in dem dynamischen Gleichgewicht der Gerechtigkeit. „L’utilite fonde la valeur; le travail en fixe le rapport.“ Da jedes Produkt ein repräsentatives Zeichen der Arbeit ist, kann es als solches gegen andere ausgetauscht werden. Dazu ist (wie bei Rodbertus!) die Arbeitsquantität der einzelnen Produkte zu bestimmen. Diese Bestimmung haben die einzelnen zur Produktion vereinten Gruppen selbst vorzunehmen. (Bei Rodbertus ist das Aufgabe des Staates. Die nüchterne Wirklichkeit unserer Tage heißt Refa-System.) Nun steht einem geregelten Tausch nichts mehr im Wege. Und weil die Verbundenheit innerhalb der Gruppen zwischen ihnen den Antagonismus des Wettbewerbs entfacht, wächst die Produktenmenge, ohne daß diese Konkurrenz Monopole zu schaffen ver¬ möchte. „Was weder Plato, noch Rousseau . .. für möglich gehalten die Gleichheit der Lebensstellungen und Vermögen“, wird Ereignis.

i) K. Marx, Elend der Philosophie. Einleitung von Priedrich Engels, a. a, 0., S. 23. Marxismusstudien II

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Eigentum als Verfügungsrecht ist verschwunden; aber als Besitzrecht ist es konstituiert. „Durch diese einzige Änderung im Prinzip wird alles in den Gesetzen, in der Regierung, im Wirtschaftsleben, in den Einrich¬ tungen geändert; das Übel verschwindet von der Erde.“ Anstelle des staatlichen oder monopolistischen Zwanges herrscht „Freiheit des Gewissens, der Presse, Axbeitsfreiheit, Handelsfreiheit, Freiheit des Unterrichts, freie Konkurrenz, freies Verfügungsrecht über die Früchte der Arbeit und des Fleißes, Freiheit bis ins Endlose, Absolute, Freiheit überall und für immer.“ Für den Staat ist kein Platz vorhanden. Nach¬ dem „Kapital und Arbeit einmal identisch geworden sind, besteht die Gesellschaft aus eigener Kraft und braucht weiter keine Regierung.“ Das ist Anarchie (anarchos); „die Existenzbedingung erwachsener Ge¬ sellschaften“1). Das erscheint alles schon deshalb utopisch, weil es die industrielle und die kapitalistische Dynamik nicht einbezieht, weil es nichts vom abnehmenden Ertrag weiß und weil es an der Unternehmerfunktion vorübergeht. Proudhon ist sich nun freilich dieser Konsequenz einiger¬ maßen bewußt. Es handelt sich für ihn ganz ausdrücklich um die Alternative: technische Entwicklung oder Mutualismus. Wenn man so will, kann man in seiner Haltung den Protest der französischen Provinz und des ihr zugeordneten Kleinbürgertums gegen die Gro߬ formen städtischer und gesellschaftlicher Art sehen, welche dem 19. Jahr¬ hundert in den Industrielandschaften mehr und mehr das Gepräge gaben. Für Marx war diese Haltung von vornherein uninteressant und reaktio¬ när. Daß sie konservativ ist, läßt sich ja wohl nicht bezweifeln, und in dieser Aussage liegt nun eine Charakteristik Proudhons angelegt. Der Homme revolte ist zugleich konservativer Bewahrer. Die revolutionäre Erhebung des Menschen richtet sich nicht allein gegen überlieferte Mächte, sondern auch gegen kommende Möglichkeiten, sofern in ihnen wiederum die Koexistenz von herrschaftlichen Gebilden wahrzunehmen ist. Der Mutualismus ist gerade deshalb so systemlos und abgestellt auf konkret vorgegebene Begegnungen der Gruppen, weil er, zum System gerundet, sofort wieder autoritatives Gepräge annehmen würde. 7. In dem unaufhörlichen Bemühen um Begegnung im mutualistischen Sinne geschieht aber nach Proudhon in verborgener Weise auch Entwick¬ lung des Menschenbildes, und insofern erweist sich dieses nun endlich doch auch als geschichtlich angelegt. In der Erprobung und Bewährung b Vgl. E. Thier, Rodbertus, Lassalle, Adolph Wagner, a. a. 0., S. 101 ff.

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wie in der Überwindung der unaufhörlichen Rückschläge gewinnt nämlich die moralische Kraft, die bisher wie eine Art Konstante im Wechselspiel der geschichtlichen Kulissenverschiebungen erschien, eine eigentümliche Lebendigkeit. Sie lernt zu, sie verarbeitet ihre Erfahrungen, und je auf¬ richtiger sie dies tut, desto mehr wird diese Aufrichtigkeit geläutert. In dieser Aufrichtigkeit oder sincerite ist die einzige irdische Gewähr geboten für diesen Reifeprozeß und für die immer erneute Verwirklichung und Gestaltung von Gegenwärtigkeit als Aufgabe. In dem Maße, da die Gruppen sich antagonistisch einspielen, erfahren sie in sich die eigen¬ tümliche Kraft ihrer Verbundenheit als „force collective“ und im Zusammenspiel eine sie übergreifende Ordnung. „L’ordre est tout ce que l’homme peut savoir de l’univers.“1) Als „abrege de l’univers“ faßt der Mensch die Seinsmöglichkeiten zusammen und kehrt, sie gegen Gott. Aus der außermenschlichen Dimension gelangt der Mensch in die menschliche. Weil das noch nicht Geschehene voll unausgescböpfter Tiefen ist, kann die fortschreitende Erfahrung der Menschlichkeit nie zu einem Ende gelangen. Sie bleibt immer Sprung und Wagnis und Geduld und Bewäh¬ rung in einem. „Le progres de la Justice, theoretique et pratique, est un etat dont il ne nous est pas donne de sortir et de voir la fin. Nous savons discerner le bien du mal; nous ne saurons jamais la fin du Droit, parce que nous ne cesserons jamais de creer entre nous de nouveaux rapports. Nous sommes nes perfectibles; nous ne serons jamais parfaits: la perfection, l’immobilite, serait la mort.“2) Deshalb die prinzipielle Offenheit des Systems! Insofern ist diese „Geschichtlichkeit“ besser zu bestimmen als Erfahrung der menschlichen Möglichkeit in wechselnden Situationen Freiheit und Antinomie zu bewahren und den wechselnden Gefährdungen durch immer angepaßtere Antagonismen zu begegnen. Das drückt sich aus in zunehmender Föderation. — Sie allein wird der Mannigfaltigkeit der sozialen Möglichkeiten von Erschütterung und Bewährung gerecht. Jede Föderation ist dabei „une Convention par laquelle un ou plusieurs chefs de famille, une ou plusieurs communes ... s’obligent reciproquement et egalement les uns envers les autres pour un ou pour plusieurs objets particuliers, dont la charge incombe specialement alors et exclusivement aux delegues de la federation“3). Je aufrichtiger Föderation 1) P. J. Proudhon, De la Creation de l’ordre dans l’humanitä. Nouvelle edition, 1927, S. 34. 2) P. J. Proudhon, De la Justice, a. a. 0., I, S. 328. 3) P. J. Proudhon, Du Principe federatif et la necessite de reconstituer le parti de la Revolution, 1868, S. 46. io*

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und Mutualismus gelebt werden, desto mehr tritt die Möglichkeit der autoritären Überwältigung zurück: Die Sincerite ist Garant der Herrschaftslosigkeit — Anarchie! — als der Amwartschaft der Mensch¬ lichkeit. Proudhon ist in der Finsternis gestorben. Welch eine Dissonanz zu seinen begeisterten Ausrufen über die anarchistische Möglichkeit! Erst angesichts einer Situation, die einen erheblichen Teil seiner Aussagen über künftige, mögliche und nach ihm sogar wahrscheinliche und gerade¬ zu notwendige Neustabilisierung von Knechtschaft im Bereiche der sozialen Revolution auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen vermochte — also nach der Erfahrung des bolschewistischen Kollektivs —, wird der Blick auf ihn als unerbittlichen Mahner gegenüber der kollektivistischen Gefährdung wieder frei. Die von ihm verlangte und gelebte Gegenwart erscheint für viele angesichts des Prozesses des Erlöschens und Erlahmens der eschatologischen Spannungen des Marxismus, nach dem Schwinden großrevolutionärer Ziele bei gleichzeitiger Verhärtung und Stabilisierung des Terrors in einer merkwürdig zwingenden Art als eine Art letzter menschlicher autonomer Alternative. Die frei gewordenen revolutionären Kräfte bewegen sich dann sozusagen nicht mehr in einliniger Zukunfts¬ gerichtetheit, sondern verschränken sich Imeisförmig. Was heißt das zutiefst? In der Analyse des Systems bereits des jungen Marx wird dort in dem dialektischen Dreischritt vom „reichen“ oder „wesentlichen“ Menschen zum „entfremdeten“ Menschen und zur „Reintegration“ des Menschen, welche „das Rätsel der Geschichte“ löst, ein heilsgeschichtlicher Bogen aufweisbar, der bei strenger formaler Parallelität zum christlichen Heils¬ weg zugleich in unbehebbarer Spannung zu ihm steht: das „Heil“ ist menschlichem Zugriff verfüglich; in der Geschichte soll — und kann! — danach vermöge des geschichtlichen Mittels der Revolution ein Jenseits der bisherigen Geschichte als Reich der Menschen erkämpft werden. Was Proudhon lehrt, zielt unter Aussonderung des heilsgeschichtlichen und also des eschatologischen Momentes hin auf Realisierung von Gemeinde durch menschliche Vollmacht. Von dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber ist das eindeutig und ausdrücklich so empfunden und gedeutet worden. Es lassen sich nun gewiß nicht ohne Gewaltsamkeit die neutestamentlichen Aussagen über Gemeinde als Leib Christi und die diese Aussage begleitenden Paränesen über die „Geistesgaben“ (l.Kor. 12) und über die „Haustafeln“ (Eph. 5, 21 bis 6, 9; Kol. 3, 18ff.) unter Aus¬ sonderung des christologischen Bezuges einfach spiegelbildlich auf

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Proudhons Aussagen übertragen. Und dennoch ist ihre Nähe immer zu spüren. Die sincerite wird von Proudhon ja nicht gedacht als einmalige und insofern dauernd und mechanisch kollektivmäßig geprägte Kraft, sondern in ihrer Jeweiligkeit mit Einschluß aller charaktermäßigen und personbestimmten Unterschiedlichkeiten verstanden. Es wird angenom¬ men, daß die Pluralität der moralischen Kräfte sich erweist wie die der Geistesgaben „zum gemeinen Nutzen“ (1. Kor. 12, 7). Daß die Beziehung von Mann und Weib, von Alter und Jugend, von Bestimmenden und Bestimmten in der Produktion nun zur Gestaltungsaufgabe wird, ergibt sich ganz zwangsläufig. Es ist kennzeichnend für die Aussage Proudhons, daß er im Bereich der Familienstruktur ausgesprochenermaßen konser¬ vativ ist. Von der Ubersehbarkeit der föderativen Kreise bis hin zur Gliedhaftigkeit ihrer Teilhaber reicht der Vergleich mit der Gemeinde ganz zutreffend; Proudhons dauernder Umgang mit der Bibel ist hier nicht auszuklammern, wenngleich gerade diese Bezüge noch im einzelnen zu untersuchen sind. Daß aber diese Gemeindebildung Gemeinde aus menschlicher Vollmacht und somit wahrlich nicht Gemeinde Christi ist, darf nie vergessen werden. Es ergibt sich damit der erstaunliche und doch auch sogleich ein¬ leuchtende Sachverhalt, daß in eben derselben Zeit, da im Bereiche radikal bejahter Diesseitigkeit die eschatologische Spannmag sich zum heils¬ geschichtlichen Bogen schloß, andererseits die Gemeindebildung aus menschlicher Vollmacht in derselben bejahten Diesseitigkeit hervorbrach. Was in der biblischen Aussage in einem Miteinander und Ineinander von Erwartung und Gegenwärtigkeit, von Eschatologie und Ekklesiologie vorgegeben ist, tritt hier aber in harte Gegensätze auseinander. Und wo Gottes Herrschaft nicht anerkannt wird, wird den Dämonen Raum gewährt. Die Heilserwartung Marxens schlug um in das menschen¬ zerstörende Kollektiv. Proudhons Aussage über den Deus absconditus als ,,le mal“ war bei diesem imglücklichen und im finsteren Tal der Furcht ausgelieferten und des Trostes entbehrenden Pilger auf dem Wege zur Gemeinde doch begleitet vom Schatten des allmächtigen Gottes. ,,On n’a jamais fini de se debattre contre Dieu.“ In seiner Nachfolge aber steht Bakunin, bei dem der Aufstand gegen Gott verstanden und bejaht wird als luziferisch und satanisch. Die Konsequenz ist nicht zu übersehen und nicht zu bestreiten. Wird sie ausgesprochen im Sinne eines Urteils, das von gesicherter Position her gefällt wird, so trifft das den Urteilenden und überführt ihn der Unbußfertigkeit. Die Häresien gemahnen die Christenheit an ihre

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Erich Thier, Marx und Proudhon

Schuld. Proudhon gehört zu den großen Häretikern. Die Kirche Christi kann Häresien nur Häresien nennen und muß sich von ihnen sondern, muß sie abwehren. Die Abwendung verliert nur dann die Zeichen des Hochmutes, wenn sie dem Häretiker liebend nachgeht und wenn sie in den dienenden Vollzug dessen eintritt, was die Häresie nur in der Ver¬ wandlung von Stellvertretung in Selbstzerstörung in Angriff nehmen konnte.

Kautsky und der Kautskyanismus Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkriege von ERICH MATTHIAS

Einleitung: Das Phänomen des Kautskyanismus — I. Grenzen des Marxverständ¬ nisses — II. Das Eindringen marxistischer Elemente in die Ideologie der deutschen Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz — III. Das Erfurter Programm und die Taktik der Sozialdemokratie — IV. Kautskys sozialdemokratischer Katechismus von 1893 — V. Der taktische Kern der Auseinandersetzung mit Bernstein und den Revisionisten — VI. Ideologie und Mentalität — VII. Die Rechtfertigung des Organisationspatriotismus — VIII. Die ideologische Abschirmung der politischen Passivität — IX. Fazit.

Die überwältigende Fülle der Bücher, Broschüren, Aufsätze und Zeitungsartikel, in denen sich das Lebenswerk Karl Kautskys vor uns ausbreitet1), zeugt eindrucksvoll von der Produktivität dieses Mannes, von der Vielfalt seiner Interessen auf den verschiedensten Wissens¬ gebieten und von seinem steten Bemühen um allgemeinverbindliche Prinzipien methodischer Einordnung und weltanschaulicher Wertung. Das Urteil Benedikt Kautskys, daß es seinem Vater gelungen sei, aus den Bruchstücken, die Marx hinterlassen und aus denen Engels ein einheit¬ liches Gebäude aufzurichten begonnen habe, „ein geschlossenes System zu machen, das in Wahrheit erst den Marxismus darstellt“2), ist zwar in mehr als einer Hinsicht fragwürdig, darf jedoch nicht allein als Äußerung pietätvoller Sohnestreue begriffen werden. So urteilt Hermann Brill in seinem in der „Zeitschrift für Politik“ veröffentlichten Aufsatz zum J) Eine umfassende Kautsky-Bibliographie wird im „Internationalen Institut für Sozialgeschichte“ in Amsterdam bearbeitet. 2) Vorbemerkung Benedikt Kautskys zu dem Sammelband: „Ein Leben für den Sozialismus / Erinnerungen an Karl Kautsky“, Hannover 1954, S. 8f.

Erich Matthias

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hundertsten Geburtstag Kautskys kaum zurückhaltender. Dort heißt es u. a., die „Entstehung des Marxismus“ falle in die Zeit von 1883 bis 1895, als Engels und Kautsky in ständigem engen Kontakt miteinander stan¬ den. Kautsky sei jedoch Zeit seines Lebens nicht nur Interpret des „rei¬ nen Marxismus“ gewesen, den er auch Lenin gegenüber hochgehalten habe, sondern schon sehr früh „darüber hinaus“ in Neuland vorgestoßen. Der alte Kautsky schließlich habe mit seinem Geschichtsbewußtsein „das Dritte Reich theoretisch vorweggenommen mid ideell überwun¬ den“1). Diese Würdigungen aus jüngster Zeit spiegeln immer noch die unge¬ heure Autorität wider, die Kautsky als intellektuelles Haupt des soge¬ nannten „orthodoxen Marxismus“ in den beiden Jahrzehnten vor Aus¬ bruch des ersten Weltkrieges weit über die Reihen der deutschen Sozial¬ demokratie hinaus genossen hat und die es ihm ermöglichte, als „praeceptor mundi“2) des internationalen Sozialismus und anerkannter Schieds¬ richter in ideologischen Streitfragen aufzutreten. Dagegen drängt sich dem unbefangenen Betrachter, der sein Urteil nicht von gefühlsmäßigen Bindungen an die Welt der alten deutschen Sozialdemokratie und der II. Internationale beeinflussen läßt, die Erkenntnis auf, daß der wert¬ beständige theoretische Gehalt der literarischen Produktion Kautskys in einem eigenartigen Mißverhältnis zu seiner historischen Rolle steht. Zum Verständnis dieses Phänomens kann nur die realsoziologische und realhistorische Analyse des parteigeschichtlichen Hintergrunds ver¬ helfen, während jede isolierte ideengeschichtliche Untersuchung der Kautskyschen Schriften in eine Sackgasse führen müßte.

I. Grenzen des Marxverständnisses Die beiden Komponenten, die die Gedankenwelt Kautskys von Anfang an entscheidend bestimmt haben, werden in der Studie Brills klar hervor¬ gehoben: der dem Geiste der Französischen Revolution verpflichtete auf¬ klärerische Rationalismus und die „naturwissenschaftliche Grundstim¬ mung der Zeit“, die Kautsky zum Darwinismus führte. So sehr jedoch Brill zuzustimmen ist, wenn er Kautsky als einen „biologisch-histo¬ rischen Materialisten

charakterisiert, so wenig kann ihm dann beige¬

pflichtet werden, daß er, Kautskys Selbsteinschätzung folgend, dessen 9 Hermann Brill, „Karl Kautsky / 16. Oktober 1854—17. Oktober 1938“, in: „Zeitschrift f. Politik“, 1. Jg. 1954, S. 211—240. 2) So Brill, a. a. 0. S. 236.

Kautsky und der Kautskyanismus

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„naturwissenschaftliche Auffassung der Gesellschaft und des Staates“ als Fortentwicklung und Bereicherung der ursprünglichen Marxschen Geschichtstheorie gewertet wissen will1). Wohl war auch Marx ein echter Sohn seines fortschrittsgläubigen Jahrhunderts; jedoch seine philo¬ sophische Anthropologie, auf die sich seine Geschichtsauffassung wesent¬ lich gründet, hat so moderne Züge, daß sie über das Menschenbild der Aufklärung und den vulgären Darwinismus Kautskyscher Prägung weit hinausweist und erst in jüngster Zeit mehr und mehr in den Mittelpunkt einer dem Gegenstand adäquaten Auseinandersetzung gerückt ist. Der junge Kautsky akzeptierte den Darwinismus, der in den siebziger Jahren die ganze gebildete Welt gefangennahm, „mit Enthusiasmus“, und seine „Geschichtstheorie wollte nichts anderes sein als die Anwen¬ dung des Darwinismus auf die gesellschaftliche Entwicklung“2). Von dem „Entwurf einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit“, den der Jüng¬ ling vor seiner Hinwendung zum Marxismus abfaßte, bis zu dem weit¬ schweifigen zweibändigen Alterswerk „Die materialistische Geschichts¬ auffassung“, dessen pseudonaturwissenschaftliche Entwicklungsmeta¬ physik in dem Bestreben gipfelt, das gemeinsame Gesetz zu ergründen, „dem menschliche wie tierische und pflanzliche Entwicklung unter¬ worfen ist“3), führt ein gerader Weg4). Trotz aller Modifikationen im einzelnen bleibt die Synthese von aufklärerischem Fortschrittsglauben und Sozialdarwinismus dominierend. Der junge vormarxistische Kautsky und der anerkannte Altmeister des „Marxismus“ stehen sich so nahe, daß die Marx-Zitate in dem theoretischen Alterswerk noch am ehesten entbehrlich scheinen. Die marxistische Terminologie kann nicht darüber

1) A. a. 0. S. 240 2) Karl Kautsky, „Mein Lebenswerk“ (zuerst unter anderem Titel 1924 im Band „Volkswirtschaftslehre“ der „Wissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen“ erschienen), in: Ein Leben (s. S. 103, Anm. 2), S. 11—34, Zitat S. 13. 3) Karl Kautsky, „Die materialistische Geschichtsauffassung“, 2 Bde., Berlin 1927, Bd. 2, S. 631. Dazu die umfassende kritische Analyse Karl Korschs, „Die materialistische Geschichtsauffassung, Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky“, Leipzig 1929. 4) Bezeichnenderweise hat Kautsky sich nicht gescheut, den oben zitierten, 1876 entstandenen universalgeschichtlichen Entwurf in dem Alterswerk zu ver¬ öffentlichen, s. Bd. I, S. 155—165. A. a. 0., S. 442-476, sind die 1883/84 in der „Neuen Zeit“ erschienenen Abhandlungen über „Die sozialen Triebe in der Tierund

Pflanzenwelt“

unverändert

abgedruckt.

Besonders

charakteristisch

für

Kautskys Sozialdarwinismus ist das Büchlein: „Ethik und materialistische Ge¬ schichtsauffassung“, 1906.

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Erich Matthias

hinwegtäuschen, daß seine Geschichtsauffassung mit der von Marx und Engels, zwischen denen allerdings zu differenzieren wäre1), ,,in allen ihren Entwicklungsphasen . . . immer nur in der ideologischen Vorstel¬ lung der orthodoxen Kautskyaner und der mit ihnen auf dem gleichen dogmatisch ideologischen Boden stehenden Gegner, aber niemals tat¬ sächlich übereingestimmt“ hat2). Das ändert nichts daran, daß das für Kautsky spezifische eingeengt evolutionistische Verständnis des Marxis¬ mus von Anfang an in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Bewegungsweise und dem taktischen Verhalten der aufstrebenden Arbeiterparteien in der Periode der zweiten Internationale stand. Der Ausgangspunkt seines Weges zu Marx und die Axt, in der er die histo¬ risch gewachsenen Anschauungen der Arbeiterbewegung mit den Lehren von Marx und Engels in Einklang zu bringen versuchte, sind nicht aus einer individuell bedingten Beschränkung seiner Rezeptionsfähigkeit zu begreifen. Kautsky hat den Kautskyanismus, d. h. den denaturierten „Marxismus“, den nicht nur die deutsche Sozialdemokratie als offizielle Parteiideologie und reine Lehre akzeptierte, weder erfunden, noch ist er sein alleiniger Schöpfer gewesen, wenn auch seiner beharrlichen Wirk¬ samkeit wesentlicher Anteil an seiner Durchsetzung und dogmatischen Verhärtung beizumessen ist. Er war der hervorragendste Marx-Popularisator seiner Zeit und subjektiv ein leidenschaftlich ehrlicher Ver¬ fechter der Lehren von Marx und Engels. Die Grenzen seines Marxver¬ ständnisses aber, das in den wesentlichen Punkten nie die Schranken seines vormarxistischen politischen Bildungserlebnisses durchbrach, sind die Grenzen des Marxverständnisses seiner historischen Generation.

b Für den Abstand zwischen Marx u. Engels einerseits u. Kautsky andererseits s. Korsch, passim. Zu der notwendigen Differenzierung zwischen Marx und Engels, dessen von Anfang an durch den Entwicklungsgedanken der Aufklärung und später auch durch den Positivismus stark beeinflußtes Denken ideengeschichtlich in mancher Hinsicht auf den Kautskyanismus hinweist, vgl. besonders: Hermann Boflnow, „Engels’ Auffassung von Revolution und Entwicklung in seinen .Grund¬ sätzen des Kommunismus1 (1847)“, in: „Marxismusstudien“, Tübingen 1954 S. 77—144. 2) Korsch a. a. 0., S. 123f. Folgerichtig spricht Korsch auch von einem „Kauts¬ kyanismus“. Dieser von uns übernommene Termmus wird, jedoch von vornherein mit positivem Vorzeichen, auch von Brill, a. a. 0. S. 239, verwendet: „In Deutsch¬ land und Österreich im Bunde mit Bebel anerkannt, in Rußland und auf dem Balkan geliebt, in Frankreich, England und Skandinavien geachtet, war der Politiker Kautsky eine internationale Autorität, sein Haus eine Akademie des Sozialismus. Es gab einen Kautskyanismus.“

Kautsky und der Kautskyanismus

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II. Das Eindringen marxistischer Elemente in die Ideologie der deutschen Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz Der theoretische Einfluß des marxistischen Ideenkomplexes auf die deutsche Sozialdemokratie wird zumeist stark überschätzt1). Als sich in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Arbeiterbewegung von der bürgerlichen Demokratie ablöste und sich in den beiden rivali¬ sierenden Gruppen der Lassalleaner und der Eisenacher als selbständige politische Kraft konstituierte, spielte der Marxismus als theoretisches System bei diesem Vorgang keine Rolle. Der Kampf zwischen Eise¬ nachern und Lassalleanern reduziert sich im wesentlichen auf den tak¬ tischen Gegensatz zweier demokratisch-sozialistischer Gruppen in der Situation der Entstehung des Bismarckreiches. Obgleich die Eisenacher offiziell Marx für sich in Anspruch nahmen, bedeutete der Sozialismus für die einen wie die anderen im Grunde nicht mehr als die fortschreitende Demokratisierung des Staates mit den der bürgerlichen Demokratie eigenen Mitteln: Aufklärung des Volkes und Gewinnung einer sozial¬ demokratischen Mehrheit im Parlament. Keine der beiden Fraktionen brauchte eine wesentliche Richtungsänderung vorzunehmen, als sie sich 1875 zu einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei zusammen¬ schlossen. Auch die „Staatsfeindlichkeit“ der jungen Sozialdemokratie hatte keine revolutionär-marxistischen Wurzeln, sondern war Ausdruck der aus der demokratischen Tradition von 1848 erfolgenden Ablehnung des ohne Anteilnahme einer freiheitlichen Volksbewegung durch „Blut und Eisen“ geschaffenen neuen Reiches. So blieb die Trennung der Sozial¬ demokratie von der bürgerlichen Demokratie im Bereich des Soziologi¬ schen und des Organisatorischen stecken, während die bürgerlich¬ demokratische Gedankenwelt nach wie vor den bestimmenden Einfluß auf die Ideologie der Arbeiterpartei ausübte, die sich von Anfang an als legale demokratische Oppositionspartei entwickelt hatte. x) Für die folgenden Ausführungen vgl.: Gustav Mayer, „Die Trennung der prole¬ tarischen von der bürgerlichen Demokratie“, in: „Archiv f. d. Gesch. d. Sozialismus u. d. Arbeiterbewegung“, 1912, 2. Bd., S. 1—67;

Karl Friedrich Brockschmidt,

„Die deutsche Sozialdemokratie bis zum Fall des Sozialistengesetzes“, Diss. phil., Frankfurt a. M. 1930 (diese Diss. ist unter dem gleichen Titel, jedoch mit dem Verfassernamen Kurt Brandis, 1931 in Leipzig als selbständige Studie erschienen. Das hat dazu geführt, daß in einer ganzen Reihe von Literaturverzeichnissen die miteinander identischen Brockschmidt u. Brandis nebeneinander zitiert werden); Arthur Rosenberg, „Demokratie und Sozialismus, Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre“, Amsterdam 1938, bes. S. 272ff.

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Auch unter dem Sozialistengesetz wich die Partei nicht von ihrer streng legalen Taktik ab. Die Formel: „An unserer Gesetzlichkeit werden unsere Feinde zugrunde gehen“, bezeichnet den Standpunkt, den Parteileitung und Reichstagsfraktion während der ganzen Zeit des Gesetzes kontinuier¬ lich vertraten. Die allgemeine Empörung über die Verfolgung und der Aktivitätsdrang der Mitgliedschaft führten jedoch zu einer Verschärfung der Agitationssprache und erzeugten das Bedürfnis nach einer radikaleren Parteiideologie, die der Ausnahmestellung der Partei und dem sich im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung festigenden Klassenbewußt¬ sein der Arbeiterschaft gerecht zu werden vermochte. Erst diese Ent¬ wicklung bereitete den Boden für das stärkere Eindringen marxistischer Elemente in die Gedankenwelt der deutschen Arbeiterbewegung vor. Bei diesem Prozeß übte insbesondere die zu Anfang des Sozialisten¬ gesetzes erschienene Buchausgabe von Engels’ „Anti-Dühring“ eine missionierende Wirkung aus. Sie gab auch Kautsky den entscheidenden Impuls für die Umbildung seiner Geschichtsauffassung; hinzu kam die Freundschaft mit dem um fünf Jahre älteren Eduard Bernstein, den er rückblickend als seinen „kraftvollen Führer“1) auf dem Wege zum Marxis¬ mus bezeichnet hat. In der Folge stellten Bernstein mit dem von ihm seit 1880 redigierten „Sozialdemokrat“ und Kautsky mit seiner im Januar 1883 begründeten „Neuen Zeit“ ihr ganzes literarisches Wirken in den Dienst der Ausbreitung des Marxismus. Beide traten Anfang der achtziger Jahre in näheren Kontakt zu Friedrich Engels und fanden sein Ver¬ trauen und seine Freundschaft, so daß sie sich sehr wohl als legitimierte Interpreten der marxistischen Lehre fühlen durften2). Von den Büchern, die Kautsky unter dem Sozialistengesetz verfaßte, hatte die 1887 er¬ schienene und in der Folge immer wieder aufgelegte Popularisierung des ersten Bandes des „Kapital“ — „Karl Marx’ ökonomische Lehren“ —die größte Breitenwirkung; viele prominente Sozialisten verdanken die¬ sem Buch ihr Bekehrungserlebnis. Das sachliche Einvernehmen zwischen Engels und dem Freundes paar Kautsky-Bernstein hat bis zu Engels’ Tode 1895 keine Trübung erß Kautsky, Mein Lebenswerk (s. S. 105, Anm. 2), S. 17. 2) Vgl. neuerdings besonders „Friedrich Engels’ Briefwechsel mit Karl Kautsky, zweite, durch die Briefe Karl Kautskys vervollständigte Ausgabe von ,Aus der Frühzeit des Marxismus“1, hrsg. u. bearbeitet von Benedikt Kautsky, Wien 1955; ferner:

Karl Marx/Friedrich

K. Kautsky und andere“,

Engels,

„Briefe

an

A. Bebel,

W. Liebknecht,

besorgt vom Marx-Engels-Lenin-Institut,

Moskau,

unter Redaktion von W. Adoratski, Moskau u. Leningrad 1933; „Die Briefe von Friedrich Engels an Eduard Bernstein“, Berlin 1925.

Kautsky und der Kautskyanismus

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fahren1). Engels war sich der Grenzen der Rezeptionsfähigkeit seiner Schüler nicht bewußt, die sich dem Marxismus auf dem Wege über den als Eilter wirkenden Anti-Dühring genähert hatten, der ohnehin nur die Partikel des ursprünglichen Systems passieren ließ, die sich nahtlos in das naturwissenschaftliche Weltbild der neuen Generation einzufügen schie¬ nen. Kautsky und Bernstein, die damals „ein Herz und eine Seele“ waren, so daß man sie „als eine Art roter Orestes und Pylades betrachtete“2), hatten bei ihrem weiteren Eindringen in das marxistische Gedanken¬ system erst recht keinen Grund zur Skrupelhaftigkeit; trugen doch die starken naturwissenschaftlichen und urgeschichtlichen Interessen des alten Engels, die sich mit ihrer eigenen Blickrichtung trafen, zum guten Teil dazu bei, sie in ihrem eingeschränkten Verständnis des Marxismus zu bestätigen. Allein die Übereinstimmung in theoretischen wie in prak¬ tisch-politischen Fragen, zu der sich Engels, kritisch an den literarischen Arbeiten und politischen Kämpfen der Jüngeren teilnehmend, immer wieder bekannt hat, war nur oberflächlich und beruhte auf einem tiefen, von beiden Seiten unbewußt geförderten Mißverständnis. Dieses Mißver¬ ständnis war jedoch nicht persönlicher Art. Marx und Engels haben die wirkliche Eigenart der modernen Arbeiterparteien, die sich seit den sechziger Jahren in Deutschland und Europa herausbildeten, niemals ganz verstanden3). Sie blieben stets in der Welt des revolutionären Mar¬ xismus von 1848 verhaftet, auch wenn sie durch ihre Analyse der poli¬ tischen und sozialen Gegenwart zu der Auffassung gelangten, daß die veränderten Verhältnisse eine andere Bewegungsweise der sich zu Massen¬ parteien entwickelnden Arbeiterparteien erforderten. Kautsky und Bern¬ stein hingegen waren echte Vertreter der aufsteigenden zweiten Inter¬ nationale. Auch da, wo ihre Auffassung und die von Engels sich äußer¬ lich decken, verbirgt sich hinter den gleichen Worten ein ganz verschie¬ denes politisches Lebensgefühl4). So schätzte Engels auch die Bewegung, 1) Die Trübung des persönlichen Verhältnisses zwischen Engels u. Kautsky, die durch die Scheidung Kautskys von seiner ersten Frau eintrat, kann hier außer Betracht bleiben. 2) Kautsky, Mein Lebenswerk (s. S. 105, Anm. 2), S. 17. 3) Vgl. Rosenberg (s. S. 107, Anm. 1), S. 281. 4) Diesen Abstand der politischen Generationen hat Kautsky später zumindest zeitweise deutlich empfunden. Am 21. 11. 1901 bezeichnet er in einem Brief an Viktor Adler Lassafle als „machtvolle Persönlichkeit“ und „kolossalen Kerl“ u. fährt fort: „Aber man darf auch nicht vergessen, welch große Zeit das war! Noch bebte die große Revolution nach, und das Zeitalter von 48, das von 56,59,66, 70, was brachte das für Kämpfe! ... Diese großen Kämpfer, die Marx, Engels, Lassalle,

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die die deutsche Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz durchlief und die die ideologische Mittlerfunktion Kautskys und Bernsteins als integrierendes Moment mitumgreift, nicht realistisch ein, sondern glaubte sich nach 1890 auf die Tatkraft der deutschen Sozialdemokratie ver¬ lassen zu können. Er bejahte die abwartende Haltung, die von der SPD eingenommen wurde, ohne ihren pazifistischen Kern zu erkennen. Die Feststellung seiner berühmten Einleitung zu Marx’ „Klassenkämpfen in Frankreich“ aus dem Jahre 1895, daß „die Kampfweise von 1848... heute in jeder Beziehung veraltet“ sei1), spricht zwar für seinen militä¬ rischen Realismus und für seine nüchtern machtpolitische Betrachtungs¬ weise auf diesem Gebiet. Um so unrealistischer war es, daß er in der deut¬ schen Arbeiterpartei immer noch eine ihrer Natur nach revolutionäre und zur Macht drängende Partei des Volkes im Sinne von 1848 sah, die darauf brannte ihre Stunde zu nutzen. Es ist charakteristisch, daß sich später sowohl Kautsky als auch Bern¬ stein auf Engels’ Vorrede berufen haben2), um ihre Haltung zu rechtfertigen. Beide konnten subjektiv den Schein des Rechts für sich in Anspruch nehmen, doch beide deuteten auch ihre eigenen Anschauungen in die Worte Engels’ hinein, so daß er dem Historiker weder für den „Revisionisten“ noch für den sogenannten „Radikalen“ als beweis¬ kräftiger Kronzeuge gelten darf. Gustav Mayer verweist die Auffassung, als ob Engels am Ende seines Lebens der europäischen Sozialdemokratie von jeder Gewaltanwendung hätte ab raten wollen, ins Reich der Legende. Bis an den Rand seines Lebens sei „der alte Kämpe . .. sich bewußt geblieben, daß nur unter ganz exzeptionellen Verhältnissen eine Macht¬ ergreifung des Proletariats sich ohne schwere Kämpfe würde vollziehen können. Auch hätte er bis zuletzt leidenschaftlich gern seine Erfahrung und sein militärisches Wissen der proletarischen Revolution, in welchem Lande sie immer zum Ausbruch gekommen wäre, zur Verfügung gestellt. Den Schikanen der preußischen Polizei wollte er sich, solange es anauch noch Liebknecht, waren eiserne Naturen. Uns steckt schon zu sehr die nervöse Degenerierung, die bürgerliche Form der .Verelendung“ in den Gliedern. Auch da wollen wir vom Nachwuchs das Beste hoffen, der doch rationeller erzogen wird.“ S. Victor Adler, „Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky“ sowie anderen deutschen Sozialdemokraten, gesammelt u. erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954, S. 381 f. a) Karl Marx, „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, Schriftenreihe: „Demokratie und Sozialismus“, Heft 21, Offenbach 1948, S. 10. 2) Vgl. Kautsky, „Der Weg zur Macht“, 3. Aufl., Berlin 1920, S. 54ff. Für Bern¬ stein s. den Aufsatz von Christian Gneuss in diesem Band, S.

Kautsky und der Kautskyanismus

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gängig, entziehen, doch das ,Kugelpfeifen' hätte er, wie damals im badischen Aufstand, selbst noch in seiner letzten Lebenszeit als ,eine ganz geringfügige Geschichte' angesehen.“1)

III’ Das Erfurter Programm und die Taktik der Sozialdemokratie Die Zeit des Sozialistengesetzes ist als „heroische Periode“ der deut¬ schen Sozialdemokratie in die Parteitradition eingegangen. Dagegen ent¬ hüllt die rückblickende kritische Betrachtung ein weitaus differenzierteres Bild. Die von einem unerschütterlichen Klassenbewußtsein er¬ füllten sozialistischen Arbeiter ertrugen zwar lieber alle Verfolgung, als daß sie ihre Partei im Stich ließen, dachten jedoch kaum an eine in der nächsten Zeit bevorstehende Revolution, die die Hohenzollern ver¬ treiben und die Sozialdemokratie an die Macht bringen würde2). Ent¬ scheidend für die weitere Entwicklung wurde auch nicht ihre radikale Grundstimmung, sondern die durch das Sozialistengesetz geförderte Intensivierung der parlamentarischen Praxis. Das Ausnahmegesetz zwang die Partei um so mehr dazu, ihre Tätigkeit in noch stärkerem Maße als bisher auf die Wahlkämpfe und das Parlament zu konzentrieren, als der Reichstag zur einzigen legalen Agitationszentrale geworden war. Damit geriet aber die Führung zunehmend in die Hände der Reichstags¬ fraktion, in der der gemäßigte Parteiflügel vorherrschte. So verfestigten sich in der politischen Praxis der Sozialdemokratie die ihr von Anfang an eigenen Züge einer sozialen parlamentarischen Reformpartei, während sich gleichzeitig die oben beschriebene Radikalisierung der Theorie an¬ bahnte, die einem echten Gefühlsbedürfnis des Kerns der Anhänger¬ schaft entsprang und in der allmählichen Vergrößerung des Einflusses der von Kautsky und Bernstein repräsentierten marxistischen Schule ihren gültigen Ausdruck fand. Das neue Programm, das sich die SPD nach Ablauf des Sozialisten¬ gesetzes 1891 gab, ist in seiner parteigeschichtlichen Bedeutung nur als Resultat dieser widerspruchsvollen Entwicklung zu begreifen3). Der auf einen Entwurf Kautskys zurückgehende erste theoretische Teil des Erfurter Programms, der die Bewegungsgesetze des Kapitalismus in marxistischer Begriffssprache formuliert, und der praktische zweite 1) Vgl. Gustav Mayer, „Friedrich Engels“, II. Bd., Haag 1934, S. 496 ff., Zitat auf S. 499. 2) Rosenberg, Demokratie u. Sozialismus, S. 276. 3) Vgl. besonders Brockschmidt, a. a. 0., S. 98ff.

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Teil, der die demokratischen und sozialreformerischen Forderungen enthält, die die Sozialdemokratie seit ihrer Gründung vertrat, stehen ohne innere Beziehung nebeneinander. Aber auch der erste Teil, der zur Zeit der Annahme des Programms nur geistiger Besitz einer kleinen intellek¬ tuellen Elite war, die sich um Kautskys „Neue Zeit“ gruppierte, zeigt die Grenzen, innerhalb derer sich die Rezeption des Marxismus vollzog. Die dialektische Einheit von Theorie und Praxis wird nicht adäquat aufgenommen; und die offizielle Parteiideologie reduziert den revolutio¬ nären Marxismus auf die Beschreibung einer „naturnotwendigen“ Ent¬ wicklung, die dem sozialistischen Endziel zustrebt* 1 * 3). Das von den Beteiligten und ihren Zeitgenossen als revolutionär mar¬ xistisch empfundene Erfurter Programm fixiert also die reale Ausein¬ anderbewegung von Theorie und Praxis. Die Diskrepanz zwischen politischem Sein und ideologischem Bewußtsein, die für die SPD des Kaiserreiches bezeichnend geblieben ist und auch in der Zeit der Repu¬ blik nicht überwunden wurde, entsprach der historischen Situation der Yorkriegssozialdemokratie. Dabei rechtfertigte die fatalistische Inter¬ pretation des Marxismus, die im wesentlichen als ideologischer Ausdruck der evolutionistischen, dem Zeitgeist verbundenen Grundeinstellung der führenden sozialdemokratischen Richtung zu verstehen ist, die gemäßigte Praxis gegenüber der radikalen Theorie,

deren revolutionärer An¬

spruch immer latent wirksam blieb und der linken Opposition von den „Jungen“ Anfang der neunziger Jahre bis zu Rosa Luxemburg Rückhalt verlieh. Die Kluft zwischen der tatsächlichen Bewegungsrichtung der Partei, die aus der Zeit des Sozialistengesetzes bedeutend parlamentarischer und gemäßigter herauskam, als sie zuvor gewesen war, und der irrealen gruppentypischen Bewußtseinslage war jedoch nichts grundsätzlich Neues, sondern sie hatte sich nur verbreitert. Auf dem ganzen Weg der Sozialdemokratie von den kleinen Anfängen der sechziger Jahre zu der

q Es wurde von vornherein nur ein Teil des Marxschen Systems aufgenommen. Wie Broekschmidt, a. a. O., S. 102, feststellt, läßt sich „rein textkritisch ... bereits nach weisen, daß in den ersten vier Absätzen des Erfurter Programms, die die Ent¬ wicklung des Kapitalismus darzustellen versuchen, bestimmte Sätze aus dem I. Bande des Marxschen ,Kapital1 und aus dem Antidühring Engels’ in stark verkürzter Fassung übernommen und in zugespitzter Formulierung miteinander verbunden“ worden sind, wobei er sich auf das Kapitel 24 des „Kapital“ (Abschnitt: „Die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“) und auf den 3. Teil des Antidühring („II. Theoretisches“) bezieht.

Kautsky und der Kautskyanismus

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imponierenden Massenpartei, die sich, nach der Aufhebung des Ausnahme¬ gesetzes der Öffentlichkeit präsentierte, war die Kontinuität der Ent¬ wicklung nie wirklich gestört worden. So war es vielleicht die wichtigste Voraussetzung für die allgemeine Anerkennung des kautskyanischen Marxismus als offizielle Parteiideologie, daß die fatalistische Marxismus¬ interpretation des Erfurter Programms ohne weiteres Raum für die Fortsetzung der alten „seit 25 Jahren befolgten“ — sich zwar revolu¬ tionär gebärdenden, jedoch ihrem Inhalt nach legal-parlamentarischen — „Taktik“ bot. Durch diese Taktik sei „die Partei groß und mächtig ge¬ worden“, erklärte Bebel in Erfurt, „so daß wir keinen Grund haben, sie zu ändern“, arbeite doch „die bürgerliche Gesellschaft ... so kräftig auf ihren eigenen Untergang“ los, daß — so formulierte Bebel die durch die unaufhaltsam steigende Stimmenzahl genährten sozialdemokratischen Hoffnungen — „wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben“1). Dieser Sachverhalt macht es auch verständlich, daß der Erfurter Par¬ teitag durch leidenschaftlich erregte Debatten über die richtige Taktik beherrscht wurde, während die Delegierten die Formeln des neuen Programms ohne jede Diskussion akzeptierten2). Die alte bewährte Tak¬ tik schien von zwei Seiten gefährdet. Dabei wurde die radikale Oppo¬ sition der als Anarchisten diffamierten „Jungen“ als weit weniger gefähr¬ lich empfunden als der „Opportunismus“ Vollmars, der durch die neue Situation der Partei begünstigt wurde. „Auch ich mißbillige die Voll¬ marsche Taktik“, konnte ein Diskussionsredner ausrufen, „aber Vollmar hat doch nichts weiter ausgesprochen, als was nach meiner Ansicht die ganze Fraktion bisher getan hat.“3) „Der reine Proteststandpunkt, wie ich ihn vor 1870 eingenommen habe“, meinte der alte Liebknecht, „kann überhaupt nur in provisorischen Zeiten gelten — auf die Dauer ermüdet und lähmt er.“4) Und für Bebel war es bei allem Verbal-Revolutionarismus eine „notwendige Folge des Wachstums der Partei“, daß sie mit 2) „Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891“, Berlin 1891, S. 280 u. 172. 2) S. auch A.[ugust] B.febel], „Zum Erfurter Parteitag“, in: „Neue Zeit“, 10. Jg./I, S. 33 ff.: „Eine richtige Taktik ist also unter Umständen fast wichtiger für die Partei als ein richtiges Programm.“ Ein unrichtiges Programm sei korrigier¬ bar, während eine durch falsche Taktik herbeigeführte Niederlage „in der Regel unreparierbar“ sei. 3) A. a. 0., S. 225. 4) A. a. 0., S. 204. Marxismusstudien II

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ihrer nunmehrigen Millionen-Gefolgschaft vorsichtiger operieren müsse „wie eine Sekte, die keine Bedeutung und keine Verantwortung“ habe1). So empfand er es auch als „natürlich“, daß innerhalb der Partei, die „in Folge der allgemeinen sozialen Entwicklung in den letzten Jahren die stärkste Partei in Deutschland geworden“ und „keineswegs . .. voll¬ ständig homogen“ sei, „verschiedene Strömungen in Bezug auf das Tempo der Marschbewegung vorhanden sind“. Er habe „den Wert prak¬ tischer Forderungen unserer Opposition gegenüber stets verteidigt , stellte Bebel fest, aber — und hier zeigt sich die taktische Bedeutung des parteioffiziellen Radikalismus — „wenn wir unser schönes Ziel in nebel¬ hafte Ferne rücken und immer betonen, daß erst künftige Generationen es erreichen werden, dann läuft uns die Masse mit vollkommenem Recht auseinander“. Vollmar nehme der „Partei das, ohne das eine Partei wie die unserige nicht bestehen kann, die Begeisterung“2). Bei der Diskussion über das taktische Auftreten der Sozialdemo¬ kratie geht es also weniger um die Frage eines politisch gangbaren Weges der Partei zur Macht als um den innerparteilichen Effekt dieser wieder¬ spruchsvollen Haltung. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in einem Brief, den Bebel einige Tage nach Erfurt an Viktor Adler richtete. Man habe nicht den Eindruck aufkommen lassen dürfen, schreibt er, „daß wir Vollm. [ar] um jeden Preis draußen haben wollten. .

wollten

wir damit nicht einen großen Teil unserer Leute vor den Kopf stoßen“. Erscheint Bebel der Ausschluß der linksoppositionellen Jungen aus Grün¬ den der von ihm in Erfurt rigoros gehandhabten Parteidisziplin einerseits notwendig: ,,... sie werden sehr rasch merken, daß außerhalb der Partei stehen moralisch u. politisch todt sein heißt“, so hält er ihn andererseits für bedauerlich, „da die Partei bei ihrer jetzigen Größe auch eine Menge Elemente enthält, die vorwärts geschoben werden müssen“. Insofern sei ihm eine „sachliche Opposition von links her. .. sehr sympathisch, ja sie ist geradezu notwendig“; waren doch „auf dem Parteitag eine Menge Leute bis in die nächsten Freundeskreise, die ganz oder zu einem großen Teil mitVollm.[ar] sympathisierten, obgleich sie es nicht offen sagten, so der Grillenberger und selbst der Auer ... Meine einzige Hoffnung ist, daß die Dinge und die Macht der Entwicklung stärker sind wie der Wille der Führerschaft und daß das Drängen von unten zur rechten Zeit sich einstellt, falls man oben das Bremsen zu offenkundig treibt.“3) b A. a. 0., S. 57. 2) A. a. 0., S. 272f„ 275. 3) Victor Adler, Briefwechsel, S. 80f.

Kautsky und der Kautskyanismus

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IV. Kautskys sozialdemokratischer Katechismus von 1893 Daß Bebels einseitig evolutionistische Auffassung des Marxismus und seine taktische Nutzanwendung der radikalen Ideologie nicht den Intui¬ tionen Kautskys, des Repräsentanten der „reinen Lehre“, widerspricht, zeigt bereits die Begründung des Programmentwurfes der „Neuen Zeit“1). Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in Kautskys 1893 veröffentlichtem „sozialdemokratischem Katechismus“2), der als Schlüs¬ selartikel für das Verhältnis seiner ideologischen Wirksamkeit zu den Erfordernissen der altbewährten, durch Bebel und die offizielle Partei repräsentierten „Taktik“ gelten darf und gleichzeitig die „revolutionäre“ Kautsky-Legende schon für diesen frühen Zeitpunkt ad absurdum führt. Die Sozialdemokratie, unterscheidet Kautsky in diesem Artikel, dessen Zweck es ist, die mit dem tatsächlichen politischen Verhalten der Partei übereinstimmende „demokratisch-proletarische ... sogenannte fried¬ liche Methode des Klassenkampfes“3) zu propagieren, sei wohl „eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei“. Der offiziell deklarierte revolutionäre Charakter der Bewegung ist — wie bei Bebel — für ihre Praxis unverbindlich: „Wir wissen, daß unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, daß es ebenso wenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen. Und da die Revolution nicht von uns willkürlich gemacht werden kann, können wir auch nicht das mindeste darüber sagen, wann, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sie eintreten wird.“4)

Da mau aber über die „Entscheidungsschlachten des sozialen Krieges“, abgesehen von dem durch die ökonomische Entwicklung garantierten „unausbleiblichen“ Endsieg des Proletariats nichts wisse, könne man „natürlich ebenso wenig sagen, ob sie blutige sein werden, ob die physi¬ sche Gewalt eine bedeutende Rolle in ihnen spielen oder ob man sie 1) „Neue Zeit“, 9. Jg./II (1890), S. 723ff„ 749ff., 780ff„ 814ff„ wobei die Be¬ gründung des theoretischen Teils Kautsky, die des Aktionsprogramms Bernstein zuzuschreiben ist. Wieder abgedruckt in: „Das Erfurter Programm“, Schriftenreihe „Demokratie u. Sozialismus“, Heft 3, Offenbach 1947, S. 69ff„ u. dort fälschlich mit dem Verfassernamen Friedrich Engels versehen. Vgl. auch den Redaktions¬ artikel der „Neuen Zeit“, 10. Jg„ I, S. 160ff„ über die Ergebnisse des Erfurter Kongresses. 2) Abgedruckt in: Karl Kautsky, „Der Weg zur Macht“, 3. Aufl., Berlin 1920, S. 57ff. 3) A. a. 0., S. 59.

4) A. a. 0., S. 57. li»

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ausschließlich, mit den Mitteln ökonomischer, legislativer und moralischer Pressionen ausfechten wird“. Nach dieser im besten Sinne des Wortes nichtssagenden Feststellung fährt Kautsky, die pazifistisch-humanitäre Haltung der führenden sozialdemokratischen Richtung naiv reflek¬ tierend, fort: man könne „aber wohl sagen, es sei alle Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß in den revolutionären Kämpfen des Proletariats“ die friedlichen Kampfmittel dominieren würden1). Diese Wahrscheinlichkeit wachse mit der Wirksamkeit der „demokratischen Institutionen“ sowie der „politischen und ökonomischen Einsicht“ und der „Selbstbeherr¬ schung der Bevölkerung“2). Die Sozialdemokratie aber müsse ihrerseits „alles vermeiden, ja bekämpfen, was eine zwecklose Provokation der herrschen¬ den Klassen wäre, was deren Staatsmännern einen Anhaltspunkt gäbe, um die Bourgeoisie und deren Anhang in sozialistenfresserische Tollhäuslerei zu treiben“3).

Nichtsdestoweniger könne man, betont Kautsky wiederum analog zu Bebel, den „revolutionären Enthusiasmus“, den „großen Hebel unserer Erfolge“, in Zukunft weniger entbehren denn je; bringe doch die gegen¬ wärtige Situation die Gefahr mit sich, „daß wir leicht 'gemäßigter' aussehen, als wir sind“. Je stärker die Partei werde, desto mehr träten „die praktischen Aufgaben in den Vordergrund“ und desto mehr müsse sie ihre „Agitation über den Kreis des industriellen Lohnproletariats hinaus erstrecken“. Es sei schwer, „dabei das richtige Maß zu halten, der Gegenwart ihr volles Recht werden zu lassen, ohne die Zukunft aus den Augen zu verlieren, auf den Gedankengang der Bauern und Kleinbürger einzugehen, ohne den proletarischen Standpunkt aufzu¬ geben, also jede Herausforderung möglichst zu vermeiden und doch es allgemein zum Bewußtsein zu bringen, daß wir eine Partei des Kampfes, des unversöhnlichen Kampfes gegen die ganze bestehende Gesellschaftsordnung sind.“

Erwecke die Sozialdemokratie nämlich den Anschein, als wolle sie ihre „revolutionären Grundsätze verleugnen“, so leiste sie damit nur den „Anarchisten“ Vorschub, „gerade jener Bewegung . . ., die am meisten dahin wirkt, daß an Stelle der zivilisierten Formen des Kampfes dessen brutalste Formen treten“. Von hier aus gelangt Kautsky zu dem auf den ersten Blick verblüffenden Schluß, „daß heute nur ein Moment die Massen des Proletariats veranlassen könnte, freiwillig von den oben auseinandergesetzten ,friedlichen4 Methoden des Kampfes abzugehen: das Schwinden des Glaubens an den revolutionären Charakter unserer Partei. Wir können die friedliche Entwicklung nur gefährden durch allzu große Friedlichkeit.“4) 4) A. a. 0.,S. 57f.

2) A.a. 0., S. 59.

3) A. a. 0., S. 60.

4) A. a. 0., S. 64.

Kautsky und der Kautskyanismus

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Als parteigeschichtliches Fazit der zitierten Ausführungen Bebels und Kautskys, die die Haltung der offiziellen Partei getreu widerspiegeln, ergibt sich folgendes: 1. Bei den innerparteilichen Auseinandersetzungen Anfang der neun¬ ziger Jahre geht es der führenden sozialdemokratischen Richtung gar nicht um das Ausmaß der parlamentarischen und sozialpolitischen Praxis der Partei, sondern um die „Taktik“, deren Hauptproblem es ist, die verschiedenen Strömungen der sich sozial und politisch immer mehr differenzierenden Sozialdemokratie im Rahmen einer einheitlichen Orga¬ nisation zu integrieren. 2. Die politische Bedeutung der parteioffiziellen Ideologie —- die sich marxistischer Formeln bedient und vom gruppentypischen sozialdemo¬ kratischen Selbstbewußtsein dieser Zeit als der unverkürzte Marxismus akzeptiert wurde — ist nur aus ihrem Verhältnis zur „Taktik“ zu be¬ stimmen. Diese hier Kautskyanismus genannte Ideologie ist ihrem Wesen nach Integrationsideologie1) und als solche notwendige Ergänzung der Integrationstaktik. 3. Der Kautskyanismus erlaubt es, die Fiktion des revolutionären Charakters

der Sozialdemokratie aufrechtzuerhalten. Diese Fiktion

erscheint als ein für den Integrationsprozeß unentbehrliches Moment, dessen sich sie Parteiführimg bewußt bedient. 4. Durch die Anpassung an die „Taktik“ der führenden sozialdemo¬ kratischen Richtung verwandelt sich der revolutionäre „Marxismus“ in einen undialektischen Entwicklungsglauben, der den „Verhältnissen“ die Verwirklichung des Sozialismus überläßt.

V. Der taktische Kern der Auseinandersetzung mit Bernstein und den Revisionisten Die Begriffe Revisionismus und Reformismus werden von den zeit¬ genössischen Parteischriftstellern zumeist auswechselbar gebraucht, und auch in der wissenschaftlichen Literatur ist in der Regel nicht zwischen ihnen unterschieden worden. Bernstein hat den Revisionismus einmal als die „Theorie einer Praxis“ definiert, „für die der Name Reformismus als beste Bezeichnung immer mehr Annahme gefunden“ habe, und sich dabei — für seine Person mit vollem Recht — gegen den „Opportunis-

i) Vgl. auch den Bernstein-Aufsatz von Christian Gneuss in diesem Band, S. 198.

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mus“ abgegrenzt1). In der Tat brachten viele der hervorragendsten Träger der reformistischen Politik, wieVollmar, Auer, und besonders die Gewerkschaftsführer, den revisionistischen Theorien „wenig oder gar kein Interesse“2) entgegen, wenn sie sie nicht gar für inopportun oder schädlich hielten. ,,. .. wo Dogmen sind“, äußerte sich Auer in seiner drastischen Art über den Konflikt zwischen Kautsky und Bernstein, „giebt es Pfaffen und Ketzer“, und „daß gerade Ede unter die letzteren gerieth ist der Humor von der Geschichte. Er frißt jetzt seine eigenen Kinder. Wenn Kautsky die andere Hälfte auffräße, dann wären wir die Wechselbälge der beiden Kirchenväter los und wir brauchten uns nur über ,Taktik‘ zu streiten.“3) Aber auch Kautsky gab sich keiner Täuschung darüber hin, daß die Zahl der „wirklichen Marxisten“ ebenso wie die der „wirklichen Revisionisten“ sehr klein und die „Masse unserer Genossen“ weder das eine noch das andere sei, sondern nach Stimmungen und Gefühlen, die nicht „durch unsere Argumente, sondern durch die Verhältnisse be¬ stimmt werden“, urteile4). Wie diese Zitate zeigen, ist es nicht einmal möglich, die beiden Flügel der „Radikalen“ oder „orthodoxen Marxisten“ 1) Bernstein in „Sozialistische Auslandspolitik“, Nr. 7,16. 6. 1915. S. auch seinen Beitrag: „Der Revisionismus in der Sozialdemokratie“ im „Handbuch der Politik“, Bd. II, Berlin 1914, S. 55: „Es gibt in der Sozialdemokratie Deutschlands keine abgeschlossene Fraktion, die sich als revisionistisch bezeichnete, noch gibt es eine genau umgrenzte Theorie oder ein ausgearbeitetes Programm, die diesen Titel führten. Revisionismus ist vielmehr der Name für eine Strömung, der Sozialisten angehören oder zugerechnet werden, die in vielen Punkten wiederum unter sich differieren, etwa wie das in der Reformation hinsichtlich des Protestantismus, in der großen englischen Revolution heim Puritanismus und in der ersten Periode der großen Französischen Revolution bei jenen Politikern der Fall war, die sich zunächst unterschiedlos als Demokraten bezeichneten. Das Wort zeigt nur das Bedürfnis oder Verlangen nach Änderungen an, ohne diese Änderungen schon genau zu um¬ grenzen. Lediglich ihre Richtung steht außerhalb allen Zweifels, Revisionismus heißt Weiterbildung von Theorie und Praxis der Sozialdemokratie im evolutionistischen Sinne.“ — Für die Entstehung des Begriffes s. a. a. 0., S. 57. Er habe sich in Anknüpfung an die 1901 erschienene Schrift „Revision des Sozialismus“ von Dr. Alfred Nossig durchgesetzt, „obwohl die Schrift selbst von den meisten, die man nach ihr nannte, ziemlich schroff abgelehnt worden war“. 2) Bernstein in: „Soz. Auslandspolitik“, a. a. 0. Im „Handbuch d. Pol.“, II, a. a. 0., S. 57, betont Bernstein ausdrücklich: „Wo keine solche theoretische Grundlage [d. h.: „Auffassung vom allgemeinen Gang der gesellschaftlichen Ent¬ wicklung“] das Handeln normativ bestimmt, fehlt ein für den Revisionismus wesentliches Moment.“ 3) Auer an Adler, 18. 9. 1899, in: Victor Adler, Briefwechsel, S. 323. 4) Brief an Rappoport vom 8. 7. 1911, Kautsky-Nachlaß.

Kautsky und der Kautskyanismus

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und der „Reformisten“ oder „Revisionisten“ klar voneinander abzu¬ grenzen1). Die Gegensätze, die von 1898 ab für ein ganzes Jahrzehnt das innerparteiliche Leben erfüllten, waren auch nirgends so tief, wie sie zu¬ nächst erschienen, und in allen wesentlichen Punkten für die sozial¬ demokratische Praxis irrelevant. Wurde einerseits die Bereitschaft der Revisionisten zum Entgegenkommen an die bestehende Ordnung durch die Herrschaftsstruktur des deutschen Kaiserreiches erheblich einge¬ schränkt, so vertrat andererseits die radikale Mehrheit, Bebel an der Spitze, innerhalb eben dieser Grenzen die gleichen sozialen und politi¬ schen Reformbestrebungen, zu denen sich die Minderheit offen bekannte. Generell gesehen, reduzierte sich also der Streit, in dem „die einen als reformistisch guthießen, was die anderen auch, aber als revolutionär be¬ fürworteten“2), auf „die theoretische Formulierung und Auslegung einer von beiden Seiten bejahten realpolitischen Praxis, soweit sie auf dem Boden des wilhelminischen Deutschland möglich war“3). Selbst in den Fragen der Budgetbewilligung4) und der Koalition mit bürgerlichen Parteien, in denen die von Kautsky und Bernstein ideologisch repräsen¬ tierten Lager am härtesten aufeinanderstießen, waren die Differenzen keineswegs so unüberbrückbar, wie die Wortführer des offiziellen Radi¬ kalismus in der Leidenschaft des Kampfes behaupteten. Ein Fall Millerand wäre unter den herrschenden Verhältnissen in Deutschland gar nicht denkbar gewesen, so daß die Diskussion über den Ministerialismus nur akademischen Charakter hatte. Trotzdem hielt sich Kautsky selbst hier 1) Vgl. S. 118, Anm. 1. 2) Kurt Mandelbaum, „Die Erörterungen innerhalb der deutschen Sozialdemo¬ kratie über das Problem des Imperialismus (1895—1914)“, Diss. phil., Frankfurt/ Maüi 1930, S. 11. 3) Brockschmidt (Brandis), a. a. O., S. 105. 4) S. dazu Mandelbaum, a. a. 0., S. 12: „Nur wo liberalere politische Verhält¬ nisse herrschten, wie in Süddeutschland, zog der Revisionismus alle politischen Konsequenzen (Budgetbewilligung) und setzte sich damit allerdings in einen praktischen Gegensatz zur Parteimehrheit. Aber die Zustimmung der Reichstags¬ fraktion zur Wehrvorlage (1913) und die Debatte über die Geldbewilligungsfrage auf dem Leipziger Parteitag von 1909 bewiesen, daß dieser Gegensatz keineswegs ein grundsätzlicher war.“ Dem entspricht das Urteil Bernsteins, „Handbuch d. Pol.“, II, a. a. 0., S. 57f., daß es irrig wäre, die Beschlüsse der Parteitage von 1901, 1908 und 1910 gegen die Budgetbewilligung „als Anzeigen für die allgemeinen Aussichten der Reformideen des Revisionismus in der Sozialdemokratie zu nehmen. Sie sind zum Teil dadurch erklärt, daß die politischen Verhältnisse in den Nord¬ deutschen Staaten, dem größten Teile Deutschlands, noch nicht so geartet sind, Sozialdemokraten die Bewilligung des Budgets zu empfehlen.“

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einen Rückzugsweg offen, indem er bereits 1900 vorsichtig einräumte, es handele sich um „eine Frage der Taktik und nicht des Prinzips"1). Die scheinbare dogmatische Intransigenz der radikalen Mehrheit wurde nur darum nicht ernsthaft auf die Probe gestellt, weil sich „der Gedanke einer großen bürgerlichen Linken“ als nicht realisierbar erwiesen hatte und „weil unsere Gegner nicht wollen“2). Die nachträgliche Analyse bestätigt das Urteil, zu dem Viktor Adler schon sehr früh gekommen war, daß nämlich Bernstein und Kautskv „weit weniger sachlich“ als „mechanisch und psychologisch" voneinander abgedrängt winden3). Hier ist daran zu erinnern, daß weder Bernstein noch Kautsky jemals einen wirklichen Zugang zu der dialektischen Ein¬ heit von Theorie und Praxis gefunden hatten, die den ursprünglichen Marxismus auszeichnete. Beide hatten den Marxismus in den Grenzen ihrer hberaldemokratischen politischen Überzeugungen und ihres evolutionistischen Weltbildes aufgenommen und ihm in einer schon „revi¬ dierten“ Form, gestützt auf die Autorität des alten Engels, der dieser Entwicklung unbeabsichtigt noch Vorschub leistete, zu allgemeiner Anerkennung verholfen. Diese gemeinsame weltanschauliche Basis blieb von den Auseinandersetzungen unberührt und ermöglichte es Kautsky und Bernstein, nachdem der Konflikt abgeklungen war, sich wieder zu nähern und ihre alte vertraute Freundschaft, zu erneuern. Im Grunde sind ihre ideologischen Positionen auch in der Zeit der leidenschaftlich¬ sten Kämpfe nichts als Momente ein und derselben Revisionsbewesun» die bereits mit der beginnenden Marxismusrezeption während des Sozialistengesetzes anhebt und von dem Krypto-Revisionismus des Erfurter Programms zum offenen Revisionismus fortschreitet,

der

in der offiziellen Partei-Ideologie und auch bei Kautsky4) erst in der Weimarer

Republik

zum

Durchbruch

kommt,

obgleich

es

auch

jetzt noch nicht gelingt, die Kluft zwischen Ideologie und Praxis zu schließen.

J) Kautsky, Weg zur Macht, a. a. 0., S. 15 (Vorrede zur 3. Aufl. von 1920). 2) „Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Dresden vom 13. bis zum 20. September 1903“, Berlin 1903, S. 384f., 387 (Ausführungen Kautskys). 3) Adler an Kautsky, 1. 6. 1901, in: Victor Adler, Briefwechsel, S. 353. 4) Korsch, a. a. 0., S. 4f., charakterisiert Kautskys „Die materialistische Ge¬ schichtsauffassung“ als „den zusammenfassenden Ausdruck für den von K. und den Seinen in den letzten Jahren vollzogenen Übergang vom verdeckten zum offenen Revisionismus ‘ ‘.

Kautsky und der Kautskyanismus

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Von dem Gang dieser umfassenderen Revisionsbewegung ist hier nicht zu handeln. Als ,,Revisionismus'1 in strengem Sinne ist der von Bern¬ stein1) und einem kleinen Kreis von Parteiintellektuellen unternommene Versuch anzusehen, mit Hilfe einer Revision der ökonomischen Theorien des Marxismus eine tragfähige Basis für die reformistische Politik zu schaffen, die bereits in den 90er Jahren das politische Verhalten der Gesamtpartei bestimmte. Diese ersten offenen Revisionsbestrebungen, deren „berechtigten Kern“2) sogar Kautsky insgeheim anerkannte, wurden zwar durch die immer unverhiillter in Erscheimmg tretende Diskrepanz zwischen Ideo¬ logie und Praxis provoziert, mußten jedoch zu dem Zeitpunkt, aLs Bern¬ stein seine Thesen mutig zur Diskussion stellte, unweigerlich — aus noch näher zu erläuternden Ursachen — in einen elementaren sentimentbe¬ dingten Gegensatz zum politischen Selbstbewußtsein der Sozialdemo¬ kratischen Massenanhängerschaft geraten und konnten gerade bei den organisierten Kemtruppen der Partei nur Verwirrung stiften. Nur von hier aus ist die Reaktion der Parteiführung zu verstehen. Mochte Bern¬ stein noch so sehr damit recht haben, daß er „reine Angelegenheiten der Doktrin, keinen Punkt des wirklichen Kampfes, der zur Zeit in Deutsch¬ land geführt wird“3), in Frage gestellt habe, vom Standpunkt der durch Kautsky ideologisch repräsentierten Integrationstaktik erschien sein Vorstoß unverzeihlich. Hier liegt der eigentüche Grund für die von Bebel und Kautsky mit gleicher Energie betriebene Revisionistenver¬ folgung, während über die Grundtendenz der praktischen Wirksamkeit der Partei Übereinstimmung herrscht und der Streit um die Marx-Aus¬ legung den wahren Kern der Gegensätze nur verschleiert. „Die Ausdehnung der Partei“, hält Kautsky Bernstein entgegen, „darf nie auf Kosten ihrer Geschlossenheit und Einheitlichkeit geschehen. Nichts schlimmer als Zerfahrenheit in der Taktik. Das Wesen der Taktik besteht eben in der Einheitlichkeit, in dem Zusammen¬ fassen verschiedener Kräfte zu einer gemeinsamen planmäßigen Aktion ... Auf

1) Für den Revisionismus Bernsteins vgl. neuerdings das Buch von Peter G ay „Das Dilemma des demokratischen Sozialismus, Eduard Bernsteins Auseinander¬ setzung mit Marx“, Nürnberg 1954, das unentbehrlich ist, weil es den BernsteinNachlaß und anderes veröffentlichte Material heranzieht, jedoch, sowohl was die Fragestellung als auch die methodische Durchführung der Untersuchung anbetrifft, bedauerliche Schwächen aufweist. Vgl. auch das Urteil Christian Gneuss in diesem Bande, S. 199. 2) Kautsky an Adler 21. 11. 1901, in: Victor Adler, Briefwechsel, S. 382. 3) Bernstein an Adler 28. 3. 1899, a. a. 0., S. 306.

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der Einheitlichkeit der Taktik beruht die Einheit der Partei, und wo jene verloren¬ geht, geht auch diese bald in die Brüche.“1)

Die „Theorie“ aber hat die Aufgabe, die Richtigkeit der „Taktik“ zu beweisen: „Von der Theorie, ob die sozialen Gegensätze die Tendenz haben, sich zuzuspitzen oder nicht, hängt es ab, welche Taktik die richtige ist ... die Fragen der Theorie sind nicht gleichgültig, sondern gehören aufs engste mit der Taktik zusammen.“2)

Bernstein war zu dem Ergebnis gekommen, daß der Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft weder unmittelbar bevorstehe, noch mit Naturnotwendigkeit erfolgen müsse, und zog daraus die Konsequenz, daß die „Bewegung alles, das Endziel nichts“ sei. Demgegenüber kon¬ zentrierte sich das theoretische Bemühen Kautskys, der gerade vom „Endziel“ her den revolutionären Charakter der gegenwärtigen, sich friedlicher Methoden bedienenden Partei postulierte, darauf, darzulegen, daß die ökonomische Entwicklung nicht „in anderer Richtung vor sich geht, als Marx sie gezeichnet“, und somit auch kein Anlaß gegeben sei, „unser Programm“ zu ändern3). Was „die Formen der Entwicklung zum Sozialismus“ angehe, so sei darüber im Erfurter Programm gar nichts ausgesagt4). Bernstein könne nur darum von einem Widerspruch zwischen „traditioneller revolutionärer Phrase und wirklicher reformierender Gesinnung“ sprechen, weil seine Auffassung nicht „aus der Gesamtheit der bisherigen Erscheinungen unserer Produktionsweise“ resultiere, wie Kautsky das für seine eigene Lehre in Anspruch nimmt, sondern nur aus „einer ihrer Phasen“5). Damit ist für Kautsky die Unzulänglichkeit der

Bern stein sehen

Revisionsbestrebungen gebrandmarkt und der „revolutionäre“ Charak¬ ter auch der augenblicklichen Sozialdemokratie bewiesen, der sich „aus der Gesamtheit der ... Erscheinungen“, die das „Endziel“ verbürgt, ergibt, jedoch für die praktische Politik der Partei nicht die mindeste Bedeutung hat. Kann es sich doch für die Sozialdemokratie keineswegs um eine „Revolution im Polizeisinn“6) handeln; die „soziale Revolu¬ tion“, die mit dem „politischen Aufstand“ nichts gemein habe, ist nach Kautsky nichts als ein „Ziel, das man sich prinzipiell setzen .. . kann“. 1) Kautsky, „Bernstein und das sozialdemokratische Programm“, Stuttgart 1899, S. 2f. 2) Protokoll Dresden 1903, S. 382 (Kautsky). 3) Kautsky, Bernstein u. das sozialdem. Programm, S. 152. 4) A. a. 0., S. 154. 6) A. a. 0„ S. 181.

6) A. a. 0., S. 166.

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Kautsky und der Kautskyanismus

„Aber nicht nur die soziale, auch die 'politische Revolution wird man nicht dem Aufstand gleichsetzen dürfen. Der nichtpolizeiliche Sprachgebrauch bezeichnet mit politischer Revolution jede große politische Erschütterung, die das politische Leben der Nation beschleunigt und aufs kraftvollste pulsieren läßt, im Gegensatz zur Gegenrevolution, einer Erschütterung, die das politische Getriebe stillsetzt.“1)

Diese völlige Sinnentleemng und Verharmlosung des Revolutions¬ begriffes rechtfertigt vollauf die Feststellung Kautskys: „Tatsächlich ist, gerade durch ihre theoretische Basis, nichts anpassungsfähiger als die Taktik der Sozialdemokratie.“2)

So kann er auch ohne weiteres zugestehen: „Augenblicklich wollen in der Arbeiterbewegung beide Richtungen praktisch dasselbe: sozialpolitische und demokratische Reformen.“

Trotzdem sei es keineswegs „unnütz, über die Revolution zu streiten“, da die Frage des „Endziels“ aufs engste „mit der Frage der Organisation und der Propaganda des Proletariats als politische Partei in der Gegen¬ wart“ verknüpft sei3). Die Sünde Bernsteins besteht also nicht darin, daß er für eine refor¬ mistische Politik eintritt, auch nicht darin, daß er das durch die „neue Prosperität“ bedingte „Scheitern unserer alten revolutionären Erwar¬ tungen“ konstatiert, sondern darin, daß er den „Gedanken der Revo¬ lution“ aufgibt4). In der Kampagne gegen Bernstein taucht kein wesentlich neues Moment auf. Kautsky hatte bereits zu einer Zeit, als das Revisionismusproblem überhaupt noch nicht aufgetreten war, den reformistischen Inhalt der sozialdemokratischen Politik in die revolutionäre Form der marxistischen Lehre hineininterpretiert; und er beharrte auch in der Auseinander¬ setzung mit Bernstein bei diesem schon bewährten Verfahren, indem er einerseits fortfuhr, die politischen Begriffe des Marxismus, wie „Revo¬ lution“ und „Diktatur des Proletariats“, durch einseitige Ausdeutung im Sinne der friedlichen Entwicklung ihres gefährlichen Inhalts zu entkleiden, andererseits „allerlei Sätze von Marx zusammensuchte, welche sich zur Not im Sinne der Bernsteinschen Lehre interpretieren ließen, d. h., er behauptete also nicht, daß Bernsteins Sätze an sich unrichtig seien. Bernstein irre nur darin, daß er Marx andere Ansichten unterschiebe.“5) Die Motive, aus denen sich Kautskys erbitterte Front1) A.a. 0., S. 183.

2) A. a. 0., S. 166.

3) A. a. 0., S. 184.

4) Kautsky, „Der politische Massenstreik“, Berlin 1914, S. 39. s) Heinrich Herkner, „Die Arbeiterfrage“, Bd. II, 7. Aufl., Berlin u. Lpz. 1921, S. 374.

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Stellung gegen den Revisionismus ergibt, sind in dem Artikel von 1893 bereits vorweggenommen. Es ist bezeichnend, daß er diesen „sozial¬ demokratischen Katechismus“ 1909 in seinem „Weg zur Macht“ wieder abgedruckt und stolz dazu erklärt hat, der Standpunkt der „revolutio¬ nären Marxisten“ habe sich seither nicht verändert1). Das ist insoweit richtig, als die Probleme der Taktik — und auch das Verhältnis Kautskys und seiner angeblich Marx-orthodoxen, in Wirklichkeit jedoch kryptorevisionistischen ideologischen Schule zu diesen Problemen — trotz aller Anpassungen der Sozialdemokratie an die sich wandelnde Situation die gleichen geblieben waren. Dabei stimmten Bebel, der unbestrittene politische Führer der Partei, und Kautsky, ihr führender Ideologe, trotz mancher gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten in der Grundtendenz ihrer Anschauungen und ihres Wirkens stets überein. Während der Parteiführer kraft seiner Autorität und unter rigorosem Pochen auf die Parteidisziplin der Integrationstaktik auf den Parteitagen der Vorkriegs¬ zeit immer wieder zum Siege verhalf, wachte Kautsky, der 1892 stolz konstatiert hatte, man sei „auf dem besten Wege dahin zu kommen, daß der Marxismus der Masse der Genossen in Fleisch und Blut übergeht“2), als „Kirchenvater“3) über die „Einheitlichkeit der Weltanschauung“4). Die Tätigkeit Kautskys ist von der Bebels nicht zu trennen. Wollte man die Rolle, die diese beiden Männer in der Periode des unaufhaltsamen Aufstiegs der Partei von der Aufhebung des Sozialistengesetzes bis zu Bebels Tod kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges gespielt haben, zu¬ reichend würdigen, so wäre dazu eine politische Doppelbiographie er¬ forderlich, die zugleich eine Geschichte der sozialdemokratischen „Tak¬ tik“ in diesem Zeitraum sein müßte.

VI. Ideologie und Mentalität Obgleich der offizielle Radikalismus bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges in der deutschen Sozialdemokratie das Feld behauptete, hatte sich die reformistische Praxis der Partei seit dem Fall des Sozia¬ listengesetzes immer mehr ausgeweitet, was sich besonders in dem stei¬ genden Einfluß der Gewerkschaften auf die sozialdemokratische Politik

b Kautsky, Weg zur Macht, S. 65. 2) Kautsky an Adler, 15. 10. 1892, in: Victor Adler, Briefwechsel, S. 108. 3) S. S. 118, Anm. 3. 4) Kautsky an Bernstein 23. 10. 1898, in: Victor Adler, Briefwechsel, S. 274.

Kautsky und der Kautskyanismus

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zeigte. Diese Haltung war charakteristisch für die Parteien der II. Inter¬ nationale, die sich der besonderen Arbeiterinteressen au nah men und im übrigen in den großen Fragen der praktischen Politik mit der liberalen bürgerlichen Demokratie durchaus übereinstimmten. Getragen von dem echten und starken Klassenbewußtsein der europäischen Arbeiterschaft dieser Zeit, war es ihnen jedoch ein Bedürfnis, die Sonderstellung der sozialistischen gegenüber allen anderen Parteien zu betonen. Die Geste des Protests und der Isolierung gegenüber dem bürgerlichen Staat und der kapitalistischen Gesellschaft entsprach der Mentalität der Arbeiter, die sich zumeist nicht imbegründet von den herrschenden Institutionen zurückgesetzt und verfolgt fühlten1). Allerdings prägte sich der Wider¬ spruch zwischen Sein und Bewußtsein in der deutschen Sozialdemo¬ kratie, die durch die imponierende Größe und Einheitlichkeit ihrer Organisation, die Diszipliniertheit ihres Auftretens, ihr selbstbewußtes radikales Pathos und ihre beispiellosen Wahlerfolge den übrigen soziali¬ stischen Parteien als lange Zeit kritiklos hingenommenes Vorbild galt, besonders stark aus. Der Mythos der Partei zehrte aus der Zeit des Sozialistengesetzes, das das weitere Anwachsen der Bewegung nicht hatte verhindern können. Zwölf Jahre hatte sie sich gegen die stärkste Regierungsgewalt des damaligen Europa behauptet; aber auch nach dem Fall des Ausnahmegesetzes blieb sie in einer Pariastellung und selbst für viele der Linksliberalen ein Bürgerschreck. Für Staat, Kirchen und bürgerliche Gesellschaft des kaiserlichen Deutschland stand die Sozial¬ demokratie tatsächlich außerhalb der offiziellen Nation2), so daß die Haltung des unversöhnlichen Protests für die Masse der sozialdemo¬ kratischen Anhänger eine Sache der „Parteiehre“3) bedeutete. Nichts¬ destoweniger war das Anwachsen der Tendenz zur Einführung in den gegebenen staatlichen Rahmen nicht aufzuhalten; und je mehr die Partei ihre Funktion innerhalb der bestehenden Ordnung fand, desto stärker trat ihre innere Zwiespältigkeit in Erscheinung. 1) Vgl. Rosenberg, Demokratie u. Sozialismus, S. 272ff. (Kapital 16: LiberalDemokratie und II. Internationale). 2) Charakteristisch ist beispielsweise das von Carl E. Schorske, „German Social Democracy 1905—1917“, S. 233, analysierte Verhalten der fortschrittlichen Wähler bei den Stichwahlen von 1912. 3) Stücklen auf dem Dresdener Parteitag 1903, Protokoll, S. 352, über die Frage, ob ein Sozialdemokrat Vizepräsident des Reichstages werden könne: „Aber können wir von einem Sozialdemokraten verlangen, daß er an eine Stelle geht, wo man von uns als Elenden, als nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, gesprochen hat? Man hat als Sozialdemokrat doch seine Partei-Ehre (Lebhafte Zustimmung.)“

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Dieses widerspruchsvolle Gesicht der sozialdemokratischen Politik spiegelt sich eindrucksvoll in dem jüngst veröffentlichten Briefwechsel Victor Adlers mit den deutschen Parteiführern. . in der Arbeiterschaft selbst“, mahnte Adler kurz vor dem Dresdener Partei¬ tag August Bebel, „stecken die Tendenzen u. entwickeln sich mehr u. mehr neben dem bleibenden revolutionären Instinkt das Gewonnene ruhig zu genießen, einmal leben zu können wie die Andern. Damit müssen wir rechnen.“1)

Und 1901 hatte er Kautsky gegenüber festgestellt, „daß sich der D[ur]chschnitt der Partei bei dem ewigen Aussäen eben nicht genügen lassen will, ja nicht kann u. daß wir wol oder übel ernten müssen, was fertig ist“2).

Doch trotz dieser realistischen Selbsteinschätzung, die gleicherweise der Lage der deutschen wie der österreichischen Partei und damit auch der von Bebel geübten und von Kautsky verteidigten Praxis gerecht wurde, konnte Adler der Initiative Bernsteins keinen Beifall zollen, wenn er sie auch gelassener beurteilte als Bebel und Kautsky und ihm, als der Konflikt offen zum Ausbruch gekommen war, ungescheut bescheinigte, daß er sich „nicht u. nirgends außerhalb der Sozialdemokratie gestellt“ habe: „Am Meisten — das Theoretische liegt mir fern, mach Dir das mit Ivarl aus — ärgert mich die taktische Seite. Du konstruirst Dir einen Begriff von .Revolution1, den kein Mensch mehr hat, außer ein paar ganz alte Polizisten, und sagst dann emphatisch, wir sind nicht .revolutionär*, wir sind Reformpartei. Daß dadurch die Gefahr für das Wahlrecht beschworen werden soll, daß wir liebenswürdig werden, ist geradezu kindisch. Du stellst uns als Schafe im Wolfspelz dar und willst uns das Eell rauben. Das sind Dinge, die Dir nur in Deiner Isolirtheit einfallen konnten ... “3)

Es beweist einmal mehr die überlegene Klugheit Viktor Adlers, daß er — den oben bereits herausgearbeiteten — taktischen Kern der Gegen¬ sätze sofort erkennt und sie, unter Verzicht auf jedes ideologische Beiwerk, auf ihr wirkliches Maß reduziert. Nicht minder schwer wiegt die Stellung¬ nahme Ignaz Auers4), der, nüchtern und jedem falschen Pathos abge¬ neigt, die praktische Beformpolitik der Partei nach Kräften vorantrieb und deswegen selbst immer wieder in den Geruch des „Revisionismus“ oder „Reformismus“ geriet, doch zugleich als langjähriger Partei¬ sekretär und erfahrener Taktiker, dessen Einfluß innerhalb der Organi1) Victor Adler, Briefwechsel, S. 421 f. (8. 9. 1903). 2) A. a. 0., S. 386 (30. 11. 1901). 3) A. a. O., S. 298 (17. 3. 1899). *) Für die Persönlichkeit Auers s.: Eduard Bernstein, „Ignaz Auer, Eine Gedenk¬ schrift“, Berlin 1907.

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sation dem Bebels nicht nachstand, das irreale Selbstbewußtsein der Mehrheit der Parteimitglieder und Funktionäre viel realistischer berück¬ sichtigte als Bernstein. Wenn er auch in dem sich anbahnenden Konflikt, ähnlich wie Adler, von Anfang an bemüht war, auszusöhnen und zu ver¬ mitteln, blieb Bernstein eine kräftige Standpauke von seiner Seite nicht erspart: „Hast Du denn wirklich gar keine Ahnung, welchen Mißgriff Du begingst, als Du auf Seite 165 schriebst: Die Sozialdemokratie solle den Mut finden, sich von einer Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist, eine demokratisch-sozialistische Reform¬ partei!? Hältst Du es wirklich für möglich, daß eine Partei, die eine fünfzig Jahre alte Literatur, eine fast vierzig Jahre alte Organisation und eine noch ältere Tra¬ dition hat, im Handumdrehen eine solche Wendung machen kann? Speziell seitens der maßgebenden Parteikreise so zu handeln, wie Du es verlangst, hieße einfach die Partei sprengen, jahrzehntelange Arbeit in den Wind streuen. Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man. Unsere ganze Tätigkeit — sogar auch die unter dem Schandgesetz — war die Tätigkeit einer sozialdemokratischen Reformpartei. Eine Partei, die mit den Massen rechnet, kann auch gar nichts anderes sein.“1)

Es ist bezeichnend, daß sich Auer auf dem Erfurter Parteitag auch gegen Vollmar ausgesprochen hatte, obgleich er, wie er nicht verhehlte, in vieler Hinsicht mit ihm sympathisierte. Wenn sich die Partei auf die von Vollmar befürwortete praktische „Selbstbeschränkung“ festlege, argumentierte er, ergäbe sich als notwendige, wenn auch von ihrem Initiator keineswegs beabsichtigte Folge dieser Politik, daß „die strenge Scheidelinie, die bis jetzt unsere Partei allen anderen Parteien gegenüber innegehalten hat . .. auf die Dauer verwischt“ werde2). Diese unschein¬ bare Formel bleibt für die ganze Vorkriegszeit gültig. Sie bezeichnet präzis die Grenze, an der alle praktisch-reformistischen ebenso wie alle theoretisch-revisionistischen Vorstöße scheitern mußten, die das zwie¬ spältige gruppentypische Selbstbewußtsein der tragenden Schichten der Partei außer acht ließen. Wenn die sozialdemokratische Führung es als ihre Hauptaufgabe betrachtete, die materielle Lage der Arbeiter inner¬ halb des bürgerlichen Staates zu verbessern, so befand sie sich in vollem Einklang mit den Interessen und Erwartungen des Gros ihrer Gefolg¬ schaft. Aber die gleiche Gefolgschaft, die nicht an Umsturz oder Revo¬ lution dachte, hätte es als unerträglich empfunden, wenn die Arbeiter¬ partei als eme unter anderen Parteien aufgetreten wäre. Nur aus diesem !) A. a. 0., S. 63 (Brief vom 13. 7. 1899). 2) Protokoll Erfurt 1891, S. 223.

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echten Distanzierungsbedürfnis ist die Bedeutung zu verstehen, die die Diskussion solcher Fragen, wie Beteiligung an den preußischen Landtags¬ wahlen, Möglichkeit einer Koalition mit bürgerlichen Parteien, Budget¬ bewilligung, Teilnahme am Präsidium des Reichstages, Erfüllung soge¬ nannter „höfischer“ Verpflichtungen, Mitarbeit von Parteigenossen an der bürgerlichen Presse usw., für das sozialdemokratische Parteileben erlangen koimte. Keine von diesen Fragen, die reine Zweckmäßigkeits¬ fragen waren oder nur Bagatellen betrafen, hatte die prinzipielle Bedeu¬ tung, die man ihnen beimaß; keine war wirklich eine Schlüsselfrage für den angeblich „revolutionären“ Charakter der sozialdemokratischen Politik. Doch sie boten Gelegenheit, die „strenge Scheidelinie“, die in der praktischen parlamentarischen Politik der Partei einfach nicht einzu¬ halten war, wirkungsvoll zu demonstrieren1). So wenig es einerseits berechtigt ist, die scheinbare politische Intransigenz, die sich im wesentlichen in derartigen Akten symbolischer Distan¬ zierung erschöpfte, einem historischen Urteil über die sozialdemokratische Politik als Wertungsmaßstab zu unterlegen, so sehr ist andererseits die Bedeutung dieser Intransigenz für das Lebensgefühl des Durchschnitts¬ sozialdemokraten zu unterstreichen. Der gleiche psychologische Sach¬ verhalt sicherte auch dem populären Marxismus kautskyanischer Prä¬ gung, der nach einer brillanten Formulierung Arthur Rosenbergs für die deutsche Sozialdemokratie wie für die gesamte zweite Internationale nur das Mittel war, „um die eigene Bewegung ideologisch vom Bürgertum zu scheiden“2), seinen Einfluß als Integrationsideologie. Diese Lehre, deren verdeckter revisionistischer Kern dem verschleierten Reformismus der Parteipraxis entsprach, konnte zwar in der Unverbindlichkeit ihrer revolutionären Phraseologie ihrem offiziellen Anspruch, eine Theorie der sozialdemokratischen Politik zu sein, nicht genügen. Allein die Einheit b Für die Frage der Budgetbewilligung vgl. oben Abschnitt V, besonders S. 119, Anm.4. — Für die Kontinuität der Grundprobleme s. Auer auf dem Dresdener Parteitag 1903, Protokoll S. 372, wo er u. a. am Beispiel der preußischen Landtags¬ wahlen zeigt, wie der „Gang derZeit und der Entwicklung“ die „Grundsätze“ der Partei bereits modifiziert hat: „Was für schlimme Dinge glaubte man nicht von der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen für die Partei befürchten zu müssen ... So stand es noch vor wenigen Jahren ... Die Aufgabe der alten Taktik, des Klassenkampfstandpunktes, die Überbrückung des Rubikons und die Angliede¬ rung an die bürgerliche Linke sollten in Frage stehen; es sind das also alles dieselben Einwürfe, die auch heute wieder gemacht werden.“ 2) Arthur Rosenberg, „Geschichte der deutschen Republik“, Karlsbad 1935, S. 16.

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von Theorie und Praxis, die im ursprünglichen Marxschen Ansatz ge¬ geben war und die sowohl Bernstein wie Rosa Luxemburg von ver¬ schiedenen Ausgangspunkten her wieder zu gewinnen suchten, war für den innerparteilichen Integrationsprozeß, an dem Parteiführung und Apparat viel mehr interessiert waren, auch gar nicht das entscheidende Moment. Sie wurde teils bewußt, teils unbewußt dem Einklang von Ideologie und Mentalität1) geopfert. Wenn die offiziellen Radikalen um Bebel und Kautsky in der Praxis wie in der Ideologie von der Furcht beherrscht wurden, „die Unterschiede zwischen uns und den Liberalen“2) zu verwischen und sich als die „Sozialliberalen“3) zu bekennen, die sie ihrem geistigen Habitus nach tatsächlich waren, deckten sich die Bedürf¬ nisse der Integrationstaktik mit dem oben beschriebenen Distanzierungs¬ bedürfnis des Kerns der Anhängerschaft. Diese Furcht mußte um so wirksamer sein, als die Degeneration, die die bürgerliche Demokratie seit 1866 in Deutschland erfahren hatte, den sozialdemokratischen Führern ein abschreckendes Beispiel bot4), während die Selbstbestätigung, die der klassenbewußte Arbeiter in der nach außen hin großartig geschlossenen sozialdemokratischen Parteiorganisation und in der gewerkschaftlichen Solidarität fand, wesentlich auf der demon¬ strativen Betonung der Sonderstellung beruhte. So setzte sich der Kautskyanismus durch als ideologischer Ausdruck einer Haltung, die aus der Tradition der Verfolgung entsprang und die durch die Situation der Partei im wilhelminischen Deutschland wachgehalten und konserviert *) Für die methodische Unterscheidung zwischen Mentalität (verstanden als „geistig-seelische Disposition“, als unmittelbarer psychischer Ausdruck des Seins) und Ideologie (verstanden als festgeformter, objektivierter Ausdruck des Bewußt¬ seins) s.: Theodor Geiger, „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“, Stuttgart 1932, S. 77 ff., 113; Erich Matthias, „Sozialdemokratie und Nation“, Stuttgart 1952, S. 64, 83, 303 f. 2) Kautsky an Adler 7. 3. 1899, in: Victor Adler, Briefwechsel, S. 293. Vgl. auch a. a. O., S. 273. 3) Bebel an Adler 4. 11. 1898, a. a. 0., S. 269: „Gewiß müssen wir Begriffe revidieren, aber wenn die Revision so weit geht, daß alles, was bisher für richtig galt, falsch oder nur sehr bedingt richtig ist, wenn diese Kritik dazu führt, daß wir auf¬ hören müssen, unsSoc. Demokraten zu nennen, weil wir uns nunmehr Socialliberal nennen müssen, dann gehe ich nicht mit, weil ich nicht mit gehen kann, weil das allen meinen Überzeugungen widerspricht.“ 4) Vgl. z. B. Bebel an Adler 21. 6. 1907, a. a. 0., S. 482: „Ihr wandelt genau die Wege, die der bürgerliche Liberalismus gewandelt ist. Aus lauter praktischer Politik verlor man den festen Boden, auf dem man stand und kam schließlich an dort, wo er heute ist.“ Marxismusstudien II

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wurde. Er kam den in den sozialdemokratischen Reihen herrschenden Sentiments und Ressentiments entgegen und paßte sich ihnen an, hat je¬ doch keinesfalls die für die Vorkriegssozialdemokratie charakteristischen Widersprüche künstlich erzeugt und von außen in die Partei hinein¬ getragen. Wenn die Führer die Bedeutung dieser Stimmungen für die Integrationstaktik auch erkannten und sie bewußt ausnutzten, so besteht trotzdem kein Anlaß, ihnen Zynismus und Doppelzüngigkeit vorzuwerfen. Sie waren selbst von ihnen erfüllt; und die Resonanz, die der Volkstribun August Bebel bei den Massen fand, beruhte nicht zuletzt darauf, daß er alle Widersprüche seiner Partei in sich verkörperte. „Niemand glaubt mehr an die Zusammenbruchstheorie wie August, niemand läßt sich aber weniger in seinem praktischen Handeln durch sie bestimmen wie er“, stellte Eduard Bernstein fest, „er könnte mich köpfen lassen, wenn ich ihm theo¬ retisch bewiese, was er praktisch tut.“ Seine „dogmatische Denkweise“ stehe „im krassesten Widerspruch ... zu seiner helläugigen Praxis.“1)

Doch diese politische Schwäche Bebels, die Bernstein so klar erkannte, begründete die Stärke seiner innerparteilichen Stellung. Seine persönliche Integrität steht dabei über allem Zweifel; und auch die Ehrenhaftigkeit der Motive des schulmeisterlichen Parteiideologen Kautsky ist nicht in Frage zu stellen. Wenn er 1898 Bernstein schrieb: ,,.. . unsere Kampf¬ genossenschaft ist dahin. Ich kann Dir nicht folgen, und meine Über¬ zeugung ist ebenso tief und fest als die Deine“2), so trägt dieser Satz den Stempel subjektiver Ehrlichkeit. Bebel hätte seine Empfindungen in die gleichen Worte kleiden können.

VII. Die Rechtfertigung des Organisationspatriotismus Die Entwicklung der Vorkriegssozialdemokratie vollzog sich in konti¬ nuierlicher Auseinandersetzung zwischen drei hinter der Fassade der Einheit der Partei wirksamen Hauptströmungen: Mitte, rechter und linker Flügel, die jedoch zu keiner Zeit zwischen 1890 und 1914 festumrissene Fraktionen bildeten. Nach dem Ausscheiden der „Jungen“ trat zwar der linke Flügel nach außen kaum noch in Erscheinung. Nichts¬ destoweniger blieb er als Unterströmung bedeutsam, wenn sich auch die Unterschiede zwischen dem offiziellen „Radikalismus“ der breiten Mittel¬ strömung und der revolutionären Grundhaltung der Parteilinken im x) Bernstein an Adler 8. 3. 1899, a. a. 0., S. 307. 2) A. a. 0., S. 278 (23. 10. 1898).

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Kampf gegen den Vollmarschen Reformismus und später gegen den ideologischen Revisionismus Bernsteins verwischten. Erst als sich seit der russischen Revolution von 19051) ein neuer linker Flügel unter der intellektuellen Führerschaft Rosa Luxemburgs in steigendem Maße als eigenständige politische Kraft innerhalb der Partei bemerkbar machte, begann sich eine Klärung der Verhältnisse anzubahnen, und die führende sozialdemokratische Richtung um Bebel und Kautsky wurde schließlich dazu gedrängt, sich als „marxistisches Zentrum“ von der zur offenen Opposition gegen die Parteiführung übergehenden extremen Linken abzugrenzen. Das Parteizentrum, das organisatorisch und politisch vom Partei¬ apparat und den — wohl reformistischen, aber am ideologischen Revi¬ sionismus weitgehend desinteressierten — freien Gewerkschaften, ideolo¬ gisch vom Kautskyanismus repräsentiert wurde, war jedoch weder politisch noch weltanschaulich eine in sich geschlossene Einheit. Es ist nicht zu Unrecht als „der Einigungspunkt für die verschiedenartigen Elemente, aus denen die Partei zusammengesetzt war“, bezeichnet worden: „hier kreuzten sich proletarische mit kleinbürgerlichen, revolu¬ tionäre mit reformistischen Tendenzen, hier fanden die Intransigenz wie der Opportunismus, das Dogma wie seine Widersprüche ihren Aus¬ druck“2). Gerade aus der Heterogenität der im Zentrum vertretenen Tendenzen resultierte seine Anpassungsfähigkeit nach beiden Seiten, die es dem Apparat ermöglichte, alle offen oder latent oppositionellen Strebungen an den Flügeln unter Kontrolle zu halten. Die Kontrollfunktion wurde dadurch erleichtert, daß Sonderorganisationen innerhalb der Partei nicht geduldet wurden und die Grenzen zwischen den Haupt¬ strömungen bei der Verschwommenheit der Position des Zentrums fließend bleiben mußten. Dieser Sachverhalt erklärt die Schiedsrichterstellung zwischen den Außenflügeln, in die die Parteiführung mit dem Magdeburger Parteitag von 1910 auch nach außen sichtbar einrückte. Die scheinbar neue Konstellation, die das Leben innerhalb der Partei bis zum ersten Welt¬ kriege bestimmte und die dem Kautskyanismus seine klassische Rolle als Ideologie des „Zentrismus“ anwies, war jedoch in Wirklichkeit nichts als x) Vgl. dazu die oben, S. 125, Anm. 2, zitierte Arbeit von Schorske und die Spezialstudie von Richard W. Reichard, “The German Working Class and the Russian Revolution of 1905”, in: “Journal of Central European Affairs”, Bd. XIII, S.136 ff. 2) Mandelbaum, a. a. 0., S. 17. 12*

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eine deutlichere Ausprägung der alten innerparteilichen Spannungen und Kräftegruppierungen, um deren Integrierung sich die erprobte Taktik seit jeher bemüht hatte1). So zeugt beispielsweise Bebels briefliche Äußerung gegenüber Viktor Adler vom 16. August 1910, daß ,,die Rosarei“ gar nicht so schlimm sei und er — als Gegengewicht zu dem „Prinzip und Grundsätze“ mißachtenden „extremsten Opportunismus“ der Süddeutschen — „trotz aller Giftmischerei ... das Frauenzimmer in der Partei nicht missen“ möchte2), von der unveränderten Anwendung der gleichen taktischen Maximen, die seine Stellung zu den oppositionellen Strömungen bereits in den Tagen des Erfurter Programms bestimmt hatten3). Aber auch in der Zwischenzeit hatten Bebel und die Partei¬ führung stets eine in der Sache bereits „zentristische“ Gleichgewichts¬ politik betrieben, die sowohl dem Charakter der Sozialdemokratie als einer demokratischen und sozialreformerischen oppositionellen Volks¬ partei als auch den Stimmungen des radikalen Teils der Arbeitermitglied¬ schaft Rechnung zu tragen suchte4). Es ist allerdings fraglich, ob die janusgesichtige Gleichgewichtstaktik die starken innerparteilichen Spannungen und Widersprüche auf die Dauer hätte überbrücken können. Erwies sich doch im letzten Jahrfünft vor dem ersten Weltkrieg immer deutlicher, daß zwischen der offiziellen Partei, deren rein formaler Radikalismus mehr und mehr seine politische Wesenlosigkeit enthüllte, und der äußersten Linken tiefgreifende Unter¬ schiede der politischen Haltung und des politischen Wollens bestanden. War dem alten Bebel auch einerseits die Existenz des Luxemburgflügels nicht unerwünscht, so wurde andererseits die große Revolutionärin kaum von ihrem Empfinden getrogen, wenn sie klagte: „Der Genosse Bebel hört nur noch auf dem rechten Ohr.“5) Gegen den ernstgemeinten Versuch einer revolutionären Aktivierung der sozialdemokratischen Politik setzten sich die Vertreter des offiziellen Radikalismus, ohne zu schwanken, gemeinsam mit den offenen Revisionisten und Reformisten zur Wehr, die sie so lange mit größter Leidenschaft bekämpft hatten und deren läßliche Sünden sie weiter in gewohnter Weise anprangerten. Das aufrecht!) Vgl. Kautsky, „Der politische Massenstreik“, Berlin 1914, S. 222; Engels’ Briefwechsel mit Kautsky (s. oben, S. 108, Anm. 2), S. 452. 2) Victor Adler, Briefwechsel, S. 512 f. 3) Vgl. oben, Abschnitt III, Schlußabsatz. 4) Vgl. Mandelbaum, a. a. 0., S. 14f. B) Friedrich Stampfer, „August Bebel“, in: „Die großen Deutschen“, Bd. III, S. 559.

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erhaltene scheinradikale Alibi kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß in diesem Zusammengehen die zunehmende Orientierung nach rechts sichtbar Gestalt gewann, die die Gesamtentwicklung der Partei seit dem Sozialistengesetz kennzeichnete. Entscheidend für diese Entwicklung war aber weniger der wachsende Einfluß des rechten Flügels und seiner ideologischen und politischen Pioniere — das ist gegenüber den geistes¬ geschichtlichen Verlockungen der Parteigeschichtsschreibung mit Nach¬ druck zu betonen — als das parlamentarische und sozialpolitische Engagement der Mitte selbst, das schon in Erfurt für die sozialdemo¬ kratische Praxis maßgebend gewesen war und sich seither vielfach ver¬ stärkt hatte. Ohne die Apparate von Partei und Gewerkschaften und ohne die Reichstagsfraktion, die sich taktisch und ideologisch auf die Interessen der breiten Mitte der Arbeiterbewegung und ihre mentalitären Bedürfnisse einstellten, waren die Außenflügel politisch aktions¬ fähig. Der Kurs der Gesamtpartei wurde durch die Gewichtsverlage¬ rungen in der Mitte bestimmt1). Trotzdem ist die Bedeutung der Außenflügel nicht zu unterschätzen. Sie lag jedoch nicht in ihrem recht gering zu veranschlagenden zahlen¬ mäßigen Gewicht, sondern darin, daß ihre wenigen klar profilierten Wortführer an Stimmungen appellierten und Bestrebungen repräsen¬ tierten, die in die Mitte hineinreichten und auch dort lebendig oder doch zu verlebendigen waren. Jede einschneidende Änderung der politischen Situation konnte daher in der Mitte einen Differenzierungsprozeß auslösen, der durch schlagartige Verstärkung der zentrifugalen Kräfte die Einheit der Partei ernsthaft zu gefährden drohte2). Seien die Verhältnisse 1) S. in diesem Zusammenhang die instruktive kleine Schrift: „Bilder aus unserer Reichstagsfraktion, Von einem alten Parlamentarier, I. Die Mitte , 19 S. (Verlag der „Internationalen Korrespondenz“, A. Baumeister), Berlin 1919, als deren Verfasser der Reichstagsabgeordnete A. Südekum anzusprechen sein dürfte. 2) Die Abspaltung der USPD beruhte soziologisch im wesentlichen auf einem der¬ artigen Differenzierungsprozeß, dessen spezifische Triebkräfte allerdings nur aus der Situation des Weltkrieges zu verstehen sind. Im Grunde setzte die Mehrheits¬ partei „die formale Politik des Parteivorstandes der Vorkriegszeit fort, freilich jetzt mit einem umgekehrten Vorzeichen“ (Arthur Rosenberg), während die führende Richtung der Unabhängigen um Haase und Kautsky bei der ebenso formalen „prinzipiellen“ Opposition verharrte. Ein schroffer Bruch in der Entwicklung liegt bei keiner der beiden Gruppen vor, auch in der außenpolitischen Grundrichtung stimmten sie stets überein, während die wirkliche Scheidelinie zwischen der S1 D u. der offiziellen USPD einerseits und der kleinen Minderheit der „Gruppe Inter¬ nationale“ (Spartakusbund) andererseits verlief.Vgl.dazu: A.Rosenberg, „Die Ent¬ stehung der deutschen Republik“, Berlin 1928, S. 113 ff.; derselbe, „Geschichte der

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so, daß sie „revisionistische Stimmungen“ begünstigten, schrieb Kautsky in einem Brief vom 8. Juli 1911, dann gebe es kein Halten und die Mehr¬ heit gehe wohl oder übel zum Revisionismus über: „Wenn die deutsche Regierung morgen eine Politik ä la Lloyd George oder Waldeck-Rousseau triebe, wäre der Revisionismus unwiderstehlich.“1)

Gleichzeitig aber bedrückte ihn der Alptraum, daß den Proletarier, „wenn ihm die Möglichkeit winkt, diese Gesellschaftsordnung über den Haufen zu werfen, wird ... niemand davon abhalten können, und wollte die Sozialdemo¬ kratie es versuchen, würde er sie verächtlich beiseite schieben.“2)

Diese immanente Labilität erklärt, daß die Kräfte der Parteiführung durch die Anforderungen der Integrationstaktik weitgehend absorbiert wurden. Während die Spitzenfunktionäre empfindlich auf jede Änderung der innerparteilichen Kräftekonstellation reagierten, standen sie der politisch entscheidenden Frage der Machteroberung — sei es durch revolutionäre oder legal-parlamentarische Mittel — mit überraschender Gleichgültigkeit gegenüber. In jeder Phase der Parteientwicklung war deutschen Republik“, Karlsbad 1934, S. 18ff.; Erich Matthias, „Die deutsche Sozialdemokratie und der Osten

1914—1945“, Forschungsberichte u. Unter¬

suchungen zur Zeitgeschichte der „Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung“ Nr. 11, Tübingen 1954, S. VI, lff., 10, 15, 18ff., 20ff. (bes. zur Haltung Kautskys), 29, 38 ff. p Brief an Rappoport, Kautsky-Nachlaß. 2) In der im April 1910 in der „Neuen Zeit“ erschienenen Artikelserie „Was mm?“, abgedruckt in: Kautsky, Massenstreik, S. 224ff., Zitat auf S. 234. Beruhigend fügte er hinzu: „Aber so steht die Sache heute nicht“, gebe es doch „heute nur eine Partei, die der Feind der bürgerlichen Gesellschaft ist“, und das Proletariat finde keine andere, „die auch nur innerhalb der heutigen Produktionsweise seine Klasseninter¬ essen im Gegensatz zu den bürgerlichen Interessen verträte“, so daß Proletarier nur „durch Unwissenheit einer bürgerlichen Partei zugeführt werden [können], nicht durch revolutionäre Ungeduld.“ Diese Zuversicht in das Integrationsvermögen der von inneren Spannungen erfüllten Partei bezog sich jedoch nur auf die gegenwärtige Lage. Kautsky war genug Realist, um mit der äußerst unerwünschten Möglichkeit „des Eintritts revolutionärer Situationen“ (a. a. 0., S. 212) für den Fall zu rechnen, daß die unheilvolle Zuspitzung der internationalen Beziehungen in ein kriegerisches Chaos einmünde: ,,... die Mächte treiben einem Zustand entgegen, in dem schlie߬ lich die Gewehre von selbst losgehen“ (Weg zur Macht, S. 101). Der drohende Krieg aber mußte zugleich „die eine Form der Revolution ..., die wir am wenigsten wünschen“ herauf beschwören: „unser Sieg auf Trümmern; ein Sieg, der uns als erste Aufgabe statt der Überführung der privaten Schätze des Kapitalismus in den Besitz der Gemeinschaft und die Befruchtung gesellschaftlicher Produktion dadurch die Heilung des aus tausend Kriegswunden blutenden Volkskörpers auferlegte“ (Massenstreik, S. 213).

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es vielmehr ihre Hauptsorge, daß sich „trotz aller Schwierigkeiten ... die Geschlossenheit der Partei intakt“ zeigte1). Die Wahrung der Geschlossen¬ heit der unaufhaltsam weiter anschwellenden Arbeiterbewegung schien aber paradoxerweise auf absehbare Zeit von der Erhaltung der relativen Stabilität der gleichen Herrschafts- und Gesellschaftsstruktur abhängig zu sein, deren Überwindung das immer wieder verkündete offizielle Ziel der Partei war. So schreckte die Parteiführung, ganz abgesehen von der Einschätzung der Erfolgschancen, schon darum vor jeder wirklichen Machtprobe und jedem wirklichen Risiko zurück, um die Voraussetzungen der imponierenden Einheitlichkeit der sozialistischen Massenbewegung nicht mutwillig zu zerstören. Der Vorrang der Integrationstaktik vor der Politik, der sich in manchen Situationen bis zu einer völligen Auflösung der Politik in Taktik stei¬ gerte, hatte eine doppelte Folge: einmal eine Einengung und Erstarrung des politischen Gesichtsfeldes, zum anderen eine extreme Ausprägung des institutionalistischen Denkens innerhalb der — ohnehin schon durch ihre Sonderstellung zur Selbstabkapselung neigenden — Partei, so daß die sozialdemokratisch geprägten Arbeiterorganisationen immer mehr zum Selbstzweck wurden und einen in sich abgeschlossenen Lebensbereich mit seinen eigenen Gesetzen bildeten. Der in den sozialdemokratischen Reihen herrschende Organisations¬ patriotismus lieferte die psychologische Grundlage zur Integrierung der nichtkonformistischen Strömungen. Obgleich die Ungeduld in den aktivistischen Kreisen manches Mal in resignierende Parteiverdrossenheit umzuschlagen drohte, wurde die Partei allgemein als Lebens- und Schicksalsgemeinschaft — als „Parteivaterland“2) — empfunden und jede Stärkung der Arbeiterorganisation intuitiv als realer Machtzuwachs gewertet. Die Parteileitung ihrerseits war bestrebt, alle überschüssigen, auf

entscheidende

politische

Auseinandersetzungen

hindrängenden

Energien in die Organisation abzuleiten und damit zugleich zu binden und zu neutralisieren. Wie der Tenor fast aller Parteitagsbeschlüsse der Vorkriegszeit erweist, rechtfertigte sie stereotyp ihr quietistisches Ab¬ warten mit dem Hinweis, daß entweder die Arbeiterorganisationen noch nicht stark genug seien, um den Kampf um die Macht aufzunehmen, oder umgekehrt gerade wegen ihrer Größe jedes nicht klar kalkulierbare Risiko scheuen müßten. Dieses Verfahren wurde durch die offizielle

!) Kautsky an Adler, 8. 10. 1913, in: Victor Adler, Briefwechsel, S. 583. 2) Adler an Kautsky, 1. 2. 1915, a. a. O., S. 608.

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Parteiideologie sanktioniert, indem sie die Stärkung der Organisation als die revolutionäre Aufgabe proklamierte1). Die kautskyanische Rechtfertigung des Organisationspatriotismus, die zweifellos wesentlich dazu beigetragen hat, daß nicht die „nüchterne Alltäglichkeit den Idealismus“ überwucherte2), beruht auf dem Gedanken¬ gang, daß „die soziale Revolution ... das notwendige Endziel [ist], auf das jede selbständige Organisation des Proletariats mit Notwendigkeit hinwirkt“, und daß derjenige, der „das Proletariat als selbständige politische Partei organisiert, ... damit auch in ihm den Boden für den Gedanken der sozialen Revolution [vorbereitet], mag er noch so friedfertig und nüchtern sein und noch so skeptisch der Zukunft entgegen¬ sehen.“3)

In diesem Zitat aus dem Jahre 1899 erweist sich die Organisation — wie auch bereits im theoretischen Teil des Erfurter Programms — als einziges Bindeglied zwischen der alltäglichen Praxis der Partei und dem „Endziel“ und gewinnt damit einen zentralen Platz im System des Kautskyanismus. Das heißt nichts anderes, als daß der ideologische Ort der Organisation genau der dominierenden Stellung entspricht, die sie im typischen sozialdemokratischen Lebensgef ühl einnimmt. Dieser Sachverhalt ist um so wichtiger, als sich einerseits die Distanz zwischen dem „Endziel“ und der nüchternen organisatorischen, sozial¬ politischen und parlamentarischen Kleinarbeit, die das Leben der Funktionäre in Partei und Gewerkschaften ausfüllte, immer mehr vergrößerte, andererseits jedoch das sich über den Alltag, seine Nöte, Bestrebungen und Erfolge erhebende und irgendwo in unbestimmter Ferne dämmernde letzte Ziel als „Idee“ für den Gemeingeist der Partei unentbehrlich blieb. Gab doch der populäre Bodensatz des kautskyanischen Marxismus, der „zwar alle seine revolutionären und praktisch¬ politischen Bestandteile eingebüßt“ hatte, „dem sozialistischen Arbeiter ein Selbstbewußtsein, einen Trost und eine Hoffnung für die Zukunft, die fast an eine religiöse Bewegung erinnert“4). Von hier aus fiel auf die b Vgl. Kautsky, Massenstreik, passim. 2) Kautsky, Bernstein u. das sozialdem. Programm, S. 195. Vgl. auch den bereits zitierten Brief an Rappoport, in dem es heißt: trotz „Decadence und Korruption“, die auch in den sozialistischen Reihen aufträten, „rechnen wir auf Sieg, weil der Gedanke des Sozialismus und der proletarische Klassenkampf im ganzen doch eine erhebende Wirkung üben ...“ 3) Bernstein u. das sozialdem. Programm, S. 183. Vgl. auch: Kautsky an Adler, 9. 6. 1902, in: V. Adler, Briefwechsel, S. 405 (gegen R. Luxemburg — in der Frage der Anwendung von „Gewalt“ durch das Proletariat — polemisierend). 4) Rosenberg, Demokratie u. Sozialismus, S. 297 f.

Kautsky und der Kautskyanismus

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Organisation ein irrealer Glanz, der auch den biedersten vereinsmeieri¬ schen Zahlabend noch irgendwie verklärte. Die Ideologie festigte und vertiefte die durch den Kult der Organisation begründete seelische Einheit der „Genossen“ (und dieses Wort bedeutete in der alten Sozial¬ demokratie mehr als eine bloße Formel der Anrede). Dieser aus der besonderen Sphäre der sozialdemokratischen Organisation resultierende innere Gleichklang aber war es, der bis zum ersten Weltkrieg über alle politischen Meinungsverschiedenheiten hinweg die verschiedenen Strö¬ mungen innerhalb der Partei am wirksamsten verklammerte. Doch so hoch die beispiellose Diszipliniertheit, Opferbereitschaft und Parteitreue der organisierten Massenanhängerschaft auch zu rühmen sind, so wenig darf verschwiegen werden, wie sehr die durch den Kautskyanismus gerechtfertigte einseitige Überschätzung der Organisation der traditionalistischen Erstarrung der Arbeiterbewegung Vorschub leistete. Das zäh verwurzelte Organisationsdenken, das um der als Ziel an sich empfundenen geschlossenen Erhaltung der Organisation willen j edem risikoreichen politi¬ schen Einsatz auszuweichen trachtete, dabei aber ein trügerisches Gefühl der Stärke suggerierte und bei den Funktionären aller Grade Selbstgenüg¬ samkeit und Selbstzufriedenheit förderte, hat die politische Initiative der Sozialdemokratie noch die ganze Weimarer Zeit hindurch und bis in den Untergang der Partei hinein verhängnisvoll gelähmt1).

VIII. Die ideologische Abschirmung der politischen Passivität Wenn Kautsky die Politik des aktionslosen Abwartens bis an die Schwelle des ersten Weltkrieges gegen alle Anfechtungen „staatsmännischer“ und „rebellischer Ungeduld“2) von rechts und von links als ^Ermattungsstrategie“ — welche „die Sozialdemokratie von ihren An¬ fängen an . .. akzeptierte und zur Vollkommenheit entwickelte“3) — b Wenige Wochen nach dem 20. Juli 1932 gab beispielsweise der Gewerkschafts¬ führer u. sozialdem. Abgeordnete Tarnow dem Organisationsdenken einen klas¬ sischen — u. in seinem ideologischen Kern Kautskyanischen —- Ausdruck: ,,Es kommt nicht darauf an, daß der einzelne sich Revolutionär1 dünkt, sondern daß er organisiert ist und die Arbeit der Organisation nicht aus Prinzip herunterreißt“ (auf dem Verbandstag der Sattler am 10. 8. 1932 in Stuttgart, zitiert nach „Vorwärts“, 11. 8. 1932). — Vgl. auch: Erich Matthias, „Sozialdemokratie und Nation“, Stutt¬ gart 1952, bes. S. 15ff.; derselbe: „Der Untergang der alten Sozialdemokratie 1933“, in: „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, Jg. 1956, S. 264f„ 269f„ 272f., 281. 2) Kautsky, Massenstreik, S. 247.

3) A. a. 0., S. 234.

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verteidigte, so bedarf es kaum einer Anmerkung, daß es sich bei dem Terminus „Ermattungsstrategie“ um nichts als ein Synonym für die alte „Taktik“ handelte. Obgleich der innerparteiliche Kampf in den letzten Vorkriegsjahren hauptsächlich den sich verstärkenden links¬ extremen „Antrieben zu... rebellischer Ungeduld“1) galt, hielt die Partei¬ leitung, wie bereits betont, an ihrer offiziellen Verurteilung des artiku¬ lierten Reformsozialismus fest, um sowohl den augenblicklichen wie den künftigen Anforderungen der Integrationstaktik gerecht werden zu können. Daß es dabei in erster Linie um das Alibi für alle Fälle ging, das durch die Unverbindlichkeit des offiziellen Radikalismus garantiert wurde, hat Kautsky selbst in kaum verschleierter Form Rappoport gegenüber brieflich dargelegt. Da die Massen stets nur durch die Praxis und nicht durch die Theorie belehrt würden, heißt es dort, sehe er auch kein Unglück darin, wenn der „Revisionismus“ irgendwo wirklich ans Ruder komme und dann Bankerott erleide. Seien die „Marxisten“, die nur nicht davon ablassen dürften, ihn zu bekämpfen, nicht stark genug, ihn an Dummheiten zu hindern, so habe ihre fortdauernde Opposition bei allen vorübergehenden Unannehmlichkeiten doch die Wirkung, daß der „Bankerott des Revisionismus nach dem Fehlschlagen seines Experiments“ nicht „die ganze Partei“, sondern „bloß den Revisionismus allein“ treffe2). Die durch den Revisionismus aufgeworfene Frage einer sozialdemo¬ kratischen Regierungsbeteiligung, die schwerlich akut werden konnte, solange sich Macht- und Verfassungsstruktur des Wilhelminischen Deutsch¬ land als einigermaßen intakt erwiesen3), bereitete der Parteiführung jedoch nur geringes Kopfzerbrechen. Weit ernstere Sorgen erwuchsen ihr aus der Massenstreikdebatte, die — seit die Ereignisse der russischen Revolution von 1905 „das ganze Proletariat der Welt mit überströmen¬ dem Enthusiasmus für den Massenstreik“4) erfüllt hatten — auch in Deutschland in ein aktuelles Stadium getreten war und hier durch die Zuspitzung der Kämpfe um das preußische Wahlrecht geschürt und

!) A. a. 0., S. 247. 2) Brief vom 8. 7. 1911, Kautsky-Nachlaß. 3) Zu der entschieden aktuelleren Frage der Budgetbewilligung erklärte selbst Bernstein, Handbuch der Politik, II, S. 58, im Jahre 1914, „daß die politischen Verhältnisse in den Norddeutschen Staaten, dem größeren Teile Deutschlands, noch nicht so geartet sind, Sozialdemokraten die Bewilligung des Budgets zu empfehlen.“ 4) Kautsky, Massenstreik, S. 109.

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wachgehalten wurde. Diese Debatte mußte den Spitzen der Apparate von Partei und Gewerkschaften um so peinlicher erscheinen, als nicht nur Rosa Luxemburg und die Linksradikalen den politischen Streik als das wichtigste Kampfmittel einer von Aktion zu Aktion fortschrei¬ tenden revolutionären „Niederwerfungsstrategie“1) propagierten, son¬ dern auch eine Reihe von intellektuellen Revisionisten, unbeschadet ihres parlamentarischen Glaubensbekenntnisses, in ihm ein taugliches Instru¬ ment zur Aktivierung der sozialdemokratischen Politik und zur Erringung politischer Reformen innerhalb der bestehenden Ordnung von Staat und Gesellschaft gefunden zu haben glaubten2). So schrieb Kurt Eisner 1905 in einer Polemik gegen Kautsky, „daß eine Dreimillionenpartei im Kampf um politische Rechte nicht buchmäßig rechnen und nicht in die Ferne spekulieren dürfe, sondern daß sie, wenn es gilt, auch Niederlagen wagen müsse“3 4)! Und Friedrich Stampfer erklärte ein Jahr später: durch das Abwarten revolutionärer Situationen breche kein Zarenthron und kein Junkerregiment zusammen; es sei auch für die deutsche Sozialdemokratie ganz gleichgültig, welchen Verlauf die Entwicklung in anderen Ländern nehme: „Hier in Preußen ist unser Rhodus, hier wird getanzt: wir wollen das Wahlrecht haben!“ In Verbindung mit der Wahlrechtsfrage aber sei der Massenstreik keine „Frage des Ob, sondern des Wann und des Wie“*). Allen derartigen Vorstößen gegenüber beharrte Kautsky, dessen Anfang 1914 erschienenes Buch über den politischen Massenstreik als die wohl charakteristischste literarische Manifestation des „Zentrismus“ angesprochen werden darf, stets auf seinem mit der Haltung der offiziellen Partei übereinstimmenden alten Standpunkt, den er schon Anfang der neunziger Jahre der belgischen Massenstreikbewegung gegenüber ein¬ genommen hatte5). Zwar bekannte er sich stolz dazu, bereits 1891 als „erste marxistische Stimme in Deutschland“ prinzipiell die Möglichkeit J) Vgl. Kautsky a. a. 0., S. 228ff., über „Ermattungsstrategie“ und „Nieder¬ werfungsstrategie“ (Artikelserie „Was nun?“, s. o„ S. 134, Anm. 1). Für die Kon¬ zeption Rosa Luxemburgs in der Massenstreikfrage s. Paul Frölich, „Rosa Luxem¬ burg“, Hamburg 1949, S. 205ff. 2) S. dazu Adler in seinem Brief an Bebel vom 6. 11. 1899, in: V. Adler, Brief¬ wechsel, S. 330, über die aktivistische Grundhaltung der zum Revisionismus nei¬ genden jungen Parteiintellektuellen, deren „Revoluzzerei“ und „antiautoritäre Stimmung“ „sich heute weit mehr gegen Marx u. uns Alte als gegen den Staat und was drum und dran hängt“ kehre. 3) Zitiert nach Kautsky, Massenstreik, S. 122. 4) Zitiert nach Kautsky, a. a. 0., S. 137. «) Vgl. a. a. 0., S. 22 ff.

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anerkannt zu haben, den Streik zur Erreichung politischer Ziele anzu¬ wenden1), betonte aber im übrigen stereotyp, „daß, solange sich die gegebenen Verhältnisse nicht ändern, ein Massenstreik in Deutschland nicht möglich ist“2). Nichts ist so bezeichnend für die Art, in der die Gegensätze innerhalb der Vorkriegssozialdemokratie mehr verwischt als ausgeglichen wurden, wie sein Kommentar zu den Abänderungen, die die Resolution Rosa Luxemburgs auf dem Magdeburger Parteitag von 1910 erfuhr: „In dieser Form“, stellt er befriedigt fest, „war die Resolution ganz unver¬ bindlich und wurde dem Antrag des Referenten entsprechend akzeptiert.“3)

Mit der massenstreikfreundlichen Resolution des Jenaer Parteitags von 1905, die Kautsky als „die notwendige Ergänzung der Dresdener Resolution“ feiert, verhielt es sich nicht viel anders, ging sie doch „freilich ... nicht weiter, als daß sie den Massenstreik unter die möglichen Waffen des Proletariats einreiht. Sie sagt nichts darüber, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen diese Waffe anzuwenden sei“;

auch Bebel habe in seinem Referat in Jena „sehr zweckmäßig“ nicht zu dieser Präge Stellung genommen4). Damit ist bereits gesagt, daß der Konflikt in der Massenstreikfrage, der das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften 1905/06 schwer belastete, sich schon in Kautskys eigener Darstellung als politischer Scheingegensatz entpuppt. Die Partei, die, wie Kautsky völlig zutreffend betont, nirgends ihre Taktik auf den Massenstreik festgelegt, sondern des öfteren vor solcher Festlegung gewarnt hatte, dachte so wenig wie die Gewerkschaften daran, einen politischen Massenstreik in Deutschland planmäßig vorzubereiten. Der Gedankengang der Gewerkschaftsführung wiederum, der auf dem Kölner Gewerkschaftskongreß in der Rede Bömelburgs den deutlichsten Ausdruck fand, zeigt nur, daß Partei- und Gewerkschaftsführung im Kern der Sache durchaus übereinstimmten. Der augenblickliche Stand der gewerkschaftlichen Organisation, erklärte Bömelburg, habe nur in mühsamer jahrzehntelanger Arbeit und unter großen Opfern erreicht werden können; und auch der weitere Ausbau der Organisationen, die „auf eine noch höhere Stufe der Macht“ gehoben werden müßten, erfordere ungeheure Opfer; vor allem aber „brauchen 0 A. a. 0., S. 23. 2) Kautsky, Massenstreik, a. a. O., S. 298. 3) A. a. O., S. 246. 4) A. a. 0., S. 127 (Auszug aus einem nach dem Parteitag in der „Neuen Zeit“ erschienenen Artikel Kautskys).

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wir [dazu] in der Arbeiterbewegung Ruhe“1). Auch Kautsky konzediert der Gewerkschaftsführung, es sei sicher ihre Aufgabe gewesen, „gerade in so erregten Zeiten darüber zu wachen, daß nicht einzelne Versuche gemacht wurden, Partei und Gewerkschaften in leichtfertige Abenteuer hineinzureiten“2). Das Hauptargument, das er den Gewerkschaftlern entgegenzuhalten hat, ist ein echtes Argument der Integrationstaktik: sie hätten versucht, die ,,Diskutierung des Massenstreiks“ zu verhindern; das aber sei das unzweckmäßigste Mittel gewesen, um der „Provozierung unzeitiger Massenstreiks“ entgegenzuwirken3). Die unverbindliche Diskussion des Massenstreiks diente also einerseits dazu, die Aktivität der unruhigen Elemente in der Partei ohne größeres Risiko abzureagieren und aufzufangen, andererseits ging es darum, den Gegnern „durch unsere Machtmittel zu imponieren“ und sie zu veran¬ lassen, „eine friedliche Auseinandersetzung mit uns zu suchen“4). Die gleichen Motive standen ebenso hinter dem Festhalten an dem „Gedan¬ ken“ oder der „Idee“ der Revolution wie hinter der öffentlichen Zur¬ schaustellung der Kraft und Geschlossenheit der Massenorganisation, wobei in erster Linie an die großartig disziplinierten Demonstrationen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht zu denken ist. Eine starke Sozialdemokratie, schrieb Kautsky 1907 an Viktor Adler, „muß den regierenden Klassen als Wauwau erscheinen, wenn diese sie ernst nehmen. Nur wenn man den Respekt vor Euch verliert, könntet Ihr darauf rechnen, daß man Euch nicht als Wauwau betrachtet. Dann wird man Euch aber als harmlose Spießer betrachten, hinter deren großen Worten kein ernstlicher Wille und keine Kraft steckt .. ,“5)

Der „Nimbus“ und das „Prestige“, „das unerschütterliche Gesinnungs¬ treue und Charakterfestigkeit stets mit sich“ bringen, werden höher bewertet als das Streben nach „realer Macht in der Regierung“6). Eine Partei, die sich durch einen Wahlsieg dazu verführen läßt, sich zu sehr „als Machtfaktor“ zu fühlen, verkennt nach Kautsky die „Wurzeln der wirklichen Kraft einer sozialdemokratischen Partei“, die nicht zuletzt darin liegen, daß sie als „propagandistische Partei“ agiert7). Sobald sie „nur noch fragt, wie erreiche ich praktische Erfolge“, und sich „nicht

x) Zitiert nach Kautsky, a. a. 0., S. 117 f. 2) A. a. O., S. 121. 3) A. a. 0. 4) A. a. O., S. 102 (Artikelserie von 1904: „Allerhand Revolutionäres“). s) Brief vom 20. 6. 1907, in: V. Adler, Briefwechsel, S. 479. •) A. a. 0., S. 481.

7) A. a. 0., S. 480f.

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mehr darum kümmert, wie wirken wir auf das Denken der Masse , zerstört sie die Voraussetzungen ihres eigenen siegreichen Fortschreitens1). Dieses Fortschreiten erscheint Kautsky als ein sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit vollziehender Prozeß, der auf der „ökonomischen Unent¬ behrlichkeit“ des Proletariats — die „sein wichtigstes Machtmittel ist... das einzige, das es in einer großen Entscheidung in die Wagschale werfen kann gegenüber Presse, Parlament, Bürokratie, Geld, Armee“ — be¬ ruht2). Stellt man nun die Frage, was sich realsoziologisch hinter dem pseudonaturwissenschaftlich-ökonomisch begründeten Entwicklungspro¬ zeß, der das politische Denken Kautskys und der Kautskyaner beherrscht, verbirgt, so wird eine immer deutlicher hervortretende Identifizierung des kautskyanischen Entwicklungsbegriffes mit dem konkret bezifferbaren Wachstum der Partei, d. h. der Vergrößerung der Arbeiterorganisationen und dem Anschwellen der Wählermassen, sichtbar. Der Kautskyanismus umschreibt ideologisch das gläubige Hoffen auf den weiteren Anstieg der Stimmenzahl und die Abneigung gegen gefährliche außerparlamentari¬ sche Aktionen. Es ist nur folgerichtig, wenn Kautsky den Wahlkampf als „die gewaltigste Massenaktion des Proletariats“ bezeichnet und gleich¬ zeitig in der Wahlkampagne ein „Sicherheitsventil“, das „der Explosion vorbeugt“, sieht3). Die Reichstagswahlen erscheinen so als Meilensteine der Entwicklung. Für die „kommenden Reichstagswahlen“ gilt es jeweils, „alle Kräfte zusammenzuraffen und aufzubieten“4 *). Es hieße, „alle die vielversprechenden Keime, die die kommende Reichstagswahl im Schoße trägt, ersticken, wenn wir vor ihr, ohne es zu müssen, Kämpfe provozierten, die uns schwere Niederlagen brächten.“6)

In den Wahlergebnissen gewinnt die geheimnisvolle Entwicklung selbst Gestalt, deren normalen, d. h. friedlichen Verlauf die Partei, soweit es in ihrer Kraft steht, gegen alle Störungen von innen — durch Uneinigkeit in den eigenen Reihen — und von außen — durch Gewaltmaßnahmen der herrschenden Klassen oder gesellschaftliche Naturkatastrophen — abzu¬ schirmen hat. Sie kann dazu nicht viel mehr tun, als die Massen aufzu¬ klären, zu sammeln und zu organisieren. Zwar vermag sie durch die Organisierung ff A. a. 0., S. 480. 2) Kautsky an Adler, 9. 6. 1902, a. a. O., S. 405. 3) Kautsky, Massenstreik, S. 276 (Wiederabdruck der 1911 in der „Neuen Zeit“ erschienenen Artikelserie: „Die Aktion der Masse“). 4) A. a. 0„ S. 244 („Was nun?“, s. o., S. 134, Anm. 9). 6) A. a. 0., S. 243.

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„nicht das Unerwartete völlig auszuschalten, aber sie beschränkt es auf ein Minimum. Sie bringt damit größere Stetigkeit in die Klassenkämpfe der unteren Klassen, geht vernichtenden Niederlagen aus dem Wege, hat freilich auch keine so glänzenden Siege zu verzeichnen wie die spontane Aktion der unorganisierten großen Volksmasse.“1)

Sollte aber, was Kautsky nicht ausschließt, sondern seit seinem „Weg zur Macht“ befürchtet, die politische und soziale Entwicklung „an Stetigkeit verlieren, wieder sprunghafter, unberechenbarer werden“2), so kann die Partei „nichts tun, als danach trachten“, daß solche Ent¬ wicklungsstörungen „uns nicht völlig unvorbereitet treffen“3). Die Vor¬ bereitung auf eine etwaige Niederlage kann aber wiederum nur in der Organisierung möglichst breiter Schichten bestehen, wüßten doch die Arbeiter, „denen das Leben in der Organisation Besonnenheit, Disziplin und Zuversicht zu ihrer Sache anerzogen hat, den Mißerfolg standhafter zu tragen, in geordnetem Rückzug, ohne Panik, ohne Verzweiflung und sich bald wieder zu sammeln und zu verständigen. “4)

Doch nichts rechtfertigt das Risiko einer Niederlage, die den ver¬ heißungsvollen Gang der Entwicklung unterbricht, die sich selbst ihren Weg sucht. Zu weit gehende reformistische „Experimente“ und ungebär¬ dig vorwärtsdringende außerparlamentarische Massenaktivität erschei¬ nen gleich unerwünscht. Die Partei muß sich einerseits davor hüten, die Erwartungen der Massen zu sehr anzustachelu, andererseits dafür sorgen, daß ihre Werbekraft nicht erlahmt. Sie braucht den Respekt ihrer Geg¬ ner, aber will sie nicht zu einer wirklichen Machtprobe herausfordern. Ihr selbstbewußtes Auftreten und ihre scheinradikale Ideologie dienen ebenso wie ihre gemäßigte Politik dem friedlichen Ablauf der Entwicklung. Die „Propagandistische Partei“ ist nicht Motor dieser Entwicklung, sondern ihr Instrument5). Obgleich ihre Wahlziffern so gewaltig ansteigen, daß ') A. a. 0., S. 271 („Die Aktion der Masse“). 2) A. a. 0., S. 279.

3) A. a. 0., S. 280.

4) A. a. 0., S. 279.

5) Besonders charakteristisch ist die Kritik Kautskys an der belgischen Massen¬ streikbewegung für das allgemeine Wahlrecht in seinem Brief an Adler vom 23. 5. 1902, in: V. Adler, Briefwechsel, S. 401 f.: „Die Führer der Belgier hatten offenbar gar keine Ahnung von dem, was das allgemeine Wahlrecht für Belgien heute bedeutet, sonst hätten sie von vornherein andere Seiten aufgezogen. Sie ahnten nicht, daß es der Anfang vom Ende nicht nur des klerikalen Regimes, sondern auch des Königtums, ja des bürgerlichen Regimes wäre, daß sie daher auf den äußersten Widerstand stoßen, keine Hilfe bei den Liberalen finden würden und den Kampf darum nur wagen durften, wenn sie sehr starke Trümpfe in der Hand hätten. Sie haben aber offenbar auch nicht geahnt, daß unsere Partei gar keine Ursache hat,

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schließlich „die Erreichung der absoluten Mehrheit... zu einer Frage weniger Jahre“1) geworden zu sein scheint, machen sich weder Bebel und die Parteiführung noch Kautsky Gedanken darüber, wie die Wahlerfolge in konkrete politische Macht umgesetzt werden könnten. Im ungestörten Fortgang des passiven Prozesses der sich steigernden faszinierenden Stim¬ menzahlen — nicht in der Realisierung der von der Partei repräsentierten Macht — ist für die Parteiinstanzen die Lösung selbst der drängendsten Probleme der Zeit beschlossen. So sprach Bebel bei fast allen Reichstags¬ wahlen dem Anwachsen der sozialdemokratischen Stimmen mit leicht¬ fertigem Optimismus einen kriegsverhindernden Einfluß zu2); und Kautsky konstatierte mit der gleichen machtpolitischen Naivität, daß „die rascheste Erstarkung der revolutionären Partei“ am ehesten den Krieg und damit, „da ... der Krieg heute gleichbedeutend ist mit der Revolution“, paradoxerweise auch die Revolution hinausschiebe3). Ein charakteristisches Zeugnis für die kautskyanisch gerechtfertigte Haltung des passiven Abwartens in allen Entscheidungsfragen der großen Politik ist Bebels Vorrede von 1911 zu Marx’ „Klassenkämpfen in Frankreich“, in der er „das gleich einem unentrinnbaren Fatum vor sich gehende Wachstum der Sozialdemokratie“ beschwört und es für möglich erklärt, daß das bei den nächsten Reichstagswahlen zu erwartende ohne Not diese Entscheidung zu beschleunigen. Denn was wäre die Folge ihres Sieges? Nichts als eine fast unmögliche Position, in der man wenig leisten, aber sehr leicht Schiff bruch leiden kann.“ Weder eine Koalition mit den Liberalen noch ein sozialistischer Wahlsieg über sie sei wünschenswert. Brächte das allgemeine Wahlrecht nämlich die Vernichtung der Liberalen, so würden nur noch zwei große Gegner —Klerikale und Sozialdemokraten — einander gegenüberstehen. „Erringen wir unter diesen Umständen die Mehrheit, wird die Sache erst recht fatal. Unsere Leute sollen dann eine Regierung für sich allein bilden und zeigen, was der Sozialismus leisten kann. Was aber kann man in einem Ländchen wie Belgien durchführen, das politisch wie ökonomisch ganz vom Ausland abhängig ist? Das Volk erwartet Großes von uns. Wir könnten aber in dem kleinen Rahmen nur Bescheidenes leisten und müßten doch über kurz oder lang mit aller Welt in Konflikt kommen. Natürlich kann man sich die Situation nicht aussuchen, in der man zur Herr¬ schaft kommt, und wenn die Situation es gebietet, muß man das Schwerste wagen. Aber kein vernünftiger Mensch wird eine so schwierige Situation künstlich beschleu¬ nigen wollen. Wenn also die Leute vernünftig wären, durften sie nicht losschlagen. Sie hatten es ja so bequem! Sie brauchten nur prinzipiell zu sein, am Frauenstimmrecht festhalten und die ganze Geschichte hatte ein Ende!“ ß Kautsky, Massenstreik, S. 241 („Was nun?“) 2) Vgl. Gustav Mayer, „Erinnerungen“, München (1949), S. 180. 3) Kautsky, Massenstreik, S. 213; vgl.: Weg zur Macht, S. 101.

Kautsky und der Kautskyanismus

Ansteigen

der

sozialdemokratischen

Stimmen

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,, Regierungen

und

herrschende Klassen veranlassen könnte, die Frage zu stellen: Was nun?“, um dann unmittelbar fortzufahren: „Uns über die Antwort auf diese Frage den Kopf zu zerbrechen, ist nicht unsere Aufgabe. Es kann alsdann möglicherweise einer jener welthistorischen Momente eintreten, die der Entwicklung eines großen, zahlreichen und intelligenten Volkes, wie es das deutsche ist, neue Wege aufzwingen, mögen die herrschenden Klassen wollen oder nicht. Für die Sozialdemokratie ist die Richtschnur gegeben; sie wird sich nicht, komme was wolle, von ihrem bisherigen Boden abdrängen oder verleiten lassen, ihr bedenk¬ lich erscheinende Wege zu betreten; sie hat keinen Grund, ihren Feinden gegenüber sich zu Unbesonnenheiten und gewünschten Gewaltstreichen verleiten zu lassen. Stark in dem Bewußtsein, daß die ganze geschiehtliche Entwicklung ihr in die Hände arbeitet, und sie durch die Macht der Gründe und die Gerechtigkeit und Selbstverständlichkeit ihrer Forderungen der Kristallisationskern für alle wird, die an einer neuen gesellschaftlichen Ordnung auf sozialistischer Grundlage interessiert sind, und das ist schließlich die sehr große Mehrheit, kann sie festen Fußes und heiteren Auges das Kommende erwarten.“1)

Es paßt ganz in das Bild dieses fatalistischen Fortschrittsoptimismus, daß Bebel die Überzeugung vertrat, zur Übernahme und Handhabung der Staatsgewalt brauche es keinerlei besonderer Vorbereitung oder Schul ung. „Noch in jeder großen Volksbewegung“, hatte er 1903 in Dresden ausgerufen, „haben sich zur rechten Stunde auch die rechten Männer gefunden. Und wenn es je eine große Kulturbewegung in der Welt gegeben hat, die ihre rechten Männer und auch ihre Frauen zeugte, so ist es die Sozialdemokratie. (Stürmischer Beifall!) Wenn wir morgen durch irgendeinen Umstand unsere Gegner von ihren Sitzen verdrängen und uns selbst hinsetzen könnten, so macht Euch darüber keine Sorgen, wir würden schon wissen, was wir zu tun hätten. (Lebhafte Zustimmung.)“2)

Der Gedanke, „was ... nicht alles unsere Parteigenossen in den Gewerkschaften, in den Krankenkassen, in den Gewerbegerichten, in den Parlamenten geleistet“ hätten3), befriedigte ihn vollauf. Außerdem glaubte er sich darauf verlassen zu dürfen, daß für alle Anforderungen, die die Beherrschung der „Maschinerie“ des Staates stelle, „eine Menge Geheimräte ..., vielleicht sogar Minister“ zur Verfügung stünden, wemi sie „eine anständige Behandlung und eine bessere Bezahlung“ erhielten4). Nicht minder blind als der große Volkstribun vertraute auch Kautsky x) Marx, Klassenkämpfe in Frankreich, S. 4. u. 6 (Vorwort August Bebels). 2) Protokoll Dresden 1903, S. 319. 3) A. a. 0., S. 318. 4) Protokoll Hannover 1899, S. 127. Marxismusstudien II

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darauf, daß die bereits so herrlich bewiesenen Fähigkeiten des Prole¬ tariats weiter im Verhältnis der Zunahme seiner Kräfte wachsen würden; und, „wenn es einmal die Staatsgewalt in der Hand hat, stehen ihm auch alle die ungeheuren materiellen und geistigen Hilfsmittel zu Gebote, über die sie verfügt.“1)

Der der Haltung der Parteileitung entsprechende bequeme Abstinenz¬ standpunkt, daß „es nicht unsere Aufgabe ist, Rezepte für die Garküche der Zukunft auszuspintisieren“, fand in der kautskyanistischen Glaubens¬ gewißheit: „Wir sind nicht diejenigen, welche diese Entwicklung [die Revolution] zu vollziehen haben“2), eine beruhigende Bestätigung, die zudem noch mit dem Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit auftrat. Von hier aus ließen sich alle Versuche, zu konkreten Ziel Vorstellungen — deren Erörterung innerhalb der Partei den Interessen der Inte¬ grationstaktik zu widersprechen schien — zu kommen, als nutzlose Phantastereien beiseite schieben und diskreditieren.

IX. Fazit Die Einengung und Erstarrung des politischen Gesichtsfeldes, die in diesen Zitaten greifbar wird, scheint auf den ersten Blick in einem ekla¬ tanten Widerspruch zu der opportunistischen Biegsamkeit zu stehen, die die Praxis der Vorkriegssozialdemokratie auszeichnete. Jedoch sind beide Merkmale des politischen Charakters der Partei nicht ohne einander zu denken. Wie Arthur Rosenberg, dem wir die prägnanteste Beschreibung dieses Zusammenhanges verdanken, feststellt, „vereinigte die offizielle deutsche Sozialdemokratie der Vorkriegszeit, deren Repräsentant August Bebel war, eine starke sozialpolitische Aktivität mit einem passiven formalen Radikalismus auf allen andern Gebieten des öffentlichen Lebens. Zu den Problemen der Außenpolitik und des Militärwesens, der Schule und der Justiz, der Verwaltung, ja sogar der Wirtschaft im allgemeinen, und besonders der Agrarfrage,

hatte der durchschnittliche sozialdemokratische

Funktionär kein

inneres Verhältnis. Er dachte nicht daran, daß einmal der Tag kommen könnte, an dem er, der Sozialdemokrat, alle diese Dinge würde entscheiden müssen. Am Herzen lag ihm alles, was mit den Berufsinteressen des Industriearbeiters im engeren Sinne zusammenhing. Hier war er sachkundig und aktiv. Daneben bewegte q Karl Kautsky u. Bruno Schoenlank, „Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie, Erläuterungen zum Erfurter Programm“, Agitationsausgabe, Berlin 1899, S. 24. Vgl.: Kautsky, Bernstein u. das sozialdem. Programm, S. 193; Massenstreik, S. 271 („Die Aktion der Masse“, s. o., S. 142, Anm. 1). 2) Karl Kautsky, „Die soziale Revolution“, II. Bd., Berlin 1902, S. 3. u. 1.

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ihn vielleicht am meisten noch die Wahlrechtsfrage ... Die Reichstagswahlen waren das Barometer für den Stand der sozialdemokratischen Bewegung. Einen Wahlkreis zu erobern, war die höchste Ehre für die örtliche sozialdemokratische Organisation. Je mehr Kraft die Arbeiterschaft bei den Reichstagswahlen ent¬ wickeln konnte, um so schmerzlicher empfand sie es, daß in Preußen das Drei¬ klassenwahlrecht die Arbeiter zur Ohnmacht verurteilte ... Aber eine politische Bewegung, die sich nur auf die Stimmzettel verläßt und alle anderen Faktoren vernachlässigt, kann böse Enttäuschungen erleben ... Die alte deutsche Sozial¬ demokratie war durchaus im Recht, wenn sie die Bedeutung der Reichstagswahlen hervorhob und sich mühte, im Reichstag möglichst stark zu werden. Sie hatte ebenso recht, wenn sie die Reform des rückständigen preußischen Wahlsystems anstrebte. Aber, bei dem rein formalen Radikalismus, der die Partei bis 1914 beherrschte, war doch der Kultus der Wahlen und der Wahlerfolge eine gewisse Gefahr. Es hat zwar niemand eine solche Theorie aufgestellt, und jeder sozial¬ demokratische Funktionär hätte eine solche These entrüstet zurückgewiesen: Aber im Unterbewußtsein des durchschnittlichen Sozialisten vor 1914 sah doch die Welt so aus, daß die Sozialpolitik und das Wahlrecht die Hauptsachen waren, und alle übrigen Dinge im trüben Nebel schwammen. Diese einseitige Erziehung der deut¬ schen Arbeiterschaft durch die offizielle Sozialdemokratie sollte sich in der Revolu¬ tion nach dem 9. November bitter rächen.“1)

Die entmythologisierte Parteiwirklichkeit, wie sie Rosenberg uns vor Augen führt, ist in ihren wesentlichen Zügen als Resultante zweier geschichtsträchtiger Komponenten zu verstehen, die den historisch¬ soziologischen Entwicklungsprozeß der deutschen Vorkriegssozialdemo¬ kratie entscheidend bestimmt haben. Unterlag sie einerseits den gleichen Entwicklungsbedingungen des aufstrebenden Industriekapitalismus wie die übrigen europäischen Arbeiterparteien, die durchweg dem für die zweite Internationale charakteristischen neuen Typus der Berufsparteien der Industriearbeiterschaft2) zuzurechnen sind, so wurde sie andererseits durch die besonderen politischen Verhältnisse des Bismarckreiches geprägt3). Dabei ist nicht nur daran zu denken, daß das Strukturmodell des preußischen Militär- und Beamtenstaates auch auf die Sozialdemo¬ kratie abfärbte und daß die Hegemonie der preußischen Parteiorgani¬ sation in der Gesamtpartei in mancher Hinsicht durchaus der Vorherr¬ schaft Preußens im Reich vergleichbar war, sondern vor allem daran, daß die Entpolitisierung des deutschen Bürgertums auch eine unzureichende Durchpolitisierung der Emanzipationsbestrebungen des vierten Standes b Rosenberg, Geschichte d. deutschen Republik, S. 16—18. 2) Vgl. Rosenberg, Demokratie u. Sozialismus, S. 281. Für die sozialdemokratische Selbstkritik nach 1933 vgl. Matthias, Sozialdemokratie u. Nation, S. 53 f. (Hilferding). 3) Vgl. Matthias, a. a. 0., S. 53 ff. 13*

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im Gefolge hatte. In dem seiner Natur nach halb absolutistischen Bismarckschen Staat wurden die politischen Parteien, die „notwendig m ihm ihre echte Funktion nicht erfüllen“ konnten1), von der Verantwor¬ tung abgedrängt und abgelenkt. Beschränkten sich die Sozialdemokraten in ihrer praktischen Politik hauptsächlich auf Interessenvertretung, so entsprach das einer allgemeinen Tendenz zur „Verwirtschaftlichung“2) der Parteien im deutschen Kaiserreich. Nicht anders verhielt es sich mit dem Fehlen eines realistischen Verhältnisses zur Macht und zur Macht¬ politik. Denn auch die führenden Männer der bürgerlichen Parteien hatten „kein Verlangen nach Macht und waren weder gewillt noch fähig, die Plätze von verantwortlichen Staatsmännern einzunehmen“, sondern gaben sich mit der Rolle einer kritischen Opposition zufrieden3). Die Sozialdemokraten empfanden die enge Begrenztheit ihres politischen Wirkungsraums um so weniger, als sich ein großer Teil ihres politischen Lebens in ihren eigenen Organisationen abspielte, die mit all ihren zahlreichen Verästelungen als die gewaltigste Kultur- und Bildungs¬ bewegung, die Deutschland jemals gesehen hatte, anzusprechen sind. Zudem bot der Aufbau und die Unterhaltung dieses Organisations¬ komplexes eine Fülle von Möglichkeiten politischer Ersatzbefriedigung, so daß gerade wieder die verdienstvolle Kulturarbeit der Partei ihrer verhängnisvollen Abkapselung und Isolierung Vorschub leistete. So steht die Vorkriegssozialdemokratie vor uns als ein großartiges Gebilde durchaus eigenen und eigenwilligen Charakters und doch zugleich als eine typische Partei des kaiserlichen Deutschland, die trotz ihres kraftstrotzenden Äußeren ein Koloß auf tönernen Füßen war und deren Entwicklung die spezifischen Züge der strukturellen Ausformung des deutschen Parteiensystems seit der Reichsgründung aufwies. Auch sie wünschte im Grunde keine radikale Änderung der bestehenden Verhält¬ nisse, sondern „fand sich mit der Existenz des kaiserlichen Staats und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als unerschütterlichen Reali¬ täten ab“4). Gedieh doch „das kämpfende Proletariat“, wie Kautsky 1904 in seiner Artikelserie „Allerhand Revolutionäres“ eingestand, „unter einer Verfassung, wie sie das deutsche Reich besitzt, politisch in J) Sigmund Neumann, „Die deutschen Parteien“, Berlin 1932, S. 21. 2) A. a. 0., S. 20. 3) M. J. Bonn, „So macht man Geschichte“, München 1953, S. 41. Vgl. Friedrich Stampfer, „Die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik“, 3. Aufl., Hamburg (1953), S. 9f. 4) Rosenberg, Geschichte d. deutschen Republik, S. 16.

Kautsky und der Kautskyanismus

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der erfreulichsten Weise“1). Zwar wurden immer wieder Versuche unter¬ nommen, den engen politischen Horizont der Partei, der sie nicht nur an die bestehende Ordnung band, sondern auch eine aktivistische Forcierung ihrer demokratischen Reformbestrebungen verhinderte, auszuweiten. Doch sie scheiterten bereits an der jedem Risiko ausweichenden Inte¬ grationstaktik; und die kautskyanische Integrationsideologie vergoldete die Scheuklappen, die der Sozialdemokratie durch ihre Entwicklung im kaiserlichen Deutschland gewachsen waren, noch mit pseudorevolutionä¬ rem Glanz. So ergibt sich der paradox erscheinende Sachverhalt, daß die „revolutionäre“ Ideologie den Anpassungsprozeß, der die Sozialdemo¬ kratie in das kaiserliche Deutschland und sein degeneriertes Parteien¬ system einfügte, bestätigte und zugleich erleichterte. Das heißt mit anderen Worten: der Kautskyanismus war zu einem Stabilitätsfaktor der bestehenden Ordnung in Staat und Gesellschaft geworden. b Kautsky, Massenstreik, S. 83.

Um den Einklang von Theorie und Praxis Eduard Bernstein und der Revisionismus von CHRISTIAN GNEUSS

Als sich die deutsche Sozialdemokratie 1891 in Erfurt ein Programm gab, bedeutete dies mehr als die Fixierung der gemeinsamen Ziele einer politischen Partei, mehr als die Errichtung einer ideologischen Plattform für die nach dem Fall des Sozialistengesetzes nunmehr legale politische Arbeit der SPD. Das Erfurter Programm ist vielmehr Ausdruck des siegreichen Eindringens des Marxismus in die deutsche Arbeiterbewe¬ gung, ein Prozeß, der erst nach der organisatorischen Grundlegung der Bewegung — vor allem durch Lassalle — einsetzt und der durch die Halblegalität, in die die Partei durch das Sozialistengesetz gedrängt wurde und in der sie sich naturgemäß radikalisieren mußte, ohne Zweifel gefördert und beschleunigt wurde. Daß neben diesen durch die geschichtliche Situation gegebenen Voraussetzungen der deutsche und darüber hinaus der kontinental-europäische Sozialismus in Karl Kautsky einen in seiner Art einmaligen Popularisator des Marxschen Systems fand, war ein weiteres nicht zu unterschätzendes Moment in diesem Prozeß. Noch bis in die achtziger Jahre hinein wirkte das geistige Erbe Las¬ salles in der deutschen Arbeiterbewegung sehr stark. Daß sich der Marxismus dennoch durchsetzte, liegt einmal an der Geschlossenheit seines Systems, das durch Kautsky zudem noch simplifiziert wurde, zum anderen an der Schwäche der Lassalleschen ökonomischen Theorien. Neben Kautskys Zusammenfassung der wesentlichsten Aussagen des „Kapital“, 1887 unter dem Titel „Karl Marx’ ökonomische Lehren“ er¬ schienen, mußte Lassalles ökonomisches Hauptwerk „Bastiat-Schulze“ sich kraus und absonderlich ausnehmen.

Um den Einklang von Theorie und Praxis

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Man hat im Erfurter Programm zuweilen die unumstrittene Charta des Sozialismus im wilhelminischen Deutschland erblickt, die Parteiideologie bis 1914 allzusehr als monolithische Einheit gedeutet und darüber ver¬ gessen, daß bereits wenige Jahre nach Erfurt innerhalb der deutschen Sozialdemokratie eine theoretische Diskussion einsetzte, die sich nicht auf die Frage nach der Richtigkeit einzelner Marxscher Prognosen be¬ schränkte, sondern an den Kern des Marxschen Systems rührte. Das, was man gemeinhin als Revisionismus bezeichnet, ist nämlich mehr als nur ketzerische Gedankenspielerei einiger Intellektueller, der Revisionismus ist die Folge eines unausweichlichen Dilemmas, vor das sich eine poli¬ tische Partei mit Massenbasis gestellt sieht, die in ihrer ursprünglichen Theorie von der radikalen Verneinung des Bestehenden ausgeht und in der Praxis auf das mühsame Ringen um tagespolitische Erfolge angewie¬ sen ist1). Der Revisionismus ist nichts anderes als der Ausdruck dieser Kluft zwischen Theorie und Praxis. Diese Kluft wird mit dem Ende der Heroenzeit des Sozialismus, in Deutschland mit dem Fall des Sozialisten¬ gesetzes, also in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sichtbar. In Umrissen zeichnet sie sich schon in den Auseinandersetzungen inner¬ halb der SPD zur Zeit des Sozialistengesetzes, also noch vor Erfurt, ab; deutlich zu spüren ist sie vor allem bei den Debatten um den Aktionsteil des Erfurter Programms und über die im Reichstag einzuschlagende Taktik. Schon damals entschied sich die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Praxis für den legalen parlamentarischen Weg zur Macht, ohne sich zunächst bewußt zu sein, in welchen Gegensatz sie dies zwangsläufig mit einer Theorie bringen mußte, die sie gerade übernommen hatte. Der demokratische Sozialismus der Mitte des 20. Jahrhunderts hat diese Kluft bislang noch nicht völlig zu überbrücken vermocht. Die Beschreibung dieser Situation soll das persönliche Verdienst Eduard Bernsteins, des Begründers des Revisionismus, nicht schmälern; sie soll nur dazu dienen, darüber Klarheit zu schaffen, daß der Revisionis¬ mus in den neunziger Jahren sozusagen ,,in der Luft lag“, daß er nicht J) Dies ist das eigentliche „Dilemma des demokratischen Sozialismus“, nicht der Konflikt zwischen Grundsatztreue und Machtwille, den Peter Gay in seinem gleich¬ namigen Bernsteinbuch („The Dilemma of Democratic Socialism — Eduard Bernstein’s Challenge to Marx“, New York 1952, deutsche Ausgabe Nürnberg 1954) als das Grundproblem des demokratischen Sozialismus ansieht. Mit dieser über¬ spitzten Fragestellung versperrt er sich den Zugang zu den Grundanliegen Bern¬ steins und des gesamten Bevisionismus. So hegt das Hauptverdienst dieses Buches vor allem in der guten Zusammenstellung biographischer und bibliographischer Angaben über Bernstein und seine Zeit.

200

Christian Gneuss

dem isolierten Denken eines einzelnen,

eben Bernsteins, entsprang,

sondern daß — im Gegenteil — einer der Väter des historischen Materia¬ lismus, dessen Leben noch in die neunziger Jahre hineinreicht, Friedrich Engels selber, nicht umhin konnte, sich mit ähnlichen Fragestellungen wie Bernstein auseinanderzusetzen. Eduard Bernstein ist am 6. 1. 1850 in Berlin geboren, er gehört also jener zweiten Generation von Theoretikern und Praktikern der Arbeiter¬ bewegung an, von denen anstelle vieler nur die Namen Kautsky, Plechanow, Kropotkin, Bebel, Jaures, Sidney Webb genannt seien. Er ent¬ stammt einer jüdischen Kleinbürgerfamilie, besucht das Gymnasium bis zum 16. Lebensjahr, wird dann Banklehrling und -angestellter. 1872 schließt er sich dem Eisenacher Flügel der Sozialdemokratie an; die bei¬ den Bücher, die auf ihn zuerst wirken, sind Lassalles „Bastiat-Schulze“ und Eugen Dührings „Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus“. Man muß sich darüber im klaren sein, daß zu dieser Zeit die Eisenacher keineswegs den marxistischen Flügel der Arbeiterbewegung in Deutschland verkörperten. Die Gegensätze zwischen ihnen und den Lassalleanern waren mehr tagespolitischer und persön¬ licher als grundsätzlich theoretischer Natur. Bernstein nahm als Dele¬ gierter am Vereinigungsparteitag 1875 in Gotha teil, betätigte sich in der Berliner Parteiorganisation mit Erfolg als Versammlungsredner und Referent in Abendkursen, bis er 1878, kurz vor der Verabschiedung des Sozialistengesetzes, ein Angebot erhielt, in die Schweiz zu gehen, das er annahm. Karl Höchberg, ein Philanthrop und „Edelsozialist“ in Zürich, stellt ihn als Sekretär ein. Bernstein wird regelmäßiger Mitarbeiter am Exilorgan „Sozialdemokrat“. In diese Jahre fällt seine intensive Berüh¬ rung mit dem Marxismus. 1878 erscheint Engels’ „Anti-Dühring“, ein Buch, das weit stärker als etwa das „Kapital“ auf die Elite der deutschen Arbeiterbewegung wirkt und geradezu zur Bibel des Marxismus wird. Auch Bernstein ist von diesem Buch zunächst aufs tiefste beeindruckt, wie man überhaupt dem,, Anti-Dühring“ in einer Wirkungsgeschichte des Marxismus, sowohl auf Westeuropa und Deutschland wie auf Rußland bezogen, eine zentrale Stelle einräumen muß. 1880 reist Bernstein mit Bebel nach London zu Marx und Engels, vor allem um die Bedenken zu zerstreuen, die die beiden gegen den Sekretär eines Mannes, eben Höchbergs, hegten, von dem sie nichts hielten. Dies gelingt, Frucht der Reise ist Bernsteins Betrauung mit der Redaktion des „Sozialdemokrat“. Er korrespondiert in dieser Zeit intensiv und freund¬ schaftlich mit Engels. Marx stirbt bekanntlich 1883, so wird Engels zum

Um den Einklang von Theorie und Praxis

201

entscheidenden Vermittler Marxschen Gedankengutes in diesen Jahren der Rezeption des Marxismus durch die deutsche Arbeiterbewegung. Das gilt sowohl für Bernstein wie für Kautsky, der seit 1880 ebenfalls im Schweizer Exil lebt und mit dem Bernstein enge Freundschaft schließt. 1888 verbietet auf Druck Bismarcks die Schweizer Regierung einige Artikel des „Sozialdemokrat ; Bernstein muß nach London gehen, um von dort die Redaktionsarbeit fortzusetzen. Er kommt damit mm auch in engste persönliche Berührung mit Engels. 1890 fällt das Sozialisten¬ gesetz. Man kann es als seltsames Spiel des Schicksals ansehen, daß es Bernstein, der nach wie vor unter Anklage stand, noch nicht erlaubt war, nach Deutschland zurückzukehren. Erst 1901 kann er in die Heimat übersiedeln. Der erzwungene lange Aufenthalt in London führt ihn zwangsläufig zum Studium des englischen politischen Klimas, der eng¬ lischen Arbeiterbewegung, bringt ihn in Berührung zu der 1883 gegrün¬ deten „Fabian Society , hält ihn aber auch — und das wird meist übersehen — noch fünf entscheidende Jahre, nämlich von 1890 bis 1895, in der persönlichen Nähe von Engels. Die innere Entwicklung Bernsteins zum Revisionisten vollzieht sich also sozusagen unter Engels’ Augen. Bis zum Tode Engels’ 1895 lassen sich keine Gegensätze zwischen den beiden Männern erkennen, wenn auch Engels Bernsteins Kontakt zu den Fabiern kritisch beobachtet. Engels bestimmt Bernstein zu seinem Testamentsvollstrecker und vertraut ihm und Bebel sein literarisches Erbe an. Die ersten Artikel Bernsteins, in denen er den Bruch mit dem orthodoxen Marxismus vollzieht, erscheinen erst nach Engels’ Tode ab 1896 unter dem Titel „Probleme des Sozialis¬ mus“ in Kautskys „Neuer Zeit“1). Es ist also müßig, sich darüber Gedanken zu machen, wie Engels auf diese Aufsätze reagiert hätte; sinnvoll dagegen ist die Frage, ob in Äußerungen des späten Engels sich Ansätze zu einer revisionistischen Theorie feststellen lassen. Wichtigstes Dokument in diesem Zusammenhang ist Engels’ Vorrede zur Neuausgabe der Marx-Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich“. Marx schrieb diese Arbeit kurz nach der achtundvierziger Revolution in Frankreich. Sie erschien 1850 in der „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung“ in Form einzelner Aufsätze und wurde 1895 erstmalig im Zusammenhang von Engels herausgegeben. Die Herausgabe geschah nicht x) „Neue Zeit“, XV, 1 (1896—97), S. 164—171, 204—213, 303—311, 772—783; XV, 2 (1896—97), S. 100—107; XVI, 2 (1897—98), S. 225—232, 388—395. Die Aufsätze sind 1901 in Buchform neu veröffentlicht worden (Eduard Bernstein, „Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus“, Berlin 1901).

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ohne Zusammenhang mit der innenpolitischen Situation in Deutschland. Um diese Zeit legte die Reichsregierung die sogenannte „Umsturz¬ vorlage“ vor, den „Entwurf eines Gesetzes betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs, des Militär-Strafgesetzbuchs und des Gesetzes über die Presse“. Mit diesem Gesetz sollten die Strafbestim¬ mungen gegen die Aufforderung zum Aufruhr und gewaltsamen Umsturz erheblich verschärft werden. In dieser Situation mußte die Sozial¬ demokratie sich vor allem bemühen, nachzuweisen, daß sie den legalen Weg zur Macht gewählt habe. Nicht zuletzt infolge der geschickten Taktik der SPD im Reichstage wurde die Vorlage von der Mehrheit des Reichs¬ tages abgelehnt. Das Engelssche Vorwort zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“ muß in diesem Zusammenhang gesehen werden1). Die Kommunisten haben dem sozialdemokratischen Parteivorstand vor¬ geworfen, er habe das Engelssche Vorwort gefälscht und habe auf Grund der damaligen innenpolitischen Lage entscheidende Stellen des Engelsschen Vorwortes unterdrückt.

Ein Vergleich

zwischen

dem

ursprünglichen Engelsschen Text2) und der tatsächlich erschienenen Vorrede zeigt tatsächlich, daß einige Stellen aus dem Vorwort gestrichen wurden, die die Stellung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion bei der Debatte um die Umsturzvorlage hätten schwächen können. Diese Streichungen geschahen jedoch durchaus im Einverständnis mit Engels, wie der 1926 von Bernstein in den „Sozialistischen Monatsheften“ veröffentlichte Brief Richard Fischers an Engels zeigt3). Engels’ Einleitung zu den „Klassenkämpfen“ datiert vom 6. März 1895, Engels starb am 5. August des gleichen Jahres; die knapp fünf Monate vor seinem Tode geschriebenen Gedanken kann man also in gewissem Sinne als politisches Testament Engels’ auffassen. Im Mittel¬ punkt der Engelsschen Überlegungen steht die Frage nach dem rechten Wege zum Sozialismus. Wie vollzieht sich die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus? Diese Frage wird gerade in den Jahren um die Jahrhundertwende innerhalb der sozialistischen Bewegimg zum zentralen Problem, nicht nur für den Revisionismus, sondern z. B. auch für die russische Sozialdemokratie. Marx hat keine völlig eindeutige Theorie der Übernahme der politischen Macht durch das Proletariat hinter lassen. Engels will also nicht etwa Marx revidieren, wenn er sich 1895 zu diesem 1) Vgl. dazu „Umsturz und Sozialdemokratie“, I, Schriftenreihe „Demokratie und Sozialismus“, Heft 11, Offenbach 1947. 2) Er wurde zum ersten Male 1924 von Rjasanow veröffentlicht. 3) Vgl. „Umsturz und Sozialdemokratie“, I, S. 3.

Um den Einklang von Theorie und Praxis

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Problem äußert, sondern er will auf Grund der gegenüber 1848 völlig veränderten gesellschaftlichen Situation den allgemeinen Rahmen der Marxschen Aussagen zu diesem Einzelgebiet der sozialistischen Theorie mit konkreten Hinweisen ausfüllen. Wie vieldeutig die Marxschen Äußerungen dazu sind, beweist ja auch, daß Lenin sich in seiner Revo¬ lutionstheorie durchaus im Einklang mit Marx glaubte. Engels geht in seiner Einleitung von der Situation der Jahrhundert¬ mitte aus und gibt zu, daß er sich in seiner damaligen Einschätzung der Erfolgschancen des Sozialismus geirrt habe: „Als die Februarrevolution ausbrach, standen wir alle, was unsere Vorstellungen von den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärer Bewegungen betraf, unter dem Bann

der

bisherigen

geschichtlichen Erfahrung,

namentlich

derjenigen

Frankreichs. Diese letztere war es ja gerade, die die ganze europäische Geschichte seit 1789 beherrscht hatte, von der auch jetzt wieder das Signal zur allgemeinen Umwälzung ausgegangen war. So war es selbstredend und unvermeidlich, daß unsere Vorstellungen von der Natur und dem Gang der in Paris, im Februar 1848, proklamierten „sozialen“ Revolution, der Revolution des Proletariats stark gefärbt waren durch die Erinnerungen der Vorbilder von 1789—1830 ... Die Geschichte hat aber auch uns unrecht gegeben, hat unsere damalige Airsicht als eine Illusion enthüllt. Sie ist noch weiter gegangen: sie hat nicht nur unseren damaligen Irrtum zerstört, sie hat auch die Bedingungen total umgewälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen hat. Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet.“1)

Engels’ Äußerungen stellen eine klare Absage an die Französische Revolution als Vorbild für die proletarische dar — der Gegensatz zum späteren Lenin wird hier schon greifbar. Engels meint, daß es das Charakteristikum

aller

bisherigen

Revolutionen

gewesen

sei,

daß

Minoritäten Träger der Revolution waren; Signum der sozialistischen Revolution dagegen sei, daß sie von der Majorität der Bevölkerung getragen werden müsse. 1848 war das noch nicht der Fall. Das Proletariat war eine Minderheit. „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion.“2)

Woran ist nun der Prozeß der Vermehrung des Proletariats ablesbar? Einmal an der fortschreitenden Industrialisierung, zum anderen aber — b Karl Marx, „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848—1850“, Einleitung. In: Marx und Engels, Ausgew. Schriften, Ost Berlin 1953, Bd. I, S. 107f. 2) a. a. 0., S. 110.

Christian Gneuss

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und damit kommt Engels ganz in die Nähe des Revisionismus

an den

Wahlziffern; Engels schwelgt geradezu in Zahlen: „Dank dem Verständnis, womit die deutschen Arbeiter das 1866 eingeführte allgemeine Stimmrecht benutzten, liegt das staunenerregende Wachstum der Partei in unbestreitbaren Zahlen offen vor aller Welt. 1871: 102 000, 1874: 352 000, 18/7: 493 000

sozialdemokratische

Stimmen.

Dann

kam

die

hohe

obrigkeitliche

Anerkennung dieser Fortschritte in Gestalt des Sozialistengesetzes; die Partei war momentan zersprengt, die Stimmenzahl sank 1881 auf 312 000. Aber das war rasch überwunden, und nun, unter dem Druck des Ausnahmegesetzes, ohne Presse, ohne äußere Organisation, ohne Vereins- und Versammlungsrecht, nun fing die rasche Ausbreitung erst recht an: 1884: 550 000, 1887: 763 000, 1890: 1 427 000 Stimmen. Da erlahmte die Hand des Staates. Das Sozialistengesetz verschwand, die soziali¬ stische Stimmenzahl stieg auf 1 787 000, über ein Viertel der sämtlichen abge¬ gebenen Stimmen.“1)

Man stelle sich einmal vor, Engels hätte den Wahlsieg der deutschen Sozialdemokratie von 1912 noch miterlebt, wenn er schon angesichts der relativ bescheidenen Erfolge der neunziger Jahre in Verzückung gerät. Weiter schreibt er: „Die deutschen Arbeiter hatten aber zudem ihrer Sache noch einen zweiten großen Dienst erwiesen neben dem ersten, der mit ihrer bloßen Existenz als die stärkste, die disziplinierteste, die am raschesten anschwellende sozialistische Partei gegeben war. Sie hatten ihren Genossen aller Länder eine neue, eine der schärfsten Waffen geliefert, indem sie ihnen zeigten, wie man das allgemeine Stimmrecht gebraucht ... Sie haben das Wahlrecht ... verwandelt aus einem Mittel der Prellerei, was es bisher war, in ein Werkzeug der Befreiung.“2)

Engels weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich positiv auf Lassalle hin. Er sagt dann: „Mit dieser erfolgreichen Benutzung des allgemeinen Stimmrechts war aber eine ganz neue Kampfweise des Proletariats in Wirksamkeit getreten, und diese bildete sich rasch weiter aus. Man fand, daß die Staatseinrichtungen, in denen die Herr¬ schaft der Bourgeoisie sich organisiert, noch weitere Handhaben bieten, vermittels deren die Arbeiterklasse diese selben Staatseinrichtungen bekämpfen kann. Man beteiligte sich an den Wahlen für Einzellandtage, Gemeinderäte, Gewerbegerichte, man machte der Bourgeoisie jeden Posten streitig, bei dessen Besetzung ein genügender Teil des Proletariats mitsprach. Und so geschah es, daß Bourgeoisie und Regierung dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion. Denn auch hier hatten sich die Bedingungen des Kampfes wesentlich verändert. Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war bedeutend veraltet.

b a. a. 0., S. 113f.

2) a. a. O., S. 114.

Um den Einklang von Theorie und Praxis

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Machen wir uns keine Illusion darüber: ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, gehört zu den größten Seltenheiten.“1)

Engels Vorliebe für militärstrategische Überlegungen zeigt sieb auch hier. Er weist auf Grund der gewandelten militärischen Technik nach, daß mit Barrikaden das Proletariat kaum mehr Aussicht auf Erfolg habe. „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit aber die Massen verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit einem Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt.“2)

Die „lange, ausdauernde Arbeit“ aber hat nach Engels in erster Linie in den Parlamenten zu erfolgen; diese Lehre gilt nicht nur für Deutsch¬ land, sondern für alle Länder — auch für Rußland: „Und selbst wenn in Rußland der berühmte Semskij Sobor Zusammentritt, jene Nationalversammlung, gegen die der junge Nikolaus sich so vergebens sperrt, selbst da können wir mit Gewißheit darauf rechnen, daß wir auch dort vertreten sind.“3)

Pionier dieser neuen Aufgabe ist die deutsche Sozialdemokratie: „Ihr Wachstum geht so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozeß. Alle Regierungseingriffe haben sich ohnmächtig dagegen erwiesen. Auf 21/i Millionen Wähler können wir schon heute rechnen. Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittel¬ schichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle anderen Mächte sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht. Dies Wachstum ununterbrochen in Gang zu halten, bis es dem herrschenden Regierungssystem von selbst über den Kopf wächst, diesen sich täglich verstärkenden Gewalthaufen nicht in Vorhutkämpfen aufreiben, sondern ihn intakt zu halten bis zum Tag der Entscheidung, das ist unsere Hauptaufgabe. “

Engels rechnet durchaus mit der Möglichkeit, daß die Reaktion eines Tages versuchen werde, dieser Entwicklung mit Gewalt durch einen Staatsstreich Einhalt zu gebieten: „Und da ist nur ein Mittel, wodurch das stetige Anschwellen der sozialistischen Streitkräfte in Deutschland momentan aufgehalten und selbst für einige Zeit zurückgeworfen werden könnte: ein Zusammenstoß auf großem Maßstab mit dem Militär, ein Aderlaß wie 1871 in Paris.“4) !) a. a. 0., S. 118.

2) a. a. 0., S. 119.

3) a. a. 0., S. 120.

4) a. a. 0„ S. 120.

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Engels sieht diese mögliche Entwicklung jedoch durchaus nicht als etwas Erstrebenswertes an, er warnt davor, diese Entwicklung zu provozieren: „Die normale Entwicklung wäre gehemmt, der Gewalthaufe wäre vielleicht im kritischen Moment nicht verfügbar, der Entscheidungskampf würde verspätet, ver¬ längert und mit schwereren Opfern verknüpft.“1)

Engels zieht das Fazit aus dieser Analyse, indem er den unaufhalt¬ samen Prozeß der Entwicklung des Sozialismus zur Massenpartei mit dem siegreichen Vordringen des Christentums im römischen Reich vergleicht, der schließlich mit der Proklamation des Christentums zur Staatsreligion durch Konstantin geendet habe. „Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die .Revolutionäre', die .Umstürzler1, wir gedeihen weit besser hei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand.“2)

Diese Gedanken führen doch sehr stark in die Nähe der Bernsteinschen These vom .friedlichen Hineinwachsen des Sozialismus in den Kapitalismus“, jenem umstrittenen Zentralstück der revisionistischen Theorie, auch wenn Engels den schließlichen Eintritt der revolutionären gewaltsamen Erhebung hier noch nicht leugnet, wie dies später die Revisionisten taten. Aber indem Engels diesen Tag des Endkampfes in eine weite Ferne rückt und in der Zwischenzeit zur Besonnenheit mahnt, trägt er wesentlich dazu bei, daß Strategie und Taktik revisionistischer Politik in der Gegenwart nun auch in der Theorie mehr und mehr Raum gewinnen. So beruft sich Bernstein in seiner Zuschrift an den Stuttgar¬ ter Parteitag der SPD 1898 ausdrücklich auf dieses Engelssche Vorwort, um sich von dem Vorwurf der Ketzerei zu reinigen. Er meint, daß Engels damit die Katastrophentheorie ad acta gelegt habe: „Engels ist so sehr von der Überlebtheit der auf die Katastrophen zugespitzten Taktik überzeugt, daß er auch für die romanischen Länder, wo die Tradition ihr viel günstiger ist als in Deutschland, eine Revision von ihr hinweg für geboten hält. .Haben sich die Bedingungen für den Völkerkrieg geändert, so nicht minder für den Klassenkampf1, schreibt er. Hat man das schon vergessen?“3)

Auch in späteren Schriften beruft sich Bernstein immer wieder auf dieses Vorwort. b a. a. 0., S. 120.

2) a. a. 0., S. 120.

3) Abgedruckt im Vorwort zur ersten Auflage der „Voraussetzungen“. Hier zitiert nach: Eduard Bernstein, „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, 2. Aufl., Neue Ausg., Stuttgart/Berlin 1921 (1), S. 8f.

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Weitere Zeugnisse einer gewissen Abkehr des späten Engels von einer starren Marx-Orthodoxie sind seine Briefe an Josef Bloch, den späteren Herausgeber der „Sozialistischen Monatshefte“, des Organs des Revi¬ sionismus, vom 21. 9. 1890, an Conrad Schmidt, der später ebenfalls als revisionistischer Politiker und Publizist hervortrat, vom 27. 10. 1890, sowie an Heinz Starkenburg v. 25. 1. 18941). Bei diesen Briefen handelt es sich um Interpretationen des historischen Materialismus, genauer gesagt: des Verhältnisses von ökonomischem Unterbau und politischem, juristischem und geistigem Überbau. Engels betont dort das Eigengewicht der nicht-ökonomischen Faktoren im Geschichtsprozeß. „Nach materialistischer Geschiehtsauffassung ist das in letzter Instanz bestim¬ mende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig Bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaues — politische Formen des Klassenkampfes

und seine

Resultate —- Verfassungen, nach gewonnener

Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. — Rechtsformen und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiter¬ entwicklung zu Dogmensystemen — üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades ... Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten den Gegnern gegenüber das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines historischen Abschnitts, also zur praktischen An¬ wendung kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich. Es ist aber leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich

2) Abgedruckt in „Dokumente des Sozialismus, Hefte für Geschichte, Urkunden und Bibliographie des Sozialismus“, herausgegeben von Eduard Bernstein, II, Stuttgart 1903, S. 65 ff.

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manchem der neueren .Marxisten1 nicht ersparen, und es ist da dann auch wunder¬ bares Zeug geleistet worden.“1)

An Conrad Schmidt schreibt er: ,,Es ist Wechselwirkung zweier ungleicher Kräfte, der ökonomischen Bewegung auf der einen, der nach möglichster Selbständigkeit strebenden und weil einmal eingesetzten, auch mit einer Eigenbewegung begabten neuen politischen Macht; die ökonomische Bewegung setzt sich im ganzen und großen durch, aber sie muß auch Rückwirkung erleiden von der durch sie selbst eingesetzten und mit relativer Selb¬ ständigkeit begabten politischen Bewegung ... Was den Herren allen fehlt, ist Dialektik. Sie sehen stets nur hier Ursache, dort Wirkung. Daß dies eine hohle Abstraktion ist, daß in der wirklichen Welt solche metaphysische polare Gegensätze nur in Krisen existieren, daß der ganze große Verlauf aber in der Form der Wechselwirkung — wenn auch sehr ungleichen Kräfte, wovon die ökonomische Bewegung weitaus die stärkste, ursprünglichste, entscheidenste — vor sich geht, daß hier nichts absolut und alles relativ ist, das sehen sie nun einmal nicht. Für sie hat Hegel nicht existiert.“2)

Und in dem Brief an Heinz Starkenburg heißt es: ..Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch auf¬ einander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.“3)

Auch hieran wird Bernstein anknüpfen. Er setzt eine Stelle aus dem Brief von Bloch als Motto über einen Abschnitt des ersten Kapitels der „Voraussetzungen“ und interpretiert in diesem Abschnitt die drei Briefe ausführlich. Bernstein wird allerdings zu Folgerungen gelangen, die weit über Engels hinausreichen und schließlich das System des historischen Materialismus sprengen. Endlich finden sich in der Kritik Engels’ am ersten Entwurf des Erfurter Programms4) einige Passagen, die zumindest in die Richtung des Revisionismus weisen, wenn auch die gesamte Stellungsnahme Engels’ sich durchaus im Rahmen des historischen Materialismus hält. Interes¬ sant ist vor allem seine Kritik an der folgenden Stelle des Programment¬ wurfs: „Immer größer wird die Zahl und das Elend der Proletarier.“ Engels bemerkt dazu: „Dies ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation der Arbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird dem Wachstum des Elends möglicherweise einen 1) a. a. 0., S. 72ff.

2) a. a. 0., S. 67ff.

3) a. a. O., S. 74.

4) Abgedruckt in: „Die Neue Zeit — Wochenschrift der deutschen Sozialdemo¬ kratie.“ XX. Jahrgang, I. Band, Nr. 1, 1901/02, S. 5ff.

Um den Einklang von Theorie und Praxis

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gewissen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst, ist die Unsicherheit der Existenz. Das würde ich hineinsetzen.“1)

Bernsteins Kritik an der Marxschen Verelendungstheorie scheint zu¬ mindest in nuce hier bei Engels vorhanden zu sein. Engels nimmt in dieser Programmkritik auch Stellung zur Frage des Weges zum Sozialis¬ mus. Er polemisiert zwar gegen die Annahme, die heutige Gesellschaft wachse in den Sozialismus hinein, macht aber die Einschränkung, daß diese These nur für die deutschen Verhältnisse nicht zutreffe. Anders sei es in den westlichen Demokratien: „Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volkes hinter sich hat; in demokratischen Republiken wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie England ... Aber in Deutschland, wo die Regierung fast all¬ mächtig und der Reichstag und alle anderen Vertretungskörper ohne wirkliche Macht, in Deutschland so etwas proklamieren und noch dazu ohne Not, heißt das Feigenblatt dem Absolutismus abnehmen und sich selbst vor die Blöße binden.“2)

Der entscheidende Einwand gegen den Bevisionismus, er übertrage allzu schematisch englische Verhältnisse auf die Situation des wilhelmi¬ nischen Deutschlands, ist hier von Engels bereits vorweggenommen; aber Engels gibt immerhin die Möglichkeit des „friedlichen Hinein¬ wachsens“ — wie er wörtlich schreibt — zumindest theoretisch für die westlichen Demokratien zu. Ansätze von Bernsteins Marxismuskritik werden also bereits beim späten Engels sichtbar. Bernsteins erste kritische Veröffentlichung, die Aufsatzreihe „Probleme des Sozialismus“ (1896—1898) stellt zunächst noch vor allem einzelne Prognosen Marx’ in Frage; der entscheidende Schritt über Marx hinaus erfolgt eigentlich erst in dem 1899 erscheinen¬ den Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ und in der kleinen Schrift aus dem Jahre 1901 „Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?“ Bernsteins Kritik an ein¬ zelnen Prognosen des Marxismus erklärt sich nicht nur aus der Einsicht in die politische Situation des Deutschland der neunziger Jahre, die durch Wahlerfolge der deutschen Sozialdemokratie gekennzeichnet ist und, wie wir sahen, auch auf Engels ihre Wirkung nicht verfehlte, sondern ebenso¬ sehr aus dem Eindruck der ökonomischen Verhältnisse im damaligen Deutschland. Die neunziger Jahre waren eine ausgesprochene Prosperi¬ tätsperiode; keine große Krise erschütterte das stetige Wachstum der x) a. a. 0., S. 7. Marxismusstudien II

2) a. a. 0., S. 10. 14

210

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deutschen Volkswirtschaft. Die Voraussage des Erfurter Programms: „Immer massenhafter wird die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer umfangreicher und verheerender werden die im Wesen der kapitalisti¬ schen Produktionsweise begründeten Krisen“, stand im krassen Gegen¬ satz zur ökonomischen Wirklichkeit dieser Jahre, denn auch die Arbeiter hatten am allgemeinen Wirtschaftsaufschwung durchaus Anteil. Bern¬ stein, der einmal von sich selber sagte: „Die entscheidenden Einflüsse auf mein sozialistisches Denken waren nicht doktrinärer Art, sondern Tat¬ sachen, die mich nötigten, meine ideellen Grundlagen zu korrigieren“, der wohl unter dem Eindruck englischen Lebensgefühls der Wirklichkeit vorurteilsfreier gegenüberstand als andere Marxisten, wie etwa Kautsky, mußte diese Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit drückend empfinden. So richtet sich seine Kritik zunächst vor allem gegen die Prognose der wachsenden Verelendung des Proletariats und die damit eng verbundene Ansicht von der Verschärfung der kapitalistischen Krisen und dem daraus folgenden baldigen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems. Bernstein glaubt demgegenüber in seinen auf sorgfältige statistische Angaben gestützten Untersuchungen festzustellen, daß der Kapitalismus aus sich selbst eme Reihe von stabilisierenden Faktoren entwickelt habe, die einen baldigen Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft höchst unwahrscheinlich machten. Mit der Steigerung der Produktion gehe eine Steigerung des Massenkonsums und damit auch eine Erhöhung des Realeinkommens der Arbeiterschaft Hand in Hand. „Was die moderne Produktionsweise vor allem auszeichnet, ist die große Er¬ höhung der Produktivkraft der Arbeit. Die Wirkung ist eine nicht minder große Steigerung der Produktion — Massenproduktion von Gebrauchsgütern. Wo bleibt dieser Reichtum? ... Die ,Kapitalmagnaten1 möchten zehnmal so große Bäuche haben, als der Volkswitz ihnen nachsagt, und zehnmal soviel Bedienung halten, als sie in Wirklichkeit tun; gegenüber der Masse des jährlichen Nationalprodukts — man vergegenwärtige sich, daß ja die kapitalistische Großproduktion vor allem Massenproduktion ist — wäre ihr Konsum immer noch wie eine Feder in der Waage.“1)

Bernstein entdeckt einen der Verelendung genau entgegengesetzten Trend. Ähnliches gelte für die angebliche Verschärfung der Krisen. Bernstein fragt, „Ob nicht die gewaltige räumliche Ausdehnung des Weltmarkts im Verein mit der außerordentlichen Verkürzung der für Nachrichten- und Transportverkehr

x) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 89f.

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erforderlichen Zeit die Möglichkeiten des Ausgleichs von Störungen so vermehrt, der enorm gestiegene Reichtum der europäischen Industriestaaten im Verein mit der Elastizität des modernen Kreditwesens und dem Aufkommen der industriellen Kartelle die Rückwirkungskraft örtlicher und partikularer Störungen auf die allgemeine Geschäftslage so verringert haben, daß wenigstens für eine längere Zeit allgemeine Geschäftskrisen nach Art der früheren überhaupt als unwahrscheinlich zu betrachten sind.“1)

An einer anderen Stelle heißt es: „Die Intervalle zwischen den einzelnen Prosperitätsperioden haben sich ver¬ kleinert. Die Intervalle zwischen den Depressionsperioden sind größer geworden.“2)

Bernstein setzt sich in diesem Zusammenhang mit Rosa Luxemburgs 1898 in der „Leipziger Volkszeitung“ erschienenen Aufsatzreihe „Sozial¬ reform oder Revolution“ auseinander und wendet sich dabei auch gegen deren Annahme, daß zwar die Expansion der Weltmärkte den Zusammen¬ bruch des Kapitalismus verzögern, daß aber das Ende dieser Expansion auch das Ende des Kapitalismus bedeuten werde, also gegen die Anfänge der Imperialismustheorie Rosa Luxemburgs: „Es läßt sich noch gar nicht absehen, wann der Weltmarkt im großen und ganzen ausgebildet sein wird. Es ist ja doch Rosa Luxemburg nicht unbekannt, daß es nicht nur eine extensive, sondern auch eine intensive Erweiterung des Weltmarktes gibt, und die letztere heute von viel größerem Gewicht ist, wie die erstere.“3)

Ein krisendämpfender Faktor ersten Ranges ist für Bernstein vor allem die Entwicklung der Kartelle. Er ist weit entfernt davon, diese Entwick¬ lung als günstig für den Sozialismus zu begrüßen — etwa im Sinne der Parole „Über die kapitalistischen Kartelle zum sozialistischen Generalkartell“ —, aber er sieht die Gefahren der Kartelle weniger auf ökonomi¬ schem als auf politischem Gebiet: „Virtuell trägt das kapitalistische Abwehrmittel gegen die Krise die Keime zu neuer, verstärkter Hörigkeit der Arbeiterklasse in sich, sowie zu Produktions¬ privilegien, die eine verschärfte Form der alten Zunftprivilegien darstellen.“4)

Ein weiterer Stabilisierungsfaktor, der sich mit dem Marxschen Schema der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft nicht in Einklang bringen läßt, ist für Bernstein die wachsende Differenzierung der Gesell¬ schaft. Die Entwicklung gehe nicht in Richtung der Konzentration auf zwei einander schroff gegenüberstehende Klassen, hier die ständig 4) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 113f. 2) Eduard

Bernstein,

Revisionismus

und

Programmrevision,

Sozialistische

Monatshefte, XIII, 1 (1909), S. 403 ff. 3) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 120 4) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 127. 14*

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wachsende Zahl der Proletarier, dort die an Zahl kleiner, an Reichtum größer werdenden Kapitalisten, sondern in Richtung einer Differen¬ zierung der Klassen. Bernstein versucht an Hand von eingehenden Sta¬ tistiken nachzuweisen, daß der Mittelstand sich dem Trend zum Gro߬ betrieb erfolgreich widersetze. „Wenn der unablässige Fortschritt der Technik und Zentralisation der Betriebe in einer zunehmenden Zahl von Industriezweigen eine Wahrheit ist, deren Bedeu¬ tung sich heute kaum noch verbohrte Reaktionäre verschweigen, so ist es eine nicht minder feststehende Wahrheit, daß in einer ganzen Reihe von Gewerbszweigen kleinere und Mittelbetriebe sich neben Großbetrieben durchaus lebensfähig erweisen. Es gibt auch in der Industrie keine Entwicklung nach einer für alle Gewerbe gleich¬ mäßig geltenden Schablone.“1)

Der Konzentrationsprozeß setze sich vor allem nicht durch im Dienst¬ leistungsgewerbe (Bernstein erkennt schon die Bedeutung des Reparatur und des hilfswirtschaftlichen Betriebs), im Handel und ganz besonders in der Landwirtschaft. Der bäuerliche Mittelbetrieb erweise sich sogar als der dem Großbetrieb überlegenere. Über die Agrarfrage wurden um diese Zeit, genau gesagt ab 1894, innerhalb der deutschen Sozialdemokratie besonders heftige Kontroversen ausgefochten. Kautskys Buch „Die Agrarfrage“ von 1898 ging noch von der Annahme einer parallelen Ent¬ wicklung der Konzentration in Industrie und Landwirtschaft aus, wäh¬ rend Eduard David in seinem ganz im Geiste Bernsteins geschriebenen Buch „Sozialismus und Landwirtschaft“ (1903 erschienen) eine Eigen¬ gesetzlichkeit der landwirtschaftlichen Entwicklung nachzuweisen ver¬ suchte. Für David wie auch für andere sozialdemokratische Politiker dieser Zeit, so Georg von Yollmar, die sich auf bäuerliche Wähler stützen mußten, war es geradezu eine politische Lebensfrage, hier theoretische Klarheit zu erzielen. Sie konnten schwerlich vor die Klein- und Mittel¬ bauern hintreten und versuchen, diese mit dem Argument „Ihr seid zum Untergang verurteilt“ für die Sache der Sozialdemokratie zu gewinnen. Bernstein sieht auch schon das Aufkommen eines neuen Mittelstandes, der Angestellten und der Beamten, und verweist auf die Wichtigkeit, diese neue Schicht für die Arbeiter als Bundesgenossen zu gewinnen. Nicht nur in der Klassenschichtung, auch in der Einkommensverteilung glaubt Bernstein einen Differenzierungs- und keinen Konzentrationsprozeß nachweisen zu können. Als Beweis dafür sieht er die wachsende Streuung des Aktienbesitzes an, die ebenfalls die Weiterexistenz einer Mittelklasse 0 Bernstein, a. a. 0., (1), S. 98.

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begünstige1). Bernstein kommt auf Grund all dieser neuen Entwicklungen zu dem Schluß: „Wenn der Zusammenbruch der modernen Gesellschaft vom Schwinden der Mittelglieder zwischen Spitze und Boden der sozialen Pyramide abhängt, wenn er bedingt ist durch die Aufsaugung dieser Mittelglieder von den Extremen über und unter ihnen, dann ist er in England, Deutschland, Frankreich heute seiner Verwirk¬ lichung nicht näher als zu irgend einer früheren Epoche im neunzehnten Jahr¬ hundert.“2)

An anderer Stelle: „Ich leugne in keiner Weise, daß ein Klassenkampf in der modernen Gesellschaft besteht. Ich wende mich nur gegen die stereotype Auffassung dieses Kampfes und gegen die Behauptung, daß er immer schärfere Formen annehmen müsse.“3)

Bei seiner Beschäftigung mit den ökonomischen Theorien des Marxis¬ mus kommt Bernstein um eine Auseinandersetzung mit der Arbeitswert¬ lehre nicht herum. Aber der Empiriker Bernstein tut dieses Problem mit ein paar Sätzen ab, für ihn ist die ganze Wertlehre eine „Abstraktion“, die für die Frage nach der Begründung des Sozialismus völlig irrelevant sei. Der Wert sei eine, wie er schreibt, „rein gedankliche Tatsache“. Das gelte sowohl für die Marxsche Arbeitswertlehre wie für die um diese Zeit aufkommende Grenznutzentheorie der österreichischen Schule, der er offensichtlich mit Sympathie gegenübersteht. Bernstein sagt dazu: „Auf die Tatsache allein, daß der Lohnarbeiter nicht den vollen Wert des Produkts seiner Arbeit erhält, ist eine wissenschaftliche Begründung des Sozialismus oder Kommunismus nicht durchzuführen ... Die Wertlehre gibt so wenig eine Norm für die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Verteilung des Arbeitsprodukts wie die Atomlehre eine solche für die Schönheit oder Verwerflichkeit eines Bild¬ werks.“4)

Mit einem Ausdruck wie „Norm für die Gerechtigkeit oder Ungerech¬ tigkeit der Verteilung“ schlägt Bernstein einen neuen Ton an; für ihn ist das Problem der Ausbeutung nicht mit ökonomischen, sondern mit ethischen Kategorien zu messen: „Ausbeutung, wo es sich um Beziehungen von Menschen zu Menschen handelt, heißt immer sittlich verwerfliche Ausnutzung, heißt — worauf schon der sprach1) Hier hat Bernstein allerdings die Bedeutung der kleinen und mittleren Aktio¬ näre in der modernen Wutschaft bei weitem überschätzt. Den Prozeß der Konzen¬ tration der Verfügungsgewalt, also das, was wir heute als Managerproblem be¬ zeichnen, konnte er noch nicht sehen. 2) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 108. 3) Eduard Bernstein, Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus, Berlin 1901, (2), S. 389. 4) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 82.

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liehe Zusammenhang mit dem Wort Beute hindeutet — Raub in verkleideter Form.“1)

Damit aber ist Bernstein an einem entscheidenden Punkt angelangt. Die Kritik an Einzelprognosen des Marxismus bedeutet noch keine Sprengung des Systems des historischen Materialismus. Man kann sie — für sich genommen — als eine durch die Macht der Tatsachen verur¬ sachte neue Ansicht über das Tempo des Geschichtsprozesses ansehen, eines Prozesses, an dessen Ende jedoch nach wie vor notwendig der Sozialismus steht. Bernstein ist über diese „kleine Revision“ hinaus¬ gegangen und hat damit den Kern des Marxismus in Frage gestellt. Schon in den „Voraussetzungen“ wendet er sich sowohl gegen die Auffassung von der einseitig ökonomischen Determiniertheit des Geschichtsprozesses wie gegen die Dialektik. Er knüpft an Engels’ schon zitierte Briefe an Josef Bloch und Conrad Schmidt an, geht aber in der Betonung der Bedeutung nicht-ökonomischer Faktoren für den Geschichtsprozeß weit über Engels hinaus und stellt sie gleichberechtigt neben die Produktiv¬ kräfte und Produktionsverhältnisse. Er glaubt damit eine Entwicklung nur fortzusetzen, die schon beim späten Marx und beim späten Engels ihren Anfang genommen habe. „Wer heute die materialistische Geschichtstheorie anwendet, ist verpflichtet, sie in ihrer ausgebildetsten und nicht in ihrer ursprünglichen Form anzuwenden, das heißt, er ist verpflichtet, neben der Entwicklung und dem Einfluß der Produktiv¬ kräfte und Produktionsverhältnisse den Rechts- und Moralbegriffen, den geschicht¬ lichen und religiösen Traditionen jeder Epoche, den Einflüssen von geographischen und sonstigen Natureinflüssen, wozu denn auch die Natur des Menschen selbst und seiner geistigen Anlagen gehört, voll Rechnung zu tragen. Es ist das ganz besonders da im Auge zu behalten, wo es sich nicht mehr bloß um reine Erforschung früherer Geschichtsepochen, sondern schon um Projizierung kommender Entwicklungen handelt, wo die materialistische Geschichtsauffassung als Wegweiser für die Zu¬ kunft helfen soll ... Jedenfalls bleibt die Vielheit der Faktoren, und es ist keineswegs immer leicht, die Zusammenhänge, die zwischen ihnen bestehen, so genau bloßzulegen, daß sich mit Sicherheit bestimmen läßt, wo im gegebenen Falle die jeweilig stärkste Trieb¬ kraft zu suchen ist. Die rein ökonomischen Ursachen schaffen zunächst nur die Anlage zur Aufnahme bestimmter Ideen, wie aber diese dann aufkommen und sich ausbreiten, und welche Form sie annehmen, hängt von der Mitwirkung einer ganzen Reihe von Einflüssen ab. Man tut dem historischen Materialismus mehr Abbruch, als man ihm nützt, wenn man die entschiedene Betonung der Einflüsse anderer als rein ökonomischer Natur und die Rücksicht auf andere ökonomische Faktoren als

J) Eduard Bernstein, Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?, Berlin 1901, (3), S. 12.

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die Produktionstechnik und ihre vorausgesehene Entwicklung von vornherein als Eklektizismus vornehm zurückweist.“1)

Mit dieser Auffassung aber ist die Brücke zur sogenannten „bürgerlieben“ Soziologie geschlagen. Max Webers berühmte Sätze am Schluß seines ersten Protestantismus-Aufsatzes meinen im Grund nichts an¬ deres2). Über diese Gemeinsamkeit der Grundeinstellung hinaus hat sich bei der Untersuchung einer bestimmten Geschichtsepoche, der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, eine unmittelbare enge Zusammenarbeit zwischen Bernstein und Max Weber ergeben. 1895 erschien Bernsteins historisches Werk „Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution“. Man kann es als die Anwendung von Bernsteins revidiertem historischem Materialismus auf ein bestimmtes Forschungsobjekt be¬ trachten. Bernstein untersucht vor allem darin die Rolle John Lilburnes und der Leveller in der englischen Revolution. Max Weber weist in seinen beiden Protestantismus-Aufsätzen, die etwa 10 Jahre nach Bern¬ steins Buch entstanden, in Anmerkungen nicht weniger als sechsmal auf den, wie er sagt, „ausgezeichneten Essay“ Bernsteins, auf dessen „vor¬ treffliche Ausführungen“ hin. Bezeichnend ist, daß Max Weber im Gegen¬ satz dazu an der gleichen Stelle Kautskys Darstellung der wiedertäuferischen Bewegung in dessen „Vorläufern des Sozialismus“ für „äußerst schematisch“ hält3). Max Weber gibt zu, daß eine seiner Grundeinsichten, der Zusammen¬ hang zwischen Kapitalbildung und asketischem Sparzwang, bereits von Bernstein vorweggenommen wurde: „Seine Ausführungen sind die ersten, die diese wichtigen Zusammenhänge überhaupt angedeutet haben. Nur ist der Zusammenhang ein viel umfassenderer, als er vermutet, denn nicht die bloße Kapitalakkumulation, sondern die asketische Rationalisierung des gesamten Berufslebens war das Entscheidende.“4) 4) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 37ff. 2) „Obwohl der moderne Mensch im ganzen selbst beim besten Willen nicht imstande zu sein pflegt, sich die Bedeutung, welche religiöse Bewußtseinsinhalte auf die Lebensführung, die Kultur und die Volkscharaktere gehabt haben, so groß vor¬ zustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist — so kann es dennoch nicht die Absicht sein, anstelle einer einseitig „materialistischen“ eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen, beide sind gleich möglich, aber mit beiden ist, wenn sie nicht Vorarbeit, sondern Abschluß der Untersuchung zu sein beanspruchen, der historischen Wahrheit gleich wenig gedient.“ (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 4. Auflage, Tübingen 1947, S. 204f.) 3) Max Weber, a. a. 0., S. 88, 156, 160, 192f., 202, 219. 4) Max Weber, a. a. 0., S. 192f.

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In der Rezeption von Teilerkenntnissen des historischen Materialismus durch die „bürgerliche“ Soziologie bildet Bernstein somit ein äußerst wichtiges Verbindungsglied. Nicht fertig geworden ist Bernstein mit dem Problem der Dialektik. Was er im zweiten Kapitel der „Voraussetzungen: „Der Marxismus und die Hegelsche Dialektik“ darüber sagt, mutet geradezu grotesk an und beweist, daß Bernstein das Problem überhaupt nicht begriffen hat. Er deutet es rein empirisch und versteht darunter eine Entwicklung in gewaltsamen Sprüngen, im Gegensatz zur friedlichen Evolution; er erblickt in der Dialektik einen „Wunderglauben an die schöpferische Kraft der Gewalt“, sie ist für ihn das „Verräterische“ in der Marxschen Doktrin, „der Fallstrick“, der aller folgerichtigen Betrachtung der Dinge im Wege liege. Und so stellt er lapidar fest: „Was Marx und Engels Großes geleistet haben, haben sie nicht vermöge der Hegelschen Dialektik, sondern trotz ihrer geleistet.“1)

Und an anderer Stelle schreibt er: „Ich bin nicht der Ansicht, daß der Kampf der Gegensätze die Grundlage jeder Entwicklung ist, das Zusammenwirken von verwandten Kräften ist ebenfalls von großer Bedeutung.“2 3)

Andererseits ist es geradezu rührend, zu sehen, wie Bernstein dennoch Hegel, den er im Grunde nicht verstanden hat, seine Reverenz erweist. „Schließlich sei hier noch erklärt, daß es mir selbstverständlich nicht einfällt, Hegel selbst hier kritisieren zu wollen, noch die großen Dienste zu bestreiten, die dieser bedeutende Denker der Wissenschaft geleistet hat. Ich habe es nur mit seiner Dialektik zu tun, wie sie auf die sozialistische Theorie von Einfluß gewesen ist.“*)

Daß Bernstein keine Beziehung zu Hegel hatte, ist nicht verwunder¬ lich, das gleiche gilt für seine Zeitgenossen, auch Kautsky ist ja mit der Dialektik nicht fertig geworden. Diese ganze Generation sozialistischer Theoretiker war vom philosophischen Denken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit entfernt. Für sie war die Naturwissenschaft, Darwins Lehre vor allem, Königin der Wissenschaft, nicht aber die Philosophie. Auch Bernsteins Wissenschaftsbegriff ist aufs stärkste naturwissenschaftlich gefärbt, wenn er auch nicht einer biologischen Metaphysik wie Kautsky huldigte. Diese Entwicklung beginnt schon bei Engels und setzt sich über Kautsky bis zu Lenin fort. Daß Bernstein den x) Eduard Bernstein, a. a. 0„ (1), S. 71. 2) Eduard Bernstein, a. a. 0., (2), S. 347. 3) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 53.

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historischen Materialismus stark durch die Brille Engels’ betrachtet, zeigt seine Charakterisierung der materialistischen Geschichtsauffassung in den „Voraussetzungen“: ,,Die Frage nach der Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung ist die Frage nach der geschichtlichen Notwendigkeit und ihren Ursachen. Materialist sein, heißt zunächst, alles Geschehen auf notwendige Bewegung der Materie zurück¬ zuführen. Die Bewegung der Materie vollzieht sich nach der materialistischen Lehre mit Notwendigkeit als ein mechanischer Prozeß. Kein Vorgang ist da, ohne seine von vornherein notwendige Wirkung, kein Geschehen ohne seine materielle Ursache. Es ist also die Bewegung der Materie, welche die Gestaltung der Ideen- und Willens¬ richtungen bestimmt, und so sind auch diese und damit alles Geschehen in der Menschen weit materiell notwendig. So ist der Materialist ein Calvinist ohne Gott. Wenn er an keine von einer Gottheit verfügte Vorherbestimmung glaubt, so glaubt er doch und muß er glauben, daß von jedem beliebigen Zeitpunkt an alles weitere Geschehen durch die Gesamtheit der gegebenen Materie und die Kraftbeziehungen ihrer Teile im voraus bestimmt ist.“1)

An die Stelle der Dialektik tritt sowohl bei Kautsky wie bei Bernstein die Evolution analog den Gesetzen der Naturwissenschaft, bei Kautsky vor allem der Biologie. Was Bernstein aber von Kautsky trennt — und erst damit vollzieht er den eigentlichen Schritt über die Marxsche Geschichtsmetaphysik hinaus —, ist, daß er diese Evolution nicht als determinierten Prozeß begreift, an dessen Ende der Sozialismus steht, sondern daß er überhaupt ein erkennbares Ziel des Geschichtsprozesses leugnet. Diesen Schritt macht er noch nicht in den „Voraussetzungen“, seine Stellung zur historischen Notwendigkeit ist dort noch nicht klar. Er spricht zwar von Tendenzen statt von Gesetzen und meint, daß der Mensch mehr und mehr dazu komme, die ökonomische Entwicklung zu leiten: „Wie die physische wird auch die ökonomische Naturmacht in dem Maße von der Herrscherin zur Dienerin der Menschen, als ihr Wesen erkannt ist.“2)

Der Bruch jedoch vollzieht sich erst in dem Vortrag „Wie ist wissen¬ schaftlicher Sozialismus möglich?“, den Bernstein 1901, kurz nach seiner Rückkehr aus England, in Berlin gehalten hat. Bernstein wählt bewußt die Kantische Fragestellung. Er knüpft an die Behauptung vom notwen¬ digen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems an und fragt dann: „Man kann bei dem Satz an einen unvermeidlichen ökonomischen Zusammen¬ bruch, an eine große wirtschaftliche Katastrophe, man kann aber auch an einen

x) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 33. 2) Bernstein, a. a. O., (1), S. 40.

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großen Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung denken, die auf der kapi¬ talistischen Produktionsweise beruht, und dazwischen sind noch allerhand Kombi¬ nationen denkbar. Und dann, ist der Zusammenbruch überhaupt als notwendig bewiesen, ist er wissenschaftlich beweisbar? Oder ist er nicht vielleicht doch nur eine mehr oder minder wahrscheinliche Annahme? Und weiter, folgt aus dem Zusam¬ menbruch der kapitalistischen Produktionsweise schon mit wissenschaftlicher Notwendigkeit der Sozialismus? Das sind alles Fragen, die wir zu beantworten oder über deren Tragweite wir uns klarzuwerden haben, wenn wir die Wissenschaftlich¬ keit des Sozialismus festzustellen suchen. Alle geschichtliche Erfahrung spricht und viele Erscheinungen der Gegenwart zeugen dafür, daß die kapitalistische Produk¬ tionsweise so gut vergänglich ist wie frühere Produktionsweisen; aber hier handelt es sich um die Frage, ob ihr Ende ein Zusammenbruch sein wird, ob dieser Zu¬ sammenbruch in näherer Zukunft zu erwarten ist und ob er mit Notwendigkeit zum Sozialismus führt.“1)

Bernstein wirft in diesem Vortrag den Determinismus über Bord und verlegt die Begründung des sozialistischen Kampfes aus der Seins- in die Sollenssphäre — unter Rückgriff auf den Utopismus. Das geschieht philosophisch unzulänglich; auch hier bleibt Bernsteins Wissenschafts¬ begriff stark naturwissenschaftlich gefärbt. Bernstein faßt sein Urteil wie folgt zusammen: „Wissenschaft ist, wenn wir den Begriff streng fassen, lediglich das systematisch geordnete Wissen. Wissen heißt Erkenntnis der wahren Beschaffenheit und Bezie¬ hungen der Dinge. Und da es, je nach dem Stande der Erkenntnis, stets nur eine Wahrheit gibt, kann es auf jedem Wissensgebiet nur eine Wissenschaft geben. Hinsichtlich der sogenannten exakten Wissenschaften ist dies allgemein anerkannt. Es wird heute niemand einfallen, von einer liberalen Physik, einer sozialistischen Mathematik, einer konservativen Chemie etc. zu reden. Aber steht es mit der Wissenschaft der Menschheitsgeschichte und der menschlichen Einrichtungen anders? Ich kann das nicht zugeben und halte eine liberale, konservative oder sozialistische Sozialwissenschaft für einen Widersinn. Soziale und politische Doktrinen unterscheiden sich u. a. dadurch von den ent¬ sprechenden Wissenschaften, daß sie gerade da abgeschlossen sind, wo jene offen¬ bleiben. Sie stehen unter dem Diktat bestimmter Zwecke, bei denen es sich nicht um ein Erkennen, sondern um ein Wollen handelt, und die ihnen, selbst wenn sie in gewissen Punkten neuen Erkenntnissen Raum offenlassen, den Charakter des Fertigen und Dauernden verleihen.“2)

Im Anschluß an Labriola schlägt Bernstein die Bezeichnung „Kri¬ tischer Sozialismus“ vor, kritisch — wie er sagt — im Sinne von Kants wissenschaftlichem Kritizismus. Für Bernstein ist der Sozialismus Postulat und Programm, nicht wissenschaftliche Erkenntnis in jenem

1) Bernstein, a. a. 0., (3), S. 15f. 2) Bernstein, a. a. O., (3), S. 32f.

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engen Sinne, wie er sie auffaßt. Er unterläßt es, Begriffe wie Postulat, Programm, Doktrin näher zu begründen, dafür fehlen ihm die philo¬ sophischen Voraussetzungen. Aber dieser Vortrag Bernsteins ist dennoch ein Markstein. Er ist ein Vorläufer der Bemühungen, die Ivantische Ethik für die Begründung des Sozialismus fruchtbar zu machen. Bern¬ stein ersehnt schon in den „Voraussetzungen“ einen Kant für die Sozial¬ demokratie. Er meint, „daß der Sozialdemokratie ein Kant not tut, der einmal mit der überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht geht, der aufzeigt, wo ihr scheinbarer Materialismus die höchste und darum am leichtesten irreführende Ideologie ist, daß die Verachtung des Ideals, die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten Mächten der Entwicklung Selbsttäuschung ist, die von jenen, die sie verkünden, durch die Tat bei jeder Gelegenheit selbst als solche aufgedeckt ward und wird.“1)

Bernstein wird damit zum Vorläufer von Bemühungen, Kant für den Sozialismus zu gewinnen, weniger im Sinne Max Adlers2), sondern im Sinne Vorländers und Nelsons. Welche Schlußfolgerungen für die politische Praxis der SPD zieht nun Bernstein aus seinen theoretischen Einsichten? Zunächst weist er der Sozialdemokratie den Weg über das Parlament zur politischen Macht. Mit dieser These sagt er nichts Neues, seit 1890 war die SPD diesen Weg gegangen. Das Neue, was Bernstein verlangte, war die auch theoretische Anerkennung dieses in der Praxis schon längst gewählten Weges: „Die ganze praktische Tätigkeit der Sozialdemokratie geht darauf hinaus, Zu¬ stände und Vorbedingungen zu schaffen, die eine von konvulsivischen Ausbrüchen freie Überführung der modernen Gesellschaftsordnung in eine höhere ermöglichen und verbürgen sollen. Aus dem Bewußtsein, die Pioniere einer höheren Kultur zu sein, schöpfen ihre Anhänger immer wieder Begeisterung und Anfeuerung, in ihm ruht auch zuletzt der sittliche Rechtstitel der angestrebten gesellschaftlichen Expropriation. Die Klassendiktatur aber gehört einer tieferen Kultur an, und, abgesehen von der Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit der Sache, ist es nur als ein Rückfall, als politischer Atavismus zu betrachten, wenn der Gedanke erweckt

0 Bernstein, a. a. 0., (1), S. 256f. 2) Max Adlers Haltung kommt am klarsten und knappsten in dem folgenden Satz zum Ausdruck: „Die Bedeutung der Ethik Kants für den Sozialismus liegt nicht ... darin, worin man sie häufig erblickt hat, die Notwendigkeit seiner Forde¬ rungen als sittlich zu begründen, womit dann freilich das Grundprizip des soziali¬ stischen Marxismus aufgegeben wäre, eine kausal notwendige Entwicklung zum Sozialismus aufgezeigt zu haben.“ Max Adler, Studien zur Geistesgeschichte des Sozialismus, Stuttgart 1914, S. 64.

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wird, der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft müsse sich notwendigerweise unter den Entwicklungsformen einer Zeit vollziehen, welche die heutigen Methoden der Propagierung und Erzielung von Gesetzen noch gar nicht oder nur in ganz unvollkommener Gestalt kannte und der geeigneten Organe dazu entbehrte.“1)

Für Bernstein sind die entscheidenden Voraussetzungen, die auf Grund des Marxismus zur proletarischen Revolution führen, die Konzentration des Kapitals und das zahlenmäßige Wachstum der Arbeiterklasse, noch nicht erfüllt, ja es ist zweifelhaft, für ihn, ob sie je erfüllt werden. Auf Grund dieser Situation ist die erste Aufgabe der Sozialdemokratie die Erringung und Verbesserung der politischen Demokratie. Das führt ihn in die Nähe Lassalles, dessen gesammelte Reden und Schriften er in diesen Jahren herauszugeben beginnt. Er geht über Lassalle hinaus, denn für ihn ist der Sozialismus nichts anderes als Erbe des Liberalismus. „Was aber den Liberalismus als weltgeschichtliche Bewegung anbetrifft, so ist der Sozialismus nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach sein legitimer Erbe, wie sich das übrigens auch praktisch bei jeder prinzipiellen Frage zeigt, zu der die Sozialdemokratie Stellung zu nehmen hatte.“2)

Der entscheidende Fehler Bernsteins in der Beurteilung der deutschen Situation, den er mit vielen Sozialdemokraten seiner Zeit teilte, auch wenn sie sich in der Theorie noch so radikal gebärdeten, liegt in der allzu positiven Beurteilung der Erfolgschancen der Sozialdemokratie, im wilhelminischen Kaiserreich die politische Demokratie auf parlamen¬ tarischem Wege durchzusetzen. Bernstein schreibt dazu: „Die Erkämpfung der Demokratie, die Ausbildung von politischen und wirt¬ schaftlichen Organen der Demokratie ist die unerläßliche Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus. Wenn darauf erwidert wird, daß die Aussichten, dies ohne politische Katastrophe zu erringen, in Deutschland äußerst gering, ja so gut wie nicht vorhanden seien, daß das deutsche Bürgertum immer reaktionärer werde, so mag das für den Moment vielleicht richtig sein, obgleich manche Erschei¬ nungen auch dagegen sprechen. Aber es kann nicht auf die Dauer so sein. Das, was man Bürgertum nennt, ist eine sehr zusammengesetzte Klasse, aus allerhand Schichten mit sehr verschiedenartigen bzw. unterschiedenen Interessen bestehend. Diese Schichten halten auf die Dauer nur zusammen, wenn sie sich gleichmäßig bedrückt oder gleichmäßig bedroht sehen. Im vorliegenden Falle kann es sich natürlich nur um das letztere handeln, d. h„ daß das Bürgertum eine einheitliche reaktionäre Masse bildete, weil sich alle seine Elemente von der Sozialdemokratie gleichmäßig bedroht fühlen, die einen in ihren materiellen, die anderen in ihren

b Bernstein, a. a. 0., (1), S. 182. 2) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 184.

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ideologischen Interessen, in ihrer Religion, in ihrem Patriotismus, in ihrem Wunsche, dem Lande die Schrecken einer gewalttätigen Revolution zu ersparen. Das ist nun nicht nötig. Denn die Sozialdemokratie bedroht sie nicht alle gleich¬ mäßig und niemand als Person, und sie selbst schwärmt in keiner Weise für die gewalttätige Revolution gegen die gesamte nicht proletarische Welt. Je deutlicher dies gesagt und begründet wird, um so eher wird jene einheitliche Furcht weichen, denn viele Elemente des Bürgertums fühlen sich von anderer Seite bedrückt und würden lieber gegen diese, deren Druck auch auf der Arbeiterklasse lastet, als gegen die Arbeiter Front machen, lieber der letzteren als der ersteren Bundesgenossen sein. Sie mögen unsichere Kantonisten sein. Aber man erzieht schlechte Bundes¬ genossen, wenn man ihnen erklärt, wir wollen euch helfen, den Feind fressen, aber gleich hinterher fressen wir euch. Da es sich nun unter keinen Umständen um eine allgemeine gleichzeitige und gewalttätige Expropriation, sondern um die allmähliche Ablösung durch Organisation und Gesetz handelt, so würde es der demokratischen Entwicklung sicher keinen Abbruch tun, der tatsächlich veralteten Freßlegende auch in der Phrase den Abschied zu geben. Der Feudalismus mit seinen starren, ständischen Einrichtungen mußte fast überall mit Gewalt gesprengt werden. Die liberalen Einrichtungen in der modernen Gesellschaft unterscheiden sich gerade darin von jenen, daß sie biegsam, wandlungsund entwicklungsfähig sind. Sie brauchen nicht gesprengt, sie brauchen nur fortentwickelt zu werden.“1)

Wenige Jahre später ist dieser Optimismus bei Bernstein in diesem Grade nicht mehr vorhanden. Bernstein erkennt, daß in Deutschland auch notfalls außerparlamentarische Mittel eingesetzt werden müssen, um die politische Demokratie zu erkämpfen. In der Massenstreikdebatte des Jahres 1905 betrachtete er den Massenstreik als legitimes Mittel zur Erringung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen. Damit geht er über die offizielle Haltung der Partei zum politischen Massenstreik weit hinaus, die ihn allenfalls als Mittel zur Verteidigung des allgemeinen Reichstagswahlrechtes, falls es bedroht sein sollte, anwenden wollte2).

x) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 196f. 2) Vgl. dazu Eduard Bernstein, Der politische Massenstreik und die politische Lage der Sozialdemokratie in Deutschland, mit einem Anhang: Zwölf Leitsätze über den politischen Massenstreik, Breslau 1905. Darin heißt es u. a.: „Die Ent¬ wicklung der politischen Zustände in Deutschland und insbesondere in Preußen, dem führenden Staate Deutschlands, macht eine erneute Prüfung der Kampfmittel der Volksklassen für die Verteidigung bedrohter und die Eroberung andauernd vorenthaltener Rechte zu einer unabweisbaren Notwendigkeit ... Die Arbeiter¬ klasse kann jedoch in ihrem sozialen Befreiungskämpfe das Mittel des allgemeinen Wahlrechts nicht entbehren. Sie muß also ihre ganze Kraft daransetzen, es zu verteidigen, wo es bedroht ist, es zu erkämpfen, wo es ihr fehlt . .. Aus diesem Grunde ist der Streik auch zu einer im politischen Kampf verwendbaren Waffe geworden“ (S. 39).

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Im Gegensatz zu Rosa Luxemburg ist Bernstein allerdings nicht der Meinung, daß dadurch die allgemeine proletarische Revolution ausgelöst werden könne1). In dieser Auffassung wird er weniger durch die russische Revolution von 1905 gestärkt als durch die politischen Massenstreiks in Belgien, Schweden und Österreich, die sämtlich Wahlreformen zum Ziele hatten. Bernsteins Schwäche liegt darin, daß er die machtpolitischen Kräfte und die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland vor 1914 nie genau analysierte. Während des ersten Welt¬ krieges ist er auf Grund seiner Gegnerschaft zur Annexions- und Burg¬ friedenspolitik zu den Unabhängigen gegangen (1914 hatte er noch für die Kriegskredite gestimmt), aber nach Kriegsende kehrte er relativ früh, im Frühjahr 1919, zur Mehrheitssozialdemokratie zurück und ließ sich in den späteren Jahren von den sozialpolitischen Erfolgen der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik blenden2). Wie fast alle Sozialdemokraten der Weimarer Zeit erkannte er nicht, daß ein großer Teil der politischen und ökonomischen Machtstrukturen des Kaiser¬ reiches

die Revolution

von

1918

nahezu

unversehrt überstanden

hatte3). Für Bernstein war die Erringung der politischen Demokratie jedoch nicht der einzige Weg zum Sozialismus. Neben den Parlamentarismus muß der Föderalismus, die Selbstverwaltung der Gemeinden und Regionen treten. In diesem Zusammenhang bezieht er sich sogar auf Proudhon.

') „Ganz falsch ist ferner die Idee, durch wiederholte Versuche mit kleinen politischen Streiks zum allgemeinen politischen Streik ,zu erziehen1. Mißglückte Versuche erziehen nicht, sondern schrecken ab. Ebenso ist die Idee zu verwerfen, als könne durch einen großen Massenstreik die Umwälzung der ganzen heutigen Wirtschaftsordnung in eine sozialistische oder kommunistische bewirkt werden. Sie beruht auf völliger Verkennung der Vor¬ bedingungen einer solchen Umwälzung und ist nur geeignet, gegebenenfalls zu den verkehrtesten Maßnahmen zu verleiten .. . Unbestimmte, ins allgemeine gehende Absichten tragen den Keim des Mißerfolgs in sich. Je einheitlicher, je fester vor¬ gezeichnet das Ziel, je abgegrenzter der Angriffspunkt, um so wahrscheinlicher der Erfolg.“ (Ebenda, S. 40.) 2) Vgl. dazu eine Rede Bernsteins an der Berliner Universität aus dem Jahre 1925, zitiert bei Gay, a. a. 0., S. 269f. 3) Vgl. dazu Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik — eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Stuttgart und Düsseldorf 1955.

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„Soll die Demokratie nicht den zentralistischen Absolutismus im Hecken von Bürokratien noch überbieten, so muß sie aufgebaut sein auf einer weit gegliederten Selbstverwaltung mit entsprechender wirtschaftlicher Selbstverantwortlichkeit aller Verwaltungseinheiten wie der mündigen Staatsbürger.“1)

Selbstverwaltung will Bernstein nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich einführen. So scheint ihm der Ausbau der Konsumgenossenschaften die Ausbreitung des Sozialismus zu fördern. Gegenüber Produktionsgenossenschaften ist er skeptisch, gibt ihnen aber Chancen, wenn sie in Verbindung mit Konsumgenossenschaften gegrün¬ det werden. Er tritt auch für stärkere Einflußnahme der Sozialisten auf handwerklich-kleingewerbliche und bäuerliche Genossenschaften ein und befreundet sich mit den Gedanken Franz Oppenheimers über Siedlungs¬ genossenschaften . Auch die Gewerkschaften seien ein Element der Demokratie und der Selbstverwaltung. An einigen Stellen der „Voraussetzungen“ werden moderne Mitbestimmungsgedanken vorweggenommen: „Ihrer sozialpolitischen Stellung nach sind die Gewerkschaften oder Gewerk¬ schaftsvereine das demokratische Element in der Industrie. Ihre Tendenz ist, den Absolutismus des Kapitals zu brechen und dem Arbeiter direkten Einfluß auf die Leitung der Industrie zu verschaffen.“2)

In der Außenpolitik der SPD verlangt Bernstein eine stärkere Berück¬ sichtigung des nationalen Moments. Die meisten dieser Forderungen sehen wir heute als Selbstverständlich¬ keiten an. Schon vor 1914 waren viele von ihnen in die Praxis der SPD eingegangen, jedoch nicht in die offizielle Theorie. Aus der Weigerung der Parteispitze, die traditionell marxistische Ideologie aufzugeben, erklärt sich auch das Verdikt des Dresdner Parteitages über den Revisionismus. Der Anlaß war geringfügig: Bernstein hatte unter dem Eindruck des Wahlsieges 1903 verlangt, daß einer der Vizepräsidenten des Reichstages Sozialdemokrat sein müsse. Die für das Reichstagspräsidium vorgeschriebene Vorstellung bei Hofe schien Bernstein kein Grund, den Posten des Vizepräsidenten von vornherein abzulehnen. Mit dieser nebensächlichen Bemerkung rief er unter seinen Parteigenossen einen Sturm der Entrüstung hervor. Er wurde beschuldigt, ein Monarchist zu sein, der Parteitag mußte jetzt sprechen. Das Ergebnis war die bekannte Dresdner Resolution, die nichts

J) Bernstein, a. a. O., (1), S. 189f. 2) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 174.

Christian Gneuss

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anderes als einen Sieg des Parteiapparates und seines Ideologen Kautsky bedeutete* 1 2). Bernstein ließ sieb von dieser Resolution zwar nicht den Mund ver¬ bieten, schon 1898 hatte er in selbstbewußtem Stolz an den Stuttgarter Parteitag geschrieben:

J) Die Resolution lautete: „Der Parteitag verurteilt auf das entschiedenste die revisionistischen Bestre¬ bungen, unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle der Eroberung der politi¬ schen Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt. Die Folge einer derartigen revisionistischen Taktik wäre, daß aus einer Partei, die auf die möglichst rasche Umwandlung der bestehenden bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaftsordnung hinarbeitet, also im besten Sinne des Wortes revolutionär ist, eine Partei tritt, die sich mit der Reformierung der bürgerlichen Gesellschaft begnügt. Daher ist der Parteitag im Gegensatz zu den in der Partei vorhandenen revisio¬ nistischen Bestrebungen der Überzeugung, daß die Klassengegensätze sich nicht abschwächen, sondern stetig verschärfen, und erklärt: 1. Daß die Partei die Verantwortlichkeit ablehnt für die auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden politischen und wirtschaftlichen Zustände und daß sie deshalb jede Bewilligung von Mitteln verweigert, welche geeignet sind, die herrschende Klasse an der Regierung zu erhalten. 2. Daß die Sozialdemokratie, gemäß der Resolution Kautskys des internationalen Sozialistenkongresses zu Paris im Jahre 1900, einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben kann. Der Parteitag verurteilt ferner jedes Bestreben, die vorhandenen stets wachsen¬ den Klassengegensätze zu vertuschen, um eine Anlehnung an bürgerliche Parteien zu erleichtern. Der Parteitag erwartet, daß die Fraktion die größere Macht, die sie durch die vermehrte Zahl ihrer Mitglieder wie durch die gewaltige Zunahme der hinter ihr stehenden Wählermassen erlangt, nach wie vor zur Aufklärung über das Ziel der Sozialdemokratie verwendet und entsprechend den Grundsätzen unseres Programms dazu benutzt, die Interessen der Arbeiterklasse, die Erweiterung und Sicherung der politischen Freiheit und der gleichen Rechte für alle aufs kraftvollste und nach¬ drücklichste wahrzunehmen und den Kampf wider Militarismus und Marinismus, wider Kolonial-

und Weltmachtspolitik, wider Unrecht, Unterdrückung

und

Ausbeutung in jeglicher Gestalt noch energischer zu führen, als es ihr bisher möglich gewesen ist, und für den Ausbau der Sozialgesetzgebung und

die

Erfüllung der politischen und kulturellen Aufgaben der Arbeiterklasse energisch zu wirken.“ (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Dresden vom 13.—20. September 1903, Berlin 1903, S. 418f.)

Um den Einklang von Theorie und Praxis

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„Das Votum einer Versammlung, und stehe sie noch so hoch, kann mich selbst¬ verständlich in meinen, aus der Prüfung der sozialen Erscheinungen gewonnenen Anschauungen nicht irre machen.“1)

Aber daß von nun an viele die Sozialdemokratie für intell igenzfe indl ich und geistig intolerant kielten, daß ikr weit weniger als der Labour Party in England ein Einbruck in Teile der Intelkgenz gelang, ist nickt zuletzt Folge des Dresdner Bescklusses. In der Praxis mackte man weiter revisionistiscke Politik, blieb aber dabei fast immer auf halbem Wege stehen, wie etwa in der Frage der Koalition mit bürgerlichen Parteien, nickt zuletzt deshalb, weil man nunmehr durch das offizielle Verdam¬ mungsurteil über die revisionistische Theorie daran gehindert war, Theorie und Praxis miteinander in Einklang zu bringen2). Für Bebel und die Parteiführung wurde der Marxismus Kautskyscher Prägung mehr und mehr zur bloßen, aber notwendigen Integrations¬ ideologie der verschiedenen Parteirichtungen3). Man glaubte, nur dadurch auf die Dauer eine Spaltung der Partei vermeiden und die Massen bei der Stange halten zu können. So verleugnete man auf Parteitagen häufig das, was man in der Tagesarbeit leistete, eine Diskrepanz, die auch in der Weimarer Zeit nicht geschlossen werden konnte, um so weniger, als man nunmehr sich dem Angriff der Linken nicht mehr nur latent, sondern — in Form der kommunistischen Partei —real gegenübersah. Zwar stellte das Görlitzer Programm von 1921, an dessen Abfassung Bernstein maßgebend beteiligt war, ein spätes Doku¬ ment revisionistischen Geistes dar4), aber nach der Vereinigung mit den J) Bernstein, a. a. 0., (1), S. 5f. 2) Bernstein betonte in Dresden ganz deutlich: „Nach meiner Auffassung liegt die Aufgabe der Revision auf dem Gebiete der Theorie und nicht auf dem der Praxis“ (Protokoll des Dresdner Parteitages, S. 391). Demgegenüber äußert der „Praktiker“ Ignaz Auer zu Bernstein: „Mein lieber Ede! Das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.“ (An¬ geführt in: Eduard Bernstein, Ignaz Auer, Berlin 1907, S. 63). 3) Vgl. dazu Arthur Rosenberg, „Demokratie und Sozialismus — Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre“, Amsterdam 1938, S. 297f. *) Er drückt sich aus in Stellen wie: „Die Sozialdemokratische Partei Deutsch¬ lands ist die Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land. Sie erstrebt die Zusammenfassung aller körperlich und geistig Schaffenden, die auf den Ertrag eigener Arbeit angewiesen sind, zu gemeinsamen Erkenntnissen und Zielen, zur Kampfgemeinschaft für Demokratie und Sozialismus. Die kapitalistische Wirt¬ schaft ... hat... den Klassenkampf für die Befreiung des Proletariats zur geschicht¬ lichen Notwendigkeit und zur sittlichen Forderung gemacht.“ Vgl. dazu auch Eduard Bernstein: Das Görlitzer Programm der Sozialdemokratischen Partei Marxismusstudien II

15

226

Christian Gneuss, Um den Einklang von Theorie und Praxis

Unabhängigen wurde es 1925 durch das vom Geiste Hilferdings und der Treue zur Tradition von Erfurt geprägte Heidelberger Programm ab¬ gelöst, das die Kluft zwischen Theorie und Praxis ebensowenig zu über¬ brücken vermochte wie das Erfurter Programm. Das politische Schicksal der deutschen Sozialdemokratie, ihre realen politischen Chancen dürften auch heute mehr denn je davon abhängen, ob es ihr gelingt, diese Kluft endlich zu beseitigen. Deutschlands, Berlin 1922. Dort heißt es u. a.: „Das Erfurter Programm legt in seinen theoretischen Sätzen dar, was wird. Es schildert eine sich vollziehende Ent¬ wicklung und gibt Ausblicke, in ihre kommenden Ergebnisse. Anders ausgedrückt, es ist wesentlich 'perspektivisch gerichtet. Das in Görlitz beschlossene Programm dagegen kann dahin charakterisiert werden, daß es feststellt, was ist. Es offenbart nicht das Zukünftige, es kennzeichnet das Gewordene. Daraus erklärt sich, daß ihm etwas von dem Schwung fehlt, der das Erfurter Programm auszeichnet. Im Ver¬ hältnis zu dessen hinreißender Sprache ist die seine etwas nüchtern. Das mag auf den ersten Augenblick manchen enttäuscht haben. Aber in Wirklichkeit braucht niemand enttäuscht zu sein. Der Unterschied ist die naturnotwendige Folge der Tatsache, daß wir eben in der Entwicklung um dreißig Jahre weiter sind als im Jahre 1891, daß wir vor Resultaten stehen und die Bewegung stark genug ist und dazu aufgerufen wird, in sie einzugreifen. Das Görlitzer Programm ist mit Not¬ wendigkeit Gegenwartsprogramm, es wäre lächerlich, wenn es anderes sein wollte. Die Gegenwart ist aber stets prosaischer als der Blick in die Zukunft.“ (S. 20.)

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung in der europäischen und der sowjetischen Pädagogik von H.H. GROOTHOFF

I. Die Fragestellung Es gibt von Marx nur vereinzelte Äußerungen über Pädagogik. Sie laufen im großen ganzen darauf hinaus, daß die Jugend zugleich „polytechnisch ausgebildet“ und „moralisch erzogen“ werden soll. Sie soll alle ihre Kräfte ausbilden, aber nicht „an und für sich“ und ganz ,,im allgemeinen“, sondern zu freier und vielseitiger Ver¬ wendung in einer industriell produzierenden Gesellschaft. Und sie soll dazu ein moralisches, und das heißt immer zugleich auch ein soziales und ein politisches Bewußtsein und eine diesem entsprechende Haltung gewinnen. Es versteht sich von selbst, daß das Marxsche Denken über einen solchen Ansatz hinaus mannigfache pädagogische Konsequenzen haben, ja eine gegenüber der traditionellen von Grund auf verwandelte Päda¬ gogik zur Folge haben mußte. Da Marx als erster die Selbstentfremdung des Menschen in der modernen industriellen Gesellschaft erkannt hat, da er gesehen und aufgewiesen hat, daß sich hier überall der Mensch ent¬ würdigt, verfälscht, objektiviert und somit seines menschlichen Verhält¬ nisses zu Ding und Mensch beraubt hat, muß eine von ihm ausgehende Pädagogik versuchen, den Menschen zu einem nicht selbstentfremdeten Menschen zu erziehen, ihn also, soweit das im Rahmen der Pädagogik möglich ist, auf sein mögliches Selbstsein hin zu erziehen und so dem „Fortschritt“ zu Hilfe zu kommen. 15*

H. H. Groothoff

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Es ergeben sieb drei Fragen: 1. Wo kann man, wenn schon nicht bei Marx, die Prinzipien, die Ent¬ wicklung und die Wirkung einer marxistisch orientierten, vom Problem der Selbstentfremdung ausgehenden Pädagogik studieren? 2. Inwiefern wird in dieser Pädagogik genau wie im Marxismus selbst unsere eigenste Sache, die Sache des Menschen in der modernen Welt, verhandelt? 3. Fällt diese Pädagogik mit dem Marxismus, oder kann sie auch unab¬ hängig von ihm fruchtbar werden? Sofern man das Problem der Selbstentfremdung des Menschen für ein grundlegendes Problem unseres heutigen Selbst- und Weltverständnisses und damit zugleich unserer heutigen Politik und Pädagogik hält, muß man ebenso wie die marxistisch bestimmte Politik auch die marxistisch bestimmte Pädagogik studieren. Es könnte doch möglich sein, von dort aus einer Selbstentfremdung unserer eigenen Pädagogik auf die Spur zu kommen und zu erklären, warum sie trotz allen reformerischen enthu¬ siastischen Yerbesserns oft so wenig „freiheitlich“ und so wenig „mensch¬ lich“ anmutet und warum sie so technisch und methodisch wirkt, auch und gerade da, wo sie sich mit unserer an sich so verfeinerten wissen¬ schaftlichen Psychologie und Soziologie verbindet und auf die marxisti¬ sche als eine unwissenschaftliche Denkweise herabsieht. Außerdem könn¬ te es doch auch möglich sein, daß sie und nicht die Politik die beste Frucht des Marxismus ist.

II. Die sowjetische Pädagogik als marxistische Pädagogik Der Marxismus hat fast überall eine gewisse Affinität zur Pädagogik bewiesen und sowohl im Osten wie im Westen das Erziehungswesen grundlegend beeinflußt. Während man aber bei uns kaum sagen kann, wo und wie sich im einzelnen marxistische Einflüsse ausgewirkt haben, zeigt sich in Sowjetrußland eine eindeutig marxistisch bestimmte und zugleich fraglos bedeutsame Entwicklung der Pädagogik. Man muß also die sowjetische Pädagogik studieren. Die sowjetische Pädagogik der Zeit nach der Revolution wird nicht eigentlich aus der sozialistischen oder kommunistischen Konzeption des Ganzen, aus Marx und Lenin, abgeleitet und dabei in ihrer Entfaltung durch ein dialektisches Wechselverhältnis von Theorie und Praxis vorangetrieben,

sondern der allgemeinen pädagogischen Bewegung

Europas entnommen! Die russische Revolution wird im pädagogischen

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

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Bereich als Befreiung zur „Pädagogischen Reform“ ausgelegt. Man glaubte auf einer im Grunde gemeinsamen Basis zu stehen und die neue europäische, darunter insbesondere die deutsche Pädagogik übernehmen zu können1). Es handelt sich hier also um eine Pädagogik, die zu einem wesentlichen Teil aus der Theorie, aus der „Literatur“ also, gelernt worden ist die dementsprechend das für die Pädagogik wie auch für die Politik eigen¬ tümliche Verhältnis von Theorie und Praxis, das ein ganz anderes ist als das von Physik und Technik, nicht begriffen hat und da anfängt zu deduzieren und konstruieren, wo alle Voraussetzungen dafür fehlen. Natürlich kommt das dialektische Denken einem solchen Theoretisieren entgegen. Aber man hat andererseits doch auch gerade durch den Marxis¬ mus gelernt, eine Lage zu beurteilen, sie realistisch und differenziert auf ihre Voraussetzungen und Folgen hin zu analysieren und dementspre¬ chend zu handeln. Es mußte hier also zu allem hinzu auch zu einem radikalen Konflikt zwischen Theorie und Praxis kommen, einem Kon¬ flikt, der dazu zwang, das Problem von Theorie und Praxis selbst ganz neu aufzurollen. Die Verwandlung der sowjetischen Pädagogik ist aber nicht nach und nach erfolgt, auch nicht von den praktischen Pädagogen, den Lehrern und Erziehern, in den Brennpunkten des neuen sowjetischen Lebens,

b Die moderne europäische Pädagogik verstand sich teils von Rousseau und Pestalozzi, teils von Locke und Dewey her. — Vom „Emile“ aus sollte eine Päd¬ agogik entwickelt werden, die sich in der verderbten Welt gegen diese des Kindes als solchen annehmen sollte. Sie sollte das Kind aus seiner Welt herausnehmen, es vor allem dem unmittelbaren Einfluß von Kirche und Staat entziehen und ihm eine eigene pädagogisch konzipierte Umwelt schaffen. Und eben dabei sollte sie sich in der Hauptsache an das Interesse und die Möglichkeiten des Kindes halten und es mehr zur Selbstentwicklung bringen als „erziehen“. Es sollte hier also eine sowohl freiheitliche als auch kindgemäße Pädagogik, eine Pädagogik des neuen Menschen zu Zwecken einer neuen menschlichen Welt in Gang gebracht werden. — Für die Russen, die sich insbesondere an diese Linie hielten, war dabei entscheidend, daß eine solche Erziehung das Gegenteil einer Sklavenerziehung war. Bei ihnen war daher ebenso wie bei Rousseau so etwas wie „Autorität und Disziplin“ verpönt. — Von Pestalozzi her kamen dann noch zwei Motive hinzu, das der Sozialerziehung und das der Erneuerung des Unterrichts wie überhaupt des Schulehaltens von diesem Ansatz aus. Das Schulehalten selbst soll eine nicht nur unterrichtende, sondern auch erziehende Wirkung haben. — Gewisse Züge der ausgesprochen individualistischen angloamerikanischen Pädagogik werden aber auch aufgenommen. Sie insbesondere machten eine Auseinandersetzung zwischen der neuen sowjetischen Pädagogik und dem Marxismus notwendig.

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H. H. Groothoff

sondern von einem einzigen Manne und ganz abseits der allgemeinen Entwicklung in Gang gesetzt worden. Anton Semjonowitsch MaJcarenJco, ein ehemaliger Lehrer, seit 1920 Leiter von Erziehungsheimen für jugendliche Verwahrloste, wird Be¬ gründer einer zweiten ausgesprochen marxistischen Phase sowjetischer Pädagogik1). Makarenko ist überall da, wo seine Pädagogik näher bekannt wurde, auf heftigen Widerstand seitens der offiziellen Pädagogen gestoßen. Seine Pädagogik sei so unsowjetisch wie nur irgendeine! Das hat dann mit sich gebracht, daß Makarenko sich eines Tages in eine grundlegende Ausein¬ andersetzung mit der im Westen wie im Osten vorherrschenden Päda¬ gogik verwickelt fand und sich vor der Öffentlichkeit, aber auch vor sich selbst rechtfertigen mußte. Daher kommt es, daß er bewußt und plan¬ mäßig vorführt, wie — unter russischem Aspekt — die wahrhaft mensch¬ liche eine bloß „bürgerliche“, eine bloß individualistische und „pädologische“ Pädagogik überwinden kann. Daß dieser Vorgang aber nun nicht nur eine innerrussische Angelegen¬ heit und Makarenko selbst nicht nur eine östliche Potenz ist, hat man im Westen schnell erkannt. In der für die neuere deutsche Pädagogik so bedeutsamen „Sammlung“ hat Herman Nohl, ihr Herausgeber, 1950 (S. 701) folgende Formulierung veröffentlicht: „Makarenko ist eine pädagogische Erscheinung von historischem Rang

wie

Salzmann,

Pestalozzi oder Hermann Lietz, und sein „Pädagogisches Poem“ ist nur mit Pestalozzis „Lienhard und Gertrud“ oder besser noch mit seinem Stanzer Brief zu vergleichen!“ Es ergibt sich also folgende Frage: Hat Makarenko den Marxschen Gesichtspunkt der Selbstentfremdung des modernen Menschen, der Ver¬ kehrung der Emanzipation und der Industrialisierung richtig verstanden und fruchtbar auf die pädagogische Problematik angewandt? Und hat seine Pädagogik von daher Züge an sich, die unsere Pädagogik als ihrer¬ seits selbstentfremdet in Frage stellen oder sogar als unpädagogisch erscheinen lassen? ) In dem „Lehrbuch für pädagogische Lehranstalten11 von B. P. Jessipow und N. K. Gontscharow, 3. Auflage, Berlin-Leipzig 1948 (Moskau 1941), wird in der abschließenden ,,Kurzen Einf. i. d. Geschichte der Päd.“ zuerst auf Comenius und Pestalozzi und zuletzt auf Makarenko eingegangen. M. wird also ausdrücklich als letzter Klassiker dargestellt. An weiterer russ. und ins Dt. übersetzter Lit. ist noch zu nennen: N. Fere. M. — mein Lehrer, Berlin 1953, und J. S. Balabanovic, A. S. M., ebenfalls Berlin 1953.

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

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III. A. S. Makarenko /

Makarenko ist am 13. 3. 1888 in Bjelopolje in der Ukraine als Sohn eines Eisenbahnhandwerkers geboren. Er wächst in der russischen Arbeiterwelt auf, eignet sich die sozialistischen Ideen an und wird Lehrer für Arbeiterkinder. Er unterrichtet zunächst in einer kleinen Eisenbahnerschule, kommt dann aber doch auf das Lehrerbildungs¬ institut in Poltawa (1914), zeichnet sich dort aus, wird Lehrer an einer größeren Schule und schließlich Leiter eines Heimes für jugend¬ liche Verwahrloste und Rechtsbrecher in der Umgebung von Poltawa (1920). Das damals für Rußland so bezeichnende Problem der vagabundieren¬ den Jugendlichen enthielt eine im engsten Sinne erzieherische Auf¬ gabe. Sie bringt die besonderen Möglichkeiten Makarenkos rasch zur Entfaltung. Dabei gehen Theorie und Praxis ein neues, glückliches Verhältnis miteinander ein. Und Makarenko selbst ist so erfüllt von dem, was ihm da gelingt, daß er beschließt — geschult an Gorki, seinem späteren Berater und Freund — diesen ganzen Zusammenhang darzustellen. Was Makarenko mitzuteilen hat, ist aber nun nicht eigentlich eine Pädagogik nach der Art unserer Pädagogiken, sondern ein Weg, der zugleich Lebensweg und pädagogische Methode ist. Es geht ihm um einen Erfahrungsbericht, der zugleich die Praxis und die Theorie darstellt. So entsteht „Der Marsch des Jahres Dreißig“ (1932, enth. i. d. Ausg. päd. Sehr., Moskau 1949, Berlin 1952), der aber nur wenig Beachtung fand. An ihn schließt sich das „Pädagogische Poem“ an (1933ff., Berlin 1950), das dann den Ruhm Makarenkos als eines bedeutenden Pädagogen und pädagogischen Schriftstellers begründet hat. Das Pädagogische Poem — im Deutschen zumeist nach dem Titel seiner Verfilmung „Der Weg ins Leben“ genannt — ist ein Roman, ein Stück Autobiographie und Pädagogik zugleich. Makarenko ist, ähnlich wie Rousseau und Pestalozzi, ein begabter Schriftsteller; aber das ist nicht entscheidend, es kommt vielmehr darauf an zu verstehen, was für ein Selbst- und Weltverständnis und was für eine Pädagogik sich in solchen Romanen auszudrücken streben. Das menschliche Leben entwickelt sich für Makarenko nicht aus sich heraus, sondern in der Begegnung mit den anderen und der Welt selbst. Ein solches Leben läßt sich aber nur in einem Roman darstellen. Und die Pädagogik ist für Makarenko zwar eine wissenschaftliche,

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H. H. Groothoff

eine dialektische, ja sogar ,,die am meisten dialektische“ Disziplin (Ausg. päd. Sehr., S. 14), aber sie ist als solche nicht isolierbar, sie ist vielmehr nur ein Moment des Lebens selbst. Makarenko meint sogar, und das ist sein wesentlichstes Prinzip, daß die Pädagogik bis zu ihm hin immer wieder irgendwelchen Isolationen zum Opfer gefal¬ len sei und nun planmäßig über alle diese Isolationen hinweg ent¬ wickelt werden müsse. Eine solche Pädagogik kann ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Struktur ebenfalls nur in einem Roman vollständig dargestellt werden1). Das Pädagogische Poem endet damit, daß Makarenko (1928) vor eine amtliche pädagogische Kommission zitiert, zum Bekenntnis gezwungen, für einen Ketzer erklärt und als Erzieher abgesetzt wird. Bemerkens¬ werterweise findet er aber das Verständnis, das er bei der amtlichen Pädagogik nicht findet, bei anderen nichtpädagogischen, aber mit der Not Rußlands und seiner Jugend weitaus vertrauteren Stellen, vor allem bei den Polizei- und Justizbehörden. Mit ihrer Hilfe wird ein neues Heim

T) Makarenko setzt hier — teils bewußt, teils unbewußt — eine große Tradition fort. Sie beginnt bei Plato und wird in Goethe, Tolstoi und Gorki unmittelbar maßgeblich für ihn. — Plato stellt sein philos. und erst recht sein politisches und sein pädagogisches Denken nicht in einem System, sondern in Dialogen dar. Dieses Verfahren hat nach seinen eigenen Angaben seinen Grund darin, daß ein solches Denken nur ein Streben nach Weisheit und nicht weisheitliches Denken der Wahr¬ heit selbst ist. Plato schreibt gewissermaßen den ersten Roman, indem er nämlich von Unterredungen berichtet, die an historischen Stätten historische Männer hatten oder doch hätten gehabt haben können, deren Gehalt aber ein Miteinanderdurchsprechen der wesentlichen Fragen auf die reine Wahrheit hin gewesen ist. So wird im Leben selbst eine Theorie vom Leben entwickelt, die zwar durchaus theoretisch und damit von einer gewissen Verbindlichkeit für die Praxis ist, die aber doch nicht wie die Mathematik Anspruch auf absolute Gültigkeit erhebt. Sie soll nur ein Vorbild und einen Leitfaden für das eigene Denken und Handeln abgeben. — Makarenko hat nun zwar nicht das Niveau seiner großen Vorgänger, stellt aber doch auf seine Weise in der Geschichte dieses Denkens und Dichtens einen eigenen Höhepunkt dar: Sein Pädagogisches Poem ist eine reine, in sich geschlossene und ihrem Gegenstand vollkommen angemessene Darstellung eines pädagogischen Prozesses, in dem die Erzieher, die Erziehung und die Zöglinge alle erst werden, was sie sein sollen. Was Rousseau und Pestalozzi angefangen haben, wird hier vollendet. — Jeder Versuch, Makarenko zu interpretieren, muß von diesem Sach¬ verhalt ausgehen und sein Werk wie einen platonischen Dialog bzw. wie einen modernen Roman behandeln. Alles nämlich, was dargestellt wird, hat seine volle Bedeutung nur in dem dargestellten Zusammenhang. Man darf also nur bedingt systematisieren. Das soll aber nicht heißen, daß hier nicht Grundeinsichten heraus¬ gearbeitet und erörtert werden sollen. Im Gegenteil!

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

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geschaffen und Makarenko übergeben (jetzt in der Nähe von Charkow selbst). Der Weg ins Leben wird fortgesetzt. Makarenko bleibt dort mehrere Jahre (bis 1936) und arbeitet anschließend noch eine Zeit im ukrainischen Innenministerium. Am 1. 4. 1939 stirbt er, kaum mehr als 50 Jahre alt. Die Erfahrungen dieser Jahre werden in zwei neuen pädagogischen Poemen dargestellt, in den „Flaggen auf den Türmen“ (1938, Ber¬ lin 1954) und in dem Roman „Ehre“ (bei Jessipow nicht erwähnt, auch nicht ins Deutsche übersetzt, aber aus anderen Schriften er¬ schließbar). Der Roman „Flaggen auf den Türmen“ stellt im Gegensatz zum Pädagogischen Poem eine schon bestehende, ausgeformte und in sich gefestigte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft dar. Er kann sich daher mehr den einzelnen Zöglingen und deren Lebensläufen zuwenden. Daher auch ist er nicht mehr im Stile einer Autobiographie geschrieben. Wäh¬ rend seiner letzten Arbeitszeit (1936—39) wendet sich Makarenko auch derjenigen Erziehung zu, die nicht Heimerziehung ist. Dabei wird ihm deutlich, welche entscheidende Stelle in Hinsicht auf die eigentliche Erziehung doch das Elternhaus einnimmt. Es entsteht „Ein Buch für Eltern“ (1937, Berlin 1953). Der vorliegende Band ist aber nur der erste eines auf mehrere derartige Bände veranschlagten Werkes. Hier werden Geschichten von Kindern und Eltern erzählt, die ebenfalls auf wirkliche Verhältnisse und Ereignisse zurückgehen und in denen gezeigt wird, wie weitgehend insbesondere die Familienerziehung ein individuelles und historisches Problem ist, daß es für sie daher keine „Rezepte“ gibt, man aber trotzdem von einer „richtigen“ und einer „falschen“ Familien¬ erziehung sprechen kann. Diese Romane und Erzählungen werden von Vorträgen und Aufsätzen begleitet. Sie sind teils 1940 in den „Vorträgen über Kindererziehung“, teils 1949 in den „Ausgewählten pädagogischen Schriften“ veröffentlicht. Diese mehr theoretischen Arbeiten zeigen ein deutliches Problembewußt¬ sein. Sie sollen hier von Fall zu Fall mit herangezogen werden. Die eigentliche Stärke der romanhaften Darstellungen liegt — abge¬ sehen von ihrem Aufbau, der viele Fäden kunstvoll zu einem großen Teppich verknüpft — in ihren zahlreichen Dialogen. In ihnen werden meisterhaft pädagogisch-moralische Auseinandersetzungen dargestellt. Alle Moral bezieht sich auf Konflikte unter den Menschen, sie kann daher auch nur in deren Austrag wirksam werden. Das bedeutet, daß Pädagogik

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selbst sich auch auf Konflikte beziehen und in deren Austrag vor sich gehen muß. Diesen Dialogen wird daher besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein1). 1) Wie schon erwähnt, hat man auch im Westen die Bedeutung Makarenkos rasch erkannt. Herman Nohl hat M. durchaus richtig eingeschätzt, ist aber die gleichzeitig versprochene Auseinandersetzung mit ihm bisher schuldig geblieben. Er hat aller¬ dings dafür (Sammlung 1951, S. 527ff.) einen Aufsatz von Elisabeth Heimpel „Ein Fenster nach dem Osten“ veröffentlicht. Hierin wird versucht, die Welt des Päd. Poems, gerade weil sie romanhaft anschaulich und verständlich ist, als ein pars pro toto für die sowjetische Welt aufzufassen. Dabei wird vor allem auf die beherrschende Rolle des Problems von Individuum und Gesellschaft aufmerksam gemacht und aufgezeigt, daß M. sowohl der Individualität als auch der Sozialität des Menschen gerecht zu werden versucht, daß seine Lösung aber dann doch nur eine für uns zu wenig individualistische ist. Eben diese Korrektur aber würde M. selbst insbesondere bestreiten, und dabei hätte er vielleicht weniger unrecht, als wir zunächst meinen. Häufiger und umfassender hat sich bisher einzig Leonhard Froese mit M. befaßt: Die vor- und nachrevolutionäre pädagogische Entwicklung A. S. M.s — des Be¬ gründers der modernen Sowjetpädagogik, Hbg. 1955, Die sowjetsozialistische Päd. A. S. M.’s, Vierteljahrschrift f. wiss. Päd., 4/54, Das päd. lit. Werk A. S. M.’s, Internat. Ztschr. f. Erziehungswiss., 1/56, A. S. M. als Gegner und Begründer der Sowjetpäd., Europaarchiv 3/56. Froese sieht M. im Sinne der Dilthey-Nohl-Schule unserer theoretischen Päd. an, behandelt M. also geistesgeschichtlich. Hierin liegt begründet, daß er entscheidend zum Verständnis dieses Phänomens, aber weniger zur Auseinandersetzung mit ihm beigetragen hat. Beide Verf. haben in den letzten Monaten je eine etwas umfangreichere Arbeit über die russische Päd. bzw. M. selbst herausgebracht, wobei sie beide davon aus¬ gegangen sind, daß M. nicht bloß ein pädagogischer Funktionär der marxistischen Ideologie und des sowjetischen Systems, sondern ein echter und fruchtbarer Päd. gewesen ist. Hierüber hinaus stimmen sie auch darin überein, daß M. den Weg der Rousseau, Pestalozzi, Fröbel und Lietz fortgesetzt und unsere reformerische Päd. nicht nur bekämpft, sondern auch vertieft und bereichert habe. Er habe einen bedeutsamen Einblick in das Problem der Freiheit und deren Dialektik und dement¬ sprechend dann auch in das der eigentlichen Erziehung gehabt. Er habe insbesondere gesehen, daß es dabei immer um die Zeitlichkeit des Daseins gehe. Der Zukunfts¬ entwurf, die „Perspektive“, sei entscheidend. Gerade sie aber sei niemals nur eine Sache des einzelnen, sondern immer „des Individuums und der Gesellschaft“. Dementsprechend habe sich ihm das alte zentrale Problem der Erziehung, das von „Autorität und Disziplin“, neu gestellt. Im übrigen verfolgen beide verschiedene Ziele. Froese setzt auch in diesem Werk geistesgeschichtlich an. In Hinsicht auf M. folgt er in der Hauptsache dessen Selbstauslegung, wobei drei Momente besonders deutlich heraustreten: Erstens der kollektivistische Charakter dieser Päd., dem Froese aber, geleitet von der Bildungstheorie der Dilthey-Nohl-Schule, am wenig¬ sten Aufmerksamkeit widmet, zweitens das System der „Perspektiven“, das in der Tat besonders herausgehoben zu werden verdient, und drittens die erzieherische „Meisterschaft“, die für Froese der wichtigste Beitrag M.’s zur Päd. ist.

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

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IV. Makarenko und der Marxismus Es erhebt sich nun zuerst die Frage darnach, ob Makarenko eigentlich ein Marxist gewesen ist. Diese Frage ist zugleich die nach seiner geistigen Basis und nach seiner Beziehung zur Parteidoktrin und zur Partei¬ in den „Perspektiven“ wird aber schließlich und endlich die individuelle moralische „Persönlichkeit“ entworfen und damit zum Problem der Moral und der moralischen Autonomie übergegangen. Die päd. Meisterschaft, von M. auch „päd. Technologie“, von Froese „Erzie¬ hungsdidaktik“ genannt, ist ein Kap. der internen methodischen Problematik der Päd. Man hat sich in der Tat immer mehr und zutreffendere Gedanken über die Methodik des Unterrichtens und Bildens gemacht als über die der Erziehung. Und M. hat entdeckt, daß, da Erziehung Umgang ist, die Formen des Umgangs das Medjium der spez. erz. Methodik sind. Dabei kommt es auf das„Auftreten“ und ähn iches an. Der meisterhafte Erzieher muß so etwas wie ein überzeugender Schauspieler sein. Er muß darstellen, ausdrücken, sagen können, was er dem anderen nahebringen will. Die Quintessenz, die Froese aus den von ihm herausgestellten drei Momenten zieht, besteht darin, daß M. mit zur Ergänzung der Päd. vom Kinde aus durch eine Päd. vom Leben aus beigetragen habe. Elisabeth Heimpel versucht in der Hauptsache, Licht in die Entstehung und in den Sinn wie auch in die Grenze der M.schen Jugendkolonie als einer Päd. Provinz, einer päd. Utopie, zu bringen. Sie betrachtet M. als einen späten Nachfahren Platos, läßt aber die geschichtlichen Zusammenhänge dann im großen und ganzen doch auf sich beruhen. Auch hier wird darauf aufmerksam gemacht, daß M. die Päd. vom Kinde aus ergänzt und Spiel und Arbeit, bzw. Ordnung, sich mischen läßt. Besonders wichtig ist aber, daß hier eingesehen wird, inwiefern alle eigentliche Erz. Erz. zum Menschsein mit und durch andere ist. Daher müsse der Zögling in der Tat gleicher¬ maßen als Mensch geachtet und als Mensch aufgerufen werden. Im übrigen meint E. H„ daß M. seine Konzeption zwei Quellen verdanke, einmal Gorki und seiner Menschlichkeit, zum anderen Marx und dessen Kollektivismus. Dementsprechend trennt sie in der M.schen Päd. zwei Züge voneinander und bejaht den einen (gorkischen) ebenso wie sie den anderen (kollektivistischen) verneint. Sie sieht letzten Endes nicht, daß es gerade auf eine Revision unseres Freiheits- und Menschlichkeitsbegriffs ankommt. Auch wir haben das Problem einer spez. mensch¬ lichen Existenz und einer spez. menschlichen Politik und Päd. in der modernen industriellen Gesellschaft noch nicht gelöst. S. L. Froese „Ideengeschichtliche Triebkräfte der russischen und sowjetischen Päd.“ Heidelberg 1956, u. E. Heimpel „Das Jugendkollektiv A. S. Makarenkos“, Würzburg 1956. An dieser Stelle ist vielleicht der Hinweis angebracht, daß zwar nicht die DiltheyNohl-Schule, wohl aber die Petersen-Schule geeignete Voraussetzungen für ein tieferes Verständnis der M.schen Päd. mitbringen könnte. Ebenso kann man dann auch M. über die Petersensche Päd. für uns fruchtbar machen und auf unsere Ver¬ hältnisse übertragen. S. hierzu insbesondere Petersen, Führungslehre des Unter¬ richts, 5. Aufl., Braunschweig 1955.

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Organisation. Sie führt notwendigerweise sogleich ins Zentrum seiner Pädagogik. Natürlich gibt es auch bei Makarenko Lobreden auf Stalin und die Partei, aber es gibt bei ihm, wenn man einmal von einigen damals an¬ scheinend unerläßlichen Wendungen absieht, keine Ideologie. Makarenko deduziert seine Pädagogik nicht, rechtfertigt sie auch nachträglich nicht durch eine solche Deduktion. Er denkt ganz selbständig. Man kann vielleicht sogar die These wagen, daß er zwar Marx, die russische Revo¬ lution und die stalinistische Stabilisierung der russischen Verhältnisse bejaht, sich aber in diesem Rahmen nur auf sich selbst, auf seine Er¬ fahrung und seine Reflexion verläßt. Trotzdem ist Makarenko Marxist. Er ist kein marxistischer Funktionär, aber er denkt marxistisch. Makarenko übernimmt vor allem die Rousseauisch-Marxsche These, daß die europäische Geschichte zu einer Selbstentfremdung des Menschen geführt habe. Verkehrte Verhältnisse verkehrten den Menschen. Sie machten ihn insbesondere unsozial und immoralisch. Und die Lage verschärfe sich da noch, wo diese Gesellschaft durch eine kapitalistisch oder imperialistisch eingesetzte Technik immer größere Teile der Bevöl¬ kerung unserer Erde zu bloßen Mitteln, zu Proletariern, herabwürdige. Dabei sei der eigentliche Fehler, daß sich der Mensch in dieser neuen Welt einerseits zum absoluten individuellen Subjekt, das er nicht sein könne, und andererseits zum absoluten kollektiven Objekt, das er nicht sein dürfe, denaturiere. Das absolute Individuum werde dabei mit eben der¬ selben Notwendigkeit „scheinheilig“, da es ja isoliert und ohne Kom¬ munikation sei, wie das unterdrückte Individuum zum bloßen Masse¬ bestandteil werde. Diese Entwicklung habe dann auch, ja insbesondere die Pädagogik verdorben. Makarenko sieht also die eigentliche Selbstentfremdung darin, daß die Menschen einen unwesentlichen Gebrauch von ihrer Freiheit machen: Sie richten sich gegenseitig zugrunde, statt sich gegenseitig besser und glücklicher zu machen. Die Politik müsse also versuchen, die diesem Verhalten zugrunde liegenden Verhältnisse zu ändern, die Pädagogik aber habe dieses Verhalten selbst anzugehen. Makarenko ist aber auch Dialektiker; er versucht, sein pädagogisches Handeln dialektisch voranzutreiben, Analyse und Tat sollen sich ab¬ wechselnd neu bestimmen. Aber er ist auch insofern Dialektiker, als er versucht, diese Beziehung zwischen Besinnung und Tat nach dem Schema von These, Antithese und Synthese auszubilden. Am deutlichsten kann man das bei seinem Grundproblem „Individuum und Gesellschaft“

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erkennen: Der Mensch ist wesensmäßig Individuum, jeder ist ein ein¬ zelner und einmaliger Mensch, aber der Mensch ist ebenso wesensmäßig immer auch Glied einer Gesellschaft, er kann nur als ein solches Glied, also nur durch die Gesellschaft, ganz Mensch werden. Es ergibt sich also die Notwendigkeit, Individuum und Gesellschaft in das rechte Verhältnis zueinander zu bringen, aus These und Antithese eine Synthese zu schaffen. Aber eben hierin rückt Makarenko dann auch wieder in eine eigentüm¬ liche Nähe zu Kant. Der Erzieher Makarenko, der sich des IndividuumGesellschaft-Problems auf eine marxistisch-dialektische Weise

annimmt,,

aber mit diesem Denken keine Metaphysik im Marxschen Sinne mehr verbindet, kehrt — mehr unbewußt als bewußt — zu Kant zurück. Überall da, wo er selbständig denkt, ist er Kant nahe! Dilthey hat einmal gesagt, zu einem großen Pädagogen gehörten die Qualitäten des Künstlers und des Staatsmannes. Makarenko versteht sich wie ein Künstler auf die Individualitäten seiner Zöglinge und deren „Bildung“, und er versteht sich wie ein Staatsmann auf die Organisation seiner Erziehungs- und Lebensgemeinschaften und auf deren zwar nicht politische, aber doch menschliche Führung. Er ist geradezu ein glänzender Stratege und Taktiker der Pädagogik, ein wahrer Meister pädagogischer Menschenführung.

Hierin liegt aber dann auch seine

Grenze begründet. Von seinen ersten Veröffentlichungen an spielt Makarenko ständig die „Pädagogik“, eine Lehre von der Führung der Kinder, gegen die „Pädologie“, eine Lehre vom Sein der Kinder, gegen¬ einander aus. Die Pädologie ist für ihn die positive, um nicht zu sagen positivistische Wissenschaft vom Leben und von der Eigenart der Kin¬ der, die Pädagogik dagegen ist für ihn die dialektische, einzig dem geschichtlichen Denken und Handeln als solchem entsprechende Wissen¬ schaft von der Erziehung. Makarenko meint, die Pädologie und mit ihr mehr oder weniger die gesamte bürgerliche Pädagogik mache folgenden Fehler: Sie gehe vom Kinde, und zwar noch dazu vom einzelnen Kinde aus und könne daher nichts anderes tun, als Psychologie und Soziologie entwickeln und der Pädagogik ein gewisses Wissen von den Anlagen und den Verhältnissen der Kinder anbieten. Diese könne dann nur bilden, nicht erziehen. Es könne also, ganz gleich, ob man das wolle oder nicht, nur eine Pädagogik entstehen, in der das Kind oder die Kindergesellschaft selbst führend sei, in der also alles auf das selbstherrliche Leben, was dann aber doch nichts anderes hieße als auf das selbstherrliche Spiel, der Kinder hinausliefe. Das

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aber sei doch eine Verkehrung. Die Pädologie sei vielleicht gut gemeint, aber sicherlich verkehrt entwickelt. Was Makarenko der pädologischen Pädagogik zum Vorwurf macht, ist also ein ganzer Komplex; es kommt aber zunächst nicht darauf an, ihn im einzelnen nachzuvollziehen und zu erörtern, es kommt vielmehr zunächst nur darauf an, sichtbar zu machen, welches geschichtliche Phänomen er denn mit seiner Kritik eigentlich meint. Nun, er meint damit nichts anderes als die neue wissenschaftliche und reformerische Pädagogik, die sich von Rousseau und von den neuen Wissenschaften vom Menschen her entwickelt hat. Natürlich trifft seine Kritik diese Pädagogik nur bedingt, man sollte sich aber doch einmal fragen, ob Makarenko nicht vielleicht doch einen verhängnisvollen Zug dieser Pädagogik richtig erkannt hat.

V. Makarenkos Hauptwerk „Der Weg ins Leben“ Im Pädagogischen Poem sieht sich Makarenko vor eine so grundlegende wie schwierigeAugabe gestellt. Er soll ein Erziehungsheim — die spätere Gorki-Kolonie — übernehmen und findet darin zwar Zöglinge, aber kein Geld, keine Lebensmittel und kaum Erzieher oder sonstiges Personal vor. Und er soll unter diesen — damals in Rußland unabänderlichen — Um¬ ständen jugendliche Verwahrloste und Rechtsbrecher, die sich ihrer Stärke und Erfahrung wohl bewußt sind, ohne die Anweisung der Pädo¬ logie zu verletzen, ohne zu bestrafen also, zu „Menschen“ erziehen. Makarenko wird hier vor das Problem der Probleme gestellt: er soll Verwahrloste zu moralisch wertvollen, sozial eingestellten und politisch tätigen Persönlichkeiten erziehen. Makarenko hat keinen Plan für diese Aufgabe. Es gibt keinen. Er taucht in diese Aufgabe ein wie in ein unendliches Meer, droht unterzu¬ gehen, taucht wieder auf und beginnt schließlich zu sclrwimmen, zögernd und unsicher zunächst, dann aber mit zunehmender Sicherheit und Planmäßigkeit1). b M. studiert noch einmal die Schriften der Klassiker. Er sagt dazu: „Wieviel Jahrtausende besteht sie (die päd. Reflexion) schon! Wieviel Bücher, wieviel Papier, wieviel Ruhm! Und dabei völlige Leere. Nichts! Nicht einmal mit einem Rowdy kann man fertig werden, keine Methode, kein Werkzeug, keine Logik — einfach nichts. Man kommt sich vor wie ein Scharlatan“ (Päd. Poem, S. 118). Man beachte, wen er nennt. M. ist mit Rousseau, Pestalozzi und Natorp, welcher dabei für Kant steht, durchaus vertraut.

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

239

A. Die Aufgabe Es herrscht zunächst der Kampf aller gegen alle. Dieser Kampf wird nur durch die Absicht der Zöglinge, in der Kolonie Schutz vor den Natur¬ gewalten und vor den Justizbehörden zu finden, eingeschränkt. Die Erzieher müssen sich an die Regeln der amtlichen Pädagogik halten, sie dürfen nicht durchgreifen, weil das als zaristisch gilt und man glaubt, so mit Sicherheit nur Sklaven erzeugen zu können. Die Zöglinge können also tun und lassen, was sie wollen. Das führt dazu, daß die Erzieher zu bloßen Pflegern, um nicht zu sagen zu Bediensteten ihrer Zöglinge wer¬ den. Makarenko sieht, daß auf diese Weise die Erziehung gar nicht erst in Gang kommt. Wie kann man bewirken, daß sie trotzdem anfängt? In diesem Augenblick kommt ihm das Schicksal zu Hilfe : Einer der kräftigsten und selbstbewußtesten Zöglinge verweigert wieder einmal die Ausführung einer zu seinem eigenen Besten gegebenen Anordnung. Makarenko, seit langem über den Widerstand, den die Zög¬ linge solchen zu ihrem eigenen Wohl getroffenen Anordnungen entgegen¬ setzen, erbittert, schlägt, von glühendem Zorn erfüllt, den Zögling kurzer¬ hand nieder. Dieser ist zuerst einfach verblüfft, erhebt sich dann aber freundlich lächelnd und tut ohne weitere Widerworte, was ihm befohlen. Er hat begriffen, daß Makarenko, obwohl er selbst dafür hätte nieder¬ geschlagen oder ins Gefängnis gebracht werden können, zu seinem, des Zöglings Wohl zugeschlagen hat. Dieser persönliche Einsatz überzeugt ihn. Man hat ihn für einen Menschen gehalten; er gibt sich Mühe, es auch zu sein. Es wird also durch einen gefahrvollen, persönlichen Ein¬ satz sowohl Autorität als auch Disziplin begründet. Die Erziehung beginnt. Sie beginnt als Auseinandersetzung und bleibt auch Aus¬ einandersetzung ! Das zunächst wichtigste Problem der so entstehenden Lebens- und Erziehungsgemeinschaft ist das Verhältnis der Zöglinge zueinander und zur menschlichen Umwelt. Immer wieder setzt sich primitiver Egoismus durch. Makarenko muß erkennen, daß man das Leben und die Erziehung nicht eigentlich organisieren und durch „Maßnahmen“ erzwingen kann. Wenn die Zöglinge nicht selbst einsehen und innerlich anerkennen, daß sie zusammengehören und welches die Gesetze einer solchen Zusammen¬ gehörigkeit sind, und wenn sie ihre Stelle im Ganzen der menschlichen Lebensgemeinschaft nicht bestimmen können, dann kann ihnen wenig¬ stens auf die Dauer niemand helfen. Sie müssen lernen, ihr Leben als ein Leben mit anderen selbst zu bestimmen. Man kann wohl etwas dafür tun,

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daß dieser Prozeß in Gang kommt, aber man kann nickt bewirken, daß alle „Menschen“ werden. Man kann nicht „machen“, daß alle Konflikte auf hören. Natürlich gibt es auch bei Makarenko Unterrichtung und Bildung in mannigfachem Sinne, aber immer nur als Vorerziehung zur eigentlichen Erziehung. Bildung und Unterrichtung sind mehr oder weniger Sache der Pädagogen, die eigentliche Erziehung aber soll als eine Erziehung zum menschlichen Leben als einem Leben mit und durch andere im wesentlichen gegenseitige Erziehung, Selbsterziehung einer Lebens¬ gemeinschaft, „kollektive“ Erziehung, sein. Die eigentliche These der sich in der Gorki-Kolonie entwickelnden Pädagogik ist, daß alle eigentliche Erziehung, alle moralische Erziehung, nur als Kollektiv-Erziehung möglich ist. Außerhalb eines solchen Kollektivs könne es keinen Umgang der Art geben, daß sich die Erziehung zugleich darauf beziehen und ein Teil davon sein könne.

B. Der Gegensatz von Erziehung und Bildung Makarenko hat den Auftrag, jugendliche Verwahrloste und Rechts¬ brecher zu Menschen zu erziehen. Diese Aufgabe hätte es nahegelegt, sie im Sinne einer „Umerziehung“ zu lösen und dabei nach dem Modell der Medizin, d. h. gemäß dem Diagnose-Therapie-Schema, zu verfahren. Makarenko erwägt diese Möglichkeit auch tatsächlich, lehnt sie dann aber ausdrücklich als unpädagogisch ab (S. Päd. Poem, S. 245ff.). Es schiene zwar einleuchtend zu sein, daß man eine Krankheit, die man heilen wolle, zuvor und so genau als irgend möglich erkannt haben müsse, die Pädagogen verträten ja auch diese Meinung und setzten zu diesem Zwecke die wissenschaftliche Forschung ein, es sei aber doch fraglich, ob man gerade Medizin und Pädagogik parallelisieren könne. Makarenko lehnt es dann sogar ab, auch nur von Krankheit und Heilung zu sprechen. Eine medizinisch orientierte Pädagogik sei eine selbstent¬ fremdete Pädagogik, sie verkenne das eigentliche Wesen des Menschen, seine Freiheit und seine Würde! Makarenko erkennt, daß Erziehung nicht zur „Behandlung“ oder auch nur zur „Gestaltung

und „Bildung“ werden darf. Sie wendet sich dann

an alles im Zögling, außer an sein Selbstsein. Sie spricht ihn also gerade nicht auf das hin an, das er eigentlich realisieren soll. Ja sie verhindert eine solche Realisation geradezu, indem sie ihn zu einem Objekt macht. Die Zöglinge der Gorki-Kolonie haben alle eine Vergangenheit. Nichts

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

241

hätte daher nähergelegen, als diese Vergangenheit zu erforschen und für jeden Zögling eine Krankengeschichte niederzulegen. So hätte man den Defekt suchen und zu beseitigen versuchen können. Aber Menschen haben keinen Defekt, nur Maschinen oder Techniken (s. Flaggen auf den Türmen, S. 505). Menschen könnten zwar nie ihre Geschichte über¬ springen, aber sie könnten jederzeit in sich gehen und sich ändern. Dies sei überhaupt die einzige Chance, die sie selbst und die damit auch die Pädagogen hätten. Alle Zöglinge haben schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht und sich gegenüber sich selbst und den anderen verhärtet. Der Erzieher muß also den Zöglingen auf jeden Fall zunächst Vertrauen entgegen¬ bringen und sie als „Menschen“ ansprechen. Nur so kann er sie aus ihrer inneren und äußeren Isolation befreien und ihnen neue, bessere Erfah¬ rungen ermöglichen. Natürlich geht er dabei ein gewisses Kisiko ein; Makarenko glaubt auch gar nicht, daß ein solches Vorgehen immer Erfolg hat. Moralität und Immoralität sind nicht zwei verschiedene Stufen einund desselben Entwicklungsganges, sondern zwei grundsätzlich ver¬ schiedene Verfassungen des menschlichen Daseins. Dabei ist entschei¬ dend, daß die Immoralität nur ein modus deficiens ist. Die eigentliche Seinsverfassung ist die Moralität. Immoralität ist daher Selbstentfrem¬ dung, Moralität Selbstverwirklichung. Wenn der Mensch ganz mit sich als Mensch übereinstimmen will, muß er auch mit den anderen überein¬ stimmen; er kann dann gar nicht unmoralisch sein wollen. Immoralität kann daher auch nicht als Defekt oder als Krankheit angesprochen wer¬ den und durch „remedia“ bekämpft werden. Sie kann nur durch den betreffenden Menschen selbst aufgehoben werden1). Makarenko nennt seine Methode, solcher Selbstverwirklichung zu Hilfe zu kommen, „die Technologie des Zorns“. Die Auseinandersetzungen zwischen Erzieher und Zögling sollen pädagogisch ausgestaltet werden. Der Erzieher soll zornig werden können, soll aber dabei nicht unpäd¬ agogisch werden dürfen. Er soll den Zögling seinen Zorn fühlen lassen, aber ohne ihn als möglichen „Menschen“ zu mißachten. Man soll seinen Zorn kunstvoll darstellen und einsetzen können. Aus einem solchen

p „Durch die Evolution werden gewisse Dispositionen vorbereitet, Verände¬ rungen in der geistigen Struktur skizziert, aber um sie realisieren zu können, bedarf es schärferer Momente, brauchen wir Explosionen und Erschütterungen...“ Ausg. päd. Sehr., S. 437. S. auch Päd. Poem, S. 618. Marxismusstudien II

16

242

H. H. Groothoff

Verfahren können allerdings leicht eine falsche Autorität und eine falsche Disziplin entspringen. Makarenko geht hier überall offensichtlich über Rousseau und Marx hinaus. Er glaubt daher auch nicht, daß Politik oder Pädagogik den Menschen gut machen könnten. Sie schaffen Vorbedingungen äußerer und innerer Art dazu, dürfen aber nicht versuchen, dem Menschen, wenn sie ihn nicht aufs neue in eine Selbstentfremdung stürzen wollen1), seinen inneren Aufschwung abzunehmen. Der übliche Weg der neuzeitlichen Erziehung ist der über die Schule. Daher auch neigt man überall dazu, Erziehungsheime in Heimschulen umzuformen. Die pädagogische Reformbewegung, mit der sich Maka¬ renko ja ständig auseinandersetzt, sieht ihr Ziel gerade darin, das Unter¬ richten zu kultivieren und es dabei als erzieherisches Moment auszu¬ gestalten ; sie hat den Unterricht pädagogisiert und dabei den Blick auf die eigentliche Erziehung zumindest getrübt. Man sucht überall nach einer Unterrichtsmethode, die als solche zu¬ gleich eine Methode der Bildung und der Erziehung ist; man will also durch eine Lehr- und Lernmethode und nicht durch Umgang miteinander erziehen. Makarenko meint demgegenüber: ,,Die Methodiken der Er¬ ziehung und die des Unterrichts sind meiner Meinung nach zwei ver¬ schiedene Sparten, zwei mehr oder weniger selbständige Teile der pädWissenschaft. Selbstverständlich müssen diese Teile organisch miteinander verbunden sein. Es ist auch klar, daß jegliche Arbeit in der Klasse Erziehungsarbeit ist, ich bin aber nicht damit einverstanden, die Erziehungsarbeit dem Unterricht gleichzusetzen.“ Unterricht kann keine „Explosion , „keine Revolution der Denkungsart“ bewirken. Aller Unterricht läuft darauf hinaus, einen Schüler etwas lernen zu lassen, ein Sichverstehen auf etwas, das entweder mehr ein Wissen oder mehr eine Fertigkeit ist. Das muß, wenn es echt sein soll, so sachgerecht wie kmdgemäß durchgeführt werden. So durchgeführt kann es durchaus das Selbst- und Welt Verständnis des Schülers fördern und seine Haltung wie auch sein Verhalten vorformen. Erziehung dagegen erstreckt sich auf X) Kant und Pestalozzi denken denselben Gedanken. S. Kants These von der „Revolution der Denkungsart“, die allein Moralität bewirken können. S. Rel. i. d. Grenzen der bl. Vernunft, S. 51 der Vorländerschen Ausg. S. ferner Pestalozzis Detonung des spez. erz. Momentes der Päd. in „Lienhard und Gertrud“, Abschn. „Um so gut zu sein als menschenmöglich“, „Wer immer etwas mit den Menschen ausrichten ... will, der muß ihre Bosheit bemeistern, ihre Falschheit verfolgen und ihnen auf ihren krummen Wegen den Angstschweiß austreiben ...“

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

243

den „Umgang“ mit anderen. Darin liegt ebenfalls ein mannigfaltiges Sichverstehen auf etwas, aber darin gebt es doch primär darum, seinen Egoismus zu einem Pluralismus (Kant) hin zu überwinden. Und das kann nur geschehen, wenn ein Konflikt vorliegt, wenn ein Konflikt zwischen dem „Individuum und der Gesellschaft“ entsteht, bewußt gemacht und ausgetragen wird. Nur solche Auseinandersetzmagen kön¬ nen eine ammittelbar erzieherische Wirkung haben. Die eigentliche Erziehung muß daher solche Auseinandersetzungen kultivieren und das ist keine miterrichtliche Aufgabe. Natürlich gehört auch in diesen Zu¬ sammenhang ein Sichverstehen auf . .. sich selbst und die anderen bzw. die Gesellschaft. Makarenko meint daher auch, daß eine „Theorie der Moral“ unentbehrlich sei! Außerdem muß in solche Auseinandersetzun¬ gen, in moralische oder soziale Besinnung und in moralisches oder soziales Verhalten, eingeübt werden. Das kann beim Unterricht in der Klasse geschehen, doch werden sich die besten Gelegenheiten dazu an anderer Stelle bieten. Hierauf wird zurückzukommen sein. Selbstverständlich soll die eigentliche Erziehung auch in der GorkiKolonie durch eine mannigfache Vorerziehomg und durch Schulehalten ergänzt werden. Bedarf doch jeder der Zöglinge auch der „polytechni¬ schen Ausbildung“. Alle Zöglinge sollen nicht nur „diszipliniert“, son¬ dern auch „qualifiziert“ werden. Anders würden sie später zu vielen Anfechtungen ausgesetzt sein!1)

C. Die Durchführung der Erziehung: Die Vorerziehung Wie aber soll denn nun die Erziehung für alle Zöglinge in Gang ge¬ bracht werden? In der Gorki-Kolonie und in der Dsershinskij-Kommune geht Makarenko davon aus, daß die Zöglinge ihr Leben leben müßten. Anders könnten sie nicht frei und nicht menschlich werden. Darum mü߬ ten sie die eigentlichen „Herren im Hause“ sein. Es muß um ihr In¬ teresse — im Rahmen des Interesses ihrer menschlichen Umwelt — und um ihre „Perspektive“, ihren Zukunftsausblick und Zukunftsentwurf, gehen2). Sofern die Zöglinge sich aber noch nicht auf ihr Interesse, ihr wahres Interesse, verstünden, müßten ältere Zöglinge oder Erzieher einhelfen. q S. hierzu auch Ausg. päd. Sehr., S. 13ff., über die Grenzen der Arbeitsschule als Erziehungsschule. Arbeit sei nur ein menschlich-moralisch neutraler Vorgang. 2) Zu dem für M. wesentlichen Begr. der Perspektive s. Päd. Poem, S. 609, 649.

16*

244

H. H. Groothoff

Sie sorgen kraft ihrer Autorität für Disziplinierung. Es kommen aber noch zwei weitere methodische Prinzipien hinzu: Es muß nicht nur überhaupt ein Kollektiv, sondern es muß ein Kollektiv mit einer gemeinsamen lebenswichtigen Aufgabe und es muß ein Kollektiv mit reicher innerer Gliederung, mit Neben- und Überordnung, zustande kommen. „Was ist ein Kollektiv? Es ist nicht einfach eine Ansammlung oder eine Gruppe von Individuen, die, einander wechselseitig beeinflussend, Zusammen¬ arbeiten, wie die Pädologen gelehrt haben. Das Kollektiv ist ein ziel¬ strebig ausgerichteter Komplex von Persönlichkeiten, die sich organi¬ siert haben und sich der Organe des Kollektivs bedienen. Wo ein Kollektiv als Organisation besteht, da besitzt es auch seine Organe, und die Beziehungen von Kamerad zu Kamerad erschöpfen sich nicht in der Freundschaft, Zuneigung oder Nachbarschaft, sondern sie wollen als eine von Verantwortungsbewußtsein sein“ (Ausg. päd. Sehr., S. 79).

getragene

Abhängigkeit

betrachtet

Das soll aber nicht heißen, daß dieses Kollektiv ohne weiteres mit dem Lebenskollektiv der Erwachsenen gleichgesetzt werden darf. Es muß vielmehr trotz seines organisatorisch-hierarchischen Aufbaus ein „ur¬ sprüngliches“, ein „Kontaktkollektiv“ bleiben und jeden mit, jedem in unmittelbare Berührung bringen, anders wäre es zwar als politisches, aber nicht als pädagogisches Kollektiv zu gebrauchen (s. Ausg. päd. Sehr., S. 45ff.). Ohne eine gemeinsame lebensnotwendige Aufgabe aber kann ein solches Kollektiv gar nicht entstehen. Ihm würde der Kristallisations¬ punkt fehlen. Die erste und zugleich elementarste derartige Aufgabe ist — auf eine ökonomisch wie moralisch bzw. sozial richtige Weise —, den Lebensunterhalt des Kollektivs zu erarbeiten. Und eben diese Aufgabe war den Makarenkoschen Kollektiven gestellt. Sie wird übernommen und gelöst. Von ihr her haben diese Kollektive ihre Form und ihre innere Sicherheit. Aus diesem Sachverhalt geht aber auch hervor, daß sie nicht überall entstehen können, die Makarenkoschen Kollektive also etwas historisch Einmaliges sind und nicht verpflanzt werden können. Dieser Sachverhalt bedeutet aber nicht, daß man nicht doch etwas Grundlegen¬ des aus ihnen lernen kann. Entscheidend ist nun aber die Art und Weise, in der diese Aufgabe wahrgenommen und dieses Kollektiv ausgestaltet und gesichert wird. Makarenko selbst sagt, daß in diesem Zusammenhang zunächst „das System der Einsatzabteilungen“ und der damit zusammenhängenden „Kommandeurerziehung“

von Wichtigkeit

sei. Höheren

Orts

habe

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

245

man leider eben gerade dieses pädagogische Mittel verkannt und verurteilt. Dieses System ist bezeichnenderweise nicht aus einer pädagogischen Erwägung und Planung hervorgegangen, sondern aus den Notwendig¬ keiten des Alltags heraus entstanden. Die Pädagogik formt bei Maka¬ renko, was so entsteht, nur durch, sie macht es pädagogisch fruchtbar und verantwortbar. Der Alltag der Gorki-Kolonie bringt, wie es in solchen Heimen zu sein pflegt,

die

verschiedensten Aufgaben mit

sich,

und

zu

ihrer besseren Erledigung kommt man auf den Gedanken, nicht nur die üblichen Schlaf- und Wohngemeinschaften, sondern auch Arbeits¬ gemeinschaften,

„Einsatzabteilungen“

durchzuorganisieren. lichen

Führer,

Jede von

einen

ihnen

eben,

zu

bekommt

bilden

und diese

einen verantwort¬

„Kommandeur“. Der Gewinn dabei ist ein

mehrfacher, es wird nicht nur schneller und zuverlässiger gearbeitet, sondern es wird auch das Gemeinschaftsleben als solches lebendiger und vielfältiger durchgebildet. Die Pflege der kameradschaftlichen Be¬ ziehungen wird durch die einer wechselnden Über- und Unterord¬ nung ergänzt. Die Zöglinge lernen sich nicht nur partnerschaftlich, sondern auch befehlend und gehorchend und trotzdem menschlich zu verhalten. „Das System der Einsatzabteilungen machte das Leben in der Kolonie spannend und interessant durch den ständigen Wechsel von Arbeits- und Organisationsaufgaben, durch den Wechsel von leiten und sich unter¬ ordnen, durch die Wechselwirkungen der gemeinschaftlichen und der persönlichen Interessen“ (Päd. Poem, S. 230)1). Makarenko hat hier sicherlich etwas Wesentliches erfaßt: Die mensch¬ liche Gesellschaft ist immer sowohl nachbarlich-partnerlich als auch hierarchisch-organisatorisch strukturiert. Während aber nun die Päd¬ agogik fast ausschließlich die Nebenordnung ins Auge gefaßt und für das entscheidende menschliche und damit auch für das entscheidende erzieherische Problem erklärt hat, macht Makarenko darauf aufmerksam, daß sich die menschliche Gesellschaft immer auch zu einem hierarchischen Zusammenhang durchbildet und auch durchbilden muß, wenn sie *) Die größte Bedeutung soll in diesem Zusammenhang das Moment der Verantwortung

haben.

Von

ihm sagt

M. in

seiner

etwas

technizistischen

Sprache, daß es einer Drehbank vergleichbar sei, an der die Bolzen gedreht würden, die dann später die Persönlichkeit als solche zusammenhielten. Päd. Poem, S. 640ff.

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gemeinsame Aufgaben wahrnehmen will, und daß sich damit das schwierigere menschliche und erzieherische Problem stellt. In diesem Zusammenhang entstehen die meisten und die verletzendsten Konflikte. Es ist schwer zu befehlen, man kann leicht den anderen und damit auch sich selbst verderben, man kann aber durch die Aufgabe des Befehlens auch zur Verantwortlichkeit und zur Menschlichkeit erzogen werden. Von fast ebenso großer Wichtigkeit für die Durchführung der oben genannten Aufgabe ist aber ein zweites Prinzip noch: Das Kollektiv muß, um inneren und äußeren Bestand gewinnen zu können, nicht nur organi¬ satorisch, sondern „gesellschaftlich“ durchgebildet werden. Es muß im ganzen und in jeder Hinsicht „Form“ gewinnen. Höchst bemerkenswer¬ terweise spricht hier gerade der Marxist Makarenko davon, daß ständig Tradition begründet und gepflegt iverden müsse.

„Solange noch kein Kollektiv und keine Kollektivorgane geschaffen sind, solange es weder Traditionen gibt, noch grundlegende Arbeits- und Lebensgewohnheiten anerzogen sind, hat der Erzieher das Recht, Zwang auszuüben, und darf nicht auf sein Recht verzichten“ (Päd. Poem, S. 142 f.). Was Makarenko hier im Auge hat, nennt er selbst die Ausbildung von „Stil und Ton“. Er meint, das Leben einer solchen Lebens- und Er¬ ziehungsgemeinschaft müsse wie eigentlich alles gesellschaftliche Leben einen einheitlichen und alles bestimmenden Lebens-„Stil“ und einen entsprechenden Umgangs-„Ton“ gewinnen. In Stil und Ton drücke sich das unmittelbare Verhältnis zur Gesellschaft und zu jedem ihrer Mit¬ glieder, drücke sich also die Art und Weise, das „Menschliche“, des gesellschaftlichen Miteinander aus. Stil und Ton sind daher eminent erzieherisch. Sie bilden eine ästhetische bzw. musische Vorerziehung zur

eigentlichen

Erziehung.

Stil

und

Ton einer

Gesellschaft

be¬

stimmen das Verhalten und die Haltung aller ihrer Mitglieder ent¬ scheidend mit. Makarenko sagt: „Stil und Ton wurden in der pädagogischen Theorie stets ignoriert, und doch sind sie der wesentlichste und wichtigste Teil der Kollektiverziehung. Stil ist ein empfindliches und leicht verderbliches Ding, er muß gepflegt und jeden Tag beobachtet werden, er bedarf der gleichen minutiösen Fürsorge wie ein Blumenbeet. Stil entsteht sehr langsam, weil er ohne alle Tradition undenkbar ist, d. h. ohne Grundsätze und Gewohnheiten, die nicht vom reinen Bewußtsein angenommen wer¬ den, sondern in bewußter Achtung vor den Erfahrungen älterer Gene-

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

247

rationell und vor der Autorität des ganzen Kollektivs, das ein Gebilde der Zeit ist“ (Päd. Poem, S. 638)1). Was Makarenko hier mit wirklich unendlicher Liebe pflegt und in seinen Schriften immer wieder darstellt, ist aber von mehreren Philo¬ sophen und Pädagogen — von Plato an — herausgestellt worden. Makarenko variiert mehr nur, als daß er modifiziert. Das ändert aber an der Bedeutung seines Tuns nicht viel, denn auch hier liegt seine Stärke weniger in der Theorie als in der Praxis. Immer wieder praktiziert er, was die philosophische und pädagogische Beflexion entworfen hat. Durch seine Arbeitserziehung in Einsatzabteilungen mit Führern aus den Reihen der Zöglinge und durch seine ästhetisch-moralische Bildung fügt Makarenko der Reformpädagogik mehr nur Ideen hinzu, als daß er sie auf hebt. Die Makarenkosche Arbeitserziehung ist eine neue Version dessen, was der Jena-Plan der Petersen-Schule „Gruppenarbeit“ und „Gruppenerziehung“ nennt, und die Makarenkosche Bildung durch „Stil und Ton“ ist eine neue Version dessen, was Otto Haase in seinem „Musischen Leben“ „musische“ Erziehung genannt hat. Wie sehr diese ästhetische Vorschule der moralischen Erziehung einer solchen Lehre von der musischen Erziehung entspricht, zeigt sich in vielen Momenten, vor allem im Theaterspiel, dem bei Makarenko ein außerordentlicher Raum zugebilligt wird, aber auch in der ausdrücklichen Pflege, die man der Wohnung und der Kleidung zukommen läßt, nicht zuletzt auch in der besonderen Aufmerksamkeit, die man der Höflichkeit widmet. Makarenko entwickelt aber noch ein drittes grundlegendes Prinzip: Er weiß, daß Kinder nicht eigentlich „arbeiten“ oder „künstlerisch schaf¬ fen“, auch nicht „feiern“ oder „müßig gehen“. Kinder spielen immer (s. Päd. Poem, S. 204ff. u. Ausg. päd. Sehr., S. 86ff.). Kinder spielten alles, was sie täten, aber ihr Spiel sei nicht einfach spielerisch, sondern habe seinen eigenen Ernst, überhaupt seine eigenen Gesetze. Daraus ergäbe sich für den Erzieher, daß er immer wieder alles im Sinne seiner

l)

Eben diesen Gedanken denkt auch Kant. Er wird sich darüber klar, daß eine

im engeren und eigentlichen Sinne moralische Erziehung nur wenige Möglichkeiten hat, daß sich aber die Päd. nicht nur des „Willens“, der „praktischen Vernunft“ selbst, sondern auch des „moralischen Gefühls“ annehmen kann und muß. Sie soll daher die „Teilnehmung“ und die „Mitteilung“ kultivieren und so eine Art „gesell¬ schaftlicher“ oder auch ästhetischer Propädeutik zur eigentlichen Erziehung ent¬ wickeln. S. hierzu insbes. Anthrop. i. pragm. Hinsicht, Vorländersche Ausgabe, S. 153ff u. M. d. S. derselben Ausgabe, S. 241 ff.

248

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Zöglinge als Spiel ausgestalten und dieses Spiel dann mitspielen müßte.

auch selbst

Wiederum ergibt sich aus dem Alltag, was zu geschehen hat: Gewisse Sicherungsaufgaben, wie sie damals in Rußland überall wahrgenommen werden mußten, zeigten, daß die Jungen der Gorki-Kolonie eine gewisse \ orliebe für das Soldatenspiel hatten. Sie neigten dazu, ihren Umgang miteinander bei allen sich dazu bietenden Gelegenheiten militärisch aus¬ zugestalten und im Sinne des „Soldatenspiels“ durchzuspielen. Makarenko nimmt diese Tendenz auf und gestaltet mit Hilfe seiner Zöglinge das System der „Einsatzabteilungen und Kommandeurerziehung“, ja eigentlich das ganze Leben der Kolonie, im Sinne dieses Spiels durch. Seine Gegner behaupten daraufhin, er sei ein ehemaliger Oberst und richte allen Regeln der Pädagogik entgegen sein Heim als eine Kaserne ein (Päd. Poem, S. 207ff.), aber Makarenko läßt sich nicht beirren, er spielt sein Spiel weiter. Es ereignet sich hier also das Paradox, daß eben das, was wir musisches Leben und musische Erziehung nennen und unter anderem gegen die „Kaserne“ entwickelt haben, bei Makarenko als Kaserne auftritt und trotzdem wenigstens in seiner ursprünglichen Form durchaus pädagogisch und musisch gewesen ist. Was dann später aus diesem Ansatz geworden ist, ist eine Sache für sich; dieses Problem soll hier nicht aufgerollt werden.

D. Die Durchführung der Erziehung: Die eigentliche Erziehung ^ Die Methodiken der Ausbildung durch die „Einsatzabteilung und Kommandeurfunktion“, der Formung durch „Stil und Ton“ und beider Zusammenfassung im „Soldatenspiel“ sollen nun zwar die „technologi¬ schen Hauptelemente“ der moralischen Erziehung sein, sind aber trotz¬ dem diese Erziehung noch nicht selbst. Die eigentliche Erziehung besteht vielmehr, wie sich ja auch schon gezeigt hat, aus Auseinandersetzungen zwischen den Zöglingen und zwischen Erziehern und Zöglingen. In diesen Auseinandersetzungen wird ausgekämpft,

was

moralisch

und

was

unmoralisch ist. Es wird den Beteiligten bewußt gemacht, worin sie recht haben und worin sie unrecht haben. Sie kehren dann um oder nicht. Wer sich weiterhin über das Maß dessen, was für das Zusammenleben not¬ wendig ist, unhöflich, ungerecht oder unmoralisch verhält, verfällt der allgemeinen Mißachtung oder dem Ausschluß. Die wohl wesentlichste Stelle der Reflexionen Makarenkos gehört in diesen Zusammenhang. Sie stammt aus den Vorarbeiten zum Päd. Poem

A. S. Makarenko und das Problem der Selbstentfremdung

249

und sollte der Selbstverständigung dienen. Sie macht zugleich deutlich, wieso Bildung nicht Erziehung sein kann, wieso alle bloß äußerliche und bloß gesellschaftliche Kultivierung die eigentliche Aufgabe der Erziehung gar nicht lösen kann, wieso es also einer ganz anderen Bemühung noch bedarf: „Niemals hatte ich evolutionären Wegen ein besonderes Gewicht bei¬ gemessen. Auf Grund meiner Erfahrung hatte ich mich davon überzeugt, daß auch ein noch so gesund, fröhlich und richtig lebendes Kollektiv sich nie lediglich auf die rettende Gewichtigkeit der Evolution verlassen dürfe, sondern sich auf die allmähliche menschliche Vervollkommnung orientieren müsse ... Durch die Evolution werden gewisse Dispositionen vorbereitet, Veränderungen in der geistigen Struktur skizziert, aber um sie realisieren zu können, brauchen wir Explosionen und Erschütte¬ rungen ... Da wir immer mit den Beziehungen zu tun haben und gerade die Beziehung das eigentliche Objekt unserer pädagogischen Arbeit ist, steht immer ein Beziehungspaar vor uns: Es sind die Persönlichkeit und die Gesellschaft. Es ist vollkommen unmöglich und technisch undenkbar, die Persönlichkeit auszuschalten, zu isolieren und aus den Beziehungen herauszulösen. Infolgedessen ist die Evolution einer einzelnen Persönlich¬ keit in der Vorstellung unmöglich, man kann sich nur die Evolution der Beziehung vorstellen. Ist die Beziehung jedoch bereits zu Beginn defek¬ tiv, ist sie in ihrem Ausgangspunkt schon verdorben, dann besteht immer große Gefahr, daß gerade diese Anomalität der Evolution unterliegt und sich entwickelt ... Explosion nenne ich in diesem Zusammenhang folgendes: Der Konflikt wird bis zur äußersten Grenze geführt, so weit, daß es keine Evolutionsmöglichkeiten mehr gibt und der Rechtsstreit zwischen der Persönlichkeit und der Gesellschaft so weit gediehen ist, daß es auf Biegen und Brechen nur noch eine Fragestellung gibt — Mitglied der Gesellschaft zu sein oder aus ihr auszuscheiden ... Der entschiedene Protest des Kollektivs, der sich in grellen gefühlsbetonten Äußerungen kundtut, seine unabdingbare Forderung sind derselbe „kategorische Imperativ“, nach dem die idealistische Philosophie vor langer Zeit gesucht hat“ (Ausg. päd. Sehr., S. 437f.). Von dieser Stelle aus wird in der Tat der ganze hier in Frage stehende Zusammenhang noch einmal deutlich, auch seine Beziehung zu Kant und das ganz Unkantische, Rousseauische und Marxsche daran. Es liegt hier eine Konzeption vor, die Erziehung und Bildung, „Explosion“ und „Evolution“ ganz richtig trennt, die Erziehung erstrebt und erkennt, daß solche Erziehung sich auf die Beziehung des einen zu den anderen,

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auf den Umgang der Menschen als Menschen miteinander, bezieht, die aber kein Kriterium für die Grenzen des Primats der Gesellschaft ent¬ wickelt hat und daher nicht verhindern kann, daß nun die Gesellschaft ihrerseits unmoralisch werden und den einzelnen unterdrücken, ver¬ letzen, ja sogar zerstören kann. Makarenko zitiert den Kategorischen Imperativ, aber er interpretiert ihn trotz seiner Nähe zu Kant, insbeson¬ dere zu dessen Einsicht in die Unmöglichkeit, Moralität zu „entwickeln“, nicht kantisch, sondern rousseauisch. Natürlich werden auch für diesen Teil der Erziehung Methodiken entwickelt. Makarenko stellt drei Möglichkeiten dar: Man wird, wenn man sich nach Meinung der jeweils anderen vergangen hat und in einen Konflikt mit ihnen geraten ist, entweder von den Nächsten „ins Gespräch gezogen“ und in eine Auseinandersetzung darüber verwickelt, ob man nun einen vernünftigen und menschlichen Grund für sein Verhalten ge¬ habt hat oder nicht, oder man wird zum Leiter zitiert und von diesem „ins Gespräch gezogen“ oder vor die Vollversammlung der Kolonie, vor die Gesellschaft selbst also, geladen und „in die Mitte gezogen“. In „Flaggen auf den Türmen“ werden, wie schon erwähnt, einige Jugendlichenlebensläufe dargestellt. Zwei von ihnen sind von besonderer Bedeutung: Igor, ein junger Intellektueller, hat eine reichlich gute Mei¬ nung von sich und kann sich daher nur schlecht einordnen, er ist als geistreich beliebt, wird aber gelegentlich als schlechter Kamerad gemißbilligt. Eines Tages benimmt er sich einem Mädchen gegenüber mehr als unhöflich, verletzt es geradezu. Igor wird auf den späten Abend zum Leiter bestellt. Er läuft in der Kommune umher und macht sich Gedan¬ ken. Und am Abend spricht nicht der Leiter, sondern Igor selbst; er hat inzwischen begriffen, daß er etwas falsch gemacht hat. Igor macht eine neue Erfahrung mit sich selbst; betroffen kehrt er auf seinem Wege um. Das Gespräch ist ganz und gar ein inneres Gespräch geworden, dabei aber doch eine echte Auseinandersetzung geblieben. Der andere ist Ryshikow. Dieser ist ein schlauer, verschlagener junger Mann, der unter der Maske eines kommunistischen Biedermannes zu Ansehen und Erfolg kommt, aber schließlich doch der Scheinheiligkeit überführt wird. Ryshikow hat sich erheblicher Unterschlagungen schuldig gemacht, wird „in die Mitte gezogen“ und bricht Auge in Auge mit allen denen, die er hinters Licht geführt hat, zusammen, kann aber doch nicht bereuen und seinen Sinn ändern. Er muß die Kolonie verlassen. Makarenko weiß, daß immer eine Sinnesänderung nötig ist, daß diese vom Zögling selbst vollzogen werden muß, daß man aber dem Zögling

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dabei behilflich sein kann. Er kann die Auseinandersetzung, die eigentlich eine mit sich selbst ist, auch mit anderen und mit der Gesellschaft, sofern diese organisiert ist, führen. Aber Makarenko weiß auch, daß selbst die beste Methode keine Gewähr dafür bietet, daß der Zögling in seiner Auseinandersetzung mit sich selbst seinen Egoismus zugunsten des für den Menschen notwendigen Pluralismus überwindet. Makarenko will ein Lebenskollektiv gestalten, das ganz und gar Erziehungskollektiv ist. Diese Absicht liegt durchaus auf der Linie der Pestalozzischen Bemühungen und der Reformpädagogik. Aber bei Makarenko sollen die Zöglinge sich mehr als anderswo selbst erziehen. Die Erzieher sollen sich mehr und mehr überflüssig machen; sie sollen eine gewissermaßen selbsttätige Erziehung in Gang bringen und dann nur noch überwachen. Die Zöglinge sollen auch moralisch die „Herren im Hause“ sein! Makarenko weiß, daß die bei uns vorherrschende theoretische Pädagogik zumeist vom „Verhältnis des Erziehers zum Zögling“ — dem „pädagogi¬ schen Bezug“ der Dilthey-Nohl-Schule unserer theoretischen Pädagogik — ausgeht, dann beider wichtigste Bestimmung erörtert und schließlich das erzieherische Verhältnis selbst näher zu bestimmen sucht (s. Ausg. päd. Sehr., S. 416ff.). Aber eben diesen Ansatz hält er für unglücklich, da er das Pädagogische isoliere und nicht vom Zusammenhang des Lebens ausginge. Es bliebe ja so in der Tat nichts anderes übrig, als den Erzieher wie den Zögling näher zu bestimmen, statt die Erziehung selbst auf ihr Ziel, die Moralisierung des Lebens der Zöglinge im einzelnen wie im Zusammenhang miteinander, voranzutreiben. Wenn man den Zögling näher bestimmen wolle, käme man zu seiner „Bildsamkeit“ und damit zur „Pädologie“. Und wenn man den Erzieher näher bestimmen wolle, käme man dazu, zu fordern, daß er ein „Mensch“ und voller Liebe zu seinen Zöglingen sein solle. Aber was denn das für ein Erzieher sein würde, dessen „hauptsächliches Instrument seine ihm eigene Menschlich¬ keit“ sei? Außerdem führe doch das „Rezept des guten Herzens“ und der Liebe nur selten zu einer „Tat“. Es könne eigentlich nur Schein¬ heiligkeit dabei herauskommen,

Nichtidentität von gefühlsmäßiger

Intention und tatsächlicher Realisation. Es käme vielmehr — abgesehen von der Moralität, die sich für einen Erzieher von selbst verstünde — auf „schnelle Analysen“ und „sofortige Taten“ an. Der Erzieher müsse nicht nur voll guten Willens und klaren Verstandes, sondern auch bereit sein anzufangen, Erfahrungen zu machen und Meisterschaft zu erwerben. Ohne pädagogische Meisterschaft,

ohne eine Methode,

sich

selbst

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überzeugend und pädagogisch richtig einzusetzen, könne keine eigentliche Erziehung in Gang kommen. Aber diese Meisterschaft, überhaupt diese ganze Methodik dürfe nicht dazu verführen, vom Erzieher aus alle Zög¬ linge erziehen zu wollen. Der Erzieher dürfe trotz aller notwendigen ,,Technologie“ nur einrichten und anleiten.

VI. Die Erziehung in der Familie: ,,Ein Buch für Eltern“ Die weitaus meisten Kinder werden aber nicht in Heimen, sondern in Familien erzogen — oder eben nicht erzogen. Makarenko versucht daher, ein Werk über die Familienerziehung auszuarbeiten. Dieses Werk ist natürlich für die allgemeine Pädagogik deswegen besonders wichtig, weil es sich auf gewissermaßen normale Verhältnisse bezieht und keine Sonderwelt mit einer relativ weitgehenden Autonomie und Autarkie wie die Gorki-Kolonie und die Dsershinskij-Kommune voraussetzt. Darum wird auch hier erst ganz deutlich, worauf es Maka¬ renko in der Hauptsache ankommt und was gegebenenfalls als auch für uns lehrreich zu erörtern ist. Makarenko ist sich darüber klar, daß schlechthin die ganze Umwelt erzieht (S. 15), daß man daher — insbesondere im marxistisch orientier¬ ten Bereich — fordern müßte, die ganze menschliche Welt hinsichtlich ihrer erzieherischen Bedeutung und Wirkung zu erforschen und in Ord¬ nung zu bringen. Das ist aber eine Forderung, die praktisch unerfüllbar ist. Man muß daher mit der zunächst am besten zu realisierenden und zugleich für die ersten Lebensalter relevantesten Erziehung anfangen: Die Pädagogik muß sich der Eltern annehmen. Es sei gängige Vorstellung bei Eltern, daß ihr Kind zu erziehen und ihr Leben zu führen zwei verschiedene Dinge seien. Sie wunderten sich dann aber oft darüber, daß ihr Kind plötzlich diese oder jene Unart zeige. Man griffe zu Maßnahmen, mache damit aber das Übel meistens nur noch schlimmer (S. 11 u. 14). Makarenko betont hier noch schärfer als im Päd. Poem, daß es zu der eigentlichen Erziehung zwar auch eine Art Technologie gäbe und geben müsse, aber keine „Tricks“ und keine „Rezepte“! (S. 46 u. 389.) Man könne eine Erziehung nicht wie ein Geschäft betreiben! „Wenn ein Sohn seine Mutter kränkt, so hilft kein Rezept, denn es bedeutet, daß ihr euern Sohn schlecht erzogen habt, schon von jeher und schon lange habt ihr ihn schlecht erzogen. Da muß die ganze Erziehungs¬ arbeit von vorne begonnen werden, ihr müßt in eurer Familie vieles

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überprüfen, über viel nachdenken und euch vor allem einmal selbst unter die Lupe nehmen. Aber wie man sich unmittelbar nach der begangenen Grobheit verhalten soll, das kann man allgemein nicht entscheiden — das ist höchstens individuell bedingt. Ihr müßt wissen, was für ein Mensch ihr seid und wie ihr euch in der Familie verhaltet. Vielleicht wart ihr selbst einmal in Gegenwart des Sohnes grob zu eurer Frau. Und wenn ihr eure Frau gekränkt habt, während der Sohn nicht zu Hause war, ist das auch beachtenswert“ (S. 21). Es kommt aber nicht nur darauf an, daß man mit sich selbst, und zwar ganz seinen individuellen Verhältnissen nach ins reine kommt, sondern es kommt auch darauf an, seine Familie als Familie in Ordnung zu bringen, ihr die rechte „Form“, den rechten „Stil“ und den rechten „Ton" zu geben. Die Familie muß zu einem „Familienkollektiv“ werden, damit die eigentliche Erziehung in Gang kommen kann! Makarenko stellt in mehreren Geschichten dar, welche Mängel hier auftreten können und wie etwa ein richtiges Familienkollektiv aussieht. Dabei wird wieder deutlich, daß er unter Kollektiv nichts anderes ver¬ steht als eine aus verschiedenen Individuen bestehende, also mannig¬ faltige, aber in sich harmonische und funktionsfähige Gesellschaft. Anders aber ist überhaupt keine Familie und keine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft möglich. Entscheidend soll dabei sein, daß der Vater „Vater“ und nicht Pa¬ triarch — gemeint ist patriarchalischer Tyrann — ist. Die Mutter soll dementsprechend „Mutter“ und nicht Dienstmagd für alle anderen sein. Makarenko hält von dem „schweigenden Heldentum der Mütter“ nicht viel, er meint, diese Art von Güte zöge das Böse geradezu an. Und das Kind selbst schließlich soll nicht bloß Objekt der elterlichen Maßnahmen sein, sondern eine eigene Stelle im Ganzen haben. Es soll daher auch nie nur mithelfen, sondern — immer seinem Alter entsprechend — eigene Pflichten und Rechte bekommen (s. auch S. 121). Die Grundproblematik der Familienerziehung wie überhaupt die der Makarenkoschen Pädagogik kommt in dem zentralen Kapitel des „Buches für Eltern“ zum Ausdruck. Dieses Kapitel hat die bezeichnende Über¬ schrift: „ Autorität, Disziplin und Freiheit im Familienkollektiv“ (S. 165 ff.). Die Geschichte des kleinen Wasja, die hier erzählt wird, begiimt mit der Frage nach der Autorität: „Was ist Autorität? Man vermeint, Autorität sei um der Kinder willen notwendig, und je nach dem Verhältnis zu den Kindern stellt man sie in verschiedenen Formen her. Die päd¬ agogische Relativität (Relation?) ist die Hauptquelle der Fehler solcher

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Eltern. Eine Autorität, die eigens für die Kinder zurecht gemacht wird, kann es nicht geben. Eine solche Autorität wird immer ein Surrogat sein und erfolglos bleiben. Die Autorität muß in den Eltern selbst liegen, und zwar unabhängig von ihrer Beziehung zu den Kindern. Sie wurzelt nur an einer Stelle: im Verhalten der Eltern, das alle einzelnen Betätigungen oder besser das gesamte väterliche und mütterliche Leben .. . einschließt.“ Makarenko meint also nichts anderes, als daß die elterliche, wie über¬ haupt die erzieherische und die menschliche Autorität einzig in der eigenen Disziplin wurzeln könne. Auf dieses Problem kommt Makarenko am Schluß seiner Geschichte zurück: „Die Geschichte von Wasja ist zu Ende. Sie sollte keine Moral¬ predigt sein ... Wir hatten das Glück, Wasjas Leben in einem höchst verantwortlichen und entscheidenden Augenblick zu verfolgen, nämlich als der kleine Junge aus dem warmen Nest der Familie auf die breite Straße des Lebens hinausging .. . Diesem Übergang kann man nicht ausweichen ... Alle Eltern wissen das, und trotzdem lassen sehr viele von ihnen ihr Kind in diesem verantwortlichen Augenblick ohne Hilfe, und es sind gerade jene Väter und Mütter, die durch die Elternmacht und das Elternspiel völlig verblendet sind ... Das Kind ... lebt .. . sein eigenes blutvolles und reiches Leben. Wenn wir an die Stärke seiner Gefühle, an die Unruhe und Tiefe seiner Eindrücke, an die Reinheit und Schönheit seiner Willensanstrengung denken, so ist das kindliche Leben unvergleichlich reicher als das Leben der Erwachsenen. Aber seine Schwingungen sind deshalb nicht nur großartig, sondern auch gefähr¬ lich ... Wenn ihr dieses reiche erfüllte . .. zarte Leben ... in seinem Wesen erkennt ... wenn ihr daran teilnehmt — nur dann wird eine elterliche Autorität wirksam und fruchtbar sein.“ Zur Autorität der Eltern und Erzieher überhaupt muß das in der Pädagogik immer gefor¬ derte liebe- und verständnisvolle Verhältnis zum Kinde noch hinzu¬ kommen. Nur so kann dem Kinde zu seiner Disziplin und damit auch zu seiner — späteren — Autorität verholfen werden. „Wenn ihr aber euer Kind schlagt, so ist das auf jeden Fall eine Tragödie, entweder eine des Schmerzes und der bitteren Kränkung, oder eine Tragödie gewohnheitsmäßiger Gleichgültigkeit und grausamen kindlichen Duldens (kindlichen Duldens von Grausamkeiten?) ... Häufig genug bekommen es dann die Kinder fertig, neben dem elterlichen Despotismus schlau ihren eigenen kindlichen Despotismus zu errichten. ... Dieser gegenseitige Despotismus führt zur Zerstörung der letzten Reste von Disziplin und eines gesunden Erziehungsprozesses.“ Hier

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springt deutlich sichtbar das Freiheitsproblem heraus: Autorität und Disziplin sind nur da menschlich und somit, was sie sein sollen, wo sie nicht auf Macht und Zwang, sondern auf Erfahrung, Einsicht und Überzeugungskraft, auf Freiheit also, aufgebaut sind. Autorität ist nichts anderes als überzeugende Disziplin, und Disziplin ist nichts anderes als überzeugte Freiheit. Das bedeutet, daß Makarenko unter Freiheit moralische Freiheit, Autonomie der „praktischen Vernunft“, Selbst¬ gesetzgebung des einzelnen wie der Gemeinschaft versteht. „Weder Despotismus und Zornesausbrüche (!) noch Geschrei und Bitten oder Flehen sind die äußeren Kennzeichen einer richtigen Famihendisziplin, sondern eine ruhig und sachlich gegebene Anordnung ... Jeder Elternteil muß lernen, Befehle zu erteilen . . . Wenn ihr überdies noch lernt, die wirklichen von den erdichteten Bedürfnissen der Kinder zu unterscheiden, dann werden eure elterlichen Anordnungen unbemerkt zu einer wertvollen und angenehmen Form der Freundschaft zwischen euch und dem Kinde werden!“ Hier allerdings erhebt sich die Frage, nach welchem Maßstab denn die wahren von den erdichteten Bedürfnissen unterschieden werden sollen. Setzt nicht eine solche Unterscheidung eine Einsicht voraus, die der Mensch nicht hat? Wo Makarenko sich ganz erklärt, kommt eine ge¬ wisse Zweideutigkeit zum Vorschein. Wer über die Bedürfnisse und deren Befriedigung befindet, ist Patriarch bzw. Tyrann, ganz gleich, wie aufgeklärt und gutwillig er sonst auch sein mag! Eltern und Erzieher müssen zwar so anfangen, wie Makarenko hier fordert, können diesen Ansatz auch zu einem guten Ende führen, zur wahren Disziplin und Autorität ihrer Kinder und Zöglinge, können auch deren Freundschaft erwerben, müssen aber gerade versuchen, die ihnen zunächst auf Gedeih und Verderb anvertrauten jungen Menschen — im Kähmen der Moral, der Rechtlichkeit und der Höflichkeit — auch und gerade in Hinsicht auf die Bedürfnisbefriedigung freizusetzen, denn diese ist das schlechthin Individuelle, das nicht generalisiert werden kann. Es wird nötig, dieses Kernproblem jetzt gesondert herauszustellen und zu erörtern.

VII. Erste Zusammenfassung Von den einleitend gestellten Fragen ist die erste, die nach einer vom Marxismus und seinem Begriff der Selbstentfremdung des neuzeitlichen Menschen ausgehenden Pädagogik, beantwortet: Eine solche Pädagogik liegt bei Makarenko vor. Es bleibt also nur noch übrig, die zweite dieser

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Fragen, die nach der Bedeutung einer solchen Pädagogik für uns. zu beantworten. Es hat sich als das eigentümlich Bedeutsame der Pädagogik Makarenkos herausgestellt, daß sie in bewußtem Gegensatz zu der bei uns im allgemeinen vorherrschenden Pädagogik eine Erziehungslehre im engeren und eigentlichen Sinn sein will. Makarenko übernimmt die europäische pädagogische Tradition und erklärt wie sie. es käme alles darauf an, daß der Mensch als ein potentiell ..freies“ und ..vernünftiges" und als solches stets mit anderen seiner Art ,.umgehendes“ Wesen dazu gelange, diese seine Natur zu realisieren: er müsse dazu erzogen werden, von seiner Freiheit einen für ihn selbst wie für alle anderen ..vernünftigen“ Gebrauch zu machen; er solle Moralität qua Sozialität gewinnen. Makarenko über¬ nimmt also die Position der Descartes, Locke, Rousseau, Kant usw. Das bedeutet, daß man ihn daraufhin befragen muß, welche dieser Konzep¬ tionen er denn eigentlich vervollkommnen und in der geschichtlichen Wirklichkeit durchsetzen will. Makarenko sieht ein, daß die Erziehung als solche ein besonders dringendes, aber zugleich auch besonders schwieriges Problem ist: man kann nicht so ohne weiteres und so unmittelbar erziehen wie unterrichten und bilden! Deswegen hatte ja auch die Reformpädagogik das Erziehen in das Bilden und dieses in das Unterrichten (besser: Schulehalten) hineinnehmen wollen. Aber Makarenko sieht auch ein. daß auf diese Weise die Erziehung und damit Moralität und Sozialität in der Pädagogik zum Verschwinden gebracht werden können. Er führt uns also zum Problem der Erziehung als einer Erziehung zur .Moralität qua Sozialität zurück! Das Wesen solcher Erziehung ist von Kant und Pestalozzi wenigstens seinem Prinzip nach aufgewiesen. Aber beide haben — auch in ihren Nachfolgern — das Problem der Durchführung einer solchen Erziehung m unserer Welt doch nicht befriedigend gelöst. Hier setzt Makarenko ein: Wie muß eine „Technologie“ (besser: Methodik) der eigentlichen Erzie¬ hung aussehen ? Bisher hatte man im allgemeinen, so meint Makarenko. drei Wege eingeschlagen: Wenn kein besonderer Anlaß vorlag und man sich nur allgemein auf Moralität bezog, hat man die „Logik der Predigt" angewandt, man hat die Immoralität beklagt, die Moralität gelobt und alle mit möglichst ergreifenden Worten aufgefordert, doch gut und nicht böse zu sein. Diese Logik sei daher keine andere als die der bloßen Rhetorik! Ihr fehle.

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daß sie das Leben selbst erörtere und daß sie die Notwendigkeit seiner moralischen und sozialen Bestimmung einsichtig mache und in deren Realisation einübe. Wenn dagegen ein besonderer Anlaß vorlag, griff man zum Mittel des „Gesprächs unter vier Augen“; man hat ein konkretes Problem und spricht dieses miteinander durch, aber man versäumt hier, dieses Problem für mehr als ein isolierbares Problem zu halten. Man sieht nicht, daß gerade ein solches Problem nur im Zusammenhang mit dem eigenen wie gemeinschaftlichen Leben im ganzen gelöst werden kann. Und wenn schließlich eine ausgesprochene Missetat vorlag, begann man damit, „Maßnahmen zu ergreifen“ und zu „bestrafen“, damit aber beendete man die Erziehung, bevor man sie überhaupt erst richtig angefangen hatte. Schon in dieser Kritik kommt zum Ausdruck, welchen Weg Makarenko einschlagen will und was er sich davon verspricht: Erziehung ist notwendig, weil der Mensch von Grund auf und im ganzen ein Wesen der Freiheit ist und die Möglichkeit hat, er selbst und nicht er selbst zu sein. Dabei ist entscheidend, daß er zunächst dazu neigt, nicht er selbst zu sein, vielmehr gegebenenfalls einen Ausweg zu suchen und sich auf Kosten anderer aus seinen Schwierigkeiten zu be¬ freien. Die Erziehung muß also in der Hauptsache darin bestehen, daß sie den Menschen zur Besinnung und zur Umkehr bringt. Beihilfe zu einer solchen Umkehr — einer „Explosion“ oder einer „Revolution der Denkungsart“ (Kant) — kann aber nur dann geleistet werden, wenn man die betreffenden Verfehlungen nicht für bloße „Defekte“ hält und nur „reparieren“ will. Der Fehler der alten Pädagogik war, daß sie isolieren wollte, und eben diesen Fehler versuchen Hegel, Marx und Makarenko zu vermeiden. Die eigentliche Erziehung konzentriert sich nun zwar auch und gerade bei Makarenko auf „Gespräche“ oder, wie er lieber sagt, „Kämpfe“, aber sie gipfelt darin nur. Es ist daher nötig, alle ihre Voraussetzungen mit zu bedenken. Seitens des Erziehers kommt es nicht nur darauf an, daß er selbst ein „Mensch“ ist und den ihm anvertrauten Kindern und Jugendlichen in „Liebe“ zuneigt. Das versteht sich gewissermaßen als das Moralische des pädagogischen Verhältnisses von selbst. Es kommt vielmehr darauf an, aus dieser Einstellung heraus zur eigentlichen Pädagogik, zur „Führung der Kinder“, zu kommen. Marxismusstudien II

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Wie aber soll eine solche Führung näher bestimmt werden und wie soll sie sich dabei von der politischen Führung unterscheiden? Der Ausgangs¬ punkt für ihre nähere Bestimmung und zugleich für ihre schließliche Vollendung liegt bei Makarenko in der Aufgabe, von der Fremdführung zur Selbstführung (von der Heteronomie zur Autonomie, wie Kant sagt) überzuleiten. Und maßgeblich ist dabei der Grundsachverhalt, daß Moralität nur sekundär ein bestimmtes Selbstverhältnis, primär dagegen ein Verhältnis zu anderen ist. Moralität ist eine bestimmte Form der Gemeinschaftlichkeit des menschlichen Daseins, die nämlich, in der der eine den anderen als ein ebenfalls freies und vernünftiges Selbst achtet und liebt. Aber der Mensch erkennt nicht so ohne weiteres den anderen als einen „Menschen“ an. Er kann auch alleine aus sich heraus gar nicht zu einer „solchen“ Anerkennung des anderen (Hegel) kommen, allein das gemeinschaftliche Leben und die in ihm geschehende Erziehung können ihn, wenn überhaupt, dahin bringen. Aus diesem Grundsachverhalt folgert Makarenko dreierlei: Erstens, daß die pädagogische Führung ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Erzieher und seinen Zöglingen voraussetzt, nämlich daß der Erzieher sein ganzes Selbst einzusetzen und so das Selbstsein der Zöglinge hervorzurufen versuchen muß. Er muß sich überzeugend einsetzen, muß aber auch klug und planmäßig Vorgehen. Das ist außerordentlich schwierig, denn ein solcher Einsatz kann — sogar unter Wahrung allen guten pädagogischen Willens — durchaus bloß „technologisch“ werden. Aber allein ein solcher echter und nicht irgendwie isolierter pädagogischer Einsatz kann die Autorität und die Disziplinierung begründen, von denen Makarenko immer wieder spricht und ohne die tatsächlich keine Erziehung gedacht werden kann. Zweitens, daß diese pädagogische Führung sich daher nicht nur auf das spezifisch Moralische beschränken darf, sondern das ganze Leben ins Auge fassen muß. Wenn der Zögling auf sein Selbstsein hin angesprochen werden soll, dann muß er darin auf sein Leben im ganzen hin angespro¬ chen werden. Es ist also nötig, eine weitere Isolation aufzuheben und andere Voraussetzungen noch zu bedenken. Die Zöglinge müssen Ge¬ legenheit bekommen, positive Erfahrungen zu machen und sich in das Leben im ganzen einzuüben. Dazu muß eine „Pädagogische Provinz“ mit eigenen Lebensformen und Lebensordnungen geschaffen werden. In ihr findet sich dann auch ein Ort für Bildung und Unterricht bzw. Ausbil¬ dung. Und welcher Wert dabei einer ästhetischen (besser: musischen)

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Vorschule zur eigentlichen Erziehungs- und Lebensschule zukommt, braucht wohl nicht noch einmal erörtert zu werden. Drittens, daß der Zögling unter dem Schutze der pädagogischen Führung m der Pädagogischen Provinz „diszipliniert“ werden soll. Dabei ist unter Disziplin in der Hauptsache die Selbstführung, die Autonomie, zu verstehen, die dann schließlich auch die zukünftige Autorität der Zöglinge begründet. Der Erzieher soll sich überflüssig machen. Er soll aber auch die Pädagogische Provinz überflüssig machen. Er muß daher seine Zöglinge in eine sich selbst führende und sich dabei vervollkommnende Gemein¬ schaft einführen. Die Zöglinge sollen in und mit dieser Gemeinschaft „autonom

werden. Makarenko meint, daß so und nur so die eigentliche

Erziehung vollendet werden könnte. Verfällt aber nun Makarenko nicht gerade hier, wo er seinen wesentlichsten Gedanken denkt, nun seinerseits einer neuen Selbstentfremdung?

VIII. Erziehung und Selbstentfremdung Es wird nötig, die bisherige Zusammenfassung und Kritik in ihren weiteren Zusammenhang zu setzen. Es müssen wirklich alle Isolationen aufgehoben werden! Makarenko ist der Meinung, über alle in Europa vorherrschende Pädagogik hinauskommen zu können, weil er glaubt, dank Marx, dank der russischen Revolution und dank seiner eigenen pädagogischen Erfahrung imstande zu sein, die darin vorwaltende Selbstentfremdung zu überwinden. Makarenko sieht diese Selbstentfremdung in einer radikal einseitigen Ausdeutung der neuzeitlichen Selbstbestimmung des Menschen als eines „Subjektes“. — Diese Bestimmung als Subjekt selbst wird bei ihm nicht in Zweifel gezogen; sie ist so selbstverständlich, daß sie gar nicht eigens erwähnt wird, weswegen es dann auch eine besondere und nicht hierher gehörende Aufgabe ist, eben diese Bestimmung und ihre Grenze zu erörtern. — Der Mensch habe sich als bloßes isoliertes Individuum und damit als zwar jeweils mit besonderen Anlagen ausgestattetes, aber sonst auch bloß auf Selbsterhaltung angelegtes animalisches Wesen bestimmt. Und eben dieser Bestimmung entspräche die kapitalistische Wirtschafts¬ und Gesellschaftsordnung. Ihr entspräche aber auch die vorherrschende Pädagogik, die „Pädologie“, die im Kern nur eine Anlagenkultivierung und Harmonisierung sei und auch da, wo sie es wolle, nicht zur morali¬ schen und sozialen Erziehung kommen könne. 17*

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Es sei überhaupt so, daß eben darin sich die „Verhältnisse“ durch¬ setzten, daß man seinen guten Willen nur bedingt realisieren könne. Darum auch müßten ungeachtet der tieferen Problematik der Realisation der Freiheit, von der Makarenko als der Pädagoge, der er ist, sehr wohl weiß, die Verhältnisse umgestaltet und möglichst günstig für diese Realisation ausgestaltet werden. In der kapitalistischen bzw. individualistischen Gesellschaft herrsche letzten Endes, und zwar unaufhebbar, der Egoismus vor. Das isolierte Individuum müsse egoistisch sein, wenn es nicht zugrunde gehen wolle. Und wo es nicht egoistisch sein wolle, da komme es doch nicht zum eigentlichen Gutsein, weil ihm die Situation dafür fehle. Es werde, ob es wolle oder nicht, „scheinheilig“. Scheinheiligkeit ist also der eigentliche Ausdruck der Selbstentfremdung für Makarenko. Und eben hieraus leitet er dann seinen besonderen, einen mehr pädagogischen als politischen Auftrag ab. Wie aber soll demgegenüber die nicht selbstentfremdete, die „mensch¬ liche“ Gesellschaft aussehen? Um das bestimmen zu können, ist es nötig, sich auf das Wesen des Menschen zu besinnen. Er ist zwar, wie das europäische Denken immer wieder bestimmt hat, ein „Subjekt“, aber er ist primär nicht Individuum oder gar isoliertes Individuum; der Mensch ist vielmehr von Grund auf Mensch mit anderen Menschen. Er ist niemals nur aus sich, sondern immer auch von anderen her der, der er ist. Diese ursprüngliche, moralische Gemeinschaft nennt Kant das „Reich der Freiheit“ und Makarenko die „sozialistische Gesellschaft“. Der Grundgedanke ist derselbe: Nur, wo das Interesse der Gemeinschaft — als einer menschliches Dasein im eigentlichen Sinne allererst ermög¬ lichenden Gemeinschaft — dominiert, kann der Mensch sein Wesen realisieren. Das schließt in sich ein, daß auch nur hier Erziehung möglich ist. Nach Makarenko ist das Kollektiv die wichtigste allgemeine Voraus¬ setzung für die Erziehung. Makarenko hat hiermit offensichtlich einen wesentlichen Beitrag zur pädagogischen Diskussion unserer Tage geleistet, aber schon in seinem Grundgedanken, insbesondere aber in dem Gedanken von der Notwendig¬ keit des Kollektivs für die Erziehung, ist er zweideutig geblieben, fruchtbar und gefährlich zugleich: Makarenko knüpft an die alte „Moral- und Staatsphilosophie“ an. Das geschieht zwar nur mittelbar, öffnet ihm aber doch den Blick für die tiefere Problematik. Er begreift, daß die „Revolution“ zwar auch für die

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Pädagogik, ja gerade für sie eine neue Situation geschaffen hat, daß aber die Aufgabe der Moralisierung weiterbesteht. Dem entspricht, daß sein Kollektivbegriff selbst von Anfang an zweideutig ist. Er versteht unter einem Kollektiv einerseits nichts anderes, als was die Moral- und Staatsphilosophie, was namentlich Kant immer im Sinn gehabt hat, nämlich eine bestimmte formale Ord¬ nung, und andererseits die faktische sowjetische Ordnung. Darum ist dann auch seine Pädagogik durchgehend zweideutig. Sie kann im Sinn unserer Tradition, sie kann aber auch im Sinne der neueren russischen Entwicklung ausgelegt werden. Die erstere Möglichkeit wird dadurch besonders nahegelegt, daß Makarenko sich durchaus auch der Individualität als solcher zuwendet. Er sieht zwar die Kollektiverziehung als die einzig mögliche moralische Erziehung an, aber er wendet sich doch auch jedem einzelnen Kind als solchem zu. Auch lehnt er immer wieder, trotz seiner vielen mechanistischen Wendungen, eine „mechanistische Deutung“ seiner Pädagogik aus¬ drücklich ab. Er wolle im Gegensatz zu aller anderen Pädagogik den Menschen nicht zum „Objekt“ machen und nicht bloß „behandeln“. Für ihn bliebe der Mensch immer ein Mensch! (Päd. Poem, S. 638ff. u. Ausg. päd. Sehr., S. 101.) Hierher gehört aber auch, daß Makarenko immer wieder betont, wie wenig möglich es sei, in der Erziehung zu systematisieren und zu re¬ glementieren. Eben deswegen stelle er sie ja auch im Roman und nicht in einer „Lehre“ dar! Sie sei zwar an gewisse Prinzipien (Maßstäbe und Leitfäden, sagt Kant) gebunden, sei aber sonst Sache einer ebenso besonderen wie umfassenden Erfahrung. Alle diese Bestimmungen rücken Makarenko in der Tat in die Nähe Kants und Pestalozzis und machen ihn damit für uns fruchtbar. Maka¬ renko sieht auch das für diese beiden Denker so wesentliche Problem des Bösen. Keine Politik und keine Pädagogik kann den Menschen „ver¬ bessern“. Aber Makarenko denkt gerade dieses Problem nicht als das Grundproblem, das es ist, durch. Er fragt nicht nach der Grenze der Selbstmacht des Menschen. Er kennt die grundlegende Differenz zwischen der Selbstführung im Sinne der Autonomie, die bloße Selbstgesetzgebung eines freien und vernünftigen Gemeinschaftswesens ist, und der im Sinne einer Autarkie, die Selbstschöpfung sein soll, nicht. Es ist also bei Maka¬ renko so, daß auch ihn eine Selbstentfremdung hindert, seine Intentionen richtig zu verstehen und ganz und gar zu realisieren. Man kann immer

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wieder erkennen, daß Makarenko im Zweifelsfalle dazu neigt, an einen politisch und pädagogisch bewirkten moralischen „Fortschritt“ zu glauben und daß er darum den Leiter der Erziehung oder die Repräsen¬ tanten des Kollektivs über alles verfügen läßt. Makarenko glaubt, daß die Menschen, wenn sie sich einmal zu einem Kollektiv zusammengefunden hätten, sich so gut wie immer richtig verstünden. Die Entscheidung des faktischen und nicht des ideellen Kollektivs ist Gesetz, auch und gerade im moralischen Sinne. Zwar sollen die Betroffenen niemals in „eine menschlich gesehen katastrophale Lage“ gebracht werden, sonst aber kann über sie verfügt werden. Der kate¬ gorische Imperativ und der Imperativ des Kollektivs werden für identisch erklärt, ja, erst dadurch, daß der bloß „idealistische“ kategorische Imperativ als ein Imperativ des Kollektivs aufgefaßt wird, soll er Bestimmtheit bekommen können. Das bedeutet für die Pädagogik, daß sie hier letzten Endes doch immer nur eine „autoritäre“ Autorität und eine „disziplinäre“ Disziplin erzeugen kann. Sie kann die Heteronomie, die sie überwinden möchte, nicht überwinden. Dieser Sachverhalt drückt sich dann auch ganz deutlich in den Ro¬ manen aus. Die dort beschriebene Erziehung läuft letzten Endes darauf hinaus, daß alle Zöglinge für einen totalen Einsatz in der Produktion vorbereitet werden, daß sich also die Produktion und nicht die „mensch¬ liche“ Gesellschaft durchsetzt. Das geschieht nun zwar unter dem Zeichen der wirtschaftlichen Not und somit zugunsten der Gesellschaft, aber nicht mehr in den Grenzen der nicht autarkischen, sondern bloß autonomischen Freiheit. Wo steckt der Fehler? Nim, der Fehler steckt in der der indi¬ vidualistischen entgegengesetzten, ebenso einseitigen kollektivistischen Auslegung des „Subjekts“. So wie der Individualismus das Moment der Freiheit radikalisiert hatte, radikalisiert jetzt der Kollektivismus das der Vernünftigkeit. Hier überall soll die Vernunft (als Dialektik verstanden bzw. mißverstanden) nicht nur das apriorische Allgemeine, die Gesetze im Kantischen Sinne, sondern auch das historische Allgemeine, die jeweils notwendigen besonderen Bestimmungen festsetzen können. Damit setzt sich aber nicht mehr nur die schlechthin verbindliche allgemeine Vernunft, sondern die Majorität bzw. die Regierung durch1). Dieses Problem taucht zum ersten Male in aller Deutlichkeit in der Rousseauischen Unterscheidung der volonte de tous und der volonte generale auf und be¬ schäftigt dann das Kantische Denken ganz und gar. Bei Hegel und Marx verwischt es sich dann wenigstens in gewissem Sinne. Der Marxismus schließlich macht

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Zu dieser Bestimmung gehört dann auch, daß man die Selbstentfrem¬ dung nicht nur ihrer besonderen Form, sondern auch ihrem Prinzip nach für historisch und somit für geschichtlich entstanden und geschichtlich überholbar erklärt. Die Beschränkung der Vernunfterkenntnis auf ihre Prinzipien dagegen schließt nicht aus, sondern ein, daß die Selbstent¬ fremdung nicht historisch, sondern konstitutiv ist. Sie korrespondiert dem Sachverhalt, daß der Mensch nicht nur Vernunftwesen, daß er immer auch nicht er selbst ist. Andernfalls bedürfte es gar keineslmperativs! Was also Makarenko fehlt, ist ein Kriterium dafür, was jede Vernunft als solche anerkennen muß und was nur ein geschichtlich bedingter Imperativ ist. Er weiß nicht, was jedem zugemutet werden darf und was nicht — wenn man den Betreffenden nicht doch zu einem bloßen Objekt machen will! Besonders wichtig ist, daß er in diesem Zusammenhang die persönliche und die politische Autonomie verwechselt und nicht erkennt, daß der Ausweg aus der Selbstentfremdung der individualistischen Schein¬ ordnung und Scheinheiligkeit nicht die bloß antithetische kollekti¬ vistische Ordnung ist. Der Kollektivismus „scheint“ nur ein Fortschritt zu sein; er wechselt in Wahrheit nur Unfreiheiten aus; wenn der Mensch im Individualismus der ungenügenden Ausbildung der Gemeinschaft wegen nur bedingt zu sich selbst kommen kann, so kann er im Kollektivis¬ mus letzten Endes gar nicht zu sich kommen, weil er hier seiner Ichheit selbst beraubt wird. Die Auflösung des Makarenkoschen Grundproblems, der Bestimmung des Verhältnisses von „Individuum und Gesellschaft“, ist weniger einfach, als Makarenko es sich denkt. Wenn man wie Makarenko die Stimme der „praktischen Vernunft“ mit der des faktischen Kollektivs gleichsetzt, so übersieht man zunächst, daß dieses Kollektiv — vor allem, wenn es kein pädagogisches, sondern ein politisches ist — kein Abbild des „Reiches der Freiheit“, des ideellen Kollektivs, ist. Es ist zufällig und kann den einzelnen jederzeit ver¬ gewaltigen. Für Makarenko ist jede Forderung des Kollektivs oder seiner Repräsentanten ein moralisches Gesetz, das führt aber notwendigerweise nicht zur Autonomie, sondern zur Heteronomie. durchgängig aus der so überaus bedeutsamen Prinzipiendiskussion der „Moral- und Staatsphilosophie“ eine historisch-politische Untersuchung und verwischt so voll¬ kommen die Grenzen zwischen dem Faktischen und dem Prinzipiellen, die trotz Hegels und Marx’ Entdeckung einer gewissen Historizität auch des Prinzipiellen nicht verwischt werden dürfen.

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Es muß also zwischen dem apriorisch und dem historisch Allgemeinen unterschieden werden. Gesetz im eigentlichen Sinne darf nur das apriorisch Allgemeine sein. Es ist aber noch eine Unterscheidung notwendig: Es dürfen nicht einmal alle echten Gesetze erzwungen werden. Man muß immer bedenken, daß doch das im engeren Sinne Moralische — obwohl es sich auf das Kollektiv bezieht — in keinem Falle von diesem erzwungen werden darf. Es dürfen nur diejenigen Gesetze erzwungen werden, die notwendig sind, damit überhaupt eine Gemeinschaft bestehen kann, die also die notwendigen Bedingungen dafür sind, daß die — äußere — Freiheit des einen mit der des anderen nach einem Gesetz zusammen bestehen kann (Kant). Diese Gesetze sind die Rechtsgesetze, sie sind zusammen¬ genommen das Grundgesetz des Rechtsstaates, des „Staates der Not“ (Kant). Dieser gewährleistet gegebenenfalls immerhin, daß jedermann ohne Scheinheiligkeit und ohne Gefahr für Leib und Leben wahre Moralität erstreben Jcannl Es muß allerdings, was bei uns immer wieder über¬ sehen worden ist, außer der politischen auch die ökonomische Freiheit bedacht werden. Es gibt keine andere als eine auch „soziale“ Gerech¬ tigkeit ! Dieser Staat kann jederzeit realisiert werden. Das Reich der Freiheit dagegen kann immer nur erstrebt werden, es kann niemals ganz und gar aus seiner Idealität in Realität überführt werden. Seine Gesetze, die moralischen Gesetze, insbesondere der kategorische Imperativ, dürfen nicht erzwungen werden. Sie sind weniger Sache der Politik als der Pädagogik. Jetzt bleibt nur noch übrig, aus allen diesen Erörterungen die Nutz¬ anwendung auf die Pädagogik zu ziehen: Es muß die Frage gestellt werden, ob das, was für die Politik falsch ist und zur Verfälschung des menschlichen Lebens führt, eo ipso auch für die Pädagogik verkehrt ist. Und diese Frage ist um so wichtiger, als man immer deutlicher erkennen kann, daß die Marxisten, ihrer ursprünglichen Intention entgegen, überall mehr Affinität zum Pädagogischen als zum Politischen zeigen. Ist also das Problem der „Pädagogischen Provinz“ dasselbe wie das der Insel „Utopia“? Was der Marxismus in seiner dialektisch bestimmten Politik für die geschichtliche Wirklichkeit erstrebt, ist letzten Endes eine neue Form der Selbstentfremdung menschlichen Daseins, aber was Makarenko als Pädagoge mit seinen Pädagogischen Provinzen, den Kolonien, Korn-

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munen und Familien erstrebt, kann auch positiv ausgelegt und ernsthaft diskutiert werden. Solange der Mensch noch nicht erwachsen und „zurechnungsfähig“ ist, muß er gemäß dem Prinzip von „Autorität und Disziplin“ — im päd¬ agogischen und nicht im politischen Verstände — auf einer Insel leben. Und diese Insel kann, weil sie politisch geschützt und ökonomisch getragen wird, sehr wohl als ein „Kollektiv“ im Makarenkoschen Sinne, als ein „Abbild

des „Reiches der Freiheit“ im Kantischen Sinne durchgebildet

werden. Ja, sie muß in diesem Sinne durchgebildet werden, wenn die Heranwachsenden nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch — was doch einzig Erfolg haben kann — in ein mutiges und besonnenes, in ein moralisches und soziales Leben ein-„geführt“ werden sollen. Hier, aber auch nur hier, fallen in gewissem Sinne das Moralische und das Politische zusammen, denn hier steht das Ganze unter einer Moral, die woanders nicht vorausgesetzt werden darf. Die leitenden Erzieher sind wenigstens bis zu einem gewissen Grade moralische Persönlichkeiten. Man darf also in gewissem Sinne wie Makarenko verfahren und kann daher von ihm lernen, aber man darf niemals wie er voraussetzen, daß die Gesellschaft außerhalb einer solchen Provinz ebenso angesehen werden kann. Die Erziehung in der Pädagogischen Provinz ist insgesamt nur eine Vorschule für die Lebensschule. Sie muß darum auch im ganzen anders auf das spätere Leben bezogen werden, als das bei Makarenko der Fall ist. Um sich aber nun in dieser Aufgabe richtig verstehen zu können, ist mehr nötig, als nur indirekt auf die Philosophie zurückzugehen. Man muß dazu tiefer greifen und sich mit der ganzen europäischen „Moral- und Staatsphilosophie“ auseinandersetzen. Aber auch das wird nicht genügen, denn hinter dieser erhebt sich die metaphysische Problematik. Ohne auf sie einzugehen, kann keine zureichende Pädagogik entwickelt werden. Das soll nicht heißen, daß der spezifisch pädagogischen Erfahrung Abbruch getan werden soll, aber es soll bedeuten, daß diese Erfahrung Voraussetzungen hat, die, wenn man wirklich den „menschlichen“ Men¬ schen und seine Zukunft meint, nicht aus ihr allein verstanden werden können.

SCHRIFTEN DER STUDIENGEMEINSCHAFT DER EVANGELISCHEN AKADEMIEN

Band 1

PAUL CHRISTIAN

Das Personverständnis im modernen medizinischen Denken

1952. X, 170 Seiten. Kart. DM 11.80

„Ein wie vielseitiges Wesen der Mensch ist, das zeigt die Entwicklung der Medizin im letzten halben Jahrhundert, wie sie eben der Heidelberger Internist und Neuro¬ loge Prof. Dr. Paul Christian in seinem Buche ‘Das Personverständnis im mo¬ dernen medizinischen Denken’ für einen entscheidenden Punkt dargestellt hat.. . Es ist eine erfreuliche Wanderung durch die verschiedenen medizinischen Schulen, die der Leser an Hand des auch Nichtfachleuten verständlichen Buches mitmacht; erfreulich, weil für die Medizin der Mensch wieder Mensch geworden ist und darum bei ihrer Mittelstellung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu hoffen steht, daß diese Wendung sich auf den anderen Gebieten theoretisch und praktisch voll¬ ziehen wird.“

Rheinischer Merkur Nr. 30 vom 25. 7. 1952

„Der Verfasser der vorliegenden, mit einem Geleitwort von R. Siebeck versehenen Schrift liefert eine umfassende Darstellung, die aber mehr sein will und ist als bloßes Referat widersprechender Meinungen. Schon durch den glücklichen Ansatz ist sie mehr als Referat. Es besticht von vorneherein, daß das Zentralproblem ärztlicher Philosophie im Begriff der ‘Person’ gesehen und das Personverständnis zum Mittelpunkt der Betrachtung gemacht wird.“ Medizinische Klinik H. 37,1952

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SCHRIFTEN DER STUDIENGEMEINSCHAFT DER EVANGELISCHEN AKADEMIEN

U8

Band 2

CHRISTIAN IIARTLICH und WALTER SACHS

Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft 1952. VIII, 191 Seiten. Kart. DM 11.80

„Über die Aktualität des Themas und seiner Bearbeitung bedarf es keines Wortes... Die Anwendung des Mythosbegriffes auf bibhsche Texte und die hermeneutische Forderung, die von der Bibel gemeinte Wahrheit von ihrer mythischen Hülle zu unterscheiden und zu entkleiden, hat schon eine lange Geschichte in der neueren Bibelwissenschaft... Die ganze Geschichte der Anwendung des Mythosbegriffes auf bibhsche Texte wird von den Verfassern überaus gründlich und klar dargestellt, der jeweilige Fortschritt präzise bestimmt. Charakteristische Stellen aus den Wer¬ ken der behandelten Theologen sind abgedruckt, wodurch die Darstellung nicht nur belegt, sondern auch wirksam belebt wird. . . Das Buch ist eine ausgezeichnete problemgeschichtliche Einführung in die Frage der Entmythologisierung. Über die erkenntniskritische Position der Verfasser wäre weiter zu verhandeln. Drei histo¬ rische Beilagen ergänzen die historische Darstellung. Ein eingehendes Sachregister erhöht die Brauchbarkeit der Schrift.“ Prof. Dr. Paul Althaus in Universitas 1955, H. 3

„Diese mit überzeugender Klarheit geschriebene problemgeschichtliche Unter¬ suchung klärt eine unerläßliche Voraussetzung zum Verständnis der heute ebenso leidenschaftlich gestellten wie abgelehnten Forderung nach der Entmythologisierung der biblischen Botschaft.

Tübinger Theologische Quartalschrift 1953

„Es ist das Verdienst dieser Schrift, daß sie den Ursprung einer den Mythosbegriff wesentlich kritisch verwendenden Exegese in sorgfältiger Untersuchung und Dokumentierung herausarbeitet. Es kann keinem Theologen schaden, wenn er sich von ihr neu auf die Herkunft und Tragweite der auf der Linie von Eichhorn zu Strauß zutage geförderten kritischen Argumente aufmerksam machen läßt.“ Kirchenblatt für die reformierte Schweiz 1953

J.C.B.MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN

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A9 Seiten. Kart. DM 5.40

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konkrete Wort Prof. Gollwitzers zur von den beiden Regimenten in all politischen Bezügen muß uns allen

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che Vorurteile und Mißverständnisse -egebenhciten unserer Zeit noch aufs lanchemüber den bei uns aufgebrorirklich weiterführen — wenigstens Luthertum aus einer passivistischen i bringen, erkannt hat und zugibt, r Erkenntnis haben, daß nicht alle

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ältigung der heutigen staatlichen daher die eminente Wichtigkeit ft.“ herische Kirchenzeitung 1955, Nr. 8

• of Systematic Theology at Bonn a full of excitement and personal sistance against Hitler and spent r chapters the age old problem of dng to do full justice to Luther’s Kingdom of the world, Gollwitzer Lutheranism regarding the state, ism make sufficient room for the more than the object of pastoral advance guard involved in doing Review and Expositor. Jan. 1955

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SCHRIFTEN DER STUDIENGEMEINSCHAFT DER EVANGELISCHEN AKADEMIEN

Band 3

Marxismusstuclien (Erste Folge) Beiträge von H. BOLLNOW, F. DELEKAT, I. FETSCHEB, L. LANDGREBE, R. NÜRNBERGER, H.-H. SCHREY, E. THIER, H. D. WENDLAND mit einem Vorwort von ERWIN METZKE, Heidelberg

1953. XII, 243 Seiten, kart. DM 12.—

Inhaltsübersicht: 1. Etappen der Marxinterpretation von Pfr. Dr. Thier — 2. Hegel und Marx von Prof. Landgrebe — 3. Vom Wesen des Geldes, eine theologische Marxanalyse von Prof. Friedr. Delekat — 4. Engels Auffassung von Revolution und Entwicklung in seinen „Grundsätzen des Kommunismus“ (1847) von Dr. Hermann Bollnow — 5. Geschichte oder Mythos bei Marx und Lenin von Priv.-Doz. H.-H. Schrey — 6. Lenins Revolutionstheorie. Eine Studie über „Staat und Revolution“ von Prof. Richard Nürnberger — 7. Der Marxismus im Spiegel der französischen Philosophie von Dr. Iring Fetscher — 8. Christliche und kommunistische Hoffnung von Prof. II. D. Wendland. „Der Wert der geleisteten Arbeit steht außer Frage. Nachdem die glanzvolle Tra¬ dition der deutschen Marx-Forschung durch den Nationalsozialismus unterbrochen wurde, bedeuten diese Studien einen fruchtbaren Neubeginn. Es gereicht der evangelischen Kirche zur hohen Ehre (und es sollte die Sozialisten beschämen), daß der neue Anfang in ihrem Raum gemacht wird. Zugleich könnten auch in der Sache selbst christliche Nüchternheit und Offenheit Wege finden, die der bisherigen politisch-polemischen Marx-Diskussion verschlossen waren. Daß diese MarxStudien jedenfalls turmhoch über der törichten und verständnislosen Marx-Kritik stehen, die in den letzten Jahren aus den Reihen der Sozialdemokratie laut wurde, ist jetzt schon deutlich sichtbar...“ Deutsche Universitätszeitung 1955, Nr. 3 ,,... All diesen Studien ist nicht nur das Streben nach einem adäquaten Verständnis des Marxismus von Marx bis hin zu Stalins inzwischen ad acta gelegten Briefen über die Sprachwissenschaft gemeinsam, sondern auch der Hintergrund der christlich¬ protestantischen Tradition. Es muß gesagt werden, daß diese gemeinsame Grund¬ lage dabei keineswegs die Vorwegnahme des Urteils bedeutet, daß vielmehr die Probleme in ihrem vollen Eigengewicht erörtert werden. Die seit dem Auftreten von Marx gestellte Frage, ob die Welt bewußt verändert werden muß und kann, wird durchaus ernst genommen... “ Dr.R. Freyli in Die Neue Gesellschaft Jg. 1/1954, H. 1

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