Management im Gesundheitswesen: Fallstudien, Aufgaben und Lösungen [1. Aufl. 2020] 978-3-658-26981-4, 978-3-658-26982-1

Lernen anhand von Fallstudien erfreut sich zunehmender Beliebtheit – auch in der akademischen Ausbildung der Wirtschafts

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German Pages XIX, 242 [249] Year 2020

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Management im Gesundheitswesen: Fallstudien, Aufgaben und Lösungen [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-26981-4, 978-3-658-26982-1

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIX
Einführung (Wolf Rogowski)....Pages 1-4
Nutzwertanalyse (Fabia Gansen)....Pages 5-17
Positive & normative Entscheidungsanalyse (Fabia Gansen)....Pages 19-31
Harvard-Verhandlungsmethode (Wolf Rogowski, Heinz Pilartz)....Pages 33-43
Kennzahlen der Marktforschung (Eugenia Larjow, Christian Reuschenbach)....Pages 45-65
ABC-Analyse, BCG-Matrix (Wolf Rogowski, Stefan Dalichau)....Pages 67-79
Marketing-Mix (Fabia Gansen, Michael Pichotta)....Pages 81-91
Service Blueprinting (Wolf Rogowski, Tobias Schütz)....Pages 93-106
Kategorien der Vergütung (Daniel Dröschel, Wolf Rogowski)....Pages 107-131
Institutionenökonomik in der Pflege (Wolf Rogowski, Madlen von Fintel)....Pages 133-146
Grundsätze der Prozessoptimierung (Wolf Rogowski, Eugenia Larjow)....Pages 147-157
Business Process Model and Notation (Wolf Rogowski, Walter Swoboda)....Pages 159-170
Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme (Laura Maaß, Xiange Zhang, Julian Klinger)....Pages 171-184
Informationsmanagement (Julian Klinger, Fabia Gansen, Yvonne Goltsche, Wolf Rogowski)....Pages 185-199
Kennzahlen der stationären Vergütung (Fabia Gansen, Karin Hochbaum)....Pages 201-213
Kennzahlen im betrieblichen Gesundheitsmanagement (Eugenia Larjow, Henning Erfkamp, Silvia Kaiser)....Pages 215-231
Business Case Berechnung für eine Geschäftsidee (Julian Klinger, Florian Koerber)....Pages 233-242

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Wolf Rogowski Hrsg.

Management im Gesundheitswesen Fallstudien, Aufgaben und Lösungen

Management im Gesundheitswesen

Wolf Rogowski Hrsg.

Management im Gesundheitswesen Fallstudien, Aufgaben und Lösungen

Hrsg. Wolf Rogowski Institut für Public Health und Pflegeforschung Universität Bremen Bremen, Deutschland

Ergänzendes Material zu diesem Buch finden Sie auf https://www.springer.com/de/book/978-3-65826981-4 ISBN 978-3-658-26981-4    ISBN 978-3-658-26982-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Erfahrung, Intuition und gesunder Menschenverstand sind von großer Bedeutung für den Erfolg beim Aufbau und bei der Steuerung von Unternehmen, auch im Gesundheitswesen. Spätestens wenn Unternehmen eine gewisse Größe überschreiten, reichen sie jedoch nicht mehr aus. Es besteht Bedarf an Professionalisierung, die einhergeht mit der Nutzung theoretisch reflektierter, empirisch erprobter Konzepte und Methoden. Eine so professionalisierte Steuerung bezeichnet man auch als Management, und darum geht es in diesem Lehrbuch: Es führt ein in zentrale Methoden und Konzepte des Managements im Gesundheitswesen. In der akademischen Ausbildung der Wirtschafts- und Gesundheitswissenschaften ebenso wie im Medizinstudium setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Fallstudien ein äußerst wirkungsvoller Ansatz zur Vermittlung anwendungsorientierter Problemlöse- und Entscheidungsfertigkeiten sind. Diese Erkenntnis war auch Ausgangspunkt für das vorliegende Lehrbuch, welches aus einem Fallstudienseminar zum Management im Gesundheitswesen im Bachelorstudium Public Health an der Universität Bremen entstanden ist. Es ist gedacht als Lehrbuch für Veranstaltungen in verschiedenen Studiengängen mit Bezügen sowohl zu Managementfragen als auch zum Gesundheitswesen. Neben Public Health gehören hierzu z. B. Gesundheitsmanagement, Gesundheitsökonomie, Medizin und Pflegewissenschaften. Aufgrund der Vielzahl von Konzepten und Methoden des Managements im Gesundheitswesen bietet die erste Auflage dieses Lehrbuches keinen vollständigen Überblick, sondern ist mit 16 Fallstudien zunächst als Grundlage für ein Seminar in einem vierzehnwöchigen Semester konzipiert. Sollten Sie Lehrende∗r in einem der genannten Studiengänge sein, ebenfalls Fallstudienseminare anbieten und Interesse an einer Veröffentlichung in diesem Lehrbuch haben, freue ich mich, wenn Sie auf mich zukommen – ich hoffe, dass dieses Lehrbuch mit weiteren Auflagen an Umfang und Detailtiefe wächst. Als Lehrbuch mit Musterlösungen ist dieses Werk auch zum Selbststudium für Menschen gedacht, die sich gerne Wissen anhand von Praxisbeispielen aneignen. Verweise auf Literatur, die Hintergrundwissen vermittelt, welches Sie jeweils zur Lösung der gestellten Aufgaben benötigen, werden am Anfang jeder Fallstudie gegeben. Dieses Lehrbuch ist

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Vorwort

also als Ergänzung und nicht als Ersatz zu den bestehenden und sehr guten Lehrbüchern im Themenfeld Management im Gesundheitswesen gedacht. Obgleich es sich bei dem Lehrbuch formell um ein Herausgeberwerk mit insgesamt 19 Autor∗innen handelt, ist es im einheitlichen Stil und in der Struktur eng an einem Autor∗innenwerk orientiert. Hierfür gilt mein besonderer Dank Eugenia Larjow, Fabia Gansen und Madlen von Fintel, die die Zusammenstellung dieses Lehrbuchs unterstützt haben. Des Weiteren möchte ich das Bundesministerium für Bildung und Forschung nennen, dessen Finanzierung im Rahmen des Projektes Konstruktiv (Förderkennzeichen: 16OH21063) die Erstellung dieses Buches ermöglicht hat. Und nicht zuletzt gebührt den Studierenden vergangener Seminare Dank, deren Fragen und Anmerkungen wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung von Seminar und Lehrbuch geleistet haben. Bremen, Wolf Rogowski im Mai 2019

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Stefan Dalichau Institut für angewandte Prävention und Leistungsdiagnostik BG Ambulanz Bremen Bremen, Deutschland [email protected] Daniel Dröschel SFL Services Basel, Schweiz SRH FernHochschule Riedlingen, Deutschland [email protected] Henning Erfkamp Fachbereich 11 – Human- und Gesundheitswissenschaften Universität Bremen Bremen, Deutschland [email protected] Fabia Gansen Institut für Public Health und Pflegeforschung Universität Bremen Bremen, Deutschland [email protected] Yvonne Goltsche atacama-blooms GmbH & Co. KG Bremen, Deutschland [email protected]

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Dr. med. Karin Hochbaum Geschäftsbereich Unternehmensentwicklung/Medizinstrategie Gesundheit Nord GmbH Berlin, Deutschland [email protected] Silvia Kaiser Beraterin für Prävention und betriebliche Gesundheitsförderung Bremen, Deutschland [email protected] Julian Klinger Newsenselab GmbH Berlin, Deutschland Institut für Public Health und Pflegeforschung Universität Bremen Berlin, Deutschland [email protected] Dr. Florian Koerber Newsenselab GmbH Berlin, Deutschland LMU München Munich, Deutschland Alice-Salomon-Hochschule Berlin Berlin, Deutschland [email protected] Eugenia Larjow Institut für Public Health und Pflegeforschung Universität Bremen Bermen, Deutschland [email protected] Laura Maaß SOCIUM der Universität Bremen Bremen, Deutschland [email protected] Michael Pichotta Fachexperte Gesundheitswirtschaft Potsdam, Deutschland [email protected] Dr. med. Heinz Pilartz Forum-M – Institut für Medizin, Mediation und mehr Alfter, Deutschland [email protected]

Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis

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Christian Reuschenbach MCM Klosterfrau Vertriebsgesellschaft mbH Köln Köln, Deutschland [email protected] Prof. Dr. Wolf Rogowski Institut für Public Health und Pflegeforschung Universität Bremen Bremen, Deutschland [email protected] Prof. Dr. Tobias Schütz ESB Business School Hochschule Reutlingen Reutlingen, Deutschland [email protected] Prof. Dr. Walter Swoboda Institut Digitale Transformation Hochschule Neu-Ulm Neu-Ulm, Deutschland [email protected] Madlen von Fintel Institut für Public Health und Pflegeforschung Universität Bremen Bremen, Deutschland [email protected] Xiange Zhang Institut für Public Health und Pflegeforschung Universität Bremen Bremen, Deutschland [email protected] Dieses Buch ist im Rahmen des Projekts „konstruktiv: Konsequente Orientierung an neuen Zielgruppen strukturell in der Universität Bremen verankern“ entstanden. Das Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16OH21063 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Verfasser*innen.

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung�������������������������������������������������������������������������������������������������������������  1 Wolf Rogowski 2 Nutzwertanalyse����������������������������������������������������������������������������������������������������  5 Fabia Gansen 3 Positive & normative Entscheidungsanalyse ������������������������������������������������������ 19 Fabia Gansen 4 Harvard-Verhandlungsmethode�������������������������������������������������������������������������� 33 Wolf Rogowski und Heinz Pilartz 5 Kennzahlen der Marktforschung ������������������������������������������������������������������������ 45 Eugenia Larjow und Christian Reuschenbach 6 ABC-Analyse, BCG-Matrix���������������������������������������������������������������������������������� 67 Wolf Rogowski und Stefan Dalichau 7 Marketing-Mix ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 81 Fabia Gansen und Michael Pichotta 8 Service Blueprinting���������������������������������������������������������������������������������������������� 93 Wolf Rogowski und Tobias Schütz 9 Kategorien der Vergütung���������������������������������������������������������������������������������� 107 Daniel Dröschel und Wolf Rogowski 10 Institutionenökonomik in der Pflege������������������������������������������������������������������ 133 Wolf Rogowski und Madlen von Fintel 11 Grundsätze der Prozessoptimierung������������������������������������������������������������������ 147 Wolf Rogowski und Eugenia Larjow 12 Business Process Model and Notation���������������������������������������������������������������� 159 Wolf Rogowski und Walter Swoboda

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Inhaltsverzeichnis

13 Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme�������������������������������������������� 171 Laura Maaß, Xiange Zhang und Julian Klinger 14 Informationsmanagement ���������������������������������������������������������������������������������� 185 Julian Klinger, Fabia Gansen, Yvonne Goltsche und Wolf Rogowski 15 Kennzahlen der stationären Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Fabia Gansen und Karin Hochbaum 16 Kennzahlen im betrieblichen Gesundheitsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Eugenia Larjow, Henning Erfkamp und Silvia Kaiser 17 Business Case Berechnung für eine Geschäftsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Julian Klinger und Florian Koerber

Abkürzungsverzeichnis

AK Anschaffungskosten aQua Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V BATNA best alternative to a negotiated deal BCG Boston Consulting Group BGF Betriebliche Gesundheitsförderung BGM Betriebliches Gesundheitsmanagement BPMN Business Process Model and Notation CC Complication and Comorbidity CM Case Mix CMI Case Mix Index DCF Discounted Cash-Flow DES Discrete Event Simulation DICOM Digital Imaging and Communications in Medicine DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DNQP Deutsches Netzwerrk für Qualitätsentwicklung DRG Diagnosis Related Groups EBIT Earning Before Interests and Taxes EBM Einheitlicher Bewertungsmaßstab EPK Ereignisgesteuerte Prozesskette ESI Emergency Severity Index FCF Freier Cash-Flow FüDiWo Fühl-Dich-Wohl G-BA Gemeinsamer Bundesausschuss GBE Gesundheitsberichterstattung des Bundes G-DRG German Diagnosis Related Groups GGK Gesund-und-Glücklich Krankenkasse GKV Gesetzliche Krankenversicherung XIII

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Abkürzungsverzeichnis

GVWD Grenzverweildauer HTA Health Technology Assessment HWG Heilmittelwerbegesetz ICD International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems IGeL Individuelle Gesundheitsleistung IKT Informations- und Kommunikationstechnologie InEK Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus KHG Krankenhausfinanzierungsgesetz KIS Krankenhausinformationssystem Lfd.-Nr. laufende Nummer MCDA Multi Criteria Decision Analysis MDC Major Diagnostic Category MDK Medizinischer Dienst der Krankenversicherung MRI Magnetic Resonance Imaging NUB Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden OPS Operationen- und Prozedurenschlüssel P.-A. Prinzipal-Agenten PCW Personen mit chronischen Wunden PKV Private Krankenversicherung PpSG Pflegepersonal-Stärkungsgesetz PSG Pflegestärkungsgesetz SAAS Software as a Service SGB Sozialgesetzbuch SWOT Strenghts, Weaknesses, Opportunities, Threats TK Techniker Krankenkasse USP Unique Selling Proposition UWG Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vdek Verband der Ersatzkassen e. V.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 3.1 Verlauf von Nutzenfunktionen bei verschiedenen Risikoneigungen������������  29 Abb. 5.1 Abb. 5.2 Abb. 5.3 Abb. 5.4

Marktvolumenschätzung am Beispiel FüDiWo��������������������������������������������  49 Mengenschätzungen für drei ausgewählte Wundversorgungssettings����������  50 Absatzvolumen FüDiWo innerhalb der gewählten Marktsegmente ������������  55 Anzahl von Personen mit chronischen Wunden nach ausgewählten Marktsegmenten��������������������������������������������������������������������������������������������  57 Abb. 5.5 Relative Verteilung der Absatzmengenschätzung für FüDiWo in ausgewählten Marktsegmenten (Bottom-up)������������������������������������������������  60 Abb. 5.6 Relative Verteilung von Personen mit chronischen Wunden in ausgewählten Marktsegmenten (Top-down) ������������������������������������������������  62 Abb. 5.7 Relative Verteilung der Absatzmengenschätzung für FüDiWo in ausgewählten Marktsegmenten (Top-down) ������������������������������������������������  64 Abb. 6.1 Grafische Darstellung der ABC-Analyse������������������������������������������������������  77 Abb. 6.2 BCG-Matrix��������������������������������������������������������������������������������������������������  78 Abb. 6.3 BCG-Matrix für die B-fit! GmbH����������������������������������������������������������������  79 Abb. 7.1 Zu vervollständigendes Product Positioning Statement der Wundauflage FüDiWo��������������������������������������������������������������������������������������������������������  85 Abb. 7.2 Musterlösung zum Product Positioning Statement für FüDiWo������������������  87 Abb. 8.1 Aktuelle Kundenreise (Ist-Situation)������������������������������������������������������������ 102 Abb. 8.2 Kritische Elemente der aktuellen Kundenreise�������������������������������������������� 103 Abb. 8.3 Ideale Kundenreise �������������������������������������������������������������������������������������� 104 Abb. 9.1 Finanzierungskategorien für neue Gesundheitsgüter������������������������������������ 114 Abb. 11.1 Optimierungsmöglichkeiten für Prozesse���������������������������������������������������� 152 Abb. 12.1 Prozessnotation nach AWMF������������������������������������������������������������������������ 165 Abb. 12.2 Prozessnotation nach EPK���������������������������������������������������������������������������� 166

XV

XVI

Abbildungsverzeichnis

Abb. 12.3 Basisprozess Nothilfe ���������������������������������������������������������������������������������� 167 Abb. 12.4 Teilprozess für die Triagegruppen 3–5 �������������������������������������������������������� 168 Abb. 12.5 Gesamtprozess Nothilfe�������������������������������������������������������������������������������� 169 Abb. 13.1 Einfaches Schema des Grundgerüsts von DES�������������������������������������������� 172 Abb. 13.2 Modell für die Standardversorgung�������������������������������������������������������������� 179 Abb. 13.3 Modell für First View������������������������������������������������������������������������������������ 180 Abb. 14.1 Zeitungsartikel zu den Stürzen im Roselius Stift������������������������������������������ 188 Abb. 14.2 Vorlage für das Sturzprotokoll im Roselius Stift������������������������������������������ 190 Abb. 14.3 Händisch ausgefülltes Sturzprotokoll ���������������������������������������������������������� 194

Tabellenverzeichnis

Tab. 2.1 Zu ergänzende Übersicht über die Kriterienerfüllung der Ultraschallgeräte ������������������������������������������������������������������������������������������   9 Tab. 2.2 Punktevergabe für die Kriterien Serviceleistungen, Wartungsaufwand und Lieferzeit������������������������������������������������������������������  10 Tab. 2.3 Bewertung der qualitativen Kriterien für die Ultraschallgeräte ������������������  11 Tab. 2.4 Nutzwerte bei gleicher Gewichtung der qualitativen Kriterien��������������������  11 Tab. 2.5 Gewichte für die qualitativen Kriterien��������������������������������������������������������  12 Tab. 2.6 Nutzwerte bei unterschiedlicher Gewichtung der qualitativen Kriterien��������  13 Tab. 2.7 Berechnung der Punktevergabe im Kriterium Preis ������������������������������������  15 Tab. 2.8 Bewertung der quantitativen Kriterien����������������������������������������������������������  16 Tab. 2.9 Gewichte für die quantitativen Kriterien������������������������������������������������������  16 Tab. 2.10 Bestimmung der Nutzwerte auf Basis quantitativer Kriterien ��������������������  16 Tab. 3.1 Übersicht über die Fallzahlen, Erlöse und Kosten der verschiedenen Ausbaualternativen ��������������������������������������������������������������������������������������  22 Tab. 3.2 Fördermittelanteile und Eintrittswahrscheinlichkeiten der Umweltzustände ������������������������������������������������������������������������������������������  23 Tab. 3.3 Mit den erwarteten jährlichen Gewinnen zu füllende Übersicht������������������  23 Tab. 3.4 Berechnung des jährlichen Gewinns bei einem Fördermittelanteil von 80 % ������������������������������������������������������������������������������������������������������  26 Tab. 3.5 Erwarteter jährlicher Gewinn für die drei Alternativen und Umweltzustände�������������������������������������������������������������������������������������������  26 Tab. 3.6 Anwendung der μ-Regel ������������������������������������������������������������������������������  27 Tab. 3.7 Anwendung der( μ, σ)-Regel������������������������������������������������������������������������  28 Tab. 3.8 Anwendung des Bernoulli-Prinzips ������������������������������������������������������������  28 Tab. 3.9 Anwendung der Laplace-Regel��������������������������������������������������������������������  29 Tab. 3.10 Anwendung der Minimax-Regel������������������������������������������������������������������  29 Tab. 3.11 Anwendung der Maximax-Regel ����������������������������������������������������������������  30 Tab. 3.12 Anwendung der Hurwicz-Regel ������������������������������������������������������������������  30 Tab. 3.13 Ausgangsmatrix zur Anwendung der Savage-Niehans-Regel����������������������  30 Tab. 3.14 Bedauernsmatrix zur Anwendung der Savage-Niehans-Regel ��������������������  30 XVII

XVIII

Tabellenverzeichnis

Tab. 5.1 Datenauswahl für Marktvolumenschätzung Bottom-up ������������������������������  51 Tab. 5.2 Datenauswahl für Marktvolumenschätzung Top-down��������������������������������  52 Tab. 5.3 Ausgewählte Daten für die Absatzvolumenschätzung von FüDiWo nach dem Bottom-­up-­Ansatz������������������������������������������������������������������������  56 Tab. 5.4 Schätzung der jährlichen FüDiWo-Stückzahl in ausgewählten Marktsegmenten (Bottom-up)����������������������������������������������������������������������  59 Tab. 5.5 Ausgewählte Daten für die Absatzvolumenschätzung von FüDiWo nach dem Top-down-­Ansatz ������������������������������������������������������������������������  61 Tab. 5.6 Anzahl von Personen mit chronischen Wunden in ausgewählten Marktsegmenten��������������������������������������������������������������������������������������������  62 Tab. 5.7 Schätzung der jährlichen FüDiWo-Stückzahl in ausgewählten Marktsegmenten (Top-down)������������������������������������������������������������������������  63 Tab. 6.1 Umsätze der B-fit! GmbH nach Kunden������������������������������������������������������  74 Tab. 6.2 Musterlösung Rechnung nach Firmen����������������������������������������������������������  75 Tab. 6.3 ABC-Analyse für das Kursangebot der B-fit! GmbH����������������������������������  76 Tab. 7.1 Übersicht über die Produkteigenschaften der Wundauflagen WundX und FüDiWo������������������������������������������������������������������������������������  84 Tab. 7.2 Kostenbasierte Preisbestimmung für die Wundauflage FüDiWo������������������  85 Tab. 7.3 Musterlösung zur kostenbasierten Preisbestimmung für FüDiWo ��������������  88 Tab. 7.4 Vor- und Nachteile von direktem und indirektem Vertrieb ��������������������������  89 Tab. 9.1 Charakteristika der zehn Finanzierungskategorien im Überblick���������������� 122 Tab. 11.1 Mögliche Wirkungen von Prozessmanagement�������������������������������������������� 153 Tab. 11.2 Textfundstellen für positive Wirkungen von Prozessmanagement in der Fallstudie�������������������������������������������������������������������������������������������� 153 Tab. 11.3 Textfundstellen für negative Wirkungen von Prozessmanagement in der Fallstudie�������������������������������������������������������������������������������������������� 155 Tab. 11.4 Durchgeführte Prozessmanagementmaßnahmen in St. Eligius ������������������ 156 Tab. 13.1 Zeiten mit der Standardversorgung�������������������������������������������������������������� 178 Tab. 13.2 Zeiten mit First View������������������������������������������������������������������������������������ 178 Tab. 13.3 Personalverteilung und Kosten �������������������������������������������������������������������� 178 Tab. 13.4 Warte- & Durchlaufzeiten, Auslastung und Gesamtkosten I������������������������ 180 Tab. 13.5 Warte- & Durchlaufzeiten, Auslastung und Gesamtkosten II���������������������� 181 Tab. 13.6 Warte- & Durchlaufzeiten, Auslastung und Gesamtkosten III �������������������� 182 Tab. 15.1 Daten zur Berechnung einer Fallpauschale nach G-DRG Version 2018 ������������������������������������������������������������������������������������������������ 204 Tab. 15.2 Daten zur Bestimmung von ICD-Code, OPS-Code, DRG und effektivem Entgelt���������������������������������������������������������������������������������������� 205 Tab. 15.3 Patient*innendaten zur Kontrolle von Fallpauschalen���������������������������������� 206 Tab. 15.4 Daten zur Berechnung von Case Mix und Case Mix Index ������������������������ 208

Tabellenverzeichnis

XIX

Tab. 15.5 Musterlösung zur Bestimmung von ICD-Code, OPS-Code, DRG und effektivem Entgelt �������������������������������������������������������������������������������� 210 Tab. 15.6 Berichtigte Daten zur Fallpauschale von Fall 4, Fall 5, Fall 6, Fall 7 und Fall 8 ������������������������������������������������������������������������������������������ 211 Tab. 15.7 Musterlösung zur Berechnung von Case Mix und Case Mix Index ������������ 212 Tab. 16.1 Protokoll zur Steuerungskreissitzung Gesundheit���������������������������������������� 218 Tab. 16.2 Ausgewählte Begriffe der Fehlzeitenanalyse���������������������������������������������� 220 Tab. 16.3 Darstellung des Fehlzeitengeschehens von GGK-versicherten Beschäftigten in Wünschlich Nord �������������������������������������������������������������� 222 Tab. 17.1 Berechnung Marktpotenzial�������������������������������������������������������������������������� 239

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Einführung Wolf Rogowski

Zusammenfassung

Lernen anhand von Fallstudien erfreut sich zunehmender Beliebtheit – auch in der akademischen Ausbildung der Wirtschafts-, Gesundheits- und Pflegewissenschaften, der Medizin oder dem Fach Public Health. Als Ergänzung zu gängigen Lehrbüchern des Managements im Gesundheitswesen wird der Leser in diesem Buch anhand von 16 Fallstudien in zentrale Konzepte der Entscheidungsfindung, des Marketings, der Organisation und des Controllings in Gesundheitsbetrieben eingeführt. Dazu gehören Klassiker wie Marketing-Mix oder Nutzwertanalyse wie auch jüngere Methoden wie Service Blueprinting oder Discrete Event Simulation. Die einheitlich aufgebauten Fallstudien beginnen jeweils mit einem Hintergrundkapitel, in dem ausgewählte Literatur zum vorgestellten Management-Konzept zusammengefasst und Quellen für vertiefende Lektüre empfohlen werden. Anschließend wird praxisnah eine Situation beschrieben, die entlang von Teilaufgaben und mithilfe des jeweils zuvor vorgestellten Konzepts analysiert werden soll. Jede Fallstudie schließt mit Lösungsvorschlägen zu den gestellten Fragen und Aufgaben. Dieser didaktische Aufbau bietet Studierenden anschauliche Lernsituationen und Lehrenden ein fertig vorbereitetes Seminar, das auf mehrjährigen Lehrerfahrungen beruht

Auf den ersten Blick scheint der Begriff Management etwas konträr zur Idee einer guten Gesundheitsversorgung zu sein – es sollten ja die Patient∗innen und deren gute medizinische und pflegerische Behandlung im Zentrum stehen und nicht die Vorgaben des Managements. Zudem wird gute Gesundheitsversorgung mehr mit Erfahrung und gesundem W. Rogowski (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_1

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2

W. Rogowski

Menschenverstand der leitenden Personen in Verbindung gebracht als mit eher technisch anmutenden Managementkonzepten. Zweifelsohne sind Erfahrung und gesunder Menschenverstand von großer Bedeutung für die erfolgreiche Steuerung von Gesundheitsbetrieben, ebenso wie Sorge um die Gesundheit der Patient∗innen. Dies alleine reicht jedoch nicht aus. Spätestens wenn Unternehmen eine gewisse Größe überschreiten, besteht Bedarf an Professionalisierung, die einhergeht mit der Nutzung theoretisch reflektierter, empirisch erprobter Konzepte und Methoden. Management wird im Folgenden als eine in diesem Sinne professionalisierte Steuerung von Unternehmen verstanden. Das Ziel dieses Lehrbuches besteht darin, anhand von insgesamt 16 Fallstudien in zentrale Methoden und Konzepte des Managements im Gesundheitswesen einzuführen. Das Lehrbuch beginnt mit drei Fallstudien, die dem einführenden Thema Entscheidungsfindung im Gesundheitsbetrieb zugeordnet werden können. Sie befassen sich mit Konzepten, die die sowohl inhaltlichen als auch sozial komplexen Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen unterstützen sollen. Die Fallstudie Die Qual der Wahl beim Ultraschall in Kap. 2 führt anhand der Auswahl zwischen drei Typen eines neuen medizintechnischen Gerätes in die Nutzwertanalyse ein und zeigt, wie der explizite und transparente Einbezug verschiedener Entscheidungskriterien die Entscheidungsempfehlung ändern kann. In der Fallstudie Ausbau der Augenklinik  – eine gute Entscheidung? in Kap.  3 ­werden anhand der Entscheidung über den Ausbau einer Augenklinik zum einen mögliche Ursachen von Fehlentscheidungen thematisiert, die im Rahmen der positiven Entscheidungsanalyse näher untersucht werden. Zum anderen werden klassische Regeln der normativen Entscheidungsanalyse unter Risiko und unter Unsicherheit auf die Investitionsentscheidung angewendet. Die Fallstudie Die umstrittene Stundenaufschreibung in Kap. 4 widmet sich schließlich der Frage, wie in angemessener Weise mit Interessenkonflikten in der Entscheidungsfindung umgegangen werden kann. Sie führt dazu in die Harvard-­ Verhandlungsmethode ein, die anstelle von positionsorientierter Diskussion die systematische Suche nach Win-win-Situationen unterstützt. Es folgen fünf Fallstudien zum Themenfeld Marketing im Gesundheitsbetrieb. Einen Einstieg in die Marktforschung im Gesundheitswesen bietet die Fallstudie Market Sizing für die Wundauflage FüDiWo in Kap. 5. Darin werden insbesondere der Zugriff auf öffentliche Datenquellen zur Marktvolumenschätzung und die Marktsegmentierung thematisiert. Als Konzepte der strategischen Marketingpolitik werden in der Fallstudie Strategisches Marketing für die B-fit! GmbH in Kap. 6 die ABC-Analyse und die sog. BCG-Matrix angewendet, um ein Unternehmen mit einer größeren Zahl von Programmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung bei der Fokussierung ihres Kursangebots zu unterstützen. Als ein Standard der operativen Marketingpolitik wird daran anschließend in der Fallstudie Vier P für die Wundauflage FüDiWo in Kap. 7 das Konzept der 4 P auf die oben bereits eingeführte imaginäre Wundauflage FüDiWo angewendet. Das Gesundheitswesen ist sehr dienstleistungsorientiert, sodass die gängigen Ansätze der Produktpolitik nicht immer optimal anwendbar sind. Ein konzeptioneller Ansatz, der speziell für die Gestaltung von Dienstleistungen entwickelt wurde, ist das sogenannte Service Blueprinting. Darin wird eine Dienstleistung strukturiert anhand der Customer Journey, d.  h. der Kund∗innenerfahrung vom Erst- bis zum

1 Einführung

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Letztkontakt mit dem Dienstleister, untersucht. Dieser Ansatz wird in der Fallstudie Die holprige Customer Journey des Torben Schulz in Kap. 8 vertieft. Eine weitere Besonderheit des Marketings im Gesundheitswesen ist, dass die Preispolitik wesentlich durch die verschiedenen Vergütungssysteme im Gesundheitssektor bestimmt wird. Um hierfür ein vertieftes Verständnis zu vermitteln, thematisiert die Fallstudie Vergütungsszenarien für DiagBand zur Parkinsondiagnostik in Kap. 9 die verschiedenen Kategorien der Vergütung eines neuen Gesundheitsgutes aus Perspektive einer Market Access Beratung. Daran anschließend widmen sich vier Fallstudien dem Themenfeld Organisation im Gesundheitsbetrieb. Einen Einstieg in die Anwendung zentraler Konzepte der Neuen In­ stitutionenökonomik auf die Aufbauorganisation vermittelt die Fallstudie Buurtzorg – ein Gegenmodell zur Ökonomisierung der Pflege? in Kap. 10. Anhand eines innovativen niederländischen Pflegedienstleisters werden dabei Bezüge zwischen dessen Organisationsmodell und zentralen Annahmen und Lösungsvorschlägen der Neuen Institutionenökonomik diskutiert. Die verbleibenden drei Fallstudien aus diesem Themenblock widmen sich der Ablauforganisation bzw. Prozessoptimierung. Hierzu wird in der Fallstudie Die suboptimalen Prozesse im Krankenhaus St. Eligius in Kap. 11 zunächst die Einnahme einer Prozessperspektive auf die Erbringung von Gesundheitsleistungen vertieft, in die im Service Blueprinting bereits eingeführt wurde. Will man Prozesse detaillierter analysieren, stellt sich früher oder später die Frage nach einer grafischen Darstellungsweise. Hierfür haben sich verschiedene Notationen herausgebildet. Dazu gehört die sogenannte Business Process Model and Notation (BPMN), die im Rahmen der Fallstudie BPMN für die Notaufnahme St. Eligius in Kap. 12 vorgestellt wird. Ziel des Prozessmanagements ist neben der Qualitätsverbesserung häufig die Überwindung von Engpässen und unnötigen Wartezeiten sowie die Kostenoptimierung. Ein technisches Hilfsmittel hierfür ist die diskrete Ereignissimulation oder Discrete Event Simulation (DES). Die abschließende Fallstudie zum Prozessmanagement Standardversorgung oder First View in der Notaufnahme? in Kap. 13 widmet sich der Prozessmodellierung und -optimierung mithilfe der DES-­Software ARENA. Das Lehrbuch schließt mit vier Fallstudien, die man dem Themenfeld Controlling im Gesundheitsbetrieb zuordnen könnte. Hierzu gehört zunächst die Fallstudie Stürze im Roselius Stift in Kap. 14, die in zentrale Konzepte des Informationsmanagements einführt. Im Vordergrund steht die Suche nach möglichen Ursachen für vermehrte Stürze in einem Pflegeheim. Die beiden folgenden Fallstudien thematisieren unterschiedliche Kennzahlen, die im Controlling eine Rolle spielen können. In der Studie Assessment Center für das Medizincontrolling in Kap. 15 werden anhand eines imaginären Assessment Centers für eine Position im Medizincontrolling die Codierung von Fallpauschalen und ausgewählte Kenngrößen wie der sog. Case Mix Index thematisiert. Die Fallstudie BGM in Wünschlich Nord in Kap. 16 thematisiert Stärken und Schwächen der im Gesundheitscontrolling prominenten Kennzahl Krankenstand in einem imaginären Krankenhaus. Das Lehrbuch schließt mit der Fallstudie Rechnet sich Lisas Gesundheits-Start-up? in Kap. 17, die eine Brücke zwischen Methoden der Entscheidungsfindung, Marketing und dem Controlling schlägt. Anhand eines Beratungsprojektes wird mithilfe des diskontierten Cash-Flows abgeschätzt, wie profitabel ein imaginäres Unternehmensgründungsprojekt zur digitalen Behandlung von Sprachstörungen ist.

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W. Rogowski

Neben den oben genannten sind – z. B. für den Einsatz in Lehrveranstaltungen – auch andere Zuordnungen und Reihenfolgen der Fallstudien denkbar. So bauen bspw. die beiden Fallstudien zur Wundauflage FüDiWo (Kap. 5 und 7) inhaltlich aufeinander auf und eignen sich daher auch gut als Sequenz. In der hypothetischen Geschichte zur B-fit! GmbH findet die Anwendung der Harvard-Methode (Kap.  4) nach den Methoden des strategischen Marketings statt (Kap. 6), sodass hier die umgekehrte Abfolge denkbar wäre. Und die Fallstudie zum Medizincontrolling (Kap. 15) hat starke Bezüge zur Vergütung, sodass sie sich auch gut als Ergänzung zur Market Access Fallstudie (Kap. 9) eignet. Die Fallstudien beginnen jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung, gefolgt von einer Erläuterung zu den Konzepten, die in der jeweiligen Fallstudie angewendet werden. Diese Erläuterung zum Hintergrund der Fallstudie ist kurzgehalten, da das Lehrbuch komplementär zu bestehenden Vorlesungen bzw. Lehrbüchern angelegt ist, die diese Konzepte ausführlicher darlegen. Exemplarisch wird jeweils ein Hinweis auf weiterführende Literatur gegeben, sodass sich jede∗r, der/die die Fallstudie bearbeiten möchte, diesen Hintergrund im Selbststudium aneignen kann. Im nächsten Kapitelabschnitt folgt die jeweilige Fallstudie – eine Beschreibung konkreter Managementprobleme im Gesundheitswesen, in denen sich Studierende in Praktika oder nach dem Berufseinstieg sehr schnell wiederfinden können. Um die Realitätsnähe zu fördern, wurde ein Großteil der Fallstudien gemeinsam mit Praktiker∗innen verfasst. Die Fallstudien sind mit Aufgaben verbunden, in denen es im Wesentlichen darum geht, die eingangs eingeführten Managementkonzepte zur Lösung der jeweiligen Fallstudie einzusetzen. Die Fallstudien schließen meist mit einer Aufgabe zur kritischen Reflexion des angewendeten Konzepts, um zu verdeutlichen, dass auch Managementkonzepte regelmäßig hinterfragt und auf Risiken und Nebenwirkungen untersucht werden sollten. Die Fallstudien können von Lehrenden auch als flexible Grundlage genutzt werden und um eigene Annahmen, weitere Informationen und Fragestellungen ergänzt und je nach Veranstaltungsziel individuell angepasst werden. Auf die Aufgabenstellungen im Lehrbuch folgen Lösungsvorschläge, die sich in unseren Seminaren bewährt haben. Zwar dienen sie in Form von Musterlösungen als klare Orientierung dafür, wie das Konzept in der Fallstudie korrekt angewendet werden kann. Gleichzeitig gilt natürlich hier wie bei jedem anderen Praxisproblem, dass es meist verschiedene Wege gibt, die zu einer guten Lösung führen. Studierende und Lehrende, die sich mit den Fallstudien befassen, sind also ausdrücklich ermuntert, sich eigene Gedanken zur besten Lösung zu machen. Sollten sich hier Abweichungen von unseren Vorschlägen ergeben, oder sollten Ihnen andere Fehler, Verbesserungsmöglichkeiten oder gar Vorschläge neuer und zu ergänzender Fallstudien kommen, freuen wir uns sehr über jeden Hinweis! Für einige Aufgaben und Lösungsvorschläge haben wir zusätzliche Arbeitsmaterialien zum Download bereitgestellt. Um auf das Zusatzmaterial zugreifen zu können, werden Sie bei entsprechenden Aufgaben auf den Link https://www.springer.com/de/book/9783658269814 hingewiesen, über den Sie auf die ergänzenden Dateien zugreifen können. Gemeinsam mit den Autor∗innen der Fallstudien wünsche ich Ihnen viel Freude und spannende Einsichten bei der Arbeit mit diesem Lehrbuch!

2

Nutzwertanalyse Fabia Gansen

Zusammenfassung

Ziel dieser Fallstudie ist es, anhand eines Fallbeispiels zur Anschaffung von Ultraschallgeräten in der gynäkologischen Abteilung eines Krankenhauses in die Anwendung von multikriterieller Entscheidungsanalyse (auch Multi Criteria Decision Analysis oder MCDA) einzuführen. Hierzu werden drei zur Auswahl stehende Geräte zunächst anhand von qualitativen Kriterien, die aus einem Abteilungsgespräch der Gynäkologie abgeleitet werden, auf Basis einer Nutzwertanalyse bewertet. Anschließend werden weitere quantitative Kriterien aus Sicht der Klinikleitung in die Nutzwertanalyse einbezogen. Die Fallstudie schließt mit einer Ergebnispräsentation und einer kritischen Reflexion zur angewendeten multikriteriellen Entscheidungsanalyse ab.

2.1

Hintergrund

Viele Entscheidungen, die im Gesundheitswesen und speziell in Gesundheitsbetrieben getroffen werden, sind nicht nur mit einem, sondern mit mehreren Zielen verbunden. So sollten bei grundlegenden strategischen Entscheidungen alle relevanten Unternehmensziele berücksichtigt werden. Ein systematischer Ansatz zum Umgang mit mehrdimensionalen Zielen ist die multikriterielle Entscheidungsanalyse (auch Multi Criteria Decision Analysis oder MCDA genannt). MCDA bezeichnet eine Sammlung formaler Ansätze zur Entscheidungsunterstützung, die eine strukturierte und transparente Berücksichtigung verschiedener Zielkriterien ermöglichen (vgl. Belton und Stewart 2002, S.  2; Thokala et  al. 2016, S.  2  f.). Eine Anwendungsform von MCDA ist die Nutzwertanalyse. Bei F. Gansen (*) Universität Bremen, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_2

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F. Gansen

diesem Verfahren werden die zur Auswahl stehenden Alternativen anhand von festgelegten Zielkriterien bewertet. Anschließend lässt sich für jede der Alternativen ein Nutzwert bestimmen, der die Grundlage der Entscheidungsfindung bildet. Das Vorgehen zur Durchführung einer Nutzwertanalyse lässt sich vereinfacht in vier Schritte unterteilen. An erster Stelle steht die Identifikation der Zielkriterien. Die gewählten Kriterien sollten vollständig, operationalisierbar, voneinander unabhängig, frei von Überschneidungen und in ihrer Anzahl handhabbar sein. Im nächsten Schritt folgt die Messung der Kriterienerfüllung, bei der bewertet wird, wie gut jede der Alternativen jedes Kriterium erfüllt. Diese Bewertung kann auf einer Nominal-, Ordinal- oder Kardinalskala erfolgen (vgl. Baltussen und Niessen 2006). Dieser Schritt lässt sich unter dem Begriff Scoring zusammenfassen. Die Gewichtung der Kriterien ist der nächste Schritt einer Nutzwertanalyse. Dabei wird die Bedeutung jedes Zielkriteriums für den/die Entscheidungsträger∗in anhand einer Verhältniszahl ausgedrückt, sodass sich die Gewichte auf 1 summieren. Die Gewichtung der Kriterien wird auch als Weighting bezeichnet. Es folgt die Aggregation der Bewertungen, bei der der Nutzwert jeder Alternative berechnet wird. In der Regel wird die Summe der gewichteten Ausprägungsgrade – also der gewichtete Mittelwert – bestimmt. Auf Basis der ermittelten Nutzwerte kann abschließend eine Rangfolge der Alternativen erstellt und zur Entscheidungsfindung herangezogen werden (vgl. Thokala et al. 2016, S. 8 f.). Für eine Einführung zur Durchführung von MCDA wird Baltussen und Niessen (2006) empfohlen. Die theoretischen Grundlagen und die zugrunde liegende Methodik von multikriterieller Entscheidungsanalyse vermitteln Belton und Stewart (2002). Eine aktuelle Übersicht zur Anwendung von MCDA im Gesundheitswesen findet sich in Multi Criteria Decision Analysis to Support Healthcare Decisions von Marsh et al. (2017).

2.2

Fallstudie: Die Qual der Wahl beim Ultraschall

Während Ihres Studiums absolvieren Sie ein Praktikum in der Medizintechnikabteilung eines Universitätsklinikums. Zu den Aufgaben der Medizintechnik gehört die Beratung der Klinikabteilungen bei größeren Neuanschaffungen von medizintechnischen Geräten. In diesem Zusammenhang begleiten Sie Ihren Vorgesetzten, den Leiter der Medizintechnik, zu einer Abteilungsbesprechung der Gynäkologie, in der die Anschaffung von drei neuen Ultraschallgeräten diskutiert wird. Das Gespräch zwischen der Chefärztin, einem Assistenzarzt, zwei Pflegekräften und Ihrem Vorgesetzten läuft wie folgt ab: Assistenzarzt: „Frau Dr. Ludwig, könnten Sie uns noch etwas zum Stand der Anschaffung unserer neuen Ultraschallgeräte sagen?“ Chefärztin: „Natürlich, ich habe drei Geräte zur Auswahl gefunden und favorisiere auch schon ein Gerät. Vor meinem Anschaffungsvorschlag möchte ich aber natürlich noch Ihre Rückmeldung einholen.“ Pfleger: „Kann ich dazu gleich etwas sagen? Wir hatten in dieser Woche erneut Probleme mit der Übertragung der Patientendaten zum Verwaltungsrechner.

2 Nutzwertanalyse

7

Wir sollten unbedingt auf eine funktionierende Dokumentation der Patientenuntersuchungen über eine DICOM-Schnittstelle achten.“ Chefärztin: „Genau, das hatten wir ja neulich schon besprochen. Die Aufnahmen in 3D und 4D brauchen ja auch entsprechend mehr Speicherplatz als die 2D-Bilder. Werden die Videos denn weiterhin nachgefragt, Dr. Fuchs?“ Assistenzarzt: „Definitiv, ohne 3D- und 4D-Funktion in vernünftiger Bildqualität könnten wir auch bei unseren alten Geräten bleiben.“ Pflegerin: „Die Geräte mit besserer Bildqualität sind aber oft gleich viel größer. Wir sollten bedenken, dass wir die Geräte zwischen den Patientenzimmern hin- und herbewegen müssen.“ Chefärztin: „Das stimmt. Aber das war bei den Geräten, die wir bisher hatten, ja möglich.“ Pfleger: „Möglich schon, aufgrund der Gerätegröße nur sehr unpraktisch und zeitaufwändig.“ Pflegerin: „Abgesehen davon haben wir allerdings immer gute Erfahrungen mit den Geräten von Hersteller P gemacht, oder?“ Assistenzarzt: „Sie haben Recht. Da wir uns mit der Bedienung der Geräte von P auskennen, müssen wir uns z. B. um Einweisungen weniger Gedanken machen. Die damit verbundene Bedienungsfreundlichkeit ist aus meiner Sicht ein sehr großer Vorteil.“ Chefärztin: „Sehr gut. Das passt zu meinem favorisierten Gerät A.  Im Namen der Gynäkologie werde ich bei der Klinikleitung den Kauf von drei Geräten des Herstellers P beantragen. Meinem Anschaffungsvorschlag lege ich dann eine Kurzbeschreibung der Geräte bei. Damit lässt sich die Anschaffung ja gut begründen. Die Unterstützung der Medizintechnikabteilung wäre dabei natürlich hilfreich. Könnten wir von Ihnen möglichst zeitnah eine Rückmeldung bekommen?“ Nach dem Gespräch bittet Ihr Vorgesetzter Sie um Ihre Meinung – sowohl zum Verlauf des Gesprächs als auch zur Anschaffung der Ultraschallgeräte. Auf Basis Ihrer Gesprächsnotizen und der vorliegenden Gerätebeschreibungen der Chefärztin sollen Sie eines der folgenden drei Geräte zur Anschaffung empfehlen. Gerät A ist eines der neusten Modelle des bekannten Herstellers P, der die Gynäkologie mit ihren bisherigen Ultraschallgeräten ausgestattet hat. Es ist mit einem Preis von 20.000 € das teuerste Gerät, verfügt jedoch gleichzeitig über die größte Funktionalität. Es kann Aufnahmen in 3D und 4D erzeugen, speichern und über eine integrierte DICOM-­ Schnittstelle weiterleiten. Über DICOM (Digital Imaging and Communications in Medicine) können Patient∗inneninformationen und Ultraschallaufnahmen an andere Arbeitsplätze im Netzwerk gesendet werden. Der Hersteller garantiert eine Lieferzeit von einem Monat und bietet einen umfangreichen Servicevertrag. Zu diesem gehört neben der Durchführung der halbjährlichen Wartung eine Rufbereitschaft von 24 h für akute Störungen. Bei einer Bestellung von drei Geräten dieses Modells bietet der Hersteller der Klinik einen Rabatt in Höhe von 5 % an. Ein wesentlicher Nachteil dieses Ultraschallgeräts ist seine Größe, die den Transport erheblich einschränkt.

8

F. Gansen

Gerät B ist ein transportfähiges Gerät von Hersteller P. Es kann zwar 3D-Bilder, allerdings keine Videoaufnahmen erzeugen. Die Patient∗innendokumentation lässt sich nur per USB-Stick auf andere Arbeitsplätze übertragen. Für drei Geräte verlangt der Hersteller bei einer Lieferzeit von 3 Monaten 48.000 €. Die Serviceleistungen und der Wartungsumfang entsprechen denen von Gerät A. Gerät C ist von einem anderen Hersteller, sodass die Abteilung für dieses Gerät eine umfangreiche Einweisung benötigt. Das Gerät muss jährlich vom Hersteller gewartet werden. Zwar ist die Wartung ebenso wie die Reparatur bei Störungen im Servicevertrag eingeschlossen, allerdings erfordert beides eine telefonische Terminvereinbarung zu vorgegebenen Sprechzeiten. Die Qualität der 3D- und 4D-Aufnahmen ist sehr gut. Das Gerät ist außerdem transportfähig und verfügt über eine DICOM-Anbindung. Der Hersteller kann die Geräte für je 12.000 € in den nächsten 6 Monaten liefern.

2.3

Aufgaben

2.3.1 Gesprächsanalyse In Ihrer Rolle als Beobachter∗in hatten Sie keinen Einfluss auf den Ablauf der Besprechung. Wo sehen Sie im Hinblick auf das Gespräch und die Entscheidungsfindung Verbesserungspotenzial?

2.3.2 Nutzwertanalyse mit qualitativen Kriterien Um Ihrem Vorgesetzten eine Anschaffungsempfehlung zu geben, beschäftigen Sie sich zunächst mit den Anforderungen der Gynäkologie, die in der Besprechung genannt wurden. Sie entscheiden sich für eine Nutzwertanalyse, bei der Sie die drei alternativen Geräte anhand von qualitativen Kriterien bewerten. a) Beschreiben Sie in eigenen Worten, welche Vorteile eine Nutzwertanalyse bei einer solchen Entscheidungsfindung hat. b) Welche Eigenschaften müssen die Kriterien bei einer Nutzwertanalyse erfüllen? c) Welche drei Kriterien ergeben sich neben der Bedienungsfreundlichkeit bzw. dem Einweisungsumfang aus der Besprechung der Gynäkologie? d) Ergänzen Sie in Tab. 2.1 die drei Kriterien aus der Abteilungsbesprechung. Tragen Sie außerdem ein, welches Gerät die geforderten Kriterien erfüllt. e) Bestimmen Sie zunächst den Nutzwert für die verschiedenen Alternativen, wenn alle Kriterien das gleiche Gewicht erhalten. Welches Gerät maximiert den Nutzwert? f) Wie könnten Sie vorgehen, um die Kriterien entsprechend den Anforderungen der Gynäkologie zu gewichten? g) Sie entscheiden sich auf Basis der Äußerungen im Gespräch, die Bedienungsfreundlichkeit am stärksten zu gewichten. Ihrer Einschätzung nach ist die Bedienungsfreund-

2 Nutzwertanalyse

9

Tab. 2.1  Zu ergänzende Übersicht über die Kriterienerfüllung der Ultraschallgeräte

Gerät A Gerät B Gerät C

Kriterium 1 Bedienungsfreundlichkeit □ □ □

Kriterium 2 □ □ □

Kriterium 3 □ □ □

Kriterium 4 □ □ □

lichkeit für die Gynäkologie doppelt so wichtig wie jedes der anderen Kriterien. Gewichten Sie die Kriterien so, dass sich die Gewichte auf 1 summieren. h) Bestimmen Sie den Nutzwert für die verschiedenen Alternativen mit der gegebenen Kriteriengewichtung. Welches Gerät maximiert den Nutzwert? i) Würden Sie auf Basis dieser Nutzwertanalyse ein Gerät empfehlen? Begründen Sie Ihre Entscheidung.

2.3.3 Nutzwertanalyse mit quantitativen Kriterien Ihr Vorgesetzter ist mit Ihrer ersten Analyse zufrieden. Er gibt jedoch zu bedenken, dass aus Sicht der Klinikleitung weitere Kriterien für die Anschaffung von Ultraschallgeräten relevant sein könnten. In einem zweiten Schritt beziehen Sie daher zusätzliche Kriterien in Ihre Nutzwertanalyse ein und berücksichtigen dabei auch quantitative Daten. a) Welche zusätzlichen Kriterien können bei der Anschaffung von Ultraschallgeräten relevant sein? Nehmen Sie bei Ihrer Antwort sowohl die Perspektive der Gynäkologie als auch die der Klinikleitung ein. b) In Ihrer weiteren Analyse bewerten Sie neben den Anforderungen der Gynäkologie auch den Gesamtpreis, die Serviceleistungen des Herstellers, den Wartungsaufwand und die Lieferzeit. Wie lassen sich die Anforderungen der Gynäkologie in die weitere Analyse integrieren? c) Benennen Sie drei Möglichkeiten, um quantitative Daten in unterschiedlichen Einheiten (inkommensurable Größen) vergleichbar zu machen. d) Sie entscheiden sich für die Vergabe von Punkten, bei der jedes Gerät für jedes Kriterium je nach Erfüllungsgrad eine Punktzahl von 0 bis 10 erhält. Um die Anforderungen der Gynäkologie zu berücksichtigen, führen Sie ein neues Kriterium ein, mit dem Sie bewerten, wie gut jedes Gerät die Anforderungen der Gynäkologie erfüllt. Vergeben Sie für jedes der drei Geräte für die Kriterien Anforderungserfüllung und Preis eine nachvollziehbare Punktzahl. (Hinweis: Ordnen Sie einem Einzelpreis von 10.000  € den Punktwert 10, einem Preis von 20.000 € den Punktwert 0 zu.) e) Führen Sie nun die Bewertung für alle Kriterien durch und fassen Sie diese in einer tabellarischen Übersicht zusammen. Für die Bewertung der Kriterien Serviceleistungen, Wartungsaufwand und Lieferzeit liegen Ihnen die Informationen aus Tab. 2.2 vor. f) Das Kriterium Anforderungserfüllung erhält eine Gewichtung von 0,4. Das Kriterium Preis erhält als Gewicht die Summe der Gewichte der übrigen Kriterien. Die Kriterien

10

F. Gansen

Tab. 2.2  Punktevergabe für die Kriterien Serviceleistungen, Wartungsaufwand und Lieferzeit Serviceleistungen Wartungsaufwand Lieferzeit

0 Punkte keine Angabe > 2x pro Jahr > 3 Monate

5 Punkte Terminvereinbarung 2x pro Jahr 3 Monate

10 Punkte 24 h Rufbereitschaft < 2x pro Jahr < 3 Monate

Serviceleistungen, Wartungsaufwand und Lieferzeit werden gleich gewichtet. Ergänzen Sie in Ihrer Tabelle die Gewichtungen der Kriterien, die sich insgesamt auf 1 summieren. g) Bestimmen Sie die Alternative mit dem maximalen Nutzwert. h) Formulieren Sie eine Empfehlung für Ihren Vorgesetzten, in der Sie Ihre Entscheidungsfindung kurz zusammenfassen.

2.3.4 Kritische Reflexion a) Vergleichen Sie die beiden Verfahren, die Sie in den Abschn. 2.3.2 und 2.3.3 angewendet haben, und benennen Sie Vor- und Nachteile. b) Worauf ist im Umgang mit dem Ergebnis einer Nutzwertanalyse zu achten? Beziehen Sie sich bei Ihrer Antwort auf die Limitationen der durchgeführten Nutzwertanalyse.

2.4

Lösungsvorschläge

2.4.1 Gesprächsanalyse Bei der Besprechung und Entscheidungsfindung lässt sich folgendes Verbesserungspotenzial erkennen: • Die Besprechung hat keine klare Struktur. • Die Vorschläge der Teilnehmer werden zur Kenntnis genommen, aber nicht ausdrücklich gesammelt oder sortiert. • Die Chefärztin macht bereits zu Beginn deutlich, dass sie eines der Geräte favorisiert. Es bleibt unklar, ob Äußerungen der Teilnehmmenden tatsächlich berücksichtigt werden. • Es erfolgt keine nachvollziehbare Entscheidungsfindung der Chefärztin. Insgesamt könnte die Entscheidungsfindung mithilfe einer Nutzwertanalyse verbessert werden.

2.4.2 Nutzwertanalyse mit qualitativen Kriterien a) Die Nutzwertanalyse ermöglicht eine transparente und nachvollziehbare Entscheidung. Darüber hinaus wird die Entscheidungsfindung dokumentiert.

2 Nutzwertanalyse

11

b) Die Kriterien einer Nutzwertanalyse müssen disjunkt, d. h. überschneidungsfrei sein, damit keine Mehrfachbewertungen auftreten. Darüber hinaus müssen die Kriterien relevant für die Bewertung der Alternativen, voneinander unabhängig und bewertbar sein. Während die Kriterien das Problem vollständig umfassen sollten, dürfen sie eine handhabbare Anzahl nicht überschreiten. c) Weitere Kriterien, die sich aus der Besprechung der Gynäkologie ergeben, sind die Möglichkeit von 3D- und 4D-Aufnahmen, die Dokumentation der Ultraschallaufnahmen über eine DICOM-Schnittstelle und die Transportfähigkeit des Geräts. d) Die Bewertung der qualitativen Kriterien für die drei Ultraschallgeräte ist in Tab. 2.3 dargestellt. e) Zur Ermittlung der Nutzwerte bei gleicher Gewichtung wird der Erfüllung eines Kriteriums der Wert 1 und der Nichterfüllung eines Kriteriums der Wert 0 zugeordnet. Da alle Kriterien das gleiche Gewicht bekommen (formal 0,25), wird hier die Summe der erfüllten Kriterien gebildet, um den Nutzwert zu ermitteln. Die Gewichtung jedes Kriteriums mit 0,25 ändert die abschließende Reihenfolge der Geräte nicht. Die berechneten Nutzwerte sind in Tab. 2.4 dargestellt. Keines der Geräte maximiert den Nutzwert, weil für zwei der Alternativen jeweils drei der Kriterien erfüllt sind. f) Um die Kriterien entsprechend der Anforderungen der Gynäkologie zu gewichten, wäre es notwendig, die Einschätzung der beteiligten Personen einzuholen. Konkret ließe sich die Gewichtung z. B. im Rahmen einer Gruppendiskussion der Abteilung durchführen. Mit dem Gewicht eines Kriteriums wird die relative Bedeutung einer Änderung vom unteren zum oberen Ende der für dieses Kriterium gewählten Skala a­ usgedrückt. Gewichte lassen sich z. B. bestimmen, indem nacheinander ermittelt wird, wie wichtig diese Änderung der Gruppe der beteiligten Personen für jedes Kriterium ist. Tab. 2.3  Bewertung der qualitativen Kriterien für die Ultraschallgeräte Kriterium 1 Bedienungsfreundlichkeit Gerät A  Gerät B  Gerät C 

Kriterium 2 3D- und 4D-Aufnahmen   

Kriterium 3 Dokumentation über DICOM   

Kriterium 4 Transportfähigkeit   

Tab. 2.4  Nutzwerte bei gleicher Gewichtung der qualitativen Kriterien Kriterium 1 Bedienungsfreundlichkeit Gerät A 1 Gerät B 1 Gerät C 0

Kriterium 2 3D- und 4D-Aufnahmen 1 0 1

Kriterium 3 Dokumentation über DICOM 1 0 1

Kriterium 4 Transportfähigkeit 0 1 1

∑ 3 2 3

12

F. Gansen

Tab. 2.5  Gewichte für die qualitativen Kriterien

Gewicht Gerät A Gerät B Gerät C

Kriterium 1 Bedienungsfreundlichkeit 0,4 1 1 0

Kriterium 2 3D- und 4D-Aufnahmen 0,2 1 0 1

Kriterium 3 Dokumentation über DICOM 0,2 1 0 1

Kriterium 4 Transportfähigkeit 0,2 0 1 1

g) Die berechneten Gewichte für die vier qualitativen Kriterien zeigt Tab. 2.5. Die Bedienungsfreundlichkeit ist mit einem Gewicht von 0,4 doppelt so wichtig wie die anderen Kriterien. Insgesamt addieren sich die Gewichte auf 1: 0,4 + 0,2 + 0,2 + 0,2 = 1. h) Die berechneten Nutzwerte mit Gewichtung sind in Tab. 2.6 dargestellt. Gerät A maximiert den Nutzwert mit einem Wert von 0,8, weil es zusätzlich zum relativ höher gewichteten Kriterium Bedienungsfreundlichkeit zwei weitere Kriterien erfüllt. i) Eine Empfehlung allein auf Basis der unvollständigen Anforderungen der Gynäkologie ist nicht sinnvoll, da bspw. der Preis der Geräte keine Berücksichtigung findet.

2.4.3 Nutzwertanalyse mit quantitativen Kriterien a) Aus Perspektive der Gynäkologie könnten z.  B. folgende weitere Kriterien relevant sein: • Kompatibilität mit vorhandenen Geräten (z.  B.  Anschlussmöglichkeit für bereits vorhandene Ultraschallsonden) • Möglichkeit einer Probestellung vor Ort • Lieferumfang (z. B. Anzahl und Art der mitgelieferten Sonden) • weitere Funktionen (z. B. Eindringtiefe, Farb-Doppler) Aus Perspektive der Klinikleitung könnten z. B. folgende weitere Kriterien relevant sein: • Preis und Rabatte beim Hersteller • Wartungsaufwand • Umfang des Servicevertrags (z. B. Ersatzgeräte während einer Reparatur) • Einheitlichkeit des Geräteparks b) Die Kriterien der Gynäkologie können z. B. einzeln oder als ein Sammelkriterium in die weitere Bewertung aufgenommen werden. Alternativ wäre es z. B. möglich, Gerät B von der weiteren Analyse auszuschließen, da es nur zwei der vier Kriterien erfüllt. Nachfolgend verwenden Sie ein Sammelkriterium, mit dem Sie bewerten, wie gut die Anforderungen der Gynäkologie von den drei Geräten erfüllt werden. Hierzu nutzen Sie die bereits durchgeführte Nutwertanalyse und die Nutzwerte aus Abschn. 2.3.2 h). c) Um inkommensurable Größen vergleichbar zu machen, können folgende Möglichkeiten genutzt werden:

Gewicht Gerät A Gerät B Gerät C

Kriterium 1 Bedienungsfreundlichkeit 0,4 1 1 0

Kriterium 2 3D- und 4D-Aufnahmen 0,2 1 0 1

Kriterium 3 Dokumentation über DICOM 0,2 1 0 1

Tab. 2.6  Nutzwerte bei unterschiedlicher Gewichtung der qualitativen Kriterien Kriterium 4 Transportfähigkeit 0,2 0 1 1

0,8 0,6 0,6

Nutzwert

2 Nutzwertanalyse 13

14

d)

e) f)

g)

h)

F. Gansen

• Bildung einer Rangfolge (z. B. Rang 3 für erfüllt das Kriterium am besten, Rang 1 für erfüllt das Kriterium am schlechtesten) • Vergabe von Punkten (z. B. 10 Punkte, wenn das Kriterium voll erfüllt ist und 0 Punkte, wenn das Kriterium nicht erfüllt ist) • Bildung von Verhältniszahlen (z. B. 1 Monat Lieferzeit entspricht dem Kriterium am besten und wird = 1 = 100 % gesetzt. Im Verhältnis dazu erfüllt die Wartezeit von 10 Monaten das Kriterium nur zu 1/10 = 0,1 = 10 %.) Kriterium Anforderungserfüllung: Um das Verhältnis der Anforderungserfüllung zwischen den Geräten beizubehalten, werden die Nutzwerte aus Abschn. 2.3.2 h) jeweils mit dem Faktor 10 multipliziert. Damit erhält Gerät A einen Punktwert von 8 und Geräte B und C jeweils den Punktwert 6. Kriterium Preis: Gerät A kostet mit einem Rabatt von 5 % 19.000 €. Gerät B kostet 16.000 € (48.000/3) und Gerät C 12.000 €. Die Zuordnung von Preisen zu Punktwerten zeigt Tab. 2.7. Damit erhält Gerät A eine Punktzahl von 1, Gerät B erhält 4 und Gerät C 8 Punkte. Die Bewertung der fünf quantitativen Kriterien ist in Tab. 2.8 dargestellt. Tab. 2.9 zeigt die berechneten Gewichte für die fünf quantitativen Kriterien. Da das Kriterium Anforderungserfüllung bzw. Anforderungen ein Gewicht von 0,4 hat, verbleibt ein Gewicht von 0,6 für die anderen Kriterien. Damit ergibt sich für die Kriterien Serviceleistungen, Wartungsaufwand und Lieferzeit ein Gewicht von 0,6 = 3x + x + x + x ⇔ x = 0,1. Das Kriterium Preis erhält damit ein Gewicht von 0,1 + 0,1 + 0,1 = 0,3. Die Nutzwerte der drei Ultraschallgeräte auf Basis der durchgeführten Gewichtung und Bewertung der Kriterien zeigt Tab. 2.10. Gerät C hat mit einem Wert von 6,3 den höchsten Nutzwert und kann damit zur Anschaffung empfohlen werden. Auf Basis einer zweistufigen Nutzwertanalyse wird die Anschaffung von Gerät C empfohlen. In der ersten Stufe der Analyse wurden die Anforderungen der Abteilung Gynäkologie einbezogen: Bedienungsfreundlichkeit, Bildqualität, Dokumentation und Transportfähigkeit. Im nächsten Schritt wurden zusätzlich die Kriterien Preis, Serviceleistungen des Herstellers, Wartungsaufwand und Lieferzeit berücksichtigt. Der Erfüllung der Anforderungen der Gynäkologie wurde dabei das größte Gewicht gegeben. Im Ergebnis hatte Ultraschallgerät C den höchsten Nutzwert, gefolgt von Gerät A mit dem zweithöchsten und Gerät B mit dem niedrigsten Nutzwert.

2.4.4 Kritische Reflexion a) In Abschn.  2.3.2 wurden ausschließlich qualitative Kriterien in die Nutwertanalyse einbezogen, die entweder mit erfüllt oder nicht erfüllt bewertet wurden. Abschn. 2.3.3 stellt eine umfassendere Analyse dar, in der auch quantitative Kriterien berücksichtigt wurden. Grundsätzlich bietet der Einbezug von quantitativen Daten den Vorteil einer differenzierteren Analyse. Durch die Verwendung quantitativer Daten lässt sich außerdem der subjektive Einfluss auf das Ergebnis reduzieren. Dieser wird jedoch nicht

Punkte Preis

0 20.000 €

1 19.000 €

2 18.000 €

3 17.000 €

Tab. 2.7  Berechnung der Punktevergabe im Kriterium Preis 4 16.000 €

5 15.000 €

6 14.000 €

7 13.000 €

8 12.000 €

9 11.000 €

10 10.000 €

2 Nutzwertanalyse 15

16

F. Gansen

Tab. 2.8  Bewertung der quantitativen Kriterien

Gerät A Gerät B Gerät C

Kriterium 1 Anforderungen 8 6 6

Kriterium 2 Preis 1 4 8

Kriterium 3 Serviceleistungen 10 10 5

Kriterium 4 Wartungsaufwand 5 5 10

Kriterium 5 Lieferzeit 10 5 0

Kriterium 4 Wartungsaufwand 0,1 5 5 10

Kriterium 5 Lieferzeit 0,1 10 5 0

Tab. 2.9  Gewichte für die quantitativen Kriterien

Gewicht Gerät A Gerät B Gerät C

Kriterium 1 Anforderungen 0,4 8 6 6

Kriterium 2 Preis 0,3 1 4 8

Kriterium 3 Serviceleistungen 0,1 10 10 5

Tab. 2.10  Bestimmung der Nutzwerte auf Basis quantitativer Kriterien

Gewicht Gerät A Gerät B Gerät C

Kriterium 1 Anforderungen 0,4 8 6 6

Kriterium 2 Preis 0,3 1 4 8

Kriterium 3 Serviceleistungen 0,1 10 10 5

Kriterium 4 Wartungsaufwand 0,1 5 5 10

Kriterium 5 Lieferzeit 0,1 10 5 0

Nutzwert 6 5,6 6,3

beseitigt, da auch die Wahl der Gewichte und die verwendete Skala (s. Abschn. 2.3.3 c)) für das Ergebnis entscheidend sind. Ein weiterer Nachteil ist folglich die Scheingenauigkeit, die durch die Verwendung von Zahlenwerten erzeugt wird. b ) Bei der Nutzwertanalyse handelt es sich um ein Instrument zur Entscheidungsunterstützung. Die Ergebnisse einer solchen Analyse können folglich herangezogen werden, um komplexe Entscheidungen durch eine strukturierte und transparente Herangehensweise zu unterstützen, sollten aber kritisch reflektiert werden. Im konkreten Fall wurde die Nutzwertanalyse auf Basis eines unstrukturierten Gesprächs und Produktbeschreibungen von nur einer Person durchgeführt. Für ein fundiertes Ergebnis wäre es wichtig, die für die Entscheidung relevanten Parteien in den MCDA-­Prozess einzubeziehen, um z. B. Gewichte und Skalen für die Kriterien festzulegen. So ist es möglich, dass die als wichtiges Kriterium identifizierte Bedienungsfreundlichkeit für die Abteilung ein Ausschlusskriterium ist und kein Gerät eines anderen Herstellers angeschafft würde. Das Ergebnis einer Nutzwertanalyse hängt folglich stark von der Qualität der zur Verfügung stehenden Daten, z. B. in Bezug auf die Kriterienerfüllung, sowie vom Vorgehen bei der Durchführung ab. Um einschätzen zu können,

2 Nutzwertanalyse

17

wie sich Unsicherheiten auf das Ergebnis auswirken, empfiehlt sich die Durchführung einer Unsicherheitsanalyse z. B. in Form einer Sensitivitäts- oder Szenarioanalyse. Ergänzend ist zu überlegen, inwieweit der Aufwand für die präzise Durchführung von MCDA mit allen relevanten Kriterien und angemessener Berücksichtigung der Unsicherheit tatsächlich durch den Nutzen verbesserter Entscheidungsfindung gerechtfertigt ist – häufig müssen Vereinfachungen gemacht werden. Anstelle eines Algorithmus, dessen Ergebnisse 1:1 anzuwenden sind, mag es häufig angebrachter sein, die Ergebnisse einer Nutzwertanalyse als Input in einen Abwägungsprozess der betroffenen Stakeholder zu betrachten.

Literatur BALTUSSEN, R. & NIESSEN, L. (2006): Priority setting of health interventions: the need for multi-­criteria decision analysis. Cost Effectiveness and Resource Allocation, 4:14. BELTON, V. & STEWART, T. (2002): Multiple Criteria Decision Analysis: An Integrated Approach. Springer US. MARSH, k., GOETGHEBEUR, M., THOKALA, p. & BALTUSSEN, R. (2017): Multi-Criteria Decision Analysis to Support Healthcare Decisions. Springer International Publishing. THOKALA, P., DEVLIN, N., MARSH, K., BALTUSSEN, R., BOYSEN, M., KALO, Z., LONGRENN, T., MUSSEN, F., PEACOCK, S., WATKINS, J. & IJZERMAN, M. (2016): Multiple Criteria Decision Analysis for Health Care Decision Making – An Introduction: Report 1 of the ISPOR MCDA Emerging Good Practices Task Force. Value in Health, 19:1, 1–13.

3

Positive & normative Entscheidungsanalyse Fabia Gansen

Zusammenfassung

Diese Fallstudie gibt eine Einführung in die normative und positive Entscheidungstheorie. Auf Basis einer Investitionsentscheidung zum Ausbau einer Augenklinik werden im Rahmen der positiven Entscheidungsanalyse zunächst mögliche Ursachen von Fehl­ entscheidungen thematisiert. Im Anschluss wird die normative Entscheidungstheorie in Form von Entscheidungen bei Sicherheit, unter Risiko und bei Unsicherheit behandelt. Hierzu werden drei Alternativen für den Ausbau der Augenklinik anhand des zu erwartenden jährlichen Gewinns bewertet. Bei der Entscheidung unter Risiko werden für bekannte Eintrittswahrscheinlichkeiten der drei Umweltzustände mit unterschiedlich hohen Fördermittelanteilen zur Investition die Entscheidungen nach der μ-Regel, der (μ, σ)-Regel und dem Bernoulli-Prinzip getroffen. Abschließend werden für den Fall unbekannter Eintrittswahrscheinlichkeiten der Umweltzustände die Entscheidungsregeln bei Unsicherheit angewendet. Hierzu zählen die Laplace-, Minimax-, Maximax-, Hurwicz- und die Savage-Niehans-Regel.

3.1

Hintergrund

Die Entscheidungsfindung stellt eine wichtige Führungsaufgabe dar, die in jedem Gesundheitsbetrieb an der Tagesordnung ist. Nachfolgend werden zunächst ausgewählte Grundlagen der normativen und positiven Entscheidungstheorie dargestellt und anhand des Beispiels einer Investitionsentscheidung in einem Krankenhaus erläutert.

F. Gansen (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_3

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Bei der normativen Entscheidungstheorie wird rationales Handeln nach dem Modell des homo oeconomicus vorausgesetzt (vgl. Langer und Rogowski 2009, S. 179). Der/Die Entscheidungsträger∗in entscheidet sich auf Basis der Unternehmensziele und angesichts des möglichen Eintretens verschiedener Umweltzustände für die beste Handlungsalternative. Diese lässt sich mithilfe von Entscheidungsregeln ermitteln, die unter anderem durch die Risikoneigung des/der Entscheidenden bestimmt sind. In Abhängigkeit des Informationsstands kann sich der/die Entscheider∗in in einer von drei Entscheidungssituationen befinden. Bei sicheren Erwartungen hat der/die Entscheidungsträger∗in vollkommene Information über die Konsequenzen seines/ihres Handelns und kennt bspw. den erwarteten Gewinn jeder Handlungsalternative. Bei mehreren möglichen Umweltzuständen, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten bekannt sind, handelt es sich um eine Entscheidung unter Risiko. In diesem Fall kann man zur Entscheidungsfindung die μ-Regel, die (μ, σ)-Regel oder das Bernoulli-Prinzip anwenden. Bei der μ-Regel wird sich für die Alternative mit dem höchsten Erwartungswert entschieden. Die (μ, σ)-Regel berücksichtigt im sog. Präferenzwert sowohl Erwartungswert als auch Standardabweichung und bevorzugt die Handlungsalternative mit dem höchsten Präferenzwert. Nach dem Bernoulli-Prinzip werden im ersten Schritt Nutzenäquivalente aus einer Bernoulli-Nutzenfunktion bestimmt, um dann die Alternative mit dem höchsten Erwartungswert der Nutzenäquivalente zu wählen. In der Entscheidung bei Unsicherheit sind die Eintrittswahrscheinlichkeiten der Umweltzustände unbekannt. Hierfür werden nachfolgend fünf Entscheidungsregeln vorgestellt. Bei der Laplace-Regel nimmt der/die Entscheidungsträger∗in an, dass die Eintrittswahrscheinlichkeiten der Umweltzustände gleich groß sind und wählt die Alternative mit dem höchsten Erwartungswert. Nach der Minimax-Regel entscheidet sich der/die Entscheider∗in für die Alternative, deren schlechtester Ergebniswert am höchsten ist. Die Maximax-Regel bevorzugt die Alternative mit dem höchstmöglichen Ergebniswert. Die Hurwicz-Regel kombiniert die Minimax- und Maximax-Regel durch die Berechnung des sog. Hurwicz-Werts. Hierbei wird sich für die Alternative entschieden, die den Hurwicz-­ Wert maximiert. Bei Anwendung der Savage-Niehans-Regel entscheidet sich der/die Entscheidende für die Handlungsalternative mit dem kleinsten Bedauern. Als Bedauern wird dabei die Differenz zwischen dem bestmöglichen Ergebnis eines Umweltzustands und dem im Vergleich dazu schlechtesten Einzelergebnis einer Alternative bezeichnet (vgl. Wöhe und Döring 2013, S. 90 ff.). Die positive Entscheidungstheorie thematisiert, wie Entscheidungen in der Realität tatsächlich getroffen werden. Der Fokus dieser Einführung liegt dabei auf den Ursachen für Fehlentscheidungen, die kognitiv, emotional oder physiologisch bedingt sein können. Kognitive Verzerrungen in Entscheidungen können bspw. auf eine selektive Informationssuche, eine fehlerhafte Informationsbewertung oder Fehler in der Informationsverarbeitung zurückzuführen sein (vgl. Riesenhuber 2006, S. 70 ff.). Emotionale Verzerrungen können unter anderem durch den Informations- oder Gedächtniseffekt von Emotionen entstehen (vgl. Riesenhuber 2006, S.  103  ff.). Auch physiologische Faktoren wie

3  Positive & normative Entscheidungsanalyse

21

­ chlafmangel, körperliche Belastungen oder Umwelteinflüsse können Entscheidungen S beeinflussen und Fehlentscheidungen verursachen (vgl. Riesenhuber 2006, S. 117 ff.). Ein Überblick über die nachfolgend angewendeten Entscheidungsregeln findet sich bei Wöhe und Döring (2013) sowie im zugehörigen Übungsbuch (Wöhe et al. 2013). Zur positiven Entscheidungstheorie und zu Fehlentscheidungen wird Riesenhuber (2006) empfohlen.

3.2

 allstudie: Ausbau der Augenklinik – eine gute F Entscheidung?

„Liebe Kolleginnen und Kollegen der Augenklinik des St. Martin Krankenhauses, ich freue mich sehr, heute Morgen endlich offiziell als Ihr neuer Chefarzt vor Ihnen stehen zu dürfen. Da ich nach der Verabschiedung von Prof. Henze in den Ruhestand nun schon seit einigen Wochen als Chefarzt tätig bin, möchte ich die heutige Begrüßung nutzen, um Ihnen meine Pläne für den Ausbau unserer Abteilung vorzustellen. Bevor ich damit beginne, eine kurze persönliche Info vorab: Ich bin über meinen Start mindestens genauso aufgeregt wie Sie – so sehr, dass ich in den letzten Wochen kaum ein Auge zumachen konnte. Gleichzeitig bin ich begeistert und starte diese Aufgabe mit viel Elan. Ich hoffe sehr, Sie mit meiner Begeiste­ rung anstecken zu können, und freue mich darauf, zusammen mit Ihnen die Gestaltung unse­ rer gemeinsamen Zukunft in die Hand zu nehmen. Ich habe schon einige Krankenhäuser gesehen in meiner bisherigen Laufbahn und dabei wichtige Ausbauentscheidungen miterlebt. Doch nun habe ich das Gefühl: Hier, im St. Martin Krankenhaus, schließt sich der Kreis. Ich fühle mich wieder wie ganz am Anfang. Die Auf­ bruchatmosphäre, die hier herrscht, erinnert mich sehr an meine allerersten Tage als Arzt damals im Johannes Klinikum, wo zeitgleich ebenfalls ein großes Erweiterungsprojekt ge­ plant wurde. Und Sie haben ja aus den Medien entnehmen können, wie erfolgreich dieser Ausbau letztlich war. Bei ganz vielen Detailfragen – z. B. der Diskussion zur Bettenbelegung oder den Bedarfsprognosen – muss ich immer wieder an das Johannes Klinikum denken. Ich bin überzeugt, dass wir diesen Erfolg noch weit übertreffen werden. Viele von Ihnen haben mitbekommen, dass ich meinem Vorgänger bereits vor einigen Mo­ naten Pläne für den Ausbau unserer Klinik vorgestellt habe. Konkret gibt es zwei verschie­ dene Ausbauoptionen, die durch den Bau eines zweiten Operationssaals und zusätzliche Pa­ tient∗innenzimmer zu einer erheblichen Vergrößerung unserer Kapazitäten führen würden. Mit dem erweiterten Ausbaukonzept hätten wir im Vergleich zum Basiskonzept darüber hi­ naus die Möglichkeit, unsere Einnahmen durch das Angebot von komplexeren Behandlungs­ methoden zu erhöhen. Damit lassen sich die etwas höheren Investitionskosten sehr schnell wieder ausgleichen. Die von Prof. Henze präferierte dritte Option – nichts zu tun – ist aus meiner Sicht nicht länger eine ernstzunehmende Alternative. Dass das St. Martin Krankenhaus hier den großen Schritt wagen sollte, war gleich meine Intuition – selbstverständlich habe ich bezüglich der Pläne aber auch intensive Recherchen betrieben. Ein gutes Vorbild ist sicher die erfolgreiche Erweiterung der Kardiologie unseres Partnerkrankenhauses im Stadtzentrum, bei dem die Fallzahlen durch den Ausbau mehr als verdoppelt werden konnten. Dass unsere eigene Kardiologie kurz zuvor aus diversen Grün­ den schließen musste, macht den positiven Effekt einer Abteilungserweiterung umso deutli­ cher. Auf dieser Basis gehe ich davon aus, dass wir unsere Fallzahlen durch den Ausbau ver­ doppeln und damit die derzeitigen Gewinne erheblich steigern können. In diesem Sinne hoffe

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F. Gansen ich, dass Sie meine Begeisterung teilen und mich in den kommenden Wochen und Monaten bei der Realisierung des erweiterten Ausbaus unterstützen. Ich freue mich natürlich auch in allen anderen Bereichen auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Vielen Dank.“

Mit diesen Worten begrüßt Dr. Jacobs, der junge und sehr ambitionierte Chefarzt der Augenklinik, seine Mitarbeiter∗innen im gemeinnützigen Krankenhaus St. Martin. Sie sind im strategischen Controlling tätig und mit der Beratung der Projektbeteiligten zum Ausbau der Augenklinik beauftragt. In dieser Funktion nehmen Sie auch an der Begrüßungsveranstaltung teil.

3.3

Aufgaben

3.3.1 Positive Entscheidungstheorie Sehen Sie bei der Entscheidung von Dr. Jacobs für den erweiterten Klinikausbau mögliche Verzerrungen und Ursachen für eine Fehlentscheidung? Falls ja, worin bestehen sie?

3.3.2 Entscheidung bei Sicherheit Wenige Tage später treffen Sie sich mit Dr. Jacobs, um das Meeting mit der Klinikleitung zum Ausbauprojekt vorzubereiten. Bereits im Vorfeld haben Sie Dr. Jacobs gebeten, Ihnen dabei seine Entscheidungsfindung näher zu erläutern. Dr. Jacobs präsentiert Ihnen dazu die drei Alternativen sowie die erwarteten Fallzahl- und Gewinnentwicklungen. Er zeigt Ihnen Tab. 3.1 und empfiehlt auf dieser Basis, entsprechend seiner Begrüßungsansprache, den erweiterten Ausbau (Alternative A3). a) Zeigen Sie rechnerisch, wie Dr. Jacobs zu seiner Entscheidung gekommen ist, indem Sie den jährlichen Gewinn berechnen. Berücksichtigen Sie dabei die anteiligen Anschaffungskosten (AK) pro Jahr abzüglich des Fördermittelanteils. Tab. 3.1  Übersicht über die Fallzahlen, Erlöse und Kosten der verschiedenen Ausbaualternativen

Ø Fallzahl pro Jahr Ø Kosten pro Fall Ø Erlöse pro Fall Anschaffungskosten (AK) Nutzungsdauer Fördermittelanteil an AK

Alternative A1 kein Ausbau 500 2000 2100 0 €

Alternative A2 Basisausbau 1000 2000 2100 750.000 €

Alternative A3 erweiterter Ausbau 1000 2050 2200 1.850.000 €

– –

10 Jahre 80 %

10 Jahre 80 %

3  Positive & normative Entscheidungsanalyse

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b) Inwiefern lässt sich die Entscheidung von Dr. Jacobs als Entscheidung bei Sicherheit einordnen? c) An welcher Stelle erkennen Sie mögliche Faktoren, die Einfluss auf den aus Sicht von Dr. Jacobs sicheren Gewinn haben könnten?

3.3.3 Entscheidung unter Risiko Zunächst versichert Ihnen Dr. Jacobs, dass er sich absolut sicher sei, dass die von ihm dargelegten Zahlen korrekt seien. Zwar sei der Ausbau – wie jede Investition – mit einem gewissen Risiko verbunden; dieses sei es aber zum einen überschaubar und zum anderen sei die Investition das Risiko auf jeden Fall wert. Da Sie in Ihrer Position insbesondere auch zukünftige Entwicklungen berücksichtigen müssen, geben Sie sich mit dieser Aussage nicht zufrieden. Auf nähere Nachfrage gibt Dr. Jacobs zu, dass vor allem der Fördermittelanteil, mit dem sich das Land an den Anschaffungskosten beteiligt, risikobehaftet ist. Auf Basis seiner früheren Tätigkeit hat Dr. Jacobs Erfahrungswerte zur Förderhöhe. Er geht von den in Tab. 3.2 dargestellten Eintrittswahrscheinlichkeiten aus. a) Bestimmen Sie den erwarteten jährlichen Gewinn der drei Alternativen für den Fall, dass der Fördermittelanteil 50 % beträgt (Umweltzustand U2), und für den Fall, dass der Fördermittelanteil 20 % beträgt (Umweltzustand U3). Nutzen Sie für Ihre Ergebnisse Tab. 3.3. b) Zunächst treffen Sie ohne Berücksichtigung der Risikoneigung von Dr. Jacobs eine Entscheidung aus risikoneutraler Perspektive und wenden dazu die μ-Regel an. Für welche Alternative entscheiden Sie sich nach dieser Regel? c) Wenden Sie nun die (μ, σ)-Regel unter Einbezug der Risikoeinstellung von Dr. Jacobs an. Die Formel für den Präferenzwert lautet: P(Ai) = μ(Ai) + q × σ(Ai). Der Betrag des Risikopräferenzfaktors q sei 0,7. Bestimmen Sie die bevorzugte Alternative und begründen Sie Ihre Wahl für das Vorzeichen von q. Tab. 3.2  Fördermittelanteile und Eintrittswahrscheinlichkeiten der Umweltzustände

Fördermittelanteil 80 % 50 % 20 %

Wahrscheinlichkeit 0,5 0,2 0,3

Umweltzustand U1 U2 U3

Tab. 3.3  Mit den erwarteten jährlichen Gewinnen zu füllende Übersicht U1 Förderanteil 80 % A1 A2 A3

U2 Förderanteil 50 %

U3 Förderanteil 20 %

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F. Gansen

d) Ab welchem Wert für den Risikopräferenzfaktor q wäre das Ergebnis aus 3.3.3 c) nicht mehr die bevorzugte Alternative? e) Die Risikoneigung von Dr. Jacobs lässt sich auch mithilfe einer Nutzenfunktion und der Anwendung des Bernoulli-Prinzips in die Entscheidungsanalyse einbeziehen. Nehmen Sie als Nutzenfunktion u(ei) = ei2 an. Welche Alternative ist bei Anwendung des Bernoulli-Prinzips vorzuziehen? f) Würden Sie sich auf Basis Ihrer Berechnungen den Ausbauplänen von Dr. Jacobs anschließen?

3.3.4 Entscheidung bei Unsicherheit Gemeinsam mit Dr. Jacobs nehmen Sie am Meeting teil, in dem über die Zukunft der Augenklinik entschieden werden soll. Als Vertretung der Klinikleitung ist der langjährige Geschäftsführer Herr Heinrich anwesend. Dr. Jacobs beginnt mit seiner Präsentation, die er um die Wahrscheinlichkeiten aus Tab. 3.2 und die Berechnung nach der (μ, σ)-Regel ergänzt hat. Noch bevor er sein Ergebnis vorstellen kann, unterbricht Herr Heinrich die Präsentation und kritisiert die von Dr. Jacobs festgelegten Wahrscheinlichkeiten. In den letzten Jahren sei die Investitionsförderung der Länder äußerst unsicher und mit großen Schwankungen verbunden gewesen. Die Wahrscheinlichkeiten für einzelne Fördermittelraten seien folglich unbekannt und eine Stützung darauf unsinnig. Darüber hinaus sei ihm die Risikobereitschaft von Dr. Jacobs – und dessen Beteiligung an der misslungenen Investition seines vorherigen Arbeitgebers  – durchaus bekannt. Bei der Planung einer so großen Investition sollte die Zukunftsfähigkeit des Hauses bedacht und daher kein allzu großes Risiko eingegangen werden. Schließlich sei das gemeinnützige Krankenhaus zum Teil spendenfinanziert. Das Vertrauen der Spender∗innen sollte nicht für unnötig riskante Investitionsprojekte missbraucht werden. a) Gehen Sie nachfolgend davon aus, dass die Wahrscheinlichkeiten für die drei Umweltzustände unbekannt sind. Mithilfe welcher Regel können Sie die Risikoneigung von Herrn Heinrich abbilden? b) Welche Annahme liegt der Laplace-Regel zugrunde? Welche Alternative würden Sie auf Basis der Laplace-Regel empfehlen? c) Welche Alternative ist nach der Minimax-Regel zu wählen? d) Welche Empfehlung würden Sie auf Basis der Maximax-Regel abgeben? e) Erklären Sie die Bezeichnung Pessimismus-Optimismus-Regel für die Hurwicz-Regel. Die Formel für den Hurwicz-Wert lautet: Hu(Ai) = min(Ai) × (1-λ) + max(Ai) × λ f) Setzen Sie den sogenannten Risikoparameter λ gleich 0,2 und bestimmen Sie die präferierte Alternative. g) Beschreiben Sie die Regel des kleinsten Bedauerns und treffen Sie eine Entscheidung auf Basis der Savage-Niehans-Regel. h) Welche Empfehlung würden Sie in Anbetracht der verschiedenen Risikoeinstellungen von Dr. Jacobs und der Klinikleitung abgeben? Begründen Sie Ihre Entscheidung.

3  Positive & normative Entscheidungsanalyse

3.4

25

Lösungsvorschläge

3.4.1 Positive Entscheidungstheorie Kognitive Verzerrungen: • Die Entscheidung von Dr. Jacobs könnte durch eine selektive Informationssuche ver­ zerrt sein, in der er seine erste, intuitive Einschätzung eher selektiv bestätigt als objek­ tiv hinterfragt hat. Er erwähnt zwar eine intensive Recherche, beschreibt diese aller­ dings nicht näher. Als Ergebnis wird lediglich ein zweifelhaftes Beispielprojekt als Vorbild genannt. • Auch die Informationsbewertung kann entsprechend verzerrt sein. So könnte der Erfolg der Kardiologie im Partnerkrankenhaus auch auf die Schließung der eigenen Kardio­ logie zurückzuführen sein. • Dr. Jacobs beschreibt, wie sehr die damalige Planungssituation im Johannes Klinikum den Anker seiner Einschätzungen bietet – die mit großer Wahrscheinlichkeit wenig mit der jetzigen Ausbausituation zu tun haben. Emotionale Verzerrungen: • Dr. Jacobs hat eine starke emotionale Nähe zu einer früheren, ähnlichen Situation im Johannes Klinikum (ebenfalls Dienstbeginn, ebenfalls Ausbau). Dies könnte eine stim­ mungsabhängige Erinnerung fördern – von allen Erinnerungen zu Ausbauentscheidun­ gen könnten die am präsentesten sein, die einer emotional ähnlichen Situation entspre­ chen (vgl. Riesenhuber 2006, S. 108 f.). Objektiv ist aber keinerlei Verbindung zwischen dem Johannes Klinikum und dem St. Martin Krankenhaus zu erkennen. Dies wäre also eine stimmungsabhängige Erinnerung, die die komplexe Entscheidungssituation stark verzerren kann. • Dr. Jacobs erzählt von seiner Begeisterung – bei guter Stimmung bewertet man Infor­ mationen positiver, trifft schneller und leichter Entscheidungen und bewertet das Er­ gebnis positiver, unabhängig von der tatsächlichen Datenlage (vgl. Riesenhuber 2006, S. 111 f.). Physiologische Verzerrungen: • Schlafmangel kann die kognitiven Prozesse in Entscheidungen ähnlich negativ beein­ flussen wie Alkohol (vgl. Riesenhuber 2006, S.  119  ff.). Die Entscheidungsfindung könnte also durch den bereits einige Wochen andauernden Schlafmangel von Dr. Ja­ cobs negativ beeinflusst sein und die oben genannten Effekte verstärken.

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3.4.2 Entscheidung bei Sicherheit a) Dr. Jacobs hat sich für Alternative A3 entschieden, da es die Alternative mit dem höchs­ ten erwarteten Gewinn bei einem Fördermittelanteil von 80  % ist (s. Tab.  3.4). Die Berechnung ist nachfolgend dargestellt. Erwarteter jährlicher Gewinn bei einem Fördermittelanteil von 80 %: • Gewinn(Ai) = Ø Fallzahl × Ø Gewinn pro Fall – (AK pro Jahr – Fördermittelanteil) • Gewinn(A1) = 500 × 100 € – 0 € = 50.000 € • Gewinn(A2) = 1000 × 100 € – 15.000 € = 85.000 € • Gewinn(A3) = 1000 × 150 € – 37.000 € = 113.000 € b) Dr. Jacobs geht bei seiner Berechnung von sicheren Erwartungen aus, d. h. die Konse­ quenzen der Alternativen – die dargestellten Zahlenwerte – sind bekannt. c) Der zu erwartende Gewinn pro Fall, d. h. die Kosten und die Erlöse, die Fallzahl, die Anschaffungskosten, die Nutzungsdauer und die Förderhöhe, haben Einfluss auf den erwarteten jährlichen Gewinn und damit auf die Entscheidung.

3.4.3 Entscheidung unter Risiko a) Die Berechnung der jährlichen Gewinne für die Umweltzustände U2 und U3 erfolgt analog zur Berechnung in Abschn. 3.3.2 a). Durch den neuen Fördermittelanteil än­ dern sich lediglich die vom Krankenhaus zu zahlenden jährlichen Anschaffungskosten (AK pro Jahr minus Fördermittelanteil). Die erwarteten jährlichen Gewinne sind in Tab. 3.5 dargestellt. Tab. 3.4  Berechnung des jährlichen Gewinns bei einem Fördermittelanteil von 80 % Ø Fallzahl pro Jahr Ø Kosten pro Fall Ø Erlöse pro Fall Anschaffungskosten (AK) AK pro Jahr (bei 10 Jahren Nutzungsdauer) AK pro Jahr minus Fördermittelanteil Ø Gewinn pro Fall Gewinn/Jahr Fördermittelanteil 0,8

A1 500 2000 € 2100 € 0 € 0 € 0 € 100 € 50.000 €

A2 1000 2000 € 2100 € 750.000 € 75.000 € 15.000 € 100 € 85.000 €

A3 1000 2050 € 2200 € 1.850.000 € 185.000 € 37.000 € 150 € 113.000 €

Tab. 3.5  Erwarteter jährlicher Gewinn für die drei Alternativen und Umweltzustände

A1 A2 A3

U1 Förderanteil 80 % 50.000 € 85.000 € 113.000 €

U2 Förderanteil 50 % 50.000 € 62.500 € 57.500 €

U3 Förderanteil 20 % 50.000 € 40.000 € 2000 €

3  Positive & normative Entscheidungsanalyse

27

Berechnung für U2 (Fördermittelanteil 50 %, Eigenanteil 50 %): • Gewinn(Ai) = Ø Fallzahl × Ø Gewinn pro Fall – (AK pro Jahr – Fördermittelanteil) • Gewinn(A1) = 500 × 100 € – 0 € = 50.000 € • Gewinn(A2) = 1000 × 100 € – (75.000 € × 0,5) = 62.500 € • Gewinn(A3) = 1000 × 150 € – (185.000 € × 0,5) = 57.500 € Berechnung für U3 (Fördermittelanteil 20 %, Eigenanteil 80 %): • Gewinn(Ai) = Ø Fallzahl × Ø Gewinn pro Fall – (AK pro Jahr – Fördermittelanteil) • Gewinn(A1) = 500 × 100 € – 0 € = 50.000 € • Gewinn(A2) = 1000 × 100 € – (75.000 € × 0,8) = 40.000 € • Gewinn(A3) = 1000 × 150 € – (185.000 € × 0,8) = 2000 € b) Bei den gegebenen Wahrscheinlichkeiten ist nach der μ-Regel Alternative A3 vorzuzie­ hen, da diese den höchsten Erwartungswert hat (s. Tab. 3.6). • μ(A1) = 50.000 € • μ(A2) = 85.000 € × 0,5 + 62.500 € × 0,2 + 40.000 € × 0,3 = 67.000 € • μ(A3) = 113.000 € × 0,5 + 57.500 € × 0,2 + 2000 € × 0,3 = 68.600 € c) Um die Risikofreude von Dr. Jacobs auszudrücken, muss für q ein positives Vorzeichen gewählt werden. Dies lässt sich anhand der Formel P(Ai) = μ(Ai) + q × σ(Ai) begrün­ den. Durch einen positiven Wert für q wird der Präferenzwert P durch eine hohe Streu­ ung (großes σ) – wie sie bei Risikofreude bevorzugt wird – vergrößert. Damit ist q = 0,7. Bei Anwendung der (μ, σ)-Regel sollte bei einer großen Risikobereitschaft Alter­ native A3 gewählt werden (s. Tab. 3.7). d) Um den Wert für den Risikopräferenzfaktor q zu bestimmen, ab dem der Präferenzwert von A2 größer ist als der Präferenzwert von A3, werden die beiden Präferenzwerte gleichgesetzt und die Gleichung nach q aufgelöst: ↔ ↔ ↔ ↔ ↔

P(A2) μ(A2) + q × σ(A2) q × σ(A2) q × σ(A2) – q × σ(A3) q × (σ(A2) – σ(A3)) q

≥ ≥ ≥ ≥ ≥ ≤

P(A3) μ(A3) + q × σ(A3) μ(A3) – μ(A2) + q × σ(A3) μ(A3) – μ(A2) μ(A3) – μ(A2)

µ ( A3 ) – µ ( A2 )

|– μ(A2) |– q × σ(A3) |: (σ(A2) – σ(A3))

σ ( A2 ) – σ ( A3 ) q



q



68.600 ∈ - 67.000 ∈ 19.615 ∈ - 48.384 ∈ − 0,06

Tab. 3.6  Anwendung der μ-Regel Wahrscheinlichkeit A1 A2 A3

U1 0,5 50.000 € 85.000 € 113.000 €

U2 0,2 50.000 € 62.500 € 57.500 €

U3 0,3 50.000 € 40.000 € 2000 €

Erwartungswert μ 50.000 € 67.000 € 68.600 €

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F. Gansen

Tab. 3.7  Anwendung der( μ, σ)-Regel A1 A2 A3

U1 50.000 € 85.000 € 113.000 €

U2 50.000 € 62.500 € 57.500 €

U3 50.000 € 40.000 € 2000 €

μ 50.000 € 67.000 € 68.600 €

σ 0 € 19.615 € 48.384 €

P(Ai) 50.000 € 80.731 € 102.469 €

Tab. 3.8  Anwendung des Bernoulli-Prinzips A1 A2 A3

U1 2.500.000.000 7.225.000.000 12.769.000.000

U2 2.500.000.000 3.906.250.000 3.306.250.000

U3 2.500.000.000 1.600.000.000 4.000.000

B(Ai) 2.500.000.000 4.873.750.000 7.046.950.000

Für einen Risikopräferenzfaktor von etwa −0,06 sind die Präferenzwerte von A2 und A3 gleich. Bei einem kleineren Wert als −0,06 hat Alternative A2 einen größeren Präfe­ renzwert als A3 und ist damit vorzuziehen. Setzt man z. B. −0,1 ein, ergibt sich für A2 ein Präferenzwert von rund 65.039 € und für A3 ein Präferenzwert von rund 63.762 €. Der Präferenzwert von A1 wird durch q nicht beeinflusst (da σ(A1) = 0) und beträgt weiterhin 50.000 €. e ) Bei Anwendung des Bernoulli-Prinzips ist ebenfalls Alternative A3 vorzuziehen (s. Tab. 3.8). Die eingesetzte Nutzenfunktion u(ei) = ei2 ist im ersten Quadranten (für Ergebnis­ beiträge ≥ 0) eine konvexe Funktion und bildet damit die positive Risikobereitschaft von Dr. Jacobs ab. Ein weiteres Beispiel für eine konvexe Funktion ist im ersten Qua­ dranten u(ei) = ei + ei2 . Konkave Nutzenfunktionen bilden die Risikoeinstellung von risikoaversen Personen ab. Beispiele hierfür sind u(ei) = ei und u(ei) = 3 ei . Den Verlauf von konvexen und konkaven Funktionen zeigt Abb. 3.1. f) Sowohl unter Annahme von Risikoneutralität (μ-Regel) als auch bei Risikofreude ((μ, σ)-Regel mit positivem q sowie Bernoulli-Prinzip mit konvexer Nutzenfunktion) ist die von Dr. Jacobs präferierte Alternative eines erweiterten Ausbaus vorzuziehen. Diese Empfehlung ist bei einem bzw. einer risikoaversen Entscheider∗in allerdings zu überprüfen.

3.4.4 Entscheidung bei Unsicherheit a) Herr Heinrich zeigt in seinen Aussagen eine starke Risikoaversion. Diese lässt sich z. B. durch Anwendung der Minimax-Regel in die Entscheidungsanalyse einbeziehen. b) Die Laplace-Regel nimmt bei unbekannten Eintrittswahrscheinlichkeiten für die Umweltzustände gleiche Wahrscheinlichkeiten an. Demnach ist A2 zu empfehlen (s. Tab. 3.9).

3  Positive & normative Entscheidungsanalyse

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u risikoavers (konkav)

risikoneutral

risikofreudig (konvex) e

Abb. 3.1  Verlauf von Nutzenfunktionen bei verschiedenen Risikoneigungen Tab. 3.9  Anwendung der Laplace-Regel Wahrscheinlichkeit A1 A2 A3

U1 1/3 50.000 € 85.000 € 113.000 €

U2 1/3 50.000 € 62.500 € 57.500 €

U3 1/3 50.000 € 40.000 € 2000 €

Erwartungswert μ 50.000 € 62.500 € 57.500 €

Tab. 3.10  Anwendung der Minimax-Regel A1 A2 A3

U1 50.000 € 85.000 € 113.000 €

U2 50.000 € 62.500 € 57.500 €

U3 50.000 € 40.000 € 2000 €

Minimum 50.000 € 40.000 € 2000 €

c) Nach der Minimax-Regel ist Alternative A1 zu empfehlen (s. Tab. 3.10). d) Nach der Maximax-Regel ist Alternative A3 zu empfehlen (s. Tab. 3.11). e) Die Hurwicz-Regel wird auch als Pessimismus-Optimismus-Regel bezeichnet, da sowohl eine pessimistische Einstellung (Worst Case tritt ein  – Minimax-Regel) als auch eine optimistische Einstellung (Best Case tritt ein – Maximax-Regel) berücksichtigt werden. f) Bei einem λ von 0,2 ist nach dieser Regel A1 zu empfehlen (s. Tab. 3.12). g) Bei der Regel des kleinsten Bedauerns will der/die Entscheider∗in möglichst geringe Einbußen gegenüber dem Best Case. Er/Sie versucht also, sein/ihr maximales Bedau­ ern (auch maximales Risiko genannt) möglichst gering zu halten. Das Bedauern ent­ spricht der Differenz aus dem bestmöglichen Ergebnis in einem Umweltzustand und dem Ergebniswert der betrachteten Alternative in diesem Umweltzustand. Das maxi­ male Bedauern einer Alternative ist die größte dieser Differenzen über alle Umweltzu­ stände hinweg. Die Alternative, bei der dieses maximale Bedauern am kleinsten ist, wird vorgezogen.

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Tab. 3.11  Anwendung der Maximax-Regel A1 A2 A3

U1 50.000 € 85.000 € 113.000 €

U2 50.000 € 62.500 € 57.500 €

U3 50.000 € 40.000 € 2000 €

Maximum 50.000 € 85.000 € 113.000 €

Tab. 3.12  Anwendung der Hurwicz-Regel A1 A2 A3

U1 50.000 € 85.000 € 113.000 €

U2 50.000 € 62.500 € 57.500 €

U3 50.000 € 40.000 € 2000 €

Hu(Ai) 50.000 € 49.000 € 24.200 €

Tab. 3.13  Ausgangsmatrix zur Anwendung der Savage-Niehans-Regel A1 A2 A3

U1 50.000 € 85.000 € 113.000 €

U2 50.000 € 62.500 € 57.500 €

U3 50.000 € 40.000 € 2000 €

Tab. 3.14  Bedauernsmatrix zur Anwendung der Savage-Niehans-Regel Maximum für Ui A1 A2 A3

U1 113.000 € 63.000 € 28.000 €⃰ 0 €

U2 62.500 € 12.500 € 0 € 5000 €

U3 50.000 € 0 € 10.000 € 48.000 €⃰⃰

Maximales Risiko 63.000 € 28.000 € 48.000 €

⃰113.000 € (Maximum in U1) – 85.000 € (erwarteter Gewinn von A2 in U1) = 28.000 € ⃰⃰50.000 € (Maximum in U3) – 2000 € (erwarteter Gewinn von A3 in U3) = 48.000 €

Die Anwendung der Savage-Niehans-Regel erfolgt in mehreren Schritten: • Zunächst wird in der Ausgangsmatrix (s. Tab. 3.13) für jeden Umweltzustand das maximal mögliche Ergebnis gesucht (Maximum für jeden Umweltzustand, d.  h. Spaltenmaximum). • In der sog. Bedauernsmatrix (s. Tab. 3.14) wird in jede Zelle die Differenz aus dem Spaltenmaximum und dem zu erwartenden Gewinn (jeder Alternative in jedem Um­ weltzustand) eingetragen (Bedauern). • Für jede Alternative wird nun das Zeilenmaximum in der Bedauernsmatrix (s. Tab. 3.14) gesucht (maximales Risiko oder maximales Bedauern). • Abschließend wird die Alternative gewählt, für die dieses maximale Bedauern am kleinsten ist. In diesem Fall ist auf Basis der Savage-Niehans-Regel folglich Alternative A2 zu empfeh­ len. h) Eigene Argumentation.

3  Positive & normative Entscheidungsanalyse

31

Literatur LANGER, A. & ROGOWSKI, W. (2009): Deskriptive Entscheidungstheorie, in: SCHWAIGER, M. (Hrsg.), Theorien und Methoden der Betriebswirtschaft: Handbuch für Wissenschaftler und Studierende. München: Verlag Franz Vahlen, S. 177–191. RIESENHUBER, M. (2006): Die Fehlentscheidung: Ursache und Eskalation. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. WÖHE, G. & DÖRING, U. (2013): Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 25., überarb. und akt. Aufl., München: Verlag Franz Vahlen. WÖHE, G. N., KAISER, H. & DÖRING, U. (2013): Übungsbuch zur EinfÜhrung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 14., Überarb. und akt. Aufl., MÜnchen: Verlag Franz Vahlen.

4

Harvard-Verhandlungsmethode Wolf Rogowski und Heinz Pilartz

Zusammenfassung

Verhandlungen spielen sowohl innerhalb von Gesundheitsbetrieben wie auch über Organisationsgrenzen einzelner Akteur∗innen hinaus im Gesundheitswesen insgesamt eine sehr große Rolle. Dabei besteht immer die Gefahr, dass Verhandlungssituationen polarisieren und zum Streit mit Sieger∗innen und Verlierer∗innen ausarten, statt dass sie als Arena zur Suche nach bestmöglichen Lösungen genutzt werden. In der Fallstudie Die umstrittene Stundenaufschreibung wird in die Harvard-Verhandlungsmethode eingeführt – ein Klassiker der Mediation, der strukturiert dabei unterstützt, bei Konflikten den Weg der gemeinsamen Suche nach Win-win-Situationen einzuschlagen.

4.1

Hintergrund

Vielfach entwickeln Verhandlungen eine destruktive Dynamik, da sie positionsbezogen geführt werden: Die Verhandlungspartner∗innen treten mit einer Vorstellung von für sie wünschenswerten Ergebnissen in die Verhandlung ein und versuchen, diese in größtmöglichem Maße zu erreichen bzw. als ihre Position zu verteidigen. Verhandlungspartner∗innen mit anderen wünschenswerten Ergebnissen können hier sehr leicht als

W. Rogowski (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Pilartz Forum-M – Institut für Medizin, Mediation und mehr, Alfter, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_4

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34

W. Rogowski und H. Pilartz

Gegner∗innen wahrgenommen werden, die es in der Verhandlung zu besiegen gilt. Die ­Harvard-­Verhandlungsmethode schlägt anstelle dessen sach- statt positionsbezogenes Verhandeln vor. Sie basiert auf vier Grundprinzipien: Erstens sollen Menschen und Sachfragen getrennt voneinander behandelt werden, Verhandlungspartner∗innen sollten also als Menschen mit eigenen Gefühlen, Wahrnehmungen und Wünschen ernst genommen werden – fair zu den beteiligten Personen, hart in der Sache. Zum Zweiten sollen anstelle vorab definierter Positionen die dahinterliegenden Bedürfnisse und Interessen im Zentrum der Verhandlung stehen. Sie dienen als Maßstab zur Bewertung möglicher Verhandlungsergebnisse. Erst als Drittes sollen möglichst viele Entscheidungsoptionen entwickelt werden. Dies resultiert aus der Erfahrung, dass es in Konflikten immer weitaus mehr Lösungen gibt, die die Konfliktparteien besserstellen, als ihnen anfangs bewusst ist. Viertens ist essenziell, bei der Beurteilung möglicher Lösungen auf die Anwendung neutraler Beurteilungskriterien zu bestehen. Als Klassiker der Verhandlungsführung und Mediation ist die Harvard-­ Verhandlungsmethode auf diversen Websites beschrieben. Die deutsche Version des bekannten amerikanischen Originalwerks Getting to yes. Negotiating agreement with­ out giving in von Fisher und Ury (1981) ist inzwischen in der 25. Auflage erschienen (Fisher et al. 2015).

4.2

Fallstudie: Die umstrittene Stundenaufschreibung

Bei der Stellensuche nach Abschluss Ihres Public Health Studiums sind Sie zufällig auf eine Ausschreibung für eine∗n zentrale∗n Kurskoordinator∗in in der B-fit! GmbH gestoßen, die Kurse für betriebliche Gesundheitsförderung anbietet und deren Kursangebot zu einem früheren Zeitpunkt in einer anderen Fallstudie analysiert wird (s. Fallstudie Strate­ gisches Marketing für die B-fit! GmbH in Kap. 6). Ihre Bewerbung war erfolgreich und Sie sitzen heute in Ihrem ersten Team-Meeting. Auf dem Team-Meeting herrscht ein angespannter Ton zwischen den drei Gesellschaftern der B-fit! GmbH, die in ihrem Unternehmen für verschiedene Bereiche zuständig sind: Herr Meyer für Finanzen und Controlling, Herr Schmidt für Personalwesen und Personalentwicklung und Herr Müller für medizinische Fragen.

4.2.1 Erster Teil Meyer: „Liebe Kollegen, es ist doch völlig klar, dass wir so nicht weitermachen können. Die satten Renditen von vor zwanzig Jahren liegen lange hinter uns, und nachdem wir im letzten Jahr noch die schwarze Null erreicht hatten, kommen wir dieses Jahr aus den roten Zahlen nicht raus. Wir müssen schauen, wie profitabel unsere einzelnen Kurse sind und deswegen brauchen wir die Stundenaufschreibung. Da gibt’s keine Alternativen, wenn wir überleben wollen.“

4 Harvard-Verhandlungsmethode

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Schmidt: „Herr Meyer, wie oft sollen wir es Ihnen noch sagen? Die Stundenaufschreibung ist ein bürokratisches Monster. Ich hatte das in meinem letzten Betrieb – wissen Sie, was das für die Profitabilität hilft? Gar nichts! Überhaupt gar nichts! Im Gegenteil: Da ist jeder mit diesen Sch … Stundenzetteln beschäftigt, die ständig ausgefüllt werden müssen, dann gibt’s ’nen Controller, der seine wertvolle Zeit damit verbringt, den Zettelwust zusammenzutragen und in seine Excel-Datei einzutragen und am Schluss lernt man doch nix draus. Wissen Sie, was bei uns damals das Ergebnis war? Erstens: Zwei Jahre nach Einführung dieser besch … Stundenaufschreibung war die Superfit! GmbH pleite. Und zweitens: Die Vorbereitung aller Kurse hat im Durchschnitt ungefähr gleich viel Zeit gefressen, man konnte mit der Info also gar nichts anfangen. Lag natürlich auch daran, dass wir so viel mit der Kursvorbereitung zu tun hatten und die blöden Zettel normalerweise nur im Nachhinein und so ungefähr ausgefüllt haben. Trotzdem: ein Monster, ein bürokratisches Monster sag ich Ihnen! Das wollen Sie uns zumuten?!? Wir haben schon genug um die Ohren!“ Meyer: „Herr Schmidt, zumuten? Ja, als Geschäftsführer und Finanzvorstand, der dieses Un­ ternehmen im Gegensatz zu Ihnen mitgegründet und den Karren immer wieder aus dem Dreck gezogen hat, mute ich auch Ihnen als Gesellschafter zu, gute Arbeit zu leisten und ganz normale Controllingprozesse einzuhalten. Ich habe eine betriebswirtschaftliche Ausbildung und weiß da­ her: Um für einen nachhaltigen Fokus zu sorgen, braucht man tragfähige Informationen!“ Schmidt: „Herr Meyer, also jetzt reicht’s. Glauben Sie mir nicht, dass ich gute Arbeit leiste? Und glauben Sie, dass Sie als Gründungsgesellschafter mehr wert seien? Und als BWLer die Weisheit mit Löffeln gefressen haben? Lernt man das in Ihrem Studium – Bürokra­ tiemonster basteln? Ich verzichte auf solche Bastelkurse. Keine Stunde werde ich aufschrei­ ben, keine einzige!“ Müller: „Herr Meyer, ich sehe es genauso, dass das nicht geht. Erst kamen Sie letztes Jahr damit, dass Sie eine ABC-Analyse gemacht hätten und uns auf deren Basis jetzt sagen müss­ ten, dass wir grad meine Lieblingskurse weglassen sollten, die bei uns Tradition haben, mit denen wir als Firma groß geworden sind. Dann noch diese BCG-Matrix, so Beraterkonzepte, wo doch jeder weiß, dass diese platten Schemata im Gesundheitswesen nicht funktionieren. Ein Glück, dass wir das verhindern konnten. Konzeptitis ist kein gutes Führungsprogramm. Kontrollitis auch nicht. Jetzt kommen Sie mit Stundenaufschreibung! Wollen Sie uns nicht nur in Konzepte pressen, sondern auch noch zu gläsernen Mitarbeitern machen? Jede Stunde sollen wir Bericht abgeben, ob wir auch brav für die Firma arbeiten? Glauben Sie, dass wir hier Facebook-Postings machen oder Computerspiele? Und, selbst wenn’s mal so wäre – wir brauchen auch mal Entspannung zwischendurch und wollen nicht jede Minute kontrolliert werden! Früher hat bei uns das Vertrauen in die Mitarbeiter gezählt, und alles hat gut funkti­ oniert. Je mehr Management-Kram Sie hier einführen, desto mehr geht’s bergab mit der B-fit! GmbH. Das merken Sie doch selbst! Ich hoffe, damit ist das Thema Stundenaufschreibung endlich vom Tisch, denn Vertrauen ist das, was wir brauchen. Machen Sie doch mal eine Ver­ trauensaufschreibung!“ Meyer: „Also, Herr Müller, jetzt werden Sie auch noch polemisch. Es ist doch völlig klar, dass ein Unternehmen nur bestehen kann, wenn es profitabel ist, und wenn wir verschiedene Arten von Kursen anbieten, müssen wir schauen, wie profitabel die jeweils sind. Wir bieten auf dem Markt verschiedene Produkte an und sollten nur solche Produkte anbieten, bei denen die Umsätze höher als die Kosten sind. Ich bin hier der Geschäftsführer und es ist meine Aufgabe, für eine Konzentration aufs Wesentliche zu sorgen. Oh, sorry, ich sehe, wir müssen das Ge­ spräch hier unterbrechen, da gleich das Gespräch mit unserem größten Kunden ansteht …“

Bitte blättern Sie jetzt vor zu den Aufgaben (Abschn. 4.3) und beantworten Sie zunächst nur Fragen zum ersten Teil der Fallstudie (Abschn. 4.3.1).

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W. Rogowski und H. Pilartz

4.2.2 Zweiter Teil Im Nachklang des Gespräches war den Gesellschaftern klargeworden, dass sie die Konflikte ohne externe Unterstützung nicht in den Griff bekommen. Sie haben sich für ein Mediationsverfahren entschieden, und da es um Fragen der Ausgestaltung der Kurs­koordination geht, sind auch Sie mit anwesend. Die Mediatorin hat soeben den Rahmen des Gespräches erläutert, an den letzten Konflikt angeknüpft und das Gespräch eröffnet. Meyer: „Ok, Herr Schmidt, es tut mir leid. Wissen Sie, der Hauptpunkt ist, dass wir schlicht die Insolvenz verhindern müssen, und das werde ich tun – ich kann ja den Fortbestand des Unternehmens nicht aufs Spiel setzen. Wie stehe ich denn dann vor den Leuten da – erst er­ folgreicher Geschäftsführer, dann Pleitier? Und ich habe ja wirklich keine Ahnung, wie pro­ fitabel unser Kursangebot ist. Wie sollen wir uns aufs Wesentliche konzentrieren, wenn wir nicht wissen, was es ist? Das will ich seit fünf Jahren, nie hat’s geklappt mit der Umsetzung wegen all der Widerstände. Jetzt brauchen wir’s zum Überleben – eine Profitabilitätsrech­ nung für unsere Kurse, mit der man was anfangen kann. Um dann eine strategische Neuaus­ richtung voranzutreiben. Ich könnte ja einfach anfangen, betriebsbedingte Kündigungen rauszuschicken, aber das will ich nicht. Dann wäre die Stimmung so richtig im Keller. Und es macht mir ja Freude, mit Ihnen zusammen die B-fit! GmbH voranzubringen.“ Schmidt: „Ok, Herr Meyer, sorry, das war mir so nicht klar. Ich muss mich wohl auch entschuldigen. Ich hab’ das Gefühl, ich opfere mich auf für diese Firma, und statt dass das wahrgenommen wird, habe ich das Gefühl, Sie quittieren es mit Kontrolle statt Anerkennung. Ich hasse es, auf Schritt und Tritt kontrolliert zu werden. Das war schon immer so, da gehe ich lieber, ich kann die Kurse auch ohne unsere GmbH anbieten. Und wirklich, Stundenaufschreibung, das ist ein Blödsinn! Wenn ich bei der Werkstatt anrufe, weil beim Dienstwagen die Reifen gewechselt werden müssen – auf welches Projekt soll ich’s bitte aufschreiben? Oder unsere ständigen Computerprobleme seit dem Virus da­ mals: die Backups, das Neuaufzusetzen des Systems. Auf welches Projekt geht das? Und wenn wir eine Lösung fänden, ein Feld Sonstiges oder so – wissen Sie, was für ein Aufwand so eine Stundenaufschreibung ist? Wir hatten das damals ausgerechnet  – 5  % unserer Arbeitszeit ging bei der Superfit! GmbH in den Controllingsch …, das waren genau die 5 %, die uns zur Rendite gefehlt hatten …“ Müller: „Vielleicht war es wirklich nicht so gut, das mit der Kontrollitis. Aber, wissen Sie, bei meinem letzten Arbeitgeber hatte es damals auch mit Stundenaufschreibung angefangen, aber eigentlich wollte der Geschäftsführer nur Leute rauswerfen, die er auf dem Kieker hatte. Hat er auch getan – er hat heimlich beobachtet, wann seine Mr und Mrs Unbeliebt da waren und wann nicht, hat das dokumentiert und hat dann seine Dokumentation mit deren unter­ schriebenen Stundenzetteln verglichen. Zack, hatte er ihnen bösartige Täuschung nachgewie­ sen und losgeschickt war die fristlose Kündigung. Ich hab’ das Gefühl, dass Sie Elif Yildiz, der ich damals die Stelle bei uns vermittelt hatte, weil sie so schwer Fuß fassen konnte als Türkin in unserem spießigen Landkreis, dass Sie die schon länger auf Ihrer Liste haben, und das will ich einfach nicht.“ Meyer: „Na dann, haben Sie einen Gegenvorschlag? Ich sehe nicht, wie wir ohne eine Stundenaufschreibung eine vernünftige Profitabilitätsrechnung hinbekommen sollen ...“

4 Harvard-Verhandlungsmethode

4.3

37

Aufgaben

4.3.1 Fragen zum ersten Teil der Fallstudie a) Was ist die Harvard-Verhandlungsmethode? a. Was ist ihr Ziel? b. Worin besteht nach dem Konzept ein häufiges Problem in Verhandlungen, dem die Methode begegnen möchte? c. Bitte nennen Sie kurz die vier Grundprinzipien des Konzepts. b) Wie gestaltet sich der bisherige Verlauf der Diskussion? a. Worin besteht der inhaltliche Gegenstand? b. Welche Probleme sind bei der bisherigen Verhandlung aufgetreten? c. Welches weitere Vorgehen würden Sie dem Geschäftsführer empfehlen?

4.3.2 Fragen zum zweiten Teil der Fallstudie a) Was hat sich im Fortgang der Diskussion geändert? b) Welches sind die BATNAs (Best alternative to a negotiated deal) in dem Prozess? a. Was ist eine BATNA, und warum ist sie relevant im Verhandlungsprozess? b. Worin besteht die BATNA des Geschäftsführers? c. Worin besteht die BATNA der beiden anderen? c) Welches sind die Interessen? a. Welche Interessen können Sie bei dem Geschäftsführer erkennen? b. Welche Interessen verfolgen die beiden anderen? Stehen die Interessen im Widerspruch? c. Benennen Sie mögliche Kriterien, die zum Qualitätscheck guter Lösungen dienen könnten. d) Welche Alternativen wären denkbar? a. Führen Sie ein Brainstorming nach möglichen Pareto-superioren Handlungsalternativen durch und schreiben Sie diese für sich auf einen Zettel. b. Diskutieren Sie die Zustimmungsfähigkeit der Alternativen im Kreis. e) Welche Alternativen sollten ausgewählt werden? a. Versuchen Sie, sich anhand der Kriterien auf eine Alternative zu einigen. b. Welche Rolle spielt die Mediatorin? Wessen Partei sollte sie ergreifen?

4.3.3 Fragen zu einer eigenen Fallstudie a) Bitte wählen Sie selbst einen relevanten eigenen Konflikt. a. Überlegen Sie sich einen Konflikt, den Sie persönlich im vergangenen Monat erlebt haben, in dem die verschiedenen Positionen eine wichtige Rolle gespielt haben, für

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W. Rogowski und H. Pilartz

den Sie keine befriedigende Lösung gefunden haben und den Sie bereit wären, in der Gruppensituation durchzuspielen. Bitte wählen Sie keinen zu emotionalen Konflikt (ein Streit über die Arbeitsaufteilung im Projektteam wäre z. B. geeignet; ein Beziehungskonflikt, der zur Trennung geführt hat, wäre weniger geeignet). b. Teilen Sie Ihren Konflikt mit den anderen Gruppenmitgliedern und wählen Sie einen Konflikt aus, den Sie als Gruppe exemplarisch durchlaufen möchten. c. Benennen Sie die Konfliktparteien und wählen Sie im Team eine Konstellation, bei der sich jeweils mindestens eine Person mit einer Konfliktseite identifiziert (d. h. diese Konfliktpartei spielt), idealerweise auch mit einer Person als Mediator∗in. b) Bitte versuchen Sie, den Konflikt in einem Rollenspiel gemäß der Harvard-­ Ver­ handlungsmethode zu lösen. a. Benennen Sie die Positionen, die Ausgangspunkt des Konfliktes waren. b. Identifizieren Sie die zugrunde liegenden Interessen. c. Identifizieren Sie Kriterien, denen eine gute Konfliktlösung entsprechen sollte. d. Identifizieren Sie mögliche Konfliktlösungen. e. Führen Sie eine Verhandlung, in der Sie nach einer Pareto-superioren Lösung streben. c) Bitte entrollen Sie sich, wenn Sie die Fallstudie abgeschlossen haben, d. h. verlassen Sie die eingenommenen Rollen bewusst, stehen Sie kurz auf, strecken sich etc.

4.4

Lösungsvorschläge

4.4.1 Fragen zum ersten Teil der Fallstudie a) Die Harvard-Verhandlungsmethode kann folgendermaßen charakterisiert werden: a. Ziel der Methode ist negotiating agreement without giving in – Konflikte bzw. Ver­ handlungen von einer kämpferisch ausgetragenen Situation mit Sieger∗innen und Verlierer∗innen in eine konstruktive Suche nach akzeptanzfähigen Lösungen für alle Verhandlungsparteien zu verwandeln. b. Verhandlung wird als Verteidigung und Durchsetzen einer Position verstanden, mit der sich der/die jeweilige Verhandelnde identifiziert. Verhandlung wird als Kampf verstanden, der zu Gewinner∗innen und Verlierer∗innen führt. Die damit verbun­ dene Verletzung der Verlierer∗innen hinterlässt bei ihnen das Bedürfnis, einen Aus­ gleich mit dem/der Gewinner∗in zu erzielen. Wenigstens unterschwellig verbleibt ein emotionales Verlusterleben, das nur zu oft zu einer Wiederaufnahme der Kampf­ handlungen führt. c. Die vier Grundprinzipien des Konzepts lauten: • Menschen und Sachfragen getrennt voneinander behandeln • Konzentration auf Interessen und nicht auf Positionen • kreative Entwicklung von Entscheidungsoptionen • auf Anwendung neutraler Beurteilungskriterien bestehen

4 Harvard-Verhandlungsmethode

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b) Der bisherige Verlauf der Diskussion kann folgendermaßen charakterisiert werden: a. Der Geschäftsführer schlägt eine Stundenaufschreibung vor, um angesichts der aku­ ten Unternehmenskrise die Profitabilität der einzelnen Leistungsbereiche anheben und den Fokus auf profitable Leistungen legen zu können. Seine Kollegen kritisieren dies als zu aufwändig bzw. als zu stark kontrollierend. b. Die Verhandlung ist geprägt von einer ganzen Bandbreite sich verstärkender dys­ funktionaler Diskussionsbeiträge: • Geschäftsführer Meyer präsentiert seinen Lösungsvorschlag als alternativlos. Da die Kollegen von der Mitgestaltung ausgeschlossen werden, ist naheliegend, dass sie sich wehren, um nicht hilflos zu werden. • Sein Kollege Schmidt präsentiert seine Gegenposition emotional und ebenso po­ larisierend, statt auf das Problem einzugehen. • Meyer scheint die (zugegebenermaßen unangemessen geäußerte) Kritik als Infrage­ stellung seiner Rolle im Unternehmen wahrzunehmen und reagiert wiederum mit einer Betonung seiner Führungsposition, statt auf die Inhalte der Kritik einzugehen. • Schmidt reagiert wiederum persönlich angegriffen (und mit persönlichen Attacken auf Meyer) und tritt aus dem Diskurs aus, statt weiter nach einer Lösung zu suchen. • Müller wertet die Lösungsversuche als pathologische Konzeptitis und Kontollitis ab und leitet angebliche Intentionen Meyers aus seinen Befürchtungen ab, kont­ rolliert zu werden. Er geht jedoch ebenfalls nicht auf das Problem ein (im Gegen­ teil: Tradition und Lieblingskurs sind kaum überzeugende Argumente für den Kur­ serhalt), sondern bringt nur eine wenig überzeugend vorgetragene Gegenposition der Vertrauensaufschreibung. Vorwürfe und Rechtfertigungen dominieren den Austausch. Problemorientierung behindert den Blick auf eine mögliche Lösung. • Schmidt geht auch auf Müllers Bedenken (die Anwendbarkeit eines Analysefra­ meworks in Frage zu stellen, ist ja nicht ehrenrührig) und Gegenvorschlag nicht ein und erkennt auch nicht dessen Bedürfnis nach einer wenig kontrollierenden Arbeitsumgebung an, sondern iteriert nur seine vorgetragene Position. Der Aus­ tausch bestätigt die Positionen der Gesprächspartner: Es gibt keine Berücksich­ tigung der Beiträge des Anderen, die eigene Sichtweise wird durch andere Worte und größere Lautstärke unterstrichen. Eskalation ist wahrzunehmen. c) Der Konflikt scheint sich bereits zu einem Stadium entwickelt zu haben, bei dem profes­ sionelle Hilfe von außen anzuraten ist. Glasl (2011, S. 126 ff.) beschreibt ein Eskalati­ onsmodell mit neun Stufen, und der Konflikt scheint sich über ein erstes Auftreten von Konflikten (Stufe 1) und beginnender Polemik (Stufe 2) bereits hinaus entwickelt zu haben. Es scheinen klare Frontlinien zwischen den Parteien entstanden zu sein (Stufe 4) – ein Stadium, bei dem Glasl Vermittlungsverfahren vorschlagen würde. Man könnte die Äußerungen der anderen Geschäftsführer evtl. sogar als bewusstes Herbeiführen von Gesichtsverlust (Stufe 5) interpretieren – ein Stadium, bei dem über eine neutrale Vermittlung innerhalb des Teams hinaus evtl. sogar eine externe Schlichtung ratsam wäre. In jedem Fall scheint empfehlenswert, eine∗n externe∗n Mediator∗in einzubeziehen, der/die diese Rollen übernimmt und mit den Beteiligten die Möglichkeit eines Mediati­ onsverfahrensverfahrens diskutieren könnte.

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W. Rogowski und H. Pilartz

4.4.2 Fragen zum zweiten Teil der Fallstudie a) Offensichtlich ist die Diskussion sehr viel konstruktiver geworden: • Die Verhandlungspartner entschuldigen sich und lassen damit Respekt vor den Ver­ handlungspartnern erkennen und wenden sich einander zu. • Sie äußern Wertschätzung, z. B. Meyer über Mitarbeiter∗innen (macht mir Freude, gemeinsam B-fit! voranzubringen), Schmidt über Firma (opfere mich auf für die Firma), Müller über schutzbedürftige Mitarbeiter∗innen (vermittelte Türkin, die im Landkreis schlecht Fuß fassen konnte). • Sie reden von sich statt von scheinbar objektiven Tatsachen oder Mutmaßungen über die Verhandlungspartner. • Sie öffnen sich und zeigen Emotionen, sie legen die zugrunde liegenden Interessen und Befürchtungen offen und geben damit wichtige Informationen zur Suche nach einer guten neuen Verhandlungslösung. b) In dem Prozess können die folgenden BATNAs (best alternative to a negotiated deal) identifiziert werden: a. Verhandlungen sind freiwillig – man könnte sie auch abbrechen und sich nicht eini­ gen. Dies hat jedoch möglicherweise unangenehme Folgen, die man nicht tragen möchte. Verhandlungen sollten dazu führen, dass sich jede∗r Verhandlungsteilneh­ mer∗in besserstellt als es im Falle eines Verhandlungsabbruches der Fall wäre. Ist dies für eine Verhandlungspartei nicht der Fall, ist kaum anzunehmen, dass sie das Ergebnis mitträgt. Sich über die eigene BATNA klar zu werden, erhöht zum Ersten die Souveränität in der Verhandlung und hilft, die eigene Verhandlungsposition bes­ ser einzuschätzen. Kenntnis der BATNA des Verhandlungspartners hilft zum Zwei­ ten, den Spielraum für Verhandlungslösungen besser auszuloten – desto besser die BATNA des Partners, auf desto mehr Zugeständnisse wird man sich einzustellen haben. Zum Dritten wird an der BATNA häufig ersichtlich, wie viel besser sich eine Partei mit einer guten Verhandlungslösung stellen kann. b. Wenn sich Verhandlungsparteien nicht einigen können, können sie die Verhandlung abbrechen. • So könnte der Geschäftsführer z. B. zum einen seinen Vertrag kündigen und in die Selbstständigkeit wechseln oder eine andere Stelle annehmen. Dabei muss er jedoch prüfen, inwieweit er zu Aktivitäten zur Verhinderung oder Anmeldung ei­ ner Insolvenz verpflichtet ist. Weiter wäre zu klären, ob er seine Gesellschaftsan­ teile v­ erkaufen möchte, wer ein möglicher Käufer sein könnte und welchen Preis er in dieser Situation dafür erlösen kann. Vermutlich würde diese Alternative ei­ nen hohen finanziellen Verlust nach sich ziehen. Zudem wäre sie für ihn mit Ge­ sichtsverlust verbunden (was er ja auch ausspricht). • Zum Zweiten hätte er die Möglichkeit, sich aus der Verhandlung zurückzuzie­ hen, indem er den Wünschen seiner Mitgesellschafter folgt und keine Maßnahme ergreift. Wenn er keine andere Maßnahme zur Verbesserung der Finanzsituation durchführt (z.  B. betriebsbedingte Kündigung), hätte dies jedoch mit hoher

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Wahrscheinlichkeit eine Insolvenz zur Folge, was u. a. mit finanziellen Verlusten (Gesellschafteranteile und Gehalt) und Gesichtsverlust verbunden wäre. • Schließlich kann der Geschäftsführer in seiner disziplinarischen Rolle ein Macht­ wort sprechen und seine Lösungsvorstellung durchsetzen. Dies ginge jedoch zu­ lasten des Betriebsklimas und seiner Anerkennung im Betrieb, die ihm sehr wich­ tig ist. Zudem könnte es zu einer mangelnden Umsetzung des Controlling-Tools führen, was dessen Validität begrenzt. c. Die beiden anderen Parteien könnten das Unternehmen verlassen und als selbst­ ständige Trainer ihre Tätigkeit fortsetzen. Dabei würden sie jedoch ihren Anteil am Gesellschaftsvermögen riskieren sowie ggf. rechtliche Konsequenzen aufgrund ih­ res unverantwortlichen Handelns gegenüber Geschäftsführer und Firma. Zudem machen sie ihrem eigenen Unternehmen Konkurrenz, was kaum wertsteigernd für ihre Unternehmensanteile sein dürfte. Außerdem müssten sie dann ggf. Aufgaben erfüllen, die ihnen nicht liegen (Controlling etc.). Sie müssten neue Strukturen, Kon­ takte etc. schaffen: Alles das würde weit über ihre aktuellen Aufgaben hinausgehen. Außerdem hätten sie keine Sicherheit/Absicherung mehr. c) Die nachfolgenden Interessen können identifiziert werden. a. Interessen des Geschäftsführers sind insbesondere: • Fortbestand des Unternehmens/Maximierung des Unternehmenswerts • Rettung seines persönlichen Vermögens • Wahrung seines Status und Anerkennung als Geschäftsführer b. Zwar sind die Interessen der Mitarbeiter prima facie andere, sie stehen jedoch kaum in Konflikt mit denen des Geschäftsführers: • gute Arbeitsabläufe (keine Bürokratie, Funktionieren der Stundenaufschreibung) • gute Mitarbeiter∗innenführung (Vertrauen, Schutz schutzbedürftiger Mitarbei­ ter∗innen) • Fortbestand des Unternehmens/Maximierung des Unternehmenswerts • Wertschätzung ihrer Arbeit, Selbstverwirklichung (Lieblingskurs) c. Grundsätzlich werden bei einer Mediation alle geäußerten Wünsche und Befürch­ tungen zur Bewertung von Lösungsvorschlägen einbezogen. Auch ist es wichtig, die emotionalen Themen, die häufig viel wirksamer sind als objektiv messbare Interes­ sen, ernst zu nehmen und ihnen adäquat zu begegnen. Dies drückt sich auch in dem Grundsatz „hart in der Sache, fair zu den beteiligten Personen“ aus. Was den sach­ lichen Gegenstand der Verhandlung angeht, kann es jedoch sinnvoll sein, sich auf gut objektiv messbare, von allen Verhandlungsparteien geteilte bzw. für alle sehr gut nachvollziehbare Kriterien zu konzentrieren. Als wenig kontrovers werden die meisten z. B. folgende Kriterien ansehen: • Eignung zur Profitabilitätssteigerung/Sicherung des Unternehmens • einfache Handhabbarkeit • unter den Optionen, die die erstgenannten Kriterien erfüllen, v. a. jene, die mit möglichst wenig (unnötiger) Kontrolle der Mitarbeiter∗innen verbunden sind

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W. Rogowski und H. Pilartz

(Vertrauen bedeutet nicht, jede Kontrollmöglichkeit aufzugeben  – ein∗e Ge­ schäftsführer∗in muss Leistungen auch kontrollieren können.) d ) Grundsätzlich wären verschiedene Alternativen denkbar. a. Bitte die Optionen zunächst nicht bewerten! Beispiele könnten z. B. sein: • anonymisierte Stundenaufschreibung • Programm, welches permanent die Zeit erfasst und mit dem die Zuordnung zu Projekten einfach per Mausklick auf einen Projekt-Button (oder einen Button für sonstige Tätigkeiten) vorgenommen werden kann • retrospektive Stundenaufschreibung • personalisierte Stundenaufschreibung mit Überstundenausgleich als Kompensa­ tion • andere Ansätze zur Selektion erfolgversprechender Kursangebote, z.  B. ein Strategie-­Workshop im Unternehmen mit Bottom-up-Prozess zur Strategie-Neu­ ausrichtung, dessen Informationsbasis über die Beraterkonzepte hinausgeht • Analyse anderer Faktoren mit Einfluss auf Kosten außer der Arbeitszeit (gibt es an anderer Stelle Einsparpotenzial, z. B. bei Dienstfahrzeugen, Mieten etc.?) und Entwicklung entsprechender Maßnahmen (z. B. Suche nach günstigeren Bezugs­ quellen für Dienstfahrzeuge) • Analyse anderer Faktoren mit Einfluss auf die Erlöse (Fehlt gutes Marketing? Ist der Auftritt der Trainer∗innen unprofessionell? Wie bewerten die Kursteilneh­ mer∗innen die Kurse?) b. Auch hier gibt es nicht die eine richtige Lösung – die Diskussion der Alternativen dient primär der Überprüfung, ob der/die Ideengeber∗in evtl. relevante kritische Aspekte des eigenen Lösungsvorschlags übersehen hat. Möglicherweise sind auch weitere relevante Interessen geäußert worden. Diese sollten entsprechend berück­ sichtigt werden und in eine Überarbeitung der Optionen einfließen. e) Grundsätzlich können verschiedene Alternativen ausgewählt werden. a. Angesichts der Vielfalt von Lösungsvorschlägen, die alle den genannten Zielen die­ nen, müssten ggf. zusätzliche Kriterien zur Auswahl genannt werden – etwa, dass sie möglichst schnell umsetzbar sein müssen und angesichts der angespannten Fi­ nanzlage nur minimale zusätzliche Kosten verursachen dürfen. Auch hier gibt es nicht die eine richtige Lösung, außer, dass die Richtigkeit der Lösung nicht autoritär durchgesetzt, sondern auf den Kriterien begründet werden sollte, um Zustimmung dazu zu erreichen. Wichtig ist der Fokus auf Vergrößerung des Kuchens – bei scheinbaren Konflikten nach neuen Win-win-Situationen zu su­ chen. So könnte z. B. die Aversion gegen Stundenaufschreibung bei Schmidt primär durch fehlende Anerkennung verursacht sein, die durch begleitende symbolische Gesten (Sonderurlaub, Bürogestaltung, o. ä.) kompensiert werden kann. Vielleicht ist für das Problem der schnellen Programmselektion eine retrospektive Kursauf­ schreibung viel geeigneter, da das Projektcontrolling ja erst irgendwann zukünftig Informationen generiert. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass der Geschäftsführer verpflichtet ist, Maßnahmen zur Lösung der Unternehmenskrise zu finden und

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durchzusetzen. Möglich ist auch eine Kombination aus den verschiedenen Lösungs­ ideen: So könnte das Nachgeben an der einen Stelle durch ein Zugeständnis an ei­ nem anderen Punkt kompensiert werden. Praktisch sind solche Mischergebnisse die häufigste Gesamtlösung. b . Selbstverständlich sollte der/die Mediator∗in keine Partei ergreifen, sondern ledig­ lich die Konfliktparteien darin unterstützen, immer wieder den Weg zurück zu einer Herausarbeitung und Anerkennung ihrer Bedürfnisse zu finden sowie zu einer lö­ sungsorientierten Verhandlungsweise anstelle eines destruktiven Kampfes um Posi­ tionen. Mediator∗innen haben Verantwortung für den Ablauf der Verhandlung, ha­ ben aber keine Lösungsverantwortung. Ihre Allparteilichkeit sorgt dafür, dass die Beziehung zu allen Gesprächspartnern unbelastet bleibt. Er/Sie könnte die Ergeb­ nisse dokumentieren.

4.4.3 Fragen zu einer eigenen Fallstudie Für die eigene Fallstudie ist keine Musterlösung vorgesehen.

Literatur FISHER, R. & URY, W. (1981): Getting to YES: negotiating agreement without giving in. New York: Penguin Books. FISHER, R., URY, W. & PATTON, B. M. (2015): Das Harvard-Konzept: die unschlagbare Methode für beste Verhandlungsergebnisse. 25., überarb. Aufl., Frankfurt am Main [u. a.]: Campus Verlag. GLASL, F. (2011): Konfliktmanagement, in: MEYER, B. (Hrsg.), Konfliktregelung und Friedens­ strategien: Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 125–145.

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Kennzahlen der Marktforschung Eugenia Larjow und Christian Reuschenbach

Zusammenfassung

Nach einer kurzen Erläuterung relevanter Begriffe wie Marktumwelt und Marktforschung sowie ihrer Relevanz für das wirtschaftliche Handeln eines Gesundheitsbetriebes werden am Beispiel einer fiktiven Wundauflage mögliche Vorgehen für eine Absatzvolumenschätzung vorgestellt. In praktischen Teilaufgaben werden der Zielmarkt und mögliche Marktsegmente für die Wundauflage bestimmt. Darauf aufbauend erfolgt schrittweise eine Absatzvolumenschätzung für drei ausgewählte Marktsegmente, die exemplarisch nach den Settings differenziert werden, in denen eine chronische Wundversorgung erfolgen kann: in vollstationären Pflegeeinrichtungen, in der eigenen Häuslichkeit durch ambulante Pflegedienste und in Krankenhäusern. Das Schätzverfahren wird sowohl nach dem Bottom-up- als auch nach dem Top-down-Ansatz durchgeführt. Dabei wird der Umgang mit Informationen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes gestärkt und illustriert, wie fehlende Fallzahlen für ein innovatives Produkt durch die Kombination von transparenten Annahmen und verfügbaren Quellen dennoch geschätzt werden können. Ziel der Fallstudie ist es aufzuzeigen, wie Informationen aus der Marktanalyse dabei helfen, strategische Entscheidungen zu treffen bzw. diese zu untermauern.

E. Larjow (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Reuschenbach MCM Klosterfrau Vertriebsgesellschaft mbH Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_5

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5.1

E. Larjow und C. Reuschenbach

Hintergrund

Ein Betrieb, der den Gesundheitsmarkt neu betreten oder sich in Nischenmärkten spezialisieren möchte, sollte seine Marktumwelt kennen und diese regelmäßig beobachten. Die Marktumwelt ist im Gesundheitssektor durch Interaktionen zwischen Versicherten (Nachfragenden) und Anbietern von Dienstleistungen und Produkten gekennzeichnet, zu denen Leistungserbringende, Produktherstellende und Versicherungen zählen. Aber auch Beziehungen zwischen Leistungserbringenden und Versicherungen ebenso wie öffentliche Einrichtungen, die mit ihrer Regelungskompetenz die Marktzugangschancen entscheidend beeinflussen, charakterisieren die Marktumwelt. Marktforschung hat die Aufgabe, Informationen über die Marktumwelt bereitzustellen. Erst nach einer fundierten Betrachtung der Marktverhältnisse kann ein Unternehmen gezielt seine Marketinginstrumente zusammenstellen und damit Einfluss auf den Markt nehmen (vgl. Meffert et al. 2015, Kapitel 2.3; Wöhe und Döring 2013, S. 376 f.). Weiterhin kann ein Betrieb mit Marktforschungsergebnissen die Realisierbarkeit und die Potenziale von Unternehmenszielen (z.  B. bezogen auf den jährlichen Umsatz oder den geplanten Ressourceneinsatz) kritisch hinterfragen. Die Analyse von Marktinformationen kann dabei dem qualitativen oder dem quantitativen Ansatz folgen. Während die qualitative Marktforschung sich in erster Linie mit Erwartungen, Einstellungen und Motiven von Kund∗innen befasst, fokussiert sich die quantitative Marktanalyse v. a. auf nummerische Schätzungen zur Höhe der Nachfrage zum aktuellen Zeitpunkt (statisch) oder im Zeitverlauf (dynamisch). Neben der Erhebung von Primärdaten spielt hier die Auswertung bereits vorhandener Daten, d.  h. die Sekundärdatenanalyse, eine besondere Rolle (vgl. Frodl 2011). Die vorliegende Fallstudie befasst sich mit einer zeitpunktbezogenen Schätzung von Markt- und Absatzvolumina. Wertvolle Informationen für beide Vorgehensweisen stellt die Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) bereit (GBE Bund 2019). Eine Übersicht mit weiteren Informationsquellen für den Gesundheitssektor ist z.  B. bei Frodl (2011, S.  40) zu finden. Mithilfe aggregierter Fallzahlen können Verbraucher∗innen in jeweils homogene Kund∗innengruppen, d. h. Marktsegmente, untergliedert werden. Durch die Segmentierung des Marktes können die Vier P des Marketing-Mix (vgl. Fallstudie Vier P für die Wundauflage FüDiWo in Kap. 7) passgenau für die einzelnen Gruppen gewählt werden. Eine Kalkulation der tatsächlich möglichen Absatzmenge ebenso wie das Überschlagen des gesamten Marktpotenzials für ein Unternehmen kann mithilfe des Bottom-upoder des Top-down-Ansatzes erfolgen. Während beim Bottom-up-Verfahren Individualdaten mittels Prävalenzangaben oder geschätzten Fallzahlen auf die Grundgesamtheit hochgerechnet werden, beginnt der Top-down-Ansatz bei hochaggregierten Daten, die für kleinere Einheiten umgerechnet werden. In der Praxis wird die Wahl des Vorgehens häufig über die Datenverfügbarkeit entschieden (vgl. Koerber et al. 2016).

5  Kennzahlen der Marktforschung

47

Eine allgemeine Einführung in die Marktforschung und die Abgrenzung relevanter Märkte bietet Meffert et  al. (2015, insbesondere Kap.  3 und  4). Als weiterführende ­Literatur zum Thema Marktanalyse im Gesundheitswesen wird das Buch Marketing im Gesundheitsbetrieb von Frodl (2011) empfohlen. Eine Erläuterung der wichtigsten Begriffe zur Absatzwirtschaft, die an Fragestellungen von Gesundheitsbetrieben veranschaulicht werden, enthält das Kapitel Marktpotenzial der Innovation (Koerber et al. 2016) aus dem Lehrbuch Business Planning im Gesundheitswesen (Rogowski 2016).

5.2

Fallstudie: Market Sizing für die Wundauflage FüDiWo

Während Ihrer langjährigen Tätigkeit in einem Pflegeheim hat Sie das Thema Wundversorgung gepackt. Besonders berührt hat Sie die Situation bei der Versorgung von chronischen Wunden. Ein Begleitphänomen von chronischen Wunden ist der unangenehme Geruch. Während dieser von Fachkräften als Begleiterscheinung hingenommen wird, kann er bei einigen Betroffenen Schamgefühle auslösen und sogar zu Isolation führen, weil Betroffene die Einsamkeit der Vorstellung vorziehen, bei ihren Mitmenschen Ekel auszulösen. Um der Beeinträchtigung der Lebensqualität von Menschen mit chronischen Wunden entgegenzuwirken, haben Sie sich zum Ziel gesetzt, eine geruchsneutralisierende Wundauflage mitzuentwickeln. Eine ehemalige Schulfreundin, die Ihr Vorhaben mit Begeisterung teilt, unterstützt Sie mit ihrem Wissen als Pharmakologin. Das Ergebnis Ihrer Zusammenarbeit ist eine geruchsneutralisierende Wundauflage mit Haftrand. Aufgrund der Zusammensetzung von ausgewählten Inhaltsstoffen und ihrer Beschaffenheit kann Ihre Wundauflage potenziell bei allen Wundarten verwendet werden – also auch solchen, die nicht chronisch sind. Besonders geeignet ist sie jedoch für die Versorgung stark exsudierender Wunden mit Geruchsbildung, also Eigenschaften, die v. a. bei chronischen Wunden vorkommen. Sie kann im Regelfall 48 h belassen und auch bei einer bestehenden kritischen Kolonisation/Infektion verwendet werden (DNQP 2015).1 Hinweis: In dieser Fallstudie wird angenommen, dass herkömmliche Wundauflagen im Durchschnitt alle 24 Stunden gewechselt werden. Sie haben das Produkt FüDiWo genannt – als Akronym für Fühl-Dich-Wohl.

 Eine evidenzbasierte Wundtherapie sollte in Anlehnung an Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF; vgl. hierzu online verfügbare Datenbank zur Leitlinien-Suche (AWMF 2019)) bzw. auf Basis der gültigen nationalen Expertenstandards der Pflege erfolgen, die vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) herausgebracht werden (vgl. DNQP 2015). Je nach Grunderkrankung, Lokalisation und Stadium der Wunde, Gewebetyp und Exsudation können unterschiedliche Typen von Wundauflagen verwendet werden. Für die vorliegende Fallstudie wird der Sachverhalt stark vereinfacht dargestellt und auf weitere Differenzierungen verzichtet.

1

48

E. Larjow und C. Reuschenbach

Für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen ist Ihr Produkt aus zwei Gründen interessant: Zum einen können sie bei der Wundversorgung mit FüDiWo durch die geruchsneutralisierende Wirkung zur Steigerung der Lebensqualität von Pflegebedürftigen mit chronischen Wunden beitragen. Zum anderen können Einrichtungen durch weniger häufige Auflagenwechsel und damit verbundene Arbeitsschritte (z.  B.  Wundreinigung; Dokumentation der erfolgten Wundversorgung) Zeit einsparen. Daher könnte Ihr Produkt auch für Krankenhäuser durchaus interessant sein, denn auch hier verursachen chronische Wunden hohe Kosten durch erhöhten Pflegeaufwand, kostenintensive Therapie und verlängerte Krankenhausverweildauer. Für den Markteinstieg möchten Sie sich jedoch nur auf vollstationäre Pflegeeinrichtungen fokussieren, da Ihnen dieser Bereich vertrauter ist. Aber ist dieser Fokus klug gesetzt? Bei der Beantwortung dieser Frage kann Ihnen die Schätzung möglicher Absatzvolumina in verschiedenen Versorgungssettings und der anschließende Vergleich helfen. Während Ihre Freundin sich um die Zulassung von FüDiWo kümmert, sind Sie für die Vermarktung und die Suche nach Investor∗innen zuständig. Mittels Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) sowie weiteren Informationsquellen starten Sie mit dem ersten Schritt der Marktanalyse und schätzen zunächst das gesamte Marktpotenzial für Wundauflagen. Anschließend können Sie über die Betrachtung des mengenmäßigen Marktvolumens für die chronische Wundversorgung in ausgewählten Marktsegmenten zu einer Absatzvolumenschätzung für FüDiWo gelangen. Folgende Annahmen ziehen Sie ergänzend zu den Ihnen verfügbaren Fakten und Informationen heran: • Sie gehen sehr optimistisch davon aus, dass bereits im ersten Jahr für 30 % der Kund∗innen mit chronischen Wunden eine Umstellung auf Ihr Produkt erfolgen wird. • Sie nehmen an, dass ein∗e Kund∗in jährlich ca. 180 FüDiWo-Wundauflagen benötigen wird (365 Tage × 24 h/48 h Nutzungsdauer pro Auflage ≈ jährliche Fallzahl: 180). • Für Ihre erste Schätzung gehen Sie statisch vor (zeitpunktbezogen) und vernachlässigen vorerst Trendverläufe ebenso wie Einflussfaktoren (z. B. Sterbefälle), die sich auf das Absatzvolumen auswirken. Um den Wundheilungsprozess in Ihrer Schätzung nicht gänzlich außer Acht zu lassen, reduzieren Sie zum Schluss Ihre geschätzte Absatzmenge in Pflegeheimen und in ambulanten Pflegediensten um 20 %.

5.3

Aufgaben

5.3.1 Zielmarktbestimmung und Marktsegmentierung a) Schauen Sie sich Abb. 5.1 an. Bestimmen Sie die Endverbraucher∗innen, aus denen sich das Marktpotenzial zusammensetzen könnte, und Endverbraucher∗innen, die dem Marktvolumen zugerechnet werden könnten. b) Nach welchen Kriterien lässt sich der Markt bzw. der Kund∗innenkreis von FüDiWo segmentieren?

5  Kennzahlen der Marktforschung

49 Mengenmäßiges Marktpotenzial:

Mengenmäßiges Marktvolumen:

Marktsegmente: Pflegeheime ambulante Pflegedienste Krankenhäuser

Sonstige Sonstige

Abb. 5.1  Marktvolumenschätzung am Beispiel FüDiWo

c) Segmentieren Sie den Markt für die nächsten Aufgaben nach Settings, in denen die Versorgung von chronischen Wunden stattfinden kann (diese stellen zugleich mögliche Vertriebswege für Ihr Produkt dar) und vervollständigen Sie die Bezeichnungen des Kreisdiagramms (s. Abb.  5.1). Wo würden Sie das Absatzvolumen von FüDiWo im Kreisdiagramm lokalisieren? Welche Eigenschaften könnte das Versorgungssetting Sonstige in Abgrenzung zu den anderen drei Marktsegmenten aufweisen? d) Welche Datenquellen fallen Ihnen ein, die Sie bei der Quantifizierung des Zielmarktes und bei der Schätzung von Absatzmengen für Ihr Unternehmen heranziehen könnten? Benennen Sie mindestens drei Informationsquellen.

5.3.2 Bottom-up-Schätzung Ihre Ausgangsfrage, die Sie zur Durchführung der Marktanalyse veranlasst hat, bezieht sich auf den Vergleich von Marktvolumina für drei ausgewählte Marktsegmente und die jeweils zu erwartende Absatzmengenschätzung. Für die nächsten Schritte konzentrieren Sie sich daher ausschließlich auf diese Teilbereiche des Gesamtmarktes für die chronische Wundversorgung (s. Abb. 5.2). a) Wählen Sie aus dem Zahlenmaterial in Tab. 5.1 diejenigen Daten aus, die Ihnen für den Start der Schätzung nach dem Bottom-up-Ansatz relevant erscheinen und die Sie im Verlauf der Hochrechnung benötigen werden. Beachten Sie bitte, dass eine Anpassung Ihrer ersten Auswahl im Verlauf der Berechnungen durchaus legitim ist. Gleichen Sie gerne Ihre erste Auswahl mit Ihrer finalen Festlegung am Ende der Gesamtaufgabe ab.

50

E. Larjow und C. Reuschenbach

Pflegeheime ambulante Pflegedienste Krankenhäuser Sonstige

Abb. 5.2  Mengenschätzungen für drei ausgewählte Wundversorgungssettings

b) Schätzen Sie mithilfe geeigneter Zahlen aus Tab.  5.1 die Anzahl von Personen mit chronischen Wunden (PCW) in jedem Marktsegment, d. h. PCW in Pflegeheimen, in der Versorgung durch ambulante Pflegedienste und in Krankenhäusern. Geben Sie auch die relative Verteilung (in %) an. c) Aus wie vielen Personen setzt sich das mengenmäßige Marktvolumen für Wundauflagen für chronische Wunden zusammen? d) Mit welcher jährlichen Absatzmenge kann FüDiWo unter Beachtung der getroffenen Annahmen im Marktsegment Pflegeheime rechnen? Geben Sie das Ergebnis in Stückzahl der Wundauflage an. e) Schätzen Sie auch die jährliche Absatzmenge für die beiden anderen Marktsegmente. Hinweis: Für die Ermittlung der Absatzmenge im Krankenhaus benötigen Sie die Angabe zur Verweildauer eines Patienten bzw. einer Patientin (Lfd.-Nr. 15). Diese ist notwendig, um zunächst die durchschnittliche Anzahl von Wundauflagen pro Patient∗in in diesem Setting berechnen zu können. Bitte runden Sie Ihr Zwischenergebnis zum durchschnittlichen Auflagenverbrauch je Patient∗in hier ab! f) Passen Sie das rechte Kreisdiagramm aus Abb. 5.2 entsprechend Ihren Ergebnissen an und geben Sie für jedes abgebildete Marktsegment das geschätzte Absatzvolumen für Ihr Unternehmen in verkauften Einheiten pro Jahr an. g) Würden Sie auf Basis Ihrer Absatzmengenschätzung den Fokus auf dem Marktsegment Wundversorgung in Pflegeheimen beibehalten? Begründen Sie Ihre Antwort.

5.3.3 Top-down-Schätzung Ihre Ausgangsfrage, die Sie zur Durchführung der Marktanalyse veranlasst hat, bezieht sich auf den Vergleich von Marktvolumina für drei ausgewählte Marktsegmente und die jeweils zu erwartende Absatzmengenschätzung. Für die nächsten Schritte konzentrieren

5  Kennzahlen der Marktforschung

51

Tab. 5.1  Datenauswahl für Marktvolumenschätzung Bottom-up Lfd.-Nr. Bezugsgröße 1. Bevölkerung in Deutschland gesamt (in 2015) 2. 3. 4. 5. 6.

7.

8.

9.

10.

11.

12. 13. 14.

15.

Pflegebedürftige gesamt (in 2015) Pflegebedürftige in einem Referenzpflegeheim Pflegebedürftige in Pflegeheimen (in 2015) Pflegebedürftige zu Hause versorgt (in 2015) Pflegebedürftige zu Hause versorgt allein durch Angehörige (in 2015) Pflegebedürftige zu Hause versorgt mit/durch ambulante Pflegedienste (in 2015) Vollstationäre Krankenhauspatient∗innen (in 2015) Anzahl Pflegebedürftige mit chronischen Wunden in einem Referenzpflegeheim Anzahl Pflegebedürftige mit chronischen Wunden je 100 ambulant Gepflegte Personen mit chronischen Wunden im Krankenhaus je 100 Patient∗innen Anzahl Pflegeheime gesamt (in 2015) Ambulante Pflegedienste (in 2015) Anzahl Krankenhäuser (in 2015)

Jährliche Fallzahl Quelle 82.176.000 Bevölkerungsstatistik (Statistisches Bundesamt 2019) 2.860.293 Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) 100 Eigene Beobachtung 783.416 2.076.877 1.384.604

692.273

Relevanz

Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017)

19.758.261 Krankenhausdiagnosestatistik (Statistisches Bundesamt 2016a) 4 Eigene Beobachtung

3

Interviews mit Wundmanager∗innen

2

Interviews mit Wundmanager∗innen

13.596

Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Krankenhausstatistik (Statistisches Bundesamt 2016b) Krankenhausdiagnosestatistik (Statistisches Bundesamt 2016b)

13.323 1956

Durchschnittliche Verweildauer 7 Tage im Krankenhaus

Sie sich daher ausschließlich auf diese Teilbereiche des Gesamtmarktes für die chronische Wundversorgung (s. Abb. 5.2). a) Wählen Sie aus dem Zahlenmaterial in Tab. 5.2 diejenigen Daten aus, die Ihnen für den Start der Schätzung nach dem Top-down-Ansatz relevant erscheinen und die Sie im

52

E. Larjow und C. Reuschenbach

Tab. 5.2  Datenauswahl für Marktvolumenschätzung Top-down Jährliche Fallzahl/ Lfd.-Nr. Bezugsgröße Prävalenz 1. Bevölkerung in Deutschland 82.176.000 gesamt (in 2015) 2. Prävalenz Personen mit 1,1 % chronischen Wunden in Gesamtbevölkerung 3. Pflegebedürftige insgesamt 2.860.293 (in 2015) 4. Pflegebedürftige in 783.000 Pflegeheimen (in 2015) 5. Pflegebedürftige zu Hause 1.384.604 versorgt durch Angehörige (in 2015) 692.273 6. Pflegebedürftige zu Hause versorgt mit/durch ambulante Pflegedienste (in 2015) 7. Dekubitusprävalenz in 3,8 %⃰ stationären Pflegeeinrichtungen 8. Dekubitusprävalenz in 3,2 %⃰ ambulanten Pflegediensten 9. Prävalenz Personen mit 2 % chronischen Wunden im Krankenhaus

10. 11. 12. 13.

Anzahl Pflegeheime gesamt (in 2015) Anzahl ambulante Pflegedienste (in 2015) Anzahl Krankenhäuser gesamt (in 2015) Durchschnittliche Verweildauer im Krankenhaus

13.596 13.323 1956 7 Tage

Quelle Bevölkerungsstatistik (Statistisches Bundesamt 2019) PMV Forschungsgruppe (KÖSTER und SCHUBERT 2015) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017)

Relevanz

Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017)

Qualitätsbericht des MDS (MDS 2014) Qualitätsbericht des MDS (MDS 2014) Eigene Berechnungen auf Basis von Diagnose- & Fallpauschalendaten der Krankenhäuser (Statistisches Bundesamt 2016b; Statistisches Bundesamt 2015) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Krankenhausstatistik (Statistisches Bundesamt 2016b) Krankenhausdiagnosestatistik (Statistisches Bundesamt 2016b)

⃰Dem Qualitätsbericht des MDS (2014) können neben der Dekubitusprävalenz auch Vorkommen für weitere Arten von chronischen Wunden bei Pflegebedürftigen entnommen werden (z. B. Ulcus cruris oder das diabetische Fußsyndrom). Da die MDS-Angaben hierzu auf Mehrfachnennungen basieren, wurde für die Fallstudie stellvertretend nur die Diagnose mit der höchsten Prävalenzrate hinzugezogen, um einheitlich auf Personenebene anstatt auf Wundebene zu bleiben. Grundsätzlich wären für eine differenziertere Marktanalyse und Schätzung der jährlichen Gesamtabsatzmenge aber alle chronischen Wunden interessant, da eine Person mit drei chronischen Wunden auch drei Wundauflagen benötigen würde. Diese Information wird im Rahmen der vorliegenden Fallstudie vernachlässigt

5  Kennzahlen der Marktforschung

53

Verlauf der weiteren Berechnungen benötigen werden. Beachten Sie bitte, dass eine Anpassung Ihrer ersten Auswahl im Verlauf der Berechnungen durchaus legitim ist. Gleichen Sie gerne Ihre erste Auswahl mit Ihrer finalen Festlegung am Ende der Gesamtaufgabe ab. b) Bestimmen Sie zunächst die Anzahl aller Personen mit chronischen Wunden (PCW) in Deutschland. c) Gehen Sie davon aus, dass bei der Hälfte der chronischen Wundpatient∗innen die Wundversorgung in den drei ausgewählten Settings (Pflegeheime, ambulante Pflegedienste, Krankenhäuser) erfolgt. Aus wie vielen PCW setzt sich demnach das gesamte Marktvolumen für die ausgewählten Versorgungsbereiche zusammen? d) Schätzen Sie nun die Anzahl von PCW in jedem ausgewählten Segment. Geben Sie auch die relative Verteilung der PCW (in %) auf die Segmente Pflegeheime, ambulante Pflegedienste und Krankenhäuser an. e) Mit welcher jährlichen Absatzmenge kann FüDiWo unter Beachtung der getroffenen Annahmen im Marktsegment Pflegeheime rechnen? Geben Sie das Ergebnis in geschätzter Stückzahl der jährlich verkauften Wundauflagen an. f) Schätzen Sie auch die Absatzmenge für die beiden anderen Marktsegmente. Hinweis: Für die Ermittlung der Absatzmenge im Krankenhaus benötigen Sie die Angabe zur Verweildauer eines Patienten bzw. einer Patientin (Lfd.-Nr. 13). Diese ist notwendig, um zunächst die durchschnittliche Anzahl von Wundauflagen pro Patient∗in in diesem Setting berechnen zu können. Bitte runden Sie Ihr Ergebnis zum durchschnittlichen Auflagenverbrauch je Patient∗in hier ab! g) Passen Sie das rechte Kreisdiagramm aus Abb. 5.2 entsprechend Ihren Ergebnissen an und geben Sie für jedes abgebildete Marktsegment das geschätzte Absatzvolumen für Ihr Unternehmen in verkauften Einheiten pro Jahr an. h) Würden Sie auf Basis Ihrer Absatzmengenschätzung den Fokus auf dem Marktsegment Wundversorgung in Pflegeheimen beibehalten? Begründen Sie Ihre Antwort.

5.4

Lösungsvorschläge

5.4.1 Zielmarktbestimmung und Marktsegmentierung a) Grundsätzlich müssen Märkte immer im Hinblick auf spezifische Produkte bzw. Pro­ blemlösungen definiert werden, die ein Unternehmen anbietet. Unter dem Marktvolumen wird der gesamte derzeitige Umsatz (in Stückzahlen oder Geldeinheiten) für eine Lösung verstanden, die auch das Unternehmen anbietet. Das Marktpotenzial bezieht weitere Kund∗innen bzw. Anwendungen mit ein, die die Lösung des Unternehmens derzeit noch nicht nutzen, für die sie jedoch grundsätzlich auch in Frage käme (vgl. Koerber et al. 2016, S. 101 f.; Meffert et al. 2015, S. 176 ff.)

54

E. Larjow und C. Reuschenbach

Die Marktdefinition kann anhand verschiedener Kriterien erfolgen. Betrachtet man den Zielmarkt für FüDiWo im Hinblick auf die Definition von chronischen Wunden (vgl. DNQP 2015, S. 11), so setzt sich das Marktvolumen aus chronischen Wundpatient∗innen zusammen. Zum Marktpotenzial könnten dann alle Personen mit Wunden gezählt werden, also auch diejenigen, deren Wunde per Definition (noch) nicht als chronisch bezeichnet wird. Eine andere Marktdefinition könnte sich z. B. daran orientieren, dass es sich um stark exsudierende Wunden handelt. Personen mit Wunden, die nicht stark exsudieren, würden dann das Marktpotenzial darstellen. Auch sie könnten grundsätzlich von FüDiWo profitieren, werden aber derzeit mit anderen Arten von Wundmaterial versorgt. b ) Der Markt bzw. der Kundenkreis von FüDiWo könnte bspw. nach den folgenden Kriterien segmentiert werden: • soziodemografische Faktoren (z. B. Alter; regionale Zugehörigkeit) • Involvement-Intensität (Problemempfinden der Geruchsbelästigung) • Diagnose (z.  B.  Differenzierung nach Art der chronischen Wunde wie Dekubitus, Ulcus cruris, diabetisches Fußsyndrom, sonstige chronische Wunden) • Schweregrad der Wunden als weitere Ausdifferenzierung der Diagnosen (Schweregrad von bspw. Dekubitus geht aus dem vierstelligen ICD-10-Code hervor; so entspricht der Code L89.1 dem Dekubitus 2. Grades) • Versorgungssetting (z. B. Wundversorgung im Pflegeheim; Wundversorgung im ambulanten Bereich durch Pflegedienst; Wundversorgung im ambulanten Bereich durch Angehörige; Wundversorgung im ambulanten Bereich durch selbstständige Wundexpert∗innen/-therapeut∗innen; Wundversorgung im Krankenhaus) • Weitere marketing- und vertriebsrelevante Ausdifferenzierungen der Wundversorgungseinrichtungen, wie z. B. Größe oder Trägerschaft c) Die Versorgung von chronischen Wunden kann in vollstationären Pflegeeinrichtungen durch qualifiziertes Personal oder in der Häuslichkeit der Betroffenen mithilfe von ambulanten Pflegediensten erfolgen. Im Krankenhaus findet die Versorgung von Patient∗innen mit chronischen Wunden statt, wenn die Wunde aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums zumindest vorübergehend ambulant nicht mehr therapierbar ist. Die Versorgung findet auch dann im Krankenhaus statt, wenn Patient∗innen mit chronischen Wunden sich aufgrund anderer Hauptdiagnosen im Krankenhaus aufhalten. Unter Beachtung der Präferenzen von den FüDiWo-Erfinderinnen sowie der getroffenen Annahmen kann das Absatzvolumen von FüDiWo innerhalb des Wundversorgungssettings Pflegeheime lokalisiert werden. Abb. 5.3 stellt diese Zuordnung dar. Darüber hinaus kann eine chronische Wunde in der Häuslichkeit der Betroffenen auch durch Angehörige oder durch selbstständig tätige Wundexpert∗innen erfolgen. Letztgenannte Fälle wurden in der vorliegenden Fallstudie unter das Marktsegment Sonstige eingeordnet.

5  Kennzahlen der Marktforschung

55 Mengenmäßiges Marktpotenzial: alle Personen in D mit Wunden

Absatzvolumen FüDiWo Mengenmäßiges Marktvolumen: alle chronischen Wundpatient*innen in D Marktsegmente: Wundversorgungssettings Pflegeheime

ambulante Pflegedienste Krankenhäuser

Sonstige Sonstige

Abb. 5.3  Absatzvolumen FüDiWo innerhalb der gewählten Marktsegmente

d) Einen Markt zu quantifizieren, ist mit der Aufgabe verbunden, aus einer Vielzahl von Daten diejenigen auszuwählen, die für Ihr Erkenntnisinteresse tatsächlich geeignet sind. Gerade für das Abschätzen von noch nicht eingetretenen Sachverhalten, wie bspw. das Abschätzen der Verkaufsmenge für ein noch nicht auf dem Markt vertriebenes Produkt, bedarf es häufig der Kombination von mehreren einschlägigen Datenquellen, ergänzt um Annahmen, die die verschiedenen Zahlen in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Für die Abschätzung des Marktes für chronische Wundversorgung ebenso wie für die anschließende grobe Schätzung der jährlichen FüDiWo-­Absatzmenge sind folgende Informationsquellen grundsätzlich geeignet: • Fachstatistiken der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (z. B. Pflegestatistik; Diagnosedaten der Patient∗innen in Krankenhäusern; für weitere Beispiele und detaillierte Quellen s. auch Tab. 5.3 und 5.5) • eigene Erhebungen – z. B. Befragung von Pflegepersonal oder Patient∗innen mit chronischen Wunden • Informationen relevanter Verbände – hier z. B. Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) • publizierte Studien (über Suche in bibliografischen Datenbanken, z. B. MEDLINE/ PubMed oder LIVIVO)

56

E. Larjow und C. Reuschenbach

Tab. 5.3  Ausgewählte Daten für die Absatzvolumenschätzung von FüDiWo nach dem Bottom-­up-­ Ansatz Lfd.-Nr. Bezugsgröße 1. Bevölkerung in Deutschland gesamt (in 2015) 2. Pflegebedürftige gesamt (in 2015) 3. Pflegebedürftige in einem Referenzpflegeheim 4. Pflegebedürftige in Pflegeheimen (in 2015) 5. Pflegebedürftige zu Hause versorgt (in 2015) 6. Pflegebedürftige zu Hause versorgt allein durch Angehörige (in 2015) 7. Pflegebedürftige zu Hause versorgt mit/durch ambulante Pflegedienste (in 2015) 8. Vollstationäre Krankenhauspatient∗innen (in 2015) 9. Anzahl Pflegebedürftige mit chronischen Wunden in einem Referenzpflegeheim 10. Anzahl Pflegebedürftige mit chronischen Wunden je 100 ambulant Gepflegte 11. Personen mit chronischen Wunden im Krankenhaus je 100 Patient∗innen 12. Anzahl Pflegeheime gesamt (in 2015) 13. Ambulante Pflegedienste (in 2015) 14. Anzahl Krankenhäuser (in 2015) 15.

Jährliche Fallzahl Quelle 82.176.000 Bevölkerungsstatistik (Statistisches Bundesamt 2019) 2.860.293 Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) 100 Eigene Beobachtung 783.416 2.076.877 1.384.604

692.273

Relevanz Nein Nein Ja

Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017)

Ja

Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017)

Ja

Nein Nein

19.758.261 Krankenhausdiagnosestatistik (Statistisches Bundesamt 2016b) 4 Eigene Beobachtung

Ja

3

Interviews mit Wundmanager∗innen

Ja

2

Interviews mit Wundmanager∗innen

Ja

13.596

Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Krankenhausstatistik (Statistisches Bundesamt 2016b) Krankenhausdiagnosestatistik (Statistisches Bundesamt 2016b)

Nein

13.323 1.956

Durchschnittliche 7 Tage Verweildauer im Krankenhaus

Ja

Nein Nein

Ja

5  Kennzahlen der Marktforschung

57

• Informationen aus der (Wirtschafts-)Presse, die häufig über Fachdatenbanken von (Universitäts-)Bibliotheken eingesehen werden können (z.  B.  EconLit, Business Source Premier, EconBiz)

5.4.2 Bottom-up-Schätzung a) Der Bottom-up-Ansatz startet beim Einzelfall und rechnet ihn auf das Aggregat hoch. Dabei sind unterschiedliche Rechenwege möglich. In Tab. 5.3 sind für einen exemplarischen Rechenweg diejenigen Daten in der rechten Spalte mit Ja gekennzeichnet, die für eine Bottom-up-Schätzung der Volumina in verschiedenen Marktsegmenten herangezogen werden können. b) Die geschätzte Anzahl von Personen mit chronischen Wunden (PCW) in den ausgewählten Marktsegmenten ist in Abb. 5.4 dargestellt und der Rechenweg nachfolgend erläutert. Pflegeheime: 4 Beobachtungsfälle/100 Pflegeheimbewohner∗innen in Referenzpflegeheim × 783.416 Pflegeheimbewohner∗innen in Deutschland = 31.337 PCW in Pflegeheimen (= 7 % von allen PCW in ausgewählten Wundversorgungsettings). Information aus Zeile mit Lfd.-Nr.: 9; 3; 4. Ambulante Pflegedienste: 3 Beobachtungsfälle/100 Pflegebedürftige in ambulanten Pflegediensten (Interviews mit Wundmanager∗innen) × 692.273 Pflegebedürftige in Versorgung mit/durch ambulante Pflegedienste in Deutschland = 20.768 PCW in ambulanten Pflegediensten (= 5  % von allen PCW in ausgewählten Wundversorgungsettings). Information aus Zeile mit Lfd.-Nr.: 10; 7.

Pflegeheime 31.337 7%

Krankenhäuser 395.165 88%

ambulante Pflegedienste 20.768 5%

Abb. 5.4  Anzahl von Personen mit chronischen Wunden nach ausgewählten Marktsegmenten

58

c)

d)

e)

f) g)

E. Larjow und C. Reuschenbach

Krankenhäuser: 2 Beobachtungsfälle/100 Patient∗innen in Krankenhäusern (Interviews mit Wundmanager∗innen) × 19.758.261 Patient∗innen in Krankenhäusern = 395.165 PCW in Krankenhäusern (= 88  % von allen PCW in ausgewählten ­Wundversorgungsettings). Information aus Zeile mit Lfd.-Nr.: 11; 8. Das mengenmäßige Marktvolumen setzt sich aus 447.270 PCW zusammen. Das Ergebnis entspricht der Summe aus den Teilergebnissen in Teilaufgabe b): 31.337 + 20.768 + 395.165 = 447.270. Während sich der Begriff des Marktvolumens auf den Umsatz im gesamten Markt bzw. gesamte Marktsegmente bezieht, bezieht sich der Begriff des Absatzvolumens auf den Umsatz einzelner Unternehmen. Gemäß der obigen Annahme beläuft sich die jährliche Absatzmenge von FüDiWo in Pflegeheimen demnach auf 1.353.743 Wundauflagen (s. Tab. 5.4). Die jährliche Absatzmenge von FüDiWo in ambulanten Pflegediensten beläuft sich auf 897.186 Wundauflagen und in Krankenhäusern auf 355.649 Wundauflagen (s. Tab. 5.4). Das angepasste Kreisdiagramm ist in Abb. 5.5 dargestellt. Die Schätzung der Absatzmenge als Ergebnis der Marktanalyse bestätigt die Entscheidung zur Schwerpunktsetzung auf PCW in Pflegeheimen, da hier der meiste jährliche Verbrauch an FüDiWo-Auflagen erwartet wird. Verglichen mit beiden anderen Versorgungsbereichen (ambulante Pflegedienste und Krankenhäuser) nimmt die geschätzte jährliche Absatzmenge einen relativen Anteil von 52 % ein.

5.4.3 Top-down-Schätzung a) Daten, die für eine Absatzvolumenschätzung beginnend nach dem Top-down-Ansatz und für weitere Berechnungen geeignet sind, sind in der rechten Spalte der Tab. 5.5 mit Ja gekennzeichnet. b) Die Anzahl der Personen mit chronischen Wunden (PCW) in Deutschland liegt bei 903.936. 82.176.000/100 × 1,1 = 903.936 Information aus Zeile mit Lfd.-Nr.: 1; 2. c) Das Marktvolumen für die ausgewählten Versorgungsbereiche setzt sich aus 451.968 PCW zusammen. 903.936/2 = 451.968. Hinweis: Division durch 2 ergibt sich aus der Annahme, die in Teilaufgabe c) formuliert wurde.

Hinweise zur Berechnung Pflegeheime Ambulante Pflegedienste Krankenhäuser 355.649

3

118.550

Ergebnis aus Teilaufgabe b) multipliziert mit 0,3 9401 6230

Verkaufte Einheiten pro Jahr Anzahl PCW multipliziert Für Krankenhäuser: s. in mit jährlicher Stückzahl je Datenauswahl Lfd.-Nr. 15 PCW 180 1.692.179 180 1.121.482

Jährliche Stückzahl je PCW

30 % Kund∗innenumstellungen auf FüDiWo in Anzahl PCW

Tab. 5.4  Schätzung der jährlichen FüDiWo-Stückzahl in ausgewählten Marktsegmenten (Bottom-up)

355.649

Nur in Pflegeheimen & in amb. Pflegediensten! 1.353.743 897.186

Abzüglich 20 % Wundheilung

14 %

Relativer Anteil 52 % 34 %

5  Kennzahlen der Marktforschung 59

60

E. Larjow und C. Reuschenbach Krankenhäuser 355,649 14%

Pflegeheime 1,353,743 52% ambulante Pflegedienste 897,186 34%

Abb. 5.5  Relative Verteilung der Absatzmengenschätzung für FüDiWo in ausgewählten Marktsegmenten (Bottom-up)

d) Die geschätzte Anzahl von PCW in den ausgewählten Marktsegmenten ist in Tab. 5.6 und die relative Verteilung in Abb. 5.6 dargestellt. Der Rechenweg wird nachfolgend erläutert. Pflegeheime: 783.000 Pflegebedürftige in Pflegeheimen × 0,038 für Prävalenz in Pflegeheimen = 29.754 PCW in Pflegeheimen (= 6,6 % von allen PCW in ausgewählten professionellen Wundversorgungsettings). Information aus Zeile mit Lfd.-Nr.: 4; 7. Ambulante Pflegedienste: 692.273 Pflegebedürftige mit/durch amb. Pflegedienste versorgt × 0,032 für Prävalenz in ambulanten Pflegediensten = 22.153 PCW in ­ambulanten Pflegediensten (= 4,9  % von allen PCW in ausgewählten Wundversorgungsettings). Information aus Zeile mit Lfd.-Nr.: 6; 8. Krankenhäuser: 451.968 PCW in ausgewählten Versorgungssettings (s. Lösung zu Teilaufgabe c)) – 29.754 PCW in Pflegeheimen – 22.153 PCW in ambulanten Pflegediensten = 400.061 PCW in Krankenhäusern (= 88,5 % von allen PCW in ausgewählten Wundversorgungsettings). e) Geschätzte jährliche Absatzmenge für FüDiWo in Pflegeheimen liegt bei 1.285.373 Stück (Tab. 5.7). f) Geschätzte jährliche Absatzmenge für FüDiWo liegt in ambulanten Pflegediensten bei 956.998 und in Krankenhäusern bei 360.055 Wundauflagen (Tab. 5.7).

Anzahl Pflegeheime gesamt (in 2015) Anzahl ambulante Pflegedienste (in 2015) Anzahl Krankenhäuser gesamt (in 2015) Durchschnittliche Verweildauer im Krankenhaus

10. 11. 12. 13. 13.596 13.323 1956 7 Tage

2 %

3,2 %⃰

3,8 %⃰

692.273

2.860.293 783.000 1.384.604

Jährliche Fallzahl/ Prävalenz 82.176.000 1,1 %

Eigene Berechnungen auf Basis von Diagnose- & Fallpauschalendaten der Krankenhäuser (Statistisches Bundesamt 2016b; Statistisches Bundesamt 2015) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Krankenhausstatistik (Statistisches Bundesamt 2016b) Krankenhausdiagnosestatistik (Statistisches Bundesamt 2016b)

Qualitätsbericht des MDS (MDS 2014)

Qualitätsbericht des MDS (MDS 2014)

Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017)

Quelle Bevölkerungsstatistik (Statistisches Bundesamt 2019) PMV Forschungsgruppe (KÖSTER und SCHUBERT 2015) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017) Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2017)

Nein Nein Nein Ja

Nein

Ja

Ja

Ja

Nein Ja Nein

Relevanz Ja Ja

*Dem Qualitätsbericht des MDS (2014) können neben der Dekubitusprävalenz auch Vorkommen für weitere Arten von chronischen Wunden bei Pflegebedürftigen entnommen werden (z. B. Ulcus cruris oder das diabetische Fußsyndrom). Da die MDS-Angaben hierzu auf Mehrfachnennungen basieren, wurde für die Fallstudie stellvertretend nur die Diagnose mit der höchsten Prävalenzrate hinzugezogen, um einheitlich auf Personenebene anstatt auf Wundebene zu bleiben. Grundsätzlich wären für eine differenziertere Marktanalyse und Schätzung der jährlichen Gesamtabsatzmenge aber alle chronischen Wunden interessant, da eine Person mit drei chronischen Wunden auch drei Wundauflagen benötigen würde. Diese Information wird im Rahmen der vorliegenden Fallstudie vernachlässigt

9.

8.

7.

6.

3. 4. 5.

Bezugsgröße Bevölkerung in Deutschland gesamt (in 2015) Prävalenz für Personen mit chronischen Wunden in Gesamtbevölkerung Pflegebedürftige insgesamt (in 2015) Pflegebedürftige in Pflegeheimen (in 2015) Pflegebedürftige zu Hause versorgt durch Angehörige (in 2015) Pflegebedürftige zu Hause versorgt mit/durch ambulante Pflegedienste (in 2015) Dekubitusprävalenz in stationären Pflegeeinrichtungen Dekubitusprävalenz in ambulanten Pflegediensten Prävalenz für Personen mit chronischen Wunden im Krankenhaus

Lfd.-Nr. 1. 2.

Tab. 5.5  Ausgewählte Daten für die Absatzvolumenschätzung von FüDiWo nach dem Top-down-­Ansatz

5  Kennzahlen der Marktforschung 61

62

E. Larjow und C. Reuschenbach

Tab. 5.6  Anzahl von Personen mit chronischen Wunden in ausgewählten Marktsegmenten

Marktsegment Pflegeheime Ambulante Pflegedienste Krankenhäuser Summe

Anzahl PCW 29.754 22.153 400.061 451.968

Pflegeheime 29,754 7% ambulante Pflegedienste 22,153 5%

Krankenhäuser 400,061 88%

Abb. 5.6  Relative Verteilung von Personen mit chronischen Wunden in ausgewählten Marktsegmenten (Top-down)

Hinweis: Im Krankenhaus verweilt eine Person im Durchschnitt keine 365, sondern 7 Tage. (s. Lfd.-Nr. 13 aus Tab. 5.5). In diesem Setting wird daher der jährliche Verbrauch von 3 FüDiWo-Auflagen pro Person angenommen basierend auf folgen­ der Rechnung sowie auf dem Bearbeitungshinweis aus der Aufgabenstellung: 7 d × 24 h/48 h ≈ abgerundet 3 Auflagen pro Krankenhauspatient∗in mit chronischer Wunde pro Jahr. g) Das angepasste Kreisdiagramm ist in Abb. 5.7 dargestellt. h) Die Schätzung der Absatzmenge als Ergebnis der Marktvolumenschätzung bestätigt die Entscheidung der Schwerpunktsetzung auf PCW in Pflegeheimen, da hier der meiste jährliche Verbrauch an FüDiWo-Auflagen erwartet wird. Verglichen mit den beiden anderen Versorgungsbereichen (ambulante Pflegedienste und Krankenhäuser) nimmt die geschätzte jährliche Absatzmenge einen relativen Anteil von 49 % ein.

Hinweis zur Berechnung Pflegeheime Ambulante Pflegedienste Krankenhäuser 3

Ergebnis aus Teilaufgabe d) multipliziert mit 0,3 8926 6646

120.018

360.055

Verkaufte Einheiten pro Jahr Anzahl PCW multipliziert Für Krankenhäuser: s. in mit jährlicher Stückzahl je Datenauswahl Lfd.-Nr. 13 PCW 180 1.606.716 180 1.196.248

30 % Kund∗innenumstellungen auf Jährliche Stückzahl je FüDiWo in Anzahl PCW PCW

Tab. 5.7  Schätzung der jährlichen FüDiWo-Stückzahl in ausgewählten Marktsegmenten (Top-down)

360.055

Nur in Pflegeheimen & in amb. Pflegediensten! 1.285.373 956.998

Abzüglich 20 % Wundheilung

14 %

Relativer Anteil 49 % 37 %

5  Kennzahlen der Marktforschung 63

64

E. Larjow und C. Reuschenbach Krankenhäuser 360,055 14%

Pflegeheime 1,285,373 49% ambulante Pflegedienste 956,998 37%

Abb. 5.7  Relative Verteilung der Absatzmengenschätzung für FüDiWo in ausgewählten Marktsegmenten (Top-down)

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5  Kennzahlen der Marktforschung

65

MEFFERT, H., BURMANN, C. & KIRCHGEORG, M. (2015): Marketing: Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung – Konzepte – Instrumente – Praxisbeispiele. 12., überarb. und akt. Aufl., Wiesbaden: Springer Gabler. ROGOWSKI, W. (Hrsg.) (2016): Business Planning im Gesundheitswesen: Die Bewertung neuer Gesundheitsleistungen aus unternehmerischer Perspektive. Wiesbaden: Springer Gabler. STATISTISCHES BUNDESAMT (2015): Gesundheit. Fallpauschalenbezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik). Diagnosen, Prozeduren, Fallpauschalen und Case Mix der vollstationären Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern. 2014. Fachserie 12 Reihe 6.4. Wiesbaden, [online] https://www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServlet/DEHeft_ derivate_00018414/2120640147004_akt11012016.pdf [23.03.2019] STATISTISCHES BUNDESAMT (2016a): Gesundheit. Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern (einschl. Sterbe- und Stundenfälle) 2015. Fachserie 12 Reihe 6.2.1. Wiesbaden, [online] https://www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServlet/DEHeft_ derivate_00031005/2120621157004.pdf [23.03.2019] STATISTISCHES BUNDESAMT (2016b): Gesundheit. Grunddaten der Krankenhäuser 2015. Fachserie 12 Reihe 6.1.1. Wiesbaden, [online] https://www.destatis.de/GPStatistik/servlets/ MCRFileNodeServlet/DEHeft_derivate_00031004/2120611157004.pdf [23.03.2019] STATISTISCHES BUNDESAMT (2017): Pflegestatistik 2015. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. Wiesbaden. STATISTISCHES BUNDESAMT (2019): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerungsfortschreibung auf Grundlage des Zensus 2011. Fachserie 1 Reihe 1.3. Wiesbaden, [online] https:// www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/_inhalt. html#sprg233540 [23.03.2019] WÖHE, G. & DÖRING, U. (2013): Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 25., überarb. und akt. Aufl., München: Verlag Franz Vahlen.

6

ABC-Analyse, BCG-Matrix Wolf Rogowski und Stefan Dalichau

Zusammenfassung

Portfolioanalysen wie die BCG-Matrix sind klassische Tools des strategischen Marketings, die auch für das Gesundheitswesen relevant sind. In der folgenden Fallstudie wird dieses Konzept auf die Analyse des Leistungsspektrums eines Anbieters verschiedener Programme der betrieblichen Gesundheitsförderung angewendet. Die Ergebnisse werden zu denen einer ABC-Analyse der bestehenden Kund∗innen in Beziehung gesetzt und die Anwendbarkeit der Konzepte kritisch diskutiert.

6.1

Hintergrund

Nach dem Schritt der Marktforschung (vgl. Fallstudie Market Sizing für die Wundauflage FüDiWo in Kap. 5), in der Informationen über Bedarf und Marktsituation erfasst wurden, müssen Unternehmen grundsätzlich über die Schwerpunkte ihres Leistungsspektrums entscheiden. Hierfür ist es ratsam, verschiedene Handlungsoptionen anhand sinnvoller Kriterien strukturiert zu vergleichen. Eine Herangehensweise stellen Portfolioanalysen dar, in denen das Leistungsspektrum entlang verschiedener Dimensionen verglichen wird. Häufig wird dabei eine interne Sicht (z. B. Kostenposition im Vergleich zum Wettbewerb, technologisches Potenzial) mit einer W. Rogowski (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Dalichau Institut für angewandte Prävention und Leistungsdiagnostik, BG Ambulanz Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_6

67

68

W. Rogowski und S. Dalichau

externen Sicht (z. B. Marktgröße, Marktwachstum) kombiniert. Ein Klassiker hierfür ist die nach dem Beratungsunternehmen Boston Consulting Group benannte BCG-Matrix. In ihr werden verschiedene Produkte zum einen im Hinblick auf das Kriterium Marktwachstum unterschieden, wobei ein hohes Marktwachstum bei üblichen Verläufen von Produktlebenszyklen einen Indikator für Umsatzsteigerung und Profitabilität darstellt. Zum anderen werden sie nach dem Kriterium relativer Marktanteil unterschieden, wobei ein hoher Marktanteil bei üblicher Kostendegression in der Leistungserstellung als Hinweis auf vergleichsweise günstige Produktion im Vergleich zur Konkurrenz gedeutet werden kann. In einer Matrix, mit Marktanteil auf der Abszisse und Marktwachstum auf der Ordinate angetragen, werden 1. Question Marks, 2. Stars, 3. Cash Cows und 4. Poor Dogs unterschieden. Die damit jeweils verbundenen generischen Empfehlungen sind 1. Entscheidung über Investment oder Disinvestment, 2. strategische Schwerpunktsetzung, 3. Mitnahme der Gewinne ohne weitere Investition sowie 4. Marktausstieg. Ein weiterer Analysetypus, der in der Fallstudie eingesetzt wird, ist die ABC-Analyse. Sie kann auf vielfältige Probleme angewendet werden – z. B. im Einkauf auf die Priorisierung von Produkttypen für weitere Preisoptimierung oder im Prozessmanagement auf die Auswahl von Prozessen, die weiterer Analyse und Standardisierung unterzogen werden. Hier wird sie auf die Auswahl von Kund∗innengruppen im Hinblick auf die Attraktivität für das eigene Unternehmen angewendet. In ABC-Analysen werden analog zu einer Lorenzkurve ausgewählte Zielobjekte (z. B. hier: Produkttypen, Prozesse oder Kund∗innengruppen) nach ihrem Beitrag zur relevanten Zielgröße (z.  B. hier: Gesamtvolumen des Einkaufs, Gesamtsumme oder -kosten der Prozesse bzw. Umsatz) nach den drei Gruppen A, B und C klassifiziert. Die genaue Einteilung ist problem- und unternehmensspezifisch. Gängige Orientierungsgrößen sind, dass z.  B.  A-Objekte 80  %, B-Objekte 15  % und C-Objekte 5  % zur gesamten Zielgröße beitragen. Damit verbunden ist die häufig genannte Faustformel, dass 20 % der Kund∗innen 80 % des Umsatzes ausmachen oder 20 % der Produkttypen 80 % des gesamten Einkaufsvolumens (Meffert et al., 2015, S. 435 f.). Eine Einführung in die Strategiekonzepte ist auf diversen kostenfreien Websites wie Wikipedia oder dem Gabler Wirtschaftslexikon zu finden. Als Lehrbuch kann z. B. das Marketing-Lehrbuch von Meffert et al. (2015, S. 258 ff. und 435 f.) herangezogen werden.

6.2

Fallstudie: Strategisches Marketing für die B-fit! GmbH

In Ihren Semesterferien machen Sie ein Praktikum als Assistent∗in der Geschäftsführung der B-fit! GmbH, einem Anbieter verschiedener Programme betrieblicher Gesundheitsförderung. B-fit! hat 14 Kurstypen im Angebot und der Geschäftsführer – der ganz offensichtlich seinen Koffeinkonsum etwas reduzieren sollte – erklärt Ihnen bei einer Fahrt zu einem Kunden am ersten Tag: „Gut, dass Sie da sind. Wir sind nämlich grad in recht schwierigen Zeiten: Zwar sind wir mit acht Mitarbeitern und fast einer Million Umsatz einer der größten Anbieter weit und breit, aber der Wind bläst uns grad verdammt hart ins Gesicht. Das ist ganz anders als damals, vor 20 Jahren, als wir angefangen haben und das Thema BGF noch ein brandneuer Trend war.

6  ABC-Analyse, BCG-Matrix Ehrlich gesagt, weiß ich selbst nicht so recht, was wir tun sollten. Aber Sie kommen ja direkt von der Uni, vielleicht haben Sie da ja eine Idee. Also, insgesamt sind unsere Programme schon kostendeckend … verdammt nochmal, was macht denn diese Ommi auf der Überholspur? … aber durch den harten Wettbewerbsdruck mussten wir die Preise immer weiter senken und sind inzwischen von den satten Renditen damals bei einer schwarzen Null angekommen. Und, ehrlich gesagt, so richtig die besten sind wir auch nicht, obwohl wir da eigentlich viel Aufwand treiben – für jeden unserer Kurstypen machen die Mitarbeiter ja regelmäßig Fortbildungen, um auf dem aktuellen Stand der Evidenz zu bleiben. Naja, sind halt ein solider Anbieter mit einem breiten Kursangebot, was viel abdeckt. Aber es ist schon so bissl Gemischtwarenladen, sagt mir unser Steuerberater immer wieder. Der hat Angst, dass wir pleitegehen und er einen treuen Kunden verliert … Aber ich hab das ja alles aufgebaut, da hängt an jedem Kurstyp viel Herzblut dran, und natürlich an jedem Kurs Kunden, das will man ja nicht einfach so zusammenstreichen. Auf jeden Fall, was wir so haben, das sind erstmal unsere Rückenschul-Kurse. Ein Klassiker des BGF. Rücken ist ja ein Riesenthema, auch wenn es immer weniger nachgefragt wird, wegen der modernen Stühle, und weil die Leute sich dann lieber ihren Sport rauspicken und dazu Kurse machen. Und wir sind auch nur ein ganz kleines Licht am Markt. Aber das ist einer der wenigen Kurse, die ich selbst noch halte, erst letzte Woche hab ich wieder eine Kurs­ einheit abgeschlossen. Und hab grob abgeschätzt, dass wir damit … jetzt fahr’ doch endlich! … Gewinn gemacht haben. Unser Flaggschiff, das ist der Diabetes-Bereich, da sind wir richtig dick im Geschäft und machen auch satte Umsätze. Die Nachfrage nach Kursen wächst da zwar auch nicht mehr so sehr – die Leute wollen mehr Apps und so Kram. Aber es bleibt natürlich ein Riesenthema. Umgang mit Diabetes, das ist ein Kurs für Patienten mit Diagnose – und sobald ein Arbeitgeber von sowas weiß, muss er seinen Mitarbeitern ja irgendeinen Kurs anbieten. Aber wir haben auch einen Präventionskurs zur Diabetes. Diabetes, das ist einfach was, wo wir einen Namen haben und bei beiden Kursen sind wir entsprechend auch die Größten am Markt. Richtig gut läuft auch der Kurs Gesund durch Bewegung, da sind wir auch bei den Größten. Naja, wir schaffen es auch, unseren Diabetes-Kursteilnehmern den Bewegungskurs noch im Anschluss aufzuschwatzen. Aber er ist glaub’ ich auch wirklich gut, selbst wenn in dem Geschäftsfeld von wegen Wachstum auch die Luft raus ist. Also ich persönlich möchte ja in jedem Fall unser Programm zur Raucherentwöhnung beibehalten. Das nutzen dieses Jahr ungefähr vier Unternehmen als Kunden, was ja bei unseren Kurspreisen einen Umsatz von um die 15.000 € bringt. Und es gibt Synergien zu unserem Programm Rauchprävention. Und vor allem – der Vater meines Mitgründers von B-fit! ist an Lungenkrebs gestorben, das war das erste Programm, das wir damals gemacht haben. Sowas gibt man nicht auf. Seit den E-Zigaretten rauchen die Leute zwar immer weniger und die Leute von Sanitas und Penuntia, die werden Sie noch kennenlernen, sind unsere Konkurrenten, sind da groß im Geschäft, wir sind da nicht so dick dabei, aber sei’s drum. Apropos, hätten Sie mal ne Zigarette? Ich hab meine irgendwo liegen lassen … Also, was haben wir bis jetzt? Rückenschule, Diabetes, Bewegung und Raucherentwöhnung. Dann hätten wir noch Stressmanagement. Ist ein Programm mit Atemübungen und so’nem Zeug, soll … VERDAMMTE SCH∗∗∗, KANNST DU NICHT BLINKEN??? FAST WÄRE ICH DIR HINTEN DRAUF GEFAHREN!!! … die Leute ruhiger machen, so von wegen Herz und Kreis … ICH DREH‘ HIER GLEICH DURCH!!! HABEN DIE ALLE IHREN FÜHRERSCHEIN IN DER CORNFLAKES-PACKUNG GEFUNDEN, ODER WAS??? … lauf, und so. Im Moment sind wir da noch nicht so stark vertreten, da gibt es Konkurrenten, die haben mehr Marktanteil, aber wer weiß, vielleicht ist das ja ein attraktives Geschäftsfeld. Ach ja, was wir erst kürzlich angefangen haben, das ist das B-fit! Individualcoaching und B-fit! Führungscoaching. Das eine für Mitarbeiter, das andere für Führungskräfte, weil die ja sowohl auf ihre eigene als auch auf die Gesundheit der Mitarbeiter eine riesen Auswirkung

69

70

W. Rogowski und S. Dalichau haben. Zwar kann ich damit nicht so viel anfangen, ich bin noch aus der Generation, wo man einen Bewegungskurs gebucht hat und fertig is. Aber ich hab gehört, das ist eigentlich viel wirksamer – statt dem Standardkurs viel mehr direktes Coaching, fragen nach Verhältnissen und persönlichen Interessen und so. Die Kurse strecken sich über einen viel längeren Zeitraum, mit längeren Intervallen. Also, wir machen das Coaching eine Zeit lang, dann Treffen nochmal nach 3 Monaten, dann nach 6, dann noch zweimal jährlich. Ist vielleicht die einzige Chance, wirklich nachhaltig Verhaltensänderungen zu bewirken. Steckt also viel Potenzial drin, die Nachfrage steigt, weil das immer mehr so sehen, und wir sind beim Individual-­ Coaching klarer Marktführer. Beim Führungskräfte-Coaching sind wir eher Mittelfeld, die paar, die es anbieten, sind irgendwo gleichauf. Aber – bislang bringen beide kaum Umsätze, und hat keine Tradition bei uns, vielleicht ist das auch was, was man wieder einstampfen sollte. Konzentration auf das Wesentliche ist der Königsweg, sagt mein Steuerberater immer. Es gab da noch einiges, fällt mir aber grad nicht ein. Vierzehn Kursangebote sind es insgesamt, wobei wir bei den anderen einen eher kleinen Marktanteil haben und die Nachfrage auch eher zurückgeht. Warten Se mal, ich hab irgendwo eine Excel-Datei mit einer Um­ satzübersicht vom letzten Jahr, die geb‘ ich ihnen mal. Moment, muss kurz suchen … Huch, Mist, … keine Angst, bin schon wieder auf meiner Spur. Tschuldigung, man sollte nicht auf der Autobahn fahren und gleichzeitig mit dem Notebook auf dem Schoß in seinen Dateien suchen. Machen Sie mal selbst, Umsatzübersicht B-fit!.xlsx heißt die Datei, hier auf dem Desktop, ziehen Sie sie einfach auf meinen USB Stick. Wo war der nochmal? Verflixt, vielleicht ist er mir hier runtergefallen? Ok, ok, ich hör schon auf zu suchen. Nehmen Sie Ihren. Sie haben doch so Management-Vorlesungen an der Uni – lernt man da was zu derartigen Fragestellungen? Zum Beispiel ABC-Analyse, vielleicht können Sie mal schauen, wer unsere A-Kunden sind. Also, Kunden, das sind in unserem Fall Firmen, weil wir die Kurse ja normal nicht an Privatpersonen, sondern an Unternehmen verkaufen. Stundenaufschreibung und so’n Kram machen wir nicht, da würden mir die Mitarbeiter auf’s Dach steigen. Daher hab’ ich nur die Umsatzdaten, keine Kosten oder Gewinne pro Kurs. Wir fahren jetzt ja noch ein bisschen, da können Sie sich noch ein paar Gedanken machen. Auf der Rückfahrt will ich Ihre Einschätzung hören.“

6.3

Aufgaben

6.3.1 Problemstellung a) Worin besteht das Problem des Geschäftsführers bzw. seines Unternehmens? b) Welche Informationen stehen Ihnen für Lösungsvorschläge zur Verfügung? c) Nennen Sie Konzepte zur Bewertung strategischer Entscheidungsoptionen, die auf dieser Basis Lösungsvorschläge machen.

6.3.2 ABC-Analyse: Grundsätze a) Was versteht man unter einer ABC-Analyse? b) Wofür kann die ABC-Analyse verwendet werden? c) Welche Schritte sind bei einer ABC-Analyse durchzuführen?

6  ABC-Analyse, BCG-Matrix

71

6.3.3 Durchführung der ABC-Analyse: Zielobjekt Kund∗innen a) Laden Sie für die Bearbeitung der Aufgabe die Datei ABC-Analyse_Umsatzuebersicht aus dem bereitgestellten Zusatzmaterial Fallstudie_Strategisches-Marketing1 herunter und öffnen Sie diese. Ermitteln Sie den Gesamtumsatz pro Kunde (in diesem Fall Firmenkunden, d. h. Firma 1, Firma 2 etc.). b) Bitte führen Sie die genannten Analyseschritte einer ABC-Analyse mit Umsatz als Zielgröße und einzelnen Firmen als Zielobjekten durch. Welches Problem tritt auf?

6.3.4 Durchführung der ABC-Analyse: Zielobjekt Kurstypen Auf Ihre Nachfrage, ob einzelne Firmenkunden tatsächlich die relevanten Zielobjekte der Analyse sind, ergänzt der Geschäftsführer, dass die Umsätze pro Firma tatsächlich eigentlich weniger relevant seien. Viel wichtiger, so erklärt er, seien die Umsätze pro Kurstyp, da für jeden Kurs hohe Fixkosten anfallen (z. B. Kosten der Weiterbildung für die jeweilige Intervention; jährliche Lizenzen für die Möglichkeit, die einzelnen Kurse anzubieten; Aufwand für Aktualisierung der Kursmaterialien, der unabhängig von der Teilnehmer∗innenzahl anfällt). a) Bitte führen Sie auf Basis dieser Information nochmals eine ABC-Analyse durch, diesmal jedoch mit Kurstyp (z. B. B-fit! Führungscoaching, B-fit! Individualcoaching) als Zielobjekten. b) Sind die Grenzwerte 80 % und 5 % exakt anzuwenden? Wenn nicht, wie dann? c) Welche Kurstypen würden Sie als A, B, und C klassifizieren?

6.3.5 ABC-Analyse: Grafische Lösung a) Zeichnen Sie eine Konzentrationskurve, indem Sie auf der X-Achse die Kurstypen (bzw. den Anteil der Kurstypen an der Gesamtzahl von Kurstypen) angeben und auf der Y-Achse den Anteil des jeweiligen Programms am kumulierten Gesamtumsatz. b) Wie sieht die Konzentrationskurve aus, wenn Sie auf der Abszisse nicht den Anteil eines Kurstyps an allen (14) Kurstypen antragen, sondern die Verteilung aus Abschn. 6.3.3 b)?

 Um auf das Zusatzmaterial zugreifen zu können, geben Sie bitte im Web-Browser https://www. springer.com/de/book/9783658269814 ein. Sie werden zu einem Verzeichnis weitergeleitet, in dem die ergänzenden Dateien aller Fallstudien zum Download bereitstehen.

1

72

W. Rogowski und S. Dalichau

6.3.6 ABC-Analyse: Kritische Reflexion a) Auf welche Produkte sollte sich die B-fit! GmbH nach der ABC-Analyse konzentrieren? b) Interpretieren Sie die Konzentrationskurve: Welche Informationen können Sie daraus ablesen? Was sagt eine steile Konzentrationskurve aus? c) Nennen Sie beispielhaft zwei Grenzen der ABC-Analyse. d) Was sollte gegeben sein, damit die oben vorgenommene Klassifikation nach Kurstypen sinnvoll zur strategischen Neuausrichtung ist?

6.3.7 BCG-Matrix: Grundsätze und Durchführung a) Was versteht man unter der BCG-Matrix? Wofür kann man sie verwenden? b) Zeichnen Sie die entsprechende Vier-Felder-Matrix. c) Tragen Sie alle notwendigen Informationen zur Erstellung einer BCG-Matrix in einer Tabelle zusammen. Für die Größen Marktwachstum und Marktanteil brauchen Sie keine quantitativen Informationen, hier reichen die Begriffe wachsend/schrumpfend und hoch/gering. Lokalisieren Sie die Programme und ordnen Sie jedem Programm eine Klassifikation als Star, Question Mark, Cash Cow oder Poor Dog zu.

6.3.8 BCG-Matrix: Kritische Reflexion a) Wie würden Sie Ihre Empfehlung auf Basis der BCG-Matrix modifizieren? Begründen Sie Ihre Antwort. b) Worin bestehen Grenzen der BCG-Matrix? Nennen Sie beispielhaft zwei Schwächen. c) Welche anderen Konzepte zur Bewertung strategischer Entscheidungsoptionen kennen Sie? Welche zusätzlichen Informationen würden Sie einholen, um einen fundierteren Lösungsvorschlag machen zu können?

6.4

Lösungsvorschläge

6.4.1 Problemstellung a) Zum einen scheint das Unternehmen unter typischen Problemen im Laufe von Produktlebenszyklen zu leiden – nach einer profitablen Anfangsphase ist die Profitabilität in dem Markt für BGF-Dienstleistungen zurückgegangen (s. Aussage des Geschäftsführeres „[…] Wind bläst uns grad verdammt hart in’s Gesicht. Das ist ganz anders als

6  ABC-Analyse, BCG-Matrix

73

damals, vor 20 Jahren, als wir angefangen haben und das Thema BGF noch ein brandneuer Trend war“). Zudem scheint es Qualitäts- und/oder Kostenprobleme zu geben (s. „Von satten Renditen bei schwarzer Null angekommen“; „nicht so richtig die besten“) und es scheint dringenden Bedarf an Fokussierung des Angebots zu geben (s. „Gemischtwarenladen“; „hängt Herz dran, will man nicht einfach so zusammenstreichen“). b) Informationen, die zur Verfügung stehen, sind Umsatz auf Kursebene sowie Informationen zu Marktwachstum und Marktanteil. Zur Profitabilität gibt es wenig Hinweise, außer, dass sie auf Unternehmensebene auf eine schwarze Null gesunken sei. Kosten der einzelnen Leistungsbereiche, z. B. über Stundenaufschreibung, sind nicht verfügbar. c) Gängige Konzepte hierfür sind ABC-Analyse und BCG-Matrix.

6.4.2 ABC-Analyse: Grundsätze a) In einer ABC-Analyse werden Zielobjekte (z.  B.  Produkte, Kund∗innen, strategische Geschäftsfelder) nach Beitrag zu einer relevanten Zielgröße (z. B. Umsatz, ggf. Kosten, Gewinn) in drei Gruppen A, B und C klassifiziert (häufig A: ca. 80 %, B: ca. 15 %, C: ca. 5 %). b) Die ABC-Analyse ist ein einfaches Mittel zur Priorisierung von Zielobjekten bzw. Maßnahmen für diese Zielobjekte – z. B. hier für den Fokus auf wichtigste Kundengruppen. c) Für die ABC-Analyse sind die folgenden Schritte durchzuführen: a. Zusammenfassung der Daten: Teilsummen für Zielgröße/Umsätze, gegliedert nach Zielobjekten/hier zunächst: Firmen b. Ordnen nach der Zielgröße, d. h. hier: Umsatzhöhe c. Ermittlung von Gesamtumsatz und Anteil der einzelnen Kursangebote d. Kumulierung der Umsatzanteile e. Kumulierung der Anteile der Zielobjekte, d. h. in Abschn. 6.3.3 b): Anteile der Kunden an Gesamtzahl von Kunden

6.4.3 Durchführung der ABC-Analyse: Zielobjekt Kund∗innen a) Tab. 6.1 stellt den Umsatz der B-fit! GmbH nach (Firmen-)Kunden dar. b) Tab.  6.2 und das Tabellenblatt Rechnung nach Firmen aus der Excel-Datei ABC-­ Analyse_Musterloesung (s. Zusatzmaterial Fallstudie_Strategisches Marketing; vgl. hierzu die Fußnote in Abschn. 6.3.3) stellen die Schritte der Rechnung einzeln dar. Die Umsätze pro Firma sind etwa gleich verteilt. Wenn die Beiträge jedes Zielobjekts zur Zielgröße etwa gleich hoch sind, macht eine ABC-Analyse keinen Sinn und es können keine A-Kunden ausgewiesen werden.

74

W. Rogowski und S. Dalichau

Tab. 6.1  Umsätze der B-fit! GmbH nach Kunden Schritt 1: Kunden Firma 01 Firma 02 Firma 03 Firma 04 Firma 05 Firma 06 Firma 07 Firma 08 Firma 09 Firma 10 Firma 11 Firma 12 Firma 13 Firma 14 Firma 15 Firma 16

2: Teilumsatz 34.480,00 € 18.900,00 € 26.120,00 € 29.810,00 € 23.470,00 € 18.520,00 € 35.250,00 € 22.910,00 € 31.270,00 € 17.710,00 € 24.310,00 € 27.450,00 € 25.780,00 € 25.090,00 € 26.530,00 € 28.480,00 €

Schritt 1: Kunden Firma 17 Firma 18 Firma 19 Firma 20 Firma 21 Firma 22 Firma 23 Firma 24 Firma 25 Firma 26 Firma 27 Firma 28 Firma 29 Firma 30 Firma 31 Firma 32

2: Teilumsatz 22.660,00 € 25.750,00 € 27.950,00 € 25.210,00 € 24.400,00 € 24.790,00 € 30.190,00 € 23.020,00 € 16.100,00 € 33.080,00 € 26.060,00 € 22.550,00 € 31.930,00 € 16.040,00 € 26.690,00 € 18.290,00 €

6.4.4 Durchführung der ABC-Analyse: Zielobjekt Kurstypen a) Tab. 6.3 stellt die einzelnen Schritte zur Durchführung der ABC-Analyse nach Kurstypen sowie das Ergebnis dar. Sie finden sie auch im Tabellenblatt Rechnung nach Kurstypen in der Excel-Datei ABC-Analyse_Musterloesung (vgl. Fußnote in Abschn. 6.3.3). b) Die Grenzwerte sind wie die 80/20-Regel grobe Faustregeln, mit denen eher flexibel umgegangen werden sollte – ausschlaggebend ist die Problemstellung, d. h. hier die Identifikation vergleichsweise wichtiger Kurstypen. c) Die Kurse Gesund durch Bewegung, Umgang mit Diabetes und Diabetesprävention wären darin als A-Kurse klassifiziert, Entspannungstraining, B-fit! Individualcoaching, B-fit! Führungscoaching und Rauchentwöhnung als B, die übrigen als C. Der Kurs Raucherentwöhnung stellt einen Grenzfall dar – einerseits ist der Umsatz hier nennenswert höher als bei den anderen C-Kursen, andererseits kommt er doch nicht in die Nähe des Kurses B-fit! Führungscoaching. Insofern könnte man ihn auch als C-Kurs klassifizieren.

6.4.5 ABC-Analyse: Grafische Lösung a) Die durchgezogene Linie mit dem Titel Umsatz kumuliert in Abb.  6.1 stellt die ABC-Analyse als Lorenzkurve grafisch dar. b) Die gestrichelte Linie mit dem Titel Gleichverteilung in Abb. 6.1 stellt das Ergebnis hierzu dar.

6  ABC-Analyse, BCG-Matrix

75

Tab. 6.2  Musterlösung Rechnung nach Firmen Schritt 1: Kunden Firma 01 Firma 02 Firma 03 Firma 04 Firma 05 Firma 06 Firma 07 Firma 08 Firma 09 Firma 10 Firma 11 Firma 12 Firma 13 Firma 14 Firma 15 Firma 16 Firma 17 Firma 18 Firma 19 Firma 20 Firma 21 Firma 22 Firma 23 Firma 24 Firma 25 Firma 26 Firma 27 Firma 28 Firma 29 Firma 30 Firma 31 Firma 32

2: Teilumsatz 34.480,00 € 18.900,00 € 26.120,00 € 29.810,00 € 23.470,00 € 18.520,00 € 35.250,00 € 22.910,00 € 31.270,00 € 17.710,00 € 24.310,00 € 27.450,00 € 25.780,00 € 25.090,00 € 26.530,00 € 28.480,00 € 22.660,00 € 25.750,00 € 27.950,00 € 25.210,00 € 24.400,00 € 24.790,00 € 30.190,00 € 23.020,00 € 16.100,00 € 33.080,00 € 26.060,00 € 22.550,00 € 31.930,00 € 16.040,00 € 26.690,00 € 18.290,00 €

3: Nach Umsatz sortiert und Teilumsatz Firma 07 35.250,00 € Firma 01 34.480,00 € Firma 26 33.080,00 € Firma 29 31.930,00 € Firma 09 31.270,00 € Firma 23 30.190,00 € Firma 04 29.810,00 € Firma 16 28.480,00 € Firma 19 27.950,00 € Firma 12 27.450,00 € Firma 31 26.690,00 € Firma 15 26.530,00 € Firma 03 26.120,00 € Firma 27 26.060,00 € Firma 13 25.780,00 € Firma 18 25.750,00 € Firma 20 25.210,00 € Firma 14 25.090,00 € Firma 22 24.790,00 € Firma 21 24.400,00 € Firma 11 24.310,00 € Firma 05 23.470,00 € Firma 24 23.020,00 € Firma 08 22.910,00 € Firma 17 22.660,00 € Firma 28 22.550,00 € Firma 02 18.900,00 € Firma 06 18.520,00 € Firma 32 18.290,00 € Firma 10 17.710,00 € Firma 25 16.100,00 € Firma 30 16.040,00 € 4: Summe 810.790,00 €

5: Umsatzanteil 4,3 % 4,3 % 4,1 % 3,9 % 3,9 % 3,7 % 3,7 % 3,5 % 3,4 % 3,4 % 3,3 % 3,3 % 3,2 % 3,2 % 3,2 % 3,2 % 3,1 % 3,1 % 3,1 % 3,0 % 3,0 % 2,9 % 2,8 % 2,8 % 2,8 % 2,8 % 2,3 % 2,3 % 2,3 % 2,2 % 2,0 % 2,0 %

6: Umsatz kumuliert 4,3 % 8,6 % 12,7 % 16,6 % 20,5 % 24,2 % 27,9 % 31,4 % 34,8 % 38,2 % 41,5 % 44,8 % 48,0 % 51,2 % 54,4 % 57,6 % 60,7 % 63,8 % 66,8 % 69,8 % 72,8 % 75,7 % 78,6 % 81,4 % 84,2 % 87,0 % 89,3 % 91,6 % 93,9 % 96,0 % 98,0 % 100,0 %

7. Kundenanteil, kumuliert 3,1 % 6,3 % 9,4 % 12,5 % 15,6 % 18,8 % 21,9 % 25,0 % 28,1 % 31,3 % 34,4 % 37,5 % 40,6 % 43,8 % 46,9 % 50,0 % 53,1 % 56,3 % 59,4 % 62,5 % 65,6 % 68,8 % 71,9 % 75,0 % 78,1 % 81,3 % 84,4 % 87,5 % 90,6 % 93,8 % 96,9 % 100,0 %

ABC ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ?

6.4.6 ABC-Analyse: Kritische Reflexion a) Betrachtet man allein den Anteil der Kurstypen am Gesamtumsatz, sollte sich B-fit! auf die A-Kurse konzentrieren und für die B-Kurse auf diejenigen, die das Potenzial haben, zu A-Kursen weiterentwickelt zu werden.

3: Nach Umsatz sortiert Gesund durch Bewegung Umgang mit Diabetes Diabetesprävention Entspannungstraining B-fit! Individualcoaching 345.720,00 € B-fit! Führungscoaching 4620,00 € Raucherentwöhnung 14.350,00 € Rückenschule 4480,00 € Yoga 9470,00 € Zeitmanagement 6830,00 € Einführung in BGF 200.290,00 € Stressmanagement 9210,00 € Power-Yoga 7420,00 € Rauchprävention 4: Summe

2: Teilumsatz 34.870,00 € 41.960,00 € 101.560,00 € 7320,00 € 45.390,00 € 34.870,00 € 14.350,00 € 9470,00 € 9210,00 € 7420,00 € 7320,00 € 6830,00 € 4620,00 € 4480,00 € 833.490,00 €

4,2 % 1,7 % 1,1 % 1,1 % 0,9 % 0,9 % 0,8 % 0,6 % 0,5 %

5: Umsatzanteil 345.720,00 € 41,5 % 200.290,00 € 24,0 % 101.560,00 € 12,2 % 45.390,00 € 5,4 % 41.960,00 € 5,0 %

*Rechnerische Abweichung durch Rundungsdifferenz in Excel (83,1 % + 5,0 % = eigentlich 88,1 %)

Gesund durch Bewegung Power-Yoga Raucherentwöhnung Rauchprävention Rückenschule Stressmanagement Umgang mit Diabetes Yoga Zeitmanagement

Schritt 1: Kurse (alphabetisch) B-fit! Führungscoaching B-fit! Individualcoaching Diabetesprävention Einführung in BGF Entspannungstraining

Tab. 6.3  ABC-Analyse für das Kursangebot der B-fit! GmbH

92,4 % 94,1 % 95,2 % 96,3 % 97,2 % 98,1 % 98,9 % 99,5 % 100,0 %

6: Kumuliert 41,5 % 65,5 % 77,7 % 83,1 % 88,2⃰ % 42,9 % 50,0 % 57,1 % 64,3 % 71,4 % 78,6 % 85,7 % 92,9 % 100,0 %

7. Kursanteil, kumuliert 7,1 % 14,3 % 21,4 % 28,6 % 35,7 %

B B C C C C C C C

ABC A A A B B

76 W. Rogowski und S. Dalichau

6  ABC-Analyse, BCG-Matrix

77

100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30%

20% 10% 0%

Gleichverteilung 0%

Umsatz kumuliert

Abb. 6.1  Grafische Darstellung der ABC-Analyse

b) Die Konzentrationskurve enthält dieselben Informationen wie die tabellarische ABC-Analyse. Je steiler die Kurve, desto konzentrierter sind die Kunden auf wenige Kurse. c) Die ABC-Analyse hat eine Reihe von Limitationen. So dient sie z. B. ausschließlich der Beschreibung der IST-Situation, aus der noch nicht automatisch ein Soll abgeleitet werden kann. Für die Entwicklung von Zielen könnte z. B. ergänzend das Potenzial der Leistungen einbezogen werden, Synergien bei Leistungserstellung, mögliche Ergänzungen durch Komplementärgüter (z. B. App zum Kurs) und deren Potenzial, die Kosten der Leistungserbringung, die Marktentwicklung etc. d) Eine Auswahl von Kurstypen zur strategischen Neuausrichtung auf Basis der ABC-­ Analyse scheint vor allem dann sinnvoll, wenn A-Kurse eine höhere Profitabilität erwarten lassen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn höherer (Kund∗innen-)Nutzen oder geringere Kosten entstehen, wenn mehr Kurse eines Typs erbracht werden. Mögliche Auswirkungen auf Effekte könnten z. B. durch bessere Expertise/mehr Erfahrung entstehen, durch bessere Vernetzung mit relevanten Kliniker∗innen oder Entscheidungsträger∗innen in Unternehmen etc. Kostensenkungen könnten z. B. durch sinkende Fixkostenanteile je Kurs entstehen (z. B. weil die Kosten spezifischer Weiterbildungen

78

W. Rogowski und S. Dalichau

für einzelne Kurstypen auf mehr erbrachte Kurse umgelegt werden können) sowie auch durch verringerte variable Kosten pro Kurs (z. B. weil die Vorbereitung auf einzelne Kurse leichter fällt, Unterlagen in größeren Stückzahlen gedruckt werden können etc.).

6.4.7 BCG-Matrix: Grundsätze und Durchführung a) Die BCG-Matrix ist eine von verschiedenen Darstellungsweisen zur Analyse von Produktportfolios. Sie verwendet die Kriterien Marktwachstum und relativer Marktanteil, um anhand der Platzierung in vier Feldern (1. Question Mark, 2. Star, 3. Cash Cow oder 4. Poor Dog) generische Strategien abzuleiten (1. Entscheidung über Investment oder Disinvestment, 2. strategische Schwerpunktsetzung, 3. Mitnahme der Gewinne ohne weitere Investition sowie 4. Marktausstieg). b) Abb. 6.2 stellt die vier Felder der BCG-Matrix dar. c) Abb. 6.3 stellt die ausgefüllte BCG-Matrix für die B-fit! GmbH dar.

6.4.8 BCG-Matrix: Kritische Reflexion a) Unklar waren auf Basis der ABC-Analysen die Kurse Entspannungstraining sowie das B-fit! Individual- und Führungscoaching. Die Analyse nach BCG-Matrix legt nahe, dass in die Coachings weiter investiert werden sollte (also z. B. die Kurse bewerben, weiterentwickeln, ergänzende Angebote wie Apps o. ä. in das Programm aufnehmen). Entspannungstraining sollte eher als Cash Cow behandelt werden (also z. B. Nachfrage bedienen, soweit gewinnbringend, jedoch keine Investitionen mehr tätigen). b) Die BCG-Matrix basiert auf Marktinformationen. Nicht erfasst werden darin z. B. eigene Kernkompetenzen (außer implizit durch Erfahrungskurve), Synergien bei

hoch

„Stars“

niedrig

Marktwachstum

„Question Marks“

„Poor Dogs“

„Cash Cows“

niedrig

hoch

Relativer Marktanteil

Abb. 6.2 BCG-Matrix

6  ABC-Analyse, BCG-Matrix

79

hoch niedrig

Marktwachstum

„Question Marks“

5 „Stars“

6

9 4

10

11

13

12 7 „Poor 8 Dogs“

14

„Cash Cows“ 1

niedrig

2

3

hoch

Relativer Marktanteil Abb. 6.3  BCG-Matrix für die B-fit! GmbH

Leistungserstellung (wäre z. B. Zeit- oder Stressmanagement eine wichtige Ergänzung zum Coaching?), mögliche Ergänzungen durch Komplementärgüter (z.  B.  App zum Kurs) und deren Potenzial etc. c) Es sind verschiedene alternative Bewertungsansätze denkbar. Dies wären z. B.: a. andere Portfolien (z.  B. mit Dimensionen wie Evidenzbasierung der Programme/ Finanzierbarkeit durch die Gesetzliche Krankenversicherung als externe Dimension oder Passgenauigkeit mit eigenen Kompetenzen als interne Dimension), b. eine komplexere Analyse externer und interner Faktoren für die einzelnen Programme, z. B. in Form der SWOT-Analyse, in der interne Stärken und Schwächen (Strenghts, Weaknesses), externen Chancen und Bedrohungen (Opportunities, Threats) entgegengestellt werden, c. oder eine Rentabilitätsrechnung auf Kursebene, bei der auch die Kosten der Leistungserbringung mit einbezogen werden.

Literatur MEFFERT, H., BURMANN, C. & KIRCHGEORG, M. (2015): Marketing: Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung – Konzepte – Instrumente – Praxisbeispiele. 12., überarb. und akt. Aufl., Wiesbaden: Springer Gabler.

7

Marketing-Mix Fabia Gansen und Michael Pichotta

Zusammenfassung

Mithilfe der sogenannten 4 P des Marketings – Product, Price, Place, Promotion – werden die marktrelevanten Entscheidungen eines Unternehmens zusammengefasst und strukturiert. Die Fallstudie Vier P für die Wundauflage FüDiWo thematisiert nach einer Einführung in die Produkt-, Preis-, Vertriebs- und Kommunikationspolitik die Ausgestaltung der Marketinginstrumente am Beispiel einer fiktiven Wundauflage für chronische Wunden. Vor dem Hintergrund der Besonderheiten des Marketings im Gesundheitswesen werden für jedes der 4 P im klassischen Marketing-Mix konkrete Maßnahmen ausgearbeitet. Im Vordergrund der Produktpolitik steht das Alleinstellungsmerkmal oder die Unique Selling Proposition (USP) der Wundauflage gegenüber Wettbewerbsprodukten. Die Preisgestaltung der Wundauflage erfolgt im Anschluss unter Berücksichtigung des Mehrwerts kostenbasiert. Die Festlegung einer Vertriebsstrategie führt in verschiedene Absatzmöglichkeiten des Medizinproduktemarkts sowie deren Vor- und Nachteile ein. Abschließend werden Möglichkeiten für eine zielgruppenspezifische Kommunikationspolitik aufgezeigt. Ziel der Fallstudie ist es, durch das Erarbeiten von konkreten Marketingmaßnahmen einen Überblick über das Marketing für Medizinprodukte zu vermitteln.

F. Gansen (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Pichotta Fachexperte Gesundheitswirtschaft, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020  W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_7

81

82

7.1

F. Gansen und M. Pichotta

Hintergrund

Festgelegte Marketingziele können mithilfe von Marketinginstrumenten operationalisiert werden. Diese ermöglichen es einem Unternehmen, gestaltend auf Märkte einzuwirken (vgl. Bruhn 2014, S. 27 f.). Die Ausgestaltung der Marketinginstrumente wird auch als Marketing-Mix bezeichnet. Der klassische Marketing-Mix ist auf McCarthy (1960) zurückzuführen und umfasst die sogenannten 4 P: Product (Produkt), Price (Preis), Place (Vertrieb) und Promotion (Kommunikation). Die Produktpolitik bezeichnet alle Entscheidungen, die die Gestaltung des Leistungsprogramms und das Leistungsangebot eines Unternehmens betreffen. Maßnahmen der Produktpolitik können sich sowohl auf materielle (Sachgüter) als auch auf immaterielle Leistungen (Dienstleistungen) beziehen. Im Zentrum der Produktpolitik steht der Kunden∗innennutzen, der durch das Produkt geschaffen wird (vgl. Bruhn 2014, S. 123 f.). Ein wesentliches Element der Produktpolitik ist das Alleinstellungsmerkmal, welches die angebotene Leistung von Wettbewerbsprodukten absetzt und als Unique Selling Proposition (USP) bekannt ist. Die Preispolitik bezieht sich auf die Preisgestaltung der Leistung oder des Produkts. Zwei Möglichkeiten zur Festlegung eines Verkaufspreises sind die an den Selbstkosten des Unternehmens ausgerichtete kostenbasierte Preisfindung und die wertbasierte Preisfindung, bei der sich der Preis am Wert des Produkts für den Kunden bzw. die Kundin orientiert. Im Gesundheitswesen wird die Preispolitik stark durch die Vergütungsform beeinflusst (vgl. Walzer et al. 2016, S. 207 ff.). So ist die Preisgestaltung eines Medizinprodukts, das im Rahmen einer Krankenhausbehandlung eingesetzt wird, davon abhängig, wie die Leistung im System der Diagnosis Related Groups (DRG-System) abgebildet ist. Mit dem Begriff Vertriebspolitik (auch als Distributionspolitik bezeichnet) werden Entscheidungen zu vertriebslogistischen Aktivitäten zusammengefasst. Als Vertriebssysteme lassen sich grundsätzlich direkter Vertrieb, bei dem der Verkauf direkt an den Kunden bzw. die Kundin erfolgt, und indirekter Vertrieb über Zwischenhändler unterscheiden. Im Gesundheitswesen ist der Vertrieb in bestimmten Bereichen systemimmanent – z. B. beim gesetzlich geregelten Absatz von verschreibungspflichtigen Medikamenten über Apotheken (vgl. Koerber und Rittweger 2016, S. 272 f.). Die Kommunikationspolitik umfasst alle Entscheidungen zur Kommunikation eines Unternehmens am Markt. Eingeschlossen sind damit neben der klassischen Werbung oder Reklame (Advertising) auch die Verkaufsförderung (Sales Promotion), die Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations) sowie das persönliche Treffen von Kund∗innen (Personal Selling) (vgl. Betz 2014, S. 86; Koerber und Rittweger 2016, S. 267 ff.). Die Ausgestaltung der Kommunikationspolitik ist im Gesundheitswesen durch allgemeine Vorschriften wie das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) und systemspezifische Vorgaben wie das Heilmittelwerbegesetz (HWG) stark reguliert. Im Gesundheitswesen werden verschiedene Ergänzungen des klassischen Marketing-­ Mix vorgeschlagen, z. B. unter Einbezug der 3 P Players (Akteur∗innen), Processes

7 Marketing-Mix

83

­(Prozesse) und Positioning (Positionierung). Hierbei finden die Erwartungen und Bedürfnisse der unterschiedlichen Akteur∗innen (z. B. von Leistungserbringenden und Patient∗innen) sowie die Prozesse im Gesundheitswesen (z. B. Anforderungen für die Zulassung) besondere Berücksichtigung. Die Positionierung erfolgt entsprechend der identifizierten Akteur∗innen und Prozesse (vgl. Schreyögg 2013, S. 167 f.). Im Dienstleistungsmarketing, welches z. B. für Arztpraxen relevant ist, beinhaltet der erweiterte Marketing-Mix die 3 P Processes (Prozesse), Physical Facilities (Ausstattung) und Personnel (Personal) (vgl. Meffert et al. 2015, S. 268). Als weiterführende Literatur zum Thema Marketing wird Bruhn (2014) empfohlen. Die Besonderheiten des Marketings im Gesundheitswesen werden von Frodl (2011) sowie im Lehrbuch Business Planning im Gesundheitswesen (Rogowski 2016) in den Kapiteln Mehrwert der Innovation (Rogowski et al. 2016), Vergütungshöhe und Preissetzung (Walzer et al. 2016) und Vermarktung der Innovation (Koerber und Rittweger 2016) behandelt.

7.2

Fallstudie: Vier P für die Wundauflage FüDiWo

Nachdem Sie das Marktpotenzial und das Absatzvolumen von FüDiWo – Ihrer geruchsneutralisierenden Wundauflage für die Behandlung chronischer Wunden  – abgeschätzt haben (s. Kap. 5), haben Sie sich im nächsten Schritt die Entwicklung einer Marketingstrategie vorgenommen. Das wesentliche Ziel Ihrer Marketingstrategie ist es, dass FüDiWo möglichst schnell deutschlandweit bekannt und erhältlich ist. Hierzu gehört ein detailliertes Konzept für die Produkt-, Preis-, Distributions- und Kommunikationspolitik Ihres Unternehmens. Als junges Unternehmen haben Sie für die Umsetzung Ihrer Marketingstrategie nur ein geringes Budget zur Verfügung. Sie beginnen mit der Produktpolitik. Während Sie sich bereits seit Monaten mit Ihrem Produkt beschäftigen und es daher in- und auswendig kennen, müssen Sie es für Ihre Marketingstrategien erstmals Ihren potenziellen Kund∗innen präsentieren. Sie entschließen sich, zunächst eine Übersicht zu erstellen, um den Mehrwert Ihres Produkts zu ermitteln. Hierzu vergleichen Sie FüDiWo mit der Wundauflage WundX, die Sie bei Ihrer Wettbewerbsanalyse als bedeutendstes Konkurrenzprodukt identifiziert haben (s. Tab. 7.1).

7.3

Aufgaben

7.3.1 Produktpolitik a) Nutzen Sie Ihre Vorarbeit zum Marktpotenzial von FüDiWo und sammeln Sie zunächst, welche Bedürfnisse die Zielgruppe Ihrer Endkund∗innen – Patient∗innen mit chronischen Wunden – in Bezug auf Wundauflagen haben. b) Beschreiben Sie den Nutzen Ihres Produkts für Ihre Zielkund∗innen, indem Sie erläutern, welche Kund∗innenanforderungen Sie mit der Wundauflage FüDiWo erfüllen.

84

F. Gansen und M. Pichotta

Tab. 7.1  Übersicht über die Produkteigenschaften der Wundauflagen WundX und FüDiWo Kurzbeschreibung

Eigenschaften

Indikation

Standardgröße Verbandwechsel Abgabepreis Marktzulassung in aktueller Form

WundX Wundauflage aus Polyurethan-­ Schaumstoff mit Haftrand

FüDiWo Geruchsneutralisierende Wundauflage aus Polyurethan-Schaumstoff mit Haftrand Polyurethan sorgt für feuchtes Polyurethan hält feuchtes Wundmilieu Wundmilieu aufrecht Effektive Exsudataufnahme ohne Effektive Exsudataufnahme Austritt auf wundumgebende Haut Silikonkleber des Haftrands reduziert Schmerzen beim Entfernen Silikonkleber des Haftrands reduziert Schmerzen beim Entfernen Kein zusätzliches Wunddistanzgitter zwischen Wunde und Auflage nötig Kein zusätzliches Aktivkohleschicht zwischen Wunddistanzgitter zwischen Schaumstoff und Haftrand wirkt Wunde und Auflage nötig In verschiedenen Farben erhältlich geruchsneutralisierend Einfache Handhabung Einfache Handhabung Mäßig exsudierende chronische und akute Wunden in allen Wundheilungsphasen 7,5 cm × 7,5 cm (weitere Größen verfügbar) Ø alle 24 Stunden 7,65 € 01.04.2013

Mäßig bis stark exsudierende chronische und akute Wunden in allen Wundheilungsphasen 7,5 cm × 7,5 cm (weitere Größen geplant) Ø alle 48 Stunden steht aus 01.11.2018 (geplant)

c) Formulieren Sie das Alleinstellungsmerkmal (Unique Selling Proposition oder USP) Ihres Produkts. Benennen Sie dazu den wesentlichen Vorteil Ihres Produkts gegenüber Ihrem Hauptwettbewerber. d) Um Ihr Produkt von Ihrem größten Wettbewerber zu differenzieren, verwenden Sie ein sogenanntes Product Positioning Statement. Nutzen Sie dazu Ihre Antworten aus den Teilaufgaben a), b) und c), um die Aussage in Abb. 7.1 zu vervollständigen.

7.3.2 Preispolitik Nach Formulierung Ihres Positioning Statements beschäftigen Sie sich mit der Preissetzung für FüDiWo. Dabei gehen Sie davon aus, dass Ihr Produkt zunächst nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) vergütet wird. Da Sie bereits eine Abschätzung der Fertigungs- und Gemeinkosten für die Herstellung von 100 Wundauflagen erstellt haben, entscheiden Sie sich zunächst für eine kostenbasierte Preisermittlung. a) Bestimmen Sie mithilfe der Angaben in Tab. 7.2 zunächst die Selbstkosten für die Herstellung von 100 Wundauflagen. Tragen Sie hierzu die fehlenden Beträge in die rechte Spalte der Kostentabelle ein. Die Angaben beziehen sich jeweils auf die Herstellung von 100 Wundauflagen.

7 Marketing-Mix

85

Für

, die

(Zielkund*innen) (Kundenbedürfnis) , bietet die

(Produkt)

, (Name)

(Nutzen)

. Im Vergleich zu ist (Wettbewerbsprodukt)

,

(Unique Selling Proposition) .

Abb. 7.1  Zu vervollständigendes Product Positioning Statement der Wundauflage FüDiWo Tab. 7.2  Kostenbasierte Preisbestimmung für die Wundauflage FüDiWo (vgl. Walzer et al. 2016, S. 208)

+ + + + =

Kostenart Fertigungsmaterial (FM) Materialgemeinkosten Fertigungslöhne (FL) Fertigungsgemeinkosten Sonderkosten der Fertigung Herstellungskosten (HSK)

Erläuterung – 10 % der FM – 5 % der FL – –

+ + =

Herstellungskosten (HSK) Verwaltungsgemeinkosten Vertriebsgemeinkosten Selbstkosten (SK)

– 10 % der HSK 10 % der HSK –

+ =

Selbstkosten (SK) Gewinnzuschlag Listenpreis (LP)

– 100 % der SK –

– =

Listenpreis (LP) Rabatte Zielverkaufspreis

– 10 % des LP –

Betrag in Euro 150,00 200,00 0,00

86

F. Gansen und M. Pichotta

) Geben Sie auf Basis der Selbstkosten die Preisuntergrenze für eine Wundauflage an. b c) Bestimmen Sie den Zielverkaufspreis, indem Sie einen Gewinnzuschlag in Höhe von 100 % der Selbstkosten und die Gewährung von Rabatten in Höhe von 10 % des Listenpreises berücksichtigen. d) Vergleichen Sie Ihren Zielverkaufspreis mit dem Abgabepreis von WundX. Da WundX durch die GKV vergütet wird, müssen die Patient∗innen nur eine Zuzahlung in Höhe von 10 % des Abgabepreises bzw. mindestens 5 € bezahlen. Halten Sie eine Reduzierung Ihres Gewinnzuschlags für angemessen? Begründen Sie Ihre Antwort im Hinblick auf den Mehrwert von FüDiWo.

7.3.3 Vertriebspolitik Ihr bisheriger Plan zur Vertriebspolitik sieht vor, sich auf den Vertriebspartner stationäre Pflegeeinrichtungen z. B. über dort angestellte Wundmanager∗innen  – zunächst nur im Raum Bremen – zu fokussieren (Strategie A). Eine alternative Strategie wäre eine Vertriebspartnerschaft mit einer deutschlandweit tätigen Sanitätshauskette (Strategie B). a) Um welche Vertriebsart handelt es sich bei Strategie A und Strategie B, wenn Sie Patient∗innen mit chronischen Wunden als Kund∗innen betrachten? b) Um welche Vertriebsart handelt es sich bei Strategie A und Strategie B, wenn Sie die Pflegeeinrichtungen als Kund∗innen betrachten? c) Welche Vor- und Nachteile haben die zwei von Ihnen identifizierten Vertriebsarten? d) Welche Vertriebsart empfehlen Sie für FüDiWo? Begründen Sie Ihre Entscheidung.

7.3.4 Kommunikationspolitik Im Rahmen Ihrer Marktanalyse haben Sie Pflegeheime als wichtigen Absatzmarkt identifiziert. Im Hinblick auf Ihre Kommunikationspolitik entscheiden Sie sich daher zunächst für die Fokussierung auf Zielgruppen im Pflegeheim, an die Sie Ihre Kommunikationsmaßnahmen richten werden. Als mögliche Zielgruppen identifizieren Sie (a) Pflegeleitungen von stationären Pflegeheimen und (b) in stationären Pflegeeinrichtungen untergebrachte Patient∗innen mit chronischen Wunden. a) Wählen Sie eine Zielgruppe, auf die sich die erste Phase Ihrer Kommunikationsmaßnahmen fokussieren wird, und begründen Sie Ihre Entscheidung. b) Welche Produktmerkmale stehen bei Ihrer Zielgruppe besonders im Vordergrund? c) Welche Kanäle eignen sich für die Ansprache Ihrer Zielgruppe besonders gut? d) Stellen Sie eine Beispielmaßnahme vor. Beachten Sie dabei die Vorgaben des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) für Medizinprodukte sowie des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG).

7 Marketing-Mix

7.4

87

Lösungsvorschläge

7.4.1 Produktpolitik a) Zu den Bedürfnissen der Kundschaft zählen: • Abheilung der Wunde • schmerzfreier und seltener Verbandswechsel • gut haftende und undurchlässige Wundauflage • keine unangenehmen Gerüche durch die Wunde • Verbesserung der Lebensqualität durch die Wundbehandlung b) Der zentrale Nutzen der Wundauflage FüDiWo kann wie folgt zusammengefasst werden: • moderne Wundtherapie durch ein feuchtes Wundmilieu und eine effektive Exsudataufnahme • geruchsneutralisierende Wirkung, die die Geruchsbelästigung durch die Wunde minimiert • Reduktion der Häufigkeit von Verbandswechseln und der empfundenen Schmerzen beim Verbandswechsel. c) FüDiWo ist eine moderne, heilungsfördernde Wundauflage, die durch ihre innovative Aktivkohleschicht effektiv unangenehme Wundgerüche neutralisiert. d) In Abb. 7.2 ist ein mögliches Product Positioning Statement dargestellt.

Für Patientinnen und Patienten mit chronischen Wunden , die sich (Zielkund*innen) insbesondere durch den Geruch ihrer Wunde in Ihrer Lebens(Kundenbedürfnis) qualität eingeschränkt fühlen , bietet die Wundauflage FüDiWo, (Produkt) (Name) die Kombination einer effektiven Therapie durch ein feuchtes (Nutzen) Wundmilieu und seltenen, schmerzreduzierten Verbandswechseln (Nutzen) mit der Beseitigung störender Wundgerüche . (Nutzen) Im Vergleich zu WundX ist FüDiWo eine moderne Wundauflage, (Wettbewerbsprodukt) die durch ihre innovative Aktivkohleschicht effektiv unangenehme (Unique Selling Proposition) Wundgerüche neutralisiert .

Abb. 7.2  Musterlösung zum Product Positioning Statement für FüDiWo

88

F. Gansen und M. Pichotta

7.4.2 Preispolitik a) Die Selbstkosten für 100 Wundauflagen betragen mit den gegebenen Annahmen 450,00 € (s. Tab. 7.3). b) Die Selbstkosten bilden die Preisuntergrenze für ein Produkt unter der Annahme, dass kein Gewinn am Markt erzielt werden kann. Die Preisuntergrenze für eine Wundauflage beträgt: 450,00 €/100 Wundauflagen = 4,50 € pro Wundauflage. c) Der Zielverkaufspreis für eine Wundauflage wird auf Basis des Zielverkaufspreises von 100 Wundauflagen bestimmt: 810,00 €/100 Wundauflagen = 8,10 € pro Wundauflage. d) Für den Preisvergleich wird vereinfachend angenommen, dass der Eigenanteil, den Patient∗innen für WundX bezahlen, 5 € pro Wundauflage beträgt. (In der Praxis beträgt die Zuzahlung pro Verordnungszeile 10 % des Abgabepreises bzw. mind. 5 € und max. 10 €, d. h. die Zuzahlung pro Wundauflage ist in der Regel geringer als 5 €.) Bei einem Gewinnzuschlag von 100 % beträgt der Zielabgabepreis für FüDiWo 8,10 € pro Wundauflage. Für eine Reduktion des Gewinnzuschlags spricht die hohe Zuzahlung, die Patient∗innen für FüDiWo im Vergleich zu WundX bezahlen müssten. Diese beträgt unter den obigen Annahmen 62 %. Aufgrund des regelmäßigen Bedarfs von Patient∗innen mit chronischen Wunden fällt der zunächst gering wirkende Betrag von 3,10 € pro Wundauflage stark ins Gewicht. Ein Argument für die Rechtfertigung eines höheren Preises ist der Mehrwert, den FüDiWo durch die geruchsneutralisierende Wirkung für Kund∗innen Tab. 7.3  Musterlösung zur kostenbasierten Preisbestimmung für FüDiWo (vgl. Walzer et al. 2016, S. 208)

+ + + + =

Kostenart Fertigungsmaterial (FM) Materialgemeinkosten Fertigungslöhne (FL) Fertigungsgemeinkosten Sonderkosten der Fertigung Herstellungskosten (HSK)

Erläuterung – 10 % der FM – 5 % der FL – –

Betrag in Euro 150,00 15,00 200,00 10,00 0,00 375,00

+ + =

Herstellungskosten (HSK) Verwaltungsgemeinkosten Vertriebsgemeinkosten Selbstkosten (SK)

– 10 % der HSK 10 % der HSK –

375,00 37,50 37,50 450,00

+ =

Selbstkosten (SK) Gewinnzuschlag Listenpreis (LP)

– 100 % der SK –

450,00 450,00 900,00

– =

Listenpreis (LP) Rabatte Zielverkaufspreis

– 10 % des LP –

900,00 90,00 810,00

7 Marketing-Mix

89

hat. Darüber hinaus ist ein Verbandswechsel im Durchschnitt statt alle 24 Stunden nur noch alle 2 Tage notwendig, sodass Kund∗innen seltener Wundauflagen kaufen müssen und damit Kosten sparen. Beide Aspekte sprechen für eine höhere Zahlungsbereitschaft der Kund∗innen. Bei der Preisfindung sind außerdem strategische Gesichtspunkte zu beachten. So bildet der festgelegte Preis die Basis späterer Erstattungsverhandlungen und eine nachträgliche Preiserhöhung müsste sich rechtfertigen lassen. Insgesamt wird in diesem Fall daher vor allem im Hinblick auf den Mehrwert von einer Reduzierung des Gewinnzuschlags abgeraten.

7.4.3 Vertriebspolitik Strategie A ist der Vertrieb über stationäre Pflegeeinrichtungen im Raum Bremen als Vertriebspartner. Strategie B ist eine Vertriebspartnerschaft mit einer deutschlandweit tätigen Sanitätshauskette. a) Betrachtet man Patient∗innen mit chronischen Wunden als Kund∗innen, handelt es sich sowohl bei Strategie A als auch bei Strategie B um indirekten Vertrieb, da hier nicht unmittelbar an die Endkund∗innen verkauft wird. In beiden Fällen wird ein unternehmensfremder Absatzmittler zwischen Unternehmen und Kund∗in eingeschaltet. b) Betrachtet man die Pflegeeinrichtungen als Kunden, handelt es sich bei Strategie A um direkten Vertrieb, da hier der Absatz ohne unternehmensfremde Absatzorgane unmittelbar an den Kunden erfolgt. Strategie B ist auch in diesem Fall indirekter Vertrieb. c) Die Vor- und Nachteile der Vertriebsarten direkter und indirekter Vertrieb sind in Tab. 7.4 dargestellt. d) Im Hinblick auf das Ziel der schnellen Verbreitung von FüDiWo ist zusammen mit der nationalen Ausrichtung der beschriebenen Sanitätshauskette der indirekte Vertrieb geeignet. Der Absatz über die Sanitätshauskette bietet die Möglichkeit, den Absatzmarkt unkompliziert überregional auszubauen. Bei einer einfach zu handhabenden

Tab. 7.4  Vor- und Nachteile von direktem und indirektem Vertrieb (vgl. Koerber und Rittweger 2016, S. 272) Direkter Vertrieb • Kund∗innenwünsche und Marktinformation sind unmittelbar zugänglich • Erhöht Kund∗innenbindung • Allgemein: Erklärungsmöglichkeit für komplexe oder innovative Produkte Nachteile • Aufbau eigener Vertriebskanäle notwendig (kosten- und zeitintensiv)

Vorteile

Indirekter Vertrieb • Schnelle und großflächige Markterschließung • Nutzung eines vorhandenen Vertriebsnetzes • Für Zwischenhändler fallen Kosten an • Abhängigkeit von Handel

90

F. Gansen und M. Pichotta

­ undauflage handelt es sich zudem nicht um ein erklärungsbedürftiges Produkt, für W das der direkte Vertrieb empfehlenswert wäre. Zudem ist der Absatz über Sanitätshäuser und Fachhandlungen bei Wundauflagen für chronische Wunden marktüblicher Standard. Innerhalb ihrer Homecare-Abteilungen sind große Fachhandlungen mit zertifizierten Wundexpert∗innen ausgestattet. Diese bewerten häufig die Produkte, stellen sie verordnenden Ärzt∗innen vor und haben in der Regel außerdem Einfluss auf die versorgenden Pflegedienste. Zwar ist es sinnvoll, den Kontakt mit dem Fachhandel z. B. durch eigene Vertriebsmitarbeiter∗innen aufund auszubauen, durch den indirekten Vertrieb kann aber auf bestehende Vertriebskanäle der Fachhandlungen zurückzugreifen werden. So kann auf den kosten- und zeitintensiven Aufbau eines vollständigen eigenen Vertriebsnetzes verzichtet werden. Insbesondere im Hinblick auf das kleine Marketingbudget für FüDiWo ist der indirekte Vertrieb für FüDiWo insbesondere zu Beginn des Markteintritts besser geeignet.

7.4.4 Kommunikationspolitik Mögliche Zielgruppen Ihrer Kommunikationsmaßnahmen sind (a) Pflegeleitungen von stationären Pflegeheimen und (b) Patient∗innen mit chronischen Wunden in stationären Pflegeeinrichtungen. a) Eigene Argumentation. Ergänzende Hinweise: Die Wahl von Zielgruppe (a) lässt sich bspw. damit begründen, dass Pflegekräfte erste Ansprechpartner∗innen für die Wundbehandlung sind und Patient∗innen mit chronischen Wunden auf ihre Empfehlungen vertrauen. Darüber hinaus ist die Erreichbarkeit bzw. das Ansprechen von Pflegeleitungen für das werbende Unternehmen voraussichtlich einfacher (z. B. über Fachmessen wie Pflegekongresse). Die Wahl von Zielgruppe (b) lässt sich damit begründen, dass Patient∗innen mit chronischen Wunden die Endverbraucher∗innen sind und großen Einfluss auf ihre Wundversorgung ausüben (können). b) Produktmerkmale, die im Fokus der Kommunikationsmaßnahmen stehen könnten, sind für die zwei oben genannten Zielgruppen nachfolgend beschrieben. • Für die Pflegeleitung eines stationären Pflegeheims ist insbesondere die Verlängerung des Intervalls zwischen den Verbandswechseln interessant. Durch seltenere Verbandswechsel entstehen geringere Personalkosten für die Wundversorgung. Darüber hinaus ermöglicht die geringere Geruchsbelästigung angenehmeres Arbei­ ten für das Personal. • Bei Patient∗innen mit chronischen Wunden in stationären Pflegeeinrichtungen stehen die moderne Wundtherapie in Kombination mit der geringeren Geruchsbelästigung sowie die damit verbundene Verbesserung der Lebensqualität im Vordergrund. c) Mögliche Kommunikationskanäle zur Ansprache der Zielgruppen sind:

7 Marketing-Mix

91

• Informationsveranstaltungen für Pflegepersonal, der Besuch durch Vertriebsmitarbeiter∗innen, Informationsbroschüren, Leitfäden für die Wundbehandlung mit angehängter Produktinformation und Fachmessen (z. B. Bremer Pflegekongress) bzw. • Informationsveranstaltungen für Patient∗innen und Angehörige sowie Informationsbroschüren zum Umgang mit chronischen Wunden mit angehängter Produktinformation. d ) Eigene Beispiele.

Literatur BETZ, B. (2014): Praxis-Management für Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden: Praxen wirtschaftlich erfolgreich führen. Berlin, Heidelberg: Springer. BRUHN, M. (2014): Marketing: Grundlagen für Studium und Praxis. 12., überarb. Aufl., Wiesbaden: Springer Gabler. FRODL, A. (2011): Marketing im Gesundheitsbetrieb: Betriebswirtschaft für das Gesundheitswesen. Wiesbaden: Gabler Verlag. KOERBER, F. & RITTWEGER, R. (2016): Vermarktung der Innovation, in: ROGOWSKI, W. (Hrsg.), Business Planning im Gesundheitswesen: Die Bewertung neuer Gesundheitsleistungen aus unternehmerischer Perspektive. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 263–276. MCCARTHY, E. J. (1960): Basic Marketing: A Managerial Approach. Homewood: R.D. Irwin. MEFFERT, H., BRUHN, M. & HADWICH, K. (2015): Dienstleistungsmarketing: Grundlagen – Konzepte – Methoden. 8., vollst. überarb. u. erw. Aufl. , Wiesbaden: Springer Gabler. ROGOWSKI, W. (Hrsg.) (2016): Business Planning im Gesundheitswesen: Die Bewertung neuer Gesundheitsleistungen aus unternehmerischer Perspektive. Wiesbaden: Springer Gabler. ROGOWSKI, W., BARTOSCHEK, S. & JOHN, J. (2016): Mehrwert der Innovation, in: ROGOWSKI, W. (Hrsg.), Business Planning im Gesundheitswesen: Die Bewertung neuer Gesundheitsleistungen aus unternehmerischer Perspektive. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 39–64. SCHREYÖGG, J. (2013): Kundenmanagement im Gesundheitswesen – Einführung und methodische Grundlagen, in: BUSSE, R., SCHREYÖGG, J. & STARGARDT, T. (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen: Das Lehrbuch für Studium und Praxis. 3. Aufl., Berlin, Heidelberg: Springer, S. 166–169. WALZER, S., GERBER-GROTHE, A., JOHN, J. & ROGOWSKI, W. (2016): Vergütungshöhe und Preissetzung, in: ROGOWSKI, W. (Hrsg.), Business Planning im Gesundheitswesen: Die Bewertung neuer Gesundheitsleistungen aus unternehmerischer Perspektive. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 205–234.

8

Service Blueprinting Wolf Rogowski und Tobias Schütz

Zusammenfassung

Ein Ansatz des Dienstleistungsmanagements, mit dessen Hilfe Gesundheitsleistungen ganz aus Perspektive der behandelten Person und ihrer Customer Journey durch den Leistungsprozess analysiert werden kann, ist das sogenannte Service Blueprinting. Die vorliegende Fallstudie beginnt mit einer kurzen Einführung zur Begründung und zum Vorgehen dieses Ansatzes. Im Anschluss wird der Ansatz anhand der holprigen Customer Journey des imaginären Patienten Torben Schulz im Rahmen einer Bandscheiben-­Operation kritisch diskutiert und auf einen Teilaspekt dieser Dienstleistung angewendet.

8.1

Hintergrund

Das Produkt im Gesundheitswesen ist zumeist eine Dienstleistung, die im Gegensatz zu einem physischen Produkt nicht auf Vorrat hergestellt und dann den Patient∗innen ausgehändigt werden kann. Sie wird gleichzeitig hergestellt und konsumiert (Uno-actu-Prinzip) und am oder gemeinsam mit dem/der Patient∗in erbracht (koproduziert). Bei der Gestaltung medizinischer Leistungen ist es daher sinnvoll, systematisch von der Interaktion zwischen Patient∗in und Leistungserbringer∗in auszugehen. Die Systematik dieses

W. Rogowski (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Schütz ESB Business School, Hochschule Reutlingen, Reutlingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_8

93

94

W. Rogowski und T. Schütz

Vorgehens ist auch aus einem zweiten Grund wichtig: Die Weiterempfehlung eines ­Leistungserbringers bzw. einer Leistungserbringerin durch die Patient∗innen, ein zentrales Ziel von Marketing im Gesundheitswesen, hängt oft vom Gesamteindruck der Patient∗innen ab. Dieser Gesamteindruck wird zwar von einzelnen Leistungsmerkmalen beeinflusst, entwickelt jedoch eine darüber hinaus reichende Dynamik, die auch als Halo-Effekt bezeichnet wird. Dieser Effekt beschreibt die Tendenz, faktisch unabhängige oder nur mäßig korrelierende Attribute fälschlicherweise als zusammenhängend wahrzunehmen. Anstelle einzelner Leistungsattribute ist daher eine Betrachtung der gesamten Erfahrung der Patient∗innen ratsam. Ein dritter Aspekt besteht darin, dass die Weiterempfehlung durch Patient∗innen auch davon abhängt, ob sie lediglich zufrieden oder positiv beeindruckt bzw. begeistert waren. Nach dem Kano-Modell der Kund∗innenzufriedenheit wäre bspw. die medizinische Qualität der Leistung ein Basismerkmal, welches Unzufriedenheit schafft, wenn sie nicht gegeben ist. Um nachhaltige Weiterempfehlungen zu erreichen, sollten gesundheitliche Leistungen zusätzliche Leistungs- oder Begeisterungsfaktoren enthalten, die mit höherem Erfüllungsgrad die Zufriedenheit immer weiter steigern. Ein Konzept des Services Marketing, welches die systematische Ausrichtung von Prozessen und Standards auf die Bedürfnisse der Kund∗innen sicherstellt, ist das sogenannte Service Blueprinting. Mit Service Blueprinting (englisch für Blaupause bzw. Bauplan) wird eine grafische Herleitung und Darstellung eines Dienstleistungsprozesses bezeichnet. Bei der Erstellung eines Service Blueprints geht man systematisch von der ersten bis zur letzten Handlung der Kund∗innen in Bezug zu der Leistung aus. Dies beginnt z. B. nicht in dem Moment, wo ein∗e Patient∗in die Praxis betritt, sondern früher, bei der ersten Bemühung zur Suche nach einer Praxis. Die Dienstleistung wird dann zunächst als Schritte einer Customer Journey entlang der Touchpoints, also der Kontakte mit dem dienstleistenden Unternehmen, entworfen bzw. bei bestehenden Leistungen rekonstruiert. Ausgehend von den direkten Berührungspunkten mit den Kund∗innen wird schrittweise überprüft, welche Prozesse im Hintergrund erfolgreich ablaufen müssen, damit diese Kontakte positiv verlaufen. Dabei werden zunächst die immer noch sichtbaren Aktivitäten im Unternehmen hinter der Kund∗inneninteraktionslinie betrachtet, dann Hintergrundaktivitäten hinter der Sichtbarkeitslinie, und schließlich Unterstützungs-, Vorbereitungs- und Facilityaktivitäten hinter der internen Interaktionslinie. Die vorliegende Fallstudie wendet dieses Konzept auf die holprige Customer Journey des Torben Schulz im Rahmen einer Bandscheiben-Operation an. Zur Einführung in das Service Blueprinting wird das englischsprachige Lehrbuch Services Marketing. Integrating customer focus across the firm von Wilson et al. (2016) empfohlen, insbesondere die Seiten 174 ff. im achten Kapitel. Eine Anwendung auf das Krankenhaus bietet der Beitrag von Schubert (2013) in Bouncken et al. (2013, S. 35 ff.). Eine allgemeine Einführung in das Verhalten der Käufer∗innen und den Halo-Effekt bietet das Lehrbuch von Foscht et al. (2017, S. 104 ff.).

8  Service Blueprinting

8.2

95

Fallstudie: Die holprige Customer Journey des Torben Schulz

Als Franziska Müller von ihrem Arzt erfährt, dass eine Bandscheiben-OP unvermeidlich ist, ist sie erstmal ratlos. Ihr Hausarzt empfiehlt das Marienstift in Unterobersdorf, der Orthopäde schlägt das Josefstift in Oberuntersdorf vor – aber welches ist nun wirklich besser? Sie erinnert sich, dass ein Kommilitone aus Studienzeiten sich einer sehr ähnlichen Operation unterziehen musste und wohl sogar im Josefstift war. Natürlich gilt ihm ihr erster Anruf – und Torben Schulz (Privatpatient) kann wenig Gutes von dem Haus berichten: „Das Josefstift? Hör mir auf mit diesem Saftladen! Vorgestern bin ich aus meinem lang ersehnten dreiwöchigen Sommerurlaub zurückgekehrt. Und weißt Du, was ich im Briefkasten gefunden habe? Die Rechnung der Anästhesiologie. Nach eineinhalb Jahren. Mit einer Bezahlungsfrist von zwei Wochen. Und – du fasst es nicht – mit einer Mahnung dazu, die gestern gekommen ist. Das war quasi der schräge Schlussakkord in einem Konzert von Pleiten, Pech und Pannen, bei dem schon der Auftakt danebenging. Erster Satz: Ich weiß noch, ich hatte das Josefstift in einem Krankenhaus-Vergleichsportal gefunden, und weil das Haus sehr anständig bewertet war, bin ich am nächsten Tag gleich mal hingefahren. Also, ich habe versucht, hinzufahren. Nachdem ich nach mehrfachem Umkreisen des Komplexes endlich einen Parkplatz gefunden hatte, bin ich nach 15 Minuten Fußmarsch mit höllischen Rückenschmerzen am Stift angekommen … dachte ich. Wie sich herausstellte, war es die Wäscherei. Dann war ich in deren Diagnoseklinik, dann im Schwesternwohnheim. Und auf meine Frage, wo denn das Josefstift sei, kam immer ein‚ na, da sind Sie hier aber falsch. Fragen Sie doch mal bei XY nach …. Ich war schon auf 180, habe mich wegen der Schmerzen aber gar nicht getraut, mich aufzuregen. Als ich dann endlich da war, wollte ich mich eigentlich nur noch hinlegen. Im Eingangsbereich war ein Tresen, und bevor ich sagen konnte, dass ich gern ein paar Infos über das Haus hätte, wurde ich angeblafft: ‚Haben Sie eine Nummer? Nein? Könnten Sie dann bitte eine Nummer ziehen und im Wartebereich platznehmen?‘ Nach einer halben Stunde Wartezeit wurde ich mit ein paar angegrauten Prospekten abgefertigt. Gut, die Postleitzahlen waren schon fünfstellig, aber dass die Ansprechpartner in der Broschüre noch die richtigen waren, konnte ich mir kaum vorstellen. Naja, nachdem mein Hausarzt meinte, dass die wirklich sehr gut seien, bin ich trotzdem hin, aber das Konzert ging grad weiter so. Zweiter Satz: Terminwust bei den Vorgesprächen! Drei verschiedene Termine, an irgendwelchen Orten durch 1000 Gänge dieser Riesenklinik. OP-Aufklärung nennt sich das ja. Und mit jeder ‚Aufklärung‘ stieg meine Panik, weil ich eigentlich gar nicht aufgeklärt, sondern nur mit vielen unzusammenhängenden Fakten verwirrt wurde. Und wenn ich anfangen wollte zu fragen, wurde klar, dass der Arzt entweder gar nicht wirklich die Zeit hat, mir alles zu erklären, oder meine Frage nicht genau in seinen Verantwortungsbereich fällt. Motto: ‚Das müssen Sie den Anästhesisten fragen!‘, ‚Da erkundigen Sie sich bitte direkt auf der Station.‘, ‚Das kann ich Ihnen nicht sagen – aber bringen Sie das doch mal beim Chi­ rurgen an. Da waren Sie schon? Ah, ok‘. Ich wusste nur: Irgendwas wird gemacht, es sind verschiedene Dinge, alles kann furchtbar schiefgehen. Du weißt ja, wie viel Schiss ich bei gesundheitlichen Problemen habe … und eine Bandscheiben-OP ist ja nicht ohne! Nicht, dass da jemand aus Versehen die Nerven ganz durchschneidet und ich sitz den Rest meines Lebens im Rollstuhl.“

96

W. Rogowski und T. Schütz „Was der Chirurg genau gesagt hat? Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht mehr wirklich daran. Ach ja, ich weiß noch, dass es ein kleines, bis unter die Decke mit Unterlagen vollgestopftes Büro war und dass Dr. Schnippelgut Turnschuhe und einen schmutzigen weißen Kittel anhatte. Und er eben von diversen furchtbaren Dingen erzählte, die alle passieren könnten. Und ich mir nur dachte: Auweia, wenn deren Hygiene im OP so ausgeprägt ist wie die Waschmaschine des Chefoperateurs, dann gute Nacht. Dritter Satz: OP – gut, Raum zur Vorbereitung so charmant wie der Schlachthof, vom Rest kriegt man ja nichts mit, komische Phantasien im Aufwachraum. Ich hab’ vor allem noch das furchtbare Schnarchen des Mitpatienten im Zimmer im Ohr, bei dem ich selbst vollgepumpt mit Schlafmitteln kein Auge zu bekommen hab. Das war besonders schlimm, da ich zwei Tage länger stationär war, als ursprünglich geplant, und mir niemand genau sagen konnte, warum eigentlich. ‚Das schauen wir uns noch ein bisschen an‘ war schon die aufschlussreichste Information. Ganz ehrlich habe ich den starken Verdacht, dass mein Bett neu belegt werden sollte und der erwartete Nachfolger doch nicht kam. Dann haben sie mich noch ein wenig dabehalten, um abrechnen zu können. Und der vierte Satz der Symphonie dann die diversen und alle ziemlich hohen Rechnungen – untereinander völlig unkoordiniert und über einen ewigen Zeitraum verteilt. Was mich besonders genervt hat ist, dass in vielen Rechnungen eine Chefarztbehandlung ausgewiesen war. Dabei habe ich Dr. Schnippelgut nach der Vorbesprechung gar nie mehr gesehen, da er nach der OP alles an andere Ärzte delegiert hat – also ein anderer macht es, aber der Chefarzt rechnet einen höheren Satz ab! Da muss man sich doch nicht wundern, dass die Versicherungen immer teurer werden!“ „Gesundheitliche Beschwerden? Nein, das war nur die eine OP, danach ist tatsächlich bis heute nichts mehr gekommen. Aber wie gut die war, dazu kann ich nichts sagen. Wollte den Operateur danach noch sprechen, aber der arrogante Fatzke wollte sich wohl nicht mit mir Otto Normalbürger abgeben, ich habe jedenfalls keinen Termin bekommen. Jedenfalls, bevor Du ins Marienstift gehst, ruf doch nochmal Rolf an. Du erinnerst Dich, das war der, mit dem ich damals auf Austauschstudium in Rotterdam war. Der hatte zum gleichen Zeitpunkt exakt die gleiche Geschichte wie ich. Wir hatten uns damals drüber unterhalten und er war ins Marienstift gegangen und klang ziemlich angetan. Oh, Franziska, ich seh’ grad, meine Freunde sind da, ich muss dringend los. Ich wünsch Dir was, vor allem eine gute Entscheidung!“

Franziska Müller hörte noch Schritte und Stimmen, dann wurde das Telefonat beendet. Sie dachte sich: „Ach ja, stimmt, der Rolf, den könnte ich auch fragen“ und begann, seine Telefonnummer zu suchen. Er hatte ihr sogar kürzlich davon erzählt! Er musste nach der ersten OP zwar noch zwei Mal hin, weil noch was zu machen war, aber er hatte berichtet, dass er immer super informiert war und alles hoch professionell ablief.

8.3

Aufgaben

8.3.1 Subjektive Einschätzung Service Blueprinting befasst sich mit dem subjektiven Gesamteindruck, den eine Dienstleistung hinterlässt, auch im Hinblick darauf, ob sie weiterempfohlen wird.

8  Service Blueprinting

97

a) Welchen Gesamteindruck vermittelt Torben Schulz? Was würden Sie vermuten, welche Entscheidung Franziska Müller auf Basis dieser Informationen trifft? b) Welche Informationen haben Sie zur medizinischen Qualität der Behandlung und welche Entscheidung wäre auf Basis dieser Informationen zu erwarten gewesen?

8.3.2 Psychologischer Hintergrund In der Literatur (z. B. Foscht et al. 2017) kann man über den Halo-Effekt lesen, dass er einen wichtigen Einfluss auf den subjektiven Gesamteindruck hat, den eine Dienstleistung hinterlässt. a) Wie können Sie dieses Phänomen in dieser Fallstudie möglicherweise wiederfinden? b) Welche Implikation hat dies für die Weiterempfehlung einer Klinik? c) Was bedeutet dies für die Gestaltung von Aspekten medizinischer Leistungen, die aus ärztlicher Sicht ziemlich irrelevant sind (z. B. Zeitpunkt der Rechnungsstellung)?

8.3.3 Konzept des Service Blueprinting allgemein Was versteht man unter dem Konzept des Service Blueprinting? Bitte erläutern Sie allgemein a) das Ziel, b) die verschiedenen Betrachtungsebenen und c) das Vorgehen beim Durchführen dieses Konzeptes.

8.3.4 Anwendung des Konzepts auf die Fallstudie Bitte analysieren Sie den in der Fallstudie beschriebenen Prozess mithilfe eines Service Blueprintings: a) Wie verläuft der Ist-Prozess aus Sicht des Patienten als Kunde bzw. der Patientin als Kundin? b) Welche Kontaktpunkte bestehen? c) An welchen Kontaktpunkten hat sich das Josefstift wenig kund∗innenorientiert gezeigt und Torben Schulz als zufriedenen Patienten verloren? d) Wie könnte eine ideale Kund∗innenreise aussehen? Entwickeln Sie einen Vorschlag und notieren Sie für diesen die Ebene der Kund∗innenaktionen. e) Nehmen Sie beispielhaft den letzten Teil der idealen Kund∗innenreise heraus. Starten Sie bei dem Moment, an dem der/die Bandscheiben-OP-Patient∗in erfährt, dass er/sie

98

W. Rogowski und T. Schütz

an diesem Tag entlassen wird. Erweitern Sie für diesen Teil die Kund∗innenreise um Aktionen der Kund∗innen auf anderen Ebenen des Service Blueprintings. f) Definieren Sie für diesen Ausschnitt der Kund∗innenreise mögliche Standards zur Sicherung einer hohen Kund∗innenzufriedenheit. Formulieren Sie die Standards so, dass die prozessschrittverantwortlichen Personen diese verstehen und umsetzen können.

8.3.5 Kritische Reflexion Jedes Managementkonzept hat spezifische Stärken und Schwächen, die bei der Auswahl eines Konzepts zur Problemlösung einbezogen werden sollten. a) Welche Stärken und welche Schwächen können Sie am Konzept des Service Blueprinting allgemein erkennen? b) Nennen Sie je ein Beispiel für eine Fragestellung, für die das Konzept eher gut oder eher nicht so gut anwendbar ist.

8.4

Lösungsvorschläge

8.4.1 Subjektive Einschätzung a) Torben Schulz vermittelt offensichtlich einen sehr negativen Gesamteindruck. Natürlich kann man die Entscheidung von Franziska Müller nicht vorhersagen und es gibt keine richtige oder falsche Antwort auf diese Frage. Es handelt sich aber in jedem Fall um einen Typus von Entscheidungen, bei dem Menschen zum stellvertretenden Verhalten neigen – also aufgrund der hohen Komplexität des Sachverhalts und der geringen Freude an der Auseinandersetzung mit dem Entscheidungsobjekt sehr gerne dem Rat anderer folgen. Dabei spielen weiche Faktoren wie emotionale Nähe, Sympathie und Vertrauen oft eine ausschlaggebendere Rolle als harte Fakten wie objektiv messbare, aber intuitiv und intellektuell nicht immer leicht nachvollziehbare klinische Outcomes. Ärztliches Personal, das hier typischerweise primär zurate gezogen wird, ist offensichtlich uneins. Daher sind nahestehende Personen eine wichtige Referenz der Entscheidung – in diesem Falle Freunde aus dem Studium wie Torben Schulz. Deren Urteil über die beiden Kliniken scheint recht eindeutig (s. Torbens Bewertung als „Saftladen“ vs. Ralfs Bewertung als „hoch professionell“). b) Information zu klinischen Outcomes gerät in der Darstellung von Torben in den Hintergrund, da diese (obgleich von hoher Qualität) von den durchweg negativen nicht-­ medizinischen Bestandteilen der Kundenreise überschattet wird. Die Operation im Josefstift ist ohne Komplikationen oder weiteren Behandlungsbedarf erfolgreich verlaufen (s. Aussage „Gesundheitliche Beschwerden? Nein, das war nur die eine OP, danach ist tatsächlich bis heute nichts mehr gekommen.“), während die Behandlung im

8  Service Blueprinting

99

Marienstift bei gleicher Diagnose (s. „exakt die gleiche Geschichte wie ich“) anscheinend nicht erfolgreich war und die Notwendigkeit weiterer Eingriffe nach sich zog (s. „er musste nach der ersten OP noch zwei Mal hin, weil noch was zu machen war“). Die klinische Bewertung stellt sich also der intuitiven Patient∗innenenempfehlung entgegengesetzt dar. Dies ist natürlich nicht abschließend – man müsste klinisch prüfen, was genau mit der Aussage „noch zu machen“ gemeint war und ob es sich um vermeidbare Komplikationen oder das Ergebnis einer klinisch andersgearteten Situation handelt. Hierzu liegen in der Fallstudie keine weiteren Informationen vor.

8.4.2 Psychologischer Hintergrund a) Die Aussage bedeutet, anders ausgedrückt, dass sich die verschiedenen Aspekte eines Qualitätsurteils vermengen. Patient∗innen bilden also einen Gesamteindruck über die Leistung, in die die Aspekte einfließen, die sie als Kund∗innen beobachten und bewerten können. Das Gewicht der einzelnen Aspekte ist dabei häufig nicht rational begründet. Im Nachhinein bleibt ein Gesamteindruck, der vermutlich die Bewertung der einzelnen Aspekte stark überlagert. Dies ist z. B. dadurch erkennbar, dass in Zufriedenheitsbefragungen der Kund∗innen verschiedene Bereiche stark korrelieren, auch wenn diese sachlogisch nichts miteinander zu tun haben. Im Beispiel der Fallstudie könnte es z. B. sein, dass allein das Erlebnis der späten Rechnung als jüngstes, sehr präsentes Ereignis alles übrige Erleben der Servicequalität im Allgemeinen und der wahrgenommenen klinischen Behandlungsqualität im Besonderen verfärbt. Möglicherweise waren es auch andere Orientierungspunkte zur Qualität, wie z. B. die Sauberkeit des Arztkittels oder die Aufgeräumtheit des Arztzimmers – mit der Qualität der medizinischen Outcomes, die für das Gesamturteil über eine Behandlung nach objektiven Kriterien ausschlaggebend sein sollte, hat dies nicht immer viel zu tun. Im Gegenteil  – nachträglich wird die augenscheinlich exzellente Leistung des Operateurs noch abgewertet (s. Torbens Aussage „Aber wie gut die war, dazu kann ich nichts sagen. Wollte den Operateur danach noch sprechen, aber der arrogante Fatzke wollte sich wohl nicht mit mir Otto Normalbürger abgeben, ich habe jedenfalls keinen Termin bekommen“). b) Der gute Ruf und Weiterempfehlungen sind für den Erfolg von Kliniken zentral. Das Ergebnis der Marketingliteratur legt nahe, dass jenseits der medizinischen Kriterien andere Aspekte der Behandlungen wichtiger sein können. Eine Weiterempfehlung kann also trotz einer hervorragenden medizinischen Kernleistung durch andere, nicht medizinische Leistungsbestandteile gefährdet sein, wenn der Kunde bzw. die Kundin diese als negativ wahrnimmt. Dies ist insbesondere dann kritisch, wenn der Kunde bzw. die Kundin die Leistungsbestandteile dem Einflussbereich der Klinik zuordnet.1  In diesem Kontext wird in der Marketingliteratur von Attribution gesprochen. Zu weiteren Informationen hierzu siehe z. B. Weiner (1985).

1

100

W. Rogowski und T. Schütz

c) Zunächst: Das bedeutet keinesfalls, dass die Optimierung der patientischen Customer Journey und der Außenwirkung von größerer Bedeutung bei der Gestaltung medizinischer Versorgungsprozesse sein sollte als die klinische Relevanz! Die wichtigste und grundlegend notwendige Bedingung für den guten Ruf eines Gesundheitsbetriebs ist exzellente Behandlungsqualität! Abstriche bei der medizinischen Versorgungsqualität sind nicht nur ärztlich und ethisch hoch problematisch, sondern bereiten einem Gesundheitsbetrieb zudem früher oder später doch Probleme und können empfindliche Sanktionen zur Folge haben. Obgleich die Behandlungsqualität eine notwendige Bedingung ist, ist sie jedoch noch nicht hinreichend – gemäß dem Kano-Modell wäre sie ein Basismerkmal, welches Unzufriedenheit schafft, wenn sie nicht gegeben ist, aber keine Begeisterung, wenn sie gegeben ist. Medizinisch irrelevante Aspekte, die möglicherweise schlicht nicht auf dem Radar eines medizinisch geprägten Managements sind, können erstaunlich hohe Auswirkungen auf die Außenwahrnehmung und die Weiterempfehlungsrate eines Hauses haben. Dies bedeutet, dass strukturierte Verfahren zur kund∗innenfreundlichen Gestaltung klinischer Prozesse eine äußerst wertvolle Ergänzung professionellen Managements im Gesundheitswesen darstellen.

8.4.3 Konzept des Service Blueprinting allgemein a) Das Ziel des Service Blueprinting ist die Umsetzung von Erkenntnissen über Kund∗innenbedürfnisse und -wünsche in Unternehmensprozessen und -standards. Im Gegensatz zu anderen Prozessentwicklungsmodellen (z. B. Lean Management) liegt der Fokus beim Service Blueprinting nicht auf einer Reduktion der Komplexität oder der Minimierung des Inputs, sondern auf der systematischen Optimierung der Customer Experience, also des Kund∗innenerlebnisses. Darum werden beim Service Blueprinting die Prozesse aus Sicht des Kunden/des Patienten bzw. der Kundin/der Patientin und nicht aus Sicht des Unternehmens/der Klinik hergeleitet. b) Im Service Blueprinting werden 5 aufeinander aufbauende Ebenen nacheinander entwickelt. Diese sind (in der grafischen Darstellung von oben nach unten): • Physical Evidence • Kund∗innenaktionen • On-Stage-Aktivitäten • Back-Stage-Aktivitäten • Unterstützungsaktivitäten Die Reihenfolge bei der Erstellung der Ebenen unterscheidet sich jedoch von deren grafischer Abfolge. Das Vorgehen (und damit die Reihenfolge der Erstellung) wird in Teilaufgabe c) behandelt. c) Beim Durchführen dieses Konzeptes wird folgendermaßen vorgegangen: a. Kund∗innenaktivitäten (zweite Ebene von oben) beschreibt die Abfolge der Ak­ tivitäten, die der/die Kund∗in im Rahmen der Kund∗innenreise durchläuft

8  Service Blueprinting

101

(­ beschreibender Fall) bzw. im Idealfall durchlaufen sollte (normativer Fall), damit die Kund∗innenzufriedenheit mit dem Prozess optimiert wird. Kund∗innen interagieren nicht bei jeder Aktivität der Kund∗innenreise mit dem Unternehmen bzw. der Klinik, sondern führen auch eigenständig Aktivitäten durch (z. B. Anfahrt zur Klinik). Kund∗innenaktivitäten, die einer direkten Interaktion mit der Klinik (Personal, Gebäude, Website etc.) unterliegen, werden in der Regel mit einem ★ gekennzeichnet. Um alle Kund∗innenaktivitäten zu erfassen, ist es in der Regel hilfreich, zunächst die erste Aktivität (hier: Patient∗in stellt Gesundheitsproblem fest) und die letzte Aktivität (hier: Patient∗in erhält Rückerstattung der Krankenhausrechnungen durch die Krankenkasse) zu notieren und dann alle Schritte dazwischen aufzufüllen. b. On-Stage-Aktivitäten (dritte Ebene von oben) beschreiben Interaktionen der Klinik mit dem/der Patient∗in, die an den mit ★ gekennzeichneten Stellen auftreten. Wie in Abschn. 8.1 unter dem Begriff Halo-Effekt beschrieben, sind dabei Interaktionen mit dem Klinikpersonal, der Infrastruktur, der Website oder App etc. denkbar. Zwischen der jeweiligen Kund∗innenaktivität und der On-Stage-Aktivität wird ein Pfeil gezeichnet. Die Pfeilrichtung gibt an, welche Partei die Interaktion auslöst (ruft z. B. die Telefonzentrale der Klinik bei dem Kunden bzw. der Kundin an, so wird der Pfeil von der On-Stage zur Kund∗innenaktivitäten-Ebene führen.) c. Physical Evidence (oberste Ebene) beschreibt die seh-, hör- oder fühlbaren Elemente der jeweiligen Interaktion. Betritt der/die Kund∗in z. B. das Sprechzimmer des Chefarztes (=  Aktion), so regelt die Physical Evidence unter anderem den Dress­code des Arztes, die Einrichtung des Raumes sowie dessen gewünschten Zustand (Sauberkeit, Temperatur etc.). Die Physical Evidence ist bei Dienstleistungen kritisch, da Kund∗innen/Patient∗innen den Service nicht vor dem Konsum bewerten können und darum als Ersatz erlebbare Merkmale zur Bewertung heranziehen. d. Back-Stage-Aktivitäten (zweite Ebene von unten) müssen ebenfalls vom On-Stage-­ Personal durchgeführt werden, damit die On-Stage-Interaktionen möglich sind. Allerdings laufen Back-Stage-Aktivitäten hinter der Sichtbarkeitslinie des Kunden/Patienten bzw. der Kundin/Patientin ab, sodass diese∗r sie nicht beobachten kann. Es sind also die gleichen Mitarbeiter∗innen, die ja nicht permanent Kund∗innenkontakt haben können. Erfährt z. B. die Pflegekraft bei der Aufnahme einer Patientin On-Stage von deren Glutenunverträglichkeit, dann gibt sie diese Information Back-Stage an die Küche weiter. Unterstützungsaktivitäten (unterste Ebene) sind notwendig um Back-Stage → OnStage → Kund∗innenaktivitäten zu ermöglichen. Im Beispiel aus d. regeln die Unterstützungsaktivitäten, wie genau das Essen für die Patientin mit der Unverträglichkeit zubereitet und an die Pflegekraft übergeben wird, die dieses beim Transport aufs Zimmer wiederum in definierter Weise behandeln muss, um eine Kreuzkontaminierung auszuschließen (Back-Stage). Sobald das Patient∗innenzimmer betreten wurde, definiert die On-­Stage-­Aktivität, wie dem/der Patient∗in das Essen übergeben wird (irgendwo zwischen den Extremen: wortlos verdeckt abstellen vs. anrichten auf Sterneniveau) und diese∗r das Essen zu sich nimmt (Kund∗innenaktivität). Die Physical Evidence schließlich definiert z. B. Beschaffenheit, Zustand und Größe von Tablett, Geschirr, Besteck und Serviette. …

102

W. Rogowski und T. Schütz

8.4.4 Anwendung des Konzepts auf die Fallstudie a) Dies ist sehr gut in Form der Ebene Kund∗innenaktivitäten (s. Abschn. 8.4.3) des Service Blueprintings darzustellen. Die Fallstudie enthält sehr viele Informationen zu der Kundenreise des Torben Schulz, jedoch bei weitem nicht alle. In Abb. 8.1 wurde der gesamte Ist-Prozess dargestellt und um die typischen Elemente eines Klinikaufenthalts ergänzt. Dabei ist auch erkennbar, dass der Prozess vor dem Klinikaufenthalt beginnt und danach endet. b) Kontaktpunkte mit dem Unternehmen bzw. der Klinik können im Service Blueprinting Framework durch Sterne bei Kund∗innenaktionen dargestellt werden, bei denen der/ die Patient∗in mit dem Personal, der IT, der physischen Infrastruktur oder anderen Elementen der physischen Evidenz interagiert. In Abb. 8.1 sind diese Prozesselemente entsprechend gekennzeichnet. c) Dies lässt sich wiederum gut grafisch darstellen. In Abb.  8.2 wurden alle in der Fallstudie genannten und von Torben negativ bewerteten Erfahrungen durch Unter-

Patient stellt Gesundheitsproblem fest

Patient besucht Hausarzt (OP Empfehlung)

Patient checkt Bewertungsportale

Patient reist zur Besichtigung an (Auto)

Patient sucht nach Parkplatz

Patient sucht nach korrektem Gebäude

Patient wartet auf Beratung

Patient bekommt veraltete Prospekte ausgehändigt

Patient vereinbart Aufklärungstermine

Patient reist zur Aufklärung an (Auto)

Patient sucht korrekten Arzt

Patient wartet

Patient wird „aufgeklärt“

Patient wird weiter verwiesen

[LOOP]

Patient reist zur OP an (wird gebracht)

Patient wird auf OP vorbereitet

Patient wird operiert

Patient wacht auf (Aufwachraum)

Patient wird zurück ins Zimmer gefahren

Patient erhält OP debriefing (delegiert)

Patient bekommt Essen nach Speiseplan

Patient verbringt Nacht (ohne Schlaf)

Patient erhält Aufenthaltsprognose

Aufenthaltsprognose wird revidiert

[LOOP]

Patient füllt Entlassungspapiere aus

Patient bereitet Abholung vor

Patient wird entlassen

Patient wird von Angehörigen abgeholt

Patient erhält Klinikrechnungen

Patient reicht Rechnungen bei KK ein

Patient erhält weitere Klinikrechnungen

Patient reicht Rechnung en wieder bei KK ein

Patient erhält zeitgleich Rechnungen & Mahnung

Patient kontaktiert Krankenkasse und Klinik...

Abb. 8.1  Aktuelle Kundenreise (Ist-Situation)

8  Service Blueprinting

Patient stellt Gesundheitsproblem fest

Patient besucht Hausarzt (OP Empfehlung)

Patient reist zur Aufklärung an (Auto)

Patient wacht auf (Aufwachraum)

Patient bereitet Abholung vor

103

Patient sucht nach korrektem Gebäude

Patient wartet auf Beratung

Patient bekommt veraltete Prospekte ausgehändigt

Patient vereinbart Aufklärungstermine

Patient wird weiter verwiesen

[LOOP]

Patient reist zur OP an (wird gebracht)

Patient wird auf OP vorbereitet

Patient wird operiert

Patient bekommt Essen nach Speiseplan

Patient verbringt Nacht (ohne Schlaf)

Patient erhält Aufenthaltsprognose

Aufenthaltsprognose wird revidiert

[LOOP]

Patient füllt Entlassungspapiere aus

Patient erhält Klinikrechnungen

Patient reicht Rechnungen bei KK ein

Patient erhält weitere Klinikrechnungen

Patient reicht Rechnung en wieder bei KK ein

Patient erhält zeitgleich Rechnungen & Mahnung

Patient kontaktiert Krankenkasse und Klinik...

Patient checkt Bewertungsportale

Patient reist zur Besichtigung an (Auto)

Patient sucht nach Parkplatz

Patient sucht korrekten Arzt

Patient wartet

Patient wird „aufgeklärt“

Patient wird zurück ins Zimmer gefahren

Patient erhält OP debriefing (delegiert)

Patient wird entlassen

Patient wird von Angehörigen abgeholt

Abb. 8.2  Kritische Elemente der aktuellen Kundenreise

streichung markiert. Bemerkenswert ist, dass die medizinische Kernleistung hiervor nicht betroffen ist. d ) Um eine wirklich ideale Kund∗innenreise zu erstellen, wären detaillierte Informationen zu den Kund∗innenwünschen und -anforderungen der Patient∗innen des Josefstifts nötig. Als Quellen für solche Informationen kommen in der Praxis neben klassischer Markt- und Kund∗innenforschung z.  B. auch Wettbewerbsanalysen, Benchmarkings, best-practices aus anderen Branchen oder die Analyse von Kund∗innenbeschwerden in Frage (Auflistung nicht erschöpfend). In Abb. 8.3 finden Sie exemplarisch eine deutlich verbesserte Kund∗innenreise. Vermutlich haben Sie bei der Erstellung Ihrer Lösung einen etwas anderen Prozess entwickelt. Die Diskussion darüber, welcher Prozess z. B. in Einklang mit dem Gesamtkonzept eines Hauses am besten passt, ist Teil eines Service Blueprinting Projekts. Welcher Prozess tatsächlich der ideale ist, muss im Einzelfall der Praxistest belegen. e) Abb. 8.3 zeigt eine mögliche Lösung für den in der Aufgabenstellung geforderten Ausschnitt der Kundenreise. Zu beachten ist, dass Back-Stage- und Support-Aktivitäten durchweg sicherstellen, dass On-Stage-Aktivitäten durchgeführt werden können.

104

W. Rogowski und T. Schütz

Patient stellt Gesundheitsproblem fest

Patient besucht Hausarzt (OP Empfehlung)

Patient informiert sich auf Klinik Homepage

Patient vereinbart Vorbesprechungstermin

Patient reist zur Vorbesprechung an (Auto)

Patient bewegt sich von Parkplatz zum Empfang

Patient durchläuft Vorbesprechungsroutine

Patient wartet auf OP Termin

Patient packt Unterlagen, Kleidung, etc.

Patient checkt ein

Patient belegt Zimmer

Patient Informiert Kontakte über Zimmerbelegung

Patient füllt Essensplan aus

Patient wird auf OP vorbereitet

Patient reist an

Patient wird operiert

Patient wacht auf (Aufwachraum)

Patient wird zurück ins Zimmer gefahren

Patient erhält OP debriefing (OP Verlauf)

Patient erhält Aufenthaltsprognose

Patient erhält ersten Besuch von Angehörigen

Patient bekommt Abendessen

Patient verbringt erste Nacht & wird am Morgen geweckt

Zimmer des Patienten wird gereinigt

[LOOP]

Patient stimmt Abholung ab

Patient füllt Entlassungspapiere aus

Patient wird von Angehörigen abgeholt

Patient „lebt sich zu Hause ein“

Patient sucht RehaZentrum und vereinbart Termine

Patient erhält Klinikrechnungen

Patient reicht Rechnungen bei KK ein

Patient beantwortet KlinikFragebögen

Patient erhält Rückerstattung der KK

Patient checkt Bewertungsportale

Patient holt persönliche Empfehlungen ein

Abb. 8.3  Ideale Kundenreise

Beispiel: Die Verfügbarkeit eines Abholerparkplatzes in unmittelbarer Nähe des Klinikausgangs (Schritt 3) trägt mit Sicherheit zur Steigerung der Zufriedenheit eines Patienten bzw. einer Patientin mit OP-Schmerzen bei. Allerdings muss sichergestellt sein, dass dieser Parkplatz zum Zeitpunkt der Abholung frei und für den/die Abholende∗n zugänglich ist. Folglich muss die Klinik: 1. die Information erhalten, wann der/ die Patient∗in mit welchem Fahrzeug (Kfz-Kennzeichen) abgeholt wird; 2. sicherstellen, dass der/die Abholende den Parkplatz findet; 3. die Reservierung des Parkplatzes ­auslösen; und 4. überwachen, dass der/die Abholende (und nur diese∗r) den Parkplatz nutzt. Diese Probleme wurden in dem idealen Prozess gelöst, indem die Schwester bei dem Telefonat des Patienten mit dem Abholer anwesend ist und sicherstellt, dass 1. Abholzeitpunkt und Kfz-Kennzeichen erfasst werden und 2. der Abholer eine präzise Wegbeschreibung erhält. Dann gibt sie die Information an das Back-Office weiter, welches 3. den Parkplatz reserviert und 4. den Sicherheitsdienst über die Belegung informiert. f) Im Folgenden werden zwei mögliche Standards zur Sicherung einer hohen Kund∗innenzufriedenheit formuliert.

8  Service Blueprinting

105

a. Standard zu Prozessschritt Patient∗in erhält Klinikrechnungen: Die Abrechnungen unserer Leistungen müssen dem/der Patient∗in zeitgleich und in einem Umschlag zugehen. Der Zeitraum zwischen Entlassung des Patienten bzw. der Patientin und Zugehen der Abrechnung darf maximal 4 Wochen betragen. b. Standard zu Prozessschritt Security prüft Berechtigung: Sollte ein Fahrzeug den Parkplatz befahren, dessen Kennzeichen nicht in der Reservierungsliste vermerkt ist, so ist der/die Fahrer∗in vom Sicherheitsdienst i. unmittelbar nach dem Aussteigen ii. höflich zu grüßen und iii. darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um einen reservierten Abholer∗innenparkplatz handelt. iv. Im Zweifelsfall ist anhand des Patient∗innennamens zu prüfen, ob bei der Notierung des Kfz-Kennzeichens ein Fehler unterlaufen ist. v. Parken ohne Abholer∗inreservierung ist nicht zu gestatten, 1. auch nicht im Ausnahmefall und 2. auch nicht kurzfristig. Anhand dieser beiden Beispiele ist der notwendige Unterschied des Detailgrades bei der Formulierung von Standards gut zu erkennen. Während der Standard zur Klinikrechnung für das Klinik-Accounting ergebnisorientiert formuliert ist (was muss herauskommen?), ist der Standard für den Sicherheitsdienst deutlich präziser und handlungs- statt ergebnisorientiert (was muss getan werden?). Derartige Differenzierungen sind entsprechend unterschiedlicher Bildungsstände, Professionalität und Managementerfahrung bei den Bezugsgruppen vorzunehmen.

8.4.5 Kritische Reflexion a) Mit Service Blueprinting sind verschiede Stärken und Schwächen verbunden. Zu den Stärken zählen unter anderem: • bewährtes Tool zu systematischen Umsetzung von Kund∗innenbedürfnissen in Unternehmensprozesse und -standards (outside-in) • integriert Kund∗innensichtweise mit organisationsinterner Prozesslogik • kann unabhängig von der Aufbauorganisation angewendet werden • zwingt zu siloübergreifender Zusammenarbeit • grafische Darstellung vereinfacht Verständnis, Kommunikation und Erarbeitung im Team Zu den Schwächen zählen unter anderen: • vergleichsweise aufwändiger Ansatz • bei komplexen Prozessen schnell unübersichtlich • Effizienz- und Kostengesichtspunkte werden hinter Kund∗innenanforderungen gestellt (nicht für alle Geschäftsmodelle geeignet) • zur erfolgreichen Anwendung ist viel Erfahrung notwendig

106

W. Rogowski und T. Schütz

b) Anwendungen, für die Service Blueprinting eher lohnend erscheint, sind z. B. • grundsätzlich nur für die Kund∗innen-/Patient∗innenerfahrung wichtige Prozesse – ein Krankenhaus hat z. B. eine Vielfalt von Prozessen, wie etwa Weiterbildung des ärztlichen Personals, Vorgehen beim Einkauf, Wartung des Maschinenparks etc,. für die Service Blueprinting wenig sinnvoll wäre. Ein Startpunkt könnten auch zunächst für die Kund∗innenerfahrung besonders wichtige Teilprozesse sein, wie z.  B. die Prozesse von Aufnahme und Entlassung. • eher häufig durchgeführte Prozesse als seltene (z. B. also eher eine Klinikkette als ein kleineres, ländliches Krankenhaus oder eher in der Entwicklung eines Franchisekonzepts für einen Gesundheitsdienstleister als für eine einzelne Hausarztpraxis). • eher gut strukturier- und standardisierbare Prozesse als Prozesse, die sich je nach Einzelfall stark unterscheiden. So ist bspw. in einem Krankenhaus Aufnahme und Entlassung eher geeignet als Prozesse der Differenzialdiagnostik mit sehr einzelfallspezifischem Vorgehen. Auch wären die Dienstleistungen eines Fitnesscenters, das eine Reihe standardisierter Kurse anbietet, geeigneter als die Dienstleistungen eines Senior-Beraters bzw. einer Senior-Beraterin für betriebliches Gesundheitsmanagement, der/die bei jedem Kunden und jeder Kundin völlig andere Projekte bearbeitet (wobei sich natürlich fragen lässt, wie ein Dienstleister ganz ohne standardisierbares Vorgehen ein hohes Qualitätsniveau aufrechterhalten kann).

Literatur BOUNCKEN, R. B., PFANNSTIEL, M. A. & REUSCHL, A. J. (2013): Dienstleistungsmanagement im Krankenhaus I Prozesse, Produktivität und Diversität. Wiesbaden: Gabler Verlag. FOSCHT, T., SWOBODA, B. & SCHRAMM-KLEIN, H. (2017): Käuferverhalten Grundlagen – Perspektiven – Anwendungen. 6., akt. Aufl., Wiesbaden: Gabler Verlag. SCHUBERT, E. D. (2013): Die Prozessanalyse mittels Service Blueprinting als Grundlage für ein Redesign der Prozesse eines OP-Bereiches, in: BOUNCKEN, R. B., PFANNSTIEL, M. A. & REUSCHL, A. J. (Hrsg.), Dienstleistungsmanagement im Krankenhaus I: Prozesse, Produktivität und Diversität. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 35–69. WEINER, B. (1985): An attributional theory of achievement motivation and emotion. Psychol Rev, 92:4, 548–73. WILSON, A. M., ZEITHAML, V. A., BITNER, M. J. & GREMLER, D. D. (2016): Services marketing integrating customer focus across the firm. Third european edition, London: McGraw-Hill.

9

Kategorien der Vergütung Daniel Dröschel und Wolf Rogowski

Zusammenfassung

Die Umsätze medizinischer Leistungen sind maßgeblich davon geprägt, wie die Leistungen vergütet werden. Ein wichtiger Aspekt des Managements von Innovationen im Gesundheitswesen besteht daher darin, verschiedene Vergütungsszenarien entwickeln und beurteilen zu können. In der Fallstudie Vergütungsszenarien für DiagBand zur Parkinsondiagnostik versetzt sich der/die Leser∗in in die Rolle eines Beratungsunternehmens, das den Hersteller eines neuen Medizinprodukts darin unterstützt, verschiedene Vergütungsszenarien zu entwickeln und eines auszuwählen.

9.1

Hintergrund

Auf normalen Märkten orientiert sich die Preisbildung stark an der geschätzten individuellen Zahlungsbereitschaft für das neue Gut, welches ein∗e Unternehmer∗in auf dem Markt anbieten möchte. Auf dem ersten Gesundheitsmarkt hingegen spielt die Zahlungsbereitschaft nur eine geringe Rolle bei der Nachfrage nach einzelnen Leistungen und der Wettbewerb ist zudem selten preisbildend. Anstelle dessen werden Leistungen administrativ (in Gebührenordnungen) festgelegt und durch die gesetzliche Krankenversicherung bzw. private Vollversicherungen vergütet. Zwar gibt es auch in der Gesundheitswirtschaft

D. Dröschel (*) SFL Services in Basel/SRH FernHochschule in Riedlingen, Lörrach, Deutschland E-Mail: [email protected] W. Rogowski Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_9

107

108

D. Dröschel und W. Rogowski

den Teilbereich des zweiten Gesundheitsmarkts, bei dem die individuelle Zahlungsbereitschaft ausschlaggebend für die Kaufentscheidung ist. Dies gilt bspw. meist für gesundheitsrelevante Lifestyle-Produkte wie Fitness-Tracker. Einen weitaus größeren Anteil der Gesundheitswirtschaft macht jedoch der erste Gesundheitsmarkt aus. Unternehmer∗innen, die mit neuen Angeboten in der Gesundheitswirtschaft Fuß fassen wollen, müssen daher frühzeitig verschiedene Möglichkeiten analysieren, Finanzierung für ihr neues Produkt im Rahmen der Vergütungssysteme zu erreichen. Aus Unternehmenssicht sind dabei vor allem die Geschwindigkeit entscheidend, in welcher die Finanzierung (Vergütungsweg) erreicht werden kann, sowie die Höhe der erzielbaren Vergütung und die Größe der erreichbaren Zielgruppe. Vor dem Hintergrund dieser Kriterien wird die Vielfalt möglicher Finanzierungskategorien überprüft. Dies beinhaltet für Deutschland insbesondere: a) private Finanzierung von Leistungen, a. die nach Vergütungskatalogen für die privatärztliche Abrechnung (insbesondere der Gebührenordnung für Ärzte, GOÄ; s. Gutermann Publisher Ltd. 2011) in Rechnung gestellt werden, jedoch aus eigener Tasche finanziert werden (dies beinhaltet auch IGeL, d.  h. individuelle Gesundheitsleistungen durch niedergelassene Kas­ senärzt∗innen). b. die nach privaten Vergütungskatalogen (s. Gutermann Publisher Ltd. 2011) oder analog dazu (Bundesärztekammer 2019) abgerechnet und von privaten Krankenvollversicherungen sowie ggf. Beihilfeeinrichtungen vergütet werden (vgl. Bundesärztekammer 2019; BMJV und BfJ 2019a). b) gesetzliche Finanzierung a. von Leistungen niedergelassener Haus- und Fachärzt∗innen (vertragsärztliche Versorgung), die gemäß den Vorgaben des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM; Kassenärztliche Bundesvereinigung 2019) abgerechnet werden; b. von Heilmitteln, d.  h. persönlich erbrachten, ärztlich verordneten medizinischen Dienstleistungen, die von Angehörigen entsprechender Gesundheitsfachberufe geleistet werden (bspw. Physiotherapie), deren Vergütung von den Landesverbänden der Krankenkassen ausgehandelt wird; c. von Hilfsmitteln, d. h. Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen medizinisch notwendigen Hilfsmitteln in der ambulanten Versorgung, die im Rahmen von Verträgen zwischen Leistungserbringenden und Krankenkassen vergütet werden; d. von Krankenhausleistungen, die im Rahmen von Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRGs) vergütet werden (s. hierzu Webgrouper der DRG Research Group 2019); e. von Arzneimitteln, deren Vergütung insbesondere von Schutzrechten (v. a. Patenten), Verschreibungspflichtigkeit und ihrem vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgestellten Zusatznutzen abhängt;

9  Kategorien der Vergütung

109

f. von Leistungen im Rahmen zusätzlicher Vergütungsmöglichkeiten, z. B. von Selek­ tivverträgen mit spezifischen Leistungserbringenden (ambulant und/oder stationär) und ggf. weiteren Vertragspartnern wie Herstellern von Medizinprodukten (wie z. B. dem Hersteller des Akzelerometers in der Fallstudie) im Rahmen von Programmen zur leistungssektorenübergreifenden oder interdisziplinär fachübergreifenden Versorgung (integrierte Versorgung) nach § 140 SGB V (besondere Versorgung). Sowohl Vergütungssysteme als auch die Wege in die Vergütung sind international sehr unterschiedlich, meist sehr komplex und von vielfältigen Sonderfällen geprägt. So gilt z.  B. die DRG-Vergütung grundsätzlich auch für die private Krankenversicherung in Deutschland, bei Versicherungsverträgen mit Chefarztbehandlung können jedoch zusätzlich Vergütungen nach GOÄ mit reduziertem Satz abgerechnet werden. Eine Einführung in die bestehende Vergütung in Deutschland bieten die Kapitel von Dröschel et al. (2016) und von Koerber et al. (2016) im Lehrbuch zum Business Planning in der Gesundheitswirtschaft (Rogowski 2016). Einführungen in die Vergütung bietet bspw. auch das Kapitel zum Finanzmanagement im Lehrbuch zum Management im Gesundheitswesen von Busse et al. (2017). Theoretische Vertiefungen zur optimalen Ausgestaltung von Vergütungssystemen bietet das zehnte Kapitel des Lehrbuches von Breyer et al. (2013).

9.2

 allstudie: Vergütungsszenarien für DiagBand zur F Parkinsondiagnostik

Nachdem Sie das Thema Innovation im Gesundheitswesen von Anfang Ihres Studiums an fasziniert hatte, haben Sie sich nach Ihrem Abschluss erfolgreich bei einer Beratungsfirma beworben, die sich genau diesem Thema verschrieben hat – sie unterstützt junge Technologieunternehmen bei der Bewertung und Einführung neuer Produkte. In dem Projekt, welches jetzt auf Ihrem Schreibtisch liegt, geht es um ein neues Medizinprodukt für die Parkinsondiagnostik. Die Kundin, eine sportbegeisterte Elektrotechnikerin, deren Großvater an Parkinson erkrankt war, hatte Ihnen am Telefon von einer Marktlücke in der Medizintechnik berichtet, die sie entdeckt hat und mit ihrem neuen Produkt füllen möchte: „Gerade zu Beginn der Parkinsonerkrankung kann man noch viel mit Medikamenten machen – nachdem das aber zum Teil ziemliche Hämmer sind, ist es wichtig, dass die Diagnostik stimmt. Dabei spielen motorische und nicht-motorische Symptome der Patienten eine Rolle. Die motorischen Symptome sind vor allem unwillkürliches Zittern und ebenso unwillkürliche Verkrampfungen. Als es bei Opa angefangen hat, sind wir erstmal zum Neurologen. Der hat ihm ein L-Dopa-Präparat verschrieben, und, der Wahnsinn, es ist tatsächlich erst mal wieder verschwunden. Man nennt das den Honeymoon-Effekt, der leider nur 3–5 Jahre andauert, wie uns der Arzt gleich sagte. Aber immerhin.

110

D. Dröschel und W. Rogowski

So war es auch, nach dreieinhalb Jahren ging es wieder los. Der Neurologe hat uns an das Uniklinikum Tübingen überwiesen, damit er medikamentös richtig eingestellt wird. ­Erstaunlich war, dass er nur ca. 15 Minuten Zeit hatte, um die wichtigsten Untersuchungen zu machen, und da er dann nicht entscheiden konnte, welche weitere Therapie am besten geeignet wäre, hat er uns an die Spezialisten verwiesen, die die Diagnose sehr viel genauer durchführen konnten. Dazu wurde Opa zunächst mal in einer ausführlichen Anamnese (ca. 45  Minuten) untersucht. Es wurde dann entschieden, ihn in einer 14-tägigen sogenannten multimodalen Komplexbehandlung richtig einzustellen. Ich war verblüfft, als ich gesehen habe, wie die Bewegungsmuster von Pflegekräften erfasst werden. Die sind immer wieder, wenn sie kurz Zeit hatten, zu Opa gegangen, haben geschaut, ob er gerade eine Verlangsamung der Bewegungen hat, also bradykinetisch ist, oder hyperkinetisch, also eine gesteigerte Beweglichkeit bzw. Motorik aufweist. Die haben ein Tagebuch, in dem sie das dann eintragen, mit Datum und Uhrzeit. Also, manchmal vergessen sie es auch, dann schätzen sie die Zeit danach – die haben ja so irre viel anderes um die Ohren. Auf jeden Fall: Die meiste Zeit bleibt es natürlich unbeobachtet. Wo doch an einer genauen Erfassung der Bewegungsmuster so viel hängt! Da habe ich auf mein Fitness-Armband geschaut und gedacht: Das ginge doch viel einfacher und besser – solche Daten kann doch das Armband rund um die Uhr erheben. Ich habe das mit dem Oberarzt diskutiert und er hat mir Recht gegeben – er war eh gerade in ähnlichen Forschungsprojekten involviert und wir haben die Bewegungsmuster mit unterschiedlichen Fitness-Trackern erhoben. Er meinte auch, dass das ein riesiges Versorgungsproblem ist – weder die Kliniken noch die niedergelassenen Neurologen haben im Grunde die Zeit und die Hilfsmittel, um die Diagnostik so objektiv zu erfassen, dass keine Über-, Unter- oder Fehlmedikation mehr vorkommt. Mit all den Kosten, den Nebenwirkungen und vor allem dem unnötigen Leiden von Opa und den vielen anderen an Parkinson erkrankten Patienten. Darum haben wir uns nochmal an die Unterlagen aus dem Forschungsprojekt drangesetzt und einen Algorithmus entwickelt, um die für Parkinson diagnoserelevanten Bewegungsmuster per Armband aufzunehmen. Und als das so einigermaßen funktionierte, sind wir auf ein Netzwerk von Medizintechnik-Herstellern zugegangen und haben einen gefunden, der mit uns ein Armband zur Parkinson-Diagnostik bis zum Prototyp entwickelt hat. Einen richtigen Namen dafür haben wir noch nicht – bislang nennen wir’s DiagBand. Für die Entwicklung des DiagBands bis zur CE-Zertifizierung und zur Serienreife brauchen wir jetzt einen externen Investor – und die amerikanischen Investoren, mit denen wir Kontakt aufgenommen hatten, fragten als Erstes, ob und wie das Produkt später mal vergütet werden kann. Von sowas habe ich als Elektrotechnikerin natürlich keine Ahnung – können Sie mir hier weiterhelfen? Wie kann sowas aussehen? Also, was ist das überhaupt?“

Morgen findet der Termin statt, bei dem Sie vereinbart hatten, der Kundin einen ersten Überblick über das Thema Vergütung zu geben. Der Termin ist sehr wichtig, da davon vermutlich abhängt, ob Ihr Unternehmen den Beratungsauftrag bekommt oder nicht. Leider ist der erfahrene Kollege, der in den vergangenen Meetings meist dabei war, morgen verhindert, sodass Sie sich jetzt auf ein Gespräch alleine vorbereiten müssen.

9  Kategorien der Vergütung

9.3

111

Aufgaben

9.3.1 Wege in die Vergütung Der Zugang zum großen Markt der Gesundheitswirtschaft ist maßgeblich geprägt von Regularien der Vergütung. Bitte erstellen Sie für die Ingenieurin einen Überblick über die Möglichkeiten der Vergütung neuer Gesundheitsgüter sowie der Anforderungen, die an deren Bewertung gestellt werden. a) Vergütungsentscheidungen beziehen sich im Regelfall auf Gesundheitsleistungen, nicht auf einzelne Gesundheitsgüter i. S. v. spezifischen Produkten. Bitte benennen Sie kurz die Unterschiede und ein Beispiel, wo vergütete Gesundheitsleistung und spezifisches Gesundheitsgut zusammenfallen. b) Welche Kategorien zur Finanzierung neuer Produkte oder Dienstleistungen im Gesundheitswesen kennen Sie? Stellen Sie das Ergebnis in einer einfachen grafischen Übersicht von Finanzierungskategorien dar, anhand derer Sie der Kundin die verschiedenen Markteintrittswege gut erläutern können. c) Bitte nennen Sie für diese verschiedenen Kategorien zur Finanzierung neuer Gesundheitsgüter je ein konkretes Beispiel und skizzieren Sie kurz die formellen Schritte, die zur Vergütung einer neuen Leistung unter dieser Vergütungsform notwendig sind. d) Bitte ordnen Sie die nachfolgenden Leistungen einer der unter Teilaufgabe b) und c) genannten Finanzierungskategorie zu; nennen Sie zudem eine einfach zugängliche Informationsquelle, über die Sie an Informationen zu Preisen bzw. Vergütungsraten gelangen können, und ermitteln Sie einen Preis bzw. eine Vergütungsrate (falls sie online verfügbar sind; falls es landesspezifische Unterschiede gibt: für Niedersachsen): a. Verhaltenstherapie (eine Form der Psychotherapie) für privat versicherte Parkinsonpatientin mit Depression; b. ein einfacher Fitness-Tracker für Freizeitsportler∗innen; c. 25 Min. Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie bei Parkinson-bedingten Schluckbeschwerden; d. kardiorespiratorische Polygrafie für gesetzlich Versicherte mit Verdacht auf Schlafapnoe; e. System zur kontinuierlichen Glukosemessung (interstitielle Messung); f. medikamentöse Standardtherapie bei Parkinson – Levodopa (L-Dopa); g. stationäre Behandlung eines 40-jährigen Patienten mit primärem Parkinson-­ Syndrom (ohne schwere Komplikationen oder Komorbiditäten); h. die Verwendung eines extrakorporalen Neurostimulationssystem für das periphere Nervensystem, eine neue Behandlungsmethode im stationären Bereich im Jahr 2018;

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i. Leistung zur videobasierten Parkinsondiagnostik, die aufgrund eines Vertrags zwischen einzelnen Kassen und Leistungserbringern finanziert wird; j. Lichttherapie gegen Winterdepression bei einem niedergelassenen Arzt bzw. einer niedergelassenen Ärztin.

9.3.2 Vergütungsszenarien für DiagBand Im Anschluss an das Gespräch bekommt Ihr Unternehmen den Auftrag, zur Vorbereitung eines Business Plans eine kurze Darstellung zur möglichen Vergütung von DiagBand zu verfassen. a) Bitte prüfen Sie zunächst für alle unter Abschn. 9.3.1 genannten Finanzierungskategorien, ob sie für DiagBand relevant sind. Falls ja, bitte entwickeln Sie jeweils ein entsprechendes Szenario, wie die Vergütung gestaltet sein könnte. Benennen Sie dann je einen Vor- und einen Nachteil dieser Finanzierungskategorie, skizzieren Sie die wichtigsten nächsten Schritte, die zu gehen wären, um diese Vergütungsszenarien zu verfolgen, und benennen Sie offene Fragen, die vor diesen nächsten Schritten zu klären wären. b) Bitte vergleichen Sie die Marktzugangsszenarien, die Sie in Abschn. 9.3.1 entwickelt haben. Welches Vorgehen würden Sie als Berater∗in der Kundin empfehlen und wie würden Sie dies begründen?

9.3.3 Kritische Reflexion Nehmen Sie sich abschließend Zeit, Ihr Vorgehen als Market Access Berater∗in kritisch zu reflektieren. a) Bitte nehmen Sie die Vogelperspektive eines Gesundheitssystems ein, welches einerseits medizinischen Fortschritt gewährleisten, anderseits Finanzierbarkeit und Verteilungsgerechtigkeit im Blick behalten muss. Mit welchen Anreizen und welchen Fehlanreizen sind Hersteller neuer Gesundheitsgüter beim Marktzugang konfrontiert? b) Worauf könnten Sie achten, um Ihre Tätigkeit als Market Access Berater∗in in einer Weise auszuführen, die verantwortungsvoll mit den unter a) genannten Problemen umgeht?

9  Kategorien der Vergütung

9.4

113

Lösungsvorschläge

9.4.1 Wege in die Vergütung a) Gesundheitsleistung kann man allgemein verstehen als die Anwendung einer oder mehrerer Gesundheitstechnologien in der Gesundheitsversorgung zur Prävention, ­Diagnose, Therapie oder Rehabilitation (vgl. Pfaff et al. 2011, S. 19). Gesundheitsleistung ist ein sozialrechtlicher Begriff, der allgemein einen Typus medizinischer Pro­ blemlösung beschreibt, dem dann Informationen darüber zugeordnet werden können, ob dieser Problemlösungstyp vergütet wird, und, wenn ja, zu welcher Höhe. Beispiel wäre etwa ein Röntgenbild zur Abklärung, ob bei einem Patienten bzw. einer Patientin ein Knochenbruch vorliegt oder nicht. Medizintechnikhersteller verkaufen im Regelfall keine Gesundheitsleistungen, sondern spezifische Produkte, die für die Erstellung einer Gesundheitsleistung verwendet werden. Welches Röntgengerät der Radiologe bzw. die Radiologin zur Abklärung verwendet, gibt grundsätzlich weder die Sozialgesetzgebung noch der einzelne Vergütungskatalog vor. Dies geschieht, um keinen einzelnen Hersteller zu bevorzugen, sondern Preis- und Qualitätswettbewerb aufrechtzuerhalten. Ein Bereich, in dem dies jedoch zusammenfällt, ist das zugelassene Arzneimittel, welches als Infusionstherapie verabreicht wird als Teil der ärztlichen Gesundheitsleistung (Anwendung einer oder mehrerer Gesundheitstechnologien hier: Medikament, Infusionsbesteck, IV-Katheter, Begleitmedikation etc. → Therapie). Hier erfolgt eine ­Vergütung für ein spezifisches Produkt (Medikament) sowie die Gesundheitsleistung nach Vergütungsziffern und Preisen für Verbrauchsmaterial (vgl. Koerber et al. 2016, S. 5). b) Abb. 9.1 gibt einen Überblick über zehn Kategorien der Finanzierung neuer Gesundheitsgüter, die als Orientierungspunkte für die Analyse möglicher Vergütungsstrategien herangezogen werden können. Aufgrund der Komplexität der Vergütungssysteme ist sie nicht erschöpfend – nicht einbezogen sind bspw. Vergütungen durch die Berufsgenossenschaften (DGUV und SVLFG 2018) oder freie Heilfürsorge für Soldaten (KBV 2012). c) Die Finanzierungskategorien und der Zugang dazu können folgendermaßen näher beschrieben werden (siehe dazu im Weiteren auch Dröschel et al. 2016; Koerber et al. 2016): (1) Grundsätzlich können neue Produkte als Einzelprodukte frei am Markt verkauft werden, wie bspw. ein Buch zum Thema Entspannungstraining mit CD für angeleitete Meditationseinheiten. Hier könnte der Hersteller den Preis frei bilden und es bspw. über Onlinehändler anbieten. (2) Ein neues Gesundheitsgut könnte im Rahmen einer individuell berechneten ärztlichen Leistung verwendet werden (teilweise auch individuelle Gesundheitsleistung,

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D. Dröschel und W. Rogowski Neues Leistung, die finanziert werden soll

Erstattung durch die GKV

Private Finanzierung

(1) Frei verkauftes Einzelprodukt

Ambulant

Sektorenunabhängig

Stationär

(2) Individuelle Gesundheitsleistung

(4) Vertragsärztliche Methode

(7) Arzneimittel

(9) Erstattung in bestehender DRG

(3) Leistung privater Krankenversicherung

(5) Heilmittel

(8) Versorgungskonzept

(10) Erstattung mit neuer OPS / DRG

(6) Hilfsmittel

Abb. 9.1  Finanzierungskategorien für neue Gesundheitsgüter. (Quelle: eigene Darstellung; vgl. ähnlich auch Koerber et al. 2016, S. 181)

IGeL genannt) wie bspw. Akupunktur zur Migräneprophylaxe. Diese Leistung würde über eine Gebührenordnung für Privatpatient∗innen abgerechnet (v. a. Gebührenordnung für Ärzte, GOÄ). Ein wichtiger Unterschied zwischen gesetzlicher (EBM) und privater (GOÄ) Gebührenordnung besteht darin, dass Leistungen, welche nicht explizit aufgeführt sind, gemäß § 6 Abs. 2 GOÄ analog abgerechnet werden, d. h. es kann eine andere, nach Art, Kosten- und Zeitaufwand gleichwertige Leistung des Gebührenverzeichnisses berechnet werden. Der gesetzliche Katalog hingegen ist abschließend. Grundsätzlich müssen niedergelassene Ärzt∗innen mit Zulassung zur Leistungserbringung für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ihre GKV-­ Patient∗innen nach den Vorgaben des gesetzlichen ambulanten Leistungskatalogs versorgen (vgl. Erläuterungen zu vertragsärztlicher Methode unter Punkt (4)). Wenn Leistungen über das reguläre gesetzlich vergütete Leistungsspektrum hi­ nausgehen, können zugelassene bestehende und neue Leistungen jedoch grundsätzlich auch als individuelle Gesundheitsleistungen von niedergelassenen Ärzt∗innen angeboten werden. So können Gesundheitsleistungen über Analogabrechnungen zwar grundsätzlich immer abgerechnet werden. Damit erreicht man

9  Kategorien der Vergütung

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zwar nur einen beschränkten Markt, aber die Hürde ist nach der regulatorischen Zulassung vergleichsweise gering. (3) Schließlich könnte es auch Teil einer Leistung sein, die im Rahmen privater Krankenversicherungsverträge erstattet wird. Dies wäre bspw. bei der radiologischen Diagnostik einer möglichen Beinfraktur der Fall. Darüber hinaus können die Privatversicherungen weitere Leistungen erstatten, die zugelassenen sind und durch den gewählten Versicherungsschutz abgedeckt werden. Dabei haben die Privatversicherungen auch einen großen Ermessensspielraum im Rahmen einer ­Einzelfallprüfung. Nachdem es eine Vielzahl privater Vollversicherungen gibt, müsste für eine allgemeine Einschätzung für jeden Versicherungsvertrag einzeln untersucht werden, ob die Leistung gedeckt werden würde (generell oder im Einzelfall), was einen sehr hohen Erhebungsaufwand darstellt. Auch hier gilt, dass oftmals die mehrfachen Gebührensätze und über Analogabrechnung abgerechnet werden können. Zusätzlich ist jedoch bspw. zu bedenken, dass manche Versicherungsverträge manche Leistungen nur nach vorheriger Genehmigung finanzieren. (4) Der Großteil der Behandlungen in der ambulanten Gesundheitsversorgung in Deutschland wird zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erbracht. Behandlungen durch ambulant niedergelassene und zur GKV-­Abrechnung zugelassene Ärzt∗innen und Psychotherapeut∗innen werden im Rahmen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) vergütet. Der EBM ist eine Honorarordnung und bestimmt sowohl den Inhalt aller abrechnungsfähigen vertragsärztlichen ambulanten Leistungen und Leistungen der Psychotherapeut∗innen als auch deren Vergütungshöhe. Ergänzend gibt er vor, ob einzelne Maßnahmen Teil einer Vergütungspauschale sind und wie hoch die Vergütung ist. Beispiel einer pauschal vergüteten Leistung wäre der hausärztlich-geriatrische Betreuungskomplex (EBM-Ziffer 03362), in dem verschiedene typischerweise anfallende Leistungen wie persönliches Gespräch, ggf. Koordination der Behandlung von kognitiven Störungen wie Demenz oder Aktualisierung eines Medikationsplanes enthalten sind. Grundsätzlich gilt in der ambulanten Versorgung der GKV der sog. Erlaubnisvorbehalt. Dies bedeutet, dass vor der Aufnahme einer Leistung in den Vergütungskatalog eine Zustimmung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-­BA) zwingend erforderlich ist und die Leistung auch nur dann erstattet werden kann. Diese Genehmigung erfordert einen langen Bewertungsprozess. Gesetzlich antragsberechtigt sind die jeweils zuständigen Spitzenverbände der Leistungserbringer (Kassenärztliche Bundesvereinigung, Kassenärztliche Vereinigungen, Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung oder Deutsche Krankenhausgesellschaft und Bundesverbände der Krankenhausträger), der GKV-Spitzenverband, die nach der Patientenbeteiligungsverordnung anerkannten Organisationen (§ 2 PatBeteiligungsV) und die unparteiischen Mitglieder des G-BA (§ 135 Abs. 1 SGB V; im Krankenhaus gemäß § 137c Abs. 1 SGB V; für weitere Informationen vgl.

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D. Dröschel und W. Rogowski

G-BA 2013). Der Bewertungsprozess beinhaltet unter anderem ein sogenanntes Health Technology Assessment (HTA), in dessen Rahmen die Evidenz zur Wirksamkeit dieser Behandlungsmethode kritisch bewertet wird. Hersteller eines Medizinprodukts, auf dessen Einsatz die technische Anwendung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode maßgeblich beruht, und Unternehmen, die in sonstiger Weise als Anbieter einer neuen Methode ein wirtschaftliches Interesse an einer Erbringung zulasten der Krankenkassen haben, können einen Antrag auf Erprobung gemäß §  137e Abs.  7 SGB V stellen (G-BA 2019). Schließlich wird auf Basis geschätzter Kosten für das Verfahren vom Bewertungsausschuss der gemeinsamen Selbstverwaltung eine Vergütungshöhe festgelegt. Der EBM gilt bundesweit für die Abrechnung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung. (5) Heilmittel sind persönlich zu erbringende medizinische Leistungen der physikalischen Therapie (wie bspw. Massagen), der podologischen Therapie (nichtärztliche Fußheilkunde), der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie, der Ergotherapie (wie bspw. Training zur Alltagsbewältigung nach einem Schlaganfall) und der Ernährungstherapie (vgl. Heilmittel-Richtlinie des G-BA 2017a). Heilmittel werden in der Regel nicht von Ärzt∗innen erbracht, sondern von ihnen verordnet. Neue Heilmittel durchlaufen einen strukturierten Bewertungsprozess durch den GKV-Spitzenverband, bevor sie als verordnungsfähige Leistungen in den zweiten Teil der Heilmittel-Richtlinie (vgl. hierzu GKV-Spitzenverband 2018) aufgenommen werden, der verordnungsfähige Heilmittel entsprechenden Indikationen zuordnet. Die Höhe der Vergütung wird von Verbänden der Heilmittelerbringer mit den Krankenkassen teils auf Bundes-, teils auf Landesebene verhandelt. Informationen über die Höhe der Vergütung durch die gesetzlichen Krankenkassen sind den Websites der einzelnen Krankenkassenverbände zu entnehmen. Es ist zu beachten, dass die Vergütungen als privatversicherte Leistungen oder Selbstzahlerleistungen davon abweichen. (6) Hilfsmittel werden gemäß der Hilfsmittel-Richtlinie des G-BA definiert als „[…] sächliche Mittel oder technische Produkte, die individuell gefertigt oder als serienmäßig hergestellte Ware in unverändertem Zustand oder als Basisprodukt mit entsprechender handwerklicher Zurichtung, Ergänzung bzw. Abänderung von den Leistungserbringern abgegeben werden“ (§ 2 HilfsM-RL). Ein Produkt wird durch die Indikationsstellung zum Hilfsmittel – wie bspw. ein speziell angefertigter Schuh, wenn er dafür gefertigt wurde, um eine Fehlstellung zu korrigieren. Die Verordnung von Hilfsmitteln in der GKV-finanzierten Versorgung ist in der Hilfsmittel-Richtlinie des G-BA geregelt. Es gibt zudem ein Hilfsmittelverzeichnis, in dem einzelne Produkte und ihre Indikation verzeichnet sind. Die Vergütungshöhe für einzelne Hilfsmittel wird grundsätzlich zwischen Krankenkassen und Hilfsmittel-Leistungserbringern bzw. deren Verbänden ausgehandelt, häufig in Verbindung mit Ausschreibungen. Zudem gibt es für verschiedene Hilfsmittel Festbeträge, die durch den GKV-Spitzenverband festgelegt werden und als

9  Kategorien der Vergütung

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Preisobergrenzen fungieren. Vor dem Eintrag in das Hilfsmittelverzeichnis müssen Hersteller Funktionstauglichkeit, Sicherheit und Qualität nachweisen. (7) Für die Vergütung von Arzneimitteln gelten eine Vielzahl von Regelungen, die u. a. davon abhängen, ob das Arzneimittel verschreibungspflichtig ist, ob es Patentschutz genießt, und welche Bewertung es in der Nutzenbewertung durch den G-BA erreicht hat. Da dies zwar ein sehr weitreichendes Themenfeld ist, für die vorliegende Fallstudie allerdings nicht weiter relevant ist, wird dieser Fall hier nicht vertieft. Interessierten Leser∗innen wird neben den eingangs genannten Buchkapiteln bspw. das Lehrbuch zur Pharmabetriebslehre von Schöffski et al. (2008) für die nähere Betrachtung empfohlen. (8) Neben Kollektivverträgen, die für alle Leistungserbringer gelten, können Vergütungen grundsätzlich auch im Rahmen von Selektivverträgen mit einzelnen Krankenkassen und spezifischen Leistungserbringern vereinbart werden. Hierbei besteht auch die Möglichkeit, eine neue Technologie in neue integrierte Versorgungskonzepte einzubeziehen, wie bspw. im Falle der Protonentherapie, für deren Nutzung in der Behandlung ausgewählter Krebsarten der Verband der Ersatzkassen (vdek) einen IV-Vertrag mit Unikliniken in Dresden, Essen und Heidelberg abgeschlossen hat (vgl. vdek 2019). Dies kann einen attraktiven Zugangsweg für Medizinprodukte zur Vergütung im ambulanten Bereich darstellen, wo die Vergütung als neue Methode für ein junges Unternehmen zunächst unerreichbar erscheint. Für die vorliegende Fallstudie sind bspw. Selektivverträge im Rahmen von Programmen zur Leistungssektoren übergreifenden oder interdisziplinär fachübergreifenden Versorgung (integrierte Versorgung) nach § 140 SGB V (besondere Versorgung) von Bedeutung. Hier können Krankenkassen Verträge mit einzelnen Leistungserbringern (z. B. Universitäts- oder anderen Kliniken eines Bundeslandes und einzelnen oder einem Verband relevanter ambulanter Allgemein- und Fachärzte) und unter anderem mit Herstellern von Medizinprodukten (wie z.  B. dem Hersteller des Akzelerometers in der Fallstudie) über eine besondere Versorgung der Versicherten abschließen. Ausgangspunkt ist meist ein identifizierter Versorgungsbedarf, welcher durch die kollektivvertragliche Leistungserbringung so nicht erbracht werden kann. Für Krankenkassen ist dies vor allem dann attraktiv, wenn durch das Versorgungsprogramm zumindest mittelfristig bessere Qualität und auch Einsparungen erzielt werden können. (9) In der stationären Versorgung geschieht die Vergütung sowohl für gesetzliche Krankenkassen wie für private Krankenversicherungen im Allgemeinen über das DRG (Diagnosis Related Groups)-System. Ein Beispiel ist die Operation eines Kreuzbandrisses nach einer Sportverletzung. In der stationären Versorgung gilt der sog. Verbotsvorbehalt. Dies bedeutet, dass neue Behandlungsverfahren solange angewendet werden können, sofern sie nicht durch den G-BA von der Erstattung ausgeschlossen wurden. Alle Behandlungsinnovationen dürfen demnach sofort angewendet und können erstattet werden – wobei die Erstattung im Regelfall in Höhe der pauschalierten DRG geschieht, einem geschätzten Durchschnitts-

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D. Dröschel und W. Rogowski

wert der Kosten gleichartiger Fälle. Die DRG-Vergütung ist auf die Betriebskostenfinanzierung begrenzt. Die Höhe der DRGs ist im Wesentlichen durch die Diagnose und den Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS-Code) der durchgeführten Behandlung bestimmt (vgl. hierzu in diesem Lehrbuch Kap. 15). (10) Ist eine Innovation mit zusätzlichen Kosten verbunden, die über die bestehende DRG-Vergütung hinausgehen, kann grundsätzlich eine neue DRG geschaffen werden. Hierzu bedarf es zunächst eines spezifischen OPS-Codes für die Behandlung mit der Innovation, den grundsätzlich jeder beim Deutschen Institut für ­Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) beantragen kann. Für eine neue Kombination von OPS und Diagnose kann durch antragsberechtigte Akteure eine neue DRG über einen sogenannten Prozess zu Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) beantragt werden. Hierbei ist zu beachten, dass der G-BA seit 2015 NUB mit Medizinprodukten hoher Risikoklasse (Verfahren nach §  137h  SGB  V) gesondert zu bewerten hat. Dies ist auch für Diag­Band relevant, wird hier aber nicht weiter vertieft. Hat eine Leistung den NUB-Prozess erfolgreich durchlaufen, werden bis zur Eingliederung der Leistung in eine neue DRG oder die Schaffung eines bundesweiten Zusatzentgeltes zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen Vergütungsbeträge für die Leistungen individuell verhandelt. Beispiel einer Leistung, die den NUB-Prozess erfolgreich durchlaufen hat, ist etwa die Einlage beschichteter (gecoverter) Stents mit bioaktiver Oberfläche für periphere Gefäße (lfd. Nr. 5 der vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) veröffentlichten NUB-Liste für 2018; vgl. InEK GmbH 2019a). d) Im Folgenden werden den genannten 10 Finanzierungskategorien das jeweils passende Beispiel zugeordnet und, soweit möglich, mithilfe einer genannten Quelle ein Preis bzw. eine aktuelle Vergütung ermittelt (s. dazu im Weiteren auch Dröschel et al. 2016, 2017). (1) Das Beispiel b. ein einfacher Fitness-Tracker (über Onlinehändler) ist ein Beispiel eines frei verkäuflichen Produktes. Zwar sind sie gesundheitsrelevant – bei einem Fitness-Tracker könnte man durch die Auswertung von medizinisch relevanten Daten, wie z.  B.  Herzfrequenz bei einer vorgegebenen Belastung, Alter und Body-Mass-Index der Nutzer∗innen, Hinweise zu Gesundheitsrisiken selber erkennen und sich dann entscheiden, diese mit seinem Hausarzt bzw. seiner Haus­ärztin zu besprechen und durch geeignete Diagnostik überprüfen lassen. Dies ist jedoch wie viele andere gesundheitsrelevante Produkte (wie z. B. gesunde Ernährung) keine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Weitere, leicht verfügbare Informationen zu bestehenden Preisen bieten bspw. Onlinehändler oder Preisvergleichsportale. Ein Blick z. B. in das Angebot von Onlinehändlern wie Amazon.de zeigt, dass es eine Vielfalt von Fitness-Trackern in verschiedenen Preissegmenten von ca. 20 bis 2000 € gibt. Ein Blick in Preisvergleichsportale wie bspw. idealo.de zeigt, dass identische Produkte häufig zu sehr unterschiedlichen Preisen angeboten werden. Allerdings kann man hieraus keinen geeigneten

9  Kategorien der Vergütung

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Referenzpreis für DiagBand entwickeln, da bspw. DiagBand in der Lage ist, Bewegungsänderungen sehr viel feiner aufzuzeichnen, als es bei einfachen Fitness-Trackern der Fall ist, und ein validiertes Diagnosegerät ist. (2) Das Beispiel einer IGeL ist j. Lichttherapie gegen Winterdepression bei einem niedergelassenen Arzt bzw. einer niedergelassenen Ärztin – eine therapeutische Maßnahme, die im EBM nicht zu finden ist. In der GOÄ sind unter Lichttherapie verschiedene Einträge zu finden. Recherchiert man Angebote niedergelassener Ärzt∗innen, findet man verschiedene Abrechnungsvarianten, insbesondere ­analoge Abrechnung nach der Gebührenordnungsziffer 565 (Photochemotherapie) oder Abrechnung nach Ziffer 567 (Phototherapie, selektives UV-Spektrum), jeweils zu einem mehrfachen Satz (eine kurze Recherche am 28.09.2018 unter Online-­Informationen von Arztpraxen identifizierte Beträge in einer Höhe von rund 10–12 € pro Sitzung). Dabei ist zu bedenken, dass die im Gesetz wiedergegebene GOÄ noch die alten Werte in DM enthält (BMJV und BfJ 2019b). Neuere Informationen, wie z. B. die online zur Verfügung gestellte Information des Verbands der Privaten Krankenversicherung, enthalten die Werte in Euro umgerechnet (PKV 2008). (3) Das Beispiel a. Verhaltenstherapie für privat versicherte Parkinsonpatientin mit Depression wird als Leistung, die über private Krankenvollversicherungen erstattet wird, nach GOÄ abgerechnet. Da Verhaltenstherapie gegen Depression auch im GKV-Leistungsspektrum enthalten ist, dürfen Fachärzt∗innen Kassenpatient∗innen diese nicht als IGeL anbieten. Denkbar wäre jedoch eine Zusatz­ versicherung für GKV-Patient∗innen, die in Verbindung mit einem GKV-­ Erstattungstarif die Kosten für die Erstattung nach GOÄ trägt. Die GOÄ-Ziffer für Verhaltenstherapie lautet 870, die entsprechende Vergütung beträgt beim 2,3-fachen Satz 100,56 € (einfacher Satz: 43,72 €; zum aktuell gültigen Stand der Gebührenordnung für privatärztliche Leistungen vgl. die online-GOÄ, Gutermann Publisher Ltd. 2011). (4) Das Beispiel d. Kardiorespiratorische Polygrafie für gesetzlich Versicherte mit Verdacht auf Schlafapnoe ist eine vertragsärztliche Methode, die ambulant vergütet wird und die einer Diagnose mit DiagBand sehr ähnlich ist, da sie ebenfalls durch ein zu Hause genutztes medizintechnisches Produkt durchgeführt werden kann. Als vertragsärztliche Methode wird sie über den EBM abgerechnet, dessen Inhalt online verfügbar ist (KBV 2019). Eine erste Annäherung an aktuelle Vergütungsraten einer ambulant erbrachten Leistung kann daher eine automatisierte Recherche in der PDF-Version oder der Website-Suchfunktion des Vergütungskatalogs gewähren. Dort ist kardiorespiratorische Polygrafie unter der Ziffer 30.900 mit einer Vergütung von 62,75 € zu finden. Dieses Ergebnis sollte in Gesprächen mit praktisch tätigen Ärzt∗innen validiert werden, etwa im Hinblick auf relevante Budgets oder sonstige Regelungen, die die Abrechnung nach EBM einschränken oder eine Kombination mit anderen Ziffern ermöglichen.

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(5) Die Leistung c. 25  Min. Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie bei Parkinson-­ bedingten Schluckbeschwerden ist Beispiel eines Heilmittels. Die Heilmittel-­ Richtlinie und der Heilmittel-Katalog sind online verfügbar und frei einsehbar (G-BA 2017a, b; IntelliMed GmbH 2019). Bei der AOK in Niedersachsen beträgt bspw. der Preis für Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie von mind. 25 Min. ab dem 01.07.2018 gemäß Positionsnr. 33.112 32,33  €, wovon der Kassenanteil 29,09 € ausmacht. (6) Das Beispiel e. System zur kontinuierlichen Glukosemessung (interstitielle Messung) ist ein Hilfsmittel. Das ebenfalls online durchsuchbare ­Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbands listet die Produkte auf, die von den Krankenkassen erstattet werden, ist jedoch nicht abschließend (G-BA 2018; GKV-­Spitzenverband 2019a). Darin kann man bspw. unter der Produktgruppe 21, Ort 34 Blut/Blutbildende Organe und der Untergruppe 03 Real-Time-Messgeräte (rtCGM) finden (vgl. GKV-Spitzenverband 2019b). Allerdings lassen sich dafür keine Preise ermitteln, da diese nicht öffentlich aufgelistet sind. (7) Das Beispiel f. Medikamentöse Standardtherapie bei Parkinson Levodopa (L-Dopa) ist Beispiel eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels. Das Patent dieses Arzneimittels ist bereits abgelaufen, es ist also ein Generikum, welches von verschiedenen Herstellern angeboten wird und in einer sogenannten Festbetragsgruppe enthalten ist. Diese sind auf der Seite des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information in der Festbetragsliste zu finden (DIMDI 2019a). Dort kann man nach dem Wirkstoff Levodopa suchen und erhält gegenwärtig (Stand 05.11.2018) insgesamt 617 Festbetragsprodukte mit dem jeweiligen Preis, bspw. Levocarb-GRY 100  mg/25  mg mit der Pharmazentralnummer (PZN) zu einem Preis von 16,15 € für eine Packung mit 60 Tabletten (vgl. DIMDI 2019b). Obwohl Festbeträge ähnlich sind, kann bspw. ein Durchschnittspreis nur über eine weitere Analyse bestimmt werden. Eine Rolle können dabei bspw. Rabattverträge zwischen Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmen spielen, die große Auswirkungen auf die tatsächlich gezahlten Preise haben. (8) Die Leistung zur videobasierten Parkinsondiagnostik, die aufgrund eines Vertrags zwischen einzelnen Kassen und Leistungserbringern finanziert wird (i.) ist Beispiel einer Leistung, die im Rahmen eines Vertrags zur integrierten Versorgung (IV-Vertrag) vergütet wird. Dabei wird dem/der behandelnden Neurolog∗in ein kontinuierlich verfügbares, videobasiertes Dokumentationssystem zur Verfügung gestellt. So können Patient∗innen zu Hause mehrmals täglich in festgelegten Zeitintervallen beobachtet und die Therapie telefonisch unmittelbar angepasst werden. Diese Therapie wird für maximal 30 Tage durchgeführt und soll vor allem Krankenhausaufenthalte vermeiden und eine Verbesserung der Lebensqualität bewirken (vdek 2019). Kosten für einen solchen Vertrag kann man nicht in einem öffentlich zugänglichen Verzeichnis einsehen, vielmehr müsste man diese bei den Krankenkassen oder dem Anbieter erfragen.

9  Kategorien der Vergütung

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(9) Das Beispiel g. stationäre Behandlung von Parkinson (ohne schwere Komplikationen oder Komorbiditäten) wird als stationäre Leistung über Diagnosis Related Groups (DRG, Fallpauschalen) vergütet. Auch die Höhe von Fallpauschalen kann online ermittelt werden. Der jährlich vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) veröffentlichte DRG-Katalog enthält neben einer Leistungsbeschreibung auch die Vergütungshöhe jeder einzelnen DRG (InEK GmbH 2019b). Hier findet man bei der Suche nach Parkinson die DRG B67B „Morbus Parkinson ohne äußerst schwere CC, ohne schwerste Beeinträchtigung“ mit der entsprechenden Bewertungsrelation (vgl. InEK GmbH 2017; vgl. auch Fallstudie Assessment Center für das Medizincontrolling in Kap.  15). Zudem findet man eine Übersicht aller DRG-Ziffern für die Parkinsonbehandlung. Alternativ können DRGs auch online unter Eingabe von Diagnosen in Form der ICD-10-GM sowie ggf. über ergänzende OPS mithilfe des Webgroupers der DRG Research Group (DRG Research Group 2019) an der Universität Münster ermittelt werden (drg.uni-muenster.de). Hier erhält man neben der Bewertungsrelation die Vergütung in Euro. Für Parkinson kann man bspw. über die ICD G20.11 im Webgrouper die DRG B67B mit einem Entgelt von 3578,25 € ermitteln, unabhängig von dem in der ICD ersichtlichen Schweregrad, also davon, ob das Syndrom mit oder ohne Wirkungsfluktuation auftritt, sowie davon, ob ein OPS Code eingegeben wird oder nicht. (10) Beispiel h. die Verwendung eines extrakorporalen Neurostimulationssystem für das periphere Nervensystem (die Leistung ist zu finden auf der Liste der Leistungen mit NUB-Status 1 für 2018; vgl. InEK GmbH 2019a) ist ein Hilfsmittel, welches in der stationären Behandlung von chronischen, schwer zu behandelnden Schmerzen im hinteren Rumpfbereich verwendet wird. Diese Therapie ist sehr invasiv, neurochirurgisch komplex und sehr patient∗innenindividuell und kann daher auch nicht in einer spezifischen DRG sinnvoll eingeordnet werden. Solche Therapien sind zudem häufig mit sehr hohen Kosten verbunden und werden daher über sogenannte Zusatzentgelte vergütet. Insofern ähnelt es dem Einsatz von Diag­Band in der stationären Versorgung für den Fall, dass die Kosten nicht im Rahmen der bestehenden DRG finanziert werden können. Das Verfahren ist in der Liste der NUB-Zusatzentgelte mit der laufenden Nr. 180 und dem NUB-Status 1 (Angefragte Methoden/Leistungen, welche die Kriterien der NUB-Vereinbarung der Vertragsparteien erfüllen, und für die also NUB-Entgelte verhandelt werden dürfen) enthalten. Es wird zusätzlich zu einer neurologischen oder neurochirurgischen DRG abgerechnet. Man kann in den jeweilig gültigen DRG-Katalog beim InEK sehen und findet dort unter den Zusatzentgelten, welche Therapien als Zusatzentgelt erstattet werden und in welcher Höhe (Abb. 9. 1 und Tab. 9.1).

Heilmittel

Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie

Lichttherapie bei Winterdepression Verhaltenstherapie für privat versicherte/n Patient∗in Gesetzliche Finanzierung Vertragsärztliche Kardiorespiratorische Methode Polygrafie

Individuelle Gesundheitsleistung Medizinische Leistung für privat Versicherte

Nein, Preisverhandlungen zwischen Krankenkassen oder deren Verbänden und Verbänden der Heilmittelerbringer

Ja, Preise durch Bewertungsausschuss des G-BA festgelegt

Ja, aber mit Analogabrechnung

Beispiel für Produkt oder Einheitlicher Finanzierungskategorie Dienstleistung Vergütungskatalog? Private Finanzierung Frei verkauftes Fitness-Tracker Nein, freie Preisfindung Einzelprodukt

Tab. 9.1  Charakteristika der zehn Finanzierungskategorien im Überblick

Feste Euro-Beträge für Leistungen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM, von Kassenärztlicher Bundesvereinigung veröffentlicht) Abrechenbare Leistungen in Heilmittelrichtlinie und Heilmittelkatalog des G-BA; Vergütungsbeträge in Euro durch Krankenkassen veröffentlicht

Preise von online-­ Verkäufer∗innen bzw. Preisvergleichsportale bieten Orientierung Gebührenordnung für Ärzt∗innen (Gesetzestext mit DM-Beträgen oder neuere Ausgaben in Euro)

Online verfügbare Datenquelle für Preisinformationen

Verbot mit Erlaubnisvorbehalt: formalisierter Bewertungsprozess vor Leistungsaufnahme mit Prüfung der Evidenz zur Wirksamkeit

Ggf. vorherige Genehmigung durch einzelne Krankenversicherung nötig

Nicht relevant (keine Vergütung)

Hürden zur Vergütungsfähigkeit

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Vertrag einzelner Kassen und Leistungserbringenden über videobasierte Parkinsondiagnostik Stationäre Behandlung von Parkinson

Neues Versorgungskonzept

Krankenhausleistung, neue Vergütung

Festbeträge veröffentlicht vom GKV-Spitzenverband

Nein, Preisverhandlungen zwischen Kassen und Vertragspartnern

Informationen zu ICD und OPS von DIMDI online veröffentlicht; Fallpauschalen z. B. über Website des InEK oder Webgrouper der Uni Münster I. d. R. nicht öffentlich

I. d. R. nicht öffentlich

Nein, Vergütung hängt z. B. Preise von online verkaufenden Apotheken ab davon, ob das bieten Orientierung Medikament noch patentiert ist, vom durch den G-BA festgestellten Zusatznutzen, Verschreibungspflicht, Rabattverträgen einzelner Kassen

Nein (z. B. Ausschreibungen einzelner Kassen), außer bei Festbeträgen

Ja, Fallpauschalen auf Basis von ICD- und OPS-Code, durch das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) ermittelt Nein, individuelle Extrakorporales Neurostimulationssystem Verhandlungen zwischen Krankenhäusern und für peripheres Kassen Nervensystem

Medikament Levodopa

Arzneimittel

Krankenhausleistung, bestehende Vergütung

System zur kontinuierlichen Glukosemessung

Hilfsmittel

Prozess für Entgelte neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, bei dem InEK prüft, ob neue Leistung durch bestehende DRG abgedeckt ist

Grundsätzlich keine (Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt in stationärer Versorgung)

Verhandlungsprozess, in dem Kassen individuell von ihrem Nutzen (z. B. Einsparungen) überzeugt werden müssen

Neue Hilfsmittel sollten im Hilfsmittelkatalog gelistet werden (i. d. R. nur Prüfung von Funktionstauglichkeit, Sicherheit und Qualität) Formalisierter Bewertungsprozess vor Vergütungsentscheidung mit Prüfung der Evidenz zur Wirksamkeit, Preisverhandlungen nach Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG)

9  Kategorien der Vergütung 123

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D. Dröschel und W. Rogowski

9.4.2 Vergütungsszenarien a) Die genannten zehn Finanzierungskategorien sind unterschiedlich gut für DiagBand geeignet: (1) Ein Verkauf von DiagBand als normales Produkt auf dem freien Markt ist nicht möglich, weil das Produkt keine allgemeinen Hinweise gibt, sondern spezifische medizinische Diagnosedaten erhebt und daher ein verschreibungspflichtiges Medizinprodukt ist. (2) Ein Angebot von DiagBand als individuelle Gesundheitsleistung wäre denkbar – wichtig ist jedoch, dass Ärzt∗innen keine Leistung als IGeL anbieten dürfen, die im regulären Leistungskatalog enthalten ist, und dies ist bei Parkinson-­Diagnostik grundsätzlich der Fall. Ob eine ergänzende Diagnostik über DiagBand ­angeboten werden darf, wäre daher noch zu prüfen. Nachdem zu erwarten ist, dass eine Diagnostik mit DiagBand nicht in der GOÄ enthalten ist, wäre hier eine Gebührenordnungsposition für eine Analogabrechnung zu identifizieren, was eine genauere Quantifizierung der Kosten für den niedergelassenen Arzt bzw. die niedergelassene Ärztin voraussetzt. Neben einem Vorschlag zur Abrechnung für DiagBand-nutzende Ärzt∗innen wäre auch zu prüfen, wie hoch die Zahlungsbereitschaft der Patient∗innen für eine solche Lösung wäre und ob die Annahme, dass die Patient∗innen die IGeL nachfragen würden, realistisch ist. (3) Nachdem Parkinsondiagnostik auch Teil der GKV-Leistungen ist, kann davon ausgegangen werden, dass sie auch in den Tarifen der privaten Krankenversicherung (PKV) enthalten ist. Insofern wäre auch hier eine GOÄ- Analogabrechnung naheliegend. Je nach Höhe der Kosten ist zu prüfen, ob private Versicherungen den Einsatz der neuen diagnostischen Methode vorher autorisieren müssen. Falls dies der Fall ist, müssten evtl. klärende Gespräche mit Neurolog∗innen und den entsprechenden Versicherungen stattfinden, damit die Leistung auch als sinnvolle medizinische Maßnahme anerkannt und erstattet wird. (4) Die GKV-Erstattung von DiagBand im Rahmen einer neuen vertragsärztlichen Methode zu erreichen, erscheint aufgrund des großen Marktvolumens grundsätzlich attraktiv – auch weil die Zahlungsbereitschaft für IGeL eher begrenzt ist und GKV-Patient∗innen darüber kaum erreicht werden. Hierbei spielt auch die Frage nach einem angemessenen Preis für DiagBand eine Rolle (vgl. dazu Fallstudie 4 P für die Wundauflage FüDiWo in Kap. 7) sowie die Frage, zu welchem Preis die Entwicklung von DiagBand aus Unternehmensperspektive einen attraktiven Busi­ness Case darstellt (vgl. dazu Fallstudie Rechnet sich Lisas Gesundheits-­ Start-­up? in Kap. 17). Eine Möglichkeit wäre, dass niedergelassene Neurolog∗innen DiagBand im Rahmen ihrer derzeit vergüteten Verfahren der Parkinsondiagnostik verwenden, wenn sie zum Ergebnis kommen, dass die Dia­gnostik mit DiagBand mindestens ebenso gut ist wie diagnostische Maßnahmen zur Bewegungsanalyse, die derzeit Mitglieder des Praxisteams durchführen, jedoch kostengünstiger. Aufgrund der eher kurz bemessenen Zeit für Diagnostik in der

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ambulanten Versorgung ist jedoch zu befürchten, dass die Anwendung von DiagBand aus Perspektive einer einzelnen Arztpraxis kaum Kosten einspart, sodass dafür eine neue Vergütungsziffer geschaffen werden müsste, was aufwändige klinische Studien zum Nachweis besserer Wirksamkeit erfordert. Gegen dieses Vorgehen spricht aus Perspektive des einzelnen Herstellers jedoch zum einen, dass dies einen äußerst langen Entscheidungsprozess mit unsicherem Ausgang voraussetzt, den ein Unternehmen kaum abwarten kann. Zum anderen könnte die Vergütung immer nur für eine Methode allgemein gewährleistet werden, nie für ein einzelnes Produkt. Zur langen Wartezeit käme also hinzu, dass verschiedene Wettbewerber hier ebenfalls ihre Leistungen anbieten könnten. (5) Nachdem DiagBand ein Medizinprodukt zur Verbesserung ärztlicher Diagnosen darstellt, ist eine Erstattung als Heilmittel nicht naheliegend. (6) Eine Aufnahme des DiagBands als neues Hilfsmittel ins Hilfsmittelverzeichnis anzustoßen, erscheint grundsätzlich sinnvoll. Dies ist vor allem deswegen der Fall, weil DiagBand von den Patient∗innen regelmäßig zu Hause getragen werden sollte, um Änderungen schnell zu erkennen. Allerdings sind die Art und Güte der Produkte, die gewöhnlich in den Hilfsmittelkatalog aufgenommen werden, eher kostengünstige, standardisierte Mittel und Gegenstände, die Hilfen für die Versorgung von Patient∗innen bzw. für die persönliche Nutzung darstellen. Deren Preise liegen häufig unter denen, die Hersteller innovativer Medizinprodukte erzielen möchten und zur Realisierung eines tragfähigen Business Cases aufgrund der hohen Kosten für Forschung und Entwicklung evtl. auch müssen. (7) Da DiagBand ein medizintechnisches Produkt ist, kommt eine Erstattung als Arzneimittel nicht in Frage. (8) Eine Erstattung im Rahmen eines neuen Versorgungskonzepts zu erreichen, ist eine sehr attraktive Option, insbesondere dann, wenn das DiagBand tatsächlich zur Verbesserung sektorübergreifender Versorgungsprozesse (d.  h. von Versorgungsprozessen, die sowohl die ambulante als auch die stationäre Versorgung betreffen) eingesetzt werden kann. Schließlich könnte der Business Case von Diag­Band aus Perspektive der Leistungserbringer∗innen z.  B. darin bestehen, dass eine ambulante Verlaufskontrolle und damit eine Therapieoptimierung zu weniger Notfalleinweisungen aufgrund von Wirkfluktuationen führt, dass Patient∗innen möglichst lange auf der optimierten (günstigeren) Therapie bleiben und auch weniger nichtmedizinische Kosten (z. B. Transport zur Klinik, Lohnausfall etc.) anfallen. Dadurch würden insgesamt Kosten in der Behandlung gespart und Qualitätsziele der Versorgung verbessert. Ein solcher Vertrag könnte speziell mit dem Hersteller abgeschlossen werden, hätte zumindest in der Vertragsregion alle Versicherten der teilnehmenden Krankenkassen als Zielgruppe und es könnte zudem Evidenz zur Wirksamkeit und zu Kosteneinsparungen generiert werden. Nächste Schritte wären dann, relevante Akteure (insbesondere Leistungserbringer und Krankenkassen) vom Nutzen der DiagBand-Diagnostik zu überzeugen und als Vertragspartner zu gewinnen. Zu klären wäre dann im Weiteren bspw.,

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welche Vertragsform für das Projekt am geeignetsten wäre und wie Nutzen und mögliche Kosteneinsparungen objektiv im Rahmen des Projekts gezeigt werden könnten. (9) Ein Vergütungsszenario für die Verwendung von DiagBand in der stationären Versorgung erscheint aufgrund des Verbotsvorbehaltes besonders naheliegend. Sollte die Einführung von DiagBand in der Parkinsondiagnostik für das Krankenhaus kostenneutral oder sogar kostensparend sein, wäre eine Vergütung im Rahmen der bestehenden DRG einfach möglich und im Hinblick auf eine schnelle Marktdurchdringung sehr vielversprechend. (10) Falls die Entwicklung von DiagBand unternehmerisch nur bei einem Preis lohnt, bei dem DiagBand nicht durch die bestehende DRG abgedeckt ist, muss zunächst ein neuer OPS-Code beantragt werden und gemeinsam mit antragsberechtigten Partnern die Schaffung einer neuen DRG vorbereitet werden. Hierbei spielen Krankenhäuser eine besondere Rolle, da nur sie formell beim InEK anfragen können, ob eine neue Leistung bereits mit der bestehenden DRG sachgemäß vergütet ist oder ob ein NUB-Prozess in Frage kommt. b ) Die Antworten zur vorherigen Aufgabe zeigen, dass das Thema Vergütung sehr komplex ist. Dies wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass es vielfältige Einzelfälle gibt, die sich erst mit längeren Recherchen und ergänzenden Befragungen von Leistungserbringern bzw. deren Abrechnungspersonal erschließen, dass sich die Rahmenbedingungen stetig ändern und dass neben den gesetzlich (z. B. im SGB V) und subgesetzlich (z.  B. in den Regeln des G-BA) kodifizierten Regeln insbesondere bei Selektivverträgen auch die politischen Aktivitäten der diversen Akteure im Gesundheitswesen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene einen Einfluss auf die Vergütung haben. Schließlich bedarf es medizinischer Kenntnisse, die man sich als Studierender des Managements im Gesundheitswesen weder aneignen kann noch anmaßen sollte – daher ist es wichtig, bei der Erarbeitung einer Empfehlung zusätzliche Expertise einzubeziehen. Die im Folgenden genannten Empfehlungen sind daher keine eindeutige Musterlösung, sondern eher ein Ausgangspunkt der Diskussion. Mit diesen Einschränkungen wäre bspw. folgende Strategie naheliegend: a. Geht man davon aus, dass DiagBand in der ambulanten Versorgung zusätzliche Kosten verursacht, die die Zahlungsbereitschaft oder Zahlungsfähigkeit der Kassenpatient∗innen selbst als IGeL übersteigt, stellt sich die Frage, ob und wie DiagBand im Rahmen eines Selektivvertrags erstattet werden kann. Hierfür wären Verhandlungen mit möglichen Vertragspartnern zu führen und der Nachweis des versprochenen Nutzens für Patient∗innen, Leistungserbringer und Kassen zu erbringen. Nachdem die Vergütung von DiagBand im Rahmen von Fallpauschalen evtl. dazu führt, dass dessen Nutzung als Regelversorgung verstanden wird und damit die Neuheit verliert, die Bedingung für einen erfolgreichen Vertrag der inte­ grierten Versorgung ist, erscheint dies als ein Szenario, dessen Umsetzbarkeit als Erstes geprüft werden sollte.

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b. Parallel dazu erscheint in der ambulanten Versorgung die Erstattung für privat versicherte Patient∗innen als zügig umsetzbares Szenario. Auch hierfür müsste in weiteren Recherchen und Kontakten mit Leistungserbringern überprüft werden, welche ergänzenden abrechenbaren Leistungen und welche Analogziffern hier am adäquatesten erscheinen. Sobald dies geklärt ist, wäre anhand erster Behandlungsfälle zu klären, ob bzw. welche Versicherungsunternehmen einer Finanzierung zu diesen Konditionen zustimmen (oder ob ggf. alternative Abrechnungen für alle Beteiligten akzeptabel erscheinen). Kritisch ist an diesem Szenario, dass zumindest während der Patentlaufzeit der Innovation, in der höhere Preise möglich sind, nur die ca. 10 % privat Versicherten in der deutschen Bevölkerung Zugang zu DiagBand erhalten, sodass das Marktpotenzial hier aus Unternehmenssicht begrenzt ist. Zudem kann der Ausschluss der (90 %) gesetzlich versicherten Parkinson-Patient∗innen als ethisch problematisch gesehen werden – wenn die Technologie der bisherigen Diagnostik tatsächlich überlegen ist. c. Anschließend an die Option a. bzw. ergänzend zur Option b. erscheint ein früher Markteintritt für DiagBand im stationären Bereich aus verschiedenen Gründen besonders attraktiv. Zum Ersten gilt hier der Verbotsvorbehalt. Zum Zweiten sind potenzielle Kosteneinsparungen hier ganz besonders hoch, sodass auch die Kliniken ein großes Interesse haben könnten, teilzunehmen. Insbesondere im Rahmen der multimodalen Komplexbehandlung (DRG B67A, B67B, B49Z) bringt die objektive und über den ganzen Zeitverlauf automatische Messung diagnostische Sicherheit und Therapiekontrolle. Zum Dritten haben hier sowohl die Kliniken als auch das Unternehmen DiagBand den Vorteil einer positiven Außenwirkung – für die Kliniken, wenn sie zeigen können, dass sie in ihrer Diagnostik neueste Methoden einsetzen; für das Unternehmen, wenn es zeigen kann, dass das eigene Produkt von den führenden Spezialkliniken eingesetzt wird. Es wäre daher ratsam, die Umsetzbarkeit dieses Vergütungsszenarios zügig zu prüfen. Hierzu gehört auch eine Abschätzung der Kosten für das Krankenhaus, da davon abhängt, ob der Prozess zur Einrichtung einer neuen DRG notwendig ist.

9.4.3 Kritische Reflexion Bei der Analyse möglicher Vergütungsstrategien ist es wichtig, nicht die Perspektive des gesamten Gesundheitswesens mit der Gesamtheit von Beitragszahler∗innen und Patient∗innen aus den Augen zu verlieren. Dabei geht es hier weder um eine detaillierte ethische Analyse noch um den Anspruch einer richtigen Lösung, sondern eher darum, Impulse für eine kritische Diskussion zu geben. a) Die Möglichkeit einzelner Hersteller, ihre Leistungen in der Gesundheitswirtschaft anzubieten, ist mit einem hohen Umsatzpotenzial verbunden und setzt starke Anreize, neue Produkte für diesen großen Markt zu entwickeln und auf diese Weise einen Bei-

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trag zu einer guten Patient∗innenversorgung zu leisten. Hierdurch sind viele Krankheiten heilbar oder zumindest kontrollierbar geworden, die noch vor wenigen Jahrzehnten tödlich verliefen oder schweres Leid über Patient∗innen gebracht haben. Gleichzeitig haben Hersteller, die ein neues Produkt entwickelt haben, einen starken Anreiz, das Produkt im Gesundheitsmarkt zu verkaufen, selbst wenn das Produkt im Grunde wenig oder sogar gar keinen Patient∗innennutzen bringt. Um diesen (Fehl-)Anreizen zu begegnen, wird im Rahmen der evidenzbasierten Medizin kritisch gefragt, ob die Produkte tatsächlich mit tragfähiger Evidenz der Wirksamkeit verbunden sind. Schließlich haben Hersteller ein Interesse an einem möglichst hohen Preis, während aus Gesundheitssystemperspektive günstige Preise wünschenswert sind. Einerseits sind die Vergütungssysteme so gestaltet, dass sie den Herstellern Anreize zu kostensparenden Preisen setzen, da neue Technologien, die im Rahmen bestehender Vergütungsraten eingesetzt werden können und günstiger als die bestehenden Technologien sind, schneller verkauft werden können. Dies wäre auch der Fall, wenn die Vergütungsstrategie von DiagBand auf Einsparungen durch effizientere und gleichzeitig bessere Diagnostik setzt – entweder bei stationärer Vergütung im Rahmen bestehender DRGs oder im Rahmen eines Versorgungsvertrages. Andererseits besteht die Gefahr, dass Hersteller anstelle dessen versuchen, immer höhere Preise zu setzen, und Kostenträger im Gegenzug in gegebenem Rahmen versuchen, Kosten einzudämmen, und daher bis an den Rand des Zuträglichen Anforderungen formulieren und so die Bürokratie der Versorgungspraxis erhöhen. Hohe Versorgungsqualität, Finanzierbarkeit der Versorgung und Verteilungsgerechtigkeit stehen in einem Spannungsfeld, welches nie ganz aufzulösen ist, sondern von den Regulatoren immer wieder Abwägungen erfordert. Während die private Finanzierung einen vergleichsweise schnelleren Marktzugang ermöglicht und damit für Hersteller als erste Marktzugangsstrategie attraktiv und innovationsfördernd ist, werden im Rahmen der privaten Finanzierung primär die wohlhabenderen Kreise der Gesellschaft erreicht, was dem Ziel eines möglichst gleichen, bedarfsgerechten Zugangs entgegenläuft. Würde der Zugang zur GKV-Finanzierung allen Herstellern erleichtert, bestünde die Gefahr, dass dies entweder zulasten der Finanzierbarkeit geht; würde er weiter erschwert, könnte es zulasten der Versorgungsqualität gehen und/oder größere Versorgungsunterschiede über die Bevölkerung hinweg provozieren. b ) Ein möglicher erster Schritt besteht darin, sich dieses Spannungsfeld immer wieder bewusst zu machen und zu versuchen, immer wieder die Perspektive des einzelnen Akteurs abzulegen und die des Gesundheitssystems als Ganzes anzunehmen. Auf der individuellen Ebene eines einzelnen Beraters bzw. einer einzelnen Beraterin kann ein angemessener Umgang mit diesem Spannungsfeld manchmal schlicht in authentischer Beratung bestehen: Unternehmen, die Gesundheitsgüter ohne überzeugenden Nutzen zu vermarkten suchen, von dieser Vermarktung abzuraten; oder gemeinsam mit Unternehmen an Preissetzungs- und Markteintrittsstrategien zu arbeiten, die eine nützliche Innovation auch für die Gesamtheit der GKV-Versicherten verfügbar macht. Zudem kann es dem Ruf einer Beratungsfirma und der Motivation ihrer Belegschaft durchaus

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zuträglich sein, wenn sie Aufträge von Unternehmen mit zweifelhaften Innovationen ablehnt. Auch Akteuren, die sich auf der Ebene von Verbänden mit Vergütungsfragen und der Gestaltung der Rahmenbedingungen gesundheitlicher Versorgung befassen, können nach Wegen suchen, die diesem Spannungsfeld gerecht werden. Dies kann etwa der Fall sein, wenn bei der Weiterentwicklung von Erstattungskriterien und -prozessen die Frage nach allgemein konsensfähigen Lösungen für eine bessere Versorgung anstelle lediglich der eingeschränkte Blickwinkel von Partikularinteressen der eigenen Organisation im Vordergrund stehen (was nicht bedeutet, dass eigene Interessen und konsensfähige Lösungen zwangsläufig im Widerspruch stehen  – im Gegenteil). Leser∗innen, die sich für dieses Spannungsfeld interessieren, sei neben der Literatur zur Priorisierung medizinischer Leistungen die wirtschaftsethische Literatur ans Herz gelegt, bspw. zur Analyse ökonomischer Zusammenhänge als Analyse zu überwindender sozialer Dilemmata (Homann und Suchanek 2005; Rogowski 2018).

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Institutionenökonomik in der Pflege

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Wolf Rogowski und Madlen von Fintel

Zusammenfassung

Die Prinzipal-Agenten-Theorie wird auch in der Gesundheitsökonomik vielfach angewendet, um Probleme des gesellschaftlichen Leistungsaustausches zu analysieren. Manche der vorgeschlagenen Problemlösungen, wie z. B. die Einführung von Kontrollen zur Reduktion von Informationsasymmetrie, können von den Akteur∗innen leicht als unangemessene Elemente einer Ökonomisierung der Versorgung wahrgenommen werden. Dieser Textbeitrag wendet das Instrumentarium der Prinzipal-Agenten-­Theorie auf eine Fallstudie an, die meist eher als Gegenmodell einer Ökonomisierung wahrgenommen wird: das niederländische Modell der Buurtzorg, eine innovative, dezentrale, unbürokratische Organisationsform für Pflegedienstleistungen, die sich von ihrer Gründung in 2006 bis 2018 zu einem erfolgreichen Unternehmen mit über 10.000 überdurchschnittlich zufriedenen Mitarbeiter∗innen entwickelt hat.

W. Rogowski (*) M. von Fintel Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_10

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10.1 Hintergrund Die Ökonomik bietet eine Reihe theoretischer Konzepte zur Analyse rationalen Umgangs mit knappen Ressourcen. Eine ökonomische Denkschule ist die Neue Institutionenökonomik. Sie zielt darauf ab, mögliche Probleme zu identifizieren, die sich aus ­gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Spezialisierung ergeben, und institutionelle Lösungen dafür zu entwickeln. Sie untersucht ausgewählte Konstellationen gesellschaftlicher Kooperation (also z. B. Arbeitsverträge, die die Kooperation zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden regulieren) mit dem Modell des homo oeconomicus. Dieses unterstellt, dass alle Akteure gesellschaftlicher Interaktion ausschließlich eigenorientiert sind und ihre individuellen Ziele verfolgen. Ein wichtiger Theoriekomplex innerhalb der Neuen Institutionenökonomik ist die Prinzipal-­Agenten-Theorie (P.-A.). Sie untersucht die Beziehung zwischen Auftraggebenden (Prinzipalen) und Auftragnehmenden (Agenten), wobei Auftraggebende typischerweise über unvollständige Informationen zu den Charakteristika, den Intentionen oder dem Verhalten der Agenten haben. Dies kann dazu führen, dass Agenten ihren eigenen Nutzen zuungunsten der Prinzipale verfolgen. Ein Beispiel aus der Leistungserbringung im Gesundheitswesen hierzu wäre etwa, wenn ein Arzt bzw. eine Ärztin zur Maximierung des eigenen Umsatzes den/die Patient∗in dazu bewegt, sich einer unnötigen selbst finanzierten Operation zu unterziehen, und dadurch im Extremfall sogar gesundheitlichen Schaden verursacht. Ein verwandter Theoriekomplex der Neuen Institutionenökonomik untersucht spezielle Probleme bei Versicherungen. Hier können zum einen Probleme für den Versicherer vor Vertragsabschluss entstehen, wenn der/die Versicherte besser über das eigene wahre Risiko informiert ist als der Versicherer. Sie können dann einen Vertrag abschließen, der eigentlich für Personen mit geringerem Risiko entwickelt wurde (sog. adverse selection). Anderseits könnte der Versicherer über bessere Informationen verfügen und systematisch Personen einschließen, deren Risiko günstiger als das durchschnittlich versicherte Risiko ist (sog. cream skimming). Nach Vertragsabschluss kann der/die Versicherte Leistungen nachfragen, die ihm/ihr im Normalfall nicht zustünden (sog. moral hazard). Eine medizinische oder pflegerische Leistungsausweitung über das vertraglich vereinbarte Maß hinaus wäre ein klassisches Beispiel hierfür. Die Prinzipal-Agenten-Theorie analysiert u. a. verschiedene Facetten von Kosten, die in der Kooperation anfallen. Dies sind zunächst eine große Reduktion von Kosten, die sich durch gesellschaftliche Arbeitsteilung ergibt  – die hohe Spezialisierung ermöglicht die Nutzung von Produkten und Dienstleistungen, die ohne Arbeitsteilung nicht verfügbar bzw. finanzierbar wären (niemand kann alles Wissen und Können erwerben, um alles von Dienstleistern, wie z. B. Ärzt∗innen, und Warenanbietern, wie z. B. Supermärkten, selbst zu erstellen). Gleichzeitig ergeben sich für Agenten zusätzliche Kosten, um dem Prinzipal hohe Qualifikationen, Wohlwollen und adäquate Leistungen zu signalisieren. Für Prinzipale entstehen zusätzliche Kontrollkosten. Die Prinzipal-Agenten-Theorie unterstützt die Suche nach vertraglichen Arrangements, die die Gesamtkosten minimieren. Typischer-

10  Institutionenökonomik in der Pflege

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weise enthalten die Empfehlungen zum einen den Hinweis auf Reduktion von Informationsasymmetrien und zum anderen die Empfehlung, die Anreize zwischen Prinzipal und Agenten anzugleichen. Einführungen in die Neue Institutionenökonomik bietet z.  B. der Beitrag von Picot (2005) in Vahlens Kompendium der Betriebswirtschaftslehre (Bitz et al. 2005). Eine Einordnung in den normativen Hintergrund zur Förderung gesellschaftlicher Kooperation bietet die Einführung in die Ökonomik von Homann und Suchanek (2005). Eine Analyse der Neuen Institutionenökonomik in Bezug auf das Gesundheitswesen bietet das Lehrbuch zur Gesundheitsökonomik von Breyer et al. (2013), insbesondere das Kapitel 5 und mit besonderem Bezug auf die speziellen Prinzipal-Agenten-Probleme bei Versicherungen das Kapitel 6.4. Die Informationen zu Buurtzorg beruhen neben Informationen auf der Website des Unternehmens (buurtzorg.com) auf der einschlägigen Fallstudie des Common­ wealth Funds (Gray et al. 2015), von der Teile als Übertrag oder direkte Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Commonwealth Funds übernommen wurden.

10.2 F  allstudie: Buurtzorg – ein Gegenmodell zur Ökonomisierung der Pflege? Ihr Semesterpraktikum hat Sie in ein Strategieberatungsunternehmen geführt, das sich auf das Gesundheitswesen und dort speziell den Bereich Pflege spezialisiert hat. Das Beratungsprojekt, bei dem Sie mitarbeiten, wurde von dem Landesgesundheitsministerium in Auftrag gegeben. Es geht darum, innovative Modelle der Pflegeorganisation zu identifizieren und zur Umsetzung vorzuschlagen. Der Leiter des Projekts ist ein promovierter Gesundheitsökonom und er ist genervt von all den blumigen Projektbeschreibungen, die auf seinem Schreibtisch liegen. „Klingt alles nett“, sagt er Ihnen gleich am Anfang, „aber als Gesundheitsökonom kann ich Ihnen sagen: Der ganze Kram wird nicht lange funktionieren! Es ist immer das Gleiche – erst eine Klage über die angebliche Ökonomisierung und dann ein Konzept zu deren angeblicher Überwindung, das nüchtern betrachtet keinen Sinn gibt. Ich denke ja auch, dass reine Kostenoptimierung nicht weiterhilft. Und wenn man Ökonomisierung so versteht, als ginge es nur um Sparen, Sparen, Sparen – klar, das kann’s nicht sein. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass man die Ökonomiebücher am besten aus dem Fenster schmeißen sollte. Wenn die Pflegewissenschaftler mit ihren schönen Konzepten nur einmal ein ordentliches Lehrbuch aufgeschlagen und das Kapitel zur Prinzipal-Agenten-Theorie gelesen hätten … Reinen Gewissens kann ich die Ansätze, von denen ich bisher gelesen habe, dem Ministerium nicht empfehlen. Aber, schauen Sie doch selbst mal nach. Da sind noch drei weitere Modellbeschreibungen. Hier, Buurtzorg muss grad ein ziemlicher Renner in den Niederlanden sein. Werfen Sie doch mal einen kritischen Blick drauf…“.

Sie werfen einen Blick in die Unterlagen und finden die folgenden Informationen: Buurtzorg Nederland ist ein gemeinnütziger Anbieter von ambulanten Pflegeleistungen in den Niederlanden. Das Unternehmen wurde bereits im Jahr 2007 von Jos de Blok,

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einem erfahrenen Pfleger, gegründet, welcher mit einem kleinen Team von Pflegekräften begann und heute über 10.000 Mitarbeiter∗innen beschäftigt. Das Buurtzorg-Modell unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den klassischen Pflegeanbietern in den Niederlanden. Im traditionellen Pflegemodell werden für medizinische Tätigkeiten examinierte Pflegekräfte und Krankenschwestern angefordert. Hingegen soll weniger gut ausgebilde­ tes und somit kostengünstigeres Personal für unterstützende Aufgaben des täglichen Lebens, wie z. B. Anziehen und Waschen, beauftragt werden. Diese wechselnde Betreuung zu verschiedenen Pflegezeiten und von unterschiedlichem Personal wird von einigen kritisiert. Denn eine kontinuierliche Pflege kann dadurch gefährdet und eine Unzufriedenheit bei den Pflegebedürftigen und Mitarbeitenden ausgelöst werden. Das Buurtzorg-Modell sieht anstelle dessen vor, kein unterschiedliches Personal für unterschiedliche Pflegeleistungen anzufordern. Die Pflegenden sind neben medizinischen und unterstützenden Tätigkeiten ebenfalls dafür zuständig, die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen zu beurteilen, Pflegepläne zu entwickeln, Arzt- bzw. Ärztinnenbesuche zu planen und ihre Tätigkeiten zu dokumentieren. Sie sind demnach auch für administrative und kaufmännische Aufgaben, wie z. B. die Abrechnung, zuständig. Diese sollen eine flächendeckende und kontinuierliche Pflege gewährleisten. Die Ziele des Unternehmens liegen darin, einen ganzheitlichen, nachbarschaftsbezogenen Ansatz für die Bereitstellung von Dienstleistungen zu entwickeln. Dazu gehört, die Unabhängigkeit der Pflegebedürftigen beizubehalten und sicherzustellen, Selbstversorgung zu schulen und Nachbarschaftsnetze herzustellen. Das Buurtzorg-Modell sieht vor, dass ein selbstverwaltendes Team von 10–12 sehr gut ausgebildeten Pflegekräften für ca. 50–60 Pflegebedürftige in einer Nachbarschaft zuständig ist. Dabei arbeiten sie zudem mit den Familien und Anbietern von medizinischer Grundversorgung zusammen, um alle Bedürfnisse der Pflegebedürftigen abzudecken. Für die Verwaltungstätigkeiten stehen dem Personal ein modernes IT-System sowie ein Intranet zur Verfügung, welches eine Online-­Dokumentation der Planung und Durchführung der Tätigkeiten möglich macht. Darüber hinaus können so Pflegehinweise festgehalten werden und ein Informationsaustausch innerhalb und zwischen den Teams stattfinden. Durch den Einsatz von selbstregulierten Teams hat man mehr Flexibilität bei der Arbeitsorganisation und kann so besser auf die Bedürfnisse von den Pflegenden und Pflegebedürftigen eingehen. Diese einfache, flache Organisationsstruktur ist besonders relevant für den Erfolg des Modells. Der Geschäftsführer, de Blok, drückt dies mit dem Slogan Humanität über Bürokratie aus. Für andere Verwaltungstätigkeiten, wie die Gehalts- und Finanzierungsverwaltung, steht lediglich ein kleines Backoffice mit ca. 50 Mitarbeiter∗innen (Stand 2015) zur Verfügung. Die Bezahlung der Mitarbeiter∗innen von Buurtzorg folgt einem gewerkschaftlich ausgehandelten Vertrag, bei dem sie nach ihrem Ausbildungsniveau bezahlt werden, mit einer regelmäßigen jährlichen Gehaltssteigerung und Boni in Abhängigkeit von der Beschäftigungsdauer bei Buurtzorg. Überschüssige Einnahmen werden für Fortbildungen und Teamprojekte zur Verbesserung der Gesundheit der Gemeinde genutzt.

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Hohe Wachstumsraten sowohl bei Beschäftigten als auch bei Betreuten sind ein Ausdruck großen Erfolgs des Buurtzorg-Modells. Neben einer hohen Zufriedenheit der Pflegebedürftigen und Pflegenden wird berichtet, dass die Leistungen in kürzerer Arbeitszeit verrichtet werden, dass die Pflegebedürftigen von Buurtzorg schneller wieder autonom sind und dass sie seltener ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Hinzu kommt, dass es bei gut ausgebildeten und erfahrenen Pflegekräften sehr beliebt ist und dass auf­ grund der Zufriedenheit und den gesundheitlichen Ergebnissen viele mögliche Pflegebedürftige von Ärzt∗innen an den Pflegeanbieter überwiesen werden. Nicht nur in den Niederlanden konnte das innovative Modell viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch in vielen anderen europäischen und asiatischen Ländern sowie den USA sollen Teile des Konzeptes auf den Pflegesektor angewendet werden.

10.3 Aufgaben 10.3.1 Charakteristika von Pflege ohne gesellschaftliche Arbeitsteilung Bevor man Probleme gesellschaftlicher Kooperation analysiert, kann es hilfreich sein, den Urzustand zu betrachten, der vor dieser Kooperation bestand – also die Situation von Pflegenden und Gepflegten in einer Zeit, in der es noch keinerlei professionelle Pflegedienste oder Pflegeheime gab. a) Worin besteht der Urzustand von Pflege ohne gesellschaftlichen Leistungsaustausch? b) Mit welchen Vorteilen und welchen Problemen ist dieser Zustand verbunden?

10.3.2 Charakteristika von Pflege mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung Heutige Pflegeleistungen unterscheiden sich in hohem Maße von diesem Urzustand. Aus ökonomischer Sicht sind diese Unterschiede stark durch gesellschaftliche Arbeitsteilung und Spezialisierung bedingt. Es haben sich demnach also neue Akteure bzw. Organisationen herausgebildet, die sich auf die Lösung eines oder mehrerer (Teil-)Probleme der pflegerischen Versorgung konzentrieren. a) Nennen Sie beispielhaft zwei zentrale Akteure gesellschaftlichen (Leistungs-)Austausches in der Pflege, die Sie in der Fallstudie jenseits des konkreten Beispielunternehmens Buurtzorg finden können. b) Aus Sicht derer, die dafür bezahlen, sollten Pflegeleistungen bei guter Qualität möglichst kostengünstig sein. Identifizieren Sie aus der Fallstudie jenseits des Unternehmens Buurtzorg eine Maßnahme, mit der im traditionellen Pflegemodell versucht wird, Pflegeleistungen möglichst effizient zu erbringen.

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10.3.3 Neue Institutionenökonomik Im Folgenden soll nun die Brille der Neuen Institutionenökonomik aufgesetzt werden. a) Wodurch ist eine Prinzipal-Agenten Beziehung gekennzeichnet? Welche Probleme sind damit verbunden? b) Welches sind die speziellen Probleme bei Versicherungen? c) Welche Empfehlungen macht die Prinzipal-Agenten-Theorie generell zur Lösung dieser Probleme?

10.3.4 Prinzipal-Agenten-Probleme innerhalb von Pflegedienstleistern Bitte nutzen Sie nun die Neue Institutionenökonomik zur Analyse des Leistungsaustausches innerhalb von Pflegedienstleistern. a) Welche Prinzipal-Agenten-Probleme bestehen zwischen Leitung und Mitarbeiter∗innen eines Pflegedienstes? b) Welche Problemlösungen konventioneller Pflegedienste werden beschrieben und welche negativen Auswirkungen sind damit verbunden? c) Inwiefern kann die Struktur der Buurtzorg als eine erfolgreiche Lösung des Prinzipal-­ Agenten-­Problems gesehen werden?

10.3.5 Prinzipal-Agenten-Probleme zwischen Pflegediensten und Angehörigen Im Folgenden soll die Neue Institutionenökonomik zur Analyse der Kooperation zwischen Familienangehörigen und Pflegedienstleistern analysiert werden. a) Welche Prinzipal-Agenten-Probleme bestehen zwischen Angehörigen und Pflegeservice? b) Inwiefern kann die Struktur der Buurtzorg als eine erfolgreiche Lösung dieses Prinzipal-­Agenten-Problems gesehen werden?

10.3.6 Analyse der Beziehung von Leistungsfinanzierern und Pflegediensten Im Folgenden soll die Neue Institutionenökonomik zur Analyse der Kooperation zwischen Leistungsfinanzierern und Pflegedienstleistern analysiert werden.

10  Institutionenökonomik in der Pflege

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a) Welche Probleme bestehen zwischen einer Pflegeversicherung und P ­ flegedienstleistern? b ) Welche Ansätze zur Lösung dieses Problems bietet die Buurtzorg? c) Welche Arrangements wären für Pflegeversicherungen denkbar, um verbleibende Probleme zu überwinden (und wären daher mögliche Umsetzungen zur Förderung von Buurtzorg in Deutschland)?

10.3.7 Reflexion: Buurtzorg und die Ökonomisierung der Pflege Bitte diskutieren Sie den Titel der Fallstudie. a) Ist Buurtzorg ein Gegenmodell zur Ökonomisierung der Pflege? b) Falls nicht, was kann man von Buurtzorg für die Anwendung von Ökonomik im Gesundheitswesen lernen?

10.4 Lösungsvorschläge 10.4.1 Charakteristika von Pflege ohne gesellschaftliche Arbeitsteilung a) Selbstverständlich sind Beschreibungen von Urzuständen meist hypothetisch, spekulativ, und vereinfachend. Es gibt über sie kaum verlässliche Quellen, und verschiedene natürliche und familiäre bzw. gesellschaftliche Gegebenheiten haben vermutlich eine Vielfalt verschiedener Pflege-Arrangements hervorgebracht. Dennoch wäre zu vermuten, dass Pflege primär innerhalb des Familienverbundes und darin besonders gegenseitig durch den/die Partner∗in füreinander bzw. durch Kinder an ihren Eltern geleistet wurde. b) Pflege durch Familienangehörige ist bis heute eine zentrale Säule pflegerischer Versorgung. Vorteile einer Pflege durch Angehörige sind z. B. • schnelle Verfügbarkeit von Unterstützung, • gute Kenntnis der persönlichen Präferenzen der/des zu Pflegenden, • vielfältige Möglichkeiten unbürokratischer Kompensation für die Pflegeleistungen. Wenn Pflege allein durch Angehörige geschieht, ist dies jedoch potenziell mit verschiedenen Nachteilen verbunden, wie z. B. • Gefahr der physischen und psychischen Überforderung der Pflegenden, • geringe Kenntnis pflegerischer Standards im Hinblick auf medizinisch relevante, objektive Bedarfe, z. B. im Hinblick auf Sturzprävention, • fehlende medizinische/pflegerische Qualifikation zur Erbringung der Leistungen, wie z. B. leitlinienkonformer Wundprävention und Wundpflege, • bei Pflegefällen im erwerbsfähigen Alter: Einschränkung, der Erwerbsarbeit nachgehen zu können, bis hin zu Aufgabe/Verlust des Arbeitsplatzes, mit den damit verbundenen negativen finanziellen und ggf. persönlichen Folgen.

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10.4.2 Charakteristika von Pflege mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung a) Sicher gibt es eine Vielfalt von Aspekten, wie sich moderne Pflege von dem hypothetischen Urzustand unterscheidet, und es haben sich verschiedenste Akteure herausgebildet. Zwei wesentliche Akteure, die im Folgenden weiter untersucht werden sollen, sind: • ambulante Pflegedienstleister wie z. B. Buurtzorg, die Pflegeleistungen durch speziell ausgebildetes Fachpersonal erbringen • gesetzlich regulierte Pflegeversicherungen, die Pflegeleistungen zumindest teilweise finanzieren • weitere Akteure wären z. B. stationäre Pflegedienstleister bzw. Pflegeheime, die neben der Pflegeleistung selbst entsprechende Infrastruktur mit Betten etc. zur Verfügung stellen; Anbieter von Pflegehilfsmitteln wie Inkontinenzmaterial, Gehhilfen, speziellen Betten o. ä.; private Pflegeversicherungen; Vermittler von Pflegeleistungen; Organisationen der pflegerischen Ausbildung und der Qualitätsprüfung in der Pflege etc. b) Eine in der Fallstudie erwähnte Maßnahme zur Steigerung der Effizienz in der Pflege ist die Arbeitsteilung bei der Erbringung von Pflegeleistungen. Dabei wird zwischen Leistungen mit höherem und geringerem Qualifikationsbedarf unterschieden und die Aufgaben werden verschiedenen Arbeitskräften primär nach Kosten des Inputfaktors Arbeit zugeordnet (d. h. qualifizierte pflegerische Leistungen werden durch teures Pflegefachpersonal erbracht; Leistungen ohne Qualifikationsbedarf, wie z.  B. einfache hauswirtschaftliche Unterstützung, durch ungelernte Arbeitnehmer∗innen; koordinierende Tätigkeit durch Betriebswirt∗innen).

10.4.3 Neue Institutionenökonomik a) Das Modell der Prinzipal-Agenten-Beziehungen in der Neuen Institutionenökonomik ist von unterschiedlichen Merkmalen gekennzeichnet und auch mit Problemen verbunden. Prinzipal-Agenten-Beziehungen können folgendermaßen charakterisiert werden: • Es besteht eine Beziehung zwischen einem bzw. einer Auftraggeber∗in (Prinzipal) und einem bzw. einer Auftragnehmer∗in (Agent), wobei die Handlungen des Agenten sowohl das eigene Wohlergehen beeinflussen als auch das des Prinzipals. • Der Schwerpunkt des Modells liegt in der unvollständigen Information des Prinzipals über die Handlungen des Agenten. • Das Modell nimmt an, dass die Individuen in der Beziehung ihr Eigeninteresse verfolgen (homo oeconomicus), was evtl. opportunistisches Verhalten durch den Agenten mit Schaden für den Prinzipal einbezieht. In Prinzipal-Agenten-Beziehungen können folgende Probleme auftreten: • Hidden characteristics: Der Prinzipal kennt relevante Eigenschaften des Agenten vor Vertragsabschluss nicht (Beispiel: ein∗e Patient∗in als Prinzipal kennt nicht die

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tatsächliche Qualifikation des Arztes bzw. der Ärztin, den er/sie mit der Behandlung beauftragen möchte). • Hidden action & information: Der Prinzipal kann die Handlungen nicht beobachten (Beispiel: anästhesierte∗r Patient∗in als Prinzipal bei Operation durch von ihm/ihr beauftragten Arzt/Ärztin) oder deren Qualität nicht beurteilen (Beispiel: Patient∗in kann nicht beurteilen, ob Nebenwirkung normal ist oder hätte vermieden werden können, wenn der Arzt bzw. die Ärztin als sein/ihr Agent ihn/sie besser behandelt hätte). • Hidden intention: Der Prinzipal erkennt zwar das opportunistische Verhalten des Agenten bzw. der Agentin, kann es aber nicht verhindern (Beispiel: Arzt/Ärztin als Prinzipal schließt einen günstigen Mietvertrag mit Agent, dem Anbieter von Praxisräumen; der Agent erhöht die Miete der Räume kurz nach Einzug). b) Bei Versicherungen als einem Spezialfall von Prinzipal-Agenten-Beziehung werden häufig die folgenden Probleme untersucht: • Abweichen des Versicherungsnehmers bzw. der Versicherungsnehmerin vom vertraglich intendierten Verhalten: moral hazard (spezielle Form der hidden action, Beispiel: Patient∗in unterzieht sich einer Maßnahme wie z. B. einer Kur nicht deswegen, weil sie aufgrund einer zufällig eingetretenen Krankheit medizinisch nötig wäre, sondern weil sie für sie/ihn als Versicherungsnehmer∗in einen kostenlosen Urlaub darstellt) • Informationsvorteile als spezielle Formen der hidden characteristics – auf Seiten der versicherten Person: adverse selection (Beispiel: Patient∗in schließt eine Zahnzusatzversicherung ab, wohl wissend, dass bei ihm/ihr nicht nur die im Versicherungsvertrag kalkulierten, zufällig neu auftretenden Schäden relevant sind, sondern um schon seit längerem fällige Reparaturen und Operationen durchführen zu lassen) bzw. auf Seiten der Versicherung: cream skimming (Beispiel: Krankenversicherung wirbt bewusst so, dass sie gesündere Bevölkerungsschichten, also gute Risiken, anspricht und im Mittel weniger Ausgaben als das im Vertrag kalkulierte Durchschnittskollektiv hat) c ) Zur Lösung der Probleme werden verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen, insbesondere Reduktion von Informationsasymmetrie zwischen Agent und Prinzipal, z. B. • bei hidden characteristics: Approbation, Gütesiegel, Diplome etc., • bei hidden action/information: Kontrollsysteme, Qualitätsberichte etc., sowie Angleichung der Anreize zwischen Agent und Prinzipal, z. B. • bei hidden action/information: Ergebnisbeteiligung des Agenten, • bei hidden intention: Sicherheiten, z. B. Leistungsgarantien.

10.4.4 Prinzipal-Agenten-Probleme innerhalb von Pflegedienstleistern a) Auch zwischen der Leitung und den Mitarbeiter∗innen eines Unternehmens können Prinzipal-Agenten-Probleme auftreten, da ja die Leitung als Prinzipal und die Mitarbeiter∗innen in ihrem Auftrag als Agenten tätig sind. Hierbei ist zu beachten, dass Prinzipal-­Agenten-Beziehungen komplex und verschachtelt sein können und Personen

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in verschiedenen Rollen gleichzeitig auftreten können (Beispiel: wenn ein Unternehmen den Mitarbeitenden ein größeres Paket an Sozialleistungen anbietet, ist es in der Rolle als Arbeitgeber Prinzipal, als Verwalter der Sozialleistungen Agent). Beispiele in Pflegediensten könnten sein: • Die Ziele des Prinzipals (Geschäftsführung) könnten sein, ein möglichst hohes Leistungsvolumen gemäß dem Qualitätsverständnis der Geschäftsführung bzw. der einschlägigen rechtlichen oder vertraglichen Vorgaben zu möglichst niedrigen Kosten zu erreichen. Die Pflegekraft (Agent) könnte ein geringeres Leistungsvolumen bevorzugen, ein anderes Qualitätsverständnis haben oder ein höheres Gehalt anstreben. Der Prinzipal kann Qualifikationen, Intentionen und Handlungen der Pflegekräfte (Agenten) nur begrenzt beobachten. • Man könnte auch spiegelverkehrt P.-A.-Probleme (Prinzipal-Agenten-Probleme) ausmachen: Beim Abschluss des Arbeitsvertrags erwartet die Arbeitskraft als Prinzipal vom Anbieter eines Arbeitsplatzes als Agent z. B. faire Arbeitsbedingungen wie gute Arbeitszeiten oder einen angemessenen Arbeitsschutz. Nach Dienstbeginn und ggf. Umzug an den Ort der neuen Stelle könnten sich die diesbezüglichen Äußerungen aus dem Bewerbungsgespräch als reine Lippenbekenntnisse herausstellen. Der Prinzipal kann die Intentionen des Agenten bei Vertragsabschluss nicht beobachten. b ) Zu den erstgenannten Problemen sind verschiedene Problemlösungen für konventionelle Pflegedienste denkbar: • Eine Problemlösung könnte sein, Maßnahmen zur Reduktion von Informations­ asymmetrien einzuführen. Dies können bspw. Kontrollen zu Leistungsvolumen, Qualität und ggf. Abrechnungen sein und/oder Prüfungen der Pflegedokumentation. Dies kann jedoch zu hohem Kontroll- und Dokumentationsaufwand führen sowie die Mitarbeiter∗innenmotivation senken. • Eine weitere Möglichkeit könnte sein, Maßnahmen zur Angleichung der Anreize zu etablieren. Als positive Anreize könnten Boni für Pflegekräfte mit hohem Leistungsvolumen, Pflegequalität oder positivem Kund∗innenfeedback angewendet werden; negative Anreize könnten z.  B.  Strafen bei Fehlverhalten sein. Auch hier besteht jedoch das Problem hoher Kontrollkosten und negativer Auswirkung auf die Motivation der Mitarbeiter∗innen. c) Im Folgenden werden Gründe aufgeführt, warum die Struktur der Buurtzorg als eine erfolgreiche Lösung der Prinzipal-Agenten-Probleme interpretiert werden kann: • Die Struktur des Buurtzorg-Modells beinhaltet Maßnahmen zur Reduktion von Informationsasymmetrie. Dazu zählt eine geringe Leitungstiefe, d.  h. eine geringe Zahl von Führungsebenen durch die gleichberechtigten Teams von max. zwei Mitarbeiter∗innen pro Pflegefall. Zudem erhöht der Einbezug aller beteiligten Akteure im Umfeld die soziale Kontrolle der Pflegekräfte, und die Nutzung von IT-Systemen für die Pflegedokumentation erhöht die Transparenz. • Darüber hinaus beinhaltet es Maßnahmen zur Angleichung der Anreize. Dabei wird insbesondere das Bedürfnis von Pflegekräften, gute Pflege zu leisten, berücksichtigt. Durch einen engen Bezug zu gepflegten Personen und deren Umfeld führt gute

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Pflege sehr direkt zu positiven Rückmeldungen und weniger gute Pflege zu weniger positiven. • Man könnte auch argumentieren, dass das Buurtzorg-Modell P.-A.-Probleme überwindet, indem es Arbeitsteilung reduziert – die Pflegekräfte führen vielfältige Tätigkeiten inklusive Abrechnung und anderen organisatorischen Aufgaben selbst durch. Ob dieser Verzicht auf Arbeitsteilung und Spezialisierung tatsächlich stärkere positive als negative Auswirkung hat (auch, wenn das Modell auf Versorgungssysteme außerhalb der Niederlanden übertragen wird), wäre näher zu untersuchen.

10.4.5 Prinzipal-Agenten-Probleme zwischen Pflegediensten und Angehörigen a) Grundsätzlich kann man ähnliche Probleme wie die erstgenannten in der letzten Aufgabe vermuten – die Angehörigen haben ein Interesse daran, dass die Pflegefälle in ihrer Familie zu günstigen Kosten gut betreut werden. Insbesondere, wenn sie nicht direkt vor Ort sind, können sie die tatsächliche Qualität der Pflege jedoch nicht beobachten. b) Die Struktur der Buurtzorg kann die Informationsasymmetrie durch systematisches Einbeziehen der Angehörigen und weniger Ansprechpartner∗innen reduzieren.

10.4.6 Analyse der Beziehung von Leistungsfinanzierenden und Pflegediensten a) Auch hier kann man analog zu den beiden vorher genannten Aufgaben ein Prinzipal-­ Agenten-­Problem erkennen. Dieses kann in Bezug auf das Interesse der Leistungsfinanzierenden an kostengünstiger und qualitativ hochwertiger Pflege und möglicherweise entgegen gerichteten Interessen der Pflegedienste an hoher Profitabilität, d. h. hoher Vergütung und ggf. geringerem Aufwand für die Pflege ohne Rücksicht auf Qualitätseinbußen, festgemacht werden. Der Versicherer könnte vermuten, dass eine angeforderte Leistung im Grunde über den vertraglich vereinbarten Katalog hinausgeht, kann aber die genauen Charakteristika der zu pflegenden Person kaum beobachten. Spiegelverkehrt sind Konstellationen denkbar, in denen Pflegedienstleistende (oder Gepflegte) als Prinzipale die Leistungen aus einem abgeschlossenen Versicherungsvertrag abrechnen wollen, jedoch mit einer Leistungsverweigerung durch die Versicherung konfrontiert sind. Bei Abschluss der Versicherung konnten sie die Bereitschaft zu späteren Leistungsverweigerungen (hidden intention) nicht beobachten. b) Das Modell der Buurtzorg bietet eher wenige Ansätze zur Lösung des bestehenden Problems zwischen der Pflegeversicherung und Pflegedienstleistern: Anders als die Angehörigen bleibt die Pflegeversicherung aus Sicht von Buurtzorg und den einzelnen Pflegegruppen ein anonymes Gegenüber. Sowohl die Angehörigen als auch die Pflege-

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kräfte könnten weiterhin ein Interesse an unangemessener Leistungsausweitung haben, durch das zwar die Gepflegten optimale Versorgung erfahren, die Gesamtkosten jedoch über das hinausgehen, was die (meist unübertroffenen) Beitragszahlenden aufwenden möchten. Auch bei den spiegelverkehrten Konstellationen könnte Buurtzorg weiterhin ungerechtfertigten Leistungsbegrenzungen ausgeliefert sein (wobei es als große Organisation einen höheren politischen Einfluss bzw. als großer Kunde eine höhere Verhandlungsmacht hat, die es hier geltend machen könnte. Zudem ist die Informationsasymmetrie aufgrund der vielfältigen Abrechnungen mit dem Leistungsfinanzierer geringer). c ) Um die verbliebenen Probleme zu überwinden, könnten beispielswiese Verträge zwischen Leistungsfinanzierenden und Pflegegruppen abgeschlossen werden, bei denen Pflegebedarfe und -qualität auf einfache, standardisierte und messbare Indikatoren festgelegt sind und so durch Kontrollgremien der Leistungsfinanzierer überprüft werden können. Zudem könnten analog zu den Fallpauschalen im Krankenhaus Festpreise für Pflegekomplexe vereinbart werden. Wenn Buurtzorg tatsächlich zu insgesamt kostensparender Versorgung führt, ist zu erwarten, dass solche Verträge erfolgreich abgeschlossen werden können. Der Pflegeversicherung verbleibt dabei die Sicherheit, dass die Ausgaben im gesteckten finanziellen Rahmen bleiben. Zur Vermeidung ungerechtfertigter Leistungsbegrenzungen könnten Leistungsgarantien gegeben werden, die auf objektiv messbaren Bedarfsindikatoren basieren. In der Abrechnung von gesundheitlichen und pflegerischen Versorgungsleistungen in Deutschland existieren vielfältige Regelungen und Organisationen, die als Institutionen zur Lösung von Prinzipal-Agenten-Problemen interpretiert werden können – wie etwa Kostenpauschalen für Pflegeleistungen oder Leistungskataloge auf Basis definierter Pflegegradeinstufungen.

10.4.7 Buurtzorg und die Ökonomisierung der Pflege a) Das Buurtzorg-Modell ist kaum als Gegenmodell zur Ökonomisierung zu sehen. Wenn Ökonomisierung als Orientierung der Leistungserbringung an finanziellen Vorgaben definiert wird, dann tut Buurtzorg dies als professionell koordiniertes Unternehmen auch. Angesichts der schnelleren Leistungserbringung und der geringeren Krankenhauseinweisungen ist denkbar, dass die Leistungserbringung von Buurtzorg sogar kostengünstiger ist als die Leistungserbringung im traditionellen Modell. Wenn Ökonomisierung als Anwendung ökonomischer Konzepte verstanden wird, dann gilt das im Prinzip für Buurtzorg wie für andere – und diese Fallstudie hat illustriert, dass Buurtzorg potenziell sehr gute und innovative Lösungen für Probleme bereitstellt, die von ökonomischen Konzepten näher analysiert werden. Ein Bereich ökonomischer Methoden, der für dieses Anwendungsfeld sehr relevant ist, im Rahmen dieser Fallstudie jedoch nicht vertieft wurde, ist die Messung und Bewertung von Ressourcenverbräuchen. Man könnte auch als Ökonomisierung bezeichnen, wenn Leistungen unter (zu) hohem

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Kostendruck bzw. mit unzureichend geringen Budgets erbracht werden müssen. Dies würde jedoch bedeuten, dass gerade keine sorgfältige Analyse des Ressourcenbedarfs durchgeführt wurde, also eher zu wenig als zu viel ökonomische Methoden angewendet wurden. Das Gleiche gilt für den Fall, dass mit Ökonomisierung das Problem bezeichnet wird, dass nicht alle wünschenswerten Leistungen von einer Versicherung finanziert werden. Auch hierfür bestehen Methoden der gesundheitsökonomischen Evaluation (die im Rahmen dieser Fallstudie ebenfalls nicht betrachtet werden), die ein Instrumentarium bereitstellen, mit dem inadäquate Leistungsausschlüsse kritisch überprüft werden könnten. Nur wenn Ökonomisierung als unreflektierte Anwendung simplifizierender ökonomischer Konzepte verstanden wird, die ohne gute Analyse des Anwendungskontextes definiert werden, könnte man Buurtzorg als ein Gegenmodell dazu verstehen. Dazu ist jedoch einschränkend zu sagen, dass das Modell vermutlich nicht direkt aus Anwendung ökonomischer Konzepte heraus entstanden ist, sondern aus Reflexion in anderen Kategorien, wie z. B. denen der Pflegewissenschaft oder der Motivationstheorie – die jedoch durchaus auch dann noch Sinn geben, wenn sie in ökonomische Kategorien übersetzt wurden. b ) Aus dem Modell und der Struktur von Buurtzorg können verschiedene Aspekte für die Anwendung von Ökonomik im Gesundheitswesen gelernt werden. Im speziellen Fall zeigte sich bspw., dass Buurtzorg zwar gute Lösungen für einen Teil der potenziell bestehenden P.-A.-Probleme liefern kann, jedoch nicht für alle – die Probleme zwischen Leistungsfinanzierenden und Pflegediensten scheinen nicht mit einbezogen und bedürfen daher anderer Lösungen. Allgemein kann man daran zum einen sehen, dass die Anwendung ökonomischer Konzepte kein Allheilmittel ist – im Falle der Buurtzorg war es, wie unter Teilaufgabe a) gesagt, vermutlich eher pflegerische als ökonomische Rationalität, die den entscheidenden Impuls zu dieser organisatorischen Innovation gab. Zum anderen sollte die Anwendung ökonomischer Konzepte behutsam erfolgen und nicht dazu verleiten, den Anwendungskontext oder das Gespräch mit Akteuren aus diesem Anwendungskontext aus den Augen zu verlieren. Dies wäre bspw. der Fall, wenn der anfänglich erwähnte Projektleiter ohne weitere Reflexion nur Modellen vertraut, die auf standardmäßig in der Ökonomik diskutierte Steuerungsinstrumente wie Kontrollen, Strafen und Boni setzen. Nur mit behutsamer und reflektierter Anwendung ihrer Konzepte kann Ökonomik tatsächlich dem Ziel dienen, gesamtgesellschaftlich rationalen Umgang mit knappen Ressourcen zu fördern.

Literatur BITZ, M., DOMSCH, M., EWERT, R. & WAGNER, F. W. (Hrsg.) (2005): Vahlens Kompendium der Betriebswirtschaftslehre Bd. 2. 5., völlig überarb. Aufl., München: Verlag Franz Vahlen. BREYER, F., ZWEIFEL, P. & KIFMANN, M. (2013): Gesundheitsökonomik. 6., vollst. erw. u. überarb. Aufl. 2013, Berlin; Heidelberg: Gabler Verlag.

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W. Rogowski und M. von Fintel

GRAY, B. H., SARNAK, D. O. & BURGERS, J. S. (2015): Home Care by Self-Governing Nursing Teams: The Netherlands’ Buurtzorg Model. Case Study. The Commonwealth Fund pub. 1818  Vol. 14, [online] https://www.commonwealthfund.org/sites/default/files/documents/___ media_files_publications_case_study_2015_may_1818_gray_home_care_nursing_teams_buurtzorg_model_case_study.pdf [23.03.2019] HOMANN, K. & SUCHANEK, A. (2005): Ökonomik. Eine Einführung. 2., überarb. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck. PICOT, A. (2005): Organisation, in: BITZ, M., DOMSCH, M., EWERT, R. & WAGNER, F.  W. (Hrsg.), Vahlens Kompendium der Betriebswirtschaftslehre Bd. 2. 5., völlig überarb. Aufl., München: Verlag Franz Vahlen, S. 55–133.

Grundsätze der Prozessoptimierung

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Wolf Rogowski und Eugenia Larjow

Zusammenfassung

Am Beispiel einer Situation aus dem Wartebereich einer psychiatrischen Ambulanz wird den Leser∗innen die Prozessperspektive auf Tätigkeiten und Abläufe nähergebracht, die während der Aufnahme und der Versorgung von Patient∗innen in Gesundheitseinrichtungen stattfinden. Durch die Auswertung von Beobachtungen und Gesprächen mit Mitarbeitenden und einem Patienten aus der Ambulanz sollen auch potenzielle Vor- und Nachteile des Prozessmanagements identifiziert werden. Zugleich werden auch grundlegende Prozessoptimierungstechniken vorgestellt, die anschließend auf die beobachteten Sachverhalte übertragen werden sollen.

11.1 Hintergrund Die Erstellung medizinischer Leistungen in Gesundheitsbetrieben geschieht nur selten in einzelnen Organisationseinheiten, wie z. B. einer psychiatrischen Station. Typischerweise durchlaufen Patient∗innen verschiedene Stationen bzw. Behandlungsbereiche und spätestens bei Abrechnungsfragen sind zusätzlich Mitarbeiter∗innen aus dem Verwaltungsbereich mit dem Fall befasst. Diese Divergenz von organisatorischer Zuständigkeit und

W. Rogowski (*) E. Larjow Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020  W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_11

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W. Rogowski und E. Larjow

Behandlungsabläufen führt nicht selten zu Problemen, wie z. B. ungenügender Informationsweitergabe. Diese zu überwinden, ist das Ziel von Prozessmanagement im Gesundheitswesen. Ein erster Schritt erfolgreichen Prozessmanagements besteht darin, Behandlungsabläufe als Prozesse zu verstehen, darzustellen und sich anhand der Prozessdarstellung Gedanken darüber zu machen, wie Prozesse verbessert werden können. Prozesse sind Tätigkeiten, die sich in einem Betrieb regelmäßig wiederholen (Gadatsch 2015). Sie können durch definierte Start- und Endpunkte voneinander abgegrenzt werden. Während dieser Tätigkeiten sollen unterschiedlichste Informationen (Inputs) derart verarbeitet werden, dass sie zu vordefinierten Ergebnissen (Outputs) führen. Speziell in Betrieben des Gesundheitswesens werden sich wiederholende Vorgänge nach medizinischen und betriebswirtschaftlichen (Geschäfts-) Prozessen unterschieden. Eine reflektierte Beobachtung von alltäglichen Abläufen mit dem Auftrag, gewohnte Routinen aufzubrechen, um sie auf ihre Geschäftstauglichkeit hin kritisch zu überprüfen, wird als Prozessanalyse bezeichnet. Prozessanalysen können dazu beitragen, Transparenz zu schaffen und Vorschläge zu entwickeln, wie übergeordnete Geschäftsziele ressourcenschonender und verlässlicher erreicht werden können. Der in diesem Kontext häufig ausgesprochene Begriff Workflow ist v. a. auf die (zumindest zum Teil) computergestützte Ausführung von Prozessen ausgerichtet (Gadatsch 2015, 2013). Das Bestreben, verlässlich hohe Qualitätsstandards in der Behandlung von Patient∗innen einzuhalten, ist mit der Entwicklung und Implementierung von klinischen Behandlungspfaden verbunden. Eine Übersicht mit Analysemethoden für klinische Prozesse sowie Hinweise zur Entwicklung von Behandlungspfaden findet sich im Praxishandbuch Integrierte Behandlungspfade (Eckardt 2006). Als einführende Literatur wird das Kapitel Geschäftsprozessmanagement im Gesundheitswesen aus dem Lehrbuch IT-gestütztes Prozessmanagement im Gesundheitswesen von Gadatsch (2013, S. 5–28) empfohlen.

11.2 F  allstudie: Die suboptimalen Prozesse im Krankenhaus St. Eligius Am Tag nach der Abgabe Ihrer Public Health Bachelorarbeit sind Sie zufällig auf eine Stellenanzeige des Krankenhauses St. Eligius mit dem Titel Medizinmanagement und Prozessoptimierung gestoßen, die der neue Geschäftsführer geschaltet hatte. Sie haben eine Bewerbung hingesendet. Nachdem Sie im Vorstellungsgespräch durch profundes Wissen sowohl zu evidenzbasierter Medizin als auch zu Prozessmanagement glänzen konnten, haben Sie eine Zusage erhalten. Heute ist Ihr erster Arbeitstag. Leider hat der Geschäftsführer nur wenig Zeit – er erklärt Ihnen nur kurz im knackigen Tonfall eines Chirurgen, dass die Prozesse in der Psychiatrie dringend auf Vordermann gebracht werden müssen, da sich sowohl die Qualität als auch die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen im tiefroten Bereich bewegen würden. Sie sollen sich selbstständig einen Überblick verschaffen und ihm einen Vorschlag für Verbesserungsmaßnahmen machen.

11  Grundsätze der Prozessoptimierung

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Glücklicherweise gelingt es, schnell einen Termin beim Chefarzt der Psychiatrie zu bekommen. Prof. Dr. Manfred Seelig erklärt Ihnen: „Bei uns steht der Patient im Mittelpunkt. Vom Moment der Aufnahme bis zur Entlassung versuchen wir, mit möglichst wenig Bürokratie und möglichst viel Menschlichkeit zu arbeiten. Deswegen halte ich auch nicht so viel von Prozessmanagement und so Zeug. Ständig diese Formulare überall, ich kann sie nicht mehr sehen! Klar, auch wir haben das ja schon vor Längerem aufgedrückt bekommen und machen es auch, aber es ist einfach nur lästig. Aber, wo Sie uns sehr helfen könnten: uns den MDK1 vom Hals zu halten. Erst heute kam wieder eine Prüfung, weil wir eine Schizophrenie-Patientin angeblich nicht leitliniengerecht behandelt haben … Bitte entschuldigen Sie, meine Sekretärin … Was sagen Sie, Frau Müller? Patient Meier wartet bereits eine halbe Stunde in meinem Sprechzimmer? … Es tut mir leid, ich muss weg, da habe ich wohl einen Termin in meinem separaten Kalender für Privatsprechstunden übersehen. Lassen Sie sich bitte von Frau Müller einen neuen Termin für Verwaltungsangelegenheiten bei mir geben …“

Nachdem Frau Müller Herrn Prof. Seelig noch die vergessene Patientenakte in das Sprechzimmer bringen muss und daher gerade nicht für Terminabsprachen verfügbar ist, nehmen Sie in der Notfallambulanz Platz. Die Notfallambulanz ist eine Art Wartezimmer, in dem neue Patient∗innen aufgenommen werden. Je nach Schwere der Diagnose werden sie in die Akutstation oder in die Tagesklinik überwiesen, oder nach einer kurzen Behandlung wieder nach Hause entlassen. Die Sprechstundenhilfe betritt den Raum und drückt dem neben Ihnen sitzenden Patienten (Herrn Schulze) einen Patient∗innenerfassungsbogen in die Hand. Dies ist eine der Maßnahmen, die im Zuge der Prozessoptimierung eingeführt worden sind. Herr Schulze blickt sie an, beginnt zu zittern, bricht in Tränen aus und schluchzt: „Ich halte das nicht mehr aus. Zum dritten Mal bin ich hier, zum dritten Mal drücken Sie mir Ihren blöden Zettel in die Hand. Beim ersten Mal haben Sie mich wieder weggeschickt, weil Sie bei der Anamnese festgestellt haben, dass Ihnen die Überweisung vom Hausarzt fehlt. Das zweite Mal wollten Sie meine MRI2-Ergebnisse vom vergangenen Monat noch haben. Sie haben alle meine Daten schon beim ersten Mal erhoben. Ich schaffe das nicht! Tante Erna hatte recht, es ist das Schicksal, das meine Schandtaten aus früheren Leben rächt. Es hat alles keinen Sinn, ich muss mich dem Urteil über mein Leben fügen …“.

Zitternd steht der Patient auf und will in Richtung Tür gehen. Die Mimik der Sprechstundenhilfe gefriert und sie beschwichtigt den Patienten:

 Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) berät die Kranken- und Pflegekassen in medizinischen und pflegerischen Fragen und führt verschiedenartige Prüfungen durch, z. B. bei vermuteten Behandlungs- oder Abrechnungsfehlern (s. hierzu auch Informationen auf der Website des MDK 2019). 2  Magnetic Resonance Imaging (MRI) ist ein bildgebendes Verfahren in der medizinischen Diagnostik zur Darstellung von Struktur und Funktion der Gewebe und Organe im Körper. 1

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W. Rogowski und E. Larjow

„Nein, nein, bitte bleiben Sie sitzen! Das passt schon. Warten Sie noch kurz, ich muss nur schnell den diensthabenden Arzt suchen, er war vorhin in eine Gruppe mit Privatpatienten gerufen worden, um den Gruppenleiter zu unterstützen …“

Sie verlässt eilig den Raum mit dem unausgefüllten Anamnesebogen in der Hand. Im Herauseilen murmelt sie vor sich hin: „Schon wieder sowas, ich hoffe sehr, es klappt mit meiner Bewerbung im Roten Kreuz Krankenhaus …“

Sie legen dem noch immer langsam weiter in Richtung Tür gehenden Patienten freundlich die Hand auf die Schulter und sagen: „Wollen Sie sich nicht wieder hinsetzen? Das war sicher nur ein Versehen. Ich glaube, wegen der Urlaubszeit ist hier gerade etwas wenig Personal. Aber Sie werden sicher bald gut versorgt“.

Der Patient kehrt zurück auf seinen Platz und erzählt: „Wissen Sie, wenn’s nur das wäre. Die Klinik kooperiert mit einem betreuten Wohnen, wo ich auch bin. Früher, wenn ich was hatte, bin ich zu dem Sozialpädagogen und konnte das alles bereden. Irgendwann haben die so ein Prozessmanagement eingeführt oder wie das heißt, da mussten die alles dokumentieren, in so komplizierten Bögen. Da hatten die dann keine Lust drauf, weil ich nicht so ein Fall nach Schema F bin. Plötzlich war keiner mehr da, wenn ich was hatte, weil sie dann nichts dokumentieren mussten. Ach, ich könnte viel über diese Klinik sagen. Aber es ist halt nun mal die einzige im Umkreis, drum muss ich da hin. Die sagen einem auch nie, wenn sie die Medikamente ändern. Abends kommt dann die Schwester mit ganz neuen Tabletten – ohne zu wissen warum und wieso, es steht einfach auf ihrem Zettel: für Herrn Schulze 120 mg Medikament XY. Und da krieg ich immer die Panik, dass alles wieder von vorne losgeht, weil ich nicht weiß, warum, und weil es ja auch eine Verwechselung sein kann. Beim letzten Mal hat die Schwester dann den Nachtdienst geholt – der war erst auch ganz verwirrt, weil er keine Begründung dazu in meiner Akte gefunden hatte. Erst später fanden wir das Protokoll der Visite, wo die das beschlossen haben, die Medikamente zu ändern, der Zettel war noch auf dem Schreibtisch des Oberarztes. Die protokollieren ihre Visite immer erst im Nachhinein. Wahnsinn, war ich erstmal am Boden. Und wenn Sie von der Akutstation auf die Tagesstation wechseln, geht’s erst richtig los. Die haben einen Prozess definiert, wie für ihre Patienten Therapieziele festgelegt werden, wenn sie neu auf die Station kommen. Und der geht jedes Mal los – auch bei mir damals, als ich von der Akut- in die Tagesklinik überwiesen wurde. Immer Schema F abarbeiten, statt sich um das Wohl der Patienten zu kümmern. Das Schlimmste ist, dass meine erfolgreich begonnene Arbeitstherapie, die mir richtig viel gebracht hat, mit dem Wechsel abgebrochen wurde. Früher wurde da immer irgendwie eine Lösung für spontan auftretende Probleme gefunden, auch, wenn’s mal unkonventionell war. Heute machen die nur noch, was in ihrem Prozesshandbuch steht.“

Die Tür geht auf, ein junger Arzt blickt hinein und sagt: „Herr Schulze, bitte!“

Ein Herr auf der anderen Seite des Raums steht auf, geht zu dem jungen Arzt, und drückt ihm einen ausgefüllten Fragebogen in die Hand. Der junge Arzt sieht den Patienten etwas

11  Grundsätze der Prozessoptimierung

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irritiert an. Während die beiden in Richtung der Sprechzimmer gehen, hört man ihn noch sagen: „Das wäre ja wirklich nicht nötig gewesen …“

Dann sind die beiden verschwunden. „Ja, Schulze ist ein häufiger Name hier …“

sagt der Patient neben Ihnen. „… Ach, aber es tut gut, sich mal etwas Luft zu verschaffen. Außer Tante Erna konnte ich das bisher nie jemandem erzählen. Ich will aber auch nicht, dass das alles zu negativ klingt. In dem betreuten Wohnen, da kümmern sich die Pädagogen wirklich rührend. Selbst kochen tun sie für uns. Da bleibt zwar dann manchmal etwas zu wenig Zeit für die sozialpädagogischen Gespräche, aber sie folgen jedenfalls dem eisernen Vorsatz unseres Chefarztes, den Patienten immer in den Mittelpunkt zu stellen.“

11.3 Aufgaben 11.3.1 Positive und negative Wirkungen von Prozessmanagement a) Welche positiven Wirkungen sollen durch Prozessmanagement erreicht werden? b) Welche unerwünschten Wirkungen können damit verbunden sein?

11.3.2 Mögliche positive und negative Wirkungen von Prozessmanagement in St. Eligius a) Nennen Sie für möglichst viele der genannten positiven Wirkungen des Prozessmanagements mithilfe von Textfundstellen Beispiele aus der Fallstudie, für die Sie Optimierungsbedarf in Richtung dieser erwünschten Wirkungen sehen. Erläutern Sie, falls notwendig, Ihre Antwort. b) Für welche unerwünschten Wirkungen können Sie Beispiele in der Fallstudie finden?

11.3.3 Verschlimmbesserungen durch Prozessmanagement in St. Eligius a) Bitte identifizieren Sie bereits durchgeführte Prozessmanagementmaßnahmen und beschreiben Sie, was sie grundsätzlich hätten erzielen sollen. b) Inwiefern wurde dieses Ziel Ihres Erachtens nicht erreicht bzw. die Situation sogar verschlimmbessert?

152

W. Rogowski und E. Larjow

11.3.4 Möglichkeiten zur Optimierung von Prozessen Beschreiben Sie möglichst viele der genannten Phänomene als Prozessschritte, jeweils mit einem Ist-Zustand sowie einer damit verbundenen Optimierungsmöglichkeit. Bitte orientieren Sie sich dabei an der grafischen Darstellung in Abb.  11.1 zu Möglichkeiten der Optimierung von Prozessen.

2

3

Weglassen

Verlagern 1

4

2

5

5 1

4

4

2

5

Keine Schleifen

1

3

3 6

1

2 Parallelisieren

5

4

2 5

4

4 Dauer 

5

2+3

1

17

4

Beschleunigen 1

17

3

Auslagern

Zusammenfassen

3

2

3

Ergänzen 1

4

5

6

4 Abb. 11.1  Optimierungsmöglichkeiten für Prozesse. (Quelle: eigene Darstellung nach Gadatsch 2013, S. 21)

11  Grundsätze der Prozessoptimierung

153

11.4 Lösungsvorschläge 11.4.1 Positive und negative Wirkungen von Prozessmanagement a) Die positiven Wirkungen von Prozessmanagement sind in der linken Spalte von Tab. 11.1 zusammengefasst. b) Die negativen Wirkungen von Prozessmanagement sind in der rechten Spalte von Tab. 11.1 zusammengefasst.

11.4.2 Mögliche positive und negative Wirkungen von Prozessmanagement in St. Eligius a) Exemplarische Textfundstellen, die Potenzial für positive Wirkungen von Prozessmanagement in St. Eligius aufzeigen, sind in Tab. 11.2 dargestellt. b) Exemplarische Textfundstellen für negative Wirkungen von Prozessmanagement in St. Eligius sind in Tab. 11.3 zusammengefasst. Tab. 11.1  Mögliche Wirkungen von Prozessmanagement Positive Wirkungen ▪ Steigerung der Ergebnisqualität ▪ Senkung der Prozessdauer ▪ Erhöhung der Mitarbeiter∗innen- und Patient∗innenzufriedenheit ▪ Senkung der Prozesskosten ▪ Steigerung der Unternehmenserlöse und Gewinne ▪ Förderung evidenzbasierter Medizin

Unerwünschte Wirkungen ▪ Bürokratie ▪ Verringerte Flexibilität bei spontanen Herausforderungen ▪ Verringerte Problemorientierung ▪ Verringerung der Mitarbeiter∗innen- und Patient∗innenzufriedenheit ▪ Erhöhte Kosten in der Einführungsphase (Prozessdauer; Anschaffungskosten)

Tab. 11.2  Textfundstellen für positive Wirkungen von Prozessmanagement in der Fallstudie Positive Wirkungen Textfundstellen, die Optimierungsbedarf anzeigen Steigerung der Ergebnisqualität ▪ „… erst heute wieder eine [MDK-]Prüfung, weil wir einen Schizophrenie-Patientin angeblich nicht leitliniengerecht behandelt [haben]“ ▪ „Warten Sie noch kurz, ich muss nur schnell den diensthabenden Arzt suchen …“ ▪ „… Sie werden sicher bald gut versorgt“ ▪ „Ja, Schulze ist ein häufiger Name hier“ Weitere Anmerkungen: Die Behandlung durch diensthabendes ärztliches Personal sollte sofort möglich sein. Ebenso ist die Sicherstellung, dass der/die richtige Patient∗in behandelt wird, ein absolutes Muss für eine erfolgreiche Behandlung.

(Fortsetzung)

154

W. Rogowski und E. Larjow

Tab. 11.2 (Fortsetzung) Positive Wirkungen Senkung der Prozessdauer

Erhöhung der Mitarbeiter∗innen- und Patient∗innenzufriedenheit

Senkung der Prozesskosten

Steigerung der Unternehmenserlöse und Gewinne Förderung evidenzbasierter Medizin

Textfundstellen, die Optimierungsbedarf anzeigen ▪ „Patient Meier wartet bereits eine halbe Stunde in meinem Sprechzimmer“ ▪ „… vergessene Patientenakte in das Sprechzimmer bringen“ ▪ „Erst später fanden wir das Protokoll der Visite … Die protokollieren ihre Visite immer erst im Nachhinein“ ▪ „Selbst kochen tun sie für uns. Da bleibt zwar dann manchmal etwas zu wenig Zeit für die sozialpädagogischen Gespräche …“ ▪ „… Ich hoffe sehr, es klappt mit meiner Bewerbung im Roten Kreuz Krankenhaus …“ ▪ „Ich halte das nicht mehr aus … zum dritten Mal drücken Sie mir Ihren blöden Zettel in die Hand“ ▪ „Und da krieg ich immer die Panik, dass alles wieder von vorne losgeht …“ ▪ „Wahnsinn, war ich erstmal am Boden“ ▪ „Ach, aber es tut gut, sich mal etwas Luft zu verschaffen. Außer Tante Erna konnte ich das bisher nie jemandem erzählen.“ „… erst heute wieder eine [MDK-]Prüfung, weil wir einen Schizophrenie-Patienten angeblich nicht leitliniengerecht behandelt [haben]“ Behandlungsfehler führen zu erhöhten Kosten. Weitere Hinweise zu Prozesskosten ergeben sich z. T. auch aus Angaben zu Prozessdauer. […] betriebswirtschaftlichen Kennzahlen im tiefroten Bereich […]. „Schizophrenie-Patienten angeblich nicht leitliniengerecht behandelt“ Das Implementieren von evidenzbasierten Patient∗innenpfaden fördert den systematischen Einbezug aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse.

11.4.3 Verschlimmbesserungen durch Prozessmanagement in St. Eligius a) Die bereits durchgeführten Prozessmanagementmaßnahmen sowie die Beschreibung des intendierten Ziels sind in Tab. 11.4 dargestellt. b) Inwiefern das jeweilige Ziel nicht erreicht bzw. die Situation sogar verschlimmbessert wurde, ist in der rechten Spalte von Tab. 11.4 zusammengefasst.

11  Grundsätze der Prozessoptimierung

155

Tab. 11.3  Textfundstellen für negative Wirkungen von Prozessmanagement in der Fallstudie Negative Wirkungen Bürokratie

Verringerte Flexibilität bei spontanen Herausforderungen

Verringerte Problemorientierung

Verringerung der Mitarbeiter∗innen- und Patient∗innenzufriedenheit

Textfundstellen, die Optimierungsbedarf anzeigen ▪ „Deswegen halte ich auch nicht so viel von Prozessmanagement und so Zeug, ständig diese Formulare überall, ich kann sie nicht mehr sehen.“ ▪ „… und verlässt eilig den Raum mit dem unausgefüllten Anamnesebogen“ ▪ „… drückt ihm einen ausgefüllten Fragebogen in die Hand … ‚Das wäre ja wirklich nicht nötig gewesen‘“ ▪ Durch starres Vorgehen beim Festlegen von Therapiezielen werden zuvor eingeleitete erfolgreiche Maßnahmen abgebrochen Übermäßige Dokumentation ohne qualitativen Mehrwert und ziellose Datensammlung (bzw. fehlende Aufklärung, wofür die Informationen erhoben werden) führen dazu, dass vorhandene Werkzeuge nicht genutzt werden. ▪ „… da mussten die alles dokumentieren, in so komplizierten Bögen. Da hatten die dann keine Lust drauf, weil ich nicht so ein Fall nach Schema F bin“ ▪ „… Plötzlich war keiner mehr da, wenn ich was hatte, weil sie dann nichts dokumentieren mussten.“ Hinweis auf fehlende individuelle Patient∗innenzuwendung aufgrund komplizierter Dokumentationsformulare ▪ „Immer Schema F abarbeiten, statt sich um das Wohl der Patienten zu kümmern. […] Früher wurde da immer irgendwie eine Lösung für spontan auftretende Probleme gefunden, auch, wenn’s mal unkonventionell war. Heute machen die nur noch, was in ihrem Prozesshandbuch steht.“ ▪ „Klar, auch wir haben das ja schon vor längerem aufgedrückt bekommen […] aber es ist einfach nur lästig“ ▪ „Ich halte das nicht mehr aus … zum dritten Mal drücken Sie mir ihren blöden Zettel in die Hand“

11.4.4 Möglichkeiten zur Optimierung von Prozessen Die Optimierungsmöglichkeit Weglassen könnte man in St. Eligius auf den Teilschritt Patient∗innenerfassungsbogen ausfüllen innerhalb des Prozesses Patient∗innenaufnahme anwenden. Im Ist-Zustand wird bei jedem bzw. jeder Patient∗in der gesamte Fragebogen ausgehändigt und ausgefüllt. Nach dem Einlesen der Versicherungskarte und dem Abgleich mit Eintragungen im Informationssystem kann auf den Teilschritt Erfassungsbogen jedoch verzichtet werden, sofern die Stammdaten der Patient∗innen bereits vorliegen. Alternativ kann bei Vorliegen von Stamminformationen nur ein Teil des Fragebogens ausgehändigt und bearbeitet werden (z. B. Angaben über Veränderung des gesundheitlichen Zustands in den letzten Wochen). Auch der Prozess der Visitendurchführung lässt sich

156

W. Rogowski und E. Larjow

Tab. 11.4  Durchgeführte Prozessmanagementmaßnahmen in St. Eligius Durchgeführte Prozessmanagementmaßnahme Ziel Einführung des Effizienzsteigernde Patient∗innenerfassungsbogens Verlagerung (Erfassung von Patient∗innendaten am Anfang der Behandlung sollen unnötige Abfragen im späteren Verlauf ausgleichen)

Ergänzung zusätzlicher Dokumentation

Systematische Definition von Therapiezielen

Kann grundsätzlich sinnvoll sein, etwa für aufwandsgerechte Abrechnung oder zur Qualitätssicherung Wichtiger Schritt für Prozess- und Qualitätsmanagement (Entwicklung von Behandlungspfaden)

Verschlimmbesserung ▪ Fehlende Rückkopplung mit bestehenden Informationsressourcen (Patient∗innenakte) führt zu unvollständiger Datensammlung und damit Mehraufwand und Unzufriedenheit auf Seiten der Patient∗innen und Mitarbeiter∗innen. ▪ Fehlende interne Abstimmung, ob Information überhaupt notwendig für die Behandlung ist, führt zu unnötigen Schleifen durch wiederholtes Einholen von nicht benötigten Patient∗innendaten, Frustration und Irritation. ▪ Führt zu Kontaktvermeidung, um Dokumentation zu reduzieren. ▪ Visitenprotokoll ersetzt Beratung/Aufklärung und führt zu Informationslücken. Abbruch bereits eingeleiteter Behandlungsschritte bei Neu-/ Wiederaufnahme

durch das Weglassen des zusätzlichen Teilschritts Übertragung von Notizen in die Patient∗innenakte optimieren, indem bspw. die Erstellung eines Visitenprotokolls ausschließlich über elektronische Dokumentation mit tragbaren Geräten erfolgt. Auslagern ist im beschriebenen Fall eine geeignete Optimierungsmöglichkeit für den Prozess der Essenszubereitung. Im Ist-Zustand wird er durch das sozialpädagogische Personal ausgeführt, was nach Aussage des Patienten bzw. der Patientin dazu führt, dass Kapazitäten für die Ausführung ihrer sozialpädagogischen Aufgaben fehlen. Essenszubereitung lässt sich jedoch gut an professionelle Dienstleister auslagern. Optimierungsmöglichkeit Zusammenfassen ist sowohl für die bereits genannte Erstellung eines Visitenprotokolls geeignet als auch für den Prozess der Kalenderführung. Derzeit findet eine doppelte Kalenderführung statt. Das Zusammenführen in einem elektronischen Kalender reduziert die Komplexität und die gesamte Prozessdurchlaufzeit ebenso wie die Fehleranfälligkeit.

11  Grundsätze der Prozessoptimierung

157

Im beschriebenen Fall könnte das Parallelisieren auf die Teilschritte des Prozesses der Visitendurchführung angewandt werden. So können die Prozessteilschritte ärztliche Begutachtung und Erstellung eines Visitenprotokolls zeitgleich verlaufen, indem das Protokollieren durch eine∗n Mitarbeiter∗in erfolgt, die bzw. der die Visite mitbegleitet. Alternativ kann das parallele Dokumentieren durch Nutzung elektronischer Geräte erfolgen. Beim Prozess Patient∗innenaufnahme ist das Verlagern des Teilschritts Patient∗innenerfassungsbogen ausfüllen eine ebenfalls denkbare Verbesserungsmaßnahme zum beschriebenen Ist-Zustand. So kann das Aushändigen eines angepassten Fragebogens am Ende der Behandlung, z. B. im Rahmen des Entlassmanagements, dazu dienen, wertvolle Einblicke in die Kund∗innenzufriedenheit mit den erlebten Geschäftsabläufen zu erhalten. Die Verbesserung durch Beschleunigen kann sowohl im Rahmen des Digitalisierens von Informationen aus der Visite wie auch durch verkürzte bzw. automatisierte Dokumentationsmodelle in der Einrichtung des betreuten Wohnens erfolgen. Doppelte Kalenderführung, das separate Bringen einer Akte in das Behandlungszimmer und wiederholte Datenlieferung durch Patient∗innen aufgrund unvollständiger Informationsabfragen sind Hinweise darauf, dass die Ist-Situation noch Potenzial für Schleifen vermeiden bereithält. Doch nicht nur das Verkürzen oder Streichen von Teilschritten kann die Abläufe in St. Eligius verbessern. Das Ergänzen der Behandlungszimmervorbereitung um den Teilschritt Akte bereitlegen oder der Visitendurchführung um den Teilschritt Patient∗innenaufklärung können ebenfalls zu höherer Effizienz beitragen. Weitere Beispiele für ergänzende Maßnahmen im Fallbeispiel sind: • Therapiezieldefinition um Abgleich mit vorhandenen Informationen ergänzen und damit die Integration von vorherigen Diagnosen und Maßnahmen sicherstellen • Test auf Namensgleichheit bei Patient∗innenbegrüßung hinzufügen • Ergänzen des Prozessschritts Zufriedenheitsbefragung spätestens im Entlassungsmanagement, um Feedbackmöglichkeiten für Patient∗innen zu schaffen

Literatur ECKARDT, J. R. (2006): Praxishandbuch Integrierte Behandlungspfade. Intersektorale und sektorale Prozesse professionell gestalten. Heidelberg [u. a.]: Economica [u. a.]. GADATSCH, A. (2013): IT-gestütztes Prozessmanagement im Gesundheitswesen. Wiesbaden: Springer Vieweg. GADATSCH, A. (2015): Geschäftsprozesse analysieren und optimieren. Praxistools zur Analyse, Optimierung und Controlling von Arbeitsabläufen. Wiesbaden: Springer Vieweg. MDK (2019): Das gemeinsame Informationsportal der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung, Medizinische Dienste der Krankenversicherung (MDK) in den Ländern, Medizinischer Dienste des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), [online] https://www.mdk.de/ [23.03.2019]

Business Process Model and Notation

12

Wolf Rogowski und Walter Swoboda

Zusammenfassung

Ein wichtiger Aspekt der Leistungserstellung ist die Planung und Optimierung von medizinischen und administrativen Prozessen. Insbesondere wenn Prozesse im Zuge verstärkter Digitalisierung im Gesundheitswesen durch Informationstechnologien abgebildet und unterstützt werden sollen, bedarf es einer präzisen und allgemein konsentierten Notation zur grafischen Darstellung von Prozessen. Ein weithin anerkannter Standard hierfür ist die Business Process Model and Notation (BPMN). Nach einer allgemeinen Einführung in Prozessmodellierung und in BPMN wird im Rahmen dieser Fallstudie das bereits eingeführte Szenario der Notaufnahme St. E ­ ligius vertieft. Zur Vorbereitung einer Neustrukturierung der Notaufnahme werden verschiedene Aspekte eines verbal beschriebenen neuen Aufnahmeprozesses mit BPMN modelliert und die Leistungsfähigkeit verschiedener Prozessnotationen miteinander ­verglichen.

W. Rogowski (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] W. Swoboda Institut Digitale Transformation, Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_12

159

160

W. Rogowski und W. Swoboda

12.1 Hintergrund Erfolgreiche Prozessoptimierung setzt voraus, dass die verschiedenen beteiligten Akteur∗innen ein gemeinsames Verständnis der Prozessabläufe entwickeln und diese dokumentieren. Verbale Beschreibungen stoßen insbesondere bei komplexeren Abläufen schnell an ihre Grenzen, sodass hier typischerweise auf grafische Darstellungen zurückgegriffen wird. Für grafische Darstellungen gibt es verschiedene Möglichkeiten. Sie können zum einen auf einer intuitiv und spontan erstellten Abfolge von Pfeilen mit ergänzenden Erläuterungen beruhen, was den Vorteil hat, dass es hierfür keiner Vorbereitung oder ­Ausbildung bedarf. Nachteil ist jedoch, dass die Grafiken möglicherweise nicht für alle Beteiligten eindeutig verständlich sind. Um dem zu begegnen, sind verschiedene, standardisierte Prozessnotationen entstanden, die sich aus festgelegten Symbolen zusammensetzen. Beispiele hierfür sind z. B. die sogenannte Ereignisgesteuerte Prozesskette mit einer Anzahl festgelegter Symbole, wie z. B. Pfeilen und Rauten für Verzweigungen. Im Bereich der evidenzbasierten Medizin wird zur Abbildung klinischer Algorithmen von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften eine Notation aus vier Symbolen für klinischen Zustand, Entscheidung, Handlung und logische Sequenz empfohlen (AWMF 2004). Eine vergleichende Darstellung von Notationen findet sich z. B. bei Gadatsch (2013a, S. 64 ff.) oder mit Schwerpunkt auf Bezügen zum Gesundheitswesen z. B. ebenfalls bei Gadatsch (2013b, S. 36 ff.). Gerade wenn komplexe Sachverhalte abgebildet werden sollen und wenn eine Prozessdarstellung auch dazu dient, dass Prozesse mit digitalen Medien unterstützt oder ggf. mit ihren Dauern, Kosten und Effekten modelliert werden sollen, benötigen Softwareentwickler∗innen jedoch hoch präzise Angaben. Eine Prozessnotation, die hierbei häufig eingesetzt wird, ist Business Process Model and Notation (BPMN). Sie wird von dem Konsortium Object Management Group gepflegt, einem herstellerübergreifenden Konsortium zur Entwicklung von Programmierungsstandards. Details zur Notation können kostenfrei von der Website heruntergeladen werden (Object Management Group 2019). Zur praktischen Anwendung der Notation für die Prozessmodellierung und -simulation gibt es eine Reihe unterstützender Software-Angebote, wie z. B. den Bizagi Modeler, der kostenfrei auf der Website des Unternehmens zur Verfügung gestellt wird. Das folgende Fallbeispiel orientiert sich stark an dem Buchbeitrag Prozessoptimierung und Prozessdokumentation: Funktioniert BPMN in der Praxis? von Walter Swoboda (Swoboda 2016) aus dem Buch Dienstleistungsmanagement im Krankenhaus (Pfannstiel et al. 2016). Ein Großteil des Textes besteht aus wörtlichen Zitaten mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag für den Wiederabdruck.

12.2 Fallstudie: BPMN für die Notaufnahme St. Eligius Leider ist in Bezug auf die Krankenhausaufsicht für St. Eligius der Worst Case eingetreten: Bei dem Vorfall im Wartezimmer (s. Fallstudie Die suboptimalen Prozesse im Krankenhaus St. Eligius in Kap. 11) saß zufällig ein Mitarbeiter der Krankenhausaufsicht mit

12  Business Process Model and Notation

161

im Wartezimmer, der eigentlich einen Termin mit der Krankenhausleitung vereinbaren und sich vorab einen Einblick in den Alltag des Krankenhauses verschaffen wollte. Zwar ist er Klagen von Patient∗innen gewohnt und legt nicht jede Aussage über angeblich schlecht funktionierende Behandlungsprozesse auf die Goldwaage – aber dass in der Psychiatrie ein Patient mit offensichtlicher Gefahr der Selbstschädigung allein gelassen wird und dass in der Notaufnahme kein ärztliches Personal anwesend war (er hatte auf die Uhr geschaut  – es hatte eine Viertelstunde gedauert, bis der Arzt kam), brachte ihn auf den Plan. Zudem war die offensichtliche Verwechselung zweier Patienten nicht aufgefallen – selbst nach einer weiteren Stunde hatte niemand nach dem richtigen Herrn Schulze gefragt. Hier hätte es ein Krankenhausinformationssystem (KIS) geben müssen, welches systematisch Patient∗innendaten von der Aufnahme bis zur ­Entlassung bzw. Verlegung dokumentiert. Das Krankenhaus bekam daher die Auflage, einen systematischen, in ein KIS integrierten Prozess der medizinischen Triage einzuführen – wird die Auflage nicht umgesetzt, droht die Schließung des Hauses. Auf Sie wartet ein Sprung ins kalte Wasser als Expert∗in für Medizinmanagement und Pro­ zessoptimierung, der größer kaum sein könnte: Die Geschäftsführung beauftragt Sie mit der Vorbereitung dieser Einführung. Aus Ihrem Studium wissen Sie noch, dass die medizinische Triage der grundlegende klinische Prozess in einer medizinischen Nothilfe-Einrichtung ist. Sie stellt ein in der Notfallmedizin etabliertes Verfahren zur Einteilung ankommender Patient∗innen nach Behandlungsdringlichkeit dar. Es existieren verschiedene Modelle mit unterschiedlichen Notfallkategorien. Eines davon ist etwa der Emergency Severity Index (ESI) mit fünf Kategorien, bei denen 1 und 2 für sofortige Behandlung notwendig und 3–5 für Patient∗innen mit niedrigerer Behandlungspriorität stehen. Sie initiieren zwei Treffen mit der Klinikleitung, in der Anforderungen an die Sollprozesse benannt wurden, und bilden ein Team mit Teilnehmer∗innen aus Pflege, Medizin, IT-Abteilung und Verwaltung, in der die geforderten Merkmale erfasst wurden. Folgende notwendige Kernfunktionalitäten des Systems bildeten sich dabei heraus: • • • •

medizinische Triage aller Patient∗innen zweigleisiges Vorgehen bei Patient∗innen der hohen und niedrigen Triagestufen systematische Einbindung in das KIS systematische Erfassung von Patient∗innen mit Fallnummern, die möglichst frühzeitig vergeben werden sollten (auch für die Dokumentation im KIS) • Oberärzt∗innen sollen jederzeit Überblick über Patient∗innen und Behandlungskapazitäten haben • mehr Patient∗innenzufriedenheit durch automatische Information, wenn Patient∗in an der Reihe ist Nach einer Analyse der relevanten Guidelines und Ausschöpfung allen Optimierungspotenzials definiert das Projektteam innerhalb mehrerer Workshops zur bestmöglichen Umsetzung der Prozessziele die Sollprozesse, die im Folgenden beschrieben sind.

162

W. Rogowski und W. Swoboda

1. Startaktivität und Basisprozess Der Prozess startet, wenn Patient∗innen in die Notaufnahme gelangen. Als Erstes erfolgt die Triage, eine Einteilung in fünf ESI-Einschätzungsgruppen. Danach wird zweigleisig weiterverfahren: Bei Patient∗innen mit Triagestufe 1–2 hat die medizinische Behandlung Vorrang. Deshalb werden nur für die Leistungsanforderungen und Dokumentation vorbereitete Dummy-Fallnummern vergeben und die Patient∗innen werden ohne weitere Verzögerung behandelt (mit allen dazugehörigen Aktivitäten wie z. B. Differentialdiagnostik am Anfang und Dokumentation am Ende). Patient∗innen mit Triagestufe 3–5 kommen in die Normalaufnahme und nach den Aufnahmeaktivitäten in eine Warteschleife. Sie werden nur dann behandelt, wenn gerade keine Patient∗innen mit höheren Triagestufen versorgt werden müssen. Der Basisprozess der Notaufnahme endet, nachdem die Patient∗innen entlassen bzw. auf eine andere Station verlegt wurden. 2. Triagegruppen 3–5: Normalaufnahme, Warteschleife und Patient∗innen-­Alar­ mierung Bei der Normalaufnahme der weniger kritischen Fälle (Triagegruppen 3–5) werden neben der Triagestufe auch andere Patient∗innendaten sowie der Aufnahmezeitpunkt erfasst und in das KIS übermittelt. Mit der Triagegruppe steht auch die eventuell einzuhaltende maximale Wartezeit bis Behandlungsbeginn fest (Patient∗innen der Stufe 3 müssen nach maximal 30 Minuten behandelt werden, für Patient∗innen der Stufen 4 und 5 gibt es keine festen Zeitfenster). Dieser Zeitpunkt wird ebenfalls vom KIS ermittelt. Die Patient∗innen werden von einem mobilen Trackinggerät benachrichtigt, wenn ihre Behandlung erfolgen soll. Dieses Trackinggerät wird nach der Aufnahme ausgehändigt und die jeweiligen Patient∗innendaten werden elektronisch zugeordnet. Gerade für nicht so kritische Fälle stellt diese automatische Benachrichtigungseinrichtung eine wesentliche Erleichterung dar, da sie ein temporäres Verlassen des eigentlichen Behandlungsbereichs ermöglicht, z. B. um Anrufe zu tätigen oder anderweitige Dinge zu erledigen. Da in der Nothilfe ein∗e Patient∗in nicht von der Ankunftsreihenfolge auf seinen/ihren Behandlungsbeginn schließen kann, erwarten sich die tätigen Kliniker∗innen davon eine deutliche Entspannung. Im Behandlungsfall erfolgt auch gleich die Übermittlung der Nummer des zugeteilten Behandlungsraums. Neben der maximalen Wartezeit bis Behandlungsbeginn dokumentiert das IT-­ System, ob die Behandlungskapazitäten frei oder belegt sind. Darauf aufbauend, können zwei Dinge den Tracker und in Folge die Behandlung auslösen: Die Warteschleife kann zum einen dadurch unterbrochen werden, dass Behandlungsressourcen frei werden. Zum anderen wird eine Fehlermeldung ausgeworfen, wenn der/die Patient∗in länger als die maximale Wartezeit in der Warteschleife verbringt. In diesem Falle wird ausnahmsweise die Behandlung von Patient∗innen mit niedrigerer Priorität zeitweilig unterbrochen. Hier sind nicht triviale und medizinisch wichtige Entscheidungen zu treffen. Das Freimachen von Kapazität mit niedrigerer Priorität geschieht daher in en-

12  Business Process Model and Notation

163

ger Absprache mit einem bzw. einer Notfall-Manager∗in, da ein autonom arbeitender Algorithmus dies nicht leisten kann. Die Informationen zu den Patient∗innen in der Warteschleife und zu den mit ­niedrigerer Priorität beschäftigten Kapazitäten sowie sonstige Daten aus dem KIS ­stehen aufbereitet in einer dafür entwickelten Anzeige zur Verfügung. 3 . Dateneingabe der Triagegruppen 1–2 und Gesamtprozess Das Ergebnis der Triage wird herkömmlich in Papierform dokumentiert, da nicht genügend mobile IT-Geräte zur Verfügung stehen und die Triage ein weitgehend ortsungebundener und patient∗innennaher Prozess ist. Bei Patient∗innen mit Triagestufe 3–5 wird dieser Triagebogen gemeinsam mit den Patient∗innen in die Station zur Normalaufnahme weitergeleitet und dessen Inhalt gemeinsam mit den sonstigen Patient∗inneninformationen im KIS erfasst. Bei Patient∗innen mit der Triagestufe 1–2 wird der Bogen in das Büro zur mobilen Aufnahme gebracht. Insgesamt gibt es also drei Bereiche der Notaufnahme: Zum Ersten ist dies der Bereich Medizin, in dem Triage, Warteschleife und Behandlung stattfinden. Hiervon zu unterscheiden ist der Bereich Normalaufnahme, in der die Daten der Patient∗innen mit Triagestufen 3–5 eingegeben und zum Schluss die Verlegung bzw. Entlassung durchgeführt wird sowie ggf. die Tracker (bei Patient∗innen mit höheren Triagestufen) wieder eingesammelt werden. Der dritte Bereich ist schließlich das Büro für die mobile Aufnahme. Für Patient∗innen der Triagestufen 1–2 wird der Triagebogen hierher gebracht, wo auch die Patient∗innenakte unabhängig von der Behandlung nachträglich angelegt wird und die Daten einschließlich der Triagestufe bis spätestens zur Entlassung bzw. Verlegung ins KIS eingegeben werden. Nie wieder sollen notwendige Ressourcen für die Notaufnahme fehlen, und zudem soll den Patient∗innen größtmögliche Transparenz gewährleistet werden, indem sie jederzeit über ihren erwarteten Behandlungszeitpunkt informiert sind. Ihre nächste Aufgabe besteht nun darin, diese definierten Prozesse so zu dokumentieren, dass sie für die Softwareentwicklung in Routinen und Module des KIS umsetzbar sind. Hierfür soll eine Notation zur Beschreibung von Prozessen verwendet werden.

12.3 Aufgaben 12.3.1 Vergleich von Prozessnotationen a) Wie können Prozessabläufe dargestellt werden? b) Worin besteht der Nutzen standardisierter Prozessnotationen? c) Bitte recherchieren Sie im Internet nach den Notationen EPK, BPMN und den Empfehlungen der AWMF für die Darstellungen klinischer Algorithmen. Vergleichen Sie die drei Prozessnotationen.

164

W. Rogowski und W. Swoboda

d) Nach welchen Kriterien würden Sie eine Notation für die Prozessbeschreibung ­auswählen? e) Welche scheint Ihnen am geeignetsten zur Darstellung der oben genannten Prozesse?

12.3.2 Anwendung einer Notation auf das Fallbeispiel a) Bitte stellen Sie den Basisprozess der Nothilfe mithilfe von BPMN dar (d. h. eine möglichst einfache Darstellung ohne Details z. B. zur Datenspeicherung oder der Kapazitätsplanung). b) Bitte stellen Sie den Teilprozess für die Triagegruppen 3–5 in BPMN dar. Anzeigen können ergänzend zur regulären Notation als Monitor dargestellt werden, das KIS als ein Zylinder, der Notfallmanager als Strichmännchen. c) Bitte stellen Sie den vollständigen Prozess in BPMN dar.

12.4 Lösungsvorschläge 12.4.1 Vergleich von Prozessnotationen a) Prozesse können sehr unterschiedlich dargestellt werden. Naheliegend sind insbesondere: a. narrative Beschreibungen, etwa in einem Protokoll eines Projektmeetings, in dem ein Prozess diskutiert wird; b. ad-hoc generierte grafische Darstellungen, bei dem ein Prozess mit spontan entwickelten Symbolen grafisch dargestellt wird; c. standardisierte Notationen (z. B. Business Model Process and Notation, BPMN), in denen ein Prozess mit vorab festgelegten, standardisierten Symbolen dargestellt wird. b) Im Vergleich zu narrativen Beschreibungen oder ad-hoc generierten Darstellungen ­haben standardisierte Prozessnotationen eine Reihe von Vorteilen, da im Laufe des Entwicklungsprozesses für viele auftretende Probleme bereits Lösungen gefunden wurden. Diese beinhalten z. B. a. eindeutige Darstellung durch klare Definition einzelner Symbole; b. je nach Notation ggf. eine Vielfalt etablierter Symbole zur Darstellung unterschiedlichster Details; c. Verständnis der Symbole über die an der Entwicklung beteiligten Personen hinaus, ggf. sogar disziplinübergreifend;

12  Business Process Model and Notation Abb. 12.1 Prozessnotation nach AWMF. (Quelle: eigene Darstellung nach AWMF 2004)

165

Standardelemente zur Darstellung klinischer Algorithmen Klinischer Zustand

Entscheidung

Handlung Logische Sequenz

1

Nummerierung der Symbole

d. für einige Notationen: Verfügbarkeit von Software zur grafischen Darstellung und ggf. Weiterbearbeitung der dargestellten Prozesse. c) Es gibt eine Vielzahl von Notationen für Prozesse (vgl. z. B. Gadatsch 2013a). a. Die Notation der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) stellt den Standard zur Visualisierung klinischer Behandlungsschritte im Rahmen evidenzbasierter Leitlinien dar. Sie ist daher unter Mediziner*innen weit verbreitet. Aufgrund der geringen Zahl verfügbarer Symbole sind die Möglichkeiten, mithilfe dieser Notation Details klinischer Abläufe abzubilden, jedoch sehr begrenzt. Abb. 12.1 gibt eine Übersicht über die Elemente der Notation nach den AWMF-Vorgaben (AWMF 2004). b. Die Ereignisorientierte Prozesskette (EPK) ist eine Notation, die zur Modellierung von Geschäftsprozessen sehr weit verbreitet ist. Die Zahl verfügbarer Symbole in dieser Notation ist sehr viel größer. Die Basisnotation enthält z. B. neben Elementen, die klinische Zustände (in EPK: Ereignisse) oder Handlungen (in EPK: Funktion) abbilden, Elemente wie verschiedene logische Operatoren, Informationsobjekte oder Zuordnungen von Ressourcen oder organisatorischen Einheiten. Die Prozessnotation nach EPK ist in Abb. 12.2 dargestellt. c. Die Business Process Model and Notation (BPMN) ist eine grafische Methode zur Prozessmodellierung, die auf internationalen Standards beruht. Sie beinhaltet eine Vielzahl normierter Symbole, mit denen sehr unterschiedliche fachliche oder technische Aspekte von Prozessen abgebildet werden können. Sie verbindet eine betriebswirtschaftliche mit einer technischen Sicht auf Prozesse (Gadatsch 2013a, S. 85 ff.).

166

W. Rogowski und W. Swoboda

Symbol

X O R

Benennung

Bedeutung

Ereignis

Beschreibung eines eingetretenen Zustandes, von dem der weitere Verlauf des Prozesses abhängt

Funktion

Beschreibung der Transformation von einem Inputzustand zu einem Outputzustand

Logischer Operator „exklusives oder“

Logische Verknüpfungsoperatoren beschreiben die logische Verknüpfung von Ereignissen und Funktionen.

Logischer Operator „oder“

Logischer Operator „und“ Organisatorische Einheit

Beschreibung der Gliederungsstruktur eines Unternehmens

Informationsobjekt

Abbildung von Gegenständen der realen Welt

Kontrollfluss

Zeitlich-logischer Zusammenhang von Ereignissen und Funktionen

Datenfluss

Beschreibung, ob von einer Funktion gelesen, geschrieben oder geändert wird.

Zuordnung

Zuordnung von Ressourcen/organisatorischen Einheiten

Prozesswegweiser

Horizontale Prozessverknüpfung

Abb. 12.2  Prozessnotation nach EPK. (Quelle: eigene Darstellung nach Gadatsch 2013a, S. 79)

d) Kriterien zur Auswahl einer Notation könnten z. B. folgende sein (vgl. z. B. Gadatsch 2013a, S. 100 ff.): a. Anwender*innenfreundlichkeit (bzw. Einfachheit der Modellierung) b. genügend Detaillierung bzw. Verfügbarkeit von Symbolen zur Beschreibung des vorliegenden Problems bzw. der relevanten Charakteristika des Prozesses c. Verbreitung unter Nutzer∗innen bzw. Schulungsbedarf bei Neueinführung (bei der Entwicklung klinischer Pfade ist z. B. denkbar, dass sich das Team zur Prozessbe-

12  Business Process Model and Notation

Triagestufe 3-5

Normalaufnahme

167

Warteschleife

Triage

Behandlung

Triagestufe 1-2

Zuteilung vorbereiteter DummyFallnummer

Entlassung/ Verlegung

Vollaufnahme im weiterenVerlauf durch mobile Aufnahme (zeitlich unkritisch)

Abb. 12.3  Basisprozess Nothilfe. (Quelle: Swoboda 2016, S. 329)

schreibung der AWMF-Notation bedient, obwohl dort nur relativ wenige Symbole zur Beschreibung vorliegen, da sie den prozessbeteiligten Ärzt*innen am vertrautesten ist) d. Verfügbarkeit von Software zur Prozessdarstellung und ggf. Implementierung in eine IT-Infrastruktur e) Nachdem der beschriebene Prozess sehr komplex ist und nachdem es neben der ­Prozessbeschreibung auch um eine Umsetzung im Krankenhausinformationssystem geht, scheint die Verwendung einer so weit entwickelten Prozess-Sprache wie BPMN ratsam.

12.4.2 Anwendung einer Notation auf das Fallbeispiel a) In Abb. 12.3 wird der Basisprozess zur Nothilfe dargestellt. b) Der Teilprozess für die Triagegruppen 3–5 kann in BPMN wie in Abb. 12.4 dargestellt werden. c) Die Abb. 12.5 zeigt die Darstellung des Gesamtprozesses zur Nothilfe in BPMN.

Maximale Wartezeit abgelaufen

NotfallManager

Aushändigen Positionstracker

Mit niedrigerer Priorität beschäftigte Kapazitäten freimachen

Warteschleife

Behandlungskapazität frei

Abb. 12.4  Teilprozess für die Triagegruppen 3–5. (Quelle: Swoboda 2016, S. 330)

Aufnahme und Dateneingabe

Binden Positionstracker

Übernahme Triagestufe, Errechnen der max. Behandlungszeit

KIS

Tracker aktiv

Übersicht Patienten/ Behandlungskapazitäten

Behandeln/ Dokumentieren

Behandlungskapazität belegt

168 W. Rogowski und W. Swoboda

Notarztwagen

Patient kommt liegend

Patient kommt gehend

Triagebogen, vorl. Fallnummer

Triagebogen, vorl. Fallnummer

Triage

3-4

Triagebogen

1-2

Zeitlich unkritisch

Mittels vorbereiteter Dummy-Nummern

Triagestufe?

Übersicht Patienten/ Behandlungskapazitäten

Aufnahme und Dateneingabe

Warteschleife

Alternativ über KIS

NotfallManager

Behandlungskapazität frei

Binden Positionstracker

Mit niedrigerer Priorität beschäftigte Kapazitäten freimachen

Aushändigen Positionstracker

Abb. 12.5  Gesamtprozess Nothilfe. (Quelle: Swoboda 2016, S. 331)

Notaufnahme

Triagebogen

PatientenStandort

Normalaufnahme

Medizin

Mobile Aufnahme

KIS

Behandeln/ Dokumentieren

Tracker aktiv

Tracker-Anzeige: Behandlungsbenachrichtigung, Untersuchungsraum

Maximale Wartezeit abgelaufen

Triagestufe

Aufnahme und Dateneingabe

Behandlungskapazität: Triple aus Raum, Arzt, Pflege

Behandlungskapazität frei

Behandlungskapazität belegt

Übernahme Triagestufe, Errechnen der max. Behandlungszeit

Entlassen/ Verlegen/ ev. Tracker einsammeln

Ende

12  Business Process Model and Notation 169

170

W. Rogowski und W. Swoboda

Literatur AWMF (2004): Erarbeitung von Leitlinien für Diagnostik und Therapie – methodische Empfehlungen. [online] http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Werkzeuge/Publikationen/ methoden.pdf [23.03.2019] GADATSCH, A. (2013a): Grundkurs Geschäftsprozess-Management. Methoden und Werkzeuge für die IT-Praxis: eine Einführung für Studenten und Praktiker. 7., akt. Aufl., Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag. GADATSCH, A. (2013b): IT-gestütztes Prozessmanagement im Gesundheitswesen. Wiesbaden: Springer Vieweg. OBJECT MANAGEMENT GROUP (2019): Business Process Model and Notation, [online] http:// www.bpmn.org/ [23.03.2019] PFANNSTIEL, M.  A., MEHLICH, H. & RASCHE, C. (2016): Dienstleistungsmanagement im Krankenhaus. 1. Aufl. 2016, Wiesbaden: Springer Gabler. SWOBODA, W.  J. (2016): Prozessoptimierung und Prozessdokumentation. Funktioniert BPMN in der Praxis?, Dienstleistungsmanagement im Krankenhaus. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 325–332.

Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme

13

Laura Maaß, Xiange Zhang und Julian Klinger

Zusammenfassung

Mit der Discrete Event Simulation (DES) können komplexe Systeme modelliert werden. Aus diesem Grund eignet sich das Tool zur Optimierung von Prozessen wie etwa dem in einer Notaufnahme. Diese Rettungsstellen werden charakterisiert durch ein hohes Aufkommen von Patient*innen, eine knappe Ressourcenverteilung und hohe Wartezeiten. Über DES kann einfach und schnell aufgezeigt werden, wie sich verschiedene Gestaltungen der Prozesse auf die Wartezeiten und Kosten in der Notaufnahme auswirken. In der folgenden Fallstudie wird die Computersoftware ARENA benutzt, um den Standardablauf der Versorgung von Patient*innen einer fiktiven Notaufnahme zu modellieren, Schwachstellen und Engpässe aufzuzeigen und schließlich mithilfe einer Umstrukturierung zu verbessern.

L. Maaß (*) SOCIUM, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] X. Zhang Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Klinger Newsenselab GmbH, Berlin, Deutschland Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020  W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_13

171

172

L. Maaß et al.

13.1 Hintergrund Mit Discrete Event Simulation (DES) bezeichnet man in der Regel die computerbasierte Simulation eines komplexen Systems. Dieses System ist typischerweise eine Einrichtung oder ein Prozess, welcher durch verschiedene Variablen charakterisiert wird. Diese beschreiben den Status des Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das Kernkonzept von DES beinhaltet Agent*innen, Attribute, Ereignisse und Ressourcen (Caro et  al. 2015). Agent*innen sind definiert als modellierte Objekte (z.  B.  Patient*innen), welche sich durch eine Reihe von Ereignissen in einem System bewegen und ggfs. Ressourcen konsumieren. Attribute sind individuelle Eigenschaften der Agent*innen (z.  B.  Alter, Krankheitsgeschichte oder die Ankunftszeit) und können sich über die Zeit verändern (Gadatsch 2013). Ereignisse innerhalb dieses Systems sind definiert als Dinge, die zu bestimmten Zeitpunkten im System geschehen und Einfluss auf die Agent*innen und die von ihnen konsumierten Ressourcen haben. Ressourcen schließlich sind in DES definiert als Objekte, welche eine Leistung für die Agent*innen erbringen. Während sie verwendet werden bzw. nicht verfügbar sind, können Warteschlangen und Engpässe entstehen (Gadatsch 2013; Caro et  al. 2015). Die Abb.  13.1 zeigt den grundsätzlichen Aufbau der Discrete Event Simulation. Eins der bekanntesten Programme für DES ist ARENA. Dieses liefert eines der umfangreichsten DES-Software-Pakete und ist für Studierende kostenfrei. Für die folgende Fallstudie wird das Programm ARENA benutzt, um ein Modell zu konzipieren. Die kostenfreie Version der Software zusammen mit einem Einführungsvideo ist auf der Website zum Programm des Herstellers Rockwell Automation Technologies Inc. (2019) zu finden. In der Toolbar des Programms bietet ARENA HELP bei auftretenden Problemen eine schnelle und einfache Hilfe. Die Software hat die Vorteile, dass sie sehr weit verbreitet und auf DES spezialisiert ist. Zusätzlich bietet sie viele verschiedene Funktionen. Jedoch ist ARENA, abgesehen von der kostenfreien Studentenversion, kostspielig. Alternativen zu ARENA sind die Programme SIMUL8 oder Anylogic. Alle drei zeichnen sich durch eine

Ressource

Konsum Attribut 1 Start

Attribut 2

Agent*in

Ereignis

Ende

Attribut n

Abb. 13.1  Einfaches Schema des Grundgerüsts von DES. (Quelle: eigene Darstellung nach Gadatsch 2013)

13  Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme

173

einfache Benutzeroberfläche sowie eine mögliche Animierung der Prozesse aus. Allerdings sind sie weniger flexibel und langsamer als die kostenfreien Alternativen R und C++, für die hingegen ein gewisses Programmierverständnis vorhanden sein sollte (Karnon et al. 2012). Für weitere Informationen zu DES wird das Lehrbuch von Gadatsch (2013) zum Thema IT-gestütztes Prozessmanagement im Gesundheitswesen empfohlen. Anwendungsbeispiele zu ARENA und DES finden sich bspw. in Artikeln von Karnon et al. (2012), Salleh et al. (2017) oder Marshall et al. (2015).

13.2 F  allstudie: Standardversorgung oder First View in der Notaufnahme? Lena Maier hatte in ihrem Public Health Studium immer großes Interesse am Thema Prozessoptimierung im Gesundheitswesen. Nach ihrem Studienende hat sie deshalb beschlossen, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Als frisch gebackene Prozessberatung LeMa Consult hat sie ihr Leistungsangebot bei einem städtischen Krankenhaus vorgestellt, in dem sie schon als Werkstudentin gearbeitet hatte, und war darüber prompt zu ihrem ersten Auftrag gekommen: der Optimierung der internistischen Notaufnahme. In einem ersten Gespräch mit der Chefärztin der Notaufnahme, Frau Dr. Petersen, erfährt sie, dass die Notaufnahme zu jeder Zeit mit 5 Internist*innen und 6 Pflegekräften bestückt ist. Eine Pflegekraft führt stets die Einstufung der Dringlichkeit der Patient*innen in zwei Kategorien (dringend und nicht dringend) mithilfe eines einheitlichen Triage-­ Verfahrens durch. Lena entscheidet sich nach dem Gespräch mit der Chefärztin, ein Assessment der Notaufnahme durchzuführen, indem sie die Problemherde mithilfe des Datenmanagementsystems und mit Befragungen der Mitarbeiter*innen identifizieren will. Zuerst sichtet sie die Eigenschaften der Patient*innen im System: Nur 15 % aller Patient*innen sind im vergangen Jahr mit dringenden Verletzungen und Erkrankungen in die Notaufnahme eingeliefert worden (Stufe 1). Die restlichen 85  % wurden der Kategorie nicht dringend zugeführt (Stufe 2). Aufgrund von Krankenhausvorgaben durfte die Pflegekraft, welche die Ersteinschätzung durchführte, diese Patient*innen allerdings nicht wegschicken. Alle Patient*innen werden innerhalb ihrer Dringlichkeitsstufe entsprechend dem FIFO-Verfahren (First In First Out) behandelt. Grundsätzlich wird zuerst Stufe 1 und dann Stufe 2 behandelt. Um den tatsächlichen Ablauf der Versorgung der Patient*innen zu beobachten, begleitet Lena eine Woche lang Pflegekräfte bei ihrer Arbeit in der Rettungsstelle. Die Warteund Behandlungszeiten extrahiert sie anschließend aus dem EDV-System der Notaufnahme. Daraus ergeben sich die folgenden Behandlungspfade und Zeiten für die Patient*innen: Im Durchschnitt trifft alle 7 Minuten ein*e neue*r Patient*in ein. Nach der Ankunft werden alle Patient*innen durch eine Pflegekraft in eine der o.  g. zwei Dringlichkeits-­ Kategorien eingeteilt. Die Einteilung (Triage) dauert zwischen 2 und 5 Minuten (am häufigsten 4 Minuten) für alle Patient*innen.

174

L. Maaß et al.

Für die Untersuchung und die Behandlung von Patient*innen der Triage-Gruppe 1 werden pro Patient*in ein*e Arzt/Ärztin sowie eine Pflegekraft benötigt. Diese Untersuchung dauert zwischen 5 und 15 Minuten (meistens 12 Minuten). Hinzu kommt die Zeit, die die Ärzt*innen für diagnostische Tests brauchen: 10 bis 60 Minuten (am häufigsten benötigen die Tests 20 Minuten) für alle Kategorie-1-Patient*innen. Alle Tests werden von Radiolog*innen und Laborant*innen durchgeführt und beanspruchen somit keine Ärzt*innen oder Pflegekräfte der Notaufnahme. Nachdem alle Tests beendet wurden, werden Patient*innen in Stufe 1 zwischen 40 und 80 Minuten (am häufigsten 60 Minuten) behandelt. Anschließend werden alle diese Patient*innen stationär aufgenommen. Patient*innen der nicht dringenden Kategorie 2 werden nach der Triage zurück ins Wartezimmer geschickt, bis ein*e Arzt/Ärztin für sie Zeit hat. Die Untersuchung und Behandlung übernehmen in dieser Kategorie jeweils ein Arzt bzw. eine Ärztin und eine Pflegekraft. Sobald ein Arzt bzw. eine Ärztin für die Patient*innen der Kategorie 2 Zeit hat, beträgt die Untersuchungszeit 2 bis 15 Minuten (meistens 7 Minuten). 80 % dieser Patient*innen benötigen anschließend diagnostische Tests, die zwischen 5 und 120 Minuten (am häufigsten 30 Minuten) benötigen (20 % können ohne Tests behandelt werden). Der hohe Wert von 120 Minuten liegt an zeitaufwendigen Blutuntersuchungen, die für eine Diagnose und Behandlung dringend benötigt werden. Diese Tests entfallen für Kategorie-­1-­Patient*innen in der Notaufnahme, da sie zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Sie werden nach der Notfallbehandlung auf der Station nachgeholt (was die kürzere Testzeit ergibt). Sobald die Ergebnisse vorliegen, dauert die Behandlung von Kategorie-2-Patient*innen zwischen 5 und 30 Minuten (am häufigsten 15 Minuten). Nach der Behandlung werden die Kategorie-2-Patient*innen entweder stationär aufgenommen oder nach Hause entlassen. Insgesamt werden 35  % aller in der Notaufnahme behandelten Patient*innen stationär aufgenommen. Im Gespräch mit den Mitarbeiter*innen der Notaufnahme findet Lena außerdem he­ raus, dass das Personal unglücklich mit der Handhabung von Laboruntersuchungen ist. Besonders stört die Mitarbeiter*innen, dass die Patient*innen der Kategorie 2 in einem Behandlungsraum und nicht im Wartezimmer auf ihre Testergebnisse warten und so ein Behandlungsbett für dringendere Patient*innen blockieren. Auf die Frage von Lena, weshalb nicht während der Triage Blut abgenommen und ans Labor geschickt werden würde, antworten die Mitarbeiter*innen, dass die Ärzt*innen das Labor anordnen müssen. Da die Ärzt*innen keine Triage durchführen, kann folglich kein Labor währenddessen angeordnet werden. Ebenfalls sind die Pflegekräfte damit unzufrieden, dass sie bei der Triage keine Patient*innen wegschicken dürfen, die die Notaufnahme wegen Nichtigkeiten (z. B. einem Schnupfen oder einer Prellung) aufsuchen. Laut den Mitarbeiter*innen wären dies 15 % aller Kategorie-2-Patient*innen. Für eine Erhebung der Kosten spricht Lena mit dem Leiter der Controlling-Abteilung des Krankenhauses, Herrn Fischer. Er teilt Lena mit, dass die Arbeitgeberkosten für Pflegekräfte in der Notaufnahme bei 16,50 € pro Stunde und bei Ärzt*innen im Durchschnitt bei 35 € pro Stunde liegen würden.

13  Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme

175

Nachdem Lena diese Informationen gesammelt hat, sucht sie in der Literatur nach einer Möglichkeit, um die Durchlaufzeit der Patient*innen (die Zeit, die sie von der Ankunft in der Notaufnahme bis zum Verlassen dieser verbringen) zu reduzieren, ohne viel neues Personal einstellen zu müssen. Sie findet dabei die First View Methode, bei der die Pflegekraft bei der Triage durch einen Arzt bzw. eine Ärztin ausgetauscht wird. Die Vorteile an diesem System sind, dass die erfahrenen Triage-Ärzt*innen Bagatell-Patient*innen direkt an den ambulanten Sektor verweisen können (diese werden folglich nicht in der Notaufnahme behandelt) und dass sie die Anordnungen für diagnostische Tests noch während der Triage geben können. Zum Beispiel können Triage-Ärzt*innen den Patient*innen direkt während der Triage Blut abnehmen und ins Labor schicken. Die Patient*innen nehmen anschließend im Wartezimmer Platz, bis der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin Zeit für sie hat. Sie blockieren während der Wartezeit auf ihre Testergebnisse folglich kein Behandlungszimmer mehr (Hogan et al. 2012). Ferner bedeutet dies, dass die Untersuchungszeit bei der Standardversorgung in diesem Modell entfällt (Triagezeit entspricht Untersuchungszeit), da die Triage-Ärzt*innen neben der Triage eine Untersuchung und Tests direkt anordnen können. Gleichzeitig wird ärztliche Arbeitszeit für die Triage gebunden – das bestehende System war eingerichtet worden, damit die Ärzt*innen sich primär auf die echten Notfälle konzentrieren können und die anderen Patient*innen in den Behandlungslücken abgearbeitet werden. Die Triage verlängert sich darum im First View Modell auf 5–15 Minuten (mit am häufigsten einer Länge von 10 Minuten).

13.3 Aufgaben 13.3.1 Probleme der Notaufnahme In der Fallstudie werden Probleme einer Notaufnahme geschildert, die durch LeMa Consult gelöst werden sollen. a) Welche Probleme bestehen in der Notaufnahme hinsichtlich der Standardversorgung? b) Wie könnte First View zur Lösung beitragen?

13.3.2 Einsatz von Discrete Event Simulation a) Was versteht man unter DES? Wie könnte Lena DES einsetzen und wie würde ihr das helfen? b) Skizzieren Sie zunächst auf Papier grob den Prozessablauf in der Notaufnahme, um sich einen Überblick zu verschaffen und die Softwareumsetzung vorzubereiten. c) Notieren Sie alle relevanten Zahlen (Dauern von Untersuchungen, Tests etc.; Ressourcenverbrauch; Triage-Verteilungen etc.), die für die folgende Softwareumsetzung relevant sind.

176

L. Maaß et al.

13.3.3 Softwareumsetzung mit ARENA Ab dieser Aufgabe arbeiten Sie mit der Software ARENA.  Bei den Zusatzmaterialien Fallstudie_Discrete-­Event-­Simulation1 finden Sie eine auf diese Aufgabe zugeschnittene Einführung als PDF, die Ihnen die ersten Schritte erklärt. Laden Sie für die Bearbeitung der Aufgabe die Datei DES_Anleitung-ARENA herunter. Das Durchgehen der Einführung direkt mit ARENA bearbeitet weitestgehend Teilaufgabe a). Sollten Sie eine Herausforderung suchen und eine gewisse Software-Affinität mitbringen, können Sie die Einführung gerne ignorieren und die folgenden Aufgaben nur mit der offiziellen Dokumentation von ARENA bearbeiten. Die Dokumentation können Sie in der Oberfläche von ARENA unter Help und unter ARENA Product Manuals aufrufen. a) Setzen Sie den Prozessablauf für die Standardversorgung innerhalb von ARENA um. Denken Sie an Ressourcen, Dauern und Verteilungen. Nutzen Sie dazu Ihre Notizen aus Abschn. 13.3.2. b) Speichern Sie eine separate Datei, um das Modell der Standardversorgung an die First View Methode anzupassen.

13.3.4 Simulation a) Simulieren Sie zunächst das Modell der Standardversorgung. Wie hoch sind durchschnittliche Durchlaufzeit, längste Wartezeit, Personalauslastung und Gesamtpersonalkosten? b) Simulieren Sie analog das Modell des First View. Welche Unterschiede fallen ins Auge? c) Gibt es bei der First-View-Methode weiteres Optimierungspotenzial? Führen Sie weitere Simulationen mit unterschiedlichen Personalplänen durch, um Ihre Vermutung zu überprüfen und halten Sie die zentralen Ergebnisse (s. Teilaufgabe a)) in einer Tabelle fest. d) Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse. Welche Variante/n würden Sie empfehlen und warum?

13.3.5 Kritische Reflexion Jedes Management-Tool hat spezifische Stärken und Schwächen, die bei der Bewertung der Lösungsvorschläge berücksichtigt werden sollten. a) Aus didaktischen Gründen berücksichtigt die dargestellte Simulation nicht alle relevanten Aspekte. Welche weiteren Aspekte könnten möglicherweise Einfluss auf  Um auf das Zusatzmaterial zugreifen zu können, geben Sie bitte im Web-Browser https://www. springer.com/de/book/9783658269814 ein. Sie werden zu einem Verzeichnis weitergeleitet, in dem die ergänzenden Dateien aller Fallstudien zum Download bereitstehen.

1

13  Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme

177

Kosten und Ergebnisse der Prozesse haben? Bitte hinterfragen Sie Ihren konkreten Lösungsvorschlag kritisch und nennen Sie unerwünschte Probleme, die mit dem Prozess auftreten und das ursprüngliche Ziel konterkarieren könnten. b) Welche Stärken und Schwächen können Sie bei der Anwendung von DES im Gesundheitswesen identifizieren?

13.4 Lösungsvorschläge 13.4.1 Probleme der Notaufnahme a) Die Notaufnahme hat viele Patient*innen in der nicht dringlichen Kategorie 2, von denen ein großer Anteil nicht stationär aufgenommen werden muss. Einige Patient*innen dieser Gruppe benötigten zudem gar keine Behandlung in einer Notaufnahme. Diese mussten aber dort behandelt werden, da die Triage-Kraft nicht befugt ist, sie an andere Anlaufstellen zu verweisen. Zudem werden Behandlungszimmer mit Patient*innen geblockt, die lange auf Testergebnisse (z. B. vom Labor) warten müssen. b) Patient*innen, die auch außerhalb einer Notaufnahme behandelt werden können, können von den Triage-Ärzt*innen an die anderen Anlaufstellen verwiesen werden. Dies reduziert die Wartezeiten für andere Patient*innen. Ferner können diagnostische Tests direkt während der Triage angeordnet werden, was die Wartezeiten weiter reduziert.

13.4.2 Einsatz von Discrete Event Simulation a) Mit DES bezeichnet man in der Regel die computerbasierte Simulation eines komplexen Systems, in dem sich Agent*innen mit Attributen durch ein komplexes System bewegen und in Ereignissen Ressourcen konsumieren. In vorliegendem Fall bewegen sich Patient*innen (Agent*innen) durch eine Notaufnahme (komplexes System) und konsumieren die Arbeitszeit von Ärzt*innen und Pflegekräften (Ressourcen). Lena könnte zwar versuchen, grob auszurechnen, wie lange ein*e Patient*in im Worst und Best Case Szenario brauchen würde, um die Notaufnahme zu durchlaufen, könnte aber letztlich nur schätzen, wie hoch z. B. die durchschnittlichen Wartezeiten für einzelne Stationen sind, wenn innerhalb eines Monats alle 7 Minuten ein*e Patient*in eintrifft. Mithilfe einer Simulation erhält Lena in relativ kurzer Zeit valide Schätzungen zu Wartezeiten, Durchlaufzeit, Kosten und Arbeitsauslastung. b) Für eine grafische Übersicht, die an die Softwareumsetzung angelehnt ist, siehe Abschn. 13.4.3. Es ist sinnvoll, sich komplexe Probleme erst einmal skizzenartig auf Papier zu lösen oder beschreiben, bevor man sie in einer Software umsetzt oder ­programmiert. c) Alle relevanten Zahlen sind in Tab. 13.1 und in Tab. 13.2 und 13.3 dargestellt.

178

L. Maaß et al.

Tab. 13.1  Zeiten mit der Standardversorgung Kategorie 1 2

Triagezeit in Minuten 2–5 (meistens 4) 2–5 (meistens 4)

Untersuchungszeit in Minuten 5–15 (meistens 12) 2–15 (meistens 7)

Testzeit in Minuten 10–60 (meistens 20) 5–120 (meistens 30)

Behandlungszeit in Minuten 40–80 (meistens 60) 5–30 (meistens 15)

Tab. 13.2  Zeiten mit First View Kategorie 1

Triagezeit in Minuten 5–15 (meistens 10)

Untersuchung in Minuten Entfällt

2

5–10 (meistens 10)

Entfällt

Testzeit in Minuten 10–60 (meistens 20) 5–120 (meistens 30)

Behandlungszeit in Minuten 40–80 meistens 60) 5–30 (meistens 15)

Tab. 13.3  Personalverteilung und Kosten Personalkategorie Ärzt*innen Pflegekräfte

Personal In jeder Schicht 5 6

Arbeitgeberkosten/Std. 35 € 16,50 €

Weitere relevante Informationen: • Alle 7 Minuten trifft ein*e Patient*in in der Notaufnahme ein. • 15 % aller Patient*innen sind im vergangenen Jahr mit dringenden Verletzungen und Erkrankungen in die Notaufnahme eingeliefert worden (Stufe 1). Die restlichen 85 % wurden der Kategorie nicht dringend zugeführt (Stufe 2). • Alle Kategorie-1-Patient*innen und 80  % der Kategorie-2-Patient*innen benötigen diagnostische Tests. • Bei First View übernimmt einer der Ärzt*innen die Triage. Damit fehlt der Notaufnahme ein*e Arzt/Ärztin. Diese Person muss eventuell neu eingestellt werden, wenn die gleiche Anzahl an Ärzt*innen weiterhin mit der Behandlung der Patient*innen beschäftigt sein soll. • Bei First View wird aus der Untersuchungszeit die Triage-Zeit. • 15  % aller Patient*innen in der Notaufnahme (alle Kategorie 2 zugehörig) müssten nicht in der Rettungsstelle behandelt werden und können bei First-View weggeschickt werden.

13.4.3 Softwareumsetzung mit ARENA a) Im Zusatzmaterial zur Fallstudie 12 (vgl. Fußnote in Abschn. 13.3.3) finden Sie neben der Schritt-für-Schritt-Anleitung für die Softwareumsetzung jeweils eine ARENA-Datei für das Modell der Standardversorgung und des First-View-Verfahrens. Laden Sie die

13  Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme Ankunft in Notaufnahme

Ankunft

Triage Kategorie Entscheidung

179

Triage

Untersuchung Kategorie 1

Test Kategorie 1

Behandlung Kategorie 1

Test Kategorie 2

Untersuchung Kategorie 2

Durchlaufzeit

Entlassung

Diagnostischer Test nötig? Behandlung Kategorie 2

Abb. 13.2  Modell für die Standardversorgung

Dateien DES_First-View-Model und DES_Standard-Model herunter. In Abb.  13.2 sehen Sie eine grafische Übersicht des simulierten Prozesses für die Standardversorgung. b ) Speichern Sie eine separate Datei, um das Modell der Standardversorgung an die First-View-Methode anzupassen. In Abb. 13.3 sehen Sie eine grafische Übersicht des simulierten Prozesses für die Standardversorgung.

13.4.4 Simulation Hinweis: Jede Simulation wird aufgrund von zufälligen Zahlenwerten aus den Verteilungen minimal andere Ergebnisse generieren. Die Ergebnisse Ihrer eigenen Simulation können also von denen in dieser Musterlösung geringfügig abweichen. a) In Tab. 13.4 sehen Sie die Ergebnisse für die Simulation des Modells der Standardversorgung für einen Monat (30 Tage).

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L. Maaß et al.

Ankunft

Arrival Time Assignment

First View

Triage Kategorie Entscheidung

Test Kategorie 1

Behandlungszeit Kategorie 1

Durchlaufzeit

Entlassung

Test Kategorie 2 Diagnostischer Test nötig? Behandlungszeit Kategorie 2

Abb. 13.3  Modell für First View

Tab. 13.4  Warte- & Durchlaufzeiten, Auslastung und Gesamtkosten I Längste Wartezeit Durchlaufzeit Auslastung Auslastung Szenario Ärzt*innen Pflegekräfte (in Min) (in Min) Ärzt*innen Pflegekräfte Standard 5 6 17 105 89 % 82 %

Gesamtkosten (Personal) 131.493 €

b) Analog sehen Sie in Tab. 13.5 die Ergebnisse für das Modell des First-View-Verfahrens. Die längste Wartezeit und Durchlaufzeit konnten gesenkt werden. Die Auslastung der Ärzt*innen ist gleichgeblieben. Die Auslastung der Pflegekräfte ist allerdings stark (auf unter 50 %) gesunken. Die Gesamtkosten bleiben gleich, da hier nur die Personalkosten simuliert werden. Diese bleiben unverändert, solange der Personalplan der Notaufnahme (5 Ärzt*innen, 6 Pflegekräfte) gleichbleibt. c) Die niedrige Auslastung der Pflegekräfte legt nahe, den Personalplan zu variieren und zu simulieren, inwieweit sich Wartezeiten, Kosten und Auslastungen ändern, wenn z. B. nur 5 oder sogar 4 Pflegekräfte pro Schicht in der Notaufnahme eingeteilt werden. Weiterhin könnte interessant sein, wie stark sich die Hinzunahme von mehr Ärzt*innen auf die Wartezeiten und Kosten auswirkt (s. Tab. 13.6).

13  Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme

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Tab. 13.5  Warte- & Durchlaufzeiten, Auslastung und Gesamtkosten II Längste Wartezeit Durchlaufzeit Auslastung Auslastung Szenario Ärzt*innen Pflegekräfte (in Min) (in Min) Ärzt*innen Pflegekräfte First 5 6 9 79 84 % 49 % View

Gesamtkosten (Personal) 131.493 €

d) Alle First-View-Modelle sind in der Lage, die durchschnittliche Durchlaufzeit deutlich zu senken und das medizinische Personal zu entlasten. Jedoch reduzieren die First-­ View-­Modelle I und V die Auslastung des Personals so drastisch, dass hier nicht mehr von Vollzeitbeschäftigung gesprochen werden kann. Eine Reduktion der Gesamtkosten konnten die Modelle First View II und III erzielen, in den Modellen IV und V stiegen die Kosten an, da neues Personal eingeplant wurde. Im First-View-Modell III steigt die längste Wartezeit allerdings leicht an. Da es ohne klare Vorgaben (wie z. B. längste Wartezeit muss kleiner als 15 Minuten sein) keine eindeutig dominante Variante gibt, beschließt Lena, zunächst die FirstView-­Modelle II und III der Krankenhausleitung vorzustellen.

13.4.5 Kritische Reflexion a) Modellierungen stellen die Wirklichkeit immer vereinfacht dar. So wurden hier bspw. für das Ankommen von Patient*innen durchschnittliche Zeiten verwendet, obgleich anzunehmen ist, dass etwa die Tageszeit (und die Öffnungszeit von Hausarztpraxen) eine Rolle spielt. Zudem wurde verallgemeinert, welche verschiedenen Krankheiten die Patient*innen haben, welche selbstverständlich ausschlaggebend für die Zahl und die Dauer diagnostischer Untersuchungen sind. Weiterhin wären epidemiologische Faktoren wie bspw. Grippewellen in eine Analyse einzubeziehen. Möglich ist außerdem eine Zunahme der Zahl der Patient*innen aufgrund der schnelleren Versorgung, welche sich herumsprechen könnte. In Praxisbeispielen aus echten Notaufnahmen mit First View konnte dies aber nicht beobachtet werden. Schließlich könnten auf das Krankenhaus höhere Kosten zukommen als bei der Standardversorgung (wenn sich das Krankenhaus für ein First-View-Modell mit Neueinstellungen entscheiden sollte), wodurch zwar die Personalkosten steigen, dafür allerdings die Anzahl der Patient*innen pro Arzt/Ärztin sinkt, was zu einer Entlastung des Personals führt. Somit werden Überlastungssituationen vermieden, was langfristig (unter anderem) der psychischen Gesundheit der Mitarbeiter*innen der Notaufnahme zugutekommt. Für einen Vergleich zwischen Standardversorgung und First View aus Perspektive des gesamten Gesundheitssystems wären neben den Personalkosten auch die Kosten interessant, die bei der Behandlung der 15 % aller Patient*innen angefallen wären, die

Szenario Standard First View I First View II First View III First View IV First View V

Ärzt*innen 5 5 5 5 6 6

Pflegekräfte 6 6 5 4 5 6

Längste Wartezeit (in Min) 17 9 9 19 2 3 Durchlaufzeit (in Min) 105 79 79 86 65 67

Tab. 13.6  Warte- & Durchlaufzeiten, Auslastung und Gesamtkosten III Auslastung Ärzt*innen 89 % 84 % 84 % 84 % 68 % 70 %

Auslastung Pflegekräfte 82 % 49 % 59 % 73 % 56 % 49 %

Gesamtkosten 131.493 € 131.493 € 123.592 € 115.689 € 140.366 € 148.358 €

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13  Discrete Event Simulation in einer Notaufnahme

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während First View weggeschickt, aber während der Standardversorgung behandelt wurden.2 Dieser vermiedene Verlust müsste den neuen (eventuell gestiegenen) Personalkosten entgegengesetzt werden. Für eine reale vollständige Prozesskostenrechnung sind neben den Personalkosten noch weitere Kosten der Behandlung sowie andere Kosten notwendig. Hierzu zählen bspw. die Kosten für Verbrauchsmaterial, für Medikamente, für Betten und für Reinigung der Behandlungszimmer, Kosten für diagnostische Tests und weitere indirekte Kosten (z. B. EDV, Instandhaltung, Papier etc.). Diese müssten den Einnahmen des Krankenhauses gegenübergestellt werden (z. B. durch die Kopfpauschale für ambu­ lante Notfälle sowie die Vergütung durch DRGs bei stationär werdenden Notfällen). Um das Modell jedoch einfach zu halten, wurden diese Kosten im Fallbeispiel vernachlässigt. b ) Obgleich Prozesssimulationen ein wertvolles Hilfsmittel des Managements im Gesundheitswesen darstellen, sollte zu Beginn eines Prozessoptimierungsprojektes immer kritisch überprüft werden, ob sie auch für den jeweiligen Einzelfall das Mittel der Wahl darstellen. Das mechanistische Denken über die Versorgung der Patient*innen als zu optimierende Prozesse könnte einen negativen Einfluss auf Motivation und Flexibilität des medizinischen Personals ausüben. Probleme in Prozessabläufen können auch ein Ausdruck von Kommunikationsproblemen sein, zu deren Lösung ein wertschätzenderer Umgang mit dem Gesundheitspersonal weitaus wirksamer ist als eine technische Prozessoptimierung.

Literatur CARO, J. J., MÖLLER, J., KARNON, J., STAHL, J. & ISHAK, J. (2015): Discrete event simulation for health technology assessment. Chapman and Hall/CRC. GADATSCH, A. (2013): IT-gestütztes Prozessmanagement im Gesundheitswesen. Wiesbaden: Springer Vieweg. HOGAN, B., RASCHE, C. & VON REINERSDORFF, A. B. (2012): The First View Concept: introduction of industrial flow techniques into emergency medicine organization. European Journal of Emergency Medicine, 19:3, 136–139. KARNON, J., STAHL, J., BRENNAN, A., CARO, J. J., MAR, J. & MÖLLER, J. (2012): Modeling using discrete event simulation: a report of the ISPOR-SMDM Modeling Good Research Practices Task Force–4. Medical decision making, 32:5, 701–711. MARSHALL, D. A., BURGOS-LIZ, L., IJZERMAN, M. J., OSGOOD, N. D., PADULA, W. V., HIGASHI, M. K., WONG, P. K., PASUPATHY, K. S. & CROWN, W. (2015): Applying dynamic simulation modeling methods in health care delivery research – the SIMULATE checklist: report

 Es ist davon auszugehen, dass die fixe Vergütung für Patient*innen, die in der Notaufnahme ambulant behandelt werden, dort aber nicht hätten behandelt werden müssen, nicht die Kosten der Behandlung deckt.

2

184

L. Maaß et al.

of the ISPOR Simulation Modeling Emerging Good Practices Task Force. Value in Health, 18:1, 5–16. ROCKWELL AUTOMATION TECHNOLOGIES INC. (2019): Arena® Simulation Software, [online] https://www.arenasimulation.com/academic/students [23.03.2019] SALLEH, S., THOKALA, P., BRENNAN, A., HUGHES, R. & DIXON, S. (2017): Discrete Event Simulation-Based Resource Modelling in Health Technology Assessment. PharmacoEconomics, 35:10, 989–1006.

Informationsmanagement

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Julian Klinger, Fabia Gansen, Yvonne Goltsche und Wolf Rogowski

Zusammenfassung

In dieser Fallstudie bearbeiten Sie ein konkretes Problem einer Pflegeeinrichtung aus der Perspektive des Informationsmanagements. Sie untersuchen, ob es auf einer Station des Pflegeheims zu einer Häufung von Stürzen gekommen ist. Dabei geht es zunächst um grundlegende Fragen des Informationsmanagements: Welche Informationen stehen zur Verfügung? Welche Informationen sind relevant? Welche Schlüsse können aus bestehenden Informationen gezogen werden? Insgesamt werden Sie für das Fallbeispiel durch drei Schritte geführt: die Eingabe von Daten, die Feststellung des Informationsbedarfs und eine Datenauswertung. Ergänzend werden über das Fallbeispiel hinausgehende Fragen der Informationswirtschaft, Informationssysteme und der Informationsund Kommunikationstechnik thematisiert.

J. Klinger (*) Newsenselab GmbH, Berlin, Deutschland Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Gansen · W. Rogowski Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] Y. Goltsche atacama-blooms GmbH & Co. KG, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020  W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_14

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14.1 Hintergrund Das Informationsmanagement hat in der Regel die Aufgabe, den bestmöglichen Einsatz der Ressource Information zu gewährleisten (Krcmar 2015). Das Management der Ressource Information kennt dabei drei verschiedene Aspekte. Ganz grundlegend behandelt das Management der Informationswirtschaft die Information selbst. In der Praxis bedeutet das u.  a. die Identifikation von Informationsbedarf, -nachfrage und -angebot z. B. innerhalb einer Organisation. Dabei können die Relevanz oder die Qualität von Informationen Kriterien sein, die unter Beachtung von Wirtschaftlichkeitsprinzipien verfolgt werden. Daran anschließend verfolgt das Management der Informationssysteme zwar ähnliche Ziele, bewegt sich aber auf einer System- und Prozessebene. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie Daten optimal erfasst, verarbeitet und verwaltet werden können. Auf der Systemebene steht daher die Optimierung von Datenmodellierung, -konsistenz und -sicherheit im Vordergrund. Auf der Prozessebene geht es um eine effiziente und nachhaltige Datenerfassung, die sinnvoll an Geschäftsprozesse andockt. Das Management der Informations- und Kommunikationstechnik behandelt schließlich die Verwaltung und die Anschaffung der notwendigen Technologien aus wirtschaftlicher und strategischer Perspektive. Dabei lassen sich die Aspekte Speicherung, Verarbeitung und Kommunikation jeweils hinsichtlich Kapazität, Qualität und Stückkosten unterscheiden. Konkret stellen sich hier z. B. Fragen nach Größe des Netzwerks oder der Datenbasis, die letztlich von der Infrastruktur getragen werden muss. In dieser Fallstudie geht es in erster Linie um den Aspekt des Managements der Informationswirtschaft. Im Vordergrund steht die Frage, welche Informationen bei einem konkreten Problem eigentlich weiterhelfen können, wie man sie beschaffen könnte und was sie uns letztlich sagen können. Als Anwendungsbeispiel analysieren Sie Stürze in der Pflege als Teil des Qualitätsmanagements. Unter einem Sturz versteht man jedes Ereignis, bei dem eine betreffende Person unbeabsichtigt auf dem Boden oder einer anderen niedrigeren Fläche aufkommt – ohne Berücksichtigung der Ursache (WHO 2007 zit. n. DNQP 2013). In dieser Fallstudie beschränkt sich die Analyse auf eine quantitative Auswertung, bei welcher keine Differenzierung hinsichtlich der Sturzursache vorgenommen wird. Ziel ist zunächst, eine gefühlte Sturzhäufung im Zeitvergleich der eigenen Einrichtung faktisch einordnen zu können. Als weiterer Schritt sollte eine ursachensensitive Auswertung durchgeführt werden, die insbesondere für die Pflegeplanung und evtl. resultierende Präventivmaßnahmen wichtig ist. Gemäß dem vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung (DNQP) herausgegebenen Expertenstandards zur Sturzprophylaxe in der Pflege bestehen geeignete Maßnahmen zur Sturzprophylaxe etwa in einem gezielten motorischen Training, einer Überprüfung und Anpassung der Wohnumgebung und der Medikation sowie individueller Einzelinterventionen, wie Hüftprotektoren, Gehhilfsmittel oder der Auswahl geeigneten

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Schuhwerks (DNQP 2013). Diese Maßnahmen stehen in Abhängigkeit zum individuellen Risikopotenzial der Bewohner. Die Empfehlungen der Expertenstandards sind für Pflegeeinrichtungen aufgrund von § 113a Abs. 1 Satz 1 SGB XI verbindlich anzuwenden. Eine Vorgabe des in dieser Fallstudie zugrunde liegenden Expertenstandards verpflichtet die Einrichtungen zudem alle Sturzereignisse im Rahmen ihrer Qualitätssicherung neben Pflegegraden, Gewichtsveränderungen, medizinischer Historie und weiteren Risikofaktoren zu erfassen. Im Rahmen des Ende 2015 verabschiedeten Pflege-Stärkungsgesetzes (PSG) II wurde erstmals verbindlich die Einführung eines auf Indikatoren gestützten Verfahrens zur Beurteilung von Ergebnisqualität festgeschrieben. Entsprechend dieser Gesetzesnovelle wurde vom Qualitätsausschuss Pflege ein Auftrag zur Entwicklung geeigneter Instrumente und Verfahren im Rahmen der in §§ 114 ff. SGB XI und § 115 Abs. 1a SGB XI festgelegten Qualitätsdarstellung vergeben. Mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG), welches zum 01. Januar 2019 in Kraft getreten ist, wurde die Einführung des neuen Qualitätssystems bestimmt und Pflegeeinrichtungen verpflichtet, in absehbarer Zeit diese Qualitätsindikatoren digital an eine vom aQua-Institut eingerichtete Datenauswertungsstelle halbjährlich zu berichten. Die Auswertung der bundesweit erfassten Versorgungsergebnisse dient dann nicht mehr nur der internen Qualitätssicherung, sondern auch der externen Qualitätsdarstellung. Die genauen Variablen zur Erfassung von Versorgungsergebnissen können auf der Homepage des Qualitätsausschusses Pflege eingesehen und heruntergeladen werden (Geschäftsstelle Qualitätsausschuss Pflege 2018). Der Qualitätsausschuss Pflege ist das Gremium, welches durch den Gesetzgeber mit der Sicherstellung der Qualitätsentwicklung nach § 113 SGB XI beauftragt wurde. Weiterführende Literatur finden Sie im ausführlichen Lehrbuch Informationsmanagement von Krcmar (2015) oder in der kürzeren Version Einführung in das Informationsmanagement (Krcmar 2011). Zudem gibt es von Landrock und Gadatsch (2018) ein praxis­ orientiertes Lehrbuch zum konkreten IT-Einsatz im Gesundheitswesen. Eine Einführung in organisationsbezogene Fragen der Altenpflege bietet das Grundlagenwerk Pflegemanagement in Altenpflegeeinrichtungen (Kämmer 2015). Weiterführende Literatur mit besonderer Beachtung von Sturzereignissen und deren Folgen bietet der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege (DNQP 2013). Ausführliche Informationen zur Aktualisierung der externen Qualitätssicherung für Pflegeeinrichtungen finden sich im Abschlussbericht: Darstellung der Konzeption für das neue Prüfverfahren und die Qualitätsdarstellung (Wingenfeld et al. 2018). Im ersten Teil dieser Fallstudie wird beispielhaft die kommerzielle Software apenio® verwendet. Apenio® ist eine Software zur digitalen Pflegeplanung und Dokumentation in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Um einen kostenlosen Zugang für Bildungszwecke zu erhalten, kontaktieren Sie bitte [email protected]. Diese Fallstudie ist auch ohne Software oder mit alternativen Softwarelösungen bearbeitbar, in denen Sturzprotokolle und Heimbewohner*innen angelegt werden können.

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14.2 Fallstudie: Stürze im Roselius Stift Es ist Ihre erste Woche als Praktikant*in im Pflegeheim Roselius Stift. Bisher war alles sehr ruhig, fast langweilig, sodass Sie sich freuen, als Sie beim Frühstück einen Zeitungsartikel über Ihren vorübergehenden Arbeitgeber entdecken. Beim Überfliegen des Artikels merken Sie allerdings schnell, dass alles andere als positiv über das Pflegeheim berichtet wird (s. Abb. 14.1). Auf dem Weg zur Arbeit nehmen Sie sich fest vor, bei der Aufklärung mitzuwirken (wenn auch nur, um etwas mehr zu tun zu haben). Kaum angekommen, fällt Ihnen die Aufgabe im wahrsten Sinne vor die Füße. Um 9 Uhr morgens stürzt Irmgard Bäldle, eine sympathische 76-jährige Heimbewohnerin mit einer leichten Demenz, neben Ihnen im Badezimmer. Kurz vor ihrem Sturz hatten Sie und Frau Bäldle mit dem Packen Ihres Kulturbeutels gerade die Vorbereitungen für ihren heutigen Umzug von Station 2 auf Station 3 abgeschlossen. Die ausgehbereit gekleidete Dame ist auch nach ihrem Sturz noch guter Dinge, ärgert sich aber, dass ihr das Missgeschick ausgerechnet an ihrem Geburtstag passieren musste. Wie so oft trägt Frau Bäldle allerdings weder ihre Brille noch hat sie ihren Rollator mit ins Bad genommen. Glücklicherweise ist der Pflegeleiter der beiden Stationen, Herr Jochens, nebenan und kann Sie bei der korrekten Versorgung von Frau Bäldle unterstützen. Sie helfen der knienden Frau Bäldle vorsichtig auf, sodass sie bereits nach etwa 5 Min. wieder auf den Beinen ist. Frau Bäldle beklagt Schmerzen auf der Außenseite ihres rechten Oberschenkels und an der rechten Schulter. Da sie davon überzeugt ist, dass sich an beiden Stellen lediglich ein beachtlicher Bluterguss bilden wird, verweigert sie eine ärztliche Untersuchung. Nachdem Frau Bäldle versorgt ist und sich in ihrem neuen Zimmer auf Station 3 unter Beobachtung ausruht, gehen Sie mit Herrn Jochens in das Stationszimmer, um das Sturzereignisprotokoll auszufüllen. Da der Stationscomputer besetzt ist, beginnen Sie damit, den Sturz mithilfe einer Vorlage in Papierform zu dokumentieren. Nach kurzer Zeit wird Herr Jochens in das Büro der Heimleiterin Frau Brinkmann gebeten, um den morgendlichen Zeitungsartikel zu besprechen. Da Sie den Sturz selbst als Zeuge bzw. Zeugin erlebt haben, bittet Abb. 14.1  Zeitungsartikel zu den Stürzen im Roselius Stift

Auersburger Tageblatt

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Ihr Vorgesetzter Sie, das Sturzprotokoll in Papierform und digital selbstständig zu vervollständigen. Dass die Dokumentation und damit einhergehende Analyse von Stürzen nicht nur für die haftungsrechtliche Absicherung wichtig ist, sondern auch ein Instrument des Qualitätsmanagements, wird Ihnen beim Ausfüllen des Sturzprotokolls deutlich: Während Sie den Bogen ausfüllen, setzen Sie sich intensiv mit dem Sturz, den dazu führenden Begebenheiten und den daraus resultierenden Folgen für Frau Bäldle auseinander. Von Herrn Jochens hatten Sie zudem erfahren, dass zukünftig alles digital erfasst werden muss, da das Reporting von Qualitätsindikatoren wie Stürze und Sturzfolgen bald verpflichtend an eine bundesweite Datenauswertungsstelle weitergegeben werden muss. Er blickt mit Sorge darauf, wie all das umgesetzt werden soll, wenn schon im normalen Arbeitsalltag kaum Zeit bleibt  – und Ihnen wird bewusst, dass das Praktikum vermutlich nicht allzu lange langweilig bleiben wird.

14.3 Aufgaben 14.3.1 Dateninput Sollten Sie dieses Kapitel ohne Pflegesoftware bearbeiten, überspringen Sie bitte Teilaufgabe b) und c). Bei Nutzung einer alternativen Softwarelösung können Sie – je nach Funktionalität dieser Software – Aufgabe b) (Bewohner*innen anlegen) und c) (Sturzprotokoll erstellen) bearbeiten. a) Füllen Sie mit den vorliegenden Informationen die Lücken des Sturzprotokolls. Die Vorlage für das Sturzprotokoll finden Sie in Abb. 14.2 sowie im Zusatzmaterial1 zum Ausdrucken und Ausfüllen. Laden Sie hierfür die Word-Datei Info_Sturzprotokoll_leer aus dem Zusatzmaterial Fallstudie_Informationsmanagement herunter. b) Da Frau Bäldle aufgrund Ihres Umzugs noch nicht als Bewohnerin von Station 3 erfasst wurde, nehmen Sie sie zunächst als Bewohnerin der Station 3 auf. Hierzu nutzen Sie apenio®, eine Software zur digitalen Bewohner*innendokumentation, die Anfang des Jahres im Roselius Stift eingeführt wurde. Bitte geben Sie als 8-stellige Bewohner*innen-ID zunächst Ihr eigenes, 6-stelliges Geburtstagdatum ein und ergänzen es für die letzten zwei Stellen um Ihre Initialen. c) Im nächsten Schritt füllen Sie das Sturzprotokoll für Frau Bäldle in apenio® aus. Klicken Sie dazu unter dem Eintrag Bäldle, Irmgard, auf den Reiter Dokumentation und dann auf Sturzereignisprotokoll (links). Da das Sturzprotokoll nun bereits unter Station 3 gelistet wird, geben Sie als Sturzort im Freitextfeld Badezimmer Station 2 an.  Um auf das Zusatzmaterial zugreifen zu können, geben Sie bitte im Web-Browser https://www. springer.com/de/book/9783658269814 ein. Sie werden zu einem Verzeichnis weitergeleitet, in dem die ergänzenden Dateien aller Fallstudien zum Download bereitstehen.

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Abb. 14.2  Vorlage für das Sturzprotokoll im Roselius Stift. (Quelle: eigene Darstellung nach DNQP 2013)

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14.3.2 Informationsbedarf Am Nachmittag kommt Herr Jochens noch einmal auf Sie zu. Aufgescheucht von der Heimleitung, braucht er die Sturzdokumentation des letzten Monats. Sie ziehen los, um die Papierdokumentation zu suchen. Sie finden die Sturzprotokolle, die bereits für die anstehende Überprüfung durch den MDK zur Seite gelegt wurden. Herr Jochens bittet Sie, die Protokolle des Monats November noch einmal gesammelt anzuschauen. Er ist ein wenig ratlos, weil er sich das Sturzchaos nicht so wirklich erklären kann, da er in der Verteilung der Sturzrisiken über Stationen hinweg keinerlei Auffälligkeiten entdecken kann. a) Sie nehmen sich die Sturzdokumentation des letzten Monats vor (s. Datei Info_Sturzprotokolle_November im Zusatzmaterial Fallstudie_Informationsmanagement; vgl. Fußnote 1). Können Sie anhand der vorliegenden Sturzdokumentation beurteilen, ob es eine Häufung von Stürzen auf der Station gibt? b) Welche Informationen halten Sie für nötig, um eine einigermaßen fundierte Einschätzung zur Sturzsituation der Station und des Pflegeheims abgeben zu können? c) Bitte werfen Sie, über dieses konkrete Fallbeispiel hinaus, einen Blick auf die Probleme eines Managements, welches für ein einzelnes Haus oder ggf. eine größere Anzahl von Häusern die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Pflege sicherstellen will. Welche sonstigen Informationsbedarfe fallen Ihnen ein? Nennen Sie zwei Beispiele.

14.3.3 Datenauswertung Sie berichten Herrn Jochens von Ihrer Einschätzung der Datenlage zur Sturzgefährdung. Er gibt Ihnen Recht und weist darauf hin, dass glücklicherweise seit Beginn des Jahres die Dokumentationen auch digital geführt werden. Da Sie ja schon so gut im Thema drin seien, bittet Sie Herr Jochens eine Excel-Auswertung der Sturzdokumentation von Station 1 und 2 im Vergleich zusammenzustellen. Die Auswertung der Stürze seit Beginn 2017 wurde von der Pflegeheimleitung explizit als Anhang zum plötzlich recht brisanten Jahresbericht angefordert. a) Die IT hat Ihnen eine Auflistung aller Sturzereignisse (s. Excel-Tabelle Info_Excel-­ Vorlage im Zusatzmaterial Fallstudie_Informationsmanagement; vgl. Fußnote 1) für das Jahr 2017 für Station 1 und 2 exportiert und eine erste Hilfsauswertung angelegt. Schauen Sie in die Formeln und reflektieren Sie die Funktionalität der Hilfsauswertung. b) Werten Sie dann die Daten für Station 2 in geeigneter Form aus. Dazu empfiehlt es sich als Ausgangspunkt z.  B. die Anzahl der Stürze im Jahresverlauf grafisch von Excel darstellen zu lassen. Nutzen Sie dazu die vorgefertigte Auswertung als Basis. Können Sie Auffälligkeiten identifizieren?

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c) Führen Sie diese Auswertung und ggfs. weitere sinnvolle Auswertungen auch für Station 1 durch. Vergleichen Sie die Sturzdaten der beiden Stationen. Worin unterscheiden sich die Stürze auf den beiden Stationen? d) Gibt es eine erhöhte Sturzgefahr auf Station 2? Wenn ja, woran könnte das liegen? Grenzen Sie mögliche Ursachen auf Basis Ihrer Datenlage ein und geben Sie eine Empfehlung ab. e) Bitte nennen Sie über die konkrete Fallstudie hinaus zwei Beispiele ergänzender Analysen, an denen ein Management einer einzelnen Pflegeeinrichtung oder einer größeren Zahl von Häusern Interesse haben könnte.

14.3.4 Prozesse, Infrastruktur und Kosten: digital oder Papier? Bislang haben Sie sich hauptsächlich damit beschäftigt, welche Informationen Sie benötigen, um bestimmte Sachverhalte zu überprüfen. Darüber hinaus sollten Sie aber aus der Perspektive des Informationsmanagements auch reflektieren, wie Sie diese Informationen erheben, speichern und abrufen können und welche Kosten damit verbunden sind. a) Vergleichen Sie die Erhebung von Sturzdaten auf Papier und digital aus Daten- und Prozessperspektive. Welche Kosten sind mit beiden Varianten verbunden? Unter welchen Bedingungen könnte eine digitale Variante besser oder schlechter abschneiden als eine papierbasierte Variante? Reflektieren Sie, wie man in diesem Kontext besser bzw. schlechter verstehen könnte. b) Welche weiteren Aspekte gilt es aus der Perspektive des Managements der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) zu berücksichtigen? Gehen Sie davon aus, dass zur Eingabe im Roselius Stift bislang ein Stations-PC genutzt wird. Die Eingabe der Sturzprotokolle können im Browser oder in einer App vorgenommen werden. Reflektieren Sie einen möglichen Bedarf an IKT für das Roselius Stift bei einer digitalen Lösung gegenüber der bisherigen papierbasierten Lösung.

14.3.5 Ausblick und kritische Reflexion a) In Abschn. 14.3.2 b) haben Sie sich überlegt, welche Informationen zur Beurteilung der Situation insgesamt hilfreich wären. Wie könnten in Zukunft problematische Tendenzen wie Sturzhäufungen schneller analysiert werden? Welche Informationen sollten dafür systematisch erfasst und laufend ausgewertet werden? Nennen Sie zwei Beispiele weiterer Auswertungen, die in regelmäßigen Berichten erfasst werden könnten. b) In dieser Fallstudie haben Sie unterschiedliche Aspekte des Informationsmanagements betrachtet. Welche weiteren Aspekte wurden vernachlässigt, wo liegen mögliche Pro­ bleme, die der Umsetzbarkeit eines umfassenden Informationsmanagements Grenzen setzen können?

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14.4 Lösungsvorschläge 14.4.1 Dateninput a) Abb. 14.3 zeigt das ausgefüllte Sturzprotokoll von Frau Bäldles Sturz. Das ausgefüllte Sturzprotokoll ist außerdem im Zusatzmaterial Fallstudie_Informationsmanagement unter der Datei Info_Sturzprotokoll_Baeldle zu finden (vgl. Fußnote 1). Die Vorlage des Sturzprotokolls basiert auf den Vorgaben des Expertenstandards Sturzprophylaxe in der Pflege (DNQP 2013). b) Um die Bewohner*innenaufnahme von Frau Bäldle in apenio® durchzuführen, klicken Sie zunächst auf Bewohner aufnehmen und vergeben Sie eine Bewohner*innen-­ID. Sollte die fiktive Bewohner*innen-ID zufällig schon vergeben sein, ist die folgende Maske schon mit entsprechenden Bewohner*innendaten befüllt. In diesem Fall müssen Sie einen Schritt zurückgehen und eine andere Bewohner*innen-ID auswählen. Tragen Sie im folgenden Fenster die Stammdaten ein und bestätigen Sie mit einem Klick auf Speichern. c) Um das Sturzprotokoll in apenio® auszufüllen, navigieren Sie in der Bewohner*innenansicht zum Reiter Dokumentation. Klicken Sie links auf Sturzereignisprotokoll und klicken Sie auf den Button Neues Sturzereignisprotokoll. Füllen Sie das Sturzereignisprotokoll möglichst vollständig mit den gegebenen Informationen aus. Zum Ausfüllen stehen unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung: Freitextfelder, Drop-down-Auswahllisten, Radiobuttons mit Einfachauswahl oder Checkboxen mit Mehrfachauswahl. Speichern Sie das Sturzereignisprotokoll abschließend.

14.4.2 Informationsbedarf a) Nein, eine Einschätzung ist nicht abschließend möglich, da Informationen fehlen. Insbesondere aufgrund der sehr kleinen Anzahl an Sturzprotokollen ist eine quantitative Beurteilung schwierig. b) Ein erster Ansatz für eine Bewertung wäre ein Vergleich mit den Daten anderer Monate, des Vorjahres im gleichen Zeitraum, anderen Stationen, anderen Pflegeheimen mit ähnlicher Anzahl von Bewohner*innen bzw. relativ zur Anzahl der Bewohner*innen. Dabei könnten folgende Informationen Aufschluss über die Sturzsituation geben: Zahl der Stürze im Vergleich, gestürzte Personen (z. B. mehrmals die gleiche Person), Ort und Umstände des Sturzes (z. B. Lichtverhältnisse) und Zustand der betroffenen Person (z. B. erhöhtes Sturzrisiko). Letzterer nimmt in Bezug zu den anderen Faktoren einen entscheidenden Stellenwert ein, da z.  B. eine grundsätzliche Verschlechterung des Zustandes ein signifikant höheres Risiko zu stürzen mit sich führt und somit eine Aussage zur strukturellen Versorgungsqualität verzerrt.

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Bäldle

Irmgard

30.11.1941

30.11.2017

9.00 Uhr

Station 2 Praktikantin

Kniend im Badezimmer Patientin ist ansprechbar und guter Dinge

Patientin ist beim Packen ihres Kulturbeutels gestürzt

30.11.2017

Eva Musterfrau

E. Musterfrau

Abb. 14.3  Händisch ausgefülltes Sturzprotokoll. (Quelle: eigene Darstellung nach DNQP 2013)

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c) Es gibt eine Fülle an Indikatoren, die für das Management einer einzelnen Einrichtung oder einer ganzen Unternehmenskette hilfreich sein könnten. Im Folgenden werden einige beispielhaft genannt: a. Ein gewichtiger Aspekt, gerade aus betriebswirtschaftlicher Perspektiver stellt z. B. das Pflegegradmanagement dar. Zum Pflegegradmanagement gehört das Erkennen von Einstufungsnotwendigkeiten und der Beobachtung des Pflegegrades gegenüber dem tatsächlichen Bedarf der Bewohner*innen, um ggf. eine Höhereinstufung zu beantragen. Betriebswirtschaftlich gesehen ist ein Mix an Pflegegraden der Bewohner*innen wichtig, damit eine Refinanzierung des tatsächlich geleisteten Aufwandes sichergestellt ist. b. Ein weiterer Aspekt könnte die Erfassung von entstandenen Wunden (wie z. B. Dekubitus) oder Infektionserkrankungen sein. Diese Daten ermöglichen zum einen eine schnelle Einleitung von notwendigen Maßnahmen (z. B. Isolierung, Hilfsmittelbestellung, Meldung an Gesundheitsamt), helfen zum anderen aber auch bei der Erkennung von veränderten Bewohner*innenzuständen und somit ggf. einer anderen Abrechnung. Das Auftreten solcher Phänomene erhöht in der Regel sehr deutlich den Pflegeaufwand, sollte aber von einem internen Qualitätsmanagement auch dahingehend überprüft werden, ob die vorangegangene pflegerische Versorgung dem Bedarf der Bewohner*innen entsprochen hat oder ob hier ggf. eine Fehleinschätzung vorlag. c. Ähnlich verhält es sich z. B. mit der Erfassung von Körpergewicht und Körpergröße der Bewohner*innen. Die Erfassung der aktuellen Werte und insbesondere das Monitoring dieser können dabei helfen, frühzeitig eine Mangelernährung zu erkennen und mit entsprechenden Maßnahmen entgegenzuwirken. d. Zur Vermeidung von Folgeerkrankungen und Komplikationen bei Diabetes ist weiterhin relevant, ob Bewohner*innen insulinpflichtig sind. e. Zudem können bspw. Hilfsmittel (Gehhilfen, Antidekubitusmatratzen, Lifter) als Hilfestellung beim Erkennen von Pflegebedarfen und als Übersicht für die korrekte Abrechnung von Hilfsmitteln erfasst werden. f. Auch einer Erfassung der Abwesenheiten von Bewohner*innen ist wichtig, da eine taggenaue Abrechnung mit den Kostenträgern einer Einrichtung erfolgen muss: Tage, an denen die Bewohner*innen nicht in der Einrichtung sind, müssen entsprechend verrechnet werden. g. Zur Erfassung der Kostenseite der Wirtschaftlichkeit sind schließlich Informationen zu direkten Ressourcenverbräuchen und Kosten für die Pflege des Bewohners bzw. der bewohnerin hilfreich sowie Kosten und Nutzung ergänzender Infrastruktur wie bspw. ein Schwimmbad oder eine Demenz-Tagespflegestation.

14.4.3 Datenauswertung a) Die vorgefertigte Hilfsauswertung nutzt ein Summenprodukt und eine Bedingung, um die Anzahl der Stürze pro Monat und pro Ort zu zählen. Auf dieser Basis können Sie sich Sturzverläufe grafisch darstellen lassen.

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b) Die Ergebnisse der Auswertung finden Sie im Zusatzmaterial Fallstudie_Informationsmanagement in der Excel-Tabelle Info_Excel-Musterloesung (vgl. Fußnote 1). Auf Station 2 wird eine Häufung von Stürzen im Badezimmer deutlich. Ein Anstieg ist erstmals nach Abschluss der Renovierungsarbeiten im Mai 2017 zu beobachten. c) Auf Station 1 ist keine Zunahme an Stürzen feststellbar. Die Anzahl der Stürze an allen Orten mit Ausnahme des Badezimmers ist vergleichbar. d) Ja, eine Häufung von Stürzen auf Station 2 geht aus den Daten hervor. Besonders viele der Stürze erfolgten im Badezimmer. Ein Zusammenhang zu den Renovierungsarbeiten ist denkbar, da Station 1 nicht renoviert wurde. Tatsächlich ergibt sich bei Ihrer nachfolgenden Recherche, dass bei der Renovierung der Badezimmer die Anzahl der Haltemöglichkeiten von 3 auf 2 reduziert wurde. Sie empfehlen Herrn Jochens, um eine Nachrüstung einer Haltemöglichkeit zu bitten. e) In einem direkten Zusammenhang zu einem Sturzereignis könnte die Auswertung der Pflegegrade auf einer Station sein. Ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Per­ spektive könnte der Pflegegradmix einer Station in Bezug gesetzt werden zu auftretenden Pflegephänomenen. Wenn z. B. der durchschnittliche Pflegegrad bzw. eine Häufung eines höheren Pflegegrades auf einer Station festgestellt wird, so kann dies ein Hinweis für ein gehäuftes Auftreten von Dekubiti, Stürzen, Fixierungsmaßnahmen oder einer Polymedikation sein. Des Weiteren könnte hierdurch auch ein Personalmanagement gesteuert werden, da ein höherer Anteil an hohen Pflegegraden ebenfalls einen höheren Pflegebedarf bedeutet. Grundsätzlich ist die Durchführung eines Risikomanagements sinnvoll, also die Erfassung und Darstellung bekannter Risikofaktoren, wie z. B. Alter, Gewicht, Zu- und Ableitungen, Sehstörungen etc. zu tatsächlich auftretenden Phänomenen, wie Stürze, Kontrakturen, Wunden oder weiteren medizinischen Erkrankungen. Aus logistischer und wirtschaftlicher Perspektive kann die Auswertung von Abwesenheiten insbesondere z. B. von Krankenhausaufenthalten sinnvoll sein, da diese wiederum ggf. in einen Zusammenhang zu einem veränderten Bewohnerzustand und in Verbindung damit veränderten Pflegemaßnahmenplan oder Pflegegrad gebracht werden kann. In Verbindung mit Kosteninformationen können bspw. die Wirtschaftlichkeit einzelner Bereiche der Einrichtung und betriebswirtschaftliches Optimierungspotenzial ermittelt werden.

14.4.4 Prozesse, Infrastruktur und Kosten: digital oder Papier? a) Aus Datenperspektive bestehen auf den ersten Blick kaum Unterschiede, da in einem Aktenordner mit allen Sturzprotokollen und in einer Datenbank mit allen ­Sturzprotollen prinzipiell dieselben Daten erfasst sind. Dennoch gibt es Unterschiede im Hinblick auf Datenkonsistenz und -administration. Sturzdaten in einer Datenbank sind meist konsistenter (z.  B. durch Autovervollständigung oder Eingaberestriktionen), können einfacher administriert und weitergegeben werden. Bezüglich Datensicherheit sind –

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Backups oder Kopien an einem anderen Ort vorausgesetzt – wiederum kaum Unterschiede festzustellen. Aus Prozessperspektive scheint das Ausfüllen eines Protokolls auf Papier und die digitale Eingabe ähnlich zeitaufwendig zu sein. Je nach örtlicher Erreichbarkeit des Protokolls bzw. des Eingabegeräts (stationärer PC, Tablet o. Ä.) muss mehr oder weniger Arbeitszeit aufgewendet werden. Die Kosten hängen von mehreren Aspekten ab. Zum einen müssen die Kosten für eine digitale Lösung vollständig berücksichtigt werden. Dabei fallen z.  B. bei einer Cloud-Lösung Lizenzgebühren für die Nutzung von Software und Datenbank an. Daneben sollten auch Einführungskosten wie Kosten von Arbeitszeit und Trainer*innenkosten für Schulungen und Effizienzverluste in einer Übergangsphase einkalkuliert werden. Gleichzeitig ist im vorgestellten Fall aber zu berücksichtigen, dass die Sturzdokumentation und die Auswertung meistens ein Teil einer größeren digitalen Lösung z. B. auch zu Abrechnungs-, Planungs- und Controllingzwecken sein wird. Ob eine digitale Variante der Sturzdokumentation besser oder schlechter ist, hängt davon ab, was für Kriterien betrachtet werden. Die Digitalisierung eines bestehenden Prozesses (z. B. Ausfüllen und Abheften eines Sturzprotokolls) ist meist mit Kosten verbunden. Diese Kosten können als Investition betrachtet werden, die sich z. B. durch einen effizienteren Prozess – hoffentlich – rentiert. Wenn Sturzdaten verpflichtend an eine zentrale Stelle übermittelt werden müssen und aus Sicht eines Qualitätsmanagements ein Überblick über Sturzrate und -folgen geboten ist, scheint eine digitale Lösung mit automatischer Übermittlung weitreichende Vorteile gegenüber einer papierbasierten Lösung zu bieten. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Akzeptanz einer digitalen Datenerfassung durch das Pflegepersonal berücksichtigt werden muss. Eine Form der Dateneingabe, die den Usability-Anforderungen des ausführenden Personals entspricht, kann zusätzliche Kosten verursachen. b ) Wenn Sie davon ausgehen, dass im Rahmen einer Cloud-Lösung die IT-Infrastruktur weitgehend ausgelagert wurde, stehen im Fokus des IKT-Managements hauptsächlich Endgeräte wie PCs, Laptops, Tablets oder Smartphones und eine stabile Internetanbindung. Prinzipiell ähnelt die Eingabe von Sturzprotokollen an einem Stations-PC dem handschriftlichen Erstellen von Sturzprotokollen aus Prozessperspektive. In beiden Fällen müsste eine Pflegekraft einen bestimmten Ort aufsuchen, um das Formular zu suchen bzw. auszudrucken oder sich am Rechner einzuloggen. Eine Anschaffung von mobilen Endgeräten, die ausschließlich für die Eingabe von Sturzprotokollen eingesetzt werden, scheint aus ökonomischer Perspektive nur schwer rechtfertigbar zu sein. Allerdings ist auch hier zu beachten, dass bei einer digitalen Dokumentation der Bewohner*innen in der Einrichtung über Sturzerfassung hinaus, die Anschaffung von mobilen Endgeräten ggfs. ohnehin notwendig ist. Laptops oder Tablets, die ohnehin z. B. auf Pflegewagen eingesetzt werden, könnten dann auch bei der Erfassung von Sturzprotokollen genutzt werden.

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Bei der Nutzung von mobilen Endgeräten rückt zudem eine großflächige und stabile Internetverbindung in den Fokus des IKT-Managements. Bei eng getakteten Prozessen in der Pflege, die ggf. von einer mobilen Dateneingabe abhängig sind, wäre ein Ausfall der Internetverbindung mit hohen negativen indirekten Kosten verbunden. Bislang sind Sie ohne weitere Reflexion von einer Cloud-Lösung ausgegangen, bei welcher Sie eine Software as a Service-Lösung (SAAS) beziehen und keine eigene IT-­ Infrastruktur wie z. B. einen Server betreiben müssen. Klassische Client-Server-­Lösung, bei der eine installierte Software mit einem eigenen lokalen Server kommuniziert, sind jedoch häufig Status Quo im Gesundheitswesen (Deimel und Fritz 2017, S. 39). Eine Entscheidung für die eine oder andere Strategie ist nicht trivial und wirft neue Fragen auf, die vom jeweiligen Einzelfall abhängig sind. Hier können z. B. die Größe der Einrichtung, bestehende Prozesse und Infrastruktur oder Datenschutz eine Rolle spielen.

14.4.5 Ausblick und kritische Reflexion a) Die Daten, die Sie in dieser Fallstudie mühsam ausgewertet haben, könnten fortlaufend und automatisiert ausgewertet werden. So könnten mögliche Sturzursachen frühzeitig erkannt werden. Eine Software könnte z.  B. automatisch Diagramme zu Stationsvergleichen, Sturzrisiken, -verhältnissen und -orten generieren, die regelmäßig kontrolliert werden. Durch diese automatisierte Auswertung könnten systematische Ursachen wie Renovierungsarbeiten an bestimmten Orten leichter identifiziert werden. Gleichermaßen könnten verschiedenste andere Informationen regelmäßig ausgewertet und in Berichten verdichtet werden  – von automatischen Erinnerungen an (runde) Geburtstage der Bewohner*innen zur Bestellung von Blumen über die Entwicklung gesundheitlicher Indikatoren, Vergleichen von aktueller Pflegegradeinstufung zu Pflegegraden nach Ermittlung der Pflegesoftware, Informationen über Neueinzüge zur Vorbereitung und Pflegeeinstufung bis hin zu aktuellen Wirtschaftlichkeitsberichten. b) In dieser Fallstudie wurde der Aspekt der Wirtschaftlichkeit, d. h. des Vergleichs von Kosten und Nutzen verschiedener Möglichkeiten zur Ausgestaltung des Informationsmanagements nur angerissen. Neben qualitativen Überlegungen zu Kosten, sollten diese Kosten auch berechnet und ins Verhältnis zu Effizienzgewinnen, Kostensenkungen oder Dokumentationsanforderungen gesetzt werden. Digitalisierte Prozesse sind nicht automatisch besser als ihre Vorgänger, sondern sollten einen konkreten und identifizierbaren Mehrwert generieren, da ihre Einführung in der Regel mit Kosten verbunden ist. Vor der Einführung einer digitalen Lösung, in welcher sensible Gesundheitsdaten erfasst und verarbeitet werden, sollte zudem geklärt werden, ob das geplante Vorgehen mit aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen zum Datenschutz konform ist. Zudem ist die Einführung einer Lösung, die als Nebeneffekt eine Kontrolle der Mitarbeitenden ermöglicht, mit den betrieblichen Mitbestimmungsgremien abzustimmen.

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Insgesamt ist zu beachten, dass Informationsmanagement neben den harten fachlichen und technischen Faktoren nicht die weichen sozialen und psychologischen Faktoren übersehen darf. Wenn beim Versuch, möglichst viele Aspekte dokumentier- und kontrollierbar zu gestalten die Mitarbeitenden mit ihren praktischen und emotionalen Bedürfnissen außer Acht gelassen werden, kann effizienzfördernd gedachtes Informationsmanagement letztlich als bürokratische Bürde und reine Kontrolle wahrgenommen werden. Ein damit verbundener Verlust an Motivation und Arbeitszufriedenheit kann sich letztlich kontraproduktiv auswirken. Um dem vorzubeugen, kann die Planung und Umsetzung von Maßnahmen des Informationsmanagements bspw. unter Beteiligung von betroffenen Mitarbeitenden geschehen.

Literatur DEIMEL, D. & FRITZ, S. (2017): Software-as-a-Service-Anwendungen im Gesundheitswesen – Anwendungsgebiete, Herausforderungen, Lösungen, in: PFANNSTIEL, M. A., DA-CRUZ, P. & MEHLICH, H. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen I: Impulse für die Versorgung. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 31–40. DNQP (2013): Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege: 1. Aktualisierung 2013. Osnabrück: Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) GESCHÄFTSSTELLE QUALITÄTSAUSSCHUSS PFLEGE (2018): Website der Geschäftsstelle Qualitätsausschuss Pflege, [online] https://www.gs-qsa-pflege.de/ [23.03.2019] KÄMMER, K. (2015): Pflegemanagement in Altenpflegeeinrichtungen: Zukunftsorientiert führen, konzeptionell steuern, wirtschaftlich lenken. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. KRCMAR, H. (2011): Einführung in das Informationsmanagement. Berlin [u.a.]: Springer. KRCMAR, H. (2015): Informationsmanagement, in: KRCMAR, H. (Hrsg.), Informationsmanagement. Berlin, Heidelberg: Springer Gabler, S. 85–111. LANDROCK, H. & GADATSCH, A. (2018): IT-Einsatz im Gesundheitswesen, Big Data im Gesundheitswesen kompakt. Wiesbaden: Springer Vieweg, S. 17–23. WHO (2007): WHO global report on falls prevention in older age. Geneva, [online] https://www. who.int/ageing/publications/Falls_prevention7March.pdf [23.03.2019] WINGENFELD, K., STEGBAUER, C., WILLMS, G., VOIGT, C. & WOITZIK, R. (2018): Entwicklung der Instrumente und Verfahren für Qualitätsprüfungen nach §§  114  ff. SGB XI und die Qualitätsdarstellung nach §  115 Abs.  1a SGB XI in der stationären Pflege. Abschlussbericht: Darstellung der Konzeptionen für das neue Prüfverfahren und die Qualitätsdarstellung. Im Auftrag des Qualitätsausschusses Pflege:https://www.gs-qsa-pflege.de/wp-content/ uploads/2018/10/20180903_Entwicklungsauftrag_stationa%CC%88r_Abschlussbericht.pdf [23.03.2019]

Kennzahlen der stationären Vergütung

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Fabia Gansen und Karin Hochbaum

Zusammenfassung

Die stationäre Vergütung bildet im Gesundheitswesen eine wesentliche Referenzgröße für Marketing, Kostenrechnung und verschiedene Controlling-Bereiche. Diese Fallstudie gibt eine Einführung in das System der Diagnosis Related Groups (DRGs), welches die Grundlage der Vergütung von Krankenhausleistungen im deutschen Gesundheitssystem bildet. Nach einer einleitenden Erläuterung der Begriffe und Grundlagen in der stationären Vergütung widmet sich die Fallstudie den Aufgaben des Medizin­ controllings im Krankenhaus anhand von vereinfachten Krankenhausfällen. Zunächst wird die Vergütung nach Fallpauschalen mit tagesgleichen Pflegesätzen verglichen. Daran schließt sich die Bestimmung von Fallpauschalen an: im ersten Schritt ausgehend von Basisfallwert und Kostengewicht und im zweiten Schritt unter Verwendung eines sogenannten Webgroupers. Dabei wird die Kodierung von Diagnosen und Prozeduren sowie die Gruppierung in DRGs mit Beispielfällen erprobt. Abschließend erfolgt die Berechnung ausgewählter Kennzahlen des DRG-Systems. Ziel der Fallstudie ist es, durch praktische Beispiele einen Einblick in die stationäre Vergütung, Kodiersystematik und Bestimmung von Fallpauschalen zu erhalten.

F. Gansen (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Hochbaum Geschäftsbereich Unternehmensentwicklung/Medizinstrategie, Gesundheit Nord GmbH, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_15

201

202

F. Gansen und K. Hochbaum

15.1 Hintergrund Die Finanzierung von Krankenhäusern und Krankenhausleistungen ist im deutschen Gesundheitswesen gemäß Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) eine sogenannte duale Finanzierung. Das bedeutet, dass die Investitionskosten durch die Bundesländer getragen werden, während Betriebskosten über das System der German Diagnosis Related Groups (G-DRG-System) finanziert werden. Dabei handelt es sich um das gemeinsame Vergütungssystem der gesetzlichen und privaten Krankenkassen (vgl. Dröschel et  al. 2016, S. 159 f.). Die Vergütung von Krankenhausleistungen auf Basis von DRGs erfolgt in Deutschland seit dem Jahr 2004. Das DRG-System ist in erster Linie ein Klassifikationssystem, welches stationäre Behandlungsfälle jeweils einer größeren Fallgruppe zuordnet, die in der Regel in einem inhaltlichen medizinischen Zusammenhang stehen (Major Diagnostic Category oder MDC). Innerhalb dieser MDCs finden sich mehrere DRGs. Die einzelne DRG bildet hierbei den jeweiligen Behandlungsfall ab. Patient*innen, die einer DRG zugeordnet werden, sind häufig in Hinblick auf ihre (Haupt-)Diagnose, speziell aber in Hinblick auf den Ressourcenaufwand, den die Krankenhäuser im Durchschnitt für die Behandlung eines solchen Falles benötigen, vergleichbar. Die Zuordnung zu einer DRG erfolgt anhand verschiedener Kriterien des Entlassungsdatensatzes. Dazu gehören neben der Hauptdia­ gnose u.  a. Nebendiagnosen, die durchgeführten Prozeduren und personenbezogene Merkmale wie Geschlecht, Alter und Aufnahmegewicht bei Neugeborenen. Diagnosen werden dabei auf Basis des ICD-10-Codes (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision) und Prozeduren mit dem OPS (Operationen- und Prozedurenschlüssel) kategorisiert (vgl. Busse et al. 2013, S. 5 f.). Die Berechnung der Vergütungshöhe erfolgt durch Multiplikation des Basisfallwerts mit der Bewertungsrelation. Dabei entspricht der Basisfallwert der durchschnittlichen Vergütung aller mit ihrer Häufigkeit gewichteten DRGs. Hierzu wird ein landeseinheitlicher Preis, der sogenannte Landesbasisfallwert, in jedem Bundesland jährlich neu verhandelt. Durch die Bewertungsrelation, die auch als Kostengewicht bezeichnet wird, werden Mehr- oder Minderkosten im Vergleich zum Basisfallwert berücksichtigt. Die Bewertungsrelation einer DRG findet sich neben der zugehörigen Leistungsbeschreibung im Fallpauschalen-Katalog, der jährlich vom zuständigen Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) veröffentlicht wird (vgl. Dröschel et  al. 2016, S. 160; InEK GmbH 2017). Neben der mittleren Verweildauer von Patient*innen mit der jeweiligen DRG (mittlere Grenzverweildauer) findet sich im Fallpauschalen-­ Katalog zu jeder DRG auch eine obere und untere Grenzverweildauer. Während das Krankenhaus für einen Fall bei Überschreitung der oberen Grenzverweildauer einen Zuschlag erhält, erfolgt bei Unterschreitung der unteren Grenzverweildauer ein Abschlag auf die Fallpauschale. Im DRG-System gibt es außerdem Zusatzentgelte, die z. B. für teure Medikamente oder Medizinprodukte zusätzlich zu den Fallpauschalen abgerechnet werden können (vgl. Dröschel et al. 2016, S. 160).

15  Kennzahlen der stationären Vergütung

203

Aus dem DRG-System lassen sich Kennzahlen wie der Case Mix (CM) und Case Mix Index (CMI) ableiten, die einen Vergleich der Abrechnungsdaten von Krankenhäusern oder Krankenhausabteilungen ermöglichen. Der Case Mix ist ein Maß für den Ressourcenverbrauch z. B. einer Krankenhausabteilung und ergibt sich aus der Summe aller effektiven Kostengewichte dieser Abteilung im betrachteten Abrechnungszeitraum. Der Case Mix Index ist der Quotient aus CM und Fallzahl und damit ein Maß für den relativen Ressourcenverbrauch aller behandelten Fälle der Periode (vgl. vdek 2018a). Für einen Überblick über das G-DRG-System werden Busse et  al. (2013) sowie ­Dröschel et  al. (2016) empfohlen. Eine detaillierte Einführung in die Krankenhaus-­ Kostenrechnung geben Keun und Prott (2009). Nähere Informationen finden sich darüber hinaus auf der Website des InEK (2019). Dort werden auch jährlich der aktuelle DRG-­ Fallpauschalen-­Katalog und die dazugehörigen Abrechnungsbestimmungen kostenfrei zur Verfügung gestellt. Ergänzend bietet die DRG Research Group der Universität Münster unter www.drg.uni-muenster.de kostenfrei den sogenannten Webgrouper an, mit dessen Hilfe auf Basis von ICD-10- und OPS-Codes Fallpauschalen ermittelt werden können (DRG Research Group 2019).

15.2 Fallstudie: Assessment Center für das Medizincontrolling „Herzlich Willkommen beim Assessment Center für unser Traineeprogramm. Zunächst einmal Glückwunsch, dass Sie alle den ersten Schritt des Bewerbungsprozesses erfolgreich durchlaufen haben. Ich freue mich auf einen spannenden und lehrreichen Tag mit Ihnen und hoffe, dass ich möglichst viele von Ihnen bald als Kolleginnen und Kollegen begrüßen kann. Bevor am Nachmittag zwei Einzelgespräche anstehen, bekommen Sie heute Vormittag drei Aufgaben zur Bearbeitung in selbst gewählten Kleingruppen. Da Sie sich für unsere Traineestellen im Medizincontrolling unserer Klinikkette beworben haben, drehen sich alle um die stationäre Vergütung mit DRGs. Für die Bearbeitung der Aufgaben 1, 2 und 3 haben Sie 30 Minuten Zeit. Gerne können Sie währenddessen Fragen stellen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“

Mit diesen Worten beginnt Ihr Auswahltag für das Traineeprogramm einer großen Klinikkette, auf das Sie sich für Ihren Berufseinstieg nach dem Studium beworben haben. Ihnen wird ein Aufgabenzettel ausgeteilt, auf dem Sie drei Aufgaben zur Vergütung mit Fallpauschalen finden. Auf den ersten Blick kommen Ihnen die Begriffe bekannt vor und Sie beginnen hochmotiviert mit der Bearbeitung der Aufgaben. Schließlich haben Sie nur eine Chance, Ihren Wunscharbeitgeber von Ihren Fähigkeiten zu überzeugen.

15.3 Aufgaben 15.3.1 Vergleich zwischen Pflegesätzen und Fallpauschalen Vor Einführung von Diagnosis Related Groups (DRGs) bildeten tagesgleiche Pflegesätze die Grundlage der stationären Vergütung in Deutschland.

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F. Gansen und K. Hochbaum

a) Erklären Sie kurz, was Fallpauschalen sind und wie sie sich von tagesgleichen Pflegesätzen unterscheiden. b) Stellen Sie die Vor- und Nachteile von Fallpauschalen im Vergleich zu tagesgleichen Pflegesätzen dar. c) Nennen Sie weitere Möglichkeiten zur Vergütung von Krankenhausleistungen. Nachfolgend sind drei vereinfachte Beispielfälle dargestellt. Nutzen Sie in Aufgabe 15.3.2 zunächst die dargestellten Angaben aus dem Fallpauschalen-Katalog, um die Fallpauschale für Fall 1 händisch zu berechnen. Anschließend können Sie in Aufgabe 15.3.3 den Webgrouper nutzen, um die Fallpauschale für die Fälle 2 und 3 zu bestimmen.

15.3.2 Berechnung von Fallpauschalen a) Aus welchen drei Elementen setzt sich der Code einer DRG zusammen, d. h. wofür steht welcher Teil der Kombination aus Buchstaben und Ziffern einer DRG? b) Wie lässt sich aus Basisfallwert und effektivem Kostengewicht die Fallpauschale ­berechnen? Geben Sie die Formel zur Berechnung an. c) Berechnen Sie auf Basis von Tab. 15.1 und dem Landesbasisfallwert (mit Ausgleichen) von Bremen für 2018 in Höhe von 3463,39 € (vgl. vdek 2018b) die Fallpauschale für Fall 1. d) Wie ändert sich die Fallpauschale bei einer Verweildauer von einem bzw. 10 Tagen? Tab. 15.1  Daten zur Berechnung einer Fallpauschale nach G-DRG Version 2018 (vgl. InEK GmbH 2017) Fall 1 Verweildauer der Patientin DRG Bezeichnung

Kostengewicht (= Bewertungsrelation) Mittlere Verweildauer Untere Grenzverweildauer 1. Tag mit Abschlag Abschlag von Kostengewicht pro Tag Obere Grenzverweildauer 1. Tag mit Zuschlag Zuschlag zu Kostengewicht pro Tag

3 Tage F71B Nicht schwere kardiale Arrhythmie und Erregungsleitungsstörungen mit äußerst schweren CC⃰, mehr als ein Belegungstag oder mit kathetergestützter elektrophysiologischer Untersuchung des Herzens oder bestimmter hochaufwendiger Behandlung 0,456 3,8 Tage 2 Tage Tag 1 0,251 8 Tage Tag 9 0,081

⃰Abkürzung: CC = Komplikationen oder Komorbiditäten

15  Kennzahlen der stationären Vergütung

205

Tab. 15.2  Daten zur Bestimmung von ICD-Code, OPS-Code, DRG und effektivem Entgelt (vgl. DIMDI 2017a, b) Geschlecht Aufnahmegewicht Alter Verweildauer Diagnose(n)

ICD-Code Prozedur

Fall 2 Weiblich 60 kg 17 Jahre 3 Tage Akute Appendizitis, nicht näher bezeichnet

Fall 3 Männlich 85 kg 55 Jahre 1 Tag Chronische obstruktive Lungenkrankheit mit akuter Infektion der unteren Atemwege: FEV1⃰ >=50 % und 196/184/368 Aufwandspunkte, Alter > 14 Jahre, ohne kardiales Mapping, ohne schwere CC bei BT⃰ > 1, ohne komplexe Diagnose, ohne bestimmten Eingriff F06E Koronare Bypass-Operation ohne mehrzeitige komplexe OR⃰-­Prozeduren, ohne komplizierende Konstellation, ohne IntK > 392/368/ – Aufwandspunkte, ohne Karotiseingriff, ohne invasive kardiologische Diagnostik, ohne intraoperative Ablation, ohne schwerste CC Summe Bezeichnung

Tab. 15.4  Daten zur Berechnung von Case Mix und Case Mix Index (vgl. InEK GmbH 2017)

208 F. Gansen und K. Hochbaum

15  Kennzahlen der stationären Vergütung

209

15.4.2 Berechnung von Fallpauschalen a) Zusammensetzung eines DRG-Codes (vgl. Dröschel et al. 2016, S. 163): 1. Stelle: Hauptdiagnosegruppe (Major Diagnostic Category bzw. MDC) nach Organsystem bzw. Ursache der Erkrankung unterteilt, zusätzlich Sonderfälle wie ­ Transplantationen (= A) und Fehler-DRGs (= 9) 2. und 3. Stelle: Art der Behandlung in Ziffern von 01 bis 99 (invasiv/chirurgisch/ konservativ) 4. Stelle: Schweregrad (in Hinblick auf verursachte Kosten) in Buchstaben von A bis I (A = hoher, I = geringer Aufwand), Einfluss von Nebendiagnosen (Complication and Comorbidity Level bzw. CC) und Alter b) Formel zur Berechnung der Fallpauschale: Basisfallwert × effektives Kostengewicht = Fallpauschale c) Eine Verweildauer von 3 Tagen liegt innerhalb der Verweildauergrenzen (untere GVWD = 2 Tage und obere GVWD = 8 Tage). Das bedeutet, dass das effektive Kostengewicht gleich dem Basiskostengewicht ist. Die Fallpauschale bei 3 Tagen Verweildauer beträgt damit: d) Bei einer Verweildauer von einem Tag erfolgt ein Abschlag, der für jeden Tag, der unterhalb der unteren GVWD liegt, vom (Basis-)Kostengewicht abgezogen wird. Der Abschlag, der pro Tag Unterschreitung der unteren GVWD vom Kostengewicht abgezogen wird, beträgt 0,251. Das effektive Entgelt ist bei einem Tag Verweildauer damit: Bei einer Verweildauer von 10 Tagen erfolgt ein Zuschlag, der für jeden Tag, der oberhalb der oberen GVWD liegt, dem (Basis-)Kostengewicht hinzugerechnet wird. Der Zuschlag beträgt für die DRG F71B 0,081 pro Tag Überschreitung der oberen GVWD. Das effektive Entgelt ist bei 10 Tagen Verweildauer:

15.4.3 Bestimmung von Fallpauschalen mit dem Webgrouper a) Auf die Kodierung nach ICD-10-GM Version 2018 kann über folgenden Link zugegriffen werden (DIMDI 2017a): https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/­ htmlgm2018/ Für Fall 2 ergibt sich der Code K35.8, für Fall 3 der Code J44.02 (s. Tab. 15.5). b) Die Code-Suche für den OPS Version 2018 findet sich unter folgenden Link (DIMDI 2017b): https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/ops/kode-suche/opshtml2018/ Der OPS-Code für Fall 2 ist 5-470.10, der Code für Fall 3 ist 3-202 (s. Tab. 15.5).

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F. Gansen und K. Hochbaum

Tab. 15.5  Musterlösung zur Bestimmung von ICD-Code, OPS-Code, DRG und effektivem Entgelt (vgl. DIMDI 2017a, b; DRG Research Group 2019) Geschlecht Aufnahmegewicht Alter Verweildauer Diagnose(n)

ICD-Code Prozedur

OPS-Code DRG Effektives Entgelt

Fall 2 Weiblich 60 kg⃰ 17 Jahre 3 Tage Akute Appendizitis, nicht näher bezeichnet K35.8 Appendektomie: Laparoskopisch: Absetzung durch (Schlingen)ligatur 5-470.10 G23C 2947,34 €

Fall 3 Männlich 85 kg⃰ 55 Jahre 1 Tag Chronische obstruktive Lungenkrankheit mit akuter Infektion der unteren Atemwege: FEV1⃰⃰ >=50 % und 196/184/368 Aufwandspunkte, Alter > 14 Jahre, ohne kardiales Mapping, ohne schwere CC bei BT⃰ > 1, ohne komplexe Diagnose, ohne bestimmten Eingriff Koronare Bypass-Operation ohne mehrzeitige komplexe OR⃰-­ Prozeduren, ohne komplizierende Konstellation, ohne IntK > 392/368/ – Aufwandspunkte, ohne Karotiseingriff, ohne invasive kardiologische Diagnostik, ohne intraoperative Ablation, ohne schwerste CC 4,240

0,707

2,642

0,456

Effektive Bewertungsrelation 0,849

137 Fallzahl

14

31

6

7

Fallzahl 2018 79

167,392 Case Mix

59,360

21,917

15,852

3,192

Effektive Bewertungsrelation × Fallzahl 67,071

⃰Abkürzungen: BT = Belegungstag; CC = Komplikationen oder Komorbiditäten; IntK = Intensivmedizinische Komplexbehandlung; PTCA = perkutane transluminale Koronarangioplastie; OR = operativ (Operating Room)

Summe Bezeichnung

F06E

F49G

F12B

F71B

DRG F62C

Tab. 15.7  Musterlösung zur Berechnung von Case Mix und Case Mix Index (vgl. InEK GmbH 2017)

212 F. Gansen und K. Hochbaum

15  Kennzahlen der stationären Vergütung

213

Literatur BUSSE, R., SCHREYÖGG, J. & STARGARDT, T. (2013): Leistungsmanagement in Krankenhäusern, in: BUSSE, R., TIEMANN, O. & SCHREYÖGG, J. (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen: Das Lehrbuch für Studium und Praxis. Berlin, Heidelberg: Springer, S. 51–77. DIMDI (2017a): ICD-10-GM Version 2018. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision German Modification Version 2018, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), [online] https:// www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2018/ [23.03.2019] DIMDI (2017b): OPS Version 2018. Operationen- und Prozedurenschlüssel Version 2018, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), [online] https://www. dimdi.de/static/de/klassifikationen/ops/kode-suche/opshtml2018/ [23.03.2019] DRG RESEARCH GROUP (2019): Webgrouper, [online] http://drg.uni-muenster.de/index.php?option=com_webgrouper&view=webgrouper&Itemid=112 [23.03.2019] DRÖSCHEL, D., ROGOWSKI, W. & JOHN, J. (2016): Derzeitige Finanzierung der Versorgung, in: ROGOWSKI, W. (Hrsg.), Business Planning im Gesundheitswesen: Die Bewertung neuer Gesundheitsleistungen aus unternehmerischer Perspektive. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 147–175. INEK GMBH (2017): Fallpauschalen-Katalog 2018, Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), [online] https://www.g-drg.de/G-DRG-System_2018/Fallpauschalen-Katalog/Fallpauschalen-Katalog_2018 [23.03.2019] INEK GMBH (2019): Offizielle Website des deutschen DRG-Systems, Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), [online] https://www.g-drg.de/ [23.03.2019] KEUN, F. & PROTT, R. (2009): Einführung in die Krankenhaus-Kostenrechnung: Anpassung an neue Rahmenbedingungen. 7., überarb. Aufl.: Gabler Verlag/GWV Fachverlage GmbH. VDEK (2018a): Glossar. Case-Mix; Case-Mix-Index (CMI), Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek), [online] https://www.vdek.com/LVen/HAM/Vertragspartner/Stationaere_Versorung/glossar.html [23.03.2019] VDEK (2018b): Landesbasisfallwerte (LBFW), Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek), [online] ­https://www.vdek.com/vertragspartner/Krankenhaeuser/landesbasisfallwerte.html [23.03.2019]

Kennzahlen im betrieblichen Gesundheitsmanagement

16

Eugenia Larjow, Henning Erfkamp und Silvia Kaiser

Zusammenfassung

Informationen über die Gesundheit von Mitarbeiter*innen spielen eine zentrale Rolle im betrieblichen Gesundheitsmanagement. Nach einer einführenden Erläuterung, welche wettbewerblichen Vorteile erwachsen können, wenn Aktivitäten zur Förderung des betrieblichen Gesundheitsklimas sorgsam aufeinander abgestimmt werden, wird im ersten Teil der vorliegenden Fallstudie veranschaulicht, welche Teilaufgaben klassischerweise von betrieblichen Gesundheitsmanager*innen dabei übernommen werden können und mit welchen Herausforderungen diese Rolle verbunden ist. Der zweite Teil des Textbeitrags geht auf die Betrachtung von Fehlzeiten ein, die ein mögliches E ­ lement zur Analyse der Gesundheitssituation in einem Unternehmen sein können. Mithilfe von exemplarischen Kennzahlen zum Fehlzeitengeschehen werden Stärken und Schwächen von Aussagen skizziert, die den betrieblichen Gesundheitszustand b­ eschreiben.

E. Larjow (*) Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Erfkamp Fachbereich 11 – Human- und Gesundheitswissenschaften, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Kaiser Beraterin für Prävention und betriebliche Gesundheitsförderung, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_16

215

216

E. Larjow et al.

16.1 Hintergrund Im betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) wird das Wohlbefinden von Mitarbeiter*innen als ein strategischer Faktor betrachtet. Aktivitäten zum Aufbau des Human- und Sozialkapitals eines Unternehmens werden hier als notwendige Ergänzungen zu klassischen Maßnahmen verstanden, die nachhaltig unternehmerischen Erfolg und Konkurrenzfähigkeit sicherstellen sollen (Badura et al. 2010, S. 5 f.; Uhle und Treier 2015, S. 36 ff.). So können geeignete Investitionen zur Förderung der Gesundheit der Mitarbeitenden ­längerfristig zu niedrigeren Fluktuationsquoten oder gar zum geringeren Krankenstand beitragen. Daraus können wiederum positive Begleiterscheinungen resultieren, wie z. B. reduzierte Qualifizierungskosten für Neuanstellungen, geringere Prozess- und Koordinierungskosten oder stabile Kund*innenbeziehungen (Badura et al. 2010, S. 6). In Gesundheitsbetrieben können verantwortungsbewusstes Führungsverhalten und Maßnahmen zur Vermeidung von anhaltendem Stress und zur Vermeidung von überfordertem Gesundheitspersonal darüber hinaus das Risiko für irreversible Schäden für Patient*innen mindern. Damit können sie auch zu reduzierten Haftungsrisiken und zu geringeren Entschädigungssummen beitragen. Eine Teilaufgabe des BGM besteht in der Entwicklung von Vorschlägen, wie ein Unternehmen das Wohlbefinden am Arbeitsplatz definieren und operationalisieren kann. BGM-Beauftragte kooperieren beim Erarbeiten dieser Definition mit fachkundigen Expert*innen und bündeln das Wissen um bereits bestehende und für eine Organisation geeignete Maßnahmen der Gesundheitsförderung. Sie vermitteln zwischen den teilweise unterschiedlichen Verständnisweisen von Geschäftsführung und Personalvertretung und unterstützen bei der Auswahl und der Durchführung von Aktivitäten, mit denen positiv auf die Gesundheit im Betrieb eingewirkt werden soll (vgl. Badura et al. 1999).1 Während gesundheitserhaltende und präventive Maßnahmen wie bspw. das Einhalten von vorgeschriebenen Standards des Arbeitsschutzes, das Durchführen von betriebsärztlichen Untersuchungen oder das betriebliche Eingliederungsmanagement in betrieblichen Strukturen rechtlich verankert sind, sind Aktivitäten zur Verbesserung des Arbeitsklimas zwischen Führungspersonen und Mitarbeiter*innen oder zur Förderung der gesundheitlichen Selbstkompetenz von Beschäftigten optionale Instrumente. Mithilfe von geeigneten Kennwerten unterstützen BGM-Beauftragte die Geschäftsleitung dabei, die Wirksamkeit von gesundheitsförderlichen Maßnahmen einzuschätzen und das Kosten-Nutzen-­ Ver­ hältnis von getätigten Gesundheitsinvestitionen zu bewerten (vgl. hierzu Pieper et  al. 2015). Eine wichtige Stütze ist hierbei die frühzeitige Klärung, welchem konkreten Ziel eine Maßnahme dienen soll. Die SMART-Schablone hat sich bei diesem Unterfangen als ein hilfreiches Instrument bewährt (Budde 2010, S. 316). Projektziele, die im Vorfeld spezifisch (S), messbar (M), anspruchsvoll (A), realistisch (R) und terminiert (T) formuliert werden, fördern eine ergebnisorientierte Auswahl von Maßnahmen, helfen, das Vorhaben zu strukturieren und unrealistische Erwartungen im Vorfeld auszuräumen. Zugleich schafft 1

 Für diese Tätigkeit kann die Fallstudie in Kap. 4 aus diesem Lehrbuch herangezogen werden.

16  Kennzahlen im betrieblichen Gesundheitsmanagement

217

ein solches Vorgehen die Grundlage für spätere Vergleiche zwischen den einzelnen ­Maßnahmen. Eine Erwartung, die Geschäftsführende typischerweise an die Einführung von gesundheitsbezogenen Angeboten stellen, ist der Rückgang von krankheitsbedingten Fehltagen. Diese sind für ein Unternehmen mit direkten und indirekten Kosten verbunden. Sie erfordern neben sinkender Produktivität und Qualitätsverlusten bei fortlaufenden Personal- und Sachkosten zusätzlichen Organisationsaufwand und Mehrarbeit. Damit lässt sich der Krankenstand im Betrieb monetär quantifizieren, was die Argumentation in Bezug auf die Einführung von gesundheitsförderlichen Maßnahmen erleichtert. Der erfasste Krankenstand stellt jedoch einen Spätindikator dar. Ohne ergänzende Informationen lassen sich aus dieser Kennzahl keine Aussagen über Gründe ableiten, die hinter den registrierten Krankheitstagen stehen. Entsprechend lässt sich aus dieser Kennzahl allein auch nicht ableiten, ob und welche Maßnahmen geeignet wären, um den Krankenstand zu senken. Eine weitere wichtige Aufgabe des BGM besteht daher in einer differenzierten Aufklärung über die Zusammensetzung des Krankenstands im Unternehmen ebenso wie über Chancen und Grenzen eines Gesundheitsmanagements im Umgang mit krankheitsbedingten Fehltagen (Uhle und Treier 2015, S. 248 ff.). Eine exemplarische Zusammenfassung der Grundsätze, des Vorgehens und der Instrumente im BGM ist in der Bremischen Handlungshilfe und Dienstvereinbarung zum ­Gesundheitsmanagement zu finden (Senatorin für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen 2018, S.  8–35). Einen detaillierteren Überblick über zentrale Rechtsgrundlagen, Handlungsfelder und den betrieblichen Gesundheitsförderungsprozess bietet der Leitfaden Prävention des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband 2018, S. 89–124). Differenzierte Hinweise zur Analyse von krankheitsbedingten Fehlzeiten sind in Kapitel 5.3 des Buches Betriebliches Gesundheitsmanagement: Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt – Mitarbeiter einbinden, Prozesse gestalten, Erfolge messen von Uhle und Treier (2015, S. 248–282) zu finden.

16.2 Fallstudie: BGM in Wünschlich Nord Im städtischen Krankenhaus Wünschlich Nord wurde vor einiger Zeit das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) eingeführt. Wie es dazu kam und welche verschiedenen Erwartungen daran geknüpft wurden, ist im ersten Sitzungsprotokoll des Projektsteuerungskreises zusammengefasst (s. Tab. 16.1). Vier Monate später wird in Wünschlich Nord – dem Ortskrankenhaus, in dem Sie Ihren Bundesfreiwilligendienst absolviert haben – die Stelle der betrieblichen Gesundheitsmanagerin nachbesetzt. Weil Sie sich schon immer für BGM interessiert haben, bewerben Sie sich und bekommen die Stelle. Ihre Berufserfahrung als Prozessmanager*in im Krankenhaus St. Eligius (s. Fallstudie Grundsätze der Prozessoptimierung in Kap. 11) in Kombination mit Ihren Einblicken in interne Klinikstrukturen während des Freiwilligendienstes haben Ihnen deutliche Vorteile gegenüber anderen Stelleninteressierten verschafft.

Steuerungskreis Gesundheit der Klinik Wünschlich Nord Protokoll zur ersten Sitzung Datum 01.02.2019 Teilnehmende Prof. Dr. Dr. Alpha – stellvertretende ärztliche Direktorin Dipl.-Kfm. Herr Beta – Abteilung kaufmännisches Controlling Frau Gamma – stellvertretende Pflegedirektorin Frau Delta – Projektleiterin BGM (Protokollführung) Sitzungsbeginn 19:00 Uhr Inhalt Frau Delta eröffnet die Sitzung und erklärt, dass BGM für die Zukunft der Klinik eine wichtige Aufgabe darstellen wird, weil BGM Teil der aktualisierten Dienstvereinbarung zwischen Wünschlich Nord und dem öffentlichen Träger der Klinik sei. Die Einführung sei damit verpflichtend. Alle sollten bemüht sein, die Einführung schnell voranzutreiben. Es folgt eine Sammlung von Zielen, die in Wünschlich Nord mit BGM verfolgt werden sollen, und von Vorschlägen zu gesundheitsfördernden Maßnahmen, die eingeleitet werden sollen. Frau Prof. Dr. Dr. Alpha sieht als Geschäftsführerin den Fokus ganz klar auf einer deutlichen Reduzierung von Fehlzeiten. Wie das erreicht wird, sei irrelevant, Hauptsache es kostet möglichst wenig. Herr Beta ist einverstanden. Er erwartet außerdem, dass die Raucherquote abnimmt, weil ihn der Zigarettengeruch stört, der in Pausenzeiten bei offenem Fenster in sein Büro reinzieht. Sein Vorschlag ist eine verpflichtende Teilnahme von allen rauchenden Beschäftigten an einem Nikotinentwöhnungskurs. Die stellvertretende Pflegedirektorin, Frau Gamma, erwartet von BGM erhöhte Leistungsbereitschaft der Beschäftigten, damit es keine Diskussionen wegen zusätzlicher Dokumentationspflichten gibt, die zwecks besserer Ergebnisse in Qualitätskontrollen angedacht sind. Als Belohnung schlägt sie vor, jeden Montag einen Obstkorb in den Pausenräumen aufzustellen. Frau Prof. Dr. Dr. Alpha und Herr Beta sind mit allen Maßnahmenvorschlägen einverstanden und sprechen sich für sofortigen Maßnahmenbeginn aus. Alle Teilnehmenden äußern sich positiv über die konstruktiven Beiträge. Die Sitzung wird beendet. Sitzungsende 19:10 Uhr

Tab. 16.1  Protokoll zur Steuerungskreissitzung Gesundheit

218 E. Larjow et al.

16  Kennzahlen im betrieblichen Gesundheitsmanagement

219

An Ihrem ersten Arbeitstag erfahren Sie von Frau Deltas kommissarischem Vertreter, dass bisherige BGM-Maßnahmen gescheitert seien: Die Bereitstellung eines Obstkorbes wurde nach einem Monat wieder abgeschafft aufgrund von unzähligen Forderungen der Beschäftigten auf Auszahlung von Obst, wenn sie wegen Krankheit oder Freischicht ­montags nicht anwesend waren. Frau Delta hat sich nach einer Eskalation zwischen ­Steuerungsgruppe und Personalrat auf unbestimmte Zeit krankgemeldet. Auslöser war der Versand von Einladungen zum Pflichtkurs zur Nikotinentwöhnung, die alle rauchenden Beschäftigten erhalten haben. Aus den bisherigen Bemühungen, BGM in Wünschlich Nord zu implementieren, ist ein Übergabeordner übrig geblieben, in dem Sie folgende Informationen finden: • Protokoll der ersten und bisher einzigen Sitzung des Steuerungskreises Gesundheit (s. Tab. 16.1) • Auszüge aus der Fehlzeitenanalyse der Gesund-und-Glücklich Krankenkasse (GGK) (s. Tab. 16.2 und 16.3) • Leitfaden Prävention des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-­ Spitzenverband 2018; Anmerkung: bitte laden Sie für die Bearbeitung der Teilaufgabe 16.3.4 c) den Präventionsleitfaden aus dem Internet herunter)

16.3 Aufgaben 16.3.1 Grundsätze des BGM a) Beschreiben Sie zunächst den Unterschied zwischen betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF) und betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM). Welches Verständnis von BGM hat der Steuerungskreis Gesundheit, wenn Sie sich nur an den Informationen aus dem Protokoll orientieren (s. Tab. 16.1)? b) Wie lauten die vier Grundsätze des BGM (vgl. Senatorin für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen 2018, S. 8 ff.)? Wurden diese Grundsätze im Vorgehen des Steuerungskreises Gesundheit der Klinik Wünschlich Nord eingehalten? Begründen Sie Ihre Antwort. Welcher Kardinalfehler wurde bei der Zusammensetzung des Steuerungskreises begangen? c) Welchen Ursprung hat die Einführung von BGM in Wünschlich Nord? Welche negativen Konsequenzen könnten damit unter Umständen für BGM-Beauftragte verbunden sein? d) Beschreiben Sie anhand des Protokolls (s. Tab. 16.1) die Rolle, die Frau Delta als Gesundheitsmanagerin eingenommen hat. Überzeugt Sie Frau Deltas Rolleninterpretation? Welche Verantwortlichkeiten sollte Ihrer Meinung nach ein*e BGM-­Beauftragte*r wahrnehmen und welche nicht? Welche projektrelevanten Fragen würden Sie an Frau Deltas Stelle möglichst schnell klären wollen?

AU-Tage je Fall

AU-Fälle je Versicherungsjahr

Arbeitsunfähigkeitsquote (AU-Quote)

Arbeitsunfähigkeitsanalyse der Krankenkasse

Kennzahl Arbeitsunfähigkeit (AU)

Kurzbeschreibung Der/Die Beschäftigte ist krankheitsbedingt nicht in der Lage, seiner/ihrer Erwerbstätigkeit nachzugehen. In Deutschland muss spätestens ab dem vierten Fehltag eine ärztliche Bescheinigung über die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit dem Arbeitgeber vorgelegt werden. Die genaue Frist für die Vorlage variiert je nach Arbeitgeber. Die Krankenkasse des/der Arbeitnehmers/-in erhält ebenfalls eine entsprechende Meldung. Krankenkassenspezifische Informationen zum krankheitsbedingten Fehlzeitengeschehen ermöglichen Differenzierungen nach der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-Klassifikation). Die AU-Quote beschreibt den Anteil von Erwerbspersonen, die sich im Untersuchungszeitraum (z. B. im Kalenderjahr oder innerhalb einer festgelegten Soll-Arbeitszeit) mindestens einen Tag arbeitsunfähig gemeldet haben. Typischerweise findet keine stundenweise Betrachtung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit statt, weshalb dieser Parameter Verzerrungen enthalten kann. Weder die Dauer von AU-Meldungen noch die Anzahl von Meldungen je Person werden durch diesen Parameter angezeigt. Durchschnittliche Zahl der gemeldeten AU-Fälle innerhalb einer Versicherungszeit von 365 Tagen, wobei 365 Tage einem Versicherungsjahr entsprechen; die Angabe entspricht sinngemäß der durchschnittlichen Anzahl von Krankmeldungen einer durchgängig versicherten Erwerbsperson innerhalb eines Jahres. Die Voraussetzung, dass alle erfassten Mitarbeiter*innen durchgehend über 365 Tage bei dem betrachteten Arbeitgeber beschäftigt und bei der auswertenden Krankenkasse versichert sind, ist selten gegeben. Aus diesem Grund wird in Arbeitsunfähigkeitsanalysen der Krankenkassen das sogenannte Versichertenjahr als einheitliche zeitliche Bezugsgröße herangezogen (Definition s. u.). Durchschnittliche Dauer einer einzelnen Krankschreibung. Für die Berechnung wird die Summe der AU-Tage durch die Anzahl der gemeldeten AU-Fälle dividiert.

Tab. 16.2  Ausgewählte Begriffe der Fehlzeitenanalyse (vgl. Techniker Krankenkasse 2018b, S. 3; Uhle und Treier 2015, S. 266 f.)

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Weitere Parameter zur differenzierten Betrachtung des Fehlzeitengeschehens

Versichertenjahr

Krankenstand (in AU-­Analysen der Krankenkassen)

Krankenquote

Gesundheitsquote

AU-Tage je Versicherungsjahr Durchschnittliche Zahl der gemeldeten AU-Tage beziehungsweise Dauer der Arbeitsfehlzeiten innerhalb eines Versicherungsjahres; entspricht sinngemäß der durchschnittlichen Zahl von Fehltagen einer durchgängig versicherten Erwerbsperson innerhalb eines Jahres. Anzahl nicht AU gemeldeter Mitarbeitender pro Zeiteinheit im Verhältnis zur Anzahl aller Mitarbeitenden in Prozent. Anzahl AU gemeldeter Mitarbeiter*innen pro Zeiteinheit im Verhältnis zur Anzahl aller Mitarbeiter*innen in Prozent (s. Kurzbeschreibung zu AU-Quote) Anteil der erkrankungsbedingten Fehltage an allen Versicherungstagen in Prozent; entspricht dem Anteil der an einem Tag des Jahres durchschnittlich krankgemeldeten Erwerbspersonen (in Bezug auf alle Tage inklusive Wochenenden und Urlaubszeiten). Der Krankenstand lässt sich in dieser Form aus der Angabe AU-Tage je Versichertenjahr multipliziert mit 100 und dividiert durch 365 berechnen. Je nach Quelle wird der Krankenstand aus unterschiedlichen Gründen zum Teil mit abweichenden Methoden berechnet. Beim Vergleich verschiedener Krankenstände sollte daher auf methodische Erläuterungen zur Berechnung geachtet werden. Weil einige Versicherte nicht durchgehend über den gesamten Zeitraum eines Kalenderjahres bei der auswertenden Krankenkasse versichert oder bei dem betrachteten Arbeitgeber beschäftigt sind, dient als einheitlicher Bezug in Auswertungen von Krankenkassen das Versichertenjahr. Das Versichertenjahr ergibt sich aus der Summe der Versicherungstage aller in dem betrachteten Zeitraum erfassten Personen dividiert durch die Anzahl der Tage des Berichtszeitraumes. Prozentualer oder absoluter Anteil an AU-Zeiten durch Berufskrankheiten, Unfälle oder Frühberentungen.

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Tab. 16.3  Darstellung des Fehlzeitengeschehens von GGK-versicherten Beschäftigten in Wünschlich Nord Kennzahl* GGK-versicherte Beschäftigte davon Frauen davon Männer Durchschnittsalter (Jahre) Krankenstand AU-Quote AU-Fälle je Versicherungsjahr* AU-Tage je Versicherungsjahr** Durchschnittliche Falldauer

Wünschlich Nord 2015 2016 86 87 79,1 % 82,1 % 20,9 % 17,9 % 43,6 43,9 3,10 % 3,10 % 55,1 % 53,1 % 1,12 1,21 11,3 11,3 10,1 9,3

2017 92 82,0 % 18,0 % 43,4 3,32 % 52,8 % 1,07 12,1 11,3

Erwartet 2017 − − − − 6,05 % 58,8 % 1,58 22,1 14,0

Branche 2017 176.574 75,1 % 24,9 % 40,1 4,42 % 54,8 % 1,21 16,15 13,3

⃰Die ausgewählten Kennzahlen spiegeln einen Teil von Informationen wider, die unter Berücksichtigung von Datenschutzvoraussetzungen in betriebsspezifischen Fehlzeitenprofilen der Techniker Krankenkasse (TK) ausgewiesen werden können. Während die letzten fünf Werte in Spalte Branche 2017 mithilfe des TK-Fehlzeitentools für die Branche unter der Wirtschaftszweigklassifizierung 86.10.1 ermittelt wurden (das TK-Fehlzeitentool ist online verfügbar unter: https://www.tk.de/­ service/app/2030888/fikuaukennzahlen/aukennzahlen.app. Zugegriffen am 23.03.2019), wurden die übrigen Tabellenwerte für die vorliegende Fallstudie auf Basis von Plausibilitätsüberlegungen geschätzt ⃰⃰Für die vorliegende Fallstudie wird für einen leichteren Einstieg davon ausgegangen, dass alle ausgewiesenen Versicherten durchgehend 365 Tage in Wünschlich Nord beschäftigt und bei der GGK versichert waren. In der Praxis wird an dieser Stelle des betriebsspezifischen Fehlzeitenprofils üblicherweise mit AU-Fällen bzw. AU-Tagen je Versichertenjahr gerechnet und die Werte entsprechend der tatsächlichen Beschäftigungsdauer beim betrachteten Arbeitgeber bzw. der Versicherungsdauer bei auswertender Krankenkasse berücksichtigt (s. Erläuterung in Tab. 16.2)

16.3.2 Ziele und Maßnahmen a) Welche Ziele wurden in der Steuerungsgruppe formuliert, die mittels BGM-­Maß­ nahmen erreicht werden sollen? a. Erfüllen diese Zielformulierungen die SMART-Regel? b. Erläutern Sie, welche Konkretisierungen im Sinne jeder Teilregel notwendig sind. c. Schreiben Sie für die genannten Ziele alternative Formulierungen auf, die die SMART-Regel erfüllen. b) Welche Maßnahmen wurden vom Steuerungskreis vorgeschlagen, um diese Ziele zu erreichen? a. Auf welcher Grundlage erfolgte diese Auswahl? b. Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten der beschlossenen Maßnahmen ein? ­Begründen Sie Ihre Antwort. c. Woran erkennen Sie, dass die eingeleiteten Maßnahmen nicht dem Grundgedanken einer mitarbeiter*innenorientierten Gesundheitspolitik entsprechen? c) Was könnte der Grund für die Eskalation zwischen der Steuerungsgruppe und der ­Personalvertretung gewesen sein?

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16.3.3 Fehlzeiten Verschiedene Ursachen können zu Fehlzeiten in einem Betrieb führen. Es gibt krankheitsunabhängige Fehlzeiten, die betrieblich geregelt sind, wie z.  B.  Fehltage aufgrund von Urlaub, Weiterbildung oder Freistellung für kulturelle Ereignisse. Zu gesetzlich legitimierten Fehlzeiten zählen bspw. die Abwesenheit während des Mutterschutzes, während der Elternzeit oder aufgrund einer bewilligten Kur. Krankheitsbedingtes Fehlen kann sowohl mit einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als auch ohne sie auftreten. Fehltage können aber auch motivational bedingt sein (vgl. Uhle und Treier 2015, S. 264 ff.). Tab. 16.2 stellt in Anlehnung an die methodischen Hinweise zum Gesundheitsreport der TK (2018a) sowie an Uhle und Treier (2015, S. 266 f.) einige typische Begriffe dar, die im Rahmen der betrieblichen Analyse von krankheitsbedingtem Fehlen Verwendung finden. Eine weitere Kennzahl zum Fehlzeitengeschehen, die z. B. die Techniker Krankenkasse in ihren betriebsspezifischen Fehlzeitenprofilen als Referenzwert ergänzend bereitstellt, ist der betrieblich erwartete Wert (s. Tab. 16.3). Dieser Wert gibt an, welche Fehlzeitenparameter in der Vergleichsbranche zu erwarten wären, wenn Vergleichsbetriebe aus ­demselben Wirtschaftszweig dieselbe Alters- und Geschlechterstruktur aufweisen würden wie der betrachtete Betrieb (vgl. TK 2018b, S. 21). a) Schauen Sie sich die in Tab. 16.3 bereitgestellten Informationen an, die die Gesund-­ und-­Glücklich Krankenkasse (GGK) für GGK-versicherte Beschäftigte in Wünschlich Nord aufbereitet hat. a. Beschreiben Sie in Ihren eigenen Worten die Beschäftigtengruppe, die in Tab. 16.3 dargestellt ist. Sind in der Übersicht alle Arbeitsunfähigkeitstage von GGK-­ Versicherten in 2017 abgebildet? Begründen Sie Ihre Antwort. b. Welche weiteren Informationen sollten herangezogen werden, um eine differenzierte Ist-Analyse der Arbeitsunfähigkeit (AU) in Wünschlich Nord vornehmen und sinnvoll interpretieren zu können? c. Warum ist eine differenzierte Betrachtung des Fehlzeitengeschehens nach Geschlecht, Alter und Berufsgruppen sinnvoll? d. Erklären Sie in eigenen Worten den Unterschied zwischen AU-Quote und Krankenstand (s. Tab. 16.2). e. Welche dieser beiden Kennzahlen ist für die Sicherstellung der täglichen Prozessabläufe interessanter – die AU-Quote oder der Krankenstand? f. Wenn Sie sich ausschließlich auf GGK-versicherte Mitarbeiter*innen beziehen, wie schneidet Ihr Unternehmen im Branchenvergleich bezogen auf den Krankenstand ab – besser oder schlechter? Warum ist es für den Vergleich sinnvoller, Informationen aus der Tabellenspalte Erwartet 2017 heranzuziehen anstatt aus der Spalte Branche 2017 (s. Tab. 16.3)? b) Auch die Personalabteilung erfasst Fehlzeiten (betriebliche Abwesenheitsstatistik). Welche Vorteile haben betriebsinterne Aufzeichnungen zu Fehlzeiten gegenüber Fehlzeitenberichten von Krankenkassen?

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c) Welche der beiden Quellen (betriebliche Abwesenheitsstatistik und Krankenkassendaten) weist höhere Ausfalltage auf und warum? d) Würden Sie im Rahmen des Gesundheitscontrollings beide Datenquellen nutzen oder nur eine? Begründen Sie ihre Antwort.

16.3.4 Evaluation a) Begründen Sie, warum die Kennzahlen AU-Quote und Krankenstand nicht als Indikatoren für die Bewertung des Erfolgs oder des Misserfolgs einer gesundheitsför­derlichen Maßnahme geeignet sind. Warum ist es nicht überraschend, wenn diese Kennzahlen – trotz reger Beteiligung von anwesenden Mitarbeiter*innen an einem gesundheitsförderlichen Angebot – ein Jahr nach Einführung nahezu unverändert bleiben würden? b) Was sollte die Geschäftsführung bei ihrer Entscheidung über die Fortführung von ­initiierten Maßnahmen Ihrer Meinung nach beachten? Berücksichtigen Sie bei Ihrer Antwort das Treiber-Indikatoren-Modell von Uhle und Treier (2015, S. 256). c) Welche Akteure sind neben gesetzlichen Krankenkassen noch dazu verpflichtet, Unternehmen bei betrieblicher Gesundheitsförderung zu unterstützen? Werfen Sie für die Beantwortung der Frage einen Blick in das Kapitel 6.1 des GKV-­Präventionsleitfadens (GKV-Spitzenverband 2018, S. 89 ff.). Mit welchen gesundheitsbezogenen Informationen können diese Akteure betriebliche Aktivitäten zum Erhalt und zur Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz bereichern? Recherchieren Sie ggf. und nennen Sie für jeden betriebsexternen Akteur jeweils ein Beispiel.

16.4 Lösungsvorschläge 16.4.1 Grundsätze des BGM a) Unter betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF) werden klassischerweise Einzelmaßnahmen verstanden, die die individuellen Gesundheitsressourcen und -kompetenzen stärken. Hierzu zählen sowohl Interventionen am Menschen (Verhalten) als auch Maßnahmen zur Gestaltung von gesundheitsförderlichen Bedingungen (Verhältnisse). Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) zielt auf eine effektive und nachhaltige Verankerung des Themas Gesundheit am Arbeitsplatz in betrieblichen Strukturen und Prozessen eines Unternehmens ab. Hierbei werden Steuerungsmodelle zur systematischen Gesundheitsförderung entwickelt und Gesundheit als strategischer Faktor verstanden und kommuniziert (Uhle und Treier 2015, S. 36, 38). b) Die Grundsätze des BGM werden z. B. in der Bremischen Handlungshilfe beschrieben (Senatorin für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen 2018, S. 8 ff.), diese lauten: • Partizipation (Beschäftigteneinbindung in die Maßnahmenentwicklung)

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• Integration (Verankerung von Gesundheitsaufgaben und -zielen in Personal- und Führungspolitik) • Projektmanagement (Anwendung von Projektmanagementinstrumenten) • Ganzheitlichkeit (aktive Berücksichtigung von Wechselwirkungen zwischen Verhältnis- und Verhaltensprävention; Fokus sowohl auf Aktivitäten zur Minderung von Gesundheitsrisiken als auch zum Aufbau von Schutzfaktoren) Diese Grundsätze wurden im Vorgehen des Steuerungskreises nicht eingehalten. Partizipation ist wegen fehlendem Einbezug der Personalvertretung nicht gegeben. Integration ist aufgrund fehlender Identifikation und Motivation der Geschäftsführung verfehlt. Dies wird an Aussagen wie „Wie das erreicht wird, sei irrelevant, Hauptsache es kostet möglichst wenig“ deutlich. Auch wird keine Kommunikationsstrategie zur Vernetzung verschiedener Bereiche verfolgt. Projektmanagement wird nicht umgesetzt, weil eine systematische Ablaufstruktur fehlt (inkl. Benennung von Zuständigkeiten, Aufteilung in strategische und taktische Ziele). Ganzheitlichkeit wird nicht verfolgt, weil keine Kombination von verhältnis- und verhaltenspräventiven Maßnahmen geplant wurde (v. a. Verhältnisprävention nicht gegeben; Fokus auf Störungsfaktoren, statt auf Förderung von Gesundheitspotenzialen) (vgl. Senatorin für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen 2018). Der Kardinalfehler ist der fehlende Einbezug der Personalvertretung, die die Mitarbeiter*innenperspektive in die Belastungsanalyse und die Maßnahmenentwicklung einbringt (vgl. Badura et al. 2010, S. 51). c) Der Auslöser für die Einführung von BGM in Wünschlich Nord ist eine Dienstvereinbarung zwischen der Klinik und dem öffentlichen Träger. Die Einführung ist damit eine Pflichtaufgabe. Die Überzeugung der Geschäftsführung, dass BGM einen sinnvollen Beitrag für das gesamte Unternehmen leistet, und ihre Identifikation mit dem Vorhaben sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Implementierung von BGM. Dies ist in Wünschlich Nord zunächst nicht gegeben. Wenn BGM als Pflichtaufgabe von außen herangetragen wird und weder auf Motivation der Klinikleitung gründet, sich um eine gesundheitsfördernde Arbeitsumgebung für die Mitarbeiter*innen zu bemühen, noch aus einem Dialog zwischen Leitung und Personal erwächst, ist v. a. zu Beginn ein Widerstand von beiden Seiten (Leitung und Personal) gegen BGM-Aktivitäten wahrscheinlich. Es ist mit fehlender Bereitschaft der Führungskräfte und der Belegschaft zu rechnen, sich aktiv und transparent in die Situationsanalyse einzubringen. Ebenso kann dies auf Seiten der Klinikleitung zu mangelnder Bereitschaft führen, erforderliche Ressourcen für BGM-Aktivitäten bereitzustellen (Badura et al. 1999). d ) Im beschriebenen Szenario versteht sich die Gesundheitsmanagerin als ausführende Instanz, die bereit ist, die Vorschläge der Klinikleitung ohne kritische Analyse umzusetzen. Aus BGM-Perspektive wäre die klassische Rolle einer Vermittlerin zu empfehlen, die für den gesamtbetrieblichen Nutzen von BGM sensibilisiert, sich für einen Dialog zwischen Belegschaft und Führung einsetzt und vor Maßnahmenfestlegung eine systematische Ist-Analyse im Betrieb zum Thema Gesundheit durchführt.

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Folgende projektrelevante Fragen sind offengeblieben (vgl. Senatorin für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen 2018, S. 11 ff.): • Zuständigkeiten • verfügbares Budget bzw. Klärung der Ressourcen, auf die im Projekt zurückgegriffen ­werden kann • Priorisierung von Zielen • Zeitrahmen

16.4.2 Ziele und Maßnahmen a) Folgende Ziele wurden in der Steuerungsgruppe formuliert: • Ziel 1: Deutliche Reduzierung von Fehlzeiten. • Ziel 2: Rückgang der Raucherquote. • Ziel 3: Steigerung der Leistungsbereitschaft. a. Die Zielformulierungen erfüllen nicht die SMART-Regel. b. Nachfolgend sind mögliche Konkretisierungsvorschläge für die Erfüllung der Teilregeln bei der Formulierung von Ziel 1 aufgeführt: • S = Konkretisierung, dass Fehlzeitenrückgang aufgrund des Krankenstandes ­angestrebt wird und ob dieser betriebsübergreifend oder für ausgewählte Beschäftigtengruppen (z.  B.  Pflegepersonal; Verwaltungskräfte), für bestimmte Abteilungen (z. B. Arbeitsbereiche mit der vergleichsweise höchsten Fehlzeitenquote) oder für ausgewählte Diagnosen (z. B. Lungen- und Atemwegserkrankungen) angestrebt wird • M = Angabe, um wie viel Prozent oder wie viele Prozentpunkte reduziert werden soll • A = Nach Möglichkeit ein Ziel auswählen, das von mehreren Interessengruppen geteilt wird • R = Weil Fehlzeiten ein multikausaler Spätindikator sind, dessen Gesamtzusammensetzung oft unklar bleibt (vgl. Abschn. 16.3.3 und 16.4.4), empfiehlt sich für eine realistische Zielformulierung eine Orientierung an Frühindikatoren, die z.  B. das sichtbare Gesundheitsverhalten von Mitarbeiter*innen ansprechen (Uhle und Treier 2015, S. 254–256) • T = Benennen eines Zeitraums c. Eine Alternativformulierung für Ziel 1 könnte lauten: Erhöhung der Teilnehmer*innen-­Quote an der Grippeschutzimpfung beim Pflegepersonal um 10 Prozentpunkte bis 31.12.2021. Eine Alternativformulierung für Ziel 2 könnte lauten: Anbieten von drei Nikotinentwöhnungskursen im Jahr mit einer regelmäßigen Kursauslastung von jeweils mindestens 70 % der Maximalteilnehmer*innenzahl. Eine Alternativformulierung für Ziel 3 könnte lauten: Senkung der durchschnittlichen Zeit bei der Erstellung der Anamnesedokumentation in der geriatrischen Abteilung um zehn Sekunden pro Fall bis zum 01.03.2020.

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b) Es wurde die Maßnahme Verpflichtender Nikotinentwöhnungskurs und die Maßnahme Wöchentliches Bereitstellen von Obst vorgeschlagen a. Die Auswahl beider Maßnahmen basiert auf persönlichen Präferenzen von Mitgliedern des Steuerungskreises. Die Auswahl stützt sich weder auf Analyse-/Diagnosedaten noch ist sie das Ergebnis eines Zielfindungsworkshops oder einer vergleichbaren Zielfindungsstrategie. b. Aufgrund der o. g. Umstände sind die Erfolgsaussichten für die gewählten Maßnahmen als kritisch einzustufen. c. Es findet kein Einbezug von Mitarbeiter*innen in die gesundheitspolitische Strategieentwicklung des Unternehmens statt. c) Die Eskalation zwischen Steuerungsgruppe und Personalrat könnte auf die Verletzung des Datenschutzes zurückgeführt werden. Der Anspruch auf Anonymität und auf vertraulichen Umgang mit personenbezogenen Daten wird im beschriebenen Fall durch die Verknüpfung von gesundheitsrelevanten Informationen (Konsum von Suchtmitteln) und personenbezogenen Angaben (E-Mail-Adresse) verletzt.

16.4.3 Fehlzeiten a) Nachfolgend werden am Beispiel des vorliegenden Fehlzeitenprofils der GGK methodische Besonderheiten bei der Interpretation von ausgewählten Fehlzeitenparametern beleuchtet. a. Die Beschäftigtengruppe setzt sich ausschließlich aus GGK-versicherten Mitarbeiter*innen zusammen, die mit einer ärztlichen Bescheinigung krankheitsbedingt gefehlt haben. Die ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit muss i.  d.  R. im ­ ­öffentlichen Dienst erst ab dem dritten Krankheitstag eingeholt werden. Kurzzeiterkrankungen sind daher in Tab. 16.3 unterrepräsentiert. b. Für eine differenzierte Ist-Analyse und für die Bewertung der ausgewiesenen Fehlzeitenparameter bietet sich der Vergleich mit folgenden Referenzwerten an: • Befunde aus Fehlzeitenberichten von weiteren Krankenkassen • Vergleich mit betriebsinterner, nach Arbeitsbereich differenzierter Fehlzeitenerfassung • Vergleich mit Fehlzeiten in Krankenhäusern vergleichbarer Größe • bundesweite Fehlzeitenanalysen nach Diagnosegruppen und/oder Beschäftigtengruppen • Vergleich mit epidemiologischen Studien zu alters- und geschlechtsspezifischen Krankheitserscheinungen c. Epidemiologische Erkenntnisse zeigen, dass mit zunehmendem Alter gesundheitliche Beeinträchtigungen und chronische Erkrankungen steigen und eine deutliche Korrelation zwischen Alter, Multimorbidität und chronischen Erkrankungen besteht: Jüngere Mitarbeiter*innen fehlen häufiger, allerdings für kürzere Zeiträume; ältere Beschäftigte fehlen seltener, dafür aber durchschnittlich länger. Eine alterssensible

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Analyse ermöglicht es, Abweichungen vom Regelfall festzustellen und Handlungsfelder zu priorisieren. Dies trifft auch auf geschlechtersensible Betrachtungen zu, denn Frauen sind i.  d.  R. häufiger krank, gehen jedoch zugleich sorgsamer mit ihrer ­Gesundheit um. Daten der Sozialversicherungsträger zeigen, dass unterschiedliche Berufsgruppen zu verschiedenen Diagnosen und zu verschiedenen AU-Laufzeiten neigen (vgl. z. B. Schröder et al. 2012). d. AU-Quote spiegelt den Anteil der Mitarbeiter*innen wider, die mindestens einmal im Jahr mit ärztlicher Krankschreibung ausgefallen sind. In dieser Kennzahl ist keine Information über die Häufigkeit oder die Dauer enthalten, mit der eine GGK-versicherte Person im Laufe des Versichertenjahres (365 Tage) mit einer AU-Bescheinigung gefehlt hat.2 Der Krankenstand (Krankenstand-Quote) sagt aus, wie viele GGK-versicherte Mitarbeiter*innen im Durchschnitt pro Tag mit einer Krankschreibung fehlen. e. Der Krankenstand ist interessanter. Dieser kann als Kennwert für vergangene oder anhaltende personelle Engpässe und zwecks Ermittlung von durchschnittlichen Krankheitskosten pro Tag eingesetzt werden. f. Ihr Unternehmen weist für das Jahr 2017 einen niedrigeren Krankenstand gegenüber GGK-Versicherten in vergleichbaren Unternehmen auf (3,32  % gegenüber 4,42 %) und das, obwohl in Ihrem Betrieb der Altersdurchschnitt etwas höher liegt (43,4 Jahre gegenüber 40,1 Jahre im Branchendurchschnitt). Die Alters- und die Geschlechterstruktur eines Unternehmens wirken sich auf seine Krankenstandsquote aus (Uhle und Treier 2015, S. 270). Daher empfiehlt sich für einen faireren Vergleich mit der Konkurrenz der Rückgriff auf alters- und geschlechtsstandardisierte Werte, die in Tabellenspalte Erwartet 2017 (Tab. 16.3) dargestellt sind. Diese Werte wären für andere Unternehmen zu erwarten, wenn sie das gleiche Durchschnittsalter in der Belegschaft und die gleiche Geschlechterverteilung wie Ihr Haus aufweisen würden. Zu beachten ist dabei, dass allein anhand der Information über den Krankenstand nicht ersichtlich wird, ob der Unterschied auf bessere Maßnahmen der Gesundheitsförderung oder zufriedeneres Personal zurückzuführen ist, oder ob in Ihrem Unternehmen das Präsentismusproblem besteht und Mitarbeitende krank zur Arbeit erscheinen, weil sie um ihre Jobs fürchten (Uhle und Treier 2015, S. 264). b ) Die betriebsinterne Fehlzeitenerfassung bietet ein vollständigeres Bild über die Häufigkeit von Krankmeldungen. Hier werden bereits der erste Fehltag ebenso wie nicht krankheitsbedingte Fehltage erfasst. Auch ermöglicht die betriebliche Abwesenheitsstatistik eine Analyse der Fehlzeiten differenziert nach Abteilungen und Beschäftigtengruppen.

 Trotz der Einschränkungen im Informationsgehalt kann die AU-Quote im BGM argumentativ hinzugezogen werden, um v. a. über die umgerechnete Gesundheitsquote auf den Nutzen von Maßnahmen hinzuweisen, welche die Gesundheit von dauernd anwesenden Mitarbeiter*innen stärken.

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c) Intern erfasste Arbeitsausfälle sind höher. Die Begründung ergibt sich aus Teilfrage b). Intern werden auch halbe Fehltage, Fehltage ohne AU-Bescheinigung ebenso wie gesetzlich oder kulturell legitimierte Fehlzeiten erfasst. d) Während die interne Kennzahl ein vollständigeres und ggf. ein nach Arbeitsgruppen differenziertes Abbild vermittelt, können Krankenkassenberichte Informationen über Referenzwerte aus der Vergleichsbranche und diagnosebezogene Hinweise liefern. Durch die Kombination beider Datenquellen ist ein Plausibilitätscheck der internen Datenerfassung möglich (betriebsintern erfasste Fehlzeiten müssen über den Fehlzeiten des Sozialversicherungsträgers liegen).

16.4.4 Evaluation a) Die AU-Quote allein sagt lediglich aus, welcher Anteil von Mitarbeiter*innen mindestens einmal im Bezugszeitraum krankheitsbedingt gefehlt hat. Sie enthält weder Informationen über die Dauer noch über die Ursachen, die zu mindestens einer AU-­Meldung im Jahr geführt haben, noch wird aus ihr ersichtlich, ob Mitarbeiter*innen sich mehrfach arbeitsunfähig gemeldet haben (s. Tab. 16.2). Krankheitsbedingte Fehltage im Betrieb sind „hochverdichtete Informationen multikausaler Prozesse“ (Uhle und Treier 2015, S.  256). Sie entstehen aus vielfältigen Gründen, verlaufen unterschiedlich und folgen Gesetzmäßigkeiten, die teilweise nicht durch den Arbeitgeber beeinflusst werden können. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit ist die Kennzahl Krankenstand daher träge gegenüber Veränderungen durch eine einzelne Maßnahme. Weiterhin ist zu beachten, dass ein Großteil krankheitsbedingter Fehltage auf Langzeiterkrankungen zurückzuführen ist (Brandenburg und Nieder 2009, S. 25 f.; Uhle und Treier 2015, S. 270). Eine Maßnahme kann sich positiv auf anwesende Mitarbeiter*innen auswirken, langzeiterkrankte Beschäftigte aber aufgrund der Abwesenheit nicht erreichen. Daher ist es nicht überraschend, wenn der Krankenstand nach einem Jahr trotz des Angebots einer gesundheitsförderlichen Maßnahme mit hoher Wahrnehmungsquote dennoch stabil bleibt. Beide Parameter sind für die Erfolgsbewertung einzelner Maßnahmen ungeeignet. Das Hinzuziehen des Krankenstands als Kennzahl für die Evaluation von Maßnahmen ist nur dann legitim, wenn die einzelne Maßnahme auf eine spezifische Fehlzeitenursache ausgerichtet war, die zu krankheitsbedingten Fehltagen geführt hat, und dieser ursachenspezifische Fehlzeitenanteil eindeutig abgegrenzt werden kann (z.  B. saisonal bedingte Fehlzeiten durch Grippewellen), wobei auch in diesem Fall aufgrund der komplexen Gesetzmäßigkeiten, die in die Entstehung der Kennzahl hineinwirken, Vorsicht beim Interpretieren geboten ist. b) Fehlzeiten sind Spätindikatoren. Steuerungsrelevanter und nachhaltiger ist die ergänzende Betrachtung von Kennwerten, die auf gesundheitsfördernde Treiber und auf Frühindikatoren ausgerichtet sind. Zu Kennzahlen, die eine umfassendere Bewertung ermöglichen, zählen bspw. die Wahrnehmungsquote von gesundheitsförderlichen Angeboten, der subjektive Gesundheitszustand oder Gesundheitsscores (vgl. Uhle und

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Treier 2015, S 314 ff.). Ergänzende Betrachtung von zeitgleichem Fluktuationsgeschehen ebenso wie Ausreißer- und Episodenbetrachtung im Fehlzeitengeschehen werten eine differenzierte Analyse und darauf aufbauende Entscheidungen auf (vgl. Uhle und Treier 2015, S. 273 ff.) c ) Neben gesetzlichen Krankenkassen unterstützen Unfallversicherungsträger (zuständigen Berufsgenossenschaften oder Unfallkassen) und die für den Arbeitsschutz ­zuständigen staatlichen Aufsichtsbehörden der Länder Unternehmen bei betrieblicher Gesundheitsförderung. Über den gesetzlichen Auftrag hinaus können auch Rentenversicherungsträger einbezogen werden (GKV-Spitzenverband 2018, S. 102). Unfallversicherungsträger bilden z.  B.  Informationen zum Berufskrankheiten- und Arbeitsunfallgeschehen ab. Arbeitsschutzbehörden können Hinweise über Gefahrenpotenziale in verschiedenen Wirtschafszweigen und Branchen bereitstellen. Rentenversicherungsträger bereichern die Analysen z. B. mit Referenzenwerten für Frühberentungen nach Altersgruppen. Diese Informationen können dabei helfen, frühzeitig den Fokus auf Maßnahmen zu legen, die speziell (zukünftige) Problemfelder der eigenen Beschäftigtenstruktur und damit bevorstehende Konsequenzen strategisch aufzugreifen.

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Business Case Berechnung für eine Geschäftsidee

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Julian Klinger und Florian Koerber

Zusammenfassung

In dieser Fallstudie versetzen Sie sich in die Perspektive einer Gründerin, die eine Geschäftsidee aus betriebswirtschaftlicher Perspektive durchdenkt und eine grobe Überschlagsrechnung auf Basis eines Discounted Cash-Flows durchführt. Zunächst geht es darum, das Marktpotenzial auf Basis recherchierter Zahlen abzuschätzen und Erlöse zu überschlagen. Anschließend bestimmen Sie mithilfe einer Excel-Vorlage und gegebener Kosten den Break-Even-Point der geplanten Unternehmung und berechnen den diskontierten Cash-Flow über fünf Jahre.

17.1 Hintergrund Als Business Case wird in der Regel die Anwendung von verschiedenen Methoden der Investitionsrechnung zur Entscheidung über alternative Möglichkeiten von Finanzmitteln bezeichnet. In dieser Fallstudie geht es zunächst um die simple Entscheidung, ob ein studentisches Gründungsprojekt einer potenziellen Gründerin zur softwaregestützten Therapieunterstützung von Kindern mit Dyslalie weiterverfolgt werden sollte. Sollte sich ein potenzielles Unternehmen in den nächsten Jahren prinzipiell selbst tragen können, könnte es sich lohnen, die Idee weiter zu konkretisieren. J. Klinger (*) Newsenselab GmbH, Berlin, Deutschland Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Koerber Newsenselab GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Rogowski (Hrsg.), Management im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26982-1_17

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J. Klinger und F. Koerber

Mit Dyslalie werden im medizinisch-therapeutischen Bereich Störungen bei Verwendung und Bildung von Sprachlauten sowie bei Aussprache und Artikulation bezeichnet. Weitere Informationen zu Dyslalie und zur Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) sind u. a. in Gillberg et al. (2006, S. 391) zu finden. Im Rahmen eines Business Case werden in mehreren Schritten das Marktpotenzial sowie potenzielle Erlöse und Kosten der Unternehmung durchdacht und auf Basis von Recherche oder Datenerhebungen berechnet. Mit Marktpotenzial wird die maximal mögliche Anzahl an potenziellen Kund*innen bezeichnet. Erlöse können unterschiedlich generiert werden; im Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass die Unternehmung Einnahmen aus dem Verkauf ihres Produkts oder ihrer Dienstleistung auf Basis von einem Preis für das Produkt oder bspw. eine Lizenz generiert. Die Kosten setzen sich aus fixen und variablen Kosten (abhängig von produzierter Einheit) zusammen. Dabei können einem Unternehmen neben Personalkosten z. B. Kosten für den Einkauf von Ressourcen oder auch Anwaltskosten sowie Mietkosten entstehen. Um die geschätzten Kosten und Erlöse in ein sinnvolles Verhältnis zu setzen, können verschiedene Methoden der Investitionsrechnung genutzt werden, welche in der Regel über einen bestimmten Zeitraum Erlöse und Kosten verrechnen, um darüber den Wert der Unternehmung zu bestimmen. Die gängigste Methode der dynamischen Investitionsrechnung – der Discounted Cash-Flow (DCF) oder auch Barwert – nutzt zusätzlich einen Zinssatz, um künftige Einnahmen und Kosten diskontieren zu können. Eine Einführung in die Investitionsrechnung bieten u. a. Becker und Peppmeier (2018) sowie Hutzschenreuter (2015), einen Einstieg in das Business Planning bietet die Einführung von Koerber et al. (2016) aus dem Lehrbuches Business Planning im Gesundheitswesen (Rogowski 2016) sowie das Lehrbuch Business Cases – Ein anwendungsorientierter Leitfaden (Taschner 2017).

17.2 Fallstudie: Rechnet sich Lisas Gesundheits-Start-up? Lisa, eine Freundin von Ihnen, ruft Sie ganz aufgeregt an und erzählt Ihnen recht geheimnistuerisch von einer Idee, die sie hat. Sie sind zunächst etwas skeptisch, doch lassen sich breitschlagen, bei einem gemeinsamen Treffen die Idee weiterzuspinnen. Beim Treffen hält Ihnen Lisa eine kleine PowerPoint-Präsentation zu ihrer Idee. Sie meint es also ernst. Als Logopädin sah sie sich schon häufig dem Problem gegenüber, dass Kinder mit Aussprachestörungen zwar auch zu Hause Übungen durchführen können, dabei aber kaum Feedback oder weitere Hilfestellungen bekommen können. Bislang gibt es keine Möglichkeit, Feedback zum Lernfortschritt zu Hause – also z. B. die Aussprache bestimmter Laute – zu erhalten. Vor kurzem stolperte Lisa bei einer Literaturrecherche über eine Publikation, bei der die Autor*innen auf Basis von Sprachsamples eine kleine Software entwickelten, die in

17  Business Case Berechnung für eine Geschäftsidee

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der Lage ist, Normabweichungen bei der Aussprache zu erkennen. Lisas Vision ist, auf Basis dieser Erkenntnisse eine Webanwendung oder mobile App zu entwickeln, die von Kindern im Alter von 4–8 Jahren für Übungen gegen Dyslalie genutzt wird. Ihre ­Recherchen haben ergeben, dass bei vorsichtiger Rechnung die Prävalenz für Dyslalie bei ca. 5 % liegt. Als Logopädin mit didaktischer Zusatzausbildung könnte Lisa sich um die Erstellung der Inhalte und Übungen kümmern. Für die Programmierung der Anwendung und für einige andere Aufgaben wäre Personal notwendig. Lisa ist Realistin und befürchtet, dass hohe Kosten auf ein mögliches Start-up zukommen könnten. Im Gegenzug fände sie es fair, wenn die Eltern im Monat 39,99 € als Nutzungsgebühr bezahlen würden. Lisa ist außerdem bewusst, dass Nutzer*innen nicht vom Himmel fallen. Sie geht davon aus, dass für das Unternehmen pro Neukund*in mit einer Customer Acquisition Cost (Kosten aller Marketing und Vertriebsaktivitäten/Anzahl Neukund*innen) von ca. 100 € zu rechnen ist. Bei diesem Mitteleinsatz ist sie aber optimistisch, dass sie es schaffen kann, 3 Kund*innen pro Tag zu gewinnen. Mit zunehmender Erfahrung sollte diese Zahl um ca. 15 % pro Quartal zunehmen. Die Customer Acquisition Cost bleiben aber stabil. Mit den ersten Nutzer*innen rechnet sie nach einem halben Jahr, da das neugegründete Start-up erstmal die Software fertigstellen und eine Marketing-Strategie vorbereiten muss. Sie befürchtet allerdings, dass nicht nur Nutzer*innen wegen Nicht-Gefallen abspringen könnten, sondern auch schlichtweg, weil sie keine Therapieunterstützung mehr benötigen. Das potenzielle Unternehmen wäre also mit zwei verschiedenen Churn Rates (Prozent der Nutzer*innen, die in einem bestimmten Zeitraum abspringen) konfrontiert. Lisa hat recherchiert, dass vermutlich 5 % der Nutzer*innen pro Quartal abspringen könnten, weil ihnen das Produkt nicht gefällt. Sie geht davon aus, dass 30 % der Nutzer*innen pro Quartal aufhören werden, ihr Produkt zu nutzen, weil sie es nicht mehr benötigen und ggfs. austherapiert sind. Lisa hofft, dass Sie im Rahmen Ihres Studiengangs gelernt haben, mal grob durchzurechnen, ob sich so ein Unternehmen tragen könnte. Glücklicherweise lernen Sie gerade etwas über Investitionsentscheidungen und versprechen, sich Gedanken zu machen. Sie haben im Internet eine Excel-Vorlage gefunden, die Sie für Ihre Rechnungen anpassen können. Laden Sie hierfür die Datei BC_Excel-Vorlage aus dem Zusatzmaterial Fallstudie_Business-­Case1 herunter. Sie machen sich an die Arbeit und überlegen sich zunächst, welche Informationen Sie für eine sinnvolle Überschlagsrechnung eigentlich benötigen.

 Um auf das Zusatzmaterial zugreifen zu können, geben Sie bitte im Web-Browser https://www. springer.com/de/book/9783658269814 ein. Sie werden zu einem Verzeichnis weitergeleitet, in dem die ergänzenden Dateien aller Fallstudien zum Download bereitstehen.

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17.3 Aufgaben 17.3.1 Business Case: Informationsbedarf a) Welche Informationen benötigen Sie grundsätzlich, um eine Überschlagsrechnung durchzuführen? b) Über welchen Zeitraum würden Sie die Rechnung durchführen?

17.3.2 Marktpotenzial Berechnen Sie das Marktpotenzial für die Idee Ihrer Freundin. a) Recherchieren Sie, wie viele Kinder zwischen 4–8 Jahren es (ungefähr) in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Jahr 2018 gegeben hat (Tipp: Geburtskohorten!). b) Wie hoch ist das Marktpotenzial (alle Kinder zwischen 4–8 Jahren mit Dyslalie)?

17.3.3 Umsatzerlöse Nachdem Sie nun wissen, wie viele potenzielle Kund*innen gespannt auf Ihr Produkt warten, überlegen Sie sich, wie viele Nutzer*innen Sie im Verlauf von 5 Jahren akquirieren könnten. a) Machen Sie sich mit der Excel-Vorlage vertraut, die Sie bereits heruntergeladen haben (Datei BC_Excel-Vorlage; vgl. Fußnote in Abschn. 17.2). In den Spalten A–C sehen Sie Annahmen, welche dann für die Berechnung für Jahr 1 bis 5 genutzt werden können. Jedes Jahr ist in Quartale eingeteilt, sodass ggf. Kosten pro Monat oder pro Jahr in Kosten pro Quartal umgerechnet werden müssen. Zeile 18 und 33 dienen dazu, Erlöse und Kosten pro Quartal aufzusummieren. b) Wie viele Neukund*innen akquiriert das Unternehmen pro Quartal? c) Nutzen Sie die Excel-Vorlage, um die Anzahl Bestandskund*innen für jede Periode auf Basis der Annahmen zu berechnen. d) Berechnen Sie zusätzlich die kumulierte Gesamtanzahl an Kund*innen (Bestandskund*innen + Kund*innen, die bis zu diesem Zeitpunkt abgesprungen sind) für jede Periode. e) Berechnen Sie den Marktanteil zu jedem Zeitpunkt (Bestandskund*innen/Marktpotenzial). Wie hoch ist der Marktanteil nach 5 Jahren? f) Berechnen Sie die Umsatzerlöse für jedes Quartal.

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17.3.4 Kosten Bislang haben Sie sich nur um die Einnahmenseite gekümmert. Allerdings kommen auf das potenzielle Unternehmen auch jede Menge Kosten zu. Um sich etwas zu entlasten, hatten Sie eine Kommilitonin gebeten, die Kostenseite durchzurechnen. Sie hat Ihnen eine Tabelle mit folgenden Punkten geschickt, die sie recherchiert hat: • Personal: ca. 75.000  € pro Quartal (Entwickler*innenteam, Gründer*innen, Supportkoordinator*in, Marketingkoordinator*in) • Overhead ca. 10.000 € pro Quartal (Miete, Accounting, Serverkosten, Anwaltskosten) • Sprachsamples als Grundlage der Softwareentwicklung: einmalig 15.000 € • Anwaltskosten für Gründung: einmalig 3000 € • ca. 10 € pro Nutzer*in und Quartal für Support • ca. 0,50 € pro Nutzer*in pro Quartal für weitere Serverkosten

a) Fügen Sie diese Kosten zu Ihrer Excel-Kalkulation hinzu. Achten Sie bei Kosten, die von einer anderen Variable abhängig sind, auf geeignete Formeln. b) Fügen Sie Customer Acquisition Cost (Kosten aller Marketing und Vertriebsaktivitäten/Anzahl Neukund*innen) in Excel hinzu.

17.3.5 Gewinn und Cash-Flow Nun können Sie damit beginnen, die imaginäre Unternehmung einzuschätzen. a) Ergänzen Sie zunächst die Zeilen Summe Erlöse, Summe Ausgaben und Operatives Ergebnis (EBIT) (Earning Before Interests and Taxes = Erlöse – Ausgaben) um passende Excel-Formeln. b) Bestimmen Sie den Break-even-Punkt (Zeitpunkt, ab dem die Unternehmung zum ersten Mal Gewinn macht). Tipp: Nutzen Sie z. B. eine bedingte Formatierung in Excel, um sich den ersten Zeitraum mit Gewinn farbig markieren zu lassen. c) Wie hoch müsste eine Investition sein, um die Unternehmung zu tragen, bis ein positiver Cash-Flow zu verzeichnen ist? d) Beim Konzept des Discounted Cash-Flows geht es darum, zukünftige Gewinne oder Verluste auf Basis eines Zinssatzes zu diskontieren. Dieser Zinssatz kann auch einen Risikoaufschlag beinhalten oder Renditeerwartungen von Kapitalgebern widerspiegeln. Mit folgender Formel kann der Discounted Cash-Flow berechnet werden: n

DCFn = − I 0 + ∑

t =1

Et − K t

(1 + i )

t

±

Ln (1 + i )

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Im vorliegenden Fall betrachten Sie nur laufende Kosten (Kt) und Erlöse (Et) und gehen weder von einer Anfangsinvestition (I0  =  0) noch von einem Liquiditätserlös (Ln = 0) aus. In der Excel-Vorlage wurden diese unter Freier Cash-Flow (FCF) schon zusammengefasst (Erlöse – Kosten abzüglich einem Steuerabzug von 30 %). Berechnen Sie nun auf Basis der vereinfachten Formel den Discounted Cash-Flow für jedes Quartal (jeweils in Zeitpunkt t). Gehen Sie von einem Zinsatz i = 10 %2 aus. DCFt =

FCFt

(1 + i )

t



Beachten Sie, dass Sie in Excel für jedes Quartal einen DCF berechnen lassen (in der vereinfachten Formel befindet sich kein Summenzeichen mehr!). Als Zeitpunkt t können Sie Jahresteile einsetzen; z. B. 0,25 Jahre für das 1. Quartal (0,5 für das 2. Quartal). e) Berechnen Sie den kumulierten freien und diskontierten Cash-Flow. Würden Sie Lisa dazu raten, Ihre Idee weiterzuverfolgen?

17.3.6 Kritische Reflexion Insgesamt konnten Sie im Rahmen dieser Fallstudie zwar keinen wasserdichten Business Case durchführen, der allen kritischen Fragen potenzieller Investor*innen in einer Höhle der Löwen standhielte. Dennoch haben Sie die wichtigsten Schritte durchgeführt und ein solides Ergebnis erarbeitet. Lassen Sie zum Abschluss Ihr gewähltes Vorgehen nochmals Revue passieren. a) An welchen Stellen des Vorgehens würden Sie sich noch unsicher fühlen, sollten Sie Ihre Überlegungen einem bzw. einer echten Investor*in vorstellen? b) Welche Stärken und Schwächen sehen Sie bei der Methode der Berechnung von Business Cases?

17.4 Lösungsvorschläge Sie finden im Zusatzmaterial Fallstudie_Business-Case (vgl. Fußnote in Abschn. 17.2) neben der Excel-Vorlage auch eine Excel-Musterlösung. Die im Folgenden erklärten Schritte zur Lösung der Aufgaben finden Sie auch als ausgefüllte Felder in der Excel-­Musterlösung.

 Die Auswahl des Zinssatzes für dynamische Investitionsrechnungen kann auf Basis von verschiedenen Ansätzen erfolgen. Mehr dazu finden Sie in der angegebenen Literatur.

2

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17.4.1 Business Case: Informationsbedarf a) Um zu berechnen, ob sich eine Unternehmung lohnt, müssen zunächst Kosten und Erlöse geschätzt werden. Um Erlöse eines Dienstleistungsunternehmens zu schätzen, das eine Software anbietet, sollten Sie zunächst das Marktpotenzial berechnen. Nur wenn Sie wissen, wie viele Kund*innen es in Ihrer Zielgruppe überhaupt gibt, können Sie abschätzen, wie viele davon Ihr Produkt kaufen könnten. Auf dieser Basis können Sie potenzielle Erlöse hochrechnen. Anschließend müssen Sie sich überlegen, welche fixen und variablen Kosten auf die Unternehmung zukommen. Erst dann können Sie die Kosten von den Erlösen abziehen und den Gewinn für eine bestimmte Periode berechnen. b) Das ist durchaus vom Einzelfall abhängig. Langfristige Unternehmungen, wie z. B. Research & Development, sollten über einen längeren Zeitraum (z. B. 5–10 Jahre) betrachtet werden, da potenzielle Gewinne möglicherweise erst nach einigen Jahren realisiert werden können. In vorliegendem Fall genügt ein kürzerer Zeitraum (3–5 Jahre). Allerdings ist auch hier zu beachten, dass Nutzer*innen erst einmal akquiriert werden müssen und eine stabile Basis aus Erlösen vermutlich 1–2 Jahre auf sich warten lässt.

17.4.2 Marktpotenzial a) Suchen Sie nach den Geburtskohorten von 2010–2014 z. B. bei Statista (2019) oder beim Statistischen Bundesamt (2019). Summieren Sie die Daten für Deutschland, Österreich und die Schweiz auf. Insgesamt kommen Sie auf ca. 4,2 Millionen Kinder zwischen 4–8 Jahren im DACH-Raum (s. Tab. 17.1). b) Nachdem Sie bestimmt haben, wie viele Kinder es zwischen 4–8 Jahren im DACH-­ Raum gibt, müssen Sie diese Zahl mit 0,05 multiplizieren, da Sie von einer Prävalenz von 5 % ausgehen. Ihr Marktpotenzial beträgt also 210.984.

Tab. 17.1  Berechnung Marktpotenzial Geburtsjahr 2010 2011 2012 2013 2014 Summe

D 678.000 662.000 673.000 682.000 714.000 3.409.000

A 74.000 76.000 78.952 79.330 83.052 391.334

CH 80.808 82.164 82.731 85.287 86.559 417.549

Summe 834.818 822.175 836.695 848.630 885.625 4.217.883

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17.4.3 Umsatzerlöse a) Siehe Musterlösung im Zusatzmaterial Fallstudie_Business-Case (vgl. Fußnote in Abschn. 17.2) in der Excel-Datei BC_Excel-Musterloesung. b) Im ersten halben Jahr werden noch keine Neukund*innen akquiriert. Danach geht Lisa von 3 Neukund*innen pro Tag aus. Hochgerechnet bedeutet das 270 Neukund*innen pro Quartal. In Excel setzen Sie die Anzahl Neukund*innen im 3. Quartal gleich Ihrer Annahme (270). Für jedes weitere Quartal multiplizieren Sie die Neukund*innen des letzten Quartals mit Ihrer Wachstumsrate von 1,15. c) Die Anzahl an Bestandskund*innen für eine Periode können Sie berechnen, in dem Sie die Anzahl der Bestandskund*innen der letzten Periode und die Anzahl der Neukund*innen der jetzigen Periode addieren. Vergessen Sie nicht, die Kund*innen abzuziehen, welche durch die beiden Churn Rates verlorengegangen sind. d) Um einen Überblick zu behalten, wie viele Kund*innen Sie insgesamt hatten, berechnen Sie die Kund*innenhistorie. Damit ist die Gesamtanzahl der Kund*innen gemeint, die bis zum jetzigen Zeitpunkt jemals Kund*innen waren, also auch inklusive der verlorenen Kund*innen durch Churn Rates. Für eine Periode können Sie also einfach die Bestandskund*innen der Periode mit den Churn-Opfern aller bisherigen Perioden aufaddieren oder alternativ einfach die Bestandskund*innen der letzten Periode mit den Neukund*innen der jetzigen Periode aufaddieren. e) Um den Marktanteil auszurechnen, teilen Sie einfach die aktuelle Anzahl der Bestandskund*innen durch das (konstante) Marktpotenzial. Excel sollte als Ergebnis eine kleine leicht steigende Prozentzahl berechnen. Auf Basis der getroffenen Annahmen wird am Ende von Jahr 5 ein Marktanteil von 3,17 % erreicht. f) Da hier ein Lizenzmodell vorliegt, bei dem jede*r Bestandskunde bzw. -kundin eine monatliche Lizenzgebühr bezahlt (analog zu bspw. Netflix), können Sie einfach den Preis mit den Bestandskund*innen multiplizieren. Vergessen Sie nicht, das Ergebnis mit drei zu multiplizieren, um den Erlös per Quartal korrekt zu bestimmen.

17.4.4 Kosten a) Achten Sie darauf, einmalige und laufende Kosten korrekt einzutragen und für jede Periode von Excel übertragen zu lassen. Abhängige Kosten, wie Server- und Supportkosten, müssen Sie mit der Anzahl an Bestandskund*innen multiplizieren. b) Multiplizieren Sie die Neukund*innen der jeweiligen Periode mit den Customer Acquisition Cost von 100 €.

17.4.5 Gewinn und Cash-Flow a) Da sich in vorliegendem Fall die Erlöse auf die Lizenzgebühren der Software beschränken, setzt sich die Summe Erlöse lediglich aus den Lizenzgebühren (Preis der Lizenz

17  Business Case Berechnung für eine Geschäftsidee

b)

c)

d)

e)

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pro Monat mal Bestandskund*innen) zusammen. Für die Summe Ausgaben addieren Sie mit einer Summenformel alle Ausgaben in einer Periode auf. Das Operative Ergebnis, also den Gewinn der Unternehmung, können Sie mit der Differenz von Summe Ausgaben minus der Summe Erlöse berechnen. Das erste Quartal, in dem die Unternehmung Gewinn macht, wird als Break-Even-­ Punkt bezeichnet. In vorliegendem Fall können Sie einfach die Zeile Operatives Ergebnis (EBIT) nach der ersten positiven Zahl durchsuchen. Sie können die Zeile bspw. auch mit einer bedingten Formatierung belegen und Excel alle negativen Zahlen in rot und alle positiven Zahlen in grün darstellen lassen. Um diese Frage zu beantworten, müssen Sie den Freien Cash-Flow aller Perioden bis zum Break-even-Punkt addieren. Dieser Rechnung geht die Überlegung voraus, dass eine Investition die Unternehmung tragen könnte, bis sie Gewinn macht. In vorliegendem Fall wäre eine Investition von ca. 450.000 € nötig. FCFt Um in der Formel DCFt = den Discounted Cash-Flow für eine Periode t zu t (1 + i ) berechnen, können Sie in Excel zunächst einmal den Nenner der Formel für jede Periode berechnen. Da der Zinssatz fix ist (i = 10 %), potenzieren Sie (1 + i = ) 1,1 mit t. Die Variable t ist als Diskontierungsperiode vorgegeben und spiegelt wider, dass der Zins pro Jahr 10 % beträgt. Daher ist ein Quartal nur eine Viertelperiode (0,25). Im ersten Quartal potenzieren Sie also 1,1 mit 0,25 und bekommen als Ergebnis 1,02 als Diskontierungsfaktor für das erste Quartal. Um den diskontierten Freien Cash-Flow zu berechnen, müssen Sie den Freien Cash-Flow nur noch durch den Nenner (den eben berechneten Diskontierungsfaktor) teilen. Lassen Sie Excel diese Rechnung für jede künftige Periode automatisch wiederholen. Da nicht nur der kumulierte Freie Cash-Flow, sondern auch der kumulierte diskontierte Cash-Flow, d. h. die Summe aller diskontierten Gewinne und Verluste des Unternehmens, positiv sind, sollte Lisa ihre Idee in jedem Fall weiterverfolgen.

17.4.6 Kritische Reflexion a) Als Grundregel für Business Cases, große Excel-Sheets und Pitch-Decks gilt: Jede Annahme muss begründet sein und bestenfalls auf Daten, Studien oder einer nachvollziehbaren Hilfsrechnung basieren. Wenn es keine passenden Daten oder Expert*innen, die Ihnen Auskunft geben können, gibt, haben Sie keine andere Wahl, als begründet möglichst kleinteilig zu schätzen und hochzurechnen. Im Ernstfall sollten Sie z.  B. begründen können, wie Lisa es schafft, drei Neukund*innen pro Tag zu gewinnen, und warum die Customer Acquisition Cost bei 100 € liegt. Dabei sollten Sie neben einer Marketingstrategie auch Kostenschätzungen auf Basis von branchenüblichen Standards erarbeitet haben. Zudem sollten Sie z. B. auch die Kosten für Support weiter aufschlüsseln und gegebenenfalls in einer Hilfsrechnung berechnen, wie viele Support-Anfragen eine Vollzeitäquivalentstelle in welcher Zeit in einem Support-Center bearbeiten könnte und welche Lohnkosten anfallen würden.

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Letzten Endes kann ein Business Case beliebig komplex werden. Vergessen Sie aber nicht, dass alle Ihre Rechnungen und Annahmen letztlich Modellcharakter haben. Sie sollen die Realität nicht exakt abbilden, sondern den Zweck angemessen abstrahieren. Bei einem Business Case geht es letztlich immer darum, im Rahmen einer akzeptablen Fehlertoleranz Kosten und Einnahmen abzuschätzen. b ) Bei einem Business Case wird letztlich die Rentabilität einer Unternehmung in monetären Einheiten betrachtet – nicht mehr und nicht weniger. Dabei ist es durchaus möglich, dass begründete oder auch datenbasierte Annahmen sich schlicht als falsch erweisen. Zugleich können schwer vorhersehbare oder quantifizierbare Effekte wie Mund-zu-Mund-Propaganda, Shitstorms oder technologische Entwicklungen Ihre Berechnungen in Windeseile durcheinanderwirbeln – im Positiven wie im Negativen. Losgelöst vom Ergebnis und dessen Relevanz ist ein Business Case aber eine sehr gute Möglichkeit, eine eigene Geschäftsidee oder Vision einem Realitätscheck zu unterziehen und sie auf Herz und Nieren zu prüfen.

Literatur BECKER, H. P. & PEPPMEIER, A. (2018): Investition und Finanzierung: Grundlagen der betrieblichen Finanzwirtschaft. 8., überarbeitete Aufl.: Springer Gabler. GILLBERG, C., HARRINGTON, R. & STEINHAUSEN, H.-C. (2006): A clinician’s handbook of child and adolescent psychiatry. Cambridge: Cambridge University Press. HUTZSCHENREUTER, T. (2015): Allgemeine Betriebswirtschaftslehre: Grundlagen mit zahlreichen Praxisbeispielen. 6. Aufl., Wiesbaden: Springer Gabler. KOERBER, F., DIENST, R. C., JOHN, J. & ROGOWSKI, W. (2016): Einführung, in: ROGOWSKI, W. (Hrsg.), Business Planning im Gesundheitswesen: Die Bewertung neuer Gesundheitsleistungen aus unternehmerischer Perspektive. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 1–24. ROGOWSKI, W. (Hrsg.) (2016): Business Planning im Gesundheitswesen: Die Bewertung neuer Gesundheitsleistungen aus unternehmerischer Perspektive. Wiesbaden: Springer Gabler. STATISTA GMBH (2019): statista. Das Statistik-Portal, [online] https://de.statista.com/ [23.03.2019] STATISTISCHES BUNDESAMT (DESTATIS) (2019): Statistisches Bundesamt, [online] https:// www.destatis.de/DE/Home/_inhalt.html [23.03.2019] TASCHNER, A. (2017): Business Cases – Ein anwendungsorientierter Leitfaden. 3. Aufl., Wiesbaden: Springer Gabler.