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German Pages 176 [177] Year 2022
Table of contents :
Front matter
Front cover
Impressum
Inhalt
Vorwort zu 2. Auflage
I. Einleitung
II. Marcel Mauss: Ein Leben als Wissenschaftler und engagierter Intellektueller
III. Mauss’ wissenschaftliches Milieu
Die Année sociologique
Henri Hubert
IV. Die Konsolidierung der Durkheim-Schule
V. Zentrale Aspekte des Werks
Die Soziologie der Erkenntnis
Soziologie und Geschichte
Soziologie der Riten (Gebet, Magie,Tod) und der kollektiven Gewohnheiten
Soziologie und Religionswissenschaften – oder: das Soziale als System
Soziologie und Ethnographie:Die soziale Morphologie
Soziologie der Gabe
Soziologie und Psychologie
Die ›Gliederung der allgemeinen beschreibenden Soziologie‹
VI. Das Symbolische, die ›totalen sozialen Tatsachen‹ und der ›totale Mensch‹
VII. Einflüsse und Lehrer
Émile Durkheim (1858-1917)
Sylvain Lévi (1863-1935)
Jean Jaurès (1859-1914)
VIII. Die politischen Schriften
IX. Die Wirkungen von Mauss
X. Literatur
Schriften von Marcel Mauss
Auswahlbibliografie und Sekundärliteratur
Zeittafel
Register
Back matter
Buchanzeigen
Back cover
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Stephan Moebius Marcel Mauss Klassiker der Wissenssoziologie, 2 Halem: Köln 2022 2., leicht überarbeitete Auflage
Die Reihe Klassiker der Wissenssoziologie wird herausgegeben von Prof. Dr. Bernt Schnettler.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© 2022 by Herbert von Halem Verlag, Köln issn 1860-8647 isbn (Print): isbn (pdf): isbn (ePub):
978-3-7445-2070-6 978-3-7445-2071-3 978-3-7445-2072-0
Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im Internet unter http://www.halem-verlag.de E-Mail: [email protected] einband: Herbert von Halem Verlag; Susanne Fuellhaas, Konstanz satz: Herbert von Halem Verlag lektorat: Julian Pitten druck: docupoint GmbH, Magdeburg Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry. Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.
Klassiker der Wissenssoziologie
Stephan Moebius
Marcel Mauss
HERBERT VON HALEM VERLAG
Danksagung An dieser Stelle sei ganz herzlich Robert Mauss für die Druckerlaubnis der Bilder von Marcel Mauss gedankt! Ebenso möchte ich mich für hilfreiche Hinweise ganz besonders bei Bernt Schnettler, Christian Papilloud, Dirk Quadflieg und Marcel Fournier bedanken, sowie für die 2. Auflage im Herbert von Halem Verlag bei Julian Pitten.
Zum Autor Stephan Moebius ist seit 2009 Universitätsprofessor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Graz und seit 2019 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Inhalt
Vorwort zur 2. Auflage
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I.
Einleitung
13
II.
Marcel Mauss: Ein Leben als Wissenschaftler und engagierter Intellektueller
23
III.
Mauss’ wissenschaftliches Milieu Die Année sociologique Henri Hubert
50 50 55
IV.
Die Konsolidierung der Durkheim-Schule
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V.
Zentrale Aspekte des Werks 74 Die Soziologie der Erkenntnis 74 Soziologie und Geschichte 76 Soziologie der Riten (Gebet, Magie,Tod) und der kollektiven Gewohnheiten 79 Soziologie und Religionswissenschaften – oder: das Soziale als System 89 Soziologie und Ethnographie: Die soziale Morphologie 94 Soziologie der Gabe 97 Soziologie und Psychologie 103 Die ›Gliederung der allgemeinen beschreibenden Soziologie‹ 105
VI.
VII.
Das Symbolische, die ›totalen sozialen Tatsachen‹ und der ›totale Mensch‹ Einflüsse und Lehrer Émile Durkheim (1858-1917) Sylvain Lévi (1863-1935) Jean Jaurès (1859-1914)
107 120 120 125 128
VIII. Die politischen Schriften
132
IX.
Die Wirkungen von Mauss
143
Literatur
151 151 152 166
X.
Schriften von Marcel Mauss Auswahlbibliografie und Sekundärliteratur Zeittafel
Register
169
Vorwort zur 2. Auflage
Das internationale Interesse an Leben, Werk und Wirkung von Marcel Mauss hat in den letzten Jahren weiter zugenommen. Bücher zur französischen Soziologie würdigen zunehmend seine eigenständige Rolle für die Durkheim-Schule und die französische Soziologie insgesamt (heilbron 2015). Insbesondere in Frankreich sind neuere Forschungen zu Mauss’ gesamtem Werk, seinem akademischen Umfeld und Werdegang erschienen. So wurde zum Beispiel erst vor Kurzem die Korrespondenz der beiden »Arbeitszwillinge« (mauss 2006: 352) und Freunde, Marcel Mauss und Henri Hubert, veröffentlicht (benthien/labaune/lorre 2021), die beide mit Robert Hertz und Stefan Czarnowski die Religionssoziologie der DurkheimSchule maßgeblich vorantrieben (bert 2012a). Zu der immer noch unübertroffenen Biografie von Marcel Fournier (1994) ist beispielsweise eine Analyse der Wissenspraktiken von Mauss hinzugekommen, die den von ihm initiierten praxistheoretischen Ansatz (vgl. moebius 2009) wissenschaftssoziologisch auf ihren Begründer selbst anwendet (bert 2012b). Obgleich die deutschsprachige Rezeption von Mauss bereits zu seinen Lebzeiten begann (moebius/nungesser 2014), hat sich das Bild eines eigenständigen soziologischen Denkens von Mauss insbesondere im deutschsprachigen Raum immer noch nicht gänzlich durchgesetzt, wie ein Blick in unterschiedliche Einführungs- und Überblickswerke zur Soziologie aus dem deutschen Sprachraum zeigt. Dort steht er weiterhin im Schat9
ten seines Onkels Émile Durkheim. Zudem wird er meist nur im Rahmen der von ihm analysierten Gabe behandelt. Dass er, wie auch die vorliegende Einführung zeigen möchte, zahlreiche intellektuelle Anregungen jenseits des Gabe-Theorems zu bieten hat, wird meist ausgeblendet. Allerdings mehren sich zunehmend die Versuche, Mauss’ Bedeutung für die Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften auch im deutschsprachigen Raum zu erschließen und hervorzuheben. Das hat sich – betrachtet man nur einmal die Schriften von Mauss selbst – neben der bereits seit einigen Jahrzehnten und in der Reihe Klassiker der Sozialwissenschaften wieder neu aufgelegten zweibändigen Textsammlung Soziologie und Anthropologie (mauss 2022) etwa in Editionen und Übersetzungen niedergeschlagen, die Mauss’ Schriften zur Religionssoziologie, zur Ethnografie, zum Geld oder zu Nation und Internationalismus für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich gemacht haben (mauss 2012, 2013, 2015, 2017). Besonders hervorzuheben – insbesondere im Kontext dieser Reihe zu den Klassikern der Wissenssoziologie – sind jüngere innovative Untersuchungen aus Deutschland, die die kulturvergleichende und -soziologische Erforschung von Denkkategorien im Rahmen der Durkheim-Schule in den Fokus rücken (schick et al. 2015; schüttpelz 2015; schick/schmidt/zillinger 2022). Sie zeigen, dass die durkheimiens spätestens seit 1900 im Rahmen ihrer kulturund sakralsoziologischen Forschungen eine genuine Wissenssoziologie betrieben, indem sie den sozialen Ursprüngen der Denkkategorien nachgingen und kulturvergleichende soziologische Analysen der philosophischen Kategorien des Denkens (Substanz, Quantität, Qualität, Zeit, Raum, Person, etc.) zum Zentrum ihrer Arbeiten machten. Auch sie lassen einen höchst eigenständig denkenden und transdisziplinären Mauss zum Vorschein kommen, der nicht nur zentrale Theoreme und Forschungen der Soziologie der Durkheim-Schule initiiert und weiterentwickelt hat, sondern der international sowohl für die damaligen als auch die aktuellen Sozial- und Kulturwissenschaften einen intellektuellen, universal-gelehrten und immer 10
wieder neu zu bergenden Schatz zu bieten hat. Es ist erfreulich, dass in dieser Situation die Einführung von 2006 in Leben, Werk und Wirkung von Marcel Mauss nun in 2. Auflage aufgelegt werden kann. Sie erscheint in leicht überarbeiteter Form. Ich danke herzlich Herbert von Halem und seinem Verlag. Graz, Oktober 2022 Stephan Moebius
Literatur bert, jean-françois (2012a): Marcel Mauss, Henri Hubert et la sociologie des religions. Penser et écrire à deux. Paris: La Cause des Livre bert, jean-françois (2012b): L’Atelier de Marcel Mauss. Un anthropologue paradoxal. Paris: cnrs Éditions faraco benthien, rafael; labaune, christophe; lorre, christine (Hrsg.) (2021): Henri Hubert et Marcel Mauss. Correspondance (1897-1927). Paris: Classiques Garnier fournier, marcel (1994): Marcel Mauss. Paris: Fayard heilbron, johan (2015): French Sociology. Ithaca: Cornell University Press mauss, marcel (2006): Mauss’ Werk von ihm selbst dargestellt (ca. 1930). In: stephan moebius; chrsitian papilloud (Hrsg.): Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe. Wiesbaden: vs, S. 345-359 mauss, marcel (2012): Schriften zur Religionssoziologie. Herausgeben von Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilloud. Mit einem Nachwort von Stephan Moebius. Frankfurt/M.: Suhrkamp mauss, marcel (2013): Handbuch der Ethnographie. Herausgegeben von Iris Därmann und Kirsten Mahlke. München: Fink
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mauss, marcel (2015): Schriften zum Geld. Herausgegeben von Hans Peter Hahn, Mario Schmidt und Emanuel Seitz. Berlin: Suhrkamp mauss, marcel (2017): Die Nation oder der Sinn fürs Soziale. Herausgegeben und mit einer Einführung von Jean Terrier und Marcel Fournier. Frankfurt/M., New York: Campus mauss, marcel (2022): Soziologie und Anthropologie. 2 Bände. Neu herausgegeben und eingeleitet von Cécile Rol. Reihe Klassiker der Sozialwissenschaften (Klaus Lichtblau/Stephan Moebius). Wiesbaden: vs moebius, stephan (2009): Marcel Mauss und Pierre Bourdieu. In: boike rehbein; gerhard fröhlich (Hrsg.): BourdieuHandbuch. Stuttgart: Metzler, S. 53-57 moebius, stephan; nungesser, frithjof (2014): Die deutschsprachige Mauss-Rezeption. In: Trivium, 17|2014, url: http://journals.openedition.org/trivium/4911; doi: https://doi.org/10.4000/trivium.4911 schick, johannes; schmidt, mario; schüttpelz, erhard; zillinger, martin (2015): Werkstatt: Unbekannte Monde am Firmament der Vernunft. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften »Begeisterung und Blasphemie«, Band 9, Nr. 2, 2015. Bielefeld: Transcript, S. 233-259 schick, johannes; schmidt, mario; zillinger, martin (Hrsg.) (2022): The Social Origins of Social Thought. Durkheim, Mauss, and the Category Project. New York/Oxford: Berghahn schüttpelz, erhard (2015): Das Kategorienprojekt. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Band 9, Nr. 2, 2015, S. 239-242
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i.
Einleitung
»Wer Mauss verstehen will, muß seine gesamte Gedankenwelt nachvollziehen.« (dumont 1991: 209)
»Kaum eine Lehre ist so esoterisch geblieben und kaum eine hat zugleich einen so tiefen Einfluss ausgeübt wie die von Marcel Mauss«, urteilt der Mauss-Schüler Claude Lévi-Strauss. Man könne Mauss nicht lesen, »ohne die ganze Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfaßt den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewißheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein« (lévistrauss 1999: 26).
Die hierzulande vielfach festzustellende Unbekanntheit des Mauss’schen Werks steht in einem diametral entgegen gesetzten Verhältnis zu den Wirkungen seines Denkens auf die Sozial- und Geisteswissenschaften. Mauss selbst ist zutiefst von seinem Onkel Émile Durkheim geprägt, dem ersten Inhaber eines sozialwissenschaftlichen Lehrstuhls in Frankreich. Der Neffe ist aber nicht nur einfacher Epigone Durkheims, sondern entwickelt eigenständige Forschungsperspektiven auf das Soziale. Nach Durkheims Tod im Jahre 1917 avanciert er zum führenden Kopf der französischen Soziologie bzw. der ›Durkheim-Schule‹. Darüber hinaus ist Mauss der treibende Motor für die Begrün-
dung und Entwicklung der französischen Ethnologie (vgl. petermann 2004: 815). Mauss sait tout! – Mauss weiß alles, sagt man sich unter den Pariser Studierenden. Er beherrscht über ein Dutzend moderne und alte Sprachen (vgl. lévy-bruhl 1950: 318). »Das Geheimnis seiner Popularität unter uns Hörern und Schülern liegt wahrscheinlich darin, daß bei ihm im Unterschied zu so vielen akademischen Lehrern Erkennen nicht ein von anderen abgetrennter Betätigungsbereich war: Sein Leben war Erkennen geworden und sein Erkennen Leben, deshalb konnte er – jedenfalls auf einige – einen so großen Einfluß ausüben wie ein religiöser Lehrer oder ein Philosoph«, so Louis Dumont (1991: 197), einer von Mauss’ Schülern. Der Einfluss auf seine Schüler ist seiner großen Gelehrsamkeit sowie der besonderen Aufmerksamkeit, die er für sie aufbringt, geschuldet. Mauss ist kein unnahbarer Professor, den es nach dem Seminar sofort ins abgeschiedene Büro zieht, sondern er trifft sich mit seinen Studierenden, diskutiert mit ihnen, fühlt sich in sie ein und hat für alles und jeden ein offenes Ohr (vgl. leenhardt 1951: 23). »Man ging am Ende einer Unterrichtsstunde zu ihm, und er verließ einen zwei Stunden später am anderen Ende von Paris. Die ganze Zeit über hatte er im Gehen gesprochen, und es war, also ob einem die Geheimnisse ferner Rassen, ein Stück der Archive der Menschheit von einem Kundigen in Form einer einfachen Unterhaltung enthüllt worden wären. Denn er hatte die Welt durchreist, ohne seinen Sessel zu verlassen, sich durch die Bücher mit den Menschen identifizierend. So hörte man von ihm häufig Sätze wie: ich esse… ich verfluche… ich fühle…, und er meinte damit je nachdem: der Melanesier auf der und der Insel ißt, der Maorihäuptling verflucht oder der Puebloindianer fühlt… Wenn Mauss – wie wir zu sagen pflegten – alles wusste, so führte ihn das nicht zu komplizierten Erklärungen.« (dumont 1991: 198)
Mauss versteht es, Brücken zwischen sich und den Studierenden, zwischen seinem Onkel und dessen Schülern sowie zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen selbst zu bau14
en. Er bewegt sich über die Fächergrenzen hinweg und sucht den »totalen Menschen« (sa 2: 203; karsenti 1997). Hierzu verknüpft er die Soziologie mit der Psychologie, der Geschichte, der politischen Ökonomie, der Religionswissenschaft, der Philosophie und der Ethnologie. Trotz der ungeheuren Bandbreite seines Wissens und der Vielfalt seines Denkens lässt sich bei ihm eine Einheit entdecken: Seine Schriften kreisen stets um das Soziale, den »homme total« und das »soziale Totalphänomen« (vgl. sa 2: 203; tarot 2003: 5ff.). »Im Großen und Ganzen habe ich das einzige Ziel des Faches, dem ich mich verschrieben habe, nie aus den Augen verloren: Durch den unmittelbaren und präzisesten Kontakt mit den Tatsachen die Rolle des sozialen Lebens im menschlichen Leben zu zeigen und genau zu bestimmen«, so Mauss (2006a: 358f.) über sich selbst. »Man muss das Unbekannte enthüllen«, pflegt er zu sagen. Bei dieser »Enthüllung« legt er größten Wert auf empirische Forschungen. Nur mit Hilfe empirischer Daten sei die Soziologie zu Fortschritten fähig. Das bedeutet nicht, dass Mauss kein Theoretiker oder ein bloßer Empirist ist. Er ist beides: zugleich Empiriker und Theoretiker, »Rationalist und Empirist« (fournier 1994: 15). Er ist der Meinung, dass jede Theorie einer empirischen Sättigung bedarf: »Ich erkenne selbst dann die höhere Gewissheit der deskriptiven Wissenschaften im Vergleich zu den theoretischen Wissenschaften (im Falle von sehr komplexen Phänomenen) an, wenn ich eine theoretische Wissenschaft praktiziere« (mauss 2006a: 345). Betrachtet man Mauss’ größere Forschungsarbeiten, so fällt auf, dass sie in vielen Fällen und vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Gemeinschaftsproduktionen sind, sei es, dass er sie mit seinem Onkel, seinem sogenannten ›Arbeitszwilling‹ Henri Hubert, mit Paul Fauconnet oder beispielsweise zusammen mit seinem Schüler Henri Beuchat verfasste (vgl. Abschnitt ii). Mauss versteht sich selbst als ein Teil eines größeren Unternehmens. Nur aufgrund der (übrigens von Durkheim selbst erforschten) Dimensionen kollektiver Kooperation, Arbeitsteilung und Solidarität unter den Mitarbeitern konnte die Posi15
tion der Durkheim’schen Soziologie als zentrale Disziplin im wissenschaftlichen Feld Frankreichs ausgebaut werden. Die Mitarbeiter Durkheims, speziell Mauss, sind sich dieser Tatsache vollkommen bewusst (vgl. mauss 2006a: 346). Nach dem Krieg, als Durkheim und die meisten seiner Mitarbeiter tot sind, verwendet Mauss seine ganze Zeit und Kraft darauf, ihre Schriften zu publizieren und für die Nachwelt zu erhalten. Er avanciert in der Zwischenkriegszeit zur treibenden Kraft der Soziologie und der Ethnologie. Er baut die DurkheimSchule aus und konsolidiert sie im wissenschaftlichen Feld (vgl. Abschnitt iii). Kaum wahrnehmbar und ohne dem Ansehen Durkheims zu schaden, verändert er sie aber auch von Innen her, indem er beispielsweise einen neuen Dialog mit den Psychologen eröffnet oder 1925 die französische Ethnologie begründet (vgl. fournier 1994: 14f.; berthoud 1996: 14f.; marcel 2001: 56). Die Konsolidierung der Durkheim-Schule geht in der Zwischenkriegszeit mit Veränderungen der Durkheim’schen Soziologie und mit der Entwicklung der Ethnologie einher. 1925 ruft Mauss zusammen mit Paul Rivet und Lucien Lévy-Bruhl das Institut d’ethnologie ins Leben. Spätestens seitdem sind Soziologie und Ethnologie im sozialwissenschaftlichen Feld in Frankreich jahrzehntelang nicht mehr zu trennen. Was macht diesen Erfolg von Mauss aus? Der Mauss-Experte Pierre Centlivres beantwortet diese Frage folgendermaßen: »Er hat während fast eines halben Jahrhunderts die Sozialwissenschaft in Frankreich beherrscht und stimuliert, weil er die Vorzüge der Vertreter dieser Wissenschaft verkörperte: eine traditionelle philosophische und humanistische Ausbildung und eine tiefe Verbundenheit mit den Normen und Bedeutungen anderer Kulturen« (centlivres 1990: 171). Neben seiner wissenschaftlichen Karriere engagiert sich Mauss auch politisch (vgl. Abschnitt i und vii). Der erste politische Beitrag, L’Action socialiste, erscheint 1899 in der Le Mouvement socialiste (ep: 72-82). Seine politischen Schriften und sein Engagement sind jedoch in Deutschland kaum bekannt, dabei ge16
hören politische und wissenschaftliche Tätigkeit bei ihm wie zwei Seiten einer Medaille zusammen. Wie Durkheim ist er ein Freund und enger Vertrauter des Reformsozialisten Jean Jaurès. Mauss selbst sagt, seine größten Einflüsse seien Durkheim, sein »zweiter Onkel« Sylvain Lévi und Jaurès (vgl. Abschnitt vi). Mauss ist Mitglied der Sozialistischen Partei, Mitbegründer der Zeitung L’Humanité und tritt für einen genossenschaftlichen Sozialismus ein (vgl. fournier 1997). Bei politischen Versammlungen bezeichnet man ihn als ›Citoyen Mauss‹. Nahezu alle Durkheim-Schüler setzen sich in der ›Dreyfus-Affäre‹ für den zu Unrecht wegen Hochverrats verurteilten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus ein und verteidigen die Dritte Republik gegen Antisemiten und rechte Nationalisten (vgl. besnard 1981: 278; gülich 1991: 118; charle 1994). Dieses Engagement für die Republik prägt das gesamte politische Denken von Mauss. Er ist jedoch sehr darauf bedacht, wissenschaftliches und politisches Werk zu trennen,1 vor allem in seiner Lehre. Wie für den deutschen Soziologen Max Weber, den Mauss übrigens einmal in Heidelberg besucht hat (vgl. tiryakian 1966: 332), gehört für ihn die Politik nicht in den Hörsaal. Eine rigorose Trennung zwischen Wissenschaft und Politik ist jedoch schwierig und die Grenzlinien sind auch für Mauss schwer zu ziehen (vgl. fournier 1997: 8): Ist es nicht selbst ein politischer Akt von Mauss, während der politischen Debatten um den Laizismus, also die Forderung nach einer Trennung zwischen Kirche und Staat, die Religion zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt zu erheben? Oder entgegen der öffentlichen und weit verbreiteten wissenschaftlichen Meinung vehement darauf zu bestehen, es gebe keine ›nicht-zivilisierten‹ Völker, sondern nur unterschiedliche Zivilisationen? Einige Zeitgenossen, wie Charles Andler, der Begründer der modernen französischen Germanistik, meinen, Mauss sei bes1
Dennoch lässt es sich Mauss nicht nehmen, am Ende seines berühmten Essay über die Gabe praktische politische Konsequenzen für die moderne Gesellschaft aus seiner Untersuchung zu ziehen.
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ser mit sozialwissenschaftlichem Handwerkszeug ausgerüstet (bessere Kenntnisse in Sprachen, Ethnografie, Museografie und maßlose Opferbereitschaft) und hätte seine Arbeit besser gemacht als Durkheim selbst.2 Ungeachtet solcher Meinungen und trotz der Leistungen, die Mauss für die Konsolidierung der Soziologie und die Entstehung der professionellen Ethnologie in Frankreich vollbracht hat, bleibt er im wissenschaftlichen Diskurs umstritten (vgl. dazu karady 1968: ix; berthoud 1996: 11ff.): Man wirft ihm vor, dass er kein theoretisches System errichtet habe, seine Arbeiten inkohärent seien und er im Ganzen gesehen nur fragmentarisch gebliebene Beiträge verfasst habe. Hat er überhaupt jemals ein Buch geschrieben? Verfasste er, worauf seine Beitragstitel von selbst verweisen, nicht immer nur ›Essays‹, ›Entwürfe‹, ›Rezensionen‹ oder ›Bemerkungen‹? Und sein Lehrbuch der Ethnographie (me), durch das die Entwicklung der Ethnologie als empirische Wissenschaft maßgeblich vorangetrieben wurde, hat er nicht selbst geschrieben, sondern es besteht aus einem von Schülern nachträglich zusammengestellten Vorlesungsskript. Zu alledem, sagen die Ethnologen, hat er sich nie dem ethnologischen Initiationsritus unterzogen: Mauss war selbst nie »im Feld« – von einer Marokko-Reise einmal abgesehen (mauss 1980: 7ff.). War Mauss in seinen letzten Jahren überhaupt noch Wissenschaftler? War er nicht vielmehr ein fantasievoller Literat? Mauss erste Arbeit ist eine Buchbesprechung, es folgen hunderte davon. Sind seine größeren Studien nicht ebenfalls ›nur‹ Literaturberichte? Warum hat er keine Monografie geschrieben? Warum hat Mauss seine Doktorarbeit nicht beendet? Was hinderte ihn daran? Ist er ein Faulenzer, ein Lebemann, ein Wirrkopf oder gar ein Träumer, wie Durkheim (1998: 45, 101) zuweilen vermutet?3 In einem Brief an seine Mutter schreibt 2
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charles andler: Proposition en vue de la création d’une chaire de sociologie au Collège de France, Bericht vom 15. Juni 1930 auf der Professorenversammlung, 1925-1934, Archiv des Collège de France, G 11-13. In einem Brief vom Januar 1898 schreibt Durkheim: »Willst du endlich einmal meinen Anweisungen folgen!«
Mauss, er sei so wenig wie möglich für ein intellektuelles Leben geschaffen (fournier 1994: 150). Und wie ist es mit seinem Werk? Ist es nicht nur fragmentarisch und teilweise unvollendet geblieben? Er selbst sagt: »Ich lege nicht viel Wert auf wissenschaftliche Systeme, und ich habe kein anderes Bedürfnis, als nur partielle Wahrheiten auszudrücken. Doch es [das Werk, S.M.] zeigt eine kontinuierliche Tendenz, die nicht ohne materielle Kontinuität ist. Eine Verbindung existiert zwischen diesen lückenhaften Elementen.« (mauss 2006a: 349) Mauss hat nach Dumont (1991: 196) gar kein Bedürfnis, ein theoretisches System zu entwickeln, das habe ja schon Durkheim getan. Er hat zu viele Ideen, als dass er sie vollständig ausarbeiten könne (vgl. dumont 1991: 200). Es gelte für Mauss vielmehr, das von Durkheim entwickelte theoretische System mit empirischen Tatsachen zu füllen. Diese Einschätzung Dumonts bestätigt Mauss in einem Gespräch mit Earle Edward Eubank: »Mein Hauptinteresse ist keineswegs, ein großes theoretisches System zu entwickeln, das das ganze Gebiet abdecken würde, – das ist sowieso eine unlösbare Aufgabe, – sondern mir geht es darum, ein wenig von den Dimensionen des Forschungsfeldes aufzuzeigen, von dem wir bis jetzt allenfalls den Rand berührt haben. Wir wissen nur ganz wenig, ein wenig hier und ein wenig da, – das ist alles« (Mauss in kaesler 1985: 154). Kann man nicht dennoch etwas Systematisches bei Mauss ausmachen? Vielleicht sein Denken des Symbolismus (vgl. Abschnitt v)? Ist es nicht Mauss, der die Linguistik und das Symbolische in die Sozialwissenschaften eingeführt und das symbolische Denken zur ersten Form menschlichen Denkens erhoben hat (Œ 3: 3024)? Hat nicht bereits Mauss gesehen, dass Handlung und Struktur irreduzibel zusammengehören und nicht das eine zugunsten des anderen vernachlässigt werden darf (vgl. Œ 3: 229)? Und sind seine eigenen Forschungen nicht 4
»La pensée humaine est passée d’une représentation toute symbolique et empirique à la demonstration, à la géométrie et à experience raisonnée. Toute connaissance repose d’abord sur l’autorité du symbole seulement.« (Œ 3: 302)
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deshalb vielfach unvollendet, weil er den Nachlass von Durkheim und die Schriften seiner Freunde zur Veröffentlichung brachte? Fragen, die es im Folgenden zu prüfen gilt. Ungeachtet der genannten Kritiken ist festzuhalten, dass Mauss’ Werke sowohl vergangene als auch aktuelle Theoriebildungen und Forschungen erheblich beeinflussen.5 Wie und durch welche empirischen Forschungen und theoretischen Überlegungen prägt Mauss große Teile des gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Denkens in Frankreich? Wo lassen sich diese Einflüsse ausmachen? Auch wenn Mauss nie ›im Feld‹ war, so kannte er durch seine »Ethnographie von Ethnographien« (ritter 1999: 198) alle ethnologischen Arbeiten seiner Zeit und bestimmte die gesamte französische Ethnologie. Der Erfolg seiner Schüler erfüllte ihn mit Stolz: Am Ende seines Lebens wollte Mauss nach eigenem Bekunden selbst Schüler seiner Schüler werden. Es finden sich explizite Bezugnahmen bei Claude LéviStrauss, der Mauss aufgrund des Symbolismus (vgl. Abschnitt v) zum Vater des sozialwissenschaftlichen Strukturalismus erklärt (vgl. dosse 1999: 55); die Rezeption erstreckt sich auch auf das Ende der 30er-Jahre von Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois ins Leben gerufene Collège de Sociologie (vgl. moebius 2006a) und reicht bis hin zur Soziologie von Pierre Bourdieu und Jean Baudrillard, zur Ethnologie von Maurice Godelier und Marshall Sahlins sowie zur dekonstruktivistischen Philosophie von Jacques Derrida (vgl. moebius/wetzel 2005). Darüber hinaus existiert in Frankreich seit 1980 die M.A.U.S.S.-Bewegung,6 die sich um die Revue du M.A.U.S.S. gruppiert. Die Mitglieder der Bewegung und die Autoren der 5
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In der 1968 publizierten Sociologie de Marcel Mauss schreibt Jean Cazeneuve: »Wenn sich die wahre Rolle eines Wissenschaftlers nach seinen geistigen Erben bemisst, dann kommt die von Anhieb zugleich außergewöhnliche und paradoxe Stellung, die Marcel Mauss – (1872 - 1950) – in der Soziologie des 20. Jahrhunderts einnimmt, zum Vorschein.« (cazeneuve 1968b: 1) ›M.A.U.S.S.‹ steht für Mouvement Anti-Utilitariste en Sciences Sociales, Initiatoren waren Alain Caillé und Gérald Berthoud.
Zeitschrift entwickeln Mauss’ Denken auf unterschiedliche Weise weiter und beleben die Diskussionen um ihn wieder neu. Ähnlich wie das Collège de Sociologie verweisen sie insbesondere auf die von ihm erforschten nicht-utilitaristischen Handlungsdimensionen. Aufgrund ihres tatkräftigen Engagements bezeichnet man die Mitglieder von M.A.U.S.S. mittlerweile auch als Mauss’sche Musketiere: als ›Maussquetaires‹. Der Begründer dieser anti-utilitaristischen Bewegung in den Sozialwissenschaften, Alain Caillé, hält Mauss für den bedeutendsten Klassiker der Soziologie. Denn Mauss habe ein ›drittes Paradigma‹ begründet: das ›Paradigma der Gabe‹, das es neben dem methodologischen Individualismus, der das Soziale lediglich auf die Einzelhandlungen und Kosten-NutzenKalküle der Individuen zurückführt, und dem Paradigma des Holismus, der die Individuen bloß als determinierte Subjekte und funktionelle Teile eines übergeordneten Ganzen begreift, in den Sozialwissenschaften anzuerkennen gilt: »Wir haben fünfzehn Jahre lang im Schatten des Namens von Mauss geforscht […] und im Laufe dieser Jahre haben wir das Gefühl gehabt, bei ihm wie zufällig, wie durch ein Wunder die Fragen und Antworten gefunden oder wieder gefunden zu haben, die sich in uns auf anderen Wegen als bei ihm gebildet haben; wir sind nun langsam davon überzeugt, dass das Werk von Marcel Mauss zumindest wegen seiner Inhaltsreiche, wenn nicht gar wegen seiner Leistung und seines systematischen Umfangs auf die höchste Stufe des Podiums der Sozialwissenschaften, mit Durkheim oder Weber gleichstehend, wenn nicht gar vor sie gestellt werden sollte.« (caillé 2006: 163)
Selbst wenn man in Mauss’ Gabe-Theorem kein ausgefeiltes ›drittes Paradigma‹ erkennen kann, so steht doch außer Zweifel, dass sich eine intensive Beschäftigung mit Mauss lohnt. Wie man sieht, wird Mauss einerseits gefeiert, aber andererseits sind seine Schriften kaum bekannt oder systematisch erforscht worden. Es gibt darum mehrere Gründe, die eine Einführung zu Mauss legitimieren: Ein detaillierter Blick in sein Leben und Werk ist erstens nicht nur aufgrund seiner zentra21
len Rolle für die Durkheim-Schule oder zweitens wegen seiner breit gefächerten Wirkungen besonders interessant, sondern auch drittens wegen seiner den Wirkungen diametral entgegen gesetzten Unbekanntheit in Deutschland, wo man allenfalls den Essay über die Gabe kennt. Ein weiterer Grund liegt viertens in Mauss’ zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Soziologie, der Religionswissenschaften und der Ethnologie. Darüber hinaus hält sein Denken, fünftens, neue Impulse für eine gegenwärtige Gesellschaftsanalyse bereit, die in den aktuellen soziologischen Diskursen allzu häufig ausgeblendet oder überhaupt nicht wahrgenommen werden. Ausgehend von der systematischen Methodologie soziologiegeschichtlicher Forschung von Lothar Peter (vgl. peter 2001a; moebius 2004, 2006a) soll im Folgenden zwischen sozialen, kognitiven und wirkungsgeschichtlichen Dimensionen unterschieden werden. Dementsprechend untersuchen die Abschnitte i-iii die sozialen Dimensionen, sie behandeln die Biografie von Mauss, sein wissenschaftliches Milieu sowie seinen Beitrag zur Institutionalisierung und Konsolidierung der Durkheim-Schule. Die Analyse der kognitiven Dimensionen in den Abschnitten iv-vii widmet sich den Hauptaspekten und zentralen Thematiken von Mauss’ Werk, den prägenden Einflüssen sowie den politischen Schriften. Abgeschlossen wird die Einführung mit einer knappen Darstellung der wirkungsgeschichtlichen Dimensionen des Denkens von Marcel Mauss.
Unterschrift von Marcel Mauss
(aus einem Brief an René König, 3. Mai 1932, Stadtarchiv Köln)
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ii.
Marcel Mauss: Ein Leben als Wissenschaftler und engagierter Intellektueller
Mauss ist sowohl Wissenschaftler als auch politisch aktiver Sozialist. Beides, Soziologie und Sozialismus, gehören bei ihm wie zwei Seiten einer Medaille zusammen.7 Sein Leben kann man in vier Abschnitte unterteilen (vgl. fournier 1994): Die erste Periode umfasst seine Erziehung, sein Studium, seine ersten politischen Aktivitäten und Publikationen. Zur zweiten Periode zählen seine Arbeit im Team der Zeitschrift L’Année sociologique, sein politisches Engagement in der Dreyfus-Affäre, die Entwicklung eines eigenen Forschungsprogramms, der Tod von Mauss’ Freund Robert Hertz und der seines Onkels Émile Durkheim. Die Entstehung der französischen Soziologie vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist untrennbar mit Durkheim und Mauss sowie mit ihrer engen und manchmal schwierigen Beziehung verbunden (vgl. besnard/fournier 1998: 1). Die dritte Periode ist bestimmt durch Mauss’ Bemühungen zur Konsolidierung der Durkheim-Schule in der Zwischenkriegszeit, der Verwaltung des ›Erbes‹ von Durkheim und der im Krieg gefallenen Mitarbeiter, der Begründung der 7
Die biografischen Daten und der Aufbau dieses Abschnitts gehen hauptsächlich zurück auf die Mauss-Biografie von Marcel Fournier (1994), vor allem auf die Kurzversion von Fournier (2006) aus Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe (moebius/papilloud 2006a) sowie Besnard und Fournier (1998). Siehe auch Cazeneuve (1968a), König (1978b) sowie Marcel (2001: 21ff.). Es wurde zudem Archivmaterial aus den Fonds Hubert-Mauss (imec, Caen) und Fonds Marcel Mauss, Musée de l’Homme (Paris) verwendet.
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französischen Ethnologie sowie der Entwicklung des berühmten Gabe-Theorems. Die allgemeine Anerkennung, die Mauss im wissenschaftlichen Feld erfährt, charakterisiert den vierten Lebensabschnitt. Der Höhepunkt seiner Karriere ist zweifelsohne die Wahl ans renommierte Collège de France im Jahr 1930. Marcel Mauss wird am 10. Mai 1872 in der im Moseltal gelegenen Stadt Épinal (Vogesen) geboren. Seine Mutter Rosine (1848-1930) ist die älteste Schwester von Émile Durkheim, der ebenfalls in Épinal geboren wurde (am 15. April 1858) und sechzehn Jahre älter ist als sein Neffe. Die erste Periode in Mauss’ Leben ist selbst ein ›fait social‹, ein sozialer Tatbestand (vgl. tarot 2003: 7): Wie in matrilinearen Gesellschaften wird der Onkel mütterlicherseits die Erzieher- und Vaterrolle einnehmen. Eine Beziehung, die für beide nicht immer ganz einfach ist. Sein leiblicher Vater, Gerson Mauss (1834-1896), ist Händler in der Textilbranche und leitet zusammen mit Rosine eine kleine Handstickereifabrik, das Familienunternehmen Mauss-Durkheim. Das Unternehmen läuft nicht immer gut: Mauss’ Mutter ist stets von Sorgen geplagt, vor allem bedauert sie, dass man den Arbeiterinnen nicht einen höheren Lohn zahlen könne (fournier 1994: 29). Die erste Politisierung von Mauss findet zu Hause statt: Er beginnt, sich zunehmend für die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie für die Genossenschaftsbewegung zu interessieren (vgl. fournier 1994: 28ff.). Die Familie hat eine starke jüdische Tradition und bringt seit acht Generationen Rabbiner hervor (vgl. filloux 1977: 8; besnard/fournier 1998: 5). Durkheims Vater Moïse war Oberrabbi in den Vogesen und hätte es gern gesehen, wenn Émile den gleichen Weg eingeschlagen hätte. Die Heimat der Familie, das von Mauss geliebte Elsass-Lothringen, hat zu dieser Zeit den größten Anteil an französischen Juden. Dennoch bilden sie inmitten einer mehrheitlich katholisch (aber auch protestantisch) geprägten Region eine Minderheit. Antisemitismus ist hier an der Tagesordnung. Im Gegensatz zu ihrem Bruder Émile ist Rosine sehr religiös, besucht regelmäßig die Synagoge und besteht auf eine religiöse Erziehung von Mar24
cel und dessen vier Jahre jüngerem Bruder Henri (1876-1966). Henri wird später das Unternehmen der Eltern übernehmen. Die Kenntnisse über das Judentum und der Hebräischunterricht prägen Marcel Mauss (vgl. lindenberg 1996). In seinen späteren Arbeiten, insbesondere zum Opfer und zum Gebet, wird er auf sie zurückgreifen. Er selbst ist allerdings nicht religiös. Seinen zweiten Vornamen Israël wird er niemals verwenden. Zwar respektiert er die jüdischen Regeln, empfindet aber deren Ausübung in der Familie als zu »pedantisch«: Die Frömmigkeitsbekundungen seien zu übermäßig und die koscheren Essensregeln zu streng (vgl. fournier 2006: 23). Mauss wird zum Grenzgänger (vgl. tarot 2003: 8), zunächst zwischen Tradition und Moderne, dann zwischen den Fachdisziplinen und den Kulturen. 1890 schreibt sich Mauss an der philosophischen Fakultät in Bordeaux ein. Er will den Abschluss in Philosophie machen, besucht aber auch juristische Seminare. Auf Wunsch von Rosine wird Durkheim zu seinem Tutor und hilft ihm bei seinen Studien. Mauss folgt Durkheims Vorlesungen über ›Die Physik der Sitten und des Rechts‹. Er ist tief beeindruckt von der Eloquenz und dem Rationalismus seines Onkels. In der Selbstdarstellung anlässlich seiner Kandidatur am Collège de France 1930 schreibt er über ihn: »Sein Cartesianismus, seine fortwährende realistische und rationalistische Suche nach Tatsachen, seine Fähigkeit, sie zu erkennen und zu erfassen, bilden die Aspekte seiner geistigen Persönlichkeit, die mich, die uns am meisten verführten. Diese Qualitäten glaube ich, bewusst und sorgfältig, bei mir, bei meinen Freunden und bei meinen Studenten entwickelt zu haben.« (mauss 2006a: 346)
Andere wichtige Einflüsse sind zu dieser Zeit der Philosophieprofessor Alfred Espinas (1844-1922), Autor des Werkes über Les Sociétés animales (1877), und der Kantianer Octave Hamelin (1856-1907), ein enger Freund sowohl von Durkheim als auch von Mauss. Nach der bestandenen Prüfung 1895 schreibt Mauss an Hamelin, dass er nur allein auf sein und Durkheims
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Urteil Wert lege.8 Ausgehend von Hamelin vermittelt sich für Mauss die Bedeutung der Relationalität und Wechselwirkungen (vgl. fournier 1994: 56f.), die Hamelin philosophisch, Mauss hingegen soziologisch erforscht. Wie andere Studenten in Bordeaux beginnt Mauss, sich für sozialistische Ideen zu begeistern. Bei Treffen des Cercle d’études sociales diskutieren sie über Marx’ Kapital und laden zusammen mit der französischen Arbeiterpartei, der Parti ouvrier français (pof), Jean Jaurès zu einer Tagung ein.9 Das, was Durkheim für Mauss’ wissenschaftliches Leben bedeutet, wird Jaurès im Feld des Politischen für ihn sein. Die Mitglieder der Studiengruppe sind noch sehr guesdistisch geprägt.10 Mauss tritt in die Parti ouvrier français ein. Darüber hinaus besucht er Treffen der Groupe des étudiants socialistes. 1895 geht Mauss nach Paris, um sich an der Sorbonne auf seinen Abschluss in Philosophie vorzubereiten. Er schließt Freundschaften mit Edgar Milhaud, Abel Rey und Paul Fauconnet. Er besucht Philosophie-Vorlesungen von Émile Boutroux, Victor Brochard und Gabriel Séailles sowie Vorlesungen in Psychologie bei dem von ihm bewunderten Théodule Ribot (vgl. Œ 3: 566). Die Bewertung von Mauss’ Agrégation11 ist eine der Besten seines Jahrgangs. Die Prüfungskommission bemängelt lediglich, dass der sehr begabte Student ein wenig faul sei. Ganz anders als der asketische Durkheim versucht Mauss, das Leben auszukosten. Er liebt es zu kochen, in Cafés zu sitzen,
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Brief von Mauss an Hamelin, 6. Januar 1896 (Bibliothek Victor-Cousin, vgl. besnard/fournier 1998: 9). 9 Zur Entwicklung und Geschichte der sozialistischen Parteien und der Arbeiterbewegung in Frankreich siehe Rebérioux (1975). Vgl. auch Abendroth (1969: 55f., 75-77) und Willard (1981). 10 Jules Guesde gründet im Oktober 1882 die Parti Ouvrier. Guesde ist der politische Kopf der Partei, Marx’ Schwiegersohn, Paul Lafargue, ihr Theoretiker (vgl. willard 1981: 66). Die Guesdisten sind die Ersten, die Marx’ Schriften in Frankreich bekannt machen (vgl. dazu willard 1981: 68). 11 Die Agrégation ist ungefähr vergleichbar mit einem deutschen Universitätsabschluss für das Lehramt.
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Ski zu fahren, er fechtet und er ist französischer Amateurmeister im Boxen (vgl. fournier 1994: 608). In den Augen Durkheims hat der Neffe insgesamt einen zu verschwenderischen und generösen Lebensstil, da er stets viele Geschenke macht. Mauss praktiziert die später im Gabe-Essay geforderte Großzügigkeit: Viele seiner Ersparnisse gibt er Freunden (Beuchat, Fauconnet), der Partei, der Genossenschaftsbewegung, oder spendet das Geld für andere politische Aktivitäten (vgl. fournier 1996: 35). Auch in Paris ist Mauss politisch sehr aktiv. Zusammen mit Albert und Edgar Milhaud gründet er die Ligue Démocratique des Écoles. Darüber hinaus engagiert er sich in der Groupe des étudiants collectivistes. Sowohl vom Guesdismus als auch vom Anarchismus abgewandt, setzen sich die Studenten für einen humanistischen und wissenschaftlich fundierten Sozialismus ein. Ein weiteres politisches Aktionsfeld von Mauss bildet seine Mitarbeit bei der 1895 von Alfred Bonnet ins Leben gerufenen Zeitschrift Le Devenir social. »Diese Zeitschrift, die sich als ›Revue international d’économie, d’histoire et de philosophie‹ verstand, hatte als Motto einen Satz von Marx gewählt: ›Die Produktionsweise des materiellen Lebens bestimmt allgemein die Entwicklung des sozialen, politischen und intellektuellen Lebens.‹ Sie veröffentlichte bedeutende Untersuchungen von russischen (Lavroff), italienischen (Ferri, die beiden Labriola), deutschen (Kautsky) und englischen (Aveling) Sozialisten, Texte von Sorel und Lafargue, vor allem aber die in Frankreich bisher nicht erschienenen Arbeiten von Marx und Engels.« (rebérioux 1975: 75)
Von Mauss erscheinen in der Zeitschrift zwei Buchbesprechungen,12 davon eine über Les Sciences sociales en Allemagne von Célestin Bouglé, der ein wichtiger Mitarbeiter Durkheims und mitverantwortlich für die Gründung der Année sociologique ist.13 12 Die erste wird verfasst im April 1896 und behandelt das Werk von G. de Greef, L’Évolution des croyances et des doctrines politiques dans trois sociétés: l’ancien Pérou, l’ancien Mexique et l’Égypte. 13 Zu Bouglé vgl. den Beitrag von Humphreys (1999).
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Mauss will seine thèse de doctorat in Angriff nehmen, in deren Rahmen er einerseits über Léon den Hebräer und Spinoza forschen will. »Das andere Thema war das Gebet (in all seinen Aspekten). Dieses Thema zeigt die Naivität und die Kühnheit, mit der wir damals zu Werke gingen« (mauss 2006a: 352). Im Herbst 1895 schreibt er sich an der École pratique des hautes études in der Abteilung für historische Wissenschaften ein. Dort trifft er auf Sylvain Lévi (1863-1935), Frankreichs berühmten und versiertesten Orientalisten. Beide entwickeln eine tiefe Freundschaft. Lévi und seine Frau halten sehr viel von Mauss, ermutigen ihn immer wieder und geben ihm zahlreiche Ratschläge. Mauss selbst bezeichnet Sylvain Lévi als seinen »zweiten Onkel« (œ 3: 537, vgl. Abschnitt vi). Weitere Bekanntschaften ergeben sich an der École pratique: Er lernt dort Henri Hubert kennen, der zu seinem besten Freund wird, Henri Beuchat, Arnold van Gennep, Isidore Lévy, Daniel Halévy und Paul Fauconnet sowie Sanskrit bei Louis Finot und Hebräisch bei Israël Lévi. Andererseits wendet er sich den Religionen zu und geht in Vorlesungen von Sylvain Lévi über die alten Religionen Indiens sowie zu Léon Marillier, der über ›primitive Religionen‹ spricht. Durkheim liest zu dieser Zeit Robertson Smith, dessen Lektüre ihn – neben dem nicht zu vergessenden Einfluss von Wilhelm Wundt – dazu anregt, die Religion zu einem zentralen soziologischen Forschungsobjekt zu erheben (vgl. Durkheim in lukes 1973: 237).14 Später wird Mauss sagen: »Als Student habe ich zwischen den heute so genannten quantitativen Studien (Mitarbeit mit Durkheim), Selbstmord, Ge14 Durkheim selbst schreibt: »Es war zum ersten Mal in diesem Jahr [1895, S.M.], als ich die Mittel fand, das Studium der Religion soziologisch anzugehen. Das war eine Offenbarung für mich. Diese Vorlesung von 1895 markiert eine Demarkationslinie in der Entwicklung meines Denkens, bis zu solch einem Ausmaß, dass all meine früheren Forschungen von neuem aufgenommen werden mussten, um sie mit diesen neuen Einsichten in Einklang zu bringen…[Diese Umorientierung] beruhte gänzlich auf den religionshistorischen Studien, die ich gerade unternommen hatte und insbesondere auf der Lektüre der Arbeiten von Robertson Smith und seiner Schule.« (Durkheim in lukes 1973: 237)
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schichte der Städte, menschliche Raumordnungen, die in meiner Arbeit über die jahreszeitlichen Wechsel widerhallen, dem Rechtsstudium (3 Jahre) und den religionssoziologischen Studien geschwankt. Wegen meiner Vorliebe für die Philosophie und aus bewusster Bestimmung spezialisierte ich mich, auf Anweisung von Durkheim, im Bereich der Erkenntnis religiöser Phänomene und beschäftigte mich fast ganz und für immer damit. Durkheim schrieb für mich und für ihn selbst seine Bordeaux-Vorlesung über die ›Origines de la religion‹ (1894-1895)« (mauss 2006a: 351).
Die wissenssoziologische Orientierung hin zu einer »Soziologie religiösen Wissens« in »primitiven« Gesellschaften (vgl. vogt 1981: 283) ist aber nicht nur den persönlichen Interessen Durkheims und Mauss’ geschuldet. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung der Soziologie selbst. Denn in der wissenssoziologisch orientierten Religionssoziologie bündeln sich alle Fragen, »um die sich die Auseinandersetzungen der ›neuen Wissenschaft vom Menschen‹ drehen, und die ungeheure Befrachtung des Gegenstandes zielt in die Mitte dieser sich damals vielfach überschneidenden Kämpfe um wissenschaftliche Anerkennung. […] [W]enn er die Religion zu seinem Gegenstand par excellence erhebt, dann deshalb, weil dort nicht nur alle Versuche des biologistischen, naturalistischen, physiologischen Denkens mit ihren Erklärungen scheitern, sondern auch ein Wettstreit mit der Psychologie auf einem Feld ausgetragen werden kann, das wie kein anderes eine Wissenschaft jener ›Gefühle‹ herausfordert, die sich einer empirischen Faßbarkeit zu entziehen scheinen« (egger et al. 2000: 138). Durkheim macht Mauss immer mehr zu seinem wichtigsten Mitarbeiter. Für Durkheims Studie über den Selbstmord wertet der Neffe unzählige Daten aus (vgl. durkheim 1983 [1897]: 22), liest zahlreiche Artikel und erstellt Statistiken.15 Auch für 15 Vgl. dazu auch die Briefe Durkheims (1998: 41ff.), in denen Durkheim seinen Neffen regelrecht zur Arbeit antreibt: »Sind die statistischen Tabellen schon gemacht, ja oder nein? Wenn sie es diese Woche nicht sind, mache sie sofort wei-
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die seit 1898 erscheinende Zeitschrift L’Année sociologique wird Mauss unentbehrlich. 1896 veröffentlicht er seinen ersten Beitrag in der religionswissenschaftlichen Zeitschrift Revue de l’histoire des religions. Es ist eine Rezension über ein Buch des deutschen Mediziners und Mitbegründers der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (1869) Adolf Bastian.16 In den nächsten Ausgaben der Revue de l’histoire des religions folgen Besprechungen über Sebald Rudolf Steinmetz’ 1892 publizierte Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe (vgl. Œ 2, 651-698). Mauss gelangt hierbei zu einer soziologischen Erklärung der Blutrache und des religiösen Ursprungs des Strafrechts. Letztlich sucht er nach den Gemeinsamkeiten zwischen den modernen und den so genannten ›primitiven‹ Gesellschaften. Man dürfe sich nicht auf die Analyse dieser Gesellschaften beschränken; auch anhand unserer Kultur könne man eine andere begreifen. Im Dezember 1897 begibt sich Mauss auf Studienreise nach Holland und England. Ein Forschungsaufenthalt im Ausland ist auch zu dieser Zeit ein üblicher und für die Karriere notwendiger Ritus. Durkheim drängt Mauss geradezu, diese Reise zu unternehmen (vgl. durkheim 1998: 50ff.).17 Mauss betrachtet die Studienreise als Vorbereitung auf seine thèse über die Ursprünge des Gebets18 und plant, einen Aufsatz über die englische anthropologische Schule zu schreiben. In Holland arbeitet er mit dem Orientalisten Willem Caland zusammen, dessen Buch über Die altindischen Toten- und Bestattungsbräuche (1896) er in der ersten Ausgabe der Année sociologique bespricht (vgl. Œ 1: 325-329). Mauss’ Arbeitspensum ist gewaltig: Für die Zeitschrift, bei der unter anderem Henri Hubert, Célestin ter. Sie sollen jetzt gemacht werden. In welch ein Schlamassel bringst du uns!« (durkheim 1998: 44). 16 marcel mauss, Rezension von A. Bastian, Psychologie und Mythologie, in: Revue de l’histoire des religions, 17. Jahr, Band 33, 1896, S. 209-212. 17 Auch Durkheim unterzog sich diesem ›Ritual‹ und ging 1885/86 nach Deutschland (vgl. durkheim 1995). 18 Vgl. den Brief von Mai/Juni 1897 an Louis Liard, in dem er um ein Stipendium bittet, in: durkheim (1998: 61f.).
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Bouglé, Paul Fauconnet und François Simiand mitarbeiten, verfasst er in dieser Zeit mehr als 20 Besprechungen und an die 200 Kurzdarstellungen. »Diese Rezensionen stellen einen beträchtlichen Teil des Maussschen Werkes dar; ich habe sie kürzlich wiedergelesen und hege starke Zweifel, daß woanders Vergleichbares vorliegt: Jedes Werk wird mit großer Sorgfalt rekapituliert, bevor es gelobt oder kritisiert, korrigiert oder ergänzt wird, und all das unter dem alleinigen Gesichtspunkt des Erkenntnisfortschritts« (dumont 1991: 199). Wie er seinem Freund Henri Hubert berichtet, langweilt ihn Holland. Er schifft sich im April 1898 nach England ein. Dort angekommen trifft er sich mit führenden Religionswissenschaftlern, Indologen und Anthropologen: Moritz Winternitz (1863-1937), Edward B. Tylor (1832-1917) und James Frazer (1854-1941), Autor des berühmten Werkes The Golden Bough (erste Fassung 1890). Mit Frazer und dessen Frau Elisabeth schließt er Freundschaft. Das hindert Mauss allerdings nicht daran, Frazers Theorien über den Ursprung des Opfers scharf zu kritisieren (vgl. Abschnitt iv). Zusammen mit Henri Hubert beginnt Mauss an dem Essay über die Natur und die soziale Funktion des Opfers zu schreiben. Wie später noch genauer dargestellt wird, kommen sie zu der Erkenntnis, dass der ganze Komplex des ›Opferns‹ eine Verbindung zwischen sakralen und profanen Ebenen herzustellen versucht. Das zunächst geweihte und dann zerstörte Opfer ist das vermittelnde Element. Aber erst die Zeremonie macht das Opfer zu etwas Sakralem. Für die Autoren zeigt der ganze Vorgang, dass selbst die Glaubensvorstellungen und die sakralen Dinge sozialen Ursprungs sind. Noch Jahre später erntet die Studie viel Lob: »Alles ist hier erstaunlich, die Qualität der Arbeit, ihre Ausnahmestellung innerhalb der indologischen Forschung und mehr noch der Sachverhalt, dass die Autoren kaum etwas anderes getan haben, als die Daten zu ordnen, denn die Früchte des indischen Denkens waren da, reif und bereit, gepflückt zu werden. Nur schienen sie den Sprachwissenschaft-
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lern nicht überzeugend, und es bedurfte eines sanskritkundigen Soziologen, sie zu ernten« (dumont 1991: 205). Die berühmte Opfer-Arbeit, über die man unzählige Briefe austauscht und die Durkheim (1998: 96ff.) bis hin zur Titelgebung und Endredaktion aufs Genauste überwacht und betreut, erscheint 1899 im zweiten Band der Année sociologique. Nach Durkheims Wunsch soll sich die Zeitschrift hauptsächlich der Religionssoziologie widmen; er selbst betont in einer kurzen Abhandlung den sozialen Ursprung religiöser Praktiken. Seit dem Herbst 1897 stellt die kritische Öffentlichkeit die 1894 vollzogene Verhaftung von Alfred Dreyfus immer mehr in Frage. Es kommt zur so genannten ›Dreyfus-Affäre‹, die zahlreiche Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler dazu veranlasst, gegen die unrechtmäßige Verurteilung des jüdischen Artilleriehauptmanns Alfred Dreyfus und allgemein gegen die Verletzung der Menschenrechte einzutreten.19 Berühmt geworden ist in dieser Affäre das Manifest des Schriftstellers Émile Zola (vgl. rebérioux 1975: 11ff ): Unter dem Titel J’accuse setzte er sich für den wegen Hochverrats beschuldigten und eigentlich unschuldigen Dreyfus ein und löste damit einen ungeheuren Skandal aus, da sein öffentlicher Brief den gesamten Generalstab, den Kriegsminister und das Kriegsgericht, also alle, die an der Verurteilung des Hauptmanns beteiligt waren, selbst des Verrats beschuldigte (vgl. winock 2003: 35). Damit lag er ganz richtig: Den Verrat hatte in Wirklichkeit auch ein Major, Ferdinand W. Esterhazy, begangen. Die Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler, die Dreyfus verteidigten, wurden von der Rechten polemisch als ›Intellektuelle‹ bezeichnet.20 Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie sich »ein Monopol geistiger und moralischer Überlegenheit 19 Das von Winock (2003) jetzt auch auf Deutsch erschienene Buch Das Jahrhundert der Intellektuellen liefert eine detaillierte Rekonstruktion der Dreyfus-Affäre. Zur Geschichte der Dreyfus-Affäre selbst vgl. die zusammengestellten Prozessberichte von Thalheimer (1963). 20 Die Dreyfus-Affäre wird deshalb auch gemeinhin als die Geburt des Intellektuellenbegriffs bezeichnet.
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anmaßten, in Wirklichkeit aber die traditionellen Werte des Vaterlandes, der Religion und der Familie in den Schmutz zögen« (peter 2001b: 241). Die Dreyfus-Affäre ist nicht nur für die Konsolidierung der Dritten Republik von Bedeutung. Durch sie kommt es auch innerhalb der Durkheim-Schule zu Integrationsmomenten, die den Zusammenhalt der Gruppe um Durkheim festigen, das heißt, die Einheit der sich erst formierenden Mannschaft um ihn wird durch die Affäre gestärkt (vgl. besnard 1981: 278).21 Durkheim selbst engagiert sich aktiv für die Freilassung von Dreyfus und beteiligt sich im Februar 1898 an der Gründung einer Menschenrechtsliga. Es geht ihm weniger um politische als um moralische Fragen. Seine Schüler und Mitarbeiter gruppieren sich um Charles Andler, Léon Blum und Lucien Herr, Bibliothekar auf Lebenszeit an der École normale supérieure (vgl. charle 1994; winock 2003: 22ff.); die jungen normaliens bewundern Herr und seinen Einsatz für Dreyfus. Viele der Durkheim-Schüler engagieren sich in Herrs neu gegründeter Société nouvelle d’édition et de librairie. Ausgehend von dieser Gesellschaft wird die École socialiste gegründet, an der sich Mauss mit Simiand und Fauconnet beteiligt (vgl. prochasson 1993: 122); in diesem Rahmen entsteht auch die von Simiand geleitete Zeitschrift Notes critiques: sciences sociales (1900-1906). Mauss arbeitet auch bei der Zeitschrift Le mouvement socialiste mit. Sein erster Text in dieser Zeitschrift vom 15. Oktober 1899, ein vor der Groupe des étudiants collectivistes de Paris gehaltener Vortrag, behandelt ›L’action socialiste‹, eine bewusste Aktion im Interesse des Kollektivs, eine Transformation der Gesellschaft, für Mauss ist das gleichbedeutend mit einer ›action sociale‹ (vgl. EP: 72 und Abschnitt vii). Seit diesem Zeitpunkt beginnt Mauss’ ›Karriere‹ im politischen Journalismus (besnard/fournier 1998: 17). Das Engagement für den Sozialismus ist geprägt durch den Reformsozi21 Zu den politischen Implikationen der Durkheim-Schule bis 1914 vgl. Gülich (1991).
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alismus von Jean Jaurès. Das vornehmliche Agitations-Feld von Mauss ist jedoch die Genossenschaftsbewegung. 1896 tritt er in eine der in den 1890er-Jahren aus dem Boden geschossenen Konsumgenossenschaften mit dem Namen L’Avenir de plaisance ein. Er schreibt für Le mouvement socialiste, Notes critiques und später für L’Humanité, eine 1904 von ihm mitbegründete Zeitung. Dort erscheinen von ihm zahlreiche Artikel zur internationalen Genossenschaftsbewegung. Mauss glaubt an die Kraft der Genossenschaften, sozialreformerisch auf den Kapitalismus einzuwirken. Enthusiastisch ruft er gemeinsam mit Philippe Landrieu im März 1900 eine sozialistisch-genossenschaftliche Gesellschaft ins Leben: ›die Bäckerei‹. Aber schon bald geraten sie in finanzielle Schwierigkeiten und müssen die Bäckerei schließen. Mauss verliert viel Geld dabei. Doch er gibt nicht auf und wird sich weiterhin politisch engagieren. Zusammen mit Paul Fauconnet verfasst Mauss 1901 den Artikel Sociologie in der Grande Encyclopedie, ein Beitrag, der für die Durkheim-Schule programmatischen Charakter haben (vgl. geiger 1981: 149) und Durkheims Regeln der soziologischen Methode in einer klaren Sprache dem Publikum näher bringen soll. Die Aufgabe der Soziologie sei es, die sozialen Tatbestände, die dem Einzelnen äußerlich seien und auf ihn einen zwanghaftverpflichtenden Charakter ausüben, zu untersuchen und in Beziehung zu den sozialen Strukturen und kollektiven Vorstellungen zu setzen. Auch die psychologischen Untersuchungen seien hierbei von Bedeutung,22 man könne sogar sagen, die Soziologie sei aufgrund ihrer Analyse der Repräsentationen eine Psychologie, aber eine kollektive Psychologie, die von der Individualpsychologie zu unterscheiden sei (vgl. œ 3: 163).23 Das Ziel 22 Durkheim selbst kontrollierte die Abfassung des Artikels (vgl. fournier 1994: 242f.), billigte (wahrscheinlich aus wissenschaftsstrategischen Gründen) die im Vergleich zu anderen Aussagen von ihm und seinen Mitarbeitern ›freundliche‹ Sichtweise auf die Psychologie, darüber hinaus verfasste Durkheim Teile des Textes selbst und gab ihn später in der Revue philosophique unter seinem und Fauconnets Namen heraus. 23 Mauss und Maurice Halbwachs werden die Soziologie im Sinne einer kollektiven Psychologie in der Zwischenkriegszeit auf unterschiedliche Art und Weise als
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der Soziologie bestehe darin, ›Institutionen‹ zu untersuchen, darunter seien sowohl die Gesamtheit aller sich herausgebildeten Handlungen und Ideen zu verstehen als auch Bräuche, Aberglauben, politische Verfassungen oder etwa juridische Organisationen; die Wissenschaft von der Gesellschaft sei vor allem die Wissenschaft der Institutionen (vgl. œ 3: 150).24 Drei Jahrzehnte Jahre später wird sich Mauss berichtigen: Ziel der Soziologie sei es, schreibt er 1934 in Fragment d’un plan de sociologie générale descriptive, die Gesellschaft als soziales System mit Untersystemen zu begreifen und die Subsysteme sowie deren Relationen in ihrer Gesamtheit zu analysieren (œ 3: 306; vgl. auch Abschnitt iv). Er gebraucht das Bild eine Spinnenetzes: Wenn man an einem Teil oder Begriff des Systems (zum Beispiel soziales System, aber auch Klassifikations- oder Denksystem) zieht, dann kommt alles nach, weil zwischen allen Teilen Fäden gespannt sind.25 1901 erhält Mauss den Lehrstuhl für ›Religionsgeschichte der nicht-zivilisierten Völker‹ an der École pratique des hautes études. Der Titel seines Lehrstuhls missfällt ihm. Gleich zu Beginn seiner Inauguralvorlesung gibt er zu bedenken: »Für welche, die über Begriffe mehr nachdenken als in der Lehre notwendig, birgt diese Redensart wahre Schwierigkeiten. Tatsächlich gibt es keine nicht-zivilisierten Völker. Es gibt nur Völker unterschiedlicher Zivilisationen. Die Hypothese vom ›natürlichen‹ Menschen muss definitiv aufgegeben werden« (œ 2: 229f.). Wie unsere Gesellschaft habe beispielsweise auch die australische Gesellschaft eine Geschichte.
ein wissenschaftliches Programm der Durkheim-Schule weiter ausbauen (vgl. marcel 2004b). 24 Durkheims Definition von ›Institution‹ lautet in Anlehnung an Mauss und Fauconnet: »Tatsächlich kann man […] alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen Institutionen nennen; die Soziologie kann also definiert werden als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart.« (durkheim 1965[1895]: 100) 25 Ein ähnliches Bild gebraucht Elias (2003 [1939]: 54), um die Verflechtung zwischen Individuum und Gesellschaft zu verdeutlichen.
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Zwölf Jahre später wird Mauss zusammen mit Durkheim den Begriff ›Zivilisation‹ konkreter bestimmen, als jene soziale Einheit, die nicht auf einen politischen Organismus begrenzt, aber doch räumlich und zeitlich verortbar ist. Eine Zivilisation sei eine »Art moralisches Milieu, das eine bestimmte Anzahl von Nationen umgreift, und von dem jede nationale Kultur nur eine partikuläre Form bildet« (œ 2: 453).26 Die Seminare vor seiner Professur behandeln indische Religionen und die Analyse hinduistischer Philosophiesysteme; als Professor widmet er sich dann schließlich den ›elementaren Formen des Gebets‹ – seit einigen Jahren sein Lieblingsthema – und der melanesischen Magie. Bereits in dieser Frühphase seiner Lehre verfolgt Mauss eine empirische Ausrichtung. Seine Studierenden werden dazu angehalten, systematisch Daten zu sammeln und Dokumente auszuwerten. Wie die empirische Forschung konkret aussehen soll, habe sich nach der Hypothese und der Fragestellung zu richten, so Mauss. Um dem Ziel einer systematischen und methodologisch fundierten Anwendung der Methoden näher zu kommen, gibt er Kurse in Ethnografie: »Sorgfältige Aufstellung aller bekannten Tatsachen über die mündlichen Riten der Australier« (1901-1902); »Analytische und kritische Studie ethnographischer Dokumente über die Verwandtschaftsverhältnisse und die Religion in Nordamerika« (1903-1904); im selben Jahr: »Fragebogen über Folklore und Technologie hinsichtlich einer Untersuchung in Korea«; 1906-1907: »ethnographischer Forschungsführer zur Beobachtung der Völker in Westafrika und im Kongo«. In diesem Rahmen veröffentlicht er 1906 zusammen mit Henri Beuchat in Band 9 der Année sociologique eine Arbeit Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften. Eine Studie zur Sozialen Morphologie. Es zeigt sich deutlich, wie die ›soziale Morphologie‹, also die Demografie der sozialen Gruppe, 26 René König zufolge liebte Mauss »das Wort ›Kultur‹ wegen seines deutschen Beigeschmacks nicht und ersetzte es gerade darum durch den Begriff der ›Zivilisation‹« (könig 1978b: 272).
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ihre Verteilung im Raum, ihre Form und Sozialorganisation, die religiösen, juristischen, moralischen und ökonomischen Vorstellungen prägt (vgl. Abschnitt iv). Das Thema ist nicht neu für Mauss. Bereits 1903 veröffentlicht er mit Durkheim die wissenssoziologische Studie über Einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung kollektiver Vorstellungen (durkheim/mauss 1993). Dort zeigen sie, wie Klassifikationen und die Beziehungen zwischen den Klassifikationen auf der Organisation der Gesellschaft beruhen. Was die Annahme des konstruierten Charakters von Ideen, Begrifflichkeiten und kollektiven Repräsentationen angeht, ist die Analyse im Vergleich zu anderen wissenssoziologischen Untersuchungen dieser und der nachfolgenden Jahre bereits sehr modern und eröffnet der Wissenssoziologie neue Forschungswege (vgl. centlivres 1990: 182). Wenn Menschen Dinge klassifizieren, dann geben sie ihre soziale Organisationsform wieder. Die soziale Morphologie und die Sozialstruktur liefern das Modell für die Klassifikationen und die Ordnungen der Ideen, Denk- und Wahrnehmungsmuster. Am konsequentesten wird diese Perspektive gegenwärtig in der Soziologie Pierre Bourdieus weiter verfolgt (vgl. wacquant 1996: 30ff.). Zusammen mit Henri Hubert publiziert Mauss 1904 in der Année sociologique den Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie. Die Soziologie habe sich auch mit irrationalen Phänomenen zu befassen, so die Autoren. Aber sie darf nie selbst ins Irrationale hinabgleiten. Ihre Analyse, auf die später noch detaillierter eingegangen wird, fragt vor allem nach dem sozialen Charakter der Magie. Hat das magische Wissen eine soziale Basis? Ist es eher individuelles oder kollektives Wissen? In welcher Beziehung stehen Magie und Religion? Die Jahre seit seiner Rückkehr aus Holland und England sind geprägt von einem zunehmenden politischen Engagement – besonders angestachelt durch die Dreyfus-Affäre. In L’Humanité schreibt Mauss über das Leben der Genossenschaftler, die seiner Meinung nach eine Pionierrolle einnehmen. Sie seien es, die hier und jetzt einen ›praktischen Sozialismus‹ 37
verwirklichen und in der Praxis beweisen müssen, was der Sozialismus theoretisch propagiert. Einige seiner damaligen Freunde, darunter Lucien Herr, Charles Andler und Edgar Milhaud publizieren ebenfalls in L’Humanité. Ausgehend von Jaurès’ Analysen wird der republikanische Staat von ihnen und anderen Sozialisten nicht so sehr als eine Institution der herrschenden Klasse betrachtet, sondern vielmehr als ein »Ort angesehen, wo es möglich erschien, im Sinne der Demokratie so zu handeln, dass der Weg zum Sozialismus eröffnet würde« (rebérioux 1975: 72). 1898 werden Volksuniversitäten ins Leben gerufen, um neben der Genossenschaftsarbeit die Erziehung und die Annäherung von Intellektuellen und Arbeitern zu initiieren (vgl. winock 2003: 114). Es folgen 1899 die Gründungen der ›Écoles socialistes‹, die ebenfalls die Arbeiterbildung zum Ziel haben und bei denen sich Mauss engagiert (vgl. prochasson 1993: 63). Als im April 1905 die schon länger in den sozialistischen Bewegungen bestehenden Einheitsbestrebungen durch die Gründung der Section française de l’Internationale ouvrière (sfio) erfüllt werden (vgl. willard 1981: 89ff.), tritt Mauss »aus Respekt vor Jaurès« in die neue Partei ein. Jaurès war es maßgeblich zu verdanken, diese Einheit hergestellt zu haben (vgl. rebérioux 1975: 97). Mauss wird zudem einer der ersten zehn Repräsentanten des Parteivorstands. 1906 macht er sich als »Sprecher von Jaurès« zu einer Reise nach St. Petersburg und Moskau auf, um die russische Revolution zu beobachten und sich dort mit den Revolutionären zu treffen (fournier 1994: 271ff.). Aber als Mauss ankommt, löst der Zar gerade die Duma auf; die politische Reise wird nutzlos, er kehrt unverrichteter Dinge zurück. Mauss nutzt die Heimkehr, um zahlreiche ethnografische Museen in Polen und Deutschland zu besuchen. Seine Seminare an der École pratique widmen sich vor allem religionssoziologischen und ethnografischen Themen, über die seine Studenten referieren. So tragen Henri Beuchat und Stefan Czarnowski über die Eskimos vor, René Maunier über das Verhältnis zwischen Religion und Ökonomie und Robert W. Hertz 38
über die Sünde. Hertz gilt als einer der fähigsten DurkheimSchüler, seine Texte über den Vorrang der rechten Hand, das Ritual des ›zweiten Begräbnisses‹ und über ›Sünde und Sühne‹ beeinflussen sowohl Durkheim als auch Mauss.27 Letzterer setzt sich in jenen Jahren zunehmend von der Religionsphilosophie ab. Im Gegensatz zu ihr könne man nicht von einer ›Religion‹ genannten Essenz ausgehen; es gebe keine ›Religion‹, sondern nur ›religiöse Phänomene‹, die mehr oder weniger in Systeme verfestigt sind, die man dann Religion nennen, historisch bestimmen und erforschen könne (vgl. œ 1: 93).28 1909 veröffentlichen Mauss und Hubert unter dem Titel Mélanges d’histoire des religions ihre Arbeiten über das Opfer, magische Mächte (nur von Mauss), Resultate der Religionssoziologie und über die Zeit (nur von Hubert). Das Soziale, so eine ihrer zentralen Thesen, liege sowohl der Mentalität, der Zeit als auch dem Wissen zugrunde. Die sakralen Dinge seien soziale Dinge (œ 1: 16). Zudem sei es offensichtlich, dass heutzutage die Götter zunehmend ihre Tempel verlassen und profan werden, während menschliche und soziale Dinge immer mehr eine sakrale Bedeutung annehmen (œ 1: 17). Bei einem Attentat wird am 31. Juli 1914 Jean Jaurès erschossen (vgl. goldberg 1968: 458ff.) und mit ihm die »ganze Bewegung«, wie Stefan Zweig urteilt. Mauss ist zutiefst erschüttert von dem Verlust seines Freundes. Aber – was Mauss zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann – Jaurès’ Tod markiert nur den Beginn weiterer Abschiede von seinen Freunden, die direkt oder indirekt Opfer des Ersten Weltkriegs werden. Noch ein Jahr zuvor hatte Mauss über das deutsch-französische Verhältnis lediglich von einem Konflikt gesprochen (ep: 205-209), 27 Vgl. Hertz (2007)., dann in Literaturverzeichnis folgenden Titel aufnehmen: hertz, robert (2007): Das Sakrale, die Sünde und der Tod. Religions-, kultur- und wissenssoziologische Untersuchungen. Hrsg. Von Stephan Moebius und Christian Papilloud, Konstanz: uvk 28 Diese Perspektive geht auf Durkheim zurück, der 1899 in De la définition des phénomènes religieux (L’Année sociologique ii, S. 1) schrieb: »Wir sprechen von religiösen Tatsachen, nicht von der Religion, weil die Religion im Ganzen aus religösen Phänomenen besteht, und das Ganze kann nur nach den Teilen definiert werden.«
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nun wird der Konflikt im August 1914 zum Krieg. Mauss ist einer der Ersten, die sich freiwillig zum Militärdienst melden. Der Krieg dauert jedoch länger, als alle vermuten. Mauss schreibt in den ersten Jahren an einem unvollendet bleibenden Manuskript Über die Politik. In den Kriegsjahren werden viele Freunde und Mitarbeiter von Mauss und Durkheim getötet: Maxime David, Antoine Bianconi, Jean Reynier und Robert Hertz. Émile Durkheim selbst schreibt im April 1915 anlässlich des Todes von Hertz an seinen Neffen: »Ich habe Dir heute eine traurige Neuigkeit bekannt zu geben. Hertz, am 9. April zum Unter-Leutnant ernannt, wurde am 13. in der Wöevre-Ebene getötet. Ich kann Dir nicht sagen, welche Wirkung dies auf mich hat. Ich habe deswegen schlechte Nerven. Ich weiß nicht warum, als ich diese Neuigkeit erfuhr, habe ich euch, André und Dich, mehr der Gefahr ausgesetzt wahrgenommen als dies in der Vergangenheit der Fall war. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatte der Tod nur die Leute getroffen, die nicht unmittelbar zu meinem Umkreis gehörten wie Maxime David und Bianconi. Dieses Mal handelt es sich um jemanden, der mir am Herzen lag« (durkheim 1998: 454).
Aber auch André, Durkheims Sohn, erliegt 1916 seinen Kriegsverletzungen. Durkheim überlebt den Tod seines Sohnes nicht: Traurig, erschöpft und immer gleichgültiger gegenüber allem stirbt er am 15. November 1917. Mauss übernimmt ein großes Erbe: Von nun an wird er sich unablässig und bis zu seinem eigenen Tod um den Nachlass und die Publikation bislang unveröffentlichter Texte seines Onkels und seiner Freunde kümmern. René König, der in den 30er-Jahren Kontakt zu Mauss hatte, meint dazu: »Er gewann die Zukunft für sich, indem er sich mit der gleichen Unbefangenheit, mit der er sich an die Forschung begab, zum Wahrer der Vergangenheit machte, die er wie ein persönliches Vermächtnis empfand« (könig 1978b: 261). Neben der Arbeit an der Herausgabe der Schriften seiner verstorbenen Freunde widmet sich Mauss weiterhin der Politik. Er publiziert zahlreiche Artikel in der Zeitung Le Populaire, 40
bei der er auch im Vorstand sitzt, sowie für La Vie socialiste und L’Action cooperative. Wie Marcel Fournier (2006: 38) hervorhebt, müssen die politischen Artikel dieser Zeit im Zusammenhang mit Mauss’ Studie über die Nation gesehen werden, von der er 1920 erste Teile in Oxford vorstellt. Auch das Genossenschaftswesen nimmt zu dieser Zeit erneut großen Raum ein. Bis 1925 ist er Mitglied des Office technique de la Féderation nationale des cooperatives des consommation (fncc). Im Februar und März 1923 veröffentlicht Mauss mehrere Beiträge über den Bolschewismus und die Gewalt (vgl. EP: 509-531). Er ist tief enttäuscht vom Ausgang der russischen Revolution und kritisiert das zunehmende Blutvergießen, das in seinen Augen eigentlich jeder Sozialist zu verabscheuen habe. Mit den begangenen ›Irrtümern‹ der Revolution befasst er sich dann eingehender in der 1924 publizierten Soziologischen Einschätzung des Bolschewismus (ep: 537ff., vgl. Abschnitt vii). Die Zeit Mitte der 20er-Jahre könnte man als Mauss’ erfolgreichste Zeit bezeichnen (vgl. marcel 2004a). 1923 erhält er zusammen mit Henri Hubert den von der Académie des sciences morales et politiques vergebenen Preis ›Le Fèvre Deumier de Pons‹ (vgl. mergy 2004: 14). Ihre Auszeichnung, deren Preisgeld sie mit Arnold van Gennep teilen, gilt ihrem gemeinsamen Werk und der Lancierung einer neuen Serie der Année sociologique. Zusammen mit anderen Durkheim-Schülern gründet Mauss das Institut français de sociologie (ifs); man erhofft sich von der Gründung des Instituts auch neue Gelder für die in Angriff genommene neue Serie der Année sociologique (vgl. Halbwachs in mergy 2004: 19). Mauss wird erster Präsident des Instituts, Vize-Präsident wird François Simiand, Sekretär Paul Fauconnet und Henri Hubert wird Schatzmeister. Im Januar 1924 hält Mauss einen wichtigen Vortrag vor der Société de psychologie, in dem er die Relevanz der Psychologie und die Annäherung von Soziologie und Psychologie unterstreicht. Beide Disziplinen sind zu dieser Zeit darauf bedacht, einander näher zu kommen. So verwundert es nicht, dass Mauss über die »wirklichen und praktischen Beziehungen zwischen So41
ziologie und Psychologie« (sa 2: 145-173) spricht. Auch wenn es durchaus nicht zu leugnende Unterschiede zwischen den Disziplinen gebe, so sei es doch eine gemeinsame Aufgabe der beiden Fächer, den »totalen« und »vollständigen Menschen« zu analysieren (sa 2: 167ff., vgl. auch Abschnitt iv), d. h. seine biologischphysiologischen, psychologischen und sozialen Elemente, kurz: »Körper, Geist und Gesellschaft« (sa 2: 166). Noch relevanter als diese Forderung scheint in Mauss’ Vortrag der Hinweis auf den Symbolismus und das Eigenleben der Symbole zu sein. »Schon lange ist es Durkheims und unsere Lehre, daß Gemeinschaft und Kommunikation zwischen Menschen nur durch Symbole möglich sind […]« (sa 2: 158). Allerdings wird Mauss im Laufe seiner Forschungen Durkheims soziologische Theorie der Symbolisierung verlassen, um selbst zu einer Art symbolischen Theorie der Gesellschaft vorzudringen (vgl. Abschnitt v). Mauss und seine Freunde des 1923 gegründeten Institut français de sociologie (vgl. fournier 1994: 489) geben zusammen mit Célestin Bouglé, Georges Bourgin, Philippe de Felice, Maurice Halbwachs, Marcel Granet, Jean Marx, Lucien Lévy-Bruhl, Henri Lévy-Bruhl und anderen die neue Serie der Année sociologique heraus, deren erster Band Mitte der 20er-Jahre erscheint.29 Die Jahre sind aber nicht nur gekennzeichnet durch eine von Mauss angestrengte (und für ihn anstrengende) Wiederbelebung der Soziologie Durkheims, sondern auch durch eine breite Konsolidierung der Durkheim-Schule im wissenschaftlichen Feld. Ein zentraler Faktor dieser Konsolidierung ist die durch Mauss forcierte Begründung der professionellen Ethnologie in Frankreich. 1925 ruft er zusammen mit Lucien Lévy-Bruhl und Paul Rivet das Institut d’ethnologie de l’université de Paris ins Leben. In den von Mauss verfassten Statuten (vgl. marcel 2004a: 39) wird das 29 Zwei Bände erscheinen: Band i im Jahr 1925 und, ein Jahr verspätet, 1927 Band ii; ein dritter ist in Vorbereitung, ein vierter wird für 1929 angekündigt, aber Band iii und iv wird es nie geben. Zu den erst jüngst im Musée de l’Homme entdeckten und unveröffentlichten Texten der neuen Serie vgl. L’Année sociologique Vol. 54, 2004/1 sowie im selben Heft Mergy (2004).
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Ziel formuliert, sowohl professionelle Ethnografen, Missionare, Mediziner und Kolonialbeamte auszubilden als auch wissenschaftlich fundierte ethnografische Missionen zu koordinieren und auf den Weg zu bringen. Das Institut wird im Laufe der Jahre diesen Aufgaben mehr als gerecht und avanciert zur Ausbildungsanstalt der bedeutendsten Ethnologen und zum Ausgangspunkt der ersten großen Feldforschungen der französischen Ethnologie. Im Jahr der Gründung des Institut d’ethnologie erscheint auch Mauss’ Essay über die Gabe im ersten Band der neuen Serie der L’Année sociologique (1923-1924). Bereits einige Jahre zuvor hatte er die Gabe in Vorlesungen behandelt. 1924 publiziert er einen Beitrag über die Doppeldeutigkeit des Wortes ›gift‹.30 Auch der bereits zuvor schon verwendete Begriff des ›sozialen Totalphänomens‹ wird im komparatistisch angelegten Gabe-Essay weiter ausgearbeitet und konkretisiert (vgl. Abschnitt iv und v). Mauss lässt es aber nicht bei Beobachtungen in archaischen Gesellschaften bewenden, bei denen sich die Häuptlinge in ihren Gabentauschprozessen finanziell und körperlich (bis hin zum Tod) verausgaben, sondern er zieht angesichts der schwierigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage Frankreichs auch praktische moralische Schlussfolgerungen für die modernen Gesellschaften; Gesellschaften, die in seinen Augen nicht auf Utilitarismus, Individualismus und Spekulationsgewinnen aufgebaut sein sollten, sondern in denen Reichtümer umverteilt werden und gegenseitiger Respekt, wechselseitige Großzügigkeit sowie kooperative Solidarität herrschen müssten. Mauss’ reformerischer Sozialismus geht am Ende seines Essays Hand in Hand mit seinem Interesse für Ethnografie. 1926 begibt sich Mauss auf Einladung der Rockefeller Foundation zu einer Vortragsreise in die Vereinigten Staaten. Er spricht in Havard und Chicago über The Unitiy of the Human Scien30 »Gift, gift« (1924), in: Mélanges offerts à Charles Andler par ses amis et ses élèves, Istra, Strasbourg, S. 243-247, wieder abgedruckt in: Mauss (œ 1: 46-51), dt. Übersetzung in Moebius und Papilloud (2006a).
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ces and Their Mutual Relationship: Anthropology, Psychology, Social Science und trifft sich mit zahlreichen Forschern, u. a. Franz Boas, Bronislaw Malinowski, Edward Sapir, Robert E. Park, Franklin Henry Giddings, Ernest W. Burgess, Robert Faris und John Dewey. Besonders beeindruckt ihn die Chicago School of Sociology und deren sozialreformerischer Impetus.
Marcel Mauss um 1930
Seine einzige Feld-Forschungsreise führt ihn 1930 nach Marokko. In dem kurzen Reisebericht, einem Vortrag beim Institut français d’Anthropologie unter Vorsitz von Lucien Lévy-Bruhl, hält er mit Blick auf die ethnologische Forschung fest: »Diese Reise hat mich auf eine theoretische Bemerkung gebracht. Ich sprach soeben von der arabischen und berberischen Zivilisation. Durch meinen Kontakt mit ihnen habe ich noch lebhafter spüren können als ich es an anderer Stelle gesagt habe, bis zu welchem Grad man eine Zivilisation mehr noch durch ihre Mängel, ihre Fehler und ihre Weigerung, Anleihen bei anderen zu machen, als eben durch ihre Anleihen, durch die Punkte, die 44
sie mit anderen gemein hat, wie durch die gleichen Gewerbe definieren muß« (mauss 1980: 9). Eine 1930 publizierte Hommage à Pablo Picasso bezeugt Mauss’ Interesse für die Kunst. Der kurze Beitrag erscheint in der von dem deutschen Kunstwissenschaftler Carl Einstein, dem damaligen Vizedirektor des ethnografischen Museums am Trocadéro, Georges-Henri Rivière, und Georges Bataille herausgegebenen Zeitschrift Documents. Doctrines – Archéologie – Beaux-Arts – Ethnographie (N° 3, 2e Année, S. 177). Die Zusammensetzung der Redaktion zeigt, dass Mauss auch Kontakte zu non-konformistischen Intellektuellen unterhielt. 1931 erreicht seine akademische Karriere ihren Höhepunkt. Was Durkheim vergeblich versucht hatte, erreicht nun der Neffe: Mauss wird ans renommierte Collège de France gewählt und erhält dort einen Lehrstuhl für Soziologie. Seine Vorlesungen nutzt er zum Großteil dazu, die Methodenausbildung zu verstärken. Darüber hinaus stellt er die Arbeiten von Hertz31 und diejenige des 1927 verstorbenen Henri Hubert vor. »Er sprach jahrelang über Sünde und Sühne in Polynesien. Zunächst galt es, die Hertzsche Untersuchung dieses Problems zu ergänzen und zu veröffentlichen, aber im Grunde entwickelte er sie weiter und verbesserte sie von Jahr zu Jahr« (dumont 1991: 209). 1932 gibt Mauss Huberts Werk Les Celtes et l’expansion celtique jusqu’à l’époque de Tène heraus; all seine Verpflichtungen, Lehrveranstaltungen, die neue Serie der Année und seine Sorge um den Nachlass seiner Freunde lassen ihm wenig Zeit für eigene Forschungen oder den Abschluss unvollendeter Texte. Die Lehre am Institut d’ethnologie trägt nun langsam Früchte: Einige Studenten, darunter Marcel Griaule und Michel Leiris, machen sich Anfang der 30er-Jahre auf die von der Rockefeller Foundation finanzierte Mission Dakar-Djibouti. Es ist eine der ersten und bedeutendsten Missionen der französischen Ethnologie 31 Vgl. dazu die im Sommer 1987 in Gradhiva. Revue d’histoire et d’archives de l’anthropologie (Nr. 2, S. 45-52) abgedruckte Vorlesung von Mauss aus dem Jahre 1935 über »Le péché et l’expiation dans les sociétés inferieures« und die einleitenden Bemerkungen von Jean Jamin und François Lapu (S. 43-44).
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und ein Erfolg für das Institut d’ethnologie: tausende Objekte werden gesammelt (und gestohlen), 6.000 Fotos aufgenommen sowie Hunderte von Tonbandaufnahmen aufgezeichnet (vgl. fournier 2006: 44). Berühmt wird die Mission vor allem durch Leiris’ Tagebuch L’Afrique fantôme (dt. 1980 [1934]), persönliche Aufzeichnungen, die der Mauss-Schüler während der Forschungsreise aufgeschrieben hatte. Mit dem für damalige Verhältnisse höchst ungewöhnlichen Reisetagebuch, einer Art Entmystifizierung der üblichen Reiseberichte, trägt Leiris zu einer eigenen Gattung von Ethnografie bei, in der eigene Erfahrungen, Auto-Ethnografie und Feldforschung eine eigentümliche Mischung eingehen und in der Subjektivität, Irritation der eigenen Identität, Selbst-Analyse, Authentizität und Ethnologie miteinander verknüpft werden.32 Marcel Mauss liest das Reisetagebuch. Leiris (1992: 179) berichtet: »Er hat mich ermahnt, zwar väterlich und gütig, aber letzten Endes war er nicht einverstanden.« Dabei ist Mauss gar nicht so weit von Leiris entfernt: Wie dieser wünscht er ebenfalls vor allem aus Leidenschaft und nicht wegen des Prestiges zu schreiben. Von 1934 bis 1942 gibt es eine Fortsetzung der gescheiterten und eingestellten L’Année sociologique durch die von der Rockefeller Foundation unterstützte Zeitschrift Annales Sociologiques; fünf verschiedene Serien erscheinen: Behandelt werden die Allgemeine Soziologie (Bouglé), Religionssoziologie (Mauss), Rechts- und Moralsoziologie (Ray), Wirtschaftssoziologie (Simiand) sowie Soziale Morphologie, Sprache, Technologie und Ästhetik (Halbwachs) (vgl. gugler 1961: 15). Mit über 60 Jahren heiratet Mauss 1934 die vierzehn Jahre jüngere Rose Marthe Dupret. Sein Junggesellenleben hat nun ein Ende, die Freunde sind überrascht. Er zieht aus der Rue Bruller aus und bewohnt mit seiner Frau ein Apartment am Boulevard Jourdan. Angesichts der drohenden Gefahr des Faschismus wird Mauss immer unruhiger. Ständig belastet ihn die Möglichkeit ei32 Lévi-Strauss wird später mit Tristes tropiques diesem Beispiel folgen.
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nes neuen Krieges; auch im Inneren Frankreichs brodelt es und rechtsextreme Gruppierungen haben immer mehr Zulauf. Mauss beschließt, sich im antifaschistischen Widerstand zu engagieren und unterstützt sowohl das Comité de Vigilance des Intellectuels Antifascistes als auch das Comité mondial contre la guerre et le fascisme. Er gehört jedoch nicht zu den ›Anti-Münchenern‹, die, wie beispielsweise das Collège de Sociologie, im Münchener Abkommen von 1938 lediglich einen ›Scheinfrieden‹ besiegelt sehen (vgl. moebius 2006a: 119ff.). Er will sich die Hoffnung nicht nehmen lassen, und in Erinnerung an den Ersten Weltkrieg setzt er sich dafür ein, mit allen Mitteln einen erneuten Krieg zu verhindern. In der Zwischenzeit häufen sich die Ehrungen: 1937 wird Mauss zum Offizier der Ehrenlegion ernannt, ein Jahr später zum Präsident der religionswissenschaftlichen Sektion der École pratiques des hautes études. Die Freude darüber wird jedoch getrübt: Da ist einerseits der schlechte Gesundheitszustand seiner Frau und von ihm selbst, andererseits die instabile außen- und innenpolitische Lage sowie der Verlust seiner Freunde Antoine Meillet, Sylvain Lévi und François Simiand. Zur selben Zeit gründen Georges Bataille sowie die MaussSchüler Roger Caillois und Michel Leiris das Collège de Sociologie (vgl. moebius 2006a). Sie nehmen unmittelbaren Bezug auf Mauss’ Forschungen. In ihren Bestrebungen, dem drohenden Faschismus und dem als anomisch erlebten Individualismus mit selbst gewählten und ›sakralen‹ Gemeinschaften entgegen zu treten, rufen sie jedoch starke Kritik von Mauss hervor. Dieser verurteilt die von den Collègiens propagierte Aufwertung des Irrationalen und Sakralen aufs Schärfste.33 Das Sakrale und das Denken der ›Wilden‹ sind für ihn zwar von höchstem Interesse, aber nur, solange sie nicht in der eigenen Gesellschaft virulent werden. Für Mauss trifft vielleicht das Gleiche zu, was Hans Joas (1992: 80) über Durkheim schreibt und zwar, dass er 33 Vgl. dazu den Brief von Mauss an Caillois vom 22. Juni 1938, herausgegeben von Marcel Fournier unter dem Titel »Heidegger et Marcel Mauss« in Actes de la recherche en sciences sociales, Nr. 84, September 1990, S. 87.
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ein »vom Irrationalismus zutiefst faszinierter ›rekonstruierter‹ Rationalist ebenso wie ein lebenslang von der Religion faszinierter Atheist« ist. Die politische Situation verschärft sich, als Marshall Pétain die mit Nazi-Deutschland kollaborierende Vichy-Regierung konstituiert. Mauss reicht 1940 seinen Rücktritt ein und verlässt seine Position als Präsident, da er als Jude eine Zielscheibe für Anfeindungen der gesamten École pratique zu werden befürchtet. Er will der École pratique nicht schaden. Im Oktober 1940 tritt er auch von seiner Professur am Collège de France zurück. Trotz der Okkupation bleibt Mauss in Paris, weil seine Frau schwer krank und zu schwach für eine Flucht ist. Zahlreiche Schüler von Mauss gehen in den Widerstand. Besonders hervorzuheben ist Anatole Lewitzky, der auch am Collège de Sociologie beteiligt ist und 1940 zusammen mit seiner Verlobten Yvonne Oddon eines der ersten Widerstandsnetzwerke der Résistance aufbaut. Lewitzky ist Forscher am Musée de l’Homme und wird von dem Direktor des Museums, Paul Rivet, unterstützt. Als Lewitzky und seine Helfer 1941 verhaftet werden, versucht Mauss zu intervenieren. Doch es nützt nichts. 1942 erschießt man Lewitzky und seine Freunde. Mauss wird im gleichen Jahr aus seinem Appartement vertrieben, das daraufhin ein deutscher General bewohnt. Er muss in eine kleine Parterrewohnung umziehen. Vor weiterem Schaden durch die Nazis ist Mauss jedoch wegen seiner internationalen Reputation und seiner Bekanntschaft mit deutschen Wissenschaftlern sicher. Die Verluste mehren sich. Die Gewalt- und Schreckensherrschaft der Nazis und der Vichy-Regierung nehmen zu. Mauss verliert (erneut) viele seiner Freunde, darunter auch Maurice Halbwachs, der nur für kurze Zeit Professor am Collège de France sein konnte und 1945 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wird. Ende 1944 wird eine Verordnung erlassen, die es Mauss erlaubt, als Professor des Collège de France eine Rente zu beziehen. Darüber hinaus ernennt man ihn 1945 zum Ehrenprofessor des 48
Collège. Es beginnt seine »Zeit des Schweigens« (Poirier). Zurückgezogen in seiner Wohnung in der Cité Universitaire empfängt er nur wenige Gäste. An die Namen seiner Schüler, die ihn besuchen, kann er sich kaum erinnern. Man hat Angst, er könnte sich beim Spazierengehen verirren. »Diesmal überlebte Mauss’ Verstand das Martyrium nicht« (dumont 1991: 201). Am 1. August 1947 stirbt Mauss’ Frau. Von den zwei Weltkriegen, dem Verlust seiner besten Freunde und seiner Frau ist er endgültig der Lebenskraft beraubt. Geschwächt von einer Bronchitis entschläft Mauss mit 77 Jahren am 11. Februar 1950. Zur Beerdigung von Mauss kommen nur fünf oder sechs Personen (fournier 1996: 37).34
34 Man weiß nicht, wer dort war (fournier 1996: 37).
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iii.
Mauss’ wissenschaftliches Milieu
Mauss selbst bezeichnet die Zusammenarbeit mit anderen Forschern als ein zentrales Element seines wissenschaftlichen Arbeitens. Gleich zu Beginn der Bewerbung um die Kandidatur am Collège de France schreibt er: »Mir ist es unmöglich, mich selber von den Arbeiten einer Schule zu trennen. Sollte es eine persönliche Note geben, dann ist sie eingelassen in eine freiwillige Anonymität. Der Sinn der gemeinsamen Arbeit, der Gruppenarbeit, die Überzeugung, dass die Zusammenarbeit eine Kraft gegen Isolierung und gegen die eitle Suche nach Originalität darstellt, ist vielleicht das, was meine wissenschaftliche Karriere vielleicht heute noch mehr als früher charakterisiert« (mauss 2006a: 345).
Die Année sociologique Mauss’ erste Arbeiten entstehen im Kontext der 1896 gegründeten und ab 1898 erscheinenden Zeitschrift L’Année sociologique. Für Mauss ist die Zeitschrift wie ein »Laboratorium«.35 35 »Ein Laboratorium ist nur dann gut, wenn es von einem Chef geleitet wird, und wenn es auch von braven Leuten, d. h. von jungen und alten Freunden bevölkert ist, die Arbeitshypothesen und zahlreiche Ideen liefern, die breite Kenntnisse besitzen, und die insbesondere dafür bereit sind, sie ins Gemeinsame einzubringen, an den Arbeiten der Alten teilzunehmen, die Arbeiten der Neulinge zu unterstützen, so wie alle anderen an ihrer eigenen Arbeit teilnehmen. Wir waren ein solches Team. Dieses Team lebt, es lebt sogar wieder auf. Weder Durkheim noch ich hatten mit unserer Anstrengung und unseren Ideen gegeizt. Seine Arbeit wäre unmöglich gewesen, wenn wir uns daran ohne Opfer-
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Das Ideal kollektiver Forschung kannte Durkheim bereits von seinem Deutschlandaufenthalt her. »Die Zeitschrift funktionierte wie ein Forschungsinstitut. Die hohe Qualität fast aller Artikel war dabei durch einen langwierigen Korrekturprozeß gewährleistet« (pollak 1978: 17). Ende des 19. Jahrhunderts wird die Soziologie in Frankreich gleichsam zur ›Mode‹: »Vor einem Jahrzehnt noch kaum bekannt und fast verrufen, ist das Wort heute in aller Munde«, hält Durkheim (1983: 17) im Vorwort seiner Selbstmord-Studie fest. Zahlreiche soziologische Fachzeitschriften werden im letzten Dezennium vor 1900 ins Leben gerufen (steiner 2000: 14ff.): 1893 die Revue international de sociologie, 1895 die Annales de l’Institut international de sociologie, 1895 das American Journal of Sociology und ein Jahr vor der Année die Rivista italiana di sociologia (1897). Die Année sociologique ist für Durkheim auch ein Mittel, um sich im soziologischen Feld gegen Konkurrenten wie René Worms (1869-1926), Frédéric Le Play (1806-1882) und Gabriel Tarde (1843-1904), durchzusetzen. Zu Beginn des Zeitschriftenprojekts wagt noch niemand – nicht einmal Durkheim selbst – daran zu denken, dass sich aus der Année die einflussreichste soziologische ›Schule‹ Frankreichs bilden wird. Mauss präzisiert das Vorhaben: »Die Année Sociologique wurde von Durkheim gegründet, um uns und ihm zu gestatten, unsere Sichtweise über alle Arten von soziologischen Themen systematisch zum Ausdruck zu bringen. Aber sehr schnell sollte sie für uns alle etwas anderes bedeuten, weder die Reklame für eine Methode noch eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen wirtschaftswissenschaftlichen Schulen, der Religionshistoriker, der Rechtstheoretiker, etc. Unter der Leitung von Durkheim und ein wenig aufgrund meines Impulses, wie ich zu sagen wage, und mit der Übereinstimmung aller, haben wir versucht, nicht nur einfach Ideen zu ordnen, sondern vor allem Tatsachen. Seit dem zweiten Band bereitschaft beteiligt hätten und wenn ich mich nicht noch heute dafür opfern würde« (mauss 2006a: 346f.).
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war sie eine Art von Verzeichnis der verschiedenen speziellen Soziologien geworden, das regelmäßig zur Genüge aktualisiert wurde. Natürlich haben uns manchmal die Vielseitigkeit der Veröffentlichungen, die Vielseitigkeit unserer Arbeiten und unserer Interessen, und insbesondere die Größe unseres Unwissens zum Irrtum geführt« (mauss 2006a: 349f.).
Die ersten Mitarbeiter rekrutiert Durkheim in Bordeaux (bis er 1902 nach Paris wechselt); sein Neffe gewinnt in Paris vor allem Mitarbeiter aus der religionswissenschaftlichen Sektion der École pratique, darunter unter anderem Henri Hubert, Henri Beuchat, Maxime David, Robert Hertz, Georges Davy, Paul Fauconnet, Albert Milhaud und Louis Gernet.36 Jeder der ›Arbeiter‹, wie Durkheim sich ausdrückt, bekommt ein umgrenztes Forschungsgebiet zugeteilt. Mauss soll sich insbesondere der Religionssoziologie widmen. Da er zudem über profunde Sprachkenntnisse verfügt, ist er auch für die Auswertung ethnografischer Literatur zuständig.37 Von der Notwendigkeit des kollektiven und arbeitsteilig – also entsprechend Durkheims Theorie ›organischer Solidarität‹ – organisierten Projekts ist er zutiefst überzeugt: »Einsam in Bordeaux, empfand Durkheim schmerzlich den gewaltigen Umfang seiner Aufgabe und seine relative Ohnmacht. Welches Genie er auch immer besaß, er konnte nicht im Entferntesten die Quellen der Geschichte, der Vergangenheit, der Untersuchung über die gegenwärtigen Gesellschaften beherrschen. Ich gab hierfür das Beispiel ab und wurde von 1895 bis 1902 sein Einstellungsvertreter in Paris. So haben wir unsere Gruppe von kompetenten und spezialisierten Wissenschaftlern gebildet, und so haben wir auch in einer vertrauensvollen Atmosphäre die ersten Schwierigkeiten unserer Wissenschaft besiegt« (mauss 2006a: 346).
36 Zu genaueren Angaben über die Namen der Mitarbeiter und die Rekrutierung im Zusammenhang zu den Jahrgängen der L’Année siehe Besnard (1981: 276ff.). 37 Diese Auswertungen werden für Durkheims Elementare Formen des religiösen Lebens (1912) von großem Nutzen sein.
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Die nach dem Vorbild der damals in Mode gekommenen Années, insbesondere der Année psychologique (1895), und aus einer Rubrik der Revue de métaphysique et de morale hervorgegangene L’Année sociologique erscheint jährlich und enthält genauso wie ihr Vorbild L’Année psychologique sowohl Originalbeiträge als auch ausführliche Berichte und Kritiken internationaler soziologischer Literatur (vgl. besnard/fournier 1998: 10ff.). Obgleich jeder seine Unabhängigkeit bewahrt (und auch bewahren soll), überwacht Durkheim die Beiträge seiner Mitarbeiter sehr genau (besonders die seines Neffen), verfasst Arbeitspläne oder fordert dazu auf, ganze Artikel von Grund auf zu ändern (vgl. nandan 1980: xvi). In einem Brief vom Mai 1897 schreibt er an Mauss, dass man darauf achten solle, nur die für die Soziologie nützlichen Auskünfte der besprochenen Werke zu präsentieren. Von seinem Neffen verlangt er »doppelte Sachkenntnis«, Mauss soll sowohl über spezielle als auch über allgemeine Arbeiten schreiben (durkheim 1998: 56). »Unser Ziel ist es nicht, Lob oder Tadel, gute oder schlechte Noten zu verteilen, sondern in den Büchern die in ihnen beinhalteten Reste zu erforschen« (durkheim 1998: 87). Wie schätzt Mauss selbst seinen Beitrag zur Zeitschrift ein? »Sollten die Leistungen quantitativ bemessen werden, dann wurde der größte Teil von meinem – von unserem – Werk der Zusammenstellung, der Redaktion und der Veröffentlichung der Année sociologique gewidmet« (mauss 2006a: 349). Nach Durkheim ist Mauss derjenige, der die meisten Beiträge für die Zeitschrift liefert (siehe besnard 1981: 293, Tabelle i). Die erste Serie der Année, die von 1898 bis 1913 in zwölf Bänden erscheint,38 beinhaltet achtzehn Abhandlungen, es wer38 1906 kommt es zu einer Krise, da jeder der Mitarbeiter gerne persönliche Vorhaben weiter verfolgen will, dies just zu einem Moment, in dem die Beziehungen zwischen Durkheim und seinem Neffen auf einem Tiefpunkt angelangt sind; Mauss denkt kurze Zeit daran, seine Mitarbeit bei der L’Année aufzugeben. 1906 wird entschieden, die Zeitschrift alle drei Jahre erscheinen zu lassen. Man trennt auch die Abhandlungen (diese erscheinen in der Reihe Travaux de L’Année sociologique, darunter Mauss’ und Huberts Mélanges d’histoire des religions) von den Literaturbesprechungen. Band xi umfasst die Jahre 1906-1909, Band xii die
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den nicht weniger als 4.800 Bücher analysiert und auf 4.200 aufmerksam gemacht (besnard/fournier 1998: 14). Bei der Gründung der Année sind vor allem Durkheim und Célestin Bouglé beteiligt (lukes 1973: 289ff.; besnard 1981: 264ff ).39 Philosophie Parodi
Lapie
Linguistik Hourticq Aubin
BOUGLÉ
Ethik
Roussel Poiret Gelly Lafitte Jeanmaire Lalo
Meillet I. Levy Bianconi
Maitre
HUBERT DURKHEIM FAUCONNET
RICHARD Kriminologie
Ray
Davy E. Levy
MAUSS
Gernet Laskine
Marx Stickney De Felice Fossey Beuchat Chaillié Reynier
Religionsgeschichte und -ethnografie
Moret
SIMIAND
G. Bourgin
Huvelin Recht
Hertz David
Ästhetik
Doutté
HALBWACHS H. BOURGIN
Vacher
Politik
Ökonomie
Demagenon
Geographie
In den Jahren erweisen sich vor allem »Durkheim und das Zweigespann Mauss-Hubert mehr und mehr als die tatsächlichen Leiter des Unternehmens« (besnard 1981: 277), da sie es sind, die die meisten Mitarbeiter rekrutieren. Neben den Zielen, die wissenschaftliche Objektivität und die intellektuellen Standards zu erhöhen, erfüllt die Année sociologique auch »latente Funktionen: Rekrutierung, Ausbildung, soziale Integration und die Ausübung und Legitimierung von Autorität« (clark 1981: 178). Die durch die Zeitschrift erfolgende Verbreiterung und kollektive Ausarbeitung von Durkheims Denken verstärkt die Soziologie im wissenschaftlichen Feld. Die soziale Integration innerhalb des Zeitschriftenprojekts intensiviert sich insbesondere durch das gemeinsame sozialistische Engagement der meisten Mitarbeiter, besonders durch ihren Einsatz in der Jahre 1909-1912. Mauss’ Ambivalenz gegenüber der Zeitschrift wird in Briefen deutlich: 1912 schreibt er an Hubert hinsichtlich der Année: »Es ist ein wahres Gift, schlimmer als eine Grippe« (fournier 1994: 137). 39 Zu den Mitarbeitern des ersten Bandes gehört auch der deutsche Soziologe Georg Simmel, dem sich Bouglé geistig verwandt fühlt.
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Dreyfus-Affäre. »Die Kombination von kleinbürgerlicher Herkunft, École Normale, Philosophieausbildung, Mitarbeit an der Année, gemeinsamer Karriereschritte, Dreyfus-Affäre und Sozialismus band die Durkheim-Schüler eng aneinander und an das nationale Universitätssystem« (clark 1981: 183). Dennoch ist die Gruppe nicht homogen, die Integration betrifft vor allem einzelne Gruppierungen, das heißt, wechselseitige Beziehungen existieren vor allem innerhalb einzelner Fraktionen (vgl. besnard 1981: 281). Bei wichtigen Entscheidungen wird eine Art Generalstab, der aus Bouglé, Fauconnet, Hubert, Simiand und Mauss besteht, einberufen. Wie man dem Schaubild von Besnard (1981: 301) entnehmen kann, haben Durkheim und Mauss gleichsam die Rollen knotenpunktartiger Vermittler inne.
Henri Hubert Mauss’ wichtigste Kollegen, mit denen er gleichzeitig befreundet ist, sind während der Zeit der Année Henri Hubert, Robert Hertz, Henri Beuchat und Paul Fauconnet.40 Henri Hubert ist Mauss’ bester Freund und engster Mitarbeiter. Beide sind zuständig für die religionssoziologische Sektion, die in der Année eine herausragende Stellung einnimmt. Hubert ist neben Mauss und dessen Onkel eine der zentralen Figuren der Zeitschrift.41 »Mit Hubert habe ich zwei Abhandlungen über das Opfer und die Magie und das Vorwort zu unseren Mélanges d’histoire des religions geschrieben. Im Allgemeinen habe ich mich an all dem beteiligt, was er nicht streng kritisch oder archäologisch bearbei40 An dieser Stelle soll einzig Henri Hubert näher vorgestellt werden, da er am umfänglichsten an den Arbeiten von Mauss beteiligt war und ihm am nächsten stand. Zu den anderen siehe Mauss’ 1925 verfasstes In memoriam (oe 3: 488ff.). Zu Hertz siehe die Einleitung in Moebius und Papilloud (2006b). 41 Dies bezeugt auch der Briefwechsel zwischen Durkheim und Hubert (vgl. durkheim 1987).
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tet hat. Er hat immer kontrolliert, was ich geschrieben habe« (mauss 2006a: 347).
Mauss bezeichnet seinen Freund gar als ›Arbeitszwilling‹, um seine Bedeutung, die er für die Abfassung der gemeinsamen Arbeiten hat, hervorzuheben: »Dank der Beziehung, die ich zu meinem Arbeitszwilling [A.d.Ü.: jumeau de travail im Originaltext], zu Henri Hubert, entwickelt habe, habe ich gelernt, auch meine Perspektive zu erweitern und meine Analyse trotz der damals noch recht dünnen ethnographischen Daten zu vertiefen. […] Wir entdeckten zusammen die Welt der urgeschichtlichen, primitiven und exotischen Menschheit, die semitische und die indianische Welt, die zu der antiken und christlichen Welt, die wir schon kannten, hinzukam. Als wir uns unsere Arbeiten verteilt und unsere Kompetenzen geteilt haben, um diese Welten besser zu begreifen, waren wir wie ein wenig verrückt. Jedoch glaube ich, dass wir mit viel gesundem Menschenverstand und Arbeit unser Ziel erreicht haben. Einzig der Tod von Hubert brachte das Projekt zum Verstummen« (mauss 2006a: 352).
Hubert gehört zur selben Generation wie Mauss, er wird am 23. Juni 1872 in einer bürgerlichen Familie in Paris geboren.42 Bereits in der Schule interessiert er sich für Geschichte. Sein Schulgeistlicher, der Abbé Aurèle Quentin, der nach 1918 in der V. Sektion der École pratique lehrt, fördert dieses Interesse und lenkt es in Richtung Religionsgeschichte. Nachdem Hubert die École Normale Supérieure besucht hat, macht er seine Agrégation in Geschichte. Er ist mehr Forscher als Lehrer. So nimmt es nicht Wunder, dass er 1895 eine Lehrposition ablehnt und stattdessen sich an der École pratique in Religionsgeschichte und Philosophie zu spezialisieren beginnt. 1896 lernt er dort Mauss kennen. Ab diesem Zeitpunkt verbindet beide eine »tiefe Freundschaft« (hubert 1979: 206); auch Durkheim ist von dem jungen For-
42 Zu Henri Hubert vgl. den autobiografischen Text von Hubert (1979) und allgemein Isambert (1979, 1983).
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scher sehr überzeugt.43 Seit 1898 arbeitet Hubert im Musée des Antiquités Nationales de Saint-Germain-en-Laye. 1901 wird er zum Maître de conférences an der V. Sektion der École pratique ernannt, ein weiterer institutioneller Erfolg der Durkheim-Schule. Bekannt ist Hubert besonders durch seine Mitarbeit bei den von ihm und Mauss verfassten Arbeiten über das Opfer und die Magie. Schon vor dem Essay über das Opfer hat Hubert in seiner unvollendeten thèse über die Syrische Göttin zu dem Thema gearbeitet. 44 Während er Spezialist für das antike Griechenland und römische Geschichte wird, widmet sich Mauss Indien und den so genannten ›primitiven‹ Völkern. Wie beim Opferaufsatz so darf auch bei der Theorie der Magie, von der später die Rede sein wird, die Mitarbeit von Hubert nicht vergessen werden. Denn er liefert den Großteil der Daten und Dokumente und hatte zuvor im Dictionnaire antiquités einen Artikel über Magie publiziert (vgl. isambert 1983: 155). Über ihre Zusammenarbeit sagt Hubert (1979: 206): »Wir haben den Begriff des Sakralen herausgearbeitet, wir haben ihn herausgestellt wie eine Kategorie mentaler Operationen, die in den religiösen Tatsachen enthalten sind. Diese Erforschung der Kategorien des kollektiven Denkens ist unsere Originalität. Von da ging ich zur Vorstellung der Zeit, während Mauss die des Raumes behandelte.« Die von ihm angesprochene wissens- und religionssoziologisch ausgerichtete Étude sommaire de la représentation du temps dans la religion et la magie (1906) gehört zu den wichtigsten Werken Huberts. In ihr zeigt er sowohl die Beziehungen zwischen Zeitvorstellungen und religiösen Vorstellungen des Sakralen als auch die Beziehungen zwischen Mythen und Riten auf. 45 43 Hubert verweist früh auf die religionssoziologische Relevanz des Sakralen und liefert auch früh bereits eine ›affektive‹ Konzeption von Religion, die später für Durkheims Religionssoziologie von Bedeutung wird (vgl. isambert 1979: 188). 44 Durkheim (1998: 136) zählt ihn gleichsam zur Familie; er ist insbesondere von Huberts Zuverlässigkeit beeindruckt, die er bei seinem Neffen vermisst (vgl. durkheim 1987). 45 Vgl. dazu Isambert (1979). Weitere relevante Texte sind: Huberts Einleitung zum Manuel d’histoire des religions von Chantepie de la Saussaye, sein Vorwort für Le Culte des héros et ses condotions sociales. Saint Patrick, héros national de l’Irlande seines
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Die Arbeitsteilung zwischen Mauss und Hubert ist perfekt. »Mauss sagte von seiner Zusammenarbeit mit Hubert: Zwei Ochsen haben den Pflug gezogen, der Mythologe und der Ritologe und nun, wo nur noch einer übrigbleibt, ist die Arbeit schwieriger.« (dumont 1991: 208) ›Der Mythologe‹ Hubert stirbt am 25. Mai 1927; ein schwerer Verlust für Mauss, der nun die unveröffentlichten Schriften seines Freundes herausgibt (vgl. fournier 1994: 542ff.). »Das große Unglück ist der Verlust meiner besten Studenten und meiner besten Freunde während dieser schmerzerfüllten Jahre. Man kann sagen, dass es ein Verlust für dieses Gebiet der französischen Wissenschaft war. Für mich war es ein Zusammenbruch. Vielleicht das Beste, das ich je von mir selbst hätte weitergeben können, ist mit ihnen verloren gegangen« (mauss 2006a: 347f.).
Studenten Stefan Czarnowski, seine kurz vor seinem Tod vorbereitete Ethnographie préhisto-rique de l’Europe sowie die posthum erschienen und von Mauss, Raymond Lantier und Jean Marx editierten Werke Les Celtes et l’expansion celtique jusqu’à l’époque de La Tène (1932), Les Celtes depuis l’époque de La Tène et la civilisation celtique (1933) und Les Germaines (1953).
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iv.
Die Konsolidierung der DurkheimSchule
In einem Gespräch mit Earle Edward Eubank im Sommer 1934 berichtet Marcel Mauss von der beschwerlichen Situation, in der sich die École sociologique zu Beginn der Zwischenkriegszeit befindet: »Nach dem Krieg hatten wir die schwierige Aufgabe, die Fäden wieder aufzunehmen, so viele waren gestorben. Durkheim war tot, die ›L’Année sociologique‹ unterbrochen, viele unserer Studenten lagen tot in den Schützengräben. Wir mußten völlig von vorne anfangen […]« (Mauss in kaesler 1985: 153). Aber nicht nur der Tod Durkheims oder die vielen gefallenen Studenten erschweren eine Wiederaufnahme der soziologischen Forschung in der Zwischenkriegszeit. Hinzu kommt, dass weder der Kampf um die akademische Anerkennung der Soziologie beendet noch ihre institutionelle Absicherung im wissenschaftlichen Felde vollständig vollzogen ist. Unterschiedliche Varianten des Durkheim’schen Denkens prägen die französische Soziologie in der Zwischenkriegszeit. Die Durkheim-Schüler bleiben zwar dem Erbe ihres Lehrers verpflichtet, orientieren sich jedoch an neuen oder an der Modifizierung alter Themen, die sie an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen versuchen. Die Soziologie sieht sich in der Zwischenkriegszeit konfrontiert mit einer krisenreichen Republik, zunehmender sozialer Anomie, Individualisierung und sozialen Atomisierung sowie dem Problem eines erneut bevorstehenden Krieges. Obwohl Frankreich zwar als einer der Sieger aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen ist und zunächst außenpolitisch gestärkt er59
scheint, hat es innenpolitisch sowohl mit den Prozessen des sozialen Wandels als auch mit den wirtschaftlichen Folgen des Krieges zu kämpfen.46 Zehn Prozent der französischen Bevölkerung haben den Ersten Weltkrieg nicht überlebt. Die Geburtenrate ist gefallen und die Überalterung der Gesellschaft nimmt zu. Während sich die Arbeiterbewegung radikalisiert und 1919 mit Massenstreiks den gesetzlichen Acht-StundenTag erzwingt (vgl. abendroth 1969: 93), wächst im bürgerlichen und konservativen Lager die Angst vor einer proletarischen Revolution. Ist die parlamentarische Demokratie bereits in den 20er-Jahren geschwächt, so wird sie in den 30er-Jahren noch instabiler. Nachdem Frankreich 1931 die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 vehement zu spüren bekommt, wechseln und scheitern von 1932 bis 1934 fünf verschiedene Kabinette. Dadurch breitet sich eine tiefe Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie aus, die man sowohl in linken Gruppierungen als auch in den noch bestehenden – Maurras’ ›Action française‹ – oder neuen rechten Bewegungen – wie zum Beispiel ›Croix-de-Feu‹ – vorfindet. Im April/Mai 1936 gewinnt schließlich die Volksfront unter der Führung des Sozialisten Léon Blum die Wahlen und bildet nun die Regierung. Durch den Widerstand der Wirtschaft und internationale Entwicklungen wie den Spanischen Bürgerkrieg gelingt es Blum jedoch nicht, sein Reformprogramm vollständig zu verwirklichen. Die unterschiedlichen Meinungen über die ausgebliebenen Hilfeleistungen für die republikanische Regierung in Spanien teilen die Volksfront in ihrem Inneren. Im Juni 1937 tritt Blum zurück. Daraufhin bildet 1938 Édouard Daladier mit der ›Parti radical‹ eine neue Regierung. Die Annektion Österreichs durch Nazi-Deutschland gilt als ein Indiz für einen neuen Krieg, auf den Frankreich weder militärisch noch psychologisch vorbereitet ist (vgl. bloch 1992). 46 Die folgende Beschreibung geht zurück auf Moebius (2006a). Zu den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Problemlagen zur Zeit der Theorieentwicklung Durkheims vgl. die instruktive Studie von Müller (1983: 16ff.).
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Die Rolle der Regierung beim Münchener Abkommen vom 29./30. September 1938 spaltet Frankreich: Während Teile der Rechten und einige pazifistische Gruppierungen das Abkommen begrüßen und die ›Action française‹ sich plötzlich sogar pazifistisch gibt (vgl. winock 2003: 410), sehen viele Anhänger der Sozialisten, Kommunisten und der non-konformistischen antibürgerlichen Gruppierungen darin einen Verrat an der Tschechoslowakei und bewerten die Zustimmung Daladiers als einen Akt moralischer Schwäche. Nach einem Misstrauensvotum gegen Daladier löst Paul Reynaud im März 1940 den Regierungschef ab. Als Philippe Pétain im Juli 1940 den Auftrag für die Erarbeitung einer neuen Verfassung erhält, ist dies das Ende der 70 Jahre existierenden Dritten Republik und der Beginn der Kollaboration mit Deutschland. Marshall Pétain hat nun die Möglichkeit, die von ihm seit lange vertretenen Prinzipien von ›Travail, Famille et Patrie‹ durchzusetzen und die von den konservativen Kräften ersehnte moralische und politische Erneuerung zu forcieren. Im Sommer 1940 untersucht Marc Bloch in L’étrange défaite die Niederlage Frankreichs. Warum hatte Frankreich dem Feind keinen entschiedeneren Widerstand entgegengesetzt? Die Schuld an der Niederlage sei in hohem Maße auf die intellektuelle und politische Inkompetenz sowie den Defätismus des führenden Militärs zurückzuführen, so Bloch. Zudem sahen die französischen Offiziere den Feind eher auf der Linken als auf der Rechten. Wie der knappe Abriss zeigt, sind die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Zwischenkriegszeit von vielfachen Regierungswechseln, wirtschaftlichen Krisen, politischen Spaltungen (Rechte, Linke, Non-Konformisten) und von tiefem Misstrauen gegenüber dem parlamentarischen System geprägt. Die Rolle der Soziologie Durkheims verändert sich in der Zwischenkriegszeit. Die Durkheim-Schule muss sich nach 1918 nicht nur neu formieren, sondern auch neue Antworten auf die gesellschaftlichen Herausforderungen finden. Durkheims Soziologie gilt nicht mehr als repräsentative republikanische 61
Ideologie der französischen Gesellschaft, wie dies noch vor dem Krieg der Fall war; vielmehr stellen die politischen Krisen, die erfolglosen Maßnahmen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme und die soziale Polarisierungen verstärkende neue industrielle Massengesellschaft die Grundgedanken der Republik in Frage (vgl. wagner 1990: 218). Unter diesen Bedingungen mag es verwundern, dass die Durkheim’sche Soziologie ihre akademische Position in der Zwischenkriegszeit halten und darüber hinaus noch ausbauen kann. Der wissenschaftliche Einfluss der Durkheim-Schule beschränkt sich nicht auf die Soziologie als Einzelwissenschaft, sondern er erstreckt sich auf das gesamte Spektrum der Sozialwissenschaften (vgl. koyré 1936: 260ff.). Zu den wichtigsten Vertretern der Durkheim-Schule gehören in dieser Zeit neben Mauss Célestin Bouglé (1870-1940), Hubert Bourgin (1874-1955), Georges Davy (1883-1976), Paul Fauconnet (1874-1938), Louis Gernet (18821964), Maurice Halbwachs (1877-1945), Robert Hertz (1881-1915), Henri Hubert (1872-1927), Paul Huvelin (1873-1924), Paul Lapie (1869-1927), in gewisser Weise Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939), Gaston Richard (1860-1945) und François Simiand (1873-1935). Die erfolgreiche Konsolidierung der Durkheim’schen Soziologie in der Zwischenkriegszeit ist nicht nur der hauptsächlich von Mauss forcierten institutionellen Etablierung und Modifizierung eines relativ kohärenten intellektuellen Projekts oder den Hinwendungen zu neuen Themen geschuldet. Begünstigend kommt hinzu, dass die Soziologie Durkheims von vielen Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen in der Zwischenkriegszeit dazu benutzt wird, die eigenen Positionen in ihrem jeweiligen Fach zu stärken, indem sie sich mit Hilfe eines um die Soziologie erweiterten Ansatzes im geistigen Konkurrenzkampf zu behaupten versuchen (vgl. heilbron 1985: 208). Die Soziologie der Durkheim-Schüler sieht sich in der Zwischenkriegszeit jedoch auch mit einer Reihe von Widerständen konfrontiert. Die Gegner und Anfeindungen kommen aus unterschiedlichen disziplinären Richtungen, aus der Philosophie, von ›unabhängigen‹ Soziologen, von Historikern sowie von der 62
katholischen Kirche, die in der Soziologie Durkheims eine gefürchtete Waffe gegen die Religion erblickt. Anstatt jedoch eine Auflösung oder Krise der Durkheim-Schule zu bewirken, dienen die diversen Konflikte und disziplinären ›Grenzkämpfe‹ vielmehr einer Festigung der Gruppe. Es scheint fast, dass die Auseinandersetzungen mit den anderen Einzelwissenschaften »für die Durkheim-Schule sowohl substantiell wie auch aus Gründen akademischer Politik wichtig« sind (vogt 1981: 279). Die Schüler Durkheims legen es geradezu darauf an, sich mit anderen Disziplinen zu konfrontieren und sich im Sinne einer »Soziologisierung der Nachbardisziplinen« (ritter 1999: 196) das anzueignen, was andere Disziplinen für ihr unverbrüchliches Eigentum halten (vgl. vogt 1981: 285). So gelingt es beispielsweise Mauss, die Soziologie durch die Etablierung der Ethnologie zu stärken. Die für die französische Soziologie charakteristische und von Mauss forcierte Verbindung zwischen Soziologie und Ethnologie weitet nicht nur das Untersuchungsfeld der Soziologie aus – dies war ja bereits in zahlreichen Studien von Durkheim, Hertz, Hubert und Mauss vor dem Ersten Weltkrieg geschehen –, sondern geht qualitativ darüber hinaus: Einerseits erweitert und systematisiert Mauss den methodologischen Rahmen soziologisch-ethnografischer Forschungen und andererseits versucht er anhand seiner Arbeiten, politische und soziale Alternativen für die krisenreiche zeitgenössische Gesellschaft zu erarbeiten. Deshalb initiiert Mauss 1923 die Gründung des Institut Français de Sociologie, um eine weitere institutionelle Absicherung des Faches zu erreichen (vgl. mucchielli 1998: 523; könig 1978a). Zwei Jahre später, im Jahre 1925 gründet Mauss außerdem zusammen mit Lucien Lévy-Bruhl und Paul Rivet das Institut d’ethnologie de l’Université de Paris. Nach Wolf Lepenies lässt sich die Entwicklung der Ethnologie als eigenständiges Fach aus dem Korpus der Durkheimschen Sozialwissenschaften heraus nicht verstehen, wenn man die Rolle von Mauss unterschätzt (lepenies 1981a: xxf.). Mauss sei gerade wegen seiner Marginalität im französischen Wissenschaftsbetrieb und seiner universitären Unabhängigkeit, die 63
ihn nicht kompromittierte und daher zu nichts verpflichtete, professionell überaus erfolgreich gewesen, wie zum Beispiel seine Berufung ans Collège de France beweise. Sowohl seine viel besuchten Vorlesungen als auch sein Essai sur le don erzielten eine breite Wirkung bei zeitgenössischen Soziologen, Ethnologen, darunter selbst bei non-konformistischen Intellektuellengruppen (vgl. moebius 2006a). Ohne dem späteren Abschnitt zum Gabe-Essay vorzugreifen, soll an dieser Stelle schon die zentrale These dieses wohl bedeutendsten und 1925 erschienenen Werks von Mauss in knapper Form erwähnt werden. Mauss analysiert in seiner Studie das Phänomen des intertribalen Gabentauschs, bei dem Geschenke, Rituale oder Festessen getauscht werden, wobei das Besondere ist, dass die Gabe zwar freiwillig gegeben wird, aber immer erwidert werden muss: Sie ist verpflichtend (vgl. g: 17). Der Gabentausch ist Mauss zufolge ein »totales gesellschaftliches Phänomen«, da in ihm religiöse, rechtliche, moralische, politische, ökonomische oder ästhetische Dimensionen zum Ausdruck kommen. Bemerkenswerterweise handelt es sich aber nicht so sehr um gewinnmaximierende Formen des Tausches, sondern um das, was Mauss mit dem Begriff des potlatsch bezeichnet: also jene Art von Institution, die man nach Mauss als »totale Leistung agonistischen Typs« bezeichnen könnte (vgl. g: 25) und die sich besonders durch Verausgabung und Verschwendung auszeichnet. Die Verausgabungen nehmen Züge von Wettkämpfen an, bei denen derjenige, der am meisten verschwendet, das höchste Prestige erlangt. Mauss bemerkt in seiner Studie: »In den epikureischsten der alten Moralsysteme strebte man nach dem Guten und dem Vergnügen, und nicht nach materieller Nützlichkeit. Es bedurfte des Sieges des Rationalismus und Merkantilismus, damit die Begriffe Profit und Individuum Geltung erlangen und zu Prinzipien erhoben werden konnten« (g: 172ff.).
Erst die westlichen Gesellschaften haben Mauss zufolge den Menschen zu einem »ökonomischen Tier« gemacht. 64
In seinem Theorem der Gabe verbindet Mauss wissenschaftliche Untersuchungen mit politischen, moralischen und sozialreformerischen Vorstellungen (vgl. g: 173ff.). Es liegt ihm weniger an einer deskriptiven Beschreibung und Analyse des potlatsch, sondern er will die in eine Krise geratene moderne Gesellschaft vor ökonomischen Profitinteressen, expressiver Individualisierung und sozialer Anomie bewahren. Nicht ein Zurück in eine primitive Welt scheinbarer Harmonien ist sein Ziel, sondern die Aufnahme bestimmter elementarer Prinzipien der Gabe, die jenseits rein utilitaristischer Maxime anzusiedeln sind und die nach seinem Wunsch Eingang in die modernen-laizistischen Gesellschaften finden sollen. Zu diesen Prinzipien gehören unter anderem selbstlose Großzügigkeit, vergnügliche Feste, Gastfreundschaft, Solidarität, Freude am Geben, kurzum: eine Vielfalt nicht-utilitaristischer Vergemeinschaftungen (vgl. g: 162). Mauss entwirft eine politische Vision, die einen Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus einschlägt und die allein durch Vernunft und Erziehung erreicht werden könne: »Indem die Völker die Vernunft dem Gefühl entgegenstellen und den Willen zum Frieden gegenüber plötzlichen Wahnsinnstaten geltend machen, gelingt es ihnen, das Bündnis, die Gabe und den Handel an die Stelle des Krieges, der Isolierung und der Stagnation zu setzen. Die vorgeschlagene Untersuchung könnte also zu Folgerungen dieser Art führen. Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern« (g: 181).
Der von Mauss beschriebene Gabentausch des potlatsch und die darin angelegte Gegenseitigkeit spiegelt in ihrer Theoretisierung nicht nur jenen Gedanken der Korporationen wider, der schon bei Durkheim zu finden ist, sondern der potlatsch verweist in seiner Überschreitung utilitaristischer Prinzipien und seinem Prinzip der Verausgabung auch auf Mauss’ Perspektive einer Auflösung des materiellen Substrats im Sozialen. Die 65
symbolischen Prozesse im Sozialen (vgl. Abschnitt v), die im Gabentausch besonders offensichtlich werden, lassen Mauss zu den eben erwähnten moralischen Schlüssen einer angestrebten Pazifisierung des Handelns kommen. Er erhoffte sich angesichts der sozialen und politischen Probleme seiner Zeit einen praktisch-politischen Gewinn aus seiner Studie. Die Etablierung der Ethnologie durch Mauss führt zu einer weiteren Systematisierung empirischer Forschungen. Im Zusammenhang mit der nun erweiterten Konzeptionalisierung des methodologischen Rahmens soziologisch-ethnologischer Forschung ist auf Mauss’ Manuel d’ethnographie (me) hinzuweisen, das sowohl eine Vielzahl von Beobachtungsmethoden als auch eine ausgearbeitete Methodologie der Ethnografie beinhaltet. Mauss differenziert methodisch zwischen 1) der morphologischen und kartografischen Methode; 2) der fotografischen Methode; 3) der fonografischen Methode; 4) der philologischen Methode und 5) der soziologischen Methode (vgl. me); neben einer umfassenden Systematik ethnologischer Forschung enthält das Manuel, das auf die von Mauss gehaltenen Kurse am Institut d’ethnologie zurückgeht und von seinen Schülern veröffentlicht wurde, weitere methodologische Überlegungen, die unter anderem die ästhetischen, körpertechnischen, sozial-morphologischen Merkmale sowie die ökonomischen, juristischen, moralischen oder religiösen Phänomene berücksichtigen. Zu den zukünftigen Aufgaben der Ethnologie schreibt Mauss: »Die ethnologische Wissenschaft hat die Beobachtung der Gesellschaften und die Erkenntnis der sozialen Tatsachen zum Ziel. Sie hält diese Tatsachen fest, bei Bedarf entwickelt sie Statistiken« (me: 20). Die Ethnografie solle exakt und vollständig sein; sie müsse einen Sinn für die Beziehung der Tatsachen haben. Die bis dahin neuartige Ausarbeitung eines methodischen Instrumentariums der Ethnografie ist nicht nur wegen einer Professionalisierung und einer fruchtbaren Zusammenführung von Theorie und Empirie notwendig, sondern dient auch dazu, Forschungsgelder zu akquirieren. Die finanzielle Lage 66
der Universitäten lässt kaum eine Möglichkeit zu, eine ausreichende institutionelle Grundlage zu gewährleisten (vgl. mazon 1985). Man ist auf private Spenden oder auf die Rockefeller Foundation angewiesen, die vor allem Projekte fördert, in denen dem akademischen Nachwuchs Beobachtungsmethoden und die Fähigkeit zur Lösung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Probleme vermittelt werden (vgl. heilbron 1985: 233). Die Ausarbeitung ethnografischer Methoden hat neben dem Ziel der wissenschaftlichen Erfassung ethnologischer Daten auch ein strategisch-finanzielles Ziel, denn die Ethnologie kann sich in der Zwischenkriegszeit sowohl finanziell als auch als Disziplin nur erhalten und entwickeln, wenn sie neben den theoretischen Grundlagen empirische Forschungsmethoden anwendet. Fasst man den Beitrag von Mauss zur Konsolidierung der Durkheim-Schule in der Zwischenkriegszeit zusammen, so sind folgende Punkte hervorzuheben: Erstens stärkt er die Soziologie durch die Gründung des Institut français de sociologie, die neuen Serien der Année sociologique und die fachwissenschaftliche Etablierung der Ethnologie; durch das ebenfalls von ihm mitgegründete Institut d’ethnologie schafft er für die ethnologische Forschung einen institutionellen Ort. Seine Veranstaltungen ziehen zweitens zahlreiche Zuhörerinnen und Zuhörer an (vgl. fournier 1994: 474), die in den folgenden Jahren ihre eigenen Forschungen auf seinem Denken aufbauen, dessen Wirkungskreis ausweiten und selbst bekannt werden. Drittens liefert sein Theorem der Gabe auch Orientierungswissen im Hinblick auf die eingangs dargelegten sozialen Probleme der modernen, von sozialen Antagonismen und Anomie bedrohten Gesellschaft. Viertens führt Mauss neue methodologische Konzeptionen ein, sodass die zukünftigen Ethnologen nicht mehr nur auf Berichte Dritter angewiesen sind, sondern in zunehmendem Maße selbst zu empirischen Forschungen angeregt werden. Ein weiterer Schritt der kognitiven Konsolidierung des soziologischen Projekts der Durkheim-Schule ist die Ausweitung und 67
Differenzierung ihrer Themenfelder. Im Rahmen einer zunehmenden Ausdifferenzierung soziologischer Forschung werden Mauss und seine Mitstreiter der Durkheim-Schule in wichtigen Gebieten der speziellen Soziologie tonangebend. Es gelingt beispielsweise Fauconnet und Davy, die an Durkheim orientierte Rechtssoziologie in den Rechtswissenschaften hoffähig zu machen. Darüber hinaus gewinnt die Durkheim-Schule durch François Simiand auch in der Wirtschaftssoziologie an Einfluss. Die meisten Durkheim-Schüler sind in Philosophie ausgebildet. Sie waren jedoch »der Meinung, daß ein philosophisches Herangehen an soziale Fragen unter allen Umständen vermieden werden mußte. Hinzu kommt, daß man bei der Entwicklung einiger Bereiche der durkheimschen Wissenssoziologie alternative Wege in der Auseinandersetzung mit traditionellen philosophischen Problemen eingeschlagen hatte – besonders Erkenntnistheorie. Jede Soziologie des Wissens, die es wagt, mentale Kategorien oder ›tatsächliches‹ Wissen (im Gegensatz etwa zur Einbildung oder Ideologie) zu analysieren, gerät mit der traditionellen Erkenntnistheorie in Konflikt. Die Durkheim-Schule war sich dessen natürlich bewußt. […] Auf diese Weise war, neben der Befriedigung interner Bedürfnisse der Disziplin, die Wissenssoziologie eine wichtige professionelle Waffe, die gegen philosophische Widersacher benutzt werden konnte.« (vogt 1981: 285)47 Besonders deutlich wird dies in Durkheims und Mauss’ wissenssoziologischer Schrift über Einige primitive Formen von Klassifikation (1993 [1901/02], vgl. nächsten Abschnitt). Ein viel debattiertes Thema der französischen Sozialwissenschaften in der Mitte der 20er-Jahre bildet die Frage nach der möglichen Verbindung zwischen den Disziplinen der Soziologie und der Psychologie, deren Allianz als absolute Neuerung und herausragendes Ereignis im wissenschaftlichen Feld 47 In Durkheims Elementaren Formen des religiösen Lebens heißt es, die Untersuchung religiöser Phänomene biete ein »Mittel, um die Probleme zu erneuern, die bis heute nur unter Philosophen debattiert worden sind« (durkheim 1994[1912]: 27).
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bezeichnet wurde (vgl. parodi 1925: 365). Die Diskussionen über den Einfluss des Sozialen auf die individuellen Bewusstseinzustände und die Frage, ob man die Soziologie als kollektive Psychologie definieren müsse, finden seit 1920 regelmäßig auf Tagungen statt, zunächst bei der Société de psychologie de Paris, seit 1924 dann im Institut de sociologie. Das gegenseitige Interesse an einem konstruktiven Dialog beider Fächer ist so groß, dass die Angehörigen der einen Disziplin sogar Vorsitzende der anderen werden, wie beispielsweise Mauss, den man 1923 zum Präsident der Société de psychologie de Paris wählt. Am 10. Januar 1924 spricht er vor der Société de psychologie über die wirklichen und praktischen Beziehungen zwischen Soziologie und Psychologie, indem er sowohl die »Dienste der Psychologie für die Soziologie« (vgl. sa 2: 155ff.) als auch die künftigen »Dienste der Soziologie für die Psychologie« (vgl. sa 2: 161ff.) umreißt. Mauss versucht zwischen beiden Fächern zu vermitteln. Er fordert die Psychologie dazu auf, sich dem Studium des ›vollständigen Menschen‹, dem sich auch die Soziologie widme, anzuschließen: »Die aneinander grenzenden Gebiete unserer Wissenschaften, in denen wir uns heute umgetan haben, gehören alle zu ein und derselben Ordnung. Die Kollektivpsychologie, die Soziologie der Vorstellungen und der Handlungen, sowie die Statistik bewegen sich ganz genau so wie die jüngsten psychologischen Forschungen in derselben Sphäre, der Betrachtung nicht dieses oder jenes Vermögens des Menschen, sondern der des vollständigen, konkreten Menschen« (vgl. sa 2: 167).
Neben Mauss trägt auch sein Freund Maurice Halbwachs im besonderen Maße zur Konsolidierung der Durkheim-Schule bei, da er ebenfalls die Bandbreite an Forschungsthemen der Durkheim-Schule ausdehnt; seine Werke sind sowohl im Bereich der Wirtschafts- und Arbeitssoziologie als auch insbesondere im Rahmen der Gedächtnistheorie einzuordnen. Er ist zudem einer der Ersten, die Max Weber in Frankreich einführten (vgl. mucchielli 2004: 84). Trotz seiner unterschiedlichen Forschungsgegenstände weisen die Studien von Halbwachs 69
durchgängig eine deutliche Zentrierung auf: Er bleibt in jeder seiner Studien dem Erbe von Durkheim und dessen epistemologischem Paradigma verpflichtet, von einem kollektiven Ursprung der verschiedenen, menschlichen Denk-, Handlungsund Lebensweisen auszugehen und alle Bereiche des menschlichen Lebens in ihrer Relationalität zu betrachten. Auch in der Geschichtswissenschaft wird der Einfluss der Durkheim-Schule sichtbar (vgl. leroux 1998: 153ff.). Halbwachs und Simiand kritisieren die zu ihrer Zeit übliche Geschichtswissenschaft. »Nach Simiand gab es drei Götzen, die es zu beseitigen galt. Zum einen den ›Götzen Politik‹ – ›die fortwährende Beschäftigung mit politischer Geschichte, politischen Fakten, Kriegen etc., die diesen Ereignissen eine übertrieben große Bedeutung verleiht‹. Zum zweiten den ›Götzen Individuum‹ – das heißt die übermäßige Hervorhebung der sogenannten großen Männer, die dazu führte, daß selbst Studien über Institutionen im Stil von ›Pontchartain und das Parlament von Paris‹ usw. präsentiert würden, und schließlich den ›Götzen Chronologie‹, das heißt ›die Gewohnheit, sich in der Erforschung der Ursprünge zu verlieren‹« (burke 2004: 17f.).
Das bedeutet aber nicht, dass die Durkheimschüler der Geschichte rein kritisch gegenüber stehen. Wie zahlreiche Studien von Durkheim und seinen Schülern selbst beweisen – beispielsweise Durkheims Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912) –, gehen sie davon aus, dass sich ›soziale Tatsachen‹ (faits sociaux) nur von ihrem historischen Ursprung und ihrer Genese her hinreichend begreifen lassen.48
48 Durkheim verdankt seine Sensibilität für die Geschichte seinen Lehrern Fustel de Coulanges und Gabriel Monod (vgl. lukes 1973, 58ff ). Im Vorwort der ersten Ausgabe der Année kommt der Geschichte eine zentrale Rolle zu. ›Soziale Tatsachen‹ definiert Durkheim als besondere »Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, die außerhalb der Einzelnen stehen und mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft deren sie sich ihnen aufdrängen« (durkheim [1895]1965: 107).
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Mauss und Bouglé begrüßen die Arbeiten der sozial-historischen Zeitschrift Annales. 49 Von den Durkheim-Schülern wünschen vor allem sie eine engere Zusammenarbeit zwischen Soziologen und Historikern. In dem Rückblick La sociologie en France depuis 1914 würdigt Mauss die Werke von Marc Bloch, die in seinen Augen »bedeutende soziologische Schlussfolgerungen« aufweisen (œ 3: 445). Mauss versucht selbst in seinem Essay über die Gabe eine kleine Rechtsgeschichte zu schreiben und auch Bouglé hofft, dass sich die Soziologen und Historiker auf ihren wissenschaftlichen Feldern mehr und mehr treffen mögen. Jeder der Forscher solle dabei seine eigenen Perspektiven beibehalten; in Zukunft aber könne weder die Soziologie ohne Geschichte noch umgekehrt die Geschichte ohne die Soziologie auskommen (vgl. craig 1981: 307). Dass sich der Einfluss der Durkheim-Schule auf die soziologische Wissensproduktion trotz der anfänglichen Schwierigkeiten und Widerstände in der Zwischenkriegszeit ausbreiten und konsolidieren kann, liegt neben der Institutionalisierung der Ethnologie durch Mauss, der Ausweitung und Ausdifferenzierung der Themenfelder durch die Durkheim-Schüler und den erfolgreich gewonnenen Konkurrenzkämpfen auch an den mehrfachen, gleichzeitig sich vollziehenden institutionellen Verankerungen der Soziologie (vgl. pollak 1978: 19). Von 1920 an kann man für das Grunddiplom (Licence) in den philosophischen Fakultäten eine Zwischenprüfung in dem Fach ›Moral et sociologie‹ absolvieren; im selben Jahr taucht die Soziologie als Fach im Programm der Lehrerbildungsanstalten (Ecoles Normales d’Instituteurs) auf. Gerade im höheren Schulwesen gelingt es, »Anhänger Durk49 Mit der 1929 von Marc Bloch und Lucien Febvre gegründeten Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale verknüpft sich eine sozial-historische Forschungsausrichtung, die im Sinne einer ›histoire sociale‹ explizit interdisziplinär ausgerichtet ist und auf die Methodologien und Theorien der Ethnologie, Geographie, Psychologie, Soziologie, Linguistik, Ökonomie etc. zurückgreift. Vor allem unterscheidet sich die Gesellschaftsgeschichte der Annales von einer lediglich anekdotischen, hagiografischen oder rein politisch orientierten Geschichte. Vielmehr richtet sie ihren Blick auf eine mehrdimensionale Geschichte des Alltags und des Sozialen.
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heims auf die meisten neu gegründeten Posten zu ernennen, wodurch ein Verstärkereffekt im höheren Schulwesen gesichert war. Man versteht, daß vor allem die Anhänger der katholischen Soziallehre hinter diesen Reformen politische Absichten vermuteten und sie als nationale Gefahr darstellten« (vgl. pollak 1978: 19). Zunächst erreicht die Durkheim-Schule ihre größten Wirkungen und ›Erfolge‹ innerhalb dieser Ausbildungsstrukturen. Wegen ihrer zunächst schwachen institutionellen Anbindung an die Universitäten zu Beginn der Zwischenkriegszeit ist die Durkheim-Schule gezwungen, sich auf andere Themen und Disziplinen auszubreiten, um sich im wissenschaftlichen Feld behaupten zu können. Eine interdisziplinäre Integration ist für sie überlebensnotwendig und erfolgt vor allem in den Rechtsund Wirtschafts- wissenschaften sowie durch die Etablierung der Ethnologie. Im Verlauf der 20er-Jahre gelingt es dann den Durkheim-Schülern zunehmend, in den Universitäten Lehrfunktionen zu übernehmen. Als ein deutliches Kennzeichen der erfolgreichen Stabilisierung und Absicherung des intellektuellen Projekts können die Berufungen der treibenden Kräfte der Durkheim-Schule an das renommierte Collège de France seit den 30er-Jahren betrachtet werden: Im Jahre 1931 erhält Mauss einen Lehrstuhl für Soziologie. Ein Jahr später beruft man François Simiand und 1944 folgt Maurice Halbwachs ans Collège de France auf einen Lehrstuhl für kollektive Psychologie. Zwar finden auch die Durkheim-Schüler keine unmittelbar umsetzbaren Antworten auf die durch den bevorstehenden Krieg und die politische Instabilität entstandenen gesellschaftlichen Problemlagen in der Zwischenkriegszeit, aber sie versuchen auf unterschiedliche Weise ein Orientierungswissen für die krisenhafte soziale Situation anzubieten, wie es insbesondere beim Gabe-Theorem von Mauss zu beobachten ist. »Das Gabe-Denken wird in der Phase virulent, die auf die relative politische Stabilität zwischen 1924 und 1929 (in Hinblick auf Frankreich und Deutschland die Locarno-Ära) folgt. Nonkonformistische Orientierungen fordern die etablierten Parteien und Bewegungen und auch Humanwissenschaften heraus. In 72
einer komplexen Bewegung verbindet sich der Risikodiskurs aus Frankreich mit Konzepten aus Deutschland, um DritteWeg-Konzeptionen zu formen. Das Denken der Gabe und der Verausgabung wird fast von der Gesamtheit der nonkonformistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit aufgegriffen und zu Risikodiskursen umgeformt. Die Spuren dieses Denkens von Mauss findet man bei Déat, Dandieu, Bataille, Marc, Leiris, Caillois, Queneau, Maulnier, Blanchot, Lévinas« (keller 2001: 94).
Die herausragende Bedeutung von Mauss’ Studie für die Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme sozialer Atomisierung und Anomie wird darin gesehen, dass die Gabe die Kraft hat, soziale Beziehungen zu stiften, solidarische soziale Bindungen zu festigen und gegenseitige Verpflichtungen und ›Großzügigkeiten‹ zu gewinnen. In der gesellschaftlichen und politischen Situation der Zwischenkriegszeit erfüllt vor allem das Theorem der Gabe für die jüngere Generation der Sozialwissenschaftler eine wegweisende Orientierungsfunktion. Zu all diesen Gründen, die eine Konsolidierung der Durkheim-Schule vorantrieben, kommt noch hinzu, dass die Durkheim-Schule nach dem Ersten Weltkrieg »weniger an der Diskussion allgemeiner Prinzipien und dogmatischer Aussagen interessiert war und sich mehr der spezialisierten Forschung zuwandte. Es hatte eine Schwerpunktverlagerung vom Abstrakten zum Spezifischen, vom Philosophischen zum Positivistischen stattgefunden. […] Zum einen ging die Führung der Schule auf Forscher wie Marcel Mauss und Maurice Halbwachs über, die weniger abstrakt dachten und weniger dogmatisch waren als Durkheim, zudem sehr viel sensibler gegenüber der Kritik an ihrer Schule« (craig 1981: 304). Die Einschätzung von John E. Craig wirft die mehrgliedrige Frage auf, in welchem Maße Mauss dem Denken seines Onkels verpflichtet ist, was er von ihm aufnimmt und wo er von Durkheim abweicht. Kurz und allgemeiner gefragt: Welches sind die zentralen kognitiven Einflüsse auf Mauss? Um diese genauer einschätzen zu können, bedarf es zunächst eines Blicks auf die zentralen Aspekte seines Werks. 73
v.
Zentrale Aspekte des Werks
Mauss’ Gesamtwerk ist zu umfangreich, um ihm hier auch nur annähernd gerecht zu werden. Deshalb sollen im Folgenden diejenigen Arbeiten besprochen werden, die entweder einen besonderen Einfluss auf die soziologische bzw. ethnologische Theorie haben oder die besonders anschaulich Mauss’ interdisziplinäre Interessen und Forschungsobjekte bezeugen.
Die Soziologie der Erkenntnis 1903 veröffentlichen Mauss und Durkheim in der Année sociologique ihre wissenssoziologische Studie Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen.50 Anhand ethnologischer Berichte über die australischen Ureinwohner, die Sioux- und Zuñi-Indianer und das chinesische Denken zeigen sie auf, dass zwischen den sozialen Organisationsstrukturen und den logischen Klassifikationsstrukturen eine Isomorphie besteht, also die Kategorien beispielsweise von Zeit, Raum, Person, Kausalität oder Gattung von gleicher Gestalt sind wie die soziale Morphologie (Bevölkerungsverteilung und Sozialorganisation) und von dieser abgeleitet wer-
50 Im Folgenden wird aus der deutschen Übersetzung von Durkheim und Mauss (1993) zitiert. Zum Original und weiterem Material des Textes siehe Mauss (Œ 2: 13-105); vgl. auch den entsprechenden Abschnitt in dem instruktiven Überblick von Knoblauch (2005: 65ff.).
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den.51 Die gesellschaftlichen Ein- und Aufteilungen (beispielsweise die Gliederung nach Phratrien) dienen als Modell für die Klassifikationskategorien. Es besteht demnach nicht nur ein struktureller Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Klassifikationen, sondern auch ein kausaler: »Nun reproduziert die Klassifikation der Dinge aber diese Klassifikation der Menschen« (durkheim/mauss 1993: 179, Hervorh. i.O.). Kurzum: Mauss und sein Onkel entwickeln in ihrem Beitrag die »Theorie einer Reproduktion der sozialen Morphologie in kulturellen Klassifikationssystemen« (vgl. joas 1993: 268, Hervorh. i.O.). Die symbolischen Ordnungen und Ausdrucksweisen werden durch die Gesellschaft determiniert und eingegrenzt: »Jede soziale Umwelt setzt den in ihr möglichen und zulässigen Ausdrucksformen eigene Grenzen«, so die von Mauss’ und Durkheims Aufsatz geprägte Sozialanthropologin Mary Douglas (1974: 6) in Natural Symbols. »Die Stämme des River Bellinger sind jeweils in zwei Phratrien aufgeteilt; nach Palmer erstreckt sich diese Zweiteilung auch auf die Natur. ›Die gesamte Natur ist nach den Namen der Phratrien aufgeteilt. Alle Dinge gelten als männlich oder weiblich. Die Sonne, der Mond und die Sterne sind Männer oder Frauen und gehören, ganz wie die Schwarzen selbst, jeweils einer der beiden Phratrien an.‹ […] Klassifikationen dieser Art sind äußerst einfach, stellen sie doch lediglich eine Zweiteilung dar. Alle Dinge werden zwei Kategorien zugeordnet, die den beiden Phratrien entsprechen. Das System gewinnt an Komplexität, wenn nicht mehr nur die Aufteilung in Phratrien, sondern auch die Gliederung nach den vier Heiratsklassen zur Grundlage für die Einteilung der Dinge gemacht wird« (durkheim/mauss 1993: 179ff.).
Es existiert aber keine reine Monokausalität zwischen der sozialen Morphologie und den Klassifikationssystemen, sondern nach Entstehung der Klassifikationen gibt es Relationen 51 »In der Tat verstehen wir unter Klassifizieren, dass wir die Dinge zu unterschiedlichen Gruppen zusammenfassen, die durch klare Grenzlinien voneinander getrennt sind« (Œ 2: 14; durkheim/mauss 1993: 172).
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und Interdependenzen: »Sobald diese Ordnung der kollektiven Mentalität aber einmal besteht, vermag sie auf ihre Ursache zurückwirken und zu deren Modifikationen beizutragen. […] Der Klan, inzwischen zu umfangreich geworden, neigt dazu, sich in Segmente aufzuteilen, und die Linien, denen diese Segmentierung folgt, sind durch das Klassifikationssystem vorgezeichnet.« (durkheim/mauss 1993: 199f.) Nach Durkheim und Mauss sind die Vorstellungen, die sich eine Gesellschaft über sich selbst macht, und die Bilder, die sie sich von der Welt macht, eng miteinander verzahnt (durkheim/mauss 1993: 210). Der Onkel und sein Neffe entwickeln eine Art ›Soziozentrismus‹, der besagt: »Im Zentrum der ersten Formen eines Systems der Natur steht nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft. Die Gesellschaft und nicht der Mensch objektiviert sich in diesen Systemen« (durkheim/ mauss 1993: 254f.).52 Die Erkenntnisse und logischen Ordnungen sind Projektionen der Kenntnisse, die eine Gesellschaft von sich selbst hat; den sozialen Hierarchien entsprechen in der Klassifikationsstruktur logische Hierarchien. Dies bedeutet: Nicht vom Menschen aus ergibt sich die Möglichkeit, logische Ordnungen zu errichten, diese sind auch nicht – wie beispielsweise James Frazer annimmt – der Natur entnommen, sondern sie stammen einzig und allein aus der Gesellschaft.53
Soziologie und Geschichte Historische Untersuchungen sind nach Ansicht von Mauss für die Soziologie von größter Relevanz: »Festzuhalten ist jedoch, 52 »Der Soziozentrismus ist in diesem Aufsatz besonders deutlich, man sieht aber auch durch die Aufteilung der Realität nach mehrstufigen Modellen (sozial, mythologisch, natürlich und die mögliche Permutation zwischen den Elementen) eine Art Vorahnung der strukturalistischen Analysen« (centlivres 1990: 184). 53 Zur Kritik an Mauss und Durkheim vgl. Needham (1967) und Lukes (1973), zur Replik darauf siehe Joas (1993). Zur Aktualität vgl. Bloor (1981), der wissenssoziologisch und netzwerktheoretisch an den Ansatz von Durkheim und Mauss anschließt.
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dass der Soziologe immer spüren muss, dass eine beliebige soziale Tatsache, selbst dann, wenn sie neu und revolutionär erscheint, beispielsweise eine Erfindung, ganz von Vergangenheit belastet ist. Sie ist Frucht der entferntesten Umstände in der Zeit und der mannigfaltigsten Verknüpfungen in der Geschichte und der Geographie, und darf also niemals, nicht einmal durch höchste Abstraktion weder von ihrer Lokalfarbe noch ihren historischen Schlacken abgelöst werden« (sa 2: 152). Wie Durkheim54 ist auch Mauss von der Bedeutung der Geschichtswissenschaft überzeugt. Aber mehr noch als sein Onkel vertritt er diese Überzeugung und betreibt ›Sozialgeschichte‹. Ein Beispiel ist sein 1938 erschienener Aufsatz Der Begriff der Person und des »Ich« (sa 2: 221-252), der explizit eine »Sozialgeschichte der Kategorien des menschlichen Geistes« sein will (sa 2: 223). Seine Ausgangsfrage lautet: »Wie hat sich im Laufe der Geschichte nicht nur das ›Ich‹-Gefühl, sondern wie haben sich Vorstellung und Begriff entwickelt, die die Menschen verschiedener Zeiten sich davon gebildet haben?« (sa 2: 225).55 Der Weg seiner Untersuchung geht über das Rollenverhalten bei den Zuñi-Indianern, bei denen der Begriff der Person zugleich mit dem Clan verflochten, aber auch durch Maskeraden teilweise von diesem bereits abgelöst ist, über die lateinische ›persona‹ hin zum Personenbegriff der Stoa, um schließlich den des Christentums sowie der Psychologie näher zu analysieren. Genau wie Max Weber verweist Mauss in seiner individualisierungstheoretischen Untersuchung des Personen- und ›Ich‹-Begriffs auf die zentrale Rolle der protestantischen Sekten:
54 Zum Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Durkheim-Schule siehe allgemein Leroux (1998: 153ff.), zu Durkheim siehe Tarot (1999: 104-120) und Leroux (1998: 157ff.), zu Mauss vgl. Tarot (1999: 121-133). 55 Im Sommer 1938 hat Mauss auf einem internationalen anthropologischen und ethnologischen Kongress in Kopenhagen über Fait social et formation du caractère referiert (mauss 2004). Der Vortrag steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem hier erwähnten, im Herbst 1938 im Rahmen der Huxley Memorial Lecture gehaltenen und im Journal of the Royal Anthropological Institute erschienenen Vortrag Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des »Ich«.
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»Die Anschauungen der Mährischen Brüder, der Puritaner, der Wesleyaner und der Pietisten sind die Grundlage gewesen, auf der sich der Begriff der Person = Ich und Ich = Bewusstsein gebildet hat und zur Fundamentalkategorie geworden ist« (sa 2: 250).
Mauss’ Analyse dient aber nicht nur der Erklärung, dass die Vorstellung von Individualität, ›Ich‹ oder Person historisch entstanden ist und einem Wandel unterliegt, sondern sein Ziel ist darüber hinaus ein humanistisches. Es liegt darin, »zu zeigen, wie wir Bewusstsein von uns selbst gewinnen können, um es zu vervollkommnen und noch besser zu artikulieren.« (sa 2: 252) Sozialanthropologie, Soziologie und Geschichte lehren uns nach Mauss zu sehen, »wie das menschliche Denken sich seinen Weg ›bahnt‹ (Meyerson); langsam, im Lauf der Zeit und im Durchgang durch Gesellschaften […]« (sa 2: 252). Die Geschichte ist Mauss zufolge ebenso wie die Soziologie und die Psychologie innerhalb der Anthropologie anzusiedeln. Hier erkennt man deutlich, warum man Mauss als einen der Begründer der Sozialanthropologie bezeichnen kann. Soziologie ist in seinen Augen sogar »ausschließlich anthropologisch«, weil sie ausschließlich menschliche Tatsachen untersucht (sa 2: 149). Mauss interessiert vor allem die Frage, was die Leute glauben, denken, welche Vorstellungen und Symbole sie haben, wie diese entstanden sind und wie sie das Handeln der Menschen leiten. Ein anderes Beispiel für die zentrale Rolle der Geschichte bildet Mauss’ unvollendete thèse über das Gebet. Dort bringt er die Arbeit des Historikers mit dem des Soziologen in engste Verbindung: »Die Aufgabe des Soziologen ist nicht weniger anspruchsvoll als die des sorgfältigsten Historikers. Auch dieser bemüht sich, alle Details der Tatsachen wahrzunehmen und macht es sich zur Regel, sie auf einen gut beschriebenen Kontext zu beziehen. Aber die Fixierung aufs Detail ist für ihn nicht das Wichtigste der Wissenschaft. Und der Kontext, auf den er seine Aufmerksamkeit lenkt, das ist vor allem das gesamte Ensemble der sozialen Institutionen, mit denen das Detail zusammenhängt. Von diesem Geist geleitet, riskiert die 78
[historische, S.M.] Kritik nicht, sich in Kommentaren oder bloß kuriosen Diskussionen zu verlieren. Vielmehr bereitet sie die Wege für die Erklärung vor. Erklären bedeutet, zwischen den einmal ermittelten Tatsachen eine rationale Ordnung herzustellen.« (œ 1: 393) Das Fundament dieser Ordnungsleistung bzw. der soziologischen Erklärung erbringt also der Historiker. Er versenkt sich ins Konkrete, ohne dabei den Blick für den Kontext zu verlieren, der Soziologe wiederum holt aus diesem Konkreten dann das Allgemeine hervor, so Mauss’ Vorstellung (vgl. tarot 1999: 132). Da die Geschichte in seinen Augen kein Ende hat, sind die Analysen der Soziologen und der Historiker letztendlich eine unendliche Arbeit: »Das Detail und alle Tatsachen ringsherum sind unendlich, niemand kann sie erschöpfend behandeln« (œ 1: 170).
Soziologie der Riten (Gebet, Magie,Tod) und der kollektiven Gewohnheiten Die von Anthropologen kaum erforschten elementaren Formen des Gebets (vgl. œ 1: 357-548) stehen am Anfang des Maussschen Interesses an religiösen Phänomenen und kollektiven Ritualen. Mauss’ Methode liegt darin, das zu analysierende Phänomen kulturübergreifend zu betrachten. Die Studie sollte ursprünglich drei große Teile umfassen: das Gebet und seine Formierung in den elementaren Religionen (australische Aborigines), die Entwicklung der spirituellen Dimension des Gebets (altes Indien) und die Entwicklung zum individuellen Ritual (semitische und christliche Religionen). Trotz des enormen Drucks seines Onkels, der ihn zwar anfangs unterstützt (das Gebet ist in Durkheims Augen bestens geeignet, seine Regeln der soziologischen Methode unter Beweis zu stellen), dem Neffen aber mit der Zeit immer mehr mangelnde Selbstdisziplin und Faulheit vorwirft (vgl. durkheim 1998: 31, 124, 119, 134,
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387),56 bleibt es beim ersten Teil, also der Analyse des Gebets bei den Aborigines. Dass Mauss nicht faul war, bezeugen seine unzähligen Arbeiten, Rezensionen und Kritiken. Warum er seine thèse dennoch nicht vollendet hat, ist ungeklärt; man spekuliert aber, dass er die Arbeit anhielt, weil es entweder kein Material gab, weil der deutsche Anthropologe Carl Strehlow neue ethnografische Daten veröffentlichte, die Mauss zu aufwändigen Änderungen des bereits Geschriebenen gezwungen hätten, oder weil Durkheim die Arbeit für zu neu und zu gefährlich erachtete, in einer Zeit, in der um Laizismus gestritten wurde und in der es galt, seine Soziologie innerhalb des wissenschaftlichen Feldes zu institutionalisieren.57 In der Mitte der 1890er-Jahre begonnenen, aber erst 1909 publizierten Untersuchung richtet Mauss sein Augenmerk vor allem auf das Gebet als mündlichen Ritus. Er vertritt dabei einen so genannten ›methodologischen Agnostizismus‹ (vgl. knoblauch 1999: 14ff.), das heißt, er entscheidet nicht, ob es höhere Wesen, Gott oder transzendente Wirklichkeiten überhaupt gibt, sondern untersucht ob, wie, wo und wann ihnen Menschen und Kollektive den Status von Wirklichkeit zumessen, sich in ihren Handlungen von dem Glauben an diese ›Wirklichkeiten‹ beeinflussen lassen, wie sie mit ihnen kommunizieren oder sonst auf irgendeine Art mit den für wirklich gehaltenen Wesen in Verbindung treten. Entgegen weit verbreiteter Annahmen, dass das Gebet ausschließlich einem individuellen Antrieb zu verdanken sei oder gänzlich auf das Individuum zurückgeführt werden könne, zeigt Mauss den kollektiven und sozialen Charakter des Gebets auf. Folgende Merkmale charakterisieren seiner Analyse nach das Gebet (vgl. pickering 2003: 12f.): Erstens ist es ein soziales und religiöses Phänomen, das für das religiöse Leben insgesamt von zentraler Bedeutung ist. Zweitens glaubt er eine Art Entwick56 »Ta thèse Dieu sait quand«, so eine dem Thema angemessene Formulierung der Kritik Durkheims (1998: 134). 57 Zu den schwierigen Umständen, die dieses Werk begleitet haben, siehe Fournier (1994: 331-341).
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lung des Gebets ausgehend von mechanistischen hin zu komplexeren Formen zu erkennen.58 Im Laufe dieser Entwicklung wurde dem Betenden mehr persönliche Freiheit zugestanden, das Gebet avancierte immer mehr zu einem individuellen und innerlichen Akt – ein Prozess, der schließlich im Mystizismus seinen Höhepunkt erreichte. Mauss zufolge ist es jedoch unmöglich, den absoluten Ursprung des Gebets ausfindig zu machen. Selbst bei den australischen Aborigines hat man es schon mit entwickelten Elementen des Gebets zu tun (Œ 1: 450). Drittens hat die Form des Gebets einen sozialen Inhalt, der vor dem Hintergrund der Gesellschaft zu betrachten ist: Man wird zu beten gelehrt, das Gebet ist der Tradition, einem gewissen Formalismus und religiösen Autoritäten unterworfen. Kurzum: Selbst in seiner ausgeprägtesten individualistischen Form ist das Gebet niemals frei vom sozialen Kontext und dessen Einfluss. Viertens ist das Gebet wesentlich ein Ritual und als solches nach Mauss eine Form des sozialen Handelns. Mauss’ Augenmerk gilt hierbei weniger den körperlichen rituellen Ausdrücken (Beten im Sitzen, im Stehen, kniend etc.), sondern vielmehr der engen Verbindung zwischen rituellem Handeln und dem Gebrauch von Wörtern.59 Das Gebet ist ein Ritual der Wortzusammensetzung; es ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Sprechen rituell sein und mit sozialem Handeln gleichgesetzt werden kann. Sprechen ist (rituelles) Handeln.60 Interessant ist in diesem Zusammenhang Mauss’ ›strukturalistische‹ Annahme, dass das Individuum sich beim Gebet eine Sprache borgt oder sich einer Sprache bedient, die es nicht erfunden hat. Das bedeutet, hinter dem einzelnen Wort (parole), 58 Auch wenn Mauss seine Studie bei den Aborigines beginnen lässt und von dort aus mit der Zeit eine anwachsende Komplexität des Gebets ausmacht, ist er kein bloßer Evolutionist, da er keine kausalen und universalen Entwicklungsgesetze annimmt oder die komplexere Form für die bessere erachtet. Es gibt für ihn Entwicklung, aber zuweilen auch Rückschritte (œ 1: 365). Man kann demnach sagen: Mauss kombiniert Evolutionismus mit Kulturrelativismus. 59 Zu Handlung, Kommunikation, Ritual und Gebet siehe Tyrell (1998: 85ff.). 60 Vgl. hierzu die Thesen zu performativen Sprechakten in der feministisch-poststrukturalistischen Theorie Butlers (1998) sowie Bourdieu (2005b).
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liegt die Sprache als Zeichensystem (langue), ebenso wie hinter dem individuellen Gebet das kollektive Gebet steht.61 Fünftens zeigt sich im Gebet die enge Überschneidung zwischen Glauben und Ritual, Idee und Aktion. Das Gebet bildet einen Knotenpunkt zwischen Denken, Glauben und Handeln. Sechstens ist das Gebet darauf ausgerichtet, bestimmte Effekte zu erzielen und zu bewirken, sei es, dass Regen fällt, sei es, dass man Gott um Vergebung bittet oder ihn sonst auf irgendeine Weise zum Handeln bewegen will. Das Gebet hat demnach die Macht, Effekte zu produzieren (œ 1: 481), insbesondere Effekte auf das Bewusstsein oder das Handeln der oder des Betenden. Siebtens ist das Gebet auf das Sakrale ausgerichtet; es ist ein Mittel, auf sakrale Dinge oder Wesen einzuwirken oder mit ihnen zu kommunizieren. Nicht alle mündlichen religiösen Riten sind nach Mauss Gebete, sondern nur die, die ein Mittel sind, mit den sakralen Mächten in Verbindung zu treten. Obgleich Mauss eine komplexe Verwobenheit zwischen Magie und Religion annimmt, geht er von einem Unterschied zwischen Gebet und Zauberformeln aus: Letztere beziehen sich nicht unbedingt auf äußere Kräfte und das Sakrale (œ 1: 410). Der religiöse Ritus des Gebets bezieht sich ausschließlich auf andere (sakrale) Mächte (Gottheiten, heilige Ahnen etc.) und ist nicht – wie manche magische Riten – völlig durch sich selbst wirksam (cazeneuve 1968b: 79f.). Gebete sind geprägt durch Anrufungen; Zauberformeln hingegen gleichen eher Beschwö-
61 Ähnlichkeiten zu Saussures Sprachtheorie werden hier sichtbar. »Denn genauso wie Saussure, der von Durkheim offensichtlich beeinflusst war, sich der Unterscheidung Signifikat/Signifikant bedient, um die Institution der Sprache, die ›langue‹ zu denken […], hatte Durkheim ebenfalls mit Hilfe der Trennung von Individuum und Gesellschaft, von Innen und Außen, den Versuch gemacht, jene Exteriorität, die dem Individuum als Zwang erscheint […], bloßzulegen.« (gasché 1973: 37) Mauss versucht jedoch diese starke Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft zu überwinden. Interessant wäre einmal eine Untersuchung zur Genealogie Durkheim-Saussure-Meillet-Mauss. Seinen Entwurf zur Semiologie bezeichnet Saussure (2001: 19) als eine »Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht«.
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rungen. Mauss definiert: »Das Gebet ist ein mündliches religiöses Ritual, das sich direkt auf die sakralen Dinge richtet« (œ 1: 414, Herv. i.O.). Die Grenzen zwischen Religion und Magie seien aber im Allgemeinen schwierig zu ziehen, oftmals habe man es mit »magisch-religiösen Phänomenen« zu tun: »Aber zwischen den Zauberformeln und den Gebeten, wie allgemein zwischen den Riten der Magie und denen der Religion, existieren alle Arten von Abstufungen. Gewisse Gebete sind in der Tat in mancher Hinsicht regelrechte Zauberformeln« (œ 1: 411). Trotz dieser hybriden Mischverhältnisse versucht Mauss, konzeptionell zwischen Magie und Religion zu differenzieren (vgl. mürmel 1991). Deutlich heißt es in dem zusammen mit Hubert verfassten Entwurf zu einer allgemeinen Theorie der Magie (1904):62 »Die Magie hängt mit der Wissenschaft ebenso zusammen wie mit den Techniken. Sie ist nicht nur eine praktische Kunst, sondern auch ein Schatz an Ideen, sie misst der Erkenntnis äußerst große Bedeutung bei und in ihr sieht sie eine ihrer wichtigsten Aufgaben, denn wir haben ja gesehen, dass Wissen für sie gleich Macht ist. Während jedoch die Religion durch ihre intellektuellen Elemente zur Metaphysik neigt, wendet sich die Magie, die wir als mehr vom Konkreten gefesselt geschildert haben, der Naturerkenntnis zu« (sa 1: 174).63
Die Religion neigt zum Abstrakten, die Magie zum Konkreten. Bei der Magie sind wie bei der Religion manuelle und orale Riten eng miteinander verbunden (sa 1: 88). Wie die Gebete sind die magischen oralen Riten »alles andere als ein einfacher Ausdruck der individuellen Emotion« (sa 1: 91), sondern auch die Magie ist geprägt durch das Soziale. 62 Hier ist die Materialstudie L’Origine des pouvoirs magiques dans les sociétés australiennes (œ 2: 319-369) hinzuzuziehen. 63 Beide teilen den Blick von Durkheim, der 1912 Religion definiert als ein »solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören« (durkheim 1994[1912]: 75).
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Die eigentliche Wurzel der Magie sind nach Hubert und Mauss affektive kollektive Zustände, die Illusionen erzeugen und nicht individuell sind, sondern »aus der Mischung von Gefühlen, die dem Individuum eigen sind, mit Gefühlen der gesamten Gesellschaft resultieren« (sa 1: 162). Sowohl die Magie als auch die Religion gehen aus Zuständen kollektiver Erregung hervor (sa 1: 169);64 alltägliche Erfahrungen werden überschritten und transzendiert. Wie Mauss und Hubert zeigen, bildet die Magie ein System, das unterschiedliche Elemente miteinander in Beziehungen setzt und dessen Einheit mehr ist als die Summe seiner Teile (karsenti 1997: 227). Magische Riten wie beispielsweise Behexungen sind von der Religion verboten. »Das Verbot bezeichnet hier in formeller Weise den Antagonismus des magischen und religiösen Ritus […]. Diese beiden Extreme bilden sozusagen die beiden Pole der Magie und der Religion: der Pol des Opfers und der Pol der Behexung. Die Religionen schaffen sich immer eine Art Ideal, zu welchem die Hymnen, die Gelübde und die Opfer sich erheben und welches die Verbote schützen. Die Magie meidet diese Regionen.« (sa 1: 55f.) Nicht die Form der Riten unterscheidet religiöse und magische Riten, sondern die Definition ergibt sich durch die sozialen Bedingungen, unter denen sie vollzogen werden (sa 1: 58). Der magische Ritus ist nicht unbedingt Teil eines organisierten Kultes, sondern oftmals heimlich, privat und geheimnisvoll. Sein Drang zum Geheimen kann aber auch daraus resultieren, dass er sozial geächtet und verboten ist. Was die Differenz zwischen Magie und Religion und deren Definition betrifft, so liefern Hubert und Mauss eine »sozialkonstruktivistische« Erklärung: Ändern sich die gesellschaftlichen Bedingungen (Machtverhältnisse, Traditionen etc.), so könne dies auch veränderte Wertungen dessen hervorbringen, was man als Religion oder Magie klassifiziert. Eine vormals 64 Man rufe sich hier Durkheims Erklärung ins Gedächtnis, Religion sei auf Zustände kollektiver Erregung zurückzuführen, Religion sei gleichsam eine aus kollektiver Erregung generierte Überhöhung der Gesellschaft bzw. eine ›Sakralisierung der Gesellschaft‹.
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anerkannte Religion könne dann zur Magie erklärt werden, um deren Praktiken, kollektive Vorstellungen und Akteure zu marginalisieren und abzuwerten. »Es lässt sich die allgemeine These aufstellen, dass die Individuen, denen die Ausübung der Magie zugeschrieben wird, ganz abgesehen von ihrer magischen Qualität, bereits eine Sonderstellung innerhalb der Gesellschaft haben, die sie als Magier behandelt« (sa 1: 65).
Denn »was ihnen magische Fähigkeiten verleiht, ist nicht so sehr ihr individueller physischer Charakter, als vielmehr die von der Gesellschaft ihrer ganzen Art gegenüber eingenommene Haltung.« (sa 1: 61) Mauss und Hubert kommen also zu dem Ergebnis, dass Magie sowohl aus kollektiven Praktiken und Vorstellungen als auch aus der sozialen Klassifikation resultiert, oder pointiert ausgedrückt: »Die speziell ausgeformte magische Institution einer konkreten Gesellschaft beruht auf deren eigener klassifikatorischer Zuordnung (nicht der des Wissenschaftlers)« (mürmel 1991: 154). Hubert und Mauss betonen den symbolischen Charakter von Ritualen und stellen fest, dass »jeder Ritus eine Art Sprache ist, dass er also eine Idee übersetzt« (sa 1: 94). Riten sind geprägt durch Wiederholung, bestimmten Orten und Zeiten, Normen und deren Wirkungen. Bestimmendes Merkmal für das Ritual ist nach Mauss aber insbesondere die dem Ritual innewohnende Macht der Wirksamkeit auf das Kollektiv, sei es die Wirksamkeit aus sich selbst heraus (magische Rituale) oder sei es die Wirksamkeit auf andere Mächte (religiöse Rituale). Die Wirksamkeit der Rituale ist nicht in einem technisch-kausalen, sondern in einem symbolischen Sinn zu sehen.65 Mauss geht aber noch einen Schritt weiter: Nicht allein die Wirksamkeit ist für den Ritus bestimmend, sondern vor allem der kollektive Wirksamkeitsglauben. So schreibt er in Das Gebet, das Entscheidende am Ritual im Gegensatz zu anderen Handlungen (wie zum Beispiel 65 Rituale könnte man aus dieser Sichtweise dann auch als »Handlungsmodus der Symbole« (luckmann 1991: 177) bezeichnen.
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zur quasi-rituellen Konvention des Grüßens) sei nicht die Wirksamkeit selbst, sondern die Art, mit der an die Wirksamkeit geglaubt und diese ausgelegt wird (Œ 1: 405). Der Wirksamkeitsglaube ist nicht erzwungen, vielmehr entspringt er einer dem Ritus eigenen speziellen Macht (Œ 1: 406). Die Wirkungen der Magie hängen so auf Engste mit dem sozialen Glauben an ihre Wirkungen zusammen, vergleichbar mit dem ›Placebo-Effekt‹, bei dem verabreichte wirkstofffreie medizinische Präparate allein aufgrund des Glaubens an ihre Wirksamkeit helfen. Mauss liefert in dem 1926 publizierten Vortrag Über die physische Wirkung der von der Gemeinschaft suggerierten Todesvorstellung auf das Individuum ein sehr eindrucksvolles Bild dieses Wirksamkeitsglaubens. Dieser kann so ausgeprägt sein, dass Menschen allein durch den Glauben an die Wirksamkeit von Ritualen sterben: »Eine Legende der Dieri […] berichtet, wie ein göttlicher Ahn, der Mura Wáruwóndina, aus seinem Lager ausgestoßen, sterben wollte und starb. Er behexte sich selbst durch den Ritus des Knochens im Feuer. Je mehr er litt, desto mehr freute er sich. Er endete, wie er es sich gewünscht hatte« (sa 2: 185).
Der Glaube an die Kollektivvorstellungen und der damit verbundene Glauben an die Wirksamkeit der Riten können demnach so stark sein, dass sie zum Tode führen. Das Soziale beeinflusst dermaßen den materiellen Körper und durchdringt ihn, dass das Individuum stirbt. »Wir berücksichtigen also nur Fälle, wo das Wesen, das stirbt, sich nicht krank glaubt oder weiß, sondern nur glaubt, dass es aufgrund bestimmter kollektiver Ursachen sich in einem Zustand nahe am Tode befindet. Dieser Zustand fällt allgemein zusammen mit einem durch Magie oder durch Sünde bedingten Bruch der Gemeinschaft mit den heiligen Mächten oder Dingen, deren Gegenwart normalerweise den einzelnen erhält. Das Bewusstsein ist also ganz von Vorstellungen und Gefühlen besetzt, die ausschließlich kollektiven Ursprungs sind und keinerlei physische Störung verraten« (sa 2: 179).
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Wie man am Beispiel des Todes durch Kollektivvorstellung und Glauben sehen kann, ist die Grenze zwischen biologischem Körper und Sozialem durchlässig.66 Mauss fordert aus diesem Grund die Erforschung der Verknüpfung zwischen der »sozialen Natur« und der »biologischen Natur« (sa 2: 194). In dem 1934 vor der Société de Psychologie gehaltenen Vortrag über die Techniken des Körpers (sa 2: 199-220) verfolgt er diesen Strang weiter. Mauss’ Rede, die als ein »Glanzstück einer phänomenologischen Alltagssoziologie« (krämer 2000: 259) und als eine Michel Foucault vorausgehende »Archäologie der körperlichen Gewohnheiten« (dosse 1999: 57) gewürdigt wird, gehört zu den ersten Beiträgen einer Soziologie des Körpers. Im Hinblick auf den Körper habe jede Gesellschaft ihre eigenen Gewohnheiten, so Mauss (sa 2: 201). ›Natürliche‹ Verhaltensweisen gibt es nicht. »Die Stellungen der Arme, der Hände während des Gehens, stellen eine soziale Eigenheit dar und sind nicht einfach ein Produkt irgendwelcher rein individueller, fast ausschließlich psychisch bedingter Handlungen und Mechanismen« (sa 2: 202). Auch die Wahrnehmung des Körpers ist sozial bestimmt, als »soziales Gebilde« steuert der Körper die Art und Weise unserer Wahrnehmung des Körpers als »physisches Gebilde«, so Mary Douglas (1974: 99) ausgehend von Mauss’ Vortrag. Die spezifischen Techniken des Körpers (Schwimmtechniken, Essen, Geschicklichkeit, Ausbildung der rechten und linken Hand, Geburtstechniken, Schlaftechniken, Sexualität etc.) sind »traditionelle, wirksame Handlungen« (Mauss) und Ergebnis von Erziehung, Nachahmung, Tradition oder allgemeiner: von »kollektiven Gewohnheiten«. Diese spezifizierte Mauss bereits 1901 in der mit Fauconnet publizierten Sociologie als das eigentlich zentrale Forschungsobjekt der Soziologie (œ 3: 146). Die kollektiven Gewohnheiten 66 Das Soziale konstituiert nicht nur unsere Sicht auf den Körper und die Gesten, Mimiken und anderen Körperechniken; es hat sogar die Kraft, Soziales »natürlich« erscheinen zu lassen, wie beispielsweise Bourdieu (2005a: 11) oder Judith Butler (1997) aufgezeigt haben.
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sind Kreuzungen sozialer Praktiken, die je nach Gesellschaft und Tradition unterschiedlich sind und sich mit der Zeit wandeln können. Die Gewohnheiten, zu denen als ›Kreuzung sozialer Praktiken‹ auch die Gabe gehört, teilen sich in bewusste, in Dogmen oder Regeln ausgedrückte und unbewusste Gewohnheiten wie Bräuche oder Aberglauben. Gewohnheiten umfassen dabei – gemäß einer Mauss’schen Aufhebung des cartesianischen Dualismus von Körper und Geist – sowohl Denk-, Wahrnehmungs- als auch (körperliche) Verhaltensschemata. Aber immer handele es sich um spezifische Arten des Handelns und Denkens, die aus dem situativen Kontext des Gruppenlebens resultieren. In dem über 30 Jahre später gehaltenen Vortrag über die Techniken des Körpers wählt Mauss für die kollektiven Gewohnheiten des Körpers den lateinischen und spätestens seit Pierre Bourdieu in der Soziologie geläufigen Begriff des ›Habitus‹. Der ›körperliche Habitus‹ ist Mauss zufolge sozialer Natur und beinhaltet Techniken individueller und kollektiver praktischer Vernunft [raison pratique]: »Dieses Wort ist weitaus besser als ›Gewohnheit‹, ›das Bestehende‹, ›das Erworbene‹ und die ›Fähigkeit‹ im Sinne Aristoteles […]. Diese ›Gewohnheiten‹ variieren vor allem mit den Gesellschaften, den Erziehungsweisen, den Schicklichkeiten und den Moden, dem Prestige. Man hat darin Techniken und das Werk der individuellen und kollektiven praktischen Vernunft zu sehen […]« (sa 2: 202f.).67
Mauss betont die Notwendigkeit einer dreifachen Betrachtungsweise, die des sogenannten »totalen Menschen« (sa 2: 203), das heißt die Analyse der »physisch-psychologisch-sozialen Verbindungen von Handlungsreihen« (sa 2: 218). Und er sieht, »dass die Untersuchung körperlicher Verhaltenstechni-
67 Bourdieu wird diese Forschungsorientierung etliche Jahre später in Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns (1998) vertiefen. 19 Siehe auch Anmerkungen und Materialien (œ 1: 308-354).
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ken in den umfassenderen Rahmen einer Untersuchung von Symbolsystemen gehört« (douglas 1974: 99f.). Vom ›totalen Menschen‹ und dem Symbolischen wird später noch die Rede sein. Zuvor sollen jedoch Mauss’ Analyse von sozialen Handlungen, die auf das Sakrale ausgerichtet sind, anhand der Opferhandlung vertieft und das Sakrale selbst näher in den Blick genommen werden.
Soziologie und Religionswissenschaften – oder: das Soziale als System In dem 1899 erschienenen Essai sur la nature et la fonction du sacrifice (œ 1: 193-307)68 betrachten Mauss und Hubert die Opferhandlung als eine »Kommunikation zwischen der sakralen und profanen Welt mit Hilfe der Vermittlung eines Opfers, das heißt, eines im Laufe der Zeremonie zerstörten Dings« (Œ 1: 302). Diejenigen, die eine Opferhandlung ausführen, treten durch das Opfer in Beziehung zur sakralen Macht. Im Gegensatz zu den früheren religionswissenschaftlichen und als »unzulänglich« (vgl. durkheim 1998: 106) aufgefassten Opfer-Konzeptionen von Edward B. Tylor, James G. Frazer oder Robertson Smith bestimmen sie die Opferhandlung als eine soziale Kategorie (vgl. mürmel 1997: 214). Ihrer Ansicht nach sind die sakralen Dinge, im Verhältnis zu denen das Opfer abläuft, soziale Dinge (œ 1: 306). Sakral ist immer das, was die Gesellschaft als sakral betrachtet und bezeichnet. Es geht Mauss und Hubert im Wesentlichen darum, dass ›opfern‹ – im Anschluss an die lateinische Zusammensetzung des Wortes – etwas ›sakral machen‹ (sacrum facere) bedeutet. Das erst im Opferritual sakral gemachte bzw. sakralisierte Opfer bildet einen verbindenden ›Pakt‹ zwischen den Opfernden und dem Sakralen. Die Opfernden verwandeln sich im Opferritual so wie die gesamte Gesellschaft sich wandelt. Sie findet durch 68 Siehe auch Anmerkungen und Materialien (œ: 308-354).
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das im Ritual virulent gewordene Sakrale eine periodische Erneuerung und Wiederbelebung der Kollektivkräfte (œ 1: 306); die geltenden Normen werden ohne Gefahr rekonstituiert und bleiben erhalten (œ 1: 307). »Und wie die Gesellschaft nicht nur aus Menschen gebildet wird, sondern auch aus Dingen und Ereignissen, so erkennt man, wie das Opfer zugleich den Lebensrythmus der Menschen wie den der Natur begleiten und reproduzieren kann« (Œ 1: 307).
Die Kategorie des Sakralen ist insgesamt ein zentraler Begriff der Durkheim-Schule, man denke besonders an Robert Hertz (vgl. moebius 2006a: 196ff.). Das Sakrale wird nicht einfach als heilig betrachtet, sondern in seiner Doppeldeutigkeit wahrgenommen; sacer bedeutet sowohl heilig als auch verflucht. Diese Ambiguität des Sakralen wird als Unterscheidung zwischen einem rechten (reinen, vitalen) und einem linken (unreinen, gefährlichen) Sakralen, wie sie besonders in Hertz’ Aufsatz über die Vorherrschaft der rechten Hand (1909) deutlich wird, aufgefasst. Im Opfer kann die Gesellschaft mit beiden Polen des Sakralen und so mit ihren eigenen positiven und negativen Werten in Verbindung kommen. Die Glaubensvorstellungen und sozialen Praktiken, die im Opfer wirksam werden, sind in den Augen von Mauss und Hubert nicht genuin religiös, sondern stehen auch in Verbindung zu Fragen des Kontrakts, der Gabe, des Loskaufens, zu Ideen der Seele und der Unsterblichkeit sowie zur Opferbereitschaft (Œ 1: 307). Man schließt mit den göttlichen Wesen Beziehungen, will sie besänftigen oder tauscht mit ihnen. Das Sakrale ist nicht nur in den kollektiven Repräsentationen wirksam, sondern schreibt sich auch ein in die soziale Morphologie, von der noch die Rede sein wird. Neben dem Sakralen avanciert für Mauss der Begriff des mana zur zentralen Kategorie, um das kollektive Denken und Handeln zu erfassen. Diese »unbewusste Kategorie unseres Verstandes« (sa 1: 151) umfasst noch das Sakrale und das Tabu. »In unserer Abhandlung über die Magie haben wir eine wichtige Anzahl von Elementen ans Licht gebracht, die der Magie und der Religion gemeinsam sind, und wir haben auch belegt, 90
dass sie die gleichen mentalen Mechanismen in Gang setzen, insbesondere haben wir an ihrem Grund sowie an der Basis der Religion einen breiten gemeinsamen Begriff entdeckt, den wir, einem melanesisch-polynesischen Namen entlehnt, mana genannt haben. Diese Vorstellung ist vielleicht allgemeiner als die des Sakralen« (mauss 2006a: 356).
Zwar vermischen sich die Begriffe, aber der Begriff des mana ist nicht nur »allgemeiner als der des Sakralen, sondern dieser ist sogar in jenem enthalten, er bildet einen gewissen Ausschnitt aus ihm.« (sa 1: 151). Anders als Durkheim betont Mauss vor allem die Kategorie des mana. Was aber ist das mana? Mana ist zunächst eine melaneso-polynesische Bezeichnung für eine übernatürliche Kraft, die Gegenständen oder Lebewesen innewohnt und direkt oder indirekt mit schöpferischer Macht, Wachstum und Vitalität verknüpft ist (vgl. schmidt 1999: 241). Das mana ist eine allgemeine Kategorie aus der Vorstellungswelt der Polynesier und Melanesier (petermann 2004: 816). Diese Kraft kann sich auch in der alltäglichen Erfahrung ausdrücken (knoblauch 1991: 20). Mauss kommt auf diese ›Wesenskraft der Dinge‹ besonders in dem Entwurf zur allgemeinen Theorie der Magie zu sprechen. »Das mana ist nicht einfach eine Kraft, ein Wesen, sondern es ist zugleich auch eine Handlung, eine Qualität und ein Zustand. Anders gesagt, das Wort ist zugleich ein Substantiv, ein Adjektiv und ein Verb. […] Das mana ist eigentlich das, was den Wert der Dinge und der Personen ausmacht, magischer Wert, religiöser Wert und sogar sozialer Wert.« (sa 1: 141)
Als wertbildendes Klassifikationsprinzip differenziert es und setzt Dinge miteinander in Beziehung, kurz: Es symbolisiert, es ist ein »Zeichen«, das für etwas anderes stehen kann (vgl. dazu Abschnitt v). Lévi-Strauss betrachtet mana als »leeren« (vgl. moebius 2003) bzw. »flottierenden Signifikanten« (lévi-strauss 1999: 39), ein »symbolischer Nullwert«, »das heißt ein Zeichen, das die Notwendigkeit eines supplementären Inhalts markiert
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[…]« (lévi-strauss 1999: 40).69 Lévi-Strauss erkennt die Kategorie in unserem Denken in Ausdrücken wie »Dingsda« wieder, oder wenn wir von einer Person sagen, sie habe »etwas« (lévi-strauss 1999: 35). Das mana ist nach Mauss die symbolische »Kraft« (des Sozialen), die die Dinge anlässlich von Ritualen in eine Ordnung bringt, vereint und trennt sowie Knotenpunkte bzw. Kreuzungen zwischen Praktiken und Vorstellungen bildet.70 »Es verwirklicht jene Verschmelzung von Handelndem, Ritus und Dingen, die uns in der Magie als fundamental erscheinen.« (sa 1: 141) Mana ist eine Kraft, die die Dinge in Symbole transformiert und symbolische Systeme schafft (vgl. tarot 2003: 46). »Der Begriff des mana ist wie der des Sakralen in letzter Analyse nichts als die Spezies derjenigen Kategorie des kollektiven Denkens, die […] eine Klassifikation der Dinge anordnet, die einen trennt, die andern vereint, und Linien ihres Einflusses aufeinander festlegt oder Schranken der Isolierung errichtet« (sa 1: 154).
Mana trennt und vereint, ein Strukturierungsprozess, den man im Rahmen einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft mit der »Logik der Äquivalenz« und der »Logik der Differenz« bezeichnet (vgl. moebius 2003). Mit dem Begriff des mana, der vor allem als ein linguistisches Phänomen betrachtet wird (karsenti 1997: 241), versucht Mauss die symbolische und schöpferische Aktivität zu erfassen, die in der Magie wirksam wird. Er teilt dabei nicht Durkheims Auffassung des Begriffs (vgl. tarot 1999: 573ff., Durkheim (1994[1912]: 273), der mit mana unpersönliche Kräfte der Gruppe bezeichnet und den Begriff in Mauss’ Augen zu sehr an den Totemismus bindet (œ 2: 129). Mauss’ Verwendung von mana verweist hingegen auf die Ordnungsleistung, symbolische Produktion und den Umlauf von Bedeutungen und Sinnsystemen (vgl. tarot 2003: 46). Je nach Gesellschaft verbindet und trennt ein Wort wie mana unterschiedliche Dinge, Praktiken und Menschen miteinander, 69 Vgl. auch die Überlegungen zum mana in Moebius (2002: 25ff.). 70 Zur paradoxen Struktur von Symbolen vgl. Soeffner (2000: 199).
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es ist ein Zeichen, das Relationen und Interdependenzen produziert und eine spezifische Symbolisierungsfunktion hat (vgl. karsenti 1997: 243), da es verbindet und Beziehungen herstellt. Je nach sozialem und sprachlichem Kontext kann ein anderer Begriff als mana diese Funktion übernehmen. Mana, ein Begriff, der »lediglich aus der Funktionsweise des kollektiven Lebens resultieren kann« (sa 1: 153), ist selbst ein symbolhaftes Zeichen des Symbolisierungsprozesses (vgl. dazu Abschnitt v) und entsprechend der symbolischen Klassifikationen wirksam (sa 1: 146). Mauss lässt die Symbole demnach aus der Gesellschaft entspringen, während beispielsweise Lévi-Strauss (1999: 18) nach einem symbolischen Ursprung der Gesellschaft selbst sucht. Magie und Religion – beide bauen nach Mauss und Hubert auf dem Begriff des mana auf, sind »symbolische Systeme« (vgl. karsenti 1997: 234).71 Wie Mauss Jahrzehnte später in Fragment d’un plan de sociologie générale descriptive (1934) hervorhebt, sei der Begriff des ›sozialen Systems‹ der ›Oberbegriff‹ der Soziologie. Das gesamte soziale System setze sich aus unterschiedlichen spezifischen Systemen bzw. Teilsystemen (religiöses, ökonomisches System etc.) zusammen. Mauss’ Begrifflichkeit erinnert sowohl an die Systemtheorie als auch an die Gestalttheorie: »Wenn man den ein oder andern Teil untersucht, ohne alle ins Auge zu fassen, und ohne der dominanten Tatsache Rechnung zu tragen, dass sie ein System bilden, heißt das, sich außer Stand zu setzen, sie zu verstehen. Denn was schließlich existiert, ist diese oder jene Gesellschaft, dies oder jenes geschlossene System, wie man in der Mechanik sagt, mit einer bestimmten Zahl von Menschen, die durch dies System verbunden sind. Nachdem alle anderen Tatsachen und Systeme von Tatsachen bekannt sind, muss man noch diese allgemeine Verbindung untersuchen« (œ 3: 306). 71 Bereits in Über einige primitive Formen von Klassifikation haben Durkheim und Mauss die Gesellschaft als ein System, bestehend aus Systemen (Œ 2: 84), bestimmt. Karady bemerkt im Vorwort zu Mauss’ Werken, dass für diesen »das Soziale einem System gleicht« (karady,1968: xlvi). Vgl. auch König (1978: 271).
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Soziologie und Ethnographie: Die soziale Morphologie 1906 veröffentlichen Mauss und Henri Beuchat in der Année sociologique den Essai sur les variations saisonnières des sociétés eskimos, étude de morphologie sociale.72 Unter ›sozialer Morphologie‹ verstehen sie »die Wissenschaft, die nicht nur beschreibend, sondern auch erklärend, das materielle Substrat der Gesellschaften erforscht, das heißt die Form, die sie annehmen, wenn sie sich auf einem Territorium niederlassen, Größe und Dichte der Bevölkerung, die Art und Weise, wie diese verteilt ist, sowie das Ensemble der Dinge, in denen das kollektive Leben seinen Sitz hat« (sa 1: 183). Soziale Morphologie untersucht demnach nicht die Vorstellungen und Themen der sozialen Gruppen, sondern ihre Verteilung im Raum sowie Demographie und Sozialorganisation. Anhand der Eskimogesellschaften zeigen Mauss und Beuchat auf, inwiefern die durch jahreszeitlichen Wandel bewirkte Veränderung der sozialen Morphologie (doppelte Organisationsweise) auch eine Transformation religiöser, migratorischer und geistiger Aspekte mit sich bringt. Mit Sommer und Winter findet nicht nur ein Wechsel zwischen Zerstreuung und verstärkter sozialer Kohäsion statt, sondern auch eine Veränderung der Kultur. Im Sommer sind die einzelnen Familien einer Siedlung verstreut, sie wohnen in Zelten. Im Winter dagegen lassen sich mehrere Familien in einem Langhaus nieder. Dort verbringen sie dann den Winter unter einem Dach. Die differierende Lebensweise und Sozialorganisation der Familie ist vor allem den Umweltbedingungen geschuldet, »sie zieht sich zusammen und zerstreut sich wie die Jagdtiere« (sa 1: 240). Aber die beiden Autoren suchen nach einem tiefer gelegenen Grund der kulturellen Variationen im Eskimoleben. Der Ein72 Die deutsche Übersetzung lautet Soziale Morphologie. Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften (sa 1: 183-278).
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fluss biologischer, umweltbedingter und technischer Faktoren reiche nicht aus, um dem Gesamtphänomen Rechnung zu tragen (sa 1: 240). Denn diese Faktoren erklären nicht, warum die Konzentration im Winter derart dicht ist, dass es beispielsweise sogar zu ›sexuellem Kommunismus‹ zwischen den Bewohnern des Langhauses kommen kann. Ebenso wenig wird deutlich, warum die Menschen aufgrund ökologischer Rahmenbedingungen in Langhäusern und nicht in Zelten oder kleinen Häusern wohnen sollten; und die Faktoren verdeutlichen darüber hinaus auch nicht die Intensität des Kollektivlebens. Kurzum: Es reicht nicht aus, Soziales durch den Einfluss äußerer Faktoren deutlich und verstehbar zu machen, vielmehr muss – gemäß Durkheims Diktum (vgl. Abschnitt vi) – Soziales mit Sozialem erklärt werden. Das Kollektivleben weist in den beiden Jahreszeiten Unterschiede sowohl religiöser als auch rechtlicher Art auf, ebenso existieren unterschiedliche Symbole und Mythen. Während im Sommer das Kultleben gering ist, intensiviert sich das religiöse Leben im Winter (sa 1: 242). Man erzählt sich Geschichten und Mythen, ständig werden schamanistische Sitzungen abgehalten und Feste gefeiert. »Alles in allem kann man sich das ganze Leben im Winter als eine Art großes Fest vorstellen« (sa 1: 243f.).73 Jedes kollektive Unglück wird im Winter auf Übertretungen sakraler Verbote zurückgeführt. Das religiöse Leben ist »in höchstem Maße kollektiv. Damit wollen wir nicht bloß sagen, dass die Feste gemeinsam gefeiert werden, sondern dass sie auf jede mögliche Weise von dem Gefühl durchdrungen sind, welches die Gemeinschaft von sich selbst, von ihrer Einheit hat« (sa 1: 244). Die Gemeinschaft drückt in ihrem religiösen Leben sich selbst als Einheit aus. Mauss und Beuchat erblicken den jahreszeitlichen Wechsel nicht nur bei den Eskimos, sondern auch in unseren westlichen 73 In dem die soziale Kohäsion steigernden Moment des Festes sieht das Collège de Sociologie in Anlehnung an Mauss’ Eskimo-Essay die Möglichkeit für eine subversive Wendezeit, um die atomisierte moderne Gesellschaft vor Zerfall und Faschismus zu bewahren (vgl. moebius 2006a).
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Gesellschaften; sie analysieren den Systemcharakter der beobachteten Phänomene. Man brauche nur zu sehen, was um uns herum geschehe, dann werde man dieselben Schwankungen wiederfinden. Ab Juli trete das städtische Leben in eine Periode fortgesetzter Erschlaffung und Zerstreuung ein, »die Ferien, und diese Periode ist mit Ende des Herbstes abgeschlossen. […] Das Landleben nimmt den umgekehrten Verlauf« (sa 1: 273). Sie betrachten es als ein allgemeines Gesetz, dass das soziale Leben zu den verschiedenen Jahreszeiten nicht auf demselben Niveau bleibt und es verschiedene, zyklisch alternierende soziale Morphologien im Jahr gibt (sa 1: 274). Die Alternanz ist demnach nicht nur den Eskimos eigen, sondern sie ist nahezu universell in allen menschlichen Gesellschaften zu beobachten. Insofern ist das Phänomen der Alternanz primär, die ökologischen Bedingungen und Faktoren dagegen sekundär. Der Beitrag ist für Mauss’ weitere Arbeiten deswegen von Bedeutung, weil er nicht nur potlatsch-artige Gabentauschprozesse anreißt, auf die Mauss zwanzig Jahre später genauer eingehen wird, sondern weil sich hier bereits das im Gabe-Essay zu findende Konzept bzw. heuristische Prinzip des »sozialen Totalphänomens« abzeichnet, das sowohl Ökologie, soziale Morphologie, Religion, Sozialorganisation, Klassifikation, Kollektivvorstellungen, Ökonomie, Ästhetik etc. umfassende Phänomene oder aktueller ausgedrückt: »gesamtgesellschaftliche Verflechtungen« untersucht (vgl. könig 1978b: 279). Für die Konzeption des sozialen Totalphänomens erweist sich die Darstellungsform des Essays – die man in der Soziologie beispielsweise auch bei Simmel oder Weber findet – als passend, da diese Darstellungsform zwischen unterschiedlichen Perspektiven vermittelt und diese synthetisiert; anhand der Form des Essays versucht Mauss einen Gegenstand ins Zentrum unterschiedlicher Perspektiven zu rücken. Ziel des wissenschaftlichen Essays ist es, Brücken zu schlagen, was Mauss’ interdisziplinärer und am ›sozialen Totalphänomen‹ orientierter Ausrichtung des ›Brückenbauens‹ entspricht. 96
Soziologie der Gabe Das berühmteste Werk von Mauss, das auch die meisten Wirkungen im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften entfaltet hat (s. Abschnitt viii), ist der 1925 in der Année sociologique erschienene Essai sur le don, forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïque.74 Mauss analysiert das Phänomen des intertribalen Gabentauschs, bei dem Geschenke, Rituale, Festessen, Frauen, Tänze etc. in Form von Geschenken oder Verträgen getauscht werden. Das Besondere ist, dass die Gabe zwar in einer eher freiwilligen Form geschieht, dennoch aber immer erwidert werden muss, also als Gegengabe verpflichtenden Charakter hat. Die Gabe umfasst drei Pflichten: Geben, Nehmen, Erwidern. Ein viertes Motiv ist die Gabe an die Götter, das Opfer. Der Gabentausch betrifft demnach Menschen, Dinge und sakrale Wesen. Die Gabe ist Träger einer Art Kraft (mana, hau). Sie ist nicht leblos, das macht ihren verpflichtenden Charakter aus. Geben heißt auch immer, dass man sich selbst gibt, dass man etwas von sich selbst, einen Teil seiner Person, von dieser Kraft und vom hau, dem ›Geist der Dinge‹, weggibt.75 Der weggegebenen Sache haftet noch ein Stück des Gebers an, sie hat noch ›etwas‹ (mana, hau) von ihm: »Im Grunde ist es das hau, das zu dem Ort seines Ursprungs […] und zum Eigentümer zurückkehren möchte« (G: 34). Die Kraft (hau) zwingt zur Gegengabe.76 74 Hier wird der deutschen Ausgabe Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (G) gefolgt. Zu Mauss’ Sozial- und Kulturtheorie der Gabe siehe auch Moebius und Papilloud (2006a). Dort findet sich auch der dem Essai sur le don unmittelbar vorangegangene Aufsatz Gift – gift (mauss [1924] 2006b), in dem Mauss anhand des germanischen Rechts den rechtlichen Aspekt des Gabentauschs analysiert. 75 Im Gegensatz beispielsweise zu Lévi-Strauss, der die Verwendung des MaoriBegriffs hau bei Mauss kritisiert und meint, dieser habe sich von einem Maori-Häuptling narren lassen, interpretiert Godbout (2004) genau umgekehrt: Mauss habe – so wie er das hau versteht – einen typisch modernen Blick auf den Gabentausch. 76 Es wäre interessant, den Wirkungen der damaligen Physik auf die Begrifflichkeiten der ›Kraft‹ und ›Ursache‹ bei Durkheim und Mauss genauer nachzugehen (vgl. needham 1967: xxv).
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Glaubt Mauss wirklich an einen Geist der Dinge (hau) und an die Kraft des mana oder für was stehen diese Begrifflichkeiten? In seinem 1924 gehaltenen Vortrag über die Beziehungen zwischen Soziologie und Psychologie, von dem im nächsten Abschnitt die Rede sein wird, heißt es: »Die Worte, die Begrüßungen, die feierlich ausgetauschten, empfangenen und unter Strafe des Krieges obligatorisch erwiderten Geschenke, was sind sie anderes als Symbole?« (sa 2: 163). Die Gabe hat eine symbolische Dimension. Das mana ist eine symbolische Kraft und kann als ein symbolischer Verweis auf den Anderen als Geber verstanden werden. Es ist dieser Andere, genauer: das in den Begriffen des mana und hau symbolisch zum Ausdruck kommende ›etwas‹ bzw. der ›Geist‹, die ›Seele‹ etc. des Anderen, der zur Erwiderung verpflichtet. »Und was, wenn nicht Symbole, sind die Überzeugungen, die zum Glauben verleiten, die inspirieren, sowie die Vermischungen bestimmter Dinge untereinander und die Verbote, welche die Dinge voneinander trennen?« (sa 2: 163) Mauss glaubt weniger an eine unbestimmte Kraft an sich, als vielmehr an die Kraft des Symbolischen. Der Gabentausch ist nach Mauss der ›Fels‹, auf dem die Gesellschaft ruht (G: 19); dabei gründet sich für ihn das soziale Band, das sich durch den Gabentausch bildet, weniger auf einer natürlichen oder unbewussten Struktur des Tauschs, als vielmehr auf der gegenseitigen Verpflichtung. Die Leistungen und Gegenleistungen werden im Gabentausch in einer paradoxen, weil gleichzeitig verpflichtenden und dennoch freiwilligen Form vollzogen. »Wir haben vorgeschlagen, all dies das System der totalen Leistungen zu nennen« (G: 22). Der potlatsch ist ein ›agonistisches‹ System der totalen Leistungen, da er die Beteiligten trotz seiner bindenden Kraft zu gegenseitigem Wettkampf anspornt, oder anders gesagt: Der Kampf ist eine Form von Verbindung selbst (vgl. waltz 1993: 95); daneben existieren aber auch andere, nicht rivalisierende Gaben-Systeme (godelier 1996: 61f.). Das Phänomen des (agonistischen sowie nicht-agonistischen) Gabentauschs ist ein ›soziales Totalphänomen‹, das sich 98
dadurch auszeichnet, dass in ihm alle Arten von Institutionen gleichzeitig zum Ausdruck kommen: »religiöse, rechtliche und moralische – sie betreffen Politik und Familie zugleich; ökonomische – diese setzen besondere Formen der Produktion und Konsumtion oder vielmehr der Leistung und Verteilung voraus; ganz zu schweigen von den ästhetischen Phänomenen, in welche jene Tatsachen münden, und den moralischen, die sich in diesen Institutionen offenbaren« (G: 17f.). Anhand eines Vergleichs verschiedener segmentärer Gesellschaften analysiert Mauss, wie der Gabentausch und die damit zusammenhängenden Verpflichtungen in Kollektiven vollzogen werden. Es handelt sich wie bereits angedeutet aber nicht so sehr um harmonisch-äquivalente Formen des Tausches, sondern um das, was Mauss mit dem Begriff potlatsch bezeichnet: »Wir schlagen vor, den Namen ›Potlatsch‹ jener Art von Institution vorzubehalten, die man unbedenklicher und präziser, aber auch umständlicher totale Leistung von agonistischem Typ nennen könnte« (g: 24f.). Anstatt eines friedlichen Tausches von Gaben herrschen beim potlatsch Rivalität und Antagonismen vor, die sogar bis zum offenen Kampf und der Tötung der Häuptlinge führen. Ferner »geht man bis zur rein verschwenderischen Zerstörung der angehäuften Reichtümer [...]« (g: 24). All dies geschieht, um sich »symbolisches Kapital« (Bourdieu), also Ansehen, Annerkennung und Prestige zu verschaffen und den Beschenkten zu demütigen. »Der Tausch ist nicht als ein Mittel der Sphäre der Bedürfnisbefriedigung untergeordnet, sondern im Gegenteil: der ganze Bereich der Bedürfnisbefriedigung wird den massivsten Einschränkungen unterworfen, damit er als Material für Tauschbeziehungen dienen kann« (waltz 1993: 95f.).
Es geht in diesem (symbolischen) Kampf um Anerkennung also nicht um eine Anhäufung oder endlose Ansammlung von ökonomischem Kapital oder Reichtümern, ebenso wenig wird einem nach Kosten-Nutzen-Denken geleitetem Interesse gefolgt. »Das Wort ›Interesse‹ selbst ist jüngeren Datums und geht zurück auf das lateinische ›interest‹, das in den Rechnungs99
büchern über den einzunehmenden Einkünften geschrieben stand. In den epikureischsten der alten Moralsysteme strebte man nach dem Guten und dem Vergnügen, und nicht nach materieller Nützlichkeit. Es bedurfte des Sieges des Rationalismus und Merkantilismus, damit die Begriffe Profit und Individuum Geltung erlangen und zu Prinzipien erhoben werden konnten. […] Der homo oeconomicus steht nicht hinter uns, sondern vor uns […]« (G: 172f.).
Gegenseitige, in der Verausgabung angelegte Großzügigkeit und Verpflichtung, wie sie zum Beispiel in der französischen Gesetzgebung der Sozialversicherung angelegt sei, und nicht rechnerisches Kalkül, dies sind nach Mauss die lang vergessenen, nun wieder auftauchenden aktuellen Motive, die im Thema der Gabe angelegt sind. »Die gesamte französische Gesetzgebung der Sozialversicherung, dieser schon verwirklichte ›Staatssozialismus‹, ist von dem Prinzip durchdrungen, dass der Arbeiter sein Leben und seine Arbeit teils der Gemeinschaft, teils seinem Dienstherrn hingibt; wenn er an dem Versicherungswerk mitarbeiten soll, so sind diejenigen, die aus seinen Diensten Nutzen gezogen haben, nicht schon durch die Zahlung eines Lohns aller Schuld ihm gegenüber enthoben; der Staat, der die Gemeinschaft repräsentiert, schuldet ihm, zusammen mit seinem Dienstherrn, eine gewisse Sicherung seines Lebens gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter und Tod« (g: 160).
Man solle zu den archaischen Prinzipien zurückkehren (damit ist nicht gemeint, zu den archaischen Gesellschaften selbst). Dann werde man Handlungsmotive erkennen, die vielen Gesellschaften noch bekannt seien, wie »die Freude am öffentlichen Geben, das Gefallen an ästhetischem Luxus, das Vergnügen der Gastfreundschaft und des privaten und öffentlichen Festes« (g: 163). Mauss ist – wie Durkheim (vgl. müller 1983) – auf der Suche nach einem die Moral und Solidarität der Gesellschaft gewährleistenden Prinzip. Die Gabe ist für ihn nicht nur Forschungsobjekt, sondern er verbindet damit auch ein ethisch100
politisches Anliegen: Ehre, Selbstlosigkeit und korporative Solidarität seien weder leere Wörter noch würden sie der Notwendigkeit zur Arbeit zuwiderlaufen. »Humanisieren wir auch die anderen professionellen Gruppen, damit wäre ein Fortschritt erzielt, den schon Durkheim häufig empfohlen hat« (G: 163). Wie deutlich wird, ist Mauss nicht nur an einer Beschreibung und Analyse des potlatsch gelegen, sondern er will die moderne Gesellschaft vor ökonomischen Profitinteressen bewahren. »Lange Zeit war der Mensch etwas anderes; und es ist noch nicht so lange her, seit er eine Maschine geworden ist – und gar eine Rechenmaschine« (G: 173). Es geht Mauss nicht um ein Zurück in die archaische Welt. Vielmehr befürwortet er eine Art Aufnahme bestimmter, elementarer Prinzipien der Gabe, die jenseits rein utilitaristischer Prinzipien anzusiedeln sind (G: 166) und die Eingang in die modernen, laizistischen Gesellschaften finden sollen. Mauss verortet sich mit seinem Essay zwischen einer Kritik am utilitaristischen Individualismus einerseits und einer Kritik am Bolschewismus, den er zeitgleich mit dem Gabe-Essay untersucht (vgl. Abschnitt vii), andererseits. Thomas Keller hat Mauss’ Denkweise treffend dahingehend beschrieben, dass es nicht um eine Idealisierung des so genannten ›Wilden‹ gehe, sondern darum, »nicht-utilitaristische soziale Praxis auch in industrialisierten Ländern mit ethnologischen Analysen identifizieren zu können. Das Gabe-Denken ist in diesem Sinne weder vormodern noch antimodernistisch. Es konfiguriert eine alternative Moderne« (keller 2001: 94).77 Es sind vor allem die im Essay angesprochenen Themen der Reziprozität, des Anti-Utilitarismus und des sozialen Totalphänomens, die eine ungeheure Rezeption der Studie bewirkten und dann weiter ausgebaut und modifiziert wurden. Zur Zeit seines Erscheinens beeinflusste der Essay vor allem das Denken non-konformistischer Intellektueller wie der Persona77 In welchem Maße das Gabe-Theorem aktuell eine zentrale Rolle für moderne Gesellschaften spielt, zeigt eindrücklich Godbout (1992).
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listen (vgl. keller 2001), Surrealisten oder der Mitglieder des Collège de Sociologie (moebius 2006a). Prägend ist für zahlreiche Ethnologen und Soziologen darüber hinaus Mauss’ Begriff der ›faits sociaux totaux‹: »Die Tatsachen, die wir untersucht haben, sind – man gestatte uns den Ausdruck – ›totale‹ gesellschaftliche Tatsachen (man mag das Wort ›allgemein‹ vorziehen, das wir hingegen weniger schätzen), d. h. Tatsachen, die in einigen Fällen die Gesellschaft und ihre Institutionen in ihrer Totalität in Gang halten […], in anderen Fällen eine große Anzahl von Institutionen, nämlich dort, wo Austausch und Verträge mehr das Individuum angehen« (g: 176).
Diese Tatsachen sind zugleich religiös, ökonomisch, ästhetisch, politisch, juristisch etc. Analysiert werden im Rahmen der totalen sozialen Tatsache sowohl die synchrone Ebene der gesellschaftlichen Struktur, die diachrone Ebene der Geschichte der Tatsache und die subjektive Ebene, ihr Niederschlag in der geistigen Vorstellung (vgl. centlivres 1990: 190). Mauss schreibt: »Nichts ist unserer Meinung nach dringender und hoffnungsvoller als ein solches Studium der totalen gesellschaftlichen Phänomene« (G: 178). Im Gabe-Essay wird Mauss’ eigentümliche Methode deutlich: Zuerst untersucht er vergleichend die empirischen Fakten, lässt dann eine diesen Fakten zugrunde liegende Logik erscheinen, um daraufhin zu einer theoretischen Annahme zu gelangen, von der er ausgehend wiederum erneut die Fakten analysiert. »Dank diesem Hin und Her von Daten und Theorie, dank dem neuen, manchmal phantasievollen Ansatz, den er auf die reiche Ernte der ethnographischen Daten anwendet, die von Feldforschern gesammelt wurden, lädt uns Mauss ein, in einer ständigen Dezentration einen destabilisierenden Blick auf die Welt zu werfen, um wieder zu erlernen, was wir zu wissen glauben, und zu sehen, was wir vor Augen haben.« (centlivres 1990: 196).
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Soziologie und Psychologie »In der Magie, wie in der Religion, wie in der Linguistik sind es die unbewussten Ideen, die wirksam sind« (sa 1: 148). Mauss verbindet bereits in seiner Theorie der Magie, der das Zitat entnommen ist, das Unbewusste mit dem Kollektivem (vgl. lévistrauss 1999: 24f.). Er vertieft diese Perspektive in seinem 1924 vor der Société de Psychologie gehaltenen Vortrag über Wirkliche und praktische Beziehungen zwischen Psychologie und Soziologie (sa 2: 145173). Wie die Psychologen für das individuelle Bewusstsein zuständig sind, so die Soziologen für das kollektive Bewusstsein: »Nennen wir dieses Kapitel, wenn Sie wollen, Kollektivpsychologie, wenngleich es besser schlicht Soziologie hieße.« (sa 2: 152). Die Soziologie reicht nach Mauss bis an die Untersuchung des individuellen Bewusstseins heran; die Psychologie habe sich jedoch – trotz ihrer unbestrittenen Existenzberechtigung – der Soziologie unterzuordnen. Andererseits habe die Soziologie von der Psychologie das Problem der kollektiven Empfindungen und der kollektiven Handlung übernommen, wie Mauss (2006a: 357) in Bezug auf Georges Dumas und William McDougall, auf den sich übrigens auch Mead (1987: 159ff.) bezieht, schreibt. Mauss entwirft in seiner Rede eine sozialpsychologische Perspektive. »Tatsächlich spielen die Kollektivvorstellungen: Ideen, Begriffe, Kategorien, Triebfedern von Handlungen und traditionalen Praktiken, Kollektivempfindungen und geronnene Ausdrücke von Gefühlen und Empfindungen sogar im individuellen Bewusstsein (dessen Untersuchung wir mit so viel Energie fordern) eine so beachtliche Rolle, dass wir momentan alle Forschungen der höheren Schichten des individuellen Bewusstseins für uns beanspruchen zu wollen scheinen. Die höheren Empfindungen sind in ihrer Mehrzahl sozial: Vernunft, Persönlichkeit, Wahl oder Freiheit, praktische Gewohnheit, mentaler Habitus oder Charakter, Veränderung dieser Gewohnheiten, für all das und für viele andere Dinge mehr erklären wir uns zuständig« (sa 2: 153). 103
Mauss kommt in Wirkliche und praktische Beziehungen zwischen Psychologie und Soziologie auf seinen Vortrag über die vom Kollektivglauben gelenkten Selbstmorde zurück. In Richtung seiner Zuhörerschaft der Société de Psychologie heißt es: »In der Tat werden Sie dadurch instand gesetzt, genau zu sehen, was vom Lebenstrieb beim Menschen zu denken ist: bis zu welchem Grad er von der Gesellschaft abhängig ist und vom Individuum selbst aus außerindividuellen Gründen verneint werden kann. […] Ein anderes psychologisches und physiologisches Problem – diesmal spezifisch anthropologisch und folglich auch spezifisch sozial – ist von unserem verstorbenen Kollegen Robert Hertz in ein lebhaftes Licht gerückt worden: die Untersuchung von rechts und links, die zugleich religiös und technisch ist; in der physischen und erblichen Natur des Menschen verankert, entstammt sie vielleicht der Gesellschaft. Jedenfalls setzt sie die kombinierte Untersuchung der drei Elemente: Körper, Geist und Gesellschaft voraus« (sa 2: 166).
Es sind nach Mauss zuerst die Linguisten,78 die diese »totale« Forschungsperspektive eröffnet haben: »Unter den Soziologen haben die Linguisten das Glück, als erste zu wissen, dass die von ihnen erforschten Phänomene, wie alle Phänomene, zuerst soziale, gleichzeitig und ineins aber physiologische und psychologische waren. Sie haben immer gewusst, dass die Sprachen außer den Gruppen auch deren Geschichte zur Voraussetzung hatten. Die Soziologie hätte gewiß größere Fortschritte gemacht, wenn sie sich überall an das Vorbild der Linguisten gehalten hätte […]« (sa 2: 162).
Mauss tritt in seinem Vortrag über die Beziehungen zwischen Soziologie und Psychologie für eine Untersuchung des ›totalen Menschen‹ ein, das heißt eine Körper, individuelles und kollektives Bewusstsein bzw. Kollektivität umfassende Forschung. Die von Durkheim vorgenommene Ausklamme78 Man erinnere sich, dass Mauss Linguistikkurse bei Meillet, dem Saussure-Schüler und -Nachfolger an der École des Hautes Études, dem »Meister der vergleichenden Methode« (Œ 3: 550), belegte.
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rung des Psychischen nimmt der Neffe zurück.79 »Denn wie groß auch die Macht der Suggestion der Kollektivität sein mag, sie lässt dem Individuum immer ein Heiligtum, sein Bewusstsein, für welches die Psychologie zuständig bleibt« (sa 2: 154). Mauss gelangt ausgehend davon zu einem Denken des Symbolischen (vgl. Abschnitt v), das ihn zu der Annahme führt, dass es zwischen Individuum und Sozialem keinen Bruch, sondern lediglich Graduierungen gibt.
Die ›Gliederung der allgemeinen beschreibenden Soziologie‹ 1934 erscheint in den Annales sociologique, Serie A Mauss’ Fragment d’un plan de sociologie générale descriptive (œ 3: 303-391). Mauss legt in seinem Beitrag eine systematische soziologische Methodologie vor. Zunächst definiert er ›Gesellschaft‹. ›Gesellschaft‹ sei eine Gruppe von Menschen, hinreichend beständig und hinreichend groß, um genügend zahlreiche Untergruppen und genügend viele lebende Generationen – für gewöhnlich – auf einem bestimmten Territorium und (im Allgemeinen) um eine selbstständige und immer bestimmte Verfassung herum zu versammeln (Œ 3: 306f.). Die Erforschung von Gesellschaften kann sich in drei Teile untergliedern: soziale Morphologie, soziale Physiologie und allgemeine Soziologie. Während sich die soziale Morphologie der Demografie, der Geografie, der Altersverteilung etc. zuwendet, untersucht die soziale Physiologie die sozialen Praktiken und Institutionen; besonders im Blick sind hierbei die Bereiche Ästhetik, Wirtschaft, Religion, Recht, Medizin, Wissenschaft und Techniken (des Körpers, aber auch Maschinen, Handwerkstechniken, Produktionstechniken, Verkehr etc.). 79 »Dennoch sind wir fest davon überzeugt, daß nur die Einsicht in das, was Marcel Mauss das ›totale soziologische Phänomen‹ genannt hat, uns vor den verhängnisvollen Verdinglichungen des Soziologismus und des Psychologismus bewahren kann« (berger/luckmann 1990: 199).
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Die dritte Ebene, die allgemeine Soziologie, unterscheidet zwischen intrasozialen und intersozialen Aspekten und fragt in vergleichender Weise: Was hat eine Gesellschaft mit anderen Gesellschaften gemeinsam und was trennt sie von anderen Gesellschaften? Hierbei soll einerseits das analysiert werden, was einer Gesellschaft ihre Solidität gibt, also die soziale Kohäsion. Die spezifischen Elemente der sozialen Kohäsion sind nach Mauss die Autorität und die Disziplin. Andererseits gilt es zu untersuchen, was die Beständigkeit der Gesellschaft und der sozialen Kohäsion ausmacht, also die Erziehung (bis hinein in die Techniken des Körpers), die Sprache, die kollektiven Gewohnheiten, die Ideen und Vorstellungen sowie die Tradition. Die Tradition impliziert Mauss zufolge eine gemeinsame, die ›totalen sozialen Tatsachen‹ durchziehende Moral. Die von Mauss vorgenommene Gliederung entspricht im Wesentlichen der Aufteilung, die Mauss bereits zehn Jahre zuvor in seinem Vortrag über Soziologie und Psychologie vorgeschlagen hat. Einzig, dass er dort die soziale Physiologie vor allem mit der Untersuchung statistischer Verteilungen in Verbindung brachte und im Rahmen der allgemeinen Soziologie die historische Analyse jeder sozialen Tatsache besonders hervorhob (sa 2: 152). Diese Ausdifferenzierung der Soziologie veranschaulicht nach Dumont »die Weite der Mauss’schen Perspektive. Nicht nur stellen soziale Kohäsion, Autorität, Disziplin, Tradition, Erziehung keineswegs, wie im Funktionalismus, das Wesen der Soziologie dar, sondern lediglich ihren allgemeinen Aspekt; darüber hinaus bilden sie jedoch nichts als einen intrasozialen Teil der ›allgemeinen sozialen Phänomene‹, die auch die intersozialen Tatsachen umfassen (Frieden und Krieg, die Zivilisation)« (dumont 1991: 208). In Mauss’ Vortrag über die Beziehungen zwischen Soziologie und Psychologie verdichten sich die zentralen Themen seines Denkens, auf die ich nun im folgenden Abschnitt näher eingehe; es handelt sich um das Symbolische, die ›totalen sozialen Tatsachen‹ und den ›totalen Menschen‹. 106
vi.
Das Symbolische, die ›totalen sozialen Tatsachen‹ und der ›totale Mensch‹
Mauss deutet in Wirkliche und praktische Beziehungen zwischen Psychologie und Soziologie darauf hin, dass er mit seiner Analyse des Symbolischen nicht absolut mit Durkheim bricht, sondern dessen Arbeit weiter entwickelt: »Schon lange ist es Durkheims und unsere Lehre, dass Gemeinschaft und Kommunikation zwischen Menschen nur durch Symbole möglich sind […]« (sa 2: 158). Bereits 1902 hatten Hubert und Mauss in Bezug auf die Magie von Symbolismus gesprochen und die Magie als ein symbolisches System ausgewiesen. Durkheim schreibt zehn Jahre später: »So ist das soziale Leben unter allen seinen Aspekten und zu allen Augenblicken seiner Geschichte nur dank des umfangreichen Symbolismus möglich.« (durkheim [1912]1994: 317) Das heißt für Durkheim nicht, dass das soziale Leben letztlich durch den Symbolismus bestimmt sei oder mit ihm gleichgesetzt werden könne, sondern verweist zuallererst nur auf die hochrangige Bedeutung, die dem Symbolismus für das soziale Leben zugeschrieben werden muss. In einer Debatte mit Jean Piaget bekräftigt Mauss diese Relevanz mit den folgenden Worten: »Das ganze Wissen beruht zuerst auf der Macht des Symbols allein« (œ 3: 302).80 80 Und an anderer Stelle: »Zum Beispiel ist die klassische Doktrin von Mead über die symbolische Aktivität des Geistes völlig im Einklang mit der von mir und Durkheim aufgestellten Theorie der Bedeutung des rituellen, mythischen, linguistischen etc. Symbols.« (mauss 2006a: 357f.) Zum Symbolismus bei Mauss siehe Karsenti (1997), Tarot (1999) sowie die Beiträge in La Revue du M.A.U.S.S., Plus réel que le réel, le symbolisme, Nr. 12, 1998. Zu Durkheim und der Pragmatismus vgl.
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Mauss macht auf die Bedeutsamkeit der Symbole für das soziale Leben aufmerksam (me: 342) und führt die Linguistik sowie das Symbolische in die Sozialwissenschaften ein. Er kennt einige der Arbeiten von George Herbert Mead und Ernst Cassirer zum Symbolischen.81 Bei aller Differenz ist ihm beispielsweise mit Cassirer gemeinsam, dass beide – anders als etwa Saussure (2001: 80) nicht zwischen Symbol und Zeichen unterscheiden (vgl. zu Mauss me: 142). Sprache ist für sie ein System symbolischer Formen. Angeregt durch den SaussureSchüler Meillet sowie durch Lévi und die Arbeiten von Strehlow, entwickelt Mauss einen ausgeprägten Sinn für sprachliche Phänomene. Für ihn haben selbst Riten und kollektive Ausdrücke symbolischen Charakter, sie seien wie eine Sprache: »Alle kollektiven Ausdrücke […] sind mehr als bloße Äußerungen, sie sind Zeichen, inklusive Ausdrücke, kurz: eine Sprache [langage]« (Œ 3: 277). In Trauerklagen äußere man beispielsweise mehr als nur Gefühle; man bekundet die Gefühle auch anderen, weil man sie den Anderen kundtun muss. Man bringt sich selbst die Gefühle zum Ausdruck, indem man sie den anderen gegenüber äußert. »Das ist essentiell eine Symbolik« (C’est essentiellement une symbolique) (Œ 3: 278). Mauss setzt das Symbolische nicht mit Gesellschaft gleich. Allerdings beschreibt er das Soziale zuweilen so, als ob das Soziale wie eine Sprache aufgebaut sei (was eben nicht bedeutet, es ist Sprache); das Soziale ist dann nicht mehr wie für Durkheim wie ein Ding, sondern es Joas (1993). Ein Vergleich zwischen Mauss und Mead hinsichtlich des Symbolismus (und darüber hinaus) steht meiner Kenntnis nach noch aus. König (1978: 261) schreibt, dass Mauss mit seiner ›Theorie der sozialen Symbole‹ wesentliche Annahmen des an Mead anschließenden symbolischen Interaktionismus vorwegnimmt. Zu Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Symbolbegriffs bei Georg Simmel und Mauss vgl. Papilloud (2002a: 127ff.). 81 Erst kürzlich wurde ein Karton von Mauss gefunden, der zahlreiche Rezensionen deutschsprachiger Ethnologen wie Wirz und Vatter enthält (vgl. L’Année sociologique Vol. 54, 2004/1). Dort findet man auch eine Besprechung des zweiten Bandes, Das mythische Denken, von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Den ersten Band kannte Mauss auch (vgl. beispielsweise œ 3: 259). Zu Cassirer und Mauss und dem neuen Fund vgl. Keller (2006). Zu Cassirers Symbolbegriff vgl. Sandkühler und Pätzold (2003).
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ist wie ein Zeichensystem aufgebaut, in erster Linie heißt das: Es ist relational.82 Symbole sind für Mauss Zeichen, die, einmal aus dem Sozialen entstanden (geschaffen durch die kollektive Praxis von »Erregungen und Ekstasen« sa 2: 160), ein Eigenleben entwickeln und soziale Beziehungen herstellen können. Sie sind nicht einfach ein Ausdruck der sozialen Morphologie oder ideelle Modalitäten sozialer Beziehungen, wie Durkheim und Mauss noch in Über einige primitive Formen von Klassifikation dachten, sondern Symbole sind nun für Mauss selbst beziehungsstiftend. In dieser Auffassung kommt die Etymologie des Wortes Symbol zum Tragen, das in seiner Verbform symballein (συµβάλλειν) aus dem Griechischen stammt und u. a. zusammenstellen, -werfen, sich vereinigen bedeutet (vgl. soeffner 1991).83 Wenn es die Vermittlung, die Vereinigung und das In-Beziehung-Setzen sind, die das Symbol ausmachen, dann symbolisiert die Gabe das Symbolische: Sie hat eine symbolische Funktion, denn sie bringt (auch auf nicht-verbale) Weise Menschen und Gesellschaften zusammen, schafft und verweist auf soziale Beziehungen sie impliziert eine Vielzahl von Beziehungen von Beziehungen; der Gabentausch bindet aneinander. Das Soziale ist symbolisch, weil es ein System von Relationen ist, innerhalb dessen und durch das sich die einzelnen symbolischen Handlungen, denen es um Sinn und Dauerhaftigkeit geht, vollziehen. »Die Worte, die Begrüßungen, die feierlich ausgetauschten, empfangenen und unter Strafe des Krieges obligatorisch erwiderten Geschenke, was sind sie anderes als Symbole?«, so Mauss (sa 2: 163) in dem 1924 gehaltenen Vortrag über Soziologie und Psychologie. Auch das Opfer kommt hier wieder ins Spiel (vgl. scubla 1998): Wie der rivalisieren82 Auf die zentrale Bedeutung der »Relationen« für die Soziologie und Philosophie macht im Anschluss an Mauss aktuell insbesondere Aldo Haesler im Rahmen eines »kritischen Interaktionismus« (2006) aufmerksam. 83 Symbolon (σύµβολον) war bei den Griechen ein Erkennungszeichen (z. B. für Sektenmitglieder), das durch die beiden Hälften eines zerbrochenen Objekts, die man ineinander fügt, gebildet wird. Auch hier geht es um die Idee des Sich-Vereinens und der Verbindung.
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de Gabentausch oder die zu organischer Solidarität führende Arbeitsteilung84 verbindet das Opfer, während es gleichzeitig trennt. Das Opfer ist wie die Gabe ein Symbol des Symbolischen; es zeichnet sich durch »strukturale Relationen« und »strukturale Interdependenzen« aus (vgl. könig 1978b: 269). »Ohne Vermittlung gibt es kein Opfer. Weil das Opfer sich vom Opfernden und Gott unterscheidet, trennt es sie, indem es sie verbindet. Sie nähern sich an, aber ohne sich völlig im anderen zu verlieren.« (Œ 1: 305)85 Das Opferritual ist eine symbolische Praxis, in der so getan wird, als ob ein Bezug existierte, »als ob die Götter begehrten« (schäfer/wimmer 1998: 26) Die sich gegenseitig durchdringenden Logiken der Verbindung/Äquivalenz und der Differenz (vgl. dazu moebius 2003) machen auf einer abstrakten Ebene das Symbolische bei Mauss aus. »Auch die Gruppen, die Totalitäten sind, erschaffen sich durch eine doppelte Bewegung, indem sie sich zusammensetzen oder sich zusammenziehen und sich scheiden oder sich distanzieren, sie vereinigen sich, indem sie sich abtrennen und trennen sich ab, indem sie sich vereinigen« (tarot 1998: 74).
Für Mauss ist symbolische Praxis soziale Praxis, so wie Gemeinschaft nur durch Symbole möglich ist (sa 2: 158) – man kann dies beispielsweise an den Emblemen der Fußballfans erkennen: Die Symbole verbinden wie Knotenpunkte die zuvor getrennten Fans, geben ihre Gruppen-Präsenz wieder und trennen sie wiederum von den anderen Fans, indem sie sie vereinigen. 84 Unter Solidarität hat man auch bei Durkheim in erster Linie einen »Relationierungsmodus« zu verstehen (vgl. müller/schmid 1999: 489). Ein weiterer Unterschied zu Durkheim wird deutlich: Während dieser auf biologische Modelle zurückgreift (»organische« Solidarität), stützt sich Mauss – angeregt durch Meillet – auf die Linguistik und vergleicht das Soziale wegen dessen konstitutiven Relationierungen mit einem sprachlichen System (vgl. karsenti 1994: 88). Von Meillet kannte er auch die Linguistik de Saussures (vgl. karady 1968: xlvi). 85 René König (1978: 269f.) schreibt, in der Arbeit über das Opfer sei die Sprache »nicht die eines Funktionalisten im üblichen Sinne, sondern eines werdenden Strukturalisten.« Mauss dringe zum Systemcharakter (Korrespondenzen, Äquivalenzen) der Realität vor.
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Nach Mauss bezeichnet oder repräsentiert das Symbol jedoch nicht einfach eine schon bestehende Gruppierung (vgl. karsenti 1997: 234), sondern bildet sie erst anhand differenzieller Relationen; es schafft Beziehungen zwischen Beziehungen; »das Symbol zur Erscheinung gebrachter Geist – hat sein Eigenleben; es handelt und reproduziert sich unbegrenzt« (sa 2: 163). Mauss bezeichnet mit Symbolismus »die dynamische Aktivität, durch die die Zeichen sich festlegen und ihren Sinn produzieren, allein durch das Spiel ihrer wechselseitigen Beziehungen« (karsenti 1997: 222).86 Symbole drücken gegenseitige Beziehungen aus, so Mauss (sa 2: 163); sie repräsentieren nicht einfach etwas schon Vorhandenes, sondern im Gegenteil stellen sie anhand von Verweisungszusammenhängen Beziehungen und Sinn erst her. Die Wahl des Symbols kann willkürlich sein, jede Gesellschaft hat eigene Modi der Verwendungen. »Schon lange also haben wir für eines der Merkmale der sozialen Tatsachen eben ihren symbolischen Aspekt gehalten. Bei der Mehrzahl der Kollektivvorstellungen handelt es sich nicht um eine einzige Vorstellung einer einzigen Sache, sondern um eine Vorstellung, die willkürlich oder mehr oder weniger willkürlich gewählt wird, um andere Vorstellungen zu bezeichnen oder Praktiken anzuleiten« (sa 2: 158).
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: »Bei einem Ritus der Aranda oder der Arumta (Zentralaustralien), der für Wasser sorgen soll, unterziehen sich die Akteure einem schmerzlichen Aderlaß – der den Regen symbolisiert – und währenddessen wird im Chor gesungen: ›ngai, ngai, ngai…‹. Wir wüssten nicht, was dieser Schrei bedeuten 86 Unter dem Begriff ›symbolisch‹ fasst man allgemein Verweisungssysteme, Strukturen und Ordnungen auf, in denen – wie etwa in einer Sprache – eine Logik der Äquivalenz (vereinheitlichende Verdichtung) und der Differenz vorherrscht (vgl. moebius 2003), das heißt, das die Elemente sich in differenziellen Relationen konstituieren bzw. ihre Einheit, ihren Sinn und ihre Funktion nur durch die Verweisung, Beziehung und die Unterscheidung zu anderen Elementen herstellen können, von denen sie in ihrer Relationalität konstitutiv abhängen. Durch diese Bezüge bilden sie Äquivalenzketten bzw. ein System.
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soll, und nicht einmal, dass es sich um eine Lautmalerei handelt, wenn Strehlow uns nicht von seiten seiner eingeborenen Autoren die Mitteilung übermittelte, dass dieses das Geräusch von Wassertropfen nachahmt, die auf den Felsen fallen. Nicht nur gibt dieses Wort doch einigermaßen gut den Laut der wirklichen Tropfen wieder, sondern jenen Laut, der von den Tropfen des mythischen Unwetters hervorgerufen wurde, welches früher die Götterahnen des totemistischen Clan des Wassers entfesselten. Dieser rituelle Ruf des Clan ist Lautmalerei, Anspielung auf den Mythos und Symbol, all dies in einer Silbe. […] Die Tätigkeit des Kollektivgeistes ist also noch symbolischer als die des individuellen Geistes, doch sie ist es genau in demselben Sinne. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es nur Unterschiede der Intensität und Artverschiedenheiten, nicht aber solche der Gattungen« (sa 2: 159).87
Die Symbole bilden Netzwerke, dank derer sie existieren und zirkulieren. Mauss interessieren zwar auch die unbewussten Mechanismen des Symbolischen, aber vielmehr behandelt er dessen (je nach Geschichte und Gesellschaft veränderbare) Aktivität auf den Ebenen der sozialen Handlung, des Wissens und der Struktur.88 Eine bleibende Aktualität des Mauss’schen Denkens besteht unter anderem in diesen Annahmen der symbolischen Konstituierung des Sozialen und des (an den Pragmatismus erinnernden) symbolvermittelnden Handelns 87 Der Begriff des Symbols war zu Zeiten von Mauss besonders in der Literatur und der Kunst sowie in der Psychologie und Psychopathologie gegenwärtig. Mauss bezieht sich – wie übrigens auch Mead (1987: 171ff.) – vor allem auf die Völkerpsychologie von Wilhelm Wundt (sa 2: 162), ferner auf seine persönlichen Gespräche mit dem Neuropsychologen und Aphasieforscher Henry Head (SA 2: 158), dessen sprachpathologische Forschungen auch Cassirer aufgreift. Sprachliche Formen, so Cassirer im Anschluss an Head, prägen unser (logisch-gegenständliches) Denken und somit auch unser Weltbild; sie ermöglichen Weltsicht (vgl. plümacher 2003: 100ff.). 88 Zum Strukturbegriff von Mauss vgl. Œ 3: 205f., Fn. 2.: ›Struktur‹ bezeichne drei getrennte Dinge: die materiale soziale Struktur (Bevölkerungsverteilung), die moralische und materiale Komponenten enthaltenen sozialen Strukturen (Untergruppen wie Clan, Familie) und rein moralische soziale Strukturen (Altersklassen, Militärorganisation).
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sowie in der Annahme der Symbolvermitteltheit (auch alltäglicher) sozialer Beziehungen und des Denkens. Die Bedeutungen der Symbole sind jedoch weder einem Abbildcharakter der Symbole zu verdanken noch werden sie wie aus dem Nichts in den alltäglichen Interaktionen erst hergestellt, bestimmend ist vielmehr der übersubjektive Kontext (vgl. karsenti 1997: 204). Mauss schreibt 1925 in einer Rezension von Cassirers Symbolischen Formen I (1923), Svend Ranulfs Der eleatische Satz vom Widerspruch (1924) sowie Odgens und Richards The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of the Language upon Thought and of the Science of Symbolism (1923): »Es ist sehr bemerkenswert, dass alle zwei [gemeint ist die Soziologie und Psychologie, S.M.] sich darin überein sind, zu sagen, dass es keinen ›Sinn der Zeichen‹ jenseits ihres ›Kontextes‹, ihrer Situation in einem Ensemble von Symbolen gibt« (Œ 3: 259). Mauss nimmt an dieser Stelle, in einem ihm eigenen linguistic turn, zeichentheoretische Grundannahmen des (Post-)Strukturalismus gleichsam vorweg, also die Annahme, dass Zeichen nicht an sich einen Sinn haben, sondern nur durch eine relationale und differente Position in einer kontextartigen Struktur (vgl. derrida 2001: 211, 235; moebius 2003); bei Mauss werden diese Annahmen allerdings nicht systematisch entwickelt und bleiben noch recht inkohärent. Wie stellen die Menschen ihre Beziehungen auf Dauer? Wie wird Sinn durch Relationen, Trennungen und Verweisungszusammenhänge hergestellt? Wissen und Symbole gehören nach Mauss zu einer Totalität der Gruppenaktivitäten und der Struktur (œ 3: 229). Für Mauss ist das Symbolische nicht einfach eine Schicht des Sozialen unter anderen, sondern dasjenige, was überhaupt erst erklärt, dass das Soziale aus mehren Schichten und gegenseitigen Beziehungen gemacht ist (vgl. tarot 1998: 69). Zu erforschen sind demnach das Symbolische, die konstitutive Verflochtenheit des Symbolischen mit dem Sozialen sowie die Effekte des Symbolischen auf das Soziale und umgekehrt. Obgleich Mauss wie die Strukturalisten (etwa Claude LéviStrauss oder Jacques Lacan) die Bedeutung des Symbolischen hervorhebt, ist er kein Strukturalist, da er im Gegensatz zu 113
diesen sowohl eine historische Perspektive verfolgt als auch die soziale Praxis und somit die sozialen Akteure mehr ins Blickfeld rückt.89 Wie deutlich wurde, bleibt seine Verwendung des Begriffs des Symbolischen im Gegensatz zu den Strukturalisten, die von ihm geprägt sind, noch recht unsystematisch und unausgearbeitet; es handelt sich bei ihm lediglich um erste Erkundungstouren ins Feld des Symbolischen und die Eröffnung einer für die Sozialwissenschaften weitreichenden und wirkungsmächtigen Perspektive. Außerdem arbeitet Mauss nicht mit strengen binären Teilungen. Die Thematik des Symbolischen und der ›totalen sozialen Tatsachen‹ gehören bei Mauss eng zusammen. Jedes Element wird als Ganzes (zum Beispiel das Religiöse) und zugleich als ein Teil betrachtet (zum Beispiel das religiöse Element im Gabentausch). »Im Epitheton ›total‹ verbirgt sich das Problem des Symbolischen. Er hebt hervor, dass soziale Tatbestände von allen möglichen Verbindungen zwischen den Vorstellungen und dem, was in ihnen an Kraft, Werten und Sinn zirkuliert, konstituiert sind. So kommt die Dimension des Verstehens wieder ins Spiel« (keller 2006: 111).
Was heißt aber »totale soziale Tatsache«? Der potlatsch ist in den Augen von Mauss mehr als nur eine juridische oder ökonomische soziale Tatsache. Er umfasst nicht nur Tausch-Ringe weit auseinander liegender Stämme, sondern auch religiöse, ästhetische, politische etc. Elemente. Die Basis des Begriffs der »sozialen totalen Tatsache« beruht auf diesen ethnographischen Beobachtungen. Der Begriff, der zunächst auf die untrennbare Verbindung zwischen diesen differenten Elementen verweist, ergibt sich aber auch aus Mauss’ Forderung nach 89 Die Wirkungen des Mauss’schen Symbolismus reichen – trotz Differenzen – von Lévi-Strauss bis hin zur Sozialanthropologin Mary Douglas, dem Psychoanalytiker Jacques Lacan sowie zu Pierre Bourdieu (vgl. zu Lévi-Strauss und Lacan insbesondere waltz 2006). Bourdieu nimmt im Rahmen seines so genannten »genetischen Strukturalismus« – wie Mauss – die sozialen Akteure und deren Praktiken in den Blick.
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mehr Interdisziplinarität – oder, wie er sagen würde, »Übersetzungen« zwischen den Disziplinen –, um der Komplexität der sozialen Tatsachen Rechnung zu tragen (vgl. tarot 2003: 63).90 Es ist für Mauss vor allem ein theoretischer Begriff, über dessen Verständnis ab Ende der 40er-Jahre viele Debatten in der französischen Soziologie, insbesondere zwischen Georges Gurvitch und Claude Lévi-Strauss, geführt wurden (vgl. farrugia 2006). In der Forschungspraxis ist es erfahrungsgemäß äußerst schwierig, etwas in seiner gesamten Totalität und Komplexität zu erfassen. Mauss weiß das. Das Prinzip der totalen sozialen Tatsache ist deshalb vielmehr als ein leitender Horizont für und als ein Anspruch an die Forschung zu verstehen. Nach Camille Tarot (2003: 64) kann man drei Ebenen, die dem Begriff ihren heuristischen Wert geben, systematisch zusammenfassen:91 1. Die totale soziale Tatsache als ›Ausdehnung‹, das heißt als das, was das soziale Leben einer Gesellschaft (alle Individuen und Gruppen) in ihrer Gesamtheit angeht (ein Festakt, eine politische Wahl etc.). 2. Die totale soziale Tatsache als etwas, das unterschiedliche soziale Tätigkeiten und Dimensionen des Sozialen (Religion, Ökonomie, Politik, Recht, Kunst, Moral etc.) miteinander vermengt und durchzieht. So ist das Geld beispielsweise nicht nur eine finanzielle Tatsache (tarot 2003: 64), nach Mauss ist es auch politisch und national geprägt (ep: 557), man hat Vertrauen ins Geld, Geld hat in bestimmten Gesellschaften einen symbolischen Wert, verleiht Prestige etc. 3. Die soziale Tatsache in ihrem absoluten Sinn als Relation oder Austausch in all seinen Formen und mit all sei90 In einem Brief vom 4.11.1963 an René König schreibt Georges Gurvitch, der Begriff der totalen sozialen Tatsache sei – wie Mauss ihm in einem Gespräch offenbarte – einerseits vom Pragmatismus geprägt und andererseits als eine Reaktion gegen Max Weber zu verstehen. An dieser Stelle sei Cécile Rol herzlich gedankt, die mich auf diesen Brief im Nachlass von König aufmerksam machte. Zu Weber und der französischen Soziologie vgl. Hirschhorn (1988). 91 Vgl. auch Hénaff (2002: 161ff.).
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nen Inhalten; als das, was die gesamte Gesellschaft (und auch andere Gesellschaften) durchdringt. Mauss denkt in seinem Gabe-Essay an die Untersuchung des »Konkreten« – »und das ist die Untersuchung des Ganzen« (g: 179) –, an »Ganzheiten«, »gesellschaftliche Systeme in ihrer Gesamtheit«, die der Gesellschaft ihre Dynamik verleihen: »Nur indem wir sie als Ganzheiten untersuchten, konnten wir ihr Wesen aufspüren, ihren Prozeß und ihren lebendigen Aspekt, den flüchtigen Augenblick fassen, da die Gesellschaft und ihre Mitglieder ein gefühlsmäßiges Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Situation gegenüber den anderen erlangen« (g: 178). Beispiele sind relationale »Probleme«, die alle – vormoderne und moderne – Gesellschaften regeln müssen (vgl. tarot 2003: 65): Den Austausch zwischen den Generationen, den Geschlechtern, den Toten und den Lebenden, den Menschen und den Göttern, zwischen Natur und Kultur etc. Obgleich alle Gesellschaften mit diesen »Problemen« zu tun haben, gehen sie damit unterschiedlich um; sie haben ihre eigene Dynamik, eigene Symbole, Relationen und Vermittlungen zwischen diesen Tatsachen sowie ihre eigene Geschichte. Die Mauss’sche Konzeption des ›totalen Menschen‹ ist eine Konsequenz aus der Reflexion über das Symbolische (vgl. tarot 2003: 109). Die totalen sozialen Tatsachen sind ebenfalls eng mit der Auffassung des ›totalen Menschen‹ verbunden, – ein Begriff, der in Mauss’ Beschäftigung mit den so genannten ›primitiven‹ oder archaischen Menschen begründet liegt. Mauss verfolgt mit dem ›totalen Menschen‹, der universal ist, auch ein humanistisches und anti-evolutionistisches Anliegen: »Mit der Vorstellung vom Symbol kann er das Gesellschaftliche und Menschliche vereinheitlichen in einer integralen Sozialwissenschaft. Der totale soziale Tatbestand ist nicht der verlorene primitive. Der ganze Mensch ist überall und zu jeder Zeit als humane Person erst herzustellen« (keller 2006: 120).
Den Menschen unterscheidet vom Tier, dass er mit einer symbolischen Fähigkeit ausgestattet ist, dass er aus seiner un116
mittelbaren Welt heraustreten und Sinn und Fantasiewelten sowie allgemein symbolische Systeme erschaffen kann.92 Die Symbolisierung ist bei Mauss demnach sowohl eine natürliche als auch kulturelle Tatsache des Menschen: Jeder Mensch ist von Natur aus symbolverwendend, aber dies drückt sich je nach Kultur und Gesellschaft anders aus. Die erste totale soziale Tatsache ist der Mensch: Jeder Mensch ist eine Totalität, denn jeder ist eine Interdependenz von lebendigem Körper, individuellem Bewusstsein und Teilhabe an einer Gesellschaft. »Die dreifache Betrachtungsweise, die des ›totalen Menschen‹, ist notwendig« (sa 2: 203). Mauss hat eine sowohl Human-Biologie, Human-Psychologie als auch Human-Soziologie umfassende Anthropologie im Auge (sa 2: 149f.). Zwischen den drei Bereichen der Biologie, Psychologie und der Soziologie gibt es Übersetzungen. »Ob wir nun spezielle Tatsachen untersuchen oder allgemeine, im Grunde haben wir es, wie ich bereits sagte, immer mit dem vollständigen Menschen zu tun. Rhythmen und Symbole beispielsweise beziehen nicht nur die ästhetischen oder imaginativen Fähigkeiten des Menschen ein, sondern seinen ganzen Leib und seine Seele zugleich« (sa 2: 168).
Der Mensch ist nicht allein jeweils vom Biologischen, Sozialen oder Psychischen bestimmt, er ist vielmehr überdeterminiert.93 Nach Mauss ist die menschliche Seele durch das Soziale beeinflusst, ebenso wie der Körper ›Inkorporierungen‹ des Sozialen aufweist, das Soziale also den Körper durchdringt, formt und leitet. In Techniken des Körpers liefert Mauss eindrucksvolle 92 Diese Auffassung teilt Mauss mit George Herbert Mead, der den Menschen als eine Art symbolverwendendes Tier begreift. Das Konzept des ›homme total‹ und der Pragmatismus haben den Versuch gemeinsam (und hier sind sie in Differenz zu Durkheim), die »Dualismen zwischen Wahrnehmen und Begreifen, Tatsachen und Werten, Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft zu unterlaufen« (joas 1993: 266). 93 Es ist vor allem André Leroi-Gourhan, der mit Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst (1988) konsequent an Mauss’ Konzept des ›totalen Menschen‹ angeknüpft. Erinnert sei auch an Elias’ ›Menschenwissenschaft‹.
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Beispiele hierfür. ›Techniken‹ versteht er dabei im alt-griechischen Sinne als ein inkorporiertes praktisches Wissen, wie man etwas angeht und praktiziert. Im Hinblick auf den Körper gelte es, nicht nur die Wirkungen der Psyche (die Psychosomatik), sondern auch die des Sozialen zu erforschen. Darüber hinaus ist unsere Vorstellung und Wahrnehmung des Körpers sozial vermittelt. Endet der Körper beispielsweise an der Haut oder gehört zum Körper noch eine Art ›Aura‹, wie man in manchen Gesellschaften glaubt? Auch beim Körper gilt das so genannte ›Thomas-Theorem‹ (hier etwas abgeändert): Was immer die Menschen für zum Körper wesentlich dazugehörend und als wirklich erachten, kann allein dadurch wirklich werden (also auch wenn nicht entschieden ist, ob es wirklich ist), dass es in ihre Handlungen eingeht und Folgen zeitigt. Mauss führt in die Soziologie neben dem Körper auch wieder das Individuum ein. In Der Begriff der Person zeigt er, wie das Individuum sowie seine Wahrnehmung als Individuum sozialund ideengeschichtlich bedingt sind und sozialen Prozessen der Subjektivierung unterliegt. Er fragt: Wann und wie kam es dazu, dass der Mensch sich als ›Ich‹ wahrnahm und eine Selbstbeziehung aufbaute? Soziologie, Biologie und Psychologie lassen sich nicht auf eine der anderen Disziplinen reduzieren. Alle drei müssen in ihrer gegenseitigen Verflechtung begriffen werden. So betont Mauss auch die Verbindungen zwischen Körper und individueller Seele durch die Vermittlung des Sozialen, beispielsweise bei der physischen Wirkung der von der Gemeinschaft suggerierten Todesvorstellung auf das Individuum (sa 2: 177-195). Mauss’ Konzept des ›totalen Menschen‹ muss auch als Kritik an allzu vereinfachenden Tendenzen in den Sozial- und Naturwissenschaften begriffen werden, die den Menschen jeweils auf einen homo oeconomicus, ludens, faber, loquens etc. zu reduzieren versuchen. Mauss weist hingegen in seinem Konzept des ›totalen Menschen‹ den Weg, die unterschiedlichen Beziehungen zwischen den Perspektiven wahrzunehmen und einen verstärkten Austausch zwischen den Fachdisziplinen in Gang 118
zu bringen, ohne dass diese in ihrer je nach Gegenstand vollzogenen Vereinigung konturlos werden und ihre unterschiedlichen Sichtweisen und Disziplingrenzen aufgeben. Es gilt, in der Einheit im Blick auf den ›totalen Menschen‹ die Vielfalt zu bewahren, denn – wie Mauss selbst in seinem Denken des Symbolischen bemerkte – nur das kann vereint werden, was sich unterscheidet.
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vii. Einflüsse und Lehrer Bei der Untersuchung der zentralen Einflüsse auf Mauss sollen drei Personen behandelt werden: Émile Durkheim, Sylvain Lévi, den Mauss seinen ›zweiten Onkel‹ nennt (vgl. œ 3: 537), und Jean Jaurès.94 Diese Auswahl rechtfertigt sich nicht zuletzt dadurch, dass Mauss selbst diese drei als seine prägenden Vorbilder benennt.95 In der genannten Reihenfolge sollen zunächst die Einflüsse von Durkheim, danach von Lévi und schließlich der von Jaurès zur Sprache kommen.
Émile Durkheim (1858-1917) In der Mauss-Forschung existiert keine eindeutige Meinung darüber, in welchem Maße Durkheim das Denken seines Neffen prägt. Betrachten ihn wenige als simplen Epigonen Durkheims (vgl. löwie 1971), der lediglich das Werk des Onkels vollendet, so betonen beispielsweise Lévi-Strauss (1999) oder MerleauPonty (2003) die wegweisende Originalität seines Denkens. Wiederum andere machen bei ihm einen expliziten Bruch mit dem Durkheim’schen Erbe aus – Mauss habe die Soziologie zu Gunsten der Sozialpsychologie aufgegeben (vgl. marcel 2001: 33f.) – oder sprechen etwas abgemildert von einer implizit an94 Andere theoretische Einflüsse wurden bereits genannt. Zum Folgenden siehe auch Tarot (2003: 18ff.). 95 »Mein Leben wurde von mehreren, unvergleichlichen Glücksfällen bereichert. Ich habe den ganzen ersten Teil in der Nähe dreier großer Männer gelebt und habe mich ihnen verschrieben: Durkheim, Jaurès, Sylvain Lévi« (Œ 3: 544).
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gelegten Kritik an seinem Onkel (vgl. dumont 1991; karsenti 1996: 105; tarot 1996). Und Camille Tarot (2003: 19) bemerkt, Mauss könne weder ein orthodoxer Anhänger noch ein Häretiker des Durkheimismus sein, da es bei den Durkheim-Schülern keine Orthodoxie gebe. Was auch immer stimmen mag, es steht dennoch fest: Mauss’ wissenschaftliches Selbstverständnis verweist unmittelbar auf seinen Onkel Émile Durkheim. Dies zeigt sich insbesondere in Mauss’ methodologischem und von Durkheims Die Regeln der soziologischen Methode (1895, dt. 1965) herrührendem, die Soziologie als Einzelwissenschaft begründendem Diktum, Soziales könne nur durch Soziales erklärt werden. Was heißt das? Durkheim verfolgt eine ›positivistische Methode‹, die folgende Prämissen beinhaltet: Erstens werden die sozialen Tatsachen wie Dinge betrachtet, da sie sich prinzipiell nicht von den Forschungsgegenständen der Naturwissenschaften unterscheiden.96 Zweitens können durch Beobachtungen soziale Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden. Drittens wird Gesellschaft nicht von Kräften, die ihr äußerlich sind, bestimmt. Sie ist für Durkheim eine ›Realität sui generis‹, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. Von ihr geht eine handlungsbestimmende Macht aus, das conscience collective (kollektive Bewusstsein/Gewissen, soziale Werte, Normen, Klassifikationen etc.), das den ›Habitus‹ prägt, wie Mauss in seinem Beitrag zur Technologie des Körpers schreibt (sa 2: 202), und das die Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata der Individuen determiniert. Das Soziale ist zwingend und verpflichtend. Dies bedeutet schließlich für Durkheim viertens, dass Gesellschaft Wirkungen erzielen kann, die mit denen von Naturkräften vergleichbar sind.
96 »Wir behaupten also keineswegs, daß die sozialen Phänomene Dinge sind, sondern daß sie mit dem gleichen Rechtstitel Gegenstände sind wie die materiellen Dinge, wenn auch solche anderer Art.« (durkheim 1965: 89) Zu Durkheim vgl. u. a. Steiner (2000), Lukes (1973).
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Der Selbstmord ist in Durkheims Augen beispielsweise ein soziales Phänomen, das nur sehr eingeschränkt durch ethnische, geografische oder psychopathologische Bedingungen erklärbar ist. Vielmehr gebe es grundlegende soziale Ursachen für den Selbstmord, wie Durkheim anhand des von Mauss gesammelten statistischen Materials deutlich macht. Durkheim unterscheidet dabei zwischen ›fatalistischem Selbstmord‹ (Ursache ist extreme soziale Reglementierung, die zu Ausweglosigkeit führt; Beispiel: Sklavendasein), ›altruistischem Selbstmord‹ (Ursache ist die äußerste Hingabe an soziale [religiöse, ideologische, moralische] Werte, die extremen Handlungsdruck auf das Individuum ausüben, Beispiel: Selbstmordattentäter, Heldentod), ›egoistischem Selbstmord‹ (Ursache ist mangelnde soziale Bindung und Identifizierung des Individuums, Beispiel: Isolation, Liebeskummer) und ›anomischem Selbstmord‹ (Ursache ist Erosion moralischer Werte, Mangel gesellschaftlicher Bindungen und Regeln, Verlust sozialer Integration, Beispiel: Arbeitslosigkeit). Mauss schließt an den Positivismus Durkheims an: »Als Positivist traue ich nur den Tatsachen, ich erkenne selbst dann die höhere Gewissheit der deskriptiven Wissenschaften im Vergleich zu den theoretischen Wissenschaften (im Falle von sehr komplexen Phänomenen) an, wenn ich eine theoretische Wissenschaft praktiziere« (mauss 2006a: 345).
Er ist zutiefst von dem »sowohl theoretischen als auch praktischen Nutzen der Statistik« (ep: 462) überzeugt; sie habe sogar einen großen praktisch-politischen Wert für das Genossenschaftswesen (vgl. ep: 376ff., 450-463) wie für die sozialistische Politik insgesamt (ep: 318f.).97 Mauss übernimmt von Durkheim vor allem die Ansicht, dass man soziale Tatsachen nur mit Sozialem erklären kann. »Ein Teil der Methode besteht zudem genau darin, die insti97 Unter den Durkheim-Schülern sind es neben Mauss vor allem Halbwachs und Simiand, die der Statistik eine große sozialwissenchaftliche Relevanz beimessen und ihre Arbeiten auf statistischen Daten begründen.
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tutionellen und strukturellen Tatsachen mit den Tatsachen der Mentalität und vice versa zu verbinden« (mauss 2006a: 353). In Anlehnung an Durkheim geht er dabei anhand einer ›komparatistischen Methode‹ vor und vergleicht zwischen Gesellschaften und deren Praktiken. Spätestens seit seinem Essay über die Gabe werden für ihn hierbei besonders die Relationen wichtig, die zwischen den sozialen Tatsachen bestehen.98 Die Soziologie muss die beobachtbaren Teile miteinander in Beziehung setzen. Es geht ihm um die »Interdependenz der sozialen Phänomene« (œ 1: 390), wie beispielsweise zwischen sozialer Morphologie und mentalen Strukturen, Normen, Ideen und Klassifikationen bei den Eskimogesellschaften (sa 1: 183ff.), die wiederum mit manchen Phänomenen in unseren Gesellschaften verglichen werden können. Mauss übernimmt also teilweise Durkheims Methode, zuerst die sozialen Tatbestände soziologisch und historisch und anschließend induktiv und normativ zu analysieren (vgl. œ 3: 487, lukes 1973: 380ff.). Er ist jedoch kein Epigone seines Onkels. Abweichungen von Durkheim sind bereits früh zu beobachten (vgl. tarot 2003: 24), beispielsweise in der Einleitung zu den Mélanges d’histoire des religions (1906). Dort schreiben Mauss und Hubert: »Ohne verpflichtend zu sein, sind die Riten der Magie schließlich nichtsdestoweniger sozial« (œ,1: 24). Nicht alles, was sozial ist, muss verpflichtend sein, aber alles was verpflichtend ist, ist sozial, so ihre Meinung. Die beiden distanzieren sich hierbei von Durkheims Vorstellung eines genuin und durchgängig verpflichtenden Charakters des Sozialen (vgl. sa 1: 160; mürmel 1997: 217). Mauss erwähnt darüber hinaus niemals die Durkheim’sche Trennung zwischen Normalem und Pathologischem (vgl. steiner 20003: 39). Auch seine Auffassung von den Regeln der soziologischen Methode ist sowohl offener als 98 Man beachte die Nähe zu Norbert Elias’ (2003 [1939]: 44) Begriff der »Verflechtungserscheinungen«. Jahrzehnte später werden die Relationen in der Soziologie Bourdieus (1997: 12) ebenfalls als der »Stoff der sozialen Wirklichkeit« angesehen.
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auch weniger polemisch und szientistisch als die seines Onkels: »Ohne Zweifel geht es nicht darum, komplett und definitiv die Regeln der soziologischen Methode zu formulieren«, heißt es 1901 in Mauss und Fauconnets Artikel Sociologie (œ 3: 164).99 Mit Durkheim ist Mauss sich einig, dass die Regeln der soziologischen Methode die Basis sozialwissenschaftlicher Forschung bilden, im Gegensatz zu Durkheim aber verfolgt Mauss dabei einen kritischen Eklektizismus, nach dem die zu analysierenden Probleme die Methode bestimmen (vgl. tarot 2003: 35): Die Regeln der soziologische Methode ersetzen nicht die Geschichte oder die Kritik; die Soziologie muss je nach zu untersuchenden Tatsachen mit anderen Methoden Hand in Hand gehen. In der Zwischenkriegszeit, besonders aber Mitte der 20erJahre, wird der methodologische Bruch mit Durkheim deutlich: Mauss berücksichtigt vor dem Hintergrund seines Konzepts des »homme total« zunehmend auch bio-physiologische und psychologische Aspekte, die er in enge Beziehung zu den soziologischen Aspekten setzt.100 Neben der Gesellschaft rücken das Symbolische, der Mensch und dessen soziale Praktiken in den Mittelpunkt. In der Perspektive, die sozialen Praktiken der Akteure und die mit diesen Handlungen in Zusammenhang stehenden Sinneffekte interdisziplinär in den Blick zu nehmen und diese verstehend deuten zu wollen, entfernt sich der Neffe von seinem Onkel und nähert sich Max Weber an (vgl. dazu œ 3: 291, 304). Insgesamt öffnet sich Mauss den Geschichtswissenschaften, der Philosophie, der Ethnologie und der Psychologie. Er entwickelt seine über Durkheims Begriff des ›fait social‹ hinausgehende Konzeption der ›totalen sozialen Tatsachen‹ (vgl. tarot 1996), und er verweist als einer der ersten Sozialwissenschaftler auf die weit reichenden Bedeutungen, die die Linguistik bzw.
99 Ein Text, den Durkheim jedoch selbst korrigiert hat (s. Kapitel i). 100 An dieser Stelle ist zu bemerken, dass Mauss bei der Mitarbeit an Durkheims Selbstmordstudie sein Interesse für die Psychologie entwickelte (vgl. könig 1978b: 259).
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die Sprache, die Zeichen und die Symbole für die soziologische Forschung haben (vgl. tarot 1999). Der Soziologe René König, der um 1930 Kontakt zu Mauss aufnahm, fasst den Einfluss Durkheims auf seinen Neffen sowie die Unterschiede folgendermaßen zusammen: »Wenn ich versuche, ihn mir vorzustellen, wie er um die Jahrhundertwende gewesen sein muß, nachdem ich ihn seit etwas vor 1930 kannte, so scheint mir noch immer seine umweglose Direktheit im Zugang zu wissenschaftlichen Problemen der entscheidende Schlüssel zu seiner Stellung zu Durkheim zu sein. Mit diesem Zug allein war er schon sehr verschieden von Durkheim […]. In dieser Unbefangenheit mag Mauss auch die Lehre Durkheims erst einmal angenommen haben und trotzdem gleichzeitig darüber hinausgeschritten sein, wie es sich im Laufe seiner eigenen Forschungsarbeiten ergab« (könig 1978b: 260).
Sylvain Lévi (1863-1935) Mauss’ interdisziplinäre Öffnung der Soziologie und die von ihm vorgenommenen Analysen der Symbole, der Sprache und der Zeichen haben ihren Ursprung in seinen Studien der alten Spra chen, der vergleichenden Philologie und der Religionsgeschichte an der École pratique. Sie sind wichtige Meilensteine auf dem Weg zu Mauss’ Begriff der ›totalen sozialen Tatsachen‹ und des Symbolischen. Besonders der enge Kontakt zu seinem Lehrer Sylvain Lévi spielt in dieser Orientierung eine zentrale Rolle.101
101 Während die Einflüsse Durkheims auf Mauss in den meisten Werkinterpretationen wahrgenommen werden (vgl. z. B. karsenti 1994, 1997), wird die intellektuelle Bedeutung von Sylvain Lévi oder Jean Jaurès selten erwähnt (als Ausnahme: tarot 1999, 2003). Zu Lévi siehe Mauss’ Nekrolog aus dem Jahr 1935 (œ 3: 535-547).
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Sylvain Lévi macht eine schnelle wissenschaftliche Karriere.102 Mit neunzehn Jahren besucht er die Sanskrit-Kurse an der Ecole des Hautes Études. Sein Lehrer dort ist der Sanskrit-Spezialist Abel Bergaigne. Nach seiner agrégé de lettres im Jahre 1883 wird Lévi im Jahre 1884 Mitglied der Société Asiatique. Als Bergaigne im Jahre 1888 stirbt, übernimmt er seinen Lehrstuhl. 1894 besetzt Lévi am Collège de France den Lehrstuhl für ›Langue et littérature sancrites‹. Es ist eines der Verdienste Lévis, die Beziehungen, die Indien in seiner Geschichte sowohl zum Osten als auch zum Westen hatte, erhellt und die buddhistische Tradition klassifiziert zu haben. Seine Forschungen über das alte Indien finden ihren Höhepunkt in La doctrine du sacrifice dans les Brāhmanas, erschienen in der Reihe Sciences religieuse der Bibliothèque de l’école des Hautes Études im Jahr 1898. Die von Sylvain beschriebenen Opferriten in der Mythologie der Brāhmanas werden von Henri Hubert und Marcel Mauss in ihrer Étude sur la fonction et la nature du sacrifice (1899) wieder aufgenommen. Lévi ist ein Spezialist auf allen Gebieten, nahezu ein ›homme total‹. Er kennt sich ebenso gut in der Philologie, den Religionen, der Literatur wie in der antiken Geographie aus. Er ist ein Meister im Sanskrit. Das Gleiche, was man über seinen Schüler Marcel Mauss äußert, sagt man auch ihm nach: Er weiß alles. Seine Schüler bezeichnen ihn als einen »Guru« (œ 3: 535). Zwischen Mauss und Lévi entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, auch wenn Mauss eine zugleich faszinierende, aber seinem Rationalismus widerstrebende mystische Dimension bei Lévi ausmacht; für ihn zeichnet sich der Sanskrit-Lehrer im Verhältnis zu Durkheim und Jaurès durch seine überaus freundliche und liebevolle Art aus; er sei einer der Heiligsten unter den Heiligen, so Mauss (œ 3: 544f.). Lévi selbst bezeichnet Mauss als seinen Neffen (vgl. fournier 1994: 102f.) und spielt eine zentrale Rolle bei der Wahl von Mauss auf den Lehrstuhl 102 Zu Lévi siehe meinen werkbiographischen Beitrag in der französischen Zeitschrift Anamnese (moebius 2006b). Zu Mauss und Lévi siehe auch Tarot (1999: 289-314).
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für ›Religionsgeschichte der nicht-zivilisierten Völker‹ im Jahr 1901 (vgl. fournier 1994: 179-190). Welchen Einfluss hat Lévi jedoch auf das Denken von Mauss? Lévi ist durch und durch Humanist. Der Humanismus besteht für ihn unter anderem darin, die fremden Zivilisationen in ihrer Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen (vgl. lévi 1937: 123). Bei dieser Erforschung kultureller Differenzen geht es ihm aber immer auch um die Suche nach einer gemeinsamen und noch näher zu bestimmenden conditio humana. Lévi prägt Mauss’ humanistisches Denken, sowohl was dessen kosmopolitischen Geist, dessen Suche nach innerhalb der Humanwissenschaften vernachlässigten oder vergessenen Gebieten, seine Abscheu vor Gewalt als auch was dessen Sinn für die Sprachen angeht. Man müsse, so Mauss, die Texte von Zeit zu Zeit lesen wie ein Humanist, das heißt als Ganzes und nicht nur aus zweiter Hand, also im lateinischen, griechischen, hebräischen etc. Original (œ 2: 133). Mauss verdankt Lévi den Ansporn, Sanskrit zu lernen und sich insgesamt für die Philologie und Linguistik zu interessieren. Sprache ist für ihn einerseits ein wesentliches Element und eine Wirkung des Sozialen; andererseits bestimmt sie unsere sozialen Beziehungen und unser Denken, sie ist nicht nur ein »System von Wörtern, sondern sie impliziert eine gewisse Art wahrzunehmen, zu analysieren und zu koordinieren« (œ 3: 144). Ist der Einfluss von Durkheim besonders methodologischer und methodischer Art, so prägt Lévi die Themenauswahl des »Neffen«: Von Lévi lernt Mauss sehr viel über Indien, die Magie und das Sakrale. »Sein Kurs über die Brahmanâ war mir persönlich gewidmet. Seine Idée du sacrifice dans les Brahmanâ, sein Hauptwerk, war für mich gemacht. Gleich seit seinen ersten Worten schenkte er mir die Freude einer entscheidenden Entdeckung: ›Der Eintritt in die Welt der Götter‹, von da an war der Anfang unserer Arbeit, von Hubert und mir, über ›das Opfer‹ vollkommen klar« (œ 3: 538).
Das von Lévi herrührende Interesse für die Philologie geht soweit, dass Mauss 1898 schreibt: »Um ein guter Soziologe zu 127
sein, muss man ein guter Philologe sein« (fournier 1994: 125). Wie für Lévi hat auch für Mauss die Wissenschaft unmittelbar mit dem Leben in Verbindung zu stehen: »Die Wissenschaft ist kein Sport, sondern Ausdruck des Lebens, transkribiert in verdichtete Symbole, welche die kaum wahrnehmbare Multiplizität der Phänomene zusammenfassen« (lévi 1937: 89). Nach Lévi muss man in den fremden Texten dem Konkreten und jedem noch so kleinen Detail nachgehen, dafür ist insbesondere genaue Textkenntnis sowie linguistische und philologische Kompetenz notwendig. Zudem bedarf es bei der Erforschung unbekannter Völker der Bildung neuer Kategorien. Ihm zufolge genügt es nicht, das Andere einfach wahrzunehmen, sondern man solle sich darin üben, auch anders, das heißt: mit dem anderen wahrzunehmen (vgl. tarot 1999: 299); Lévi spricht von einer »loyalen Sympathie« (lévi 1937: 22f.). Hierfür bedarf es manchmal der Übernahme der Begrifflichkeiten der anderen, so wie Mauss in seinem Gabe-Essay die verpflichtende Kraft (hau), eine Gabe zu erwidern, mit Begrifflichkeiten eines Maori-Häuptlings beschreibt. Lévi sensibilisiert Mauss auch dafür, die großen Relationen zwischen den Völkern und deren Geschichte zu sehen, so wie Lévi dies selbst im Zusammenhang mit der Geschichte Indiens analysiert hat. Die Zivilisationen erscheinen dann wie eine »offene Totalität«, wie ein »soziales Totalphänomen«. »Sylvain Lévi hat ganz gewiss dazu beigetragen, Mauss intuitiv auf die Spur des sozialen Totalphänomens zu bringen […]« (tarot 1999: 304). Durkheim ist beängstigt von Mauss’ Interessen für die Philologie und die Geschichte; möge er doch Soziologe bleiben, so hofft er in einem Brief (durkheim 1998: 71). Die Angst ist unbegründet, der Neffe vernachlässigt keineswegs die Soziologie, vielmehr versucht er zwischen Soziologie und Philologie – oder symbolisch: zwischen seinen zwei ›Onkeln‹ – Verbindungen zu ziehen.
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Jean Jaurès (1859-1914) Am 31. Juli 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, wird Jaurès von einem rechten Fanatiker erschossen. Zuvor hieß es in der rechtsextremen Zeitung Action française: »Jaurès dürfte bereits mit einem Fuß im Grabe stehen.« Ganz Frankreich ist geschockt. Der Ministerpräsident lässt in Paris einen Aufruf verbreiten: »Ein abscheuliches Attentat wurde soeben begangen: Jaurès, der große Redner, der der französischen Tribüne Glanz verlieh, wurde in feiger Weise ermordet. Im Namen der gesamten Regierung entblöße ich mein Haupt vor dem Grabe des sozialistischen Republikaners […]«.103
Jean Jaurès ist ein angesehener Kämpfer für den Frieden und die Republik. 1924, zehn Jahre nach seiner Ermordung, überführt man Jaurès’ Leichnam ins Pantheon, die höchste Ehrung für einen Toten in Frankreich. Jean Jaurès kommt an der École normale supérieure, damals Hochburg des Republikanismus (vgl. charle 1994), in Kontakt mit der Politik; der Republikanismus setzt auf die Schulen und die Erziehung. Jaurès’ Freunde sind Durkheim, Henri Bergson und Lucien Lévy-Bruhl. Er macht schnell Karriere, wird in jungen Jahren bereits Universitätsprofessor und 1895 ist er mit 26 Jahren der jüngste Abgeordnete (er vertritt das Département Tarn) im Pariser Parlament. Noch ist er gemäßigter Republikaner. Einige Jahre später wechselt er ins sozialistische Lager. »Als ein mit vielen Gaben gesegneter Mensch, als Intellektueller klassischer Bildung, für den die Philosophie den Zugang zu allen Problemen des Menschen und der Gesellschaft eröffnete, als ein Redner, den das Wort über sich selbst hinausführte, war er auf den Sozialismus Schritt für Schritt, doch entschieden zugegangen. Zu seiner ›Bekehrung‹ trugen die Aufdeckung der Mängel der Geldbourgeoisie ebenso ihren Teil bei wie die Re103 Der Aufruf ist aus Abosch (1986: 130). Zu Jaurès’ Biografie siehe Goldberg (1968), dort zu seiner Ermordung: Goldberg (1968: 472).
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flexion über die sozialistischen Denker, darunter auch Marx, den er gewiß besser kannte als Guesde, und vor allem das Offenbarwerden der Klassenkämpfe in Toulouse, Formies und Carmaux« (rebérioux 1975: 62).
In der Dreyfus-Affäre spielt Jaurès eine entscheidende Rolle zugunsten des zu Unrecht verurteilten Hauptmanns (vgl. abosch 1986: 38); er kommt dabei zu dem Schluss, es könne Sozialismus nur im Zusammenhang mit der Republik und dem Humanismus geben. »Jaurès war ein Reformer, für ihn ergab sich der Sozialismus aus der Republik selbst. Indem sie das Volk in seine Rechte einsetzte, meinte er, habe sie ungeahnte Möglichkeiten sozialer Reformen eröffnet.« (abosch 1986: 45) Für Jaurès muss die sozialistische Gesellschaft nicht aus einer Revolution, sondern aus der gegenwärtigen Gesellschaft heraus wachsen. »Kein Kunstgriff, kein überraschender Mechanismus erspart dem Socialismus die Pflicht, durch die Propaganda und auf gesetzlichem Wege die Majorität des Volkes für sich zu gewinnen« (Jaurès in willard 1981: 130). Drei »Orientierungen« sind für Jaurès’ politisches Denken wesentlich (vgl. willard 1981: 88ff.): Erstens verteidigt er die Demokratie und den Republikanismus, da sie unüberschätzbare Werte darstellen; der Sozialismus muss eine republikanische Bewegung sein, gleichsam die Vollendung der Französischen Revolution unter neuen ökonomischen Bedingungen.104 Zweitens hat er ein »Bedürfnis nach Einheit«, das sich in seinen Bestrebungen, eine Einheit unter den sozialistischen Parteien herbeizuführen, bezeugt. Drittens wird nach 1905 »Jaurès’ Weg von seinem Haß gegen den Krieg und den Kolonialismus bestimmt« (willard 1981: 89). Mauss besucht Jaurès regelmäßig (vgl. ep: 317ff.). Dieser ist für Mauss ein sehr guter Freund und Diskutant, vor allem aber ein politisches Vorbild. Jaurès’ sozialreformerische politische 104 Claude Willard schreibt hierzu: »Jaurès tendiert also dazu […], den Klassencharakter der ›bürgerlichen‹ parlamentarischen Demokratie zu verwischen« (willard 1981: 88).
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Haltung prägt Mauss’ gesamtes politisches Denken und seine Auffassung des Sozialismus, wobei Mauss besonders an die reformerische Kraft des sozialistischen Genossenschaftswesens glaubt. Man könnte sagen: Durkheim, ebenfalls ein lebenslanger Freund von Jaurès (lukes 1973: 44), sensibilisiert seinen Neffen für die soziale Frage und für den Sozialismus, aber erst Jaurès gibt den politischen Vorstellungen von Mauss ihre endgültige Kontur. Wie Mauss in der Einführung zu Durkheims Le socialisme105 schreibt, sympathisierte sein Onkel zwar mit dem Sozialismus, aber er gab sich ihm niemals hin. Hierin unterscheiden sich Durkheim und Mauss (fournier 1997: 12). Der Neffe bewundert Jaurès’ Kultiviertheit, dessen Humanismus sowie dessen Abscheu vor jeder totalitaristischen Tendenz (tarot 2003: 83). Von ihm übernimmt Mauss die Ansicht, der Sozialismus sei kein Werk einer einzelnen Klasse, sondern sei ein soziales Totalphänomen, das alle angeht (vgl. den nächsten Abschnitt). Er gründet mit ihm die Zeitschrift L’Humanité. Von Jaurès stammt auch Mauss’ Verständnis des Internationalismus, nämlich dass dieser nur mit unabhängigen und eigenständigen Nationen einhergehen könne (vgl. willard 1981: 88).106 Mauss übt auch Einfluss auf Jaurès aus: Er überzeugt diesen von dem politischen Nutzen statistischer Methoden sowie von der politischen Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Genossenschaftswesen und Sozialismus (vgl. fournier 1997: 22). Am 30. Juli 1921 fasst Mauss in La vie socialiste einige seiner Erinnerungen an Jaurès zusammen und hebt hierbei dessen unbeugsamen Willen und Klugheit besonders hervor. Jaurès sei ein Held, ein politisches Genie und ein weiser Mann gewesen (ep: 437).
105 Mauss gab 1928 Durkheims Le socialisme heraus. 106 Weitere Einflüsse werden im nächsten Abschnitt deutlich.
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viii. Die politischen Schriften Mauss’ »Ausflüge ins Gebiet des Normativen« (mauss 2006a: 359) sind hierzulande kaum bekannt und bislang nur wenig diskutiert worden.107 Dabei hat er nahezu 200 politische Texte verfasst. Da sein Engagement bereits im biografischen Abschnitt (k) dargestellt wurde, sollen im Folgenden vor allem die politischen Schriften von Mauss im Mittelpunkt stehen.108 Obgleich Mauss der Meinung ist, Politik gehöre nicht in den Hörsaal, so ist sie doch für ihn nicht weniger wichtig. Nur dürfe man, trotz des gemeinsamen Gegenstands der Gesellschaft, Politik und Soziologie nicht miteinander verwechseln (œ 3: 234). Dabei lenkt Mauss die Überzeugung, dass der Bereich des Sozialen eine Vorherrschaft über das Politische und über das Ökonomische besitzt (tarot 2003: 80).109 Die soziale Frage ist in seinen Augen nicht allein eine ökonomische und politische Frage, sie beschränkt sich ebenso wenig auf die zwar wesentliche, aber nur einen Teilaspekt berücksichtigende Arbeiterfrage, vielmehr ist die soziale Frage eine totale Frage, da sie religiöse, politische, juridische, moralische etc. Probleme 107 Vgl. als Ausnahme beispielsweise den Artikel von Paolo Chiozzi (1983), dem im Folgenden im Aufbau und in inhaltlicher Schwerpunktsetzung gefolgt wird. 108 Die folgende Darstellung bleibt im vorliegenden Rahmen notwendigerweise ausschnitthaft und auf Haupttexte der politischen Schriften beschränkt. Sie geht in ihren Formulierungen zurück auf meinen längeren Beitrag zu diesem Thema (vgl. moebius 2006c). Zum Folgenden vgl. auch Tarot (2003: 80ff.). 109 Zu Mauss’ Begriff des Politischen vgl. den 1925-1927 verfassten, nicht in den politischen Schriften enthaltenen und von Papilloud in Archives euorpéennes de sociologie (2003, xliv, 1: 3-26) erstmals herausgegeben Text Politique (un inédit de Marcel Mauss).
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beinhaltet (ep: 73). Insofern findet sich bei Mauss auch weniger eine politische als vielmehr eine soziale Utopie. Sein Ziel ist die Veränderung der konkreten Gesellschaft und der Individuen (ep: 76f.), ihrer Märkte, ihres Konsums, ihres Denkens, ihrer Gruppen, der sozialen Beziehungen, ihrer Werte sowie des Menschen im Ganzen und nicht bloß die Veränderung der politischen Institutionen und Gesetze. Gesetze allein schaffen in seinen Augen keine neue Gesellschaft. Folgerichtig ist für Mauss die sozialistische Aktion in erster Linie eine soziale Aktion, wie er 1899 in L’Action socialiste schreibt (ep: 72ff.); eine soziale Aktion, die vor allem rational und humanistisch zu sein hat und die erst im zweiten Schritt auch eine psychische (ep: 76), eine juridische, politische und ökonomische Aktion ist. Bereits in dieser Sozialismus-Konzeption kann man Mauss’ Begriff des sozialen Totalphänomens erkennen (vgl. chiozzi 1983: 660f.). So repräsentiert der Sozialismus für ihn auch nicht nur eine Klasse der Gesellschaft, sondern ist bezogen auf die Gesellschaft als Ganze. »Der Klassenkampf – diesen Ausdruck verwendet Mauss nur selten – gegen die Bourgeoisie ist Kampf gegen den Parasitismus gewisser Sektoren der Gesellschaft, er ist Kampf gegen den Klerikalismus, den Militarismus und den Nationalismus; er hat zweifellos nicht das Ziel, wenn er von einer sozialistischen Aktion den Ausgang nimmt, die Herrschaft einer Klasse durch die Herrschaft einer anderen Klasse zu ersetzen« (chiozzi 1983: 661).
Ähnlich wie Durkheim schwebt Mauss ein klassenloses System auf Basis von Verbänden und Berufsgruppen vor. Mauss’ Augenmerk gilt besonders den Genossenschaftsbewegungen. Allerdings vertritt er die Meinung, dass der Sozialismus oberstes Prinzip der Genossenschaften und der Syndikate zu sein habe, denen man ja auch ohne dezidiert sozialistische Überzeugung angehören kann (ep: 80). Die sozialistische Aktion zielt sowohl auf die Gesellschaft als auch auf den Menschen, dessen Denken und alltägliche Praxis. 133
Wenn man auf den Menschen einwirke, so könnten neue Werte, neue Handlungsmodelle und insgesamt ein neuer Humanismus entstehen, so hofft Mauss. Das politische Einwirken auf die Menschen geschieht in seinen Augen vornehmlich über Erziehung. Den Intellektuellen kommt hierbei eine entscheidende Rolle als Organisatoren und Erzieher zu (ep: 111). Nach Mauss dürfen sie sich jedoch nicht als einzige Hüter der Wahrheit aufspielen, vielmehr gelte es, immer den Bodenkontakt zum Konkreten zu behalten und sich vor dem Hintergrund der konkreten Probleme zu engagieren; das Volk selbst erwarte dies (œ 3: 241). Am besten kann nach Mauss derjenige die Gesellschaft erziehen, der sie untersucht: der Soziologe. In Divisions et proportion des divisions de la sociologie (1927, œ 3) zieht Mauss daraus den allgemeinen Schluss, auch wenn die Soziologie zwar nicht die Menschen glücklich machen könne, so sei sie dennoch »das wichtigste Mittel, um die Gesellschaft zu erziehen« (œ 3: 245).110 Mauss schwebt eine sozialistische Aktion vor, die sozialreformerisch vorzugehen hat; peu à peu sollen die kapitalistischen Strukturen von innen her modifiziert werden. Wie Durkheim und Jaurès will Mauss den Sozialismus aber nicht nur auf die Ökonomie beschränkt wissen, sondern der Sozialismus soll eine neue Art zu denken und zu handeln, d. h. eine neue »mentale Haltung« herbeiführen (vgl. birnbaum 1972: 43); er soll zu einem die gesamte Gesellschaft angehenden sozialen Totalphänomen werden. Mauss’ Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft ist dabei durchweg demokratisch und republikanisch geprägt. Nur friedliche Mittel können eine Veränderung der Gesellschaft herbeiführen (ep: 208f.). Insgesamt gesehen vertritt er einen an Jaurès’ Vorstellungen orientierten demokratischen und humanistischen Sozialismus. 110 Die enge Verbindung zwischen Soziologie und Sozialismus sieht Mauss bei Saint-Simon, der hierin für ihn Vorbildcharakter annimmt (vgl. ep: 725-728, hier: 727). Mauss’ Idee, der Soziologe spiele die Rolle eines Erziehers, haften ebenso die Züge einer Gelehrtenrepublik an, in der eine intellektuelle Elite die Werte und Strategien vorgibt, wie sie bereits dem von ihm bewunderten SaintSimon vorschwebte.
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Aus der französischen Republik, die Mauss 1910 als eine »demi-democratie« bezeichnet, will er eine soziale Demokratie machen, »sozial« im weitesten, das heißt: »totalen« Sinne. Hierfür müsse man, wie er 1922 schreibt, zugleich »die Republik von heute erhalten und die Republik von morgen aufbauen« (ep: 465).111 Diese Grundhaltung prägt auch Mauss’ Sicht auf die russische Revolution von 1917 und den Bolschewismus.112 Zunächst ist Mauss von der russischen Revolution begeistert und begrüßt das »bolschewistische Experiment« euphorisch als eine neue historische Epoche (vgl. hadricourt 1972: 89). Für ihn stellt sich aber bald die Frage, ob der Bolschewismus den Sozialismus bestätigt oder widerlegt. Um diese für Mauss sehr wichtige und mit vielen Emotionen verbundene Frage zu beantworten, beginnt er 1923, eine soziologische Abhandlung über den Bolschewismus zu schreiben (vgl. ep: 537ff.), 1925 schließt er daran mit einem Artikel über Sozialismus und Bolschewismus in Le Monde slave (vgl. ep: 699ff.) an. Den Jahren des unmittelbaren politischen Engagements vor dem Ersten Weltkrieg folgt ein vertieft wissenschaftlich orientiertes Engagement, die journalistischen Beiträge werden seltener; seine Aufmerksamkeit gilt nun einer »Soziologie der Politik« (chiozzi 1983: 665). Mauss’ soziologische Abhandlung über den Bolschewismus kommt zu dem Schluss, der Bolschewismus sei in seiner Gesamtheit gesehen kein/e sozialistische/s Experiment/Erfahrung [expériment] (ep: 538, 711, chiozzi 1983: 668), denn der Sozialismus könne nur das Werk eines bewussten allgemeinen Willens [volonté générale] aller Staatsbürger sein (ep: 539).113 Der Bolschewismus sei hingegen nicht aus einem bewussten, ratio111 Vgl. hierzu auch Tarot (2003: 84). 112 Siehe zu Mauss’ Interpretation des Bolschewismus Busino (1996). Zur russischen Revolution allgemein siehe unter anderem die instruktiven Ausführungen von Hobsbawm (2003: 78ff.). 113 Wie bereits erwähnt, hält Mauss wie Durkheim und Jaurès nichts von der Vorstellung einer Revolution einer einzigen Klasse. Der Sozialismus muss im Willen aller begründet sein.
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nalen Akt aller, sondern aus der »Katastrophe« heraus entstanden (ep: 539, 711, 721). Der größte Fehler der Bolschewiken liege in dem Glauben, eine Minderheit könne ein neues politisches System herbeizwingen. Zu dem komme noch, dass sich Faktoren wie Krieg, inneres Chaos und die wirtschaftliche Blockade Russlands der bewussten Kontrolle der Protagonisten entzogen haben (vgl. chiozzi 1983: 668). Das Volk sei zudem – aus mangelnder politischer Erziehung – noch nicht reif für die Revolution gewesen. Dies alles sind für Mauss Gründe des Scheiterns des Bolschewismus. Ferner habe er genau das zerstört, was die Ökonomie ausmache: den Markt (ep: 541). Mauss hält in einer gewissen Weise am Liberalismus fest, sein sozialreformerischer Sozialismus strebt nicht die Zerstörung des liberalen Marktes an, sondern zielt in ökonomischer Hinsicht – wie man besonders gegen Ende des Essays über die Gabe herauslesen kann – auf eine Art sozialdemokratischer ›Sozialisierung‹ des Marktgeschehens. »Sein Projekt sieht einem sozialdemokratischen Programm, das einen Wohlfahrtsstaat zu begründen versucht, zum Verwechseln ähnlich« (fournier 1997: 38). Bereits Durkheim definierte den Sozialismus als eine »nationale Kontrolle der ökonomischen Macht« (œ 3: 638).114 Mauss schließt daran an, für ihn ist ›Sozialismus‹ ein »Ensemble kollektiver Ideen, Formen und Institutionen, deren Funktion darin liegt, die kollektiven ökonomischen Interessen der Nation durch die Gesellschaft sozial zu regeln« (ep: 260). Der Sozialismus sei verbunden mit der Nation sowie er die »ökonomische Realisierung der Demokratie« darstelle (ep: 261). Nicht in der Unterdrückung des Marktes, sondern in seiner Organisierung liege der Weg des Sozialismus (ep: 542), der sich nur mit einem gewissen Maß an Individualismus und Liberalismus verwirklichen lasse, so Mauss (ep: 544). Sozialismus müsse sich durch 114 Vgl. auch die Einführung von Mauss (œ 3: 505-509) in Durkheims Le socialisme. Siehe auch Lukes (1973: 245ff.), der auf die Bedeutung von Albert Schäffles Die Quintessenz des Sozialismus (1874) für Durkheim aufmerksam macht.
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Reformen inmitten des Kapitalismus entwickeln; er ist nicht erst durch eine Revolution möglich. Einen Weg dieses ›Sozialismus im Kapitalismus‹ sieht Mauss in den Genossenschaften. Die sozialreformerische Sichtweise findet sich bei Mauss bereits in jungen Jahren, beispielsweise als er sich im Juli 1900 auf dem ersten nationalen und internationalen sozialistischen Genossenschaftskongress in Paris (ep: 100ff.) trotz scharfer Kritik seitens anderer Genossenschaftler für die Errichtung von Banken der Arbeitergenossenschaften einsetzt (vgl. desroche 1979: 222ff.; chiozzi 1983: 659). So sind für ihn die kurz- und mittelfristigen Ziele der sozialistischen Arbeiter- und Genossenschaftsbewegung neben dem Austausch von Veröffentlichungen, dem Aufbau einer Zeitschrift der Arbeitergenossenschaften oder der gegenseitigen Unterstützung auf internationaler Ebene (ep: 103f.) – die Schaffung einer internationalen Bank der Arbeitergenossenschaften (ähnlich wie bei den englischen Genossenschaften), die Organisation eines Versicherungssystems und die Errichtung von Krankenkassen (ep: 106ff.). Das Ziel sei, »den Arbeiter zur Vorsorge zu ermutigen, ihm ein wenig Sicherheit in der ›Rabenmutter-Gesellschaft‹ zu schaffen, in der er lebt« (ep: 111). So erziehe man ihn für seine revolutionäre Aufgabe, indem man ihm einen Vorgeschmack all der Vorteile gebe, die ihm die zukünftige Gesellschaft bieten könnte. Mauss denkt in diesem Zusammenhang an die Bildung eines »regelrechten Arsenals von sozialistischem Kapital inmitten des bürgerlichen Kapitals«, das dann zum Nutzen der Veränderung eingesetzt werden könne (vgl. ep: 111). Nach Mauss habe der Sozialismus individuelles Privateigentum zur Voraussetzung (ep: 263). Der Fehler der Sowjets sei es gewesen, dies übersehen und somit nicht den Sozialismus, sondern den Kommunismus errichtet zu haben (ep: 541).115
115 In den Augen von Mauss bewahrt auch nicht Russland, sondern England die wahre Tradition des Sozialismus. Mauss ist begeistert von der reformsozialistischen Fabian Society, mit deren Mitgliedern Sidney und Beatrice Webb er sich befreundet (vgl. ep: 407f.). Zu den Webbs vgl. auch Lepenies (1985: 129ff.).
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Ein weiterer Grund, warum der Bolschewismus kein sozialistisches Experiment sei, liege in der systematischen Anwendung von Gewalt und Terror (ep: 540, 546ff.): »Die Kommunisten haben aus ihr, darin Georges Sorel folgend, einen wahrhaften politischen ›Mythos‹ gemacht, einen Gesetzesartikel« (ep: 547). Zwar seien die Bolschewiken nicht alleine verantwortlich für die ganze Gewalt, mit der sie in Verbindung gebracht werden, denn sie mussten sich auch national verteidigen. Dennoch sei die Gewalt für das Scheitern der Bolschewiken verantwortlich. Die Diktatur des Proletariats sei zu einer Diktatur der kommunistischen Partei über das Proletariat geworden (ep: 524). Bei einer guten Politik herrsche ein anderer Zwang als der der Gewalt oder der der Gesetze vor, so Mauss (ep: 549). Metus ac terror sunt infirma vincula caritatis, Furcht und Schrecken sind schwache Bande der Hochachtung, dies habe bereits Tacitus gewusst (ep: 550). Weder Gewalt noch Gesetzgebung können eine sozialistische Gesellschaft herbeiführen; diese müsse vielmehr in einer Veränderung der Normen, der Mentalitäten und kollektiven Gewohnheiten ihre Wurzeln haben. Trotz seiner Kritik an der unkontrollierten – und angesichts der äußeren und inneren Schwierigkeiten Russlands letztendlich sich jeder bewussten Kontrolle entziehenden (hobsbawm 2003: 88) – Transformation der russischen Revolution und der von Mauss zutiefst verabscheuten systematischen Gewaltanwendung, konstatiert er eine unbestreitbare Größe der Bolschewiken. Mauss differenziert zwischen dem »schrecklichen, irrsinnigen und sinistren Regime der Bolschewiken« (ep: 703) und dem anfänglichen Willen und Mut der russischen Revolutionäre. Er bescheinigt den Akteuren der Revolution eine »intellektuelle und praktische Kühnheit sowie Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit in ihrem Versuch, eine neue Gesellschaft zu formieren« (ep: 703). Die Aktivisten seien Helden, denn sie hätten in einem drei Jahre langen und unsühnbaren Bürgerkrieg, während zwei Jahren äußerer Interventionen ihr Leben und das ihrer Familien riskiert. Die moralische Integrität und Unverdorbenheit der Mehrheit der 138
Kommunisten, Arbeiter und Intellektuellen, gemischt mit einer gewissen Anzahl von Bauern und einigen russischen Adelsfamilien sowie der Verzicht auf einen naiven Internationalismus, dies alles konstituiere ein moralisches Ansehen, auf das die Kommunisten stolz sein könnten und dessen sich die Sozialisten bewusst sein sollten. Alle anderen mit edler Verfassung könnten dem ebenfalls nicht gleichgültig gegenüber stehen (ep: 703). Mauss hofft noch auf eine positive Wende in Russland, auf eine rekonstruktive Periode. Es wäre weit gefehlt, in Mauss’ Kritik am Bolschewismus eine generelle Verabschiedung des Sozialismus zu erkennen. Er bleibt immer noch Sozialist. »Wie es abwegig wäre, in den russischen Ereignissen eine Bestätigung oder schlagende Widerlegung der allgemeinen Prinzipien des Sozialismus zu suchen, so könnten auch keinerlei Hinweise für unsere Gesellschaft aus dem eventuellen Erfolg des Kommunismus oder sogar des Sozialismus in der russischen Gesellschaft gewonnen werden.« (chiozzi 1983: 670f.) Zusammengefasst weist Mauss’ Sichtweise auf den Sozialismus folgende Punkte auf, die für sein politisches Denken insgesamt charakteristisch sind (vgl. auch tarot 2003: 88f.): Erstens ein gewisser Pragmatismus und Sinn für die Realität, zweitens ein gegen skrupelloses Machtstreben gerichteter Anti-Machiavellismus und drittens die strikte Zurückweisung von Gewalt, sei sie imperialistisch (ep: 124f.), revolutionär, anarchistisch, bolschewistisch oder faschistisch (ep: 510, 527). Mauss ist zwar gegen die Gewalt, aber dennoch für eine Ausübung der Kräfte der Massen: »Contre la violence, pour la force«, lautet seine an Jaurès orientierte Losung (vgl. ep: 527ff.). Viertens hat nach Mauss jede Nation ihre eigenen Modalitäten und insofern ihre eigenen Wege zum Sozialismus. Wie definiert jedoch Mauss ›Nation‹? Nation und Gesellschaft sind für Mauss nicht gleichzusetzen. In dem unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verfassten und unvollendet gebliebenen Beitrag La Nation (Œ 3: 573ff.) besteht Mauss auf der Feststellung, dass nicht alle Gesellschaften Nationen sei139
Marcel Mauss, 1938 in Kopenhagen
en (œ 3: 626).116 Nationen – sie gehören auch zu den sozialen Totalphänomenen – zeichnen sich nach Mauss durch stabile Machtverhältnisse sowie durch administrative und legislative Systeme aus; die Rechte der Bürger und des Vaterlands stehen sich gegenüber und komplementieren sich (œ 3: 626). ›Nation‹ begründe sich weder durch eine Ethnie noch durch Kultur; sie leite sich vielmehr von einer bewusst gewollten politischen, juristischen und ökonomischen Einheit und geteilten moralischen Vorstellungen ab. Für Mauss ist der Begriff der ›Nation‹ positiv besetzt, da sie die Menschen politisch, symbolisch, moralisch, ökonomisch sowie juristisch integriere und zusammenbringe. Trotz der positiven Konnotation warnt Mauss – hierin wiederum seinem Freund Jaurès ähnlich – vor übermäßigem und pathologischem Nationalismus. Chiozzi interpretiert Mauss’ Position folgendermaßen: 116 Vgl. zu La Nation auch Fournier (2004).
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»Die Nation ist der Integrationspunkt par excellence, weil sie dem Individuum das Gefühl seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Menschen vermittelt und ihm damit die Basis seiner Identität geliefert wird, aufgrund der es seine ›Mitbürger‹ erkennen und sich zugleich von ›anderen‹ unterscheiden kann. Außerdem denunzieren Mauss und Jaurès beide die Exzesse des Nationalismus, deren konkrete Erscheinungsformen der Militarismus, der Rassismus und der Imperialismus sind, die die Beziehungen der verschiedenen Nationen untergraben« (chiozzi 1983: 673).
Mauss’ positive Aufladung des Nationenbegriffs ist auch vor einem intellektuellengeschichtlichen Hintergrund zu verstehen. Seit der Dreyfus-Affäre bildeten linke Parteilichkeit und nationale Identität – bei Mauss ausgedrückt als überzeugte Identifizierung mit dem Republikanismus und den Werten der Französischen Revolution – ein Komplementärverhältnis, das dazu führte, »dass sich im öffentlichen Bewusstsein nicht die rechten, sondern die linken Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler als die authentischen Verteidiger der kulturellen Identität und geistigen Freiheit der Nation behaupten konnten.« (peter 2001b: 243). Die unterschiedlichen Nationen sollten nach Mauss in eine Beziehung gegenseitiger Solidarität treten. Hierbei gelte es, dass jede Nation ihre Eigenart im internationalen Miteinander behalte und nicht, die Nationen im Internationalismus aufzulösen; kurzum, es geht ihm um die Bewahrung der Differenz in der Äquivalenz. Für Mauss gibt es letztendlich nur drei politische Wege: Einen, der nach Moskau führt, einen zweiten des Nationalismus und einen dritten Weg des vernünftigen Internationalismus und des Friedens (ep: 384). Er wählt den letzteren und setzt seine Hoffnung auf den Völkerbund. Nur wenn die Nationen lernten zu geben, ohne sich anderen zu opfern, könnten sie friedlich miteinander leben, so Mauss (g: 182). Und weiter heißt es: »Man braucht nicht weit zu suchen, um das Gute und das Glück zu finden. Es liegt im erzwungenen Frieden, im Rhythmus gemeinsamer und privater Arbeit, im 141
angehäuften und wieder verteilten Reichtum, in gegenseitiger Achtung und Großzügigkeit, die durch Erziehung erlernbar sind« (G: 182). Auf internationaler Ebene könne der Völkerbund eine friedliche Verbindung der Nationen verwirklichen, so Mauss im Jahre 1932 (œ 3: 639). Noch zu Beginn der 30er-Jahre glaubt er an den Frieden einer europäischen Föderation, an »Vereinigte Staaten von Europa« (vgl. fournier 1997: 30). Sein Optimismus täuscht ihn. Sieben Jahre später, am 6. Mai 1939 räumt er angesichts des Faschismus gegenüber seinem Freund Svend Ranulf ein, dass es gewisse Parallelen zwischen dem von der Durkheim-Schule untersuchten Verhalten archaischer Gesellschaften und dem Faschismus gebe (siehe die Briefe in ep: 766f.): »Dass große moderne Gesellschaften – wie die Bewohner Australiens durch ihre Tänze – in diesem Ausmaß hypnotisiert werden können […] hatten wir wahrlich nicht erwartet. Diese Rückkehr zum Primitiven war nicht Gegenstand unserer Überlegungen«.
Zwei Tage später spezifiziert er, dies alles sei »eine wahrhafte Tragödie für uns, eine überaus starke Verifizierung der von uns angedeuteten Dinge und der Beweis, dass wir eher mit dieser Verifizierung durch das Böse und nicht nur durch das Gute hätten rechnen müssen«.
142
ix.
Die Wirkungen von Mauss
Es ist deutlich, dass die von Mauss als ›Essays‹, ›Entwürfe‹ oder ›Skizzen‹ betitelten Untersuchungen in ihrer Bedeutung und ihrem gleichsam Schlüsselbegriffe späterer sozialwissenschaftlicher Theorien vorwegnehmenden Ideenreichtum weit über diese Bezeichnungen hinausgehen. Während Durkheim noch an die großen Monografien glaubt, nähert sich Mauss seinen Forschungsobjekten in mehreren Einzelschritten. »Ganz besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht die Zusammenstellung der Detailanalysen [in œ 3: 58-108], die zu dem berühmtesten Essai von Mauss über das Geschenk geführt haben; sie zeigt zum großen Erstaunen des Lesers, wie weit zurück die Auseinandersetzung von Mauss mit diesen Problemen reicht (teilweise bis 1903). Das allein dürfte dazu beitragen, unser Bild von ihm zu korrigieren, den man allzu oft nur als einen hochbegabten Mann darstellt, der sich in tausend Einzelheiten verzettelt« (könig 1978b: 266).
»Das Soziale ist ein soziales System mit Subsystemen«, »das Soziale ist wesentlich symbolisch, relational und reziprok«, »konstitutiv für das Soziale sind die kollektiven Gewohnheiten, die soziale Praxis und die praktische Vernunft der Individuen und Kollektive« – diese zentralen Punkte des Mauss’schen Œuvres haben bis in die Gegenwart hinein große Bedeutung für zahlreiche geistes- und sozialwissenschaftliche Theorien erlangt.117 Mauss’ Charakterisierungen des Sozialen 117 Die wirkungsgeschichtlichen Dimensionen können hier nur angerissen und in ihren Hauptsträngen wiedergegeben werden. Eine systematische Rekonstruk-
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stellen zum einen wesentliche Ausgangspunkte und Anregungen für einen wirkungsgeschichtlichen Theoriestrang dar, der mit ›strukturalistisch-symbolischem Denken‹ bezeichnet werden kann und zu dem unter anderem der Strukturalismus von Lévi-Strauss, dessen Vorbereiter Mauss ist (vgl. dosse 1999: 54ff.), oder die Soziologie Pierre Bourdieus gehören. Zum anderen existiert noch ein weiterer Theoriestrang, der an Mauss anknüpft: ›das anti-utilitaristische Denken‹. Beide Ausrichtungen, die ›anti-utilitaristische‹ und die ›strukturalistischsymbolische‹, erstrecken sich in der Soziologie, der Ethnologie und der Philosophie über zwei Generationen der Mauss-Rezeption. Sie laufen nicht unvermittelt nebeneinander her, sondern führen sowohl in der ›ersten‹ (die Jahrgänge der um 1900 bis 1913 Geborenen) als auch in der ›zweiten Generation‹ (die etwa um 1930 und später Geborenen) zu kontroversen Auffassungen innerhalb des sozial- und geisteswissenschaftlichen Feldes.118 Die erste Generation ist auf der einen Seite durch Lévi-Strauss repräsentiert, auf der anderen Seite durch die Begründer des Collège de Sociologie, namentlich Georges Bataille, Roger Caillois und Michel Leiris, die beiden Letzten sind unmittelbare Schüler von Mauss (vgl. moebius 2006a). Zunächst zu Lévi-Strauss: Er erhebt in der mittlerweile berühmt gewordenen Einleitung zu Soziologie und Anthropologie (sa 1, sa 2) Marcel Mauss zu einem Vorreiter des Strukturalismus. Für den sozialwissenschaftlichen Strukturalismus, der die sprachwissenschaftlichen strukturalistischen Methoden für die Soziologie und Ethnologie fruchtbar gemacht hat, sind besonders der Austausch und das tion der Wirkungsgeschichte des Denkens von Mauss bleibt deswegen das Ziel einer folgenden Arbeit, die einige der hier angesprochenen Aspekte vertiefen wird. Zum Einfluss von Mauss auf die französische Soziologie und Ethnologie siehe auch Lévi-Strauss (1971[1945]: 512ff.). 118 Diesen zwei Rezeptionssträngen kann noch ein dritter, weniger ausgeprägter hinzugefügt werden: der ›kreativ-schöpferische‹ Pol, der in der ersten Generation von Georges Gurvitch und in der zweiten Generation von Georges Balandier repräsentiert wird. Auch hier kommt es im Blick auf die anderen Pole zu teilweise heftigen Debatten (zum Beispiel zwischen Lévi-Strauss und Gurvitch, vgl. farrugia 2006).
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Symbolische von zentraler Bedeutung. Mauss habe ganz richtig gesehen, dass der Austausch der gemeinsame Nenner scheinbar heterogener sozialer Aktivitäten sei (lévi-strauss 1999: 30; lévi-strauss 1993: 107), dass soziale Phänomene denen der Sprache gleichen (lévi- strauss 1999: 24f.) und dass das Soziale wie eine Sprache aufgefasst werden müsse. Trotz der vielen Anknüpfungspunkte kritisiert Lévi-Strauss, dass Mauss den Tausch in Einzelelemente (Geben, Nehmen, Erwidern) zerlegt und so die spezifische Struktur und Systematik aus den Augen verliert. Mauss versucht nach Lévi-Strauss, den Tausch von den Individuen und ihren Motiven her zu verstehen, statt die Subjekte und ihre Motive vom gegenseitigen Tauschprinzip her zu denken. »Wie auch sonst, aber vor allem hier, hätte eine Vorschrift zur Anwendung kommen müssen, die Mauss selber bereits in der Theorie der Magie formuliert hatte: ›Die Einheit des Ganzen ist noch viel realer als jeder der Teile.‹ Im Gegensatz dazu versucht Mauss in der Gabe verbissen, ein Ganzes aus Teilen zu rekonstruieren, und da dies sichtlich unmöglich ist, muß er diesem Gemisch ein zusätzliches Quantum hinzufügen, das ihm die Illusion gibt, seine Rechnung ginge auf. Dieses Quantum ist das hau« (lévi-strauss 1999: 31).
Sieht Claude Lévi-Strauss in dem Gabe-Theorem von Mauss Formen des Austauschs, deren letzter Ursprung in den unbewussten Strukturen des Geistes und in dessen Fähigkeit des Symbolisierens zu suchen ist, so betont das Collège de Sociologie vor allem den anti-utilitaristischen Aspekt des Mauss’schen Denkens und knüpft im Rahmen seiner sogenannten ›Sakralsoziologie‹ vor allem an den Gabe-Essay und die Eskimostudie an; in beiden spielt die ›unproduktive Verausgabung‹, also eine nicht an einem ökonomischen Vorteil interessierte Vorstellung vom Sozialen, eine zentrale Rolle. Geleitet von der individualisierungskritischen Annahme, die Gesellschaft sei in einem für den Faschismus anfälligen Zustand der Atomisierung und Anomie, versuchen die Collègiens, zu denen auch deutsche Exilanten wie Walter Benjamin oder Hans Mayer gehören, 145
neue Gemeinschaften zu schaffen. Ziel ist es, die vom Zivilisationsprozess zurückgedrängten und unter Kontrolle gebrachten, aber in den Tiefenschichten des Sozialen noch schlummernden sakralisierenden Energien kollektiver Erregung, die die Durkheim-Schule lediglich in ›primitiven‹ Gesellschaften untersucht habe, für die eigene Gesellschaft wieder zum Leben zu erwecken und politisch für neue Vergemeinschaftungen nutzbar zu machen. Flankiert werden diese Hauptstränge der ›ersten Generation‹ durch die Mauss-Rezeption von Marshall Sahlins (vgl. papilloud 2002b), der von 1967 bis 1969 am Laboratoire d’Anthropologie du Collège de France mit Lévi-Strauss zusammenarbeitete. Ausgehend von einer Neuinterpretation der in Mauss’ Gabe-Essay angeführten Aussagen des Maori–Informanten Ranaipiri relativiert Sahlins die Thesen von Lévi-Strauss (vgl. papilloud 2002b: 70): Wird das Gabentauschprinzip von Lévi-Strauss gewissermaßen in eine allgemeine anthropologischkognitive Theorie umgewandelt, so ist für Sahlins die Gabe der genuine Ausdruck menschlicher Vernunft der »Primitiven« (vgl. sahlins 1972: 175) und ein Zeichen dafür, dass die »Primitiven« den Hobbes’schen Naturzustand (»bellum omnium contra omnes«) überwinden, ohne entweder Krieg führen oder ohne einen Staat gründen zu müssen; die Gabe ist also für Sahlins weniger eine anthropologische als vielmehr eine politische Kategorie. In der zweiten Generation werden die beiden Rezeptionsstränge vor allem durch Pierre Bourdieu und die M.A.U.S.S.Gruppe um Alain Caillé repräsentiert. Steht Bourdieu für den strukturalistischen Symbolismus, so die M.A.U.S.S.-Bewegung für das Theorem eines dezidierten Anti-Utilitarismus. In ihrer Mauss-Rezeption schließen sie dabei an die erste Generation an. Zunächst zu Bourdieu: Ihm zufolge kommt dem symbolisch-strukturalistischen Denken von Lévi-Strauss das Verdienst zu, die »Wissenschaft vom Menschen geadelt und sie durch Verweis auf Saussure und Linguistik zur Königswissenschaft erhoben« zu haben, 146
»auf die sich nun zwangsläufig auch die Philosophen beziehen mussten.« (bourdieu 1992: 21) In der Entwicklung seines Denkens versucht Bourdieu jedoch den im Strukturalismus angelegten Objektivismus auf eine gleichsam Mauss’sche Weise zu überwinden, indem er den Menschen, die Produzenten symbolischer Güter und deren praktische Vernunft wieder mehr in den Mittelpunkt rückt und die Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata, also den Habitus der Akteure, wieder »ins Spiel bingt« (vgl. Bourdieu 1992: 28).119 Er nimmt darüber hinaus Mauss’ und Durkheims soziologische Analyse der Erkenntnis- und Klassifikationsformen auf, allerdings unter einem erweiterten herrschaftssoziologischen Blickwinkel. Die – gemäß der Analyse von Mauss und Durkheim – auf den sozialen Strukturen basierenden Klassifikationsformen sind nach Bourdieu der Aufrechterhaltung symbolischer Herrschaft dienende »Herrschaftsformen«, eine »Soziologie der Erkenntnis [ist] zugleich Soziologie der Anerkennung und der Verkennung, d. h. der symbolischen Herrschaft.« (bourdieu 1992: 38) Auch Bourdieus »methodologischer Relationismus« (wacquant 1996: 34ff.) sowie die Analyse der »Ökonomie der symbolischen Güter« (bourdieu 1998: 163ff., bourdieu 2001: 246ff.) verweisen auf Mauss bzw. auf dessen Gabe-Theorem. Bourdieu kritisiert jedoch, dass sowohl Lévi-Strauss als auch Mauss das zeitliche Intervall zwischen Gabe und Gegengabe vernachlässigt haben; dieses Intervall habe die Funktion, Gabe und Gegengabe »gegeneinander abzuschirmen und zwei vollkomen symmetrische Handlungen als unverbundene Einzelhandlungen erscheinen zu lassen« (bourdieu 1998: 163). Die Tatsache des Tauschs wird durch das zeitliche Intervall (unbewusst) verschleiert, so als gebe es keine Beziehung zwischen den einzelnen Gabeakten. Denn nur so kann die einzelne Gabe als Großzügigkeit erscheinen: »Tatsächlich kann man in jeder 119 Der Habitus weist dabei Charakteristika der Gabe auf, die sowohl frei als auch verpflichtend sind: »Der Habitus als ›Spiel-Sinn‹ ist das zur zweiten Natur gewordene, inkorporierte soziale Spiel. Nichts ist zugleich freier und zwanghafter als das Handeln des guten Spielers« (bourdieu 1992: 84).
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Gesellschaft beobachten, dass die Gegengabe, wenn sie nicht zur Beleidigung werden soll, zeitlich verschoben und verschieden sein muss, weil die sofortige Rückgabe eines genau identischen Gegenstands ganz offenbar einer Ablehnung gleichkommt« (bourdieu 1997: 193). Das objektive Tauschverhältnis muss also individuell und kollektiv verkannt werden, denn die sofortige Rückgabe würde den Schleier, dass es sich nicht um eine großzügige Gabe, sondern um einen einfachen Tauschmechanismus handelt, wegreißen. Im Grunde ist man bei Bourdieu also auch in der Uneigennützigkeit unbewusst kalkulierend. Interessanterweise koppelt Bourdieu die Ökonomie der symbolischen Güter an Mauss’ zentrale Kategorie der kollektiven Erwartungen, nach Mauss eine »Form des kollektiven Denkens«, »die wesentliche Form der Gemeinschaft« und einer der fundamentalsten Begriffe, mit denen man in Zukunft arbeiten müsse (œ 2: 117).120 In den Augen von Bourdieu stellt sich der Markt der symbolischen Güter, »mit Mauss’ Worten, als eine Gesamtheit ›kollektiver Erwartungen‹« dar. »In einem solchen Universum weiß der Geber, dass seine Großzügigkeit höchtwahrscheinlich als solche anerkannt werden […] und Anerkennung (in Form einer Gegengabe oder Dankbarkeit) bei dem Empfänger auslösen wird […]« (bourdieu 2001: 248). Gegen das strukturalistisch-symbolische Denken schließt sich die M.A.U.S.S.-Bewegung dem Anliegen des Collège de Sociologie an, anti-utilitaristische Perspektiven auf das Soziale zu entwickeln und betrachtet hierin das Collège als ihren Vorgänger (Bulletin du M.A.U.S.S. 1986: 5). Nach M.A.U.S.S. und seinem Begründer, Alain Caillé, werde im Selbstverständnis der Mo120 Nach König (1978b: 276) ersetzt Mauss mit dem Begriff der ›kollektiven Erwartung‹ Durkheims Charakterisierung des Sozialen als ›Zwang‹, so dass bei Mauss nicht mehr das Individuum als Fehlfunktion des Sozialen ausgedrückt wird. Mauss stellt die gegenseitigen Erwartungen in den Mittelpunkt, »wodurch jeder, auch der letzte Versuch der Hypostasierung des Sozialen als eine Art metaphysischer Entität unmöglich gemacht wird.« (könig 1978b: 276) Zur ›Erwartung‹ siehe auch Mauss (sa 2: 169ff.).
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derne das, was nicht mit den Begriffen der Nützlichkeit, des Eigennutzes und der instrumentellen Vernunft erfasst werden könne, als irrelevant ausgesondert und als luxuriös, überflüssig irrational oder nicht realisierbar heruntergespielt. Aus einer zunächst auf das philosophische Feld begrenzten Denkweise habe sich die utilitaristische Vernunft zu einem handlungsorientierenden Dispositiv in allen gesellschaftlichen Bereichen verallgemeinert. Die Resultate dieser Entwicklung seien durch und durch problematisch und bedrohlich. Dieser Prozess habe gleichsam zu einer Ökonomisierung der Sozialwissenschaften selbst geführt, die die Menschen nur noch als KostenNutzen-Erwäger bzw. homines oeconomici auffassen. Auch Bourdieu gehe insgeheim von interessegeleiteten und Eigennutz verfolgenden Individuen aus. Angesichts des kursierenden Neoliberalismus und des mit ihm verbundenen expressiven Individualismus seien politische Alternativen notwendig. Mauss habe den Gabentausch in der Absicht untersucht, die Gesellschaft zu verändern und neue Formen des Sozialen und der moralischen Praxis (Stichwort: Großzügigkeit) auszuloten. Caillé erkennt – wie zu Anfang erwähnt – in Mauss’ Gabe-Theorem ein »Drittes Paradigma«, das jenseits von methodologischem Holismus und Individualismus angelegt sei (vgl. caillé 2006). Denn Mauss fasse im Gabeprozess sowohl Freiheit als auch Verpflichtung, was die beiden anderen Paradigmen jeweils nur für sich zu denken vermögen, als zusammengehörig auf. Das Prinzip der Gabe ist zugleich eine interessierte, uneigennützige, freie und gezwungene soziale Beziehung. Diese Reflexionen der ›zweiten Generation‹ werden durch die Mauss-Rezeption von Jean Baudrillard (1982) und Maurice Godelier (1996), der mit der M.A.U.S.S.-Bewegung sympathisiert, ergänzt. Godelier hebt ausdrücklich die »Bemühungen« der M.A.U.S.S.-Gruppe hervor; »Bemühungen denen wir«, wie er schreibt, »unsere Hochachtung bezeugen möchten, welche darauf gerichtet sind, den Utilitarismus zu kritisieren und im Leben wieder für nicht warenförmige Beziehungen, Denk- und 149
Handlungsgrundsätze Platz zu schaffen« (godelier 1996: 292). Er macht darüber hinaus auf das aufmerksam, was Mauss vernachlässigt habe: Dinge, die niemals getauscht werden. Ergänzt wird die zeitgenössische Verarbeitung der Ideen von Mauss ebenfalls durch Jean Baudrillard, der für eine postmoderne Position der Überschreitung des Symbolischen steht und eine an das Collège de Sociologie und Georges Bataille angelehnte Mauss-Interpretation vertritt (vgl. moebius 2006a: 446ff.). Auch in der Philosophie übt Mauss Wirkungen aus, beispielsweise in der Lesart des Mauss’schen Gabentauschs von Jacques Derrida (vgl. gondek 1997; moebius 2002: 33-42). Derrida kritisiert und dekonstruiert unter expliziter Verweisung auf Mauss die strukturalistische und reziprozitätstheoretische Lesart des Gabe-Theorems von Lévi-Strauss und nähert sich dabei der vom Collège de Sociologie und Bataille herkommenden anti-utilitaristischen Position an (vgl. derrida 1994; moebius 2006a: 469ff.). Bei ihm heißt es: »Gabe gibt es nur, wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch […]« (derrida 1993: 22f.). Ausgehend von Mauss entwickelt Derrida ein eigenes GabeTheorem, in dem es Gabe nur als ereignishafte Unterbrechung der Struktur und des Symbolischen geben kann. Mauss’ Denken ist viel reichhaltiger und birgt noch weit mehr Potenzial, als der knappe Überblick der hier vorgestellten Rezeptionsstränge es vermuten lässt. Insofern darf man gespannt sein, wie zukünftige Anknüpfungspunkte aussehen, wo sie ansetzen und Mauss’ Werk ausarbeiten werden. Marcel Mauss treibt uns jedenfalls selbst zu diesen weiteren Forschungen an: »Jeder Tag, der verfließt, ohne dass man diese Bruchstücke der Menschheit einsammelt, ist ein verlorener Tag für die Wissenschaft von der Gesellschaft, für die Geschichte der Menschen und die Freilegung von Tatsachen, von denen im Augenblick niemand sagen kann, an welchem Punkte sie einmal ihren Nutzen finden werden für die Philosophie und für das Bewusstsein, welches die Menschheit von sich selbst gewinnt« (œ 3: 433).
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Literatur
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165
Zeittafel 1872
1890
1895
1896
1897
166
Marcel Israël Mauss wird am 10. Mai in Épinal (Vogesen) als erstes Kind von Gerson Mauss (1834-1836) und Rosine Durkheim (1848-30), der ältesten Schwester von Émile Durkheim, geboren; zusammen leiten die Mauss die Handstickereifabrik Mauss-Durkheim. 1876 wird der jüngere Bruder Henri geboren. Einschreibung in die Philosophische Fakultät in Bordeaux. Besuch der Vorlesungen seines Onkels sowie der Philosophievorlesungen von Alfred Espinas und Octave Hamelin. Begeisterung für sozialistische Ideen, Bekanntschaft mit Jean Jaurès. Eintritt in die Parti ouvrier français (pof). Wechsel an die Sorbonne in Paris. Freundschaft mit Paul Fauconnet, Edgar Milhaud und Abel Rey. Besuch der Philosophievorlesungen von Emile Boutroux, Victor Brochard und Gabriel Séailles sowie Vorlesungen in Psychologie bei Théodule Ribot. Gründung der Ligue Démocratique des Écoles, Engagement in der Groupe des étudiants collectivistes, Mitarbeit bei der Zeitschrift Le Devenir social. Im Herbst Einschreibung an die École pratiques des hautes études in die Abteilung für historische Wissenschaften. Freundschaft mit seinem ›zweiten Onkel‹, dem Orientalisten Sylvain Lévi sowie mit Henri Hubert, Henri Beuchat, Arnold van Gennep, Joe Stickney und Mabel Bode. Vorbereitung der thèse über das Gebet. Besuch der Linguistik-Vorlesungen bei dem Saussure-Schüler Antoine Meillet, Vorlesungen zu Sanskrit bei Louis Finot, Hebräisch bei Israël Lévi sowie über ›primitive Religionen‹ bei Léon Marillier. Erste Rezensionen in der Revue de l’histoire des religions. Eintritt in die Konsumgenossenschaft L’Avenir de plaisance. Im Dezember Studienreise nach Holland, Treffen mit dem Orientalisten Willem Caland.
1898
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1909 1914 1915 1917 1923
Weiterreise nach England, dort Treffen mit führenden Religionswissenschaftlern und Anthropologen: Moritz Winternitz, Edward B. Tylor und James Frazer. Zahlreiche Beiträge in der ab 1898 erscheinenden Année sociologique. Engagement in der Dreyfus-Affäre und den Écoles socialistes. Erscheinen des zusammen mit Henri Hubert verfassten Essay über die Natur und die soziale Funktion des Opfers im zweiten Band der Année sociologique. Mitarbeit bei der Zeitschrift Le mouvement socialiste. Zusammen mit Philippe Landrieu Gründung der sozialistisch-genossenschaftlichen Gesellschaft ›Die Bäckerei‹. Lehrstuhl für »Religionsgeschichte der nicht-zivilisierten Völker« an der École pratique des hautes études. Zusammen mit Fauconnet publiziert er Sociologie in der Grande Encyclopedie. Mit Durkheim Arbeit an der 1903 publizierten wissenssoziologischen Studie Einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung kollektiver Vorstellungen. Mitbegründung der Zeitung L’Humanité. Von da an zahlreiche Artikel über die Genossenschaftsbewegung. 1904 in der Année sociologique Publikation des zusammen mit Henri Hubert verfassten Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie. Publikation des zusammen mit Henri Beuchat verfassten Beitrags Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften. Eine Studie zur Sozialen Morphologie in Band 9 der Année sociologique (1904/1905). Publikation von Mélanges d’histoire des religions (mit Henri Hubert). Ermordung von Jean Jaurès. Verlust seines Freundes Robert Hertz. Tod seines Onkels Émile Durkheim. Seit 1923 Publikation mehrerer Beiträge über den Bolschewismus. Hubert und Mauss erhalten den von der 167
1925
1926
1930 1931 1934
1937 1938
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1945
1947 1950
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Académie des sciences morales et politiques vergebenen Preis »Le Fèvre Deumier de Pons«. Mauss wird Präsident der Société de Psychologie und gründet im Juni mit Freunden und Durkheim-Schülern das Institut français de sociologie. Im Dezember Gründung des Institut d’ethnologie de l’université de Paris (zusammen mit Lucien Lévy-Bruhl und Paul Rivet). Erscheinen des Essay über die Gabe. Reise in die usa, Vorträge in Chicago, Havard, Boston New York, Washington, Philadelphia und New Haven. Treffen u. a. mit Franz Boas, Bronislaw Malinowski, Edward Sapir, Robert E. Park und John Dewey. Im März Feldforschungsreise nach Marokko. 3. Februar: Wahl ans renommierte Collège de France, am 23. Februar Inauguralvorlesung. Fortsetzung der L’Année sociologique durch die Zeitschrift Annales sociologiques. Heirat mit Rose Marthe Dupret. Unterstützung des Comité de Vigilance des Intellectuels Antifascistes und des Comité mondial contre la guerre et le fascisme. Mauss wird zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. Mauss wird im Februar Präsident der religionswissenschaftlichen Sektion der École pratiques des hautes études. Vortragsreise im August nach Kopenhagen. Vichy-Regierung. Mauss tritt als Präsident der religionswissenschaftlichen Sektion und als Professor am Collège de France zurück. Mauss wird zum Ehrenprofessor am Collège de France ernannt. ›Zeit des Schweigens‹ beginnt. Tod von Rose am 1. August. Marcel Mauss stirbt, geschwächt von einer Bronchitis, am 11. Februar.
Personenregister
Andler, Charles 17, 38, 43 Aveling, Edward 27
Burgess, Ernest W. 44 Butler, Judith 87
Balandier, Georges 144 Bastian, Adolf 30 Bataille, Georges 20, 45, 73, 144, 150 Baudrillard, Jean 20, 149f. Benjamin, Walter 145 Bergaigne, Abel 126 Bergson, Henri 129 Berthoud, Gérald 20 Beuchat, Henri 15, 27,f., 38, 55 Bianconi, Antoine 40 Blanchot, Maurice 73 Bloch, Marc 61, 71 Blum, Léon 60 Boas, Franz 44 Bonnet, Alfred 27 Bouglé, Célestin 27, 30, 42, 46, 62, 71 Bourdieu, Pierre 20, 37, 87, 114 Bourgin, Georges 42 Bourgin, Hubert 62 Boutroux, Émile 26 Brochard, Victor 26
Caillé, Alain 20f., 148f. Caillois, Roger 20, 47, 73, 144 Caland, Willem 30 Cassirer, Ernst 108, 112 Cazeneuve, Jean 20 Centlivres, Pierre 16 Chiozzi, Paolo 132, 140 Coulanges, Fustel de 70 Craig, John E. 73 Czarnowski, Stefan 38, 58 Daladier, Édouard 60f. Dandieu, Arnaud 73 David, Maxime 40 Davy, Georges 62, 68 Déat, Marcel 73 Derrida, Jacques 20 Dewey, John 44 Douglas, Mary 87, 114 Dreyfus, Alfred 17, 23, 32, 37, 141 Dumas, Georges 103 Dumont, Louis 14, 19 169
Dupret, Marthe 46 Durkheim, André 40 Durkheim, Émile 13, 15ff., 51ff., 59ff., 89ff., 95, 97, 100f., 104, 107ff., 117, 120ff., 131, 133ff., 142f., 146ff. Durkheim, Moïse 24 Durkheim, Rosine 24f. Einstein, Carl 45 Elias, Norbert 35 Engels, Friedrich 27 Espinas, Alfred 25 Esterhazy, Ferdinand W. 32 Eubank, Edward 59 Faris, Robert 44 Fauconnet, Paul 15, 26ff., 31, 33f., 41, 55, 62, 68, 87, 124 Febvre, Lucien 71 Felice, Philippe de 42 Ferri, Enrico 27 Finot, Louis 28 Foucault, Michel 87 Fournier, Marcel 4, 23, 41, 47 Frazer, Elisabeth 31 Frazer, James G. 31, 89 Gennep, Arnold van 28, 41 Gernet, Louis 62 Giddings, Franklin Henry 44 Godbout, Jacques 97 Godelier, Maurice 20, 149 Granet, Marcel 42 Greef, Guillaume de 27 Griaule, Marcel 45 170
Guesde, Jules 26 Gurvitch, Georges 115, 144 Haesler, Aldo 109 Halbwachs, Maurice 34, 41f., 46, 48, 62, 73, 122 Halévy, Daniel 28 Hamelin, Octave 25f. Head, Henry 112 Herr, Lucien 38 Hertz, Robert W. 23, 38, 40, 55, 62f., 90 Hubert, Henri 28, 30f., 37, 39, 41, 45, 55f., 62f., 89, 126 Huvelin, Paul 62 Jamin, Jean 45 Jaurès, Jean 17, 34, 38f., 120, 129, 131, 135, 139f. Kautsky, Karl 27 König, René 36, 40, 110, 115, 125 Labriola, Antonio 27 Lacan, Jacques 113f. Lafargue, Paul 26f. Lantier, Raymond 58 Lapie, Paul 62 Lapu, François 45 Lavroff, Georges 27 Leiris, Michel 20, 45ff., 73, 144 Léon der Hebräer 28 Lepenies, Wolf 63 Le Play, Frédéric 51 Leroi-Gourhan, André 117 Leroux, Robert 77
Lévi, Israël 28 Lévinas, Emmanuel 73 Lévi-Strauss, Claude 13, 20, 46, 91ff., 97, 103, 113ff., 120, 144ff., 150 Lévi, Sylvain 17, 28, 47, 120, 126 Lévy-Bruhl, Henri 42 Lévy-Bruhl, Lucien 16, 42, 44, 63, 129 Lévy, Isidore 28 Lewitzky, Anatole 48 Liard, Louis 30 Malebranche, Nicholas 13 Malinowski, Bronislaw 44 Marc, Alexandre 73 Marillier, Léon 28 Marx, Jean 42, 58 Marx, Karl 26f. Maulnier, Thierry 73 Maunier, René 38 Maurras, Charles 60 Maus, Gerson 24 Mauss, Henri 25 Mauss, Marcel 34, 63 Mauss, Robert 4 Mayer, Hans 145 McDougall, William 103 Mead, George Herbert 108 Meillet, Antoine 47 Merleau-Ponty 120 Milhaud, Albert 27 Milhaud, Edgar 26f., 38 Monod, Gabriel 70 Oddon, Yvonne 48
Papilloud, Christian 4 Park, Robert E. 44 Person 10, 74, 77f., 92, 97, 116, 118 Pétain, Philippe 48, 61 Peter, Lothar 22 Piaget, Jean 107 Poirier, Jean 49 Queneau, Raymond 73 Quentin, Aurèle 56 Rey, Abel 26, 46 Reynaud, Paul 61 Reynier, Jean 40 Ribot, Théodule 26 Richard, Gaston 62 Ritual 30, 39, 79, 81ff., 85, 90 Rivet, Paul 16, 42, 48, 63 Rivière, Georges-Henri 45 Rol, Cécile 115 Sahlins, Marshall 20, 146 Saint-Simon, Henri de 134 Sapir, Edward 44 Saussaye, Chantepie de la 57 Saussure, Ferdinand de 82, 104, 108, 110, 146 Schnettler, Bernt 4 Séailles, Gabriel 26 Simiand, François 31, 33, 41, 46f., 62, 68 Simmel, Georg 108 Smith, Robertson 28, 89 Sorel, Georges 27, 138 Spinoza, Baruch de 28 Steinmetz, Sebald Rudolf 30 171
Strehlow, Carl 80, 108, 112 Tacitus 138 Tarde, Gabriel 51 Tarot, Camille 77, 115, 121 Tylor, Edward B. 31, 89 Vatter, Ernst 108 Webb, Beatrice 137 Webb, Sidney 137 Weber, Max 115 Willard, Claude 130
172
Winternitz, Moritz 31 Wirz, Paul 108 Worms, René 51 Wundt, Wilhelm 28, 112 Zola, Émile 32 Zweig, Stefan 39
Sachregister
action sociale 33 Année sociologique 23, 27, 30, 32, 36f., 39, 41ff., 46, 50f., 53f., 59, 67, 74, 94, 97, 108 Anomie 59, 65, 67, 73, 145 Anthropologie 10, 12, 30, 44, 78, 117, 144, 146
Genossenschaftsbewegung 24, 27, 34, 133, 137 Gestalttheorie 93 Gewohnheit 70, 79, 87f., 103, 106, 138, 143 Großzügigkeit 27, 43, 65, 100, 142, 147ff.
Bolschewismus 41, 101, 135f., 138f.
Habitus 88, 103, 121, 147 hau 97f., 128, 145 homme total 15, 117, 124, 126
Collège de Sociologie 20f., 47, 48, 95, 102, 144f., 148, 150 conscience collective 121 Ethnografie 10, 18, 20, 36, 43, 45f., 58, 66 Fabian Society 137 Faschismus 46f., 95, 142, 145 Feldforschung 43, 46 Gabe 10f., 17, 21ff., 27, 43, 64f., 67, 71ff., 88, 90, 96ff., 100ff., 109f., 116, 123, 128, 136, 145ff. Gebet 25, 28, 78ff., 85
Individualismus 21, 43, 47, 101, 136, 149 Institut d’ethnologie 16, 42f., 45f., 63, 66f. Kapitalismus 34, 65, 137 Klassifikation 35, 37, 68, 74f., 85, 92f., 96, 109, 121, 123 Körper 42, 86ff., 104, 117f. Linguistik 19, 71, 103, 108, 110, 124, 127, 146
173
Magie 36, 37, 55, 57, 79, 82ff., 90ff., 103, 107, 123, 127, 145 mana 90ff., 97f. M.A.U.S.S. 20f., 107, 146, 148f., 153 Morphologie 36f., 46, 74f., 90, 94, 96, 105, 109, 123 Nation 10, 12, 36, 41, 131, 136, 139ff. Opfer 25, 31f., 39, 55, 57, 84, 89f., 97, 109f., 127 potlatsch 64f., 96, 98f., 101, 114 Pragmatismus 107, 112, 115, 117, 139 Relation 35, 75, 93, 109ff., 113, 115f., 123, 128 Religion 17, 28f., 33, 36ff., 48, 57, 63, 79, 82ff., 90f., 93, 96, 103, 105, 115, 126 Sakral 31, 39, 47, 57, 82f., 89ff., 97, 127 Sanskrit 28, 126f. Solidarität 15, 43, 52, 65, 100f., 110, 141 soziale Morphologie 36f., 74, 90, 94, 96, 105 soziale Tatsachen 70, 77, 114f., 117, 122 Sozialgeschichte 77 Sozialismus 17, 23, 27, 33, 37f., 43, 55, 65, 129ff., 133ff., 139 Statistik 29, 66, 69, 122 Strukturalismus 20, 113f., 144, 147 Symbolisierung 42, 117, 145 174
Symbolismus 19f., 42, 107f., 111, 114, 146 Symbol, symbolisches 19, 42, 78, 85, 89, 92f., 95, 98, 105ff., 124f., 128, 145, 150 System 18f., 35, 39, 61, 75f., 83f., 89, 92f., 98, 107ff., 116f., 127, 133, 136, 140, 143 Tausch 64, 98f., 114, 145, 147, 150 Tauschverhältnis 148 totaler Mensch 15, 88f., 104, 107, 116ff. totale soziale Tatsache 114f., 117 Totalphänomen 15, 96, 98, 128, 131, 134, 140 Thomas-Theorem 118 Tod 13, 23, 39f., 43, 56, 58f., 79, 100 Utilitarismus 43, 101, 146, 149 Verausgabung 64f., 73, 100, 145 Wirksamkeitsglauben 85f. Zeichensystem 82, 109 Zivilisation 17, 35f., 44, 106, 127f.
Klassiker der Wissenssoziologie Jürgen Raab Helmuth Plessner Band 21, 2023, Broschur isbn 978-3-7445-2038-6 Martin Endreß Max Weber Band 20, 2023, ca. 150 S., Broschur. isbn 978-3-7445-1995-3 René Salomon / Andreas Göbel Niklas Luhmann Band 19, 2023, ca. 150 S., Broschur. isbn 978-3-7445-1981-6 Dariuš Zifonun Hans-Georg Soeffner Band 18, 2020, 184 S., Broschur. isbn 978-3-7445-1963-2 Michaela Pfadenhauer Peter L. Berger Band 17, 2010, 136 S.. isbn 978-3-7445-0325-9 Uwe Krähnke Georg Simmel Band 16, 2022, Broschur. isbn 978-3-7445-0309-9 Dietmar J. Wetzel Maurice Halbwachs Band 15, 2023, 132 S.. isbn 978-3-7445-2067-6 Heike Delitz Arnold Gehlen Band 14, 2011, 152 S. isbn 978-3-7445-0054-8 Michael Kauppert Claude Lévi-Strauss Band 13, 2008, 124 S. isbn 978-3-7445-0032-6 Daniel Šuber Émile Durkheim Band 12, 2011, 152 S. isbn 978-3-7445-1671-6
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HERBERT VON HALEM VERLAG Schanzenstr. 22 . 51063 Köln http://www.halem-verlag.de [email protected]
Dirk vom Lehn Harold Garfinkel Band 10, 2012, 156 S.. isbn 978-3-7445-1688-4 Amalia Barboza Karl Mannheim Band 9, 2020, 2., komplett überarb. Aufl., 184 S., Broschur. isbn 978-3-7445-2031-7 Reiner Keller Michel Foucault Band 7, 2008, 156 S. isbn 978-3-7445-1615-0 Jürgen Raab Erving Goffman Band 6, 2014, 2., überarbeitete Auflage, 160 S., Broschur. isbn 978-3-7445-0684-7 Gabriela Christmann Robert E. Park Band 5, 2007, 140 S. isbn 978-3-7445-1628-0 Jörg Strübing Anselm Strauss Band 4, 2007, 152 S., isbn 978-3-7445-1611-2 Martin Endreß Alfred Schütz Band 3, 2006, 160 S. isbn 978-3-7445-1607-5 Stephan Moebius Marcel Mauss Band 2, 2022, 176 S. isbn 978-3-7445-2070-6 Bernt Schnettler Thomas Luckmann Band 1, 2022, 2., überarb. Aufl., ca. 160 S. isbn 978-3-7445-1991-5
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