Martin Bucer
 9783111468426, 9783111101446

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
I. Jugendzeit und Krisis
II. Die Reformation in Straßburg
III. Die Auseinandersetzung mit dem Täufertum
IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie
V. Die Straßburger Schule
VI. Der protestantische Politiker
VII. Die letzten Jahre
VIII. Der Mensch und der Theologe
Quellen und Literatur

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MARTIN BUCER VON

GUSTAV ANRICH PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT STRASSBURO

Nihil aliud spedo quam ut prosi m. Bucer an Zwingli, Sommer 1529.

BUCHSCHMUCK VON PH. KAMM

STRASSBURO VERLAG VON KARL J. TRÜ8NER

1914

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten.

M. DaMoat sdnabcrc, StnBbarg-

Vorbemerkung. Die folgende Skizze vermißt sich nicht des Anspruchs, die noch immer fehlende Biographie des Straßburger Reformators zu bieten. Verfaßt auf Veranlassung des Komitees für die Errichtung des Bucerdenkmals in Straßburg, bezweckt sie vor allem, den weiteren Kreisen der Qebildeten die Qestalt Martin Bucers nahezubringen. Diesem Zwecke entsprechend mußte von jeglichem gelehrten Apparat abgesehen werden, dessen Beigabe das Heft verteuert hätte. Daß ausgiebige Quellenstudien der Arbeit zugrunde liegen, wird Kennern auch so nicht verborgen bleiben. Der auf mehrfache Anregung beigegebene Literaturnachweis, der es übrigens nicht auf Vollständigkeit absieht, möchte insonderheit denjenigen dienen, die in den nächsten Jahren aus Anlaß der Propaganda für das Denkmal Aber Bucer zu reden haben werden. Der

Verfasser.

Inhalt Seite

I. Jugendzeit und Krisis II. Die Reformation in Straßburg

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III. Die Auseinandersetzung mit dem Täufertum

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie

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V. Die Straßbuiger Schule

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VI. Der protestantische Politiker VII. Die letzten Jahre VIII. Der Mensch und der Theologe Quellen und Literatur

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I. Jugendzeit und Krisis. Habes epistolam Bucerianam, fratris vel solius in ista secta candidi et optimae spei juvenis, . . . dignus amore et fide, sed et spe. Luther an Spalatin, 12. Febr. 1520.

Drei Männer waren es, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Straßburg vor andern das Auge auf sich zogen: Auf der neuen prächtigen Münsterkanzel hielt in packender Volkstümlichkeit Johannes Qeiler von Kaysersberg seine bald mystisch-beschaulichen, bald zornig strafenden Predigten; der städtischen Kanzlei stand als Stadtschreiber der Dichter des Narrenschiffs, Sebastian Brant vor, ein Straßburger Kind, und in einer Zelle des Wilhelmerklosters, dessen Gastfreundschaft er zeitweise genoß, studierte und schrieb der als Speyrer Domprediger und Heidelberger Professor berühmt gewordene Jakob Wimpfeling. Wenn einer, ist dieser vielumgetriebene, auf allen möglichen Gebieten sich betätigende Schlettstädter der Vater des ältern elsässischen Humanismus, der sich damals zu einer geistigen Macht auszuwachsen begann. Für seine Eigenart ist die enge Verbindung der drei Genannten bezeichnend. Diese Männer und ihr Kreis sind keine Renaissancemenschen, sondern durchaus konservative, ja in vielem mittelalterlich gerichtete Geister. Die heidnische Art und sittliche Ungebundenheit der leichtfertigen Poeten verabscheuend, sind sie überzeugte Glieder der Kirche, ihrem Dogma gegenüber von jeder kritischen Anwandlung weit entfernt. Was ihrem Wirken Überzeugung und Schwung verleiht, ist vor allem die sittliche Energie, die auf allen Gebieten nach Reformen ruft. Die Hebung der schweren Schäden des kirchlichen und nationalen Lebens erhoffen sie vor allem von einer bessern, das religiös-sittliche Moment in den Vordergrund stellenden Jugenderziehung; und nur sofern sie A n r i e h , Bucer.

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I. Jugendzeit und Krisis.

durch den sittlichen Inhalt ihrer Literatur zur Charakterbildung sich eignet, ist ihnen die Antike innerlich wertvoll. Gerade als treue Söhne der Kirche aber empfinden sie mit Schmerz und Entrüstung ihren tiefen Verfall. So gilt ein gut Teil ihrer Lebensarbeit dem Kampf um die sittliche Wiedergeburt der Kirche. Und da ist es die Tragik ihrer geschichtlichen Stellung, daß die leidenschaftliche Anklage wie der beißende Spott, mit dem sie Verweltlichung, Unwissenheit und Unsittlichkeit der Kirchenfürsten, Kleriker und Mönche brandmarkten, die Qeister von eben der Kirche lösen halfen, an der ihr Herz hing: „Bin ich ein Ketzer", sagte Jakob Sturm zu Wimpfeling, „so habt Ihr mich dazu gemacht". Jedenfalls war aber damit die brennendste Frage der Zeit, die Frage der Reform der Kirche, gerade durch diesen streng kirchlichen Humanistenkreis im Elsaß in Fluß gebracht. Vergebens hatte Wimpfeling seine Beredsamkeit daran gesetzt, den Straßburger Magistrat zur Gründung eines Gymnasiums zu vermögen. In dieser Hinsicht hatte sich die elsässische Metropole längst durch Schlettstadt den Rang ablaufen lassen. In dieser freien Stadt, einem wichtigen Glied des elsässischen Zehnstädtebundes, war schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts eine städtische Lateinschule entstanden. Ihr erster Leiter, der Westfale Ludwig Dringenberg, hatte an ihr die am Niederrhein erprobte Methode der Brüder des Gemeinsamen Lebens eingeführt, und von dieser Grundlage aus hatte sich die Schule dem erstarkenden humanistischen Geiste immer weiter erschlossen. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts stand ihr der in Paris unter Leffcvre zum tüchtigen Philologen gebildete Kaysersberger Hieronymus Gebwiler vor, in seiner kirchlichen Stellung Wie in seinen Erziehungsgrundsätzen ein echter Jünger Wimpfelings. Seine von etwa dritthalbhundert Schülern besuchte Anstalt bildete den Stolz der Stadt. So kam es, daß Schlettstadts größter Sohn, M a r t i n B u c e r , schon in der Lateinschule seiner Vaterstadt vom Geist der neuen Zeit berührt wurde. Es war dies auch der einzige günstige Stern, der über seiner Jugend leuchtete. Als armer Leute Kind ward Martin Bucer oder zunächst Butzer — er brauchte auf der Höhe seines Lebens einzig

Der Elsässische Humanismos. Die Schlettstädter Schule. Bucers Jugend.

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die aus der lateinischen Form Bucerus verkürzte Form Bucer, und er hat wie jeder andere ein Anrecht darauf, so geschrieben zu werden, wie er sich selbst geschrieben — am 11. November 1491 geboren und nach dem Tagesheiligen genannt. Der Vater, Klaus Butzer, war Kübler, die Mutter Hebamme. Zu Anfang des neuen Jahrhunderts zogen die Eltern nach Straßburg; den Sohn ließen sie, wohl hauptsächlich der Lateinschule wegen, bei dem Qroßvater Klaus Butzer zurück, in dessen Hause sie gewohnt hatten. Das ist alles, was wir von des Reformators Kindheit wissen. Kaum 15 Jahre alt, ist der junge Martin bei den Dominikanern eingetreten. Nicht aus eignem Entschluß, geschweige innerm Drang. Es war der Qroßvater, der keinen andern Weg zu sehen meinte, ihn weiterzubringen, der ihn zu diesem Schritt veranlaßt, ja durch die Drohung, im Weigerungsfälle seine Hand von ihm abzuziehen, beinahe gezwungen hat. Auf die Dominikaner oder Predigermönche war er deshalb verfallen, weil ihr Schlettstädter Kloster zu einer Qruppe von „reformierten" Klöstern gehörte, die zu strenger Befolgung der Ordensregel zurückgekehrt waren; so schien ihm hier sichrere Qewähr für eine sittliche Lebensführung gegeben als in den sonstigen Klöstern der Stadt oder in der ihm noch gefährlicher dünkenden Laufbahn des Weltgeistlichen. Und in der Tat konnte Bucer später sagen, seine Klostergenossen selbst gäben ihm das Zeugnis, daß er allezeit „eines untadeligen Lebens geachtet worden sei". Die Mönche ihrerseits lockten den hoffnungsvollen Knaben durch das Versprechen, er werde bei ihnen alle Förderung für seine Studien finden. „Von der Lehr abgehalten werden, war mir schwer; ihr ohne Hilf nachkommen, dürft ich nicht wagen. Also hab ich mich lassen überreden, die Kutt mir lassen anziehn." Und einmal eingetreten, fürchtete er für den Fall des Austritts die Schande, die Ungunst der Seinen und die Mittellosigkeit; so tat er Profeß. „Und ist gewißlich an mir wahr geworden das gemein Sprichwort: Die Verzweiflung macht einen Mönch." Gleich dem Qrößeren, der ein Jahr zuvor aus ganz andern Gründen in das Erfurter Augustinerkloster eingetreten war, hatte sich nun der junge Predigermönch allen niedern Diensten zu unterziehen, wie sie die Regel insonderheit von dem Novizen verlangte. i*

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I. Jugendzeit und Krisis.

Will einer studieren, so muß er statt dessen gehn Käse sammeln, sagt er später voller Ingrimm bei Schilderung des mönchischen Gehorsams. In der Tat war es die erste große Enttäuschung, die er erfahren mußte, daß ihm seine geliebten Klassiker genommen wurden; das Studium des Ordensheiligen Thomas von Aquin und der Sentenzen des Petrus Lombardus trat an ihre Stelle. Volle zehn Jahre, von 1506 bis 1516, hat Bucer dem Schlettstädter Kloster angehört. Über dieser ganzen langen Periode liegt völliges Dunkel; doppelt bedauerlich deshalb, weil die spätere, reißend schnelle Loslösung vom alten Kirchentum sich schon damals vorbereitet haben muß. Tritt uns Bucer 1518 als vollendeter Erasmianer entgegen, so muß er sich doch schon Jahre hindurch dem Geist des Humanismus, dessen Zauber ihn als Schüler erfaßt, weiter erschlossen haben. Kann ja doch die Freundschaft mit dem um sechs Jahre älteren Schlettstädter Landsmann Beatus Rhenanus, dem bald berühmten Humanisten, nur in diesen Jahren geschlossen worden sein; und wenn sich Bucer bald darauf in seinen Briefen an diesen Freund der Eleganz des humanistischen Briefstils zu befleißigen sucht, so werden ihm doch wohl schon längere Zeit Mittel und Wege zu Gebote gestanden haben, sich mit klassischer und humanistischer Literatur zu befassen. Seine Obern müssen auf seine Begabung aufmerksam geworden sein. „Wider vieler Meinung geriet mir doch, daß ich gen Heidelberg geschickt ward, zu studieren." Gewiß fand damit ein sehnlicher Wunsch seine Erfüllung. Das Heidelberger Dominikanerkloster, in das Bucer versetzt wurde, war 1476 durch den Kurfürsten Friedrich I. als theologische Studienanstalt gegründet und der Universität einverleibt worden. Täglich sollte nach dem Statut von 1501 der doctor regens eine theologische Vorlesung halten, ein gelehrter Baccalaureus die Sentenzen vortragen, jeden andern Tag eine theologische Disputation stattfinden. An der Universität selbst war so viel nicht zu holen; mit ihrem alten geistlichen Zuschnitt befand sich dieselbe, von andern Hochschulen weit überholt, in einer Periode des Stillstandes, beinahe des Verfalls. War in den beiden letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts Heidelberg ein Vorort des deutschen Humanismus geworden, so war das weniger den Bemühungen der

Klosterjahre in Schlettstadt und Heidelberg.

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Universität, als dem Kurfürsten Philipp und seinem Kanzler, dem Wormser Bischof Johann von Dalberg, zu danken gewesen. Man hatte Rudolf Agricola nach Heidelberg gezogen, den „göttlichen Mann", der ein im Heimatlande der Renaissance angeeignetes allumfassendes Wissen mit tiefer Frömmigkeit verband; nach seinem baldigen Tode waren der konservative Wimpfeling wie der genial-leichtfertige Stürmer Conrad Celtes zeitweise lehrend aufgetreten; schließlich hatte Johannes Reuchlin, das dreisprachige Wunder, damals der größte deutsche Gelehrte, vier Jahre als Rat und Erzieher am kurfürstlichen Hofe zugebracht. Die humanistische Tradition, die von diesen Männern ausging, hatte nachgewirkt namentlich bei einzelnen Dozenten der Artistenfakultät und einzelnen jungen Theologen, die in Heidelberg bedeutungsvolle Jahre verbrachten: Wimpfelings und Reuchlins Schüler ist Oecolampad, der spätre Reformator von Basel; sein Schüler ist Brenz, der schwäbische Reformator, und von Brenz ward wieder Bucer in das Studium des Griechischen eingeführt. Am 31. Januar 1517 immatrikuliert, verbrachte Bucer, zwischendurch einmal, wir wissen nicht warum, wann und wie lange, nach Speyer versetzt, an die vier Jahre im Heidelberger Kloster. Nach dem Studiengang der Zeit erwarb er hier die akademischen Grade des Baccalaureus und Magister. Alsbald trat er auch selbst als Lehrer auf. Die Disputationen, denen er gelegentlich auch zu präsidieren hatte, werden nicht zum wenigsten dazu beigetragen haben, die dialektische Meisterschaft auszubilden, die ihn zeitlebens auszeichnete. Auch die Priesterweihe hat er in dieser Zeit erhalten. Die innere Entwicklung dieser entscheidenden Jahre, die immer mehr zu Jahren des Sturmes und Dranges wurden, läßt sich wenigstens in ihren großen Zügen verfolgen, da insonderheit die Briefe an Beatus Rhenanus je und je ihr Blitzlicht auf sie fallen lassen. Es war die Zeit, da in den humanistischen Kreisen der Stern des Erasmus alles zu überstrahlen begann. Reform der Kirche, Wiederherstellung des reinen Christentums, so lautete auch bei diesem Fürsten der Wissenschaft die Losung; aber in völlig anderm Sinne als bei Wimpfeling. Eben war im Jahre 1516 seine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments erschienen, deren Vorrede mit

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I. Jugendzeit und Krisis.

ihrem flammenden Aufruf, Glauben und Theologie allein auf die Schrift zu gründen, eine reformatorische Tat war. Seinem Zeitalter in manchem vorauseilend, entwarf er das Bild eines schlichten, undogmatischen, auf der Bergpredigt als dem Gesetze Christi sich aufbauenden und mit dem edelsten Gehalt der Antike in Einklang stehenden Laienchristentums; ein Christentum, bei dessen Stimmung und Art Sakramentswesen und priesterliches Mittlertum, ohne direkt bekämpft zu werden, jeden religiösen Wert verloren, das Mönchtum als Karikatur des christlichen Lebens erschien, sogar eine tiefgreifende kritische Auflösung der Dogmen der Kirche sich ankündigte. Noch war alles ein genialer erster Wurf, der vieles in der Schwebe und manches mit Absicht eher erraten ließ als aussprach. Noch war nicht zutage getreten, welcher innere Widerspruch darin lag, wenn Erasmus eine so durchgreifende, den Katholizismus an seiner Wurzel treffende Reform unter Mithilfe und kluger Benutzung der weltlichen und kirchlichen Machthaber, ohne Bruch und Tumult, lediglich durch das Schwergewicht fortschreitender Bildung und Aufklärung durchgeführt wissen wollte. Kein Wunder, daß diese Ideen gerade auf die Ernstesten ihre faszinierende Wirkung übten. Eben damals schloß sich in Basel ein Kreis bedeutender Erasmianer zusammen, dem neben dem Münsterprediger Capito, neben dem zeitweise hier weilenden viel umgetriebenen Oecolampad auch der damals in der Frobenschen Druckerei tätige Rhenanus angehörte; und auch im Elsaß begann die freiere Erasmische Richtung Boden zu gewinnen. So ist denn auch Bucer, sobald er für uns in Sicht tritt, begeisterter Erasmianer. Die Schriften des göttlichen Mannes — tantum numen — sind ihm Trost und Wonne; er hat eine heimliche Sparbüchse angelegt, sie alle anschaffen zu können. Und während er den Klosterbrüdern des Erasmus „Lob der Narrheit" vorträgt und dreimal wöchentlich von Brenz sich Piatos Symposion auslegen läßt, beides mit Erlaubnis des Priors, der, von Basel kommend, selbst zu Erasmus' Bewunderern zählt, spricht er mit Geringschätzung von den Sophisten, den Vertretern der zünftigen Scholastik. Bald aber kommt ein weiteres dazu. Im April 1518 ward zu Heidelberg ein Konvent der Augustiner gehalten, an dem auch

Bucer als Erasmianer und Martinianer.

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Luther als Distriktsvikar des Ordens teilzunehmen hatte. Es war ein Ereignis, als in der öffentlichen Disputation, die herkömmlicherweise auf die geschäftliche Sitzung folgte, der durch den Thesenstreit über Nacht berühmt gewordene Augustiner vor den Mönchen und der Universität seine „Paradoxa" verteidigte, die in scharfer Zuspitzung der bisherigen „Ruhmestheologie" der Scholastiker die Grundlinien seines paulinisch-augustinischen Christentums als „Kreuzestheologie" gegenüberstellten. Nie hat Bucer eine entscheidendere Stunde erlebt; es war für ihn eine Offenbarung; gleich seinem Lehrer Brenz war er völlig gewonnen, und der erste Eindruck vertiefte sich ihm am Tage darauf durch eine lange Aussprache mit dem Wittenberger Professor. Noch haben wir den in der ersten freudigen Erregung geschriebenen Brief, mit dem er gleich nach Luthers Abreise die Paradoxa an Rhenanus übersendet. Von dem Tage an war Bucer, wie man damals sagte, „Martinianer". Und Martinianer bleibt er unentwegt. Er versenkt sich in Luthers Schriften, er wünscht sie in vielen tausend Exemplaren verbreitet, er ist überzeugt, daB sie viele zur reinen Lehre Christi führen werden. Luthers Erklärung des Qalaterbriefes (1519) hat es ihm so angetan, daß er sein einziges, noch dazu geliehenes Exemplar in aller Eile an Rhenanus schickt mit der dringenden Bitte, in Schlettstadt einen sofortigen Nachdruck zu veranstalten. Der Martinianer aber ist zugleich Erasmianer geblieben; noch hatte sich ja die tiefgreifende Verschiedenheit in der geistigen Struktur der beiden Koryphäen nicht ausgewirkt. Erasmus und Luther, so lautet, wie bei Capito, nun auch bei ihm die Losung. „Unsere erste Hoffnung, das bist Du und das ist Erasmus", schreibt er 1520 an Luther; und als er im selben Jahre in Ordensangelegenheiten nach Köln gesandt wird, plant er dort einen Abstecher nach Löwen, um den göttlichen Erasmus zu sehen. Humanist und gar Martinianer zu sein, war indes damals für niemanden bedenklicher, als für einen Predigermönch. Hatte sich doch der fanatische Kampf des Kölner Dominikaners und Ketzermeisters Hoogstraten gegen Reuchlin längst zu einer Angelegenheit ausgewachsen, die ganz Deutschland in Atem hielt; grade in diesem Kampfe hatte sich alles, was modern und gebildet sein wollte, gegen die mönchischen Finsterlinge zusammengeschlossen;

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I. Jugendzeit und Krisis.

die „Briefe der Dunkelmänner" hatten die Kölner Dominikaner der allgemeinen Verachtung preisgegeben; und eben im Jahre 1519 sagte ihnen der gefürchtete Sickingen Reuchlins wegen Fehde an; an den demütigenden Unterhandlungen mit dem Ritter, zu denen sich der Ordensprovinzial verstehen mußte, waren gerade auch die Heidelberger beteiligt. Qar der Luthersche Handel stellte sich im ersten Jahre, von außen gesehen, als ein Kampf zweier Mönchsorden dar: Augustiner gegen Dominikaner. Dominikaner waren Tetzel, der Luthers Auftreten veranlaßt hatte, wie Sylvester Prierias, der die Weiterverfolgung der Sache an der Kurie durchsetzte; und der Kardinal Cajetan, dem Luther in Augsburg zu widerstehen wagte, war der berühmteste Theologe des Ordens. Für Luther Partei ergreifen, hieß den Ordensheiligen und Normaltheologen Thomas von Aquin verleugnen. Unter solchen Umständen ist nicht zu verwundern, daß Bucer als Martinianer „unus ex omnium" blieb, „der einzige Bruder ohne Falsch in jenem Orden", wie Luther 1520 schreibt. Damit war der Konflikt gegeben. Der kühne Magister beginnt den Seinen sehr verdächtig zu sein und als Überläufer zu gelten; sie hätten ihn kürzlich seiner Stellungnahme in einer Disputation wegen beinahe gesteinigt, meldet er im Sommer 1519. Den Vorlesungen über die Psalmen, die er 1520 hielt, konnten seine nach scholastischem Tiefsinn verlangenden Genossen keinen Qeschmack abgewinnen; und als er ihnen zum besseren Verständnis der Schrift das Griechische beizubringen suchte, ward ihm das von oben sehr verübelt. Hatte er solcherweise das Gefühl, allein zu stehn, so suchte er um so mehr, persönlich wie brieflich, zu Gleichgesinnten in Beziehung zu treten. In Heidelberg ist Brenz sein Freund; „olim anima mea", sagt er später von ihm, als er sein theologischer Gegner geworden. Er weilt Sommer 1519 einige Tage in Basel, er lernt in Schwaben Reuchlin persönlich kennen, er „wagt es", an Wimpfeling zu schreiben, knüpft Anfang 1520 brieflich mit Spalatin an und steht im selben Jahre auch mit Luther und Melanchthon in Briefwechsel. In seiner Vaterstadt stehen ihm jetzt außer dem dorthin zurückgekehrten Rhenanus der neue Stadtpfarrer Phrygio und besonders der Leiter der Lateinschule Sapidus nahe, beide zugleich Humanisten und Martinianer. Zu Capito, der seit 1519 als

Neue Freunde. Brach mit dem Klosterleben.

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Domprediger, dann als Rat am Hofe des Kurfürsterzbischofs Albrecht von Mainz wirkt, tritt er in ein enges Verhältnis; seinen großen Qönner und Beschützer nennt er ihn Herbst 1520. Das alles konnte auf die Länge nicht verborgen bleiben und machte ihn immer verdächtiger; Hoogstraten ward auf ihn aufmerksam; man spürte seinem geheimen Briefwechsel nach. Bucer mochte fühlen, daß seine Lage innerlich und äußerlich gleich unhaltbar geworden; er beschloß, ihr ein Ende zu machen. „Aleae jactae", schreibt er September 1520 an Spalatin. Im Spätherbst weilte er in Straßburg. Es war eine Zeit allgemeiner höchster Spannung. Der Wormser Reichstag stand bevor; schon waren in Löwen und Lüttich die Scheiterhaufen aufgeflammt, auf denen der Nuntius Aleander Luthers Schriften hatte vernichten lassen; Erasmus war insgeheim in fieberhafter Tätigkeit, den Sieg der Romanisten zu hintertreiben; Ulrich von Hutten hatte von der Ebernburg aus eben begonnen, in zornglühenden deutschen Schriften und Reimen sein Volk zum Kampf wider die römische Knechtschaft aufzurufen. Und eben mit Hutten, der hier seine Glossen zur päpstlichen Bulle drucken ließ, trat in Straßburg Bucer in intimsten Verkehr. Grade Hutten war es, der sich neben und mit Capito in den folgenden Monaten um die Regelung von Bucers Lage am treusten besorgt zeigte, ihm auch in Sickingens Auftrag ein Asyl anbot, falls ihm Gefahr drohen sollte. Für Bucer galt es zunächst, den Versuch zu machen, durch päpstlichen Dispens seines Klostergeltibdes in aller Form Rechtens ledig gesprochen zu werden. Er hat in dieser Angelegenheit, wir wissen nicht wann, den seit Anfang Dezember in Worms weilenden Nuntius Aleander mehrmals besucht, der ihn, wie er wenigstens behauptet, durch schmeichelhafte Behandlung von seinem Vorhaben abgebracht zu haben glaubte. Wann er Heidelberg endgültig verlassen hat, bleibt dunkel. Im Januar hielt er sich in Speyer bei dem befreundeten, ebenfalls dem Humanistenkreise angehörenden Domherrn Maternus Hatten verborgen; und Hatten erwies ihm den Dienst, die Vertretung seiner Sache einem ihm bekannten, eben nach Rom zurückreisenden Kurialen zu übertragen. Den wiederholten Mahnungen Huttens Gehör gebend, folgte Bucer schließlich der Einladung auf die Ebernburg.

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I. Jugendzeit und Krisis.

Mächtiger als mancher Fürst stand damals Sickingen da, ein Raubritter großen Stils, nicht ohne edle Züge. Es war Hutten gelungen, ihn für seine antirömischen Pläne zu begeistern, bezüglich deren Verwirklichung freilich der Feuerkopf Hutten, groß nur in seiner Hingabe an das Ideal der deutschen Freiheit, aber des realpolitischen Blickes völlig entbehrend, über vage und phantastische Vorstellungen nicht hinauszukommen vermochte. Gemeinsam hatten sich beide den Winter über in Luthers Schriften vertieft, und Sickingen schöpfte aus ihnen die religiöse Sanktion für seine auf Pfaffenkrieg und Säkularisation gehenden Pläne. Mit fieberhafter Spannung verfolgte man auf der Ebernburg den Qang der Dinge in Worms. In Worms hinwiederum zitterten die Kaiserlichen wie die Romanisten, auf die jetzt eben Hutten die prasselnden Geschosse seiner Invektiven hageln ließ, vor einem Handstreich Sickingens. So baute man vor. Ein kaiserlicher Kammerherr und mit ihm der kaiserliche Beichtvater Glapion erschienen, wie aus eignem Antriebe, zu Anfang April auf der Burg. In klug berechneter Darstellung der Pläne der kaiserlichen Politik vermochten sie Sickingen ein Kommando in dem eben heraufziehenden Kriege gegen Frankreich anzubieten und sogar Hutten zur Annahme kaiserlichen Dienstes zu vermögen; Phantast wie immer, träumte er, damit Karl zum Pfaffenkrieg treiben zu können. Dann entwickelte Glapion seinen Plan, Luther solle, statt nach Worms, auf die Ebernburg kommen, damit in ungefährdeter Verhandlung, etwa durch Einigung auf eine mittlere Linie — Glapion galt als Erasmianer —, der Streit beigelegt werden könne. Volle sechs Stunden disputierte Bucer — er sei der weitaus schlimmste von den dreien, depeschierte Aleander nach Rom — mit dem Beichtvater; als Sanguiniker, der er damals war, glaubte er ihm die Sätze Luthers annehmbar gemacht und damit den Friedensschluß vorbereitet zu haben, während Glapion Aleander die Sache ganz anders darstellte; und Sickingen, dem die seiner Burg zugedachte Rolle schmeicheln mußte, ging mit Eifer auf den Vorschlag ein. Meisterhaft hatte die kaiserliche Diplomatie operiert: Sickingens Schwert und Huttens Feder waren nun nicht mehr zu fürchten, da beide Ritter dem Kaiser verpflichtet waren, und Luthers Erscheinen in Worms, das bei der allgemeinen Stimmung bedenklich dünkte, schien hintertrieben.

Auf der Ebembuig. Versetzung in den Weltpriesterstand.

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Als er am 15. April in Oppenheim eintraf, erwartete ihn dort Bucer mit einigen Reitern, ihm Sickingens Einladung zu überbringen. Doch der schlichte Verstand des Wittenbergers witterte eine verborgene Falle. Er wolle gen Worms ziehen, erklärte er; des Kaisers Beichtvater könne auch dort mit ihm handeln. Kaum hatte Bucer diesen Bescheid überbracht, so eilte er am 17. mit Briefen von Hutten an Luther und Jonas nach Worms. Er war also bei Luthers entscheidendem Verhör am 18. April in Worms anwesend; die Kunde davon muß er sofort auf die Ebernburg getragen haben; denn vom 20. ist Huttens Glückwunsch an Luther datiert. Inzwischen hatte der von Hatten beauftragte Kuriale eine überraschend glückliche Hand gehabt. Schon im März hatte Bucer das vom 20. Februar datierte päpstliche Breve in Händen. Es ermächtigte den Bischof von Speyer, den Bittsteller seines Qelübdes zu entbinden, falls der von ihm geltend gemachte Grund zutreffend sei, daß er „in so zartem Alter die Kutte genommen und durch Zwang und Furcht getrieben worden, Profeß zu tun". Wieder griffen die Freunde ein. Capito wußte den in Worms am Reichstag teilnehmenden Bischof, einen pfälzischen Prinzen, dahin zu bringen, den in Bruchsal residierenden Weihbischof Anton Engelbrecht, einen freigerichteten Mann, an seiner Stelle zu delegieren. In dem zu Bruchsal am 29. April 1521 abgehaltenen Termin, zu dem die geladenen Klosterobern nicht erschienen, ward erkannt, daß Martin Bucer, seiner Klostergeltibde ledig, fortan dem Weltpriesterstande angehöre, mit dem Recht, jede geistliche Stelle zu bekleiden. Es war höchste Zeit. Hatte doch inzwischen der Ketzermeister Hoogstraten Bucer bei der Wormser Nuntiatur denunziert und Aleander daraufhin nach Rom depeschiert, man solle dem „unruhigen und gefährlichen" Menschen ja nicht willfahren. So sicher war Bucer zuletzt seiner Sache gewesen, daß er schon vor dem Bruchsaler Tage die Stelle eines Hofkaplans bei Pfalzgraf Friedrich, einem Bruder des Kurfürsten Ludwig, angenommen hatte. Ein Jahr ungefähr stand er in seinen Diensten, zuerst in Worms, dann in Nürnberg, dem Sitze des Reichsregiments. Sicherlich ist es für Bucer, der nun in Worms das Ende des Reichstags miterlebte, von Nutzen gewesen, das politische Qe-

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I. Jugendzeit und Krisis.

triebe aus der Nähe zu beobachten und sich in höfischen Kreisen bewegen zu lernen. Der Pfalzgraf hatte ihm Luther wohlgeneigt geschienen, und er mochte sich seine Aufgabe der ähnlich gedacht haben, die sich Capito am kurmainzischen Hofe stellte. Eben Capito war es wohl, der ihm diese Stellung verschafft hatte. Denn Hutten, der so charaktervoll gewesen war, nach Erlaß des Wormser Ediktes den kaiserlichen Dienst zu künden, war bitterböse, daß sich sein Qenosse von der Ebernburg zum Fürstenknecht erniedrigt hatte. Und nach ein paar Monaten schon mußte ihm Bucer Recht geben. Das zügellose Leben des jungen Fürsten und der rohe Ton an seinem Hofe machten ihn unglücklich, für das Evangelium war nichts zu wirken. Aufs neue ließ ihn Sickingen seiner Huld versichern; jeden Augenblick könne er wiederkommen und werde die erste freiwerdende Stelle erhalten. Gerne griff Bucer zu, als die am Fuße der Feste gelegene Sickingen'sche Pfarrei Landstuhl frei wurde. Vom Pfalzgrafen in Gnaden entlassen, traf er im Mai 1522 hier ein. Gleich Luther wollte er offen das Evangelium predigen. Dem Genossen eines Hutten lag das Lavieren nicht, das Capito noch immer versuchte. Er höhnte damals auf „die gepriesene Klugheit und Mäßigung derer, die mehr auf die eigene, als auf Gottes Weisheit trauen". Kein Wunder, daß er als einer der ersten einen weiteren kühnen Schritt wagte: er trat in die Ehe. Elisabeth Silbereisen hieß seine Erkorene, jüngere Tochter eines Schmiedemeisters aus Mosbach am Neckar. „Rat, Bitt und Flehen etlicher christlicher Leute" und wohl am meisten die Ähnlichkeit ihres Lebensganges hatten sie zusammengeführt; war doch Elisabeth nach des Vaters frühem Tode „in jungen und unverständigen Jahren" von ihren Verwandten in eigennütziger Absicht beredet worden, ins Kloster Lobenfeld einzutreten, das sie nun nach zwölf Jahren, wahrscheinlich wegen Kränklichkeit, wieder verlassen hatte. Zwanzig Jahre lang war sie ihrem Manne eine aufopfernde Gehilfin, und alles Kreuz, das das eigene Haus reichlich zu tragen hatte, hat den Reformator nicht gehindert, allezeit ein leidenschaftlicher Ehestifter zu bleiben. In Landstuhl hat sich freilich Bucer nicht einleben können. Mehrfach hatte er im Sommer im Auftrag seines Herrn zu reisen. Plötzlich brach dann Ende August Sickingen seine Fehde gegen

In pfalzgräflichen und Sidringenschen Diensten. Verheiratung.

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den Kurfürsten von Trier vom Zaune, die die Katastrophe über ihn bringen sollte. Er zog aus, „dem Worte Gottes die Türe zu öffnen". So ließ er proklamieren; sehr möglich, daß er es sich auch selbst eingeredet. Sich zum Herrn von Trier zu machen, war seine wirkliche Absicht; durch eine Erhebung von Volk und Rittertum das Fürsten- und Pfaffenregiment zu brechen, sein letztes Ziel. Als der Trierer Krieg sich in die Länge zog, ging Bucer, der kein rechtes Wirkungsfeld haben mochte, seinen Herrn um einen Urlaub an, den dieser gern gewährte; Bucer sollte ihn nicht wiedersehen. Jedenfalls hatte sich der „ehrenfest Junker Franciscus" Bucer gegenüber allezeit ritterlich gezeigt. Er hatte ihm nicht bloß Asyl gewährt, er hatte ihn, als er seines Qelübdes ledig gesprochen worden, neu gekleidet und die Kosten des Verfahrens bestritten, er hatte ihm sogar angeboten, ihn ein Jahr in Wittenberg studieren zu lassen. Bucer seinerseits war zur Zeit des Wormser Reichstages überzeugt, daß Franz, wenn er nicht eben durch die Qicht gelähmt wäre, im Kampfe für das Evangelium Out und Blut einsetzen würde; ein Urteil, begreiflich in jener Zeit der allgemeinen Gärung, da die Geister sich noch nicht geschieden und, wer nur immer Pfaffen und Romanisten stürzen wollte, als ein Kämpfer für das Evangelium erschien. Sickingen blieb ihm auch später, „die Fehden ausgenommen, ein gar treuer, frommer, gottseliger Mann"; er bewies ihm seine Dankbarkeit dadurch, daß er sich beim Landgrafen für seine Söhne verwandte. Bucer gedachte nach Wittenberg zu ziehen, bei Luther und Melanchthon zu studieren. Sein Weg führte ihn, es war Anfang November 1522, durch Weißenburg. In dieser freien, zum elsässischen Zehnstädtebunde gehörenden Stadt wirkte als Pfarrer an der Stadtkirche St. Johann Heinrith Motherer, ein schlichter, frommer Mann, der unter Opfern die rechtliche Stellung der Pfarrkirche der ganz heruntergekommenen Abtei gegenüber geordnet hatte. Selbst Anhänger der Lehre Luthers und verheiratet, aber des Predigens ungewohnt, bat er Bucer dringend, den Weißenburgern das Evangelium zu verkünden. Die flehentliche Bitte als Gottes Ruf deutend, sagte dieser für ein halbes Jahr zu. Es war eine gesegnete Predigttätigkeit, die er im Winter und Frühjahr entfaltete; allsonntäglich zweimal, in der Advents- und Fastenzeit

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Der Weißenburger Winter.

täglich, stand er auf der Kanzel. An der Erklärung des ersten Petrusbriefes, dann des Matthäusevangeliums, entwickelte er die neue Lehre, verbunden mit derb zupackender Bekämpfung der hergebrachten FrömmigkeitsUbung, die Glaube wie Liebe verleugne. Rasch hatte der neue Prediger die Qemeinde gewonnen. Aber von zwei Seiten drohte Qefahr. Der bischöfliche Vikar von Speyer erhob Einspruch gegen Bucers Tätigkeit, wandte sich auch bald darauf mit dem Ansinnen an den Magistrat, den Prediger der Lutherischen Ketzerei und Aufruhrstifter auszuweisen; und im Laufe dieser in Zitationen und Appellationen sich endlos hinziehenden Verhandlungen ward über den Pfarrer und seinen Helfer der Kirchenbann verhängt. Am Orte selbst hatte Bucer unter der Feindschaft der Mönche, vor allem der Franziskaner, zu leiden. Da sie immer auswichen, wenn er sich ihnen gegenüber zur Verantwortung aus der Schrift erbot, lud er sie schließlich durch öffentliches Ausschreiben auf Ostermittwoch zur Disputation in seine Kirche. Seine Thesen verlas er von der Kanzel und ließ sie den Mönchen zustellen. Daß niemand sich stellte, war auch ein Sieg. Nun aber schob sich von Norden drohendes Kriegsgewölk heran. Am 6. Mai hatte Sickingen auf seiner Feste Landstuhl vor den wider den Reichsfriedensbrecher verbündeten Fürsten kapitulieren müssen, und die einziehenden Sieger hatten den Gegner im Sterben getroffen. Die Lage war für Weißenburg deshalb gefährlich, weil der mitverbündete Bischof von Speyer und der gewalttätige Abt Rüdiger längst darauf aus waren, die Stadt als aufrührerisch ihrer Freiheit zu berauben; die Nichtachtung des Wormser Edikts, die in der Duldung ketzerischer Predigt lag, konnte gelegenen Vorwand zur Ausführung dieser Pläne bieten. So wurden Bucer und Motherer von Rats wegen ersucht, „eine Weile auszutreten"; es geschah dies insgeheim, denn ein Bekanntwerden dieser Zumutung hätte einen Aufruhr verursachen können, so sehr hing man den beiden an. In aller Heimlichkeit verließen aus demselben Grunde die beiden die Stadt, die am 20. Mai, froh, nicht schlimmeres zu erleiden, einen demütigenden Frieden mit dem Pfälzer Kurfürsten schließen mußte.

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II. Die Reformation in Straßburg. Bucerus hic est coryphaeus et columna, non solum eruditione, sed etiam judicio pietatis, constantia, integrttate, dilectione proximi. Capito an Oecolampad, 23. Jan. 1526.

Es war Mitte Mai 1523, daß Bucer und Motherer, der übrigens im Herbst seine Wirksamkeit in Weißenburg wieder aufnehmen konnte, in StraSburg eintrafen. Mit Nürnberg, Augsburg und Ulm zählte Straßburg zu den führenden unter den freien Reichsstädten Süddeutschlands, wenn auch freilich die ihrer trefflichen Verfassung wegen gerühmte elsässische Metropole über den Reichtum jener großen Handelszentren nicht verfügte. In der Stadt, in der einst ein Meister Eckhart seine hochfliegenden Qedanken über Qott und Welt mit genialer Sprachmeisterschaft vorgetragen, ein Tauler die Seelen der Qottesfreunde mit seiner innig zarten Mystik gespeist hatte, war um die Jahrhundertwende, nach längerem Stillstande, dank der humanistischen Bewegung neues geistiges Leben erwacht. Aber erst die Reformation sollte Straßburg den Schwung und die sittliche Kraft verleihen, sich zu einer Stätte der Wissenschaft und einem Mittelpunkte der kirchlichen und theologischen Gestaltung des Protestantismus auszuwachsen und durch eine großzügige Politik zum letzten Male einen bedeutsamen Einfluß nach außen zu üben. An dem allem ist Martin Bucer mit in erster Linie beteiligt gewesen. Und wenn die kirchliche und theologische Bedeutung der Stadt ihm vor allem zu danken ist, so war anderseits Straßburg, wo ein Jakob Sturm mit klarem Blick und fester Hand das Steuer der Politik führte, wichtige Verbindungen mit den Nachbarländern die Dinge von hoher Warte zu betrachten erlaubten, das Auftreten A n r i e h , Bucer.

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II. Die Reformation in Straß bürg.

bedeutender Sektenführer Probleme aufzeigte und zur Auseinandersetzung zwang, eine vor andern geeignete Stätte, da Bucer zum klar urteilenden Politiker ausreifen, internationale Beziehungen knüpfen, die Höhe universaler Betrachtungsweise gewinnen und eine verschiedenartige Strömungen eigenartig verbindende und ausgleichende Theologie ausbilden konnte. Nicht als berufener Führer freilich langte Bucer an, sondern als mittel- und stellenloser Flüchtling. Ein ganz Fremder allerdings war er in Straßburg, wo sein Vater seit zwanzig Jahren als Bürger der Stadt das Küblerhandwerk übte, nicht. Mehrfach hatte er in den letzten Jahren hier geweilt. Mit dem humanistischen Juristen Nikolaus Gerbel, einem der ersten begeisterten Anhänger Luthers in StraBburg, stand er seit längerer Zeit in Briefwechsel. Und eine besonders glückliche Fügung wollte es, daß wenige Wochen vor ihm auch sein Freund und Beschützer Capito eingetroffen war. In der Erkenntnis, daß seine Stellung am Hofe Albrechts von Mainz unhaltbar geworden, und angeekelt von der Notwendigkeit stetigen Lavierens, das ihn selbst in schlimmen Verdacht brachte, hatte er sich nach Straßburg zurückgezogen, wo er die Propstei des Thomaskapitels besaß. Der angesehene Hofmann wie der arme Prädikant waren gerade zur rechten Zeit gekommen. Denn auch in Straßburg hatte die Reformationsbewegung unaufhaltsam eingesetzt. Matthäus Zell aus Kaysersberg, der Pfarrer der Münstergemeinde, hatte im Laufe des Jahres 21, vorsichtig zuerst, dann immer kühner, das Evangelium im Sinne Luthers zu predigen begonnen. Der Erfolg war durchschlagend gewesen und hatte „Meister Mathes" zum volkstümlichsten Manne der Stadt gemacht. Wenige Monate war es her, daß der Bischof den Leutpriester vor sein Gericht hatte fordern lassen. Das hatte in der Bürgerschaft eine solche Erregung hervorgerufen, daß der Magistrat eingegriffen hatte. Er hatte um Neujahr sämtlichen Predigern ansagen lassen, „ein jeder solle in seiner Kirche das Evangelium verkünden, der Rat werde ihn dabei beschützen", und hatte damit zum ersten Male vorsichtig Partei ergriffen; und eben im Frühjahr 23 hatte er einen solchen Druck auf Bischof und Domkapitel auszuüben verstanden, daß Zell gestattet worden war, noch ein Jahr im Amte zu bleiben. Noch war äußerlich

Mathaeus Zell. Bucers Vorlesungen und Verantwortung.

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alles beim alten, aber ein gut Teil der Bürgerschaft der neuen Lehre zugetan. Eine „übergroße Ernte" meinte Bucer hier zu sehn. Wie aber zum Arbeiter in ihr werden? Der bischöfliche Vikar, an den er sich mit einer Eingabe gewandt hatte, die zugleich seine Ehe als schriftgemäß zu rechtfertigen suchte, verbot ihm das Predigen; dem Magistrat, der damals des Sickingenschen Krieges wegen eine vorsichtig zuwartende Haltung einnahm, konnte der verheiratete, dazu von Speyer aus gebannte Priester als ungelegener Qast erscheinen. An eine Anstellung war zunächst nicht zu denken. Dringend schrieb Bucer an Zwingli, ob er ihm eine Stellung wisse. In der Stadt war man bald auf ihn aufmerksam geworden. Eine „treffliche Zahl von Edeln und Unedeln, Geistlichen und Weltlichen" richteten eine, am 3. Juni verhandelte Supplik an den Rat, man möge Bucer gestatten, ihnen auf deutsch das Evangelium des Johannes auszulegen. Doch der Magistrat getraute sich nicht, die Erlaubnis zu geben. Das einzige, was Bucer tun durfte, war, in Zells Hause vor einem kleinen Kreise lateinisch über die Pastoralbriefe zu lesen. Mit dieser, zunächst mehr praktisch gehaltenen Schriftauslegung begann er seine bedeutungsvolle Vorlesungstätigkeit; im nächsten Jahre auf Antrieb Jacob Sturms in mehr wissenschaftlicher Form zusammen mit Capito und Hedio weitergeführt, sollten diese theologischen Vorlesungen die Keimzelle der Straßburger Hochschule werden. Nach kaum vier Wochen schon stellte der Bischof an den Rat das Ansinnen, dem gebannten und verheirateten Priester das Geleit zu künden, damit er ihn vor sein Gericht ziehen könne. Bucer, dem das bischöfliche Schreiben durch zwei Ratsmitglieder zugestellt worden war, richtete jetzt seine umfangreiche „Verantwortung" an den Magistrat, in der er seinen Lebensgang darlegte, seine Ehe ausführlich als Gottes Wort gemäß rechtfertigte und sich jedermann zur Verantwortung auf Grund der Schrift erbot. In der Nachfolge Luthers, der den Unterschied zwischen priesterlichem und weltlichem Stand als unterchristlich abgetan hatte, erklärte er hierbei, er wolle gar kein .Priester" sein, sondern ein schlichter Christ, wie jeder andere, und erkenne demgemäß nicht den Bischof, sondern den Magistrat der Stadt als seine gottgesetzte Obrig2»

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II. Die Reformation in Straßburg.

keit. Seine resolute Sprache muB Eindruck gemacht haben. Jedenfalls beschloß der Rat, ihn weiter zu schirmen als eines Bürgers Sohn; er konnte das um so eher, als Bucer ohne Stelle war, sein Fall also nicht unter die Bestimmungen des Nürnberger Mandats fiel. Jetzt durfte er wagen, mit Schriften hervorzutreten. Seine „Summary seiner Predigt zu WeiBenburg getan" faßte die Grundlinien seines Christentums zusammen, und die auf Grund seiner Supplik an den Rat gearbeitete „Verantwortung" wollte in öffentlicher Rechtfertigung den Verleumdungen entgegentreten, die seine Widersacher wider ihn auszustreuen nicht müde wurden. Ein weiterer Schritt vorwärts war getan, als es ihm im August gelang, von Seiten des Magistrats die Erlaubnis zum Predigen zu erwirken und ihm Zell in ausgiebiger Weise Gelegenheit bot, seiner Münstergemeinde das Evangelium auszulegen. Um dieselbe Zeit bestieg zum allgemeinen Erstaunen der Stiftspropst Capito die Kanzel von St. Thomas. Seine erste Absicht war, die infolge von Zells „Hineinrauschen" entstandene Erregung zu beschwichtigen, die Parteien zu versöhnen. Bald aber wußte ihn Zell mit seiner schlichten Gradheit zu überzeugen, daß es einen Mittelweg nicht gebe, und er trat völlig auf die Seite der Reformationspartei. Das war insonderheit deshalb von Bedeutung, weil der geschäftskundige Capito mit seinen vornehm-urbanen Formen der Vertrauensmann des Magistrats in kirchlichen Fragen wurde. Schon im September werden Capito und Bucer neben Zell als die Führer im Kampf bezeichnet. Unter großem Zulauf legte Bucer zu Beginn des Winters im Münster den Kolosser-Brief aus. Inzwischen war auch Caspar Hedio eingetroffen, der in Basel als Erasmianer sich Capito angeschlossen hatte und von ihm als Domprediger nach Mainz gezogen worden war. In der Hoffnung, in ihm einen Prediger mittlerer Richtung zu gewinnen, hatte ihn das Domkapitel auf Geilers Kanzel berufen; bald sollte er dieselbe Wandlung durchmachen wie Capito. Überhaupt begann jetzt alles in ein rascheres Fahrwasser zu kommen. Am 1. Dezember hatte der Magistrat ein öffentliches Mandat erlassen, es solle „auf allen Kanzeln nur das heilige Evangelium verkündigt werden". Fomell unangreifbar korrekt,

Bucer Hilfsprediger und Pfarrer. Capito. Die Ehepriester.

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denn sie brauchte die vieldeutigen Worte des Nürnberger Mandats, bezeugte diese Kundgebung deutlich den Willen des Magistrats, der kirchlichen Reform seinen Arm zu leihen. Bald kam er auch in die Lage, überall eingreifen zu müssen. Bucers Beispiel und seine Verteidigung des Ehestandes als der allen Menschen gesetzten göttlichen Ordnung fand Nachahmung. Im November war der Leutpriester Firn von St. Thomas als erster in die Ehe getreten, im Dezember tat Zell diesen Schritt, andere Kleriker folgten nach. Das Thomaskapitel sprach die Absetzung über seinen Leutpriester aus, der Bischof zitierte die Verheirateten vor sein Qericht. Die Erregung aber war so groß, daß der Magistrat sich überall ins Mittel legte. Er wußte von dem Kapitel zu ertrotzen, daß es „des Aufruhrs wegen" den Leutpriester vorderhand weiter predigen ließ, während mit dem Bischof langwierige Verhandlungen geführt wurden. Der große Kirchenbann, den derselbe am 14. März 24 über die „Ehepriester" verhängte, blieb völlig wirkungslos, da Magistrat und Bürgerschaft auf ihrer Seite standen. Mit den Stiftern von St- Thomas, Jung- und Alt-St. Peter führte der Magistrat überdies schon lange einen zähen Kampf um neue, der Stadt mehr Vorteil bringende Schirmbedingungen; kein Wunder, daß bei der allgemeinen Qärung auch dieser Konflikt einen bedenklichen Charakter annahm. Nun wandten sich zu Ende Januar 24 die Qemeindeglieder von St. Aurelien, denen ihr Pfarrer nicht mehr genügte, an den Rat, er möge ihnen gestatten, Bucer daneben zum Prediger zu nehmen. Dies Ansinnen stellte den Magistrat vor eine folgenschwere Entscheidung. Es standen ihm in dieser Sache keinerlei Rechte zu, die Pfarrei unterstand dem Kapitel von St. Thomas. Konnte man sich indes an das strenge Recht halten, wo die Autorität des Bischofs und der geistlichen Körperschaften im Zusammenbrechen war und durch selbstherrliches Vorgehen der Gemeinden Aufruhr drohte? Wieder führte der Magistrat mit dem Kapitel lange Unterhandlungen, und wieder gab das Kapitel klein bei. So hielt Bucer am 21. Februar 24 seine erste Predigt zu St. Aurelien. Nicht nur dies, bei Erkrankung des Pfarrers ward er Ende März direkt zum Qemeindepfarrer „gewählt", und auch dem stimmte, nach kurzem Zögern, der Magistrat zu. Sieben Jahre

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II. Die Reformation in Straßburg.

lang hat Bucer in dieser Kirche der „Gärtner", d. h. der Gemüsegärtner, das Pfarramt verwaltet, bis er 1531 nach St. Thomas berufen wurde. Die Art, wie der Magistrat sich hier eingemischt hatte, mußte notwendig weitere Folgen haben. An andern Kirchen lagen die Verhältnisse ähnlich. Zeigten doch im März die von Jung-St. Peter, unter Übergehung ihres Kapitels, dem Magistrat einfach an, sie hätten sich Capito zum Pfarrer „erwählt". Eine allgemeine Regelung war damit unabweislich. Es war eine entscheidende Ratssitzung, in der nach einem Vortrag Capitos und fünfstündiger Beratung beschlossen wurde, sämtliche Pfarreien „christlich zu versehen". So kam nun Capito nach Jung-St. Peter, Zells Helfer Diebold Schwartz nach Alt-St. Peter. Den Abschluß bildete der im Sommer zusammen mit den Schöffen gefaßte Beschluß, der Magistrat solle bis Martini die Pfarren zu Händen nehmen und für Besoldungen sorgen. Die Stiftsherren, deren Konflikt mit dem Magistrat sich weiter verschärft hatte, hatten damals großenteils die Stadt verlassen; sie protestierten ebenso wie der Bischof, der an den Kaiser appellierte. Das waren grundlegende Ereignisse und Beschlüsse. Sie bedeuten den Übergang des Kirchenregiments an die Stadtobrigkeit, eine damals überall sich vollziehende, von langer Hand her vorbereitete Entwicklung; damit auch eine geschichtliche Notwendigkeit; denn sie allein ermöglichte die Durchführung der Kirchenreform ohne tiefgreifende und gefährliche Umwälzungen. Das Jahr 1524 wird damit zum entscheidenden Reformationsjahr. Denn kaum sind die Pfarreien mit evangelischen Geistlichen versehen, so ersteht wie durch Zauberschlag der evangelische Gottesdienst. Am 16. Februar 24 hatte Zells Helfer Schwartz in der Johanneskapelle des Münsters die erste deutsche Messe gelesen und das Abendmahl „auf böhmisch Manier und Art" ausgeteilt. Zu Ostern wurde bereits in mehreren Kirchen das Abendmahl deutsch und unter Darreichung des Kelches gefeiert. An die Stelle des lateinischen Meßgottesdienstes traten nun überall deutsche Gottesdienstordnungen von evangelischer Schlichtheit und Kraft, das meiste davon originales Straßburger Gut; Gemeindegebete von mustergültiger kirchlicher Haltung lösen den Meßkanon,

Evangelisches Pfarramt und evangelischer Gottesdienst.

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deutscher Gemeindegesang den lateinischen Priestergesang ab. Noch ist alles in Fluß, aber grade auf diesem Qebiete eine wahrhaft schöpferische Zeit. Schon beginnt auch das Aussehen der Kirchen ein anderes zu werden. An Stelle des Hochaltars tritt der schlichte Abendmahlstisch ohne Lichter. Durch eine Ratskommission werden die schlimmsten „Götzen", d. h. Heiligenbilder und -Statuen, entfernt; Bucers Oartner reinigen ihre Kirche bereits von allen Bildern und entfernen das wundertätige Qrab der hl. Aurelia vollständig. In keinem Punkte aber tritt der Qegensatz gegen das Gewesene stärker zutage, als in dem vollständigen Abtun sämtlicher, auch der größten Feste. Als einziger Feiertag bleibt der Sonntag; das Kirchenjahr ist fast völlig verblaßt. Was von diesen Schöpfungen und Maßnahmen grade auf Bucer zurückgeht, wird im einzelnen kaum je zu entscheiden sein. Daß er aber in vorderster Reihe gestanden, ergibt sich aus der Tatsache, daß ihm die Rechtfertigung der vorgenommenen Reformen übertragen wurde. Sein Traktat „Grund und Ursach der Neuerungen zu Straßburg fürgenommen" eröffnet die lange Reihe von Schriften, Gutachten und Eingaben, die er als Wortführer der Straßburger Geistlichkeit verfaßt hat. Wir werden hoffen dürfen, in dieser Schrift, unter gelegentlicher Zuziehung der zeitlich benachbarten, die Gedanken Bucers in originaler Tönung und Frische, vielleicht auch in ursprünglicher Einseitigkeit und Unfertigkeit anzutreffen. Fällt doch die im Dezember des großen Jahres erschienene Schrift noch in die Zeit, da kein Kampf nach zwei Fronten den ursprünglichen Schwung hemmte und keine kirchenpolitischen Gesichtspunkte zu Kompromissen trieben, in eine Zeit, da man wie im Fluge das alte Wesen abtun und die Welt erneuern zu können meinte. Da ist es natürlicherweise der schroffe Gegensatz gegen das alte Kirchentum, der für die Entwicklung von Bucers Gedanken richtunggebend gewesen ist. Wie die Reformatoren allesamt, ist Bucer seit den entscheidenden Tagen im Zentralpunkt seiner Verkündigung ein Jünger Luthers. Auch ihm sind Leben und Seligkeit beschlossen im Glauben; auch ihm ist der Glaube „eine Freudigkeit zu Gott, ein frei tröstlich Vertrauen als zu unserm Vater"; auch ihm ist solcher Glaube ein reines Gnadengeschenk von oben. Die Vorstellung, es

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II. Die Reformation in Straßburg.

könne durch irgendwelche Leistung Gottes Wohlgefallen verdient und die Seligkeit errungen werden, ist ihm der Tod aller Frömmigkeit. Gott allein ist's, der in dem, den er von Ewigkeit erwählt hat, den Glauben wirkt. Und zwar ist der Erlösungstod des Herrn die entscheidende, die einzige und in alle Ewigkeit wirkungskräftige Erlösungstat, auf Grund deren Gott dem Menschen seine Barmherzigkeit zuwendet. Andre Mittler anrufen, heißt die Ehre Christi antasten. Keine schlimmere Verleugnung des Glaubens aber ist denkbar, als wenn in der Messe Gott immer aufs neue durch Darbringung des unblutigen Opfers versöhnt werden soll; hier maßt sich nicht bloß priesterliches, d. h. menschliches Tun an, den erhabenen Gott beeinflussen zu wollen, sondern die Erlösungstat des Herrn wird für ungenügend erklärt. Damit wird die Messe, der Herzpunkt des bisherigen Gottesdienstes, zum „allerlästerlichsten, verderblichsten Irrtum", zur „schweren Gottesschmach und Abgötterei". Die Erbitterung und Schonungslosigkeit, mit der der Kampf gegen die Messe geführt worden ist, wird uns erst aus dieser Betrachtungsweise verständlich. Aber der Gegensatz gegen das alte Kirchenwesen ruht bei Bucer auf noch viel breiterer Grundlage. Nicht bloß, daß die Kirche in ihrer Heiligenverehrung wie in der dem Priester zugewiesenen Mittlerstellung armselige Menschen Gott zur Seite zu stellen gewagt, das Geschöpf vergöttert und darob Gott die Ehre nicht gegeben hat; sie hat überhaupt das Innerlichste in Zeremonien, Prunk und Flitter veräußerlicht, das Freieste, die Gnade Gottes, an äußere Elemente und priesterliche Verrichtungen geknüpft, hat sich vermessen, das Göttliche in die niedere Sphäre des Irdischen, Kreatürlichen und Sinnlichen herabzuziehen. Diese Empfindung drängt Bucer dazu, in der religiösen Sphäre alles Äußere, Sinnliche, Menschliche, alle Zwischenglieder und alle Vermittler möglichst auszuschließen. Unentwegt bleibt das Auge unmittelbar auf Gott eingestellt: Gott und die Seele; die Seele als der empfangende Teil, Gott als der gebende, der schlechthin alles in allem wirkende. Zwischen Gott und Christus wird bei solcher Betrachtungsweise so gut wie nicht unterschieden. Denn während Luther eben dies als das Allertröstlichste empfindet, daß uns armen Menschen der Heiland in unserm eignen Fleisch und Blut entgegentritt, so blickt

Bucers Christentum. Das Geistes- und das Schriftprinzip.

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Bucer, so sehr ihm der Kreuzestod die grundlegende Heilstatsache bleibt, mit Vorliebe zum himmlischen Herrn empor, dem der Vater die Herrschaft übergeben hat. Mit dieser Gegenüberstellung des Göttlichen und Irdischen hängt nun weiter die Bucer eigentümliche Betonung des „Geistes" zusammen. Allem Irdischen und Menschlichen wird der Geist als allwirksame Gotteskraft entgegengestellt. Der Geist beruft die Erwählten, wirkt in ihnen den Glauben, die Liebe, das wahre Gebet, alle guten Gedanken und Taten. Keine religiöse Wirkung ohne den Geist; alle Predigt leerer Schall, das Schriftzeugnis ohne Kraft, der AbendmahlsgenuB äußere Zeremonie, wo der Geist nicht in dem Herzen wirkt. Und der Geist waltet frei. Wie will man da menschliche Predigt, kirchliche Handlungen als zum Heil notwendig erklären, die Vergebung der Sünden an eine äußere Handlung wie die Taufe knüpfen? Das Entscheidende ist doch die Geistestaufe; und wann für den einzelnen die Gottesstunde kommt, ist Gottes Geheimnis. Konsequent verfolgt, hätte dies Prinzip des Geistes und der freien Innerlichkeit alle äußeren Formen auflösen können. Aber es ist e i n Motiv neben andern; es ist insonderheit von Anfang an mit einem andern Prinzip verbunden, das ihm die Wage hält, dem Schriftprinzip. Beide werden sie gar nicht als Gegensätze empfunden. Die Schrift als Gottes Wort ist vom Geist unmittelbar eingegeben; dem vom Geiste Berührten enthüllt sie sich als Zeugnis des Geistes und wird damit dem Gläubigen schlechthinige Norm. Heiligenkult und Mariendienst, Fastenordnungen und Mönchsgelübde, Fegfeuer- und Ablaßlehre sind schon als schriftwidrig von vornherein gerichtet. Diese Grundsätze beherrschen nun auch die Regelung des gottesdienstlichen Lebens. Abzutun ist, was wider den Glauben und Gottes Ehre: daher der mit alttestamentlichem Eifer geführte Kampf wider die Messe. Die Schrift soll auch hier als Norm gelten; sie ordnet für das Volk des Neuen Bundes nur zwei Zeremonien an: Taufe und Nachtmahl; alle übrigen sind abzustellen; dagegen der Gemeindegesang einzuführen als apostolischem Brauch entsprechend. Der Gottesdienst soll Anbetung im Geist und in der Wahrheit sein; kein Priester- und Gaukelwerk darf die Sinne gefangen

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II. Die Reformation in StraBburg.

nehmen; unmittelbar zu Qott soll die Seele sich erheben; darum dürfen auch die Gebete nur kurz sein, denn das wahrhaft geisteingegebene Gebet ist etwas Innerliches und Individuelles. Nichts aber ist bezeichnender, als dafi für Bucer auch auf diesem Gebiete letzlich ausschlaggebend ist die Liebe. Lebendiger Glaube muß zu werktätiger Liebe führen, wie andrerseits „der tätige Geist ist eine Versicherung des Glaubens". Man kann Gott nicht anders dienen denn am Nächsten. Die Christen von heute wollen durch Prunkbauten und Goldaltäre die Gnade Gottes verdienen und lassen darüber die Brüder darben. Sie erschöpfen sich, durch Ablaßkauf die Ihren aus dem Fegfeuer zu erlösen; die Folge ist, daß „wo ein Gulden auf die Lebendigen gewandt wird, da kehrt man auf die Toten zwanzig". „Prunk ist wider die Liebe;" schimmernde Meßgewänder und goldstrotzende Altäre eine Versündigung an den Hungernden und Obdachlosen. Dem Reinen ist alles rein. Aber im Gebrauch solcher Freiheit muß zur Richtschnur dienen, was dem Nächsten, dem Schwachen, dem Ganzen frommt. An den Bildern der Heiligen stört sich gereifter Glaube nicht; aber die Schwachen sind von der Anbetung der Heiligen nicht anders abzubringen, als durch Entfernung ihrer Bilder aus den Kirchen, wobei Bilderstürmerei scharf verurteilt wird. Die Feiertage allesamt sind nur menschliche Einrichtung, zum Teil heidnischer Überrest. Sie sind Sündentage geworden; sie haben alle geschadet, die größten am meisten; darum kann gerade die Liebe sie nicht mehr weiter dulden. Wie sollte man dazu besondere Tage erlesen, wenn man alle Tage Christi Geburt, Tod und Auferstehung bedenken kann, zumal ja jeden Tag gepredigt wird? Umgekehrt erfordert grade die Liebe, daß es für Angestellte und Gesinde einen Ruhetag gebe. Darum ist, nicht um Gottes, sondern um des Nächsten willen der Sonntag beizubehalten; als Ruhetag ist er dann auch für gottesdienstliche Versammlungen besonders geeignet. Welch hohes soziales Verantwortungsgefühl spricht aus diesen Ausführungen; aber anderseits: mit welch elementarer Wucht muß der Gegensatz gegen das Bestehende sich ausgewirkt haben, wenn ihm die sinnige Symbolik des Kirchenjahrs und die naive Festfreude zum Opfer fallen konnte, vom Fehlen des aesthetischen Gesichtspunktes noch gar nicht zu reden!

Bucers Liebesprinzip. — Der Kampf wider die Messe.

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Mit dem Ende des Jahres 1524 ist, die Bürgerschaft betreffend, Straßburg im wesentlichen eine evangelische Stadt. Was dies Jahr grundlegend ins Werk gesetzt, vollendet sich in den folgenden. Nach den Pfarreien muß der Magistrat folgerichtig auch die Klöster zu Händen nehmen, in denen mit der jetzt einsetzenden und durch Jahre sich hinziehenden Austrittsbewegung das Chaos droht; er regelt die Pensionen der Austretenden und wendet die Erträge aus eingezogenem Klostergut dem Schulwesen und der Armenpflege zu. Noch aber standen die wichtigsten geistlichen Körperschaften außerhalb des neuen Kirchenwesens: das reiche und mächtige Domkapitel, mit das vornehmste Deutschlands, samt den Kapiteln der drei Stiftskirchen, deren Glieder, seit der Zuspitzung ihres Streites mit dem Magistrat, die Stadt großenteils verlassen hatten. Das Kapitel von St. Thomas war durch den Einfluß seines Propstes Capito auf dem Wege, protestantisch zu werden. Nicht so die der andern Kirchen. Und diese boten jetzt der Bürgerschaft ein neues Ärgernis, indem sie nach wie vor täglich ihre feierliche Messe zelebrieren ließen. Die Messe aber erschien damals, wir sahen warum, als Abgötterei, ihre Duldung als Frevel gegen Qott; war ja doch überhaupt die Vorstellung, daß verschiedene Ausprägungen des Christentums mit relativer geschichtlicher Berechtigung nebeneinander stehen könnten, jenem Zeitalter noch nicht erreichbar. So führten denn vier Jahre hindurch in Eingaben und Suppliken an die Stadtobrigkeit die Prediger, die Zünfte, die Bürgerschaft einen immer erbitterteren Kampf gegen die Messe, wobei Bucer wieder in vorderster Reihe stand. Der Magistrat zögerte aus politischen Bedenken; hatte doch die Gegenpartei Kaiser, Papst und Kammergericht angerufen. Schließlich siegten die religiösen Motive in Verbindung mit der Einsicht, daß weiteres Zögern das Volk dem Aufruhr oder den Sekten in die Arme treiben würde. Nach langen Verhandlungen und Vorbereitungen wurde durch die große Schöffenversammlung vom 20. Februar 1529 das Verbot der Messe ausgesprochen. Der Tag bildet einen Markstein: das alte Kirchentum ist verschwunden, der Kampf gegen dasselbe zu Ende. Freilich aber bleiben in dem jungen evangelischen Gemeinwesen als verhängnisvolle Fremdkörper die drei altgläubigen Kapitel bestehen.

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II. Die Reformation in Straßburg.

Denn eben damals kam der Friedensvertrag endlich zustande, in dem die Stadt den Kapiteln um den Preis des Verzichtes auf die Messe, der Anerkennung der Rechte des Magistrats über die Pfarreien und der Mitbesoldung der Pfarrer ihr Weiterbestehen als selbständige, freie kirchliche Körperschaften gewährleistete. Wie von selbst und in kürzester Zeit hatten die Ereignisse dieser Kampfesjahre Capito und Bucer zu führender Stellung emporgehoben. Rasch tritt Zell vor ihnen in den Hintergrund. Weder Organisator, noch Kirchenpolitiker, noch geschulter Theologe, blieb er der Mann der schlichten Evangeliumsverkündigung und Gemeindearbeit und der erklärte Liebling des Volkes. Die Führung fiel natürlich zunächst an Capito. Er war nicht bloß dreizehn Jahre älter als Bucer, er kam als angesehener, weit- und geschäftsgewandter Mann nach Straßburg und hatte sich ebenso rasch das Vertrauen des Magistrats wie der Bürgerschaft erworben. Den Steuermann, der das ganze Schiff der Kirche lenke, nennt ihn Bucer im Frühjahr 24. War er schon als kurmainzischer Rat dem Heidelberger Dominikaner nahegetreten, so bildete sich jetzt zwischen den beiden so verschieden gearteten Männern das engste Vertrauensverhältnis. Und schon im Januar 26 bezeichnet Capito den jüngeren Freund als das eigentliche Haupt; er war der temperamentvollere, energischer vorwärtsdrängende, und je länger, je mehr sollte die tatsächliche Führung an ihn fallen. Schon begann das neue evangelische Qemeinwesen den Blick auf sich zu ziehen. Nirgends in deutschen Landen hatte sich die Kirchenreform so schnell und so glatt durchgesetzt als in Straßburg und in Zürich. In der Verwandtschaft der geistigen und sozialen Struktur der beiden Stadtstaaten lag die Ähnlichkeit der kirchlichen Aufgaben begründet, vor die man sich beiderseits gestellt sah; auch die Exponiertheit der Stellung nach außen war ähnlich. Endlich fühlten sich Zürichs Reformator und die Straßburger Führer wesensverwandt; allesamt waren sie aus dem oberdeutschen Humanismus hervorgegangen, Capito überdies Zwingli längst befreundet. Nur natürlich, daß unter diesen Umständen beide Städte Fühlung suchten, vor allem die Reformatoren einen ständig reger und intimer werdenden Austausch über die schwebenden Fragen pflegten.

Capito und Bucer als Führer. Beziehungen nach auswärts.

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Auch aus Frankreich hatten bereits hervorragende Männer in Straßburg Zuflucht gesucht. Leffevre, der alte biblizistische Humanist, der feurige Farel, der Reformator der Westschweiz, Roussel, der Kaplan der Königin von Navarra, alle hatten sie länger oder kürzer Capitos Gastfreundschaft genossen. Bucer verfolgte seitdem den Fortgang der evangelischen Bewegung im Nachbarlande mit gespannter Aufmerksamkeit. Seine lateinischen Werke, seine Übersetzung von Luthers Postille sollten vor allem auch den Brüdern in Frankreich und Italien dienen. Schon war auch Bucer in bedeutsamer Weise auswärts t$tig gewesen. Zu der großen Berner Disputation vom Jahre 28, die die Einführung der Reformation im Kanton Bern entschied, waren mit den andern Qrößen des oberländischen Protestantismus auch Capito und Bucer zugezogen worden. Dieser fand hier zum ersten Male Gelegenheit, vor einer illustren Versammlung seine Gelehrsamkeit und dialektische Gewandtheit zu beweisen; mit Zwingli und Haller war er der Hauptredner auf protestantischer Seite. Und eben jetzt, da der Kampf gegen das alte Kirchentum in Straßburg beendet war, zeigten sich die neuen Gefahren und Kämpfe, Probleme und Komplikationen, in denen Bucer der Mann der Situation sein sollte.

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III. Die Auseinandersetzung mit dem Täufertum. Als der letzte Kampf gegen das alte Kirchentum geführt wurde, stand bereits ein neuer Feind auf dem Plan, der von entgegengesetzter Seite aus die werdende evangelische Kirche bedrohte. Konventikel hatten sich gebildet, zumal unter dem niedern Volk; in Winkelgottesdiensten oder in der Verborgenheit des Ruprechtsauer Waldes ward seltsamer Gottesdienst gehalten; fremde Propheten traten auf, Erwachsene wurden neu getauft; und immer zuversichtlicher ward gegen die Prediger die Anklage erhoben, sie hätten nur verstanden, dem Papismus Abbruch zu tun, aber die wahre Erneuerung der Christenheit nicht heraufzufuhren vermocht. Wo sind die heiligen Gemeinden der Vollkommenen und Sündlosen? Ist nicht alles im alten Wesen und Unwesen stecken geblieben? Es handelt sich um die gewaltige, über ganz Deutschland sich verbreitende Woge der täuferischen Bewegung. Sie war gewiß nicht Geist von Luthers Geist. Ideale ringen in ihr nach Gestaltung, die schon zuvor, namentlich in der großen Böhmischen Bewegung, zutage getreten waren. Doch sind es nicht diese rückwärtigen Verbindungslinien, die die elementare Wucht der Bewegung erklären. Sie hängt vielmehr doch insofern mit der Reformation zusammen, als sie herausgeboren ist aus der allgemeinen religiösen Gärung und Erregung, die von der Lutherischen Bewegung hervorgerufen war. Und noch in anderer Beziehung: Das Neue Testament in der Ursprache hatte Luther seinem Volke geschenkt; und nicht bloß das Evangelium Christi, sondern die A n r i e h , Bucer.

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III. Die Auseinandersetzung mit dem Täufertum.

religiöse Welt des Urchristentums wird in ihm aufs neue lebendig und wirksam. Das Täufertum nun läßt sich am besten verstehen als der Versuch, die religiösen Ideen des Urchristentums unter völligem Bruch mit der gesamten bisherigen geschichtlichen Entwicklung und unter völligem Absehen von der veränderten Zeit und Kulturlage direkt in die Wirklichkeit umzusetzen. Und es erhebt seine Forderungen deshalb mit so zwingender Selbstverständlichkeit, weil sein Verständnis der Schrift nicht durch geschichtliche und theologische Schulung um seine naive Unmittelbarkeit gebracht oder von vornherein in bestimmte Schranken gewiesen ist: so stellte sich einigen alle Wirklichkeit überfliegenden Idealisten und Phantasten, so stellte sich aber namentlich dem unbefangenen Auge des schlichten Mannes aus dem Volke, der sich in sein Neues Testament vertiefte, die religiöse Aufgabe dar. Vom Geiste hatten sich, so las man, die ersten Christen in alle Wahrheit leiten lassen. Wieder wird jetzt die innere Erregung als Qeistbesitz gedeutet. Nur wer den Qeist hat, ist wahrer Christ; nur was vom Qeist gewirkt ist, gilt als christlich. Die Schrift ohne den Qeist ist toter Buchstabe, die Predigt des nicht vom Qeiste Getriebenen leerer Schall, gar die gelehrte Theologie eitle Weltweisheit. Feste Formen des Gottesdienstes sind bestenfalls Bevormundung und Dämpfung des Geistes; das geisteingegebene Gebet, die Schriftauslegung durch den Geistbegabten, wie einst zu Korinth, der einzig wahre Gottesdienst, der Qeistesträger die einzige Autorität. Die Geistesmenschen aber bilden das heilige Volk des Herrn, von dem die Schrift sagt. Die jetzige Kirche, die die schlimmsten Sünder und Weltmenschen mit umfaßt, ist ein Hohn auf diese Forderung. So gilt es, in der Sonderung von der Kirche die Gemeinde der Heiligen zu verwirklichen. Wer der Aufnahme in dieselbe würdig befunden wird, empfängt die Wiedertaufe. Denn die Kindertaufe ist so schriftwidrig als sinnlos; christlich ist nur die Taufe „mit Wasser und Geist", die Taufe, die begleitet ist von der Geistestaufe von oben. Wer also der heiligen Gottesgemeinde angehört, der hat mit dem, was von dieser Welt ist, mit der Obrigkeit, mit den staatlichen Ordnungen und Zwangsgewalten, mit Wissenschaft und Kultur keine aktive Gemeinschaft mehr; er unterwirft

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Wesen des Täufertums. Taufer in Straßburg.

sich dem höchstens in duldendem Gehorsam. In der Gottesgemeinde gilt nur das Gesetz Christi, und zwar, dem Qeistesprinzip zum Trotz, möglichst buchstäblich aufgefaßt; in der Gottesgemeinde richtet sich der Blick lediglich aufwärts auf die sehnsüchtig herabgeflehte und in Bälde erwartete Wiederkunft Christi, in dessen Reich das jetzt verfolgte und zertretene Gottesvolk herrschen wird. Es sind das nur die Hauptzüge, und auch diese ergeben verschiedene Typen, je nachdem Mystik oder Apokalyptik, Enthusiasmus oder Gesetzlichkeit vorwiegen. Prinzipienfragen tiefgreifendster Art liegen hier überall zugrunde, die den Protestantismus in seiner späteren Entwicklung nachhaltig beeinflussen sollten. Es leuchtet ein, daß die Art und Weise, wie diese ungebildeten Schwärmer die Ideale der Geisteskirche und der heiligen Gottesgemeinde verwirklichen wollten, sowohl die Kirche wie den christlichen Kulturstaat der Auflösung preisgeben oder zu dem Versuch führen mußten, die Welt nach Taboritenart mit Gewalt unter das Gesetz Christi zu beugen. Dabei waren viele Anhänger des Täufertums schlicht fromme Leute, die nicht anders meinten, als hier die wahrhaft biblische und wahrhaft geistige Religion, die wirkliche Reformation zu finden. Sie wurden die eigentlichen Märtyrer der Reformationszeit. Denn da die Wiedertaufe als Kapitalverbrechen galt, wurde seit dem Bauernkrieg in katholischen Landen das Täufertum im Blut erstickt, und seit dem großen Kampfe Zwingiis gegen die Täufer gingen auch evangelische Obrigkeiten mit Ausweisung und Einkerkerung gegen überführte Täufer vor. Unstät und flüchtig mußten die Führer von Ort zu Ort wandern; nur im Verborgenen vermochten sie zu wirken. Es ist ein Beweis für Straßburgs Bedeutung, daß die meisten derselben hier erschienen und Boden zu finden suchten. Alle ziehen sie an uns vorüber: der zum Schwärmer gewordene Carlstadt, im Herbst 24; ein Jahr darauf das Haupt der zersprengten Waldshuter Täufergemeinde, der feurige Prediger Hubmör, der in Wien auf dem Scheiterhaufen enden sollte; wieder nach Jahresfrist der Führer der Augsburger Täufer, der feine fromme Humanist Hans Denck; gleichzeitig der unlautre Ludwig Hetzer, der, nach stürmischer Vergangenheit als stiller Gelehrter in Capitos Hause 3«

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III. Die Auseinandersetzung mit dem Täufertum.

weilend, von Denck wieder völlig gewonnen wird; zuletzt der apokalyptische Phantast Melchior Hofmann. Es war in Straßburg, daß der ruhelos umgetriebene Mann sich dem Täufertum anschloß, und nach Straßburg kehrte er 1533 zurück, nachdem seine apokalyptische Qlut in den Niederlanden den Samen ausgestreut hatte, aus dem die Mtinster'sche Katastrophe erwachsen sollte. Und neben den Täufern finden wir andere Männer, die ihr Spiritualismus zur kirchlichen Ausgestaltung des Protestantismus in Qegensatz geraten läßt: 1531 schreibt der größte religiöse Individualist des Jahrhunderts, der geniale Sebastian Franck, in Straßburg seine „Qeschichtsbibel", und seit 1529 weilt hier als Qast von Capito und Zell der schlesische Edelmann Caspar Schwenckfeld, der Patron eines weichen, mystisch gestimmten Konventikelchristentums. Zwar waren mit Ausnahme des Letztgenannten alle diese Fremden nach längerer oder kürzerer Zeit ausgewiesen worden. Aber sie hatten namentlich unter den unruhigen Schichten der niederen Bevölkerung Boden gefunden. Täuferische Winkelgemeinden hatten sich seit 1525 gebildet, in denen von Einheimischen namentlich der redegewandte Ruprechtsauer Gärtner Clemens Ziegler eine Rolle spielte. Das alles rief eine Unruhe, eine Gärung hervor, die von Jahr zu Jahr größer wurde. Wenn täuferische Führer grade mit Vorliebe Straßburg aufsuchten, so lag dies neben der Milde der Stadtobrigkeit vor allem daran, daß sie bei der theologischen Stellung und bei der Weitherzigkeit eines Capito und Bucer hier mehr Verständnis für ihre Gedanken und Pläne zu finden hofften als in Wittenberg und Zürich. In der Tat springt auch sofort in die Augen, daß Bucers religiöses Empfinden, zumal in jenen ersten Jahren, größere Verwandtschaft mit einigen Grundgedanken des Täufertums aufweist, als dies bei Luther oder Zwingli der Fall ist. Auch Bucer hatte Geist und Geisteswirkung in einer Weise als das Entscheidende betont, daß dagegen die Bedeutung der kirchlichen Verkündigung stark verblaßte, von einer Heilsnotwendigkeit des Sakramentsempfangs nicht gesprochen werden konnte. Auch Bucer rechnete einen großen Teil der Menschen nicht zur Kirche Gottes; waren ihm doch nur die Erwählten wahre Glieder derselben. Auch Bucer

Bucers Christentum in seinem Verhältnis zum Täufertum.

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hatte von Anfang an dem Ideal der heiligen Gemeinde so weit Rechnung getragen, daß er durch Wiedereinführung der urchristlichen Bußordnung verstockte Sünder aus der Kirche ausschließen wollte. Vor allem waren sich Bucer und die Straßburger Prediger über die Kindertaufe nicht durchaus klar gewesen. Sie hatten sie zwar beibehalten, und Bucer hatte sie insofern als nicht schriftwidrig gerechtfertigt, als die Schrift die Taufe an kein bestimmtes Alter binde; doch blieben Bedenken, und man wollte keinen Zwang ausüben. In anderer Beziehung stand freilich grade Bucer zu dem Täufertum in diametralem Gegensatz. Er war allezeit ein Mann des öffentlichen Lebens, sein Blick immer und überall auf das Ganze gerichtet. Daß zwar die Menschen in Erwählte und Verworfene zerfallen, stand ihm fest; aber nicht minder, daß, wer zu der einen oder andern Kategorie gehöre, ein Geheimnis Gottes sei. So hinderte ihn die Erwfihlungslehre nicht, an dem Gedanken der Volkskirche festzuhalten. Und daß die Christenheit ein einheitlicher Organismus sei, in dem jedes Glied dem Ganzen zu dienen habe, hat kaum jemand mit solcher Eindringlichkeit betont, als eben Bucer. Ihm war die Volkskirche eine öffentliche Institution, das wichtigste Stück, die Seele des Gemeinwesens; die Obrigkeit nicht minder wie die Diener der Kirche von Gott berufen, das Reich Christi zu bauen; die staatlichen Ordnungen nach dem Gesetz Gottes zu normieren; die Wissenschaft unentbehrlich zum Dienst am Evangelium. Was jene als die profane Welt verachteten, die man fliehen müsse, war ihm die Respublica Christiana, der der Christ in selbstverleugnender Liebe zu dienen berufen ist. Von hier aus begreift sich Bucers Urteil über die Sektierer. Daß unter ihnen „viel liebe Gotteskinder" von untadeligem Wandel seien, hat er gerne anerkannt. Auf ihre Abweichungen in einzelnen theologischen Fragen hat er sonderliches Gewicht nicht gelegt; war er doch uberzeugt, daß jeder, auch der trefflichste Theologe, vielfältig irre. Die eigentliche Sünde lag ihm vielmehr in der Sektiererei an sich, in dem bewußten Sichabsondern, woraus ihm Hochmut, Richtgeist, Rechthaberei, Unverträglichkeit und neues Satzungswesen mit Notwendigkeit folgte. Deshalb lautet sein Urteil : die Sektierer verleugnen das vornehmste Gebot, das der Liebe, sie verachten die Brüder, sie zerstören den Leib Christi. Daß

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III. Die Auseinandersetzung mit dem Täufertum.

Schwenkfeld der Volkskirche gegenüber gleichgiltig war und nur kleine Kreise von Qleichgesinnten zusammenschließen wollte; daß Francks Individualismus die Idee der Kirche an sich entwertete, das hat sie Bucer entfremdet. Die zahlreichen Verhöre, denen die Verdächtigen von Seiten des Magistrats unterworfen wurden, gelegentlich auch private Unterredungen und öffentliche Disputationen, boten, von der Kanzel abgesehen, den Predigern Gelegenheit, den Sektierern entgegenzutreten. Bucer enfaltete hier von Anfang an besondere Energie, und seine dialektische Meisterschaft schob ihn von selbst an die erste Stelle; in der öffentlichen Disputation mit Denck im Dezember 1526 war er fast der alleinige Wortführer. Und je länger je mehr gingen auf diesem Gebiete Capito und Bucer verschiedene Wege. Der weiche, innerliche Capito wollte die Täufer nur auf dem Wege der Seelsorge gewinnen und sich alle ihre Schmähungen nicht anfechten lassen, wo sie nur die öffentliche Ordnung nicht störten; er sah vor allem den irrenden Einzelnen, und es jammerte ihn desselben. Bucer erklärte: „der Kirche als des Gesponses Christi müssen wir zum höchsten achten"; er sah die Kirche, das Gemeinwesen, das Ganze bedroht; darum verlangte er die Beschwörung der Gefahr durch strenge Maßregeln allgemeiner Art. Es drohte sogar eine weitere Entfremdung. Als 1528 Capitos Hoseakommentar erschien, zeigte es sich, daß sein Verfasser in manchen Stücken, in der Betonung des innern Wortes, in der Auffassung der Sakramente, vor allem auch in der Leugnung der Schriftgemäßheit der Kindertaufe, den Spiritualisten näher gerückt war, und schon jubelten die Sektierer, er sei halb gewonnen. Capito hat von dem allem keinen öffentlichen Gebrauch gemacht, und ein an die beiden Freunde gemeinsam gerichteter Brief Zwingiis hat das nahe persönliche Verhältnis nach kurzer Trübung wiederhergestellt. Aber da Capito sich nun jahrelang zurückhielt, sah sich Bucer in der schwierigen Lage, den theologischen Kampf gegen das Täufertum fortan allein führen zu müssen, und dies zu einer Zeit, wo er durch die schwierigsten kirchenpolitischen Geschäfte in Anspruch genommen war. Denn eben zu Beginn der dreißiger Jahre nahm die Sektiererei ständig zu. Kirche und Staat sind in Gefahr, wenn man nicht entschieden vorgeht, urteilte Bucer zu Ende 1531.

Der Kirchenmann Bucer. Synode und Kirchenordnung.

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In dieser Not ist Bucer der Kirchenmann geworden. Sein Gedanke war, vor allem durch festeren verfassungsmäßigen Ausbau der Kirche der drohenden Unterwühlung vorzubeugen. Denn noch war ihre Organisation eine sehr lose und unfertige: ohne Vertretung und Zusammenschluß unterstanden die einzelnen Gemeinden dem Magistrat. Bucer befürwortete, die Prediger zu einer offiziellen Körperschaft zusammenzuschließen, eine kirchliche Zuchtordnung aufzurichten und durch die Gemeinden vermöge der Einführung des Altestenamtes wahrnehmen zu lassen. Er verlangte die gesetzliche Einführung der Kindertaufe, das Verbot der Konventikel, die Überführung und Ausweisung aller, die fremde Lehre predigten. Mit einem gewissen Zögern und nur teilweise folgte der Magistrat. Seit 1531 wurde die Einführung des Altestenamtes betrieben. Als schließlich Hofmanns apokalyptischer Enthusiasmus die Geister immer mehr erregte, entschloß sich die Obrigkeit zu energischem Einschreiten. Auf Vorschlag der Prediger ward im Juni 33 unter dem Vorsitz von Magistratspersonen eine Synode gehalten. Hier wurden kirchliche Ordnungen beraten, ein, jedenfalls von Bucer verfaßtes, Bekenntnis, das den Glauben der Straßburger Kirche im Gegensatz zu den Sektierern formulierte, von den Predigern angenommen, dann die Sektenhäupter, darunter Schwenckfeld und Ziegler, Uber ihre Stellung zu diesem Bekenntnis befragt; Bucer vor allen wußte die Rede geschickt auf die springenden Punkte zu bringen, so daß die Verschiedenheiten klar zutage traten. Auf Grund der Beratungen dieser Synode erließ der Magistrat zu Beginn des folgenden Jahres die neue Kirchenordnung. Sie schließt die Pfarrer und Helfer der Stadt zum offiziellen Kirchenkonvent zusammen, führt das Amt der „Kirchspielpfleger" endgültig ein, regelt in mustergültiger Weise die Pfarrwahl derart, daß der Obrigkeit wie der Gemeinde ihr Recht wird. Sie erhebt das Bekenntnis des Vorjahres, die „16 Artikel", zum offiziellen Lehrgesetz, verbietet jedwede andere Lehre bei Strafe der Ausweisung und befiehlt bei Verlust des Bürgerrechts, die Kinder binnen sechs Wochen zur Taufe zu bringen. Die Art und Weise, wie in dieser Kirchenordnung das Ältestenamt auf göttliche Einsetzung zurückgeführt ist, wie den Ältesten

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HI. Die Auseinandersetzung mit dem Täufertum.

aufgetragen wird, sowohl diejenigen, die „weder für sich noch für die Ihren der Predigt und Sakrament achten", als die, die durch ihren Wandel den Namen Qottes lästern, zu beschicken und zu vermahnen, wie sie angewiesen werden, offenbare Verächter des Wortes „fahren zu lassen und dem Gericht Qottes zu befehlen, doch so, daß man ihnen dennoch bürgerliche Freundschaft und Dienst leiste", das alles zeigt schlagend, daß hier Bucer die Feder geführt hat, daß er als der eigentliche Vater der Kirchenordnung anzusprechen ist, wenn auch natürlich mancher Kompromiß mit den Wünschen des Magistrats geschlossen werden mußte, letzterer insonderheit für Einführung einer kirchlichen Zuchtordnung nicht zu haben war; denn auch der obige eine Satz, den in dieser Hinsicht die Kirchenordnung enthielt, blieb auf dem Papier. Und wieder aus Bucers Feder geht im selben Jahre 34 der erste offizielle Katechismus der Straßburger Kirche hervor, der bezeichnenderweise die ganze Wucht seiner Polemik nicht gegen die alte Kirche, sondern gegen das Sektentum kehrt. Diese organisatorischen Maßnahmen, verbunden mit dem moralischen Eindruck der Synode und dem Vorgehen der neugeschaffenen obrigkeitlichen Täuferherren, haben die Sektenbewegung doch so weit unterbunden, daß sie fortan zurückebbte. Die Gefahr war beschworen. Das war wesentlich Bucers Werk. Viele, die bisher Bucer nicht gewogen gewesen, fingen ihn von ganzem Herzen zu verehren an, berichtet sein Kollege Schwartz nach der Synode. Als besondere Genugtuung wird er empfunden haben, daß nun .auch Capito, dem die Augen über die Gefahr aufgegangen waren, völlig auf seine Seite getreten war. Allezeit hat sich Bucers ebenso offener als biegsamer Geist durch die Fähigkeit ausgezeichnet, verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen und selbständig zu verarbeiten. Wohl begreiflich daher, daß der scharfe Kampf gegen das Sektenwesen auf die Ausgestaltung seiner Theologie in bedeutsamer Weise eingewirkt, wichtige Wandlungen derselben verursacht und mitverursacht hat. Es waren jetzt Fragen von ganz andrer Art, die in den Vordergrund traten. Aus dem Gegensatz gegen das alte Kirchentum, aus dem Gefühl der Erlösung von der Last der Zeremonien, Satzun-

Einfluß des Oegensatzes auf Bucers theologische Entwicklung.

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gen und Leistungen war der Trieb entsprungen, der Freiheit des religiösen Innenlebens froh zu werden, ein rein geistiges Christentum zu verkünden, das alles ÄuBere kühn dahinten ließ. Jetzt im Qegenteil war die Bedeutung geordneten menschlichen Wirkens und fester kirchlicher Institutionen für das Leben der Religion und namentlich die Bedeutung der Volkskirche als Kulturgrundlage des Volksganzen klar hervorgetreten; dies galt es nun prinzipiell zu rechtfertigen. Kein Wunder, daß auch in der religiösen Gedankenwelt des kirchlichen Organisators der Begriff der Kirche jetzt eine zentrale Stellung beansprucht. Von dem Begriff der Gemeinschaft der Gläubigen war Bucer ausgegangen; jetzt wird ihm die Kirche zugleich wieder die Heilsanstalt, die nach Gottes Ordnung durch ihre gottgesetzten Institutionen dem einzelnen das Heil vermittelt: „Christus unser Herr will uns schlechterdings nicht, denn in seiner Gemeinde und durch den Dienst des Wortes und der Sakramente helfen und sich selbst uns mitteilen." Es bleibt der Gedanke, daß letztlich der Gottesgeist alles wirkt. Aber er wirkt sich aus eben in der Kirche. Man darf annehmen, daß der von wahren Christen berufene Prediger von ihnen unter Zutun des Geistes berufen und damit von Gott berufen ist, daß daher der Geist durch sein Wort wirkt. Die Sakramente sind von Christus selbst seiner Kirche „befohlen". Das war schon immer der eine Pol von Bucers Ausführungen gewesen; aber vor dem Gewicht dieser Tatsache verschwindet jetzt der Gegenpol. Handlungen, die von Christus befohlen sind, können nicht, wie die Sektierer meinen, eine untergeordnete und entbehrliche Äußerlichkeit, noch einfach sinnbildliche Handlungen, sie müssen vielmehr der von Gott beliebte Weg der Geistesmitteilung und Gnadenwirkung sein. Die Kirche ist es also, die Gnade und Vergebung nicht bloß predigt, sondern durch den in ihr wirkenden Gottesgeist wirkt. Auch die Notwendigkeit der Kindertaufe wird jetzt theologisch gerechtfertigt. Wirkt der Geist in Verbindung mit dem äußern Sakrament das neue Leben, so ist sie der Erbsünde wegen notwendig; sie ist genau so unumgänglich wie das alttestamentliche Sakrament der Beschneidung, dessen neutestamentliche Parallele sie bildet; hat ja doch auch der Heiland die Kinder gesegnet, und seine Handauflegung — noch hatte er ja

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Wandlungen in Bucers Theologie.

die Taufe nicht gestiftet — war dabei das äußere Sinnbild einer gleichzeitig eintretenden Qnaden- und Geistesmitteilung. In wie völlig andre Beleuchtung erscheint damit die Kirche gerückt als im Jahre 1524! Sie ist zur Sphäre realmystischer Qeisteswirkung geworden, sie ist damit zugleich wieder Sakramentskirche geworden, wenn auch in neuer Weise. Wir haben damit teilweise vorgegriffen. Denn es sind noch andere Momente, die zu dieser Entwicklung mitgewirkt haben.

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie. Caritas vero seis quam late patet, scis quae in fratribus fert, quae dissimulât, scis ut captat consensum cum omnibus filiis Dei. Bucer an Calvin über den Abendmahlsstreit, 14. Aug. 1549.

In den Jahren, da die Straßburger Kirche im Kampfe mit dem Sektenwesen ihre feste Gestaltung erhielt, war Bucer nicht mehr bloß der Straßburger Reformator. Er war der theologische und kirchenpolitische Führer einer Richtung geworden, die dem süddeutschen Protestantismus sein besonderes Gepräge gab. Über den Frühling der Reformation brach schon nach wenigen Jahren das Unwetter des Abendmahlsstreites herein. Die tiefgehenden Unterschiede in der religiösen Gesamtstimmung, die zwischen Luther und den Oberländern obwalteten, fanden hier ihre schärfste theologische Ausprägung. Luther war einst mit der ganzen leidenschaftlichen Inbrunst seiner Seele eingetaucht gewesen in die Welt mittelalterlich-kirchlicher Frömmigkeit. Das wirkte bedeutungsvoll nach und nirgends stärker als in seiner Abendmahlslehre. Es entsprach seinem neuen Glaubensbegriff, wenn er, im Anschluß an Augustin, im Abendmahl die Botschaft von der Sündenvergebung in kürzester und eindrucksvollster, weil sinnenfälliger Form dargeboten sah. Aber es blieb ein anderer Pol: im Brot und Wein wunderbar enthalten, werden Leib und Blut des Herrn dem Munde zum Genuß geboten. Mochte dabei auch die kirchliche Lehre von der Verwandlung der Elemente als sakrilegisch verworfen, die Verbindung des Leibes Christi mit dem irdischen Element auf den Augenblick des Genusses beschränkt werden: mittelalterlich war die Annahme des wunderbaren Vorhandenseins des himmlischen Elements im irdischen, und mittel-

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

alterlich-scholastisch nach Geist und Methode die Lehre von der Allgegenwart des Leibes Christi, die die reale Gegenwart desselben im Abendmahl theologisch rechtfertigen sollte. Nach wie vor blieb für Luther das Abendmahl das „mysterium tremendum", in dem das Göttliche sich wunderbar-unsagbar zum Irdischen herabsenkt; in welchem Maße, zeigt der Umstand, daß er gerade dem Straßburger Abgesandten gegenüber im Jahre 25 ausführen konnte, er habe in Engelerscheinungen, in schrecklichen Gesichten, die ihn gezwungen hätten, von der heiligen Handlung abzustehen, die Gegenwart Christi schon oft erfahren. Das so gefaßte Abendmahlswunder blieb das konkreteste Stück Mittelalter, das Luther seinem neuen Bau einverleibte. Der Gegensatz springt in die Augen, wenn wir aus dem Munde eines Zwingli, eines Capito, eines Bucer das Geständnis vernehmen, sie hätten an die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahle nie wirklich geglaubt, sondern höchstens zu glauben sich eingeredet. Der kritische Geist des erasmischen Humanismus hatte sie eben der mittelalterlich-kirchlichen Glaubenswelt in ganz andrer Stärke entfremdet. Nicht eine Entleerung des Sakraments, wie die gemeine Rede geht, stellt Zwingiis Abendmahlslehre dar, wohl aber einen unter Benutzung urchristlicher Motive und unter völligem Verlassen des bisherigen Sakramentsbegriffs vom Boden des evangelischen Gottesdienstes und des evangelischen Gemeindeprinzips aus folgerichtig durchgeführten Neubau. Das Abendmahl wird ihm eine, mit feinem liturgischem Empfinden entworfene, schlicht ergreifende gottesdienstliche Feier, in der die versammelte Gemeinde das Gedächtnis des Erlösungstodes ihres Herrn feierlich erneuert, sich damit zu ihm bekennt und aufs neue sich ihm verpflichtet. Keinerlei unbegreifliches Wunder; Brot und Wein nur Sinnbilder; kein mystisches Erleben; der Gläubige nicht Empfänger einer geheimnisvollen himmlischen Gabe, sondern in der Gemeinde sich betätigend und bekennend; der Herr nicht anders gegenwärtig als überall, wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen. — Auch in diesem Punkte war Bucer zunächst der Jünger Luthers gewesen, des Luther der ersten großen Jahre. Luthers Autorität hatte immer wieder die in ihm aufsteigenden Bedenken niederge-

Das Abendmahl bei Luther und den Oberlindern. Der Schriftenkampf.

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zwungen. Aber zu seinem Geistesprinzip stand die leibliche Verbindung des Göttlichen mit dem irdischen Element in zu grellem Widerspruch, als daß er sich nicht hätte auswirken müssen. Gegen Ende des Reformationsjahres 1524 rückte auch diese Frage in den Vordergrund. Im Oktober erschien, die Prediger ignorierend, der aus Sachsen ausgewiesene Carlstadt. Er kam als Bekämpfer der Lutherschen Abendmahlslehre, die er römisch nannte; und die Vertretung der symbolischen Auffassung durch einen Schwärmer und persönlichen Feind hatte die verhängnisvolle Folge, daß Luther fortan jede vergeistigende Auffassung des Abendmahls als Schwärmerei empfand, die ein real, objektiv dargebotenes Heilsgut zu subjektiven Empfindungen verflüchtige und damit alle Gewißheit zerstöre. Wenn schon im einzelnen merkwürdig, hatte Carlstadts Beweisführung auf Bucer ihres Eindruckes nicht verfehlt. Im November war dann der gelehrte Niederländer Hinne Rode sein Gast. Rode und sein Freund Honius, dessen geistvolle Abhandlung er vorlegte, vertraten die sinnbildliche Auffassung, wie sie der niederländische Vorreformator Wessel entwickelt hatte. Wie für Zwingli, so wurde Rodes Besuch auch für Bucer entscheidend. Und endlich folgte im Dezember ein Lehrbrief Zwingiis an die Straßburger. Bucer hatte im November ein Schreiben der Prediger an Luther abgefaßt, in dem diese, unter Hinweis auf die durch Carlstadt gestiftete Verwirrung, um weitere Belehrung baten, da sie in der theologischen Fassung noch unsicher seien. Auch die kurzen Ausführungen in „Grund und Ursach" bieten noch keine klare Stellungnahme. Draußen begann der große Schriftenkampf. Nacheinander begannen Urbanus Rhegius, Luther, Bugenhagen, Brenz von der einen, Zwingli und Oecolampad von der andern Seite auf den Kampfplatz zu treten. In Straßburg war man darüber unglücklich, denn man ahnte das kommende Unheil. Noch einmal versuchte man im Oktober 25 durch Absendung von Zells Helfer Caselius nach Wittenberg, auf Luther besänftigend einzuwirken. Jeder solle dem andern gestatten, zu glauben nach der ihm verliehenen Gabe, so lautete der Vorschlag. Aber eben gegen solches Ansinnen wandte sich Luthers ganze dämonische Leidenschaftlichkeit: Die eine oder andere Partei müsse vom Satan sein; er werde die

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

Leugner der wirklichen Gegenwart des Leibes Christi stets als außerhalb des Glaubens stehend ansehen; er könne das Gericht Gottes nicht hindern. Mit seinem „wir sind unsres Glaubens gewiß" lehnte er jede Verhandlung schroff ab. Gewiß, so wie er empfand, konnte er nicht anders, und hat auch in Marburg nicht anders gekonnt, als jeden für einen Unchristen halten, der in diesem Punkte nicht mit ihm ging. Denn für ihn handelte es sich nicht um eine theologische Frage, sondern um den Glauben selbst und die Glaubensgewißheit, die ihm zusammenzubrechen schien, wo man die Abendmahlsworte nicht in ihrem schlichten Wortverstande fasse. Aber daß dem so war, darin lag die Schranke des großen Mannes. Der neue Begriff des Glaubens, den sein Genius der Christenheit geschenkt, niemand hat ihn verhängnisvoller verleugnet, als sein eigener Urheber in diesem Streit. Und deshalb, und nur deshalb, konnte es geschehen, daß von dieser theologischen Unstimmigkeit der unheilbare Riß drohte. Wie ganz anders muten uns Bucers Ausführungen an, in denen er Luthers Verhalten in Marburg verurteilt: Es handelt sich um eine theologische Einzelfrage; in Glaubenssachen ist kein Mensch irrtumslos; wer nur immer des Herrn Liebesgebot erfüllt, indem er an der Gemeinschaft der Kirche festhält, ist wert, als Bruder geachtet zu werden, und sei er mit noch so viel Irrtümern beladen; wer den Bruder verwirft, der Christum als den Herrn bekennt, der verwirft Christus in dem Bruder. Die Friedensaktion der Straßburger war völlig gescheitert, sie selbst bei Luther in höchster Ungnade. Bucer zog sich solche noch ganz persönlich dadurch zu, daß er seiner Übersetzung von Luthers Kirchenpostille eine „Summa des Glaubens" vorsetzte, die seine eigne Abendmahlsauffassung entwickelte. Eine ausführliche Darstellung seiner eignen Lehre brachte dann in den Jahren 1527/28 sein Evangelienkommentar. Im Vordergrunde steht die Vorstellung des Gedächtnismahles, entsprechend der Straßburger Spendeformel „Gedenket, glaubet, verkündet, daß der Herr für euch gestorben ist". Die Abendmahlsfeier ist die dankbare Vergegenwärtigung des Erlösungstodes; essen ist soviel wie glauben, im Glauben erkennen und sich zueignen. Auch die später so wichtig gewordene Aussage, daß wir den wahren

Luther und die Straßburger. Bucers Abendmahlslehre.

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Leib und das wahre Blut des Herrn genießen, ist zunächst aus diesem Zusammenhang zu verstehen. Wir richten eben nicht den Sinn auf eine unfaßbare Art von Leiblichkeit, die irgendwie in den Elementen verborgen sein soll, sondern uns steht vor Augen der wahre, der wirkliche Leib, der am Kreuze geopfert, das wirkliche Blut, das für uns vergossen worden ist. Solches Qedächtnis schließt Danksagung und Bekenntnis ein; auch der Gedanke des Gemeinschaftsmahles wird eigenartig und innig durchgeführt. Das Ganze aber ist, und darin liegt der stimmungsmäßige Unterschied Zwingli gegenüber, umspielt von den mystischen Gedanken und Bildern des 6. Kapitels des Johannesevangeliums. Wo wahre Jünger Christi sind, ist Christus nicht abwesend; er selbst, Christus, der Christusgeist, bewirkt, daß, was durch Brot und Wein sinnbildlich dargestellt wird, der gläubigen Seele ein ganz gegenwärtiges ist. So beginnt neben den Hauptgesichtspunkt der Vergegenwärtigung des Erlösungstodes schon leise der andere Gedanke der Verbindung mit dem himmlischen Herrn zu treten, der später so bedeutungsvoll werden sollte. Mit diesen Ausführungen ist Bucer ein Kampfgenosse Zwingiis geworden. Denn Luthers Lehre vom Sakrament als Gnadenmittel wird als Rückfall in die Scholastik scharf abgewiesen, seiner Lehre von der Allgegenwart des verklärten Leibes Christi mit der Behauptung begegnet, derselbe befinde sich vielmehr lokal umgrenzt im Himmel, und der Voraussetzung, daß auf das Aussprechen der Einsetzungsworte hin Christi Leib gegenwärtig werde, die Behauptung entgegengestellt, der Herr habe nirgends angeordnet, diese Worte zu wiederholen. Doch ist die Art des Kampfes hier und dort verschieden. Zwingli kannte Luther nicht von Angesicht; er hatte nicht, wie Bucer, unter dem Eindruck seiner Persönlichkeit gestanden; so sah er leicht Beschränktheit, Eigensinn und Herrschsucht, wo religiöse Momente ausschlaggebend waren; daher die ätzende Schärfe, die verletzende Herablassung seiner Polemik. Bucer hat bei aller Schärfe des Gegensatzes nie unbetont gelassen, daß er Luther nach wie vor als einen Mann verehre, durch den Gott Großes gewirkt. Zwingli, der herrsch- und sieggewohnte, wollte in erster Linie den Sieg seiner Anschauung, die Straßburger in erster Linie den Frieden der Kirche. Darum suchten sie auf Zwingli fort Aarich, Bocer.

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

und fort mäßigend einzuwirken; und schon 1528 sehn wir Bucer, in Anknüpfung an gewisse neue Formulierungen Luthers, in einem volkstümlichen Traktat den Versuch machen, die beiderseitigen Standpunkte einander anzunähern. Und bald wurde solcher Ausgleich eine dringende praktische Notwendigkeit. Seit 1526 etwa gab es für Straßburg eine protestantische Politik. Eben war Straßburgs größter Sohn, Jakob Sturm, in die führende Dreizehnerkammer eingetreten. Humanistische Bildung und Weitherzigkeit und der sittliche Ernst reformatorischen Christentums verbanden sich in ihm mit staatsmännischen Eigenschaften, die ihn rasch zum Leiter der Politik seiner Vaterstadt erhoben und ihm im Rate der protestantischen Fürsten und Städte eine führende Rolle sicherten. Und bald.sollten Sturm und Bucer zu engem Zusammenwirken berufen sein. Es war die Zeit, da der Gedanke eines politischen Zusammenschlusses der Evangelischen allenthalben auftauchte. Die größte der vielen Schwierigkeiten, die zuvor zu überwinden waren, war Luthers Beurteilung seiner theologischen Gegner; denn der seinem Doktor Luther blind ergebene sächsische Kurfürst wollte keine Verbindung mit Feinden des Evangeliums. Die theologische Frage wurde damit zugleich zur politischen. Längst stand Straßburg mit den Schweizerstädten einerseits und den oberdeutschen Reichsstädten anderseits in Verhandlungen. Allgemein in Fluß kamen die Dinge erst auf dem Speyrer Reichstage von 1529, dem Reichstag der Protestation der evangelischen Stände, an deren Zustandekommen Straßburg bedeutenden Anteil hatte. Die gemeinsame Gefahr bewirkte eine Annäherung. Landgraf Philipp von Hessen trat zu Sturm in nahe Beziehungen; und Sturm wußte die Bedenken der Sachsen durch eine eiligst eingeforderte, von Hedio verfaßte Erklärung der Straßburger Prediger über das Abendmahl zu beschwichtigen. Ihr wichtigster Satz, „daß die Christen nicht allein Brot und Wein, sondern den wahren Leib und das wahre Blut Christi im Nachmahl genießen, und das durch den Glauben", offenbart zum ersten Mal die hinfort von Bucer stets innegehaltene Taktik, die eigne Auffassung in Worte zu kleiden, die den von Luther gebrauchten möglichst nahekommen.

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Bündnisverhandlungen. Speyer, Marburg, Augsburg.

Die Entzweiung der Theologen sollte durch ein auf Anfang Oktober in Marburg anberaumtes Qespräch behoben werden. An dessen Zustandekommen hatten mit dem Landgrafen grade die Straßburger den ganzen Sommer gearbeitet. Sturm, Bucer und Hedio waren ihre Vertreter. Das Ergebnis des Qesprächs zwischen Luther und Zwingli ist bekannt. Bucer, der in den Verhandlungen über das Abendmahl nicht zu Worte gekommen war, mußte auf Sturms Verlangen, um allerlei Argwohn zu zerstreuen, das in Straßburg geltende Christentum in seinen Hauptzügen darlegen. Er fragte daraufhin Luther bittend, ob er die Straßburger als Brüder anerkennen wolle. „Aber er schlug es rund ab und befahl uns dem Qerichte Gottes". Zwar bildete nun die gemeinsame Unterzeichnung der Marburger Artikel mit Ausnahme eines einzigen immerhin ein Einheitsband, zeigte vor allem aufs deutlichste, daß die Oberländer mit den Schwärmern nichts gemein hätten. Inzwischen aber war der kaiserlichen Politik gelungen, durch Sonderverhandlungen mit Sachsen den Kurfürsten von den Oberländern wieder zu trennen. Sachsen gab sein zu Speyer bewiesenes Entgegenkommen auf und stieß durch dogmatische Schroffheit die Oberdeutschen mit Bewußtsein von sich ab. So kam für Straßburg einstweilen, im Januar 1530, nur das Burgrecht, das Bündnis mit Zürich und Basel zustande. — Höchst ungünstig lagen damit die Dinge für Straßburg bei Eröffnung des Augsburger Reichstages im Sommer 1530. Die Sachsen waren entschlossen, durch Preisgabe der „Sakramentierer" den Frieden zu erkaufen, Melanchton bemüht, sich ostentativ von diesen zu trennen. Sturm, der hier die ganze Qröße seines Könnens entfaltete, so daß der Eindruck seines Auftretens das Urteil laut werden ließ, „daemonium illum habere et daemonium ex eo loqui", fand zunächst alle Türen verschlossen; nur der Landgraf blieb ihm ergeben. Als sich die Notwendigkeit herausstellte, ein Bekenntnis zu überreichen, waren die Straßburger im Interesse des geschlossenen Auftretens der Evangelischen bereit, mit einer Klausel in betreff des Abendmahls das sächsische Bekenntnis, die nachmalige Augustana, zu unterzeichnen. Sie erfuhren glatte Abweisung. 4»

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

In aller Eile wurden darum Capito und Bucer nach Augsburg berufen, ein Bekenntnis aufzusetzen. Zwei Tage vor der feierlichen Überreichung der Augustana langte Bucer an, Capito etwas später. So gefährlich schien die Lage, daß sich beide in den ersten Wochen in der Öffentlichkeit nicht durften blicken lassen; denn sie waren ohne Qeleit. Der Plan der StraBburger, ihr Bekenntnis zu einer Gesamtkundgebung des oberdeutschen Protestantismus zu gestalten, ließ sich nur teilweise verwirklichen. Nur Lindau, Memmingen und Konstanz unterzeichneten mit; die Konstanzer setzten eine sehr starke Kürzung des Artikels über das Abendmahl durch. Am 9. Juli bereits wurde das Vierstädtebekenntnis, die Tetrapolitana, dem kaiserlichen Kanzler überreicht. Die Tetrapolitana ist weder eine programmatische Zusammenfassung von Bucers Theologie, noch eine Glaubensnorm für die Straßburger Kirche. So wenig, daß Bucer sie zunächst gar nicht gedruckt wissen wollte, da sie sich selbst überflüssig machen sollte. Sie ist einmal, wie die Augustana, auf den katholischen Kaiser berechnet; sie verfolgt zum zweiten den Zweck, dem Zusammenschluß mit den Lutheranern die Wege zu ebnen. Aus beiden Gründen läßt sie den innerprotestantischen Zwiespalt nicht hervortreten, schließt sich vielmehr, wenn auch mit immerhin schärferer Kritik der katholischen Mißbräuche, an die Augustana an, von der Sturm durch den Landgrafen insgeheim eine Abschrift zugestellt worden war. Der Artikel über das Abendmahl, der in dem Satze gipfelt, „daß Christus in diesem Sakrament seinen wahren Leib und wahres Blut wahrlich zu essen und zu trinken gibt zur Speise der Seele und zum ewigen Leben", zeigt eine ähnliche unionistische Formulierung wie die Speyrer Erklärung. Je höher in den folgenden Verhandlungen, zumal durch Melanchthons unerhörte Nachgiebigkeit, die Gefahr stieg, daß sich Sachsen mit dem Kaiser vergliche, um so mehr bot Sturm, vom Landgrafen unterstützt, alles auf, die Parteien zusammenzuschließen. Da dies zunächst auf theologischem Boden geschehen mußte, wurde Bucer der Mann der Situation. Undankbar genug ließ sich die Sache an. Das erste, was er erreichte, war eine Verhandlung mit dem einstigen Heideiberger Freunde Brenz. Dann wußte er sich durch des Landgrafen Ver-

Bucer und Sturm in Augsburg. Die Tetrapolitana.

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mittlung den Weg zum sächsischen Kanzler Brück zu bahnen; doch die ihm übersandten Artikel lehnte ein Gegengutachten Melanchthons völlig ab. Ende August kam endlich, dank Urbanus Rhegius und dem vielgewandten Augsburger Stadtarzte Gereon Sailer, ein Gespräch mit Melanchthon zustande. Beiderseits wurden Artikel aufgestellt und samt einem Briefe Bucers an Luther übersandt; doch Luther, von Melanchthon gewarnt, sah hier nur Trug und Hinterlist und antwortete nicht. Es war das erste Anzeichen des beginnenden Umschlags, daß Bucer, unter Billigung der sächsischen Räte und zu Melanchthons größtem Verdruß, Mitte September selbst zu Luther nach der Koburg reiten konnte. Hier gelang ihm, Luther dadurch zu befriedigen, daß er den Gedanken der wahren Gegenwart Christi im Abendmahle besonders betonte. Luther hielt daraufhin eine Vereinigung in dem Falle für möglich, daß Bucer die Oberländer zu einem entsprechenden Bekenntnis zu bringen vermöchte. Mit diesem Auftrage kehrte Bucer nach Augsburg zurück; wieder hatte er von Luthers Persönlichkeit die stärksten Eindrücke empfangen. Und nun vollzog sich auch in Augsburg die Wendung, auf welche die Sturm-Buccrsche Politik eingestellt gewesen war. Als alle Verhandlungen sich zerschlugen und zutage trat, daß ein harter Reichstagsabschied alle evangelischen Stände treffen werde, traten die Sachsen nun ihrerseits mit den Straßburger Gesandten in Verbindung; nun waren sie es, die einen politischen Zusammenschluß aller Evangelischen, einschließlich der Schweizer, vorschlugen. Ein Verstand, erklärten sie, sei deshalb möglich, weil, was das Bekenntnis der vier Städte über das Abendmahl enthalte, „des Kurfürsten Bedenken nicht zuwider, sondern im Grund demselben gemäß" sei. Ein erster großer Erfolg Bucers. — Wenn sich der Straßburger Reformator nun anschickte, auf dem im Bekenntnis eingeschlagenen Wege an einer Verständigung mit Luther zu arbeiten, so konnte er das fortan deshalb mit größerem innern Rechte tun, weil seine Abendmahlslehre in bedeutungsvoller Umbildung begriffen war; eine Entwicklung, die, schon zuvor sich leise ankündigend, eben jetzt ihre entscheidenden Anstöße empfängt, um in den folgenden Jahren sich zu vollenden. Es vollzieht sich eine Umbiegung in der Art, daß die mystischen Ge-

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

dankengänge, die als Untertöne schon zuvor da waren, nunmehr die Auffassung beherrschen, während die Zwinglischen Gesichtspunkte, ohne völlig zu verschwinden, nicht mehr als ausschlaggebend empfunden werden. Die lebendige Vergegenwärtigung des am Kreuze sich opfernden Erlösers hat sich gewandelt zum wahrhaften Essen und Trinken, d. h. zum Insichaufnehmen des lebendigen himmlischen Herrn, der der gläubigen Seele als gegenwärtiger zur Seelenspeise sich darbietet, womit zugleich der alte Gesichtspunkt des Sakraments als himmlischer Gabe wieder in sein Recht tritt. Ist dieser Grundgedanke der mystischen Verbindung der Seele mit dem himmlischen Herrn klar, so weit eben mystische Vorstellungen klar sein können, so wird die nähere Ausführung dadurch schwierig, daß die Begriffe Leib und Blut doch noch zu ihrem Rechte kommen sollen. Sie zeigen, daß es sich hier um die Menschheit Christi handelt; denn als Mensch ist Christus unser Erlöser und Mittler, als Mittler, also als Mensch, will er bei den Seinen sein alle Tage. Allgegenwärtig und damit auch im Abendmahle objektiv gegenwärtig ist indes Christus nur nach Seiten seiner Gottheit; sein verklärter Leib ist in Himmelshöhen. Es kann also der letztere nicht objektiv, geschweige denn irgendwie leiblich in Brot und Wein gegenwärtig sein, so daß jeder, auch der Ungläubige, ihn genösse. Trotzdem ist Christus aber als Mittler, als Mensch gegenwärtig und wird mit den Seinen eins. Aber er ist eben nur dem Gläubigen gegenwärtig. Bucer redet wohl von geistgewirkter Erhebung der Seele in die Himmelshöhen, wo der Mittler weilt, oder von einer geistgewirkten Verbindung der Seele mit dem himmlischen Mittler; er braucht das Bild von der Sonne, die, obwohl fern, durch ihr Licht und ihre Wärme mit den Menschen in unmittelbarer Verbindung steht; letztlich betont er, es handle sich um ein jeder rationalen Erklärung spottendes Glaubensmysterium. Es ist nicht kirchenpolitischer Opportunismus, der zu dieser Umbildung geführt hat, mag auch, psychologisch wohl begreiflich, die durch das Verlangen nach Verständigung geweckte Anempfindung an Luthers Standpunkt mannigfach mitgewirkt haben. Die wirklichen Motive liegen tiefer und sind religiöser Art. Bucer der Kirchenmann ward, wie wir sahen, durch den Gegensatz gegen

Bucers mystische Abendmahlslehre. Seine Rundreise im Oberland.

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das Sektenwesen zu neuer Wertung der Sakramente geführt; Bucer der biblizistische Theologe fand, daß man den Worten, die der Herr beim letzten Mahle gesprochen, und den Ausführungen des Paulus über die Gemeinschaft des Leibes Christi nur dann wirklich gerecht werde, wenn man im Abendmahl eine himmlische Gabe dargeboten finde; Bucer der gelehrte Patristiker, dem die Theologie der alten Kirche von immer größerer Bedeutung wurde, fand bei den Kirchenvätern die Begriffe des Mysteriums, des Symbols im antiken Sinne, die Gedanken der Vermittlung himmlischer Kräfte und der mystischen Verbindung mit dem Herrn. Und jetzt, da er zahlreiche Verbindungen knüpfen konnte, mußte er wahrnehmen, daß auch vielen der Frömmsten und Freiesten Zwingiis Auffassung nicht Genüge bot; er empfand diese Wahrnehmung nicht minder als „Stimme der Kirche", wie den Standpunkt der Kirchenväter. Und in der Tat, die Fassung, der Bucer jetzt zustrebte, entsprach dem Zuge der Zeit, für deren Empfinden der Zwingli'sche Neubau einen zu starken Bruch bedeutete. Sie schien die religiöse und kirchliche Bedeutung des Abendmahlssakraments zu wahren und doch alles geistig und biblisch zu fassen. Daher die Durchschlagskraft des Grundgedankens des geistigen Genusses Christi. Bucer, Capito, Oecolampad, Ambrosius Blaurer und andre, sie fanden sich, in jeweils verschiedener Tönung, in dem Gedanken der „mystica manducatio" zusammen. Eine dritte Auffassung, die man nach ihrem wichtigsten theologischen Vertreter als die Bucer'sche bezeichnen kann, schob sich damit, und nicht bloß in dieser Hauptfrage, zwischen die Luther'sche und Zwingli'sche; ihrer wartete eine große Zukunft. — Unter diesen Umständen wird begreiflich, daß Bucer auf seiner im Oktober unternommenen Rundreise im Oberland einen großen Erfolg hatte. Er besuchte Ulm, Memmingen, Isny, Lindau, Konstanz, Zürich und Basel. Überall in Schwaben gewann er die führenden Persönlichkeiten. Der Konstanzer Ambrosius Blaurer — er hatte ihn auf der Berner Disputation kennen gelernt, und die Seelenverwandtschaft hatte bald zu intimer Freundschaft geführt — stand ebenso auf seiner Seite, wie der gelehrte Basler Reformator Oecolampad, den Bucer als den ersten Theologen der Gegenwart verehrte. Selbst Zwingli schien jetzt einer Eintrachts-

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

formel geneigt. Sie zu entwerfen, ging Bucer in Straßburg sofort an die Arbeit. Um Neujahr begann dann zu Schmalkalden der politische Zusammenschluß der deutschen Protestanten. Wieder erhielt Straßburg den Auftrag, die annoch zurückhaltenden Schweizer zu gewinnen. Die Anerkennung des Vierstädtebekenntnisses sollte die Bedingung ihrer Aufnahme sein. Inzwischen aber hatte Zwingli alle Konzessionen längst zurückgenommen und hatte bereits im November gegen Bucers „Musselei" und „jämmerlich erfochtene Einigung" protestiert. Auf dem Burgrechtstag in Basel sollte im Februar 31 die Entscheidung fallen. Noch haben wir die beiden Briefe Bucers an Zwingli vom Dezember und Februar, in denen die gewaltige innere Erregung förmlich nachzittert. In eindringlicher Weise faßt hier Bucer alles zusammen, was für seine Stellungnahme spricht: es gilt letztlich den Frieden der Kirche, den Siegeszug des Evangeliums, die Seelen der vielen Tausende, die an dem Bruderzwist Anstoß nehmen, wie die flehentlichen Bitten der Brüder aus Frankreich beweisen! Es kam der Basler Tag, auf dem Bucer die Schweizer für die Tetrapolitana, und damit für seine unionistische Abendmahlsformel und für den Schmalkaldischen Bund zu gewinnen hoffte. In dieser entscheidenden Stunde blieb Zwingli aus und sandte eine schroffe Absage: Er für seine Person könnte die Gegenwart Christi im Abendmahl, verstanden als Gegenwärtigkeit für die gläubige Betrachtung, wohl zugeben. Aber um des Volkes willen, das dadurch irregeführt werde, dürfe er eine mehrdeutige, die Wahrheit verschleiernde Formel nicht zulassen; das hieße allen alten Irrtümern Tür und Tor öffnen. Mit seinem „Perstamus perpetuo; parce hac in re labori et chartae" brach er die Brücken ab. Bitter antwortete Bucer, er werde ihn nicht mehr bemühen, und bitte um Verzeihung, ihn unter so viel eignen Mühen und Gefahren bemüht zu haben. Hier trennten sich die Wege der beiden großen Männer. Sie trennten sich darum, weil beiderseits der leitende Gesichtspunkt ein anderer war. Bucer wollte um des segensreichen Fortgangs der Reformationsbewegung willen allem zuvor den Frieden der Kirche und meinte diesen Frieden durch einen Kompromiß in der

Schmalkaldischer Bund. Bruch mit Zwingli. Ulm und Augsburg.

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Formulierung einer einzelnen Lehre erkaufen zu dürfen, da man in der Summa des Qlaubens eins sei. Umgekehrt wollte Zwingli allem zuvor volle Freiheit in der Geltendmachung seines Christentums, dessen Exponent seine Abendmahlslehre geworden war. Nicht nur daß eine verschleiernde Fassung seiner Geradheit widerstrebte; seine Herrschernatur wollte keine Formel, die die Stoßkraft der eignen Stellung schwächte; denn seit Aufrichtung des Burgrechts mit Hessen hoffte er diese zum Siege führen zu können. So ging denn im März 1531 die Konstituierung des Bundes zu Schmalkalden ohne die Schweizer vor sich. Die süddeutschen Städte konnten beitreten, nachdem das Vierstädtebekenntnis nochmals feierlich als dem Worte Gottes gemäß anerkannt worden war. Bucers theologische Vorarbeit hatte den Bund in dieser Ausdehnung ermöglicht. Nun er überall im Oberland persönliche Beziehungen hatte, hob ihn der Eindruck seiner Persönlichkeit sofort in führende Stellung, und seine Gaben der Menschenbehandlung, der Vermittlung, der Organisation fanden bald ein reiches Feld der Betätigung. Gleich im Frühjahr 31 ward er mit Oecolampad und Blaurer zur entscheidenden Neugestaltung des Kirchenwesens nach Ulm berufen. Drei Monate hat er dort gewirkt; die Ulmer Kirchenordnung ist im wesentlichen sein Werk. Anschließend ward in Memmingen und Biberach die gleiche Arbeit getan. Erhielt jetzt Ulm in Frecht einen Geistlichen Bucer'scher Richtung, so hatte inzwischen Bucer durch zwei auf seinen Rat berufene Prediger, Wolfhard und Musculus, in Augsburg Fuß gefaßt; im Juli predigte er selbst dort und machte tiefen Eindruck. Fortan stand der Straßburger Reformator in ständiger Verbindung mit Augsburg; er wurde, als man dort an die Neuordnung ging, der leitende und ordnende Geist, der Vertrauensmann des Magistrats. Immer aufs neue mußte dieser, bei der Uneinigkeit der eignen Prediger, den Straßburger Rat um Überlassung Bucers bitten. Von Ende 34 bis zum Sommer 37 hat er jedes Jahr einmal, bald auf Wochen, bald auf Monate, in Augsburg geweilt. Im offiziellen Reformationsjahr 37 konnte bei dem Widerstreit der Meinungen nur durch seine Berufung und seine Vermittlung die Kirchenordnung zustande kommen. Und seit dem Ende des Jahres 31 war die Stellung der

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

Straßburger Reformatoren, und damit die Vorbildlichkeit der Straßburger Ordnungen, dadurch erst recht gefestigt, daß mit der Katastrophe von Kappel und dem Tode Oecolampads die Schweiz der führenden Männer vorerst entbehrte und mit dem Aufgeben von Zwingiis großer Politik auch der Einfluß seiner Theologie auf Süddeutschland im Erlöschen war. — Mit der Konkordie wollte es allerdings nicht voran; Bucers Entwurf hatte keine Qnade gefunden. Fast entmutigt klagte er Ende 31, die Lutheraner seien wieder schroffer als je und verlangten das für ihn schlechthin unmögliche, die objektive Gegenwart des Leibes Christi in Brot und Wein voraussetzende Zugeständnis des Genusses des Leibes Christi auch durch die Ungläubigen. Wieder war es die kluge Minierarbeit der kaiserlichen Politik, welche die abermalige Schwenkung der Sachsen verschuldet hatte. Wohl bestand der Bund, aber er wurde so brüchig, daß Bucer, um ein Auseinanderbrechen zu verhüten, auf dem Bundestage zu Schweinfurt im Frühjahr 32 von Seiten Straßburgs neben der Tetrapolitana auch die Augustana anerkennen ließ; das war ja schon in Augsburg geplant und schien Bucer nach Melanchthons Erläuterungen in der Apologie mit gutem Gewissen möglich. Das Jahr 34 ließ die Notwendigkeit einer Konkordie von neuem dringlich erscheinen. Herzog Ulrich, eben durch den Landgrafen mit Gewalt restituiert, führte in seinem wiedergewonnenen Herzogtum Württemberg den Protestantismus ein. Der von Ferdinand gewährte Friede schloß hinterlistigerweise die „Sakramentierer" aus, und die Lutheraner sahen Württemberg als ihr Gebiet an. Ulrich berief als Reformatoren den Lutheraner Schnepf und Ambrosius Blaurer; der letztere hatte einen sehr schweren Stand. So hatte man nun den theologischen Kampf im Herzen von Süddeutschland. Bucer verdoppelte seine Anstrengungen. Fort und fort beriet er Blaurer; er wandte sich an Melanchthon, der ihm inzwischen immer näher gekommen war; er ging den Landgrafen an. Und während Sturm bei Ulrich intervenierte, suchte Landgraf Philipp auf die Wittenberger einzuwirken und plante zur Anbahnung des Friedens ein Geheimgespräch zwischen Bucer und Melanchthon. Im August war ein erster Erfolg erzielt, die Verständigung

Bucers Wirken für die Konkordie 1532—35.

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zwischen Schnepf und Blaurer, die sog. Stuttgarter Konkordie; Bucer war ihr geistiger Vater. Im Spätherbst verritt Bucer nach Augsburg, unterwegs mit Schnepf und Blaurer Rücksprache nehmend. Von Augsburg kommend, traf er am 14. Dezember in Konstanz ein, wohin er einen geheimen Konvent von oberländischen Theologen berufen hatte. Es gelang eine Verständigung auf Grund von Bucers Gutachten an die Münsterer. Am 18. stieg er wieder zu Pferd, um durch Schnee und Eis nach Kassel zu reiten, wo er am 27. Melanchthon schon vorfand, in der peinlichen Lage, als Beauftragter Luthers auf Positionen bestehen zu müssen, die nicht mehr die seinen waren. Noch war man nicht am Ziele. Den mißtrauischen Luther befriedigte die Kasseler Kompromißformel nur halb. Und jetzt mußte Bucer den Schmerz erleben, daß nicht bloß die Schweizer über seine weitgehenden Zugeständnisse ungehalten waren, sondern vor allem seine Allergetreuesten, die Konstanzer, sich von ihm trennten, weil sie das Schmieden von schwierigen Formeln als ein Schmieden von neuen Ketten empfanden. Von Augsburg aus, wo Bucer im folgenden Frühjahr drei Monate weilte, nebenher auch in Isny, Memmingen und Konstanz für das Konkordienwerk persönlich wirkend, ward das Eis gebrochen. Um die das Jahr zuvor von Seiten Sachsens abgelehnte Aufnahme der Stadt in den Schmalkaldischen Bund zu erreichen, setzte Bucer die Abordnung des Stadtarztes Gereon Sailer an Luther durch mit Erklärungen der Augsburger Geistlichkeit, die im Sinne Bucers gehalten waren. Sailers geschicktem Auftreten gelang es endlich, das Mißtrauen Luthers zu zerstreuen. Nun war die Bahn frei; Luther schlug selbst im Herbst einen Theologenkonvent für das nächste Frühjahr vor, Melanchthon, nunmehr Bucers Gesinnungsgenosse, war überall zugunsten des Konkordienwerkes tätig. Im Dezember 35 ward zu Schmalkalden, unter Voraussicht der dogmatischen Einigung, der Bund für zehn Jahre erneuert; im Februar 36 gelang es Bucer, auf dem Basler Predigertage ein Bekenntnis ausarbeiten zu helfen, das Luther versöhnlich entgegenkam. So kam es im Mai 36 zum Wittenberger Predigerkonvent. Lutheraner und Oberländer waren stattlich vertreten, die Schweizer

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

fehlten. Schlimm genug ließ sich freilich die Sache an. Luther, krank und reizbar und aufs neue mißtrauisch, verlangte das runde Bekenntnis, daß Christi Leib in Hand und Mund gegeben und auch von den Ungläubigen genossen werde. Es bedurfte Bucers ganzer dialektischer Geschicklichkeit, ihn wieder davon abzubringen. Schließlich glückte die Verständigung. Sie glückte freilich nur durch Annahme einer völlig lutherisch klingenden Formel, die nur der kundige Theologe auch im oberdeutschen Sinne auslegen konnte: Christi Leib und Blut ist wahrhaft und substanzlich zugegen und wird m i t ( c u m , nicht in) Brot und Wein, die durch sakramentale Union Leib und Blut Christi sind, wahrhaft dargereicht. Dazu kam noch, daß Bucer, um dem für ihn ganz unmöglichen Bekenntnis zum Empfang des Leibes Christi auch durch die Ungläubigen zu entgehen, sich zu dem äußersten Zugeständnis bequemte, den wirklichen Empfang auch durch die Unwürdigen, zum heilsamen Gerichte, anzuerkennen. Auch das widersprach im Grunde seiner Auffassung; er konnte es indes zugeben, weil es durch das Schriftwort vom „unwürdig essen" gedeckt schien. Es war immerhin ein großer Moment, als Luther die Oberländer feierlich als Brüder anerkannte; Bucer und Capito traten die Tränen in die Augen; alle dankten Gott. Bucer predigte im Hauptgottesdienst, allesamt empfingen sie gemeinsam das Abendmahl; alle Abgeordneten bis auf den Konstanzer Zwick unterzeichneten, und man schied herzlich. Aber was hatte Bucer alles nachgegeben! Daß es sich um geistigen Genuß handle, war gar nicht zum Ausdruck gebracht. Begreiflich, daß nicht bloß die Schweizer von dieser Formel nichts wissen wollten, sondern auch manche Oberländer erschraken, insonderheit Blaurer ihre Annahme für ganz unmöglich erklärte. Doch nahm Straßburg die Konkordie sofort offiziell an und wußte sämtliche oberländische Städte für sie zu gewinnen; Konstanz allein blieb abseits. Im Januar 37 gingen die offiziellen Zustimmungserklärungen von Straßburg nach Wittenberg ab. Blieben die Schweizer zu gewinnen. Auf einem Basier Tage im September 36 legte ihnen Bucer die Konkordie in seinem Sinne aus. Die Übersendung entgegenkommender Artikel und ein freundliches Schreiben an Luther war die Folge. Dieser äußerte sich da-

Wittenberger Konkordie. Die Schweizer.

Bucers Motive.

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rfiber so wohlwollend, daß Bucer die Arbeit von neuem aufnahm. Aber zu dem Widerstreben der Züricher kam jetzt hinzu, daß die Konstanzer Bucer direkt entgegenarbeiteten, ja offiziell in Straßburg gegen sein ewiges „Konziliumhalten" Einspruch erheben ließen. Doch wußte Bucer auf der großen Berner Synode vom September 37 durch seine Gewandtheit und Beredsamkeit sich das Vertrauen der Schweizer wieder zu erwerben. Nun langte im Dezember noch ein über Erwarten versöhnliches Schreiben Luthers an, in dem dieser die Schweizer trotz vorhandener Differenzen als Brüder anerkannte. Das Konkordienwerk weiter zu betreiben, hinderte indes die gegen Luther wie gegen Bucer mißtrauische Haltung Zürichs. Immerhin hatte Bucer eine Annäherung zustande gebracht, größer denn je vorher und nachher. — Jahre entsagungsvollster Arbeit — sextum jam annum hoc saxum volvo — hatte Bucer an das Friedenswerk gekehrt, Feindschaft und Verkennung darob reichlich erfahren: was gibt es Ärgeres, als den Liebsten als Verräter an Christus zu gelten, schreibt er einmal an Blaurer; die Aufregungen, Kämpfe und Strapazen der letzten Jahre hatten seine Qesundheit untergraben. Wir können uns eines peinlichen Gefühls nicht erwehren, wenn wir Bucer sich abmühen sehn, in immer lutherischer klingenden geschraubten Formeln das im Grunde Unvereinbare zusammenzuzwingen. Ein Beginnen, das fast mit Notwendigkeit bald auf der einen, bald auf der andern Seite den Verdacht der Unaufrichtigkeit hervorrufen mußte, dazu die Gefahr mit sich brachte, der Bucer nicht immer entgangen ist, durch künstliche Anempfindung an einen fremden Standpunkt Trübungen und Unsicherheiten des eigenen unbewußt zu verschulden. Seine Motive aber sind die lautersten und höchsten gewesen. Gegen nichts hat er mit solcher Entrüstung protestiert als gegen die Unterstellung Zwingiis, es handle sich ihm um ein kirchenpolitisches Handelsgeschäft, um die Erkaufung der Bundesgenossenschaft Sachsens. Ihm galt es eben als Frevel, um der Formulierung einer Einzellehre willen Friede und Einheit der Kirche zu gefährden, den Siegeszug des Evangeliums zu hemmen, schuldig zu werden an vielen tausend Seelen: „Wehe mir, wenn ich Satans Bundesgenosse würde!" Ohne Vereinbarung mit Luther aber war kein Friede möglich. Und wie völlig Bucer dessen Wesen durch-

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IV. Abendmahlsstreit, Bündnis und Konkordie.

schaut hatte, zeigt sein von der Koburg aus an die Straßburger Gesandten nach Augsburg erstatteter Bericht, Erfolg sei nur dann zu hoffen, wenn man den Wortlaut der Vereinbarung so zu stellen wisse, daß Luther sich bewußt sei, in nichts nachgegeben zu haben; man dürfe ihn nicht meistern wollen, sondern müsse seine Freundschaft gewinnen, um dann seine „Exzesse" unter der Hand zu mildem. Daß Luther einen offen abweichenden Standpunkt nie als christlich anerkennen werde, stand fest; daß er mit Gründen nicht zu überzeugen sei noch je im Kampfe nachgebe, hatte sich sattsam gezeigt. So blieb für Bucer, wollte er sein Ziel erreichen, kein anderer als dieser Dornenweg. Daß er ihn entschlossen und selbstverleugnend gegangen, ist seine Größe; daß er ihn gehen mußte, eines Größeren Verschuldung. Und der Erfolg? Die Zeitgenossen haben die Konkordie als etwas Großes empfunden. Der deutsche Protestantismus war damit zum ersten Male zur Einheit zusammengeschlossen, und dies zu einer Zeit, da das Konzil und andre wichtigen Verhandlungen bevorstanden. Die theologischen Kämpfe traten vorerst zurück, das Mißtrauen Sachsens war überwunden, der Bund fest gekittet, die politische Stellung Straßburgs gefestigt. Nichts bezeichnender, als daß im Januar 37 der schwer erkrankte Luther Bucer die Sorge für die gesamte Kirche anbefehlen konnte. Der endgültige Erfolg war doch ein ganz andrer. Die Entwicklung von Bucers Theologie wie die Verhandlungen mit den Lutheranern hatten je länger je mehr von Zwingli abgeführt. Sie hatten die oberdeutschen Städte dem Schmalkaldischen Bunde eingegliedert und damit politisch mit den führenden lutherischen Gebieten zusammengeklammert. Sie hatten dann Augustana und Apologie anerkennen und den Frieden mit den Lutheranern auf Grund von Sätzen schließen lassen, die völlig lutherisch klangen und ihre Spitze gegen den Zwinglischen Standpunkt richteten. Dagegen den eigenen Standpunkt offen und bekenntnismäßig gegenüber dem Lutherschen abzugrenzen, war eine Unmöglichkeit, weil dies den sofortigen Bruch herbeigeführt hätte, und überdies hatte grade Bucer keine Neigung dazu, da er der Ansicht war, in der Grundauffassung mit Luther einig zu sein. Alles das bewirkte, daß durch die Konkordie, wenn freilich auch nicht allein durch sie, die zerstreuten

Folgen der Konkordie. — Bucers Abendmahlslehre.

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protestantischen Qebiete des Südwestens dem Luthertum geöffnet wurden. Mit aller Macht hatte Bucer die Spaltung des Protestantismus zu verhindern versucht; daher seine heißen Bemühungen, die Schweizer in die Konkordie zu ziehen. Als aber doch eintrat, was Bucers innerstem Wesen entgegen war, die dogmatische Verfestigung des Protestantismus in Sonderkonfessionen, da hat der massivere Luthersche den weicheren Bucerschen Typus aufgesaugt, weil er nicht scharf herausgearbeitet und bekenntnismäßig verfestigt war. So leitet die Konkordie letztlich den Sieg des Luthertums in Straßburg und Süddeutschland ein. — Der Abendmahlslehre, die er in diesen Jahren ausgebildet hat, ist, von geringen Nuancen im einzelnen abgesehen, Bucer bis an sein Ende treugeblieben: der beste Beweis, daß nicht kirchenpolitische, sondern religiöse Motive die Wandlung bedingt haben. Cr hat hinfort, auch nach dem Tode Luthers und grade in vertrauten Äußerungen, die ganze Schärfe seines Widerspruchs gegen die konsequent Zwinglische Auffassung gekehrt, in der er eine Entleerung des Sakraments erblickte. Lieber wolle er sterben, beteuert er 1545, als die Lehre annehmen, es werde im Abendmahle nur das Qedächtnis des abwesenden Herrn gefeiert, was übrigens Zwingli so nicht gemeint habe; und während er an den Landgrafen schreiben konnte, er „halte es in diesem Artikel im Qrunde mit Doktor Luther", hat er die Stellung Bullingers und der Züricher stets als der seinen fremd empfunden. Die Verkirchlichung, die seine Theologie in diesen Jahren erfahren hat, hat den Straßburger Reformator auch tatsächlich, wie in der Abendmahlslehre, so in der Auffassung der Sakramente als Gnadenmittel, in der Rechtfertigungslehre, in der Ausgestaltung der Lehre von der Kirche und vom kirchlichen Amt, Luthers Grundanschauungen wieder näher geführt, wie er auch immer wieder starke Eindrücke von Luthers religiöser Größe empfing. Daneben aber bleiben Elemente, die seiner Theologie ihr besonderes Gepräge geben, und auch wo Luthersche Gesichtspunkte wieder in ihr Recht treten, sind sie eigenartig gewandt. Mit den Jahren der Konkordie kann Bucers Theologie als im wesentlichen abgeschlossen gelten.

STTHOMAÍ-ÍN STRAÍÍBURG

V. Die Straßburger Schule. Qui a lectione scriptorum ethnicorum deterrent, . . . non sine gravi impietate in Deum et ecdesiam cum se, tum alios, imo ipsam Christi ecdesiam fraudant. Prolegomenazum Römerbriefkommentar, 1536.

In den September des Jahres 1538 fallen zwei bedeutsame Ereignisse, an denen Bucer unmittelbaren Anteil hatte. Das eine ist die Übersiedelung Calvins nach Straßburg. Sie war Bucers Werk. Er hatte mit dem jungen französischen Qelehrten in Verbindung gestanden, schon bevor ihn seine Institutio des Jahres 36 zum berühmten Manne gemacht hatte. Als im April seine Ausweisung aus Qenf erfolgt war, stand Bucers Plan fest, ihn als Prediger der zahlreichen Flüchtlinge aus Frankreich und Burgund nach StraBburg zu ziehen. Es kostete dies viel Zeit und Mühe und eindringliche Vorhaltungen; denn Calvin, der in Basel Zuflucht gefunden, war so entmutigt, da& er keine öffentliche Stellung mehr annehmen wollte. Erst als ihn Bucer, unter Hinweis auf seine Verantwortung, dringend beschwor, fügte er sich dem Rufe als dem Willen Gottes. Er wurde der Organisator der französischen Flüchtlingsgemeinde, bald auch ein glänzender Stern an der Hochschule. Wichtiger noch wurde der Aufenthalt in Strafiburg für ihn selbst; er lernte hier ein wohlgeordnetes Kirchenwesen kennen, dessen Einrichtungen für ihn vielfach vorbildlich wurden; er trat zu Bucer, der schon zuvor wie kein andrer durch seine Schriften seine theologische Entwicklung bestimmt hatte und ihm jetzt die erste Herberge bot, in nächste persönliche Beziehungen. Wenige Wochen nach Calvins Ankunft vollzog sich das andre Ereignis: die Eröffnung der berühmten „Schule", welche in ihren beiden Abteilungen der Schulklassen und der Vorlesungen den ge6*

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V. Die StraBburger Schule.

samten gelehrten Unterricht vereinigte. Die Qründung erfolgte nach den Plänen des zum Rektor bestellten jungen Humanisten Johannes Sturm, der mit seiner glänzenden Beredsamkeit vier Jahrzehnte hindurch den Ruhm der StraBburger Schule bilden sollte. An seiner im Vorjahre erfolgten Berufung aus Paris war Bucer wieder hervorragend beteiligt. Seit fünf Jahren stand er mit Sturm in vertrauter Korrespondenz, scheint auch schon früher Versuche gemacht zu haben, ihn nach Straßburg zu ziehen. Er war es jetzt, der den fremden Qelehrten in sein Haus aufnahm, ihn pflegte, als er für längere Zeit erkrankte, ihn zum Bleiben bestimmte. So bildete sich von Anfang an zwischen den beiden Männern ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens. Bis an sein Ende erschien es dem Rektor als höchste Ehrenpflicht, Bucers Gedächtnis hochzuhalten und die Bucerschen Traditionen zu pflegen. Die von ihm geplante Biographie des Reformators ist leider nicht zustande gekommen. Als Bucer in der Interimszeit die Stadt verlassen mußte, war es eben der Rektor Sturm, der das Urteil aussprach: man verliere in ihm den Haupturheber und Begründer der StraBburger gelehrten Schule. „Wenn'Bucer sein Leben lang nichts Gutes getan und nur die Schule zu Straßburg angericht hätte, so wäre es doch ein herrlich gottselig Werk, denn dergleichen Schulen habe ich mein Leben lang nicht gesehen", schrieb der Augsburger Stadtarzt Gereon Sailer an den Landgrafen, nachdem er die StraBburger Anstalt im Jahre nach ihrer Gründung kennen gelernt. Aus diesen Urteilen der Zeitgenossen ergibt sich, daß Bucer bei der Entwicklung des StraBburger Schulwesens in noch höherem Maße die treibende Macht, der geistige Leiter gewesen ist, als wir es im einzelnen nachweisen können, während um die äußere Organisation Hedio sich besonders verdient machte, vor allem aber das große Werk nur dadurch zustande kommen konnte, daß Jakob Sturm, das Haupt der städtischen „Schulherren", selbst ein Mann von umfassender Bildung und selbständigem Urteil, sich für den Gedanken voll einsetzte, Straßburg durch seine Schule groß zu machen. Bei seiner Auffassung von Kirche, Kirchendienst und Theologie mußte in der Tat für Bucer wissenschaftliche Bildung von

Calvin. Joh. Sturm. — Bucen Stellung zum Schulwesen.

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grundlegender Bedeutung sein. Hatte ihn doch schon vor der direkten Einwirkung Wittenbergs grade der Humanismus Erasmischer Ausprägung auf die Schrift gewiesen, so daß ihm von Anfang an das Studium der Schrift und die Theologie an das Studium der alten Sprachen unlösbar gebunden und damit in die humanistische Wissenschaft überhaupt eingebettet war. Ohne gelehrte Bildung der Diener am Wort kein Verständnis der Schrift, keine reine Lehre, keine wahre Kirche. Qrade im Kampfe mit den Sekten machte Bucer mit allem Nachdruck diesen Gesichtspunkt geltend; waren doch durch Unbildung und fanatische Verachtung der Studien Christentum und Kultur mit Verwilderung bedroht. Nicht als ob er darum die Leitung durch den Qeist und die Berufung von oben nicht als die Hauptsache für den Geistlichen empfunden hätte. Aber daß jemandem das gelehrte Studium ermöglicht wurde, gehörte für ihn schon mit zu der Berufung von oben. Darum blieb ihm die Schule mit der Kirche nächstverwandt, ja sie war ihm ein wichtigstes Glied in dem großen Organismus menschlichen Gemeinschaftslebens, den ihm die Kirche darstellte: schola primarium membrum ecclesiae. Der gelehrte Unterricht ist auch diejenige Tätigkeit gewesen, die Bucer persönlich länger als jede andre ausgeübt hat: schon im Kloster zu Heidelberg war er lehrend aufgetreten, mit biblischen Vorlesungen hatte er seine Wirksamkeit in Straßburg eröffnet, als Professor in Cambridge sollte er sein Leben beschließen. Seitdem er sich auf Betreiben Jakob Sturms im Winter 23/24 mit Capito und Hedio zu wissenschaftlich-theologischen Vorlesungen zusammengetari hatte, die zwei Jahre hernach durch die Schulherren zu einer offiziellen Einrichtung erhoben wurden, hat er fortdauernd, allerdings mit den großen Unterbrechungen, die ihm seine auswärtige Tätigkeit auferlegte, Vorlesungen gehalten. Während Capito, einer der besten Kenner des Hebräischen in damaliger Zeit, das Alte Testament behandelte, las Bucer in der Regel über die Schriften des Neuen Testaments, gelegentlich allerdings auch über die Psalmen oder ein prophetisches Buch. Eine Vorstellung von dieser Lehrtätigkeit gewähren die großen Kommentarwerke, die aus ihr erwachsen sind; die bedeutendsten darunter der Evangelienkommentar von 1527/28 — Bucers exe-

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V. Die Straßbuiger Schule.

getisches Lebenswerk, denn die Veränderungen, die er bei der zweiten und dritten Auflage 1530 und 1536 erfuhr, sind bezeichnend für die Entwicklung seiner Theologie —, der Psalmenkommentar von 1529 und der Römerbriefkommentar von 1536. Es sind dies, insonderheit wenn man die Schnelligkeit der Ausarbeitung in Betracht zieht, hochbedeutsame Leistungen gewesen, ausgezeichnet durch scharfe Beobachtungsgabe, ein reiches und stets zu Gebote stehendes Wissen und umfassende Belesenheit in der Schriftauslegung der Kirchenväter und der jüdischen Erklärer wie Kimchi und Ibn Esra. Da für Bucer die Theologie nichts anderes ist als die Wissenschaft von der Schrift, so dient die Schrifterklärung letztlich der Entwicklung der Lehre; mit der Einzelauslegung wechseln darum längere Ausführungen über bestimmte Lehrbegriffe ab. Endlich ist Bucer auch als Exeget in hohem Maße auf die Anwendung des Schriftwortes auf das innere Leben und die Verhältnisse der Gegenwart bedacht; will er doch auch grade durch diese Kommentare der Verbreitung des Evangeliums dienen; und dieses unmittelbare religiöse Interesse gibt dem Ganzen seinen warmen Ton und seine persönliche Note. So ist der Straßburger Theologe auch durch seine Kommentare der unmittelbarste Vorläufer Calvins, des größten Schriftauslegers des 16. Jahrhunderts. Calvin spricht dies selbst aus; er erklärt Bucers Evangelien- und Psalmenkommentar als Vorbild und Grundlage seiner eignen Arbeit; er rühmt insonderheit Bucers Scharfsinn und den überfließenden Reichtum von Gedanken, die ihm während der Arbeit zuströmten und ihn oft kein Ende finden ließen. Die Fülle der Gedanken in Verbindung mit der Eilfertigkeit der Ausarbeitung bedingt eine gewisse Formlosigkeit; perplexa, indigesta, obscura omnia, klagt Bucer, der sich andrerseits bewußt war, grade auf diesem Gebiete den Zeitgenossen etwas bieten zu können. In das Straßburger Reformationsjahr 1524 fällt nicht bloß der Beginn der wissenschaftlichen Vorlesungen, sondern auch die erste Eingabe der Prediger an den Rat in Sachen des Schulwesens. Denn nicht bloß auf dem Gebiete der Volksschule war es schlimm bestellt, grade auch auf dem des gelehrten Unterrichts stand man vor dem Nichts, da in den Wirren jener Jahre die bisherigen

Bucer als Dozent und Qelehrter; als Mitschöpfer der Schule.

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lateinischen Stiftsschulen den Betrieb eingestellt hatten. Die Übernahme des Schulwesens durch die Stadt erwies sich als Notwendigkeit; sie war überdies nur die logische Folge der Übernahme der Kirchenhoheit durch den Magistrat. Die Neuordnung kam in Fluß, als auf Vorschlag der Prediger 1526 drei städtische „Schulherren" als Bevollmächtigte des Magistrats ernannt wurden, ihr Haupt Jakob Sturm. Zwei städtische Lateinschulen, im folgenden Jahrzehnt noch eine dritte, wurden gegründet, das Vorlesungswesen offiziell geregelt und weiter ausgebaut. An allem nahm Bucer den regsten Anteil. Die wichtigsten Eingaben der Prediger sind von seiner Hand; von Zwingli erbat er die Zürcher Lehrpläne; er bemühte sich um Gewinnung Aventins für eine Professur; er setzte die Berufung des tüchtigen Schulmannes Dasypodius durch. Das von ihm im Namen der Prediger erstattete Gutachten von 1534 verbreitet sich ausführlich über den weitern Ausbau, und das Schulstatut von 1545 regelt das theologische Studium gemäß seinen Forderungen. Von seinen Bemühungen um Johannes Sturm war schon die Rede; in Calvin, den er nach Straßburg zog, erhielt die Schule ihren nächst Sturm glänzendsten Lehrer; später hat er Petrus Martyr als Professor der Theologie in Straßburg festgehalten und Fagius auch der Schule wegen berufen lassen. In dem ebenerwähnten Gutachten von 1534 war die Einrichtung eines theologischen Alumnats verlangt. Es konnte noch im selben Jahre ins Leben gerufen werden: von Bucer inspiriert, hatte Blaurer einen reichen Kaufherrn aus Isny, Peter Büffler, zu einer Stiftung vermocht, die es je zwei Stipendiaten aus Konstanz, Biberach, Lindau und Isny ermöglichen sollte, in Straßburg zu studieren. Für diese schwäbischen und eigne Stipendiaten wurde im Predigerkloster ein Alumnat gegründet; zehn Jahre später kam ein „Collegium der armen Knaben" im Wilhelmerkloster dazu. Es ist rührend, mit welcher Sorgfalt der vielbeschäftigte Bucer in den vierziger Jahren über die schwäbischen Stipendiaten nach Konstanz berichtet; die Studenten freilich, und manchmal auch ihre heimischen Vorgesetzten, neigen dazu, seine Art zu streng zu finden; denn er war auch hier für gute Zucht und emsthaftes Vermahnen und Strafen. Den „Wilhelrner Knaben" bezeugte er seine Liebe da-

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V. Die Strafiburger Sdraie.

durch, daß er ihnen in seinem Testament ein Vermächtnis zuwandte. Endlich hat Bucer tatkräftig mitgeholfen, die StraBburger Hochschule materiell zu sichern. Daß die zur Versehung der Kirche mit Seelsorgern nicht benötigten Stiftspfründen an Männer der Schule vergeben werden sollten, ist eine von ihm oft erhobene allgemeine Forderung. Eben zu diesem Zwecke hatte, im Einverständnis mit den Reformatoren, der Magistrat die Verleihung der in den sog. Papstmonaten freiwerdenden Straßburger Stiftspfrunden als sein Recht beansprucht und insonderheit in dem seiner Majorität nach protestantischen Thomaskapitel ausgeübt. Denn schon Capito, als dessen Propst, hatte dem Gedanken Vorschub geleistet, daß dies Stift mit seinen Pfründen der Schule zu dienen habe. Aber erst der tatkräftigere Bucer, der 1541 Mitglied und 1544 Dekan des Thomaskapitels wurde, betrieb mit aller Energie die planmäßige Umgestaltung desselben nach diesem Gesichtspunkte. Schon im Jahre 39 hatte der Magistrat, um Untauglichen und Unwürdigen die Erlangung von Kapitelstellen unmöglich zu machen, für die Kapitel der drei Stiftskirchen das alte „kanonische Examen" wiedereingeführt und Bucer zu dem Ende eine ausführliche Prüfungsordnung verfaßt. Nun legte letzterer ein nicht minder ausführliches Reformgutachten für das Thomaskapitel vor, das 7 Kanonikate für die Geistlichen der drei dem Stift unterstehenden Kirchen und 10 für die Schule reservierte, und zwar je zur Hälfte für Professoren und für die Klassenlehrer der 5 oberen Klassen. Wenigstens ihrem Kerne nach sind diese Forderungen in den nächsten Jahrzehnten durchgeführt worden; und wenn in der Folge zuerst für die Schule, später für die Universität die Kanonikate von St. Thomas — denn über die der übrigen Stifter verlor die Stadt in der Interimszeit jegliches Verfügungsrecht — die wichtigste materielle Grundlage gebildet haben, so geht diese segensreiche Ordnung der Dinge nicht zum geringsten Teile auf Bucer zurück. Wie Jakob Sturm, so schwebte auch Bucer der Ausbau der Schule zur Volluniversität als letztes Ziel vor. Als ihre dringlichste Aufgabe empfand er naturgemäß die Ausbildung von Theologen, um dem drückenden Predigermangel abzuhelfen; es war ihm dies der vornehmste Dienst, den Wittenberg und Straßburg der

Bucers Reform des Thomasstifts. Seine Stellung zur Antike.

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deutschen Christenheit zu leisten hätten, und wenigstens für Süddeutschland wurde in den dreißiger und vierziger Jahren die Straßburger Anstalt die wichtigste Pflanzschule. Für die Theologie aber wie für jedes andere Studium war unserm Reformator eine tüchtige Ausbildung in den Sprachen und der Dialektik grundlegend. Sogar für die Frauenbildung; hat er doch mit allem Nachdruck ausgesprochen, daß für Frauen höherer Stände gelehrte Bildung nötig sei, deren Grundlage die antike Literatur und Philosophie und die hl. Schrift bilden müßten. Und er war weit entfernt, die Sprachen als lediglich formales Bildungsmittel zu betrachten. Mit welcher Wärme hat der einstmalige Jünger des Erasmus von der antiken Literatur und ihrem ewigen Wahrheitsgehalte zu sprechen gewußt! Freilich erreicht sie die Schrift nicht; aber ihre Bezeichnung als profane Literatur wird mit Entrüstung zurückgewiesen. Die Schriften der Alten sind herrliche Gottesgeschenke. Was den Juden die Schrift, war den Heiden die Philosophie; ihre Wahrheiten sind Offenbarungen Gottes; Plato, der höchste und heiligste der Philosophen, ist der Moses der Heidenwelt; denn auch sie ist Gottes, und sein Geist hat in ihr mächtig gewirkt. Das Studium der alten Schriftsteller verbieten zu wollen, heißt darum nicht bloß sich der gottgegebenen klassischen Lehrmeister in vielen schönen Künsten berauben, sondern ist ein Vergehen gegen Gott und die Kirche Christi. Bei aller Arbeitslast vermochte Bucer in den dreißiger Jahren noch bei sich zu Hause ein Privatissimum zu lesen über die eben erschienenen Aristotelesparaphrasen des Themistius. Der durch die Schule des Humanismus hindurchgegangene Reformator sah alles in harmonischem Gleichgewichte: antike und christliche Weltanschauung in wesentlichen Wahrheiten eins; in der ganzen Welt göttliche Offenbarung, in der christlichen gipfelnd; kein Gegensatz zwischen humanistischer Bildung und christlicher Religion; darum die Schule mit all' ihren Bildungsschätzen ein Teil der Kirche. Hier lagen freilich schwere Zukunftsprobleme: War bei folgerichtiger Ausprägung eines strengen Biblizismus jene großzügige positive Wertung der Antike noch haltbar? Mußte da die Wissenschaft von der Antike nicht zum rein formalen sprachlich-dialektischen Bildungsmittel herabsinken? Wird bei immer

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Christentum, Kirche und Humanismus.

enger und ausschließender werdendem kirchlichen Standpunkte die organische Einfügung großzügiger humanistischer Bildung in den Rahmen der Kirche möglich bleiben? Wie in Voraussicht künftiger Gefahren hatte Bucer von dem unendlichen Schaden gesprochen, der der Kirche daraus erwachsen würde, wenn „die Schule vom Kirchendienst gerissen" und damit die ewige Feindin der Kirche werden würde. Das tragische Schicksal des alten Rektors Sturm und der Gegensatz zwischen Calvin und Castellio sind Beispiele dafür, wie bald diese Probleme sich zuspitzen sollten.

VI. Der protestantische Politiker. Omnibus fit omnia, ut regnum Christi quam latissime proferat, idque per infamiam et bonam famam, per innúmera convitia, opprobria et non ferendas calumnias et injurias; quibus ómnibus quantumvis deprimitur, identidem tarnen superior emergit, ut plane in illo divinam virtutem agnosee re adversarii cogantur. A. Blaurer über Bucer an BulUnger, 12. Dez. 1543.

In demselben Jahre 1538, in dem die Konkordienverhandlungen ihr endgiltiges Ende fanden, ward Bucer im Spätherbst nach Hessen berufen. Anlaß bot das Überhandnehmen des Täufertums. Die einheimischen Kräfte hatten versagt, und der Landgraf wollte es, entgegen dem Wittenberger Gutachten, nochmals mit der Milde versuchen. Bucer löste seine Aufgabe glänzend. Er wußte die Täufer, unter denen er „viel gutherzige Leut" fand, dadurch mit der Kirche wieder auszusöhnen, daB er durch freundliches Entgegenkommen wie durch die Macht seiner Persönlichkeit und seiner Dialektik die Führer und durch diese ihre Anhänger gewann. Vor allem aber lag ihm nun am Herzen, durch einen der Kritik der Täufer Rechnung tragenden Ausbau der Gemeindeorganisation das Sektenwesen zu unterbinden. Auf der Synode zu Ziegenhain ward seine Zucht- und Ältestenordnung angenommen, nicht lange darauf in Kassel unter seiner Leitung die Kasseler Kirchenordnung geschaffen. „Wo keine Zucht und Bann ist, ist auch keine Gemein", hatte Bucer den Täufern rund zugegeben. Darum führt er jetzt das Ältestenamt ein. In ihren Ältesten wird die Gemeinde aktiv, ihrer Einheit und Verantwortlichkeit bewußt; durch sie übt sie ihre erzieherische Tätigkeit. Die Ältesten, bezeichnenderweise

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VI. Der protestantische Politiker.

auch Seelsorger genannt, sollen die Sektierer durch „freundliches und getreues Ermahnen, Bitten und Flehn" zu gewinnen suchen, andrerseits die sträflich Lebenden mit Ernst vermahnen; nur wo alles umsonst, sollen sie mit dem Geistlichen zusammen den Bann verhängen, der den Sünder bis zur Besserung von der kirchlichen Gemeinschaft ausschließt. Sie sollen endlich darauf sehen, daß die Kinder durch regelmäßigen Besuch des Kinderberichts dem Ganzen der Gemeinde fest eingegliedert werden. Es sind dies Gedanken, die bereits in der Straßburger Ordnung von 1534 sich finden, aber hier, wo Bucer freiere Hand hatte, weit beherrschender hervortreten. Und etwas neues ist dazugekommen: als Abschluß der kirchlichen Unterweisung die feierliche Konfirmation, zugleich öffentliches verpflichtendes Bekenntnis nach voraufgegangener Prüfung, zugleich sakramentaler Benediktionsakt, gipfelnd in der Handauflegung und dem mit den Worten „Nimm hin den heiligen Geist" beginnenden Einsegnungsspruch. Bucer ist damit der Vater der evangelischen Konfirmation geworden, die hier zum ersten Male begegnet. Hat er sie in Straßburg erst im folgenden Jahrzehnt einzuführen vermocht, so sehn wir sie in seinen Schriften seit dem Jahre 33 im Werden begriffen, im Anschluß an die altkirchliche confirmatio und redditio symboli und den neutestamentlichen Brauch der Handauflegung. Durch Einführung einer solchen Handlung wollte Bucer dem Einwurf Schwenckfelds und der Täufer begegnen, es würden durch die Kindertaufe die Menschen mechanisch ohne Bekenntnis und Verpflichtung in die Gemeinde aufgenommen. Wie sehr Bucer in Hessen durchdrang, zeigt der Umstand, daß sein Straßburger Katechismus in seiner kürzeren Fassung wortwörtlich als Kasseler Katechismus nachgedruckt wurde. Kurz, aber hochbedeutsam war sein Eingreifen. Er hat, nach dem Urteil von Kennern, der hessischen Kirche ihr Bestes geschenkt; hat doch die Einführung der Katechismusunterweisung und der Konfirmation den wichtigsten Anstoß zum Ausbau des Volksschulwesens gegeben und das seelsorgerliche Ältestenamt das Verantwortungsgefühl der Gemeinde geweckt und das Hessenland im 17. Jahrhundert vor dem sittlichen Verfall bewahren helfen. Für Bucer leitet diese Berufung nach Hessen eine neue Pe-

Bucer in Hessen. Verhältnis zu Landgraf Philipp.

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riode ein. Denn damals ward der Grund gelegt zu dem engen Vertrauensverhältnis, das ihn fortan in einzigartiger Weise mit dem Landgrafen Philipp von Hessen verband. Es stellt sich uns in einem Briefwechsel dar, der zwei stattliche Bände füllt und zu den wichtigsten geschichtlichen Urkunden dieses Jahrzehnts gehört. Die ganze Politik des Landgrafen liegt hier vor uns offen; in alle Pläne wird Bucer eingeweiht, alle geheimen Schriftstücke erhält er zur Einsicht; seinerseits bespricht er alle schwebenden politischen Fragen und gibt für die Kirchenpolitik Direktiven wie ausführliche Qutachten. Keiner der eignen Theologen, zu Zeiten nicht einmal der eigne Kanzler, hat Philipp so nahe gestanden, wie der Straßburger Reformator. Gerne hätte er ihn ganz nach Hessen gezogen, hat ihm auch für diesen Fall ein Gehalt geboten, das Bucer als unevangelisch hoch ablehnte. Der Landgraf war ein Mensch mit seinem Widerspruch: für das Evangelium aufrichtig begeistert, bibelfest und theologisch intressiert wie nur einer seiner Prediger, und doch ein Sklave seiner schlimmen Leidenschaften und wieder voller Gewissensqualen über solche Sklaverei; der Mann der protestantischen Politik, der kühnen Kombinationen, großzügiger und vielgeschäftiger als alle andern Fürsten; und doch wieder der unberechenbare Sanguiniker, entgegengesetzten Interessen und Impulsen folgend, ohne Stetigkeit und sichres Urteil, welscher List nicht gewachsen; bei allen tiefen Schatten aber im Grunde seines Wesens letztlich eine ehrliche Natur, ein treubesorgter Landesfürst. Überaus schwieriger Art waren damit die Aufgaben, die dem Reformator als Vertreter protestantischer Idealpolitik und streng sittlicher Lebenshaltung aus solchem Vertrauensverhältnis erwuchsen. Daß er immer das Richtige getroffen, wird niemand behaupten. Aber das Verhältnis, das sich herausbildete, gereicht beiden zu höchster Ehre. Bucer „diente dem Landgrafen, aber er ward nicht sein Diener". Bei aller schuldigen Ehrerbietung hat er aus seinem Dissensus nie ein Hehl gemacht, bei aller Wahrung urbaner Form mit eindringlichem Ernst zu mahnen und zu strafen verstanden. Und der Landgraf, der gelegentlich betonte, er „möge christliche Strafe wohl leiden", wußte seinen Freimut zu würdigen.

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VI. Der protestantische Politiker.

Wie bedeutend aber wurde damit Bucers Stellung! In Verbindung mit Jakob Sturm der Vertreter der protestantischen Politik StraBburgs, war er jetzt zugleich der Vertrauensmann des Fürsten, bei dem damals alle politischen Fäden zusammenliefen, sein Berater in der Politik, seine rechte Hand in den kirchenpolitischen Aktionen, auf den Tagungen der nächsten Jahre abwechselnd Straßburgischer und hessischer Bevollmächtigter. So kommt jetzt die Zeit seiner ausgedehntesten Wirksamkeit, zumal er seit der Konkordie auch im Norden als Autorität anerkannt war. Bei aller Treue gegen Straßburg ist es der deutsche Protestantismus in seiner Gesamtheit, ja mehr als der deutsche, dem sein heißes Mühen und Hoffen gilt. Wie oft mußte er reisen, wie lange anhaltend auswärts weilen: zwei Monate in Frankfurt, drei in Worms, sechs in Regensburg, fast neun Monate in Bonn! Das letzte Ziel, auf das in diesen bewegten Jahren seine Arbeit eingestellt war, war die Erreichung des Religionsfriedens. Der Organisator, dem die Kirche als lebendiger Organismus vor der Seele stand, wies immer dringender auf den unfertigen und unbefriedigenden Zustand der neuen Kirchentümer: Über uns schwebt das Damokles-Schwert des Augsburger Abschieds, der Besitz des Kirchenguts wird uns bestritten, die Prozesse des Kammergerichts bedrohen die materielle Grundlage unserer Existenz; auch auf evangelischer Seite wird das Gut der Kirche angetastet. Bei solch' unsichern Zuständen drückender Predigermangel; „was reich und vermöglich ist, das flieht die Theologie, die Armen Vermögens nicht"; keine genügende Sorge für den Unterhalt der Geistlichen und für Nachwuchs, kein geschlossenes, gemeinsames Vorgehn; alles fällt auseinander; keine Synoden, keine Visitationen, vor allem keine Disziplin, ohne die nichts Bestand haben wird. Aus solchen Zuständen kann nur ein wirklicher, beständiger Friede führen. An einen Frieden, wie er 1555 zu Augsburg geschlossen worden ist, hat freilich Bucer nicht gedacht. Ein solcher „Böhmischer Friede", in dem man sich über alles vergliche, nur nicht über die Religion, ist ihm vielmehr das Schlimmste des Schlimmen: „Wenn uns der Satan dahin bringen könnte, daß wir uns mit den Gottlosen so vereinigten, daß wir ihnen die Sicher-

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Der Religionsfriede als Ziel von Bucers Kirchenpolitik.

heit ihrer Gottlosigkeit garantierten, so wäre es um uns geschehen". Ein solcher Friede wäre Verleugnung des Evangeliums und nicht von Dauer; Bucer „erschauert am ganzen Leibe" im Hinblick auf solche Möglichkeit. Ein dauernder Friede scheint ihm nur au! dem Wege erreichbar, daß sich die deutschen Stände zu gemeinsamer Lösung der religiösen Frage zusammenfinden; das Wohl der Kirche, die Liebe zu den Brüdern und die Wahrung der deutschen Libertäten, sie verlangen gebieterisch, daß man den Weg der Religionsvergleichung beschreite. „Vergleichung" ist das ständige Schlagwort; gelegentlich fällt das Wort Konkordie; oft ist von Konzessionen die Rede. Das hat schon damals zu den ärgsten Mißdeutungen Anlaß gegeben. Denn ein Mittleres zu suchen zwischen dem eignen Standpunkt und dem offiziellen römischen Katholizismus, ist Bucer nie in den Sinn gekommen; die Wahrheit des eignen Standpunktes war ihm so evident, so außer aller Diskussion stehend, daß ein Verlassen desselben für ihn überhaupt nicht in Frage kam: „der Herr gibt sein Wort so hell und klar, daß es niemandem verborgen sein mag, denn der's nicht wissen will". Nach wie vor bleibt ihm das Papsttum AntiChristentum, der römische Katholizismus ein Gegner, mit dem man nicht paktieren kann. Durch oder im Bunde mit dem Papst die Kirche reformieren zu wollen, heißt die Wege durch Straßenräuber, die Meere durch Piraten sichern wollen; wie soll ein päpstliches Konzil irgend etwas ausrichten? Aber die „Vergleichung" ist zunächst eine deutsche Angelegenheit. Nicht bei Papst und Bischöfen soll die Entscheidung liegen, denn Papsttum und päpstlicher Glaube ist eine fremde Macht, die die Kirche geknechtet hat. Die deutschen Stände oder der Kaiser mit den Ständen sollen die Sache in die Hand nehmen; sie sollen die Besten, Gelehrtesten, Angesehensten aus beiden Lagern berufen. Mit solchen ehrlichen Gegnern ist eine Verständigung möglich, grade weil in entscheidenden Punkten die Wahrheit ihre zwingende Macht üben wird; es gilt, die Hindernisse hinwegzuräumen, die Brücken zu schlagen, es gilt eine Vergleichung zu finden, die auf katholischer Seite dem Evangelium eine Gasse bahnt und damit die allgemeine Durchführung der Reform in die Wege leitet. Das

Äußere

Anrieh, Baecr.

betreffend,

kommen

hier

vor

allem Bucers 6

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VI. Der protestantische Politiker.

hochaktuelle Vorschläge in bezug auf die Reform der Bistümer und großen Stifter in Betracht. Hier ergaben sich die schwierigsten staatsrechtlichen Tragen. Die Kurfürsterzbischöfe und die Bischöfe waren Reichsstände, in einem Teil ihres Sprengels zugleich Territorialherren; die Domkapitel die Domäne des Hochadels. Auch in diesen Kreisen zeigten sich Sympathien für die Reformation. Aber ein evangelischer geistlicher Domherr mit Rieseneinkünften und ohne Predigt- und Seelsorgetätigkeit war ebenso ein Widerspruch in sich selbst, wie ein evangelischer Bischof, der zugleich Qeistlicher und Landesherr gewesen wäre. Begab er sich seines geistlichen Amts, um als weltlicher Herr eine Dynastie zu begründen, so beging er ein Attentat gegen die Reichsverfassung; begab er sich seiner weltlichen Herrschaft, so entstanden herrenlose Gebiete. Beides mußte die gefährlichsten politischen Komplikationen nach sich ziehen. Bucer nun wollte durch Anerkennung geschichtlich gewordener Verhältnisse Bischöfe und Hochadel für die Reformation gewinnen und zugleich politisch gefährliche Situationen vermeiden. Die geistlichen Territorien und die Domkapitel sollen bleiben, dem Adel sein Anspruch auf die Domstiftspfründen gewahrt werden. Aber Bischöfe und Stiftsherren sollen Laien werden und ihre geistlichen Pflichten besondern Dienern am Wort übertragen; der Bischof unter anderm Namen der Regent des geistlichen Territoriums sein, die Kapitularen als „Domherren" sein adeliges Regierungskollegium bilden und jeweils nach dem Ableben des Laienbischofs aus ihrer Mitte den Nachfolger ernennen. Ein Vorschlag, der Bucers realpolitischen Blick ins hellste Licht rückt. Es war in der Tat der einzige Weg, die bischöflichen Qebiete der Reformation zuzuführen, ohne daß darüber das Reich aus den Fugen zu gehen drohte. An Neigungen und Versuchen, diesen Weg zu gehn, hat es nicht gefehlt. Sehr möglich, daß sie zum Ziel geführt hätten, hätte der Schmalkaldische Bund nicht versagt. Die religiöse Verständigung betreffend, wird nunmehr für Bucer ein Gesichtspunkt ausschlaggebend, der seit Ende der zwanziger Jahre seine eigne religiöse Entwicklung immer entscheidender bestimmt hatte. Seiner universalen Betrachtungsweise war die Kirche auch in ihrer Entwicklung durch die Jahrhunderte hin eine Einheit.

Bistümer und Stifter.

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Wertung der alten Kirche.

Die geschichtliche Kontinuität aber fand er nicht genügend gewahrt: wir haben uns zu glauben vermessen, „christlicher Verstand" sei seit der Apostel Zeit erst wieder bei uns zu finden; so haben wir zu Anfang in zu ungestümer und paradoxer Art von der christlichen Freiheit und anderm gesprochen; das hat viele in falsche Sicherheit gewiegt und viele andere abgeschreckt. Bucer faßt die Zeit der Apostel stets mit den folgenden Jahrhunderten zusammen: die Epoche der Kirchenväter und Konzilien ist ihm das eigentliche klassische Zeitalter der Kirche, die „lieben Väter" sind ihm die geistbegabtesten Theologen. Nicht als ob er sie für irrtumslos gehalten hätte; selbst Augustin hat geirrt. Aber wie seine eigne Theologie, z. B. in der Lehre vom Abendmahl, vom freien Willen, von der Prädestination, von der altkirchlichen stark beeinflußt ist, so waltet bei ihm überhaupt die unbewußte Tendenz, letztere in evangelischem Sinne zu deuten. Und bestimmender vielleicht noch als die Lehre sind für ihn die Ordnungen der alten Kirche. Wenn überhaupt, sieht er hier sein Ideal verwirklicht: die Kirche der allesumfassende Organismus der Liebesgemeinschaft, der Heiligung und Disziplinierung des Lebens. Die altkirchliche Bußordnung, die Bestimmungen über die Lebenshaltung der Kleriker, die Regelung der Verwendung des Kirchenguts und andres mehr erscheint ihm vorbildlich auch für die eigne Qegenwart. Neben den Canones aber stehen ihm als gleichwertig die Leges, die alten Kaisergesetze. In vollem Qegensatz zur spätem pietistischen Betrachtungsweise findet Bucer die Verbindung der Qrößen Kirche und Staat grade im 4. Jahrhundert in vorbildlicher Weise vollzogen, in Konstantin, Theodosius und Justinian das Ideal eines christlichen Herrschers verkörpert. Daß der Kaiser Konzilien berufe, durch seine Gesetzgebung die Verhältnisse der Kirche regle, über Kirche und Papst äußerlich herrsche, wie nach dem Vorbild der römischen Kaiser noch Karl und Otto der Qroße getan, ist ihm die normale gottgegebene Ordnung; ihre Umkehrung die äußere Herrschaft von Papst und Kirche über Fürsten und Völker, wie sie zu Deutschlands Verhängnis unter Heinrich IV. eingesetzt, unter Friedrich II. sich vollendet habe. Bei solcher Schätzung der alten Kirche hat nunmehr Bucer vor 6*

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VI. Der protestantische Politiker.

allem in seiner publizistischen Tätigkeit die Taktik befolgt, dem Gegner nachzuweisen, daß auf protestantischer Seite, bei aller Unvollkommenheit, die Übereinstimmung mit der Lehre und den Ordnungen der alten Kirche weitaus größer, auf der andern Seite nur noch ein Zerrbild von Kirche vorhanden sei. Ist nicht die jetzige, bald mehr als türkische Zügellosigkeit und das Lasterleben der Geistlichen ein Hohn auf die Gesetze der Kirche, die jetzige Art der Stellenbesetzung Sakrileg am Kirchengut? sind nicht die Ansprüche von Papst und Hierarchie die volle Umkehrung dessen, was einst in der Kirche galt? Als wichtigsten Schritt zur Vereinigung betrachtet deshalb Bucer, daß man durch solche Nachweisung die Gutwilligen von der Gegenseite dazu bringe, Lehre und Ordnungen der alten Kirche wieder anzuerkennen und wieder aufzurichten. Schon damit würden die sittlichen Mißstände an der Wurzel getroffen, in der Lehre eine bedeutende Annäherung erzielt, schon damit hätte man den Laienkelch und die Möglichkeit der Priesterehe. Im übrigen dürfe man gerade den religiös Lebendigen ein sofortiges Aufgeben aller Stellungen nicht zumuten. Es genügt, wenn sie in dem, was die „Summe des Christentums" ausmacht, vor allem in dem Hauptartikel von der Rechtfertigung, sich von der Schriftgemäßheit unsrer Lehre überzeugen lassen; nicht bloß über das Zeremonienwesen, sondern über Lehrirrtümer in sekundären Punkten kann man hinwegsehen. Ein Katholizismus schwebt hier Bucer vor, der, mit dem Papsttum und mit den mittelalterlichen Theorien brechend, auf dem Wege über die altkirchliche Lehre und Disziplin unter Einwirkung des Sauerteigs des evangelischen Glaubensbegriffes schließlich in einen idealen Protestantismus einmündet. Der Gedanke war für ihn deshalb möglich, weil ihm der ideale Protestantismus eins war mit der Urkirche, und im wesentlichen eins mit der alten Kirche der ersten vier Jahrhunderte. Nicht Kleinmut ist es gewesen, der ihn zu solchem Entgegenkommen getrieben hat. Denn daß die Protestanten nun ihrerseits etwas von ihrer Lehre oder ihrer Freiheit in den Zeremonien daran geben sollten, hat er stets auf das bestimmteste abgewiesen. Er wollte keinen Frieden erkaufen. Er wollte „eher alles leiden, denn eine solche Vergleichung eingehen, daß wir uns den Irrtümern des Gegenteils nähern wollten". Seine Absicht ging viel-

Wege zur religiösen „Vergleichung".

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mehr dahin, den „Gutwilligen des Gegenteils" den Weg zur Wahrheit zu bahnen, die Möglichkeit zu eröffnen, an die Reform der Kirche auch ihrerseits Hand anzulegen. Er hoffte auf diese Weise die Reformationsbewegung auch in katholischen Gebieten in Gang zu bringen und vertraute der Macht der Wahrheit dahin, daß, wenn nur an einigen wichtigsten Stellen der Damm durchbrochen wäre, das Evangelium mit Macht hereinfluten und die übrigen Widerstände überwinden würde. Solchen Plänen gegenüber festzustellen, Protestantismus und Katholizismus seien ihrem Wesen nach derart grundverschieden, daß eine so gedachte Annäherung eine Unmöglichkeit sei, ist billige Weisheit. Der deutsche Katholizismus von damals war kein einheitliches Gebilde; er war teils ohne innere Kraft, teils in Gärung oder Zersetzung begriffen. Wer vermag zu sagen, ob, wäre Deutschland sich selbst überlassen gewesen, oder hätte auch nur der Schmalkaldische Bund eine entschlossene Politik befolgt, der von Bucer gewiesene Weg so ganz ungangbar gewesen wäre? Der Hauptfehler in der Rechnung lag anderswo: Bei allem Mißtrauen dem Kaiser gegenüber kam Bucer von der Hoffnung nicht los, er werde sich doch noch auf die Linie einer solchen „Vereinigung" drängen lassen. Er hat die Tatsache nicht voll gewürdigt, daß, allem zeitweiligen Nachgeben zum Trotz, der Kaiser nicht bloß durch seine persönliche Überzeugung, sondern durch seine universale Stellung in Europa mit Notwendigkeit immer wieder auf die Seite der universalen Kirche gezogen, somit durch Einbeziehung Deutschlands in Karls Universalmonarchie der deutsche Katholizismus immer wieder an Rom gekettet wurde. Bald sollte die Entwicklung der Dinge in Deutschland allen diesen Gedanken Bucers, die er im Spätherbst 1538, im Einverständnis mit den Leitern der Straßburger Politik, sowohl dem Landgrafen als den Wittenbergern dargelegt hatte, aktuelle Bedeutung verleihen. Es kam im Frühjahr 1539 die Frankfurter Tagung der Schmalkaldener, auf der mit dem kaiserlichen Mittelsmann der bekannte „Anstand" vereinbart wurde. Niemand hat über dies magere Resultat ein so vernichtendes Urteil gefällt als Bucer, der allen Ver-

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VI. Der protestantische Politiker.

handlungen aus nächster Nähe gefolgt war. Die Nachgiebigkeit der anfangs so kriegerisch gestimmten Fürsten erschien ihm als Verrat am Evangelium. Er hatte Recht; eine große Gelegenheit war verpaßt. Etwas schien allerdings erreicht zu sein: im Sommer sollte zu Nürnberg ein Ausschuß von Gelehrten über die Religionsvergleichung handeln. Der Kaiser selbst schien jetzt das freie deutsche Konzil gestatten zu wollen, auf das Bucer so große Hoffnungen baute. Der Tag wurde freilich nicht angesetzt, weil die Kurie die Bestätigung der Frankfurter Beschlüsse durch den Kaiser zu hintertreiben wußte; aber der Gedanke blieb lebendig. Einen Augenblick schien es, als sollte die geplante Religionsvergleichung ohne und gegen den Kaiser zustande kommen. Denn nicht bloß die Evangelischen sahen seinem Wiedererscheinen im Reiche mit Bangen entgegen. Man fürchtete einen Anschlag auf die „deutschen Libertäten", man sprach von Säkularisationsgelüsten. Manche geistlichen Fürsten fühlten sich bedroht, alles war in Spannung und Bewegung. Der Gedanke einer nationalen Fürstenversammlung tauchte auf, in der auch der religiöse Zwiespalt beglichen werden sollte. Das ist die Lage, in der Bucers Gedanken über die Reformation in den geistlichen Gebieten ihre feste Gestalt gewonnen haben. Bei der deutschen Unstimmigkeit zerfloß das alles wie eine Fata Morgana. So knüpften die protestantischen Stände neue Verhandlungen mit dem Kaiser an. Sie bestanden auf dem zugesagten Religionsgespräch. Schon im März 1540 berieten ihre Theologen, unter ihnen Bucer, zu Schmalkalden über die auf solchem Tage zu beobachtende Haltung. Der Kaiser sagte schließlich zu, weil er die Hände nicht frei hatte. In Hagenau, wo man im Sommer einige Wochen tagte, Bucer als hessischer Abgeordneter, kam man über Vorfragen nicht hinaus. Das wichtigste war der Beschluß, es solle im Herbst in Worms durch je 11 Abgeordnete verhandelt werden. Inzwischen hatte sich ein Geschehnis vollzogen, dessen verhängnisvolle Tragweite die folgenden Jahre offenbaren sollten, und Bucer war daran mitbeteiligt und mitschuldig: am 4. März 1540 war Landgraf Philipp seine geheime Nebenehe mit einem Hoffräulein eingegangen. Die Gewissensqualen, in die ihn seine Ausschweifungen gestürzt, die schwere Erkrankung, die sie zur

Frankfurt. Hagenau. Doppelehe des Landgrafen.

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Folge gehabt, die Forderungen der Mutter seiner Erkorenen hatten ihn den längst gehegten Qedanken verwirklichen lassen, auf diese unsittliche Weise sittlich zu werden. Denn er war ehrlich fiberzeugt, und Äußerungen Luthers aus früheren Jahren hatten ihn darin bestärkt, die Heil. Schrift für sich zu haben, und fühlte sich durch diesen Schritt mit Gott und seinem Qewissen im Reinen. Bucer war der erste Theologe, dem er, zuerst durch seinen Arzt, den Augsburger Qereon Sailer, dann in eigener Aussprache sein Vorhaben eröffnete. Wie gerne hätte er, so erklärte Bucer später, diesen Schritt des Landgrafen verhindert; nur um schlimmeres zu verhüten, habe er schließlich zugestimmt. Es waren in merkwürdiger Verschlingung politische, seelsorgerliche und prinzipielle xMotive, die ihm solche Zustimmung abrangen. Politische: im Augenblick, da die wichtigsten Entscheidungen bevorstanden, wollte er den politisch bedeutendsten protestantischen Fürsten nicht zur Verzweiflung und damit in das feindliche Lager treiben; drohte doch der Landgraf, falls die protestantischen Theologen versagten, an den Kaiser zu gehn, um sich durch seine Vermittlung päpstlichen Dispens zu verschaffen. Seelsorgerliche Motive: den Seelsorger Bucer jammerte die Gewissensnot des Fürsten. Es habe ihn „nichts härteres gedrückt und zur Dispensation getrieben, als daß der Landgraf in keinem bösen Gewissen wäre". Endlich Erwägungen grundsätzlicher Art: Bucers Biblizismus, zumal seine Gleichstellung des Alten Testaments mit dem Neuen, hat in diesem Punkte, wie bei dem frühern Luther, das schlichte evangelisch-sittliche Empfinden verdunkelt. Er vermochte etwas, das Gott den Erzvätern gestattet, nicht für schwere Sünde zu halten, er hat auch später betont, er wisse „kein Gotteswort, das dieses Tun verdamme". So beging er in gutem Glauben wohl den schwersten Fehler, den er je begangen, und vermochte auch die Wittenberger zur Zustimmung, die Luther als einen geheimen Beichtdispens aufgefaßt wissen wollte. Die Schuld rächte sich sofort, als das Geheimnis ruchbar wurde. Es ist im Grunde noch der erfreulichste Zug an dem traurigen Handel, daß der von seinem guten Recht ehrlich überzeugte Landgraf nun einfach seinen Schritt als Gottes Willen gemäß vor aller Welt rechtfertigen wollte. Darob erschraken die Theologen,

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VI. Der protestantische Politiker.

die sich in der unmöglichen Lage befanden, etwas zugelassen zu haben, das sie nicht als allgemeingültig zu vertreten willens waren. Diese erste Schuld trieb sie in die zweite hinein, nicht bloß Geheimhaltung, sondern Ableugnung der Sache durch zum mindesten sehr gewundene Erklärungen zu verlangen. Vor allem aber: auf Doppelehe stand die Todesstrafe. Konnte es einen willkommeneren Vorwand für den Kaiser geben, gegen seinen gefährlichsten Feind vorzugehen? Und da der, durch Philipps Tat in seiner Familienehre gekränkte sächsische Kurfürst soviel politische Einsicht nicht aufbringen konnte, ein etwaiges Vorgehen des Kaisers gegen den Landgrafen als gegen den Gesamtbund gerichtet zu erklären, so sah sich Philipp, im Gefühl seiner Verlassenheit und der Gefährlichkeit seiner Lage, darauf gewiesen, sich irgendwie mit dem Kaiser zu verständigen. Damit ward diese Sache dem deutschen Protestantismus zum Verhängnis. Zunächst wirkte diese Konstellation in andrer Weise auf die politische Lage. Philipp wünschte dringend, sich dem Kaiser zu nähern; seinen Glauben wollte er darum unter keinen Umständen preisgeben. So mußte er nun doppelt darauf hinarbeiten, nicht bloß, daß die Religionsfrage beglichen, sondern daß sie Hand in Hand mit dem Kaiser beglichen werde. Er war es nun, der Bucer trieb, zu der kaiserlichen Partei in Beziehungen zu treten. Und seinerseits benutzte nun auch die macchiavellistische Politik des kaiserlichen Ministers Granvella den Gedanken der Religionsvergleichung, um den Landgrafen mit dem Kaiser zusammenzubringen und damit politisch seiner Herr zu werden. Welch schwierige Aufgaben damit Bucer erwuchsen, sollte sich sofort in Worms zeigen. Er gehörte hier zu den Straßburger Abgeordneten, während die hessischen genau nach seinem Gutachten an den Landgrafen instruiert waren. Während formaler Hindernisse wegen das offizielle Religionsgespräch immer nicht in Gang kommen wollte, entbot Granvella, in kluger Berechnung der Stimmung des Landgrafen, Bucer und Capito zu geheimen Verhandlungen mit zwei Theologen der Gegenseite, dem Kölner Domherrn Gropper und dem kaiserlichen Sekretär Veltwyck. Daß er sich damit auf gefährlichen Boden begab, fühlte Bucer wohl; es habe sie beide, bemerkt er, „das Gewissen sehr gedrückt, daß

Politische Folgen der Doppelehe. Worms. Regensburg.

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sie mit diesem Qespräche nicht dem Teufel dienten, da sie meinten Christo zu dienen". Aber er kannte den Wunsch des Landgrafen; er kannte Oropper, der in Hagenau selbst mit ihm angeknüpft hatte. Sollte sich aus einem Qespräch mit zwei „Verständigen des Gegenteils" nicht doch ein positives Resultat ergeben? So willigte er, trotz seines Mißtrauens gegen Granvella, in die angebotene Verhandlung, zu der er sich von dem ständig auf dem Laufenden gehaltenen Landgrafen formellen Auftrag geben ließ. Da Oropper und Veltwyck nicht den strengen Katholizismus vertraten, kam man in manchem, z. B. grade im Artikel von der Rechtfertigung, „nahe zusammen". Schließlich wurden, zumeist durch Veltwyck, Artikel aufgesetzt, das später sogenannte Regensburger Buch. Sie hielten sich in der Hauptsache auf der Linie eines abgemilderten Katholizismus; aber Bucer, und mit ihm der Landgraf, hielten sie wenigstens für eine geeignete Qrundlage zu weiteren Verhandlungen. Als dies erreicht war, ließ der Kaiser das kaum begonnene öffentliche Religionsgespräch abbrechen; zu Regensburg auf dem Reichstage sollte es in einigen Wochen seine Fortsetzung finden. So fand sich Bucer im März 41 als hessischer Abgeordneter auf dem Reichstag ein. Der Augenblick schien günstig. Der Kaiser, politisch in schwieriger Lage, wünschte den Frieden in Deutschland und stellte sich aus diesem Grunde als einer Religionsvergleichung geneigt. Als päpstlicher Legat der edle Kardinal Contarini; als Kollokutoren kaiserlicher Ernennung Melanchthon, Bucer, der Hesse Pistorius, ihnen gegenüber neben dem alten Klopffechter Eck der gemäßigte Gropper, der friedfertige Pflug, beide so vermittelnd auftretend, daß sie Eck, den übrigens auch Krankheit zum Ausscheiden zwang, direkt verleugneten. Als Grundlage der Verhandlungen die Wormser Artikel, von deren Entstehung nur die wenigen Eingeweihten wußten. Tatsächlich ward auch wenigstens ein Teilerfolg erreicht. Nach langen Verhandlungen war über fünf Hauptartikel eine Einigung erzielt; ihr wichtigster der Artikel von der Rechtfertigung, der eine Verbindung der protestantischen und der katholischen Lehre unter Vorwiegen der ersteren darstellte. Bucer konnte ihm um so eher zustimmen, als seine eigne Auffassung der Recht-

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VI. Der protestantische Politiker.

fertigung sich auf dieser Linie bewegte. Über alle andern Artikel gelang immer nur eine teilweise Verständigung; denn es türmten sich natürlich bei der Lehre von der Kirche und den Sakramenten unüberwindliche Schwierigkeiten. Aber Bucer war der Ansicht, daß in dem Verglichenen die ganze „Summe des Christentums" enthalten sei, und daß schon durch die Annahme der vereinbarten Artikel der allgemeinen Reform der Weg geebnet werden würde. Noch eine weitre Genugtuung war ihm beschieden. Die protestantischen Stände überreichten offiziell je ein Gutachten Melanchthons und Bucers über die „abzustellenden Mißbräuche". Des letztern Bedenken ist ein vollkommener Reformationsentwurf nach den oben mitgeteilten großen Gesichtspunkten: Allgemeine Annahme der verglichenen Artikel; Abendmahlsfeier und Gestattung der Priesterehe wie in der alten Kirche; Verwendung des Kirchenguts und Berufung von geistlich lebenden Geistlichen gemäß den alten Canones; Trennung des geistlichen Amtes von politischer Gewalt; Umgestaltung der Bistümer und Domkapitel; vor allem Wiederaufrichtung der kirchlichen Disziplin. So mußte es Bucer als einen Sieg seiner Ideen empfinden, daß der Kaiser nun vorschlug, die vereinbarten Artikel als gemeinsame Lehre im Reich proklamieren zu lassen. Dies Vorhaben scheiterte indes an dem Widerspruch der Fürstenkammer, worauf der Kaiser, die Religionsvergleichung auf ein allgemeines oder deutsches Konzil aufschiebend, die Protestanten auf anderm Wege zufrieden zu stellen unternahm. Die bedeutenden Augenblicksvorteile, die er ihnen bewilligte, wurden mehr als aufgewogen durch ein Geheimabkommen mit dem Landgrafen, in dem er diesem, gegen das Versprechen, kein Bündnis mit auswärtigen Mächten noch mit Cleve einzugehen, Sicherheit und Huld gewährte. Der Landgraf war sich bewußt, nach wie vor treu zu seinem evangelischen Glauben zu stehen; er wollte nicht sehen, daß er zu einem Diener der kaiserlichen Politik geworden war und den Schmalkaldischen Bund, dessen Glied er blieb, lahmgelegt hatte. Die Regensburger Tage sind für Bucer eine Zeit gewaltigster Spannung gewesen. Er wollte eine Gelegenheit nützen, die sich so vielleicht nimmer bieten würde. Er war in fieberhafter Erregung: totus ardet studio concordiae, berichtet Calvin, der als Straßburger

Bucers Haltung in Regensbnrg 1541.

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Abgeordneter zugegen war. Ihm kam es ausschließlich auf eine Vereinbarung in den Hauptpunkten an. Er war außer sich (fremere et indignari), daß sekundäre Fragen angeschnitten wurden, die unlösbare Schwierigkeiten boten. Während Melanchthon eher dazu neigte, durch scharfe Formulierungen aussichtslose Unterhandlungen abzuschneiden, wollte Bucer, um sein Hauptziel zu erreichen, die Differenzen in gewundenen Sätzen begraben. Es war gewiß ein gefährlicher Weg, den er betrat, und er hatte damals zu dem guten Willen des Kaisers und der Gegenpartei zu sanguinisches Vertrauen. Aber die alsbald auftauchenden Verdächtigungen, als wolle er die protestantische Position zum Teil preisgeben, taten ihm schweres Unrecht: „das ist mir Qottlob nie in den Sinn kommen, daß man sollte um Vergleichung willen der Kirchen einige Wahrheit Christi verdunkeln". Allen Mißdeutungen gegenüber versichert Calvin, der weitaus schärfste Beobachter, Bucer sei von bester Qesinnung und suche nichts andres als den Fortschritt des Reiches Christi; aber weil er ein gutes Gewissen habe, gehe er zu sicher seines Wegs, ohne die schuldige Rücksicht auf die Ansicht der andern, was ihm viel Mißgunst zuziehe. Man wird solcher Kirchenpolitik, die, wie oben gezeigt, einen Teil der katholischen Stände von der päpstlichen Partei abzudrängen und auf den Weg der Reform zu bringen bezweckte, wenigstens das Zeugnis nicht versagen können, daß sie großzügig war und sich das höchste Ziel steckte. Sie schien auch dadurch ihre Sanktion zu empfangen, daß der größte Teil der Stände die Annahme der verglichenen Artikel wünschte. Darum hielt Bucer trotz der zu Regensburg erfahrenen Enttäuschung an diesen Gedanken fest, ja er begann jetzt erst recht, sie in unermüdlicher publizistischer Tätigkeit immer aufs neue in die Öffentlichkeit zu werfen und gegen alle Angriffe zu verteidigen. — Kaum hatte er zwei umfangreiche Schriften über die Regensburger Tagung fertiggestellt, so trat eine neue, weitausschauende Aufgabe an ihn heran. Der greise Kurfürsterzbischof von Köln, Hermann von Wied, ein Mann von grader und schlicht ehrlicher Art, der im Verlaufe seiner zunächst die Herstellung der alten Zucht bezweckenden Maßnahmen zu evangelischen Überzeugungen gekommen war, plante eine Reform auf evangelischer Grundlage,

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doch unter möglichster Schonung der bestehenden Institutionen. Die Ideen, die er in den letzten Jahren vertreten, mußten Bucer als den hierfür gewiesenen Mann erscheinen lassen. Schon in Hagenau hatte Hermann durch seinen Theologen Qropper mit ihm Fühlung gesucht. Nun hatten Bucer und Qropper zu Worms und zu Regensburg zusammengearbeitet, und nicht ohne Erfolg. So mußte sich Bucers Berufung doppelt nahelegen. Sie erfolgte im Herbst 42, nachdem Bucer schon im Februar einige Wochen am Hoflager des Kurfürsten in Buschhoven geweilt hatte. Ob er wohl überlastet war, zögerte der Straßburger Prediger nicht, sich zur Verfügung zu stellen. Denn von wie entscheidender Bedeutung mußte es werden, einen geistlichen Kurfürsten auf die evangelische Seite zu ziehen und in Köln, mit dem festesten Bollwerke des alten Qlaubens, die Reformation durchzuführen! Und weit mehr noch: der angrenzende Herzog Wilhelm von JülichCleve plante in dieser Sache gemeinsam mit dem Kurfürsten vorzugehen, zu dessen Sprengel er gehörte; der Bischof von Münster beabsichtigte, zunächst in Minden und Osnabrück die Reform einzuführen; bald sollte er auch seinerseits Bucer berufen, auf den ihn der Landgraf gewiesen; endlich hatte auch Erasmus von Limburg, der vor Jahresfrist neugewählte Bischof von Straßburg, Bucer und Hedio berufen wollen, da er durch Einführung der Rechtfertigungslehre, der altkirchlichen Abendmahlsfeier und der Priesterehe — ein Niederschlag Bucer'scher Gedanken — die Reform in seinem Gebiet zu beginnen plante. Gelang die Durchführung der Reformation in Kurköln, so folgte Jülich-Cleve, es folgten die geistlichen Gebiete Paderborn, Minden, Osnabrück, Münster, es folgte vielleicht das Bistum Straßburg. Welche Aussichten für den Protestantismus; welche Aussichten insonderheit für Bucer, dessen Gedanken über die Umwandlung der Bistümer und Stifter damit von aktuellster Bedeutung wurden! Über Hessen reisend, traf er Mitte Dezember 42 in Bonn ein. Der Kurfürst wollte mit der reinen Predigt des Gotteswortes begonnen wissen. So predigte Bucer allsonntäglich und dreimal in der Woche im Bonner Münster, die drei übrigen Tage hielt er eine neutestamentliche Vorlesung; später hat er zeitweilig bis zu zweimal täglich gepredigt. Wie schwierig die Lage war, trat rasch zutage.

Bucers Wirken in Kurköln. Cleve'sche Katastrophe.

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Das mächtige Kölner Domkapitel ward die Seele des Widerstandes, Gropper, der Inhaber unzähliger Pfründen, plötzlich umgewandelt, der erbittertste Qegner; es regnete Angriffe und Verdächtigungen. Daß die weltlichen Stände auf des Kurfürsten Seite traten, in manchen Orten evangelische Predigt begehrt wurde, gab trotzdem zu guten Hoffnungen Anlaß. „Reiche Ernte, wenig Arbeiter, viele Feinde", schreibt Bucer. Er ließ Hedio aus Straßburg, Pistorius aus Hessen kommen, er setzte insonderheit die Berufung Melanchthons durch, der im Mai 43 eintraf. Gemeinschaftlich arbeiteten die beiden Männer, die hier eine enge persönliche Gemeinschaft eingingen, das umfängliche Reformationsbedenken aus, das in des Kurfürsten Namen den Ständen vorzulegen war. In der Lehre durchaus evangelisch, hielt sich diese „Kölner Reformation" nur insofern auf mittlerer Linie, als sie weder Luthers noch des Papstes gedachte, das Domkapitel und die sonstigen Stifter nicht antastete und sogar den geistlichen Charakter der Kapitularen wahrte. Und wieder standen auf dem im Juli gehaltenen Reformationslandtag die weltlichen Stände durchaus auf Seiten des Kurfürsten und wollten so wenig wie dieser von der durch das Domkapitel verlangten Abberufung Bucers wissen. Befriedigt konnte Melanchthon abreisen; die Aussichten schienen günstig. Nun aber zog ein erstes schweres Gewitter herauf. In JülichCleve lag der schwarze Punkt der politischen Lage. Herzog Wilhelm hatte 1538 von dem erledigten Herzogtum Geldern Besitz ergriffen; auf Geldern aber erhob auch der Kaiser Erbansprüche. Mit Notwendigkeit mußte es hierüber zur Auseinandersetzung kommen, und gefährlicher als irgendwo sonst verband sich hier mit der politischen die kirchliche Frage, da Karl die Ketzerei von seinen an Geldern angrenzenden burgundischen Erblanden fernhalten wollte. Daß unter diesen Umständen die energische Unterstützung Cleves für die politische Stellung wie für die Verbreitung des Protestantismus von entscheidender Bedeutung sei, hatte Bucer seit Jahren immer und immer wieder betont. Nun war es der Landgraf, der seinem Geheimabkommen entsprechend die Aufnahme des Herzogs Wilhelm in den Bund wie seine entschlossene Unterstützung ablehnen und damit zum Bundesgenossen des Kaisers werden mußte. Denn in der Erkenntnis, daß die in Aussicht

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stehende kirchliche Aktion seine Stellung am Niederrhein gefährden mußte, führte derselbe jetzt einen ersten entscheidenden Schlag. Zum erstenmal zog er in Deutschland ein gewaltiges Heer zusammen. Mitte August lagerten 40000 Mann bei Bonn; mitten im Frieden verheerten Spanier und Italiener das ketzerisch durchseuchte Land, als wäre es Feindesland. Schon nach wenigen Wochen mußte der besiegte Herzog Wilhelm fußfällig um Qnade flehen, Geldern abtreten und jeder kirchlichen Reform im eigenen Lande entsagen. Als Bucer im September 43 über Hessen wieder nach Hause zog, hatte sich in Kurköln scheinbar noch nichts zum schlimmem gewandt. Der Kaiser hatte lediglich abgemahnt, und andre Prediger setzten Bucers Werk fort. Aber wie verwandelt war die Lage: die Reformation in Cleve gescheitert, in Kurköln bedroht, die Reformlust der Bischöfe von Münster und Straßburg durch das vom Kaiser statuierte Exempel gelähmt! Und mit welcher Leichtigkeit hatte der Kaiser einen Hauptgegner isolieren und vernichten können, ohne daß eine protestantische Macht sich geregt hätte. Damit mußte die Niederwerfung Cleves in seinen Augen zum ersten Akt der Bezwingung des deutschen Protestantismus werden; nicht umsonst war er in diesem Kriege zum erstenmal mit der Qeste des Imperators aufgetreten. Bucer, der das schwere Wetter aus der Nähe hatte beobachten können, war vielleicht der einzige, der sich über dessen volle Tragweite klar war: Unser Haus ist geborsten und klafft und droht stündlich den Einsturz; von unsern Fürsten denkt, den Landgrafen ausgenommen, jeder nur an sich; um die Städte kümmert man sich nicht, und die Städte verdirbt der Kaufmannsgeist! Wahrhaft erschütternd in ihrer Trostlosigkeit wirkt seine Schilderung der politischen Lage in seinem Brief an Bullinger: Deutschlands Untergang steht bevor, lautet die Schlußfolgerung, die sich ihm aufzwingt. Aber nur um so eifriger warb er darum für den Gedanken der Religionsvergleichung; nur um so dringender wurden seine Briefe an den Landgrafen, dem er angesichts des bevorstehenden Speyrer Reichstags aufs neue eine ausführliche kirchenpolitische Denkschrift überreichte. Auf Bitten des Kurfürsten Hermann war er im Frühjahr 44 in Speyer auch persönlich anwesend. Hier mußte freilich der Kaiser wieder ganz anders auftreten als vor Jahresfrist:

Bucer fiber die politische Lage. Neuer Abendmahlsstreit.

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der Krieg mit Frankreich stand bevor, er brauchte die Hilfe der deutschen Protestanten. Es war die letzte große Gelegenheit, die diese verpaßten. So bedeutende Zugeständnisse sie auch erreichten, wider den Willen der Städte machten die Fürsten ihre Hilfe gegen Frankreich nicht von der Zusicherung eines festen Religionsfriedens abhängig. Einen erträglichen Frieden nannte Bucer, was erreicht war; aber vernichtend lautet bald darauf sein Urteil: „Wir haben den König von Frankreich, der bisher unser Freund war, uns zum Feinde, und den Kaiser, unsern wahren Feind, mächtig gemacht; o wir Blinden!" Und damit das Maß voll werde, drohte nun auch der innere, der theologische Zwist wieder auszubrechen. Über den alternden Wittenberger Heros war ein Zustand krankhafter Reizbarkeit und Verbitterung gekommen, der ihn, den Seinen selbst zum Schrecken, weniger denn je seiner Leidenschaftlichkeit Herr werden ließ. Schon im Vorjahre hatte er die Züricher schroff brüskiert und Bucer die größte Not gehabt, Bullinger einigermaßen zu beschwichtigen. Nun ihm von seinem Kurfürsten die „Kölner Reformation" vorgelegt wurde, war er entrüstet über die Art, in der Bucer, „das Klappermaul", die Abendmahlslehre behandelt hatte. Auf Amsdorfs Anstiften bereitete er ein grimmiges Buch vor, in dem er auch Bucer und Melanchthon angreifen wollte; so berichtete letzterer, hinzufügend, er werde dann Wittenberg verlassen. Bucers Lebenswerk, die Konkordie, drohte auseinanderzubrechen. Begreiflich, daß er alles aufbot, dies zu verhindern: er schrieb an Luther und an Melanchthon, er setzte die Straßburger Dreizehn, er setzte vor allem den Landgrafen in Bewegung. Des letztern energische Intervention in Wittenberg erreichte wenigstens dies, daß Luther in seinem „Bekenntnis vom hl. Sakrament", in dem er sich schroffer als je von den Schweizern lossagte, Bucer, Melanchthon und die „Kölner Reformation" aus dem Spiele ließ. In andrer Form kehrte die Gefahr im nächsten Jahre wieder. Auf die entschiedene Gegenwehr der Züricher hin plante Luther eine offizielle, von allen Wittenbergern unterschriebene „gräuliche Verdamnis" der Gegenlehre. Wieder wandte sich Bucer dringend an den Landgrafen, der durch seine Vorstellungen bei der sächsischen Regierung eine Aktion verhinderte, die Melanchthon aus Wittenberg

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vertrieben und den Sakramentsstreit in Deutschland selbst wieder zum Ausbruch gebracht hätte. „Qott verzeihe Luthern und den Ziirchern, daß sie das so gefährliche Feuer so greulich anbrennen", schrieb damals Bucer. Daß Luther mit Gründen nicht umzustimmen sei, wußte er längst. „Suo fertur hic vir impetu, nec retineri se vi vel obnitendo a quodam patitur", schrieb er an Bullinger, den er dringend bat, alle Polemik zu unterlassen. Es bleibe nichts übrig als zu tragen und so viel möglich zu mildern, was man nicht ändern könne; „ita est fatum hujus viri, ita fatum ecclesiae, ita fatum nostrum, miserum profecto et miserandum!" Nichts aber ehrt Bucer mehr, als daß er auch jetzt die religiöse Qröße des Wittenberger Heros, dessen Leidenschaftlichkeit ihm so unendliche Not bereitete, in herrlichen Worten zu preisen wußte: „Seine Lehre unsern Herrn Christum rein und aufs gewaltigste predigt, mehr denn einiges andern auf Erden"; man könne nicht anders, denn ihn als den ersten anerkennen und für ein wunderbares Werkzeug Gottes halten. So urteilte der Mann, der damals im Hinblick auf Wittenberg bekennen mußte: „mein Stern ist des Ortes nicht, und in etlichen Jahren kann nichts so wohl von mir fürbracht werden, man verstehets letz". Das zeigte sich wieder bei dem großen Reformationsgutachten, das Bucer für den kommenden Reichstag ausarbeitete. Es fand in Wittenberg keine Gnade; aber Bucer erlebte die Genugtuung, daß im Frühjahr 45 von den protestantischen Ständen in Worms nicht die „Wittenberger Reformation", sondern der größere Teil seines Gutachtens angenommen wurde. Die Einreichung des Schriftstücks an den Reichstag zerschlug sich. Welche Autorität der Straßburger Prediger grade in kirchenrechtlichen Fragen genoß, zeigte der Umstand, daß 1545 sogar das ferne Hamburg, im Streit mit seinem mächtigen Domkapitel, sein Gutachten über die kirchlichen Rechte des Magistrats erbat. In demselben Jahr ward unter seinem Beistand, in seinem Geiste und unter Zugrundelegung der „Kölner Reformation" in Hanau-Lichtenberg, dem größten weltlichen Gebiete des Unterelsaß, das Reformationswerk begonnen. „Man bereitet uns einen tapfern Krieg", schrieb Bucer im Sommer dieses Jahres. Und jetzt, da die kaiserlichen Mandate gegen

Bucer über Luther. — Die Jahre 45 und 46.

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Kurfürst Hermann ergingen, begann auch der Landgraf aus seiner Vertrauensseligkeit jäh aufzuwachen. Er war plötzlich Feuer und Flamme dafür, dem Kaiser zuvorzukommen und mit bewaffneter Hand die Kölner Streitsache zu entscheiden; Leib, Hab und Qut wollte er für das Evangelium wagen. Bucer beeilte sich, zu versichern, daß man in Straßburg ebenso denke. Um den Schmalkaldischen Bund aktionsfähig zu machen, wollte er bei dem Ernst der Lage dem Landgrafen diktatorische Gewalt übertragen wissen. Aber über schwächliche Ansätze kam man auf der Frankfurter Versammlung nicht hinaus; die Kölner Angelegenheit wurde verschleppt. Zu Anfang 46 fand in Regensburg wieder ein Religionsgespräch statt. Noch einmal mußte Bucer als hessischer Abgeordneter die Hauptrolle spielen; aber Persönlichkeit und Kampfesart der katholischen Kollokutoren waren derart, daß man von evangelischer Seite schließlich das Qespräch abbrechen mußte. Der Kaiser hatte die ganze Sache nur agieren lassen, um die Protestanten in Sicherheit zu wiegen; man stand vor dem Religionskriege. Wieder schließt damit eine Periode in Bucers Leben. Sie hatte ihn zum Manne der großen kirchenpolitischen Pläne und Aktionen gemacht. Was politische Begabung und Blick und Einsetzung aller Kraft für die allgemeinen Aufgaben des Protestantismus betrifft, hatte Deutschland keinen Theologen, der in dem Maße der Mann der Situation gewesen wäre. Undankbar genug war freilich seine Arbeit und schwierig seine Stellung. Katholische Polemiker, unter ihnen solche der niedersten Sorte, richteten einen Hagel von Qeschossen auf den Mann, der gerade durch seine entgegenkommende Art als der gefährlichste Verführer erschien; seine Ehre ward angegriffen, selbst seine Ehe in den Schmutz gezogen. Bei dem Kaiser, der ihm in Regensburg freundlich die Hand gereicht hatte, war er seit seinem Wirken in Kurköln in höchster Ungnade. Luther war seit den Regensburger Tagen wieder voller Mißtrauen gegen ihn, und voller Mißtrauen blieb, allen Versuchen zum Trotz, auch Bullinger; der Züricher konnte dem Straßburger die Preisgabe der Zwinglischen Tradition nicht verzeihen. Nahe verbunden war ihm dagegen, insonderheit A n r i e h , Bucer

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VI. Der protestantische Politiker.

seit den Kölner Tagen, nunmehr Melanchthon. Wichtiger noch ist, daß Calvin, der ihn genau kannte, nicht bloß an der Lauterkeit seiner Qesinnung, sondern ebenso an seiner evangelischen Standhaftigkeit nie gezweifelt hat. Die eigentliche Tragik von Bucers Wirken liegt tiefer als in diesen Anfeindungen und Mißdeutungen. Es war eine protestantische Idealpolitik großen Stils, der er das Wort redete. Er verlangte eine Politik, der es selbstverständliche Pflicht wäre, jedem um des Glaubens willen bedrängten Reichsstand tatkräftig beizuspringen, er sei Bundesmitglied oder nicht; eine Politik, die es als innere Nötigung empfände, für die allgemeine Durchführung der Reformation einzutreten, durch internationale Verbindungen in und außerhalb der Grenzen des Reichs dem Evangelium den Weg zu bahnen. Denn wenn grade Bucer in diesen Jahren einer politischen Verbindung der Schmalkaldner mit Frankreich und England immer wieder das Wort geredet hat, so wollte er damit einerseits den deutschen Protestantismus zu einer Macht werden lassen, die den Frieden erzwingen und die Schwankenden herüberziehen könnte, andrerseits die fremden Regierungen der Reformbewegung geneigter machen und dadurch den evangelischen Parteien in Frankreich und England Luft schaffen. Nicht als ob er je zum Kriege gedrängt hätte; er war im Gegenteil überzeugt, daß eine wirklich feste und entschlossene Haltung am sichersten eine friedliche Verständigung herbeiführen werde. Und schon daß ihm der Kaiser die gottgesetzte höchste, wenn auch nicht absolute, Obrigkeit blieb, ließ ihn eine solche Verständigung wünschen. Aber er verlangte allerdings eine Politik, die entschlossen wäre, auch Gut und Blut für das Evangelium einzusetzen. Denn nicht eigne Sicherung, sondern Verbreitung des Reiches Christi war ihm das höchste Ziel. Das „equidem hoc unum contendo, ut regnum Christi quam latissime obtineat" gilt grade auch für den Politiker Bucer. Als Mittel aber, solche Ziele zu verwirklichen, stand ein Bund von Fürsten und Städten auf dem Plane, dessen Glieder einig waren nur in dem Wunsche, den eignen religiösen Besitzstand zu wahren, im übrigen aber durch die widerstrebendsten Interessen nach entgegengesetzten Richtungen getrieben wurden; ein Bund, der schon durch seine schwerfällige Organisation gelähmt war,

Bucen Politik nach Ziel, Motiven und Durchführbarkeit.

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in dem die staatsmännische Weisheit eines Jakob Sturm nie entscheidend durchdringen konnte; ein Bund, dessen beide Häupter, der Kurfürst von Sachsen und der Landgraf von Hessen, so ungleich waren, daß sie stets uneins sein mußten. Eine irgend großzügige Politik war bei solchen Verhältnissen eine Unmöglichkeit. Überhaupt aber: war, wie die Dinge lagen, protestantische Idealpolitik in der Folgerichtigkeit, in der Bucer sie verlangte, politisch möglich? Konnte die protestantische Idee diese ihrer inneren Struktur nach so ungleichen Reichsstände zu einem Ganzen zusammenschmelzen, das nur von dem einen heroischen, unwiderstehlichen Willen beseelt gewesen wäre, unter Einsatz der eignen Existenz in gefährlicher internationaler Politik der Verbreitung des Reiches Christi zu dienen? Mußten da nicht die ganz verschiedene Art der Fürstenstaaten und der Reichsstädte, die hundert dynastischen, territorialen, merkantilen Einzelinteressen, das trotz allem lebendig bleibende Qefühl der Ehrfurcht vor dem Kaiser als dem Haupte des heiligen römischen Reiches und nicht zuletzt der jedem Staatsgebilde von Natur innewohnende Selbsterhaltungstrieb zu starke Hemmungsmomente bilden? Wollte doch selbst ein Jakob Sturm von einem Bunde mit Cleve als einer zu gefährlichen Sache nichts wissen! Hier lagen Probleme, deren ganze Tragik erst die Zeit des Religionskrieges offenbaren sollte.

BONNER / MUN5TER

VII. Die letzten Jahre. Quo crudelius afflicta ejus fama et vexata fuit, eo certe erit illustrior et commendatior hominum memoriae sempiternae. Die Universität Cambridge an Erzbischof Parker, 1560.

Auch die Verhältnisse der heimischen Kirche haben Bucer in diesen Jahren der allgemeinen Aktionen Arbeit und Sorge bereitet. Wohl waren Kirche und Schule organisiert. Aber die Qewinnung der nötigen Kräfte war nicht leicht, und der Versuch, das Gewonnene fester zu begründen, ließ neue Schwierigkeiten hervortreten, künftige Kämpfe sich ankündigen. Als Bucer im August 41 nach einem an Hoffnungen, Aufregungen und Enttäuschungen überreichen halbjährigen Aufenthalt in Regensburg nach Hause kehrte, kamen schwere Zeiten über ihn. Capito war krank. Calvin verließ Straßburg, der dringenden Bitte der Qenfer endlich willfahrend; „von Melanchthon abgesehen, haben wir seinesgleichen nicht", schrieb damals Bucer im Bewußtsein der Größe des Verlustes. Er wollte fast zusammenbrechen unter der Last der Arbeit, die sich jetzt auf ihn türmte. Und nun brach noch die Pest mit Macht herein, über die ganze Stadt, über das eigne Haus. Sie raffte drei seiner Kinder hin, riß ihm die treue Gattin von der Seite. Fast gleichzeitig sank Capito ins Grab, „sanctissimum caput nostrum". Vielfach krank und zur Schwermut neigend, war Capito in seinen letzten Jahren vor allem der treue Gemeindepfarrer gewesen. Den Frieden der Kirche ersehnend, hatte er sich, obwohl selbst der Schweizer Auffassung näher stehend, den Gesichtspunkten des ihm eng verbundenen Bucer angeschlossen; in Augsburg, in den Konkordienverhandlungen, zuletzt in Worms

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VII. Die letzten Jahre.

hatte er mit ihm und in seinem Sinne gearbeitet. Sterbend hatte er den Freund um den Liebesdienst gebeten, seine Gattin, die Baslerin Wibrand Rosenblatt, die er als Witwe Oecolampads auf Bucers Betreiben geheiratet hatte, zur Frau zu nehmen, damit seine Kinder einen Vater hätten; und sterbend hatte Bucers Gattin am Abend nach Capitos Begräbnis der Witwe denselben Wunsch ans Herz gelegt. Im folgenden Frühjahr ward die Ehe geschlossen, und Bucer, den das Heimweh nach der Entschlafenen nicht verließ, fand an der zweiten Gattin nur auszusetzen, daß sie sich um ihn allzu besorgt zeige. Längst war Bucer das wirkliche Haupt der Straßburger Geistlichkeit gewesen; mit Capitos Tode rückte er auch äußerlich in die erste Stelle. Der Magistrat erkannte dies dadurch an, daß er nach dem Vorgang andrer Kirchen die Würde des Superintendenten schuf und Bucer übertrug. Gleichzeitig erhielt er die durch den Tod des Freundes erledigte Stelle im Thomaskapitel, zu dessen Dekan er im Jahre 44 aufrückte; von der Reform des Kapitels, die er in die Wege leitete, war bereits die Rede. Für Capito und Calvin Ersatz zu finden, hielt schwer. Von Bedeutung war neben Bucer nur Hedio; Zell begann von Kräften zu kommen; mit Ausnahme Lenglins fand Bucer die Prediger ihrer Aufgabe nicht sonderlich gewachsen. Zunächst gelang ihm 1542, Petrus Martyr Vermigli, den bedeutendsten und gelehrtesten der italienischen Protestanten, der um seines Glaubens willen die Heimat verlassen hatte, für eine theologische Professur zu gewinnen; bald verband innige Freundschaft die auch in ihren theologischen Anschauungen einander nahestehenden Männer. Erst im Herbst 44 traf Paul Fagius ein, um dessen Besitz Bucer einen zweijährigen Kampf mit den Konstanzern geführt hatte; gleich trefflich als Prediger wie als Gelehrter, ward er Capitos Nachfolger an Jungst. Peter und in der hebräischen Professur und der eifrigste Mitarbeiter Bucers in kirchlichen Dingen. Im folgenden Jahre endlich erschien, erst vierundzwanzigjährig, Johannes Marbach. Grade weil er nach dem Besuch der Straßburger Schule in Wittenberg als Luthers Hausgenosse seine letzte Ausbildung empfangen, nahm ihn Bucer mit offenen Armen auf, ließ ihn auch sofort mit theologischen Vorlesungen betrauen.

Neue Mitarbeiter.

Der Kampf um die Kirchenzucht.

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Bucers Absehn war in diesen Jahren in erster Linie auf weiteren Ausbau der Kirche gerichtet. Was durch die Kirchenordnung von 33/34 erreicht war, genügte ihm nicht. Es entsprach nur seiner theologischen Entwicklung, wenn er eine Kirche erstrebte, die sich als geschlossener Organismus nach eignen gottgegebenen Ordnungen betätigen könne. Nicht als ob er darum das obrigkeitliche Kirchenregiment im Prinzip angetastet hätte. Aber sollte auch die Obrigkeit das Kirchenwesen aufrichten und seine äußern Verhältnisse ordnen, so schien ihm eine gewisse Selbständigkeit der Kirche in ihrer besonderen Sphäre in der Idee der Kirche selbst zu liegen. Bezeichnend ist, daß er sich, um seinen Auftrag auch von der Kirche zu haben, von seinen eignen Amtsgenossen nochmals zum Superintendenten wählen ließ. Die drei obrigkeitlich bestellten Kirchenpfleger, wie sie die Kirchenordnung für jede Gemeinde vorsah, stellten ihm eine heillose Verquickung von obrigkeitlicher und kirchlicher Regierung dar, die sich schlecht bewährt habe. Er wollte Alteste, die ihren Auftrag von der Qemeinde hätten. Aber seine Vorschläge blieben auf dem Papier. Was er aber vor allen Dingen erstrebte, war die Aufrichtung kirchlicher Disziplin. In allen Qutachten, Bedenken und Eingaben, in seiner Publizistik wie in seiner Korrespondenz, immer und überall steht dieser Qedanke im Mittelpunkt: Keine wahre Kirche ohne Disziplin; ohne Disziplin keine Reinheit des Glauben, kein sittlicher Fortschritt, kein Zusammenhalt der Gemeinde. Nicht eine möglichst rigorose Handhabung des Kirchenbannes war ihm dabei die Hauptsache. Er dachte sich die kirchliche Zuchtübung in erster Linie als eine seelsorgerliche und erzieherische Einrichtung, durch die die Gemeinde dem einzelnen und der einzelne der Gemeinde gegenüber sich ihrer Verantwortung bewußt, lebendige Gemeinden geschaffen würden. Aber so oft auch Bucer und so oft die Prediger in diesem Sinne vorstellig wurden, der Magistrat war für diese Vorschläge nicht zu haben, höchstens daß er sich zuletzt zu einigen Zugeständnissen bequemte. Er befürchtete eine Schmälerung der eigenen Rechte, er hegte namentlich die Besorgnis, die Sache würde zur Aufrichtung eines „neuen Papsttums" führen. Die Besorgnis war nicht unbegründet. Denn es hätte Geistliche und Älteste von dem hohen und milden Sinn, der Autorität und der seelsorgerlichen

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VII. Die letzten Jahre.

Weisheit eines Bucer bedurft, um dies Ideal segensreich zu verwirklichen. Bei der Bedeutung aber, die Bucer der Kirchenzucht beilegte, ergaben sich aus ihrer Abweisung durch den Rat allerlei Spannungen. Denn auch Jakob Sturm, der hier nüchterner und klarer empfand, weil er als Laie und Staatsmann die Frage vom Standpunkte des christlichen Qemeinwesens, nicht von dem eines am Urchristentum orientierten Kirchenideals betrachtete, stand in dieser Beziehung nicht auf Seiten Bucers. Und wie es ob dieses Punktes zwischen den beiden Männern zu einer gewissen Entfremdung kam, so gab es überhaupt, begreiflicherweise namentlich in den Patrizierkreisen, nicht wenige, die Bucer dieser seiner Bestrebungen wegen gram wurden, wie denn auch das Volk strenge Erlasse des Magistrats auf seinen Einfluß zurückführte. Bucer seinerseits ließ sich zu überaus pessimistischen Urteilen verleiten. Sehr vielen, meinte er, bedeute eben evangelische Freiheit nur Freiheit von jedem Qesetz, epikuräische Zügellosigkeit; mehr als einmal sprach er aus: wir haben uns der Qnade Qottes unwert erwiesen. — So kam das Jahr 46 heran, in dessen Mitte plötzlich klar wurde, daß man vor dem Religionskrieg stehe. Nochmals flammte überall die protestantische Begeisterung auf; in kurzer Zeit stand ein gewaltiges Heer auf dem Plan. „Tempus justae probationis", schrieb Bucer. Wohl hatte er gute Hoffnung; doch wollte ihn manchmal übermächtig die Angst befallen im Hinblick auf alle begangene Schuld wie auf die Führer des Bundes. Nur zu schnell bestätigten sich diese trüben Ahnungen. Die Kriegführung der Schmalkaldner war eine Kette von verpaßten Qelegenheiten. Ende November erfolgte die Auflösung des Hauptheeres; ganz SUddeutschland stand dem Kaiser offen. Von den Fürsten im Stich gelassen, zogen die schwäbischen Städte unrühmliche Unterwerfung dem Wagnis des Widerstandes vor; der Kaufmannsgeist, den Bucer so oft gebrandmarkt, gab dabei vielfach den Ausschlag. Ulm machte im Dezember den Anfang; es folgten Heilbronn, Hall, Eßlingen, Augsburg, Frankfurt; es folgte Ulrich von Württemberg. In Straßburg blieb man länger tapfer. Man wollte insonderheit keinen Frieden, der einen Verrat an der Religion

Schmaikaldiscfaer Krieg. Reichstag zu Augsburg.

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oder am Bunde darstelle; „lieber das Äußerste wagen, als sich dem Leviathan ergeben", schrieb Bucer Anfang Februar. Man faßte die Möglichkeit einer Belagerung ins Auge, man knüpfte Verhandlungen mit Frankreich an. Erst als auch der Landgraf dem Friedensschluß sich geneigt zeigte, beschritt der Magistrat diesen Weg. Es war Jakob Sturm selbst, der das Opfer brachte, am 21. März in Nördlingen vor dem Kaiser den Fußfall zu tun. Nach der Unterwerfung Ulrichs und der schwäbischen Städte und bei der Untätigkeit des Landgrafen war es in der Tat eine politische Notwendigkeit, einen nur halbwegs günstigen Frieden anzunehmen. Und aus Furcht, die Stadt sonst an Frankreichs Seite zu treiben, gewährte der Kaiser milde Bedingungen; er versprach, die Stadt in ihren bisherigen Rechten zu erhalten. Daß jeder Widerstand aussichtslos gewesen wäre, offenbarten die Ereignisse in Mitteldeutschland: im April die Gefangennahme des Kurfürsten von Sachsen nach der Niederlage von Mühlberg, im Juni die des arglosen Landgrafen. Schon im Februar hatte Hermann von Wied, seinem Glauben treu bleibend, auf das Kurfürstentum Köln Verzicht geleistet; das dort von Bucer so verheißungsvoll begonnene Reformationswerk war damit endgültig gescheitert. Bucer beurteilte diesen Ausgang als Gottesgericht. Seit Jahren, meinte er, sei weder in Sachen der Religion noch des Staatswohles wirklicher Ernst bewiesen worden. Es mochte eine Angelegenheit noch so gerecht, noch so dringend sein, man ließ sie liegen. Jeder suchte möglichst wenig zu leisten und möglichst viel zu profitieren. Und wo ist denn im Kriege wirklich alles eingesetzt worden pro aris et focis? Und schlimmeres stand bevor als die der Stadt auferlegte Geldbuße. Am 1. September 47 ward in Augsburg der „geharnischte Reichstag" mit der Erklärung des Kaisers eröffnet, er sei entschlossen, die Wirren in der Religion zum Austrag zu bringen. Unter Führung Jakob Sturms verlangten die Städte ein neues Religionsgespräch als Vorbereitung zu einem freien Konzil. Da aber die höhern Stände die Ordnung der Religionsangelegenheiten dem Kaiser anheimstellten, zudem die Städte, deren politische Ohnmacht an den Tag getreten war, zu den gemeinsamen Beratungen nicht mehr zuließen, war für die Protestanten von vornherein wenig zu

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hoffen. Denn der Kaiser ließ nun, nachdem andre Wege nicht zum Ziele geführt, das berüchtigte „Interim" ausarbeiten. Es mußte viel daran liegen, diese kaiserliche Religionsordnung durch den Namen eines hervorragenden protestantischen Theologen zu decken. Wie hätte man da nicht in erster Linie an Bucer denken sollen, der zu solchen Verhandlungen immer am meisten Eifer bewiesen, auf Kompromißformeln, wir sahen warum, am ehesten eingegangen war? So ward er im April 48 durch den Kurfürsten von Brandenburg, der sich in der Rolle des Vermittlers gefiel, unter Billigung des Kaisers insgeheim nach Augsburg berufen. Drei Wochen weilte er in der Herberge des Kurfürsten, die er, da man seinen Einfluß fürchtete, nicht verlassen durfte. W a s hier vorgegangen, ist im einzelnen dunkel. In der Stadt ward mit durchsichtiger Tendenz das Gerücht verbreitet, Bucer habe sich die neue Ordnung bis auf wenige Punkte gefallen lassen; und als das Interim bekannt wurde, waren gewisse Kreise rasch bei der Hand, Bucer der Mitschuld zu bezichtigen. Daß er sich in Verhandlungen eingelassen hat, ist bei seiner Art selbstverständlich; noch liegt ein langes Schreiben vor, in dem er sich mit Pflug, einem der Verfasser des Interims, auseinandersetzt. Man muß ihm durch Versprechungen oder Drohungen aufs äußerste zugesetzt haben. Nur die wenigsten wüßten, berichtet sein Vertrauter Fagius nach seiner Rückkehr, in welcher Not (in quantis angustiis) sich Bucer befunden; Satan habe ihn wunderbar versucht, Qott aber ihm die Kraft und Standhaftigkeit verliehen, sich als sein erlesenes Rüstzeug zu erweisen; das einzelne dem Papier anzuvertrauen, sei zu gefährlich. Und Blaurer versichert Bullinger, wie Unrecht man daran tue, Bucer zu verdächtigen: er hat in Augsburg dem Kurfürsten einen so ehrlichen christlichen Ratschlag gemacht, daß wirs nicht besser könnten. Es sollte nicht lange dauern, bis Bucers Haltung alle bösen Gerüchte Lügen strafte. Erst am 17. Mai ließ der Kaiser durch öffentliche Verlesung des Interims den Schleier lüften. Der Eindruck auf die Gesandten der protestantischen Städte war niederschmetternd. Wohl bot das Interimsbuch eine Rechtfertigungslehre, die evangelisch verstanden werden-konnte, und berücksichtigte auch sonst protestantische Anschauungen; in Wirklichkeit bedeutete es nichts andres als Wieder-

Bucer in Augsburg. Straßburg und das Interim.

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einführung des Katholizismus unter vorläufiger Zulassung von Laienkelch und Priesterehe; überdies wurde es, entgegen der ursprünglichen Absicht, als ein nur für die Protestanten verpflichtendes Lehrgesetz proklamiert. Dabei sahen sich die Städte von den Fürsten im Stich gelassen, die fast alle dem Kaiser zustimmten; und der Kaiser, alle Protestationen ablehnend, jeden Widerspruch als Ungehorsam deutend, forderte drohend Unterwerfung. Welche Lage für Straßburg! Das Interim einführen, hieß das protestantische Kirchentum und damit über kurz oder lang den protestantischen Glauben preisgeben. Dagegen bäumte sich das Gewissen der Bürgerschaft; denn eben in dieser Not trat zutage, mit welcher Treue die große Mehrzahl an ihrer evangelischen Kirche hielt. Aber dem Kaiser widerstehn, hieß die eigne Existenz aufs Spiel setzen, die Stadt dem Verlust ihrer Freiheiten und vielleicht der gewaltsamen Rekatholisierung aussetzen. Bucer erklärte sofort im Einverständnis mit den übrigen Predigern — Zell, der erste Herold der Reformation, hatte am 9. Januar die Augen geschlossen — das Interim für unannehmbar; die Kirchengüter könne man preisgeben, den Glauben nicht; eher sei das Äußerste zu wagen. Die Aufregung stieg aufs höchste, als am 8. August der Kaiser in Nördlingen den Straßburger Gesandten die Bitte, ihre Stadt bei ihrer Religion zu belassen, rund abschlug und dem Magistrat vier Wochen Bedenkzeit gewährte. Die Leiter der Stadt befanden sich in schwerstem innern Konflikt: das Interim einzuführen und die Stadt dem Äußersten auszusetzen, ging ihnen gleicherweise wider das Gewissen. Und jetzt drohte gar eine doppelte Gefahr: Gab man nach, so war ein Aufstand der Bürger zu befürchten, die täglich zu Hunderten die Pfalz umstanden, wurde doch von allen Kanzeln die Unannehmbarkeit des Interims gepredigt; blieb man standhaft, so drohte die Reichsacht, und schon schwärmten 1500 spanische Reiter vor den Toren. Immer und immer wieder mußten die Prediger von ratswegen beschickt und ermahnt werden, die Aufregung durch ihre Predigten nicht in gefahrdrohender Weise zu steigern. Jakob Sturms Weisheit fand schließlich einen Mittelweg, der gangbar schien: man solle dem Kaiser erklären, aus schuldigem Gehorsam das Interim in einigen Hauptkirchen „dulden und leiden"

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zu wollen, wohingegen der Kaiser gestatten möge, daß in einigen andern Kirchen ohne jemandes Schmähung und in aller Bescheidenheit das Wort Qottes in der bisherigen Weise gepredigt werde. Nachdem die Zustimmimg der Schöffen mit Mühe erreicht war, eilten die städtischen Gesandten, an ihrer Spitze Sturm, an das Hoflager nach Köln. Erfolg hatte er freilich nur insoweit, als der Kaiser die Stadt nunmehr an den Bischof wies und, die Pflicht des Gehorsams betonend und drohende Klage wider die Prediger führend, die Einzelheiten in der Schwebe ließ1. Nun setzten monatelange Verhandlungen der Stadt mit dem Bischof und den Stiftern ein. Schließlich kam ein Vertrag zustande, laut dessen die Stadt sich damit einverstanden erklärte, daß der Bischof im Münster, in Jungund Alt-St. Peter und in Allerheiligen den katholischen Gottesdienst wieder aufrichte, wogegen der Bischof auf die vier übrigen Pfarrkirchen seinerseits keinen Anspruch zu erheben erklärte. Überdies gelang es, das Thomasstift und damit das Kleinod der Stadt, die Hochschule, zu retten. So bestand der evangelische Gottesdienst neben dem katholischen weiter, und der Kaiser ließ dies, vorerst wenigstens, geschehen, allerdings ohne diesen Zustand irgendwie zu sanktionieren. Man konnte wenigstens hoffen, damit die evangelische Predigt zu retten. Aber wir erinnern uns, in welcher Weise einst Bucer in Straßburg wie in Augsburg das Weiterbestehen der Messe neben dem evangelischen Gottesdienst bekämpft hatte: sie war ihm schlechthin Götzendienst und Gotteslästerung; sie auch nur zu dulden, Ungehorsam und Frevel wider Gott. Und hier kannte der seiner Biegsamkeit und Nachgiebigkeit wegen so viel geschmähte Mann kein „Dulden und Leiden" und kein Paktieren. Hier trennten sich die Wege der beiden Männer, die, oft in gemeinsamer Arbeit, Straßburg groß gemacht hatten; beide groß und sich selbst treu auch jetzt in ihrer gegensätzlichen Stellimg; beide mit zerrissenem Herzen tuend, wozu Pflicht und Gewissen nötigte: Bucer trotz allem letztlich der religiöse Idealist, der lieber alles wagen und lieber weichen, als schweigend annehmen wollte, was nach seiner Überzeugung wider Gott war; Jakob Sturm der Staatsmann, der,- um von der politischen und religiösen Freiheit überhaupt etwas zu retten, schmerzliche Opfer bringen zu

Katholischer Kult in Straßburg.

Bucers Entlassung.

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müssen meinte. Nicht als ob Bucer kein Gefühl gehabt hätte für die Zwangslage des Magistrats. Zu einer gewissen Rücksichtnahme war er bereit; denn ob er schon längst das Ende seiner Wirksamkeit kommen sah, bewegten ihn die „Seufzer und Tränen" der Frommen — und ihrer war, wie er jetzt mit Freuden feststellen konnte, eine große Zahl — zu bleiben, bis ihm der Dienst gekündigt würde. So erklärte er auf die Vorhaltungen des Magistrats im Namen aller Prediger: Sie wollten weder gegen den Kaiser hetzen, noch gegen die Stadtobrigkeit auftreten; aber nicht gegen das Interim zu reden, könnten sie, als dem Worte Gottes verpflichtet, nicht versprechen; denn da die Papisten mit Macht Propaganda machen würden, seien sie schuldig, die ihnen anvertrauten Seelen vor Verführung zu bewahren. Daß nicht gegen das Interim gepredigt werde, war aber grade, was der Kaiser verlangte; und im Februar 49 erzwang der Bischof durch die Drohung, die Verhandlungen abzubrechen, einen entsprechenden Ratsbeschluß. Am 7. Februar schrieb daraufhin Bucer an Calvin, binnen kurzem werde sein Dienst zu Ende sein. So war es auch. Denn am folgenden Tage traf der gemessene Befehl des Kaisers ein, Bucer, dem Karl doppelt grollte, seitdem er in Augsburg versagt hatte, nebst Fagius zu entlassen. So beschloß denn am 1. März 49 der Magistrat: „die beiden, Bucer und Fagius, ihnen selbst zum Guten, mit freundlichen und guten Worten zu beurlauben, bis Gott Gnade geb, daß man sie wieder an der Hand haben möchte", mit den übrigen Predigern aber dahin zu verhandeln, daß sie sich den Umständen entsprechend mäßigten. Gewiß ein schmerzlicher Augenblick für Jakob Sturm, der, „als der es am mildesten und ehrbarsten tun möge", den beiden führenden Geistlichen der Stadt dies Urteil verkünden mußte. Ohne Groll und unter Beteurung ihrer Liebe zur Stadt Straßburg nahmen sie die Eröffnung hin, die sie längst erwartet hatten, nur um die eine Vergünstigung bittend, noch ein letztes Mal vor ihre Gemeinde treten zu dürfen. Wohin sich nun wenden? Melanchthon hatte Bucer in Wittenberg ein Asyl angeboten, Myconius und Calvin suchten ihn nach der Schweiz zu ziehen; Erzbischof Cranmer von Canter-

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bury hatte beide Theologen wiederholt und dringend nach England geladen. In Deutschland fühlte sich Bucer vor dem Zorn des Kaisers nicht mehr sicher; eine Wirksamkeit in Basel oder Bern schien ihm bei Bullingers Übelwollen zu neuen Schwierigkeiten führen zu müssen; eine an Bucer und Fagius ergehende ehrenvolle Berufung nach Kopenhagen traf zu spät ein. So entschlossen sie sich nach England zu gehn. Auf England hatte Bucer sein Augenmerk gerichtet, seit Heinrich VIII. seines Ehehandels wegen mit dem Papste gebrochen hatte; hatte doch der König auch von ihm ein Gutachten über seine Ehesache erbeten. Zu Schmalkalden hatte dann der Straßburger Reformator persönliche Beziehungen geknüpft zu Bischof Fox, dem Haupte der englischen Gesandtschaft, die im Winter 35/36 in Deutschland weilte, und die damals in Aussicht genommene theologische Verständigung hatte ihn veranlaßt, seinen Römerbriefkommentar dem Primas Cranmer zu widmen. In den folgenden Jahren hatten grade die Straßburger und in erster Linie immer Bucer wieder und wieder auf eine Verbindung mit England gedrängt. Nun war Heinrich VIII. im Januar 47 gestorben. Er hatte die Kirche von England von der Herrschaft des Papstes befreit, um sie noch härterer königlicher Tyrannei zu unterwerfen, und er hatte grade in seinen letzten Jahren alle evangelischen Regungen, die aus der Lossagung von Rom mit Notwendigkeit folgen mußten, blutig unterdrückt. Jetzt, da ihm sein Sohn Eduard als neunjähriger Knabe folgte, gewann durch seinen Oheim, den Herzog von Sommerset, der als Protektor ein autokratisches Regiment führte, die reformatorische Tendenz die Oberhand. Erzbischof Cranmer, der Primas der englischen Kirche, hatte sich bisher durch alle Fährlichkeiten hindurchzuretten verstanden, indem er, mehr klug als charaktervoll, allen Maßnahmen des Königs, dem er seine Stellung verdankte, zugestimmt hatte; jetzt wagte er offen als Führer der reformatorischen Partei aufzutreten. Die neue Liturgie, die im März 49 zur Einführung gelangte, das berühmte „Book of common prayer" in seiner ersten Gestalt, ward das Symbol dieser ersten Periode evangelischer Reform. Bei dem Mangel an brauchbaren einheimischen Theologen lag es Cranmer am Herzen, erprobte reformatorische Kräfte nach

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Berufung nach England.

England zu ziehen. Nur natürlich, daß sein Blick neben Melanchthon, den man vergebens zu gewinnen suchte, vor allem auf Bucer fiel. Seine lateinischen Schriften waren ja längst in England verbreitet, seine Acta Ratisponensia sogar ins Englische übersetzt; Bischof Qardiner von Winchester, das Haupt der katholischen Partei, hatte eine Streitschrift wider ihn ausgehen lassen; eben jetzt bildete seine „Kölner Reformation" eine der wichtigsten Grundlagen für die Ausarbeitung des Book of common prayer. So wurden, schon als um Neujahr 48 Petrus Martyr Straßburg verließ, um eine Professur in Oxford anzunehmen, auch Bucer und Fagius nach England geladen, und im Oktober 48 war die neue dringende Einladung ergangen, der sie nunmehr Folge leisteten. Fast insgeheim verließen sie Straßburg am 6. April 49. Durch Lothringen, die Champagne und Flandern ziehend, langten sie am 18. glücklich in Calais an, der ersten englischen Stadt, am 23., nach fünfstündiger glatter Überfahrt, in Canterbury, am 25. in Lambethhall, Cranmers Londoner Residenz. Der Primas nahm sie mit offenen Armen auf. Den ganzen Sommer verbrachten sie, mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt, auf seinem Landsitze, Bucer in vertrautem Verkehr mit Cranmer, den er im wesentlichen für seine Abendmahlslehre gewann. Bei aller Aufmerksamkeit, die man ihm erwies, und aller edeln Geselligkeit — Fagius ließ sich die Volkslieder der Heimat für die Tafelrunde des Erzbischofs nachsenden — fühlte Bucer sich nicht wohl. Heimweh und Sorge nagten an seinem Herzen; die politischen Verhältnisse dieses stürmischen Sommers, die zum Sturze des Protektors führten, waren höchst unsicher; die ungewohnte Lebensweise — immer Fleisch und Fleisch und wieder Fisch und Fleisch — machte ihn vollends krank. Welch hohe Schätzung er aber in den leitenden Kreisen genoß, zeigte seine Ernennung zum „Königlichen Lektor der hl. Schrift", Kings Reader of the holy Scripture, an der Universität Cambridge mit einem sehr stattlichen Gehalte; er sollte die Stelle im Herbst antreten und Fagius als Professor des Hebräischen an seiner Seite bleiben. Fagius zog im August zuerst nach Cambridge. Wenige Wochen darauf ward er von der Krankheit befallen, die ihn am 13. November dahinraffte. Bucer, obwohl selbst immer noch Anrieb, Bucer.

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leidend, war ihm nachgeeilt, ihn zu pflegen; nun fühlte sich der Tiefgebeugte erst recht einsam. Ein Qlück, daß zu Anfang des Winters, geleitet von dem treuen Schwiegersohn Christoph Söll, Pfarrer an St. Aurelien, Bucers Qattin mit zwei Töchtern eintraf; so hatte er wieder Heim und Pflege. Die Universität hatte ihm zu Michaelis feierlich den Doktorhut überreicht. Noch nicht recht genesen, begann er im Januar 50 seine Vorlesungen. Allzufrüh, denn schon Mitte März mußte er wieder abbrechen und konnte erst nach zwei Monaten seine Tätigkeit endgiltig aufnehmen. Er setzte seine Vorlesungen über den Epheserbrief fort, führte den Vorsitz bei den theologischen Disputationen und hielt in der Universitätskirche lateinische Predigten. Daneben entfaltete er eine angestrengte literarische Tätigkeit und arbeitete bedeutsame Gutachten aus. Qanze Abschnitte seines Entwurfes über die Ordination fanden in der vom Parlament im Januar 50 erlassenen Ordinationsordnung Aufnahme. Besonders wichtig war sein Gutachten vom Januar 51 über die Revision des Commonprayerbook. Da eine Reihe seiner Vorschläge befolgt wurden, ist Bucer in doppelter Weise, durch seine „Kölner Reformation" wie durch sein Cambridger Gutachten, an diesem wichtigsten liturgischen Denkmal des englischen Protestantismus beteiligt. Rasch hatte der fremde Theologe an der Universität eine bedeutende Stellung. Kein Professor, hieß es, habe je in so kurzer Zeit solchen Eindruck gemacht, keiner eine so unermüdliche Tätigkeit entfaltet. Seinem engeren Freundeskreise gehörten neben dem Juristen Walther Haddon die Theologen Matthew Parker und Edmund Grindal an, beide später auf den Stuhl von Canterbury erhoben. Seine begeisterten Jünger waren der junge, später berühmt gewordene Humanist Roger Ascham, der Bucer als „Vater und Lehrer" verehrte, und John Bradford, der sich von diesem „Propheten Gottes" bestimmen ließ, ein Prediger des Evangeliums zu werden, als der er nach wenigen Jahren den Märtyrertod erleiden sollte. Auch zu Mitgliedern der königlichen Familie und der Aristokratie trat der Cambridger Professor in Beziehung. Die edle, hochgebildete Jane Grey, deren tragisches Schicksal sich so bald erfüllen sollte, bekannte dankbar, welch unermüdlicher Berater ihr dieser „pater sanctissimus" auf dem Gebiete der Frömmigkeit

Wirksamkeit in Cambridge.

Eduard VI.

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wie der Wissenschaft gewesen sei. Besonders nahe stand ihm die verwitwete Herzogin von Suffolk, die ihrer Söhne wegen in Cambridge wohnte. Und mit welcher Zärtlichkeit gedenkt er des jungen Königs, seines religiösen Ernstes, seiner ans Wunderbare grenzenden Fortschritte! Konnte in der Tat ein Herrscher mehr den Idealen Bucers entsprechen, als dieser königliche Jüngling, dem Studium und Religion eins waren, der durch und durch als Protestant fühlte, dem als Ziel vorschwebte, dereinst an der Spitze der protestantischen Welt zu stehn? Noch ahnte man nicht, daß solche erstaunliche Frühreife der Vorbote des nahen Endes war! Und der junge Eduard verehrte seinerseits Bucer. Er sandte dem kranken Gelehrten 20 Goldstücke, um sich einen Ofen nach Straßburger Art bauen zu lassen; er wünschte durch ihn über die Pflichten des christlichen Herrschers belehrt zu werden. Für den König hat denn Bucer sein, letztes großes Werk geschrieben, die zwei Bücher „Vom Reiche Christi", die reifste und vollständigste Zusammenfassung seiner Anschauungen über den christlichen Staat, der in engster Verbindung mit der Kirche an der Verwirklichung der Herrschaft Christi auf Erden arbeitet; alle Ordnungen des öffentlichen Lebens, Unterrichtswesen, Rechtspflege, Armenfürsorge, Sozialpolitik, werden nach diesem Gesichtspunkte besprochen und geregelt. Zum Dank für die überreichte Abschrift — erst 6 Jahre nach des Verfassers Tode wurde das Werk gedruckt — ließ der König seinem Professor zu Weihnachten ein goldenes Trinkgeschirr überreichen; ein Aufsatz Eduards vom Januar 51 über die Reform der Mißbräuche verrät deutlich die Nachwirkung von Bucers Gedanken. Wirklich heimisch ist Bucer in England doch nicht geworden. Das Unglück der Heimat und die Sehnsucht nach ihr nagte an seiner Seele. Als er in den Sommerferien 11 Tage bei Petrus Martyr, seinem nächsten Vertrauten, in Oxford zubrachte, da dachten sie täglich der vergangenen Zeiten, der alten Freunde. Und in England waren die Zustände noch außerordentlich wirr und unbefriedigend. Die reichdotierten Colleges von Oxford und Cambridge erregten Bucers ungeteilte Bewunderung. Aber eben infolge der Unabhängigkeit der einzelnen Institute gab es an der Universität noch zahlreiche Papisten; einer derselben, der Theologe Young, griff 8*

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Bucer persönlich an, was zu ärgerlichen Situationen führte. Mit den Vertretern des Alten machten die gegen die reformatorische Tendenz Front, die Bucer als Epikuräer bezeichnete. Dozenten wie Studenten fand er im Durchschnitt überaus lässig. Schlimmer noch muteten ihn die kirchlichen Zustände an: Nur einige wenige taugliche Bischöfe; die meisten Pfarreien mit unbrauchbaren Geistlichen besetzt; keine evangelische Predigt, nur das Homilienbuch wird vorgelesen; nicht einmal an Charfreitag, Ostern und Pfingsten ist in Cambridge gepredigt worden; keine Katechismusunterweisung; vor allem keine Disziplin, und jeder Versuch in dieser Richtung als Fanatismus gebrandmarkt; und das schlimmste die skandalöse Veruntreuung von Kirchen- und Stiftungsgut zugunsten des Adels! Bereits zehn Jahre zuvor hatte der Arzt Gereon Sailer geurteilt, Bucer arbeite sich zu Tode. Die furchtbaren seelischen Aufregungen der letzten Jahre hatten ihn vollends aufgerieben. Schon bei seiner Übersiedelung ein gebrochener Mann, konnte er grade noch, fieberhaft tätig, als wüßte er sein Ende nahe, seine letzten Kräfte im Dienste der Kirche von England verzehren. Im Herbst 1550 begann er eine neue Vorlesung über das evangelische Predigtamt. Mitte Februar 51 erkrankte er schwer. Er traf seine letzten Verfügungen. Keine Klage und kein Schmerzenslaut kam über seine Lippen; Besuche und Gespräche wies er ab, er wollte mit seinen Gedanken in der Ewigkeit weilen. Von seiner Stieftochter Agnes Capito — seine Frau war nach Deutschland zurückgekehrt — und der Herzogin von Suffolk aufopfernd gepflegt, entschlief er sanft am 1. März 1551. Die Trauer war allgemein. Am 3. März erfolgte unter Beteiligung von bei dreitausend Personen die feierliche Beisetzung in der Hauptkirche der Stadt. Parker hielt die englische Predigt, Haddon die lateinische Gedächtnisrede; tiefe und warme Empfindung bricht in ihr immer wieder aus dem üblichen oratorischen Prunk. Nichts aber klingt rührender und wahrer, als die herzbewegende Klage von Petrus Martyr, der sein bestes Teil verloren zu haben und erst seit dem Hingang des Herzensfreundes seiner Heimatlosigkeit inne zu werden bekannte. Dem im Leben so viel Angefeindeten sollte auch die Ruhe des

Tod, Begräbnis, KetzerprozeB.

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Grabes nicht werden. Zwei Jahre nach Bucer sank Eduard VI. fünfzehnjährig in sein frühes Qrab. Es kamen die Jahre, da die „blutige" Maria die Wiedereinführung des Katholizismus betrieb und ihr Schreckensregiment die Häupter der evangelischen Partei mit der Märtyrerkrone schmückte. Im Januar 56 erschienen die königlichen Visitatoren in Cambridge. Die beiden Kirchen, in denen Bucer und Fagius beigesetzt waren, wurden mit dem Interdikt belegt. Eine Versammlung von Vertretern der Stadt und der Hochschule fand statt, in denen der Prokanzler der Universität über die beiden Toten das Urteil sprach, das sie als Ketzer aller akademischen Würden verlustig erklärte und der Stadtbehörde zur Bestrafung übergab. Am 6. Februar flammte auf dem Marktplatz von Cambridge der Scheiterhaufen, der die ausgegrabenen Qebeine der beiden Lehrer samt einem Stoß ihrer Schriften verzehrte. Auf seine Weise bezeugte damit der Gegner die Bedeutung der beiden Herolde evangelischer Lehre. Eben das Blut der Märtyrer dieser Verfolgungszeit hat die evangelische Sache in England zu einer Macht werden lassen. Vier Jahre später, als unter Elisabeth die evangelische Staatskirche wieder aufgerichtet war, hat die Universität Cambridge die ihren beiden Lehrern angetane Unbill in besonderer Gedenkfeier gesühnt.

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VIII. Der Mensch und der Theologe. Tibi in mentetn non venit, quantus vir Bucerus Iheologus extitit. Joh. Sturm, Antipappus quartus, 1581.

„Dir ist nie aufgegangen, wie groß Bucer als Theologe gewesen": mit diesen Worten schließt Johannes Sturm seine letzte Streitschrift wider seinen Todfeind Pappus; nach allen leidenschaftlichen Invektiven und allen Künsten prunkender Rhetorik meinte er mit diesem schlichten Satze die schwerste Anklage auszusprechen, die gegen den ihm so verächtlichen Epigonen erhoben werden konnte. Wir sahen Bucers Theologie werden und sich verfestigen in lebendiger Wechselwirkung mit den großen geistigen Mächten und den praktischen Aufgaben der Zeit. Wir sahen sie biegsam, bestimmbar, anpassungsfähig, und doch eigenartig bei allen Wandlungen, die in einzelnen Punkten bis zu fast entgegengesetzter Nuancierung geführt haben. Bei allen Unstimmigkeiten im einzelnen ist die Kontinuität größer, als auf den ersten Blick scheint. Und mögen einzelne Leitgedanken seines Christentums bloß in den ersten Jahren in ursprünglicher Frische hervortreten, hätten sie sich sicherlich auch in ganz anderer Weise ausgewirkt, wären die kirchlichen Probleme der folgenden Jahre nicht gekommen: den Bucer, wie er, unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen zum Vertreter evangelischen Kirchentums geworden, in den Jahren seiner Reife und seiner umfassenden Wirksamkeit gewesen ist, zeigt uns erst die Theologie seiner späteren Jahre in ihrer eigentümlichen Verbindung verschiedenartiger, zum Teil entgegengesetzter Gesichtspunkte. Eine geschlossene Einheit ist sie freilich nicht gewesen; denn Bucer hat so wenig wie Luther das Bedürfnis empfunden, seine Gedanken systematisch zusammenzuschließen; die

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

letzte Einheit derselben lag für ihn darin, daß sie allesamt aus der Schrift entwickelt waren. Mehr denn je will jetzt Bucer als Theologe nichts anderes sein als Ausleger der Schrift. Nur das in ihr niedergelegte Gotteswort soll in der Theologie gelten, nicht menschliche Autorität und Vernunft. In der Nachfolge Luthers hat auch er das Evangelium Jesu vom Boden paulinischen Christentums aus erfaßt. Wenn er aber die Schriften des Paulus als „vollerer Offenbarung" beurteilt, so hängt dies auch damit zusammen, daß er bei Paulus nicht bloß mit Luther den Begriff des Glaubens und der Rechtfertigung findet; die Ausführungen des Apostels über die Prädestination, über die Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn im Abendmahl, vor allem aber über den Geist und die Geistesgaben sind ihm nicht minder von unmittelbarer Bedeutung gewesen. Überhaupt ist der Grundsatz des Biblizismus anders gewandt und weiter ausgedehnt als bei Luther. So scharf Bucer allezeit mit Luther den Gedanken der Verdienstlichkeit menschlichen Tuns vor Gott abgewiesen hat, in der Entgegensetzung der Begriffe Gesetz und Evangelium hat er Luther nicht Gefolgschaft geleistet. Wie für Erasmus und für Zwingli sind für ihn die Worte Christi und der Apostel zugleich Evangelium und zugleich Gesetz, d. h. heilige Lebensordnung für den einzelnen wie für die Kirche. Er kann darum von einem „göttlichen Kirchenrecht" sprechen: wie die neutestamentlichen Sakramente, so stellen ihm auch die Worte des Herrn über Kirchenzucht und Schlüsselgewalt, die Anordnungen der Apostel über Gemeindeämter und Gemeindeleben für alle Zeiten verbindliche Normen dar. Bietet so auch das Neue Testament Gesetz, so rücken überhaupt das Neue und das Alte Testament näher zusammen. Jehova, der offenbare Gott des Alten Bundes, wird mit Christus gleichgesetzt. Als von Christus gegeben, ist darum das mosaische Gesetz nur in seinen zeremoniellen Einzelheiten abgetan, in allem Wesentlichen besteht es zu Recht als Offenbarung des ewigen Gotteswillens. Indem es in steigendem Maße herangezogen wird, muß damit auch der gesetzliche Zug und insonderheit die theokratische Auffassung des Alten Testaments immer schärfer hervortreten. '; Ein gewisses Gegengewicht gegen die Ausschließlichkeit des Biblizismus bildet allerdings ein Bucer ganz persönlich eignender

Biblizismus und Universalismus.

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Qrundzug, der der universalen Art seines Wirkens entsprechende Universalismus der Betrachtungsweise. Es hängt mit seiner Betonung der Allwirksamkeit Gottes zusammen, wenn er in allen Perioden der Weltentwicklung den Qeist Gottes wirksam sieht, göttliche Offenbarung und gottbegnadete Menschen überall findet. Er hat in der Gegenwart der unvollkommenen Erkenntnis des einzelnen gegenüber auf die Kollektiverkenntnis der Gläubigen als auf die Stimme der Kirche den größten Wert gelegt. Und weil er nur e i n e Kirche und e i n Gottesvolk kannte, so war es ihm Bedürfnis, den Protestantismus in Übereinstimmung zu wissen mit der wahren Kirche, die von Anfang an bestanden, zu der ihm auch im gegnerischen Lager viele wahrhaft Fromme gehörten. Von welcher fast normativen Bedeutung ihm darum die alte Kirche mit ihrer Theologie, ihren Dogmen, ihren Institutionen, ihrem Kirchenrecht geworden ist, davon war bereits die Rede. Die Kirche aber erweitert sich nach rückwärts. Denn Bucer rückt das Alte Testament in einer Weise an das Neue heran, daß der Unterschied zwischen dem alt- und neutestamentlichen Gottesvolk beinahe aufgehoben ist. Wie das Gesetz von Christus gegeben und seinem eigentlichen Inhalte nach ewig ist, so haben die Sakramente des Alten Bundes, insonderheit die Beschneidung, dieselbe Kraft wie die des Neuen; die Frommen aus Israel waren wie wir Christen von Gott erwählt, mit dem Gottesgeiste begabt, ja wie wir durch den Glauben an den Erlöser gerechtfertigt, der ihnen durch die Weissagung nahegebracht war. „Es ist ein Gottesvolk vom ersten Erwählten bis zum letzten". Dieser Satz wird nun sogar auf die Heidenwelt ausgedehnt. Auch in ihr hat Gottes Geist gewirkt. Die Wahrheiten der Philosophie sind Geschenke und Offenbarungen Gottes. Befindet sich Bucer mit diesem Satz in Übereinstimmung mit Erasmus und den großzügigen Theologen der alten Kirche, so ist für seinen Universalismus besonders bezeichnend, daß er sogar eine positive Wertung der antiken Religion versucht: so viel Aberglaube der Satan dazwischengesät hat, auch die Religion der Heiden enthielt göttliche Wahrheit und setzte den Menschen wirklich mit Gott in Verbindung; hängt sie doch mit der Uroffenbarung Gottes zusammen, was den weitgehenden Parallelismus zwischen heidnischen und jü-

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VIII Der Mensch und der Theologe.

dischen Kultgebräuchen erklärt. Freilich haben die Heiden, sofern sie nicht von der Philosophie berührt waren, nur zweierlei gehabt: die Wahrheitsüberlieferung aus der Urzeit und die dem Menschen von selbst sich aufdrängende natürliche Qotteserkenntnis. Aber „wenn sie sich in wahrem Glauben daran hielten, wurden sie durch solchen Glauben vor Gott gerechtfertigt"; in diesem Falle waren auch die heidnischen Taufen Sakramente, in denen der Geist Sündenvergebung und Gotteskindschaft wirkte. So hat es trotz des Götzendienstes heilige Menschen, sancti ethnici, auch in der Heidenwelt zahlreich gegeben; man hat deshalb kein Recht, generell an ihr zu verzweifeln. In dieser ebenso frommen als weitherzigen Auffassung begegnen sich humanistische und christliche Motive. Die Theologie im engeren Sinne ist allerdings nicht von diesem Standpunkte aus entworfen. Denn so vielseitig und so lebendigen Geistes Bucer auch war, er war weder Philosoph noch Systematiker. Zwingiis Streben, alles auf letzte allgemeine Prinzipien zurückzuführen, fehlt bei ihm völlig. Und die Schrift stand ihm doch so hoch über aller andern Offenbarung, daß er sich als Theologe nur an sie halten wollte. Konnte er sich hierfür nicht bloß auf Luther, sondern auch auf Erasmus berufen, so hat er freilich den bedeutungsvollen Ansätzen des letzteren zu rationaler Kritik keine Folge gegeben, vielmehr immer wieder betont, in der Theologie gelte nicht die Vernunft, sondern nur das Gotteswort. Spricht er gelegentlich von natürlicher Gotteserkenntnis, so tut er es im Anschluß an Paulus eher zu dem Zwecke, die Unentschuldbarkeit des Menschen vor Gott nachzuweisen. Grade sein universaler Standpunkt ist gelegentlich der scharfen Herausarbeitung der Probleme hinderlich gewesen. Alles Bedeutende machte Eindruck auf seinen regen Geist; alle Wahrheitsmomente, die ihm entgegentraten, suchte er zu seinem Standpunkte in Beziehung zu setzen. Er hatte eine besondere Geschmeidigkeit, sich in Vorstellungen hineinzudenken, die ihm entgegenkamen; in Luthers Sakramentslehre wie in der Theologie der Väter hat er, was ihm positiv wertvoll war, so stark betont, daß er über die trennenden Momente mehr oder weniger hinwegsah. Für den Mann der öffentlichen Wirksamkeit großen Stils ist

Die Kirche als Liebesgemeinschaft.

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je länger je mehr die Idee der Kirche und des christlichen Gemeinwesens in den Mittelpunkt getreten. Von Anfang an hat Bucer den Begriff der Kirche vom Gemeindegedanken aus gewonnen: die Kirche die lebendige, vom Christusgeiste durchwehte Gemeinschaft, in der die Gläubigen, ein jeder mit seiner Gabe, im Ewigen wie im Zeitlichen einander dienen und fördern. Kaum hat Bucer tiefer empfundene und eindringlichere Töne anzuschlagen gewußt, als wenn er das Idealbild der Gemeinde entwirft — zwischen Kirche und Gemeinde ist nicht scharf geschieden —, in der jeder dem Bruder dient und dem Ganzen lebt, jeder für den andern sich mit verantwortlich fühlt, für die Sünden der Brüder vor Gott sich demütigt. Eine Kirche, die ein solches Ideal verwirklichen soll, muß als lebendiges, aktionsfähiges Gebilde auf dem Plane stehen. Sie bedarf organisierter Gemeinden, die durch gewählte Ältesten sich betätigen, die Wahl ihrer Geistlichen in der Hauptsache in der Hand haben, Zucht und Ordnung unter ihren Gliedern üben, der Irrenden und Gefährdeten sich annehmen, die Pflege ihrer Armen einheitlich regeln; sie verlangt Diener am Wort, die nicht bloß von der Kanzel herab predigen, sondern in individueller häuslicher Seelsorge dem einzelnen nahetreten. Und wie die Einzelgemeinde, soll auch die Gesamtkirche ihre Organe haben, durch die sie zur lebendigen Einheit wird. Wir sahen, wie in Straßburg, wohl hauptsächlich auf Bucers Anregung, der Kirchenkonvent als offizielles Organ der Straßburger Kirche geschaffen wurde. Aber Bucer denkt auch an eine über die engen Territorialgrenzen hinausgreifende kirchliche Einheit. Denn der Zerfall des deutschen Protestantismus in kleine und kleinste sich in sich abschließende territoriale Sonderkirchen war nicht nach seinem Sinn. „Allein wie der Herr oder Bürgermeister will, so machet mans, und sind statt eines Papstes gar viele Päpst aufkommen und wird von Tag zu Tage ärger". Er meinte zu Zeiten, daß eine großzügige synodale Organisation dem Auseinanderfallen wehren könnte. Der Meister in der Kunst persönlicher Verhandlung und Verständigung, der Mann des Wortes und der schlagfertigen Dialektik war immerdar ein warmer Befürworter der Synoden. Sie wären das geeignete Mittel, sich Uber eine allgemein einzuführende Zucht und Ordnung zu verständigen, Lehrdifferenzen

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

zu begleichen, die christliche Erkenntnis zu vertiefen; habe doch die alte Kirche das Beste, was sie geschaffen, auf Synoden geschaffen. Kann man das Wort wagen, es habe Bucer etwas wie eine deutsche Nationalkirche dunkel vorgeschwebt? Es war bereits davon die Rede, wie Bucer auch in seinen die kirchliche Verfassung und Zucht betreffenden Forderungen strenger Biblizist ist. Die Qemeindeverfassung des Urchristentums mit ihren Altesten — er befaßte unter diesen Begriff sowohl die Diener am Wort als die Laienältesten — und Diakonen war ihm d i e christliche Qemeindeverfassung. Nichts ist bezeichnender, als daß er in seiner letzten Schrift die Forderung der Wiederaufrichtung des altkirchlichea Diakonals als des Amtes der zentralisierten Armenpflege damit begründen konnte, die Nichtachtung dieser „hochheiligen Institution des hl. Geistes" sei ein Vergehn wider Gott. Und wenn er die Disziplin als eine der schlechthin unentbehrlichen Grundlagen der Kirche betrachtet hat, wenn die Notwendigkeit ihrer Wiederaufrichtung sein ständiges, mit steigender Leidenschaft und steigender Resignation vertretenes ceterum censeo gewesen ist, wenn dem Luther'schen Zweiklang „Wort und Sakrament" der Bucer'sche Dreiklang „Lehre, Sakrament und Zucht" entspricht, so hängt dies auch daran, daß für ihn die Institution der Kirchenzucht genau wie die der Taufe und des Abendmahls durch Christus selbst (Matth. 18, 15 ff.) geschaffen war. Allen Bedenken und Einwänden hält er als letztes Argument entgegen: es ist des Herrn Wille und Gebot, und die Unterdrückung evangelischer Predigt in der Interimszeit erscheint ihm als Strafe Gottes für die Mißachtung eben dieses Gebotes. Auch in der Auffassung des Gottesdienstes mußte solch gesetzlicher Standpunkt sich geltend machen. Begreiflich, daß manches anders beurteilt wird als im Jahre 24. Die Bedeutung des Kultus für Volkskirche und Volksfrömmigkeit wird viel positiver eingeschätzt, der ursprüngliche Radikalismus auf diesem Gebiete gemildert; die Stellung den bestehenden Bräuchen gegenüber ist konservativer und pietätvoller. Hatte Bucer einst die Abschaffung sämtlicher Feiertage in Straßburg gerechtfertigt, so redet er später der Beibehaltung der Hauptfeste das Wort. Er hat erkannt, daß für die Erhebung des Herzens zu Gott auch die Äußerlichkeiten

Verfassung, Disziplin und Kultus.

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nicht gleichgiltig sind; darum wünscht er eine feierlichere Gestaltung des Taufaktes und die Begehung der Abendmahlsfeier durch die vollzählig versammelte Gemeinde. In England wollte er einem schlichten bischöflichen Ornat nicht entgegen sein. Seiner anfänglichen Stellung gegenüber mutet es fast als Ironie der Geschichte an, daß im Jahre 62, als der Streit hierüber brennend geworden, Bucers Briefe über den Ornat von den Verfechtern der konservativen Praxis als Waffe benutzt worden sind. Vor allem aber macht sich der Standpunkt des göttlichen Kirchenrechts auch hier geltend. Es ist nicht in das Belieben des einzelnen gestellt, ob er zum Abendmahl gehen will oder nicht: Taufe und Abendmahl sind von Christus schlechthin befohlen. Besteht doch die Freiheit des Christen nicht darin, daß alles Äußere in sein freies Belieben gestellt wäre; sie liegt vielmehr in dem, daß ihm an Stelle der zahlreichen und schweren jüdischen Bräuche lediglich zwei von Christus „befohlen" sind, Taufe und Abendmahl. Bucer möchte gern einen dritten hinzufügen, die im Neuen Testament so oft begegnende Handauflegung; doch betont er, daß hier nur das Beispiel, nicht aber ein ausdrückliches Gebot des Herrn vorliege. Die Beteiligung am Gottesdienst ist freilich von Christus nicht besonders angeordnet, aber nur deshalb nicht, weil sie selbstverständlich ist Und war die Sonntagsfeier im Jahre 24 zunächst aus sozialen Erwägungen heraus gerechtfertigt worden, so wird jetzt einfach das alttestamentliche Sabbatgebot auf sie übertragen: es muß nach Gottes Anordnung einen Tag geben, der ganz dem Dienste des Herrn geweiht und zu dem Ende von Menschenwerk ganz frei ist, woraus sich die Forderung sabbatartiger Sonntagsheiligung ergibt. Es hat sich uns bereits gezeigt, wie infolge der Auseinandersetzung mit dem Täufertum und der Annäherung an Wittenberg neben die ursprüngliche Auffassung der Kirche als der Gemeinschaft der Gläubigen ein anderer Gesichtspunkt tritt: die Kirche als Trägerin und Mittlerin des göttlichen Heils. Damit scheint zunächst ein Bruch vollzogen gegenüber der früheren Anschauung, es werde alles Heil direkt von Gott, von Christus, vom Geiste gewirkt. Es liegt weniger ein unmittelbarer Bruch vor, als eine Umbiegung der bisherigen Betrachtungsweise ins Kirchliche. Nach wie

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

vor bleibt bestehn, daß der Qeist alles wirkt, nicht Menschen und Institutionen. Aber Gott hat es nun einmal so geordnet, daß sein Qeist wirkt in und durch die Kirche, durch ihre Diener und durch ihre gottgesetzten heiligen Handlungen. Der Glaube bleibt Gottesgeschenk und Geisteswirkung; aber es ist das Wort des Predigers und der Dienst der Kirche, durch die der Geist die Erwählten beruft, durch die er in ihnen den Glauben, das neue Leben, die Heilsgewißheit wirkt. Eben durch diese enge Verknüpfung des Prinzips des Geistes und der Allwirksamkeit Gottes mit der Idee der Kirche wird aber die Heilsmittlerschaft der Kirche erst recht auf den Gipfel gehoben; weil die Kirche handelt unter Leitung und Eingebung des Geistes, so handelt sie in der Kraft und Vollmacht Gottes. Ihren vollendetsten Ausdruck findet diese Vollmacht in der Schlüsselgewalt. Indem er das Wort Jesu vom Binden unu Lösen an die Gesamtheit der Gläubigen gerichtet sein läßt, scheuc-Bucer als strikter Biblizist vor dem Gedanken nicht zurück, daß der Kirche von Gott die Schlüssel des Himmelreichs gegeben sind: „im Namen und anstatt Christi" „verbindet" sie die in schwere Sünde Geratenen zu heilsamer Buße, „löst" sie die Bußfertigen unter Gewährung der Wiederaufnahme, während sie die offen Unbußfertigen „zum ewigen Tode verbindet". Es ist nicht menschlicher, sondern göttlicher Spruch, den sie damit fällt, denn er ist vom Geiste eingegeben. Wie ist damit die Kirche als Organ Gottes, als Wirkungssphäre des Geistes doch etwas ganz anderes geworden als nur die lebendige Liebesgemeinschaft der Gläubigen, die sie für Bucer zunächst gewesen war und stets auch geblieben ist! Vor allem ist damit die Wertung des geistlichen Amtes, des ministerium sacrum, eine ganz andre geworden: „Gott wirkt alles in allen, richtet es aber aus durch seine Diener, die Wort und Sakrament ausspenden." „Denn der Herr einmal durch seine Diener regieren will; höret man die, so höret man ihn; verachtet man die, so verachtet man ihn." Es wäre nicht schwer, solchen Worten sehr anders lautende Urteile Bucers aus seiner ersten Zeit gegenüber zu stellen. Und doch ist auch hier wieder die Kontinuität größer als auf den ersten Blick scheint. Denn auch bei Entwicklung der Idee der Heilsmittlerschaft der Kirche ist das anstaltliche, das unpersönliche Moment möglichst

Die Kirche als Heilsmittlerin.

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vermieden. Es ist grade die lebendige, von Christus regierte Gemeinschaft der Gläubigen, die als Inhaberin der göttlichen Gnaden und Vollmachten das Heil vermittelt: „Gott ist ein Gott der Gemeinschaft; so will unser Haupt Christus uns als seine Glieder also selig machen, daß er das Werk unsres Heils nicht denn durch alle Glieder und wahre Gemeinschaft derselben ausrichte." Es sind paulinische Gedanken, die hier lebendig werden: die Gemeinde der Bereich des Geistes, jeder wahre Gläubige ein Geistesmensch, mit seinen besonderen Geistesgaben den Brüdern das Heil Gottes nahebringend. Es ist die Gesamtheit, die durch ihre erwählten Ältesten Seelsorge, Zucht und Gericht übt. Gewiß, das sacrum ministerium wird viel höher gewertet; wer durch die Brüder zum Dienst an der Kirche berufen ist, soll als von Gott berufen gelten; denn Gott wirkt ja alles in allen. Aber bei all solcher hohen Wertung besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Diener am Wort und den übrigen Christen; sie sind alle „geistlich", jeder hat seine Gabe, jeder ist in seiner Weise berufen. So hat nicht bloß der verordnete Diener der Kirche, sondern jeder Christ Recht und Pflicht, den Nächsten „ex autoritate et magisterio Domini" ¡zu vermahnen; und jeder ist gehalten, „Christi Autorität und Lehramt in dem Nächsten zu respektieren". In solcher Gemeinschaft wird der Glaube geweckt und erneuert, die Gemeinschaft mit Christus erlebt, das wahrhaft christliche Leben möglich. Denn in letzterer Beziehung stellt Bucer hohe Anforderungen, in Hinsicht auf die Heiligung des Lebens wie auf die Selbstverleugnung im Dienste des Nächsten, des Ganzen. Es hängt dies eng mit seiner religiösen Grundstimmung zusammen. So schön er von dem Glauben als dem festen Vertrauen auf den Vater zu reden weiß, seine Betrachtung des Christenlebens ist nicht in die Stimmung kindlich-sonniger Zuversicht und Unbefangenheit getaucht; je länger je mehr legt sich darüber ein herber und schwerer Ernst, erwachsend aus dem Gefühl der Verantwortlichkeit, dem Bewußtsein von der Größe der Aufgabe. Das Gefühl der Kleinheit, der Unvollkommenheit des eigenen Ich führt zu demütiger Beugung vor des allwirkenden Gottes unendlicher Majestät. Denn durchaus pessimistisch ist die Beurteilung des Menschen. Sein Wesen ist durch die Erbsünde verderbt; strenge strafende Zucht A n r i e h , Bucer.

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Vili. Der Mensch und der Theologe.

tut ihm not. Bucer vertritt nachdrücklich die Ansicht, daß jede Strafe der Besserung zu dienen habe, weist aber diesen heilsamen Strafen eine sehr gewichtige Stelle sowohl in der göttlichen als in der menschlichen Pädagogik zu. Denn auch Qott muß die einzelnen wie die Völker immer wieder strafend erziehen; Pest und Türkengefahr sind Zuchtruten Qottes für die pflichtvergessene Christenheit. Darum wünscht auch Bucer die Wiederherstellung der altkirchlichen Bußzucht: der in schwere Sünde Gefallene soll von der Qemeinde eine Zeitlang ausgeschlossen und zur Buße verpflichtet werden; nicht als ob Qottes Qnade durch Bußwerke zu verdienen, sondern weil der Gefallene es der Gemeinde schuldig sei, zu zeigen, daß es ihm Ernst ist mit seiner Reue und Besserung. Überhaupt weist Bucers Ideal des christlichen Lebens zwar nicht einen äußerlich gesetzlichen, aber einen ausgeprägten asketischen Zug auf. Fasten und Kasteiungen sind zwar von Christus und der Urkirche durch kein äußeres Gesetz geregelt, müssen aber in jedem Christenleben ihre Stelle haben. Der Herr hat das Fasten so empfohlen, daß man ohne weiteres sagen kann, wer nie faste, sei kein Christ; denn diesem ist es inneres Bedürfnis, sich je und je durch solche Zuchtmittel vor Gott zu demütigen. Insonderheit in Zeiten der Not und der Gefährdung des Evangeliums muß das Christenvolk zur Demütigung vor Gott und wahrer Buße angehalten werden. Das Ideal von der Kirche als der lebendigen Gemeinschaft des Glaubens, der Liebe und der Lebensheiligung ist wohl der wertvollste Gedankenkreis, den Bucer ausgebildet hat, jedenfalls der, der in seinen Grundzügen am unmittelbarsten auch zu unserer Gegenwart spricht. Doch sind auch hier zweierlei Umstände in Betracht zu ziehn, die dem Ganzen einen strengeren und herberen Zug verleihen. So sehr nämlich Bucer ein Mann der Volkskirche ist, die wahre Kirche bildet ihm doch nur die Gemeinschaft der Erwählten. Die Überzeugung, daß die Menschen in Erwählte und Verworfene zerfallen, stand ihm von vornherein fest; er fand sie bei Augustin wie bei Paulus, und sie war überhaupt, mit Luthers Fassung des Glaubens als eines reinen Gottesgeschenkes eng zusammenhängend, zu Beginn der Reformationszeit in fast axiomatischer Gel-

Das christliche Leben. Die Praedestination.

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tung. Noch sieht man deutlich, wie es zunächst Erwägungen praktisch-religiöser Art gewesen sind, die unserm Reformator diese Anschauung nahelegten: der Gegensatz der Anhänger und Feinde der Reformation, der Ernsten und der Weltmenschen schien ihm mit dieser Annahme seine Rätsel zu verlieren. Später aber hat grade Bucer in seinem Kommentar zum Römerbrief eine bis ins einzelne scharf und mit unerbittlicher Folgerichtigkeit ausgeprägte Lehre von der Prädestination entwickelt. Wie merkwürdig, daß er sie grade in dem Augenblicke vorgetragen hat, da er vor dem Abschluß der Konkordie mit Luther stand. Es ist, als habe er mit diesem letzten und folgerichtigsten Niederschlag seiner Anschauung von der Allwirksamkeit Qottes die Eigentümlichkeit seiner Theologie wahren wollen. Qott hat, so lautet seine Lehre, von Ewigkeit her die einen erwählt, die andern verworfen. Den einen gibt er seinen Geist und damit Glaube, Gerechtigkeit und ewige Seligkeit; die andern verhärtet er, gibt sie dahin in verkehrten Sinn und ewige Verdammnis, einzelne wie ganze Völker; es ist sein Wille, daß sie durchs äußere Wort berufen werden und doch nicht kommen. Sogar der Fall Adams ist von Gott gewollt gewesen. Ein solches Verhalten Gottes erscheint freilich dem Verstände grausam, unfaßbar. Aber die Stimme menschlicher Vernunft muß hier schweigen; wer sind wir, daß wir Gott zur Rechenschaft fordern könnten? Bucer scheut in diesem Zusammenhange vor den schroffsten Härten in der Bestimmung des Wesens Gottes nicht zurück. Die „Ehre Gottes" wird ihm der letzte Zweck alles Geschehens; die Ehre Gottes aber liegt beschlossen nicht in Gottes allmächtiger Liebe, sondern in seiner Majestät, seiner schrankenlosen Allmacht. Der Verherrlichung von Gottes Ehre dient die Beseligung der Erwählten wie die Verhärtung und ewige Verdammnis der Verworfenen! Dabei zeigt sich die heroische, hochgemute, ihres Gottes sichere Art der reformatorischen Frömmigkeit darin, daß Bucer nicht zugeben will, daß solche Lehre die Heilsgewißheit gefährde; das erste, was wir Gott schuldig sind, ist der Glaube an unsre Erwählung, und je eifriger wir nach der Gerechtigkeit trachten, um so sicherer werden wir der Leitung durch den Gottesgeist und damit der Berufung von oben inne. 9*

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

Trotz dieser schroffen Prädestinationslehre will nun freilich Bucer von Luthers „geknechtetem Willen" nichts wissen, sondern ist mit den Theologen der alten Kirche Verteidiger des „freien Willens". Zeigt doch die tägliche Erfahrung, daß der Mensch nicht wie ein Reittier von einem fremden Willen gelenkt wird, sondern mit Bewußtsein Entscheidungen trifft. Wie würde sonst die Schrift in Geboten und Verheißungen unsern Willen aufrufen? Gott macht eben grade durch seine Erwählung und Begnadung unsern Willen in dem Sinne erst frei, daß er die Kraft hat, zu wählen, was göttlich ist; je heiliger der Mensch, um so freier sein Wille. Andrerseits spricht Bucer wieder eine gewisse natürliche Gotteserkenntnis und damit eine sehr bedingte Wahlfreiheit jedem Menschen zu und meint damit eine Handhabe zu gewinnen, den Verworfenen trotz der Prädestination die Schuld an ihrer Verdammnis zuschreiben zu können. So wenig sich Bucer durch seine Prädestinationslehre an dem Prinzip der Volkskirche irre machen läßt — denn mit Ausnahme der offenkundig Verstockten und Lasterhaften, über welche schon die Kirche das Urteil Gottes verkündet, vermag niemand zu entscheiden, wer erwählt und wer verworfen ist — und so oft er im Drange, die Welt für das Evangelium zu gewinnen, Ausführungen bietet, die mit dieser theologischen Voraussetzung schwer oder gar nicht in Einklang zu bringen sind, seine Welt- und Menschenbetrachtung erhält doch wieder durch dieselbe einen eigentümlich herben Zug. Und dieser wird nun durch ein andres Moment noch verstärkt. An der Verwirklichung des christlichen Lebensideals zu arbeiten, ist nach Bucers Auffassung nicht bloß Aufgabe der Kirche, sondern des gesamten Gemeinwesens, weil es eben ein christliches Gemeinwesen ist. Die Dialoge von 1535 und die für den König von England verfaßte Schrift bieten die bedeutsamsten Ausführungen über den christlichen Staat. Sofort erhebt sich hier das Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat im christlichen Gemeinwesen. Beide sollen sie weder zu Unrecht vermischt, noch zu Unrecht getrennt werden. Die Kirche ist ein Wesen für sich; sie hat ihre besondere Gewalt und Vollmacht, aber nur in der geistlichen Sphäre. Als Verkün-

Der freie Wille. Die christliche Obrigkeit.

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diger des Wortes an Christi Statt haben ihre Diener Gewalt über Kaiser und Könige. Aber eben deshalb dürfen die Kirche und ihre Diener in allem ÄuBern und Irdischen keinerlei Herrschaftsrechte üben. Und weil auch die Diener der Kirche fehlbare Menschen sind, so soll die letzte Gewalt über die Kirche in allen äußern Dingen und Ordnungen bei der Landesobrigkeit sein, denn „Gott hat gewollt, daß die Gewalt letzlich eine einheitliche sei". Vorbildlich für das Verhältnis der Obrigkeit zur Kirche ist Kaiser Theodosius, der als Kaiser die Kirche regierte, als Christ vor Ambrosius sich demütigte. Welches ist aber die innere Stellung der gottgesetzten Obrigkeit dem christlichen Glauben gegenüber? Zunächst hören wir eine rationale Deduktion: Die Obrigkeit „hat darauf zu sehn, daß man recht lebet; das rechte Leben hanget vor allem an der Religion", denn „ohne wahre Religion auch keine Tugend, ohne die keine bürgerliche Ordnung". Danach liegt es im eigenen Interesse des Staates, allem voran für ungestörte Entfaltung der wahren Religion zu sorgen. Doch wird diesen Gedanken weitre Folge nicht gegeben; sie sind lediglich der Auftakt zur Darlegung der theokratischen Grundauffassung. Denn von der christlichen Obrigkeit gilt grade der Satz: „Die gottseligen Obern müssen die Religion nicht als ein Mittel zum äußern Frieden brauchen, sondern die Religion selber lassen ihr End sein." Auch für die Obrigkeit ist die oberste Norm, das geoffenbarte Gottesgesetz im Gemeinwesen zur Ausführung zu bringen. Mit Leidenschaft wendet sich Bucer gegen die These, christliche Obrigkeit „solle zwar für ihre Person christlich leben, aber als Obrigkeit darauf sehn, daß die Gemeinde gut und friedlich lebe, es seien die Leut gläubig oder ungläubig". Nein: „Christliche Obrigkeit muß für das ewige Heil ihrer Untertanen sorgen." Bei diesem Standpunkte muß jede Art von Religionsfreiheit, von Duldung einer andern als der wahren Religion als Frevel erscheinen; und bei Bucers Auffassung des Gesetzes und seiner Wertung des Alten Testaments kann es nicht anders sein, als daß alttestamentlicher Geist und alttestamentliche Strenge hier die Oberhand gewinnen. Erste Pflicht der Obrigkeit ist, die wahre Religion aufzurichten, Kirche und Schule in allem Äußeren so auszustatten, daß sie ihre

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

heilsame Arbeit tun können. Nichts Schlimmeres kann es geben als falsche Religion; nichts ist demnach von obrigkeitswegen schwerer zu strafen und energischer zu unterdrücken. Ein Gewährenlassen wäre Unbarmherzigkeit den verführten Seelen gegenüber. Das Augustinische „coge intrare, nötige sie hereinzukommen" unterschreibt Bucer durchaus. W o kein andres Mittel wirksam ist, ist die Obrigkeit befugt, mit Feuer und Schwert einzuschreiten; denn eine Stadt, die halsstarrig bei einer falschen Religion bliebe, wäre schlimmer als eine aufrührerische Stadt. Zur Zeit der Apostel und Märtyrer freilich wollte der Herr alles nur durch die Kraft des Geistes ausgerichtet wissen; aber von Konstantin ab erkannten die christlichen Kaiser sofort ihre Pflicht. Und jetzt, da das wahre Evangelium wieder entdeckt ist, muß „der Ernst der christlichen Obern weit heftiger und gewaltiger sein, denn er bei den Alten je gewesen". Er muß „dem Gesetze Moses noch näher kommen"; denn jetzt, in der Zeit der Volloffenbarung, ist falsche Religion „noch grausamere Lästerung als bei den Alten". Warum sollen die christlichen Obern milder sein, als Gott einst dem Volke Israel befohlen? Grundprinzip der staatlichen Gesetzgebung, so wird in „De regno Christi" ausgeführt, ist der Wille Gottes, zusammengefaßt im Doppelgebot der Liebe. Das Staatsgesetz hat demnach zum Gegenstande, was sich auf den „reinen Dienst Gottes" und das Wohl des Nächsten bezieht. Es müssen also grade die wichtigsten Staatsgesetze Pflanzung und Erhaltung der wahren Religion zum Gegenstande haben. Die Ausführung des neutestamentlichen Liebesprinzips ist indes alttestamentlich gedacht. Wohl ist das mosaische Zivilrecht im Einzelnen nicht mehr verbindlich. Aber kann es bessere Gesetze, gerechtere Strafbestimmungen geben, als die sind, die Gott selbst einst gegeben? Ist es nicht auch für den christlichen Staat das Gewiesene, diesen göttlichen Ordnungeh zu folgen, die ihrem Kerne nach ewig sind? Es nicht tun, hieße an Gottes Weisheit zweifeln. Es kehre deshalb der christliche Staat zu den Strafbestimmungen des mosaischen Gesetzes zurück: kapitale Strafe für jeden, der falsche und gottlose Lehren über Gott, verbreitet und andre verführt, für Gotteslästerung und Sabbatschändung, für Mord, Ehebruch und falsches Zeugnis; solche Pest ist

Theokratische Staatsauffassung. Juden und Heiden.

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auszurotten! Den Glauben freilich kann nur Qott wirken. Darum soll zu persönlichem Glaubensbekenntnis und zum Abendmahlsgenuß niemand gezwungen werden. Von diesen beiden Punkten abgesehen, halte aber die christliche Obrigkeit jeden Getauften zum Hören des göttlichen Wortes und zu strenger Sonntagsheiligung an; sie erkenne dem kirchlich Gebannten auch die bürgerlichen Ehrenrechte ab, denn „Heiden sollen in der Christenheit gehalten werden wie Heiden"; sie lasse keine Unchristen in ein öffentliches Amt; sie ahnde mit schweren Strafen den Abfall vom wahren Glauben. Solch heilsamer Zwang ist nur Wohltat. Juden und Heiden freilich soll man zum Christentum nicht zwingen, sondern reizen und einladen. Die Juden ehren Gott wenigstens einigermaßen nach seinem Gesetz. Darum kann man sie dulden, aber nur eben dulden. „So die Oberkeiten Gottes Gericht üben wollen, ist auch billig, daß sie die Verächter göttlicher Gnaden also halten, daß dieselben durch sie göttlichen Zornes erinnert werden". Man soll ihnen zwar gestatten, sich durch ihrer Hände Arbeit ehrlich zu nähren, um sie nicht dem Wucher in die Arme zu treiben, aber ein öffentliches Amt dürfen sie nicht bekleiden, keinerlei Ehre genießen, zwangsweise sind sie je und je in die christliche Predigt zu führen; der einzelne Christ aber soll ihnen alle Freundschaft erweisen, um sie damit zum Glauben zu reizen. Und eben im Zusammenhang mit dem Gedanken des christlichen Gemeinwesens, also nicht in seiner neuzeitlichen individualistischen Fassung, ist bei Bucer der Missionsgedanke einmal aufgeblitzt. Es wäre Pflicht einer christlichen Obrigkeit, bemerkt er gelegentlich, in den fremden Ländern und Inseln, die sie erobert, den wahren Glauben zu pflanzen; nun aber tut man nichts, als „daß man erstlich die armen Leutlein um Hab und Gut bringet und danach auch die Seel durch falschen Aberglauben, den man sie durch die Bettelmönch lehret". Welches ist nach diesen Darlegungen das Verhältnis von Kirche und Staat? Sie werden wohl unterschieden. Die Kirche hat ihre besondern Ämter und Aufgaben; sie tritt mit dem Staat nicht in Konkurrenz, sie verfügt nicht über äußere Machtmittel, sie übt keinerlei Zwangsgewalt. Sie ist ein rein geistliches Gebilde; das hierarchische Moment ist an der Wurzel abgeschnitten. Aber

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

der Staat steht ihr nicht neutral gegenüber. Denn er bringt auch seinerseits das Qesetz Gottes zur Ausführung, dient auch seinerseits dem ewigen Heil seiner Untertanen. Und weil er von Gott Schwert und Gewalt erhalten hat, braucht er beides auch zu diesem Zweck. Er regiert die Kirche äußerlich, er privilegiert sie, duldet keine andere Religionsgemeinschaft, zwingt den Bürgern in seinen Gesetzen den heiligen Gotteswillen auf, er übt das „coge intrare", indem er durch eine Reihe von Straf- und Zwangsmaßregeln die Untertanen zum Glauben wenigstens zu „reizen" sucht. Wer aber sagt ihm, was Gottes Wille ist? Doch eben die Kirche durch die von ihren Dienern geübte Auslegung der Schrift: „Christliche Könige wissen, daß sie Christum hören, wenn sie seine Diener hören". So wird die Kirche auch ohne alle äußere Macht die Seele des christlichen Gemeinwesens; sie setzt die letzten Ziele und Zwecke fest, und sie braucht zu ihrer Durchführung nur deshalb keine äußeren Machtmittel, weil der Staat ihr mit den seinigen beispringt: neben der so ideal als Liebesgemeinschaft gefaßten Kirche steht die theokratische Zwangsherrschaft des christlichen Staates, geübt im Namen des heiligen Gottesgesetzes. Wie unmodern und unevangelisch zugleich mutet uns dies alles an! Wie beim Kampf wider Messe und Interim und bei Beurteilung des römischen Katholizismus denkt eben Bucer in den absoluten Kategorien des 16. Jahrhunderts, nicht in den relativen unserer modernen Zeit. Daß die der Christenheit neu geschenkte Erkenntnis des Evangeliums, bei allen theologischen Differenzen und Irrtümern im einzelnen, in den Hauptpunkten eine schlechthin vollständige und adaequate ist, steht ihm außer Zweifel. „Gott gibt sein Wort so hell und klar", daß jeder Gutwillige, der Augen hat zu sehen, die Wahrheit sehen muß, für die Verblendeten das „nötige sie hereinzukommen" eine Wohltat bedeutet. Und nun sind es drei Momente, die bei dem persönlich so seelsorgerlich milden Bucer dieser Staatsauffassung ihre harten Züge verleihen: vorab die völlige Gleichstellung des Alten Testaments mit dem Neuen, wodurch die israelitische Theokratie zum Vorbild des christlichen Staates wird, die Obrigkeit in alttestamentlicher Art um Gott eifern, das Evangelium lernen muß, „das Schwert zu vertragen". Dazu kommt die Prädestinationslehre: es müssen auch die Verworfenen

Staat und Kirche. Bucen Persönlichkeit

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durch strenge Strafen abgeschreckt und unter das Qesetz Gottes gebeugt werden, damit sie dem Ganzen nicht schaden. Und damit verbindet sich endlich die pessimistische Beurteilung des Menschen: Zwang und Strafe sind gottgeordnete Mittel, ihn zum Heile zu führen. Bei Bucers Auffassung der hl. Schrift und des Gottesgesetzes ist auch diese Fassung des christlichen Gemeinwesens ein Zeichen des heroischen Ernstes, mit dem er in der ganzen Welt und der vollen Breite des Kulturlebens die „Herrschaft Christi" aufrichten wollte. Die weicheren und freieren Formen humanistischen Christentums freilich sind hier im Verbleichen: die Gestalt Calvins taucht vor uns auf. Ihren letzten Ausgleich finden manche Unstimmigkeiten und Spannungen in Bucers Persönlichkeit. Wie eigenartig ist doch in seinem reichen und offenen, beweglichen und biegsamen und doch seine Ziele mit zähester Energie verfolgenden Geiste Gegensätzliches vereinigt: Der Vertreter der freien Geisteswirkung und der geistgewirkten Innerlichkeit wurde der Kirchenmann, der Begründer fester kirchlicher Institutionen. Der Mann der Volkskirche und des universalen Wirkens, den es drängte, das Evangelium über die Welt zu verbreiten, schloß als Prädestinatianer die Mehrzahl der Menschen von der Seligkeit aus. Der Feind jedes dogmatischen Rieht- und Hadergeistes, der Befürworter der individuellen, auf Milde und Geduld gegründeten Seelsorge war als Staatstheoretiker der harte Theokrat, der eine falsche Religion unnachsichtlich ausgerottet wissen wollte. Der scharfsichtige Politiker und vielgewandte Diplomat, der in seinen großen Aktionen um höherer Ziele willen Erwägungen des kirchenpolitischen Opportunismus Raum gegeben hat, war letztlich weder der schlaue Rechner noch der nüchterne Staatsmann, sondern der religiöse Idealist. Eine volkstümliche Gestalt ist Bucer nicht eigentlich gewesen. Am ehesten noch in der ersten Zeit, wo er, nach dem Ton seiner „Verantwortung" zu schließen, den Gärtnern von St. Aurelien manch derbe Predigt gehalten haben wird. Aber bei der Zensur gelegentlich der Synode von 1533 ward ihm vorgeworfen, er predige zu lang und „gehe zu den besondern Personen", d. h.

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

er wende sich an die Qebildeten. In der Tat urteilt Johannes Sturm, Bucer habe auch als Prediger seine Gedanken in dialektischer Entwicklung geboten, eine Art, die nur Gelehrte wirklich zu würdigen vermocht hätten. Der Liebling des Volkes blieb der alte Zell, und als der eigentliche große Prediger galt Hedio, den auf seiner Münsterkanzel auch Adel und Ratsmitglieder mit Vorliebe hörten. Dazu war Bucer wegen seiner Strenge und seiner Bestrebungen um die Kirchenzucht in manchen Kreisen unbeliebt. Als Bucer nach geschlossener Konkordie in Wittenberg predigte, hat ihn bekanntlich Luther im Scherze dahin kritisiert, er selbst sei ein viel besserer Prediger, denn er wisse zu seinen schlichten Wenden zu sprechen, während Bucer sich in sublimen Höhen, nur immer „im Geischt, Geischt" bewege. Bucer gingen überhaupt grade diejenigen Eigenschaften ab, die Luther zum Volksmanne machten. Er war weder der gewaltige Prediger, noch der Dichter, noch der Sprachmeister, der Luther war. Gedichtet hat er überhaupt nicht, so sehr er geistliche Dichtung würdigte, die damals in Straßburg eifrige Pflege fand. Seiner Prosa fehlt Luthers Schwung und zwingende Sprachgewalt; der Wirkung seiner publizistischen Arbeiten tut ihre Breite Eintrag. Weit konziser ist sein Latein, obwohl auch in seinen wissenschaftlichen Werken der Gedanken Fülle nicht selten die Einheit und Abrundung zu zerstören droht. Mit das Lebendigste, zugleich das geschichtlich und persönlich Wertvollste, sind seine Briefe. In ihnen gibt er sich am unmittelbarsten nach seinen innersten Gedanken und Motiven, und Stil wie Stimmung erheben sich in dramatischen Momenten zu wirklicher Größe. Läßt in dem, was Bucer geschrieben, die Form oft zu wünschen übrig, so ist dies auch dadurch bedingt, daß er auf die Ausarbeitung einfach keine Zeit zu wenden hatte. Seine Produktivität ist erstaunlich. Das Verzeichnis seiner Schriften zählt an die 80 Nummern; dazu eine Unzahl von Eingaben, Bedenken und Gutachten und eine riesige, zum Teil noch der Veröffentlichung harrende Korrespondenz. Zwei Schreiber waren manchmal nötig, seine eilig hingeworfenen Konzepte ins Reine zu schreiben. Unlösbar wird insbesondere der Name seines Helfers und Sekretärs Conrad Hubert mit Bucers Schriftstellerei verbunden bleiben. „Ein

Schriftstellerische Art. Universale Wirksamkeit

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gar frommer Junge, ganz einer gütigen, freundlichen Art", so schilderte er den 24jährigen Pfälzer, als er ihn 1531 zum Helfer annahm, wobei er ihm auch sofort eine Frau warb. Und Hubert hat bis an sein Ende in rührender, unerschütterlicher Treue an Bucers Person und Theologie festgehalten und zuletzt für diese seine Überzeugung gelitten, dem Forscher überdies dadurch wert, daß er bei Lebzeiten des Reformators seine kalligraphische Meisterschaft in dessen Dienst stellte und nach seinem Tode eine Gesamtausgabe seiner Schriften plante, von der leider nur ein Band zustande kam. Verzehrende Tätigkeit war für Bucer Pflicht wie inneres Bedürfnis. Und seine Tätigkeit hat einen großen Zug. Es sind große Ziele und Gesichtspunkte, für die er sich eingesetzt hat: die Einigkeit des werdenden Protestantismus, die Verhinderung der konfessionellen Spaltung Deutschlands, die Verbreitung des Evangeliums über die Welt. So universal seine Auffassung von der in allen Zeiten und Völkern wirksamen Gottesoffenbarung war, so universal war sein Interesse und seine Wirksamkeit in der Gegenwart. Wo hat er nicht Verbindungen gehabt; wie aufmerksam hat er nicht neben seiner persönlichen Wirksamkeit in Deutschland und der Schweiz den Gang der Dinge in Frankreich verfolgt, wo Johannes Sturm und Sleidan Jahre hindurch seine vertrauten Korrespondenten waren; wie eifrig war er bedacht, Anknüpfungspunkte in England zu suchen, wie hat er den Freunden des Evangeliums in Italien sein Interesse gewidmet! Dabei hat er allezeit in vollendeter Selbstlosigkeit seine Person völlig in den Dienst der großen Sache gestellt. Das eben war sein „Beruf"; denn er fühlte sich von Gott berufen und verpflichtet, „den Kirchen wie den einzelnen an dem Evangelium zu dienen; wehe mir, wenn ich es nicht täte; wehe mir, wenn ich mich irgendwo meiner Pflicht entzöge!" Und er hat diesem Beruf alles geopfert, seine Ruhe, seine wissenschaftliche Muße, seine Gesundheit, seine Einkünfte. Als er über die Not der ersten Jahre hinaus war, wurde sein Pfarrhaus auch zu einer „Herberge der Gerechtigkeit", in der Italiener, Franzosen, Niederländer und sonstige Flüchtlinge die internationale Welt des Reiches Christi im kleinen darstellten. Im letzten Winter, schreibt er 1545, habe er nie unter acht Personen in seinem Hause um des Herrn willen erhalten und habe zu diesem

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

Zwecke nicht geringe Schulden machen müssen. Bescheiden genug war denn auch, was er bei seinem Tode den Seinen hinterließ. Diese Selbstlosigkeit zeigt sich nicht zum mindesten auch darin, daß Rechthaberei und Herrschsucht dem Straßburger Reformator fremd gewesen sind, persönliche Eitelkeit und Empfindlichkeit nie Macht über ihn gewonnen haben. So unentwegt er seine Ziele verfolgen konnte, eigensinniges Beharren auf seinen Formeln war nie seine Sache, und auf Irrtumslosigkeit hat er nie Anspruch erhoben. Die ihm nahe standen, waren sich eins über seine Bescheidenheit, seine Zugänglichkeit, seine Bereitwilligkeit zu lernen und umzulernen; auch in dieser Beziehung ehrte er Christum in den Brüdern. Bei solcher Art vermochte er ein Virtuose der Freundschaft zu sein. Enge persönliche Gemeinschaft und Austausch waren ihm Lebensbedürfnis. Mit Capito blieb er bis an dessen Lebensende eng verbunden, und Capito hat ihm, trotz zeitweiliger Meinungsverschiedenheiten, ein Vertrauen geschenkt, das dem so viel jüngeren Bucer fast beschämend vorkommen wollte. Calvin, Johannes Sturm, Petrus Martyr haben seine hingebende Freundschaft erfahren. Vielen hat er zu helfen gesucht; er war es, der dem Landgrafen den Plan entwickelte, Sleidan zum Historiographen des Schmalkaldischen Bundes zu machen, und nachher alle Mühe aufwandte, ihm die versprochene englische Pension zu erwirken. Niemand aber hat seinem Herzen näher gestanden als sein Konstanzer Busenfreund Ambrosius Blaurer mit seiner Schwester Margarete. Ihm hat er Freud und Leid rückhaltlos vertraut, in seinem Kreise war es ihm am wohlsten. Welch verzweifelter Schmerzensschrei entringt sich ihm, als die Unstimmigkeiten bezüglich des Konkordienwerks das Verhältnis zu gefährden drohen! Wahrhaft gerungen, und siegreich gerungen hat er damals um den Freund: „Mein Herz bist Du und wirst es bleiben!" An Feinden und Widersachern fehlte es freilich nicht. Von den Anfeindungen und Anwürfen von gegnerischer Seite ganz abgesehen, dürften wenige unter den Reformatoren auch im eignen Lager so viel mißverstanden, beargwöhnt, ja verleumdet worden sein als grade Bucer. In Wittenberg hat man ihm kaum je ganz getraut und in Zürich seit 1530 erst recht nicht. Und niemand wird

Freunde und Oegner.

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leugnen, daß die Versuche des „indefessus conciliator et pacis instaurator", durch diplomatisch ausgeklügelte Kompromißformeln den Protestantismus zur Einheit zusammenzuklammern, schwankende katholische Stände durch weites Entgegenkommen herüberzuziehen, für jeden, der Bucer nicht genau kannte, nur allzu leicht zu Mißdeutungen Anlaß geben konnten. Aber die als Schwäche ausgelegte Mäßigung seiner spätem Jahre hing doch auch damit zusammen, daß er großzügiger und weitherziger dachte und weniger selbstsicher war als andre Größen der Zeit. Denn wer, wie es Bucer vor seinem Scheiden aus Straßburg getan, betonen konnte, er werde fortan niemanden verachten, in dem er irgend etwas vom Qeiste Christi finde, der war gewiß von strenger Lehrgesetzlichkeit und dem im Heraufziehen begriffenen konfessionellen Hadergeiste weit entfernt. Im Bewußtsein, für große Ziele zu arbeiten, hat es Bucer über sich ergehen lassen, wenn kleinere Qeister ihn ein Amphibium nannten oder von ihm als einem „sehr listigen Männlein" sprachen, und hat auch solchen, denen „in allen Stücken nur ihre eigne Meinung gefällt", leidenschaftslos gegenüberzutreten vermocht. Kaum einer hat, außer etwa Melanchthon in den letzten Jahren, unter Luthers Eigenart so schwer zu leiden gehabt als Bucer, und kaum einer hat Luthers religiöse Genialität rückhaltloser anerkannt und treffender zu charakterisieren gewußt als er. Es sei nun einmal Bucers Verhängnis, sagt sein Freund Blaurer, daß seine besten Absichten verdächtigt würden, und er fügt bei; „sed feret et vincet infractum et excelsum hoc pectus". In der Tat, bei allen Anfeindungen uttd Enttäuschungen ist er mutig und ohne Verbitterung und bis zuletzt hingebend tätig seinen Weg gegangen. Der Mann, der so manchmal gefährliche und gewundene Pfade betreten hat, er erscheint um so größer und lautrer, je genauer man in sein Wesen eindringt. Denn es gab letztlich nur eine große Leidenschaft, die sein Werk beherrschte, die Verbreitung des Evangeliums über die Welt: hoc siquidem unum quaerimus, ut Christus quam latissime regnet. Von Bucers Stellung in der Geschichte der deutschen Reformation haben wir ausführlich gesprochen. Wir sahen, wie er mit Jakob Sturm an der Spitze eines Kreises bedeutender Männer

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

gestanden, die StraBburg zu einem anerkannten Mittelpunkte der Reformationsbewegung gemacht haben; wie die Straßburger Schöpfungen auf dem Gebiete der Kirche und Schule immer mit sein Werk und zum Teil in erster Linie sein Werk gewesen sind. Wir sahen, wie er in Ulm und Augsburg grundlegende Arbeit getan und ein Vater der hessischen Kirche geworden ist; wie er durch sein umfassendes Wirken in Schwaben und in der Schweiz den Geist und die Ordnungen der Straßburger Kirche zu weitreichendem Einflüsse gebracht hat. Wir sahen, wie er durch seine theologische Haltung an der Entstehung des Schmalkaldischen Bundes mitbeteiligt ist, wie er durch die Konkordie die süddeutschen Kirchen mit den Lutherischen Gebieten zusammengeschlossen und in der Folgezeit in den kirchenpolitischen Aktionen des deutschen Protestantismus in vorderster Reihe gestanden hat. Wir sahen endlich, wie er einen eigenartigen Typus evangelischen Christentums ausgeprägt hat, in dem neben der Eigenart seiner Person auch die Eigenart des oberdeutschen Reformatorenkreises zum Ausdruck kam. Kann man von einer bleibenden, einer im höchsten Sinne geschichtlichen Bedeutung Bucers für die allgemeine Entwicklung des Protestantismus sprechen? Oder wäre etwa die evangelische Konfirmation seine einzige bleibende Schöpfung? Nur auf dem Gebiete des Gottesdienstes und der Verfassung sind ja die Straßburger Kirche und der oberdeutsche Protestantismus ihrer ursprünglichen Eigenart einigermaßen treu geblieben. Bucers persönlichstes Werk, der besondre Typus evangelischen Christentums und Kirchentums, den er ausgebildet hat, mußte dem Luthertum weichen. Er entbehrte der scharfen Herausarbeitung wie der geschlossenen Zusammenfassung, er war zu weich und zu kompliziert, er war vor allem nicht bekenntnismäßig festgelegt. Und Bucer selbst hat, indem er der Konkordie zu Liebe auf scharfe lehrgesetzliche Ausprägung seines Standpunktes verzichtete und sich in ausschlaggebenden Fragen Lutherschen Formulierungen anbequemte, nicht, wie er hoffte, den gesamten Protestantismus zur Einheit zusammengeschlossen, sondern dem Luthertum in Straßburg und SUddeutschland den Boden bereiten helfen. Es ist eine tragische Fügung, daß grade seine konziliante Stellung in der Hauptstreif rage der Zeit, zu der er sich der großen Sache des Evangeliums wegen

Bucers Stellung in der Oeschichte des Protestantismus.

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verpflichtet fühlte, mit beigetragen hat, seinen Standpunkt um die nötige Durchschlags- und Widerstandskraft zu bringen. Bucers Arbeit ist darum nicht vergeblich gewesen. In derselben Zeit, da in StraBburg ein andrer Geist einzog, trat von Qenf aus der Calvinismus seinen Siegeszug über die Welt an. Und nicht umsonst hatte Calvin drei bedeutungsvolle Jahre in StraBburg zugebracht. Als er nach seiner Rückkehr die Kirche von Qenf neu organisierte, sind ihm die Strafiburger Ordnungen vielfach Vorbild gewesen. Um nur das Wichtigste zu nennen: er hat die Gottesdienstordnung Straßburgs einfach übernommen, einschließlich des Radikalismus in bezug auf die Festtage, einschließlich des Psalmengesangs, den er in Straßburg hatte würdigen lernen. Schöpfungen, an denen Bucer hervorragend beteiligt war, sind damit auf den Boden Genfs verpflanzt worden, um von hier aus weiter zu wirken, wo immer Calvinisches Christentum Boden gewonnen hat. Entscheidender noch ist ein andrer Punkt. Bucers lateinische Werke sind für Calvins Werden von grundlegender Bedeutung gewesen. An Bucers Theologie hat er sich gebildet; in der Fassung, die ihnen Bucer gegeben, sind ihm vielfach die schöpferischen Gedanken Luthers entgegengetreten. Man spricht von den Gedanken der Rechtfertigung und der doppelten Prädestination als den beiden Brennpunkten des Calvinischen Systems; ganz ähnlich ist das Verhältnis bereits bei dem Straßburger Reformator. Seine Prädestinationslehre wie seine Abendmahlslehre, sie kehren bei Calvin wieder, zum Teil bis in bezeichnende Einzelheiten. Es ist Bucers Theorie von der Kirchenzucht, die Calvin wiederholt und mit beispielloser Tatkraft in die Wirklichkeit umgesetzt hat. Bucers Theorie von dem göttlichen Kirchenrecht, von den im Neuen Testament der Kirche ein für allemal gesetzten Ämtern, und zumal seine Wertung des Ältestenamts, es kehrt alles, wenn auch im einzelnen zum Teil anders gefaßt, bei Calvin wieder. Der bei Bucer sich herausbildende Oedanke von der Selbständigkeit der Kirche in ihrer geistlichen Sphäre, die Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat, die theokratische Fassung des Staates und in Verbindung damit die zunehmende Betonung des Alten Testaments und des Gesetzes: alles das ist uns gerade aus Calvin geläufig. In welchem Umfange steht damit

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VIII. Der Mensch und der Theologe.

Calvin als Theologe auf den Schultern des Straßburger Reformators! Freilich, auch was dasselbe ist, ist doch wieder anders getönt. Es liegt an Calvins Persönlichkeit, daß alles folgerichtiger, geschlossener, heroischer, aber auch härter und schroffer wird. Vor allem ist Bucers vermittelnde Art Calvin vollständig fremd. Er hat Bucers Wertschätzung der altkirchlichen Theologie nicht geteilt und jeden die eigne Position verdunkelnden Kompromiß verworfen. So hat er alles schärfer entwickelt und mit einer scharfgeschliffenen Sprache formuliert. Und dann hat er, der große Organisator, die dem Vorgänger mangelnde systematische Kraft besessen, die von ihm erst scharfkantig zubehauenen Bausteine Bucers zum festgefügten Bau zu fügen, der ihnen Eindruck und Bestand sicherte. So liegt Bucers letzte geschichtliche Bedeutung für die Entwicklung des Gesamtprotestantismus darin, daß er der unmittelbare Vorgänger Calvins, ein Vater des Calvinismus vor Calvin geworden ist. Der Straßburger Reformator ist in den Genfer eingemündet und in ihm untergegangen. Aber der Siegeszug des Calvinismus über die Welt bedeutet zugleich ein Weiterleben und Fortwirken von Bucerschen Gedanken. Daß dem so war, davon gab sich freilich kaum jemand Rechenschaft. Weniger als andern Reformatoren hat die Nachwelt Bucer Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er starb als Verbannter in weiter Ferne. Und wie sein Grab verschwand und das Feuer seine Reste verzehrte, so schwand das Gedächtnis von der Bedeutung des Mannes, dessen Schriften keine Gesamtausgabe auf die Nachwelt brachte, dessen Traditionen keine Kirche noch Schule bewußt hochhielt, dessen Name an der Stätte seines Wirkens zu einem Zeichen geworden war, dem widersprochen wurde. Der Geschichtsforschung der Neuzeit ist es vorbehalten geblieben, die wirkliche Bedeutung dieses Sohnes des Elsasses wiederzuentdecken. So erfüllt die protestantische Christenheit von heute eine Ehrenschuld, wenn sie sich anschickt, dem Straßburger Reformator sein Denkmal zu setzen. Sie wird es tun in dem Gefühl, daß er, mögen noch so viele Einzelheiten seiner Gedankenarbeit der Vergangenheit angehören, mit dem Tiefsten und Eigensten seiner Per-

Bucer und Calvin. — Schlußwort.

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sönlichkeit noch unmittelbar zum heutigen Geschlechte zu sprechen vermag; und in dem Bewußtsein, daß nicht eine einzelne Konfession noch Richtung Martin Bucer als den ihren beanspruchen darf, sondern daß der Mann, dessen Eifer für das Evangelium nationale Grenzen und Schranken nicht gekannt und das Menschenmögliche getan hat, die Einheit des Protestantismus zu wahren, dem gesamten Protestantismus angehört.

Quellen und Literatur. Eine bibliographische Zusammenstellung von Bucers Schriften bietet in 128 Nummern F. M e n t z in der Testschrift zur 400 jährigen Geburtsfeier M. Bucers', 1891. Die wichtigsten S c h r i f t e n sind: Für die ersten Jahre die Summaty (Neudruck in der Festschrift) und die Verantwortung von 1523, Grund und Ursach der Neuerungen von 1524. Sodann der Evangelienkommentar in seinen verschiedenen Bearbeitungen von 1527/28, 1530 und 1536, der Psalmenkommentar von 1529 und der Römerbriefkommentar von 1536, wobei die Praefationen und Prolegomena besonders zu beachten sind. Aus späterer Zeit sind hervorzuheben die Dialoge von 1535, die Schrift Von der wahren Seelsorge von 1538 und die für König Eduard 1550 verfaßten 2 Bücher De regno Christi. Mit am wichtigsten sind Bucers B r i e f e . Aus ihrer ungeheuren Masse liegen 5 Komplexe gedruckt vor, der Briefwechsel mit Beatus Rhenanus, mit Zwingli, mit den Blaurer, mit Landgraf Philipp und mit Calvin: Der Briefwechsel des B e a t u s R h e n a n u s , hrsgeg. von H o r a w i t z und H a r t f e l d e r , 1886; Z w i n g i i i opera edd. S c h u l e r et S c h u l t h e s s , VII—VIII, 1830. 1842; Der Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas B l a u r e r , bearb. von Traugott S c h i e s s , Bd. I—II, 1908. 1910; Der Briefwechsel Landgraf P h i l i p p s von Hessen mit Bucer, hrsgeg. von Max L e n z , 3 Bde., 1880—91; C a l v i n i opera edd. B a u m , C u n i t z , R e u s s , X, 2—XIII = Corpus Reformatorum XXXVIII—XLI, 1872—75. Einzelne gedruckte Briefe in den von A. E r i c h s o n in der Festschrift von 1891 zusammengestellten Werken. Das meiste noch ungedruckte Material bietet in Abschriften der Thesaurus Baumianus der Universitäts- und Landesbibliothek Straßburg. Die Literatur über Bucer bis 1891 verzeichnet A. E r i c h s o n in der Festschrift von 1891. Allgemeine Darstellungen der Straßburger Reformationsgeschichte: T. W. R ö h r i c h , Geschichte der Reformation im Elsaß und besonders in Straßburg, 3 Bde., 1830—32; A. J u n g , Geschichte der Reformation der Kirche in Straßburg 1 = Beiträge zur Geschichte der Reformation II, 1830 (nur die ersten Jahre); Ad. B a u m , Magistrat und Reformation in Straßburg bis 1529, 1887; W. S o h m , Die Schule Johann Sturms und die Kirche Straßburgs, 1912. — Die besten Einzelbiographien in kurzer Zusammenfassung bieten J. F ick e r und O. W i n c k e l m a n n , Handschriftenproben des 16. Jhs. nach Straßburger Originalien, 2 Bde., 1902—05. — Das wichtigste Quellenwerk: Politische Korrespondenz der Stadt Straßburg im Zeitalter der Reformation, hrsgeg. von H. V i r c k und O. W i n c k e l m a n n , 3 Bde., 1882—98. Das Hauptwerk über Bucers Leben, doch nur bis 1529 ausführlich, ist J. W. B a u m , Capito und Bucer, 1860; von kleineren Biographieen seien erwähnt

Quellen und Literatur.

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die von A. Erichson,1891, und der Artikel von P. G r ü n b e r g in Haucks Realencyclopädie, Bd. III, 1897. — Einzelne Perioden: Über Schlettstadt und seine Schule: J. G é n y , Die Reichsstadt Schlettstadt 1490—1536, 1900; J. K n e p p e r , Das Schulund Unterrichtswesen im Elsaß von den Anfängen bis gegen 1530,1905. — Wirksamkeit in Schwaben: Th. K e i m , Schwäbische Reformationsgeschichte bis 1531,1855; ders., Die Reformation der Reichsstadt Ulm, 1851; F. R o t h , Augsburgische Reformationsgeschichte II, 1904. — Verhältnis zu Landgraf Philipp und zu Hessen: Max Lenz in dem oben zitierten Quellenwerk; F. W. H a s s e n c a m p , Hessische Kirchengeschichte im Zeitalter der Reformation, 2 Bde., 1852—64; W. Die h l , M. Bucers Bedeutung für das kirchliche Leben in Hessen, Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. XXII, 1904. — Wirksamkeit in Kurköln: C. V a r r e n t r a p p , Hermann von Wied, 1878. — Stellung zum Interim: F. R o t h , Augsburgische Reformationsgeschichte IV, 1911. — Bucer in England: C. H u b e r t , Historia vera de vita, obitu, sepultura M. Buceri, 1562 (hier die Leichenreden); E. H a r v e y , M. Bucer in England, 1906. Einzelne Gebiete von Bucers Tätigkeit : Verhältnis zum Sektenwesen : C. G e r b e r t , Geschichte der Straßburger Sektenbewegung 1524—34,1889; A. H u l s h o f , Geschiedenis van de Doopsgezinden te Straatsburg 1525—1557, 1905. Schulwesen: J. F i c k e r , Die Anfänge der akademischen Studien in Straßburg, 1912; Ch. S c h m i d t , La vie et les travaux de Jean Sturm, 1855; Ch. E n g e l , L'École latine et l'ancienne Académie de Strasbourg, 1900. Die Straßburger Kirchenordnung von 1534 bei T. W. R ö h r i c h , Mitteilungen aus der Geschichte der evang. Kirche des Elsasses I, 1855, und bei L. Aem. R i c h t e r , Die evangelischen Kirchenordnungen der Reformationszeit I, 1845; ebenda die Ziegenhainer und die Kasseler Ordnung von 1538. Kultische Ordnungen: J. S m e n d , Die evangelischen deutschen Messen bis zu Luthers Deutscher Messe, 1896; Fr. H u b e r t , Die Straßburger liturgischen Ordnungen im Zeitalter der Reformation, 1900; A. E r i c h s o n , Die Calvinische und die altstraßburgische Gottesdienstordnung, 1894. Bucers Katechismen: E r n s t - A d a m , Katechetische Geschichte des Elsaß bis zur Revolution, 1897; Fr. H u b e r t , Straßburger Katechismen aus den Tagen der Reformation, Zeitschrift für Kirchengeschichte XX; J. M. Reu, Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts in der evang. Kirche Deutschlands 1530—60, Erster Teil: Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterrichts I, 1904. — Bucer und die Konfirmation: W. C a s p a r i , Die evangelische Konfirmation, 1890; W. D i e h l , Zur Geschichte der Konfirmation, 1897. Bucers Theologie: A. L a n g , Der Evangelienkommentar M. Bucers und die Grundzüge seiner Theologie: Studien zur Geschichte der Theologie und Kirche, hrsgeg. von Bonwetsch und Seeberg, II, 2, 1900 (das beste Buch über Bucer); M. U s t e r i , Die Stellung Bucers und Capitos zur Tauffrage, Theol. Studien und Kritiken 1884. — Über Bucers Stellung in der Entwicklung des reformatorischen Christentums vgl. auch E. T r o e l t s c h , Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Die Kultur der Gegenwart, hrsgeg. von P. Hinneberg, Teil I, Bd. IV, 1, und H. von S c h u b e r t s Festrede über Calvin, 1909.