Makroökonomik in globaler Sicht [Reprint 2018 ed.] 9783486809626, 9783486258264

Die globale Ausrichtung der Makroökonomik ist der besondere Vorzug dieses Lehrwerks zweier weltberühmter Volkswirte. Für

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Makroökonomik in globaler Sicht [Reprint 2018 ed.]
 9783486809626, 9783486258264

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Teil I: Einführung
Kapitel 1. Einleitung
Kapitel 2. Grundlegende Konzepte der Makroökonomik
Kapitel 3. Bestimmung des Outputs: Einführende Überlegungen zum Gesamtangebot und zur Gesamtnachfrage
Teil II: Intertemporale Ökonomik
Kapitel 4. Konsum und Sparen
Kapitel 5. Investition
Kapitel 6. Ersparnis, Investition und Leistungsbilanz
Kapitel 7. Der staatliche Sektor
Teil III: Monetäre Ökonomie
Kapitel 8. Geldnachfrage
Kapitel 9. Der Geldangebotsprozeß
Kapitel 10. Geld, Wechselkurse und Preise
Kapitel 11. Inflation: Finanz- und geldpolitische Aspekte
Teil IV: Bestimmung des Outputs, Stabilisierungspolitik und Wachstum
Kapitel 12. Makropolitik und Outputbestimmung in einer geschlossenen Volkswirtschaft
Kapitel 13. Makropolitik in der offenen Volkswirtschaft: Der Fall fester Wechselkurse
Kapitel 14. Makropolitik in der offenen Volkswirtschaft: Der Fall flexibler Wechselkurse
Kapitel 15. Inflation und Arbeitslosigkeit
Kapitel 16. Institutionelle Bestimmungsgründe von Löhnen und Arbeitslosigkeit
Kapitel 17. Zur Erklärung von Konjunkturzyklen
Kapitel 18. Langfristiges Wachstum
Teil IV: Spezielle Fragen der Makroökonomik
Kapitel 19. Theorie und Praxis der Wirtschaftspolitik
Kapitel 20. Finanzmärkte
Kapitel 21. Handelbare und nicht-handelbare Güter
Kapitel 22. Beendigung hoher Inflationen
Autorenindex
Sachindex

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Wölls Lehr- und Handbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Herausgegeben von Universitätsprofessor Professor h. c. Dr. Dr. h. c. Artur Woll Bisher erschienene Werke: Aberle, Transportwirtschaft, 3. A. Anderegg, Agrarpolitik Assenmacher, Konjunkturtheorie, 8.A.

Barro, Makroökonomie, 3. A. Barro • Grilli, Makroökonomie Europäische Perspektive Barro • Sala-i-Martin, Wirtschaftswachstum Blum, Volkswirtschaftslehre, 3. A. Branson, Makroökonomie, 4. A. Bretschger, Wachstumstheorie, 2. A. Brinkmann, Einführung in die Arbeitsökonomik Brösse, Industriepolitik, 2. A. Büschges • Abraham • Funk, Grundzüge der Soziologie, 3. A. Cezanne, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 4. A. Fischer • Wiswede, Grundlagen der Sozialpsychologie, 2. A. Glastetter, Außenwirtschaftspolitik, 3.A.

Leydold, Mathematik für Ökonomen, 2. A. Müller, Angewandte MakroÖkonomik Rosen • Windisch, Finanzwissenschaft I Rush, Übungsbuch zu Barro, Makroökonomie, 3. A. Sachs • Larrain, MakroÖkonomik in globaler Sicht Schneider, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre, 3. A. Tirole, Industrieökonomik, 2. A. Varian, MikroÖkonomie, 3. A. Wachtel, MakroÖkonomik Wacker • Blank, Ressourcenökonomik I Wacker • Blank, Ressourcenökonomik II Wohltmann, Grundzüge der makroökonomischen Theorie, 3. A.

MakroÖkonomik In globaler Sicht

Von

Jeffrey D. Sachs Professor an der Harvard University und

Felipe Larrain B. Professor an der Pontificia Universidad de Chile Aus dem Amerikanischen von Dr. H.-J. Ahrns Akad. Direktor an der Universität Regensburg

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Titel der Originalausgabe: „Macroeconomics In T h e Global Economy" © by Prentice-Hall, Inc. A Division of Simon & Schuster Englewood Cliffs, New Jersey 07632, U.S.A. Übersetzung von Hans-Jürgen Ahrns, Universität Regensburg

Für Sonia und Francisca

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sachs, Jeffrey D.: MakroÖkonomik in globaler Sicht / von Jeffrey D. Sachs und Felipe Larrain B.. Aus dem Amerikan. von H.-J. Ahrns. München ; Wien : Oldenbourg 2001 (Wölls Lehr- und Handbücher der Wirtschafts- und Sozial Wissenschaften) ISBN 3-486-25826-5 NE: Larrain B., Felipe:

© der deutschsprachigen Ausgabe 2001 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH ISBN 3-486-25826-5

Vorwort Die MakroÖkonomik gehört zu den anregendsten Disziplinen der Sozialwissenschaften. Sie verhilft uns zu Antworten auf einige der bedeutenden Fragen, die das Wirtschaftsleben einer Nation und das der gesamten Welt betreffen: Was bestimmt die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft? Welche Faktoren verursachen hohe oder niedrige Arbeitslosigkeit? Warum gibt es Konjunkturzyklen? Worin besteht die angemessene Rolle der Regierung beim Anschub von Wachstum, bei der Begrenzung der Inflation und der Verminderung einer hohen Arbeitslosigkeit? Inwieweit beeinflussen Veränderungen in einem Land die Volkswirtschaften der übrigen Welt? Dies sind Fragen, die nicht allein für das ökonomische Wohlergehen einer Nation wichtig sind, sondern auch für jedes Individuum - etwa bei der Entscheidung über die Höhe der Ersparnis, der Kreditaufnahme, der Ausgaben oder bei der Entwicklung einer Strategie zur Findung oder beim Wechsel eines Arbeitsplatzes. Die MakroÖkonomik mag auch dazu beitragen, die Fähigkeit der Staatsbürger zu verbessern, sich Urteile zu bilden über die Vorschläge von Politikern bezüglich der Steuern, Zinsen, Staatsausgaben und anderer wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die einen entscheidenden Einfluß auf die nationale und internationale Wirtschaft haben können. Die MakroÖkonomik selbst entwickelt sich über die Zeit fort sowohl hinsichtlich der gestellten Fragen als auch der gebotenen Antworten. Diese Veränderungen der Disziplin spiegeln zwei Triebkräfte wider. Erstens werden, wie in jeder Wissenschaft, häufig Fortschritte mit neuen Theorien gemacht, während zugleich alte Theorien fallengelassen werden angesichts ihrer Widersprüche gegenüber empirischen Fakten oder gegenüber neuen Theorien. Zweitens entwickelt sich die Weltwirtschaft selbst in einer Weise, die neue Fragen aufwirft und neue Antworten fordert. Die wesentlichste Veränderung der letzten Jahre bestand in einer zunehmenden Verknüpfung der Wirtschaften einzelner Länder. Es macht z.B. nicht länger Sinn, isoliert die Volkswirtschaften der USA, Europas oder Japans zu untersuchen, ohne ihre starke Interdependenz zu beachten. Wir haben dieses Lehrbuch aus dem Bewußtsein heraus geschrieben, daß ein neuer Ansatz zum Studium der MakroÖkonomik benötigt wird, um mit den theoretischen Fortschritten auf diesem Feld und mit den Veränderungen der Weltwirtschaft Schritt zu halten. Um diesen Veränderungen gerecht zu werden, lassen sich für dieses Lehrbuch drei Hauptwege benennen: • Dies ist das erste moderne Lehrbuch zur MakroÖkonomik, welches sich durchgängig auf die Weltwirtschaft und die internationalen makroöko-

VI

VORWORT

nomischen Aspekte statt nur auf die Wirtschaft eines einzelnen Landes konzentriert. Vom Anfang bis zum Ende beachten wir, daß alle Volkswirtschaften der Welt miteinander über internationale Märkte für Güter, Dienstleistungen und Kapital verbunden sind. • In Übereinstimmung mit dieser internationalen Sichtweise untersuchen wir sorgfaltig, inwieweit sich die Länder hinsichtlich ihrer wesentlichen makroökonomischen Institutionen unterscheiden (etwa in der Art und Weise der Lohnfindung) und bringen diese Differenzen mit den beobachteten Unterschieden in der wirtschaftlichen Gesamtleistung in Verbindung. • Unsere theoretischen Darstellungen schließen die jüngsten Fortentwicklungen der makroökonomischen Theorie ein, insbesondere die Rolle der Erwartungen, die intertemporalen Entscheidungen der Haushalte, der Unternehmen und des Staates, sowie die moderne Theorie der Wirtschaftspolitik einschließlich des Problems der Zeitkonsistenz und der internationalen Politikkoordination. Selbstverständlich hat unsere eigene berufliche Erfahrung zur Gestaltung dieses Lehrbuches beigetragen. Wir hatten das Glück, nicht nur als Forscher und Lehrer tätig zu sein, sondern auch als Berater in makroökonomischen Fragen für verschiedene Regierungen in Lateinamerika und Osteuropa. Im Verlauf dieser Arbeit beeindruckte uns der wichtige Beitrag, den die MakroÖkonomik zur Formulierung geeigneter Politik in einer Volkswirtschaft zu leisten vermag. Diese Erfahrung hat uns in der Überzeugung bestärkt, daß die MakroÖkonomik eine bedeutsame und lebendige Disziplin ist, die in enger Verbindung zu realen Vorgängen steht und nicht nur ein bloßes Werkzeug für theoretische Studien darstellt. Wir hoffen, einige dieser spannungsreichen Ereignisse der "realen Welt" erfolgreich mit den Erörterungen in diesem Lehrbuch übermitteln zu können. Zugleich hat unsere Erfahrung als Wirtschaftsberater einige Dinge für uns erhellt, welche die Disziplin selbst betreffen. Wir waren durchgängig davon beeindruckt, in welchem Maße die Politiker eines Landes auf die internationale wirtschaftliche Umgebung reagieren müssen - daher auch unser konsequenter Blick auf die internationale Dimension des Faches. Wir waren ferner beeindruckt von der Bedeutung der Institutionen (auf dem Arbeitsmarkt, bei der politischen Organisation der Regierung und in anderen Bereichen) für die richtigen makropolitischen Entscheidungen und das korrekte Verständnis wirtschaftlicher Trends. Obgleich gewisse grundlegende makroökonomische Prinzipien für jedes Land gültig sind, müssen die spezifischen Aspekte einer Volkswirtschaft beachtet werden.

VORWORT

VII

Wir wurden schließlich dazu angehalten, die MakroÖkonomik in einem pragmatischen Sinne zu sehen. Was kann sie tatsächlich leisten für die Entscheidungen, die eine Regierung treffen sollte, um eine "kranke" Volkswirtschaft zu kurieren? Was wissen wir wirklich, und was ist nur eine intellektuelle Marotte? Wo stützt historische Erfahrung die Theorien, und wo sind diese Theorien lediglich geistreich, aber im wesentlichen unrealistisch? Selbstverständlich gibt es Urteile, die akademische Forscher fällen müssen, wenn sie zwischen Theorien auswählen, aber diese Fragen erlangen eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit der tatsächlichen ökonomischen Entscheidungsfindung. Unsere Beurteilungen werden selbstverständlich nicht präzise mit denen anderer MakroÖkonomen übereinstimmen. Die makroökonomische Disziplin bleibt bei der Betrachtung gewisser wichtiger Themen tief gespalten, (glücklicherweise stimmen professionelle MakroÖkonomen aber auch in vielen wichtigen Fragen überein!). Aber wir haben uns in allen Bereichen bemüht, die wesentlichen Debatten und die empirischen Belege in fairer Weise darzustellen, wenngleich wir uns natürlich nicht gescheut haben, unsere eigenen Urteile über viele Konfliktpunkte deutlich zu machen. Einige Hinweise zur Benutzung des Buches Dieses Buch besteht aus zwei Hauptteilen. Im Kernbereich (Kapitel 1 - 1 8 ) wird der grundlegende makroökonomische Rahmen entwickelt. Die speziellen Themen (Kapitel 19 - 23) behandeln besondere Gegenstände im Detail, wobei der bereits entwickelte Analyserahmen verwendet wird. Der Kernbereich des Textes selbst ist in vier Teile gegliedert: einen einführenden Abschnitt (Kapitel 1 - 3), je einen Abschnitt zur intertemporalen Ökonomik (Kapitel 4 - 7), zur monetären Ökonomik (Kapitel 8 - 1 1 ) und einen weiteren, der die Konjunkturschwankungen, die Stabilisierungspolitik und das Wachstum behandelt (Kapitel 1 2 - 1 8 ) . Da spätere Kapitel prinzipiell auf vorangegangene aufbauen, empfehlen wir, den Kerntext, also die Kapitel 2 - 1 8 , nacheinander zu studieren. Die speziellen Kapitel stützen sich auf den Kerntext, beziehen sich jedoch nicht unmittelbar aufeinander; mit einer wichtigen Ausnahme: die Diskussion über die Verschuldung der Entwicklungsländer (Kapitel 22) profitiert von den aus dem Modell der handelbaren und nicht-handelbaren Güter (Kapitel 21) gewonnenen Erkenntnissen. Unsere Darstellung der MakroÖkonomik auf mittlerem Niveau verlangt eine solide Vorbereitung auf der Ebene des Grundstudiums. So benötigt man insbesondere Basiskenntnisse der MikroÖkonomik, welche die Konzepte der grundlegenden Preistheorie, der Indifferenzkurven, der Gewinnmaximierung von Unternehmen und der Nutzenmaximierung von Haushalten einschlie-

VIII

VORWORT

ßen. Sofern diese Vorstellungen für Sie neu sein sollten, empfehlen wir, dieses Lehrbuch neben einem Einfuhrungstext zur Volkswirtschaftslehre durchzuarbeiten. In diesem Buch haben wir fortgeschrittene Mathematik vermieden. Was an mathematischen Vorkenntnissen benötigt wird, ist die grundlegende Algebra, insbesondere die Fähigkeit, mit linearen Gleichungen umgehen zu können. Nur sehr gelegentlich, und dies auch nur in Fußnoten, beziehen wir uns auf die grundlegende Differentialrechnung; aber deren Verwendung ist in keinem Fall von essentieller Bedeutung. Die Anhänge zu einigen Kapiteln verlangen etwas fortgeschrittenere mathematische Kenntnisse. Mit den einzelnen numerischen und analytischen Übungen am Ende eines jeden Kapitels sollte es für Sie auf bequeme Weise möglich sein, mit den im Text enthaltenen Modellen umzugehen. Es existiert auch ein Übungsbuch, das neben dem Lehrbuch benutzt werden kann und zusätzliche Hilfe beim Verständnis der Darstellungen im Haupttext bietet. Ein letzter Hinweis: genießen Sie das Studium der MakroÖkonomik! Sie ist eine packende Disziplin, die Licht auf einige der bedeutendsten Sachverhalte wirft, denen sich moderne Gesellschaften gegenübersehen. Wir hoffen, daß Sie den Gegenstand ebenso lohnend, herausfordernd und nachdenkenswert finden wie wir während unserer eigenen Karriere als Studenten, Forscher und Lehrer. Danksagungen Bei der Abfassung dieses Lehrbuches waren wir angewiesen auf den großzügigen Beistand, die Einsichten und die Mithilfe vieler Menschen und Institutionen, und es ist uns eine große Freude, an dieser Stelle für die gewährte Unterstützung Dank zu sagen. Das World Institute for Development Research (WIDER) in Helsinki und die Fundación Andes in Santiago ließen uns in einem frühem Stadium der Arbeit finanzielle Unterstützung zukommen. Die Harvard University und die Universidad Católica de Chile gewährten uns zeitliche Freistellung und logistische Hilfe. All diejenigen, die frühe Entwürfe gelesen haben - Studenten, Kollegen, Forschungsassistenten und einige anonyme Rezensenten , haben zu unserer Arbeit beigetragen. Unser besonderer Dank für hilfreiche Kommentare und Anregungen gilt Alberto Alesina, Alain de Crombrughe, Robert Eisner, Stefan Gerlach, Dominique Hachette, Nouriel Roubini, Marcelo Selowsky, Philippe Weil und Joseph Zeira. Wir danken ferner Thomas M. Beveridge von der North Carolina State University, Thomas Harrilesky von der Duke University, F. Tre-

VORWORT

IX

nery Dolbear jr. von der Brandeis University, Rendigs Fels von der Vanderbilt University, Leonard Lardaro von der University of Rhode Island, Douglas A. Houston von der University of Kansas, Christine Amsler von der Michigan State University und R. Newby Schweitzer von der San Francisco State University für ihre Anmerkungen zu diesem Buch. Wir profitierten ebenfalls von der sehr wirkungsvollen Forschungsassistenz von Jose Manuel Campa, Toni Estevadordal, Pablo Garcia, Loreto Lira and Carlos Sales. Ein besonderer Dank gebührt Martha Synnott für ihre unschätzbare Hilfe während des gesamten Vorhabens. Schließlich gilt unser Dank den Mitarbeitern von Prentice Hall und Harvester Wheatsheaf, unseren Verlegern, für ihre Assistenz bei der Herstellung dieses Buches. Wir wollen vor allem Bill Webber und Peter Johns unsere Dankbarkeit für die enthusiastische Unterstützung dieses Projektes, Cheryl Kupper für ihre Hilfe bei der Edition des Manuskripts sowie Stephen Dietrich und Joanne Palmer für ihre Hilfe in den Endstadien dieses Buches aussprechen.

X

VORWORT

Vorwort zur deutschen Ausgabe Das vorliegende Lehrbuch zur MakroÖkonomik zeichnet sich - neben vielen anderen Vorzügen - durch eine außergewöhnliche thematische Breite aus. Dies bringt es mit sich, daß das Buch bereits im amerikanischen Original einen Umfang von nahezu 800 Seiten hat, und es war zu erwarten, daß die deutsche Fassung ein Volumen von mehr als 1.000 Seiten haben würde. Verlag und Übersetzer waren daher der Meinung, daß eine maßvolle Kürzung des Textes als wünschenswert erscheinen mußte. Da das Lehrbuch einen unverzichtbaren makrotheoretischen Kernbereich (Kapitel 1-18) enthält, konnte sich die angestrebte Kürzung vernünftigerweise nur auf die "speziellen Themen" (Kapitel 19-23 im Original) beziehen. Nach längerem Zögern wurde beschlossen, ein Kapitel (im Original das Kapitel 22) gänzlich wegzulassen, und zwar jenes zur "Schuldenkrise der Entwicklungsländer". Obwohl diese Thematik keineswegs ihre Aktualität verloren hat, schien uns, daß der Verzicht auf dieses Kapitel vertretbar ist, da ein Text, der den Ansprüchen des Grundstudiums gerecht werden soll (obwohl dieses Lehrbuch in manchen Passagen darüber hinausgeht), nicht notwendigerweise diese spezielle Problemstellung enthalten muß. (Mit einigem Recht ließe sich das freilich auch über die anderen "speziellen Themen" sagen, und insoweit bleibt die Entscheidung letztendlich willkürlich). Die Auslassung des genannten Kapitels machte einige unwesentliche Kürzungen im übrigen Text erforderlich; dabei handelt es sich ausnahmslos um Verweise, durch die die Argumentation der Autoren in ihrem Gehalt in keinem Fall verfälscht wird. Eine zweite Kürzung betrifft das Inhaltsverzeichnis. Der Text dieses Buches ist in insgesamt sechs Ebenen gegliedert. Die vollständige Aufführung sämtlicher Gliederungsebenen hätte das Inhaltsverzeichnis auf einen Umfang von nahezu 20 Seiten anwachsen lassen; wir fanden, daß diese nicht die Übersichtlichkeit fördert. Daher beschränken wir uns auf die Nennung der Teile, Kapitel und numerierten Hauptabschnitte innerhalb der Kapitel (zusätzlich werden die Anhänge, die zu einzelnen Kapiteln existieren, aufgeführt). Schließlich haben wir eine Trennung des Indexes in einen Autoren- und einen Sachindex zugunsten einer größeren Übersichtlichkeit vorgenommen. Der Übersetzer möchte an dieser Stelle Herrn Jörg Beneditz für seine wertvolle Hilfe in nahezu allen Phasen der Entstehung dieser Übersetzung herzlichen Dank sagen. Hans-Jürgen Ahrns

XI

Inhalt Teil I: Einführung

1

Kapitel 1: Einleitung

1

1-1 1-2 1-3 1-4

1 3 10

1-5

Was ist MakroÖkonomik? Einige makroökonomische Schlüsselfragen MakroÖkonomik in historischer Sicht Bereitstellung eines erweiterten makroökonomischen Analyserahmens Ein Abriß dieses Buches

20 22

Kapitel 2: Grundlegende Konzepte der MakroÖkonomik

25

2-1 2-2 2-3 2-4

25 38 43

2-5 2-6

Brutto-Inlandsprodukt und Brutto-Sozialprodukt Reale versus nominale Variablen Makroökonomische Strom- und Bestandsgrößen Einige intertemporale Aspekte der MakroÖkonomik: Zinssätze und Gegenwartswerte Die Rolle der Erwartungen Zusammenfassung

Kapitel 3: Bestimmung des Outputs: Einführende Überlegungen zum Gesamtangebot und zur Gesamtnachfrage 3-1 3-2 3-3 3-4 3-5 3-6 3-7 3-8

MakroÖkonomik als Analyse von Wirtschaftsschwankungen Bestimmung des Gesamtangebots Der klassische Ansatz zum Gesamtangebot Der keynesianische Ansatz zum Gesamtangebot Bestimmung der Gesamtnachfrage Gleichgewicht von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage Gesamtangebot und Gesamtnachfrage in kurz- und langfristiger Sicht Zusammenfassung

47 49 51

57 58 62 72 77 82 84 92 95

Teil II: Intertemporale Ökonomik

101

Kapitel 4: Konsum und Sparen

101

4-1 4-2

103 107

Konsum und Ersparnis der Volkswirtschaft Die Basiseinheit: Der Haushalt

XII

INHALT

4-3 4-4 4-5 4-6 4-7 4-8 4-9 4-10

Intertemporale Budgetbeschränkung Die Entscheidung des Haushalts Die Konsumtheorie des permanenten Einkommens Lebenszyklus-Modell des Konsums und der Ersparnis Liquiditätsbeschränkungen der Haushalte und Konsumtheorie Aggregierter Konsum und volkswirtschaftliche Sparquoten Konsum, Sparen und Zinssatz Sparen der Unternehmen und Haushalte: Theorie und empirische Evidenz 4-11 Zusammenfassung

141 144

Kapitel 5: Investition

151

5-1 5-2 5-3 5-4 5-5 5-6 5-7

152 157 168 171 174 184 187

Formen des Kapitals und der Investition Die grundlegende Theorie der Investition Erweiterungen der grundlegenden Theorie Akkumulation von Vorräten Empirische Untersuchungen zu den Investitionsausgaben Investitionen in den Wohnungsbau (fakultativ) Zusammenfassung Anhang: Investitionsregeln für Haushalte und Unternehmen als getrennte Einheiten

Kapitel 6: Ersparnis, Investition und Leistungsbilanz 6-1 6-2 6-3 6-4 6-5 6-6

Eine formale Analyse der Ersparnis, Investition und Leistungsbilanz Leistungsbilanz und internationaler Handel Bestimmungsgründe der Leistungsbilanz Die intertemporale Budgetbeschränkung eines Landes Beschränkungen der ausländischen Kreditaufnahme und -vergäbe Zusammenfassung Anhang: Zahlungsbilanzrechnung

109 113 117 127 134 135 138

191 195 196 208 212 217 225 233 237

Kapitel 7: Der staatliche Sektor

245

7-1 7-2 7-3 7-4 7-5 7-6

246 251 252 256 261 268

Staatliche Einnahmen und Ausgaben Staatliche Ersparnis, Investition und Verschuldung Staatliches Budget und Leistungsbilanz Interaktion zwischen privatem und öffentlichem Sektor Ricardianische Äquivalenz Einige Gründe für übermäßige Staatsausgaben

INHALT

7-7 7-8

Weitere Interaktionen zwischen öffentlichem und privatem Sektor Zusammenfassung

XIII

271 280

Teil III: Monetäre Ökonomie

287

Kapitel 8: Geldnachfrage

287

8-1 8-2 8-3 8-4 8-5 8-6

287 295 302 317 321 323 327 327

Was ist Geld? Zu einer Theorie der Geldnachfrage Die Nachfrage nach Geld Empirische Studien zur Geldnachfrage Die monetaristische Doktrin Zusammenfassung Anhang 1 Anhang 2

Kapitel 9: Der Geldangebotsprozeß

329

9-1 9-2 9-3 9-4 9-5 9-6

329 333 345 355 360 365

Geldangebot und Zentralbank: Ein Überblick Notenbankgeschäfte und Geldbasis Geldmultiplikator und Geldangebot Geldangebot und staatliche Budgetbeschränkung Gleichgewicht auf dem Geldmarkt Zusammenfassung

Kapitel 10: Geld, Wechselkurse und Preise

371

10-1 Wechselkurssysteme 10-2 Bausteine eines allgemeinen Gleichgewichtsmodells 10-3 Allgemeines Gleichgewicht der Preise, des Wechselkurses und des Geldes 10-4 Geldpolitik bei festen und flexiblen Wechselkursen 10-5 Globale Systeme fester Wechselkurse 10-6 Die Wirkungen einer Abwertung 10-7 Der Fall von Kapitalkontrollen 10-8 Andere Formen von Wechselkurssystemen 10-9 Zusammenfassung Anhang

371 383 391 393 397 405 408 411 414 419

XIV

INHALT

Kapitel 11: Inflation: Fiskal- und geldpolitische Aspekte

421

11-1 11 -2 11-3 11-4

424 436 442 453

Staatliche Defizite und Inflation Inflationssteuer und Einnahmen aus der Geldschaffung Kosten der Inflation Zusammenfassung

Teil IV: Bestimmung des Outputs, Stabilisierungspolitik und Wachstum 459 Kapitel 12: Makropolitik und Outputbestimmung in einer geschlossenen Volkswirtschaft 12-1 12-2 12-3 12-4 12-5 12-6 12-7

Gesamtnachfrage und keynesianischer Multiplikator Der IS-LM-Analyserahmen Wirkungen der Makropolitik auf die Gesamtnachfrage Implikationen der IS-LM-Analyse für die Stabilisierungspolitik IS-LM in kurz- und langfristiger Sicht Empirische Evidenz Zusammenfassung Anhang

459 460 465 470 479 482 485 488 494

Kapitel 13: Makropolitik in der offenen Volkswirtschaft: Der Fall fester Wechselkurse

499

13-1 Ein Modell mit international differenzierten Gütern 13-2 Bestimmung der Gesamtnachfrage 13-3 Das IS-LM-Modell für die offene Volkswirtschaft 13-4 Die Bestimmung des Outputs und das Preisniveaus 13-5 Kapitalkontrollen 13-6 Zusammenfassung Anhang

501 502 508 513 521 526 530

Kapitel 14: Makropolitik in der offenen Volkswirtschaft: Der Fall flexibler Wechselkurse

535

14-1 14-2 14-3 14-4 14-5 14-6 14-7

Der IS-LM-Analyserahmen mit flexiblen Wechselkursen Makropolitik eines kleinen Landes bei freier Kapitalmobilität Wechselkursdynamik Makropolitik bei freier Kapitalmobilität: Der Fall eines großen Landes Kapitalkontrollen und flexible Wechselkurse "Policy-Mix" Empirische Evidenz

535 539 543 549 552 553 555

INHALT

XV

14-8 Die Notwendigkeit zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik 14-9 Politikkoordination innerhalb Europas 14-10 Zusammenfassung Anhang

557 563 566 569

Kapitel 15: Inflation und Arbeitslosigkeit

575

15-1 15-2 15-3

575 579

15-4 15-5 15-6

Angebotsschocks und Inflation Lohn-Preis-Dynamik und Probleme der Stabilisierung Der Mechanismen der Erwartungsbildung und die Phillips-Kurve Der Ansatz rationaler Erwartungen Die Verwendung des Wechselkurses zur Stabilisierung der Preise Zusammenfassung Anhang

Kapitel 16: Institutionelle Bestimmungsgründe von Löhnen und Arbeitslosigkeit 16-1 16-2 16-3 16-4 16-5 16-6

Institutionen des Arbeitsmarktes und aggregiertes Angebot Institutionen des Arbeitsmarktes und die Angebotsschocks der 70er Jahre Ein detaillierter Blick auf die Arbeitslosigkeit Bestimmungsgründe der natürlichen Arbeitslosenrate Die Kosten der Arbeitslosigkeit Zusammenfassung

589 598 607 611 616

617 618 627 634 642 657 661

Kapitel 17: Zur Erklärung von Konjunkturzyklen

667

17-1 17-2 17-3 17-4 17-5 17-6 17-7 17-8

668 678 681 687 690 698 705 706

Einige allgemeine Merkmale von Konjunkturzyklen Der Ansatz der Impulsausbreitung bei Konjunkturzyklen Investitionsimpulse und keynesianische Konjunkturtheorie Politische Schocks als Ursache von Konjukturimpulsen Neuklassische Konjunkturtheorien Neokeynesianische Theorien zu starren Löhnen und Preisen Zu einigen internationalen Aspekten von Konjunkturzyklen Zusammenfassung

Kapitel 18: Langfristiges Wachstum

713

18-1 18-2

716 722

Verlaufsmuster des Wachstums Quellen des Wirtschaftswachstums

XVI

18-3 18-4 18-5 18-6 18-7

INHALT

Wachstumsmodell von Solow Neue Ansätze zur Erklärung des Wachstums Wirtschaftswachstum in der offenen Volkswirtschaft Makropolitik zur Förderung des Wachstums Zusammenfassung

731 743 745 757 761

Teil IV: Spezielle Fragen der MakroÖkonomik

767

Kapitel 19: Theorie und Praxis der Wirtschaftspolitik

767

19-1 19-2 19-3 19-4 19-5 19-6 19-7

768 780 784 788 791 801 804

Die grundlegende Theorie der Wirtschaftspolitik Grenzen aktiver Wirtschaftspolitik bei Unsicherheit Die Wahl zwischen wirtschaftspolitischen Instrumenten Die Lucas-Kritik an der Theorie der Wirtschaftspolitik Regelbindungen, diskretionäre Politik und Zeitkonsistenz Einige Aspekte des tatsächlichen staatlichen Verhaltens Zusammenfassung

Kapitel 20: Finanzmärkte 20-1 20-2 20-3 20-4 20-5 20-6 20-7

Einige institutionelle Aspekte von Kapitalmärkten: Der Fall der USA Institutionelle Veränderungen globaler Finanzmärkte Optimale Portfoliowahl bei Risikoaversion Kapitalmarktgleichgewicht: Das "Capital-Asset-Pricing-Modell" Internationale Zinsarbitrage Zinsstruktur Zusammenfassung

Kapitel 21: Handelbare und nicht-handelbare Güter 21-1 21-2 21-3 21-4 21-5

Bestimmungsgründe der Handelbarkeit und eine grobe Klassifikation von Gütern Theoretischer Rahmen Handelbare, nicht-handelbare Güter und Preisniveau Nachfrageschocks und realer Wechselkurs Zusammenfassung

Kapitel 22: Beendigung hoher Inflationen 22-1

Ein historischer Blick auf sehr hohe Inflationen und Hyperinflationen

811 812 819 827 839 842 847 854 861 863 866 882 892 899 905 906

INHALT

22-2

22-3 22-4 22-5 22-6 22-7

Grundlegende Bedingungen zur Auslösung von Hyperinflationen Ökonomische Dynamik der Hyperinflation Stabilisierungspolitik zur Beendigung von Hyperinflationen Heterodoxe Stabilisierungsprogramme Stabilisierung in Ost-Europa Zusammenfassung

Autorenindex Sachindex

XVII

915 919 930 942 944 948

953 957

Kapitel 1

Einleitung 1-1 Was ist MakroÖkonomik? MakroÖkonomik ist die Untersuchung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einer Volkswirtschaft. Während das Wirtschaftsleben eines Landes von Millionen von individuellen Handlungen von Unternehmen, Konsumenten, Arbeitnehmern und Staatsbeamten geprägt wird, konzentrieren sich MakroÖkonomen auf die Gesamtfolgen dieser Einzelaktionen. In jedem Monat mögen beispielsweise Tausende von Unternehmen die Preise ihrer Produkte erhöhen, während Tausende anderer Unternehmen ihre Preise senken. Zum Verständnis der insgesamt eintretenden Preisänderung betrachten MakroÖkonomen einen Durchschnitt von Tausenden von Einzelveränderungen. Um dies zu bewerkstelligen, konstruieren und analysieren sie einen speziellen Preisindex, d.h. einen Durchschnittswert der individuellen Preise zur Messung der insgesamt eingetretenen Preisänderungen in einer Volkswirtschaft. Der grundlegende Ansatz der MakroÖkonomik lenkt daher den Blick auf auftretende Gesamtentwicklungen und nicht auf die Trends, die einzelne Unternehmen, Arbeitnehmer oder Regionen einer Volkswirtschaft betreffen. Besondere zusammenfassende Maße der ökonomischen Aktivität - das Bruttosozialprodukt, die Sparquote oder der Konsumentenpreisindex - ergeben das "Gesamtbild" der Veränderungen und Trends. Diese makroökonomischen Gesamtmaße stellen die grundlegende Ausstattung bereit, die es MakroÖkonomen erlaubt, sich auf die dominanten Veränderungen in der Volkswirtschaft zu konzentrieren und nicht auf die besonderen Einflüsse, von denen einzelne ihrer Teile betroffen werden. Die MakroÖkonomik stützt sich erfolgreich auf eine gewaltige Menge an Daten, die in den meisten Ländern erhoben werden, um die Gesamtentwicklung der Volkswirtschaft zu verstehen. Tatsächlich entstand die moderne MakroÖkonomik erst in den 30er Jahren, als die Statistiker damit begannen, die große Masse statistischer Daten zur Beschreibung der gesamten Wirtschaftsentwicklung zu sammeln und zu veröffentlichen. Die wichtigsten Daten stammen aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die über das Gesamtniveau der Produktion, des Einkommens, der Ersparnis, des Konsums und der Investition einer Volkswirtschaft berichtet. Eine genaue Kenntnis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bildet das Rückrat der modernen makroökonomischen Analyse.

2

TEIL I: EINFÜHRUNG

Die MakroÖkonomik bemüht sich gewissermaßen um eine Vogelperspektive der Gesamtwirtschaft, eine Sicht, die nicht den umfangreichen Details bestimmter Sektoren oder Einzelunternehmen verhaftet bleibt. Ihrer Natur nach konzentriert sie sich auf die bedeutenden Fragen des Wirtschaftslebens. Was macht ein Land reicher oder ärmer in einem gegebenen Zeitraum? Wieviel sparen die Bürger des Landes für die Zukunft? Warum stieg die Mehrzahl der Preise rapide in den meisten der zurückliegenden Dekaden in Argentinien, aber - wenn überhaupt - nur langsam in der Schweiz? Was bestimmt den Wert des US-Dollars gegenüber dem japanischen Yen? Warum importieren die USA mehr Güter als sie exportieren? Dies ist die Art von Fragen, welche die MakroÖkonomik untersucht, und auf die sie häufig überzeugende Antworten zu geben vermag. Eine der großen und fortdauernden Themen der MakroÖkonomik seit Anbeginn war, daß die Gesamtentwicklung der Volkswirtschaft wesentlich beeinflußt wird von der staatlichen Politik, insbesondere von der Geld- und Fiskalpolitik. Die meisten MakroÖkonomen sind der Ansicht, daß Veränderungen der staatlichen Budgetpolitik und der Geldpolitik der Notenbank nachhaltige und im großen und ganzen vorhersehbare Wirkungen auf die Gesamtentwicklung der Produktion, der Preise, des internationalen Handels und der Beschäftigung haben. Einige Ökonomen sind der festen Überzeugung, daß der Staat seine budgetäre und monetäre Politik so handhaben sollte, daß er Einfluß auf den Gesamtverlauf der Volkswirtschaft nimmt, während andere meinen, daß die Beziehungen zwischen dieser Wirtschaftspolitik und der Gesamtwirtschaft zu unvorhersehbar und zu instabil sind, um eine Grundlage für die "Steuerung" der Volkswirtschaft abzugeben. Die moderne MakroÖkonomik stützt sich auf die Erkenntnisse der MikroÖkonomik, also auf die Untersuchung der individuellen Entscheidungen von Unternehmen und Haushalten und deren Interaktion auf Märkten. MakroÖkonomen beachten explizit die Tatsache, daß die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung das Ergebnis von Millionen von Einzelentscheidungen ist. Obwohl sie nicht darauf hoffen dürfen, jede dieser Einzelentscheidungen untersuchen zu können, erkennen sie, daß ihre Theorien zumindest in Übereinstimmung stehen müssen mit dem zugrunde liegenden Verhalten von Millionen von Haushalten und Unternehmen, die insgesamt die Volkswirtschaft ausmachen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, folgt die MakroÖkonomik drei grundlegenden Schritten. MakroÖkonomen versuchen erstens auf theoretischer Ebene die Entscheidungsprozesse von einzelnen Unternehmen und Haushalten zu verstehen. Makroökonomische Modelle beginnen typischerweise mit der vereinfachenden Annahme, daß es ein repräsentatives Unternehmen und einen ebensolchen Haushalt gibt, also eine Art durchschnittli-

KAPITEL 1: EINLEITUNG

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ches Unternehmen oder einen durchschnittlichen Haushalt in der Volkswirtschaft. Unter Verwendung dieses mikroökonomischen Werkzeugs untersucht der MakroÖkonom sodann, wie sich dieses typische Unternehmen oder der typische Haushalt verhält und im Wechsel der wirtschaftlichen Umstände verhalten wird. Zweitens versuchen MakroÖkonomen die Gesamtentwicklung der Volkswirtschaft zu erklären, indem sie die Entscheidungen der einzelnen Haushalte und Unternehmen aggregieren oder zusammenfassen. Das Verhalten des repräsentativen Unternehmens oder Haushalts wird in angemessener Weise "multipliziert" (und dies ist eines der trickreichsten Verfahren), um die Gesamtentwicklung der Volkswirtschaft vorherzusagen. Die volkswirtschaftlichen Schlüsselvariablen, wie Preise, Produktion, Konsum usw. werden aggregiert, und MakroÖkonomen leiten verschiedene Beziehungen zwischen den aggregierten Größen ab, um aus diesen die Verknüpfungen zwischen ökonomischen Schlüsselvariablen zu erklären. Drittens geben MakroÖkonomen den Theorien empirischen Gehalt, indem sie aktuelle gesamtwirtschaftliche Daten sammeln und analysieren. Diese können benutzt werden für den Test, ob ein behaupteter theoretischer Zusammenhang gültig ist, zur quantitativen Messung eines Zusammenhangs, zur Erklärung historischer Ereignisse oder dazu, einige Vorhersagen über den zukünftigen Verlauf der Volkswirtschaft zu untermauern. Die spezielle Fachrichtung der MakroÖkonometrie untersucht die formalen Wege, auf denen eine Beziehung zwischen der makroökonomischen Theorie und den aggregierten Daten für die verschiedenen Aufgaben hergestellt werden kann. 1-2 Einige makroökonomische Schlüsselfragen Viele der makroökonomischen Schlüsselthemen betreffen die Gesamtniveaus der Produktion, der Arbeitslosigkeit, der Preise und des internationalen Handels einer Volkswirtschaft. Die Analyse der Schlüsselvariablen wiederum beruht auf Antworten zu verschiedenen Fragen. Was bestimmt deren aktuelles Niveau in einer Volkswirtschaft? Wodurch werden Veränderungen dieser Variablen in kurzer Frist determiniert? Und wovon hängt es ab, wie diese Variablen sich langfristig verändern? Im Kern untersuchen wir jede dieser Schlüsselvariablen aus unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven: der Gegenwart, der kurzen Frist und der langen Frist. Jeder Zeithorizont erfordert, daß wir unterschiedliche Modelle verwenden, wenn wir aufzudecken versuchen, welche spezifischen Faktoren diese makroökonomischen Variablen bestimmen.

4

TEIL I: EINFÜHRUNG

Das wichtigste Einzelmaß der volkswirtschaftlichen Produktion ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP); eine statistische Größe, durch die der Gesamtwert der in den geographischen Grenzen einer Volkswirtschaft innerhalb einer gegebenen Periode produzierten Güter und Dienstleistungen zu messen versucht wird. Die Berechnung des BIP, d.h. die angemessene Zusammenfassung des Marktwertes von Millionen unterschiedlicher Produkte einer Volkswirtschaft, ist offensichtlich keine einfache Aufgabe. Wirtschaftsstatistiker beachten ferner den Unterschied zwischen dem nominalen BIP, das den Wert der Güter und Dienstleistungen in ihren laufenden Marktpreisen mißt und dem realen BIP, durch das man das physische Volumen der Produktion auszudrücken versucht. Falls sich die Preise aller Güter verdoppeln, das physische Volumen jedoch unverändert bleibt, dann verdoppelt sich das nominale BIP, nicht jedoch das reale BIP (da das physische Produktionsvolumen von den Preisveränderungen nicht berührt wird). Das Bruttosozialprodukt (BSP), eine eng verwandte Größe, entspricht der Summe aus dem BIP und dem Nettoeinkommen, das von inländischen Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) außerhalb der heimischen Volkswirtschaft, d.h. aus der übrigen Welt erzielt wird. Abb. 1-1 zeigt den zeitlichen Verlauf des realen BIP (zusammen mit dem der Arbeitslosigkeit) in den USA im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Es ist erstens zu beachten, daß das reale BIP über das Jahrhundert hinweg einem Aufwärtstrend folgt. Die USA erfreuten sich, wie große Teile der Welt auch, eines langfristigen Wachstums. MakroÖkonomen richten einen wesentlichen Teil ihrer Anstrengungen darauf, dieses Wachstum zu erklären. Welches sind die Quellen langfristigen Wachstums? Warum wachsen einige Länder schneller als andere in langen Zeitabschnitten? Kann Wirtschaftspolitik die langfristige Wachstumsrate beeinflussen? Zu beachten ist, daß das Wachstum des BIP über lange Frist positiv sein kann, nicht aber von Jahr zu Jahr gleichmäßig ist. Tatsächlich hat es bei verschiedenen Ereignissen in diesem Jahrhundert von einem Jahr zum nächsten abgenommen. Die Periode des Rückgangs dauerte gewöhnlich ein Jahr oder zwei Jahre, bevor der Anstieg des BIP erneut begann. Diese kurzfristigen Schwankungen sind als Konjunkturzyklen bekannt. Der Zeitpunkt des maximalen Outputs wird als Gipfel, der niedrigste Punkt des Zyklus als Tal bezeichnet; ein voller Konjunkturzyklus erstreckt sich von einem Tal zum nächsten. Die USA Jahrhundert. zehnt später Abschwung

durchliefen bisher 19 vollständige Konjunkturzyklen in diesem Die Weltwirtschaftskrise, die 1929 begann und erst ein Jahrendete, stellt den bei weitem längsten und tiefsten zyklischen dar; ein verheerendes weltweites Ereignis, auf das wir in den

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K A P I T E L 1: E I N L E I T U N G

1900

1910

1920

1930

1940

1950

1960

1970

1980

1990p

p = vorläufig

Abb. 1 - l a : Der zeitliche Verlauf des realen BSP in den USA, 1900-1990 (Quelle der Daten für 1900-1970: U.S. Historical Statistics, Series D85-86 und Fl-5; für 1970-1990: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-2 undB32.)

nachfolgenden Kapiteln häufig zurückkommen werden. Der Fall vom Gipfel in das Tal zu Beginn der Weltwirtschaftskrise dauerte 43 Monate, von August 1929 bis März 1933, und die nachfolgende Expansion nahm 50 Monate in Anspruch, von März 1933 bis Mai 1937. Das Outputniveau dieses Gipfels lag noch unter dem von 1929. Es dauerte bis zum nächsten Aufschwung, der mit der dem Zweiten Weltkrieg vorangehenden militärischen Aufrüstung verbunden war, bis das Produktionsniveau von 1929 wieder erreicht war. Der längste zyklische Aufschwung in Friedenszeiten, gemessen durch die Periode zwischen einem Tal und dem nachfolgenden Gipfel, war die Expansion der 80er Jahre, die vom November 1982 bis zum dritten Quartal 1990 andauerte. Das Verständnis von Konjunkturzyklen gehört zu den wichtigsten Zielen der MakroÖkonomik. Warum treten Konjunkturzyklen auf? Was bestimmt die Heftigkeit des Abschwungs in einem bestimmten Zyklus? Welche ökonomischen Kräfte fuhren zu einem vorübergehenden Rückgang der Produktion, und welche Kräfte bewirken die Rückkehr zum Wachstum? Werden Konjunkturzyklen verursacht durch unerwartete Ereignisse oder "Schocks", welche die Volkswirtschaft treffen, oder werden sie angetrieben durch das

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TEIL I: EINFÜHRUNG

Wirksamwerden vorhersehbarer interner dynamischer Kräfte? Welche Art von volkswirtschaftlichen Schocks sind am bedeutendsten? Wie regelmäßig sind Konjunkturzyklen hinsichtlich ihrer Dauer, Schwere und der dazwischenliegenden Intervalle? Kann die Wirtschaftspolitik die kurzfristigen Schwankungen der Volkswirtschaft glätten oder beseitigen? Dies sind einige der Schlüsselfragen, die von der modernen MakroÖkonomik aufgeworfen und zumindest teilweise beantwortet werden.

p = vorläufig

Abb. 1-1 b: Der zeitliche Verlauf der Arbeitslosigkeit in den USA, 19001990 (Quelle der Daten für 1 9 0 0 - 1 9 7 0 : U.S. Historical Statistics, Series D85-86 1 9 7 0 - 1 9 9 0 : Economic Report o f the President, 1991, Tab. B-2 undB32.)

und Fl-5;

fiir

Arbeitslosigkeit ist eine zweite Schlüsselvariable, die von der MakroÖkonomik untersucht wird. Durch die Arbeitslosenquote, die Abb. 1-lb zeigt, wird die Zahl der Personen, die ohne Arbeit sind und aktiv nach einer Beschäftigung suchen, als Anteil an der Gesamtzahl der Erwerbspersonen gemessen. Es ist zu beachten, daß es keinen erkennbaren langfristigen Trend bei der Arbeitslosenquote in diesem Jahrhundert gibt. In jeder Dekade betrug der Arbeitslosenanteil an den Erwerbspersonen durchschnittlich etwa 6%, mit der bemerkenswerten Ausnahme der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, als die Unterbeschäftigung beispiellose (und sozial tragische) Raten von mehr als 25% erreichte. Die kurzfristigen Bewegungen der Arbeitslosenquote ste-

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KAPITEL 1: EINLEITUNG

hen in Beziehung zu den Konjunkturzyklen. Abschwünge beim Output gehen einher mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit, und Aufschwünge fuhren zu einem Rückgang der Arbeitslosenquote. Es ist daher keineswegs überraschend, daß die Untersuchung von Konjunkturzyklen aufs engste mit dem Studium der Arbeitslosigkeit verknüpft ist. Ein dritte Schlüsselvariable, für die sich MakroÖkonomen interessieren, ist die Inflationsrate, welche die prozentuale Veränderung des durchschnittlichen Niveaus der Preise in einer Volkswirtschaft mißt. Abb. 1-2 zeigt die Inflationsraten in den USA im Verlauf des 20. Jahrhunderts, wobei als Maß der Inflation die jährliche Veränderung des Konsumentenpreisindexes verwendet wird. Dieser Index, den wir im folgenden Kapitel erörtern, mißt einen gewichteten Durchschnitt der Preise von Konsumgütern in der Volkswirtschaft, wobei die Gewichte in diesem Durchschnitt von den Anteilen der Konsumausgaben an jedem der verschiedenartigen Güter abhängt.

p = vorläufig

Abb. 1-2: Inflationsraten der USA, 1900-1990 (Quelle

der Daten für 1 9 0 0 - 1 9 7 0 : U.S. Historical

Statistics,

Series

1 9 7 0 - 1 9 9 0 : Economic Report o f the President, 1991, Tab. B-2 und

D85-86

und Fl-5\

für

B32.)

Der vermutlich wichtigste im Diagramm erkennbare Aspekt betrifft die Veränderung des langfristigen Inflationsmusters während des Jahrhunderts. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Inflationsrate sowohl positiv als auch nega-

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T E I L I : EINFÜHRUNG

tiv; d.h. die Preise stiegen oder fielen von einem Jahr zum anderen. Abgesehen vom Ausbruch einer hohen Inflation im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg 1914-1918, waren die Inflationsraten vor dem Zweiten Weltkrieg im allgemeinen gering und häufig negativ. Das durchschnittliche Preisniveau fiel in den USA deutlich in den ersten vier Jahren der Weltwirtschaftskrise, also zwischen 1929 und 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Inflationsrate jedoch stets positiv, d.h. das Preisniveau erhöhte sich in jedem Jahr gegenüber dem Vorjahr. Ende der 60er Jahre verstärkte sich die Inflation tendenziell und erreichte in den 70er Jahren relativ hohe Werte; sie war jedoch nie auch nur annähernd so hoch wie in einigen Entwicklungsländern, die wir später betrachten werden. Diese Schwankungen der Inflation über den Verlauf des Jahrhunderts hinweg werfen einige sehr wichtige und verwirrende Fragen auf. Was bestimmt das langfristig durchschnittliche Inflationsniveau in einer Volkswirtschaft? Warum war die Inflation in den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts höher? Was determiniert die kurzfristigen Schwankungen der Inflationsrate? Warum war die Inflation z.B. in den 70er Jahren besonders hoch, aber geringer in den 80er Jahren? In welchem Zusammenhang steht die Inflation mit dem Konjunkturzyklus? Werden Booms von steigenden Inflationsraten begleitet und Rezessionen von sinkenden Raten? Diese Fragen zur Inflation werden noch interessanter, wenn wir internationale Vergleiche von Inflationsraten anstellen. Tabelle 1-1 zeigt die durchschnittlichen Inflationsraten von zwei unterschiedlichen Ländergruppen während des letzten Jahrzehnts. Die Unterschiede sind in der Tat enorm. Während die durchschnittliche Inflation in den Industrieländern nie 10% erreichte, lag sie in 6 von 10 Jahren bei über 100% in Lateinamerika (und stieg 1989 auf mehr als 1000%). Warum sind die Inflationsraten in Lateinamerika so ausgeprägt höher als in anderen Teilen der Welt? Wie wir sehen werden, ist Inflation sehr eng mit dem Geldsystem einer Volkswirtschaft verbunden. Das langfristige Muster der Inflationsraten steht in Zusammenhang mit den Methoden der Geldschaffung in einer Volkswirtschaft. Kurzfristige Inflationsbewegungen sind häufig eng verbunden mit Veränderungen des Geldangebots, die sich aus Budgetdefiziten oder Änderungen in der Geldpolitik der Notenbank eines Landes ergeben. Insbesondere die hohen Inflationsraten Lateinamerikas standen mit großen Budgetdefiziten im letzten Jahrzehnt in Zusammenhang. Die vierte Schlüsselvariable, auf die MakroÖkonomen Augenmerk richten, ist der Handelsbilanzsaldo, der die Exporte eines Landes in die übrige Welt abzüglich der Importe aus dem Ausland ausdrückt. Wenn eine Volkswirtschaft mehr exportiert als sie importiert, dann sagen wir, das Land habe einen Handelsüberschuß, während wir im umgekehrten Fall, einem Über-

KAPITEL 1: EINLEITUNG

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schuß der Importe über die Exporte, von einem Handelsdefizit sprechen. Die USA hatten im 20. Jahrhundert überwiegend einen Handelsüberschuß. Nach 1970 jedoch stellte sich wiederholt ein Handelsdefizit ein, und während der 80er Jahre erreichte dieses einige Prozentpunkte des BIP und wurde somit äußerst bedeutsam. Tabelle 1-1: Inflation in den 80er Jahren: Lateinamerika und Industrieländer (in %) Jahr

Lateinamerika

Industrieländer

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

56,1 57,6 84,6 130,5 184,7 274,1 64,5 198,5 778,8 1.161,0 1.491,5

9,3 8,8 7,4 5,2 4,4 3,7 3,4 2,9 3,2 3,9 3,9

Quelle: Für Lateinamerika vgl. Economic Commission for Latin America and the Caribbean, United Nations, Preliminary Overview of Latin American Economy, 1990; für die Industrieländer vgl. International Monetary Fund, World Economic Outlook, Mai 1990.

Die Salden der Handelsbilanz der USA, Deutschlands und Japans, ausgedrückt als Anteil des BIP eines jeden Landes, sind in Abb. 1-3 dargestellt. Es ist erkennbar, daß die Defizite der USA ihre Entsprechung in den Überschüssen der beiden anderen Länder finden. Während die USA mehr Güter importierten als sie exportierten, gilt das Umgekehrte für Deutschland und Japan. Welche Bedeutung hat der Saldo der Handelsbilanz und was bestimmt seine Entwicklung in kurzer und langer Sicht? Ein Schlüssel zum Verständnis der Handelsbilanz liegt darin, daß Handelsungleichgewichte sehr eng mit den Finanzströmen zwischen den Ländern verbunden sind. Allgemein kann man sagen, daß ein Land, das mehr Güter aus der übrigen Welt importiert als es exportiert, für diese Importe zahlen muß, indem es sich gegenüber dem Ausland verschuldet oder Forderungen auflöst, die in früheren Perioden gegenüber der restlichen Welt erworben worden sind. Wenn andererseits die Exporte die Importe übersteigen, so gibt ein Land im allgemei-

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TEIL I: EINFÜHRUNG

nen Kredit an die übrige Welt. Daher ist unsere Untersuchung der Handelsungleichgewichte sehr eng verknüpft mit der Frage, warum die Bewohner eines Landes gegenüber den Bewohnern anderer Teile der Welt zu Schuldnern oder Gläubigern werden. Die USA wurden im letzten Jahrzehnt zum Hauptkreditnehmer gegenüber der restlichen Welt, während Deutschland und Japan die Hauptgläubiger geworden sind. Warum? Und worin bestehen für die USA die Konsequenzen der Verschuldung gegenüber dem Ausland in kurzer, mittlerer und langer Sicht? Welche Folgen ergeben sich für Deutschland und Japan aus der Kreditgewährung gegenüber der restlichen Welt einschließlich der USA?

Abb. 1-3: Saldo der Handelsbilanz in Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland, Japan und den USA, 1980-1989 {Quelle: International Monetary Fund, International Ausgaben.)

Financial

Statistics,

verschiedene

1-3 MakroÖkonomik in historischer Sicht Wenn wir die MakroÖkonomik im weitesten Sinne als Untersuchung gesamtwirtschaftlicher Trends einer Volkswirtschaft ansehen, dann können wir sagen, daß dieses Gebiet ein zentrales Anliegen der Ökonomen über Jahrhunderte hinweg gewesen ist. David Hume gelang im 18. Jahrhundert einer

KAPITEL 1: EINLEITUNG

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der frühesten Durchbrüche in der MakroÖkonomik, als er die Beziehungen zwischen dem Geldangebot, der Handelsbilanz und dem Preisniveau einer Volkswirtschaft untersuchte.1 Dieser bedeutende Durchbruch, der heute als monetärer Ansatz der Zahlungsbilanz bekannt ist, bildet immer noch einen Ausgangspunkt für Theorien, welche die Geldpolitik und das Muster des internationalen Handels zueinander in Beziehung setzen. In ähnlicher Weise haben monetäre Studien im 18. und 19. Jahrhundert die grundlegende Quantitätstheorie des Geldes aufgedeckt, die noch heute die Basis für die moderne monetäre Analyse bildet. Ungeachtet dieser vitalen Beiträge zu unserem Verständnis der Gesamtwirtschaft, wurde das Gebiet der MakroÖkonomik bis zum 20. Jahrhundert nicht wirklich als eigenständige Disziplin angesehen. Für die Entwicklung dieses Gebietes waren drei Ereignisse von grundlegender Bedeutung. Erstens begannen Wirtschaftsstatistiker mit der Sammlung und Systematisierung gesamtwirtschaftlicher Daten, welche die wissenschaftliche Basis flir makroökonomische Forschungen bildeten. Ein wesentlicher Teil dieser Datensammlung wurde durch den Ersten Weltkrieg angeregt, als Regierungen erkannten, daß sie bessere statistische Informationen zur Planung und Durchfuhrung ihrer Kriegsanstrengungen benötigten. Nach dem Krieg ergaben sich wesentliche Anstöße, die statistische Datensammlung und -analyse zu vervollkommnen. Das National Bureau of Economic Research (NBER), eine private Forschungsinstitution in den USA, unternahm zu Beginn der 20er Jahre einige fruchtbare Anstrengungen zur Datensammlung und -analyse. Diese Bemühungen wurden geleitet von Simon Kuznets, der später für seine grundlegenden Beiträge auf diesem Gebiet und der Untersuchung des modernen Wirtschaftswachstums mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt wurde. Im Laufe der 30er Jahre verfugten die USA unter Verwendung der von Kuznets und anderen entwickelten Konzepte über einen konsistenten Datensatz zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die zur Untersuchung makroökonomischer Trends verwendet werden konnte. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Gesamtrechnung von anderen Ökonomen, unter ihnen Richard Stone, ein weiterer Nobelpreisträger, systematisiert, und heute werden in nahezu allen Länder die Grunddaten zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung aufbereitet, die für die makroökonomische Analyse so wichtig sind. 1

Humes klassische Arbeit zu diesem Thema "Of the Balance of Trade" wurde erstmals 1752 veröffentlicht. Vgl. seine Essays, Moral, Political and Literary, Vol. 1 (London: Longmans Green, 1898).

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TEIL I: EINFÜHRUNG

Ein zweiter wesentlicher Impuls für die moderne MakroÖkonomik war die sorgfaltige Identifikation des Konjunkturzyklus als einem wiederkehrenden ökonomischen Phänomen. Die Fortschritte der empirischen Kenntnis über den Konjunkturzyklus wurde ermöglicht durch die nachhaltige Verbesserung der makroökonomischen Daten, die wir soeben beschrieben. Von den 20er Jahren an spielte wiederum das NBER eine Schlüsselrolle in der Verbesserung des Wissens über den Konjunkturzyklus. Aufgrund der Studien des Ökonomen Wesley Clair Mitchell wurde zunehmend deutlich, daß die Volkswirtschaft der USA von sich wiederholenden und im Kern ähnlichen Konjunkturzyklen betroffen wurde. Mitchell zeigte, daß zentrale Variablen wie Vorräte, Produktion und Preise sich tendenziell in systematischer Weise im Verlauf eines typischen Konjunkturzyklus veränderten. Der dritte bedeutende Anstoß zur Schaffung der modernen MakroÖkonomik war ein umwälzendes Ereignis: die Weltwirtschaftskrise. Dieses Desaster entsetzte nachhaltig die Welt angesichts des dadurch ausgelösten menschlichen Leidens und der politischen Konsequenzen, die diesem Leid folgten. Demokratische Regierungen stürzten im Verlauf der wirtschaftlichen Krise, und ihnen folgten faschistische Regime in Deutschland, Italien und Japan, die den Zweiten Weltkrieg anzettelten. Die Weltwirtschaftskrise begann 1929, als nahezu die gesamte Welt einen enormen Rückgang der Produktion und ein beispielloses Ansteigen der Arbeitslosigkeit erlitt. So konnten Anfang der 30er Jahre etwa in den USA rund ein Drittel aller Erwerbspersonen keine Beschäftigung finden. (Box 1-1 beschreibt die Dimensionen der Weltwirtschaftskrise in größerem Detail.) Die Weltwirtschaftskrise sprach dem Verständnis der klassischen Ökonomen Hohn, die vorhersagten, daß die normalen Marktkräfte umfangreiche und anhaltende Arbeitslosigkeit jener Art, wie sie weltweit in den 30er Jahren auftrat, verhinderten. Das Ereignis stellte die grundlegenden ökonomischen Lehren jener Zeit in Frage. Der brillante englische Ökonom John Maynard Keynes, der von 1883 bis 1946 lebte, brachte die MakroÖkonomik auf ihren modernen Weg, indem er einen neuen theoretischen Rahmen zur Erklärung der Weltwirtschaftskrise (wie auch geringerer Wirtschaftsschwankungen) vorschlug und eine spezifische Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Depression empfahl. Keynes' Hauptideen zu den Wirtschaftsschwankungen sind in seinem 1936 veröffentlichten Buch The General Theory of Employment, Interest and Money2 enthalten. Dies ist vermutlich die einflußreichste wirtschaftswissenschaftliche Schrift des 20. Jahrhunderts, auch wenn wir heute einige 2

Deutsch: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, Duncker & Humblot, 1936); Anm. d. Übers.

des Zinses

und des Geldes

(Berlin:

K A P I T E L 1: E I N L E I T U N G

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bedeutsame Unzulänglichkeiten der Analyse erkennen. Keynes lieferte wesentliche Beiträge, die über die in seinem Buch enthaltenen Gedanken hinausgingen, so seine Mitwirkung bei der Errichtung des Internationalen Währungsfonds und der internationalen Währungsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein Einfluß auf die gesamte Wirtschaftswissenschaft war so umfassend, daß sich MakroÖkonomen seither selbst als "Keynesianer" oder "Nicht-Keynesianer" bezeichnet haben, je nachdem wie nahe sie sich den Keynes'schen Vorstellungen und Politikempfehlungen verbunden fühlten. (Wir werden allerdings sehen, daß diese Unterscheidung ein halbes Jahrhundert später ein wenig abgedroschen erscheint.) Keynes' zentrale Aussage lautete, daß Marktwirtschaften nicht reibungslos selbstregulierend sind, d.h. sie garantieren nicht in zuverlässiger Weise geringe Niveaus der Arbeitslosigkeit und hohe Niveaus der Produktion. Vielmehr seien Volkswirtschaften von ausgeprägten Fluktuationen betroffen, die zumindest teilweise verursacht werden durch Umschwünge zwischen Optimismus und Pessimismus, die insgesamt die Höhe der Unternehmensinvestitionen beeinflussen. Breitet sich Pessimismus in der Geschäftswelt aus, so wird dies unmittelbar von einem scharfen Rückgang der Investition gefolgt, der seinerseits einen Rückgang der Produktion und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit hervorrufen kann. Sobald ein wirtschaftlicher Abschwung von der Schwere der Weltwirtschaftskrise in Gang gekommen ist, wird er nicht allein von den Marktkräften zügig beseitigt. Dies liegt zum Teil daran, daß einige wichtige Preise, insbesondere das durchschnittliche Lohnniveau, nicht sehr flexibel sind und sich schnell anpassen, wenn die Volkswirtschaft von negativen Schocks getroffen wird. Keynes ging davon aus, daß entscheidende Anpassungen der Makropolitik, insbesondere bei den Staatsausgaben und Steuern sowie bei der Geldpolitik, notwendig seien, um den Wirtschaftsabschwüngen entgegenzuwirken und die Volkswirtschaft zu stabilisieren. Keynes' Argument, daß der Staat eine Stabilisierungspolitik implementieren könne, um ökonomischen Abschwüngen vorzubeugen oder entgegenzuwirken, wurde so weitgehend akzeptiert, daß seine Ideen allgemein als "Keynesianische Revolution" bezeichnet wurden. BOX 1-1: Die

Weltwirtschaftskrise

Die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre war das größte ökonomische Debakel der modernen Zeit. Zwischen 1929 und 1932 sackte die Industrieproduktion weltweit ab; sie fiel in den USA um nahezu 50%, um etwa 40% in Deutschland, um fast 30% in Frankreich und in Großbritannien, wo der Wirtschaftsabschwung in den 20er Jahren begonnen hatte, um "nur" 10%.

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TEIL I: EINFÜHRUNG

Abb. 1-4 zeigt die Entwicklung der Industrieproduktion in der Periode 19251938 in diesen vier Ländern, die damals die größten Industriestaaten der Welt waren. Die Industriestaaten erlebten außerdem eine beispiellose Deflation, durch die die Preise in Großbritannien um nahezu 25%, in Deutschland und den USA um etwas über 30% und in Frankreich um mehr als 40% fielen. Die höchsten Humankosten spiegelten sich aber wider in der Arbeitslosigkeit, die sich zu einer atemberaubenden und in der Tat tragischen Höhe aufschwang. Die Arbeitslosenquote in den USA kletterte 1933 auf ein Viertel der Gesamtzahl der Erwerbspersonen. Auch Deutschland erlebte in den 30er Jahren einen katastrophalen Anstiegrder Arbeitslosigkeit. Die Weltwirtschaftskrise zeigte sich als ein globales Phänomen, das sich von den entwickelten Ländern auf die unterentwickelten Länder ausbreitete. Überall in Lateinamerika, Afrika und Asien kollabierten die Volkswirtschaften, als die Exportpreise für Rohstoffe auf den Weltmärkten infolge eines drastischen Nachfragerückgangs der Industrieländer fielen. Politische Instabilität folgte im Kielwasser des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Diktaturen entstanden in vielen Ländern Europas, in Japan und in den Entwicklungsländern, als sich die Demokratien als unfähig erwiesen, mit dem ökonomischen Chaos fertig zu werden. Hitlers Machtergreifung kann unmittelbar mit der tiefgreifenden Wirtschaftskrise in Deutschland in Verbindung gebracht werden. Die fuhrenden Industriestaaten reagierten auf die Krise mit der Errichtung von Schranken für die Importe aus anderen Ländern, in der Absicht, die Nachfrage nach im Inland produzierten Gütern zu steigern und die Menschen damit wieder zurück in die Beschäftigung zu bringen. Diese Politik erwies sich jedoch als schwerer Fehlschlag, da sie indirekt steigende Arbeitslosigkeit im Ausland hervorrief. Da nahezu alle wichtigen Länder diesem verheerenden Kurs folgten, brach der internationale Handel zusammen, wurden effiziente Wirtschaftsverbindungen zwischen den Ländern gekappt und am Ende wurde die Arbeitslosigkeit überall verschlimmert. Charles Kindleberger hat diesen erschreckenden Kollaps des Welthandels als eine sich nach innen drehende Spirale in Abb. 1-5 dargestellt. Welche Ursachen hatte dieser gewaltige und umfassende Wirtschaftsabschwung? Ökonomen, Historiker und Sozialwissenschaftler hatten im allgemeinen keinen Mangel an Hypothesen. Tatsächlich hat kein anderes Ereignis das Gebiet der MakroÖkonomik derart angespornt. Keynes war der erste, der eine einleuchtende Erklärung des Phänomens anbot. Er machte das instabile Vertrauen der Investoren als Hauptfaktor für den Anfang der Depression verantwortlich und bot in seiner General Theory einen umfassen-

KAPITEL 1: EINLEITUNG

15

den makroökonomischen Rahmen, der eine Erklärung für die anhaltende Unterbeschäftigung in dieser Periode erlaubte und zugleich verdeutlichte, welche Rolle der Fiskal- und Geldpolitik bei der Bekämpfung der Krise zukommen konnte. Eine Generation später konzentrierten der Nobelpreisträger Milton Friedman und seine Mitautorin Anna Schwartz ihre Erklärung der Weltwirtschaftskrise auf die überzogen kontraktive Geldpolitik, die in den USA in der Zeit von 1929 bis 1933 betrieben wurde. 3 Friedman und Schwartz hoben in ihrem klassischen Text hervor, daß die Geldpolitik vollständig verfehlte, sich der Flutwelle von Bankzusammenbrüchen in den frühen 30er Jahren entgegenzustellen und somit zu verhindern versäumte, daß aus einem normalen Konjunkturabschwung eine unheilvolle Depression wurde. Die von Friedman und Schwartz gegebene Erklärung wurde von anderen heftig bestritten. Charles Kindleberger, ein angesehener Wirtschaftshistoriker, plädierte für eine eher internationale Deutung. 4 Seiner Ansicht nach parierten die führenden Länder nicht den wirtschaftlichen Abschwung, der in den späten 20er Jahren begann, weil es auf weltwirtschaftlicher Ebene keine ökonomische Führung gab, und deshalb verwandelte sich der Niedergang in eine Depression. Weder die USA noch Großbritannien übernahmen die Führungsrolle, die die Abwärtsspirale der Weltwirtschaft beispielsweise durch einen Stopp der Zolleskalation, die den Welthandel lahmlegte, oder durch eine Kreditgewährung zur Finanzierung der wirtschaftlichen Erholung hätte bremsen können. Nicht nur, daß die USA keine führende Rolle bei der Verhinderung eines Zusammenbruchs des Welthandels einnahmen, wurden sie tatsächlich durch die Annahme des im höchsten Maße protektionistischen Smoot-Hawley-Zollgesetzes von 1930 selbst zu den ärgsten Missetätern. Aus Kindlebergers Sicht war dieser Mangel an Führung ein geschichtliches Unglück: Großbritannien verlor seine Rolle als Führungsmacht der Welt, und die USA hatten diese Verantwortung in den 30er Jahren noch nicht übernommen. Noch existierten internationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank nicht, die zu einer Krisenbewältigung durch Kreditgewährung an die notleidenden Länder hätten beitragen können. Eine weitere Erklärung ist von Peter Temin vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) angeboten worden; er argumentiert, daß die Weltwirt3

Vgl. Kapitel 7, "The Great Contraction, 1929-1933" in: M. Friedman und A. Schwartz, A Monetary History of the United States, 1867-1960 (Princeton, NJ: National Bureau o f Economic Research, Princeton University Press, 1963). 4

Kindleberger präsentierte seine Ansichten in dem Buch The World in Depression

1939 (Berkeley und Los Angeles: University o f California Press, 1973).

1929-

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TEIL I: EINFÜHRUNG

schaftskrise eine verspätete Folge des Ersten Weltkriegs und der fortdauernden Konflikte danach war. 5 Anders gesagt, die Konflikte des Krieges pflanzten sich fort als solche über den Frieden. Die Sieger und Besiegten stritten erbittert über Kriegsreparationen, internationale Kredite und andere finanzielle Themen. Ein fragiles Netz von Kriegsdarlehen und Reparationen hinterließ die meisten europäischen Staaten in extremer Finanzschwäche. Darüber hinaus war es schwierig, diese Konflikte zu lösen, weil sie teilweise ein Zeichen für tiefergehende Befürchtungen und Animositäten zwischen den zerstrittenen Ländern Europas waren. Falls der Krieg und die nachfolgenden ökonomischen und politischen Auseinandersetzungen in Europa die entscheidenden Schocks darstellten, die nach Temins Auffassung in die Weltwirtschaftskrise führten, welches waren dann die Mechanismen, die für eine Ausbreitung der Depression zuerst in den Industrieländern und danach in der übrigen Welt sorgten? Temin betont nachdrücklich, daß das damalige internationale Währungssystem, der Goldstandard, als Hauptkraft bei der Verbreitung des Wirtschaftskollapses anzusehen ist. Wie wir später sehen werden, wurden die Länder durch den Goldstandard daran gehindert, eine unabhängige Geldpolitik zu verfolgen und insbesondere daran, eine expansive Politik zu betreiben, die zur Umkehrung der Depression hätte beitragen können. Wie Barry Eichengreen und Jeffrey Sachs gezeigt haben, waren diejenigen Länder, die sich zuerst vom Goldstandard lösten auch diejenigen, die sich zuerst von der schweren Depression erholten. 6 Wie bei vielen anderen Themen der Ökonomie, so gibt es auch keine allgemein anerkannte Sicht der Ursachen und Ausbreitungsmechanismen der Weltwirtschaftskrise. Es bleiben vielmehr einige divergierende Erklärungen, die jeweils einen anderen Krisenaspekt hervorheben und einen Teil eines unbestreitbar komplexen makroökonomischen Phänomens vermitteln. Obwohl sich seine spezifischen Auffassungen über Wirtschafitsschwankungen als weniger "allgemein" erwiesen, als die Allgemeine Theorie vorgibt, leistete Keynes einen fundamentalen und bleibenden Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung der Makroökonomie. Viele seiner grundlegenden Ideen, wie beispielsweise sein Gesamtnachfrage- und -angebotskonzept, stehen nach wie vor im Zentrum der modernen MakroÖkonomik. Andere Vorstellungen, wie insbesondere jene, die die wirtschaftspolitischen Emp5 6

Vgl. Lessons from the Great Depression (Cambridge, MA: The MIT Press, 1989).

Vgl. ihren Aufsatz "Exchange Rates and Economic Recovery in the 1930s", Journal Economic History, Dez. 1985.

of

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KAPITEL 1: EINLEITUNG

fehlungen zur Steuerung des Budgets und des Geldangebots einschließen, sind indessen umstritten.

USA

Frankreich

Deutschland

Großbritannien

Abb. 1-4: Industrieproduktion in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und in den USA, 1925-1938 {Quelle: Peter Temin, Lessons from the Great Depression, Cambridge, MA: MIT Press, 1989, S. 2)

In den ersten 25 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die Keynes'schen Politikempfehlungen weltweit einen bestimmenden Einfluß. Es bestand ein wachsendes Vertrauen darin, daß der Staat Wirtschaftsabschwünge durch eine aktive Handhabung der Fiskal- und Geldpolitik verhindern könne. Die meisten Volkswirtschaften in der Welt wuchsen schnell, ohne daß es zu ernsthaften wirtschaftlichen Einbrüchen und hoher Inflation kam. Die Ergebnisse schienen den Beginn einer neuen Ära gesamtwirtschaftlicher Stabilität anzukündigen. In den 70er Jahren aber verdüsterte sich das ökonomische Bild, und das Vertrauen in die Keynes'sche Ökonomik begann zu verblassen. In einem überwiegenden Teil der Welt machte man Erfahrungen mit der Stagflation, einer Kombination aus wirtschaftlicher Stagnation (geringes oder negatives Wachstum der Produktion und hohe Arbeitslosigkeit) und gleichzeitig hoher Inflation. Dieses besondere ökonomische Gebrechen schien für die keynesianischen Politikempfehlungen

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TEIL I: EINFÜHRUNG

nicht zugänglich zu sein; es schien keinen Weg für die Anwendung der Makropolitik zu geben, um die Volkswirtschaft stabil zu erhalten. Die Welt in der Depression April

C3 3 C rt

Oktober

Abb. 1-5: Der Zusammenbruch des Welthandels, Januar 1929 bis März 1933 (aus: Charles Kindleberger, The World in Depression 1929-1939, Berkley und Los Angeles: University of California Press, 1973, S. 172. Copyright © 1986 Charles P. Kindleberger)

Es hatte in der Tat für viele Ökonomen und Nicht-Ökonomen den Anschein, als sei die Stabilisierungspolitik tatsächlich eine wesentliche Ursache für die erneute Instabilität. Eine "Konterrevolution" setzte ein, die die aktivistische Wirtschaftspolitik selbst für die Stagflation verantwortlich machte. Diese Gegenrevolution wurde mitgetragen von brillanten und einflußreichen Forschern, von denen Milton Friedman der bedeutendste ist. Gemeinsam mit seinen Kollegen an der Universität Chicago entwickelte der Nobelpreisträger Friedman eine zum Keynesianismus antithetische Doktrin, die unter dem Namen Monetarismus bekannt wurde. Die Monetaristen waren erstens der Ansicht, daß Marktsysteme selbstregulierend seien; d.h. sich selbst überlassene Volkswirtschaften kehren aus eigener Kraft zur Vollbeschäftigung zurück. Zweitens meinten sie, daß eine aktivistische Makropolitik einen Teil des Problems darstellten, nicht jedoch

KAPITEL 1: EINLEITUNG

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dessen Lösung. Auf der Grundlage einer umfangreichen historischen Analyse der USA, behaupteten Friedman und seine Koautorin Anna Schwartz in A Monetary History of the United States, daß Wirtschaftsschwankungen zu einem wesentlich Teil das Ergebnis von Veränderungen des Geldangebots seien. Friedman und seine Nachfolger machten geltend, daß ein stabiles und nicht etwa ein variables Geldangebot (das vermutliche Ergebnis einer aktivistischen Makropolitik) der wahre Schlüssel zu einer stabilen Gesamtwirtschaft sei. Die monetaristische Attacke gegen die keynesianischen Ideen wurde in den 70er und 80er Jahren weiter vorangetrieben durch die Schule der sog. neuklassischen MakroÖkonomik, die von Robert Lucas von der Universität Chicago, Robert Barro von der Harvard Universität und anderen angeführt wurde. Diese Wirtschaftswissenschaftler argumentierten noch strikter als Friedman, daß Marktwirtschaften selbstregulierend seien und daß Wirtschaftspolitik bei der systematischen Stabilisierung einer Volkswirtschaft ineffektiv bleibe. Die Verfechter dieser Theorie beschworen das Konzept der rationalen Erwartungen, auf das wir wiederholt zurückgreifen werden, um ihre Position zu rechtfertigen. Die Idee besagt: sofern Individuen und Geschäftsleute ihre Erwartungen über künftige wirtschaftliche Vorgänge "rational" (wie dieser Begriff von den Theoretikern definiert wird) bilden, haben Veränderungen der Wirtschaftspolitik erheblich geringere Effekte, als durch die keynesianischen Standardmodelle vorausgesagt. Diese Vorstellungen der neuklassischen MakroÖkonomen sind herausfordernd, aber in hohem Maße kontrovers. Andere Denkschulen beteiligten sich in jüngster Zeit an der Debatte. Verfechter der realen Konjunkturtheorie argumentieren, daß sowohl die Keynesianer als auch die Monetaristen irren, wenn sie die Ursachen volkswirtschaftlicher Schocks identifizieren. Sie behaupten, es seien technologische Schocks und nicht etwa Nachfragestörungen oder durch Wirtschaftspolitik ausgelöste Schocks, die die beobachteten wirtschaftlichen Schwankungen erklären. Andere sog. "Neo-Keynesianer" versuchen die grundlegenden Keynes'schen Ideen (daß Marktwirtschaften nicht automatisch selbstregulierend funktionieren, daß die Nominallöhne sich nicht unverzüglich anpassen, um Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten, daß Wirtschaftspolitik dazu beitragen kann, die Volkswirtschaft zu stabilisieren) auf eine tragfähigere Basis zu stellen. Eine Schlußfolgerung kann 45 Jahre nach Keynes' Tod und nach ausgedehnter Diskussion sowie dem Fortschritt im ökonomischen Denken gewiß gezogen werden. Obwohl es ein bahnbrechender Beitrag war, stellt sich Keynes' "Allgemeine Theorie" als nicht allgemein genug dar. Keynes richtete seinen Blick auf volkswirtschaftliche Schocks, die von Veränderungen

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T E I L I : EINFÜHRUNG

der Investitionen herrühren; wir erkennen nun, daß eine Volkswirtschaft auch durch viele andere Arten von Störungen verwundbar ist. Während Keynes hervorhob, daß eine Volkswirtschaft nicht notwendigerweise in der Lage sei, sich reibungslos an einen negativen Schock anzupassen - d.h. hohe Niveaus der Produktion und geringe Niveaus der Arbeitslosigkeit aufrechterhalten kann - wissen wir nun, daß die Fähigkeit einer Wirtschaft zur Anpassung in bedeutendem Maße abhängig ist von den ökonomischen Institutionen, die weltweit variieren. Mithin betont unsere Analyse der Wirtschaftsschwankungen die große Vielfalt von Ursachen und möglichen Ergebnissen statt nur eines einzigen theoretischen Erklärungsmusters.

1-4 Bereitstellung eines erweiterten makroökonomischen Analyserahmens Ein großer Teil der Agenda moderner MakroÖkonomik ist in den von Keynes initiierten Debatten um die wirtschaftlichen Fluktuationen zutage getreten. Sind Volkswirtschaften nicht gegen anhaltende Abschwünge geschützt? Welche Schocks, von der die Volkswirtschaften getroffen werden, sind für derartige Abschwünge verantwortlich? Können die Marktkräfte selbst eine tiefe wirtschaftliche Talfahrt umkehren oder bedarf es der Wirtschaftspolitik, um ein hohes Produktionsniveau und niedrige Arbeitslosigkeit wiederherzustellen? Wenngleich kurzfristige Wirtschaftsschwankungen und die Stabilisierungspolitik gewiß wichtige Themen der MakroÖkonomik sein sollten, sind sie nicht das einzige oder nicht einmal das hauptsächliche Anliegen. Andere Sachverhalte, etwa die Bestimmung der Wachstumsraten oder das Muster internationaler Kreditbeziehungen sollten ebenfalls zentrale Themen darstellen. Eine angemessene Theorie der Wirtschaftsschwankungen sollte auch den Umstand berücksichtigen, daß sich die Institutionen und Strukturen einer Volkswirtschaft von Land zu Land unterscheiden. Was eine brauchbare Theorie der Wirtschaftsschwankungen für die USA darstellt, mag eine dürftige Theorie für Europa, Japan oder Lateinamerika sein. In diesem Buch wird daher eine besonders breite Sichtweise der Makroökonomik angestrebt, und dies auf dreierlei Weise. Erstens richten wir unsere Aufmerksamkeit in beschränktem Maße auf die Diskussion kurzfristiger Wirtschaftsschwankungen und die Stabilisierungspolitik zugunsten einer verstärkten Betrachtung anderer zentraler makroökonomischer Themen. Zweitens wird den unterschiedlichen ökonomischen Institutionen in den verschiedenen Ländern besondere Aufmerksamkeit zuteil, um eine allgemeinere makroökonomische Theorie zu erreichen. Ein amerikanischer Student z.B. sollte sich nicht nur um die Institutionen der USA und die auf dieses

KAPITEL 1: EINLEITUNG

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Land bezogene Theorie bemühen. In der Weltwirtschaft der 90er Jahre ist ein Verständnis der globalen makroökonomischen Vorgänge selbst für eine angemessene Beurteilung der Entwicklungen in der eigenen Volkswirtschaft notwendig. Drittens anerkennen wir von Anfang an, daß Volkswirtschaften gegenüber der Welt offen sind über Handels- und Kapitalströme und daß diese internationalen Verbindungen zwischen den Ländern für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung insgesamt eine entscheidende Rolle spielen. Dieser Blick auf die offene Volkswirtschaft steht in Kontrast zu der für die Nachkriegszeit in den USA überwiegend typischen makroökonomischen Betrachtungsweise einer geschlossenen Wirtschaft. Lange Zeit hindurch betrachteten amerikanische MakroÖkonomen die Volkswirtschaft der USA als eine geschlossene unter der Annahme, daß diese einfach viel zu groß sei, um in stärkerem Maße von wirtschaftlichen Ereignissen in der übrigen Welt beeinflußt werden zu können. Diese Annahme war niemals zutreffend und erwies sich als zunehmend irreführend, als sich die USA im Zeitablauf stärker öffneten (z.B. gemessen durch den Anteil der Exporte und Importe am BIP). So wie die Prämisse für die USA falsch war, so geradezu absurd war sie für die meisten anderen Volkswirtschaften, für die der Handel und die Kapitalströme einen dominanten, wenn nicht sogar den entscheidenden Einfluß auf die jeweilige nationale Wirtschaft hatten. Die Vorliebe der MakroÖkonomen in den USA für die geschlossene Volkswirtschaft durchdrang die Wirtschaftsdiskussion in der gesamten Welt, weil die USA über weite Strecken in der Nachkriegszeit bei der Entwicklung des Faches den Ton angaben. Das verblaßt nun aus dem heilsamen Grund, daß die MakroÖkonomik als Wissenschaft weltweit einen Boom erlebt. Zugleich aber war das Vermächtnis des Denkens in geschlossenen Volkswirtschaften selbst dann nicht leicht zu erschüttern, wenn makroökonomische Modelle auf Länder Anwendung fanden, die gegenüber den Weltmärkten sehr viel stärker geöffnet waren als die USA. Um diese fehlerhafte Betrachtung der geschlossenen Wirtschaft zurechtzurücken, verwenden wir durchgängig in diesem Text Modelle der offenen Volkswirtschaft. Diese Veränderung des Akzentes erscheint wichtig, wenn wir die USA verstehen wollen, und sie ist absolut unverzichtbar für das Verständnis nahezu aller übrigen Länder. Sie ist ferner wesentlich für die richtige Einsicht, daß die gesamtwirtschaftlichen Schicksale der verschiedenen Teile der Welt nunmehr eng miteinander verknüpft sind.

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TEIL I: EINFÜHRUNG

1-5 Ein Abriß dieses Buches Dieses Buch gliedert sich in zwei Hauptteile: die Kernthemen (Kapitel 1 18) und die speziellen Themen (Kapitel 19-22). Der Kern des Buches selbst besteht aus vier Teilen: einer Einführung in die MakroÖkonomik, Abschnitten zur intertemporalen Ökonomik und zur Geldwirtschaft sowie einem Abschnitt, der Konjunkturschwankungen, Stabilisierungspolitik und Wachstum behandelt. Die einleitenden Kapitel (2-3) machen mit einigen grundlegenden Konzepten der MakroÖkonomik vertraut; diese beinhalten die Messung der Gesamtproduktion und der Preise, die Unterscheidung zwischen Bestands- und Stromgrößen sowie die Rolle der Erwartungen in ökonomischen Modellen. Dies sind wichtige Bausteine für nachfolgende Theorien. Ferner stellen wir den grundlegenden Rahmen für die Analyse von Konjunkturschwankungen und die (mögliche) Rolle der Stabilisierungspolitik vor. Dabei beschreiben wir erstmals die zentralen Ideen des Gesamtangebots, der Gesamtnachfrage und des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. In den Kapiteln (4-7) zur intertemporalen Ökonomik nehmen wir eine der wichtigsten Fragen der MakroÖkonomik auf: was bestimmt den Anteil des laufenden Einkommens, den die Gesellschaft für Konsum oder Sparen verwendet? Die Ersparnis kann (gewöhnlich) als Entscheidung zur Erhöhung des zukünftigen Konsums zu Lasten des gegenwärtigen Verbrauchs gesehen werden. Daher fragen wir an dieser Stelle, wie Haushalte, Unternehmen und Staat zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Wünschen und Bedürfnissen wählen. Bei der Untersuchung dieser intertemporalen Vorgänge vernachlässigen wir wirtschaftliche Fluktuationen und stützen uns auf ein vereinfachtes Modell einer Volkswirtschaft, die stets Vollbeschäftigung aufweist. Der Abschnitt zur monetären Ökonomik (Kapitel 8-11) untersucht die volkswirtschaftliche Rolle des Geldes sowie die starken Wirkungen, die von der Geldpolitik auf die Volkswirtschaft ausgehen. Veränderungen des Geldangebots haben fundamentale Bedeutung für die Inflation und spielen eine kritische Rolle bei der Budgetfinanzierung in vielen Ländern. Die Rolle des Geldes für eine Volkswirtschaft steht in einem engen Zusammenhang mit dem Wechselkurssystem, durch das der Austausch der heimischen Währung mit den Währungen anderer Länder bestimmt wird. Ebenso wie im vorangegangenen Abschnitt vernachlässigen wir in diesem den Zusammenhang zwischen Geld und Wirtschaftsschwankungen, ein Thema, das wir bis zum nachfolgenden Abschnitt zurückstellen. Im vierten Kernabschnitt zur Bestimmung des Outputs (Kapitel 12-18) kehren wir zurück zur Thematik der Wirtschaftsschwankungen und der Rol-

KAPITEL 1: EINLEITUNG

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le, die der Staat zur Stabilisierung der Volkswirtschaft spielen kann. Wir erläutern die keynesianische Theorie der Outputbestimmung, wobei ein besonderer Akzent auf den Fall einer offenen Volkswirtschaft gelegt wird. Es wird ferner die Rede sein von möglichen Konflikten zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation, von der Bedeutung der Institutionen des Arbeitsmarktes für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und von der Rolle unterschiedlicher Schocks als Ursache wirtschaftlicher Instabilität. Im Schlußteil des Buches (Kapitel 19-22) werden einige wichtige Spezialthemen erörtert, die für Wirtschaftspolitiker und MakroÖkonomen von zentralem Interesse sind, aber schon zu fortgeschritten sind, um in den Hauptteil eines Makrotextes auf mittlerem Niveau einbezogen zu werden. Diese Kapitel sind im wesentlichen, wenn auch nicht vollständig, in sich abgeschlossen, so daß sie in beliebiger Folge gelesen werden können, obgleich es erfolgversprechender erscheint, die Reihenfolge einzuhalten. Sie behandeln Themen zur Wirtschaftspolitik, zur volkswirtschaftlichen Bedeutung handelbarer und nicht-handelbarer Güter, zur Struktur und Rolle der Finanzmärkte und zum Problem der Beendigung hoher Inflationen.

Kapitel 2

Grundlegende Konzepte der MakroÖkonomik Vor einer Analyse der zahlreichen Theorien, die gesamtwirtschaftliche Vorgänge zu erklären versuchen und der empirischen Befunde, durch die diese gestützt werden (oder auch nicht), müssen wir einige grundlegende Konzepte der MakroÖkonomik verstehen lernen. Wir betrachten erstens verschiedene Maße des aggregierten Einkommens und Outputs und deren Beziehungen zueinander. Der Prozeß der Aggregation über viele unterschiedliche Güter und Dienstleistungen erfordert eine einheitliche Maßeinheit, und dies fuhrt uns zu einem zweiten Thema: der Rolle von Preisen und Preisindizes. Ein dritter bedeutender Gegenstand, der einen wesentlichen Teil der makroökonomischen Diskussion durchzieht, betrifft die Unterscheidung zwischen Beständen und Strömen. Viertens beschreiben wir zwei Faktoren, welche die intertemporalen Entscheidungen von Wirtschaftssubjekten beeinflussen: den Zinssatz und den Gegenwartswert. Schließlich betrachten wir mit dem Konzept der Erwartungen einen weiteren Aspekt, der für das Verständnis von Entscheidungen im Zeitablauf von großer Bedeutung ist.

2-1 Brutto-Inlandsprodukt und Brutto-Sozialprodukt Wenn sich die MakroÖkonomik dem Studium der Gesamtwirtschaft widmet, dann müssen ihre Bausteine aggregierte Maße der wirtschaftlichen Aktivität sein. In diesem Abschnitt beschreiben wir daher die Bedeutung zweier höchst bedeutsamer Gesamtmaße der wirtschaftlichen Tätigkeit in einer Volkswirtschaft: das Brutto-Inlandsprodukt und das Brutto-Sozialprodukt. Brutto-Inlandsprodukt Das Brutto-Inlandsprodukt (BIP) entspricht dem Wert der laufenden Produktion von Gütern und Dienstleistungen für die letzte Verwendung innerhalb der nationalen Grenzen eines Landes für eine bestimmte Zeitperiode, normalerweise ein Quartal oder Jahr. In einer Volkswirtschaft werden Millionen unterschiedlicher Güter (Autos, Kühlschränke, Geschirrspülmaschinen, Hamburger, Äpfel usw.) und Dienstleistungen (medizinische Behandlungen, Rechtsberatungen, Bankdienstleistungen, Haarschnitte usw.) produziert. Im BIP ist all dies aufsummiert in einem einzigen statistischen Maß für die Gesamtproduktion dieser Güter und Dienstleistungen. Für die Addition aller dieser Posten ist es jedoch notwendig, diese durch eine allgemeine Maßeinheit, typischerweise eine monetäre Einheit, auszudrücken. In den USA beispielsweise wird das BIP als Dollarwert der Gesamtproduktion aus-

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T E I L I: E I N F Ü H R U N G

gedrückt; in Großbritannien erfolgt die Wertangabe der Produktion in Pfund usw. Das BIP erreichte 1990 in den USA 5,4 Billionen Dollar. Der Wert des BIP erfaßt die laufende Produktion von Endprodukten, gemessen in Marktpreisen. "Laufende Produktion" bedeutet, daß wir den Wiederverkauf von Dingen, die in einer früheren Periode hergestellt worden sind, nicht mitzählen. Der Verkauf eines existierenden Hauses von einem Investor an einen anderen trägt nicht zum BIP bei, da es sich um eine Übertragung von Vermögenswerten handelt, nicht aber um irgendeine Form der laufenden Produktion. Das gleiche gilt für den Verkauf von Kunstwerken, bestehenden Fabriken und anderen Arten von Kapital. Mit "Endprodukten" meinen wir einfach, daß wir den Wert von Rohstoffen und Zwischenprodukten (Halbfertigerzeugnissen), die als Input für die Produktion anderer Güter verwendet werden, nicht einrechnen. Zur Berechnung des BIP können zwei Methoden angewendet werden. Nehmen wir den Fall des von der Mineralölindustrie erzeugten BIP (um das gesamte BIP zu erhalten, addieren wir das BIP eines jeden Sektors). Nehmen wir z.B. an, ein Unternehmen fördert Rohöl und verkauft dieses an eine Raffinerie, die Benzin herstellt. Das Rohöl wird für 20 $ pro Barrel an die Raffinerie verkauft, und diese verkauft das Endprodukt für 24 $ pro Barrel weiter. Der erste und direkteste Weg zur Berechnung des BIP dieses Sektors besteht darin, lediglich die hergestellten Endprodukte zu zählen. Folglich würden in das BIP die 24 $ des Raffinerieoutputs, nicht aber die 20 $ der Rohölproduktion eingerechnet. Dies ist die Outputmethode zur Ermittlung des BIP. Ein zweiter Weg zur Berechnung des BIP, der zum gleichen Ergebnis fuhrt, besteht darin, die auf jeder Stufe des Produktionsprozesses erzeugte Wertschöpfung zu addieren. Vereinfacht gesagt, entspricht die Wertschöpfung dem Marktwert des Outputs auf jeder Stufe abzüglich des Marktwertes der für die Herstellung dieses Outputs verwendeten Inputs. So besteht z.B. die Wertschöpfung der Raffinerie aus dem unraffinierten Öl nicht aus den gesamten 24 $ pro Barrel, sondern nur 4 $ (= 24 $ - 20 $). Dies entspricht dem Zuwachs des Wertes pro Barrel infolge des Raffinierungsprozesses, und dieser wird der Wertschöpfung an der Ölquelle in Höhe von 20 $ hinzugerechnet, was eine gesamte Wertschöpfung von 24 $ auf dem Weg vom Rohöl bis zum Endprodukt ergibt. Die Wertschöpfungsmethode zur Berechnung des BIP ergibt die gleiche Summe von 24 $, die wir durch einfache Bewertung der Herstellung des Endprodukts ermittelt haben. Da der Output zumeist über Markttransaktionen verkauft wird, werden die Transaktionspreise üblicherweise zur Bemessung des Marktwertes von Output und Input herangezogen. Unter bestimmten Umständen sind Trans-

KAPITEL 2: GRUNDLEGENDE KONZEPTE

27

aktionspreise jedoch nicht verfugbar - oder sie existieren gar nicht. Dies ist bei vielen Leistungen des Staates der Fall, wie dem von der Armee, dem Justizwesen und dem öffentlichen Verwaltungsapparat bereitgestellten "Output". In Ermangelung eines besseren Wertindikators besteht die Lösung darin, die Herstellungskosten dieser Leistungen, d.h. die staatlichen Ausgaben für diese Dienste heranzuziehen. Andere Güter und Dienstleistungen werden jedoch im BIP überhaupt nicht erfaßt, da sie nicht über Märkte gehandelt werden und keine eindeutigen Informationen über ihre Kosten vorliegen. Beispiele sind die Leistungen von Hausfrauen (-männern), die im eigenen Haushalt tätig sind oder die von Haushalten konsumierten Produkte aus dem eigenen Garten. Einkommenskreislauf Wenn ein Unternehmen einen Teil seines Outputs an einen Kunden verkauft, entspricht der Wert des Kaufes durch den Kunden den Einnahmen des Unternehmens. Andererseits werden die erzielten Einnahmen des Unternehmens auf eine der vier nachfolgend genannten Arten verwendet: zur Bezahlung für von anderen Unternehmen bezogene Inputs, zur Bezahlung von Arbeitnehmern, zur Zahlung von Darlehenszinsen oder zur Einbehaltung bzw. Ausschüttung von Gewinnen. Die beiden zuletzt genannten Kategorien, Zinszahlungen und Gewinne können als Einkommen betrachtet werden, das die Eigentümer des vom Unternehmen verwendeten Kapitals erhalten, d.h. die Kreditgeber oder Eigentümer der Fabrikanlage, der Maschinen und des Bodens. Wenn wir also alle Unternehmen der Volkswirtschaft aufsummieren, erhalten wir die folgende Identität: Gesamtkäufe der Inlandskunden = Gesamteinnahmen der Unternehmen = Löhne + Kapitaleinkommen + Käufe zwischen Unternehmen

(2.1)

Genau genommen gilt diese Identität nur für eine geschlossene Volkswirtschaft. Wie wir später sehen werden, können sich in einer offenen Volkswirtschaft die Käufe inländischer Kunden von den Einnahmen der inländischen Unternehmen unterscheiden, da einige der gekauften Dinge Importe von ausländischen Unternehmen sind, und ein Teil der Verkäufe als Exporte an ausländische Käufer geht. Darüber hinaus stammt ein Teil des von Inländern erzielten Einkommens aus Kapital oder Arbeit, welche(s) nicht von inländischen Unternehmen, sondern im Ausland eingesetzt wurde. A n dieser Stelle erscheint es vertretbar, von derartigen Komplikationen abzusehen. Es ist zu beachten, daß die Käufe in Identität (2.1) von zweierlei Art sind: solche, die von den Endverbrauchern des Produkts getätigt werden, und Käufe von Unternehmen bei anderen Unternehmen, deren Produkte zur Herstellung des eigenen Outputs verwendet werden. Wenn wir die Käufe

28

T E I L I: E I N F Ü H R U N G

zwischen Unternehmen von jedem einzelnen Posten in Identität (2.1) abziehen, ergibt sich, daß die Gesamtkäufe abzüglich der Käufe der Unternehmen untereinander der Endnachfrage entspricht. Die Gesamteinnahmen abzüglich der Käufe von anderen Unternehmen entsprechen der Wertschöpfung der Unternehmen in der Volkswirtschaft. Sodann erhalten wir eine neue Identität (die wiederum nur für die geschlossene Volkswirtschaft gültig ist): Endnachfrage = Wertschöpfung = Löhne + Kapitaleinkommen

(2.2)

Das Einkommen fließt mithin in einem Kreis. Die Ausgaben der Haushalte entsprechen der Wertschöpfung der Unternehmen und dieses wiederum dem Einkommen der Haushalte, die Eigentümer des von den Unternehmen verwendeten Kapitals und der Arbeit sind. Dieser Einkommenskreislauf ist in Abb. 2-1 dargestellt. Die Haushalte fragen den Output der Unternehmen nach und stellen die Inputs an Arbeit und Kapital bereit. Andererseits produzieren die Unternehmen den Output, der an die Haushalte verkauft wird, und deren Einnahmen werden zur Bezahlung der benötigten Arbeit und des notwendigen Kapitals verwendet. In der Abbildung ist die Endnachfrage der Haushalte gleich 1 Mrd. $, was dem gesamten BIP entspricht. Diese eine Mrd. $ ist gleich der Wertschöpfung der Unternehmen, welche wiederum der Summe der erzielten Einkommen der in der Volkswirtschaft beschäftigten Arbeit (Löhne) und des Kapitals (Gewinne und Zinsen) entspricht. Abb. 2-1: Einkommenskreislauf Haushalte

Käufe = 1 Mrd.S

Güter und Dienstleistungen (Output)

Unternehmen

L ö h n e + Kapitale i n k o m m e n = 1 Mrd. $

KAPITEL 2: GRUNDLEGENDE KONZEPTE

29

Unterschiedliche Methoden zur Messung des BIP Die grundlegende Identität in (2.2) erlaubt uns, das Brutto-Inlandsprodukt auf drei unterschiedlichen Wegen zu ermitteln, die alle zum gleichen Ergebnis führen: Das BIP ist gleich der Summe aller Endproduktkäufe in der Volkswirtschaft, es entspricht der Summe der Wertschöpfung aller Unternehmen in der Volkswirtschaft und es ist die Summe aller Einkommen von Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) in der Volkswirtschaft. Jede dieser Beschreibungen des BIP verweist auf verschiedene Meßmethoden des BIP in der Praxis, die jeweils zum gleichen Gesamt-BIP einer Volkswirtschaft fuhren sollten. (Geringe Abweichungen zwischen den drei Meßmethoden treten allerdings typischerweise aufgrund von Datenfehlern auf.) Der erste Berechnungsweg des BIP ist die Ausgabenmethode. Dabei wird das BIP als Summe der gesamten Endnachfrage nach dem Output einer Volkswirtschaft ermittelt. Dabei gibt es unterschiedliche Formen der Endnachfrage. Der in einer Volkswirtschaft erzeugte Output kann für den Konsum der Haushalte (C), den Staatsverbrauch (G), für Investitionen in neues volkswirtschaftliches Kapital (7) oder für Nettoverkäufe an Ausländer (d.h. Netto-Exporte) verwendet werden. Wir können sagen, daß die Konsumgüter den Preis PQ haben und die Menge C gekauft wird; für Investitionsgüter ist der Preis PJ und die gekaufte Menge I, für Staatskäufe der Preis PQ und die Menge G, für Exporte P% mit der im Ausland verkauften Menge X und für Importe gilt der Preis P^ mit der vom Ausland importierten Menge IM. Der Marktwert des Konsums ist daher P ( C , das Produkt aus Konsumentenpreis und gekaufter Konsumgütermenge. In gleicher Weise kann der Marktwert der Investitionen (PJL), der Staatskäufe (PQG), der Exporte (PxX) und der Importe (P^IM) gefunden werden. Mithin errechnet sich das BIP wie folgt: B I P = PCC

+ PJL + PGG

+ (PXX

- PMIM)

(2.3)

Das BIP ist also die Summe der Marktwerte aller Endnachfragekomponenten der Volkswirtschaft, gemessen in laufenden Preisen. Es ist zu beachten, daß die in Klammern gesetzten Ausgaben, PxX - P^IM, den Netto-Exporten der Volkswirtschaft entsprechen, d.h. sie sind gleich dem Marktwert der Exporte minus dem Marktwert der Importe. Tabelle 2-1 zeigt die Aufteilung des BIP auf die verschiedenen Ausgabenkategorien in den USA für 1990. Der private Konsum ist mit mehr als zwei Dritteln der Gesamtsumme die bei weitem wichtigste Komponente des BIP. Die Käufe des Staates von Gütern und Dienstleistungen bleiben mit rund 20% deutlich dahinter zurück, während die Investitionen etwas weniger als 14% der Gesamtoutputs ausmachen. Mit negativen 1,4% des BIP schla-

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TEILI: EINFÜHRUNG

gen die Nettoexporte zu Buche, wobei diese der Differenz aus Exporten (10% des BIP) und Importen (etwas über 11% des BIP) entsprechen. Tabelle 2-1: Brutto-Inlandsprodukt der USA nach Art der Ausgaben, 1990* Brutto-Inlandsprodukt (Mrd. $) Brutto-Inlandsprodukt Privater Konsum (C) Investitionen (7) Staatsverbrauch (G) Netto-Exporte (NX) Exporte Importe

5.424,4 3.658,1 745,0 1.098,0 -76,6 534,7 -611,3

Anteil am gesamten BIP in % 100,0 67,4 13,7 20,2 -1,4 9,9 -11,3

* Summenabweichung durch Rundungsfehler möglich. Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-l und U.S. Department of Commerce, Bureau of Labor Statistics, Survey of Current Business (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, Januar 1991).

Die Wertschöpfungsmethode ist ein zweiter Weg zur Berechnung des BIP. Dabei wird das BIP durch Addition der Wertschöpfung in jedem der volkswirtschaftlichen Sektoren ermittelt; daher entspricht das BIP der Summe aus der Wertschöpfung der Landwirtschaft plus der Wertschöpfung im Bergbau plus der Wertschöpfung in der verarbeitenden Industrie usw. Eine Aufgliederung der Volkswirtschaft in neun Sektoren wird in Tabelle 2-2 für das Jahr 1988 wiedergegeben. Bemerkenswert ist, daß der Sektor des verarbeitenden Gewerbes den größten Einzelsektor (mit einem Anteil von rund 20% an der Gesamtwirtschaft) darstellt, während Landwirtschaft und Bergbau die kleinsten Sektoren sind (mit einem Anteil von 2,1 % bzw. 1,7% an der Gesamtwirtschaft). Die dritte Methode zur Berechnung des BIP besteht in der Addition der Einkommen aller am Produktionsprozeß beteiligten Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital). Das Inlandseinkommen (IE) als Summe aus Arbeitsund Kapitaleinkommen ist mit dem BIP eng verbunden. Tabelle 2-3 zeigt die Aufteilung des Inlandseinkommens in Arbeits- und Kapitaleinkommen der USA für das Jahr 1990. Bemerkenswerterweise macht der Anteil des Arbeitseinkommens nahezu drei Viertel des Inlandseinkommens aus; auf das Kapitaleinkommen entfallt der restliche Anteil. Das Arbeitseinkommen ist ganz einfach die Entlohnung von Arbeitskräften, während das Kapitaleinkommen verschiedene Quellen hat, so das Einkommen der Selbständigen, Zins- und Mieteinkommen sowie Gewinne von Kapitalgesellschaften.

KAPITEL 2 : GRUNDLEGENDE KONZEPTE

31

Tabelle 2-2: Brutto-Inlandsprodukt der USA nach Sektoren, 1988*

Land- u. Forstwirtschaft, Fischerei Bergbau Baugewerbe Verarbeitendes Gewerbe Transport- u. Versorgungsuntern. Groß- u. Einzelhandel Finanzinstitute, Versicherungen u. Wohnungswirtschaft Dienstleistungen Staat u. öffentliche Unternehmen Statistische Differenz Insgesamt

BIP (Mrd. $)

Anteil am gesamten BIP in %

99,8 80,4 232,6 948,6 441,4 780,8

2,1 1,7 4,8 19,6 9,1 16,1

830,3 872,5 570,6 -9,6

17,1 18,0 11,8 -0,2

4.847,4

100,0

* Aufgliederung des BIP nach Sektoren fiir die Zeit nach 1988 nicht erhältlich. Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-10 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1991).

Es ist zu beachten, daß das Inlandseinkommen nicht exakt dem BIP entspricht. Die wichtigsten Korrekturen, die vorgenommen werden müssen, um vom BIP zum Inlandseinkommen zu gelangen, schließen den Abzug von Abschreibungen auf Kapitalgüter und die indirekten Steuern ein. Bauten, Ausrüstungen und Wohneigentum unterliegen einem Wertverzehr im Zeitablauf, ein Vorgang, der als Abschreibung des Kapitalstocks bezeichnet wird. Ein Teil der laufenden Produktion in jeder Periode muß reinvestiert werden, um die Abschreibung auszugleichen. Offensichtlich sollte dieser Teil des Outputs nicht zum Einkommen gerechnet werden. Ziehen wir die Abschreibungen vom BIP ab, so erhalten wir das Netto-Inlandsprodukt (NIP). Wenn wir vom NIP zum Inlandseinkommen gelangen wollen, so müssen wir zunächst bedenken, daß das NIP zu Marktpreisen bewertet wird, während das Inlandseinkommen zu den Preisen abzüglich Steuern, die die Unternehmen tatsächlich erhalten, berechnet wird. Die Differenz zwischen diesen Preisen entspricht dem Wert der Umsatz- und Verbrauchsteuern, die auch als indirekte Steuern bezeichnet werden und einen Teil der staatlichen Einnahmen darstellen. Ziehen wir diese indirekten Steuern vom NIP ab, so gelangen wir zum Inlandseinkommen.

32

TEIL I: EINFÜHRUNG

Tabelle 2-3: Anteil des Arbeits- und Kapitaleinkommens am Inlandseinkommen der USA, 1990*

Arbeitnehmerentlohnung Kapitaleinkommen Einkommen v. Geschäftsinhabern Persönliche Mieteinkommen Gewinne v. Kapitalgesellschaften Netto-Zinseinkommen

Inlandseinkommen (Mrd. $)

Anteil am IE (in %)

3.244,2 1.173,3

73,9 26,7

402,4 6,7 297,1 467,1

abzügl. Netto-Faktoreinkommen aus dem Ausland Inlandseinkommen

29,6

0,7

4.387,9

100,0

* Summenabweichung durch Rundungsfehler möglich. Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-24 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1991).

Bruttosozialprodukt Ein dem BIP eng verwandtes Konzept ist das des Bruttosozialprodukts (BSP), das dem Gesamtwert des von Inländern in einer Periode erzielten Einkommens entspricht. In einer geschlossenen Volkswirtschaft - einer solchen, die keine Handels- und Kapitalströme mit der übrigen Welt aufweist sind das BIP und das BSP identisch; bei allen realen Volkswirtschaften unterscheiden sich allerdings diese beiden Größen, auch wenn der Unterschied in einigen Ländern gering sein mag, denn in der Praxis gehört stets ein Teil der Inlandsproduktion Ausländern und stammt in Teil des Einkommens von Inländern aus ausländischer Produktion. Sehen wir uns nun die Unterschiede zwischen den beiden Konzepten etwas genauer an: In allen Volkswirtschaften sind Teile der Produktionsfaktoren in ausländischem Eigentum, und daher geht ein Teil des von Arbeit und Kapital erzielten volkswirtschaftlichen Einkommens an Ausländer. Dies ist am einfachsten zu erkennen, wenn Ausländer in der inländischen Volkswirtschaft beschäftigt sind; ebenfalls dann, wenn sich ein Teil des inländischen Kapitalstocks im Eigentum von Ausländern befindet. Zugleich mögen Inländer einen Teil ihres Einkommens aus dem Ausland beziehen, indem sie dort arbeiten oder Anteile an ausländischen Kapitalgesellschaften besitzen. Durch das BIP wird das Einkommen innerhalb der nationalen Grenzen gemessen, unabhängig davon, wer diese Einkünfte bezieht. Im BSP wird das

KAPITEL 2: GRUNDLEGENDE KONZEPTE

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Einkommen von Inländern erfaßt, gleichgültig, ob dieses Einkommen inländischer oder ausländischer Produktion entstammt. Nehmen wir beispielsweise an, ein Teil der inländischen Produktion stamme aus einer Ölquelle, die im Eigentum eines ausländischen (nicht-gebietsansässigen) Investors ist. Das Einkommen aus der Ölquelle fließt nicht an Inländer, sondern an den ausländischen Eigentümer. Da der Öloutput auf dem Territorium des Landes erzeugt wird, ist er im BIP enthalten, nicht jedoch im BSP des Inlands, sondern im BSP des Landes, aus dem der Investor stammt. Das BIP des Landes würde daher höher sein als sein BSP. Dies bedeutet, daß wir den zuvor in Abb. 2-1 gezeigten Einkommenskreislauf erweitern müssen, um deutlich zu machen, daß ein Teil der inländischen Produktion an Ausländer abfließen und ein Teil des Inländereinkommens aus dem Ausland zufließen kann. Das revidierte Diagramm des Einkommenskreislaufs in Abb. 2-2 verdeutlicht die Tatsache, daß ein Teil der Haushaltsnachfrage durch Importe befriedigt wird, während ein Teil der Unternehmensverkäufe Exporte darstellen. Zugleich wird ein Teil des Einkommens von Unternehmen an ausländische Produktionsfaktoren ausgezahlt, während die inländischen Haushalte ihr Einkommen teilweise aus dem Ausland beziehen. Nehmen wir nun an, daß der Bewohner eines Landes, etwa ein Bürger der USA, Kredit von einem in einem anderen Land ansässigen Kreditinstitut aufnimmt, z.B. von einer japanischen Bank, um seine Investitionsvorhaben durchzuführen. Aus diesem Projekt fließen 2 Mill. $ an jährlichem Einkommen, und das Darlehen erfordert 100.000 $ pro Jahr an Zinszahlungen. Das US-Einkommen aus dieser Investition beträgt mithin 1,9 Mill. $, während das japanische Einkommen 100.000 $ ausmacht. Das Investitionsprojekt erzeugt einen Zuwachs des BIP der USA in Höhe der gesamten 2 Mill. $, aber das BSP nimmt lediglich um 1,9 Mill. $ zu. Das BIP Japans bleibt selbstverständlich unberührt, aber sein BSP steigt um 100.000 $. Wir sehen damit erneut den Unterschied zwischen BIP und BSP aus einem anderen Blickwinkel. Es gibt tatsächlich viele Möglichkeiten, die zur einer Abweichung zwischen dem Einkommen und der Produktion eines Leindes fuhren können. Ausländer können Anspruch auf Teile der inländischen Produktion haben (wie im Fall der Ölquelle), sie können Kredit zur Finanzierung eines inländischen Projektes gewähren (wie im Falle der japanischen Bank) oder sie können im Inland als Arbeitnehmer tätig werden und ihre Arbeitseinkünfte in ihr Heimatland überweisen. In jedem Fall stellt ein Teil der inländischen Produktion Einkommen von Ausländern dar. Dieser Anteil des von Ausländern erzielten Einkommens muß vom BIP abgezogen werden, um das BSP

34

T E I L I: E I N F Ü H R U N G

zu berechnen. Falls umgekehrt ein Land per Saldo Einkommen aus der übrigen Welt erwirbt und nicht an diese zahlt, müssen die Einkünfte aus dem Ausland dem inländischen Output hinzugerechnet werden, um das Bruttosozialprodukt zu ermitteln.

Abb. 2-2: Einkommenskreislauf unter Berücksichtigung ausländischen Eigentums an Produktionsfaktoren Wir gewinnen damit eine weitere wichtige makroökonomische Identität. Wenn NFA das iVetfo-Faktoreinkommen aus dem Ausland ist (was den ausländischen Gewinn- und Zinseinkünften sowie Arbeitslöhnen von Inländern abzüglich der Einkünfte von Ausländern in der heimischen Volkswirtschaft entspricht), dann gilt: BSP = BIP + NFA (2.4) Wenn die im Ausland eingesetzten einheimischen Produktionsfaktoren höhere Einkommen erzielen als die ausländischen Faktoren in der inländischen Volkswirtschaft (NFA > 0), ist das BSP höher als das BIP.

KAPITEL 2: GRUNDLEGENDE KONZEPTE

35

Tabelle 2-4 zeigt die Entwicklung des BSP und BIP in den USA im Zeitraum von 1980 bis 1990. Während dieser Periode war das BSP deutlich höher als das BIP, da die Netto-Faktoreinkommen von Inländern positiv waren. Allerdings hat der Unterschied zwischen BSP und BIP abgenommen. Dies spiegelt die Tatsache wider, daß die US-Bürger und der Staat sich in den 80er Jahren erheblich gegenüber der restlichen Welt verschuldeten, so daß die Zinszahlungen an Ausländer nachhaltig zugenommen haben und dies folglich einen Rückgang der NFA herbeiführte. Tabelle 2-4: BSP, BIP und Netto-Faktoreinkommen aus dem Ausland für die USA 1980-1990 (Mrd. $ in laufenden Preisen) Jahr

BSP

BIP

NFA

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

2.732,0 3.052,6 3.166,0 3.405,7 3.772,2 4.014,9 4.231,6 4.515,6 4.873,7 5.200,8 5.463,0

2.684,4 3.000,5 3.114,8 3.355,9 3.724,8 3.974,1 4.197,2 4.486,7 4.840,2 5.163,2 5.424,4

47,6 52,1 51,2 49,9 47,4 40,7 34,4 29,0 33,5 37,6 38,6

Quelle: Economic Report o f the President, 1991, Tab. B-24 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1991).

BSP pro Kopf und wirtschaftlicher Wohlstand Das BSP pro Kopf (pro Person) ist der am häufigsten verwendete Maßstab für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Von Ländern mit hohem Pro-Kopf-BSP - den reichen Ländern - wird gewöhnlich angenommen, sie hätten ein höheres Wohlstandsniveau als Länder mit geringerem BSP pro Kopf. Zu den nach diesem Maßstab reichsten Ländern im Jahr 1989 gehörten die Schweiz mit 29.880 $, gefolgt von Japan (23.810 $) und Norwegen (22.290 $); die USA rangierten mit 19.840 $ auf dem sechsten Rang. 1 Am anderen Ende stellten Mocambique mit einem Pro-Kopf-BSP von nur 80 $ und Äthiopien mit 120 $ die ärmsten Länder dar. 1 Die Dollar-Werte des BSP stammen von jeweiligen Landeswährung in Dollars unter (Tatsächlich benutzte die Weltbank eine 1987, 1988 und 1989.) Vgl. World Bank, Oxford University Press, 1991).

der Weltbank und sind durch Umrechnung der Verwendung des Marktwechselkurses ermittelt. Art durchschnittlichen Wechselkurs der Jahre World Development Report, 1991 ( N e w York:

36

TEIL I: EINFÜHRUNG

Das BSP pro Kopf vermittelt als Maßstab tatsächlich viele Informationen über den Wohlstand eines Landes. Wie wir der Tabelle 2-5 entnehmen können, weisen Länder mit hohem BSP pro Kopf im Durchschnitt auch hohe Niveaus des persönlichen Konsums, der Bildung und der Lebenserwartung auf. Allerdings sollten wir uns der Einschränkungen bewußt sein, wenn wir das Pro-Kopf-BSP als ökonomisches Wohlfahrtsmaß verwenden. Tabelle 2-5: BSP pro Kopf und wirtschaftlicher Wohlstand im Ländervergleich, ausgewählte Jahre, 1985-1989

Land Schweiz Japan USA Singapur Mexiko Botswana Philippinen Indien Bangladesch Mo?ambique

BSP pro Kopf 1989 (in $)

Täglicher Kalorienverbrauch pro Kopf 1988

29.880 23.810 20.910 10.450 2.010 1.600 710 340 180 80

3.547 2.848 3.666 2.892 3.135 2.269 2.255 2.104 1.925 1.632

Lebenserwartung bei Geburt 1989 (in Jahren) 78 79 76 74 69 67 64 59 51 49

Analphabetentum der Erwachsenen 1985 (in %) * *

*

18 11 29 14 57 67 62

* weniger als 5%. Quelle: World Bank, World Development Press, 1991)

Report,

1991 (New York: Oxford University

Erstens mißt das BSP den Output zu Marktpreisen und nicht notwendigerweise den wahren sozialen Wert der Produktion. So werden beispielsweise einige Arten der Produktion nicht in die offizielle BSP-Statistik eingerechnet, weil sie keine Marktpreise haben. Transaktionen außerhalb der monetären Wirtschaft - wie die im Haushalt erbrachten Leistungen und der Naturaltausch - werden typischerweise nicht im BSP berücksichtigt, so daß die offizielle BSP-Statistik das tatsächliche Einkommen einer Volkswirtschaft unterschätzt. Es gibt Güter, deren Marktpreis ihren wahren sozialen Wert überschätzt. Nehmen wir z.B. ein Elektrizitätswerk, das Strom erzeugt (der einen Marktpreis hat), aber darüber hinaus Umweltverschmutzung verursacht. Die BSP-Statistik spiegelt den Marktpreis des Stroms wider, aber dessen sozialer Wert sollte aus dem Marktpreis des Stroms abzüglich der sozialen Kosten der Umweltverschmutzung errechnet werden. Mit anderen

KAPITEL 2 : GRUNDLEGENDE KONZEPTE

37

Worten: ein angemessenes Maß für das BSP sollte die Sozialkosten der mit dem Produktionsprozeß verbunden Umweltverschmutzung in Abzug bringen. 2 Zweitens hängt der erreichte ökonomische Wohlstand bei einem gegebenen Wert des BSP von den Marktpreisen des Outputs ab. Nehmen wir z.B. an, daß zwei Länder ein Pro-Kopf-BSP von jeweils 1.000 $ haben, die Preise aber in der ersten Volkswirtschaft geringer sind als in der zweiten. Obwohl das BSP in beiden Ländern identisch ist, hat das erste Land einen höheren realen Einkommenswohlstand als das zweite, weil für jeden Dollar des BSP mehr Güter und Dienstleistungen gekauft werden können. Selbstverständlich stellen sich die Dinge bei tatsächlichen Ländervergleichen erheblich komplizierter dar. Es gibt im wörtlichen Sinne Millionen von Einzelpreisen in einer Volkswirtschaft; einige sind im ersten Land höher als im zweiten, und einige sind niedriger. Ein Vergleich zwischen den Ländern erfordert, daß wir einen "Durchschnitt" der Preise verwenden, d.h. einen Preisindex konstruieren, um eine brauchbare Gegenüberstellung vorzunehmen. Die Konstruktion eines solchen Preisindexes, der dem Vergleich von Einkommensniveaus zwischen Ländern dienen kann, ist mit technischen Schwierigkeiten behaftet. In Kapitel 21 werden wir einen Ansatz für einen derartigen Vergleich untersuchen, ein wichtiges Vorhaben der Weltbank, das als Intercountry Comparison Project (ICP) bekannt ist. Die Forscher fanden heraus, daß die armen Länder aus Gründen, die in Kapitel 21 näher erläutert werden, tendenziell niedrigere Preise aufweisen als die reichen Länder. Deshalb scheint die Wohlstandslücke zwischen den armen und reichen Ländern durch die offizielle BSP-Statistik etwas überbewertet zu sein. Betrachten wir ein Beispiel: nach den offiziellen Daten lag das Pro-KopfBSP 1980 in Indien bei 240 $, während es in den USA 11.360 $ betrug. Die Einkommensdifferenz scheint bei Faktor 47,3 (47,3 = 11.360 $/240 $) zu liegen, tatsächlich jedoch ergab sich gemäß ICP, daß die Preise in Indien systematisch niedriger waren als in den USA. Nach den Schätzungen des ICP lag das um die Preisdifferenz korrigierte Einkommen in Indien bei 614 $, also um das 2,4fache höher als in den offiziellen Statistiken. Selbstverständlich war Indien erheblich ärmer als die USA - mit einer Lücke von Faktor 18,5 - jedoch nicht in dem von den einfachen BSP-Daten vermittelten Ausmaß. 2

In einigen Ländern werden Steuern auf umweltverschmutzende Produktionen erhoben,

um die sozialen Kosten der Produktion zu berücksichtigen. In einem solchen Fall würde der Marktwert nach Steuern für diese Produktionen deren sozialen Wert genauer ausdrücken.

38

TEIL I: EINFÜHRUNG

Ein dritter wesentlicher Grund für die Unzulänglichkeit des Pro-KopfBSP als Maßstab für den Wohlstand einer Volkswirtschaft liegt darin, daß dieses Maß den Grad der Einkommensungleichheit unberücksichtigt läßt. Man denke an den Mann, der seinen Kopf im Ofen und seine Füße in einem Eisblock hat und zugeben muß, daß "die Temperatur im Durchschnitt angenehm" ist. Wenn die Verteilung des BSP eines Landes zwischen den sehr Reichen und den sehr Armen extrem ungleich ist, erweist sich die soziale Situation des Landes als stark angespannt (und aus der Sicht vieler Menschen auch als stark unmoralisch). Amartya Sen, ein Wirtschaftsphilosoph und Entwicklungsexperte an der Harvard Universität, hat auf viele Fälle verwiesen, in denen arme Länder mit relativ gleichmäßiger Einkommensverteilung höhere Indikatoren des Wohlstands aufweisen als reiche Länder mit ungleicherer Verteilung. Vergleichen wir beispielsweise Costa Rica mit einem Pro-Kopf-BSP von 1.780 $ im Jahr 1989 und Brasilien, dessen Einkommen pro Kopf im selben Jahr bei 2.540 $ lag. Costa Rica weist jedoch eine gleichmäßigere Einkommensverteilung als Brasilien auf, was teilweise auf ein höher entwickeltes System der Sozialen Wohlfahrt zurückzuführen ist. Dies hat, wie in Tabelle 2-6 sichtbar wird, zur Folge, daß Costa Rica einen höheren Grad der Alphabetisierung, der Lebenserwartung und der Kalorienzufuhr aufweist als Brasilien, obwohl es das ärmere Land ist. Tabelle 2-6: BSP pro Kopf und Wohlstand: Ein Vergleich zwischen Brasilien und Costa Rica, ausgewählte Jahre, 1985-1989

Land Brasilien Costa Rica

BSP pro Kopf 1989 (in $) 2.540 1.780

Täglicher Kalorienverbrauch pro Kopf 1988

Lebenserwartung bei Geburt 1989 (in Jahren)

Analphabetismus bei Erwachsenen 1985 (in %)

2.709 2.782

66 75

22 6

Quelle'. World Bank, World Development Press, 1991)

Report, ¡991 (New York: Oxford University

2-2 Reale versus nominale Variable Wann immer wir makroökonomische Untersuchungen anstellen, sind wir mit dem Vergleich gesamtwirtschaftlicher Variablen zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder in verschiedenen Ländern zum gleichen Zeitpunkt befaßt. Um sinnvolle Vergleiche durchfuhren zu können, ist es gewöhnlich wichtig zu wissen, ob die Differenzen in den makroökonomischen Variablen Unter-

39

KAPITEL 2 : GRUNDLEGENDE KONZEPTE

schiede in den Güterpreisen oder in den physischen Gütermengen widerspiegeln. Nehmen wir als Beispiel einen Anstieg des Pro-Kopf-B SP von einem Jahr zum anderen um 10%. Dieser Zuwachs ist sehr unterschiedlich zu interpretieren, je nachdem, ob es sich um eine Erhöhung aller Preise und Löhne um 10% (und in diesem Fall haben sich die realen wirtschaftlichen Bedingungen für die Bevölkerung vermutlich nicht sonderlich verändert) oder um einen Zuwachs des physischen Outputs der Volkswirtschaft handelt (wobei der reale Lebensstandard in diesem Fall wahrscheinlich zugenommen hat). Konstruktion von Preisindizes Angesichts der Millionen von Preisen und Produkten in einer Volkswirtschaft ist es schwierig zu entscheiden, ob die Veränderung des BSP auf Preis- oder Mengenänderungen zurückzufuhren ist. Es wird ein Verfahren benötigt, das erlaubt, die riesige Zahl von Preisen und Produkten in einfache Indizes zu überfuhren. Betrachten wir z.B. den Gesamtwert der Konsumausgaben einer Volkswirtschaft. Ihr aggregierter Marktwert entspricht dem Wert der Ausgaben für sämtliche verschiedenen Arten von Verbrauchsgütern. Angenommen, es gäbe N Arten von Konsumgütern und für jede Güterart einen Preis und eine physische Verbrauchsmenge. Der nominale Wert des Konsums, der mit PqC bezeichnet sei, ist dann gleich: PcC = P,C,

+ P2C2 + P3C3 + ...+

PNCN

(2.5)

Wir berechnen den "Durchschnittspreis" der Konsumgüter vermittels der Konstruktion eines Preisindexes Pq , der einen gewichteten Durchschnitt aller Preise der einzelnen Arten von Konsumgütern darstellt. Der übliche Weg zur Berechnung dieses Indexes für das Jahr t (Pq) ist der folgende: /

PCt = w,

\

/A

+ W>2 21 + W3 P2QJ V-10, (

X

H

+

/ r. \ P,Nt Pnoj

(2.6)

Die Gewichte W], vt>2, . . . , w¡y reflektieren die unterschiedliche Wichtigkeit, die den verschiedenen Einzelpreisen zugeordnet werden. Preise mit einer hohen Gewichtung haben auf den Preisindex insgesamt einen starken Einusw fluß. Die Summe der Gewichte ist gleich l. 3 Die Preise /"jq, ^20' sind die Güterpreise in einem "Basisjahr", das mit dem Zeitindex 0 versehen ist. Der sich so ergebende Preisindex wird Konsumentenpreisindex (KPI) oder Konsumpreisdeflator genannt. 3

Gewöhnlich entspricht das dem Gut 1 zugeordnete Gewicht dem Anteil dieses Gutes am gesamten Warenkorb, der für ein gegebenes Basisjahr aufgrund von Befragungen festgelegt wurde. Daher ist wj = P \ C \ I P ( j Z im Jahr der Befragung, auf dem der Konsumentenpreisindex basiert.

40

TEIL I: EINFÜHRUNG

Sehen wir uns an, wie der Preisindex funktioniert. Zum Zeitpunkt 0, dem "Basisjahr", ist der Preisindex konstruktionsbedingt genau gleich 1, da alle Preise ihrem Wert im Basisjahr entsprechen. Angenommen, im Jahr t machten alle Preise das Doppelte ihres Wertes im Basisjahr aus; d.h. Pl/P\Q

=

PiJP20 ~ P3/P30

=

•••

=

PN/PM)

=

2

Dann entspräche der Konsumentenpreisindex im Jahr t PQt = 2. Bei der Berechnung des Indexes bleiben die Gewichte von Jahr zu Jahr unverändert. Der Preisindex eines jeden gegebenen Jahres drückt somit den gewichteten Durchschnitt der Preise in diesem Jahr im Vergleich zum Basisjahr unter Verwendung eines konstanten Wägungsschemas aus. Der reale Wert des Konsums PCi ist gleich dem nominalen (Markt-) Wert der Konsumausgaben, geteilt durch den Konsumpreisdeflator des entsprechenden Jahres: _ nominale Konsumausgaben _ / Q C , L ' ~ p ~ VJ> rct rct Die Veränderungen im realen Wert des Konsums können den Änderungen im physischen Volumen des Konsums verschiedener Güter, statt der Änderung der Güterpreise, zugeordnet werden. Die zeitliche Entwicklung der nominalen und realen Konsumausgaben sowie des Konsumpreisdeflators für die USA zwischen 1980 und 1990 kann Tabelle 2-7 entnommen werden. Tabelle 2-7: Nominaler und realer Konsum in den USA, 1980-1990 Jahr

nominaler Konsum (Mrd. $ in lfd. Preisen)

realer Konsum (Mrd. $ in Preisen von 1982)

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

1.732,6 1.915,1 2.050,7 2.234,5 2.430,5 2.629,0 2.797,4 3.009,4 3.238,2 3.450,1 3.658,1

2.000,4 2.024,2 2.050,7 2.146,0 2.249,3 2.354,8 2.446,4 2.515,8 2.606,5 2.656,8 2.682,2

Preisdeflator des Konsums (1982= 100) 86,6 94,6 100,0 104,1 108,1 111,6 114,3 119,6 124,2 129,9 136,4

Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-l, B-2, B-3 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1991).

KAPITEL 2 : GRUNDLEGENDE KONZEPTE

41

Definitionsgemäß entsprechen sich nominaler und realer Konsum im Basisjahr, das in diesem Fall das Jahr 1982 ist. Genauso wie bei der beschriebenen Konstruktion des Konsumpreisdeflators läßt sich ein Deflator für die Investitionsausgaben (Pj), Staatsausgaben (PQ), Exporte (P^) und Importe (P^) berechnen. Reales BIP Es erscheint nützlich, ein Maß für die reale Produktion einer Volkswirtschaft zu haben, um bei Veränderungen des BIP zu erkennen, ob diese auf Änderungen der Preise oder der realen Produktion zurückzuführen sind. Bei der Berechnung der realen Produktion können wir uns vorstellen, das BIP einer Volkswirtschaft entspreche dem Produkt aus dem "durchschnittlichen" Preisniveau, multipliziert mit dem Niveau der realen Produktion. Wenn wir mit dem BIP zu laufenden Marktpreisen beginnen, können wir das BIP gleichsetzen mit dem Produkt aus dem Preisindex P, der als BlP-Preisdeflator bezeichnet wird und dem realen BIP (einem Index der physischen Produktion): BIP = PQ (2.8) Der "Trick" besteht darin, das nominale BIP in P und Q zu zerlegen. (Man beachte, daß P ein Deflator oder Preisindex für das gesamte BIP, PQ dagegen ein Preisdeflator nur für die Konsumausgaben ist.) Die Standardmethode zur Ermittlung von Q ist diese: wir beginnen mit der Definition des nominalen BIP in Gleichung (2.2) als Summe der Ausgaben für Endprodukte in der gesamten Volkswirtschaft. Sodann verwenden wir die Preisindizes für Konsum, Investition, Staatsausgaben, Exporte und Importe, um eine Zeitreihe der realen Ausgaben für jede dieser Komponenten zu berechnen. So werden z.B. die nominalen Konsumausgaben durch den Preisindex PQ eines gegebenen Jahres dividiert, um die realen Verbrauchsausgaben zu ermitteln. Die realen Größen für /, G, X und IM werden auf die gleiche Weise gefunden. Es ist zu beachten, daß der Preisindex jeder Komponente des BIP im Basisjahr gleich 1 ist, so daß in diesem Jahr die nominalen und realen Ausgaben identisch sind. Sobald wir diese realen Ausgaben ermittelt haben, können wir das reale BIP (mit Q bezeichnet) als Summe der Realausgaben definieren: Q = C + I+G + (X-IM)

(2.9)

Nachdem uns mit (2.9) das reale Bruttoinlandsprodukt Q bekannt ist, können wir den BlP-Preisdeflator P unter Verwendung der Formel (2.10) berechnen, die eine einfache Umformung der Gleichung (2.8) ist:

42

TEIL I: EINFÜHRUNG

P = ™ Q

(2.10)

Wir sollten beachten, daß wir den Preisindex auf indirekte oder "implizite" Weise berechnet haben. Wir verwenden zunächst das nominale BIP und konstruieren ein Maß für das reale BIP oder Q; sodann finden wir P implizit als Verhältnis von BIP zu Q. Der sich ergebende BlP-Preisdeflator wird gelegentlich auch als impliziter BlP-Preisdeflator bezeichnet. Zu Illustrationszwecken sei eine primitive Volkswirtschaft unterstellt, die lediglich zwei Güter, Äpfel und Birnen, produziert. Ein altes Sprichwort lehrt, daß es unmöglich ist, Äpfel und Birnen zusammenzuzählen. Zur Lösung des Problems zeigt Tabelle 2-8, wie das nominale und reale BIP sowie der BIP-Preisdeflator berechnet werden. Die Information bezieht sich auf das Jahr 1982 (das Basisjahr) und das laufende Jahr 1991. Das nominale BIP wird einfach dadurch ermittelt, daß die Preise mit den Mengen von Äpfeln und Birnen multipliziert und die zwei Werte addiert werden. Das reale BIP ergibt sich durch Multiplikation der Mengen des betreffenden Jahres mit den Preisen von 1982. Der implizite Preisdeflator wird durch Division des nominalen BIP durch das reale BIP gefunden. Tabelle 2-8: Berechnung des BIP und BIP-Deflators: Ein Beispiel

(a) Physischer Output (Pfund) Äpfel Birnen (b) Preise ($/Pfund) Äpfel Birnen (c) nominale Ausgaben (a x b) Äpfel Birnen (d) Preisindizes (1982= 1,0) Äpfel Birnen (e) reale Ausgaben (c/d) Äpfel Birnen (f) nominales BIP (in lfd. Preisen) (g) reales BIP (in Preisen von 1982) (h) BIP-Preisdeflator (f/g)

1982

1991

30 50

50 80

1,50 $ 1,00$

2,00 $ 1,40$

45 $ 50$

72$ 112 $

1,0 1,0

1,33 1,40

45 $ 50 $ 95 $ 95 $ 1,00

54$ 80$ 184$ 134$ 1,37

43

KAPITEL 2 : GRUNDLEGENDE KONZEPTE

Wir wollen nun die tatsächlichen Daten für die USA betrachten; Tabelle 2-9 enthält diese für das reale BIP mit dem Basisjahr 1982. Wiederum gilt, daß das nominale und reale BIP im Basisjahr identisch sind (was offensichtlich per definitionem so ist). Bemerkenswert ist, daß sich das nominale BIP zwischen 1981 und 1982 erhöhte, während das reale BIP zurückging; folglich sank die Produktion 1982 tatsächlich - es handelte sich um ein Rezessionsjahr aber die Inflation war hinreichend hoch, um das nominale BIP dennoch steigen zu lassen. Bemerkenswert ist ferner, daß das reale BIP von 1983 bis 1990 ununterbrochen gestiegen ist; eine achtjährige Spanne, die die längste wirtschaftliche Expansion der US-Geschichte in Friedenszeiten darstellte. Tabelle 2-9: Nominales BIP und BIP-Deflator der USA, 1980-1990 Jahr

nominales BIP (Mrd. $ in lfd. Preisen)

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

2.684,4 3.000,5 3.114,8 3.355,9 3.724,8 3.974,1 4.197,2 4.486,7 4.840,2 5.163,2 5.424,4

reales BIP (Mrd. $ in Preisen von 1982)

BIP-Deflator (1982 = 100)

3.131,7 3.193,6 3.114,8 3.231,2 3.457,5 3.581,9 3.687,4 3.820,0 3.988,6 4.087,6 4.126,2

85,7 93,9 100,0 103,9 107,8 110,9 113,8 117,5 121,4 126,3 131,5

Quelle: Economic Report o f the President, 1991, Tab. B-8 u. B-9 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1991).

2-3 Makroökonomische Strom- und Bestandsgrößen Wir müssen nun zwei weitere Schlüsselkonzepte der MakroÖkonomik betrachten: Ströme und Bestände. Ein Strom ist eine ökonomische Größe, die als Zahl je Zeiteinheit ausgewiesen wird, wie etwa die Produktion von Cadillacs pro Woche, der Verbrauch französischen Weins pro Jahr und der Gesamtoutput der Volkswirtschaft pro Quartal. Ein Bestand andererseits ist eine Größe, die sich auf einen Zeitpunkt bezieht, wie z.B. die Zahl zweistöckiger Häuser in London im Jahr 1900, die Zahl der heute bekannten Rembrandt-Bilder oder die Goldhaltung des US-Schatzamtes am 31. Dezember 1990.

44

TEIL I: EINFÜHRUNG

Die bisher erörterten Konzepte bezogen sich überwiegend auf Stromgrößen: BIP, BSP, Inlandseinkommen, Investition, Staatsausgaben. Wenige waren Bestandsgrößen, wie etwa der Kapitalbestand einer Volkswirtschaft. Wir werden unser Augenmerk in diesem Abschnitt auf Strom-Bestands-Relationen richten, die für die MakroÖkonomik besondere Bedeutung haben. Investition und Kapitalstock Das Kapital einer Volkswirtschaft ist der akkumulierte Bestand an Wohngebäuden, Maschinen, Fabriken und Ausrüstungen, der zu einem bestimmten Zeitpunkt existiert und zur produktiven Leistung einer Volkswirtschaft beiträgt. (Wohngebäude erhöhen die volkswirtschaftliche Produktivkraft in dem Sinne, als sie deren Kapazität zur Bereitstellung von Wohndienstleistungen für die Bevölkerung erhöhen.) Die Investitionsausgaben stellen den Outputstrom in jeder gegebenen Periode dar, der dazu dient, den Kapitalstock der Volkswirtschaft zu erhalten oder zu erweitern. Daraus ergibt sich die Identität: K = K_l+I (2.11) wobei K den Kapitalstock am Ende der laufenden Periode bezeichnet. Die Gleichung besagt, daß der Kapitalstock am Ende der laufenden Periode dem Kapitalstock am Ende der Vorperiode (ÄLj) zuzüglich der Investition während der gerade beendeten Periode gleich ist. Oder anders gesagt: Die Veränderung des Bestandes ( K - K_]) entspricht dem Strom (7).4 Allerdings müssen wir die Beziehung zwischen Kapitalstock und Investition etwas genauer bestimmen. Das Problem besteht darin, daß ein Teil des Kapitalstocks aufgrund seines Alters und seiner Nutzung entwertet wird. Diese Entwertung ist uns bekannt als Abschreibung, die wir mit DN bezeichnen wollen. Wegen der Abschreibung müssen wir (2.11) umschreiben in (2.11'): K = K_X+I-DN (2.11') Der Investitionsstrom / wird als "Brutto"- oder Gesamtinvestition bezeichnet, während I minus DN die "Netto"- Investition ist. Daher entspricht die Veränderung des Kapitalstocks (K - K_\) dem Strom der Netto-Investition (I - DN). In den USA betrug 1990 die Brutto-Investition 745 Mrd. $ (vgl. Tabelle 2-1) und die geschätzte Abschreibung 576 Mrd. $, so daß die Nettoinvestition 169 Mrd. $ ausmachte.

4

Im gesamten Buch folgen wir der Konvention, daß sich Variable ohne expliziten Zeitindex auf die laufende Periode beziehen, es sei denn, es würde ausdrücklich etwas anderes gesagt. Variablen vorhergehender und zukünftiger Perioden werden durch einen Index kenntlich gemacht, der die entsprechende Zahl von Perioden abzieht bzw. hinzuzählt.

KAPITEL 2: GRUNDLEGENDE KONZEPTE

45

Es ist zu beachten, daß der Begriff "Investition" von MakroÖkonomen etwas anders verwendet wird als in der Umgangssprache. Bei ersteren bezieht sich der Begriff Investition auf den Kauf neuer Kapitalgüter in der Volkswirtschaft, nicht aber auf den Handel bereits existierenden Kapitals zwischen Personen. Wird ein neues Gebäude errichtet, so handelt es sich im makroökonomischen Sinne um eine Investition; kauft jemand dagegen ein bereits bestehendes Haus von einer anderen Person, so ist dies im makroökonomischen Sprachgebrauch keine Investition, selbst wenn der Käufer das Gefühl hat, tatsächlich investiert zu haben. Ersparnis und Vermögen Ebenso wie zwischen Kapital und Investition besteht zwischen Ersparnis und Vermögen eine Bestands-Strom-Beziehung. Ersparnis (S) ist der Teil des laufenden Einkommens, der nicht konsumiert wird, sondern dazu dient, Geldvermögen (W) zu bilden. Die Familie Smith z.B. bezieht im Jahr 1990 ein Gesamteinkommen von 30.000 $, in dem sämtliche Arbeits- und Kapitaleinkünfte, wie etwa Einnahmen aus Bankguthaben und Aktien, enthalten sind. Wenn der Konsum der Familie 24.000 $ in diesem Jahr ausmacht und der Rest des Einkommens gespart wird, so wird der Vermögensbestand am Ende des Jahres 1990 um 6.000 $ höher sein als Ende 1989. In formaler Schreibweise: W-W_x =S (2.12) Wir erkennen wiederum, daß die Veränderung der Bestandsgröße W der Stromgröße S entspricht. Leistungsbilanz undNetto-Auslandsposition Ein dritte wichtige Bestands-Strom-Beziehung betrifft die zwischen dem Saldo der Leistungsbilanz (LB) eines Landes und seiner Netto-Auslandsposition (NAP). Wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, ist der Leistungsbilanzsaldo einer Volkswirtschaft eine Stromgröße, die angibt, in welchem Maße die Bewohner eines Landes Forderungen erwerben oder Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland eingehen. Wenn der Saldo der Leistungsbilanz in einer Periode positiv ist, dann gewähren die Inländer per Saldo Kredit an die übrige Welt (einige mögen sich verschulden, aber deren Kreditaufnahme ist geringer als die zugleich stattfindende Kreditgewährung insgesamt). Weist die Leistungsbilanz dagegen einen negativen Saldo auf, so bedeutet dies, daß sich die Bewohner des Landes gegenüber der übrigen Welt per Saldo verschulden. Die Netto-Auslandsposition (NAP) weist den Nettobestand der ausstehenden Darlehen an die übrige Welt aus, der sich aus der Kreditaufnahme oder Kreditgewährung in der Vergangenheit ergeben hat. Eine positive NAP

46

TEILI: EINFÜHRUNG

bedeutet, daß die Bewohner des Landes einen Nettobestand an Forderungen gegenüber Ausländern besitzen; d.h. die übrige Welt schuldet dem Land per Saldo Geld. Das Land ist, wie wir sagen, ein Netto-Gläubiger gegenüber der restlichen Welt. Ist die NAP hingegen negativ, so haben die Inländer einen Nettobestand an Verbindlichkeiten oder Schulden gegenüber dem Ausland; ein solches Land ist ein Netto-Schuldner. Die formale Bestands-Strom-Beziehung ist den bereits betrachteten ähnlich: NAP = NAP, + LB (2.13; Die Bestandsveränderung NAP - NAP_\ entspricht dem Strom LB. Zu Beginn der 80er Jahre waren die USA Netto-Gläubiger gegenüber dem Ausland (1980 betrug die NAP 140,9 Mrd. $); seit 1982 allerdings haben die USA hohe Defizite in der Leistungsbilanz, so daß sich die NAP von einem positiven in einen stark negativen Wert verwandelte. Am Ende des Jahres 1988 erreichte die NAP der USA etwa - 5 0 0 Mrd. $. 5 Wir werden in späteren Kapiteln sehen, welche Implikationen sich aus dieser Netto-Schuldenposition ergeben. Budgetdefizite und öffentlicher Schuldenstand Eine vierte Bestands-Strom-Beziehung, die wir wiederholt verwenden werden, betrifft die zwischen dem Nettobestand an Staatsschulden (DS) und dem staatlichen Budgetdefizit (DEF), das eine Stromgröße darstellt. Der Staat erzielt seine Einnahmen im wesentlichen durch Steuern und leistet Ausgaben für den Kauf von Gütern und Dienstleistungen sowie für Einkommenstransfers an die Bürger. Aber nur äußerst selten entsprechen die öffentlichen Einnahmen den Ausgaben. Übersteigen die Ausgaben die Einnahmen, so ergibt sich ein Budgetdefizit; im umgekehrten Fall erzielt der Staat einen Budgetüberschuß. Im allgemeinen "finanziert" der Staat sein Haushaltsdefizit, d.h. er zahlt für den Überschuß der Ausgaben über die Einnahmen, indem er Kredit aufnimmt. Über das Schatzamt verkauft der Staat Anleihen an das Publikum, an Banken und manchmal auch an die Notenbank. Der Bestand an Staatsschulden (DS) nimmt im Falle eines Budgetdefizits zu (DEF > 0) und vermindert sich im Falle eines Budgetüberschusses (DEF < 0), also können wir in formaler Weise schreiben: Dg-Dg,

5

= DEF

(2.14)

Nach jüngsten Revisionen auf der Grundlage neuerer Schätzungen des Wertes des U S -

Auslandsvermögens beläuft sich die NAP im Jahr 1990 a u f - 3 6 0 Mrd. $.

47

KAPITEL 2: GRUNDLEGENDE KONZEPTE

Die Veränderung des Schuldenstandes entspricht dem Defizit, einer Stromgröße. In 29 von 31 Jahren wies das Budget in den USA zwischen 1960 und 1990 ein Defizit auf, mit dem Resultat, daß der vom Publikum gehaltene Schuldenstand von weniger als 300 Mrd. $ im Jahr 1960 auf 3,2 Bill. $ im September 1990 angewachsen ist. Davon werden etwa 2,2 Bill. $ von privaten Anlegern und ungefähr 20% von Ausländern gehalten. (Wie wir später sehen werden, ist ein zusätzlicher Betrag der öffentlichen Schuld im Bestand der US-Notenbank, der Federal Reserve.) In Tabelle 2-10 sind die hier einführend diskutierten Beziehungen zwischen Beständen und Strömen zusammengefaßt. Tabelle 2-10: Beziehung zwischen Beständen und Strömen: Einige Beispiele Bestand

Strom

Beziehung: Veränderung des Bestandes = Strom

Kapital (K)

Netto-Investition ( I - D N ) K-K_

Geldvermögen ( W)

Ersparnis (5)

Netto-Auslandsposition (NAP)

Leistungsbilanzsaldo (LB) NAP - N A P _ i =LB

Staatsschuld (DS)

Budgetdefizit (DEF)

i =J

W- W_\ = S

DS-DS_

i = DEF

2-4 Einige intertemporale Aspekte der Makroökonomik: Zinssätze und Gegenwartswerte Viele der makroökonomischen Schlüsselthemen betreffen Entscheidungen, die nicht nur im Zeitablauf stattfinden, sondern über die Zeit getroffen werden. Die Entscheidung eines Haushalts darüber, wie viel in einem Jahr gespart wird, ist tatsächlich eine Entscheidung über die Zeit: heute zu konsumieren oder später. Spart der Haushalt heute, so verzichtet er auf laufenden Konsum, um seinen Verbrauch in Zukunft zu erhöhen. Wenn dies geschieht, sprechen wir von einer intertemporalen Entscheidung, einen Entschluß, der die Allokation des Konsums zu unterschiedlichen Zeitpunkten betrifft. Auch die Entscheidung eines Unternehmens über die Investition eines Jahres ist intertemporal. Im wesentlichen muß das Unternehmen darüber befinden, ob es auf laufende Dividenden verzichtet oder sich heute stärker verschuldet, um seine zukünftige Produktionskapazität zu erhöhen und später höhere Gewinne zu erzielen.

48

TEILI: EINFÜHRUNG

In den folgenden Kapiteln werden wir in großer Breite intertemporale Entscheidungen untersuchen. An dieser Stelle genügt es, zwei wesentliche Elemente der Analyse intertemporaler Entscheidungen einzuführen: Zinssätze und Netto-Gegenwartswerte. Zinssätze drücken einfach aus, wie heute Geld oder Güter gegen Geld oder Güter zu einem zukünftigen Zeitpunkt getauscht werden können. Nehmen wir beispielsweise an, der von einer Bank gezahlte Zinssatz sei 10% p.a. Dies bedeutet, daß ein zusätzliches Guthaben heute in Höhe von 1 $ im nächsten Jahr einen Betrag von 1,10 $ ausmacht. Um im nächsten Jahr 1 $ zu erhalten, ist heute eine Einlage von etwa 0,91 $ (= 1 $ / l , l $) erforderlich. Wir können daher sagen, daß der Gegenwartswert - der heutige Wert - von 1 $ im nächsten Jahr gleich 0,91 $ ist. Indem wir Zinssätze verwenden, können wir einen gegebenen Zeitpfad einer Geldsumme in der Zukunft in ihren heutigen Wert übersetzen. Angenommen, der Zinssatz beträgt 10% p.a. und wir suchen den Gegenwartswert von 1 $ in jedem der beiden nächsten Jahre. Wie wir gerade feststellten, hat 1 $ in einem Jahr einen Gegenwartswert von 0,91 $. Ein zusätzlicher Dollar in zwei Jahren kann durch eine heutige Einlage von etwa 0,83 $ erreicht werden, da 0,83 $ x 1,10 x 1,10 ungefähr 1 $ entspricht. Zahlen wir heute 1,74 $ (= 0,91 $ + 0,83 $) ein, so können wir 1 $ in jedem der beiden nächsten Jahre haben. Kurz gesagt, der Gegenwartswert des Einkommensstroms von 1 $ im nächsten und 1 $ im übernächsten Jahr ist 1,74 $. Allgemeiner formuliert: Der Zinssatz sei i pro Jahr, und wir wollen den Gegenwartswert eines zukünftigen Einkommensstromes berechnen, der im 1. Jahr mit Y\ $, im 2. Jahr mit $, im 3. Jahr mit Y3 $ etc. und im Jahr N mit YjY $ bezeichnet sei. Um Y\ $ in einem Jahr erreichen zu können, benötigen wir heute Y\ $/(l + i); um Y2 $ in zwei Jahren zu erhalten, sind heute Y] $/(l + i)2 erforderlich. Wenn wir dies für N Jahre fortführen, so ist der Gegenwartswert (PV) des gesamten Einkommensstroms gleich: p

V

.Jl$_ (l + o

+

Ji$ (l+o

+

J i $ (1+0

(215)

(l + 0

In vielen Fällen haben Haushalte, Unternehmen oder Staat zu entscheiden, ob heute IQ $ investiert werden sollen, um einen zukünftigen Einkommensstrom von Y $ zu erzielen. Bei der Prüfung, ob die Investition lohnend ist, kann man entweder den Gegenwartswert des Einkommensstroms mit den Investitionskosten vergleichen oder den Netto-Gegenwartswert (NPV) dieses Vorhabens berechnen, indem man IQ $ vom Gegenwartswert des zukünftigen Einkommens abzieht:

49

KAPITEL 2 : GRUNDLEGENDE KONZEPTE

1]$

NPW =

(l + o

+

}2$ +

(| + 1 ) 2 +

+

(2.16)

(i + 0 7

Sofern NPV positiv ist, erweist sich die Investition als lohnend; ist NPV negativ, so sollte sie unterlassen werden. (Wir werden die Investitionsentscheidungen wesentlich genauer in späteren Kapiteln untersuchen.) Ein spezieller aber sehr bedeutsamer Fall ist der einer Investition, die ewig einen gegebenen Einkommensbetrag in jeder Periode liefert. Gehen wir von einem Wertpapier aus, das für unbegrenzte Zeit Y $ im Jahr einbringt (ein solches ewiges Wertpapier wird als Consol bezeichnet). Sein Gegenwartswert PV kann wie folgt errechnet werden: =

Y$_

(1 + 0

+

Y$

(l + o

22 + -

Y$

+ 7 (l + O7




Dies ist eine unendliche Summe, deren Wert insoweit einfach zu ermitteln ist, als die Summe eine geometrische Reihe darstellt. Aus der Algebra ist uns geläufig, daß folgendes gilt: 1 2 3 N l l +a +a +a + ••• +a + ••• = (l - a )

Die Summe in (2.17) kann sodann umgeschrieben werden in r,

(1 + 0

1

I+a +a

2

+a

3

+---+Ü

N

+••

wobei a = 1/(1 + i). Daraus können wir folgern, daß PV = Y $/(l +/)[1/ (1 - o)] mit a = 1/(1 + 0 ist. Es ist dann leicht zu erkennen, daß Y%

PV = —

(2.17a)

2-5 Die Rolle der Erwartungen Wenn Wirtschaftssubjekte - Haushalte, Unternehmen, Staat - intertemporale Entscheidungen treffen, sind sie hinsichtlich der Zukunft im allgemeinen unsicher. Ein Unternehmen, das eine Investition beabsichtigt, muß den sich daraus ergebenden zukünftigen Einkommensstrom kennen, aber die zukünftigen Einnahmen können nur mit erheblicher Unsicherheit geschätzt werden. Falls in der Zukunft ein Boom auftritt, mögen die Einnahmen hoch sein; im Falle einer Rezession mögen sie niedrig sein. Der genaue zukünftige Zustand der Volkswirtschaft ist jedoch im wesentlichen unbekannt. Daher müssen Haushalte und Unternehmen gewisse Erwartungen über die Zukunft bilden, um die meisten intertemporalen Entscheidungen treffen zu können. Tatsächlich müssen sie häufig eine komplexe Schätzung der re-

50

TEIL I: E I N F Ü H R U N G

lativen Wahrscheinlichkeiten einer Vielzahl möglicher Ereignisse bewältigen - wie der Kundige vermuten wird, haben die Haushalte z.B. eine solche hinsichtlich des zukünftigen Wertes des Einkommens vorzunehmen. Wir wollen diese Erwartungen bezüglich des zukünftigen Einkommens mit Ye bezeichnen; Ye+1 kennzeichnet dann die Erwartung des Wertes von Y in der nächsten Periode, die in der gegenwärtigen Periode gebildet wird (bevor 7 + j tatsächlich bekannt ist). Wenn wir also sagen, Ye+i sei gleich 1.000 $, so bedeutet dies, daß das Wirtschaftssubjekt erwartet, sein Einkommen werde im nächsten Jahr 1.000 $ betragen. (Erwartungen werden selbstverständlich nicht nur über das Einkommen, sondern auch über Preise, das BSP und andere Variable von ökonomischer Bedeutung gebildet.) In den letzten Jahren hat unter Ökonomen und Psychologen eine heftige Debatte darüber stattgefunden, in welcher Weise die Wirtschaftssubjekte tatsächlich ihre Erwartungen über die Zukunft bilden und darüber, in welcher Weise MakroÖkonomen dies in ihren theoretischen Modellen annehmen sollten. Einige Ökonomen meinen, die Individuen verließen sich auf einfache "Daumenregeln" bei der Bildung ihrer Erwartungen; andere gehen davon aus, daß sie komplizierte Entscheidungsprozesse verwenden, um zu einer Zukunftseinschätzung zu gelangen. Die vermutlich einfachste Daumenregel besteht darin, so zu handeln, als liefe das nächste Jahr genau so ab wie das gegenwärtige; eine "Regel", die als statische Erwartung bezeichnet wird. In formaler Weise können statische Erwartungen durch die Annahme ausgedrückt werden, daß Ke+1 = Y

(2.18)

Eine weitere Daumenregel, der wir später begegnen werden, ist die der adaptiven Erwartungen. Danach revidieren die Individuen ihre Zukunftserwartungen in Abhängigkeit davon, inwieweit sich ihre Einschätzungen über die gegenwärtige Periode als unzutreffend erwiesen haben. Um dies zu illustrieren, sei mit Ye die Erwartung über Y in dieser Periode gekennzeichnet, von der in der vorangegangenen Periode ausgegangen wurde. Insoweit repräsentiert {Y - Ye) den Irrtum in der Vorhersage, die in der vorhergehenden Periode gemacht wurde; d.h. den Betrag, um den sich die Prognose als falsch erwiesen hat. Bei adaptiven Erwartungen, wird Ye+ \ in diesem Jahr durch Korrektur der Erwartung Ye um einen Faktor T für den Prognosefehler geschätzt: Ye+X = Y* + T(Y-Ye), (2.19) wobei 0 < r wfl und das Outputniveau Q\ ist geringer als Qf. Auf dem in Abb. 3-1 Ob dargestellten Arbeitsmarkt ergibt sich bei einem Reallohn von w/Pj ein Überschuß des Arbeitsangebots über die Arbeitsnachfrage. Dieser Arbeitsangebotsüberschuß entspricht der mit U\ in der Abbildung gekennzeichneten Arbeitslosigkeit. Die Tatsache, daß die keynesianische Gesamtangebotskurve ansteigend verläuft, hat wichtige Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik. Wie wir später sehen werden, kann der Staat in dieser Situation einen erheblichen Einfluß auf das volkswirtschaftliche Niveau der Produktion und Beschäftigung nehmen. Durch wirtschaftspolitische Maßnahmen, die das Preisniveau berühren, kann der Staat auch den Reallohn und infolge dessen das Niveau des Güterangebots beeinflussen. Eine Währungsabwertung z.B. bewirkt tendenziell höhere Preise, einen niedrigeren Reallohn und höhere Beschäftigung, sofern die Nominallöhne starr sind; dieselbe Politik würde im klassischen Modell lediglich das Preisniveau erhöhen, aber zu keiner Veränderung des Reallohns oder der Beschäftigung führen. Ein sehr wichtiger Sonderfall des keynesianischen Modells verdient hier Erwähnung: die Konstanz des Grenzprodukts der Arbeit. Nehmen wir beispielsweise an, die Produktionsfunktion sei durch Q = aL gegeben, wobei a eine Konstante ist, die dem Grenzprodukt der Arbeit entspricht. In diesem Fall würden die Unternehmen keine Arbeit nachfragen, falls w/P > a ist, und eine unbegrenzte Menge an Arbeit bei w/P < a. Sofern der Nominallohn fixiert ist, hat die aggregierte Angebotskurve ein besonders einfaches Aussehen: sie verläuft beim Niveau P = w/a horizontal, wie Abb. 3-11 zeigt. Solange der Nominallohn fixiert ist, ist auch das Preisniveau festgelegt und der Output wird, wie wir später sehen werden, ausschließlich von den Bedingungen der Gesamtnachfrage bestimmt. Wir wollen dies den extremen keynesianischen Fall nennen.

80

TEIL I: EINFÜHRUNG

P

p = M ia

Q

Abb. 3-11: Gesamtangebotskurve im extremen keynesianischen Fall

Unfreiwillige Arbeitslosigkeit Die Idee der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit ist, daß einige Arbeitnehmer, die willens sind, zu dem von anderen Beschäftigten mit vergleichbarer Befähigung bezogenen Lohn zu arbeiten, dies aber nicht können. Selbstverständlich könnte eine solche Person einen schlechter bezahlten Arbeitsplatz erhalten oder in irgendeiner Weise selbständig werden. Aber solange derartige Arbeitsmöglichkeiten nicht zu einer ähnlichen Bezahlung anderer Arbeiter mit vergleichbarer Qualifikation führt und die nichtbeschäftigte Person arbeitslos bleibt, während sie nach einem adäquaten Arbeitsplatz sucht, wird sie als unfreiwillig arbeitslos angesehen. Aber die Frage ist dann: Warum tritt unfreiwillige Arbeitslosigkeit auf? Einige Marktunvollkommenheiten müssen die Löhne an der Räumung des Arbeitsmarktes hindern. Dies mag entweder durch Starrheit des Nominallohns, die als Ursache der keynesianischen Arbeitslosigkeit identifiziert wurde, oder durch Rigidität des Reallohns wie im Falle der klassischen Arbeitslosigkeit bedingt sein. Aber warum sollten die Löhne starr sein? Es gibt dafür tatsächlich verschiedene Erklärungen, die wir später genauer erörtern. Gewerkschaften mögen ihre Mitglieder gegenüber Nichtmitgliedern, die zu vergleichbaren oder niedrigeren Löhnen zu arbeiten bereit sind, schützen. Staatliche Regulierungen, wie etwa Mindestlohngesetze, können ebenfalls zu Rigiditäten der Nominallöhne führen. Arbeitsverträge können die Arbeiter an bestimmte Nominallöhne binden, die nicht mit dem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage in Übereinstimmung stehen. Oder Unternehmen halten es ihrerseits für vorteilhaft, die Löhne oberhalb des Markträumungsniveaus zu halten, um die Kosten der Einstellungen und Ausbildung zu reduzieren; der sog. "Effizienzlohn-Ansatz" zur Erklärung von Lohnstarrheit und Arbeitslosigkeit. Wir untersuchen diese unterschiedlichen Hypothesen in den Kapiteln 16 und 17.

KAPITEL 3: BESTIMMUNG DES OUTPUTS

81

Gesamtangebot: Eine Zusammenfassung Die unterschiedlichen Verläufe der aggregierten Angebotskurve erzählen sozusagen die Geschichte unserer bisherigen Analyse. Abb. 3-12a zeigt den Verlauf der klassischen Angebotskurve, die beim Vollbeschäftigungsniveau des Outputs vollkommen elastisch ist. Veränderungen des Preisniveaus haben keine Wirkung auf das Angebot, weil bei flexiblen Löhnen und Preisen das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt ein gegebenes Niveau des Reallohns (w/Pß und des Arbeitseinsatzes Ly sicherstellt, wodurch andererseits das Niveau des Outputs bestimmt wird. Abb. 3-12b beschreibt den keynesianischen Fall, bei dem starre Löhne die aggregierte Angebotskurve aufwärts geneigt verlaufen lassen. Die entscheidende Verbindung zwischen Preisen und Output wird durch die Reallöhne hergestellt. Erhöhungen des Preisniveaus verringern den Reallohn und veranlassen die Unternehmen, mehr Arbeit zu beschäftigen und mehr Output anzubieten. Zu beachten ist freilich, daß die Bestimmung des Reallohns in diesem Falle kein Gleichgewicht am Arbeitsmarkt herstellt und weitverbreitete Arbeitslosigkeit auftreten kann. Schließlich verläuft die Angebotskurve im extremen keynesianischen Fall bei Lohnstarrheit kombiniert mit einem konstanten Grenzprodukt der Arbeit völlig flach, wie in Abb. 3-12c verdeutlicht.

Abb. 3-12: Zusammenfassende Darstellung des Verlaufs der Gesamtangebotskurve: (a) klassisch, (b) grundlegend keynesianisch und (c) extrem keynesianisch Die Gesamtangebotskurve kann sich selbstverständlich infolge einer Vielzahl unterschiedlicher Schocks verschieben. Unter Verwendung des grundlegenden keynesianischen Falles in Abb. 3-12b können wir erkennen, daß z.B. eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität die Unternehmen in die La-

82

TEIL I: EINFÜHRUNG

ge versetzt, die gleiche Outputmenge mit geringeren Kosten herzustellen, wodurch QS nach rechts unten verschoben wird. Einen ähnlichen Effekt hat eine exogene Erhöhung des Kapitalstocks, die etwa durch vorangegangene Investitionen ausgelöst wird. Es könnte ferner angenommen werden, daß es den Gewerkschaften gelingt, die Löhne nach oben zu drücken, wodurch die Produktionskosten steigen. In diesem Fall, wird derselbe Output zu einem höheren Preis angeboten, und die Angebotskurve verschiebt sich nach links oben. Jeder dieser Schocks hat Auswirkungen auf Produktion und Beschäftigung, sofern wir ein Zusammenspiel von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage zulassen; letzterer wollen wir uns nun zuwenden.

3-5 Bestimmung der Gesamtnachfrage Die Gleichgewichtswerte des Outputs und des Preisniveaus in einer Volkswirtschaft insgesamt werden durch das Zusammenspiel von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage bestimmt. Die Analogie zu einem Gleichgewicht auf irgendeinem Einzelmarkt ist offensichtlich: die produzierte Menge an Autos und deren Preis z.B. wird durch das Angebot von und die Nachfrage nach Autos determiniert. Auf der Ebene der Gesamtwirtschaft ist dieser Zusammenhang natürlich komplizierter, weil er alle Güter und Dienstleistungen einschließt. Wir haben bereits die Bestimmung des Gesamtangebots kurz analysiert; aber bevor wir mehr über das Gleichgewicht der Volkswirtschaft aussagen können, müssen wir zunächst die Charakteristika der Gesamtnachfrage betrachten. Die einfachste Vorgehensweise ist die, mit einer geschlossenen Volkswirtschaft zu beginnen, die definitionsgemäß keinerlei Handel mit der übrigen Welt betreibt. In einer solchen Volkswirtschaft kann die aggregierte Nachfrage als die gesamte von Inländern nachgefragte Menge an Gütern und Dienstleistungen bei gegebenem Niveau der Outputpreise definiert werden. Es ist also die Summe aus Konsum, Investition und Staatsausgaben, wie in Gleichung (3.10) formuliert: QD = c + I+G (3.10) wobei das Superskript D die aggregierte Nachfrage kenntlich macht. Die Beziehung in (3.10) ist im Sinne einer buchhalterischen Identität immer erfüllt (wie wir in Kapitel 2 zeigten). Sie kann aber auch als Basis für die Ermittlung der aggregierten Nachfrage herangezogen werden, sofern wir spezifizieren, wie C, I und G durch die Volkswirtschaft bestimmt werden. Wir wollen insbesondere danach fragen, wieviel von dem Output bei gegebenem Preisniveau P nachgefragt wird von den Konsumenten, den Investoren und dem Staat. Sobald wir dies festgestellt haben, können wir eine aggregierte Nachfragekurve zeichnen und das Gleichgewicht zwischen Ge-

KAPITEL 3: BESTIMMUNG DES OUTPUTS

83

samtangebot und Gesamtnachfrage ermitteln. (An dieser Stelle werden wir uns mit diesem allgemeinen Ansatz zur Bestimmung der Gesamtnachfrage zufriedengeben. Spätere Kapitel bieten eine striktere und detailliertere Analyse.) Der vermutlich einfachste Weg, den Verlauf der aggregierten Nachfragekurve festzulegen, besteht darin, z.B. den P u n k t e in Abb. 3-13 auf der Gesamtnachfragekurve als Ausgangspunkt zu wählen. Beim Preis P 0 wird die Outputmenge QDQ nachgefragt. Ausgehend von A wollen wir der Wirkung eines Preisniveausanstiegs auf P\ nachgehen. Was geschieht mit der Gesamtnachfrage? Ein unmittelbarer Effekt des Preisanstiegs besteht in einer Verringerung des realen Wertes des vom Publikum gehaltenen Geldes. Falls die Wirtschaftssubjekte eine bestimmte Menge an Bargeld und Bankguthaben halten, so können sie mit diesem Geld bei einem Anstieg des Preisniveaus weniger Güter kaufen. Ein Resultat besteht darin, daß die Haushalte ihre geplanten Käufe kürzen. Dieser Effekt, bei dem eine Verringerung der realen Geldhaltung zu einer Einschränkung der Konsumausgaben fuhrt, wird Realkasseneffekt genannt. Mithin gehen höhere Preise mit einem Rückgang der Güternachfrage einher; die neue Nachfragemenge in Abb. 3-13 ist QD\, die mit dem Punkt B korrespondiert. Wie die Abbildung zeigt, verläuft die aggregierte Nachfragekurve fallend. (Wir werden dies in späteren Kapiteln genauer demonstrieren.)

p

Abb. 3-13: Gesamtnachfragekurve in einer geschlossenen Volkswirtschaft In einer offenen Volkswirtschaft entspricht die Gesamtnachfrage der gesamten von inländischen und ausländischen Käufern nachgefragten Menge an Inlandsgütern bei gegebenem Preisniveau. Dies ist äquivalent mit der Nachfragesumme aus Konsum, Investition und Staatsausgaben durch Inländer in bezug auf inländische Güter (im Gegensatz zu den Importen) zuzüg-

84

T E I L I : EINFÜHRUNG

lieh der Auslandsnachfrage nach inländischen Gütern, d.h. der Exportnachfrage. Die präzise Spezifizierung der aggregierten Nachfrage in einer offenen Volkswirtschaft ist erheblich komplizierter, weil die Eigenschaften der Gesamtnachfragekurve abhängig sind vom Wechselkurssystem (feste oder flexible Wechselkurse), von der Art der international gehandelten Güter (insbesondere der Substituierbarkeit des Verbrauchs inländischer und ausländischer Güter), von der Offenheit der Volkswirtschaft für internationale Kapitalströme und einigen anderen Merkmalen. (Eine detaillierte Analyse der Gesamtnachfrage in einer offenen Volkswirtschaft folgt in den Kapiteln 13 und 14.) Gleichwohl können wir davon ausgehen, daß ein Anstieg des Preisniveaus sowohl in der offenen als auch in der geschlossenen Volkswirtschaft tendenziell einen Rückgang der Gesamtnachfrage verursacht. Wiederum (wenn auch aus etwas anderen Gründen) ergibt sich eine fallend verlaufende Gesamtnachfragekurve. In einer offenen Volkswirtschaft stellt sich ein Anstieg des Inlandspreisniveaus wie eine Erhöhung der inländischen Preise im Vergleich zu den ausländischen Preisen dar. (Es ergibt sich ebenfalls ein Realkasseneffekt, wie wir ihn für die geschlossene Volkswirtschaft ausgemacht haben.) Diese Zunahme der Inlandspreise im Vergleich zu den Auslandspreisen verteuert die inländischen Güter und macht es günstiger, ausländische Güter zu kaufen. Wenn dieser Fall eintritt, werden die Haushalte und Unternehmen ihre Käufe von Inlandsgütern einschränken und mehr importieren, und Ausländer werden ihre Exportkäufe aus der inländischen Volkswirtschaft kürzen. Einfach gesagt, verliert die heimische Volkswirtschaft durch einen Anstieg des Preisniveaus an Wettbewerbsfähigkeit, weil sie sich selbst über den Preis gewissermaßen aus dem Weltmarkt hinausmanövriert. 3-6 Gleichgewicht von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage Der Gesamtangebots-Gesamtnachfrage-Rahmen ist ein nützliches Hilfsmittel zur Bestimmung des Gleichgewichts von Output und Preisniveau. Wir können diesen Rahmen insbesondere dazu verwenden, um die Wirkungen sowohl bestimmter wirtschaftspolitischer Maßnahmen als auch externer Schocks auf das Gleichgewicht von Q und P zu untersuchen. Wie wir sahen, verläuft die Gesamtnachfragekurve sowohl für eine geschlossene als auch für eine offene Volkswirtschaft fallend, d.h. mit steigendem P sinkt QD. Die Angebotskurve ist entweder aufwärts geneigt unter den grundlegenden keynesianischen Bedingungen oder eine Vertikale unter klassischen Annahmen. Das Gütermarktgleichgewicht wird im Schnittpunkt der Gesamtnachfragekurve mit der Gesamtangebotskurve gegeben. In ande-

KAPITEL 3: BESTIMMUNG DES OUTPUTS

85

ren Worten: die Volkswirtschaft findet bei dem durch das Gleichgewicht von Nachfrage und Angebot bestimmten Output und Preisniveau gleichsam ihre Ruhelage. Durch dieses Gleichgewicht wird auch das Beschäftigungsniveau der Volkswirtschaft bestimmt. An dieser Stelle erscheint der Hinweis angebracht, daß dieses Gleichgewicht nicht das optimale ("beste"), nicht einmal notwendigerweise das wünschenswerte Produktionsniveau bedeutet. Tatsächlich mag eine große Outputlücke und weitverbreitete Arbeitslosigkeit bei diesem volkswirtschaftlichen Gleichgewicht existieren. Gleichgewicht bedeutet einfach das, was in einer Volkswirtschaft unter bestimmten Bedingungen geschehen wird, nicht aber was geschehen sollte. Wir werden später genauer untersuchen, wie die Lage der aggregierten Nachfragekurve durch geld-, fiskal- und wechselkurspolitische Maßnahmen verändert wird. Im allgemeinen wird jedoch die Gesamtnachfragekurve durch eine expansive Geldpolitik, d.h. eine Erhöhung des Geldangebots infolge von Aktionen der Notenbank, nach rechts oben verschoben. Ein ähnlicher Effekt (wenn auch mit einigen wichtigen Unterschieden) wird hervorgerufen durch eine expansive Fiskalpolitik, etwa eine Erhöhung der Staatsausgaben, oder durch eine Abwertung der Währung. Derartige wirtschaftspolitische Veränderungen werden mit dem Blick auf ihre Wirkungen auf die Gesamtnachfragekurve üblicherweise als "Nachfrageexpansion" bezeichnet. Die spezifischen Effekte dieser wirtschaftspolitischen Maßnahmen hängen von den jeweils herrschenden besonderen ökonomischen Umständen ab. Geldpolitik hat z.B. unterschiedliche Wirkungen bei festen und flexiblen Wechselkursen. Nichtsdestoweniger können wir hier bereits einige Anfangsbeobachtungen machen. Im klassischen Fall läßt die Verschiebung der Gesamtnachfrage einen Nachfrageüberschuß beim ursprünglichen Preis PQ entstehen, wie Abb. 314a zeigt. Wenn die Preise zu steigen beginnen, wird der Reallohn nach unten gedrückt. Dies führt andererseits zu einem Nachfrageüberschuß auf dem Arbeitsmarkt, der unverzüglich von einen Anstieg des Nominallohns begleitet wird. Die Preise werden so lange weiter steigen, wie eine unbefriedigte Nachfrage auf dem Gütermarkt besteht. Die nominalen Löhne nehmen gemeinsam mit den Preisen zu, so daß der Reallohn erhalten bleibt. Am Ende wird nicht mehr geschehen sein, als daß sich das Preisniveau und der Nominallohn in gleichem Ausmaß erhöht haben. Bei unverändertem Reallohn verbleiben Output und Beschäftigung auf ihrem ursprünglichen Niveau. Daher führt unter klassischen Bedingungen eine Erhöhung der Gesamtnachfrage lediglich zu einem Anstieg der Preise, bleibt aber ohne Wirkung auf die Produktion. Im keynesianischen Fall mit starren Nominallöhnen bewirkt eine Ausdehnung der Gesamtnachfrage ebenfalls einen Nachfrageüberschuß beim ur-

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TEIL I: EINFÜHRUNG

sprünglichen Preisniveau, und dies läßt wiederum die Outputpreise steigen. Aber in diesem Fall mit fixiertem Nominallohn wird der Anstieg der Preise den realen Lohn senken, und dies veranlaßt wiederum die Unternehmen zu einer Erhöhung der Arbeitsnachfrage und der Produktion. Abb. 3-14b zeigt dieses Ergebnis. Im neuen Gleichgewicht sind der Output und die Preise höher und (in der Abbildung nicht sichtbar) der Reallohn niedriger. Im extremen Fall mit einer horizontalen Gesamtangebotskurve erhöht die Nachfrageexpansion den Output, ohne das Preisniveau ansteigen zu lassen, wie Abb. 3-14c verdeutlicht. Mithin führt im keynesianischen Fall eine Ausdehnung der Gesamtnachfrage sowohl zu einer Erhöhung der Produktion (und Beschäftigung) als auch des Preisniveaus. Da sich der Nominallohn nicht verändert, geht der Anstieg des Preisniveaus auch mit einem Rückgang des Reallohns einher.

Abb. 3-14: Nachfrageexpansion im klassischen und keynesianischen Fall: (a) klassisch, (b) grundlegend keynesianisch und (c) extrem keynesianisch Selbst diese sehr allgemeine Diskussion hat uns zu der wichtigen Schlußfolgerung gefuhrt, daß Veränderungen der Wirtschaftspolitik, zumindest im keynesianischen Fall, den Output beeinflussen. In dem Maße, wie der keynesianische Fall Gültigkeit beanspruchen kann, können die Träger der Wirtschaftspolitik eine Politik zur Stabilisierung der Produktion und der Beschäftigung verfolgen, d.h. eine Politik, die darauf abzielt, bestimmte Niveaus des Outputs und der Beschäftigung zu realisieren. Wir wollen nun prüfen, inwieweit Angebotsschocks das Gleichgewicht von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage beeinflussen. Angenommen, die Volkswirtschaft erlebe eine einmalige technologische Verbesserung, die es erlaubt, daß ein höherer Output mit jeder Kombination der Inputs hergestellt werden kann. In Abb. 3-15a wird der klassische Fall vorgeführt, bei dem die

KAPITEL 3: BESTIMMUNG DES OUTPUTS

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aggregierte Angebotskurve nach rechts von QSQ ZU verschoben wird. Das neue Gleichgewicht stellt sich bei einem höheren VollbeschäftigungsOutput Qj ein. Bei gegebener Gesamtnachfragekurve ergibt sich beim Preis PQ ein Angebotsüberschuß, der das Preisniveau auf P\ nach oben drückt. Beim grundlegenden keynesianisehen Fall, der in Abb. 3-15b dargestellt ist, verschiebt sich die aggregierte Angebotskurve von QSQ zu nach rechts unten, weil die Unternehmen bei jedem gegebenen Preis einen größeren Output anbieten wollen. Im neuen Gleichgewicht ist die Produktion auf Q\ gestiegen und die Preise von PQ auf P\ gesunken. Wir können die technologische Verbesserung schließlich für den extremen keynesianischen Fall (bei dem das Grenzprodukt der Arbeit GPA konstant ist) als eine Aufwärtsverschiebung des GPA (in Abschnitt 3-3 durch den Parameter a ausgedrückt) interpretieren. Hierbei verläuft die Gesamtangebotskurve auf dem Niveau P = wla horizontal, so daß eine Zunahme von a (von ÜQ nach a\) die aggregierte Angebotskurve von QSQ ZU nach unten verschiebt, wobei eine flach verlaufende Kurve auf dem Niveau P\ = w!a\ ist. Im neuen Gleichgewicht, das Abb. 3-15c zeigt, ermäßigt sich das Preisniveau auf P j und der Output erhöht sich von QQ auf Q\.

Abb. 3-15: Eine technologische Verbesserung im klassischen und keynesianischen Fall: (a) klassisch, (b) grundlegend keynesianisch und (c) extrem keynesianisch Nachfragekontraktion: Ein historisches Beispiel Ein historischer Fall von Nachfragesteuerung ist für die Entwicklung der makroökonomischen Theorie von äußerstem Interesse. Vor dem Ersten Weltkrieg operierten die industrialisierten Länder unter dem Goldstandard, einem Währungssystem, das wir in den Kapiteln 9 und 10 ausführlicher erörtern werden. Während des Krieges mußten viele Regierungen jedoch die Notenpresse in Gang setzen, um die Kriegsausgaben zu finanzieren, und

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TEIL I: EINFÜHRUNG

dies veranlaßte viele Länder, den Goldstandard aufzugeben (wie wir später noch erklären werden). Großbritannien entschied sich 1925, zum Goldstandard zurückzukehren. Um dies zu bewerkstelligen, mußte die britische Regierung eine stark kontraktive Geldpolitik verfolgen; damit wurde zugleich das Pfund Sterling aufgewertet, wobei es sich gegenüber dem Dollar um 10% verteuerte. 8 Sowohl die Veränderung der Geldpolitik als auch die des Wechselkurses verursachten einen deutlichen Rückgang der Gesamtnachfrage in Großbritannien. Wenn ein Ausländer mit Dollars britische Güter kaufen wollte, mußte er nun wegen der Veränderung des Wechselkurses mehr in Dollars bezahlen. Das Ergebnis der Drosselung der Gesamtnachfrage war ein heftiger Rückgang der Produktion und eine Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die Rollenbesetzung in dieser Episode war höchst eindrucksvoll. Der britische Schatzkanzler (der in den meisten Ländern Finanzminister und in den USA secretary of the treasury genannt wird) war kein geringerer als Winston Churchill und sein wichtigster Kritiker kein geringerer als der britische Ökonom John Maynard Keynes, der die Wirtschaftspolitik als hochgradig kontraktiv verurteilte. Keynes attackierte Churchills Politik in ungewöhnlich scharfer Form in einem Artikel, der zu einem Klassiker werden sollte: "The Economic Consequences of Mr. Churchill". 9 Dieser kurze Beitrag enthielt bereits viele der Kernaussagen, die später in Keynes' neuer Theorie der makroökonomischen Anpassungen formalisiert wurden. Keynes erkannte klar, daß die britische Geldpolitik dazu angetan war, die Gesamtnachfrage zu verringern und einen Preisverfall in Gang zu setzen. Er wußte, daß sich mit hinreichend starkem Rückgang der Nominallöhne die Vorhersagen des klassischen Modells erfüllen würden: die Preise werden fallen, aber gleichermaßen die Löhne, so daß sich kein Verlust an Output und kein Anstieg der Arbeitslosigkeit einstellen würden. Aber Keynes befürchtete, daß die nominalen Löhne nicht schnell genug im erforderlichen Umfang zurückgehen würden; in seinen Worten: "The policy of improving the foreign-exchange value of sterling up to its pre-war value in gold from being about 10 percent below it, means that, whenever we sell anything abroad, either the foreign buyer has to pay 10 percent more in his money or we have to accept 10 percent less 8 9

Der Preis eines britischen Pfundes stieg von 4,42 $ auf 4 , 8 6 $.

D i e s e Arbeit begann ursprünglich als Folge von drei Beiträgen, die am 22., 23. und 24. Juli 1925 im Evening Standard erschienen. Keynes erweiterte diese Artikel zu einer Broschüre, die später in seine Essays in Persuasion aufgenommen wurde. Eine neue Ausgabe dieser Arbeit erschien in The Collected Writings of John Maynard Keynes (London: Macmillan, 1972).

KAPITEL 3: BESTIMMUNG DES OUTPUTS

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in our money ... Now, if these industries found that their expenses for wages and for transport and for rates and for everything else were falling by 10 percent at the same time, they could afford to cut their prices and would be no worse off than before. But, of course, this does not happen." 10 Keynes' Argument, das sich als zutreffend erweisen sollte, lautete, daß die Arbeiter sich Geldlohnkürzungen widersetzen und diese erst akzeptieren würden, nachdem die Arbeitslosigkeit deutlich genug zugenommen hatte, um die Arbeiter erschreckt zur Annahme von Lohnkürzungen zu bewegen. Er urteilte zutreffend, daß sich jede Gruppe von Arbeitern solange gegen Lohnkürzungen sperren würden, bis andere entsprechende Konzessionen gemacht haben, und daß am Ende der gesamte Prozeß der Lohnsenkung langwierig, willkürlich und schmerzhaft sein würde. Keynes sah voraus, daß durch den Rückgang der Gesamtnachfrage die Preise daher stärker als die Löhne gedrückt und im Ergebnis die Unternehmen zu einer Einschränkung ihrer Arbeitsnachfrage veranlaßt würden. Und dies wiederum würde eine Verringerung der Produktion verursachen.

Abb. 3-16: Effekte einer Aufwertung auf der Basis der britischen Erfahrungen von 1925

Wir wollen nun Churchills Politik in unserem einfachen Gesamtnachfrage-Gesamtangebots-Rahmen analysieren. Wir nehmen wie Keynes starre Löhne an, so daß die Angebotskurve in Großbritannien ansteigend verläuft. Wie Abb. 3-16 zeigt, ist in Punkte ein anfängliches Gleichgewicht gegeben mit den Preisen PQ und dem Output QQ. Die Politik des knappen Geldes und die Aufwertung verschieben die aggregierte Angebotskurve nach unten. Das Preisniveau fallt auf P\ und der Output geht ebenfalls von QQ auf Q\ zurück. Das Modell sagt mithin voraus, daß die Pfundabwertung eine Preisdeflation 10

John Maynard Keynes, "The Economic Consequences of Mr. Churchill", a.a.O., S. 208.

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TEIL I: E I N F Ü H R U N G

provoziert, die von einer Kontraktion des Outputs und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit begleitet wird. Und genau dies geschah 1925 in Großbritannien. Dies war selbstverständlich nicht vom Schatzkanzler beabsichtigt. Unter der klassischen Annahme völlig flexibler Löhne und Preise hätte Churchills Politik zu einem Rückgang der inländischen Preise und Löhne in gleichem Ausmaß gefuhrt. Der Reallohn wäre unverändert und Produktion sowie Beschäftigung auf ihrem ursprünglichen Niveau geblieben. Dies aber geschah nicht. Sieht man sich eine verfehlte Politik wie diese an, die auf der unzutreffenden Idee beruhte, daß die Geldlöhne einfach im notwendigen Umfang fallen würden und die am Ende in der Volkswirtschaft so großen Schaden anrichtete, so wundert man sich natürlich, warum sie angewendet wurde. Keynes' Urteil war in dieser Hinsicht äußerst streng: " . . . [Mr. Churchill] in doing what he did in the actual circumstances of last spring, was just asking for trouble. For he was committing himself to force down money wages and all money values, without any idea how it was to be done. Why did he do such a silly thing? Partly, perhaps, because he has no instinctive judgement to prevent him from making mistakes; partly because, lacking this instictive judgement, he was deafened by the clamorous voices of conventional finance; and, most of all, because he was gravely misled by his experts."11 Ursachen wirtschaftlicher Fluktuationen MakroÖkonomen unterscheiden sich in ihrer Interpretation wirtschaftlicher Ereignisse in zweierlei Weise. Erstens haben sie verschiedene Ansichten über den Verlauf der aggregierten Angebotskurve, also darüber, ob sie vertikal, aufwärts geneigt oder horizontal ist. Zweitens differieren sie im Hinblick auf die relative Bedeutung von unterschiedlichen Arten von Schocks, die eine Volkswirtschaft treffen. Treten Schocks vornehmlich auf der Nachfrageseite auf und fuhren so zu einer Verschiebung der aggregierten Nachfragekurve oder betreffen sie vor allem die Angebotsseite und bewegen die Kurve des Gesamtangebots? In dieser Frage besteht keine Einigkeit unter MakroÖkonomen sowohl in den USA als auch in anderen Ländern. Es erscheint ferner als wahrscheinlich, daß sich die Länder selbst in bezug auf die beiden kritischen Dimensionen, Gesamtangebot und volkswirtschaftliche Schocks, unterscheiden; was für ein Land zutreffend ist, gilt für ein anderes nicht.

11

Ebenda, S. 212.

KAPITEL 3 : BESTIMMUNG DES O U T P U T S

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Wir können in einer sehr allgemeinen Weise die Schulen der MakroÖkonomik nach ihren Auffassungen zu den angesprochenen Fragen klassifizieren. Die in der klassischen Tradition stehenden Ökonomen gehen von einer vertikalen Angebotskurve aus. Eine Gruppe dieser Ökonomen, die von Milton Friedman angeführten Monetaristen, hob hervor, daß die meisten volkswirtschaftlichen Schocks auf der Nachfrageseite auftreten, insbesondere verursacht durch eine instabile Geldpolitik der Notenbank. Auch die Theoretiker der rationalen Erwartungen unter der Führung von Robert Lucas und Robert Barro halten die monetäre Instabilität für eine wesentliche, wenn nicht für die Ursache makroökonomischer Schocks. Andere, der klassischen Tradition verpflichtete Volkswirte, insbesondere jene, die mit der sog. "realen Konjunkturtheorie" (die wir in Kapitel 17 aufgreifen) in Verbindung gebracht werden, sind der Meinung, daß die vorherrschenden Schocks technologischer Art sind und auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft auftreten. Keynes und seine Nachfolger in der Nachkriegszeit betonten nicht nur den ansteigenden Verlauf der Angebotskurve, sondern auch die Instabilität der Gesamtnachfrage. Aus ihrer Sicht entsteht diese Instabilität durch Schocks in den privaten Märkten vor allem als Ergebnis schwankender Zuversicht der Investoren, die zu Ausschlägen bei der Investitionsnachfrage der Unternehmen führt. Angesichts dieser starken Betonung von Nachfrageschocks war es für Keynes und seine Nachfolger naheliegend, dafür einzutreten, die privaten Nachfragestörungen durch eine aktive Budget- und Geldpolitik auszugleichen. In jüngerer Zeit haben Ökonomen, die in der keynesianischen Tradition stehen, aber mit neuen analytischen Techniken ausgestattet sind - die sog. "Neokeynesianer" - die Keynes'schen Annahmen zur Angebotskurve zwar aufrechterhalten, aber eine erweiterte Sichtweise hinsichtlich der Quellen von volkswirtschaftlichen Schocks eingenommen, indem sie anerkennen, daß diese ihre Ursache sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite haben können. (Einige der neokeynesianischen Vorstellungen werden in Kapitel 17 erörtert.) Zusammenfassend kann man zwei Typen von Schocks ausmachen: Nachfragestörungen, wie etwa Veränderungen der Fiskal- und Geldpolitik sowie der Investitionsausgaben privater Unternehmen und Angebotsstörungen, zu denen technologische Veränderungen ebenso gehören wie die Schwankungen von Inputpreisen, z.B. die Ölpreisschocks, die in den 70er Jahren begannen. In einigen Analysen wird Markträumung unterstellt, in anderen nicht. In Abb. 3-17 erscheint das klassische Modell im nordwestlichen Quadranten; die Märkte werden geräumt, und die Nachfrage ist Quelle wirtschaftlicher Fluktuationen. Die keynesianische Schule, die ebenfalls annimmt, daß Schocks ihre Ursache auf der Nachfrageseite haben, die Markträumung aber durch starre Geldlöhne verhindert wird, findet sich im nord-

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TEIL I: EINFÜHRUNG

östlichen Quadranten. Diese Zuordnung mag ein wenig grob sein, aber sie hilft bei der Kategorisierung der unterschiedlichen Standpunkte.

Annahmen über die aggregierte Angebotskurve Vertikal

Nachfrageseite

Ansteigend

Klassiker Monetaristen

Keynes Neo-Keynesianer

Realer Konjunkturzyklus

auch von Neo-Keynesianern berücksichtigt

Quelle der Schocks

Angebotsseite

Abb. 3-17: Ursachen wirtschaftlicher Fluktuationen und Annahmen über das Gesamtangebot 3-7 Gesamtangebot und Gesamtnachfrage in kurz- und langfristiger Sicht Keynes machte geltend, daß die Nominallöhne sich nicht notwendigerweise unverzüglich anpassen, um Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten; daher bildet ein fixierter Geldlohn die Basis der keynesianischen Angebotskurve. Aber Keynes selbst und nachfolgende Ökonomen, die in dieser Tradition forschten, erkannten, daß die nominalen Löhne nicht wirklich fixiert sind; sie passen sich nur langsam an Ungleichgewichte der Gesamtnachfrage an. Sofern wir eine allmähliche Anpassung der Nominallöhne statt anhaltender Unbeweglichkeit zulassen, ist eine Synthese von keynesianischer und klassischer Position denkbar. Kurzfristig erfolgt die Lohnanpassung zu langsam, um Vollbeschäftigung zu sichern, aber langfristig passen sich die Löhne letztendlich ausreichend an, um Vollbeschäftigung und das klassische Gleichgewicht wiederherzustellen. Zur Illustration wollen wir eine sehr simple Form der Lohnanpassung unterstellen. Wann immer der Output unter dem Vollbeschäftigungsniveau

KAPITEL 3: BESTIMMUNG DES OUTPUTS

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bleibt, werden, wie wir wissen, einige Arbeiter unfreiwillig arbeitslos sein. Sie wollen arbeiten, aber wegen des insgesamt zu hohen Lohnniveaus gibt es nicht genug Nachfrage nach Arbeit. Für diesen Fall nehmen wir an, daß die Nominallöhne tendenziell sinken, da die Arbeitslosen ihre Leistungen zu einem ermäßigten Lohn (verglichen mit dem vorherrschenden) anbieten. Und wenn der Output oberhalb des Vollbeschäftigungsniveaus liegt, so gehen wir davon aus, daß der enge Arbeitsmarkt die Nominallöhne ansteigen läßt. Diese Überlegungen lassen sich formalisieren durch eine dynamische Lohngleichung, die beschreibt, wie sich die Löhne im Zeitablauf in Reaktion auf die Arbeitslosigkeit verändern. Wir wollen den Lohn in der laufenden Periode mit w bezeichnen (wobei die Periode einen Monat, ein Quartal oder ein Jahr umfassen kann; für Illustrationszwecke müssen wir nicht präzise sein). Mit kennzeichnen wir die prozentuale Lohnveränderung von dieser Periode zur nächsten, = ( w + ) - w ) / w , und nehmen an, daß die Lohnveränderung eine Funktion der Produktionslücke ist. Ist der Output unterhalb des Vollbeschäftigungsniveaus, so existiert unfreiwillige Arbeitslosigkeit und der Nominallohn sinkt:

=a{Q-Qf)

(3.13)

(Wir verfeinern diese Analyse der Lohnbestimmung in Kapitel 15.) Wir unterstellen nun eine Volkswirtschaft, die bei einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht im Punkt E in Abb. 3-18 beginnt. Die aggregierte Nachfrage sinkt sodann, etwa wegen einer Geldpolitik ä la Churchill. Das unmittelbare Ergebnis ist eine Abwärtsverschiebung des Outputs von Qf in Punkt E nach Q\ in Punkt A, und dies bedeutet eine Zunahme der Arbeitslosigkeit. Aber das ist nicht länger das Ende unserer Geschichte. Mit der Verringerung des Outputs fallen die Nominallöhne und damit verschiebt sich die Gesamtangebotskurve nach rechts, wie Abb. 3-18 zeigt. Wir erkennen, daß die verzögerte Abnahme des Nominallohns zu einer verspäteten Erholung der Produktion vom niedrigen Niveau in Punkt A führt. Solange der Output unter Qj- bleibt, hält die Tendenz zu sinkenden Geldlöhnen und steigender Produktion an. Gemäß Gleichung (3.13) wird die Lohnsenkung erst beendet, wenn der Output nach Qj-zurückgekehrt ist. Beachtenswert ist der langfristige Effekt eines Nachfragerückgangs. Nach vollständiger Anpassung der Nominallöhne ist die Produktion auf das Vollbeschäftigungsniveau zurückgekehrt, und die Wirkung eines Nachfrageschocks zeigt sich in niedrigeren Preisen und nicht in einem geringeren Output. Die dynamische Reaktion auf einen Nachfragerückgang ist erkennbar. A m Anfang ergibt sich eine moderate Preissenkung, während die Produk-

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TEIL I: EINFÜHRUNG

tion deutlich zurückgeht. Im weiteren Verlauf werden die Nominallöhne wegen des Outputrückgangs gedrückt, und dies läßt einen Prozeß zu, bei dem die Preise schneller fallen aber die Produktion sich zu erholen beginnt. Schließlich wird das Vollbeschäftigungsniveau des Outputs vollständig wiederhergestellt. Der langfristige Effekt ist exakt jener, der vom klassischen Modell vorhergesagt wird: infolge eines Nachfrageschocks sinken Preise und Löhne ausreichend stark, um Produktion (und Beschäftigung) auf dem Vollbeschäftigungsniveau zu halten.

ßs'

ö, Q,

Q

Abb. 3-18: Kurz- und langfristige Effekte eines Nachfragerückgangs

Zusammenfassend können wir sagen, daß die Volkswirtschaft kurzfristig keynesianische Eigenschaften aufweist und langfristig klassische. Kurzfristig berühren Verschiebungen der Gesamtnachfrage sowohl den Output als auch die Preise, langfristig nur die Preise. So gesehen bezieht sich die Debatte zwischen den modernen Keynesianern und den modernen Klassikern vor allem auf den zeitlichen Aspekt. Beide Gruppen von Ökonomen erkennen an, daß in der Volkswirtschaft Tendenzen zu einer Rückkehr zum Vollbeschäftigungsgleichgewicht in Reaktion auf eine Verschiebung der aggregierten Nachfrage angelegt sind. Die Frage ist: wie schnell geschieht das? Die Antwort der Keynesianer lautet, daß die Reaktion der Volkswirtschaft langsam erfolgt, möglicherweise so langsam, daß makropolitische Maßnahmen - der Fiskal-, Geld- und Wechselkurspolitik - nützlich sind, um die Rückkehr zur Vollbeschäftigung zu beschleunigen. Für die klassischen Ökonomen hingegen erfolgt die Rückkehr zur Vollbeschäftigung schnell, so schnell, daß weder Bedarf noch Zeit für Makropolitik bleibt. Nach dieser kurzen Einführung in die Bestimmungsgründe der Produktion wechseln wir das Terrain. In den nächsten 8 Kapiteln werden wir innerhalb der Annahmen des klassischen Modells argumentieren, und dies, weil wir uns auf die grundlegenden Bauelemente der MakroÖkonomik - Kon-

KAPITEL 3: BESTIMMUNG DES OUTPUTS

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sum, Sparen, Investition, internationale Kapitalströme, Geldangebot und nachfrage - konzentrieren wollen; diese Themen sind selbst unter der Annahmen eines fixierten Outputs komplex genug. Im keynesianischen Rahmen werden sie jedenfalls noch komplexer. Wir werden uns daher einen Gefallen tun, indem wir uns über die makroökonomischen Schlüsselaspekte zunächst unter Verwendung eines einfachen Modells informieren. In Kapitel 12 werden wir zur Thematik der Outputbestimmung zurückkehren und dabei eine Reihe deskriptiverer und komplizierterer Modelle benutzen.

3-8 Zusammenfassung Zwei Formen wirtschaftlicher Schwankungen sind von besonderem Interesse für die MakroÖkonomik: Lange und anhaltende Abweichungen der Arbeitslosigkeit vom historischen Durchschnitt und die synchron verlaufenden Schwingungen makroökonomischer Variabler um den Trend; eine Erscheinung, die als Konjunkturzyklus bekannt ist. Die potentielle Produktion ist das Outputniveau, das die Volkswirtschaft bei voller Beschäftigung der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeit, erreichen kann. Normalerweise herrscht eine gewisse Unterbeschäftigung der Arbeit und anderer Inputs, so daß der laufende Output geringer ist als der potentielle. Die Differenz zwischen potentiellem und tatsächlichem Output ist die Produktionslücke. Nach Okuns Gesetz, einer für die USA gültigen empirischen Regelmäßigkeit, gilt, daß eine Verringerung der Arbeitslosigkeit um 1% von einem Anstieg des BSP und einer Verkleinerung der Produktionslücke um 3% begleitet wird. Das Gesamtangebot ist der gesamte Output, den die Unternehmen und Haushalte abhängig vom Preisniveau anbieten wollen. Die Entscheidung der Unternehmen über die Angebotsmenge wird unter Berücksichtigung der Produktpreise, der Inputkosten, des Kapitalstocks und der Produktionstechnologie so gefallt, daß die Gewinne maximiert werden. Von den Haushalten werden Angebotsentscheidungen insoweit getroffen, als sie über das Arbeitsangebot auf der Basis des Reallohns entscheiden. Eine Produktionsfunktion stellt eine technische Beziehung zwischen dem Output (Q) und den Inputs Kapital (K) und Arbeit (L) dar. Das Grenzprodukt beider Faktoren ist positiv, nimmt aber ab, wenn ein Faktor bei Konstanz des anderen Inputs vermehrt eingesetzt wird. Ein gewinnmaximierendes Unternehmen beschäftigt soviel Arbeit, bis dessen Grenzprodukt dem Reallohn entspricht. Die Kurve des Grenzprodukts der Arbeit ist daher die Arbeitsnachfragekurve.

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TEIL I: EINFÜHRUNG

Die Individuen entscheiden über ihr Arbeitsangebot auf der Grundlage ihrer Präferenzen für Konsum und Freizeit. Ihr Nutzen hängt positiv vom Konsum ab und negativ ab von der Zeit, die der Arbeit gewidmet wird. Das gleichgewichtige Arbeitsangebot wird sowohl von den Präferenzen der Wirtschaftssubjekte als auch vom Reallohn bestimmt. Ein Anstieg des realen Lohns hat zwei mögliche Effekte: einen Substitutionseffekt, der mit einer Verteuerung der Freizeit zu einer Erhöhung des Arbeitsangebots veranlaßt und einen positiven Einkommenseffekt, der den Wunsch nach vermehrter Freizeit (und höherem Güterkonsum) weckt und das Arbeitsangebot verringert. Wir nehmen an, daß der Substitutionseffekt den Einkommenseffekt dominiert, so daß die Kurve des Arbeitsangebots ansteigend verläuft. Die Gesamtangebotskurve beschreibt den Zusammenhang zwischen Output und Preisniveau, und ihr Verlauf hängt ganz wesentlich von den Annahmen über den Arbeitsmarkt ab. Im klassischen Ansatz sind die Löhne vollständig flexibel und passen sich so an, daß Arbeitsangebot und -nachfrage im Gleichgewicht bleiben. Es herrscht stets Vollbeschäftigung, was bedeutet, daß die Unternehmen gerade soviel Arbeit nachfragen, wie die Arbeitnehmer anbieten. Daher ist die aggregierte Angebotskurve eine Vertikale über dem Vollbeschäftigungsoutput. Arbeitslosigkeit kann im klassischen Fall nur dann auftreten, wenn der Reallohn über seinem Markträumungswert gehalten wird. Grundlage des keynesianischen Modells ist die Vorstellung, daß sich die Nominallöhne und Preise nicht automatisch so anpassen, daß ein Arbeitsmarktgleichgewicht erhalten bleibt. Die Betonung liegt hier auf nominalen Rigiditäten statt auf realen Starrheiten. Keynes selbst hob besonders die nominalen Lohnstarrheiten hervor, die sich aus institutionellen Gegebenheiten, wie etwa langfristigen Verträgen, ergeben. Unter diesen Bedingungen verläuft die Gesamtangebotskurve ansteigend, da eine Zunahme des Preisniveaus (P) den Reallohn drückt, wodurch es für die Unternehmen attraktiver wird, mehr Arbeitskräfte einzustellen und die Produktion zu steigern. Ein wichtiger Spezialfall des keynesianischen Modells ist der einer Konstanz des Grenzprodukts der Arbeit, der z.B. eintritt, wenn die Produktionsfunktion in bezug auf den Arbeitsinput linear ist. In diesem Fall verläuft die aggregierte Angebotskurve bei starrem Nominallohn horizontal. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit liegt vor bei Personen, die zu dem Lohn, den andere Arbeiter mit vergleichbaren Fähigkeiten erhalten, arbeiten wollen, aber keinen Arbeitsplatz finden. Dieser Fall tritt ein, wenn gewisse Marktunvollkommenheiten verhindern, daß die Löhne den Arbeitsmarkt räumen, entweder deshalb, weil die Nominallöhne starr sind (der keynesianische Fall) oder die Reallöhne (der klassische Fall).

KAPITEL 3: BESTIMMUNG DES OUTPUTS

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In einer geschlossenen Volkswirtschaft entspricht die Gesamtnachfrage der Gesamtheit der inländischen Güter und Dienstleistungen, die bei gegebenem Preisniveau von Inländern nachgefragt werden. Die Gesamtnachfragekurve verläuft fallend, weil ein Preisanstieg den Wert der realen Geldhaltung (den realen Wert der vom Publikum gehaltenen Kasse) herabsetzt und damit die nachgefragte Gütermenge vermindert. In einer offenen Volkswirtschaft entspricht die aggregierte Nachfrage den insgesamt von Inländern und Ausländern nachgefragten Gütern und Dienstleistungen bei gegebenem Preisniveau. Sie ist die Summe der inländischen Konsum-, Investition- und Staatsnachfrage zuzüglich der Netto-Exporte (Exporte minus Importe). Unter diesen Umständen verläuft die aggregierte Nachfragekurve fallend, sowohl wegen des Realkasseneffekts (wie in einer geschlossenen Volkswirtschaft) als auch wegen der Erhöhung der Inlandspreise gegenüber den Auslandspreisen im Falle eines Anstiegs des Preisniveaus. Mit relativ teureren inländischen Gütern (und relativ billigeren ausländischen Gütern) gehen die Netto-Exporte zurück, da sowohl die Inländer als auch die Ausländer ihre Nachfrage von Inlands- auf Auslandsgüter verlagern. Ein Gütermarktgleichgewicht ist im Schnittpunkt der abwärts verlaufenden Nachfragekurve mit der Angebotskurve gegeben. Dieses Gleichgewicht bestimmt das Niveau des Outputs und der Preise. Eine expansive Geld- oder Fiskalpolitik erhöht die Gesamtnachfrage. Die spezifischen Wirkungen auf Output und Preise hängen von den Charakteristika der Volkswirtschaft ab. Im klassischen Fall ist die aggregierte Allgebotskurve vertikal, so daß sich der gesamte Effekt einer Nachfrageverschiebung in den Preisen zeigt und nicht im Output. Im keynesianischen Fall mit starren Nominallöhnen verläuft die Gesamtangebotskurve ansteigend; eine Nachfrageexpansion fuhrt sowohl zu höheren Preisen als auch zu höherer Produktion. Dagegen steigert eine Nachfrageerhöhung im extremen keynesianischen Fall mit einer horizontal verlaufenden Angebotskurve den Output, ohne daß das Preisniveau berührt wird. Ein Angebotsschock, wie z.B. eine technologische Verbesserung oder eine Änderung der Inputpreise verursacht eine Veränderung der Outputmenge, die bei jedem gegebenen Preis angeboten wird. Durch einen positiven Angebotsschock wird die aggregierte Angebotskurve im klassischen Fall vertikal nach rechts verschoben, im grundlegenden keynesianischen Fall nach rechts unten und im extremen keynesianischen Fall horizontal nach unten. In allen drei Fällen ist das Ergebnis qualitativ identisch (der Output nimmt zu, das Preisniveau geht zurück), unterscheidet sich jedoch in quantitativer Hinsicht.

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TEIL I: EINFÜHRUNG

Wird statt vollständiger Starrheit eine allmähliche Anpassung der Nominallöhne zugelassen, so ist eine Synthese zwischen der klassischen und keynesianischen Sichtweise möglich. Kurzfristig ist die Anpassung der Geldlöhne zu langsam, um Vollbeschäftigung zu sichern, aber langfristig passen sich die Löhne in ausreichendem Maße an, so daß Vollbeschäftigung und das klassische Gleichgewicht garantiert sind. Folglich zeigt die Volkswirtschaft im Sinne dieser Synthese kurzfristig keynesianische und langfristig klassische Eigenschaften. So gesehen, bezieht sich die Auseinandersetzung zwischen modernen klassischen und keynesianischen Ökonomen im wesentlichen auf den Zeitaspekt. Schlüsselbegriffe Potentielle Produktion Produktionslücke Gesamtangebot Gewinnmaximierung Grenzprodukt des Kapitals Grenzprodukt der Arbeit Reallohn Arbeitsnachfrage Arbeits-Freizeit-Entscheidung Substitutionseffekt Einkommenseffekt Aggregierte Angebotsfunktion Aggregierte Angebotskurve

Okuns Gesetz Konjunkturzyklus Klassisches Gleichgewicht Unfreiwillige Arbeitslosigkeit Gesamtnachfrage Reale Geldhaltung Geldpolitik Fiskalpolitik Gütermarktgleichgewicht Angebotsschock Kurze Frist Lange Frist Keynesianisch-klassische Synthese

Probleme und Fragen 1. Angenommen, die Produktivität von Arbeitern nimmt durch bessere Ausbildung zu. a. Was geschieht mit der Nachfrage nach Arbeit? b. Was geschieht mit dem gleichgewichtigen Reallohn? c. Welche Wirkungen hat das auf die Gesamtbeschäftigung in der Volkswirtschaft? d. Ändert sich die unfreiwillige Arbeitslosigkeit? Inwieweit hängt Ihre Antwort davon ab, ob der Reallohn flexibel ist oder nicht? 2. In der Republik Atlantis ist der Reallohn auf dem Niveau oberhalb seines Gleichgewichtswertes fixiert. a. Gibt es unfreiwillige Arbeitslosigkeit? b. Angenommen, aus einem Nachbarstaat würden Arbeiter nach Atlantis einwandern. Was geschieht mit der Gesamtbeschäftigung, der Produktion und der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit in Atlantis?

KAPITEL 3 : BESTIMMUNG DES OUTPUTS

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c. Wie würde sich Ihre Antwort zu (b) ändern, wenn die Reallöhne in Atlantis flexibel wären? 3. Diskutieren Sie, was mit der aggregierten Angebotskurve im klassischen, grundlegenden keynesianischen und extremen keynesianischen Fall geschieht, wenn a. eine technische Verbesserung eintritt; b. ein Erdbeben die Hälfte des Kapitalstocks des Landes zerstört; c. die Präferenzen der Arbeiter sich so verändern, daß sie zu jedem Lohnsatz mehr arbeiten wollen; d. neue, produktivere Maschinen entwickelt werden, aber nur ein Drittel der Arbeiter damit umzugehen weiß? 4. Ermitteln Sie die Gesamtangebotskurve a. für die Produktionsfunktion Q = 3LK, die Arbeitsnachfrage LP = 10 2w/P, das Arbeitsangebot Ls = 4w/P und einen fixen Kapitalstock von K = 4. b. Ist die in (a) abgeleitete Gesamtangebotskurve für den klassischen, grundlegend keynesianischen oder extrem keynesianischen Fall repräsentativ? c. Wie würden sich Ihre Antworten zu (a) und (b) ändern, wenn der Nominallohn bei 3 fixiert wäre? 5. Ist es möglich, daß sich das Arbeitsangebot verringert, wenn der Reallohn zunimmt? Warum? Wenn dem so ist, so leiten Sie unter Verwendung der Abb. 3-7 eine Arbeitsangebotskurve ab, deren Steigung bei z.B. (w/P)3 von einer positiven zu einer negativen wechselt. 6. Leiten Sie das Preisniveau und den Output im Gleichgewicht für eine Volkswirtschaft mit den folgenden Merkmalen ab: a. Konsum C = 10 - 5P, Investition / = 20, Staatsausgaben G = 15, Gesamtangebot QS = 5 + P. b. Was geschieht mit Produktion und Preisen, wenn der Staat seine Ausgaben auf G = 25 erhöht? c. Wie würden sich Ihre Antworten zu (a) und (b) verändern, wenn das Gesamtangebot durch QS = 10 gegeben wäre? 7. Während der frühen 80er Jahre erlebten die USA sowohl Erhöhungen des Preisniveaus als auch Verringerungen des Produktions- und Beschäftigungsniveaus. Wie kann diese Konstellation mit Hilfe des GesamtangebotsGesamtnachfrage-Modells erklärt werden? Was wäre geschehen, wenn der Staat seine Ausgaben erhöht hätte, um den Rückgang der Produktion aufzufangen? 8. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts, erlebte Argentinien längere Perioden hoher Inflation. Die Wirtschaftssubjekte gewöhnten sich an ausgeprägte

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TEIL I: EINFÜHRUNG

Veränderungen der Preise und Löhne; Verträge wurden üblicherweise nur für kurze Fristen abgeschlossen. Im Gegensatz dazu wies die Schweiz langfristig ein sehr stabiles Preisniveau auf; die Laufzeit von Verträgen erstreckte sich häufig über mehrere Jahre. In welchem der beiden Länder wäre eine Ausdehnung der Staatsausgaben zur Erhöhung des Outputniveaus wirkungsvoller gewesen? {Hinweis: Denken Sie an den Verlauf der aggregierten Angebotskurve in beiden Ländern.) 9. Während der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre litten die USA sowohl unter einer Deflation als auch unter einer ausgeprägten Zunahme der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit. Welcher Fall des Gesamtangebots erscheint Ihnen für die Analyse dieser Situation am relevantesten? Von einigen Leuten wurde eine Kürzung der Staatsausgaben empfohlen. Denken Sie, daß dies eine kluge Empfehlung im Blick auf das Gesamtangebots-Gesamtnachfrage-Modell war? 10. In der Volkswirtschaft Atlantis wird eine Verringerung des Konsums durch eine gleich hohe Zunahme der Investition ausgeglichen. Welche kurzfristigen Wirkungen hat dies auf das gleichgewichtige Niveau der Preise, des Outputs und der Löhne? Wie ändert sich Ihre Antwort bei langfristiger Betrachtung?

Kapitel 4

Konsum und Sparen In diesem Kapitel wenden wir uns einem weiteren zentralen Thema der MakroÖkonomik zu, nämlich der Aufteilung des Haushaltseinkommens auf Konsum und Sparen. Dies ist eine Schlüsselentscheidung der Wirtschaftssubjekte. Auf der Ebene eines einzelnen Haushalts wird damit der wirtschaftliche Wohlstand im Zeitverlauf beeinflußt. Haushalte, die sich dazu entschließen, heute mehr zu konsumieren (und mithin weniger zu sparen), werden offenkundig in Zukunft weniger verbrauchen können. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene erlauben die kumulierten Konsum- und Sparentscheidungen eine Bestimmung der Wachstumsrate der Volkswirtschaft, der Handelsbilanz sowie des Niveaus von Produktion und Beschäftigung. Unsere Analyse dieser Thematik beruht im wesentlichen auf einer Lebenszyklus-Theorie des Konsums und Sparens. Dem Haushalt fließt ein Einkommensstrom über die gesamte Lebenszeit, die aus mehreren "Perioden" oder Jahren besteht, zu, und er muß einen Konsumpfad für diese Lebenszeit wählen, der mit dem Lebenseinkommen konsistent ist. In jeder Periode kann er mehr oder weniger konsumieren als es seinem Einkommen in dieser Periode entspricht. Falls der Haushalt weniger verbraucht und mehr spart, so wird er diese Ersparnis letztlich zu einem höheren Konsum in irgendeiner zukünftigen Periode verwenden können. Falls er dagegen mehr konsumiert, so muß er in der gegenwärtigen Periode entsparen, und sein zukünftiger Konsum wird um dieses Entsparen vermindert werden. Eine weiterer Bestandteil dieser Theorie ist, daß die Haushalte über ihren heutigen Konsum entscheiden auf der Grundlage ihrer Erwartungen bezüglich des zukünftigen Einkommens sowie des Zinssatzes, den sie durch Sparen erzielen können bzw. bei Kreditaufnahme bezahlen müssen. Diese Entscheidung ist daher eine intertemporale; d.h. wir unterstellen, daß die Haushalte sorgfältig berücksichtigen, inwieweit ihre gegenwärtigen Entscheidungen die zukünftigen Konsummöglichkeiten beeinflussen. Sobald wir diese Theorie entwickelt haben, werden wir die empirischen Belege zu den Konsum- und Sparentscheidungen prüfen und die grundlegende Theorie modifizieren, um wichtige und bis dahin vernachlässigte Merkmale des tatsächlichen Konsumverhaltens zu berücksichtigen. Diese Hervorhebung der intertemporalen Entscheidung konstrastiert mit frühen Theorien des Konsums, die zuerst von Keynes und seinen Nachfolgern vorgetragen wurden. Die Keynes'sche Konsumfunktion war der erste

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TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

formale Versuch, ein Modell des laufenden Konsums auf der Basis des Haushaltseinkommens zu entwickeln, und dies allein läßt diesen Beitrag als herausragend erscheinen. Obwohl Keynes' Modell verdrängt wurde, spielte die keynesianische Konsumfunktion eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Ideen in diesem Bereich. Keynes' Ansatz begann mit dieser Beobachtung: "The fundamental psychological law, upon which we are entitled to depend with great confidence both a priori from our knowledge of human nature and from the detailed facts of experience, is that men are disposed, as a rule and on the average, to increase their consumption as their income increases, but not by as much as the increase in their income." 1 Auf diese Grundlage stellte Keynes ein einfaches Konsummodell, welches das laufende Einkommen mit dem laufenden Konsum verknüpft C=a+cY wobei Y das laufende Einkommen ist. Die Koeffizienten a und c sind Konstanten, die Keynes' psychologisches Gesetz zum Ausdruck bringen. Keynes unterstellte, daß c kleiner als eins sei. Wie wir sehen werden, ist diese Gleichung mit dem Problem behaftet, daß sie die Rolle der Zinssätze und des zukünftigen Einkommens bei der Entscheidung über den laufenden Konsum vernachlässigt. Bei der Konstruktion unserer Theorie des Konsums und der Ersparnis des Haushalts konzentrieren wir uns auf die Entscheidung, aus dem verfügbaren persönlichen Einkommen zu konsumieren oder zu sparen. Ein Teil des insgesamt in der Volkswirtschaft erzielten Einkommens steht den Haushalten für Konsum oder Ausgaben nicht unmittelbar zur Verfügung, weil der Staat es über Steuern entzieht, weil es von Unternehmen dazu verwendet wird, einen Teil des Kapitalstocks, der während der Produktionsperiode verschlissen wurde, zu ersetzen, oder weil es die Unternehmen für neue, über den Ersatz des entwerteten Kapitals hinausgehende Investitionen zurückbehalten haben. Das verfugbare Einkommen ist daher jenes, das die Haushalte in einer Periode beziehen und das für Konsum oder Sparen verwendbar ist. Nach Betrachtung der Konsum- und Sparentscheidungen der Haushalte ergänzen wir unsere Analyse um die Sparentscheidungen der Unternehmen. Die Summe aus der Ersparnis der Haushalte und der Unternehmen ergibt die 1

John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, in: The Collected Writings of John Maynard Keynes (a.a.O., S. 92). Diese Arbeit, die als eine der bedeutendsten Beiträge zur Ökonomik gilt, wurde erstmals im Februar 1936 in England veröffentlicht.

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

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gesamte private Ersparnis der Volkswirtschaft. Auch im Staatssektor wird konsumiert und gespart (wir kommen darauf in Kapitel 7 zurück), und die Summe aus privater und öffentlicher Ersparnis entspricht der volkswirtschaftlichen Ersparnis. Unsere Vorgehensweise, die Gesamtersparnis einer Volkswirtschaft verständlich zu machen, besteht also darin, mit den Haushalten zu beginnen, sodann das Unternehmensverhalten und schließlich das des Staates hinzuzufügen.

4-1 Konsum und Ersparnis der Volkswirtschaft Tab. 4-1 zeigt Ersparnis und Konsum der Haushalte in den USA 1990. In Zeile 1 der Tabelle wird das Brutto-Sozialprodukt (BSP) ausgewiesen, das sodann korrigiert wird, um (in Zeile 18) das verfügbare persönliche Einkommen zu erhalten. Dieses wird weiter unterteilt in die persönlichen Konsumausgaben (Zeile 19), weitere Zahlungen der Konsumenten (Zeilen 20 und 21) und die persönliche Ersparnis (Zeile 22). Um vom BSP zum verfugbaren persönlichen Einkommen zu gelangen, gehen wir so vor, daß wir vom BSP den Teil des Einkommens abziehen, der tatsächlich nicht den Haushalten zufließt. Wir subtrahieren erstens die Abschreibungen (den Wertverzehr des Kapitalstocks), um das Netto-Sozialprodukt (NSP) zu erhalten. Dann nehmen wir Abzüge vom NSP vor, um der Tatsache gerecht zu werden, daß ein Teil des Netto-Sozialprodukts direkt an den Staat in Form indirekter Steuern gezahlt wird. Sodann sind die in den Zeilen 5, 6 und 7 ausgewiesenen Positionen zu berücksichtigen, um zum Volkseinkommen (Zeile 8) zu gelangen. Von diesem ziehen wir dann die Teile ab, die entweder weggesteuert oder von den Unternehmen zurückbehalten werden und gelangen zum verfugbaren Einkommen. Um vom Volkseinkommen zum verfugbaren persönlichen Einkommen zu gelangen, müssen wir drei grundlegende Korrekturen vornehmen. Erstens verbleiben Teile der Gewinne bei den Unternehmen und werden nicht an die Haushalte verteilt; dieser Anteil am Volkseinkommen wird abgezogen, um das verfügbare Einkommen der Haushalte zu ermitteln. Zweitens vermindern wir das von den Haushalten bezogene Einkommen um die an den Staat abgeführten Zahlungen in Form von direkten Steuern. Drittens erhalten einige Haushalte staatliche Transferzahlungen, um die ihr Markteinkommen ergänzt wird - z.B. Zahlungen der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Sozialhilfe. Diese Transfers werden bei der Ermittlung des verfugbaren Einkommens dem Volkseinkommen hinzugerechnet. Nach die-

104

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

sen Korrekturen gelangen wir schließlich zum verfügbaren persönlichen Einkommen (Zeile 18). 2 T a b . 4-1: BSP, Volkseinkommen, Konsum und Ersparnis in den USA 1990 (Mrd. $ in laufenden Preisen) 1. Brutto-Sozialprodukt 2.-- Abschreibungen

5.463,0 575,7

3. : = Netto-Sozialprodukt 4.-- indirekte Steuern der Unternehmen 5.-- Unternehmenstransfers 6. - statistische Abweichung 7.-+• Subventionen

4.887,3 440,4 35,0 3,1 2,5

8. : = Volkseinkommen 9. - Gewinne von Kapitalgesellschaften* 10. — Netto-Zinsen 11. - Sozialversicherungsbeiträge 12. + staatliche Transferzahlungen 13. + persönliche Zinseinkommen 14. + persönliche Dividendeneinkommen 15. + Transferzahlungen der Unternehmen

4.417,5 297,1 467,1 506,1 659,5 680,9 123,8 35,0

16. = persönliches Einkommen 17. - persönliche Steuerzahlungen und sonstige Abgaben

4.646,4 699,8

18. = verfügbares persönliches Einkommen 19. - persönliche Konsumausgaben 20. — Zinszahlungen der Konsumenten an Unternehmen 21. - Netto-Transferzahlungen an Ausländer

3.946,6 3.658,1 107,8 0,9

22. = persönliche Ersparnis 23. + Brutto-Ersparnis der Unternehmen

179,8 604,8

24. = private Brutto-Ersparnis insgesamt 25. + Ersparnis des Staates

784,6 -126,0

26. = Brutto-Ersparnis der Volkswirtschaft insgesamt

658,6

* einschließlich Bewertungskorrekturen auf Vorräte und Abschreibungen Quelle: Economic Report of the President, 1991 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1991), Tab. B-22, B-23, B26 und B-28.

2

Der in diesem Abschnitt beschriebene Weg vom Volkseinkommen in Zeile 8 zum persönlichen Einkommen in Zeile 16 ist wegen der Positionen in den Zeilen 9 bis 15 etwas komplizierter. Um z.B. die zurückbehaltenen Gewinne der Unternehmen aus dem Volkseinkommen herauszurechnen, wird so vorgegangen, daß zunächst alle Unternehmensgewinne in Zeile 9 abgezogen werden und dann der Teil der von den Haushalten als Dividenden erhaltene Teil in Zeile 14 wieder hinzugefügt wird.

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

105

Das verfügbare Einkommen, das 1990 3.946 Mrd. $ ausmachte, hatte einen Anteil von rund 72% am BSP in Höhe von 5.463 Mrd. $. Aus diesem verfugbaren Einkommen sparten die Haushalte lediglich 179 Mrd. $ oder 3,3% des BSP, eine im internationalen Vergleich sehr geringe Sparquote. Um die gesamte volkswirtschaftliche Ersparnis zu errechnen, müssen wir, wie in den letzten Zeilen von Tab. 4.1 geschehen, die Ersparnis der Unternehmen und des Staates hinzufugen. Die Ersparnis der Unternehmen machte 1990 605 Mrd. $ aus, so daß die gesamte private Ersparnis etwa 784 Mrd. $ oder 14,4% des BSP erreichte. Die private jVef/o-Ersparnis ergibt nach Abzug der Abschreibungen von der Brutto-Ersparnis einen Betrag von 208 Mrd. $; dies ist die Ersparnis, die nach Ersatz des während des Jahres abgeschriebenen Kapitals verfügbar ist. Die Quote der privaten Brutto-Ersparnis in den USA war in der Nachkriegszeit ziemlich stabil, wie aus Abb. 4-1 ersichtlich, in der die Ersparnis der Haushalte, der Unternehmen und die Gesamtersparnis jeweils als Anteil am BIP dargestellt ist. Die private Ersparnis bewegte sich in jedem Jahr nach 1948 zwischen 15 und 20%, mit Ausnahme der Jahre 1987 und 1990, in denen die Quote 14,8 bzw. 14,5% betrug. Die persönliche Sparquote verringerte sich in der Mitte der 80er Jahre um einige Prozentpunkte, während die Unternehmensersparnis verglichen mit der vorangegangenen Dekade um etwa einen Prozentpunkt zunahm. 3 In der Periode 1985-1989 wies der Staatssektor (Bund, Einzelstaaten und Kommunen) in den USA eine negative Ersparnis auf, d.h. die staatlichen Ausgaben überstiegen die Einnahmen, so daß der Staat sich verschulden mußte, um seine Ausgaben zu decken. Insgesamt betrug die staatliche Ersparnis 1990 - 1 2 6 Mrd. $ gegenüber -105 Mrd. $ im Jahr zuvor. Wenn wir dieses Entsparen von der privaten Ersparnis in Höhe von 784 Mrd. $ abziehen, so ergibt das für 1990 eine volkswirtschaftliche Gesamtersparnis von 658 Mrd. $ oder rund 12% des BSP. Die USA sparen einen vergleichsweise geringen Teil ihres Brutto-Sozialprodukts, wie der internationale Vergleich in Tab. 4-2 zeigt. Von den aufgeführten Ländern hatte nur Argentinien eine geringere Sparquote von ledig3

Wegen möglicher Ermittlungsfehler und der Kürze der Periode, über welche die Verschiebungen der Sparquote beobachtet wurden, sollten wir die jüngsten Veränderungen nicht überinterpretieren. Es gibt tatsächlich Gründe, an der Zuverlässigkeit der Daten z u zweifeln, und zwar sowohl w e g e n der tatsächlichen Erfassung als auch w e g e n konzeptioneller Probleme. Das wichtigste konzeptionelle Problem besteht darin, daß die Sparquote durch die Daten unterschätzt wird : weil sämtliche Ausgaben für langlebige Konsumgüter (wie z.B. Autokäufe) dem Konsum zugerechnet werden, obwohl diese Ausgaben, wie wir später in diesem Kapitel erläutern werden, zum Teil auch als eine Form von Investitionsausgaben angesehen werden können.

106

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

lieh 10,3% im Jahr 1989. Die ostasiatischen Volkswirtschaften Koreas, Japans und Indonesiens bilden eine eigene Liga, als sie mehr als 30% des BSP sparen. Wir werden später sehen, daß diese hohen Sparquoten auf die großen Handelsüberschüsse dieser Länder und deren hohe Wachstumsraten zurückzuführen sind.

Privat

Haushalte



Unternehmen

p = vorläufig

Abb. 4-1: Private Brutto-Ersparnis in den USA, 1940-1990 {Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-8

undB-28.)

In diesem Kapitel wollen wir uns noch zwei weiteren Schlüsselfragen zuwenden. Die erste lautet: Was bestimmt die Entscheidung der Haushalte bei gegebener Höhe des verfügbaren Einkommens zu sparen und zu konsumieren? Wie berühren insbesondere Veränderungen des Einkommens und der Zinssätze das gewünschte Niveau des Konsums und der Ersparnis in einer

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

107

Periode? Die zweite ist: Welcher Zusammenhang zwischen der Ersparnis der Unternehmen und der Haushalte determiniert das Niveau der gesamten privaten Ersparnis? Sobald wir den Staatssektor in Kapitel 7 in unsere Analyse einbeziehen, können wir die Beziehung zwischen staatlicher und privater Ersparnis untersuchen. Die Zusammenhänge zwischen Konsum und Sparen und anderen makroökonomischen Variablen, wie etwa Wachstum, Investition und Produktionsniveaus werden in nachfolgenden Kapiteln aufgegriffen. Tab. 4-2: Volkswirtschaftliche Brutto-Sparquoten im Ländervergleich 1989 (in % des BIP) Japan Deutschland Großbritannien Frankreich Italien Indonesien Südkorea Argentinien Brasilien

34,91 25,82 16,6 21,1

21,5> 32,5 36,5 10,3 21,5

1

Inländische Brutto-Ersparnis in % des BIP (volkswirtschaftliche Brutto-Erspamis nicht verfügbar. 2

1988 (Daten für 1989 nicht verfügbar).

4-2 Die Basiseinheit: Der Haushalt Zu Beginn wollen wir zu verstehen lernen, wie die Konsum- und Sparentscheidungen eines Haushalts oder einer Familie aussehen. Da der Haushalt traditionell die Basiseinheit der Analyse ist, werden auf dieser Ebene viele Daten erhoben und nicht auf der Ebene der Individuen, die den Haushalt bilden. Obwohl ein Haushalt aus einer Person oder mehreren Mitgliedern bestehen kann, ist es üblich, diesen als eine einzige Handlungseinheit zu betrachten mit einem wohldefinierten Satz an Zielen, die in einer Nutzenfunktion des Haushalts zusammengefaßt sind. Wir wollen mit einem sehr einfachen Modell beginnen, in dem es nur eine Güterart Q mit einem festen Preis von 1 gibt. Ein solches Gut nennen wir ein numéraire, da alle Maße des Einkommens, der Ersparnis usw. in Einheiten dieses Gutes ausgedrückt sind. Später werden wir diese Variablen in monetären Einheiten, wie etwa Dollars, messen. Da wir unsere Analyse jedoch mit einer nicht-monetären Wirtschaft beginnen, müssen wir die Schlüsselvariablen statt dessen in Einheiten des Outputs Q ausdrücken. Selbstverständlich können wir uns Q als ein "zusammengesetztes Gut" vor-

108

TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

stellen, wie etwa eine Einheit des realen BSP, das viele unterschiedliche Formen des Outputs einschließt. Wir nehmen an, ein Haushalt erzeuge einen Outputstrom Qj, Q2, • • • ,Qj über T Perioden und verbrauche die Menge Q , C 2 , . . . ,Cj. Sofern der Haushalt isoliert lebt, und sofern der Output nicht lagerfähig ist, hat der Haushalt keine andere Wahl, als in jeder Periode genau das zu konsumieren, was er produziert oder einen Teil des Outputs ungenutzt zu lassen. Unter der Annahme, daß ein höherer Konsum besser ist als ein geringerer (d.h. der Haushalt ist mit seinem Konsum von Q nicht saturiert), wird der Haushalt einfach nach der Regel C\ = Q\, C2 = Q2 usw. konsumieren. Falls das Gut lagerfähig ist, kann der Haushalt sein Verbrauchsmuster verbessern, indem er einen Teil des Outputs in einigen Perioden lagert und in anderen Perioden aus dieser akkumulierten Ersparnis konsumiert. Wenn der Haushalt z.B. Cj < Q\ verbraucht und die Differenz aufspart, dann wird es in der nächsten Periode möglich, C2 > 02 7X1 haben, da der Haushalt nicht nur das konsumieren kann, was in Periode 2 produziert, sondern auch Teile dessen, was in Periode 1 angespart wurde. Die Entscheidung, einen Teil des Outputs der ersten Periode aufzuheben , stellt eine Ersparnis (in dem Sinne, daß der Output größer ist als der Konsum) und eine Investition in physische Vorräte dar. Wir wollen letztere für den Rest des Kapitels ausklammern und in Kapitel 5 wieder aufgreifen. Selbst wenn der Output Q nicht lagerfähig ist, kann der Haushalt dennoch sparen, falls er mit anderen Haushalten über einen Markt für Finanzaktiva verbunden ist. Für den Moment wollen wir nur eine Form von Finanzaktiva, nämlich ein Wertpapier, betrachten. Jedes Wertpapier, das in der laufenden Periode zum Preis von 1 erworben wird, bringt seinem Besitzer (1 + r) in der nächsten Periode ein. Mit anderen Worten: der Besitzer des Wertpapiers erhält einen Ein-Perioden-Zinssatz r und die Rückzahlung der Wertpapiersumme. Bei Existenz solcher Finanzaktiva kann der Konsum des Haushalts von seinem Einkommen in einer Periode abweichen. Wenn er mehr verdient, als er verbraucht, dann sammelt er Wertpapiere an, die er später zum Zwecke eines höheren zukünftigen Konsums verkaufen kann. Verbraucht der Haushalt mehr als er verdient, so muß er Verkäufe aus seinem Wertpapierbestand tätigen oder sogar eine negative Wertpapierhaltung eingehen (in diesem Fall ist er gegenüber anderen Haushalten ein Schuldner). Die Fähigkeit, via Wertpapiere Kredit aufzunehmen und zu vergeben, erweitert ganz wesentlich die den Haushalten offenstehenden Möglichkeiten, ihre Konsumprofile im Zeitverlauf an jeden gegebenen Zeitpfad des Outputs anzupassen. Wie

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

109

wir später erkennen werden, erhöht diese Möglichkeit den Wohlstand des Haushalts. Selbst in diesem einfachen Rahmen müssen wir sorgfältig zwischen dem Einkommen und dem Output des Haushalts unterscheiden. Der Output der laufenden Periode ist einfach Q; das Einkommen schließt andererseits die Zinseinnahmen für zuvor angesammelte Wertpapiere ein. Der von den Haushalten am Ende der vorangegangenen Periode gehaltene Wertpapierbestand sei mit B_i bezeichnet. Es ist zu beachten, daß diese Wertpapierhaltung in Einheiten des Outputs gemessen wird, so daß die Größe B_ j den Wert der am Ende der Vorperiode gehaltenen Wertpapiere in Einheiten des Outputs Q angibt. Die Zinseinnahme ist rB_\. Das Haushaltseinkommen einer Periode Y ist definiert als Summe aus dem Output der Periode und den Zinseinnahmen aus dem Wertpapierbestand am Ende der Vorperiode; diesen Bestand besitzt der Haushalt zu Beginn der laufenden Periode, in der der Zins gezahlt wird: Y=Q + rB_x

(4.1)

Die Differenz zwischen dem Output (Q) und dem Einkommen (7) entspricht den Einnahmen aus den Finanzaktiva des Haushalts. Der Wertpapierbestand des Haushalts entwickelt sich im Zeitablauf nach Maßgabe des Saldos zwischen Einkommen und Konsum. Konsumiert der Haushalt mehr als es seinem laufenden Einkommen entspricht, nehmen seine Wertpapierbestände ab. Ist umgekehrt der Konsum geringer als das Einkommen, so nimmt der Bestand an Wertpapieren zu. Dies faßt Gleichung (4.2) zusammen: B = B_X +(Y-Q

= B_l +{Q + rB_x -Q

(4.2)

Wir ersehen aus (4.2), daß B höher sein wird als wenn der Haushalt mehr verdient als er konsumiert; im umgekehrten Fall wird B geringer sein als B_j. Da die Ersparnis definiert werden kann als Differenz zwischen Einkommen und Konsum, S = Y - C, entspricht die Akkumulation von Wertpapieren in einer Periode exakt der Ersparnis in dieser Periode: B-B_X=S

(4.3)

4-3 Intertemporale Budgetbeschränkung Wir wollen unsere Diskussion unter Verwendung unseres formalen Modells fortsetzen für den Fall, daß die Haushalte zwei Perioden bestehen. Diese Perioden müssen nicht notwendigerweise gleich lang sein; wir können uns vielmehr vorstellen, daß die erste Periode die "Gegenwart" und die zweite Periode die "Zukunft" ist. (Es ist im übrigen zweckmäßig, die Periode 0 als

110

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

"Vergangenheit" zu bezeichnen.) Auf dem abstrakten Niveau dieser Erörterung müssen wir hinsichtlich der Zahl der Jahre, die jede Periode umfaßt, nicht präzise sein. Dieser vereinfachte Rahmen, der als Zwei-Perioden-Modell bekannt ist, hat den Vorteil, die meisten der interessanten intertemporalen Aspekte wirtschaftlicher Entscheidungen in einfacher Weise einzufangen. (Sobald wir uns empirischen Untersuchungen zuwenden, werden wir zu einer realistischeren Mehr-Perioden-Fassung zurückkehren.) Budgetbeschränkung in einem Zwei-Perioden-Modell Anfanglich unterstellten wir, daß die Haushalte aus der Vergangenheit keine Aktiva erben (BQ = 0) und auch am Ende ihrer Existenz keine Aktiva hinterlassen (B2 = 0)- Im Moment vernachlässigen wir jedes Motiv, einer künftigen Generation ein Erbe zu hinterlassen und schließen zudem aus, daß ein Individuum verschuldet stirbt (d.h. der Fall 52 < 0 ist ausgeschlossen). Unter diesen Annahmen entspricht die Ersparnis der ersten Periode dem Wert der Wertpapiere am Ende der Periode 1, da ß j - BQ = = S\ ist. Analog gilt -B\ = S2 wegen B2 - B\ = und ß 2 = 0- Wir erkennen, daß die Ersparnis der ersten Periode (gleich B\) dem entgegengesetzten Sparen der zweiten Periode S2 (gleich -B\) entspricht. Dies zeigt uns ein wichtiges Ergebnis: beginnen die Haushalte ohne Aktiva und enden sie auch ohne Aktiva, dann entspricht ihr Sparen in der ersten Periode genau ihrem Entsparen in der zweiten Periode (S2 = -5]). Mithin besteht die Entscheidung der Haushalte nicht darin, ob sie sparen oder Kredit aufnehmen, sondern darin, wann sie sparen und wann sie sich verschulden. Falls die Haushalte sparen, wenn sie "jung" sind (in Periode 1) dann entsparen sie, wenn sie "alt" sind (in Periode 2) und umgekehrt. Aus unserer Definition des Sparens folgt: Sl = Yl-Cl=Ql-Cl=Bl

(4.4)

S

(4.5)

2

= Y

2

- C

2

= Q2 + RBX-C2

Da S2 = —S1 ist, können wir die Gleichungen (4.4) und (4.5) kombinieren, um C j - g ] = Q2 + r(Q\ - C\) - C2 zu erhalten, oder nach Umformung C

1+

(1 + r)

= öl

+

= w

(1 + r)

\

(4-6>

wobei W für das Vermögen steht. Gleichung (4.6) stellt die intertemporale Budgetbeschränkung des Haushalts dar. Sie besagt, daß der Gegenwartswert des Konsums gleich dem Gegenwartswert des Outputs sein muß. Letzterer kann auch verstanden werden als das Vermögen des Haushalts (W\) zu Beginn der ersten Periode (bevor über den Konsum in Periode 1 entschieden ist). Die mit dieser Gleichung

111

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

demonstrierte grundlegende Bedingung erscheint auch intuitiv einleuchtend. Die Haushalte können in einer Periode mehr konsumieren, als es ihrem Einkommen entspricht. Aber sie können über ihre gesamte Lebenszeit nicht mehr konsumieren, als ihre Ressourcen dies zulassen; und bisher unterstellen wir, daß sie nicht weniger als ihre Ressourcen über die Lebenszeit verbrauchen, um ein Erbe zu hinterlassen. Die obige Bedingung macht deutlich, daß eine Familie sich für jede Kombination des Konsums im Zeitablauf (Cj und C 2 ) entscheiden kann, solange der Gegenwartswert des Konsums gleich dem Gegenwartswert des Einkommens ist. Haushalte können über ihre Lebenszeit gesehen nicht über ihre Verhältnisse leben, auch wenn das nicht für jede Periode gilt.4 Wir können nun zwei wichtige Erweiterungen dieses Zusammenhangs vornehmen. Falls ein Haushalt zu Beginn seiner Existenz über Aktiva verfugt, weil er beispielsweise eine Erbschaft erhalten hat, dann verfügt er über mehr Ressourcen während seiner Lebenszeit. Die Budgetbeschränkung ändert sich dann zu: C\ + T ^ T = (1 + r)Bo + ö + 7 ^ - r (1 + r) (1 + r)

(4.7)

wobei (1 + R)Bo der Wert der Erbschaft BQ in der ersten Periode einschließlich der Wertpapiertilgung und der Zinszahlung rBQ ist. Falls der Haushalt nicht nur zwei, sondern viele Perioden existiert, muß die Budgetbeschränkung natürlich erweitert werden zu: c , C, + • 2 0 + r)

,

C

T

(1 + r)T-

+ (1+O*o + ö . + t(1 t+ V r) ••• 7(l + r)=y

4

1

*

(4 8)

-

Man kann die Budgetbeschränkung auch so schreiben, daß sie der aus der Standard-Konsumtheorie bekannten Fassung eher entspricht. Es sei Pi der Preis des Konsums der zweiten Periode, ausgedrückt in der Konsumgröße der ersten Periode. Um den Konsum in der zweiten Periode um eine Einheit zu erhöhen, ist es erforderlich, den Verbrauch in der ersten Periode um 1/(1 + r) einzuschränken (es ist mit anderen Worten notwendig, die Ersparnis in diesem Umfang zu erhöhen); also gilt: P2 = 1/(1 + r). Der in Größen des Konsum der ersten Periode ausgedrückte Preis des Konsumgutes der ersten Periode ist offensichtlich gleich 1. Damit erhalten wir ein System von Preisen (die "intertemporale Preise" genannt werden können, da sie die Güterpreise der zweiten Periode in Größen der Güterpreise der ersten Periode ausdrücken), bei deren Verwendung wir die Budgetbeschränkung als P\C\ + P2C2 = P\Q\ + P2Q2 schreiben können, und diese sieht aus wie die übliche Budgetbeschränkung der Konsumenten.

112

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Diese Beziehung ergibt sich aus der wiederholten Verwendung von Gleichung (4.2) für t Perioden (t = 1 , 2 , . . . , 7). 5 Wollen die Haushalte der nächsten Generation ein Erbe hinterlassen, dann werden sie während ihrer Lebenszeit nicht ihr gesamtes Vermögen aufbrauchen. Wenn BQj- die Erbschaft am Ende der Periode T ist, dann bleibt die Definition des Vermögens in Gleichung (4.8) unverändert, aber der abdiskontierte Wert des Konsums wird gleich W\ - BQj/( 1 + r) 7 ^ 1 gesetzt. Graphische Darstellung der Budgetbeschränkung Das Zwei-Perioden-Modell hat den Vorzug, auf einfache Weise graphisch dargestellt werden zu können. In Abb. 4-2 sind auf der horizontalen Achse die Variablen der Periode 1 und auf der vertikalen Achse die der zweiten Periode abgetragen. Der Punkt A repräsentiert die Ausstattung, d.h. eine bestimmte Kombination des Haushaltsoutputs in der ersten und zweiten Periode. Anders gesagt, zeigt der Punkte das geordnete Paar ( g 1 ; Q2).

Abb. 4-2: Graphische Darstellung der Budgetbeschränkung

5

Setzen wir den Ausdruck B\ = Q\ + (1 + r)B0 - C\ in ß 2 = 0 2 + ( 1 + r ) B \ ~ ein, so erhalten wir B2 = 0 2 + (1 + r)(8l ~ Ci) + (1 + r)2B0 - C2. Wenn wir diesen Ausdruck dann in Bj = Qj + (1 + r) BJ-CT, einsetzen und diese Vorgehensweise bis BT= Qj+ (1 + r)Bj^\ - Cj für T > 3 fortsetzen und Bj = 0 setzen, erreichen wir schließlich einen Ausdruck, der nach Umformung der Formel (4.8) entspricht.

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

113

Die graphische Darstellung der Budgetbeschränkung ist einfach, sofern wir diese in C2 = Ö2 ~~ 0 + r )C\ + (1 + O ö i umschreiben. Offenbar ist die Budgetbeschränkung eine durch den Punkt ( ß j , Qj) verlaufende Gerade mit der Steigung - ( 1 + r). Sie zeigt alle möglichen Konsumkombinationen (Cj, C2), die mit der intertemporalen Budgetbeschränkung konsistent sind; der Haushalt kann also jedes auf dieser Geraden liegende Konsumpaar wählen. Er kann zukünftiges Einkommen auf die Gegenwart verschieben, indem er zum Zinssatz r Kredit aufnimmt, oder gegenwärtigen Output auf die Zukunft, indem er zum Zinssatz r Kredit gewährt. Daher bringt r die Möglichkeiten des Marktes zum Ausdruck, durch die Haltung von Finanzaktiva gegenwärtigen Konsum in zukünftigen Konsum zu verwandeln und umgekehrt. Entscheidet sich der Haushalt zum Konsum in Punkt A in Abb. 4-2, so verschuldet er sich in der ersten Periode, da C A \ > Q\. Am Ende der ersten Periode ist der Haushalt also ein Netto-Schuldner. Folglich muß CA2 geringer sein als (wie aus der Abbildung ersichtlich ist), weil die Schuld zurückgezahlt werden muß. Die abwärts verlaufende Gerade zeigt mithin den grundlegenden intertemporalen trade o f f . Sofern ein Haushalt sich dazu entschließt, den gegenwärtigen Konsum zu erhöhen, so kann er das bei gegebenem Pfad des Outputs nur zu Lasten des zukünftigen Verbrauchs tun. An einem Punkt wie B beschränkt der Haushalt im Gegensatz dazu seinen Konsum in der ersten Periode {CB\ < Q\ ), um in Zukunft mehr verbrauchen zu können. Der abdiskontierte Wert des Konsums ist an dem mit W\ bezeichneten Schnittpunkt der Budgetgeraden mit der horizontalen Achse ablesbar. Da =

öl

+

02^0

+ r

) 'st> stellt dies das Vermögen des Haushalts dar. 6

4-4 Die Entscheidung des Haushalts Bisher haben wir die Konsummöglichkeiten bestimmt, denen sich die Haushalte gegenübersehen, nicht aber erklärt, welche dieser Möglichkeiten sie bei ihren Konsumentscheidungen wählen. Diesem Entscheidungsprozeß wenden wir uns nun zu. Wir nehmen an, der Haushalt ziehe Nutzen aus dem Konsum in jeder Periode, und unterstellen ferner, daß das durch eine Kombination von C\ und C2 erreichte Nutzenniveau durch die Nutzenfunktion UL = UL{C\, C 2 ) charakterisiert wird. Wir gehen davon aus, daß der Haushalt zum Zeitpunkt 1

6

Um zu erkennen, daß der Schnittpunkt mit der X-Achse dem Vermögen entspricht, muß man daran denken, daß der Streckenabschnitt 0 W\ aus zwei Teilen zusammengesetzt ist: OlVi = OQi + Qi W\. Die Länge von 0Q, ist einfach Q\ und die von Q, Wx ist Q2!(1 + r).

114

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

diejenige Kombination von Cj und C 2 wählt, die den höchsten Wert des Nutzens erbringt, soweit nur Q und C 2 auf der Budgetgeraden liegen. Die intertemporale Nutzenfunktion UL(CH C 2 ) hat dieselben Eigenschaften wie jede andere Nutzenfunktion, die uns aus der Konsumtheorie vertraut ist. So ist UL(C\, C 2 ) eine in C\ und C 2 steigende Funktion, da sich der Haushalt besser stellt, wenn er mehr statt weniger von C\ oder C 2 hat. Und wie bei jeder anderen Standard-Nutzenfunktion besteht der einfachste Weg zur graphischen Darstellung ihrer Eigenschaften darin, die Indifferenzkurven des Haushalts abzubilden. 7 Betrachten wir in Abb. 4-3 die Konsumpunkte (Cj, C 2 ), die zu einem gegebenen Nutzenniveau von ULQ fuhren. Was wir getan haben, ist nichts anderes, als den Satz von Punkten ULQ = U(C\, C 2 ) zu zeichnen, mit dem Ergebnis, daß die Indifferenzkurve für ULQ abwärts verläuft und eine konkave Krümmung hat. Es ist wichtig, diesen Verlauf zu verstehen. Angenommen, wir befänden uns im Punkt A mit ULQ = UL{CA\, CAJ)- Nun wollen wir sehen, was geschieht, wenn dem Haushalt von Cj etwas weggenommen wird, aber genügend von C 2 hinzugefugt wird, um den Nutzen auf ULQ ZU halten. Dies könnte zu einer Bewegung zum Punkt B führen, mit weniger von Cj und mehr von C 2 als in Punkt A. Die Indifferenzkurve verläuft abwärts, weil der Haushalt mehr von C 2 erhalten muß, damit er sich nach dem Verlust von C\ nicht schlechter stellt. Die konkave Krümmung ergibt sich aus dem Umstand, daß die Menge, um die C 2 bei gegebener Verringerung von Q erhöht werden muß, von der ursprünglichen Kombination von CJ und C2 in einer ganz bestimmten Weise abhängt. An einem Punkt wie A bringt die Indifferenzkurve zum Ausdruck, um wieviel C 2 zunehmen muß, um den Haushalt für eine kleine Verringerung von CJ ZU entschädigen. Dieses Verhältnis -(AC 2 )/A(CJ) wird als Grenzrate der Substitution bezeichnet (man beachte, daß diese durch das vorangehende Minuszeichen als eine positive Zahl definiert ist). Die grundlegende Annahme lautet, daß die Grenzrate der Substitution abnimmt, d.h. der absolute Wert der Steigung nimmt ab, wenn man sich auf der Indifferenzkurve in südöstlicher Richtung bewegt. Wie also verhält sich der Haushalt? Wenn er plant, wenig in der laufenden Periode und viel in der Zukunft zu konsumieren, wie dies in Punkt B der Fall ist, so muß er erheblich mehr zukünftigen Konsums erhalten, um sogar für einen geringen Verlust an gegenwärtigem Konsum entschädigt zu werden. Da der gegenwärtige Verbrauch C\ bereits relativ gering ist, ist der 7

Zu einer umfassenden Diskussion der Indifferenzkurven und deren Verwendung in der Konsumentenanalyse vgl. Paul Samuelson und William Nordhaus, Economics (New York: McGraw-Hill, 1989).

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

115

Haushalt nicht geneigt, diesen noch weiter einzuschränken. An einem Punkt wie C widmet der Haushalt andererseits den größten Teil des Konsums bereits der Gegenwart und nur wenig der Zukunft. In diesem Fall ist er eher bereit, eine Einheit heutigen Konsums zugunsten eines geringen Zuwachses künftigen Konsums aufzugeben. Die abnehmende Grenzrate der Substitution fuhrt also zu dem in der Abbildung gezeigten konkaven Verlauf der Indifferenzkurve.

\



/ UL,

Abb. 4-3: Indifferenzkurven des Haushalts

UL0

Periode 1

In Abb. 4-3 ist der Budgetbeschränkung eine Indifferenzkurvenschar hinzugefügt. Es ist zu beachten, daß wir mit der Bewegung über die Indifferenzkurven in nord-östlicher Richtung (wie durch den Pfeil angedeutet) zu einem höheren Nutzen des Haushalts gelangen. Dieser maximiert seinen Nutzen, indem er die Indifferenzkurve mit dem höchsten Nutzen sucht, die die Budgetgerade berührt. Die Lösung wird in Abb. 4-3 dort gegeben, wo die Budgetgerade in Punkt A eine Tangente zur Indifferenzkurve bildet. Jede andere Indifferenzkurve, die die Budgetgerade berührt, bedeutet ein geringeres Nutzenniveau; und jede andere Indifferenzkurve, die ein höheres Nutzenniveau als UL\ repräsentiert, ist unerreichbar. Betrachten wir die spezifische Lösung, die in Abb. 4-4a dargestellt ist: im Punkt A übersteigt der Konsum der ersten Periode den Output, so daß der Haushalt ein Netto-Schuldner ist. In der zweiten Periode muß er weniger verbrauchen, als es seinem Einkommen entspricht, damit er die in der ersten Periode eingegangene Schuld zurückzahlen kann. Abb. 4-4b zeigt den Fall eines Haushalts, der in der ersten Periode Kredit gibt und daher in der Lage ist, in der zweiten Periode mehr zu verbrauchen, als es dem Einkommen

116

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

entspricht. Es ist einsichtig, daß ein Haushalt, der seinen Konsum auf die zweite Periode konzentriert, ein Netto-Gläubiger ist, während ein Haushalt, der vermehrt in der ersten Periode konsumiert, zu den Netto-Schuldnern gehört.

Abb. 4-4: (a) Netto-Schuldner; (b) Netto-Gläubiger Damit erkennen wir, daß der Konsum C\ bei gegebenem Niveau des laufenden Einkommens Y\ nicht nur vom gegenwärtigen, sondern auch vom zukünftigen Einkommen abhängt. Der Verbrauch hängt ferner ab vom Zinssatz, der die Steigung der Budgetgeraden bestimmt, sowie von den Präferenzen des Haushalts, durch die der Verlauf der Indifferenzkurven determiniert wird. Für die Abb. 4-4a und 4-4b gilt im übrigen, daß der Haushalt besser gestellt ist, wenn er am Wertpapiermarkt Kredit aufnimmt oder gewährt, statt in finanzieller Isolation (oder "Autarkie") zu verbleiben. Ohne den Wertpapiermarkt (oder einen anderen Finanzmarkt, der die Kreditaufnahme oder -vergäbe ermöglicht) kann der Haushalt in jeder Periode lediglich seinen Output verbrauchen. Wir können das Nutzenniveau, das ein isolierter Haushalt erreichen kann, bestimmen, indem wir die durch den Ausstattungspunkt E verlaufende Indifferenzkurve suchen. In beiden Abbildungen repräsentiert diese Indifferenzkurve ein niedrigeres Nutzenniveau als jenes, das dadurch erreicht wird, daß der Wertpapiermarkt zur Kreditaufnahme oder -vergäbe genutzt wird. Die Verwendung von Finanzaktiva erhöht also den Wohlstand des Haushalts, weil dadurch eine intertemporale Umverteilung des Konsums

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

117

ermöglicht wird. Dies sind die grundlegenden Vorstellungen, die im weiteren Verlauf des Kapitels fortentwickelt werden.

4-5 Die Konsumtheorie des permanenten Einkommens Eine der wichtigsten Implikationen des Zwei-Perioden-Modells ist, daß der Konsum des Haushalts nicht allein vom laufenden, sondern auch vom erwarteten zukünftigen Einkommen abhängt. Präziser gesagt: der Konsum dieses Jahres sollte abhängig sein von einem "durchschnittlichen" Niveau des für dieses Jahr und für künftige Jahre erwarteten Einkommens. Diese grundlegende Idee wurde 1950 erstmals von dem mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Ökonomen Milton Friedman entwickelt, der den Begriff des permanenten Einkommens zur Kennzeichnung des durchschnittlichen Einkommens, das der Haushalt über einen langen Zeithorizont erwarten sollte, verwendete. Das Modell des permanenten Einkommens wurde in Friedmans klassischer Studie A Theory of the Consumption Function aus dem Jahr 1957 erstmals vorgestellt. 8 Der Ausgangspunkt von Friedmans Modell ist, daß Haushalte eine Glättung ihres Konsums über die Zeit anstreben; sie ziehen einen stabilen Konsumpfad einem instabilen vor. (Technisch gesehen, ergibt sich dies aus der abnehmenden Grenzrate der Substitution zwischen laufendem und zukünftigem Einkommen, die den Indifferenzkurven, wie wir bereits wissen, eine konkave Krümmung verleiht.) So ist beispielsweise in Abb. 4-4b das Nutzenniveau aus dem Konsum in B (wo sich Cj und C2 nahezu entsprechen) offensichtlich höher als in D (wo C j erheblich größer ist als C2). Da das Einkommen von Jahr zu Jahr schwankt, werden die Haushalte nach unseren bisherigen Überlegungen die Finanzmärkte nutzen, um einen einigermaßen stabilen Konsum gegenüber den Rückschlägen eines fluktuierenden Einkommens aufrechtzuerhalten. Betrachten wir z.B. den Fall eines Bauern, dessen Einkommen in der Erntezeit hoch, im übrigen Jahr jedoch sehr gering ist. Es erscheint unwahrscheinlich, daß der Bauer wünscht, seinen Konsum der Saison entsprechend variieren zu lassen: hoher Konsum zur Erntezeit, vernachlässigbar geringer im restlichen Jahr. Er wird vielmehr versuchen, den Konsum über den Jahresverlauf auszugleichen, indem er während der Erntesaison spart, um in der übrigen Zeit zu entsparen bzw. mehr konsumieren zu können, als es seinem Einkommen entspricht. Der Bauer erlebt ferner deutliche jährliche Schwankungen seines Einkommens in Abhängigkeit von den Wetterbedingungen und den Getreidepreisen. Wiederum versucht er angesichts dieser Fluktua-

8

Dieses Buch erschien bei Princeton University Press, Princeton, N e w Jersey.

118

TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

tionen, den Konsum anzugleichen. In guten Jahren spart er, in schlechten entspart er, um so einen stabilen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Nach dem Modell des permanenten Einkommens reagiert der Konsum auf das permanente Einkommen (Yp), das als eine Art Durchschnitt aus gegenwärtigem und zukünftigen Einkommen definiert ist. So wird Yp insbesondere für einen Haushalt mit schwankendem Einkommensstrom verstanden als das konstante Niveau des Einkommens, das dem Haushalt die gleiche intertemporale Budgetbeschränkung auferlegt, wie er sie bei fluktuierendem Einkommensstrom hätte. Mathematisch können wir wie folgt vorgehen: die intertemporale Budgetbeschränkung des Haushalts lautet (im Zwei-Perioden-Beispiel) C\ + C2/O + r) = Q\ + Qi!{\ + r), wobei sich Q\ und Q2 gewöhnlich unterscheiden. Wir suchen nun nach einem Wert für Yp, der dem Haushalt die gleichen intertemporalen Konsummöglichkeiten erlaubt wie bei einem Output, der in jeder Periode Yp entspricht. Offenbar muß Yp die Gleichung (4.9) erfüllen:

0+0

0+0

Gleichung (4.9) kann nach Yp aufgelöst werden Y = P

(1 + r )

(2 + 0

Ol (1+0.

(4.10)

Ö1+-

Das permanente Einkommen entspräche für den speziellen Fall, daß der Zinssatz gleich Null wäre (und die Haushalte in Periode 1 keinen Bestand an Finanzaktiva erbten) exakt dem Durchschnitt des gegenwärtigen und zukünftigen Outputs. 9 Aber im allgemeinen ist der Zinssatz nicht gleich Null, und daher sagen wir, das permanente Einkommen sei eine "Art" Durchschnitt des künftigen Outputs. Eine graphische Darstellung des permanenten Einkommens bietet Abb. 4.5. Um Yp zu finden, zeichnen wir eine 45°-Linie vom Koordinatenursprung zur Budgetgeraden. Der Wert von Yp liegt in Punkt A, dem Schnittpunkt dieser beiden Linien; dies ist der einzige Punkt, bei dem der Output 9 Falls es einen Anfangsbestand an Finanzaktiva gibt, muß die Gleichung der Budgetbeschränkung w i e in (4.7) entsprechend modifiziert werden. Das permanente Einkommen ergibt sich aus

(1 + r)

(1 + 0

Daher lautet die Gleichung für Y YP

=

0+0 (2 + 0 .

(l + /-)ß0 + a +

62 (1 + r).

119

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

beider Perioden gleich ist und der auf der Budgetgeraden liegt. Bei gegebenem Punkt der Ausstattung E gilt in diesem Fall, daß Q\ > Yp und Qj < Yp. In einem bedeutenden Spezialfall der Nutzenmaximierung versucht der Haushalt, einen vollkommen stabilen Konsumpfad aufrechtzuerhalten, so daß er in jeder Periode gleich viel verbraucht. In diesem Fall wird der Konsum exakt in Höhe des permanenten Einkommens Yp gewählt (Cj = C2 = Yp). Dann wird die Ersparnis durch die Lücke zwischen laufendem und permanentem Einkommen gegeben: $1 = 0 , - ^ = 0 2 - 1 ^

Periode

C,=QP ß,

Abb. 4-5: K o n s u m des

(4.11)

Haushalts und

permanentes Einkommen

In Abb. 4.5 ist die Budgetgerade tangential zur Indifferenzkurve an jenem Punkt, an dem die 45°-Linie die Budgetgerade schneidet. Der Konsum ist in beiden Perioden gleich hoch und entspricht dem permanenten Einkommen Yr

Dieser spezielle Fall eines gleichen Konsums in jeder Periode gilt nur fiir besondere Formen der Nutzenfunktionen, aber gleichwohl haben die dahinterliegenden Gedanken allgemeinere Gültigkeit. 10 Die Haushalte entschei-

10

Die Nutzenfunktion muß so beschaffen sein, daß die Budgetgerade zur Indifferenzkurve auf der aus dem Ursprung kommenden 45°-Linie tangential ist. (In diesem Fall erfordert der optimale Konsum, daß Cj = C2). Eine mathematisch bedeutende Klasse von Nutzenfunktionen, die diese Eigenschaft besitzen, werden als "isoelastische Nutzenfunktionen" bezeichnet. Ein Beispiel ist die logarithmische Funktion

l/I(C1,C2) = log(C,) +

1 0+8).

log(C2)

120

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

den über die Konsumniveaus auf der Grundlage ihres permanenten und nicht ihres laufenden Einkommens. In dem Maße, wie das laufende Einkommen den Durchschnitt übersteigt, sparen sie diese Differenz. Im umgekehrten Fall werden sie entsparen und im Blick auf ihr höheres zukünftiges Einkommen Kredit aufnehmen. Es erscheint nützlich, die Konsumeffekte dreier prototypischer Formen von Einkommensstörungen zu unterscheiden: temporäre gegenwärtige Schocks, permanente Schocks und antizipierte zukünftige Schocks. Bei einer vorübergehenden Störung (die wir für Zwecke der Diskussion als eine negative annehmen wollen) sinkt g j , während Q2 unverändert bleibt; ein permanenter Schock läßt und g 2 i m gleichen Umfang zurückgehen und im Falle einer antizipierten Störung bleibt Q\ unverändert, aber die Haushalte erwarten, daß Q2 sinken wird. Es erscheint einsichtig, daß die Haushalte in Reaktion auf einen temporären Schock entsparen, so daß C\ nicht so stark zurückgeht wie Q\\ an eine permanente Störung passen sie sich vollständig an, so daß C] und Q\ etwa im gleichen Ausmaß sinken und die Ersparnis weitgehend unverändert bleibt, und auf einen antizipierten Schock reagieren sie mit einer Erhöhung des laufenden Sparens, so daß Cj zurückgeht, obwohl sich Q\ nicht verändert. Diese Ergebnisse können im Sinne der Theorie des permanenten Einkommens nochmals wiederholt werden. Das permanente Einkommen wird durch einen temporären Schock nur geringfügig verändert, und daher reagiert der Konsum kaum. Wenn Q\ sinkt, wird die laufende Ersparnis reduziert. Durch eine anhaltende Störung geht das permanente Einkommen (näherungsweise) im Umfangs des Schock zurück; der Konsum sinkt deutlich und die Ersparnis verändert sich kaum. Infolge eines antizipierten Schocks wird das permanente Einkommen reduziert, obwohl der Output unverändert bleibt, wodurch ein Anstieg der Ersparnis hervorgerufen wird. Auf einem abstrakten Niveau erscheint die Theorie des permanenten Einkommens sehr überzeugend. Aber die Haushalte kennen im allgemeinen lediglich ihr laufendes Einkommen recht zuverlässig. Wie können sie einer Veränderung ihres Einkommens ansehen, ob es sich dabei um eine vorüberwobei 5 ein Parameter ist, der als "intertemporale Diskontierungsrate" bezeichnet wird. Wenn die Zeitdiskontierungsrate 5 dem Marktzinssatz gleich ist, dann hat die logarithmische Nutzenfunktion die Eigenschaft, tangential zu der aus dem Ursprung kommenden 45°Linie zu sein. Erhöht sich 5 relativ zu r, diskontieren die Haushalte den zukünftigen Konsum (sie bewerten ihn geringer) im Vergleich zum gegenwärtigen Konsum. Ist also 5 > r, dann erhöhen die Haushalte ihren Konsum in der ersten Periode, so daß dieser größer ist als das permanente Einkommen. Falls 8 < r, diskontieren sie ihren Konsum in der zweiten Periode in geringerem Maße; sie senken mithin ihren Verbrauch in der ersten Periode unter das permanente Einkommen.

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

121

gehende oder anhaltende Änderung handelt? Diese Frage fuhrt uns zu einem zentralen ökonomischen Thema, das wir in Kapitel 2 bereits einführten: die Rolle der Erwartungen. Bevor die Wirtschaftssubjekte Entscheidungen für die Zukunft fällen können, müssen sie nahezu immer Erwartungen über zukünftige ökonomische Variable bilden. Wirtschaftswissenschaftler haben bemerkenswerte Anstrengungen unternommen, um herauszufinden, wie dies geschieht. In seiner ursprünglichen Studie unterstellte Friedman, die Erwartungen über das zukünftige Einkommen würden gefunden über einen Mechanismus, den man als "adaptive" Erwartungsbildung bezeichnet. Dies bedeutet einfach, daß die Wirtschaftssubjekte ihre Schätzungen über das permanente Einkommen (7^) in jeder Periode anpassen ("adaptieren") auf der Grundlage vorangegangener Prognosen über Yp und der aktuellen Veränderungen des Outputs. Die in dieser Periode gebildete Erwartung über das permanente Einkommen Yep ist ein gewichteter Durchschnitt der Erwartung der letzten Periode Yep_ i und des laufenden Einkommens 7 dieser Periode, oder: Yep = aYep_l+(l-a)Y

(4.12)

Ökonomen empfanden diesem Ansatz als zunehmend unbefriedigender, wie bereits in Kapitel 2 erwähnt. Einerseits, weil er zu "mechanisch" ist, und andererseits, weil die Wirtschaftssubjekte größere Sorgfalt bei der Bildung ihrer Erwartungen über das Zukunftseinkommen aufwenden, als nur eine rekursive Formel zu benutzen. Dies hat viele Wirtschaftswissenschaftler dazu bewogen, sich dem Ansatz rationaler Erwartungen zuzuwenden, bei dem von der Annahme ausgegangen wird, daß die Haushalte ein detaillierteres konzeptionelles Modell der Volkswirtschaft heranziehen, um ihre Erwartungen zu bilden. So mögen die Haushalte beispielsweise versuchen, ein numerisches Modell zu spezifizieren, das die Entwicklung des Einkommens in den künftigen Jahren auf der Basis ihrer spezifischen Kenntnis der Industrie und der Region, in der sie arbeiten, sowie der Gesamtentwicklungen der Volkswirtschaft ausweist. Obwohl Ökonomen Schwierigkeiten hatten, die Idee "rationaler" Erwartungen bei ihren Forschungen anzuwenden, basiert ein großer Teil der gegenwärtigen Studien zum Konsumverhalten auf diesem Ansatz; wir werden in diesem Buch häufig darauf zurückgreifen. In einigen Fällen ist freilich die Unterscheidung zwischen transitorischen und permanenten Einkommensänderungen nicht sonderlich schwierig. Denken wir an einen argentinischen Farmer, der in Patagonien Getreide anbaut. Infolge einer ungewöhnlichen Dürre in den USA 1988, die einen großen Teil der Getreideernte vernichtete, verdoppelten sich nahezu die Getreidepreise auf den internationalen Märkten. Die Getreideernte in Patagonien fiel 1988 ausgesprochen gut aus, und der argentinische Farmer erfreute sich mit

122

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

steigenden Weltmarktpreisen eines erheblichen Einkommenszuwachses. Da es unwahrscheinlich war, daß sich die Dürre in den USA (bei normaler Verteilung der Niederschläge) alsbald wiederholen würde, war die Annahme des Farmers vermutlich korrekt, daß ein beträchtlicher Teil seines Einkommens in 1988 einen transitorischen Charakter hatte. Nach der Theorie des permanenten Einkommens hätte dieser Farmer Veranlassung gehabt, den größten Teil dieses Zusatzeinkommens zu sparen. Empirische Befunde zum Modell des permanenten Einkommens Über einige Jahrzehnte hinweg und bereits vor dem Modell des permanenten Einkommens haben Ökonomen Konsum und Ersparnis auf empirischer Ebene untersucht, indem sie das Konsumverhalten einzelner Haushalte im Rahmen statistischer Stichproben sowie des Haushaltssektors anhand aggregierter Daten beobachteten. Die grundlegende Forschungsstrategie bestand darin, den statistischen Zusammenhang zwischen Konsum und Einkommen in der folgenden Form festzustellen: (4.13) C = a + cY Der dabei übliche statistische Ansatz ist die Regressionsanalyse, mit der die Parameter a und c unter Verwendung der Kleinste-Quadrate-Methode geschätzt werden. Die für die Regressionsanalyse von Gleichung (4.13) benutzten Daten können die Konsum- und Einkommensgrößen eines bestimmten Jahres aus einer großen Haushaltsstichprobe einschließen. Oder sie können die entsprechenden Größen für mehre Jahre aus einer Stichprobe oder den Aggregaten des Konsums und des Einkommens des Haushaltssektors unter Verwendung der Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wie sie in Tab. 4-1 ausgewiesen sind, beinhalten. Ein besonderes Interesse galt der statistischen Schätzung des Parameters c in der obigen Gleichung. Dieser wird als marginale Konsumneigung (MKN) bezeichnet und mißt die Zunahme des Konsums bei einer Steigerung des Einkommens um einen Dollar. Es wird vermutet, daß 0 < c < 1 ist, so daß der Konsum zwar mit den steigenden Einkommen zunimmt, aber in geringerem Maße als das Einkommen selbst. Wir wissen aus der theoretischen Diskussion, daß der Wert von c abhängig ist von dem Einkommensmaß, das wir für die statistische Schätzung von (4.13) verwenden. Betrachten wir beispielsweise das Zwei-Perioden-Modell. Angenommen, die Nutzenfunktion sei derart, daß die Haushalte einfach ihr permanentes Einkommen verbrauchen: C] = Yp\. Wenn wir eine Gleichung unter Verwendung von Haushaltsdaten schätzen, indem wir für jeden Haushalt eine Regression von C\ auf dessen permanentes Einkommen vornehmen, so sollten wir erwarten, daß sich für a = 0 und für c = 1 ergibt. Mit an-

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

123

deren Worten: der Schnittpunkt der Geraden wäre bei 0 und die Steigung gleich 1. Wenn wir andererseits eine Regression von C\ auf das laufende Einkommen jedes einzelnen Haushalts vornehmen, dann sollten wir mit einer Schätzung für c von kleiner 1 rechnen, insbesondere weil YP

=

(1 + 0

(2 + r).

Ö1 +

Ol (1+0.

und da Cj = Yp ist, gilt C,

(1+0

(2 + r).

01 +

(2 + 0 .

02

(4.14)

Für einen gegebenen Wert von Q2 erkennen wir, daß die marginale Konsumneigung in bezug auf das laufende Einkommen (1 + r)/(2 + r) ist, und diese ist offenbar kleiner als 1. Wenn Ökonomen den Zusammenhang zwischen C] und Q\ schätzen, dann finden sie gewöhnlich eine marginale Konsumneigung von kleiner als 1 und einen positiven Achsenabschnitt. Bevor Friedman sein Modell des permanenten Einkommens vorstellte, verwendeten die Forscher im allgemeinen das laufende Einkommen als Variable in der Regressionsanalyse, und sie fanden tatsächlich eine marginale Konsumneigung, die kleiner als 1 war und einen positiven Abschnittskoeffizienten a. Aber viele Ökonomen zogen aus diesem Ergebnis einen falschen Schluß, indem sie argumentierten, daß die Haushalte, wenn sie reicher würden, mit einer marginalen Konsumneigung von kleiner als 1 zu einer Erhöhung ihre Sparquoten neigten.11 Simon Kuznets, der später mit dem Nobelpreis geehrt wurde, fand jedoch heraus, daß die Sparquote in den USA über ein Jahrhundert hinweg nicht zugenommen hatte. Dies schien der Vorstellung von einer marginalen Konsumquote von kleiner als 1 zu widersprechen. 12 Friedmans Theorie des permanenten Einkommens mit ihrer Implikation, daß die Sparquoten mit einem Anstieg des temporären Einkommens zunehmen und nicht mit einer Erhöhung des permanenten Einkommens, löste dieses Paradoxon. Die neue Theorie vermittelte die wesentliche Einsicht, daß die MKN aus dem laufenden Einkommen erheblich geringer ist als jene aus dem permanenten Einkommen. Jüngere empirische Konsumforschungen, die deutlich ausgefeiltere ökonometrische Verfahren anwenden, stützten diese Theorie. 1 1 Angenommen, es gelte C = a + bY. Die Ersparnis ist S = Y - C und die Sparquote s = S/Y = (1 - b) - alY. Wenn Y zunimmt, steigt die Sparquote maximal auf 1 - b.

Simon Kuznets, National Income, a Summary of Findings (New York: National Bureau of Economic Research, 1946).

124

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Die MKN aus dem laufenden Einkommen wurde auf 0,2 bis 0,3 geschätzt, während die MKN aus dem permanenten Einkommen, wie erwartet, als nahe bei 1 liegend ermittelt wurde. 13 Die permanente Einkommenshypothese hat einige weitere Implikationen für die empirische Forschung. Erstens sollten wir erwarten, daß die gemessene MKN aus dem laufenden Einkommen geringer ist bei Haushalten mit stark schwankendem Einkommen als bei solchen mit stabilen Einkommen. Im ersten Fall signalisiert eine Veränderung des laufenden Einkommens wahrscheinlich wenig über eine Änderung des permanenten Einkommens, während im zweiten Fall eine Veränderung des laufenden Einkommens vermutlich auch als Zeichen für eine Änderung des permanenten Einkommens angesehen wird. Friedman selbst hob in seiner ursprünglichen Studie hervor, daß dies erkläre, warum Farmer (deren Einkommen von Jahr zu Jahr stark variiert) tendenziell niedrigere marginale Konsumneigungen aufweisen als städtische Lohnbezieher (deren Einkommen nicht wegen der Witterungsbedingungen stärkeren Schwankungen ausgesetzt ist). Zweitens haben jüngere Haushalte aus einem ähnlichen Grund tendenziell niedrigere marginale Konsumneigungen als ältere Haushalte: eine Veränderung des laufenden Einkommens hat auf das permanente Einkommen eines jüngeren Haushalts geringere Wirkung als bei einem älteren. Eine weitere neuere Anwendung des Modells des permanenten Einkommens wird in der "random-walk"-Konsumfunktion Robert Halls von der Stanford Universität sichtbar. 14 Hall zeigte, daß unter bestimmten Bedingungen die Schätzung eines Haushalts bezüglich seines permanenten Einkommens in diesem Jahr auch die beste Vorhersage desselben im nächsten Jahr ist. Dies heißt, daß der Haushaltskonsum in diesem Jahr ( Q auch die brauchbarste Prognose für den Konsum im nächsten Jahr sein sollte; oder, um es anders auszudrücken, der Verbrauch des nächsten Jahres C+j sollte C entsprechen zuzüglich einer Zufallsgröße (e+i), die sich ergibt aus unerwarteten Schocks des nächsten Jahres, welche die Schätzungen des Haushalts hinsichtlich seines permanenten Einkommens berühren. Aus dieser Einsicht 13

Diese Ergebnisse sind in zwei Aufsätzen enthalten: Marjorie Flavin, "The Adjustment o f Consumption to Changing Expectations About Future Income", Journal of Political Economy, Oktober 1981 s o w i e Robert Hall und Frederick Mishkin, "The Sensitivity of Consumption to Transitory Income: Estimates from Panel Data on Housholds", Econometrica, März 1982. Eine Stützung der Theorie des permanenten Einkommens findet sich femer in früheren empirischen Arbeiten wie z.B. bei Robert Eisner, "The Permanent Income Hypothesis: Comment", American Economic Review, Dezember 1958. 14 R. Hall, "Stochastic Implications of the Life Cycle - Permanent Income Hypothesis: Theory and Evidence", Journal of Political Economy, Dezember 1978. Dieser sehr technische Originalbeitrag hat eine bemerkenswerte Forschung inspiriert.

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

125

heraus testete Hall einige Implikationen der permanenten Einkommens-Hypothese, indem er untersuchte, inwieweit C+\ = C + ein brauchbares Konsummodell liefert. 15 Er fand eine gewisse Bestätigung für die Hypothese, daß der Konsum des nächsten Jahres eng mit dem diesjährigen Konsum verbunden ist; aber er fand auch - im Widerspruch zur Theorie - , daß andere laufende Variablen für eine Vorhersage des zukünftigen Konsums heranzuziehen sind. (Eine mögliche Ursache für die Diskrepanz ist die Existenz von Liquiditätsbeschränkungen bei der Kreditaufnahme der Haushalte, ein Thema, das wir später aufgreifen werden.) Gebrauchs- und Verbrauchsgüter Die Hypothese des permanenten Einkommens bezieht sich auf den Konsum, aber dieser entspricht nicht exakt den Ausgaben für Konsumgüter. Die Haushalte wollen einen stabilen Strom von konsumptiven Nutzungen erreichen, denn diese stellen für die Haushalte die Nutzenquelle aus einem bestimmten Gut dar. Einige Güter bieten nur konsumptive Nutzungen, während sie aufgebraucht werden - eine Mahlzeit, eine Zeitung, ein Wochenendurlaub. Andere wiederum ermöglichen den Haushalten Nutzungen über einen längeren Zeitraum. Autos, Fernsehgeräte und Kühlschränke können beispielsweise mehrere Jahre lang verwendet werden. Deshalb unterscheiden Ökonomen zwischen Verbrauchsgütern, die nur für kurze Zeit genutzt werden und Gebrauchsgütern, die viele Jahre halten. Der Konsum wird in angemessener Weise erfaßt als Summe der Ausgaben für Gebrauchsgüter zuzüglich des Stroms von Nutzungen, die sich aus dem existierenden Bestand an Gebrauchsgütern ergeben. Daher sind die laufenden Ausgaben für Gebrauchsgüter zumeist tatsächlich als Investitionsausgaben (eine Investition in künftige konsumptive Nutzungen) und nicht als Konsumausgaben anzusehen. Andererseits ergibt sich ein gewisser Konsum in jedem Jahr daraus, daß man sich der Nutzungen von Gebrauchsgütern erfreut, die in früheren Jahren erworben worden sind. Üblicherweise wird der Konsum mit den Konsumausgaben gleichgesetzt und nicht mit den konsumptiven Nutzungen, d.h. der Konsum wird mit den Ausgaben für Verbrauchs- und Gebrauchsgüter identifiziert statt mit den Ausgaben für Verbrauchsgüter zuzüglich der Nutzungen von Gebrauchsgütern. Bei einer korrekten Messung des Konsums werden die erfaßten Ausgaben korrigiert, indem man die Ausgaben für Gebrauchsgüter abzieht und den geschätzten Strom von Nutzungen aus dem existierenden Bestand an Gebrauchsgütern wieder hinzuzählt. (Diese Schätzung beruht auf der Annah15

Eine Gleichung der Form C + 1 = C + e + 1 wird technisch als ein "random-walk"-Modell

bezeichnet. Daher wurde Halls Theorie auch so benannt.

126

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

me, die Kosten von Gebrauchsgütern würden repräsentiert durch einen Strom von Nutzungen, der über eine Zahl von Jahren verteilt ist.) Die Hypothese des permanenten Einkommens findet ihre beste empirische Bestätigung, wenn das permanente Einkommen zu dem Strom konsumptiver Nutzungen anstatt zu den Konsumausgaben in Beziehung gesetzt wird. Dies ist leicht einzusehen. Betrachten wir einen Haushalt, der alle fünf Jahre ein neues Auto kauft. Die Daten über seinen Konsum würden ein instabiles Muster zeigen, da die Ausgaben jedesmal, wenn ein neues Auto angeschafft wird, einen großen Sprung aufweisen. Oberflächlich sähe es dann so aus, als würde dieser Haushalt eine Glättung seines Konsums nicht vornehmen. Aber tatsächlich konsumiert er die "Nutzungen von Autos" in wesentlich stabilerer Weise. Auch wenn ein neues Auto möglicherweise höhere "Automobilnutzungen" erlaubt als ein altes, ist der Haushaltsverbrauch an Autonutzungen tatsächlich sehr viel gleichmäßiger, als es nach dem beobachteten Zyklus von Ausgaben für Autos den Anschein hat. Konsum und Steuern Bisher blieben die Steuern unerwähnt, aber diese haben in der Realität einen großen Einfluß auf die Konsum- und Sparentscheidungen. Wir werden die Steuern ausfuhrlich in Kapitel 7 behandeln, wenn wir die Rolle des Staates diskutieren. Im Augenblick genügt es, die Steuern bei der Bestimmung des verfugbaren Haushaltseinkommens zu berücksichtigen. Bei der Kommentierung von Tabelle 4-1 verwiesen wir auf die Zusammenhänge zwischen dem verfügbaren Einkommen (Yd), durch welches die Budgetbeschränkung des Haushalts bestimmt wird, und dem Gesamteinkommen oder BSP. Obwohl die Differenz zwischen Yd und BSP von vielen Faktoren beeinflußt wird, wollen wir uns auf die Rolle der von den Haushalten an den Staat gezahlten Steuern konzentrieren. Ziehen wir die Steuern von dem von den Haushalten in jeder Periode bezogenen Einkommen ab, so ändert sich die Budgetbeschränkung des Haushalts wie folgt:

(l + r)

(! + >")

(! + '')

wobei Qd\ und Qdj für den verfugbaren Output in Periode 1 bzw. 2 steht. Es ist zu beachten, daß Yd= Qd + rB_\ gilt, falls B_j nicht gleich Null ist. Höhere Steuern reduzieren den Konsum bei gegebenem Pfad des Outputs durch eine Verringerung des abdiskontierten Gegenwartswertes des den Haushalten verfügbaren Einkommens.16 Die Wirkung höherer Steuern T\ Steuern können ferner eine bedeutende Wirkung auf das Einkommen haben, indem sie die Motivation für Arbeit oder Freizeit und für Sparen oder Konsum bei einem gegebenen

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

127

auf C j hängt natürlich davon ab, ob die Steuererhöhung als eine vorübergehende oder anhaltende erwartet wird (ob sie im Zwei-Perioden-Modell eine oder zwei Perioden anhält). Eine transitorische Steuererhöhung vermindert das permanente Einkommen um das (1 + r)/(2 + r)-fache der Steueranhebung. Bei einer permanenten Steuererhöhung wird das permanente Einkommen um eben diese reduziert. Um dies zu erkennen, müssen wir lediglich auf Gleichung (4.10) zurückgreifen und die rechts stehenden Größen Q\ und Q2 als verfügbaren Output der Perioden 1 und 2 interpretieren. Diese theoretischen Aussagen haben praktische politische Implikationen, wenn der Staat versucht, die Konsumausgaben durch Steueränderungen zu beeinflussen. In den USA beabsichtigte 1968 die Regierung unter Präsident Johnson, den Konsum durch eine Steuererhöhung zu verringern, um nationale Ressourcen für höhere Militärausgaben während des Vietnamkriegs freizumachen. Es wurde ein temporärer Steuerzuschlag auferlegt, aber dieser verfehlte die beabsichtigte Nachfrageeinschränkung. Die Haushalte wußten, daß die steuerpolitische Maßnahme eine vorübergehende war, und deshalb hatte sie einen sehr geringen Einfluß auf den Konsum. Einer Schätzung zufolge lag der Konsumeffekt des temporären Steuerzuschlags sehr nahe bei eins, und dies bestätigt die Theorie. 17

4-6 Lebenszyklus-Modell des Konsums und der Ersparnis Das Lebenszyklus-Modell beruht ähnlich wie das Modell des permanenten Einkommens auf der Theorie, daß der Konsum einer bestimmten Periode von den Erwartungen über das Lebenseinkommen und nicht vom Einkommen in der laufenden Periode abhängt. Der besondere Beitrag der Lebenszyklus-Hypothese liegt in der Beobachtung, daß das Einkommen gewöhnlich in systematischer Weise über die Lebenszeit einer Person schwankt, und daß daher die persönliche Ersparnis entscheidend vom jeweiligen Status im Lebenszyklus bestimmt wird. Franco Modigliani, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1986, entwickelte gemeinsam mit Richard Brumberg und Albert Ando das Lebenszyklus-Modell in einer Reihe von Beiträgen aus den 50er und frühen 60er Jahren. 18 Modiglianis Nobel-Vorlesung "Life CyN i v e a u des verfügbaren Einkommens verändern. Wie werden auf diese Anreizeffekte in Kapitel 7 zurückkommen. 17

Vgl. Alan Blinder und Angus Deaton, "The Time Series Consumption Function Revisited", Brookings Papers on Economic Activity, 2: 1985. 18

Die klassischen Arbeiten sind Franco Modigliani und Richard Brumberg, "Utility Analysis and the Consumption Function: An Interpretation o f Cross-section Data", in: K. Kurihara, Hrsg., Post-Keynesian Economics ( N e w Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 1954) sowie Albert Ando und Franco Modigliani, "The Life-Cycle-Hypothesis o f Saving: Aggregate Implications and Tests", American Economic Review, März 1963.

128

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

cle, Individual Thrifit and the Wealth o f Nations" bietet einen Überblick über diese bedeutenden ökonomischen Beiträge. 19 Da junge Leute niedrige Einkommen haben, gehen sie häufig eine Verschuldung ein (sie entsparen), weil sie wissen, daß sie später in ihrem Leben mehr verdienen werden. Während ihres Arbeitslebens steigt das Einkommen und erreicht einen Gipfel etwa im mittleren Alter; sie zahlen ihre früher eingegangenen Schulden zurück und sparen für das Alter. Ist der Ruhestand erreicht, so sinkt das Arbeitseinkommen auf Null und die Wirtschaftssubjekte verbrauchen ihre akkumulierten Ressourcen. Dieses Muster ist in Abb. 4-6a dargestellt.

(a)

(b)

Abb. 4-6: Lebenszyklus-Hypothese des Konsums und Sparens Im Leben eines Individuums gibt es zwei Phasen des Entsparens: die frühen und die späteren Jahre. In Abb. 4-6b wird dieser Gedanke in der uns nunmehr vertrauten Darstellung des Zwei-Perioden-Modells abgebildet. Wenn wir die Periode 1 als Arbeitsphase und Periode 2 als Ruhestandsphase interpretieren, so ergibt sich dieselbe Schlußfolgerung. (Bedauerlicherweise ist die zwei-dimensionale Darstellung ungeeignet, noch eine dritte - die jüngere - Lebensphase abzubilden.) Die Wirtschaftssubjekte sparen während ihrer Arbeitsjahre, um für den Ruhestand vorzusorgen, und sie tun dies, weil das Einkommen in der ersten Periode höher ist als in der zweiten. (Anders gesagt: das Einkommen der ersten Periode ist höher als das permanente Einkommen.)

1 9 Die Nobel-Vorlesung ist eine aktuelle Darlegung der Theorie und der empirischen Evidenz der Lebenszyklus-Hypothese; vgl. American Economic Review, Juni 1986.

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

129

Der Konsum in der Ruhestandsphase wird finanziert sowohl aus der während der Arbeitsjahre akkumulierten Ersparnis als auch durch Transfereinkommen, die ältere Menschen vom Staat oder von ihren Kindern erhalten. Da kein organisiertes System von Einkommenstransfers der Kinder an die Eltern existiert, haben die meisten Länder ein indirektes Transfersystem zwischen Jungen und Alten, das über den Staat vermittelt wird. In den U S A zahlen junge Arbeitnehmer Sozialversicherungsabgaben, die sodann an Arbeitnehmer im Ruhestand weitergeleitet werden. Ein derartiges System hat wesentliche Konsequenzen für die Sparentscheidungen. Je großzügiger das Sozialversicherungssystem ist, um so weniger muß ein Haushalt während seines Arbeitslebens sparen, um für seinen Konsum in der Ruhestandsphase Vorsorge zu treffen. Dies kann sehr wohl zu einem Rückgang der Haushaltsersparnis und möglicherweise auch der aggregierten Ersparnis der Volkswirtschaft führen. In der Box 4-1 werden die Implikationen des Sozialversicherungssystems für die Ersparnis diskutiert, ein ökonomisches Forschungsthema von einiger Bedeutung. Wir wollen nun einige andere Implikationen der Lebenszyklus-Theorie erörtern. Im Falle eines in allen Perioden ausgeglichenen Konsums entspricht der Verbrauch dem permanenten Einkommen. Gemäß Gleichung (4.14) können wir C\ proportional zum Vermögen formulieren: C, =

(1 + 0 (2 + r).

a+

02

= k(r)Wl

(4.16)

Der Konsum ist folglich ein Teil des Vermögens mit dem Proportionalitätsfaktor (k) oder der marginalen Konsumneigung aus dem Vermögen in Abhängigkeit vom Zinssatz. In der Realität mag der Proportionalitätsfaktor k noch von anderen Dingen abhängen, etwa von der Zeitpräferenzrate und vom Alter der Individuen im Haushalt. Im Zwei-Perioden-Modell ist k = (1 + r)!{2 + r) und liegt zwischen 1/2 und 1. Mit größerer Periodenzahl wird k kleiner. Warum? Weil eine Zunahme des Vermögens um eine Einheit dann durch viele Perioden geteilt werden muß. Daher hängt die marginale Konsumneigung invers vom Alter des Haushalts ab, wobei ältere Haushalte einen größeren

Teil des Vermö-

gens in jeder Periode verbrauchen als jüngere Haushalte. Was für einen bestimmten Haushalt zählt, ist die Zahl der während des Planungshorizonts übrigbleibenden Perioden; bei älteren Haushalten ist der Planungshorizont im Durchschnitt gewöhnlich kürzer als bei jüngeren.

130

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

BOX 4-1: Sozialversicherung und Sparen Im Rahmen der Sozialversicherung leistet der Staat an Arbeitnehmer im Ruhestand Zahlungen, die aus Abgaben jüngerer Arbeitnehmer und (in manchen Ländern) aus den Erträgen früher erhobener und akkumulierter Abgaben finanziert werden. Indem die Notwendigkeit, für das Alter zu sparen, für die Arbeitnehmer verringert wird, können Sozialversicherungsprogramme die private Ersparnis reduzieren. Martin Feldstein von der Harvard Universität gehört zu den führenden akademischen Verfechtern dieser Position. Er veröffentlichte 1974 einen einflußreichen Aufsatz, in dem er geltend machte, daß das Sozialversicherungssystem der USA die private Ersparnis um etwa 50% verringert, wodurch der aggregierte Kapitalstock und Output reduziert wurden. 20 In späteren Studien blieb er dabei, daß der Effekt stark sei, wenn auch möglicherweise nicht so groß, wie ursprünglich angenommen. Feldsteins Ansicht findet nicht allgemeine Anerkennung. Einige empirische Forscher erklärten, daß sie einen schwächeren Effekt ermittelt haben, als von Feldstein angedeutet. Andere, wie Robert Barro von der Harvard Universität, machten zudem einige theoretische Vorbehalte geltend. Barro hat auf theoretischer Ebene gezeigt, daß die Haushalte, sofern sie erkennen, daß ihre Sozialversicherungsleistungen durch Abgaben, die ihren Kindern auferlegt werden, zu finanzieren sind, ihre Ersparnis erhöhen, um ihren Nachkommen ein höheres Erbe zu hinterlassen; sie überlassen ihnen insgesamt oder zum Teil das Einkommen, das sie zur Zahlung der Sozialversicherungsabgaben benötigen. In einem solchen Fall wird dem negativen Effekt auf die Ersparnis für den eigenen Ruhestand durch einen positiven Effekt in Form eines höheren Erbes entgegengewirkt. Dieses theoretische Argument, das als Barro-Ricardo-Äquivalenz bekannt ist, wird in Kapitel 7 erörtert. Die Evidenz dieses Themas ist außerhalb der USA alles andere als eindeutig. Zwei Studien, in denen für eine Reihe von Ländern ein Vergleich der Ersparnis angestellt wurde, fanden für die einschränkende Wirkung der Sozialversicherung auf die private Ersparnis nur eine geringe empirische Bestätigung. Feldstein zeigt sich aufgrund seiner eigenen internationalen Untersuchungen von der Gültigkeit seiner ursprünglich für die USA ermittelten Ergebnisse überzeugt. 21 Die Kontroverse ist bislang nicht entschieden. 20

Vgl. seinen Aufsatz "Social Security, Induced Retirement and Aggregate Capital Accumulation", Journal of Political Economy, September/Oktober 1974. 21

Die beiden skeptischen Aufsätze sind: R. Barro und G. MacDonald, "Social Security and Consumer Spending in an International Cross-section", Journal of Public Economics, Juni 1979 sowie F. Modigliani und A. Sterling, "Determinants of Private Saving with Special Reference to the Role of Social Security - Cross-country Tests", in: F. Modigliani und R. Hemming, Hrsg., The Determinants of National Saving and Wealth (London: Macmillan,

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

131

Evidenz des Lebenszyklus-Modells Modigliano und Ando lieferten einen der ersten empirischen Tests des Lebenszyklus-Modells in ihrer gemeinsamen Studie aus dem Jahr 1963.22 Sie führten die folgende Regression durch C = cxYd + k]W wobei Yd für das verfügbare Arbeitseinkommen und W für das Finanzvermögen stehen. Die Gleichung wurde unter Verwendung von Jahresdaten geschätzt. Wir würden erwarten, daß Cj kleiner als 1 ist, da q die marginale Konsumneigung aus dem laufenden Einkommen mißt. Ferner würden wir damit rechnen, einen Koeffizienten k\ zu erhalten, der ein wenig größer ist als der jährliche Zinssatz. Warum? Weil eine Person, die sich entsprechend der Lebenszyklus-Theorie so verhält, daß sie ihre Aktiva während der gesamten Lebenszeit verausgabt. Würde sie lediglich das Zinseinkommen in jeder Periode verbrauchen, so blieben ihre Aktiva bei Eintritt des Todes unangetastet; sie muß daher ein wenig mehr als die Zinseinnahmen verbrauchen. Ando und Modigliano schätzten den Wert von C\ auf 0,7 und den von ¿1 auf 0,06, und letzterer war etwas höher als der reale Jahreszinssatz. Die Ergebnisse von Ando und Modigliani waren ermutigend für die Lebenszyklus-Theorie. Weitere Tests erhärteten das Modell, ließen aber auch einige empirische Inkonsistenzen erkennen. Es scheint, daß die Haushalte während der Blüte ihres Arbeitslebens tatsächlich mehr sparen als in der Jugend oder im Alter 23 ; und zugleich scheinen die Älteren nicht sehr stark zu entsparen.24 Mit anderen Worten: sie lassen ihre Aktiva unangetastet und übertragen diese auf ihre Erben, statt ihr Vermögen während ihrer Lebenszeit für den Konsum zu verwenden. Daß die Alten es unterlassen, ihr Vermögen aufzubrauchen, bleibt eines der bedeutenden Beispiele, die im Widerspruch zur Argumentation des Lebenszyklus-Modells stehen. Die Rolle des Erbes Wenn Menschen sterben, hinterlassen sie ihren Kindern häufig Vermögen. Diese Vermögenstransfers werden als Erbe bezeichnet. Bevor wir dieses in die Lebenszyklus-Theorie einbeziehen, sind zwei Schlüsselfragen zu beant1983). Feldsteins Aufsatz: "Social Security and Private Saving: International Evidence in an Extended Life-Cycle Model", in: M. Feldstein und R. Inman, Hrsg., The Economics of Public Services (London: Macmillan, 1977). 22

Ando und Modigliano, "The Life-Cycle Hypothesis of Saving".

23

Vgl. a.u. Mervyn King und Louis Dicks-Mireaux, "Asset Holdings and the Life Cycle",

The Economic Journal, Juni 1982. 24

Zur Diskussion der Evidenz bezüglich des Entsparens der Älteren vgl. den exzellenten Überblicksartikel von Lawrence Kotlikoff, "Intergenerational Transfers and Savings", Journal of Economic Perspectives, Vol. 2, Frühjahr 1988, S. 41-58.

132

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

worten. Wodurch werden erstens Hinterlassenschaften motiviert? Und zweites, wie können diese in einer Theorie des Sparens berücksichtigt werden? Unter Ökonomen besteht keinesfalls Übereinstimmung über die Motivation von Hinterlassenschaften. Es gibt (wenigstens) vier grundlegende Denkrichtungen, von denen zwei den Eltern bestimmte Absichten bezüglich ihrer Nachkommen zuschreiben. Robert Barro hat neben anderen darauf hingewiesen, daß Menschen aus altruistischen Gründen ein Erbe hinterlassen - sie sorgen sich um ihre Kinder und versuchen, deren Wohlergehen durch Einkommenstransfers zu steigern. Douglas Bernheim, Andrei Schleifer und Lawrence Summers argumentierten, Eltern ließen sich bei der Planung ihrer Hinterlassenschaft weniger von altruistischen Motiven leiten, sondern beabsichtigten, das Verhalten ihrer Kinder während der Lebenszeit der Eltern zu beeinflussen. ("Ich werde Dir mein Geld hinterlassen, wenn Du Dich um mich kümmerst, solange ich lebe".) Eine dritte Denkrichtung geht davon aus, daß Hinterlassenschaften im wesentlichen nicht beabsichtigt sind. Die Menschen wissen im allgemeinen nicht, wann sie sterben werden, und sie wollen für den Fall, daß sie deutlich länger als erwartet leben, möglichst viele Ressourcen zur Verfügung haben. 25 Falls die Lebenserwartung eines 65jährigen 80 Jahre ist, so wird diese Person genügend Vermögen halten, um beispielsweise bis zum 95. Lebensjahr überleben zu können. Offensichtlich will eine ältere Person wegen eines längeren als erwarteten Lebens keine Not leiden oder gar die Unbequemlichkeiten der Armut erleiden. Eine vierte Auffassung schließlich besagt, daß Vermögensakkumulation keinesfalls dem zukünftigen Konsum dient, sondern sehr einfach aus Machtund Prestigegründen geschieht. Die Vermögenden ziehen direkten Nutzen aus ihrem Reichtum, unabhängig davon, welcher Konsum aus dem Vermögen finanziert werden könnte. Diese Ansicht beinhaltet die unmittelbarste Herausforderung für den Lebenszyklus-Ansatz, da sie eine Theorie des Sparens nahelegt, die nicht direkt mit dem Konsum weder der gegenwärtigen noch der nachfolgenden Generationen verknüpft ist. Keynes beschrieb in diesem Sinne das Sparverhalten der Oberschicht des 19. Jahrhunderts in einer berühmten Sentenz seiner Economic Consequences of the Peace: 26

25

Die jeweiligen Ansichten sind in den folgenden Aufsätzen dargelegt: Robert Barro, "Are Government Bonds Net Wealth?", Journal of Political Economy, November 1974; Douglas Bernheim, Andrei Schleifer und Lawrence Summers, "The Strategie Bequest Motive", Journal of Political Economy, Dezember 1985; Andrew Abel, "Precautionary Savings and Unintended Bequests", American Economic Review, September 1985. John Maynard Keynes, The Economic Brace, and H o w e , 1920) S. 20.

Consequences

of the Peace ( N e w York: Harcourt,

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

133

"The duty of 'saving' became nine-tenth of virtue and the growth of the cake [national wealth] the objekt of true religion. ... And so the cake increased but to what end was not clearly contemplated. ... Saving was for old age or for your children; but this was only in theory, - the virtue of the cake was that it never to be consumed, neither by you nor by your children afiter you." Die Vorstellung, daß Eltern ihren Kindern aus altruistischen Gründen ein Erbe hinterlassen, könnte die Lebenszyklus-Theorie nachhaltig berühren. Barro hat eine mögliche Modifikation angeboten; er geht davon aus, daß der gegenwärtige Konsum vom erwarteten Einkommen der zukünftigen Generation beeinflußt werden kann. Nehmen wir an, ein Haushalt, der sich um seine Kinder sorgt, erhalte eine Nachricht, die die wirtschaftliche Zukunft der Kinder in einem düstereren Licht erscheinen läßt als bislang angenommen. In diesem Fall mag sich der Haushalt dazu entschließen, ein höheres Erbe zu hinterlassen, um seine Kinder für die möglichen Verluste zu entschädigen. Daher könnte, wie Barro zeigt, die angemessene Budgetbeschränkung des Haushalts nicht nur das Lebenseinkommen der gegenwärtigen Generation einschließen, sondern auch das der künftigen. Barros Argument formalisiert eine alte Idee, die nach den Forschungen des frühen britischen Ökonomen David Ricardo als Ricardianische Äquivalenz bezeichnet wird. Die Evidenz dieser geistreichen Idee ist umstritten - selbst Ricardo bezweifelte ihre Relevanz - , und jüngere Untersuchungen deuten daraufhin, daß sie nur ein geringes Maß an praktischer Bedeutung hat. (Wir gehen auf dieses Thema in Kapitel 7 genauer ein.) Die stärkste Herausforderung für die Lebenszyklus-Theorie auf empirischer Ebene geht auf Lawrence Kotlikoff und Lawrence Summers zurück. Auf der Grundlage von Messungen, die zeigten, daß ein großer Teil des Vermögens in den USA auf Erbschaften und nicht auf Ersparnisse im Lebenszyklus zurückzuführen ist, vertreten die Autoren die Ansicht, daß die Bedeutung der Lebenszyklus-Erwägungen zur Ersparnis überschätzt worden sei. 27 In seiner Nobel-Vorlesung ging Modigliani rasch zum Gegenangriff über, um die Bedeutung des (von ihm entwickelten) Lebenszyklus-Modells zu verteidigen. Er erklärte, daß in den USA viele alte Menschen ihre Vermögensaktiva zusammen mit denen ihrer Kinder in Stiftungen einbringen. Auch wenn diese Stiftungen anwachsen, sei es sehr wohl möglich, daß die Eltern weiterhin ihr eigenes persönliches Vermögen ausschöpfen oder nicht mehr als das Erbe zuzüglich der erzielten Zinsen übertragen. Die Frage der Bedeutung von Hinterlassenschaften für das Konsumverhalten über die Lebenszeit ist mithin noch ungeklärt. 27

Lawrence Kotlikoff und Lawrence Summers, "The Role of Intergenerational Transfers in Aggregate Capital Accumulation", Journal of Political Economy, August 1981.

134

TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

4-7 Liquiditätsbeschränkungen der Haushalte und Konsumtheorie Die moderne Theorie scheute keine Mühe, um die Schwächen einer so einfachen Verknüpfung zwischen dem laufenden Einkommen und dem Konsum, wie sie erstmals von Keynes vorgeschlagen wurde, herauszustellen. Und doch gehen einige wichtige Erwägungen davon aus, daß für viele Haushalte die von Keynes zurecht betonte enge Beziehung zwischen laufendem Einkommen und laufendem Verbrauch durchaus besteht. In dem Maße, wie den Haushalten der Zugang zur Kreditaufnahme versperrt ist, kann ihr Konsumverhalten tatsächlich mit dem gegenwärtigen und nicht mit dem zukünftigen Einkommen in Verbindung stehen. Haushalte, die sich nicht verschulden können und keinen Bestand an Finanzvermögen besitzen, werden als "in ihrer Liquidität beschränkt" bezeichnet, da sie nicht mehr ausgeben können, als sie in der laufenden Periode verdienen. Eine Liquiditätsbeschränkung kann ganz allgemein definiert werden als die Unfähigkeit bestimmter Individuen, sich gegenüber ihrem Zukunftseinkommen zu verschulden, weil die Gläubiger möglicherweise bezweifeln, daß sie ihre Schuld zurückzahlen. Theorien des intertemporalen Konsums gründen sich explizit auf die Annahme, daß sich die Wirtschaftssubjekte in den durch ihre Budgetbeschränkung über die Lebenszeit gezogenen Grenzen beliebig verschulden können. In dem Maße, wie zahlreiche Haushalte in ihrer Liquidität beschränkt sind, könnten diese Theorien ernsthaft in Frage gestellt werden. Stellen wir uns z.B. einen Studenten vor, der zu Recht glaubt, günstige Einkommensperspektiven zu haben. Wenn er sich um einen Kredit bemüht, kann er froh sein, ausreichende Mittel (vermutlich über ein vom Staat gefördertes Programm) zu erhalten, um sein Studium zu finanzieren, aber es wird ihm gewiß nicht gelingen, genügend Kredit zu erlangen, um seinen Lebensstandard auf das Niveau seines erwarteten permanenten Einkommens anzuheben. Auf Finanzmärkten wird normalerweise Kredit gegen Sicherheiten gewährt und nicht gegen die Aussicht auf ein zukünftiges Arbeitseinkommen. Studenten haben gewöhnlich kein Sachvermögen, mit dem sie ein Darlehen absichern könnten, und deshalb sind sie im allgemeinen nicht in der Lage, ausreichend Kredit aufzunehmen, um ihren Konsumstrom zu glätten. Empirische Studien belegen, daß Liquiditätsbeschränkungen für einen Teil der US-Bevölkerung von Bedeutung sind; einer Untersuchung von Fumio Hayashi zufolge trifft dies auf etwa 20% der Bevölkerung zu. 28 Für diese Gruppe ist der Konsum an das laufende verfügbare Einkommen ge28

F. Hayashi, "The Permanent Income Hypothesis: Estimation and Testing by Instrumen-

tal Variables", Journal

of Political

Economy, Oktober 1982.

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

135

bunden und nicht an das Vermögen über die Lebenszeit. Hayashi ermittelte, daß der Anteil der in ihrer Liquidität beschränkten Haushalte bei den jüngeren Haushalten höher ist als bei den älteren. Er schätzt, daß die Liquiditätsbeschränkungen den Konsum um etwa 5,5% unter das aufgrund des Lebenszyklus erwünschte Niveau senken. 29 Zu unserem Beispiel zurückkehrend, wollen wir annehmen, der Student erwarte, in 5 Jahren eine hohe Entlohnung zu erhalten. Ferner wollen wir z.B. seine Reaktion auf ein Erbe eines nahen Verwandten in Erwägung ziehen. Selbstverständlich werden seine Konsumausgaben erheblich über den von der Lebenszyklus-Theorie vorhergesagten Betrag hinaus zunehmen. Bedenken wir auch den Fall einer Steuersenkung, deren Rücknahme für die Zukunft erwartet wird, so daß der Gegenwartswert der Steuern unverändert bleibt. Dies wird den Konsum desjenigen, der sich entsprechend des Lebenszyklus-Modells verhält, nicht beeinflussen. Aber es wird die Verbrauchsausgaben eines in seiner Liquidität beschränkten Haushalts erhöhen.

4-8 Aggregierter Konsum und volkswirtschaftliche Sparquoten Wir haben unsere Theorie bisher sorgfältig auf das individuelle Verhalten beschränkt. Obwohl wir letzten Endes die Funktionsweise der Gesamtwirtschaft verstehen wollen, sind es schließlich die Verhaltensweisen individueller Haushalte, die wir aggregieren. Wir fahren nun mit der Zusammenfassung des Verhaltens von Millionen von Einzelhaushalten fort, um das aggregierte Konsumverhalten in einer Volkswirtschaft zu begreifen. Makroökonomen haben dieser Art der Forschungsstrategie, bei der zuerst das individuelle Verhalten untersucht, und dieses sodann zum Verständnis der gesamtwirtschaftlichen Vorgänge aggregiert wird, einen Namen gegeben: sie bezeichnen sie als "mikroökonomische Fundierung" makroökonomischer Variabler. Worin bestehen die Probleme einer Aggregation über die individuellen Haushalte zur gesamten Volkswirtschaft? Betrachten wir zunächst den einfachsten Fall. Wenn alle Haushalte eine identische marginale Konsumneigung (MKN) in bezug auf das permanente Einkommen aufweisen, dann ist der aggregierte Konsum gleich dieser MKN multipliziert mit dem gesamten permanenten Einkommen. In Gleichungsform geschrieben: falls C(- = cYpt für das Individuum i gilt und c für alle /' gleich ist, dann ist C = cYp, wobei 29

F. Hayashi, "The Effect o f Liquidity Contraints on Consumption: A Cross-sectional Analysis", Quarterly Journal of Economics, Februar 1985. Eine weitere interessante Studie zu diesem Thema stammt von Marjorie Flavin, "Excess Sensitivity of Consumption to Current Income: Liquidity Constraints or Myopia?", Canadian Journal of Economics, Februar 1985.

136

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

C die Summe des Verbrauchs aller Haushalte und Yp die Summe der Einkommen aller Haushalte bedeuten. Variiert die M K N jedoch über die Haushalte, und das ist im allgemeinen so, dann wird die Aggregation erheblich komplizierter. Wie wir bereits sahen, unterscheiden sich die Haushalte nicht nur in ihren Konsumpräferenzen bezüglich der Gegenwart und der Zukunft, sondern auch in ihren Lebensstadien. Eine Volkswirtschaft schließt sowohl junge Erwachsene in ihren Hauptarbeitsjahren ein, die eine geringe M K N haben, ein hohes Einkommen beziehen und Netto-Sparer sind, als auch alte Menschen, die eine hohe M K N bei geringem Einkommensniveau aufweisen und Netto-Entsparer sind. Mithin koexistieren junge Sparer mit älteren Entsparern. Die aggregierte Ersparnis der Volkswirtschaft wird bestimmt durch das Verhältnis zwischen Sparen und Entsparen im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Ökonomische Modelle, die das Nebeneinander von jungen und alten Haushalten hervorheben, werden als Modelle mit "überlappenden Generationen" bezeichnet. In einer Volkswirtschaft mit einer stabilen Verteilung von Jungen und Alten, ohne Wirtschaftswachstum pro Kopf (d.h. ohne Zunahme des Einkommens pro Person im Zeitablauf) und ohne Bevölkerungswachstum, heben sich die Ersparnis der Jungen und das Entsparen der Alten gerade auf. In diesem Fall ist die aggregierte Ersparnis der Volkswirtschaft selbst dann gleich Null, wenn die junge Generation für den Ruhestand spart, da die ältere Generation mit derselben Rate entspart. Die meisten Volkswirtschaften sind gekennzeichnet durch positives Wachstum der Bevölkerung und positives Wachstum des Outputs pro Kopf infolge technologischer Verbesserungen im Produktionsprozeß (eine Thematik, der wir uns bei der Untersuchung des wirtschaftlichen Wachstums in Kapitel 18 zuwenden). Jede Generation ist wohlhabender als die vorhergehende und zugleich zahlenmäßig größer. Die jungen Sparer sind daher, verglichen mit den alten Entsparern, im allgemeinen reicher und zahlreicher. Da die Ersparnis das Entsparen im Aggregat übersteigt, weist eine solche Volkswirtschaft eine positive Sparquote auf. Schneller wachsende Volkswirtschaften haben ceteris paribus (alles übrige unverändert) eine höhere Sparquote wegen ihrer Demographie, da die jungen Sparer zahlreicher und reicher sind als die älteren Entsparer. Selbst wenn alle Einzelhaushalte das gleiche Sparprofil über den Lebenszyklus haben, kann eine Volkswirtschaft wegen des schnelleren Bevölkerungswachstums und technischen Fortschritts von Generation zu Generation eine höhere gesamtwirtschaftliche Sparquote aufweisen.

137

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

Durch Nathaniel Leff wurde eine interessante empirische Debatte bezüglich der Rolle der Demographie für die aggregierte Ersparnis ausgelöst. In einem provozierenden Aufsatz veröffentlichte er 1969 erstmals den grundlegenden Befund, daß die aggregierte Ersparnis eines Landes um so geringer ist, je höher die Rate der Abhängigkeit (d.h. das Verhältnis der Rentner und der sehr Jungen zur Arbeitsbevölkerung) ist. 30 Er begründete dieses Ergebnis damit, daß eine Volkswirtschaft, die einen hohen Anteil von Rentnern und Jugendlichen aufweist, tendenziell einen hohen Anteil von Entsparern relativ zu den Sparern hat, wie wir soeben anmerkten. Leff testete diese Hypothese anhand der Sparquoten und demographischen Merkmale von 74 entwickelten und noch in der Entwicklung begriffenen Ländern und argumentierte, daß die grundlegende Hypothese in den Daten ihre Bestätigung fände. Andere an der Diskussion Beteiligte, die unterschiedliche Daten und statistische Tests verwendeten, stellten die Schlüssigkeit von Leffs Folgerungen in Frage. Das Thema bleibt - wie viele andere in der MakroÖkonomik auch - noch klärungsbedürftig. Trotz der reichhaltigen Modellierungen des Konsumverhaltens und der Forschungsergebnisse im Rahmen überlappender Generationen verbleibt als eine der großen ungeklärten Rätsel der Ökonomie die Frage, warum einige Länder eine hohe Rate der Ersparnis haben, während andere in so geringem Umfang sparen. Viele Analytiker versuchten zu erklären, warum beispielsweise die Sparquote in Japan verglichen mit jener der USA um so viel höher liegt. 31 Während 1987 der Anteil der inländischen Ersparnis am BIP in Japan bei 34% lag, war dieser in den USA bei nur 14%. Die Differenz in den Sparquoten wird teilweise darauf zurückgeführt, daß in den beiden Ländern unterschiedliche Messungen des Sparens vorgenommen werden, wodurch die Sparquote Japans überschätzt und die der USA unterschätzt wird. Die Haushalte in den USA verausgaben einen höheren Anteil ihres Einkommens für langlebige Konsumgüter. Diese Ausgaben werden üblicherweise als purer Konsum gewertet, nicht aber wenigstens teilweise als Investition. Falls der Konsum korrekt definiert wird, verkleinert sich die Lücke zwischen der Sparquote Japans und jener der USA. Aber auch nach der Korrektur der Definitions- und Datenprobleme bleiben die Unterschiede in den Sparquoten bei einem Vergleich entsprechender Altersgruppen in Japan und den USA im wesentlichen unerklärt.

30

Nathaniel Leff, "Dependency Rates and Saving Rates", American

Economic

Review,

September 1969. 31

Vgl. Fumio Hayashi, "Why Is Japan's Savings Rate So Apparently High?", in Stanley Fischer, Hrsg., Macroeconomics Annual ( N e w York: National Bureau o f Economic Research, 1986).

138

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Das Auseinanderfallen der Sparquoten könnte zum Teil darauf beruhen, daß die jüngeren Sparer wegen des rapiden Wirtschaftswachstums in Japan erheblich wohlhabender sind als die älteren Entsparer, wodurch die nationale Sparquote Japans erhöht wird. Einige Forscher hoben hervor, daß die Ersparnis durch das Steuersystem in Japan stärker gefördert werde als in den U S A und daß die geringere Reichweite des japanischen Sozialversicherungssystem einen weiteren Anreiz zur Sparsamkeit biete. Andere meinten, die hohe Sparquote Japans reflektiere z.T. die Notwendigkeit großer Ansammlung von Finanzaktiva zum Hauskauf, weil dies wegen der hohen Grundstückspreise und eines unzureichenden Marktes zur Hausfinanzierung in Japan notwendig sei. Letzten Endes aber bleibt die Bedeutung der verschiedenen Erklärungen für die Unterschiede in den Sparquoten zwischen den USA und Japan kontrovers. Ganz generell ist auch ein deutliches Bedürfnis nach zusätzlichen Erklärungen für die Differenzen des Sparverhalten im Ländervergleich zu erkennen.

4-9 Konsum, Sparen und Zinssatz Wir verlassen nun die Wirkungen von Einkommens- und Vermögensschwankungen auf Konsum und Sparen und wenden uns den Effekten von Veränderungen des Zinssatzes zu. Es gab eine lange Diskussion darüber, ob die Ersparnis mit steigendem Zinssatz zunimmt oder nicht. Häufig wird etwas naiv davon ausgegangen, daß mit einem Anstieg des Zinssatzes und damit des Sparertrags auch die Ersparnis zunehmen muß. Eine derartige Vorstellung ist allerdings unrichtig. Selbst auf der rein theoretischen Ebene ist der Zusammenhang zwischen Zinssatz und Sparquote erheblich komplexer. Nehmen wir einen Haushalt mit der Ausstattung E, der sich einem durch den Anstieg der Budgetgeraden in Abb. 4-7a gegebenen Zinssatz gegenübersieht. In der Ausgangslage wird der Konsum durch den Punkt A gegeben. Steigt der Zinssatz, so dreht sich die Budgetgerade im Uhrzeigersinn im Punkt E (d.h. die Budgetgerade wird steiler). Das neue Konsumgleichgewicht wird in Punkt A' erreicht, wobei - im Vergleich zum ursprünglichen Gleichgewicht - Q sinkt und C2 zunimmt. In der Abbildung finden wir den Fall, daß mit höherem Zinssatz der gegenwärtige Konsum ab- und die laufende Ersparnis zunimmt. Im Gegensatz dazu bringt in Abb. 4-7b dieselbe Zinserhöhung eine Zunahme des Konsums und daher eine Abnahme des Sparens hervor. Offensichtlich ist der Effekt eines Zinsanstiegs auf die Haushaltsersparnis nicht eindeutig.

139

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

(a)

(b)

Abb. 4-7: Wirkung einer Zinsänderung auf Konsum und Sparen Im Blick auf diese fehlende Eindeutigkeit erscheint es nützlich, den Effekt eines Zinsanstiegs in zwei Komponenten zu zerlegen: einen "Substitutionseffekt", durch den die Ersparnis immer erhöht wird, und in einen "Einkommenseffekt", durch den das Sparen erhöht oder vermindert werden kann. Diese beiden Effekte seien näher betrachtet. Wenn der Zinssatz steigt, erhöht sich der zukünftige Verbrauch, der durch zusätzliche gegenwärtige Ersparnis erreicht werden kann. Ein Rückgang von C\ und eine entsprechende Zunahme des Sparens im Umfang von A^i = - A C j führt zu einem Anstieg von C 2 in Höhe von (VASY). Der Zukunftskonsum wird verglichen mit dem Gegenwartskonsum "billiger", und deshalb substituieren die Haushalte den laufenden Verbrauch, um ihre geplanten zukünftigen Konsumkäufe zu erhöhen. Der reine Substitutionseffekt mißt die Veränderung des von den Haushalten geplanten Niveaus von C\ und C2 bei einer Änderung des Zinssatzes unter der Annahme, daß die Haushalte auf der ursprünglichen Indifferenzkurve verbleiben. Graphisch wird dieser "Substitutionseffekt" in Abb. 4-7a sichtbar durch die Bewegung entlang der ursprünglichen Indifferenzkurve von Punkt A, an dem die Steigung dem anfanglichen Zinssatz entspricht, zu Punkt B, wo die Steigung durch den neuen, höheren Zins gegeben wird. Die Richtung dieses Effektes ist eindeutig: höhere Zinssätze fuhren stets zu einer Verringerung von C j sowie zu einer Zunahme von C 2 und damit zu einem Anstieg von .

140

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Durch den Einkommenseffekt wird die Tatsache erfaßt, daß der Haushalt infolge einer Änderung des Zinssatzes in dem Maße reicher oder ärmer wird, als er ursprünglich ein Netto-Gläubiger oder Netto-Schuldner war. War der Haushalt anfänglich ein Netto-Gläubiger, so macht ihn eine Zinserhöhung reicher dank der Tatsache, daß der Haushalt unzweifelhaft fähig ist, sich bei unverändertem C\ ein höheres Niveau von leisten zu können. Wenn der Haushalt dagegen ursprünglich ein Netto-Schuldner war, so wird er durch eine Erhöhung des Zinssatzes insoweit eindeutig ärmer, als er sich bei unverändertem C\ das anfangliche Niveau von nicht länger leisten kann. Wir können den Einkommenseffekt in folgender Weise beschreiben: falls der Einkommenseffekt positiv ist und der Haushalt mithin reicher wird, dann wird er die Konsumniveaus C\ und C 2 erhöhen. Ist dagegen der Einkommenseffekt negativ, wodurch der Haushalt ärmer wird, so wird er C\ und C 2 reduzieren. Ein positiver Einkommenseffekt verringert daher die Ersparnis (wegen der Zunahme von Cj), während ein negativer Einkommenseffekt das Sparen (wegen der Abnahme von Cj) erhöht; der Einkommenseffekt steigert mithin die Sparquote eines Schuldners und verringert die eines Gläubigers. Graphisch kann dieser Effekt in Abb. 4-7 als Bewegung von Punkt B zu Punkt A' verstanden werden. Ist der Haushalt ein Netto-Gläubiger (Abb. 4-7b), so ist der Einkommenseffekt positiv und die Bewegung von B nach A' beinhaltet eine Zunahme von C\ (und einen Rückgang der Ersparnis). Für einen Netto-Schuldner-Haushalt (Abb. 4-7a) ist der Einkommenseffekt negativ und bedeutet einen Rückgang von C] (und folglich eine Zunahme der Ersparnis). Tab. 4 - 3 : Effekte einer Zinserhöhung auf die Ersparnis

Substitutionseffekt Einkommenseffekt Gesamteffekt

Netto-Schuldner

Netto-Gläubiger

+ + +

+ -

?

Wir können schließlich die Gesamteffekte einer Zinserhöhung zusammenfassen, wie in Tab. 4-3 geschehen. Der Substitutionseffekt führt stets zu einer Erhöhung des Sparens. Der Einkommenseffekt läßt die Ersparnis bei einem Netto-Schuldner zunehmen, bei einem Netto-Gläubiger abnehmen. Der Gesamteffekt einer Zinserhöhung besteht im Falle eines SchuldnerHaushalts unzweifelhaft in einem Anstieg der Ersparnis; bei einem Gläubi-

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

141

ger-Haushalt kann das Sparen zu- oder abnehmen (je nachdem, ob der Substitutions- oder der Einkommenseffekt überwiegt). Abb. 4-7a zeigt eindeutig die Zunahme der Sparquote für einen Netto-Schuldner 32 ; Abb. 4-7b zeigt den Fall, bei dem die Ersparnis für einen Netto-Gläubiger abnimmt. Was sollten wir hinsichtlich der Wirkung eines höheren Zinssatzes auf die aggregierte Ersparnis erwarten? Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß sich die Einkommenseffekte für Netto-Schuldner und Netto-Gläubiger auf aggregierter Ebene aufheben, so daß der Substitutionseffekt (der für alle Haushalte in die gleiche Richtung wirkt) dominiert. Aus diesem Grund können wir gewöhnlich annehmen, daß ein Anstieg des Zinssatzes den laufenden Konsum reduziert und die aggregierte Ersparnis erhöht, obwohl wir wissen, daß die Ersparnis bei manchen Gläubiger-Haushalten durchaus zurückgehen kann. Die Evidenz bezüglich des Zusammenhangs zwischen aggregierter Ersparnis und Zinssätzen ist jedoch alles andere als eindeutig. In einigen Arbeiten wurde eine klare Wirkung der Zinsen auf das Sparen in Entwicklungsländern ermittelt. 33 Für die USA ist die bekannteste Studie, die einen positiven Effekt des Zinssatzes auf die Sparquote zeigt, die von Michael Boskin. 34 In den meisten anderen Untersuchungen wurde hingegen eine geringe oder vernachlässigbare Wirkung aufgezeigt. Die Schwierigkeit mag darin bestehen, den Zinssatz korrekt zu messen - z.B. unter Berücksichtigung von Steuern, welche die Kosten der Kreditaufnahme und die Erträge der Kreditvergabe berühren - , wodurch die Analyse erheblich kompliziert wird. Dies allein könnte bereits erklären, warum die empirische Forschung zu diesem Thema so wenig eindeutig ist.

4-10 Sparen der Unternehmen und Haushalte: Theorie und empirische Evidenz In unserer Untersuchung des Sparverhaltens der Haushalte blieben die Unternehmen weitgehend ausgeklammert. Dies ist in einer Hinsicht recht problematisch. Bei den Erläuterungen zu Tab. 4-1 erwähnten wir, daß die private Gesamtersparnis der Summe aus der Ersparnis der Haushalte (die auch als 32

Es ist zu beachten, daß der Netto-Schuldner nach der Zinserhöhung zu einem NettoGläubiger wird, wie Abb. 4-7a zeigt. Das ist nicht notwendigerweise so. Die Abbildung hätte so angefertigt werden können, daß der Haushalt in der Position eines Netto-Schuldners verbleibt. 33

Vgl. beispielsweise Alberto Giovannini, "Savings and the Interest Rate in LDC's", World Development, Juli 1983. 34

Michael Boskin, "Taxation, Savings and the Interest Rate", Journal of Monetary mics, März 1982.

Econo-

142

TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

persönliches Sparen bezeichnet wird) und der Ersparnis der Unternehmen entspricht. Wir wiesen darauf hin, daß letztere in den U S A tatsächlich höher ist als erstere. Unsere weitgehende Vernachlässigung der Unternehmensersparnis läßt sich damit rechtfertigen, daß die Unternehmen letztendlich im Eigentum der Haushalte sind. Die gesamte private Ersparnis wird daher im Grunde durch das Verhalten der Haushalte bestimmt, so daß die Aufteilung des Sparens in jenes der Haushalte und der Unternehmen ein wenig künstlich wirkt. Zur Untersuchung dieses Problems wollen wir auf den Zwei-PeriodenRahmen zurückgreifen. Angenommen, ein Haushalt erhielte zusätzlich zu dem Output Q\ und Q2 von einem Unternehmen, dessen Eigentümer er ist, einen Zahlungsstrom von Dividenden DVj und DV2. Das Unternehmen erzielt die Gewinne Pr\ und Pr2 und zahlt diese zum Teil als Dividenden aus. Es möge sich dazu entscheiden, einen Teil der Gewinne in der ersten Periode zurückzubehalten

und in Wertpapieren Bß entsprechend der einfachen

Budgetbeschränkung Bß = Pr\ - DVj anzulegen. Die Ersparnis des Unternehmens Sß sei gleichgesetzt mit dem nicht ausgeschütteten Gewinn, so daß Sß = Bß = Pr\ - DV\ gilt. In der zweiten Periode sieht das Unternehmen keine Veranlassung, Gewinne zurückzubehalten und zahlt daher den gesamten Gewinn der Periode 2 als Dividende aus zuzüglich des Wertes der Wertpapiere und der daraus erzielten Einnahmen Dir2 = Pr2 + (1

+r)Bß.

Es läßt sich unschwer eine intertemporale Budgetbeschränkung für Dividenden unter Verwendung dieser neuen Zusammenhänge ableiten: DV,+

DF7 2_ = i V . +

(1 + r )

Pr2 —

(1 + r)

(4.17)

Die Budgetbeschränkung des Unternehmens hat offenbar dieselbe Form wie die des Haushalts: der abdiskontierte Wert der Dividenden muß gleich dem abdiskontierten Wert der Gewinne sein. Die Ersparnis des Unternehmens (Sß) ist, wie gerade erläutert, definiert durch die zurückbehaltenen Gewinne. Wir wollen nun prüfen, wie durch eine Veränderung des Sparens der Unternehmen die Ersparnis des privaten Sektors insgesamt beeinflußt wird. Die Budgetbeschränkung des Haushalts, der Eigentümer des Unternehmens ist, wird wie folgt erweitert: Das verfugbare Einkommen schließt nunmehr die vom Unternehmen erhaltenen Dividenden ein, also Yd\ = Q\+ DVj und Yd2 = Q2 + rB] + DV2. Für die Budgetbeschränkung des Haushalts gilt wie üblich, daß der abdiskontierte Wert des Konsums gleich dem abdiskontierten Wert des verfügbaren Einkommens ist:

(1 + r )

=

1

(1 + r )

+

1

(1 + r )

(4.18)

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

143

Unter Verwendung von (4.17) und (4.18) können wir die Budgetbeschränkung des Haushalts folgendermaßen formulieren: (1 + /-)

=

1

(1 + r)

+

1

(1 + r)

(4.19)

Es ist zu beachten, daß die Konsumentscheidung des Haushalts vom gesamten Gewinnstrom des Unternehmens abhängt, nicht jedoch davon, wann dieser in Form von Dividenden ausgezahlt wird. Deshalb ist die Sparentscheidung des Unternehmens selbst - also wann es Gewinne als Dividenden ausschüttet oder nicht - für die Konsumentscheidungen Cj und C j des Haushalts irrelevant. Überlegen wir nun, was mit der Sparquote geschieht, wenn das Unternehmen seine Sparentscheidung ändert. Wenn es einen zusätzlichen Dollar in der ersten Periode spart, statt diesen als Dividende auszuzahlen, so sinkt das verfügbare Einkommen das Haushalts um einen Dollar, da dieses als Summe aus dem Output des Haushalts und den erhaltenen Dividenden definiert ist. Für die Ersparnis des Unternehmens und des Haushalts gilt nunmehr: Sß = Pr] - DV]

(Unternehmensersparnis)

S] = Yd] - C, = Q\ + DV] - Cx

(Haushaltsersparnis)

(4.20)

Da C] von der Kürzung der Dividendenzahlung nicht berührt wird, ist klar erkennbar, daß die Ersparnis des Haushalts um eine Einheit zurückgeht, wenn die des Unternehmens um eine Einheit zunimmt. Die gesamte private Ersparnis, die der Summe aus Sj und Sß entspricht, bleibt unverändert. Daraus ergibt sich ein bemerkenswertes theoretisches Ergebnis. Wenn das Unternehmen sich entscheidet, einen zusätzlichen Dollar zu sparen, bleibt die gesamte private Ersparnis unverändert, weil die Haushalte darauf mit einer Senkung des persönlichen Sparens reagieren. Mit anderen Worten: falls die Unternehmen vermehrt sparen, sparen die Haushalte weniger, weil sie die Ersparnis der Unternehmens als ihre eigene betrachten. Diese Folgerung ist auf einen erhellenden Begriff gebracht worden. Wenn die Haushalte sich in ihrer eigenen Ersparnis an Veränderungen der Ersparnis des Unternehmens anpassen, so sagt man, sie blickten durch den "Schleier", der das Unternehmen umgibt, hindurch. Da die Haushalte Eigentümer der Unternehmen sind, werden ihre grundlegenden Konsumentscheidungen nicht von deren Ausschüttungspolitik berührt. Diese Vorstellung findet in den empirischen Belegen eine gewisse Bestätigung, wie auch ein Blick auf Abb. 4-1 zeigt. Während die private Brutto-Ersparnis (als Anteil am BIP) seit dem Zweiten Weltkrieg in den USA sehr stabil war, wies die persönliche Ersparnis und die der Unternehmen ei-

144

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

ne signifikant höhere Variabilität auf, was darauf hindeutet, daß Veränderungen des persönlichen Sparens tendenziell eine Kompensation von Änderungen der Unternehmensersparnis in dieser Periode darstellten. Diese oberflächliche Evidenz spricht für das obige Argument, daß die Haushalte in ihren Sparentscheidungen gleichsam auf die Unternehmen durchgreifen. Genauere Untersuchungen des Problems führten jedoch zu einer gewissen Einschränkung dieser Schlußfolgerung. Es wurde zwar ermittelt, daß Veränderungen der Unternehmensersparnis zu kompensierenden Effekten im persönlichen Sparen veranlassen, dies aber nur partiell. So fand beispielsweise James Poterba vom MIT für die USA heraus, daß eine Einschränkung der Unternehmensersparnis um einen Dollar das gesamte persönliche Sparen um 25 bis 50 Cents reduzierte. 35 Die Vorstellung eines Durchgriffs der Haushalte auf die Unternehmen ist zweifellos nur eine Approximation. Liquiditätsbeschränkungen, Steuerpolitik, unvollständige Informationen der Anteilseigner über die Ersparnis der Unternehmen und andere Formen von Unvollkommenheiten des Kapitalmarkts können das Ausmaß der Kompensation des Sparverhaltens durch die Haushalte faktisch begrenzen. Gleichwohl ist es wohl angemessen, die Ersparnis der Unternehmen in einer Theorie des privaten Sparens außer Betracht zu lassen und unsere Aufmerksamkeit im wesentlichen auf die Ersparnis der Haushalte zu richten.

4-11 Zusammenfassung Die moderne Analyse des Konsums und Sparens wurde initiiert durch John Maynard Keynes, der eine Konsumfunktion spezifizierte, welche den laufenden Konsum mit dem laufenden Einkommen verknüpft. Dieser bedeutende Fortschritt in der ökonomischen Analyse wurde später durch einen intertemporalen Ansatz zur Erklärung des Konsums und der Ersparnis verdrängt; einer Theorie, die hervorhebt, daß die Haushalte eine Aufteilung ihres Einkommens auf Verbrauch und Sparen vornehmen, um ihren Nutzen zu maximieren. Diese Entscheidung wird nicht allein vom laufenden Einkommen beeinflußt, wie im keynesianischen Modell, sondern auch durch das erwartete Zunkunftseinkommen sowie durch den Zinssatz. In der Wahl ihres Konsumpfades sind die Haushalte gebunden an die intertemporale Budgetbeschränkung, welche die Gleichheit fordert zwischen dem Gegenwartswert des Konsums und dem Gegenwartswert des von den Haushalten erstellten Outputs zuzüglich der anfanglich vorhandenen Finanzaktiva und abzüglich des Gegenwartswertes des von den Haushalten hinterlassenen Erbes. Vgl. seinen Aufsatz "Tax Policy and Corporate Saving", Brookings Papers on Activity, 2: 1987.

Economic

KAPITEL 4: KONSUM UND SPAREN

145

Das Zwei-Perioden-Modell, in dem unterstellt wird, daß die Haushalte nur für zwei Perioden existieren - die Gegenwart und die Zukunft vereinfacht die Analyse der intertemporalen Entscheidung. Dieses Modell erlaubt uns, das Konsumgleichgewicht durch eine Überlagerung der Indifferenzkurven des Haushalts mit der intertemporalen Budgetgeraden in graphisch anschaulicher Weise zu bestimmen. Eine Anwendung des intertemporalen Ansatzes liefert uns das Modell des permanenten Einkommens. Dieses stützt sich auf die grundlegende Beobachtung, daß die Haushalte einem stabilen Konsumpfad gegenüber einem instabilen den Vorzug geben. Da das Einkommen von Periode zu Periode Schwankungen aufweisen kann, ist es nicht das laufende, sondern das permanente Einkommen, eine Art Durchschnitt von gegenwärtigem und erwarteten zukünftigen Einkommen, durch das der Konsum bestimmt wird. Im Falle eines temporären Einkommensrückgangs verändert sich das permanente Einkommen nur wenig, und der Konsum nimmt nur unwesentlich ab. Da der Verbrauch angesichts eines Rückgangs des laufenden Einkommens nur in geringem Maße reduziert wird, sinkt die Ersparnis. Im Falle einer Abnahme des permanenten Einkommens - und zwar einer solchen, die als anhaltend betrachtet wird - geht der Konsum in annähernd gleichem Umfang zurück, während sich die Ersparnis nur wenig ändert. Da das zukünftige Einkommen jedoch nicht mit Sicherheit vorhersehbar ist, stellt die Bildung von Erwartungen einen kritischen Aspekt bei der Anwendung des Modells des permanenten Einkommens dar. Empirische Schätzungen der Konsumfunktion konzentrierten sich auf die Messung der marginalen Konsumneigung (MKN), die die Zunahme des Konsums bei einem Anstieg des Einkommens um einen Dollar zum Ausdruck bringt. In Übereinstimmung mit dem Modell des permanenten Einkommens weisen die empirischen Belege daraufhin, daß die MKN aus dem laufenden Einkommen erheblich geringer ist als die MKN aus dem permanenten Einkommen (die nahe bei eins liegt). Andererseits zeigen die empirischen Ergebnisse auch, daß für einen Teil der Haushalte der Konsum im wesentlichen durch das laufende und nicht durch das permanente Einkommen bestimmt wird; vermutlich deshalb, weil diese Haushalte sich einer Liquiditätsbeschränkung gegenübersehen, die ihre Fähigkeit begrenzt, sich gegenüber ihrem Zukunftseinkommen zu verschulden. Für derartige Haushalte ist der (herkömmliche) keynesianische Zusammenhang zwischen Konsum und laufendem Einkommen ausgesprochen eng. Das Lebenszyklus-Modell stellt eine spezifische Anwendung der intertemporalen Konsum- und Spartheorie dar. Sein besonderes Kennzeichen ist die Betonung des regelmäßigen Einkommensmusters über die Lebenszeit der meisten Haushalte. Da diese einen geglätteten Konsumpfad aufrechter-

146

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

halten wollen, entsparen sie in der Jugend (wenn das Einkommen gering oder gleich Null ist), sparen während der Arbeitsjahre (um die in der Jugend eingegangenen Schulden zu tilgen sowie Vermögen für das Alter anzusammeln) und entsparen im Alter. Empirische Belege stützen viele der wesentlichen Implikationen des Lebenszyklus-Modells, so auch die Tatsache, daß die MKN über den Lebenszyklus variiert; aber es verbleiben auch einige empirische Rätsel. So scheinen ältere Haushalte vor allem nicht in dem vom Lebenszyklus-Modell vorausgesagten Umfang zu entsparen, sondern große Teile ihres Vermögens an ihre Nachkommen zu vererben. Steuern haben einen wichtigen Einfluß auf den Konsum. Höhere Steuern vermindern den Gegenwartswert des verfügbaren Einkommens und damit auch den Konsum. Die Reaktion des Verbrauchs auf Steueränderungen hängt ganz wesentlich davon ab, ob diese als temporär oder permanent angesehen werden. Wie viele historische Beispiele belegen, reagiert der Konsum stärker auf solche Steueränderungen, die als dauerhaft wahrgenommen werden. Die Theorie des Konsums und Sparens gründet sich ganz überwiegend auf den individuellen Haushalt und wird sodann für die Volkswirtschaft verallgemeinert. Auf dem Wege der Analyse vom Einzelhaushalt zur Gesamtwirtschaft werden wir mit dem Problem der Aggregation konfrontiert. Sofern jedermann die gleiche MKN besitzt, macht die Aggregation offenbar keine Schwierigkeiten. Aber dies ist nicht der Fall. Die MKN variiert über die Haushalte, weil die Wirtschaftssubjekte unterschiedliche Präferenzen haben und sich in verschiedenen Lebensstadien befinden. Die aggregierte Sparquote sollte daher von der Altersverteilung der Bevölkerung und vom Einkommenswachstum abhängen. Beide Größen bestimmen das Vermögen der jungen Sparer im Vergleich zu den älteren Entsparern. Je höher der Anteil der im Erwerbsleben Stehenden im Vergleich zu den sehr Jungen und sehr Alten ist, desto höher sollte die Sparquote einer Volkswirtschaft sein. Für ein schnelleres Wirtschaftswachstum gilt eine entsprechende Aussage. Die Wirkung des Zinssatzes auf Sparen und Konsum ist sowohl aus theoretischer als auch empirischer Sicht unklar. Ein höherer Zins steigert den gegenwärtigen Preis des Konsums verglichen mit der Zukunft (Substitutionseffekt) und gibt so einen Anstoß zu vermehrtem Sparen. Ist der Haushalt aber ein Netto-Gläubiger, so führt eine Zinserhöhung zu einer Steigerung des Lebenseinkommens, was den Konsum tendenziell verstärkt und die Ersparnis vermindert (Einkommenseffekt). Gewöhnlich wird davon ausgegangen, daß der Substitutionseffekt stärker ist als der Einkommenseffekt, und das Sparen daher positiv auf eine Zinserhöhung reagiert. Dies wird durch einige empirische Belege gestützt, aber die Ergebnisse sind überwiegend nicht eindeutig.

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

147

Die Analyse des privaten Sparens ist vorwiegend auf der Ebene des Haushalts angesiedelt und vernachlässigt die Ersparnis der Unternehmen. Für die USA und andere Länder gilt jedoch, daß die Unternehmensersparnis einen bedeutenden Teil des gesamten Sparens ausmacht. Erfordert die Berücksichtigung der Unternehmensersparnis eine grundlegende Umformulierung unseres Modells? Die Antwort lautet glücklicherweise nein. Da das Eigentum an den Unternehmen letztendlich den Haushalten zusteht, wird die gesamte private Ersparnis (die Summe aus dem Sparen der Haushalte und der Unternehmen) grundlegend vom Verhalten der Haushalte determiniert. Unter manchen Umständen erscheint die Unterscheidung zwischen dem Sparen der Haushalte und dem der Unternehmen als willkürlich. Falls ein Unternehmen seine Erträge vermehrt zurückbehält, dann wird der Haushalt in einem entsprechendem Umfang weniger sparen; ist dies der Fall, so sagt man, der Haushalt "durchdringt den Schleier", der das Unternehmen umgibt. Schlüsselbegriffe Verfugbares Einkommen Konsum funktion Intertemporale Theorie Zwei-Perioden-Modell Nutzenfunktion Indifferenzkurven Intertemporale Budgetbeschränkung Grenzrate der Substitution Lebenszyklus-Modell Permanentes Einkommen Temporärer Schock

Permanenter Schock Marginale Konsumneigung Verbrauchs- u.Gebrauchsgüter Erbschaften Keynesianische Konsumtheorie Liquiditätsbeschränkung Überlappende Generationen Einkommenseffekt Substitutionseffekt Aggregation

Probleme und Fragen 1. Diskutieren Sie, was bei gegebenem BSP mit dem persönlichen Einkommen, mit dem verfugbaren persönlichen Einkommen, den persönlichen Konsumausgaben und dem persönlichen Sparen geschieht, wenn a. die persönlichen Steuern erhöht werden; b. das persönliche Zinseinkommen steigt; c. die persönlichen Konsumausgaben zurückgehen; d. die Unternehmensgewinne sinken. 2. Das in diesem Kapitel analysierte Modell unterstellt, daß die relevante Entscheidung der Haushalte darin besteht, wann gespart und wann Kredit aufgenommen wird, nicht aber darin, ob Kredit aufgenommen oder gespart wird. Ist das eine vernünftige Annahme?

148

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

3. a. Zeichnen Sie die Budgetgerade für einen Haushalt, der zwei Perioden lang existiert und in der ersten Periode 100 $ und in der zweiten Periode 200 $ verdient. Der Zinssatz beträgt 10%. b. Wie hoch ist das permanente Einkommen des Haushalts? c. Wenn die Präferenzen des Haushalts derart sind, daß er exakt im gleichen Umfang in beiden Perioden zu konsumieren wünscht, wie hoch ist der Wert seines Konsums in jeder Periode? d. Wie würde sich die Budgetbeschränkung in (a) verändern, wenn der Haushalt Kredit vergeben, aber nicht aufnehmen kann? Wäre der Haushalt bei unveränderten Präferenzen besser oder schlechter gestellt? 4. Betrachten Sie im Rahmen des Zwei-Perioden-Modells zwei Haushalte, die exakt das gleiche Einkommen in jeder Periode beziehen. Wegen unterschiedlicher Präferenzen spart der erste Haushalt 100 $, während der zweite Haushalt 1.000 $ spart. Welcher Haushalt erhöht wahrscheinlicher seine Ersparnis, wenn der Zinssatz steigt? Warum? 5. Was würde die Hypothese des permanenten Einkommens bezüglich des Lebensstandards von Studenten der Betriebswirtschaft verglichen mit Studenten der Archäologie besagen, wenn diese aus Familien mit gleichen ökonomischen Ressourcen stammen? 6. In den meisten Entwicklungsländern ist der Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung höher als in den meisten entwickelten Ländern. Letztere haben jedoch tendenziell höhere Sparquoten als die Entwicklungsländer. Diskutieren Sie, wie diese Beobachtung mit der Hypothese, daß die Jungen mehr sparen als die Alten, in Einklang gebracht werden kann. 7. Was geschieht im Zwei-Perioden-Modell mit dem Konsum und der persönlichen Ersparnis in Periode 1 und 2, wenn a. in Land A beträchtliche Ölreserven entdeckt werden; b. das Land B eine ungewöhnlich gute Getreideernte in diesem Jahr hat; c. das Land C eine neue Produktionstechnik entwickelt, welche das Einkommen in den Jahren 1 und 2 im gleichen Ausmaß steigert? 8. Ein Haushalt existiert zwei Perioden, und er ist in der ersten Periode ein Netto-Schuldner. Könnte er ein Netto-Gläubiger werden, wenn der Zinssatz steigt? Kann aus einem Netto-Schuldner bei einer Erhöhung des Zinssatzes ein Netto-Gläubiger werden? 9. Hat eine temporäre Zunahme der Unternehmensgewinne keine Wirkung auf die private Ersparnis, wenn die Haushalte tatsächlich durch den die Unternehmen umgebenden "Schleier" hindurchblicken? Diskutieren Sie dies.

KAPITEL 4 : KONSUM UND SPAREN

149

10. Einige Ökonomen argumentierten, die private Sparquote in den USA sei zu niedrig, und die Regierung solle etwas zu deren Steigerung unternehmen. Welche Art von Politik könnte diesem Ziel wie und warum dienlich sein?

Kapitel 5

Investition Die Produktion des Outputs erfordert den Einsatz von Arbeit, Kapital und Technik. So wie wir den Begriff Kapital hier verwenden, bezieht er sich auf Maschinen, Fabriken und andere dauerhafte Produktionsmittel. Die Investition ist der Outputstrom einer Periode, der dazu dient, den Kapitalstock einer Volkswirtschaft zu erhalten oder zu erweitern. Die Investitionsausgaben erweitern durch Ausdehnung des Kapitalstocks die zukünftige Produktionskraft der Volkswirtschaft. Ebenso wie die Konsumtheorie, muß die Theorie der Investition notwendigerweise eine intertemporale sein, weil die Motivation zur Investition in der Gegenwart in der Erhöhung der Produktionsmöglichkeiten in der Zukunft liegt. Die Investitionsentscheidungen der Unternehmen und Haushalte verdienen aus verschiedenen wichtigen Gründen eine Untersuchung. Erstens bereichert die Hinzufugung der hier beschriebenen Investitionstheorie zu der im vorhergehenden Kapitel umrissenen Theorie des Konsums unser Verständnis dafür, wie der Output einer Periode zwischen laufenden (Konsum) und zukünftigem Verwendungen (Investition) aufgeteilt wird. Zweitens spielen die Schwankungen in den Investitionen der Unternehmen eine Rolle für die Bestimmung der Niveaus der Produktion und der Arbeitslosigkeit in einer Volkswirtschaft, wie wir in späteren Kapiteln erläutern werden. Drittens wird uns Kapitel 18 zeigen, daß die Investitionsausgaben wesentlich zum langfristigen Wachstum der Volkswirtschaft beitragen. Unsere Analyse der Investitionstheorie in diesem Kapitel stützt sich auf die Annahme, daß die Arbeitskräfte stets voll beschäftigt sind, und daher auch der Output immer sein Vollbeschäftigungsniveau erreicht. Mithin gehen Produktionsschwankungen ausschließlich auf Veränderungen des Kapitalstocks oder andere, auf die Produktionsfunktion einwirkenden Angebotsschocks zurück, nicht aber auf Verschiebungen der aggregierten Nachfrage. Wir vereinfachten die Diskussion des Investitionsverhaltens durch die Annahme der Vollbeschäftigung und der klassischen Eigenschaften für eine Volkswirtschaft wesentlich, und wir fahren mit den gleichen vereinfachenden Bedingungen fort bis zum Kapitel 12, wenn wir uns erneut dem keynesianischen Modell zuwenden.

152

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

5-1 Formen des Kapitals und der Investition Kapital existiert in einer Volkswirtschaft in vielen Formen, und folglich gibt es verschiedene Arten von Investitionsausgaben. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung werden drei Hauptbereiche der Investitionsausgaben unterschieden. Die erste wichtige Kategorie bilden die Anlageinvestitionen der Unternehmen, die deren Ausgaben für "Bauten" (die für eine Fabrik oder Büros verwendeten Gebäude) und für "Ausrüstungen" (Maschinen und Fahrzeuge) einschließen. Die zweite Hauptkomponente der Kapitalausgaben sind die Lagerinvestitionen-, dies sind die Bestände an Rohstoffen, Halbfertigprodukten im Produktionsprozeß und Fertigerzeugnissen, die von den Unternehmen vorgehalten werden. Lagerinvestitionen sind die Veränderungen in derartigen Güterbeständen in einer Periode; eine Zunahme der Vorräte bedeutet eine positive Investition, während deren Abnahme eine Art Desinvestition darstellt. Die dritte wichtige Kategorie ist die Investition in den Wohnungsbau, welche die Ausgaben für die Instandhaltung bestehender und die Errichtung neuer Wohngebäude umfaßt. Wir sollten beachten, daß der Kauf eines bestehenden Hauses durch einen Haushalt volkswirtschaftlich gesehen keine Investition darstellt, weil keine Veränderung des Kapitalstocks, sondern lediglich des Eigentums eintritt. Eine wesentliche Unterscheidung, die für alle Formen der Investition gilt, ist die zwischen Brutto-Investition und Netto-Investition. Die meisten Kapitalgüter unterliegen im Laufe der Zeit einem Wertverzehr und werden schließlich verschrottet. Ökonomen bezeichnen diesen Vorgang als "Kapitalabschreibung" oder "Kapitalverbrauch". Ein bestimmter Umfang der volkswirtschaftlichen Investition dient zu einem Teil dem Ersatz des abgeschriebenen Kapitals und zum anderen der Erweiterung des Kapitalstocks. Die Gesamtinvestition wird als Brutto-Investition bezeichnet; den Teil, der den Kapitalstock erhöht, nennt man die Netto-Investition. Daraus ergibt sich der simple Zusammenhang, daß die Brutto-Investition der Netto-Investition zuzüglich der Kapitalabschreibung (oder des Kapitalverbrauchs) entspricht. Es wird häufig unterstellt, daß ein gegebener Anteil des Kapitals in jeder Periode abgeschrieben wird, so daß sich die Beziehung I = J+ dK

(5.1)

ergibt, wobei / die Brutto-Investition, J die Netto-Investition und d den Abschreibungsparameter von beispielsweise 5% p.a. bedeuten (so daß dK die Abschreibung des Kapitals in der laufenden Periode angibt).1 Die Veränderung des Kapitalstocks ist gleich der Netto-Investition: 1

Tatsächlich ist die Abschreibung komplexer als hier dargestellt. Erstens haben unterschiedliche Arten von Investitionsgütern eine abweichende Lebensdauer, so daß die Abschreibungsrate differiert. Zweitens werden einige Kapitalgüter allmählich entwertet, so

153

K A P I T E L 5 : INVESTITION

K+l-K

=J

(5.2)

Nach Kombination von (5.1) und (5.2) erhalten wir die grundlegende Gleichung für die Kapitalakkumulation: K+x = (\-d)K

.30

I

I

1961

1965

Konsum

+I

(5.3)

I

I

I

I

I

1970

1975

1980

1985

1990p

Investition

p = vorläufig

Abb. 5-1: Die Unbeständigkeit der Investition und des Konsums in den USA, 1961-1990 {Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tabelle B-2.)

Einige Fakten zur Investition Die Investitionsausgaben sind sehr viel unbeständiger als die Konsumausgaben; eine Tatsache, die in Abb. 5-1 gut erkennbar ist. Die Abbildung zeigt die jährlichen Veränderungen der Investitions- und Konsumausgaben, so daß sie einen Teil ihrer Verwendbarkeit jedes Jahr einbüßen, während andere - wie etwa Glühbirnen - bis zum Ende zu gebrauchen sind und dann funktionsuntüchtig werden. Drittens ist die Abschreibung sowohl eine ökonomische Entscheidung als auch eine technische Erscheinung. Der Zeitpunkt der Verschrottung einer Fabrik oder einer Maschine hängt wesentlich von den Marktbedingungen wie auch von der Lebensdauer des Kapitalguts ab. Eine Maschine, die intensiver genutzt wird, unterliegt einer schnelleren Abnutzung, woraus sich ein wirtschaftlicher trade-ojf zwischen Nutzungsintensität und Nutzungsdauer ergibt.

154

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Tab. 5-1: Unterschiedliche Kategorien der Investitionen in den USA, 1988— 1990 (Mrd. $ in laufenden Preisen)

Private inländische Brutto-Investition (in % des BIP) - Kapitalabschreibungen (in % des BIP) = Private inländische Netto-Investition (in % des BIP) - Vorratsänderungen = Netto-Anlageinvestition (in % des BIP) Wohnungsbau Betriebl. Investition (ohne Wohnungsbau) Bauten Ausrüstungen

1988

1989

1990p

747,1 (15,4) 514,3 (10,6) 232,7 (4,8) 26,2 206,5 (4,1) 118,0 88,6 18,1 70,4

771,2 (14,9) 554,2 (10,7) 216,8 (4,2) 28,3 188,5 (4,2) 104,5 84,0 16,8 67,2

745,0 (13,7) 575,7 (10,6) 169,3 (3,1) -2,2 171,5 (3,7)

p = vorläufig Quelle: Economic Report of the President, 1991 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1991), Tab. B-16.

wie sie (in unvollkommener Weise) in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung definiert sind. Das Ergebnis ist nicht gänzlich überraschend. Optimierende Verbraucher wollen die Konsumniveaus über die Zeit glätten; optimierende Unternehmen haben, wie wir sehen werden, erheblich weniger Veranlassung dazu, ihre Investitionsausgaben auszugleichen. Die ausgeprägte Unbeständigkeit der Investitionsausgaben wird seit Jahrzehnten betont. Keynes argumentierte in der General Theory, daß die starken Schwankungen der Investitionsausgaben die treibende Kraft des Konjunkturzyklus seien. (Wir wenden uns in Kapitel 17 der möglichen Rolle von Investitionsschwankungen als Auslöser kurzfristiger Fluktuationen des BSP und der Arbeitslosigkeit zu.) Einen empirischen Überblick über die Bedeutung unterschiedlicher Formen privater Investitionsausgaben in den USA für die Zeit von 1988 bis 1990 gibt Tab. 5-1. Die gesamte private Investition schwankte zwischen 13,7 und 15,4% des BIP. 2 Ungefähr zwei Drittel bis drei Viertel davon ent2 W i e wir später sehen werden, lag die Gesamtinvestition in den U S A seit den frühen 70er Jahren zwischen 15 und 20% des BIP oder bei etwa einem Drittel bis Viertel der Konsumausgaben.

155

KAPITEL 5 : INVESTITION

fielen in den letzten Jahren auf die Kapitalabschreibungen, stellten also keinen Nettozuwachs des Kapitalstocks der USA dar. Die Netto-Investition machte 1990 lediglich 3,7% des BIP aus, was etwa 30% der gesamten Investitionsausgaben entsprach. Da das Anlagekapital der USA Ende 1989 bei rund 180% des BIP lag, bedeutete eine Netto-Investition von 3,7% des BIP ein Wachstum des Kapitalstocks von etwa 2,1% (= 3,7/1,8) und war nahezu doppelt so hoch wie die Wachstumsrate des BIP in 1990. Die Netto-Investition wird in Tab. 5-1 aufgegliedert in betriebliche Anlageinvestitionen für Bauten und Ausrüstungen, in Wohnungsbauinvestitionen und Lagerinvestitionen. Die betrieblichen Anlageinvestitionen (ohne Wohnungsbau) bewegten sich zwischen einem Drittel und 40% der Gesamtheit, wobei die Ausgaben für Ausrüstungen diejenigen für Bauten etwa um das Drei- bis Vierfache überstiegen. Die wichtigste Komponente der Netto-Investition waren die Wohnungsbauinvestitionen, die mehr als die Hälfte der Gesamtheit ausmachten. Veränderungen der Lagerbestände schwankten um 13% der gesamten Netto-Investition.

\

''/

A

\^ V

•o Sfc c

c o

M

1970

— Frankreich

1980

1975

USA

Großbritannien

1985

-'-Japan

Abb. 5-2: Brutto-Anlagekapitalbildung in ausgewählten Ländern, 1970— 1989 {Quelle: International Monetary Fund, International Financial Statistics, ausgewählte Ausgaben.)

156

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Bei einem Ländervergleich der als Anteil am BIP gemessenen gesamten Anlagekapitalbildung in industrialisierten Volkswirtschaften rangieren die USA am Ende der Skala. Abb. 5-2 zeigt, daß Japan in der Periode 1970— 1989 durchweg nahezu ein Drittel seines BIP investierte, wenngleich die Rate im Verlauf dieser Zeit abgenommen hat. Die Bildung von Anlagekapital in Frankreich lag in derselben Periode zwischen 20 und 2 5 % des BIP. In den U S A und in Großbritannien schwankte diese Quote zwischen 15 und 2 0 % und gehörte damit zu niedrigsten in der industrialisierten Welt. 3

Unzulänglichkeiten der Messung von Investitionsausgaben Obwohl die betrieblichen Anlagen-, Lager- und Wohnungsbauinvestitionen die drei wichtigsten Kategorien der Investition bilden, die in den volkswirtschaftlichen Einkommensrechnungen erfaßt werden, sind sie in einem wahren ökonomischen Sinn nicht die einzigen Formen von Investitionsausgaben für dauerhafte Güter, die die zukünftige Produktionskapazität der Volkswirtschaft erhöhen. Langlebige Konsumgüter wie Autos, Kühlschränke und Geschirrspülmaschinen gewähren konsumptive Nutzungen über viele zukünftige Perioden. Käufe von Gebrauchsgütern sollten daher als eine Form von Investitionsausgaben und der Gesamtbestand an Gebrauchsgütern als Teil des Kapitalstocks angesehen werden. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung werden die Ausgaben für solche Güter typischerweise jedoch zu den Konsumausgaben und nicht zu den Investitionsausgaben gerechnet. Staatliche Ausgaben für Straßen und andere Infrastruktureinrichtungen stellen ebenfalls eine Form von Investitionsausgaben dar, und auch sie werden in der gesamtwirtschaftlichen Einkommensrechnung der U S A als Konsumausgaben angesehen. Die bisher erwähnten Formen des Kapitals werden als "reproduzierbar" bezeichnet, weil der Kapitalstock durch Neuproduktion erhöht werden kann - Unternehmen können in neue Bauten und Ausrüstungen investieren, Haushalte können neue Häuser errichten usw. Eine andere Klasse von Kapital, die den Boden und die Rohstoffvorkommen einschließt, ist "nicht-reproduzierbar", da diese nicht durch Produktion erweiterbar sind. Rohstoffvorkommen sind nicht nur nicht-reproduzierbar, sondern auch "erschöpfbar"; 3

Wie bei allen Daten zum Ländervergleich, muß man etwas vorsichtig sein. In den Daten

für die U S A z.B. werden die öffentlichen Investitionsausgaben (die fälschlicherweise als Konsum klassifiziert werden) unterschätzt. Dies mag in geringerem Maße auch für andere Länder gelten, aber der Unterschied zwischen diesen und den U S A wird geringer. Die Daten enthalten femer nicht die Ausgaben für Gebrauchsgüter, eine Form der Investition, die in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung unrichtigerweise dem Konsum zugerechnet wird (ein Punkt, den wir im folgenden Abschnitt aufgreifen). Da diese Ausgaben in den U S A vergleichsweise hoch sind, würde die Korrektur der Investitionsdaten um die Ausgaben für Gebrauchsgüter die Lücke gegenüber anderen Ländern um einiges schließen.

KAPITEL 5: INVESTITION

157

d.h. sie werden mit ihrer Verwendung aufgebraucht. Ökonomisch gesehen, stellt die Förderung von Öl aus einem Ölfeld oder der Abbau einer Lagerstätte eine Art negativer Investition (oder eine Desinvestition) dar, weil der Bestand an Ressourcen mit deren Ausbeutung abnimmt. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung werden solche Aktivitäten üblicherweise aber nicht als negative Investition gezählt. Die offiziellen Daten vernachlässigen viele Arten immateriellen Kapitals, die dem Kapitalstock eines Landes eigentlich zugerechnet werden sollten. Gut ausgebildete Arbeitskräfte bilden eine Form von Humankapital, da durch die Qualifikation die produktive Kapazität des Arbeitskräftepotentials erhöht wird. Gary Becker von der Universität von Chicago hat in brillanter Weise zum Verständnis der ökonomischen Erträge verschiedener Arten von Investitionen in das Humankapital (wie etwa durch Schul- und Berufsausbildung) beigetragen.4 Wie bei den Ausgaben für Gebrauchsgüter werden die Ausgaben für Schul- und Berufsausbildung in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung fälschlicherweise als Konsum- und nicht als Investitionsausgaben klassifiziert. Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind eine weitere Kategorie von Investitionen in den immateriellen Kapitalstock einer Volkswirtschaft insofern, als ein höher entwickeltes Niveau der Technologie als Teil des gesamten volkswirtschaftlichen Kapitalbestandes betrachtet werden kann. Aus all diesen Gründen wird der Umfang der Investitionsausgaben in einer Volkswirtschaft signifikant unterschätzt, während jener der Konsumausgaben überbewertet wird, wie Robert Eisner von der Northwestern University in überzeugender Weise gezeigt hat. Verglichen mit der offiziellen Schätzung von 17% des BIP machten die Investitionsausgaben nach Eisners Berechnungen 1981 in den USA rund 37% der von ihm revidierten BIPZahl aus, sobald die staatlichen Investitionen und die Ausgaben für langlebige Konsumgüter, Forschung und Entwicklung, Schul- und Berufsausbildung sowie Gesundheit in die Rechnung einbezogen werden.5 5-2 Die grundlegende Theorie der Investition Investitionsausgaben werden überwiegend von Unternehmen getätigt und nicht von Haushalten (obwohl diese in langlebige Konsumgüter und ihr ei4

Einer der schöpferischsten Beiträge zu diesen Gegenstand ist Human Capital, a Theoretical and Empirical Analysis with Special Reference to Education (Chicago: University o f Chicago Press, 1980). 5

Zur Diskussion der Unterbewertung von Investitionen in der Volkswirtschaftlichen Ge-

samtrechnung der U S A vgl. Robert Eisner, "Extended Accounts for National Income and Product", Journal

of Economic

Literature,

Dezember 1988.

158

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

genes Humankapital investieren). Gleichwohl ist es nützlich, wenn auch ein wenig theoretisch, mit einer Untersuchung zu beginnen, die unser Verständnis dafür fordert, wie Haushalte Investitionsentscheidungen treffen. Es zeigt sich, daß die optimale Investitionsregel für Haushalte einfach auf eine realistischere Ebene übertragbar ist, auf der Investitionsentscheidungen von Unternehmen getroffenen werden und die Unternehmen sich im Eigentum der Haushalte befinden. Kehren wir zurück zu dem Haushalt, dem wir in Kapitel 4 begegneten, und der mit der Allokation seiner Kaufkraft zwischen Gegenwart und Zukunft befaßt war. Wenn der Haushalt Q\, Q3, . . . produziert, so kann er sich dazu entscheiden, diese Produktion auf Cj, C3, . . . zu verteilen unter der Einschränkung, daß der Gegenwartswert des Konsums dem Gegenwartswert der Produktion entsprechen muß. Im vorangegangenen Kapitel ließen wir nur eine Möglichkeit der Allokation von Teilen der laufenden Produktion für zukünftigen Konsum zu: den Verbrauch geringer als den Output zu halten und Finanzaktiva zu akkumulieren, was der laufenden Ersparnis entspricht. Die Finanzmärkte erlaubten es so dem Haushalt, seine Kaufkraft über die Zeit zu verteilen. Der Schlüssel zum Verständnis der Entscheidung, ob man investiert oder nicht, ist die Erkenntnis, daß der Kauf von Kapitalgütern eine weitere Möglichkeit ist, eine Allokation des Konsums über die Zeit vorzunehmen. Anstatt Wertpapiere zu erwerben, kann der Haushalt (oder das Unternehmen, dessen Eigentümer der Haushalt ist) Investitionsgüter kaufen und damit seine künftigen Konsummöglichkeiten erweitern. Der Haushalt hat tatsächlich zwei Möglichkeiten, Kaufkraft von der Gegenwart auf die Zukunft zu transferieren: über Wertpapiere oder über Kapitalakkumulation (d.h. durch Erhöhung des Kapitalstocks). Die von uns zu entwickelnde Theorie der Investition beruht auf einer einfachen Idee: die Investitionsausgaben sollten erhöht werden, wann immer die Verzinsung des Zukunftssparens über den Kauf von Investitionsgütern höher ist als über den Erwerb von Finanzaktiva. Im Modell dieses Kapitels produzieren die Haushalte in jeder Periode einen bestimmten Output (Q), so wie sie das auch im Modell des letzten Kapitels taten. Im Gegensatz dazu können sie nun aber den zukünftigen Output durch Investitionsentscheidungen in der gegenwärtigen Periode verändern. Um die Verbindung zwischen den laufenden Investitionen und dem künftigen Output herzustellen, greifen wir zurück auf die Produktionsfunktion, um den Zusammenhang zwischen den im Produktionsprozeß verwendeten Inputmengen (wie Kapital) und den resultierenden Niveaus der Produktion zu beschreiben.

KAPITEL 5: INVESTITION

159

Im Moment sehen wir erneut von allen keynesianischen Vorstellungen über die Zusammenhänge zwischen den Schwankungen der aggregierten Nachfrage und dem Output ab. Wir verwenden statt dessen das klassische Modell, in welchem die Produktion allein durch Angebotserwägungen bestimmt wird und nicht durch Verschiebungen der aggregierten Nachfragekurve. Um die Analyse darüber hinaus noch weiter zu vereinfachen, vernachlässigen wir Veränderungen des Preisniveaus. Der Preis des Outputs bleibt bei 1 fixiert, so daß wir über irgendwelche Effekte von Preisniveauänderungen nicht nachzudenken brauchen. Produktionsfunktion Wir beginnen mit der in Kapitel 3 eingeführten Produktionsfunktion: 6 Q = Q(K, L) + +

(5.4)

Diese ist bereits ein vertrautes Konzept. Mit Blick auf die vielfältigen Arten von Kapital stellt Gleichung (5.4) eine beträchtliche (aber sinnvolle) Vereinfachung insoweit dar, als alle Kapitalformen in einer einzigen Variablen K zusammengefaßt sind. Wir nehmen ferner an, daß der Auslastungsgrad des Kapitals konstant ist, obwohl dies in der Realität normalerweise nicht der Fall ist. (Dies wird in Box 5-1 näher erörtert.)

BOX 5-1: Kapazitätsauslastung

in den USA

In der Realität wird die Kapazität des in der Volkswirtschaft installierten Kapitalstocks mit unterschiedlichen Raten im Zeitablauf genutzt. Die gesamte Kapazitätsauslastung (KA) ist das Ergebnis von Entscheidungen vieler Unternehmen. In Boomperioden nimmt die KA signifikant zu, während sie in Rezessionszeiten zurückgeht. Gleichwohl erscheint die Annahme eines konstanten Auslastungsgrades, d.h. einer Nutzung des Kapitalstocks mit konstanter Intensität, als eine nützliche Vereinfachung. Abb. 5-3 veranschaulicht die Daten der Kapazitätsauslastung in den USA für die Zeit von 1948 bis 1990. Die auf die Gesamtkapazität bezogene durchschnittliche Kapazitätsauslastung lag in dieser Periode bei etwa 81%. Sie schwankte zwischen einem Tiefstwert von 70% in 1982 und einem Maximalwert von 91% in 1966. In Abb. 5-3 sind die Gipfel (P) und Täler (7) eines jeden Konjunkturzyklus zwischen 1948 und 1990 kenntlich gemacht. Bemerkenswert ist, daß die höchsten Niveaus der Kapazitätsauslastung kurz vor den Gipfeln erreicht wurden, während die niedrigsten Werte in der Nähe der Talsohlen auftraten. Jede stärkere Expansion fällt mit einer deutlichen 6

Zur Vereinfachung lassen wir den Ausdruck für die Technologie (T) weg.

160

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Zunahme der KA zusammen: während der ersten Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die KA von 74% auf 89%. Eine ähnlich deutliche Erhöhung der Kapazitätsauslastung zeigte sich zwischen 1962 und 1969, 1974 und 1979 sowie 1982 und 1989. Im Gegensatz dazu fiel die KA drastisch in Rezessionen, wie in den Abschwüngen als Folge der Ölpreisschocks 1973-74 und 1979-80 deutlich wird. Eine Erholung aus Rezessionen mit schnellem Wachstum des BSP können Länder selbst bei geringen Niveaus der Investition erleben, wenn es ihnen gelingt, die bestehende ungenutzte Kapazität zu mobilisieren. Sobald der Auslastungsgrad allerdings die verfügbare Kapazität erreicht, wird Kapital zu einem Engpaßfaktor im Wirtschaftswachstum.

P T

PT

P T

PT

P T

PTPT

Abb. 5-3: Kapazitätsauslastung in den USA, 1948-1990 {Quelle:

Economic Report o f t h e President, 1991, Tab.

B-51.)

Einige Eigenschaften der Produktionsfiinktion verdienen es, ins Gedächtnis gerufen zu werden. Erstens fuhrt eine Zunahme des Kapitalinputs oder des Arbeitsinputs zu einer Zunahme des Outputs; dies wird in Gleichung (5.4) durch die Pluszeichen (+) unter K und L angezeigt. Technisch gesprochen, ist das Grenzprodukt des Kapitals (GPK) und das Grenzprodukt der Arbeit (GPA) positiv. Zweitens nimmt das Grenzprodukt eines jeden Faktors ab, je

KAPITEL 5 : INVESTITION

161

stärker er verwendet wird und der Einsatz des anderen Faktors unverändert bleibt. Beispielsweise läßt jede zusätzliche Einheit des Kapitalinputs die Produktion zunehmen, aber mit steigendem K in immer geringerem Maße. Dieses Merkmal der Produktionsfunktion ist als abnehmendes Grenzprodukt des Kapitals geläufig. (In Abschnitt 3-4 von Kapitel 3 wurde dies näher erläutert.) Abb. 5-4a zeigt das Outputniveau als Funktion des Kapitaleinsatzes bei Konstanz der im Produktionsprozeß eingesetzten Arbeit. Die Steigung der Outputkurve, durch die der Zuwachs des Produktion bei einem Mehreinsatz des Kapitals gemessen wird, veranschaulicht das GPK bei jedem gegebenen Kapitaleinsatz. Bei niedrigen Niveaus von K ist die Steigung sehr groß, während sie bei hohen Einsatzmengen von K sehr gering ist. Sofern K bereits groß ist, trägt eine weitere Erhöhung von K nur wenig zur Steigerung des Outputs bei. Diese Beobachtung spiegelt wiederum das abnehmende Grenzprodukt des Kapitals wider.

Abb. 5-4: Produktionsfunktion und Grenzprodukt des Kapitals Abb. 5-4b stellt das GPK als Funktion des Kapitaleinsatzes dar, wobei die Kurve des GPK für einen gegebenen Arbeitseinsatz gilt. Was aber würde geschehen, wenn plötzlich mehr Arbeit für den Produktionsprozeß zur Verfügung stünde? Bei gegebenem K würden wir davon ausgehen, daß ein höheres L zu einer Zunahme des Grenzprodukts von K führt, so daß sich die GPK-Kurve in Abb. 5-4b mit zunehmendem L ebenfalls nach oben verschiebt.

162

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Investitionsentscheidungen der Haushalte Wir wollen nun unter Verwendung der beschriebenen Produktionsfunktion zum grundlegenden Zwei-Perioden-Modell zurückkehren. Die Haushalte haben jetzt zwei Möglichkeiten zur zeitlichen Übertragung von Kaufkraft: sie können entweder ihr Geld auf den Finanzmärkten zum Zinssatz r verleihen oder zur Erhöhung des künftigen Outputs Investitionen vornehmen. Im Zwei-Perioden-Modell läßt sich dies (unter der üblichen Annahme, daß der Haushalt anfangs keine Wertpapierhaltung B hat) wie folgt ausdrücken: ß l

_

C ]

=£,=£,+/,

(5.5)

Gleichung (5.5) besagt einfach, daß die Ersparnis als Differenz zwischen Einkommen und Konsum für eine Kombination aus Wertpapieren und Kapitalinvestition verwendet werden kann. Wenn der Haushalt die Periode 2 erreicht, verbraucht er sämtliche verfugbaren Ressourcen, so daß er seine Existenz ohne jegliches Vermögen beendet. Die verfügbaren Ressourcen sind der Output Qj und das Einkommen aus Wertpapieren (1 + r)B\, also: C 2 = & + (1+/•)£,

(5.6)

Sodann kombinieren wir die Gleichungen (5.5) und (5.6), indem wir (5.5) zu = ö l ~~ C\ ~ h umformulieren und diesen Ausdruck für B\ in (5.6) einsetzen. Nach dieser Umformung erhalten wir die intertemporale Budgetbeschränkung des Haushalts: c , + - S - = ( ß , - / , ) + A . = W, (1 + r ) (1 + r )

(5.7)

Dieser Zusammenhang ist der Gleichung (4.6) in Kapitel 4 sehr ähnlich; der einzige Unterschied besteht darin, daß die Haushalte zusätzlich zum Sparen in Wertpapieren nun in der ersten Periode investieren, um in der zweiten Periode einen höheren Output zu produzieren. Das für den gegenwärtigen und zukünftigen Konsum verfügbare Vermögen ist jetzt definiert als Gegenwartswert des gegenwärtigen und zukünftigen Outputs abzüglich der Investitionsausgaben. Die vom Haushalt zu fällende intertemporale Entscheidung ist nun ein wenig komplizierter. Es muß nicht nur über die Höhe des Konsums und der Ersparnis (B\ + /j), sondern auch über die Aufteilung zwischen Investition und Wertpapieranlagen entschieden werden. Günstigerweise kann dieses Problem in zwei Schritten angegangen werden. Erstens wählt der Haushalt die Investition I\ so, daß das Gesamtvermögen maximiert wird. Zweitens entscheidet er bei gegebenem Wert des sich ergebenden Vermögens über die Höhe des heutigen Konsums und Sparens. Falls der Haushalt mit Sicherheit wüßte, wie hoch das Grenzprodukt des Kapitals sein wird - und wir wollen von dieser Annahme im Moment aus-

KAPITEL 5 : INVESTITION

163

gehen - , dann ist die Maximierung des Vermögens im Zwei-Perioden-Modell recht einfach. 7 Es sollten alle Investitionen getätigt werden, bei denen das Grenzprodukt des Kapitals höher als (1 + r) ist. Um dies zu verstehen, leiten wir die Formel für die Veränderung des Vermögens bei einer Erhöhung der Investition um eine Einheit ab: (l+r) Um diesen Ausdruck zu erhalten, machten wir Gebrauch von der Definition des Vermögens in (5.7), daß W={Q\ - / j ) + Q^i} + r) ist. Wir haben ferner die Tatsache berücksichtigt, daß der Anstieg von Q j infolge einer Erhöhung der Investition um eine Einheit dem GPK2 entspricht. Solange das GPK2 höher ist als (1 + r), nimmt das Vermögen durch eine Erhöhung der Investition offensichtlich zu; ist das GPK2 geringer als (1 + r), so verringert sich das Vermögen bei einer Investitionszunahme. Somit gelangen wir zu einer wichtigen Schlußfolgerung. Das Vermögen eines Haushalts wird maximiert, wenn das Grenzprodukt des Kapitals in Periode 2 gleich dem Marktzinssatz ist: GPK2 = (\+r)

(5.8)

In diesem Ausdruck wird (1 + r) gelegentlich als Kosten des Kapitals bezeichnet. Gleichung (5.8) besagt dann, daß die das Vermögen maximierende Investition jene ist, bei der das Grenzprodukt des Kapitals den Kapitalkosten entspricht. Bisher haben wir untersucht, wie der Haushalt sein Vermögen durch die optimale Wahl der Investition maximieren kann. Er hat jedoch noch über den optimalen Konsumpfad bei gegebenem Vermögen zu entscheiden. Dieser Schritt wird in Abb. 5-5 gezeigt. Die Linie W\A repräsentiert die Konsummöglichkeitsgrenze des Haushalts mit einem Vermögen in Höhe von W\ (das durch eine optimale Investitionsentscheidung erreicht wurde). Wir können nun eine Schar von Indifferenzkurven darüberlegen und den optimalen Konsum dort wählen, wo die Linie W\A eine Tangente zu der höchsten Indifferenzkurve UL\ bildet; in der Abbildung ist das der Punkt F. Der Konsum der ersten Periode ist dann C]. Wir sollten daran denken, daß der Haushalt über die Höhe der Investition ohne Beachtung seiner intertemporalen Präferenzen entscheiden kann. Das 7 Diese Annahme wird gesetzt, um weitere Komplikationen bei der Bestimmung der optimalen Investition zu vermeiden. In der Realität ist das Grenzprodukt des Kapitals jedoch ungewiß, so daß die meisten Investitionsentscheidungen unter unsicheren Bedingungen gefällt werden müssen. Die Haushalte müssen Erwartungen über das zukünftige Grenzprodukt des Kapitals bilden, und wie sie dies tun, ist ein kontroverses Thema.

164

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Ziel des ersten Schritts des Entscheidungsprozesses ist einfach, das Vermögen zu maximieren, und diese Wahl hat mit den individuellen Präferenzen nichts zu tun. Die Tatsache, daß die Investitionsentscheidung unabhängig von der Konsumentscheidung gefällt werden kann, wird gelegentlich als Separierung von optimaler Investitions- und Konsumentscheidung bezeichnet.

Abb. 5-5: Konsumentscheidung des Haushalts bei gegebener optimaler Wahl der Investition Wie wir bereits sahen, maximieren die Haushalte ihr Vermögen, wenn das Grenzprodukt des Kapitals dem Zinssatz gleich ist, und auf diese Weise wird ihr optimales Investitionsniveau bestimmt. Von daher ist es relativ einfach zu begründen, daß die Investitionsnachfrage eine negative Funktion des Zinssatzes ist. Kehren wir zu Abb. 5-4b zurück. Da die Kurve des GPK eine abwärts verlaufende Funktion von K ist und GPKj gleich (1 + r) sein muß, erkennen wir, daß eine Zunahme von r einen Rückgang des optimalen K implizieren muß. Da andererseits I\ = K j - K\ ist, bedeutet ein Rückgang des vermögensmaximierenden Niveaus von Kj, daß auch das vermögensmaximierende Niveau der Investition in der ersten Periode abnimmt. Zusammenfassend können wir eine optimale (vermögensmaximierende) Investitionskurve in der folgenden Form ableiten: h=I\(r)

(5.9)

Diese Notation bedeutet, daß / j eine Funktion von r ist, und das Minuszeichen unter r besagt, daß die Investition eine negative Funktion des Zinssatzes ist. Auf der Ebene des Haushalts ist das abnehmende Grenzprodukt des Kapitals für die negative Reaktion der Investitionsnachfrage auf eine Erhöhung des Zinssatzes verantwortlich. Für einen gegebenen Zins können wir die von jedem Haushalt gewählten Investitionsniveaus addieren, um die aggregierte Investition der Volkswirtschaft zu ermitteln. Wenn wir die Investitionsfunk-

KAPITEL 5 : INVESTITION

165

tionen aller Haushalte zusammenfassen, gewinnen wir eine aggregierte Investitionsfunktion in der Form von Gleichung (5.9).8 Das Ergebnis ist eine abwärts verlaufende Investitionskurve, wie sie Abb. 5-6 zeigt. Wenn der Zinssatz mit r 0 hoch ist, dann ist die Investition mit IQ gering; ist der Zins mit r\ niedrig, so ist die Investition mit /] hoch.

Der Fall vieler Perioden Die Gleichgewichtsbedingung (5.8) ist tatsächlich eine besondere Bedingung für das Zwei-Perioden-Modell. In diesem ist K2 nach der zweiten Periode völlig unbrauchbar, einfach deshalb, weil es keine weiteren zukünftigen Perioden gibt. Für ein realistischeres Modell mit vielen Perioden, einem, in dem K2 auch noch in Periode 3 usf. nützlich ist, müssen wir den Ausdruck verändern. Anstelle der Gleichheit des GPK mit (1 + r) setzen wir GPK gleich (d + r), wobei d die Abschreibungsrate ist (das Zwei-Perioden-Modell unterstellte mit d = 1 eine vollständige Abschreibung in der zweiten Periode). Mithin lautet die allgemeinere Bedingung: GPK+l = (r + d)

(5.10)

In dieser Gleichung ist (r + d) nunmehr der Vielperioden-Ausdruck für die Kosten des Kapitals; und diese entsprechen der Summe aus Zinssatz und Abschreibungsrate.

8

Die Addition der Investitonsnachfrage über die Haushalte beinhaltet keines jener Probleme, denen wir bei der Zusammenfassung der Konsumnachfrage begegneten. Wir sahen, daß verschiedene Haushalte eine unterschiedliche marginale Konsumneigung in bezug auf das Einkommen aufweisen, abhängig z.B. vom Alter des Haushalts. Deshalb konnten wir nicht einfach den aggregierten Konsum als eine Funktion des aggregierten Einkommens hinschreiben, es sei denn, mit leichtem Händezittern. Für die Investition können wir freilich einfach die Investitionskurven der individuellen Haushalte addieren, um die aggregierte Kurve abzuleiten.

166

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Wir können (5.10) folgendermaßen ableiten. Angenommen, der Haushalt erwägt in der gegebenen Periode die Anschaffung einer zusätzlichen Maschine - z.B. eines Personalcomputers - mit Kosten von AI9 und plane den Verkauf für die nächste Periode. (Er mag sich tatsächlich dazu entscheiden, die Maschine zu behalten; aber wir wollen annehmen, daß er sie in der Folgeperiode verkauft und sie möglicherweise zurückkauft.) Lohnt die Investition? Die Investition A/ produziert in der nächsten Periode AI{GPK+\) und wird dann zum ursprünglichen Preis abzüglich der Abschreibung verkauft (stabile Preise im Zeitablauf unterstellt). Angenommen, der Computer wird mit der Rate d abgeschrieben, so daß der Verkaufspreis A/(l - d) beträgt. Dies wird das Vermögen des Haushaltes so lange steigern, wie der NettoGegenwartswert der Investition positiv ist. In diesem Fall entspricht der Netto-Gegenwartswert der Summe dreier Größen: den Kosten der Investition -AI, dem Gegenwartswert der aus der Investition resultierenden Produktionszunahme in der nächsten Periode A1{GPK+\)I(\ + r) und dem Gegenwartswert des Verkaufspreises des Computers A/(l - d)/( 1 + r). Der Netto-Gegenwartswert (NPV) ist daher gleich: NPV = - A

AI = AI

I +

\-\-r

^^)+_AI(l-d) (1 + r) (1+/-) +

GPK+x+\-d)

(1 + r)

(5.11)

GPK+X -{r + d) (1+r)

Der Netto-Gegenwartswert dieser Investition wird offenbar dann und nur dann positiv sein, wenn GPK+\ größer oder gleich (r + d) ist, was exakt der Bedingung in (5.10) entspricht. Zusammenfassend: damit die Haushalte das vermögensmaximierende Niveau des Kapitals (das wir mit K* bezeichnen) wählen, sollten sie den Kapitalstock so bestimmen, daß das GPK+\ gleich den Kosten des Kapitals (r + d) ist. Dies führt zu einer Kapitalwahl K*+ Um dieses Kapitalniveau in der nächsten Periode zu erreichen, ist es notwendig, sich für die Investition I in dieser Periode zu entscheiden, so daß 1 = K*+i - K + dK

9

(5.12)

Wir verwenden die Bezeichnung A/, um zu betonen, daß der Computerkauf eine marginale Investitionsentscheidung darstellt (die mit einer Ausgabe von AI Dollar verbunden ist).

KAPITEL 5 : INVESTITION

167

Die Rolle der Erwartungen Investitionen beruhen auf Urteilen über das zukünftige Grenzprodukt des Kapitals, und bisher haben wir dieses als sichere Größe betrachtet, die sich einfach aus der Produktionsfunktion ergibt. In der Realität sind Investitionsentscheidungen mit Unsicherheit belastet. Es existieren Millionen von Gütern, und das Grenzprodukt des Kapitals bei der Produktion eines jeden Gutes hängt von der zukünftigen Nachfrage ab (durch die der künftige Verkaufspreis bestimmt wird). Ferner hängt es von unzähligen ungewissen technologischen und anderen Bedingungen ab, die den Produktionsprozeß beeinflussen. Diese Unsicherheiten werden durch den Umstand verschärft, daß Investitionen typischerweise Urteile über die geschäftlichen Bedingungen für viele Jahre in der Zukunft erfordern und nicht nur für eine Periode. Ein Teil der Unbeständigkeit der Investitionen und der sie umgebenden Unsicherheit ist auf Veränderungen der Zukunftserwartungen zurückzuführen. Diese können solide gestützt sein auf die Evidenz der geschäftlichen Bedingungen unter Einschluß von Modellen der Konsumnachfrage, auf Meinungsumfragen, Beobachtungen von Veränderungen der Technologie sowie der Nachfrage usw., oder sie ergeben sich einfach aus Wellen von Optimismus oder Pessimismus, die ohne erkennbaren Grund die Volkswirtschaft erfassen. Ökonomen waren uneins, und dies häufig in heftiger Weise, inwieweit Veränderungen in der Zuversicht der Investoren Verschiebungen "fundamentaler Daten" einerseits oder unerklärliche Stimmungsschwankungen andererseits widerspiegeln. John Maynard Keynes ist zweifellos der einflußreichste Vertreter der Ansicht, daß viele Investitionsbewegungen Vertrauensschwankungen reflektieren, die nicht in fundamentalen Veränderungen der Volkswirtschaft begründet sind. In der General Theory führte Keynes die Investitionsentscheidungen auf die "animal spirits" statt auf präzise mathematische Kalkulationen zurück: "Most, probably, of our decisions to do something positive, the full consequences of which will be drawn out over many days to come, can only be taken as a result of animal spirits - of a spontaneous urge to action rather than inaction, and not as the outcome of a weighted average of quantitative benefits multiplied by quantitative probabilities." Wir werden in Kapitel 17 sehen, daß Keynes' Ansicht über das Investitionsverhalten auch eine wesentliche Rolle bei der Interpretation von Konjunkturzyklen spielt, von denen er glaubte, daß sie zu großen Teilen durch Schwankungen in der Investition herbeigeführt werden.

168

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

5-3 Erweiterungen der grundlegenden Theorie Wir kehren nun zur grundlegenden Theorie zurück, um unsere Analyse auf zweierlei Weise zu erweitern. Die erste Erweiterung separiert den Haushalt und das Unternehmen; die zweite berücksichtigt die Steuern bei der Investitionsentscheidung. Trennung von Haushalten und Unternehmen Bisher stellte sich der Produktionsprozeß sehr einfach dar. Die Haushalte sind selbst tätig und produzieren ihren eigenen Output. Realistischer ist freilich, daß Unternehmen Produktionsvorgänge betreiben, indem sie Arbeitskräfte (Z.) auf dem Arbeitsmarkt anwerben und für deren Leistungen den Lohn (w) bezahlen. Die Eigentümer des Unternehmens, d.h. die Eigentümer des Kapitals, erhalten die Gewinne nach Zahlung der Lohnkosten (wL). Inwieweit verändert sich die Investitionsentscheidung durch diese realistischere Szenerie? Die Antwort auf diese Frage ist eindrucksvoll und bedeutsam. Wenn Haushalte und Unternehmen separiert sind, benötigen letztere keine Kenntnis über die intertemporalen Präferenzen ihrer Eigentümer. Jedes Unternehmen strebt ausschließlich die Maximierung seines eigenen Marktwertes an, der im einfachsten theoretischen Fall dem abdiskontierten Wert der zukünftigen Dividendenzahlungen an die Anteilseigner entspricht. Um dies zu erreichen, sollte das Unternehmen den gleichen Investitionsentscheidungsregeln folgen, wie wir sie für die Haushalte festgestellt haben: das Grenzprodukt des Kapitals muß gleich den Kosten des Kapitals sein. Bei Befolgung dieser Regel maximiert jedes Unternehmen das Vermögen der Haushalte, welche die Eigentümer sind. Der Beweis für diese Aussage wird im Anhang zu diesem Kapitel geliefert; aber ihre Bedeutung kann an dieser Stelle zusammengefaßt werden. In modernen Gesellschaften steht das Eigentum an großen Unternehmen typischerweise Tausenden von individuellen Investoren zu, die jeweils Anteile an dem Unternehmen halten. Wie kann das Unternehmen wissen, wieviel es investieren sollte, wenn jeder Anteilseigner unterschiedliche intertemporale Präferenzen hat? Die Antwort ist, daß das Unternehmen sich nicht um derartige Präferenzen kümmern sollte. Die Unternehmensleitung sollte vielmehr danach streben, den Marktwert des Unternehmens und auf diese Weise auch das Vermögen der Anteilseigner zu maximieren. Es liegt bei ihnen, dieses Vermögen sodann auf einen Konsumpfad im Zeitablauf durch ihre eigenen individuellen Entscheidungen zur Kreditaufnahme und -vergäbe aufzuteilen.

KAPITEL 5: INVESTITION

169

Steuern und Subventionen Wir wollen unserem Modell nun ein wenig mehr Realismus beigeben. In der Praxis werden Unternehmen berührt von vielerlei Steuern und Subventionen, welche die optimalen Investitionsentscheidungen beeinflussen. Die klassische Untersuchung der Steuerwirkungen auf die Investitionsentscheidungen stammt von Dale Jorgenson von der Harvard Universität und Robert Hall von der Stanford Universität.10 Neuere Beiträge schließen die von Lawrence Summers ein.11 Angenommen, ein Unternehmen werde mit der Rate t auf die Gewinne besteuert. Der Grenzertrag einer Zunahme der Investition um einen Dollar ist dann GPK{ 1 - /). Ferner sei unterstellt, das Unternehmen genieße verschiedene Steuervergünstigungen, so Steuerfreibeträge für Investitionen, eine beschleunigte steuerliche Abschreibung, die höher ist als die eigentliche wirtschaftliche Abschreibung 12 , sowie die Abzugsfahigkeit von Zinskosten. Diese Möglichkeiten zur Steuerersparnis werden als Anteil (s) des Kaufpreises des Investitionsgutes berücksichtigt. Die Rate s schließt die Steuerersparnis aus dem Investitionsfreibetrag, der beschleunigten Abschreibung und dem Zinskostenabzug ein. Wenn die Kosten der Kreditaufnahme gleich r sind und die echte Abschreibungsrate (nicht die steuerrechtlich zulässige Rate) gleich d, dann sind die Kosten nach Steuern für eine Erweiterung des Kapitalstocks um einen Dollar (r + d){\ - .v). Im Gleichgewicht erreicht das Unternehmen die Identität von GPK( 1 - t) und den Netto-Kosten des Kapitals: GPK(\-t)

= (r + d ) ( l - s )

(5.13)

oder GPK

-

(l-o

(r + d)

Auffallend ist die Ähnlichkeit zwischen (5.13) und Gleichung (5.10), in der das Grenzprodukt des Kapitals mit den Kosten des Kapitals gleichgesetzt wird, während in dieser nun der Faktor [(1 - s)/(l - t)] enthalten ist. Falls 10

Ihre gemeinsame Forschung zur Investitionstheorie und Steuern begann mit einem zur Mitte der 60er Jahre veröffentlichten Aufsatz: "Tax Policy and Investment Behavior", American Economic Review, Juni 1967. 11

Lawrence H. Summers, "Taxation and Corporate Investment: A q-Theory Approach", Brookings Papers on Economic Activity, 1: 1981. 12

Es ist zulässig, daß eine Kapitalgesellschaft von der Unternehmenssteuer Abzüge vornimmt. die die Kosten der Kapitalabschreibune widersDieeeln. Die Abschreibunssmethode

170

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

s = t ist, wird der Gewinnsteuereffekt genau ausgeglichen durch den Steuerfreibetrag und die Abschreibung, so daß wir zur ursprünglichen Bedingung GPK = (r + d) zurückkehren. In diesem Fall wird das Investitionsniveau durch das Steuergesetz nicht berührt. Dies gilt normalerweise jedoch nicht. Ist s> t, so ergibt sich per Saldo ein Vorteil, und die korrigierten Kosten des Kapitals sind geringer; das Unternehmen wird mehr investieren als in dem Fall, daß keine Steuern erhoben würden. Analog dazu bedeutet t > s, daß die Existenz der Steuer per Saldo nachteilig ist, so daß die Investition des Unternehmens geringer sein wird, da die korrigierten Kosten des Kapitals zunehmen. Steuern können zwar die private Investition indirekt anspornen, wenn sie verwendet werden für die Finanzierung öffentlicher Ausgaben, durch die die Produktivität der Investitionen gesteigert wird. Höhere Ausgaben für Straßen lassen die Investition in Transporteinrichtungen zunehmen. Höhere Ausgaben für Polizei und Feuerwehr steigern die Erträge privater Investitionen. Wir sollten also nicht davon ausgehen, daß ein kleinerer öffentlicher Sektor mit geringeren Steuern notwendigerweise die private Investition stimuliert. Entscheidend ist, wofür die Steuern verwendet werden. Es ist nicht überraschend, daß unterschiedliche fiskalpolitische Instrumente, Steuern und Subventionen eingeschlossen, überall in der Welt zur Beeinflussung von Investitionsentscheidungen eingesetzt worden sind. Wurde die Kapitalbildung als unzureichend oder der Wirtschaftsverlauf als schleppend empfunden, nahmen Wirtschaftspolitiker wiederholt Zuflucht zu einer Anhebung der Investitionsfreibeträge (was einer Erhöhung von 5 in unserem Modell entspricht). In den USA z.B. wurde dieses Instrument zwischen 1962 und 1986 zumeist eingesetzt. Wenn die Volkswirtschaft umgekehrt Zeichen einer beginnenden Überhitzung zeigte, wurden derartige fiskalpolitische Anreize abgeschwächt oder zurückgenommen. Ein wichtiger Unterschied im Hinblick auf fiskalpolitische Anreize ist, ob diese von der Öffentlichkeit antizipiert werden oder nicht. Die US-Steuerreform von 1986 liefert dafür ein Beispiel. Weil zahlreiche Gesetzesbestimmungen vor ihrer Verabschiedung im Kongreß und von Analytikern sorgfältig diskutiert wurden, bot sich der offensichtliche Fall antizipierbarer Politik. Da die Unternehmen schnell erkannten, daß die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Investitionsanregung sich per Saldo als nachteilig erweisen würden, erhöhten sie im letzten Quartal 1985 die Kapitalausgaben, um von der existierenden Regelung zu profitieren, solange diese noch in Kraft war. Als das Gesetz Anfang 1986 schließlich den Kongreß passierte, ging die Investition zurück.

KAPITEL 5 : INVESTITION

171

Die Tatsache, daß der private Sektor auf eine antizipierte Politik reagiert, kann wesentliche Folgerungen haben. Angenommen, die Volkswirtschaft beginne sich zu überhitzen und die Regierung erwäge eine Verringerung des Investitionsfreibetrags, um die Investitionsnachfrage zurückzudrängen. Während der Periode, in der diese Politik erörtert wird, aber noch nicht in Kraft gesetzt ist, nimmt die Investition zu und nicht ab, weil die Unternehmen den Vorteil der Steuervergünstigung für Investitionen nutzen wollen, bevor sie ihn verlieren. Bestand die Absicht der Wirtschaftspolitik ursprünglich darin, die Wirtschaft abzukühlen, so hat sie diese tatsächlich noch zusätzlich angeheizt. Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft den Umstand, ob wirtschaftspolitische Veränderungen als vorübergehend oder dauerhaft wahrgenommen werden. Eine transitorische Erhöhung des Investitionsfreibetrags z.B. veranlaßt zu einer stärkeren Reaktion bei den Kapitalausgaben als eine permanente, weil sich die Wirtschaftssubjekte mit ihren Investitionen beeilen werden, solange die Vergünstigung andauert, statt sich Zeit zu lassen.

5-4 Akkumulation von Vorräten Veränderungen der Lagerhaltung stellen eine wichtige und in hohem Maße unbeständige Form der Investitionsausgaben dar. Die Motivationen der Unternehmen, Vorräte zu halten und Investitionen zur Erhöhung ihrer Lagerbestände zu tätigen, wurden sorgfältig untersucht, und diese Forschungen brachten wichtige Theorien der optimalen Lagerbewirtschaftung durch Unternehmen hervor. Es gibt drei grundlegende Arten von Lagerbeständen: Rohstoffe für Produktionszwecke, Halbfertigerzeugnisse im Herstellungsprozeß und Fertigerzeugnisse, die zum Verkauf an Endverbraucher bereitstehen. Tabelle 5-2 enthält einige Daten zur relativen Bedeutung dieser drei Arten von Lagerbeständen im warenproduzierenden Gewerbe der USA während des Jahres 1990. Jede dieser Arten von Lagerbeständen machte rund ein Drittel der Gesamtvorräte des Sektors aus. Die Lagerbestände insgesamt waren um etwa 60% höher als der Wert der Warenverkäufe während des Jahres. Die Unternehmen benötigen Materialvorräte, um bei der Herstellung von Endprodukten kostensparend zu wirtschaften. Eine Autofabrik benötigt nicht nur Gebäude und Maschinen, sondern auch Stahl, Glas, Reifen und Motorenteile. Im allgemeinen ist es nicht effizient, diese Inputs tagtäglich genau dann, wenn sie gebraucht werden, zu bestellen. Indem sie Inputs als Vorräte halten, sparen die Unternehmen Zeit sowie Verwaltungs-, Kommunikations- und Lieferkosten. Sie haben zudem die Sicherheit, daß die Inputs bei Bedarf vorrätig sind. Gleichwohl unterscheiden sich Unternehmen in

172

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

verschiedenen Industrien und sogar in verschiedenen Ländern in ihren Strategien zur Bewirtschaftung von Vorräten an Rohmaterialien. Viele japanische Unternehmen haben z.B. ein System der Lagerwirtschaft eingeführt, das als Kanban oder "just-in-time"-Management bekannt ist; bei diesem werden die tatsächlichen Lagerbestände auf einem knappen Minimum gehalten, und die Lieferanten sorgen dafür, daß die für die Produktion notwendigen Inputs genau dann verfügbar sind, wenn sie gebraucht werden. 13 Tabelle 5-2: Lagerbestände des warenproduzierenden Gewerbes der USA, 1990 (in Mrd. Sund in %) Lagerbestände (Mrd. $)

in % der gesamten in % der Lagerbestände Verkäufe pro Jahr

Rohstoffe Halbfertigwaren Fertigwaren

114,2 138,2 118,6

30,8 37,2 32,0

49,3 59,6 51,2

insgesamt

371,0

100,0

160,1

Quelle: Economic Report of the President, 1991 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1991) Tab. B-56.

Die meisten formalen Theorien der Lagerbewirtschaftung konzentrieren sich auf Vorräte an Fertigprodukten. Die mit der Lagerhaltung von fertiggestellten Gütern verbundenen Ausgaben schließen die Kosten für Zinsen, Versicherung, Lagerung und Abschreibung ein, und sie pflegen hoch zu sein. Warum also halten Produzenten derartige Bestände? Theorien über die Lagerhaltung von Fertigerzeugnissen verweisen auf zwei Motive: gleichmäßiger Produktionsablauf und Vermeidung von Lieferengpässen, also einer Situation, in der das Unternehmen einen Auftrag nicht ausführen kann, weil fertige Erzeugnisse nicht mehr vorrätig sind. Der ersten Erklärung entsprechend halten Unternehmen Vorräte an Fertigwaren, um eine gleichmäßige Produktionsrate trotz variabler Nachfrage nach ihrem Output aufrechterhalten zu können. Wegen steigender Grenzkosten (jede zusätzlich produzierte Einheit ist teurer als die vorhergehende) zahlt es sich aus, ein möglichst stabiles Produktionsniveau zu halten, statt zwischen sehr niedrigen und sehr hohen Produktionsraten zu wechseln. Daher glauben die Unternehmen, sie sollten unabhängig von den Nachfragebedingungen einen stabilen Produktionsablauf realisieren. In Perioden gerinZu einer genaueren Diskussion des Kanban-Systems vgl. James C. Abegglen und George Stalk, jr., Kaisha: The Japanese Corporation (New York: Basic Books, 1985).

173

KAPITEL 5: INVESTITION

ger Nachfrage erhöhen sie ihre Lagerbestände; in Perioden hoher Nachfrage bauen sie diese ab. Nach dieser Theorie sollte der Produktionsverlauf geringere Schwankungen (technisch gesprochen, eine kleinere Varianz) aufweisen als der Nachfragestrom, wobei sich die Differenz als Investition und Desinvestition bei den Vorräten niederschlägt. Die Pionierarbeit zur Produktionsglättung und Lagerhaltung von Holt, Modigliani, Muth und Simon erschien i960. 1 4 Der zweite Grund für die Unternehmen, Vorräte an Fertigwaren zu halten, ist die Vermeidung von Lieferengpässen. In einigen wichtigen Spezialfällen (bei bestimmten Annahmen über die Kosten der Produktion und Lagerhaltung) ist es möglich, präzise mathematische Regeln einer optimalen Lagerbewirtschaftung abzuleiten. Eine berühmte, spezielle Regel ist die sog. S-s-Regel, wobei S und 5 Vorratsniveaus bezeichnen, bei denen grundlegende Entscheidungen über Lagerinvestitionen stattfinden. Die S-s-Regel, soweit sie anwendbar ist, lautet wie folgt: das gewinnmaximierende Unternehmen hält die Produktion in Übereinstimmung mit der erwarteten Nachfrage zuzüglich einer Konstanten (die von verschiedenen Kostenfaktoren abhängt). Die Vorräte werden im Zeitablauf schwanken: ist die Nachfrage höher als erwartet, sinken sie, bleibt die Nachfrage hinter den Erwartungen zurück, nehmen sie zu. Das Unternehmen ergänzt die Lagerbestände, sobald sie unter ein bestimmtes Mindestniveau s fallen. Falls die Vorräte unter diesen Punkt sinken, unternimmt das Unternehmen in der nächsten Periode einen besonders großen Produktionslauf, so daß es die erwartete Nachfrage erfüllen und die Lagerhaltung wieder auf das Niveau S zurückfuhren kann, wobei S größer ist als s. Es ist zu beachten, daß diese Theorie sehr unterschiedliche Reaktionen der Lagerhaltung auf erwartete und unerwartete Veränderungen der Nachfrage voraussagt. Erhöht sich die Nachfrage unerwartet, so werden die Lager geräumt. Sobald diese weit genug abgebaut sind, werden sie wieder auf ein normales Niveau aufgefüllt. Erleben die Unternehmen dagegen eine erwartete Erhöhung der Nachfrage (falls z.B. die Marketingabteilung in der Lage war, eine Nachfragewelle vorauszusagen), so werden die Vorräte im allgemeinen in Reaktion auf den Nachfrageanstieg zunehmen, weil die Unternehmen es vorziehen, bei hohem Nachfrageniveau größere Lagerbestände zu unterhalten.

14

Vgl. C. Holt, F. Modigliani, J. Muth und H. Simon, Planning,

and the Work Force (Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall, 1960).

Production,

Inventories

174

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

5-5 Empirische Untersuchungen zu den Investitionsausgaben Selbst mit diesen Theorien der Investition ausgestattet, empfanden es Ökonomen als ausgesprochen schwierig, das Muster der Investitionsausgaben zu erklären oder gar vorauszusagen. Es sind verschiedene ökonometrische Modelle zur Erklärung des tatsächlichen Investitionsverhaltens entwickelt worden; diese schließen das Investitions-Akzeleratormodell, das Anpassungskosten-Modell und Modelle auf der Basis von Kreditrationierung ein. Keines dieser Modelle konnte seine eindeutige Überlegenheit gegenüber anderen unter Beweis stellen; tatsächlich greift jedes nur Teile der komplexen Realität auf. Dennoch bilden diese Modellvarianten immer noch den Kern der meisten empirischen Forschungen zum gesamtwirtschaftlichen Investitionsverhalten, und daher verdienen sie hier einige Aufmerksamkeit.

1948

1953

1958

1963

Investition (in % des BIP)

1968

1973

1978

1983

1988

BIP-Wachstumsrate

Abb. 5-7: Wachstum der Investition und des Outputs in den USA, 1948— 1990 (Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-9

Das Akzeleratormodell

undB-28).

der Investition

Die in Abb. 5-7 gezeigten empirischen Befunde verweisen auf einen engen Zusammenhang zwischen der Rate der Investitionsausgaben und den Verän-

KAPITEL 5: INVESTITION

175

derungen des aggregierten Outputs, obwohl die Bewegungen der Investition ausgeprägter sind als die der Produktion. Investitionsforscher bemerkten schon früh die enge Beziehung zwischen Outputveränderungen und Investitionsausgaben, und diese Beobachtung hatte große Bedeutung für die Entwicklung des Akzeleratormodells, der ältesten heute noch empirisch verwendeten Theorie der Investition. 15 Dieses Modell beginnt mit der Annahme, daß es eine stabile Beziehung zwischen dem von einem Unternehmen geplanten Kapitalstock und dem Produktionsniveau gibt. Genauer gesagt: der geplante Kapitalstock (K*) ist ein konstanter Anteil (h) des Outputs (Q): K* = hQ

(5.14)

Dieser Zusammenhang wird eher behauptet als bewiesen. Aber eine Beziehung, wie die in (5.14) gezeigte, kann aus bereits früher dargestellten Prinzipien abgeleitet werden. Für einige Produktionsfunktionen impliziert die Optimalbedingung GPK = (r + d), daß K* proportional zu (oder eine lineare Funktion von) Q ist, wie in (5.14). 16 Der Proportionalitätsfaktor h ist selbst jedoch wahrscheinlich eine Funktion der Kosten des Kapitals. Daher ist die lineare Beziehung zwischen dem geplanten Kapitalstock und dem Outputniveau nur dann stabil, wenn sich die Kosten des Kapitals (r + d) nicht wesentlich verändern. Wenn das Unternehmen ohne Verzögerung investieren kann, um den tatsächlichen Kapitalstock mit dem geplanten Kapitalstock K* in Übereinstimmung zu bringen, entspricht K* stets K. Die Netto-Investition (J) ist dann:

15 Eine klassische frühe Arbeit über die Akzeleratortheorie ist die von J. M. Clark, "Business Acceleration and the Law of Demand: A Technical Factor in Economic Cycles", Journal ofPolitical Economy, März 1917. 16 Wir können einen Fall erwähnen, bei dem K* eine lineare Funktion von Q ist, indem wir auf eine spezielle mathematische Form der Produktionsfunktion verweisen. Angenommen, Kapital ( K ) und Arbeit (L) seien die einzigen Produktionsfaktoren. Eine spezielle Klasse von Produktionsfunktionen, die als Cobb-Douglas-Produktionsfunktionen bezeichnet werden, haben die folgende Form:

g = ÄTtI1_a,

mit 0 < a < 1

wobei a ein Parameter der Produktionstechnologie mit einem Wert zwischen 0 und 1 ist. In diesem Fall ist es unter Anwendung elementarer Differentialrechnung möglich zu zeigen, daß das GPK gleich a(Q/K) ist. Insbesondere kann demonstriert werden, daß AQ/AK gleich a(Q/K) ist. (Soweit man mit dieser Rechnung nicht vertraut ist, sollte man sich über die Ableitung keine Gedanken machen.) Sofern das GPK dann mit (r + d) gleichgesetzt wird, ergibt sich Q/K = (r+ d)/a. Das Verhältnis des geplanten Kapitals zum Output wird durch a/(r + d) gegeben und ist konstant, solange r und d unverändert bleiben. Veränderungen, von Q fuhren dann zu proportionalen Änderungen von K*.

176

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

J=K*+X-K =

hQ+l-hQ

(5.15) = A(ß+i-fi) J ist die dem Zuwachs des Kapitalstocks entsprechende Netto-Investition. Diese sehr einfache Gleichung für die Netto-Investition besagt etwas sehr Bedeutsames: die Netto-Investition verhält sich proportional zur Veränderung des Outputs und nicht zum Niveau desselben. Wir erkennen nun, warum dies eine Akzeleratortheorie genannt wird: die Investition nimmt zu, wenn der Output akzeleriert. Die Brutto-Investition ist gleich der Netto-Investition plus Abschreibung. Wenn wir, wie zuvor, eine konstante Abschreibungsrate (d) des Kapitalstocks unterstellen, dann ist die Kapitalabschreibung gleich dK, und die Brutto-Investition läßt sich wie folgt formulieren: I=h(Q+l-Q)

+ dK

(5.16)

Das Investitionsmodell in Gleichung (5.16) weist Schwächen in zweierlei Hinsicht auf. Erstens wird das Verhältnis zwischen geplantem Kapitalstock und Output (h) als konstant unterstellt. Wir sagten bereits, daß h tatsächlich konstant sein kann, wenn die Kosten des Kapitals fixiert sind. Ändern sich diese dagegen, etwa infolge von Veränderungen des Marktzinssatzes oder der Steuergesetze in bezug auf die Investition, dann erwarten wir, daß auch h - zumindest in mittlerer Sicht - nicht unverändert bleibt. Zweitens wird angenommen, daß die Investition stets ausreicht, um den tatsächlichen Kapitalstock von Periode zu Periode an den geplanten anzupassen; auch dies ist eine unrealistische Annahme. Wegen der Kosten der Anpassung des Kapitalstocks und der unvermeidlichen Zeitverzögerungen bei dessen Installation, erfolgt die Annäherung des Kapitalbestands an das geplante Niveau nur allmählich. Da der Output der nächsten Periode gewöhnlich nicht mit Gewißheit bekannt ist, muß die Investition auf der Basis von Erwartungen erfolgen, und diese können sich als fehlerhaft erweisen. Trotz dieser Begrenzungen beschreibt das Akzeleratormodell in seiner einfachsten Form durchaus zutreffend einen großen Teil des Investitionsverlaufs. Zur Überraschung vieler Ökonomen ist die Akzeleratortheorie bei der Erklärung und Prognose des tatsächlichen Investitionsmusters anderen ausgefeilteren Theorien im allgemeinen überlegen. 17 17

Vgl. u.a. Peter Clarks Überblick und ökonometrische Untersuchung alternativer Investitionsmodelle: "Investment in the 1970s: Theory, Performance and Prediction", Brookings Papers on Economic Activity, 1: 1979. Zu einer modernen Darstellung der MultiplikatorAkzelerator-Theorie vgl. Olivier J. Blanchard, "What is left of the Multiplier Accelerator?", American Economic Review, Mai 1981.

KAPITEL 5: INVESTITION

177

Der Anpassungskosten-Ansatz Im Gegensatz zu den Annahmen des Akzeleratormodells sind tatsächlicher und geplanter Kapitalstock nicht immer identisch. Im allgemeinen benötigen die Unternehmen etliche Zeit, den "geplanten" Kapitalbestand zu kalkulieren und zu installieren. Für jedes Investitionsvorhaben sind Wirtschaftlichkeitsrechnungen, Marketinganalysen und Finanzierungsverhandlungen erforderlich. Sobald eine Investitionsentscheidung getroffen ist, vergeht Zeit für die Errichtung der neuen Fabrik, für die Installation der neuen Maschinen, für das Training der Arbeitskräfte im Umgang mit den neuen Anlagen. Darüber hinaus steigen die gesamten Investitionskosten, wenn das Unternehmen sich beeilt, das Investitionsprojekt in sehr kurzer Frist abzuwickeln. Es gibt daher nicht nur technische Beschränkungen, sondern auch mit der Gewinnmaximierung zusammenhängende Umstände, die das Unternehmen veranlassen, allmähliche Veränderungen des Kapitalstocks vorzunehmen. In einigen Studien ist gefolgert worden, daß die Lücke zwischen dem tatsächlichen und geplanten Kapitalstocks um nicht mehr als ein Drittel durch die Investition innerhalb eines Jahres geschlossen wird. 18 Empirische Investitionsausgabenmodelle auf der Basis von Anpassungskosten und Ausreifungsverzögerungen sind ziemlich neu, neuer jedenfalls als das Akzeleratormodell. 19 Die einfachste Erweiterung des Akzeleratormodells bestand darin, einen partiellen Anpassungsmechanismus zu spezifizieren, der die graduelle Anpassung von K an das geplante Niveau K* beschreibt: J=K+]-K = g(K*+}-K) (5.17) Hierbei ist g ein Parameter, der als Koeffizient der partiellen Anpassung bezeichnet wird, und für den 0 < g < 1 gilt. Wenn g = 1 ist, haben wir das Akzeleratormodell in Gleichung (5.16), da AT+j = Ist g < 1, dann paßt sich das tatsächliche K nur allmählich an die Lücke zwischen bestehendem und geplanten Kapitalstock an; je geringer g ist, um so langsamer ist die Anpassung. Mithin mißt g die Geschwindigkeit, mit der der tatsächliche Kapitalstock den optimalen, geplanten Kapitalbestand erreicht. Es sei g = 0,6; dies bedeutet, daß die Netto-Investition in Periode t 60% der Differenz zwischen K* und K ausgleicht. Unter der Annahme, daß sich die optimale Kapitalmenge nicht verändert, würden 60% der bestehenden Lücke durch die Investition der nächsten Periode geschlossen, 60% der ver18 19

Vgl. Clark, "Investment in the 1970s", a.a.O.

Frühe theoretische Formulierungen finden sich bei Robert Eisner und R. Strotz, "The Determinants o f Business Investment", in: Commision on Money and Credit, Impacts of Monetary Policy (Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall 1963) und Robert Lucas, "Adjustment Costs and the Theory o f Supply", Journal of Political Economy, August 1967.

178

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

bleibenden Lücke würden durch die Investition der übernächsten Periode ausgeglichen usw. Die Lücke schließt sich allmählich im Zeitablauf. Der partielle Anpassungsmechanismus ist einer ökonometrischen Anwendung auf einfache Art insoweit zugänglich, als der Parameter g unter Verwendung von Zeitreihendaten geschätzt werden kann. Aber es handelt sich um eine unvollständige Theorie, solange wir nicht erklären können, warum sich die Unternehmen auf die in Gleichung (5.17) beschriebene Weise verhalten. Was bestimmt beispielsweise die Rate, mit der K sich an K* annähert? In neueren Studien wurde versucht, die theoretische Formulierung des partiellen Anpassungsmechanismus strikter zu fassen. Alle diese Theorien verwenden im wesentlichen die gleiche Argumentation, wie sogleich erläutert wird. Angenommen, ein Unternehmen realisiert geringere Gewinne als erwartet, wenn K+\ nicht gleich ist. Es erleidet Verluste in Höhe von - K+1)2, wobei C] eine Konstante ist. Offensichtlich stellt sich kein Verlust ein, wenn K+\ das geplante Niveau K*+ j erreicht, und der Verlust wird um so größer, j e weiter sich die Lücke öffnet. Wir unterstellen, der Verlust sei tatsächlich proportional zum Quadrat der Lücke zwischen K+ j und K*+i (dies wird als quadratische Verlustfunktion bezeichnet). Wenn sich z.B. die Lücke zwischen K und K* in ihrer Größe verdoppelt, steigt der Verlust des Unternehmens um das Vierfache. Nehmen wir ferner an, daß das Unternehmen immer dann Kosten zu tragen hat, wenn seine Netto-Investitionsrate hoch ist. Diese werden ebenfalls als quadratisch unterstellt; d.h. sie steigen im Quadrat mit der Investitionsrate, so daß die Investitionskosten gleich c 2 (ÄT+1 - K)2 sind, wobei c2 wiederum eine Konstante ist. Dabei erinnern wir uns, daß K+\ - K der Investitionsrate entspricht. Der Gesamtverlust wird gegeben durch Verlust = c, (K*+ x - K+, ) 2 + c 2 (K+, - K)2

(5.18)

Soweit das Unternehmen versucht, die aus ihrer Investitionsentscheidung resultierenden Verluste an potentiellen Gewinnen zu minimieren, muß es zwei Formen von Kosten gegeneinander abwägen: die quadratischen Kosten einer Abweichung des Kapitalstocks von seinem geplanten Niveau und die quadratischen Kosten, die mit einer zu schnellen Erhöhung der Investitionsausgaben verbunden sind. Das Unternehmen maximiert seine Gewinne, indem es diejenige Höhe von A"+1 wählt, bei der die Kosten gemäß Gleichung (5.18) minimiert werden.

179

KAPITEL 5 : INVESTITION

Es fallt nicht schwer zu zeigen (auch wenn dazu Differentialrechnung erforderlich ist), daß die optimale Wahl von K + \ die folgende ist: 2 0 K+x-K

=

ci (.K*+x-K) (c1+c2)i

(5.19)

Gleichung (5.19) hat dasselbe Aussehen wie (5.17) mit g = cxl(cx + c 2 ). Ist c j sehr groß, so sind auch die Kosten der Abweichung von K* sehr hoch und g ist nahe bei 1. Damit sind wir zum Akzeleratormodell zurückgekehrt. Wenn dagegen c 2 sehr groß ist, so daß die Kosten einer beschleunigten Investition hoch sind, ist g nahe bei 0. In diesem Fall paßt sich der Kapitalstock nur sehr allmählich an das Zielniveau an. Die Erklärung der graduellen Anpassung beruht hierbei auf den quadratischen Kosten einer Veränderung des Kapitalstocks. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für eine allmähliche Anpassung. Wenn bei den Unternehmen Unsicherheit hinsichtlich der Produktionstechnologie besteht, d.h. wenn nicht sicher ist, welcher Output mit einem gegebenen Kapital erzeugt werden kann, dann macht es Sinn, den Kapitalstock allmählich anzupassen, um die erwarteten Gewinne zu maximieren, selbst wenn die Anpassungskosten der Investition nicht quadratisch sind. 21

Die q-Theorie James Tobin von der Yale Universität, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1982, war Wegbereiter eines weiteren wichtigen Modells des Investitionsverhaltens, das auf der Idee der Anpassungskosten basiert. Tobins berühmte ^-Theorie der Investition beginnt mit der Vorstellung, daß der Börsenwert eines Unternehmens zur Messung der Lücke zwischen K und K* + 1 dienen kann. 22

2 0 Sofern man mit der elementaren Differentialrechnung vertraut ist, wird man wissen, daß der Verlust minimiert wird, wenn d Verlust/3A" +1 = 0. Die Minimierungs-Bedingung fuhrt zu der Gleichung:

2 c 2 (K+X-K)

= 2Cx

{K*+X-K+X)

Nach Umformung und Abzug von cxK auf beiden Seiten der Gleichung erhalten wir:

( C l + C2XA+I - ^K) =

- Ä)

und daraus ergibt sich Gleichung ( 5 . 1 9 ) unmittelbar. 2 1 Dieses Ergebnis findet sich bei Joseph Zeira, "Investment as a Process of Search", Journal of Political Economy, Februar 1987. 22

Eine frühe Diskussion der ^-Theorie findet sich bei J. Tobin, "A General Equilibrium

Approach to Monetary Theory", Journal

of Money, Credit and Banking,

Februar 1969.

Viele andere Autoren, darunter Fumio Hayashi und Lawrence Summers, haben den Ansatz der (/-Theorie fortentwickelt.

180

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Die Variable q ist definiert als Börsenwert eines Unternehmens geteilt durch die Ersatzkosten des Unternehmenskapitals. Die "Ersatzkosten des Kapitals" beziehen sich auf die Kosten eines Kaufs der betrieblichen Bauten und Ausrüstungen auf dem Markt. Beträgt der Börsenwert des Unternehmens 150 Mill. $ und die Ersatzkosten des Kapitals der Unternehmung 100 Mill. $, dann ist q gleich 1,5. Daher entspricht q dem Verhältnis der Kosten des Erwerbs eines Unternehmens am Finanzmarkt und den Kosten des Kapitalkaufs am Gütermarkt. Tobin und seine Nachfolger zeigten die Bedingungen auf, unter denen q einen brauchbaren Indikator für die Profitabilität neuer Investitionsausgaben liefert. Ist q größer als 1, so bedeutet dies, daß K*+\ höher als K ist und eine hohe Investition angezeigt ist. Wenn q kleiner 1 ist, so zeigt der Markt an, daß K*+\ geringer ist als AT und die Investition niedrig sein sollte. Wir wollen sehen, warum dies so sein könnte. Im einfachsten theoretischen Rahmen entspricht der Wert von q für ein Unternehmen dem abdiskontierten Wert der von dem Unternehmen zukünftig gezahlten Dividenden je Einheit des betrieblichen Kapitals. 23 Angenommen, der Kapitalstock sowie das GPK seien konstant und die Abschreibungsrate sei gleich d. In diesem Fall entspricht die Dividende pro Kapitaleinheit in jeder Periode GPK - d, und der Wert von q ist gleich: q =

(GPK-d) (1 + r)

+

(GPK-d)

z

(1 + r)

1-

(GPK-d) ,

(1 + r)

h•••

(5.20)

In diesem einfachen Rahmen, in dem das GPK in jeder zukünftigen Periode gleich groß ist, kann der Ausdruck für q umformuliert werden in: q=

(GPK-d)

(5.21)

r

Wir erkennen, daß q größer als 1 ist, falls das GPK in zukünftigen Perioden größer als (r + d) ist; und daß q kleiner als 1 ist, sofern das GPK in zukünftigen Perioden geringer ist als (r + d).2A 23

Intuitiv einsichtig ist, daß der Börsenwert des Unternehmens V dem abdiskontierten Wert der v o n diesem gezahlten Dividenden entspricht. Der abdiskontierte Wert der Dividenden pro Kapitaleinheit ist mithin V/K. Falls die Ersatzkosten des Kapitals des Unternehmens einfach gleich K sind (dies trifft zu, wenn der Preis des Kapitals 1 ist, w a s dem Outputpreis in diesem Modell entspricht), dann ist V!K - definitionsgemäß - gleich dem qWert des Unternehmens. Dies ist die Grundlage für den Ausdruck für q in diesem Text. Zu einer allgemeinen, aber hochmathematischen Diskussion der Gleichung für q vgl. Fumio Hayashi, "Tobin's Marginal q and Average q: A Neoclassical Interpretation", Econometrica, Januar 1982. 24

D i e s folgt unmittelbar aus Gleichung (5.21). q > 1 impliziert, daß GPK - d>

GPK >d+r.

Entsprechend bedeutet q < 1, daß GPK 2 leiten wir einfach Ausdrücke ab, die zu den Gleichungen (6.17), (6.18) und (6.19) analog sind. Sie zeigen, daß der abdiskontierte Wert des Konsums dem abdiskontierten Wert des Outputs minus Investition entsprechen muß, daß der Gegenwartswert des Handelsbilanzsaldos gleich Null sein muß und daß sich die Salden der Leistungsbilanz zwischen t = 0 und t = 1 zu Null addieren müssen. Die Erweiterungen des Zwei-Perioden-Modells zum r-Perioden-Modell sind ziemlich einfach. Eine neue Spitzfindigkeit wird jedoch für den (sehr realistischen!) Fall hinzugefügt, daß es keine bekannte Endperiode T gibt, in der alle Kredite zurückgezahlt werden müssen. Falls die Zeit einfach ohne Enddatum fortschreitet, bedeutet dies, daß ein Land jede beliebige Menge an Kredit von der übrigen Welt ohne Bedenken aufnehmen kann, weil es weiß, daß es sich stets einfach in der Zukunft stärker verschulden kann, um die Schulden aus der Vergangenheit zu tilgen? Die Antwort ist nein. Die internationalen Kapitalmärkte fordern weiterhin, daß das Land nicht über seine Verhältnisse lebt. Kein Gläubiger wird einem Land, dessen einzige Möglichkeit der Rückzahlung darin besteht, den in jeder Periode geschuldeten Betrag aufzunehmen, so viel Kredit gewähren. Ein Verfahren, bei dem ein Kreditnehmer zu hohe Schulden aufnimmt (um z.B. seinen laufenden Konsum zu erhöhen) und dann plant, diese zurückzuzahlen, indem er das für den Schuldendienst benötigte Geld aufnimmt, ist als Ponzi-Konzept bekannt. 14 Überlegen wir, was einem solchen Verfahren passiert. Angenommen, der Kreditnehmer geht eine Schuld D ein. Wenn diese fällig wird, schuldet er (1 + r)D. Falls er einen neuen Kredit in Höhe von (1 + r)D aufnimmt, um den alten Gläubiger auszuzahlen, so schuldet er dem neuen Kreditgeber nun einen höheren Betrag. In der nächsten Periode muß der Kreditnehmer (1 + rf-D zahlen, und er plant erneut, diesen höheren Betrag für die Rückzahlung aufzunehmen. In der folgenden

N a c h Charles Ponzi, einem Finanzakrobaten aus Boston, der mit einem Verfahren von Kettenkreditverträgen reich wurde.

KAPITEL 6: ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

223

Periode schuldet der Kreditnehmer (1 + r)3Z); und in jeder Periode wächst die Schuld um die geometrische Rate (1 + r). Kreditmärkte verhindern ein derartiges Verhalten (oder fördern es nicht unbegrenzt): Kreditgeber verlangen, daß sich die Schuld eines Kreditnehmers in Grenzen hält; zumindest lassen sie nicht zu, daß sie mit der geometrischen Rate (1 + r) wächst. Es ist mathematisch beweisbar, daß die Schuld, soweit sie - durch vernünftiges Verhalten der Kreditgeber - beschränkt ist, weniger schnell wächst als mit der geometrischen Rate (1 + r), so daß der Kreditnehmer gezwungen ist, seinen Verhältnissen entsprechend zu leben, in dem Sinne, als der Gegenwartswert des gesamten zukünftigen Konsums dem ursprünglichen Vermögen zuzüglich des Gegenwartswertes des gesamten zukünftigen Outputs abzüglich der Netto-Investition entsprechen muß: C i + - ^ - + - = (l + r ) £ * 0 (1 + r)

(1 + r)

+

-

(6.20)

Definieren wir die Nettoschuld eines Landes mit D*, die gerade gleich -B* ist. Mit anderen Worten: ist B* negativ (so daß dieses Land ein Nettoschuldner ist), so ist D* positiv. Nun können wir eine sehr interessante Gleichung ableiten. Indem wir die Ausdrücke in (Q - I) auf die andere Seite der Gleichung bringen und uns daran erinnern, daß der Handelsbilanzsaldo dem Output abzüglich der Absorption ist {HB = Q - C - I), können wir (6.20) in folgender Form schreiben: (l+r)D%

= HBl+~^+

-

(6.21)

Diese sehr wichtige Beziehung besagt: falls ein Land ein Nettoschuldner ist und in der ersten Periode Verbindlichkeiten von (1 + r)D*o hat, so muß es in der Zukunft einen Handelsüberschuß erzielen, dessen Gegenwartswert (über die gesamte Zukunft gesehen) seiner ursprünglichen Schuld entspricht. Das Land bedient seine Schuld in der Zukunft durch einen Strom von Handelsbilanzüberschüssen, deren Gegenwartswert gleich der Nettoschuld ist, die es gegenüber der restlichen Welt eingegangen ist. Wir sollten die in Gleichung (6.21) etablierte Bedingung jedoch korrekt interpretieren. Sie verlangt nicht, daß ein Schuldner-Land in jeder Periode einen Handelsüberschuß hat, sondern nur, daß der Gegenwartswert aller künftigen Handelsbilanzsalden einen Überschuß aufweisen muß, der dem Wert der Nettoschuld entspricht. Die USA hatten beispielsweise Ende 1988 Netto-Auslandsverbindlichkeiten in Höhe von 532 Mrd. $. Dies bedeutet, daß die USA von 1989 an Handelsüberschüsse im Gegenwartswert von 532 Mrd. $ hätten erzielen müssen. Dies heißt freilich nicht, daß die USA in jeder Periode Überschüsse im Handel haben müssen.

224

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK.

Es ist jedoch ein weiterer subtiler Punkt zu beachten. Selbst wenn ein Land keine Schulden eingehen kann, die fortwährend mit der Rate des Zinssatzes wachsen, muß es gleichwohl seine Schulden nie vollständig zurückzahlen. Gefordert wird, daß das Land die Zinsen auf seine Auslandsverbindlichkeiten zahlt (indem es Handelsüberschüsse erzielt), nicht jedoch, daß das Land die Schulden zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Null zurückfuhrt. Ein Land kann daher eine gegebene Nettoschuld D in jedem Jahr aufrechterhalten und die geschuldeten Zinsen rD durch einen Handelsüberschuß bezahlen, ohne daß die Verbindlichkeiten jemals auf Null zurückgehen. Die intertemporale Budgetbeschränkung eines Landes wird manchmal ausgedrückt durch den Netto-Ressourcen-Transfer (NRT), welchen das Land vornehmen muß. Der NRT mißt den Zahlungsstrom zwischen dem Land und seinen Kreditgebern und wird ausgedrückt als die dem Land gewährten Netto-Kredite abzüglich der Zinsen, die das Land auf seine Auslandsverbindlichkeiten zahlt (also das, was die Kreditgeber "nehmen"). Daher wird der NRT in der Periode t gegeben durch: NRT= (D* -

Z)*_I) - RD*_J

(6.22)

Es ist zu beachten, daß der Netto-Ressourcen-Transfer beim "Ponzi-Verfahren" exakt gleich Null ist, da der Umfang der Netto-Kreditaufnahme gerade ausreicht, um die alte Schuld zu begleichen: D* = (1 + r)D*_\, so daß NRT = 0.

Da der Zuwachs der Netto-Auslandsverbindlichkeiten (D* - D*_j) dem laufenden Leistungsbilanzdefizit (-LB) entspricht, während die Zinszahlungen mit dem Defizit der Dienstleistungsbilanz korrespondieren, kann Gleichung (6.22) leicht im Sinne der Handelsbilanz umgedeutet werden: 15 NRT

= -HB

(6.23)

Wenn das Land also ein Handelsdefizit aufweist, erhält es einen Netto-Ressourcen-Transfer von seinen Kreditgebern. Hat es einen Handelsbilanzüberschuß, leistet es einen Netto-Ressourcen-Transfer an seine Kreditnehmer (in diesem Fall sagen wir manchmal der NRT sei für das Land negativ). Die Budgetbeschränkung für einen Schuldner kann nun ausgedrückt werden als Bedingung, daß der negative Gegenwartswert des zukünftigen NettoRessourcen-Transfers gleich der Höhe der Schuld sein muß: (l+r)Z)*0 ^ N R T . - ^ - ^ k r (1+r) (1+r) 2 15

-

(6.24)

Tatsächlich ist der NRT gleich dem Saldo der Handelsbilanz zuzüglich der Nicht-FaktorLeistungen (zumeist Tourismus, Transport und Versicherungen). Der Einfachheit halber lassen wir diese in unserer Analyse unberücksichtigt. Die Gleichung kann jedoch leicht um diese Zahlungen erweitert werden, ohne daß sich substantiell etwas ändert.

KAPITEL 6 : ERSPARNIS, INVESTITION U N D LEISTUNGSBILANZ

225

Offensichtlich ist diese Bedingung die gleiche wie in (6.21), da der NRT dem Handelsbilanzüberschuß entspricht. Wir sollten ferner bedenken, daß die TV/fr-Bedingung ein Ponzi-Verfahren ausschließt, weil bei diesem der NRT stets gleich Null ist. Wir sollten erneut auf eine bereits früher erwähnte Einschränkung hinweisen. Die Bedingung für das "Nicht-Ponzi-Verfahren" ist eine plausible Bedingung für Kapitalmärkte, aber Kreditgeber setzen sie nicht immer erfolgreich durch. Gelegentlich wird Kreditnehmern - unbeabsichtigt - erlaubt, so viel Kredit aufzunehmen, daß sie ihre Schulden schlicht nicht zurückzahlen können. Wir haben bisher angenommen, daß Insolvenzen nicht auftreten, aber wir werden darauf am Ende des Kapitels zurückkommen.

6-5 Beschränkungen der ausländischen Kreditaufnahme und -vergäbe Bei unserer Diskussion über die offene Volkswirtschaft sind wir bisher davon ausgegangen, daß die Bewohner eines Landes auf einem Weltkapitalmarkt zum gegebenen Zinssatz r von Ausländern Kredit aufnehmen oder an diese vergeben können. Dies ist freilich eine sehr idealisierte Sichtweise. Wir müssen nun unserem grundlegenden Analyserahmen drei wesentliche Einschränkungen hinzufügen: (1) administrative Kontrollen, die für Inländer den Zugang zu ausländischen Kapitalmärkten beschränken; (2) den Einfluß der Spar- und Investitionsentscheidungen des eigenen Landes auf den Weltzinssatz; und (3) die Risiko- und Durchsetzungsprobleme bei der ausländischen Kreditaufnahme und -vergäbe, die das Ausmaß internationaler Kapitalströme einschränken. Administrative Kontrollen Viele Regierungen, insbesondere in Entwicklungsländern, beschränken die Möglichkeit der Inländer bei der ausländischen Kreditaufnahme oder -vergäbe. An dieser Stelle betrachten wir die grundlegenden Konsequenzen und einige der Gründe für die Auferlegung derartiger Kontrollen. In späteren Kapiteln werden ihre Effekte detaillierter untersuchen. Bei vollständigen Kapitalkontrollen gibt es keine Kreditaufnahme und -vergäbe von der bzw. an die übrige Welt. Das Land lebt in finanzieller Isolation. Seine Leistungsbilanz muß in jeder einzelnen Periode ausgeglichen sein. Die inländischen Zinssätze haben keine Beziehung zu den Weltzinssätzen; sie passen sich einfach so an, daß sie Sparen und Investieren ins Gleichgewicht bringen, ebenso wie im Modell der geschlossenen Volkswirtschaft, das wir zu Beginn dieses Kapitels behandelten.

226

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Wir wollen für einen Moment zu Abb. 6-4 zurückkehren. Ohne Kapitalkontrollen weist die Leistungsbilanz beim Zinssatz r/, einen Überschuß auf. Falls sich die Regierung entscheidet, Kontrollen aufzuerlegen, kann die überschüssige inländische Ersparnis nicht für den Kauf von Wertpapieren oder für Investitionen im Ausland verwendet werden. Ist die Ersparnis höher als die Investition, so kann rh nicht der Gleichgewichtszins im Inland sein. Da die Leistungsbilanz ausgeglichen werden muß, wird der inländische Zinssatz solange sinken müssen, bis Ersparnis und Investition sich entsprechen; und dies geschieht bei der Rate ra. Für ein Land, das bei freier Kapitalmobilität einen Leistungsbilanzüberschuß aufweist, besteht der Nettoeffekt von Kontrollen in einem Rückgang der inländischen Zinssätze, einer Zunahme der Investition und einer Verringerung der Ersparnis. Indem ein Land in finanzielle Autarkie gezwungen wird (d.h. von der übrigen Welt isoliert wird), können sich Kapitalkontrollen auf das ökonomische Wohlstandsniveau negativ auswirken. Wir können das Zwei-PeriodenModell verwenden, um dies in sehr einfacher Weise zu illustrieren. In Abb. 6-9 sei E der Ausstattungspunkt mit dem Nutzenniveau ULQ. Liegen die Weltzinssätze bei r, so wird das Land in der ersten Periode Kredit aufnehmen und im Punkt A konsumieren wollen. Dies würde den Wirtschaftssubjekten erlauben, das Nutzenniveau UL\ zu erreichen. Statt dessen muß das Land wegen der Kapitalkontrollen im Punkt E verharren. Der gleiche Wohlfahrtsverlust infolge von Kapitalkontrollen ist leicht erkennbar für den Fall, daß das Land in der ersten Periode ohne Kapitalkontrollen einen Leistungsbilanzüberschuß aufweisen würde. Werden Kapitalkontrollen praktiziert, so berühren die früher betrachteten Formen von Schocks im allgemeinen den inländischen Zinssatz und nicht die Leistungsbilanz. Ein temporärer Rückgang des Outputs infolge einer Dürre würde z.B. in Abb. 6-6 ein Leistungsbilanzdefizit verursachen. Nun besteht der Effekt in einer Erhöhung der Zinssätze, wie Abb. 6-10 zeigt.

Periode 2

Periode 1

Abb. 6-9: Kapitalkontrollen und der ökonomische Wohlstand eines Landes

KAPITEL 6 : ERSPARNIS, INVESTITION U N D LEISTUNGSBILANZ

s,i

227

Abb. 6-10: Ein temporärer Rückgang des Outputs bei Kapitalkontrollen

Zusammengefaßt fuhren die Schocks, welche die Sparkurve nach links verschieben, zu einem Anstieg des inländischen Zinssatzes statt zu einer Verschlechterung der Leistungsbilanz. Entsprechendes gilt für Schocks, welche die Investitionsmöglichkeiten im Inland verbessern. Bei vollständigen Kapitalkontrollen hat eine Zunahme des Weltzinssatzes keine direkten Wirkungen auf den Inlandszins, die Ersparnis oder die Investition. Dank seiner Kapitalrestriktionen wird das Land von Zinsschocks im Ausland abgeschirmt. Eine entscheidende wirtschaftspolitische Implikation von Kapitalkontrollen betrifft die nationale Sparpolitik. Viele Länder wenden eine Politik zur Ermutigung der Ersparnis (z.B. durch steuerliche Anreize) mit dem Ziel an, die Investition zu erhöhen. Sind die Kapitalmärkte offen, so führt eine Politik zur Förderung der volkswirtschaftlichen Ersparnis zu einem Anstieg des Leistungsbilanzüberschusses und nicht zu einer Zunahme der inländischen Investition. In diesem Fall können Kapitalkontrollen dazu dienen, einen Anstieg der inländischen Ersparnis in eine Zunahme der inländischen Investition zu übersetzen. Einflüsse eines großen Landes auf die Weltzinssätze Die Aussage, inländische Wirtschaftssubjekte könnten zum gegebenen Zins r nach Belieben Kredit aufnehmen oder vergeben, beruht auf der Annahme, daß ihre jeweilige Volkswirtschaft nur einen kleinen Anteil am Weltkapitalmarkt hat. Dies ist für die meisten Länder der Welt eine brauchbare Annäherung, nicht jedoch für eine Handvoll der größten industrialisierten Volkswirtschaften. Selbst die bedeutendere industrielle Volkswirtschaft der Niederlande hat lediglich einen Anteil von 1,6% am Gesamtoutput der Indu-

228

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

strieländer. 16 Deshalb würden selbst meßbare Veränderungen der Ersparnis und der Kapitalbildung dieses Landes nur wenig Einfluß auf das Gleichgewicht am Weltkapitalmarkt haben. Im Gegensatz dazu tragen die USA zu etwa 36% zum Gesamtoutput der Industrieländer bei. Veränderungen der geplanten Ersparnis und Investition in den USA haben tendenziell signifikante Wirkungen auf den Weltzinssatz. Entsprechendes gilt für Japan und Deutschland und in einem geringeren Umfang auch für Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada. 17 Der Schlüssel zum Verständnis der Effekte eines großen Landes liegt in einer Untersuchung der Bestimmungsgründe des Weltzinssatzes (r w ). Auf einem integrierten globalen Kapitalmarkt wird rw so determiniert, daß die gesamte Weltersparnis Sw (die der Summe der Ersparnis in Land 1, Land 2 usw., also Sw = 51! + &2 + • • •) gleich der gesamten Investition (Iw = /] + / 2 + ...) ist. Die Welt insgesamt ist eine geschlossene Volkswirtschaft; deshalb muß Sw = Iw gelten. Wir wollen nun den Fall einer Volkswirtschaft, etwa den der USA, betrachten, die im Vergleich zum Weltmarkt groß ist. (Unserer üblichen Vorgehensweise folgend, bezieht sich eine Variable ohne Stern auf die heimische Volkswirtschaft, während sich eine solche mit einem Stern auf die übrige Welt bezieht.) Das globale Gleichgewicht stellt sich ein bei: I(r) + I*(r) = S(r) + S*(r)

(6.25)

Die Bedingung (6.25) besagt, daß die Weltinvestition der Weltersparnis entspricht. Nach Umstellung der Terme ist dieser Ausdruck äquivalent mit der Aussage, daß der Leistungsbilanzsaldo der USA gleich dem Leistungsbilanzsaldo der übrigen Welt mit entgegengesetztem Vorzeichen sein muß: 18 S ( r ) - / ( r ) = -[,S*(r)-/*(/•)]

(6.26)

LB{r) = -LB*(r)

(6.26')

oder

Die Angabe für 1988 stammt von der World Bank, World Development ( N e w York: Oxford University Press, 1990).

Report

1990

17

Diese sieben größten Industrieländer werden häufig als Siebener-Gruppe oder kurz als G-7 bezeichnet. 18

Theoretisch müssen sich die Salden der Leistungsbilanzen aller Länder der Welt zu Null ergänzen. In der Praxis ist dies nicht der Fall. Es gibt tatsächlich eine "Diskrepanz der Welt-Leistungsbilanz", bei der sich der Gesamtsaldo der Leistungsbilanzen in den letzten Jahren zu einer großen negativen Zahl aufsummierte; 1989 in der Größenordnung von - 67 Mrd. $ (International Monetary Fund, International Financial Statistics, 1989 Yearbook). Diese Diskrepanz ist auf eine Vielzahl von Meßproblemen zurückzuführen, einschließlich nicht erfaßter Kapitalströme sowie der Unter- oder Überbewertung von Exporten und Importen, und dies häufig in täuschender Absicht.

KAPITEL 6: ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

229

Abb. 6-11 zeigt den gleichgewichtigen Weltzinssatz als Rate, bei der das Leistungsbilanzdefizit der USA dem Wert des Leistungsbilanzüberschusses des Auslandes entspricht. Beginnen diese beiden Wirtschaftsgebiete in finanzieller Autarkie, entweder weil die USA oder die übrige Welt Kapitalkontrollen praktizieren, werden die gleichgewichtigen Zinssätze separat in den zwei Märkten bestimmt. Wie in der Abbildung dargestellt, ist der inländische Zinssatz (r a ) in den USA höher als der Satz in der übrigen Welt (r*a), weil für die USA (realistischerweise!) eine geringere Sparquote angenommen wird. Sofern vollständige Kapitalmobilität zwischen beiden Gebieten etabliert würde, etwa durch eine Liberalisierung in dem Gebiet, das Beschränkungen praktiziert, würde sich ein einheitlicher Weltzinssatz herausbilden. Der inländische Zins der US-Volkswirtschaft würde sinken und jener der übrigen Welt würde steigen, bis beide Sätze gleich sind. In den USA würde die Investition zunehmen und die Ersparnis zurückgehen, wobei die Leistungsbilanz in ein Defizit geriete. In der übrigen Welt würde die Ersparnis steigen und die Investition sinken, so daß sich deren Leistungsbilanzsaldo in einen Überschuß verwandelte. Im endgültigen Gleichgewicht würde die Weltersparnis der Weltinvestition entsprechen und das Leistungsbilanzdefizit der USA exakt durch den Überschuß der übrigen Welt ausgeglichen. Die beiden Abbildungen sind hilfreich, um einen weiteren wichtigen Punkt zu erkennen: Bei einem großen Land rufen Veränderungen der Ersparnis und der Investition Effekte sowohl auf die weltwirtschaftlichen (und inländischen) Zinssätze als auch auf die Leistungsbilanz hervor. Betrachten wir z.B. einen Rückgang der Sparquote in den USA, wie in Abb. 6-12 gezeigt. (Ein solches Nachlassen der Ersparnis könnte wegen einer Zunahme des erwarteten zukünftigen Einkommens in den USA auftreten.) Beim an-

Abb. 6.11: Globales Gleichgewicht von Sparen und Investieren

230

T E I L II: I N T E R T E M P O R A L E Ö K O N O M I K

fanglichen Zinssatz ( > o ) fuhrt ein Rückgang der Ersparnis zu einem Überschuß der weltwirtschaftlichen Investition über die Ersparnis. Die Weltzinssätze steigen daher auf r\, wobei sich (I - S) und ( S * - /*) wiederum ausgleichen.

V

s.i

s*. i*

A b b . 6 - 1 2 : Globale Effekte des Rückgangs der US-Ersparnis Die endgültige Wirkung besteht in einem Anstieg des Weltzinssatzes und einer Verschlechterung der US-Leistungsbilanz (von AB nach CD), verbunden mit einer Verbesserung der Leistungsbilanz der übrigen Welt (von A'B' nach C'D1). J e bedeutender die U S A auf den Weltmärkten sind, desto stärker wird die Anpassung über einen Anstieg des Zinssatzes sein. J e unbedeutender sie sind, um so eher wird die Anpassung über eine Verschlechterung der US-Leistungsbilanz erfolgen. Bezüglich der Effekte einer Veränderung des Sparens auf die Leistungsbilanz und den Zinssatz liegt der Fall eines großen Landes irgendwo zwischen dem Modell eines kleinen Landes und dem Fall von Kapitalkontrollen. In Tabelle 6 - 7 sind die hier betrachteten Fälle zusammengefaßt. Jede Spalte korrespondiert mit einem der drei analysierten Fälle: ein kleines Land mit unbeschränkter Kapitalmobilität, ein kleines Land mit Kapitalkontrollen und ein großes Land mit unbeschränkter Kapitalmobilität. Jede Zeile bezieht sich auf unterschiedliche Arten von Schocks: eine Zunahme der geplanten inländischen Ersparnis, ein Anstieg der geplanten Investition und eine Zunahme der Ersparnis in der übrigen Welt. Der Rest der Tabelle beschreibt die Wirkungen für die jeweilige Kombination.

KAPITEL 6: ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

231

Tabelle 6-7: Die Wirkungen von Spar- und Investitionsschocks bei unterschiedlicher Kapitalmobilität und unterschiedlicher Größe der Länder Fälle Art des Schocks

freie Kapitalmobilität (kleines Land)

Kapitalkontrollen

freie Kapitalmobilität (großes Land)

Anstieg der S-Kurve

Zunahme der LB; kein Effekt auf r

kein Effekt auf LB; Zunahme der LB; Rückgang von r Rückgang von r

Anstieg der /-Kurve

Abnahme der LB; kein Effekt auf r

kein Effekt auf LB; Abnahme der LB; Zunahme von r Zunahme von r

Anstieg von (S* - /*)

Abnahme der LB; Rückgang von r

kein Effekt auf LB; Abnahme der LB; Rückgang von r kein Effekt auf r

Risiko- und Durchsetzungsprobleme Zur Vereinfachung der Analyse haben wir bisher unterstellt, daß alle Schulden getilgt werden (bzw. in Höhe ihres Gegenwartswerts vollständig bedient werden). Es gibt in der Realität mindestens zwei Gründe dafür, daß dies nicht der Fall sein könnte. Erstens kann der Schuldner insolvent werden, d.h. nicht in der Lage sein, die Schulden aus dem gegenwärtigen und zukünftigen Einkominensstrom vollständig zu bedienen. Zweitens könnte sich der Kreditnehmer gegen die Rückzahlung der Schulden entscheiden, weil er glaubt, die Kosten der Nicht-Rückzahlung seien geringer als die Last der Tilgung. Gewollte Nichtzahlung kann auftreten, weil internationale Darlehen ein ernsthaftes Durchsetzungsproblem beinhalten. Für Kreditgeber ist es schwierig, ihre Forderungen einzutreiben, wenn ein ausländischer Schuldner Rückzahlungsprobleme hat, weil die Probleme der rechtlichen Durchsetzung von Verträgen besonders gravierend sind, sofern Kreditgeber und -nehmer zwei unterschiedlichen Ländern angehören. Dies gilt in besonderem Maße für Forderungen gegenüber ausländischen Staaten, die häufig als hoheitliche Darlehen bezeichnet werden, da es schwierig ist, von einem ausländischen Staat die Schulderfüllung zu erzwingen. In diesem Fall werden die Kreditgeber nicht alle Mittel bereitstellen, die der ausländische Kreditnehmer zum herrschenden Zinssatz aufnehmen will; sie werden vielmehr nur soviel gewähren, wie sie meinen, zurückerhalten zu können. Sofern ein kreditnehmender Staat eine hohe Auslandsschuld hat, muß er sich zu der Entscheidung durchringen, entweder die Schuld zu tilgen oder die Zahlungen zur Bedienung seiner Schulden auszusetzen. Es gilt, die Vorteile der Zahlungseinstellung (die eingesparte Auslandswährung) gegen

232

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

die Kosten einer solchen Handlung abzuwägen. Letztere schließen verschiedene Vertragsstrafen bei Nicht-Zahlung ein, ebenso wie die Kosten einer schlechten Reputation, die das Land bei zukünftigen Verhandlungen mit ausländischen Kreditgebern belasten. Zu den unmittelbaren Strafen, die von unzufriedenen Gläubigern auferlegt werden können, gehören (1) eine Sperre für weitere Kreditgewährung, (2) ein Entzug von kurzfristigen Krediten zur Förderung von Exporten und Importen, (3) der Versuch, das Land vom internationalen Handel abzuschneiden und (4) die internationalen Beziehungen des Landes zu unterbrechen. Derartige Strafen belasten die in Verzug geratenen Länder, bewirken aber im allgemeinen nicht viel im Hinblick auf die finanziellen Vorteile der Gläubiger. Diese Sanktionen erscheinen nützlich, um die Grenzen sicherer Kreditgewährung abzustecken. Sind sie im Falle der Nicht-Zahlung hoch und auch als hoch bekannt, so versuchen die Schuldnerstaaten so viel wie möglich zurückzuzahlen, damit die Sanktionen nicht auferlegt werden. In diesem Falle ist eine Kreditvergabe an einen ausländischen Staat sicher, weil dieser große Anstrengungen auf sich nehmen wird, um seine Schulden zu tilgen. Sind die Strafen gering, werden ausländische Staaten nur mäßige Bemühungen zur Rückzahlung unternehmen, so daß es riskant ist, selbst kleine Beträge zu verleihen. Für uns ist an dieser Stelle wichtig, daß - solange es Durchsetzungsprobleme gibt - der Strom internationaler Kreditgewährung wahrscheinlich geringer ist als im Falle einer perfekten Erzwingung der Vertragserfüllung. Zuerst werden die Bewohner eines Schuldnerlandes feststellen, daß sie sich einem um so höheren Zinssatz gegenübersehen, j e mehr sich ihr Land in der übrigen Welt verschuldet, wobei der höhere Zinssatz eine Prämie für die Gläubiger zum Ausgleich des zunehmenden Risikos der Nichterfüllung darstellt. Nachdem ein bestimmter Schuldenbetrag aufgelaufen ist, kann das Wagnis einer Kreditgewährung an das Land nicht mehr durch eine höhere Risikoprämie kompensiert werden, und das Land wird einfach von zusätzlichen Krediten abgeschnitten. Die vollständigen Implikationen einer derartigen Kreditrationierung erfordern eine gründliche und eigenständige Analyse. Aber im Kern reagiert die Leistungsbilanz etwa so wie im Falle eines großen Landes: Veränderungen der Ersparnis und der Investition berühren sowohl die Leistungsbilanz als auch den Zinssatz. (Diese Aspekte werden in späteren Kapiteln genauer erörtert.)

KAPITEL 6: ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

233

6-6 Zusammenfassung In einer Volkswirtschaft mit unbeschränkter Kapitalmobilität muß die inländische Ersparnis nicht gleich der nationalen Investition sein. Der Überschuß der Ersparnis über die Investition entspricht dem Saldo der Leistungsbilanz in der Zahlungsbilanz. Dieser ist tendenziell eine zunehmende Funktion des Zinssatzes, da ein höherer Zins die Ersparnis erhöht (wenngleich dieser Effekt theoretisch nicht eindeutig ist) und die Investition vermindert. Ein Überschuß der Leistungsbilanz bedeutet auch, daß ein Land internationale Aktiva akkumuliert; d.h. die Netto-Forderungen gegen die übrige Welt nehmen zu. Ein Defizit der Leistungsbilanz heißt, daß ein Land seine internationalen Aktiva abbaut. Daher läßt sich der Leistungsbilanzsaldo auch als Veränderung der Netto-Auslandsposition (NAP) eines Landes definieren. Wenn diese positiv ist, dann ist das Land ein Netto-Gläubiger gegenüber der übrigen Welt; ist sie negativ, dann ist das Land ein NettoSchuldner. Es gibt zwei weitere Arten, die Leistungsbilanz zu definieren: erstens als Differenz zwischen inländischem Einkommen und Absorption; zweitens als Saldo der Handels- und Dienstleistungsbilanz in der Zahlungsbilanz. Während der 80er Jahre haben die USA sich vom bedeutendsten internationalen Gläubiger infolge eines großen und anhaltenden Leistungsbilanzdefizits zum größten Schuldner gewandelt (wenngleich uns Datenprobleme daran hindern, ein exaktes Maß für die Netto-Schuldenposition zu erlangen). Während der gleichen Periode erzielten Japan und Deutschland riesige Leistungsbilanzüberschüsse und wurden zu den führenden internationalen Kreditgebern. Viele Faktoren beeinflussen die Leistungsbilanz. Ein Anstieg der Weltzinssätze führt tendenziell zu einer Verbesserung der Leistungsbilanz eines kleinen Landes, indem die Ersparnis erhöht und die Investition verringert wird. Bessere Investitionsaussichten (etwa durch die Erschließung natürlicher Ressourcen) bewirken eine Reduzierung des Leistungsbilanzsaldos. Ein vorübergehender Rückgang des inländischen Einkommens (z.B. infolge einer Verschlechterung der terms of trade oder einer schlechten Ernte) verursachen tendenziell eine Verringerung des Leistungsbilanzsaldos über einen Rückgang der inländischen Ersparnis. Eine dauerhafte Abnahme des inländischen Einkommens sollte jedoch geringe oder keine Wirkungen auf die Leistungsbilanz haben, da die Konsumausgaben um annähernd den gleichen Betrag zurückgehen sollten wie es dem Einkommensausfall entspricht. (Falls der permanente Schock, wenn auch unzutreffend, im großen und ganzen als ein temporärer interpretiert wird, würde sich der Saldo der Lei-

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TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

stungsbilanz gleichwohl verringern.) Die optimale Antwort auf Angebotsschocks (die das Outputniveau oder die terms of trade betreffen) läßt sich im allgemeinen in dem Satz zusammenfassen: "Finanziere einen temporären Schock; passe Dich einem permanenten Schock an." 19 Länder wie Individuen unterliegen einer intertemporären Budgetbeschränkung: der abdiskontierte Wert des aggregierten Konsums muß gleich dem abdiskontierten Wert der inländischen Produktion abzüglich des Wertes der Investition plus der ursprünglichen Netto-Auslandsposition sein. Dies kann auch auf andere Weise ausgedrückt werden: falls ein Land ein NettoSchuldner ist, dann muß es in der Zukunft Handelsbilanzüberschüsse erzielen, deren Gegenwartswert der anfänglichen Nettoschuld entspricht. Das grundlegende Modell der Kreditaufnahme und -vergäbe muß um verschiedene Beschränkungen erweitert werden. Erstens belegen einige Regierungen die internationale Kreditaufnahme und -vergäbe mit administrativen Restriktionen {Kapitalkontrollen). Soweit diese lückenlos sind, gibt es keine Kreditaufnahme oder -vergäbe vom bzw. an das Ausland, so daß das Land in finanzieller Isolation leben muß. Die inländischen Zinssätze würden sich von den Weltzinssätzen unterscheiden, und der Saldo der Leistungsbilanz müßte in jeder Periode Null betragen. Die inländische Ersparnis müßte stets gleich der inländischen Investition sei. Zweitens unterstellt das Grundmodell der Kreditaufnahme und -vergäbe, daß das Land hinreichend klein sei, so daß Veränderungen seiner inländischen Investition und Ersparnis den Weltzinssatz nicht berühren. Diese Annahme beschreibt den Fall der meisten Länder der Welt recht gut, mit Ausnahme einer Handvoll industrialisierter Volkswirtschaften. Bei diesen großen Ländern haben Veränderungen der inländischen Ersparnis und Investition merklichen Einfluß auf den Weltzinssatz. A u f einem global integrierten Kapitalmarkt wird der internationale Zinssatz so bestimmt, daß die Weltersparnis der Weltinvestition entspricht. Drittens unterstellt das Grundmodell, daß sämtliche Schulden zurückgezahlt werden (oder zumindest vollständig in Höhe der Gegenwartswerte bedient werden). Einige Schuldner könnten jedoch insolvent werden (also unfähig, ihre Schulden aus dem laufenden und zukünftigen Einkommen zu bedienen), während andere, die zahlen könnten, es vorziehen, in Verzug zu geraten, wohl wissend, daß es für die Gläubiger schwierig ist, eine Rückzahlung der Schulden zu erzwingen. Die Schwierigkeit, geschuldete Zahlungen durchzusetzen, ist bei hoheitlichen Verbindlichkeiten besonders groß; d.h. 19

"Finanziere" bedeutet hier, ein Leistungsbilanzdefizit einzugehen; "passe Dich an"

meint, den Konsum in ausreichendem Maß zu verringern, um den Schock ohne Kreditaufnahme zu absorbieren.

KAPITEL 6: ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

235

bei Darlehen an ausländische Staaten. Wenn potentielle Gläubiger begreifen, daß der Schuldner einen Anreiz hat, in Zukunft in Verzug zu geraten, werden sie das Darlehensangebot an den Kreditnehmer auf das Niveau beschränken, von dem sie glauben, daß es vom Schuldner zurückgezahlt wird. Schlüsselbegriffe Zahlungsbilanz Leistungsbilanz Netto-Auslandsposition Netto-Schuldner-Land Netto-Gläubiger-Land Absorption Annahme eines kleinen Landes Handelsbilanz Dienstleistungsbilanz Öffentliche Entwicklungshilfe Terms of trade

Kapitalbilanz Kapitalexport Kapitalimport Offizielle Währungsreserven Restposten der Zahlungsbilanz Nationale intertemporale Budgetbeschränkung Netto-Ressourcentransfer Kapitalmobilität Kapitalkontrollen Effekte eines großen Landes Hoheitliche Darlehen

Probleme und Fragen 1. Land A ist eine kleine offene Volkswirtschaft. Ist es für dieses Land möglich, einen Zinssatz zu haben, der sich von dem der übrigen Welt unterscheidet? Geben Sie Erläuterungen. 2. Länder, die Leistungsbilanzüberschüsse haben, müssen ihren Konsum wahrscheinlich in der Zukunft verringern. Richtig oder falsch? Erläutern Sie Ihre Antwort. 3. Diskutieren Sie die Frage, warum die USA während der 80er Jahre von einem der Hauptgläubiger zum größten Schuldner der Welt wurden. 4. Erörtern Sie die Beziehung zwischen einer Zunahme der Nettobestände an internationalen Aktiva, einem Überschuß der Leistungsbilanz und einer positiven Handelsbilanz. 5. Angenommen, das Land B sei ein Netto-Gläubiger. Die inländische Ersparnis sei auf einem bestimmten Niveau fixiert und der Saldo der Leistungsbilanz sei anfangs gleich Null. Was würde mit den nachfolgend genannten Variablen geschehen, falls sich der Wert der internationalen Aktiva dieses Landes infolge einer Veränderung ihrer Bewertung erhöhte? a. Netto-Auslandsposition. b. Leistungsbilanz. c. Investition.

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TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

6. Wie würden sich die Abbildungen 6-4a und 6-4b verändern, falls der Einkommenseffekt für die Sparer jenseits eines bestimmten Niveaus des internationalen Zinssatzes größer würde als der Substitutionseffekt? 7. Beschreiben Sie die Wirkungen auf den Zinssatz, die inländische Ersparnis und Investition bei den folgenden Ereignissen. (Analysieren Sie die Fälle einer geschlossenen Volkswirtschaft, einer kleinen offenen Volkswirtschaft, einer großen offenen Volkswirtschaft und einer solchen mit Kapitalkontrollen.) a. Das Land C entdeckt bedeutende neue Ölreserven. Diese sind in hohem Maße profitabel, aber es nimmt fünf Jahre in Anspruch, um diese durch neue Sachinvestitionen erschließen zu können. b. Kaltes Wetter in Land D erzwingt umfangreiche Fabrikschließungen für drei Monate. Die verlorengegangene Produktion kann nicht mehr aufgeholt werden, aber die Produktion kehrt im Frühjahr auf ihr Normalmaß zurück. c. Neue synthetische Fasern vermindern die Nachfrage nach Kupfer, wodurch dessen Preis im Vergleich zu anderen Gütern anhaltend verringert wird. Erwägen Sie die Effekte für das Land E, das ein Kupfer-Exporteur ist. 8. Angenommen, Ersparnis und Investition würden durch die folgenden Gleichungen bestimmt: 1= 50 - r und S = 4r. a. Falls das Land eine geschlossene Volkswirtschaft ist, welches sind die Gleichgewichtswerte des Zinssatzes, der Ersparnis, der Investition und der Leistungsbilanz? b. Wie würde sich Ihre Antwort zu (a) verändern, falls das Land eine kleine offene Volkswirtschaft ist und der internationale Zinssatz 8 % beträgt? Was würde bei einem Zinssatz von 12% geschehen? c. Wie würde sich Ihre Antwort zu (a) und (b) verändern, falls sich die Investitionsfunktion zu I = 70 - r verändert? 9. Betrachten Sie eine Volkswirtschaft mit folgenden Merkmalen: die Produktion in Periode 1 ( ß j ) beträgt 100; die Produktion in Periode 2 ( Q i ) 150, der Konsum in Periode 1 (C]) 120 und der Weltzinssatz ist bei 10%. (Gehen Sie davon aus, daß es keine Investitionsmöglichkeiten gibt.) Berechnen Sie im Rahmen des Zwei-Perioden-Modells: a. den Wert des Konsums in der zweiten Periode; b. die Handelsbilanzsalden beider Perioden; c. die Leistungsbilanzsalden in beiden Perioden. 10. Falls es keine Endperiode gibt, in der die Schulden zurückgezahlt werden müssen, unterliegen Schuldnerländer keiner intertemporalen Budgetbeschränkung. Richtig oder falsch? Erläutern Sie Ihre Antwort.

KAPITEL 6: ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

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11. Nehmen Sie an, Abb. 6-11 zeige die Situation zweier großer Länder in der ersten Periode im Zwei-Perioden-Modell. Wie würde das Diagramm in der zweiten Periode aussehen? Welche Kurven müßten sich verschieben, damit die beiden Länder ihre Wohlfahrt unter Beachtung ihrer intertemporalen Budgetbeschränkung maximieren? 12. Wie würden die nachfolgenden Transaktionen in der Zahlungsbilanz verbucht? a. Ein US-Unternehmen exportiert für 50 Mill. $ Waren und verwendet den Erlös zur Eröffnung einer Fabrik im Ausland. b. US-Bürger erhalten Dividenden auf Toyota-Aktien in Höhe von 10 Mill. $. c. Sylvester Stallone erhält 20 Mill. $ an Tantiemen aus ausländischen Verkäufen von Rambo. d. US-Vermögen in Libyen werden entschädigungslos verstaatlicht. ANHANG: Zahlungsbilanzrechnung In diesem Abschnitt werden wir untersuchen, wie die Zahlungsbilanzrechnung eines Landes tatsächlich aussieht. Die Leistungsbilanz wird für einen bestimmten Zeitraum ermittelt, üblicherweise für einen Monat, ein Quartal oder ein Jahr. In einem dieser Zeiträume werden in einem repräsentativen Land Millionen von Transaktionen von einzelnen Haushalten, Unternehmen und staatlichen Stellen abgewickelt, die aufsummiert werden müssen, um die gesamte Leistungsbilanz zu berechnen. Die grundlegende Idee der Zahlungsbilanzrechnung beruht auf der Tatsache, daß zwei Definitionen der Leistungsbilanz existieren: als Saldo der Handelsbilanz zuzüglich der Netto-Faktoreinkommen aus dem Ausland und als Veränderung der Netto-Auslandsposition des Landes. Ungleichgewichte des Handels finden ihre Entsprechung in einer Zu- oder Abnahme internationaler Netto-Aktiva. Die grundlegende Methode der Zahlungsbilanzrechnung macht sich den Umstand zunutze, daß Handels- und Finanzströme zwei Seiten einer Transaktion darstellen. In der Zahlungsbilanzrechnung werden die Transaktionen aufgeteilt in laufende Ströme (Exporte, Importe, Zinseinnahmen etc.) und Kapitalströme (Veränderungen im Besitz von Finanzaktiva), wie Tabelle A-l zeigt. Der obere Teil der Tabelle wird gelegentlich einfach als Leistungsbilanz bezeichnet, während der untere Teil die sogenannte Kapitalbilanz beinhaltet. Im Prinzip müssen sich die Salden der Leistungs- und der Kapitalbilanz in ihrem Wert entsprechen, sofern die Veränderung der internationalen Währungsreserven in der Kapitalbilanz enthalten ist. Wegen statistischer Fehler und Auslassungen bei der tatsächlichen Ermittlung der Transaktionen in der

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TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Praxis addieren sich die Positionen in der Leistungsbilanz nicht zum gleichen Betrag der Positionen in der Kapitalbilanz. Tabelle A - l : Zahlungsbilanzrechnung 1. Leistungsbilanz (LB = 1.1 + 1 . 2 + 1 . 3 ) 1.1 Handelsbilanz Exporte von Gütern Importe von Gütern 1.2 Dienstleistungsbilanz Nicht-Faktor-Leistungen (Transport, Versicherung, Tourismus etc.) Kapitalleistungen (Zinseinnahmen, Gewinnüberweisungen) Arbeitsleistungen (Lohnüberweisungen) 1.3 Einseitige Übertragungen 2. Kapitalbilanz (KB = 2.1+ 2.2) 2.1 Erhaltene Netto-Auslandsinvestition 2.2 Erhaltene Netto-Kredite Kurzfristig Langfristig 3. Statistische Ermittlungsfehler 4. Zahlungsbilanz-Ergebnis (ZB = 1 + 2 ) (= Veränderung der offiziellen Netto-Währungsreserven)

Aus theoretischer Sicht erfordern alle Positionen, welche die Leistungsbilanz berühren, zwei Buchungen in der Tabelle. Betrachten wir z.B. die Verbuchung in der US-Zahlungsbilanz im Falle des Verkaufs von Maschinen im Wert von 10 Mill. $ durch ein deutsches Unternehmen an einen Importeur in den USA. Dieser zahlt an das deutsche Unternehmen mit einem Scheck über 10 Mill. $, der auf ein Konto bei einer US-Bank einzahlt wird. Die Transaktion besteht aus zwei Teilen: die Lieferung der Güter, die als "Importe" ausgewiesen werden, und die Scheckzahlung, durch welche die Bankguthaben des deutschen Unternehmens erhöht werden, und dieser Vorgang wird unter "Verbindlichkeiten gegenüber Ausländern" verbucht. Die Buchungskonventionen für diese beiden Positionen sind so festgelegt, daß sich dieses Transaktionspaar zu Null ergänzt. Den Importen wird in der Tabelle ein negatives Vorzeichen gegeben (d.h. diese Transaktion wird mit - 1 0 Mill. $ verbucht), während die Zunahme der Verbindlichkeiten gegenüber Ausländern in die Kapitalbilanz mit einem positiven Vorzeichen eingeht (d.h. diese Transaktion wird mit + 10 Mill. $ gebucht). Sofern dies die einzigen zu berücksichtigenden Transaktionen wären, würde das Lei-

KAPITEL 6 : ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

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stungsbilanzdefizit gleich - 1 0 Mill. $ sein, während der Kapitalbilanzsaldo (dem Spiegelbild der Leistungsbilanz) gleich + 1 0 Mill. $ betragen würde. Eine Zunahme der Netto-Auslandsaktiva B* des Landes, wobei dies einen Anstieg der Forderungen oder eine Abnahme der Verbindlichkeiten gegenüber Ausländern bedeuten kann, wird als Kapitalexport bezeichnet. Eine Abnahme der Netto-Auslandsaktiva wird Kapitalimport genannt. Daher können wir über die oben beschriebenen Transaktionen sagen, daß ein Kapitalimport stattfindet, der das Defizit in der Leistungsbilanz der USA finanziert. Alternativ dazu könnten wir auch sagen, daß ein Überschuß in der Kapitaltjilanz das Defizit in der Leistungsbilanz finanziert. Es sind die folgenden Konventionen, die in der Zahlungsbilanzrechnung verwendet werden: 1. Exporterlöse und Zinseinnahmen aus dem Ausland gehen mit einem positiven Vorzeichen in die Leistungsbilanz ein. 2. Importzahlungen und Zinszahlungen auf Auslandsverbindlichkeiten erscheinen als negative Positionen in der Leistungsbilanz. 3. Die Zunahme von Forderungen gegen Ausländer sowie die Abnahme von Verbindlichkeiten gegenüber Ausländern (Kapitalexport) erscheinen als negative Positionen in der Kapitalbilanz. 4. Die Abnahme von Forderungen gegen Ausländer und die Zunahme von Verbindlichkeiten gegenüber Ausländern (Kapitalimport) stellen positive Positionen in der Kapitalbilanz dar. Sofern sämtliche Transaktionen in der Zahlungsbilanz tatsächlich so verbucht werden, wie sie auftreten, muß die Zahlungsbilanz nach den soeben skizzierten Konventionen (nach Aufsummierung der Leistungs- und Kapitalbilanz) einen Saldo von Null aufweisen. Wie noch erkennbar sein wird, werden einige Transaktionen allerdings nur teilweise ausgewiesen, so daß die Zahlungsbilanz-Statistiker sich manchmal einer lückenhaften Erfassung der Transaktionen gegenübersehen, mit dem Resultat, daß die ausgewiesenen Posten der Leistungs- und Kapitalbilanz sich nicht genau zu Null ergänzen. Betrachten Sie die folgende Auswahl an Transaktionen und studieren Sie sorgfaltig, wie diese in der begleitenden Tabelle A-2 ausgewiesen sind. (Jede Transaktion ist mit einem Buchstaben versehen, und die Buchungen in der Zahlungsbilanz werden zusammen mit dem in Klammern stehenden Transaktionsbuchstaben gezeigt).

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TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

(a) Ein US-Exporteur liefert für 5 Mill. $ Weizen nach Rußland auf der Basis eines 90-Tage-Kredits (d.h. der russische Importeur geht eine Schuld über 5 Mill. $ für 90 Tage ein). (b) Ein US-Bürger erhält eine Dividenden-Zahlung über 1 Mill. $ von einer ihm gehörenden Fabrik im Ausland, und er verwendet die Einnahme zur Reinvestition in diese Fabrik. (c) Nach einem Erdbeben in Armenien übersendet eine private Hilfsorganisation der U S A Erste-Hilfe-Ausrüstungen und Kleidung im Wert von 15 Mill. $. (d) Ein japanisches Unternehmen importiert für 20 Mill. $ Öl aus SaudiArabien und bezahlt mit einem Scheck auf ein Konto bei der New Yorker Filiale der Chase Manhattan Bank. Der Scheck wird dem Konto SaudiArabiens bei derselben Bank gutgeschrieben. (In diesem Fall erfolgt keine Buchung, da die Transaktion nicht die US-Zahlungsbilanz berührt.) (e) Ein US-Importeur kauft für 10 Mill. $ Waren von einem japanischen Elektronik-Unternehmen und bezahlt diese Transaktion mit Hilfe eines Kredits einer japanischen Bank, die dieses Geschäft finanziert. (f) Das US-Schatzamt verkauft im Wert von 20 Mill. $ offizielle DM-Reserven an US-Börsenhändler gegen Barzahlung. Tabelle A - 2 : Zahlungsbilanzrechnung der U S A gegenüber der übrigen Welt (Mill. US-$) (a) Leistungsbilanz Handelsbilanz Exporte Importe Dienstleistungsbilanz Zinsen Dividenden sonstiges Übertragungsbilanz Kapitalbilanz Netto-Auslandsinvestition Netto-Kredite kurzfristig langfristig Zahlungsbilanz

(b)

(c)

(d)

(e)

(f)

insg. -4

+5

+15

-10

+1

+1

-15 +4 -1

-15 -1 -5

+20 -10

+10

+5 0

KAPITEL 6: ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

241

Für jede Kapitaltransaktion gilt es zu beachten, daß diese in der korrekten Unterkategorie der Kapitalbilanz aufgezeichnet wird. So werden kurz- und langfristige Kapitalbewegungen unterschieden, wobei z.B. Bankguthaben kurzfristiges, langfristige Wert- und Dividendenpapiere langfristiges Kapital darstellen. 1 Langfristiges Kapital wird weiter untergliedert in Wertpapiere und Direktinvestitionen im Ausland, wobei letztere das unmittelbare Eigentum und die Kontrolle über ein im Ausland tätiges Unternehmen bedeuten (oder ausländisches Eigentum an einem in den USA operierenden Unternehmen). Eine weitere wichtige Unterscheidung erfolgt zwischen finanziellen Aktiva, die im Besitz des Staat sind (oder von diesem geschuldet werden) und solchen, die im Besitz des privaten Sektors sind (oder von diesem geschuldet werden). Die Notenbanken der meisten Länder (und manchmal auch die Schatzämter) halten kurzfristige Auslandsaktiva wie etwa kurzfristige Schatzwechsel, die von ausländischen Staaten emittiert worden sind. Derartige Bestände werden als offizielle Währungsreserven der Notenbank bezeichnet. Wir werden in späteren Kapiteln sehen, wie diese Reserven von der Notenbank eingesetzt werden können, um den Wechselkurs der heimischen Währung zu beeinflussen durch ein Verfahren, bei dem die Notenbank Währungsreserven gegen heimische, vom Publikum gehaltene Währung kauft oder verkauft. Wegen der Bedeutung der Währungsreserven für die Fähigkeit der Notenbank, den Wechselkurs zu beeinflussen, wird der Erfassung von Veränderungen der Währungsreserven besondere Aufmerksamkeit zuteil. Der Saldo der offiziellen Reservebewegungen zeigt die Veränderung der offiziellen Netto-Währungsreserven der Notenbank. Man sagt, ein Land habe einen positiven Saldo, wenn die Notenbank Netto-Währungsreserven akkumuliert, und einen negativen, wenn die offiziellen Reserven während der Periode abnehmen. Wir sollten beachten, wie dieses Konzept mit der Leistungs- und Kapitalbilanz verbunden ist. Sofern wir in der Kapitalbilanz alle Posten außer den offiziellen Währungsreserven erfassen, gilt: Saldo der offiziellen Reservebewegungen = Veränderung der offiziellen Netto-Währungsreserven = Leistungsbilanz + nicht-offizielle Kapitalbilanz Bei Addition der Leistungsbilanz und der gesamten Kapitalbilanz mit Ausnahme der offiziellen Reserven erhalten wir deren Saldo, wobei hinsichtlich 1

In der US-Zahlungsbilanz sind langfristige Aktiva und Verbindlichkeiten finanzielle Ansprüche mit einer ursprünglichen Laufzeit von einem Jahr oder mehr. So wird z.B. ein 20Jahres-Aktivum, das vor 19,5 Jahren ausgegeben worden ist und in einem halben Jahr fällig wird, im Rahmen der Zahlungsbilanz-Rechnung als langfristiges Aktivum betrachtet.

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T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

des Vorzeichens die Konvention besteht, daß ein positiver Wert eine Zunahme der Netto-Währungsreserven anzeigt. Der Saldo der offiziellen Währungsreserven wird manchmal etwas ungenau als "Gesamtzahlungsbilanz" bezeichnet. Man sagt, daß Länder "insgesamt" einen Überschuß aufweisen, falls sie offizielle Reserven anhäufen, und insgesamt ein Defizit bei Verlust von Reserven. Aus ökonomischer Sicht wäre es angemessener zu sagen, daß der Saldo der gesamten Zahlungsbilanz stets Null ist. Wenn wir die Veränderungen der offiziellen Reserven als Teil der Kapitalbilanz erfassen und der früheren Übung folgen, die Netto-Forderungen gegenüber der übrigen Welt mit einem negativen Vorzeichen in die Rechnung eingehen zu lassen (so daß Zunahmen der Reserven negativ erfaßt werden), so bleibt es zutreffend, daß sich die Salden der Leistungs- und Kapitalbilanz immer zu Null ergänzen. Der "gesamte" Saldo kann nur von Null verschieden sein, wenn wir die Veränderungen der offiziellen Reserven aus der Kapitalbilanz ausgliedern; dann müssen die Leistungsbilanz und die Bilanz der nicht-offiziellen Kapitalbewegungen keinen Saldo von Null haben. Deshalb haben wir als Position 4 in Tabelle A - l die Kategorie "Veränderung der offiziellen Netto-Währungsreserven" eingeführt. Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, daß die gesamte Zahlungsbilanz keinen Saldo von Null aufweist: statistische Ermittlungsfehler. Sofern jede internationale Transaktion getrennt erfaßt würde, wäre die Rechnung aus den genannten Gründen notwendigerweise ausgeglichen. Aber tatsächlich werden die Transaktionen nicht eine nach der anderen, so wie sie auftreten, aufgezeichnet. Die Statistiker, die die Zahlungsbilanzen erstellen, beobachten häufig die Handelsströme (Exporte und Importe) und die Kapitalbewegungen (Veränderungen der Forderungen gegenüber der restlichen Welt) getrennt voneinander. Sie erhalten Mitteilungen von den Zollbehörden über den Strom von Gütern und separate Berichte von den Finanzmärkten über die Veränderungen der Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber Ausländern. Viele Transaktionen, im Handel wie auch mit Finanzaktiva, werden aber nicht gemeldet, sowohl wegen der großen Zahl und Komplexität der Transaktionen als auch wegen des absichtlichen Versuchs, die Entdeckung zu vermeiden (wie im Falle der Geldwäsche und Steuerumgehung). Aus diesem Grund muß ein eigener Posten in der Zahlungsbilanz erscheinen, der als "Ermittlungsfehler und Auslassungen" oder "Restposten" bezeichnet wird. Diesem wird ein Wert zugeordnet, der der entgegengesetzten Saldensumme der Leistungsbilanz plus der Kapitalbilanz (einschließlich der offiziellen Reserven) entspricht, so daß sich tatsächlich alle Posten - die Ermittlungsfehler und Auslassungen eingeschlossen - zu Null ergänzen. In

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KAPITEL 6 : ERSPARNIS, INVESTITION UND LEISTUNGSBILANZ

den USA waren die Ermittlungsfehler während vieler Jahre in den 80er Jahren groß und positiv. Dies deutete für viele Beobachter darauf hin, daß Ausländer in den USA Aktiva akkumulierten, ohne daß deren Zunahme den Behörden zur Kenntnis gebracht wurde. Daher waren die ausgewiesenen Kapitalzuflüsse zu niedrig, und das, was eine höhere positive Buchung in der Kapitalbilanz (die Akkumulation von ausländischen Ansprüchen gegen US-Bürger messend) hätte bewirken müssen, erschien als positiver Eintrag in der Zeile der Ermittlungsfehler in der Zahlungsbilanz. Tabelle A-3: Kapitalbilanz und Netto-Auslandsposition der USA und Japans, 1980-1988 (Mrd. $ in laufenden Preisen) Japan

Jahr 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Netto-Auslandsposition 11,5 10,9 24,7 37,3 74,3 129,8 180,4 240,7 291,7

USA Kapitalbilanz

-5,4 -7,4 -16,5 -17,7 -54,0 -65,4 -133,0 -112,6 -111,4

Netto-Auslandsposition 106,3 140,9 136,7 89,0 3,3 -111,4 -267,8 -378,3 -532,5

Kapitalbilanz -28,0 -27,9 -30,8 28,7 71,5 102,3 129,6 156,5 137,2

Quelle: Für Japan, Management and Coordination Agency, Japan Statistical Yearbook, versch. Ausgaben; für die U S A , Economic Report o f the President, 1990 und Department o f Commerce, Survey o f Current Business (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, Juni 1990).

Die Länder sehen sich sehr unterschiedlichen Umständen hinsichtlich der Kapitalbewegungen und ihrer Netto-Auslandspositionen gegenüber. Für Vergleichszwecke können wir kurz die Fälle Japans und der USA während der 80er Jahre untersuchen. Wie wir bereits sahen, gerieten die USA in beträchtliche Leistungsbilanzdefizite, während Japan in dieser Periode Überschüsse erzielte. Als Gegenstück zu dieser Entwicklung der Leistungsbilanz ergab sich ein Kapitalbilanzüberschuß für die USA und ein Kapitalbilanzdefizit für Japan. Mit anderen Worten: Ausländer akkumulierten Ansprüche gegen die USA in unterschiedlicher Form (Schatzanweisungen, Aktien, Grundstücke und Produktionsunternehmen), was einen Zufluß von Kapital (einen Überschuß der Kapitalbilanz) bedeutete. Im Gegensatz dazu war Japan per Saldo ein Investor in der übrigen Welt: die Käufe von Auslandsakti-

244

TEIL II : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

va repräsentieren einen Abfluß von Kapital (ein Defizit der Kapitalbilanz). Tabelle A-3 zeigt den Kapitalbilanzsaldo (eine Stromgröße) und die NettoAuslandsposition (eine Bestandsgröße) für die beiden Länder.2 Zusammenfassung des Anhangs Die Zahlungsbilanz weist alle (bekannten) Transaktionen zwischen den Einwohnern eines Landes und der übrigen Welt aus. Die Zahlungsbilanzrechnung beruht auf zwei unterschiedlichen Definitionen der Leistungsbilanz: Handelsbilanzsaldo plus Netto-Faktoreinkommen aus dem Ausland sowie Veränderung der Netto-Auslandsposition. Handelsströme und Finanzströme sind zwei Seiten einer jeden Transaktion. Daher finden Handelsungleichgewichte ihre Entsprechung in einer Zunahme oder Abnahme der internationalen Netto-Aktiva. Ein Zuwachs der Netto-Auslandsaktiva eines Landes wird als Kapitalexport bezeichnet, eine Abnahme der NettoAuslandsaktiva als Kapitalimport. Im Prinzip sorgt die doppelte Buchführung dafür, daß ein Leistungsbilanzüberschuß (Defizit) sich in einem identischen Defizit (Überschuß) der Kapitalbilanz wiederfindet. In der Praxis können die Salden der Leistungs- und Kapitalbilanz wegen statistischer Ermittlungsfehler auseinanderfallen.

2

Wir sollten erneut darauf hinweisen, daß die Daten in dieser Tabelle zwar den unverkennbaren Trend einer sinkenden Nettoauslandsposition für die U S A und eine zunehmende für Japan zeigen, daß aber die spezifische Größen in der Tabelle unter dem Vorbehalt verschiedener Meßprobleme stehen.

Kapitel 7

Der staatliche Sektor Unsere Untersuchung der nationalen Ersparnis, Investition und Leistungsbilanz vernachlässigte bisher einen wesentlichen Teil der Volkswirtschaft: den Staatssektor, der auch als "öffentlicher Sektor" bezeichnet wird. Die Ersparnis und Investition des Staates hat bedeutende und manchmal subtile Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Sparen und Investieren und deshalb auch auf den Saldo der Leistungsbilanz. Die Spar- und Investitionspolitik des Staates ist Teil seiner gesamten Fiskalpolitik, d.h. des Musters der Ausgaben-, Besteuerungs- und Verschuldungsentscheidungen des öffentlichen Sektors. In diesem Kapitel werden wir einen ersten detaillierten Blick auf die Wirkungen der Fiskalpolitik werfen. Die Rolle des Staates in der Volkswirtschaft geht selbstverständlich weit über die Fiskalpolitik hinaus. Die staatliche Politik schließt die Geld- und Wechselkurspolitik ein; diese werden wir in späteren Kapiteln untersuchen. Der Staat erläßt ferner Gesetze und sorgt für deren Durchsetzung, durch die die privaten Aktivitäten gelenkt werden, und dieses Rechtssystem beinhaltet unter anderem die Regelungen privater Verträge, das Recht zur Gründung neuer Unternehmen, Regulierungen des internationalen Kapitalverkehrs, das Umweltschutzrecht und das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen. In vielen Ländern erfolgt ferner eine staatliche Güterproduktion durch staatseigene Unternehmen. Unsere derzeitige Konzentration auf die Fiskalpolitik erlaubt jedoch nur kurze Hinweise auf die vielen anderen bedeutenden Aspekte staatlicher Politik. Viele, wenn auch nicht alle Aspekte der Fiskalpolitik werden bestimmt durch den Staatshaushalt, in dem die Einnahmen und Ausgaben des öffentlichen Sektors für eine bestimmte Periode festgelegt sind (wenngleich manche öffentliche Ausgabe typischerweise außerhalb des formellen Budgets getätigt wird). Die Differenz zwischen Staatsausgaben und -einnahmen entspricht dem Budgetüberschuß - oder -defizit - , wodurch die Summe der Kreditvergabe oder -aufnähme des öffentlichen Sektors bestimmt wird. Eines unserer wichtigsten Anliegen in diesem Kapitel betrifft die genauere Untersuchung der Beziehungen zwischen diesem Budgetüberschuß (oder -defizit) und der volkswirtschaftlichen Ersparnis sowie Investition. Dabei unterliegt unser konzeptioneller Rahmen weiterhin den gleichen Einschränkungen wie in den drei vorangegangenen Kapiteln; d.h. wir vernachlässigen keynesianische Erwägungen und verwenden die klassischen

246

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Annahmen, daß der Output durch das Angebot bestimmt wird und daß Veränderungen der aggregierten Nachfrage die Produktion nicht berühren. Für die theoretischen Modelle dieses Kapitels halten wir ferner an der Prämisse fest, daß das Preisniveau konstant und gleich eins ist (P = 1). (Diese Bedingungen werden wir nicht aufheben bis zum Teil III des Buches, also nach einer vollständigen Beschreibung der Fiskal- und Geldpolitik.) 7-1 Staatliche E i n n a h m e n und Ausgaben Die wichtigste Quelle staatlicher Einnahmen sind die unterschiedlichen Formen von Steuern, die der Volkswirtschaft auferlegt werden. Diese Steuern können in drei weitgefaßte Kategorien unterteilt werden: Einkommensteuern der Individuen und Unternehmen einschließlich der Abgaben auf Arbeitseinkommen für die Soziale Sicherung, Ausgabensteuern einschließlich Umsatzund Verbrauchsteuern sowie Importzölle, Vermögensteuern mit einer Vielzahl von Abgaben auf Häuser und Gebäude, auf die für die Landwirtschaft und für Wohnzwecke genutzten Grundstücke sowie auf Erbschaften. Steuern werden ferner als direkt oder indirekt klassifiziert, obwohl diese Begriffe mitunter unpräzise sind. Die Klassifizierung als "direkt" bezieht sich im allgemeinen auf solche Steuern, die direkt von den Individuen und Unternehmen erhoben werden, während indirekte Steuern jene sind, die auf Waren und Dienstleistungen lasten. Einkommen- und Vermögensteuern gehören zur ersten Kategorie, Umsatzsteuern und Handelszölle zur zweiten. Entwickelte Länder und Entwicklungsländer haben gewöhnlich sehr unterschiedliche Steuerstrukturen. Erstere erzielen im allgemeinen einen hohen Anteil der Staatseinnahmen aus direkten Steuern; so stellen diese z.B. in den USA die bei weitem größte Einnahmequelle - über 85% der Gesamteinnahmen - dar, wobei der größte Teil von Individuen aufgebracht wird. In Entwicklungsländern wird hingegen der Großteil der Einnahmen gewöhnlich über indirekte Steuern erzielt; so stammen z.B. in Argentinien lediglich etwa 40% der gesamten Staatseinnahmen aus direkten Steuern. Ein Grund für die Dominanz indirekter Steuern als Einnahmequelle in Entwicklungsländern ist offenkundig: sie sind generell einfacher zu erheben als Steuern auf das Einkommen. Ein auf indirekten Steuern basierendes Steuersystem wirkt jedoch tendenziell regressiv, da die von den Armen aufzubringenden Steuern einen höheren Anteil ihres Einkommens ausmachen als bei den Reichen. Eine weitere Einnahmequelle des öffentlichen Sektors sind die Gewinne solcher staatlichen Unternehmen und Agenturen, die Güter und Dienste verkaufen. Auch wenn öffentliche Unternehmen in den USA quantitativ weniger bedeutsam sind, spielen sie in Westeuropa eine Rolle und haben insbe-

247

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

sondere für die Entwicklungsländer ein beträchtliches Gewicht. In vielen rohstoffreichen Entwicklungsländern können die Einkünfte staatseigener Rohstoffproduzenten einen großen Teil der öffentlichen Einnahmen ausmachen. In Venezuela befindet sich der Ölsektor im Eigentum des Staates und trug in den frühen 80er Jahren mit bemerkenswerten 77% zu den Staatseinnahmen bei.1 Diese allgemeinen Aspekte sind klar ersichtlich aus den Daten in Tabelle 7-1 zu den staatlichen Einnahmequellen von 104 Ländern, unterteilt in vier Kategorien der wirtschaftlichen Entwicklung: Industrieländer, semi-industrielle Länder, Länder mit mittlerem Einkommen und am schwächsten entwickelte Länder. Erkennbar ist, daß der aus direkten Steuern stammende Anteil der Staatseinnahmen um so größer ist, je weiter die Entwicklung der Ländergruppen fortgeschritten ist; je ärmer sie sind, um so stärker stützen Tabelle 7-1: Zusammensetzung der Staatseinnahmen für nach ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gruppierte Länder (in % der Gesamteinnahmen, um 1980) Ländergruppe (Zahl der Länder)

Steuere innahmen

Industrieländer (20)

semiindustr. Länder (15)

mittleres Eink. (55)

am schwächsten entwickelt (14)

33,3

25,3

23,7

17,0

25,0

13,0

4,1

1,6

26,0 3,7

30,6 14,5

23,1 28,9

21,7 41,6

9,0

11,1

14,9

13,0

direkte Steuern Einkommen u. Gewinne Soziale Sicherung indirekte Steuern inländische Güter u. Dienstleistungen internat. Handel nicht-steuerliche Einnahmen Quelle: Richard Goode, Government The Brookings Institution, 1984)

Finance

in Developing

Countries

(Washington, DC:

1 Vgl. Miguel Rodriguez, "Public Sector Behavior in Venezuela: 1970-85", in: Felipe Larrain und Marcelo Selowsky, Hrsg., The Public Sector and the Latin American Crisis (San Francisco: ICS Press, 1991).

248

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

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) zusammensetzen sowie Vermögensausgaben oder Investitionen (IS). Wir werden sehen, daß es für die makroökonomische Analyse wichtig ist, zwischen diesen beiden Kategorien zu unterscheiden. Tabelle 7-2 zeigt die Struktur der Staatsausgaben für einige entwickelte Länder und Entwicklungsländer. Es ist zu beachten, daß der ganz überwiegende Teil der Posten zu den laufenden Ausgaben gehört, während die Investitionen einen sehr geringen Anteil der Ausgaben ausmachen, im allgemeinen weniger als 10% (zu erinnern ist freilich daran, daß einige Kategorien der Investitionsausgaben vermutlich zu Unrecht den Konsumausgaben zugerechnet werden). Von besonderem Interesse ist, daß die vier in der Tabelle genannten entwickelten Länder (Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA) lediglich 5% oder weniger ihrer Staatsausgaben den Investitionen widmen, während im Gegensatz dazu die Länder Südostasiens (Korea, Malaysia und Thailand) mehr als 10% ihrer Ausgaben für Kapitalausgaben verwenden. Beachtenswert ist ferner, daß die großen lateinamerikanischen Schuldnerländer in dieser Auswahl (Brasilien und Mexiko) einen überwältigenden Teil ihrer Budgets für Zinszahlungen auf die inländische und ausländische Schuld opfern. Obwohl die Tabelle keine Veränderungen während der 80er Jahre ausweist, ist ausführlich dokumentiert worden, daß die internationale Schuldenkrise den Hauptgrund für den Zusammenbruch der öffentlichen Investitionen und anderer Ausgaben im Budget der lateinamerikanischen Schuldnerländer bildet. Weltweit haben die Gesamtausgaben des Staates seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Verhältnis zum BIP zugenommen. Wie Tabelle 7-3 erkennen läßt, erlebten viele Industrieländer, verglichen mit 1938, eine Verdoppelung - oder mehr - im Verhältnis der Staatsausgaben zum BIP. In den Niederlanden z.B. hat sich diese Quote in 50 Jahren nahezu verdreifacht; in Frankreich stieg sie auf mehr als das Doppelte, in den USA verdoppelte sie sich. Die einzigen Länder, die sich diesem Trend widersetzten, sind Deutschland und Japan; bei diesen war die Größe des Staatssektors, so wie dies in Tabelle 7-3 gemessen wird, 1988 nicht wesentlich anders als 1938. Der dem 19. Jahrhundert entstammende deutsche Ökonom Adolph Heinrich Wagner sah diesen steigenden Anteil der Staatsausgaben am BIP voraus, und seine Vorhersage wird seither als Wagner'sches Gesetz bezeichnet. 3 Die gängigste Erklärung dieses Phänomens ist, daß Staatsleistungen ein "superiores Gut" sind; d.h. die Einkommenselastizität der Nachfrage der Haushalte nach staatlichen Ausgaben ist größer als eins. Anders gesagt: jede Zunahme des Haushaltseinkommens um 1% fuhrt zu einem Anstieg der 3

A.H. Wagner, Finanzwissenschaft,

Bde. I und II (Leipzig: C.F. Winter, 1877 und 1890).

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

251

Haushaltsnachfrage nach G, die größer als 1% ist. Daher steigt der Anteil von G an 7 ebenfalls mit der Zunahme des /Vo-Ä'o/^Einkommens. Bevor wir uns der Untersuchung der staatlichen Ersparnis und Investition zuwenden, sollten wir eine Warnung hinsichtlich der makroökonomischen Bedeutung der Begriffe "staatlicher Sektor" oder "öffentlicher Sektor" anfügen. Der Begriff "Staatssektor" kann in verschiedenen Kontexten eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Für die meisten Länder ist es wichtig, zwischen dem Zentralstaat, dem Gesamtstaat, dem Sektor der nicht-finanziellen öffentlichen Unternehmen und dem finanziellen öffentlichen Sektor zu unterscheiden. Der Begriff "Zentralstaat" bezieht sich auf die öffentliche Kontrolle und die Verwaltungen auf nationaler Ebene. Der Gesamtstaat schließt den Zentralstaat, die verschiedenen regionalen Körperschaften und dezentralisierten Institutionen, wie staatliche Pensionsfonds oder öffentliche Universitäten, ein. Die Zusammenfassung des Gesamtstaates und des Sektors der nicht-finanziellen öffentlichen Unternehmen wird als "nicht-finanzieller öffentlicher Sektor" bezeichnet. Fügen wir schließlich die Notenbank und die staatseigenen Finanzinstitute hinzu, so gelangen wir zum "konsolidierten öffentlichen Sektor". 7-2 Staatliche Ersparnis, Investition und Verschuldung Während die Haushalte den größten Teil ihres Einkommens aus dem von ihnen erzeugten Output (Q) beziehen, erzielt der Staat sein Einkommen aus Steuern. Im Moment wollen wir annehmen, daß die Steuern (7) als Pauschalabgaben erhoben werden. Mit anderen Worten: jeder Haushalt zahlt eine bestimmte Summe ohne Rücksicht auf sein Einkommen oder seine Ausgaben. Daher berühren diese Steuern nicht direkt die Entscheidungen der Haushalte hinsichtlich der Höhe ihres Arbeitsangebots, ihrer Investition oder ihrer Produktion, abgesehen davon, daß die Steuern das Gesamteinkommen der Haushalte beeinflussen. Weil die meisten Steuern direkte Wirkung auf die Haushaltsentscheidungen haben (indem die Ersparnis relativ zum Konsum und Arbeit relativ zur Freizeit besteuert wird), werden wir realistischere Steuerformen später in Betracht ziehen. Unterscheiden sich Ausgaben und Einkommen, so gibt oder nimmt der Staat Kredit, genau so wie der private Sektor. Wir können tatsächlich für den Staat eine Budgetbeschränkung analog zu der der Haushalte ableiten. Diese ist wichtig, da sie uns erlaubt, einige subtile Verbindungen zwischen der Wohlfahrt der Haushalte und der Fiskalpolitik zu erkennen. Wenn BS der Bestand des Staates an Finanzaktiva ist, so wird dessen zeitliche Entwicklung gegeben durch: BS = BS_i + rB%_\ + T-{G +IS)

(7.1)

252

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Die Variable G bezieht sich hier auf die Konsumausgaben des Staates, IS auf die Investition und T bezeichnet die Steuern abzüglich der Transfers. Die Gleichung besagt, daß die staatlichen Aktiva am Ende der laufenden Periode den Aktiva der Vorperiode entsprechen zuzüglich der aus diesen Aktiva erzielten Zinsen sowie der vom Staat erhobenen Steuern abzüglich der Ausgaben für Konsum und Investition. Staaten halten tatsächlich Brutto-AkXiva., wie Reserven in ausländischen Währungen und Gold, aber normalerweise sind die Netto-Aktiva negativ, weil die Verbindlichkeiten höher sind die Aktiva. Es erscheint sinnvoll, (7.1) in Form der staatlichen Netto-Verschuldung DS auszudrücken, wobei DS = -BS ist; also: DS = DS_X + rDS_x +G +

IS-T

oder DS - DS_X = G + rDS_x + IS - T

(7.2)

Der rechten Seite von Gleichung (7.2) entspricht das Budgetdefizit, welches gleich den Gesamtausgaben abzüglich der Einnahmen ist. An dieser Stelle nehmen wir an, daß DS vollständig vom privaten Sektor gehalten wird; d.h. der Staat finanziert seine Defizite ausschließlich durch Kreditaufnahme bei den Privaten. In der Realität kann ein Teil von DS auch von der Notenbank gehalten werden. Wenn die Notenbank ihren Bestand an staatlichen Schuldtiteln erhöht, so wird, wie wir später sehen werden, das Defizit tatsächlich durch eine Ausweitung des Geldangebots finanziert. Die Veränderung der Schuld kann auch in Form der staatlichen Ersparnis und Investition ausgedrückt werden. Wie gewöhnlich ist die staatliche Ersparnis (SS) die Differenz zwischen dem Einkommen (T - rDS_j) und dem Konsum G, so daß SS = (T-rDS_l)-G

(7.3)

Aus den Gleichungen (7.2) und (7.3) können wir das staatliche Budgetdefizit (DEF) aus der Differenz zwischen Investition und Ersparnis des öffentlichen Sektors ermitteln: DEF =DS-DS_X=IS-SS

(7.4)

Offensichtlich ist ein Budgetüberschuß das Gegenteil von einem Defizit und entspricht daher der Ersparnis minus der Investition. 7-3 Staatliches Budget und Leistungsbilanz Wir sind nun in der Lage, den öffentlichen Sektor in unsere Analyse der Leistungsbilanz einzubeziehen. Im letzten Kapitel war der Leistungsbilanzsaldo als Differenz zwischen der gesamten Ersparnis und Investition der Volkswirtschaft (LB = S - I) definiert worden; doch nun entspricht die Ge-

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

253

samtersparnis der Summe aus staatlicher (SS) und privater Ersparnis (SP)-, die Investition hat ebenfalls eine öffentliche und private Komponente. Daher gilt: LB = (SP + Sg) - (JP + IS) = (SP-

IP) + (SS - IS)

= (SP-

IP) - DEF

(7.5)

Der Leistungsbilanzsaldo ist daher gleich dem privaten Finanzierungsüberschuß (SP - IP) abzüglich des Budgetdefizits. Es ist zu beachten, daß (7.5) auf eine Beziehung zwischen der Höhe des staatlichen Budgetdefizits und dem Leistungsbilanzsaldo verweist. Falls der private Überschuß konstant bleibt, geht eine Zunahme des Budgetdefizits mit einer Verringerung des Leistungsbilanzsaldos einher. Daher wird vom Internationalen Währungsfonds typischerweise empfohlen, daß der beste Weg zur Überwindung eines Leistungsbilanzdefizits in einer Reduzierung des Defizits des öffentlichen Sektors bestehe. Selbstverständlich kommt in Gleichung (7.5) lediglich eine Identität zum Ausdruck und nicht eine Theorie der Leistungsbilanz. Wir können gewiß nicht unterstellen, daß sich z.B. der private Überschuß gegenüber Veränderungen des Budgetdefizits invariant verhält. Wie wir später sehen werden, haben jedoch Änderungen des Budgetdefizits im allgemeinen bedeutende Wirkungen auf die Leistungsbilanz. Die Erfahrungen von einigen Industrieländern im Zeitraum 1978-86 illustrieren diesen Effekt sehr deutlich. Tabelle 7-4 zeigt die Veränderung des staatlichen Finanzierungssaldos (als Näherungsmaß für Budgetdefizite und -Überschüsse) und die Veränderung des Leistungsbilanzsaldos im Verhältnis zum gesamten Output für 1978-79 und 1985-86. Die negativen Zahlen zeigen an, daß sich das Budget oder die Leistungsbilanz verschlechterten. In den USA spiegelt sich diese Verschlechterung des Budgets recht deutlich in einer Abnahme der Leistungsbilanz; eine ähnliche Erscheinung kann für Frankreich und Italien beobachtet werden. In Japan und Deutschland stellte sich die Situation völlig anders dar: die Verbesserung der Staatsfinanzen ging Hand in Hand mit einer Stärkung der Leistungsbilanz. Die einzige Ausnahme bildete Kanada, wo der Finanzierungssaldo in dieser Periode abnahm und sich der Leistungsbilanzsaldo verbesserte. Selbst wenn man von Kanada absieht, entsprachen sich die Veränderungen der Finanzierungs- und Leistungsbilanzsalden natürlich nicht genau, weil die privaten Spar- und Investitionssalden in dieser Periode nicht unverändert blieben.

254

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Tabelle 7 - 4 : Veränderungen des allgemeinen staatlichen Finanzierungssaldos und des Leistungsbilanzsaldos, Industrieländer, 1 9 7 8 - 1 9 8 6 * (in % )

Land

Veränderung des staatlichen Finanzierungssaldos

USA

Veränderung des Leistungsbilanzsaldos

-3,65

Japan Deutschland

4,15 1,32

-2,75 3,65

Frankreich Großbritannien

-1,60 0,95

3,05 -0,97 0,30

Italien Kanada

-1,90 -3,70

-2,00 0,85

* Die Veränderung des staatlichen Finanzierungssaldos mißt die Veränderung des Anteils des allgemeinen staatlichen Finanzierungssaldos in % des BSP oder BIP. Die Veränderung wurde berechnet als Durchschnitt des Anteils der Jahre 1 9 8 5 - 1 9 8 6 abzüglich des Durchschnittswertes für 1 9 7 8 - 1 9 7 9 . Entsprechendes gilt für die Veränderung des Leistungsbilanzsaldos. Quelle: J. Sachs, "Global Adjustments to a Shrinking U.S. Trade Deficit", Brookings pers on Economic Activity, 1988 (Washington, DC: Brookings Institution.)

Pa-

Gleichung (7.5) befähigt uns, den öffentlichen Sektor in viele der zuvor abgeleiteten Gleichungen zu integrieren. Bevor wir dies tun, müssen wir aber die Definition der privaten Ersparnis (SP) erweitern. Diese entspricht der Differenz zwischen privatem Einkommen und Konsum. Das private Einkommen, das üblicherweise als verfügbares Einkommen bezeichnet wird, ist gleich dem Output zuzüglich der Zinseinkünfte abzüglich der Steuern.

(7.6)

Yd=Q + rBP_]-T

Der private Sektor erzielt Zinsen aus seinem Bestand an Finanzvermögen BP, das der Summe aus der privaten Haltung von Staatsanleihen DS und Auslandsaktiva B* entspricht. Daher können wir schreiben: BP = DS + B*, wobei ein Stern "*" wie gewöhnlich eine Auslandsvariable kenntlich macht. Die private Ersparnis ist das verfügbare Einkommen minus Konsum:

SP=Yd-C

(7.7)

= {Q + rBP_x -T)-C

Nach Kombination von (7.7) und (7.3) ergibt sich die gesamte volkswirtschaftliche Ersparnis als:

S = SP + SS = [(Q + rBP_j - 7 ) - C] + [T-rDg_,)

= Q + rB*_\ -

C-G

- G]

KAPITEL 7: D E R STAATLICHE SEKTOR

= Y-(C

255 (7.8)

+ G)

Es ist zu beachten, daß wir uns die folgenden Tatsachen zunutze gemacht haben: BP_X - DS_X = B*_x und Y= Q + rB*_x. Nach Addition der privaten und öffentlichen Ersparnis gelangen wir zu der intuitiven Definition der volkswirtschaftlichen Gesamtersparnis als BIP (Y) abzüglich öffentlichen und privaten Konsums. Nun können wir den Leistungsbilanzsaldo in einer vertrauten Version ausdrücken: LB = S-I=Y-(C

+ G + I)

(7.9)

Der Ausdruck (7.9) besagt wiederum, daß der Leistungsbilanzsaldo der Differenz von Einkommen und Absorption entspricht, wobei die Absorption nun unter Einschluß des staatlichen Konsums und der staatlichen Investition definiert ist. Und da die Leistungsbilanz einfach gleich dem Handelsbilanzsaldo (HB) plus der Netto-Faktoreinkommen aus dem Ausland (rB*_ j) und Y= Q + rB*_i ist, können wir auch sagen: HB = Q-(C

+

I+G)

(7.10)

Damit haben wir erneut die Ausdrücke für den Leistungsbilanzsaldo, die wir in Kapitel 6 ableiteten, wobei sie jetzt allerdings die Ausgaben und Einnahmen des öffentlichen Sektors einschließen. Wir können den Staat ebenfalls in die graphischen Darstellungen aus Kapitel 6 integrieren. In Abb. 7-1 repräsentiert SP die Sparkurve des privaten Sektors. Um die Gesamtersparnis zu erhalten, addieren wir einfach die private und öffentliche Ersparnis. In der Abbildung wird die staatliche Ersparnis durch den horizontalen Abstand zwischen den Kurven S (Gesamtersparnis) und SP gegeben. Es ist zu beachten, daß S und SP parallel verlaufen; dies folgt aus der - vereinfachenden - Annahme, daß die Ersparnis des

S = SP + ss

I = ip+iz s, i

Abb. 7-1: Der Staat und der Spar-Investitions-Prozeß

256

T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Staates exogen und vom Zinssatz unabhängig ist (deshalb berührt eine Veränderung des Zinssatzes nicht die horizontale Distanz zwischen den Kurven S und SP). Analog dazu können wir die Kurve der Gesamtinvestition durch Addition der privaten Investition und einer gegebenen Höhe der staatlichen Investition erhalten. In Abb. 7.1 haben wir einfach die /-Kurve gezeichnet, welche sowohl die öffentliche als auch die private Investition einschließt. Diese Abbildung wird uns erlauben, die Effekte der Fiskalpolitik auf die Leistungsbilanz zu untersuchen. 7-4 Interaktion zwischen privatem und öffentlichem Sektor Die finanzpolitischen Entscheidungen des Staates berühren die Handlungen der Haushalte am direktesten über die Steuerwirkungen auf deren Budgetbeschränkung. Die Zwei-Perioden-Budgetbeschränkung der Haushalte enthält das Einkommen abzüglich der Steuern, so daß Steueränderungen einen unmittelbaren Effekt auf dieses haben. Um zu sehen, wie sich das vollzieht, wollen wir uns an Gleichung (4.15) erinnern und sie hier in der folgenden Form reproduzieren: G1 H——— = {Q\~T\) +\ Q I - T 2 1 1 (1 + r) L O+O

)

.

»i

(7.H)

Offensichtlich kann die Finanzpolitik den Zeitpfad des Konsums über Veränderungen von T] und beeinflussen. Wir können (7.11) ferner verwenden, um die Effekte temporärer, permanenter und antizipierter Steueränderungen miteinander zu vergleichen. Dabei sollten wir anfangs davon ausgehen, daß das staatliche Budget ausgeglichen ist, so daß Steueränderungen stets mit gleich großen Veränderungen der Staatsausgaben korrespondieren. Wir geben diese Annahme später auf, wenn es darum geht, den realistischeren Fall der Defizitfinanzierung zu analysieren.4 Eine temporäre, steuerfinanzierte Erhöhung der Staatsausgaben Betrachten wir nun die Wirkungen einer temporären, durch Steuern finanzierte Erhöhung von G, z.B. einer Zunahme der Staatsausgaben zur Finan4

Die folgende Analyse hat eine wichtige Einschränkung. Wie in den Kapitel 3 und 4 gehen wir von der klassischen Annahme aus, daß Fluktuationen der Nachfrage den Output nicht berühren. Es sei daran erinnert, daß wir das keynesianische Modell erst nach der vollständigeren Analyse der Modellbausteine in Teil IV aufgreifen. Deshalb schließen wir - per Annahme - jegliche Effekte aus, die Veränderungen von G und Tauf den Output als Folge einer Änderung der Gesamtnachfrage haben könnten, obgleich derartige Konsequenzen für die Produktion einen weiteren Weg darstellen, über den sich die Ausgaben des öffentlichen und privaten Sektors gegenseitig beeinflussen können.

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

257

zierung eines Krieges. Angenommen, G\ und T\ würden um den gleichen Betrag erhöht, während SSt ebenso wie G2 und T2 unverändert bleiben. Unser Konsummodell besagt, daß C\ sinken wird, jedoch in geringerem Maße, als T] zunimmt. Wir erinnern uns, daß der Konsum als lineare Funktion des privaten Vermögens (Cj = kWj) mit einer marginalen Konsumneigung (k) in bezug auf das Vermögen von kleiner 1 dargestellt wurde. 5 Wenn fVj wegen der höheren Steuern sinkt, geht der Konsum also um weniger als die Vermögensminderung zurück. Unsere Intuition sagt uns, daß ein temporärer Anstieg der Steuern einen vorübergehenden Rückgang des verfügbaren Einkommens bedeutet und die Haushalte versuchen, einen geglätteten Konsumpfad aufrechtzuerhalten, indem sie sich während der Periode vorübergehend hoher Steuern gegenüber der Zukunft verschulden. Daher wird die private Ersparnis infolge einer temporären Steuererhöhung sinken. Da die staatliche Ersparnis bei einem gleich großen Anstieg von G\ und T\ unverändert bleibt, während das private Sparen abnimmt, geht die volkswirtschaftliche Gesamtersparnis zurück. Wie wirkt sich das auf die Leistungsbilanz aus? Für ein kleines Land, das sich einem gegebenen Weltzinssatz gegenübersieht, bedeutet die Abnahme der Ersparnis bei gegebener Investition, daß sich der Leistungsbilanzsaldo reduziert. In Abb. 7-2a wird dieser Fall dargestellt. Es ist zu beachten, daß die Gesamtersparnis als Summe von privater Ersparnis und (unveränderter) öffentlicher Ersparnis dargestellt ist. Ausgehend vom Gleichgewicht in P u n k t e , gerät die Leistungsbilanz in ein Defizit im Umfang von AB. Mithin verschlechtert eine temporäre, steuerfinanzierte Erhöhung der Staatsausgaben die Leistungsbilanz. Im Falle von Kapitalkontrollen, wie in Abb. 7-2b dargestellt, ruft jedoch der Rückgang der volkswirtschaftlichen Ersparnis einen Anstieg des inländischen Zinssatzes statt einer Verschlechterung der Leistungsbilanz (die jetzt stets ausgeglichen sein muß) hervor. Sofern der vorübergehende Anstieg der Ausgaben und Steuern in einem größeren Land wie den USA auftritt, muß diese Analyse modifiziert werden. Der Rückgang der Ersparnis in den USA beeinflußt den Weltzinssatz, wobei dieser nach oben gedrückt wird. Zugleich verschlechtert jedoch die sinkende Ersparnis die US-Leistungsbilanz, wie in Abb. 7-3 gezeigt wird. Infolge der höheren Zinssätze nimmt in der übrigen Welt die Ersparnis zu und die Investition ab, wodurch sich die Leistungsbilanz verbessert. Zusammengefaßt führt eine vorübergehende, steuerfinanzierte Ausweitung der Staatsausgaben in den USA zu einem Anstieg des Weltzinssatzes, einer Erhöhung des Lei-

5

Vgl. Gleichung (4.16) in Kapitel 4.

258

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

stungsbilanzdefizits der USA und einer Vergrößerung des Leistungsbilanzüberschusses im Ausland.

Abb. 7-2: Wirkungen einer temporären, steuerfinanzierten Zunahme der Staatsausgaben: (a) der Fall eines kleinen Landes, (b) mit Kapitalkontrollen

Abb. 7-3: Wirkungen einer temporären, steuerfinanzierten Zunahme der Staatsausgaben: (a) der Fall eines großen Landes, (b) mit Kapitalkontrollen

KAPITEL 7 : D E R STAATLICHE SEKTOR

259

Eine permanente Zunahme der Staatsausgaben Betrachten wir nun eine permanente Zunahme der staatlichen Ausgaben, die durch höhere Steuern finanziert wird. In diesem Fall steigen G j und G 2 gleichermaßen um AG, ebenso wie sich T\ und um AT erhöhen. Die staatliche Ersparnis bleibt wie im Fall einer temporären Erhöhung der Ausgaben und Steuern unverändert. Das private Sparen wird nun aber weniger stark berührt. Die anhaltende Steuererhöhung läuft auf einen Rückgang des permanenten, verfugbaren Einkommens hinaus. Die Haushalte müssen sich dem anpassen, indem sie ihren Konsum stärker reduzieren als im Falle einer vorübergehenden Steuererhöhung. Folglich geht die private Ersparnis weniger zurück - möglicherweise auch gar nicht. Wenn wir dieses Szenario auf unseren Vergleichsfall aus Kapitel 4 anwenden, bei dem der Konsum exakt gleich dem permanenten Einkommen war, dann sehen wir, daß eine anhaltende Erhöhung der Ausgaben und Steuern keinen Effekt auf die Leistungsbilanz hat. Dort war, wie wir uns erinnern, der Konsum proportional zum Vermögen, Cj = kW, mit k gleich (1 + r)/(2 + r). Wenn sich T\ und T2 gleichermaßen um AT erhöhen, dann sinkt das Vermögen um AW = -AT + -A77(l + r) = -AT[{2 + r)/( 1 + r)]. Folglich ist der Rückgang des Konsums in der ersten Periode AC] gleich kAW= -AT. Tabelle 7-5: Wirkungen einer permanenten und transitorischen Erhöhung der Staatsausgaben (ausgeglichenes Budget) Fälle Art der Schocks

Freie Kapitalmobilität (kleines Land)

KapitalKontrollen

Freie Kapitalmobilität (großes Land)

temporäre Erhö- Rückgang von S; Rückgang von S; hung von G Rückgang von LB; kein Effekt auf (allgem. Fall) kein Effekt auf r LB; Zunahme von r

Rückgang von S; Rückgang von LB; Zunahme von r

permanente Erhöhung von G (allgem. Fall)

Rückgang von S (geringer); Rückgang von LB (geringer); kein Effekt auf r

Rückgang von S (geringer); kein Effekt auf LB; Zunahme von r (geringer)

Rückgang von S (geringer); Rückgang von LB; Zunahme von r (geringer)

permanente Erhöhung von G (Vergleichsfall)

kein Effekt auf S, LB oder r

kein Effekt auf S, LB oder r

kein Effekt auf S, LB oder r

260

TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Der private Konsum sinkt im gleichen Maße, wie die Steuern steigen, und die private Ersparnis ändert sich nicht. Die Wirkungen einer permanenten und transitorischen Erhöhung der Staatsausgaben sind in Tabelle 7-5 zusammengefaßt. Fiskalische "Verdrängung" (crowding out) Verdrängung ist ein allgemeiner Ausdruck für jeden Rückgang der privaten Ausgaben, den ein Anstieg der öffentlichen Ausgaben begleitet. Zumeist bezieht sich der Begriff "Verdrängung" auf eine Senkung der privaten Investition, die durch eine Ausdehnung der Staatsausgaben hervorgerufen wird. In einer offenen Volkswirtschaft können auch andere Ausgaben - z.B. die Netto-Exporte - durch ein steigendes G verdrängt werden. Wir wollen das Phänomen der Verdrängung für die beiden gerade behandelten Fälle untersuchen. Zuerst wenden wir uns einer temporären, steuerfinanzierten Erhöhung der Staatsausgaben zu. In einer kleinen Volkswirtschaft mit freier Kapitalmobilität hat diese finanzpolitische Aktion keine Auswirkungen auf die Zinssätze und berührt daher die private Investition nicht. Die Verschlechterung der Leistungsbilanz legt eine abweichende Form der Verdrängung nahe: einen Rückgang der Netto-Exporte des Landes. Ohne zusätzliche Information sind wir freilich nicht in der Lage zu sagen, wie sich dieser Rückgang der Netto-Exporte aufteilt auf höhere Importe (infolge eines höheren G) und niedrigere Exporte. Praktiziert andererseits ein kleines Land Kapitalkontrollen, dann verdrängen höhere Staatsausgaben die Investition statt der Netto-Exporte (diese müssen infolge der Kapitalkontrollen stets gleich Null sein). Die sinkende Ersparnis erhöht die inländischen Zinssätze und drückt damit die inländische Investition. (Auch der private Konsum könnte verdrängt werden, sofern dieser eine abnehmende Funktion des Zinssatzes ist.) In einem großen Land mit unbeschränkter Kapitalmobilität verdrängt ein Anstieg der öffentlichen Ausgaben sowohl die inländischen privaten Ausgaben und die Netto-Exporte, als auch Investition und Konsum im Ausland. Betreibt ein Staat jedoch eine permanente Ausweitung der Ausgaben (ein ausgeglichenes Budget unterstellt), so ist die Verdrängung der Investitionen und der Netto-Exporte notwendigerweise geringer, oder sie wird sogar vermieden (wie in unserem Vergleichsfall, bei dem der Rückgang des Konsums gleich der Zunahme der permanenten Staatsausgaben ist). Die gesamte Analyse gilt selbstverständlich unter der Voraussetzung klassischer Vollbeschäftigung. Wenn keynesianische Nachfrageeffekte bei einer Veränderung von G und T auftreten, dann muß diese Analyse modifi-

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

261

ziert werden. Es sind diese Modifikationen, die wir vornehmen, wenn wir uns in Teil IV der keynesianischen Analyse zuwenden.

7-5 Ricardianische Äquivalenz Die ricardianische Äquivalenz ist eine interessante theoretische Position, die zeigt, daß unter bestimmten Umständen eine Veränderung im Zeitpfad der Steuern - etwa niedrigere Steuern in der Gegenwart und höhere Steuern in der Zukunft - die privaten Ausgaben nicht berührt und daher auch die volkswirtschaftliche Ersparnis, Investition und Leistungsbilanz unverändert läßt. Diese Vorstellung fuhrt zu einigen eindrucksvollen theoretischen Ergebnissen, z.B. zu Fällen, bei denen eine Steuerkürzung, die das Budgetdefizit erhöht, keinerlei Wirkungen auf die Leistungsbilanz hat, abgesehen von der scheinbar starken Beziehung, die wir in Gleichung (7.5) herausstellten. Die ricardianische Äquivalenz wurde im 19. Jahrhundert zuerst formuliert (und im großen und ganzen aufgrund praktischer Erwägungen verworfen) von dem bedeutenden englischen Ökonomen David Ricardo.6 Kürzlich wurde sie sowohl in formaler Weise betrachtet als auch popularisiert von Robert Barro von der Harvard Universität.7 Darstellung des ricardianischen Äquivalenz-Theorems Betrachten wir die Budgetbeschränkung des privaten Sektors in Gleichung (7.11). Nach einigen geringfügigen Umstellungen können wir diese wie folgt ausdrücken: c- _ Ol (7.12) Ti + G + 2 = ßl + (1 + r) (1+r) (l+r)J Wir sehen, daß der Konsum über die Lebenszeit dem Gegenwartswert des Outputs abzüglich des Gegenwartswertes der Steuern entspricht. Der Zeitpfad der Steuern spielt für die Budgetbeschränkung der Haushalte solange keine Rolle, wie der Gegenwartswert der Steuern unverändert bleibt. Überlegen wir nun, was geschieht, wenn die gegenwärtigen Steuern (Tj) um A7 gesenkt werden, während die zukünftigen Steuern (T^) um (1 + r)AT angehoben werden (der Gegenwartswert der Steuern bleibt infolge dieser Konstruktion unverändert):

6

Diese Idee ist dargelegt in David Ricardo, "Funding System", in: Piero Sraffa, Hrsg., The Works and Correspondence of David Ricardo, Bd. 4 (Cambridge: Cambridge University Press, 1951). 7

Die erste formale Behandlung der ricardianischen Äquivalenz findet sich bei Barro, "Are Government Bonds Net Wealth?", Journal of Political Economy, Nov./Dez. 1979.

262

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

(1+r)

(7.13)

(1+r)

Trotz der Senkung der gegenwärtigen Steuern und der Erhöhung des laufenden verfugbaren Einkommens werden vorausschauende Haushalte ihr derzeitiges Konsumniveau C] nicht ändern. Der Grund ist einfach: die Steuersenkung berührt nicht ihr Vermögen über die Lebenszeit, da die Steuern künftig angehoben werden zum Ausgleich für die gegenwärtige Verringerung. Buchhalterisch ausgedrückt, können wir feststellen, daß die laufende private Ersparnis (S^i) zunimmt, wenn T\ sinkt; die Haushalte sparen das Einkommen, das sie durch die Steuersenkung erhalten, um die zukünftige Steuererhöhung bezahlen zu können. Dies vereinfacht selbstverständlich stark, was wahrscheinlich eintreten wird. Zahlreiche Untersuchungen haben empirisch gezeigt, daß der laufende Konsum unter bestimmten Umständen bei einer Senkung von T\ tätsächlich steigt. Die in der Realität existierenden Liquiditätsbeschränkungen, Unsicherheit, marginale Anreizeffekte von Steuern und die unterschiedlichen Zeithorizonte des Staates und der Haushalte mögen zusammengenommen die einfache ricardianische Äquivalenz scheitern lassen. Darüber hinaus können die expansiven Effekte einer Steuersenkung, so wie sie Keynes sich vorstellte, ebenfalls eine Veränderung der Konsumausgaben verursachen. Betrachten wir den Fall der Senkung laufender Steuern, welche den Gegenwartswert der Steuern unverändert läßt, so wird dessen theoretische Bedeutung offenbar, wenn wir die intertemporale Budgetbeschränkung des Staates in Betracht ziehen. Ebenso wie die Haushalte muß der Staat seine Ausgaben und Einkommen über die Zeit ausgleichen, wenngleich nicht unbedingt in jeder Periode. Um dies zu sehen, können wir unter Verwendung von Gleichung (7.2) eine Zwei-Perioden-Budgetbeschränkung für den Staat ableiten. Ebenso wie wir dies für die privaten Akteure taten, wollen wir wiederum unterstellen, der Staat habe zu Beginn keine Netto-Schulden (DS0 = 0); daher gilt: D&i = Gi + ß} - Tx DS2 = DSX + rD%\ + (G2 + IS2 - T2) Wir können diese beiden Gleichungen (ebenso wie bei den Haushalten) kombinieren, um zur intertemporalen Budgetbeschränkung des Staates zu gelangen: (1+r)

(1+r)

+

(1+r)

(7.14)

Gemäß (7.14) muß der Gegenwartswert der staatlichen Ausgaben (die linke Seite der Gleichung) dem Gegenwartswert der Steuern zuzüglich einer am

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

263

Ende der zweiten Periode verbleibenden Schuld (die rechte Seite der Gleichung) entsprechen. 8 Was hat dies mit dem ricardianischen Äquivalenztheorem zu tun? Dieses behauptet, daß bei gegebenem Zeitprofil des staatlichen Konsums (G] und G 2 ), der Investition (/?[ und IS2) und der Verschuldung in Periode 2 (DS2) der Zeitpfad des Konsums ( Q und C2) von jenem der Steuern (T] und T2) unabhängig ist. Dies ist, zumindest in der Theorie, anhand der Gleichungen (7.12) und (7.13) leicht überprüfbar. Aus der Budgetbeschränkung des Staates in (7.14) ersehen wir, daß für gegebene Werte von G j , G2 , 1%2 und Ds2 der Gegenwartswert der Steuern ebenfalls gegeben ist. Die Budgetbeschränkung der Haushalte in (7.12) ist nicht vom Zeitpfad der Steuern, sondern von deren Gegenwartswert abhängig. Daher haben Veränderungen von T\ und T2, die T¡ + T2/(l + r) aufrechterhalten, keinen Einfluß auf die intertemporale Budgetbeschränkung. Wir haben bereits auf eine gewichtige theoretische Implikation dieser Aussage hingewiesen. Nehmen wir beispielsweise an, der Staat beginne in jeder Periode mit ausgeglichenem Budget bei G] + ISj = T\ und G2 + is2 = T2. Nun sei unterstellt, der Staat senke um AT, ohne seine Ausgaben zu verändern. In diesem Fall wird die öffentliche Schuld um den Betrag der Steuersenkung zunehmen. In der nächsten Periode müssen die Steuern (T2) um (1 + r)AT angehoben werden, um einen Anstieg der Schulden DS2 zu vermeiden. Es ist zu beachten, daß die Steuern in Zukunft um mehr als die Steuersenkung erhöht werden müssen, weil der Staat den in Periode 1 aufgenommenen Kredit verzinsen und zurückzahlen muß. Dem ricardianischen Äquivalenztheorem zufolge bleiben dann C] und C2 von einer Änderung von T\ und T2 unberührt. Betrachten wir auch die Wirkungen einer Veränderung des Zeitpunktes der Besteuerung auf die Ersparnis. Wenn T\ gesenkt wird, vermindert sich die staatliche Ersparnis im Umfang der Steuersenkung = T¡ - Gj). Die private Ersparnis nimmt um den Betrag der Steuerkürzung zu [SP] = (Q¡ T1) - Cj]. Daher bleibt die volkswirtschaftliche Ersparnis von der Steuersenkung unberührt, da der Rückgang der staatlichen Ersparnis durch die Zunahme der privaten Ersparnis genau ausgeglichen wird. Mithin impliziert das ricardianische Äquivalenztheorem, daß eine Form der expansiven Finanzpolitik, eine Steuersenkung ohne Veränderung der Staatsausgaben in 8 Im Zwei-Perioden-Modell der Haushalte haben wir jede Schuld oder Forderung am Ende der Periode 2 ausgeschlossen. Aber nun wollen wir die Möglichkeit offenlassen, daß der öffentliche Sektor über die Zwei-Perioden-Lebenszeit der jetzt existieren Haushalte hinaus "lebt"; wir lassen mithin die Möglichkeit einer Staatsschuld am Ende der Periode 2 zu. (Wir folgen also der Vorstellung, daß der Staat generell eine längere Existenz als die Individuen hat; eine Idee, die wir auch später verwenden werden).

264

TEIL I I : INTERTEMPORALE Ö K O N O M I K

diesem Fall, keine Wirkung auf die volkswirtschaftliche Ersparnis und deshalb auch nicht auf die Leistungsbilanz und die Zinssätze hat. Dieses Ergebnis gilt für drei von uns beschriebenen Typen von Volkswirtschaften: für kleine Länder mit freier Kapitalmobilität, für solche mit Kapitalkontrollen und große Länder ohne Restriktionen für Kapitalbewegungen. Dieses Ergebnis verdeutlicht einige Einschränkungen der ceteris-paribusAnnahme, die wir bei der Diskussion von Gleichung (7.5) verwendeten. Dort merkten wir beiläufig an, daß höhere Budgetdefizite tendenziell zu einer Verschlechterung der Leistungsbilanz führen, vorausgesetzt, höhere Budgetdefizite würden die private Ersparnis unberührt lassen. Nun erkennen wir Bedingungen, unter denen höhere Haushaltsdefizite das private Sparen tatsächlich beeinflussen und dadurch gerade kompensiert werden. Einschränkungen der ricardianischen Äquivalenz Locker formuliert, behauptet das ricardianische Äquivalenztheorem, daß der Zeitpfad der Steuern den Konsum nicht berührt, sofern die staatlichen Ausgaben konstant bleiben. Dies ist eine provokative Idee, deren Einschränkungen wir genau untersuchen müssen. Eine wesentliche Einschränkung liegt in der Tatsache, daß der öffentliche Sektor einen längeren Verschuldungshorizonts als die Haushalte haben kann. Falls der Staat in den USA in diesem Jahr die Steuern senkt, so kann er mit der Akkumulation von Schulden über mehrere Jahrzehnte fortfahren, bevor er die Steuern in naher Zukunft erhöht. In diesem Fall würde die zukünftige Steuererhöhung nicht von den heute lebenden Haushalten bezahlt, sondern von den noch ungeborenen künftigen Generationen. 9 Die jetzigen Haushalte betrachten daher die gegenwärtige Steuersenkung als reales Geschenk, das nicht durch zukünftige Erhöhungen der Steuern, für die sie auf9

Falls der Staat in der zweiten Periode eine Schuld übrigließe, so müßte für diese in späteren Perioden gezahlt werden. Jede am Ende der zweiten Periode verbleibende Staatsschuld muß durch einen Überschuß der Steuern (7) über die staatlichen Ausgaben für Konsum und Investition (G + IS) in der Periode 3 und darüber hinaus finanziert werden. Präziser gesagt, muß der abdiskontierte Wert der zukünftigen Überschüsse, definiert als (T-G - IS), gleich dem Wert der am Ende der Periode 2 hinterlassenen Schuld sein: z)g2 =

(73-G3-/g3)|(r4-G4-/g4)| (!+/•)

..

2

(1 + r)

T - G - IS wird manchmal als primärer Budgetüberschuß bezeichnet. (Es ist nicht der gesamte Budgetüberschuß, da er die Zinszahlungen auf die öffentliche Schuld nicht einschließt.) Die Schulden müssen also durch zukünftige primäre Überschüsse "bezahlt" werden. Die Gleichung besagt natürlich nicht, daß der öffentliche Sektor einen primären Überschuß in jeder Periode nach Periode 2 erreichen müßte, sondern lediglich einen primären Überschuß in Höhe des Gegenwartswertes.

KAPITEL 7 : D E R STAATLICHE SEKTOR

265

kommen müßten, wieder weggenommen wird. Die Folgerungen liegen dann auf der Hand. Eine solche Steuersenkung würde einen Anstieg des Konsums hervorbringen und eine Senkung der volkswirtschaftlichen Ersparnis insoweit, als die zunehmende private Ersparnis den Rückgang des staatlichen Sparens nicht vollständig kompensiert. Als Resultat davon würde sich der Saldo der Leistungsbilanz tendenziell verringern. Unser theoretischer Rahmen erlaubt uns, diese Situation mit einiger Präzision zu beschreiben. Betrachten wir unter Zuhilfenahme von Gleichung (7.14) eine Steuersenkung AT in Periode 1, die nicht durch eine Steuererhöhung in Periode 2 ausgeglichen wird, sondern durch eine Zunahme von DS2, die Schuld am Ende der Periode 2, finanziert wird. Der Schuldenanstieg in Periode 2 beträgt -(1 + r)AT. Aus Gleichung (7.12) folgt, daß sich die Steuerkürzung aus der Sicht der Haushalte als eine reine Erhöhung des Lebenszeit-Vermögens darstellt, wobei AW = -AT ist. Mit anderen Worten: Die heute lebenden Haushalte interessieren die Steuern, die sie zahlen müssen, nicht jedoch die Zunahme der öffentlichen Schuld (DS2), die eine Steuererhöhung zu Lasten der künftigen Generation erfordert. Der Vermögenszuwachs fuhrt andererseits zu einem Anstieg des Konsums. C, steigt um kAT, wobei k den Proportionalitätsfaktor zwischen Vermögen und Konsum angibt. Da k < 1 ist, nimmt die private Ersparnis zu, aber in geringerem Maße als die Steuersenkung. Das verfugbare Einkommen wird um den Betrag der Steuerkürzung AT erhöht, und der Konsum steigt um kAT, so daß die private Ersparnis sich wie folgt ändert: ASP, = AYP\ - AC, = AT =

-kAT (\-k)AT

Zugleich nimmt die öffentliche Ersparnis um den vollen Betrag AT ab, so daß die volkswirtschaftliche Ersparnis, SP] + S£,, zurückgeht: AS, = ASP, + AS?, = (1

-k)AT-AT

= -kAT

Robert Barro konstruierte einen Fall, bei dem das ricardianische Äquivalenztheorem selbst dann gültig ist, wenn die Steuererhöhung auf die ferne Zukunft verschoben wird (wir deuteten diese Situation in Kapitel 4 an). Barro argumentiert, daß sich die jetzigen Haushalte um die Steuern, die ihre Kinder (oder die Kinder ihrer Kinder!) dereinst zahlen müssen, Sorgen machen. Um das wirtschaftliche Wohlergehen ihrer Nachkommen zu sichern, würden die Haushalte in der Gegenwart vermehrt sparen, damit die gegenwärtige Steuersenkung ausgeglichen wird, selbst wenn die zu erwartenden

266

TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Steuererhöhungen erst dann eintreten, wenn sie schon lange nicht mehr leben. Die gegenwärtige Generation würde den Willen haben, ihren Kindern eine private Ersparnis zu hinterlassen, die diesen dazu verhilft, für die Staatsschuld in Zukunft aufzukommen. In einigen extremen Fällen der Fürsorge zwischen den Generationen könnten sich die Haushalte an einen Rückgang der laufenden Steuern AT so anpassen, als hätten sie selbst die zukünftigen Steuererhöhungen zu tragen. Diese Erweiterung des ricardianischen Äquivalenztheorems wird gelegentlich als Barro-Ricardo-Äquivalenz bezeichnet. Es gibt viele andere Gründe, die Relevanz des ricardianischen Äquivalenztheorems in Zweifel zu ziehen. Denken wir beispielsweise an einen Haushalt, der auf der Basis des zukünftigen Vermögens jetzt mehr auszugeben wünscht, aber nicht in der Lage ist, sich zu verschulden gegenüber seinem Zukunftseinkommen infolge von Unvollkommenheiten der Finanzmärkte (eine Bank ist z.B. unsicher, ob eine Person tatsächlich hohe Einkünfte in Zukunft haben wird und verweigert daher die Kreditvergabe). Diesen, in ihrer Liquidität beschränkten Haushalten erlaubt jede Zunahme des laufenden verfügbaren Einkommens, mehr auszugeben. Unter diesen Umständen scheitert die ricardianische Äquivalenz. In ihrer Liquidität beschränkte Haushalte entscheiden sich dazu, bei einer Senkung der Steuern ihre Ausgaben zu erhöhen, statt das Zufallseinkommen zu sparen, um ihre Kinder für zukünftige Steuererhöhungen zu entschädigen. James Tobin und Willem Buiter von den Yale Universität haben diesen Punkt ebenso herausgestellt wie Glenn Hubbard von der Columbia Universität und Kenneth Judd von der Hoover Institution. 10 Unsicherheit ist ein weiterer bedeutender Faktor, der die Gültigkeit des ricardianischen Äquivalenztheorems unterminiert. Martin Feldstein von der Harvard Universität hat gezeigt, daß Haushalte, die hinsichtlich ihres zukünftigen Einkommensniveaus unsicher sind, bei einer Steuersenkung dazu veranlaßt werden, ihren privaten Konsum auszudehnen, selbst wenn sie sich um die Steuern, die ihre Kinder später zu zahlen haben mögen, Gedanken machen. Ferner kann die Aussage des ricardianischen Äquivalenztheorems unterhöhlt werden, falls die Besteuerung nicht pauschal erfolgt. So könnte z.B. eine Kürzung der laufenden Steuern auf Arbeitseinkommen eine zukünftige Erhöhung der Besteuerung von Kapitaleinkommen implizieren. Eine derartige Steuersenkung kann einen Rückgang statt einer Zunahme der

10

Vgl. Willem Buiter und James Tobin, "Debt Neutrality: A Brief Review o f Doctrine and Evidence", in: Georg von Fürstenberg, Social Security versus Private Saving (Cambridge, Mass.: Ballinger, 1979) sowie Glenn Hubbard und Kenneth Judd, "Liquidity Constraints, Fiscal Policy and Consumption", Brookings Papers on Economic Activity, 1:1986.

267

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

privaten Ersparnis bewirken. 11 Schließlich ist gezeigt worden, daß progressive Steuern auf Erbschaften die ricardianische Äquivalenz ebenfalls durchbrechen. 12 Auch durch empirische Studien ist die Aussage des ricardianischen Äquivalenztheorems in Zweifel gezogen worden. Martin Feldstein testete die Konsumeffekte der US-Steuerpolitik für die Periode 1930-1977. Seine Schätzungen deuten darauf hin, daß Steuersenkungen bei unveränderten Staatsausgaben tendenziell zu einer Erhöhung des privaten Konsums fuhren. 13 Lawrence Summers von der Harvard Universität und James Poterba vom MIT untersuchten die Relevanz der ricardianischen Äquivalenz für die US-Volkswirtschaft in den 80er Jahren. 14 Die USA wiesen in den 80er Jahren hohe Budgetdefizite auf, die durch eine Steuersenkung verursacht waren. Dem ricardianischen Äquivalenztheorem zufolge hätte dies zu einem Anstieg der privaten Ersparnis fuhren müssen in dem Maße, wie die Haushalte eine Zunahme künftiger Steuern antizipierten. Statt dessen ermittelten Summers und Poterba, daß die privaten Sparquoten nach der Steuersenkung unverändert blieben oder sogar zurückgingen. Dieser Beleg ist mit der Existenz einer signifikanten Zahl von in ihrer Liquidität beschränkten Haushalten konsistent (er stimmt freilich auch überein mit der Möglichkeit, daß die Haushalte erwarteten, die Steuersenkungen würden in der Zukunft durch Kürzungen der Staatsausgaben statt durch Steueranhebungen ausgeglichen). So wie es unser Modell für eine große Volkswirtschaft wie die der USA voraussagt, wurde der Rückgang der volkswirtschaftlichen Ersparnis auch von einer Verschlechterung der US-Leistungsbilanz und einen Zinsanstieg begleitet. In einem gründlichen Überblick zur Evidenz der Aussage des ricardianischen Äquivalenztheorems folgerte Douglas Bernheim, daß "... eine Folge von Untersuchungen die Existenz eines robusten kurzfristigen Zusammenhangs zwischen Defiziten und aggregiertem Konsum bestätigten. Auch wenn es für dieses Muster eine Vielzahl möglicher Erklärungen gibt, ist es nicht zuletzt mit der traditionellen keynesianischen Sichtweise [keine ricardianische Äquivalenz] konsi11

Vgl. Alan Auerbach und Lawrence Kotlikoff, Dynamic Cambridge University Press, 1987).

Fiscal

Policy

(Cambridge:

12

Vgl. Andrew Abel, "The Failure of Ricardian Equivalence Under Progressive Wealth Taxation", National Bureau of Economic Research Working Paper No. 1983, Juli 1986. 13

Vgl. Martin Feldstein, "Government Deficits and Aggregate Demand", Journal Monetary Economics, Januar 1982.

of

14 Vgl. James Poterba und Lawrence Summers, "Recent U.S. Evidence on Budget Deficits and National Savings", National Bureau of Economic Research Working Paper No. 2144, Februar 1987.

268

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Stent ... Obwohl die Evidenz von Zeitreihen gegen die ricardianische Äquivalenz ins Gewicht fällt, reicht dies für sich genommen als Maßstab nicht aus. Im Lichte theoretischer Argumentationen und Verhaltensanalysen zeigt sich indessen ein bündiges Bild, in dem das ricardianische Ergebnis relativ unwahrscheinlich erscheint." 15

7-6 Einige Gründe für übermäßige Staatsausgaben Bisher haben wir die Finanzpolitik im wesentlichen so behandelt, als sei sie exogen bestimmt. Wir betrachteten die Niveaus von G und T einfach als gegeben, ohne daß wir den Versuch unternommen hätten, für diese im Rahmen unseres Modells eine Erklärung zu liefern. Wir können allerdings eine Reihe von politisch-ökonomischen Modellen staatlichen Handelns verwenden, um die Politik im Hinblick auf G und T zu erklären. Ökonomen entwickelten ein zunehmendes Interesse an der Frage, welche Beziehungen zwischen der politischen Umwelt, der sich der Staat gegenübersieht, und den tatsächlich erfolgenden Entscheidungen besteht. Es wird nunmehr beispielsweise weitgehend anerkannt, daß die auf Machterhalt bedachten Regierungen am Vorabend politischer Wahlen zu einer Aufblähung ihrer Tätigkeiten neigen. Für die USA fand sich eine positive Korrelation zwischen verfügbaren Einkommen und Vor-Wahl-Perioden, in denen die Regierung versuchte, ihrer Partei an den Wahlurnen mit einer Erhöhung der Transferzahlungen, mit Steuersenkungen und/oder einer Ausdehnung der Staatsausgaben behilflich zu sein. 16 Wenn Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen zum Ausgleich des Budgets notwendig werden, warten auf Machterhalt bedachte Regierungen normalerweise bis zur Zeit nach einer Wahl. Ein Beispiel dafür lieferte Israel 1973. Nachdem Sachverständige empfohlen hatten, eine Mehrwertsteuer (MWSt) einzuführen und die Einkommensteuer zu senken, wurde letzteres prompt in Kraft gesetzt, während man mit der Einfuhrung der MWSt bis nach der nächsten Wahl wartete. Im Hinblick auf einen zufälligen Einkommensgewinn, auch wenn dieser temporär ist, tun sich viele Regierungen schwer, dem politischen Druck zu widerstehen, diesen nicht auch auszugeben. Und wenn die Umstände ihnen einen leichten Kreditzugang erlauben, verschulden sich viele Staaten selbst 15

Vgl. B. Douglas Bemheim, "Ricardian Equivalence: An Evaluation of Theory and Evidence", NBER Macroeconomics Annual, Bd. 2 (New York: National Bureau of Economic Research, 1987), S. 291. 16 Die klassische Arbeit zu diesem Thema lieferte Edward Tufte, Political Control of the Economy (Princeton, NJ.: Princeton University Press, 1978). Vgl. auch William Nordhaus, "The Political Business Cycle", Review of Economic Studies, April 1975.

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

269

dann, wenn die spätere Rückzahlung mühsam sein sollte. Betrachten wir den Fall Mexikos. Dieses Öl exportierende Land profitierte 1979-80 vom Höhenflug der Weltölpreise, der zu einem bedeutenden Anstieg der öffentlichen Einnahmen führte. Die Regierung unter Präsident Lopez Portillo zögerte nicht, dieses zusätzliche Einkommen zu verausgaben und sich überdies auf den Weltmärkten mit Blick auf die zukünftigen Öl-Einnahmen hoch zu verschulden. Das Ergebnis war eine gewaltige und schmerzliche Schuldenkrise. Theoretische Untersuchungen deuten darauf hin, daß jede Regierung in Ländern, in denen die politische Macht zwischen rivalisierenden Parteien häufig wechselt, zu hohen Ausgaben während ihrer Amtszeit neigen und damit ihren Nachfolgern, zumeist die Oppositionspartei, eine beträchtliche Verschuldung hinterlassen. 17 Diese hohe Verschuldung beschränkt die Ausgaben späterer Regierungen, aber die gerade im Amt befindliche Regierung kümmert dies wenig. Eine jüngere empirische Studie zu den Budgetdefiziten der Industrieländer hat gezeigt, daß Regierungen, die von vielen Parteien getragen werden wie z.B. die Mehr-Parteien-Koalitionen in Italien - tendenziell die höchsten Defizite aufweisen. Vermutlich ist es sehr schwierig, in einer Mehr-Parteien-Koalitionsregierung einen Konsens für einen harten Kurs zu finden. 18 Ein-Parteien-Regierungen, wie jene in Großbritannien und Japan, haben sich als sehr viel effektiver erwiesen, Budgetdefizite unter Kontrolle zu halten, als dies Mehr-Parteien-Regierungen in anderen Ländern Europas, wie etwa in Italien, gelungen ist. Tabelle 7-6 zeigt die Entwicklung der Staatsschuld im Verhältnis zum BIP für fünf industrielle Demokratien in der Periode 1960-1990. In allen Ländern außer Italien ist der Anteil der öffentlichen Schuld am BIP in den Jahren 1960-1973 entweder gesunken oder nur langsam gestiegen. Die Steuereinnahmen stiegen infolge des hohen Wachstums rapide, und es fiel den meisten Regierungen recht leicht, die Defizite unter Kontrolle zu halten. Als sich das Wachstum in der Weltwirtschaft nach 1973 verlangsamte, nahmen die Budgetdefizite und die Anteile der öffentlichen Schuld am BIP in den meisten Ländern tendenziell zu. Die Zunahmen waren in den Ländern mit Mehr-Parteien-Koalitionsregierungen, wie etwa in Italien und Belgien,

17

Vgl. Alberto Alesina und Guido Tabellini, "A Positive Theory of Fiscal Deficits and Government Debt in a Democracy", National Bureau of Economic Research Working Papers No. 2308, Juli 1987. 18

Vgl. Nouriel Roubini und Jeffrey Sachs, "Political and Economic Determinants o f Budget Deficits in the Industrial Democracies", European Economic Review, Mai 1989.

270

TEIL II : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Tabelle 7-6: Anteil der gesamtstaatlichen Nettoschuld am BIP, 1 9 6 0 - 1 9 9 0 (in %) Jahr

USA

1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

45,00 44,70 42,50 40,40 38,30 35,30 32,50 32,40 30,70 28,30 27,80 27,90 25,80 23,00 22,20 24,60 24,40 23,30 21,30 19,80 19,70 19,30 21,60 24,10 25,30 27,40 29,90 31,10 31,40 30,70 31,20

Deutschland -13,20 -15,40 -15,50 -13,30 -14,80 -12,80 -11,90 -10,10 -8,80 -8,90 -8,10 -7,10 -5,70 -6,70 -4,70 1,00 4,60 7,00 9,40 11,50 14,30 17,40 19,80 21,40 21,70 22,00 21,70 23,10 23,70 22,30 22,60

Italien*

Belgien

GB

N N N N 23,16 26,19 29,66 29,58 32,00 31,83 33,91 38,08 43,28 45,10 42,67 51,87 52,73 52,65 55,33 55,25 53,60 57,30 63,50 68,80 74,40 81,30 86,20 90,90 93,70 95,90 98,20

82,30 80,00 76,80 74,50 68,90 66,60 65,10 63,30 62,20 59,20 55,50 54,60 52,60 50,90 47,50 49,80 50,10 53,70 57,50 61,70 68,90 81,30 92,60 103,70 108,70 112,30 116,30 121,20 123,10 121,30 120,60

123,20 120,90 116,10 109,20 102,60 96,70 92,50 92,40 86,80 82,10 74,80 70,10 65,30 57,90 54,90 57,20 56,00 55,70 53,40 48,70 47,50 46,70 45,40 45,70 47,40 46,20 45,20 42,60 36,00 30,70 28,90

N = Nicht verfügbar. * Für Italien sind die Daten von Roubini und Sachs mit denen der OECD verknüpft. Quelle: Für die Periode 1960-1979 vgl. N. Roubini und J. Sachs, "Political and Economic Determinants of Budget Deficits in the Industrial Democracies", National Bureau of Economic Research Working Paper, No. 2682, 1988; für die Periode 1980-1990 vgl. Organization for Economic Cooperation and Development, Economic Outlook, verschiedene Ausgaben.

am höchsten. Sie blieben moderat in Deutschland und in den U S A , und der Anteil der Staatsschuld a m BIP fiel tatsächlich in Großbritannien, w o in dieser Periode stets eine einzige Regierung an der Macht war.

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

271

Ein allgemeinerer Gesichtspunkt wird hier ebenfalls sichtbar. Regierungen werden gewöhnlich nicht von einer einzelnen Person oder auch nur von einer einzigen politischen Partei getragen. Das, was als Fiskal-"Politik" bezeichnet wird, ist schließlich im allgemeinen nicht eine Politik, sondern die Summe der Auswirkungen von Entscheidungen einer großen Zahl von einzelnen Entscheidungsträgern. Die Finanzminister vieler Schuldnerländer versuchten in den 80er Jahren, die Budgetdefizite zu verringern, aber sie sahen sich gelähmt von Parlamenten, Regionalregierungen und mächtigen Staatsunternehmen, die in der Lage waren, wirkungsvolle Gesamtmaßnahmen zur finanzpolitischen Disziplin zu blockieren. Unglücklicherweise übersehen Modelle, in denen die "Rationalität" der Finanzpolitik herausgestellt wird, die entscheidende Tatsache, daß diese das Ergebnis eines komplexen politischen Verhandlungsprozesses ist und nicht das Resultat einiger optimierender Entscheidungen eines einzelnen Akteurs sind. Die Folgen exzessiver staatlicher Defizite sind im einfachen Rahmen unseres Modells klar zu erkennen. Falls eine Zunahme des Defizits einen Anstieg von DS 2 verursacht (und die Barro-Ricardo-Äquivalenz nicht gültig ist), werden die übermäßigen Defizite zu einem niedrigen Niveau der volkswirtschaftlichen Ersparnis, einer Verdrängung privater Investitionen und einem hohen Defizit der Leistungsbilanz beitragen. Eine heftige Auslandsverschuldung zur Finanzierung der Defizite kann einer ernsten Schuldenkrise den Boden bereiten. 7-7 Weitere Interaktionen zwischen öffentlichem und privatem Sektor Unser Analyserahmen für die Betrachtung staatlicher Ausgaben und Steuern ist immer noch sehr einfach. Wir nahmen insbesondere an, daß die Staatsausgaben den privaten Sektor vor allem über die intertemporale Budgetbeschränkung und über die von Steuern und Ausgaben ausgehenden Wirkungen auf die Zinssätze beeinflußt. Es gibt freilich weitere wichtige Kanäle, in denen Fiskalpolitik und private Ausgabeentscheidungen zusammenwirken. Eine Möglichkeit besteht darin, daß der Nutzen privater Konsumausgaben wesentlich vom Niveau der öffentlichen Ausgaben berührt wird. Wenn der Staat z.B. eine Straße zu einem neuen Erholungsgebiet baut, so kann sich daraus eine Erhöhung der privaten Freizeitausgaben ergeben. Wird dagegen eine neue öffentliche Parkanlage eingerichtet, so könnten sich die entsprechenden Privatausgaben verringern. Wegen dieser Verbindungen zwischen öffentlichen Gütern und Diensten und privaten Ausgaben, kann die zeitliche Entwicklung der Staatsausgaben einen direkten Effekt auf die der Privatausgaben haben. Allerdings weiß man vergleichsweise wenig über die Substituierbarkeit von öffentlichem und privatem Konsum, obwohl in eini-

272

TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

gen jüngeren Untersuchungen damit begonnen wurde, dieses Bild auszufüllen.19 Eine weitere Form der Interaktion schließt die Wirkung der öffentlichen Ausgaben auf das private Gesamtangebot ein. Staatliche Ausgaben für Güter und Dienste können die Grenzkosten der Produktion im privaten Sektor senken und damit das aggregierte Angebot steigern. Werden z.B. die Polizeidienste ausgedehnt, können die Unternehmen ihre Sicherheitsausgaben (für private Wachdienste, ausgeklügelte Alarmanlagen etc.) reduzieren und mehr für die Produktion von Konsumgütern ausgeben. Aber es sei nochmals daraufhingewiesen, daß nur wenig zuverlässige Schätzungen über die direkten Wirkungen staatlicher Ausgaben auf das aggregierte Angebot der Privaten existieren. Ein weiterer bedeutender Interaktionsträger zwischen öffentlichem und privatem Sektor ist die Besteuerung. Bisher haben wir uns auf die Effekte von Pauschalsteuern beschränkt, welche die privaten Verbrauchsentscheidungen unmittelbar über die Budgetbeschränkung beeinflussen. Aber in der Realität sind Steuern zumeist keine Pauschalsteuern; sie werden vielmehr auf das Einkommen, die Ausgaben und das Vermögen erhoben und berühren daher die Haushaltsentscheidungen in bezug auf das Arbeitsangebot, die Ersparnis, die Investition in Finanz- und Sachaktiva. Effizienzverluste durch Steuern Indem Steuern unsere Entscheidungen zwischen Arbeit und Freizeit, Konsum und Investition verzerren, belasten sie die Volkswirtschaft mit Kosten. Im Kern verursachen Steuern eine Fehlallokation der Ressourcen, da sie die relativen Preise, denen sich Haushalte und Unternehmen bei ihren wirtschaftlichen Entscheidungen gegenübersehen, verzerren. Infolge der Besteuerung bestimmter Güter und Aktivitäten mögen die Wirtschaftssubjekte zuwenig arbeiten, zuwenig sparen oder zuwenig für hochbesteuerte Güter ausgeben und statt dessen zuviel für gering besteuerte Güter. Diese durch die Besteuerung verursachten verzerrenden Effekte auf die relativen Preise der Volkswirtschaft lassen die ökonomische Wohlfahrt sinken. In einem gewissen Umfang sind diese Kosten der Besteuerung, die häufig als Effizienzverluste durch Steuern bezeichnet werden, unvermeidlich, da Steuern zur Finanzierung der gewünschten Staatsausgaben notwendig sind. Ein optimales Vgl. z.B. David Aschauers Schätzung der Produktivität der staatlichen Investitionsausgaben in: "Is Public Expenditure Productive?", Journal of Monetary Economics, 1989 sow i e Robert Barros anschauliche Darstellung, daß die staatlichen Investitionsausgaben in positiver Weise mit dem Wirtschaftswachstum einer großen Auswahl von Ländern verbunden zu sein scheint; in: Economic Growth in a Cross Section o f Countries", mimeo, Harvard University, 1989.

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

273

Steuersystem minimiert jedoch diese Effizienzverluste bei jedem gegebenen Niveau der vom Staat zu erhebenden Einnahmen. Wir müssen daher zumindest einen kurzen Blick auf die Funktionsweise eines auf Einkommensteuern und nicht auf Pauschalsteuern basierenden Steuersystems werfen. Mit einer persönlichen Einkommensteuer führt jeder zusätzlich verdiente Dollar zu einem Steueranstieg um M77?-Dollars (wobei MTR den Grenzsteuersatz der Einkommensteuer bezeichnet). Betrachten wir die Wirkung einer Zunahme der persönlichen Einkommensteuer auf die Arbeitsbereitschaft. Bei jedem zusätzlich verdienten Dollar erhalten die Individuen ein geringeres Einkommen nach Steuern, und daraus folgt eines von zwei Wirkungsmustern. Weil das Entgelt für eine zusätzliche Arbeitsstunde vermindert wird, dürften die Haushalte einerseits dazu neigen, weniger zu arbeiten und sich mehr Freizeit zu nehmen; dies ist als Substitutionseffekt bekannt. Andererseits bedeutet der Steueranstieg, daß die Individuen weniger nach Hause bringen, und sie dürften deshalb härter arbeiten, um das Einkommensniveau, dessen sie sich vor der Steuererhöhung erfreuten, aufrechtzuerhalten. Dieser Einkommenseffekt bewirkt, daß die Haushalte sich weniger Freizeit gönnen, wenn sie durch eine Zunahme der Einkommensteuer schlechter gestellt werden. Offensichtlich wirken der Substitutions- und der Einkommenseffekt in entgegengesetzter Richtung, wobei ersterer nach einer Erhöhung des Einkommensteuersatzes zu einer Verminderung und letzterer zu einer Erhöhung der Arbeitsanstrengung veranlaßt. Aus theoretischer Sicht hat daher eine Einkommensteuererhöhung eine unbestimmte Wirkung auf die Arbeitsleistung. Empirisch hat sich jedoch im allgemeinen eine Verringerung der Arbeitsanstrengung bestätigt; d.h. der Substitutionseffekt ist stärker als der Einkommenseffekt. Ein genereller Rückgang der Arbeitsleistung hat seinerseits eine negative Wirkung auf das aggregierte Angebot der Volkswirtschaft. Jerry Hausman vom MIT ermittelte, daß das US-Steuersystem zur Mitte der 70er Jahre das geplante Arbeitsangebot im Vergleich mit einer Situation der Nicht-Besteuerung um etwa 8% reduzierte, wobei dieser Effekt bei Personen mit hohem Lohn noch ausgeprägter war. 20 In Schweden scheint diese negative Wirkung noch viel stärker zu sein; verglichen mit einer Situation ohne Steuern ergab sich, daß das Steuersystem das Arbeitsangebot um rund 13% verringerte. Dies ist angesichts der wesentlich höheren Steuersätze in Schweden nicht überraschend. 21 20

Jerry Hausman, "Taxes and Labor Supply", in: Alan Auerbach und Martin Feldstein,

Hrsg., Handbook 21

of Public Economics

( N e w York: Elesvier Science, 1985).

Vgl. S. Blomquist, "The Effect o f Income Taxation on Male Labor Supply in Sweden",

Journal

of Public Economics,

1983.

274

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Da Einkommensteuern die Entscheidungen der Haushalte zwischen Arbeit und Freizeit verzerren, bürden sie der Volkswirtschaft Effizienzverluste auf. Es kann gezeigt werden, daß dieser Verlust eine zunehmende Funktion des Grenzsteuersatzes ist, und daß tatsächlich eine Verdoppelung des marginalen Steuersatzes zu mehr als doppelt so hohen Kosten infolge der verzerrenden Wirkung von Steuern führt. Im Sinne einer ersten Annäherung kann man sagen, daß der verzerrende Effekt eines Grenzsteuersatzes von 20% um das Vierfache höher ist als der eines Grenzsteuersatzes von 10% (der Effizienzverlust ist eine Funktion des Quadrats des marginalen Steuersatzes). 22 Veränderungen der Einkommensteuer berühren ebenfalls den Ertrag der Ersparnis. Von Steuerpflichtigen erzielte Zinseinkünfte werden im allgemeinen als Teil des steuerbaren Einkommens angesehen. 23 Eine Erhöhung der Einkommensteuer vermindert dann den von Sparern erzielten Nettozinssatz. Die Wirkung auf die Ersparnis ist wiederum unbestimmt: die geringere Verzinsung der Ersparnis nach Steuern fuhrt zur Verringerung des Sparens infolge des Substitutionseffekts, kann aber auch zu einer Erhöhung des Sparens wegen des Einkommenseffekts veranlassen. Michael Boskin von der Stanford Universität ermittelte für die USA einen positiven Effekt des Zinssatzes nach Steuern auf die Ersparnis 24 ; andere Forscher fanden jedoch diese starken Effekte nicht bestätigt. Unternehmenssteuern berühren darüber hinaus die Investitionsentscheidungen. Ein Anstieg der Gewinnsteuern oder ein Rückgang der Steuervergünstigungen für Investitionen oder der zulässigen Abschreibungen bewirken wahrscheinlich geringere Investitionsausgaben. Ein Nachlassen der Investition erhöht andererseits den Leistungsbilanzsaldo und senkt, zumindest im Falle eines großen Landes, die Zinssätze. Der Fall für eine Steuerglättung Die Effizienzverluste infolge verzerrender Steuern können durch eine sorgfältige Auswahl von Steuern und deren zeitlicher Verteilung auf einem Minimum gehalten werden. Insbesondere die Tatsache, daß sich die Effizienz22

Eine Diskussion der Effizienzverluste oder "excess bürden" der Besteuerung findet sich in Lecture 12 von A. Atkinson und J. Stiglitz, Lectures ort Public Economics ( N e w York: McGraw-Hill, 1980). 23

Es gibt allerdings einige Ausnahmen. In einigen Ländern, wie etwa Japan, werden Zinseinkommen überwiegend nicht besteuert, um einen Anreiz zum Sparen zu schaffen. In anderen Ländern werden einige Formen von Zinseinkünften nicht besteuert, w i e z.B. die aus langfristigen Anleihen oder Lebensversicherungen; andere dagegen unterliegen der Besteuerung. 24

Michael Boskin, "Taxation, Savings, and the Interest Rate", Journal nomics, März 1982.

of Monetary

Eco-

275

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

kosten einer Steuer im Verhältnis zum Steuersatz stärker erhöhen, hat wesentliche Implikationen für das Steuersystem. Diese sind von Robert Barro nachdrücklich herausgestellt worden. 25 Um die sehr hohen Verzerrungskosten hoher marginaler Steuersätze zu vermeiden, erscheint es vorteilhaft, ein Steuersystem zu haben, bei dem die Grenzsteuersätze im Zeitablauf konstant sind, statt eines Steuersystems mit erratischen - manchmal niedrigen, manchmal hohen - Grenzsteuersätzen. Mit anderen Worten: der Staat sollte versuchen, die Grenzsteuersätze im Zeitverlauf zu glätten. Es ist beispielsweise weniger kostspielig, ein Steuersystem zu haben, bei dem die Grenzsteuersätze Jahr für Jahr bei 30% liegen, statt eines solchen, bei dem die Grenzsteuersätze zwischen 20% und 40% variieren. Angenommen, der Staat sieht sich plötzlich einer starken, aber vorübergehenden Erhöhung der Ausgaben gegenüber. Möglicherweise ist diese durch einen Krieg oder die temporären Kosten einer Naturkatastrophe veranlaßt. Unter Verwendung unseres Zwei-Perioden-Modells können wir uns dies als einen Fall vorstellen, bei dem die Ausgaben der ersten Periode G j sehr viel höher sein müssen als die Ausgaben der zweiten Periode G2. Aber unterstellen wir nun, daß die zur Finanzierung dieser Ausgaben erhobenen Steuern verzerrend wirken; sagen wir eine Einkommensteuer, bei der das Aufkommen proportional zum Einkommen ist oder T] = t\Y^ und = ¿2^2' wobei i] und ¡2 die Einkommensteuersätze sind. Wie sollten t\ und / 2 gewählt werden? Wir wissen, daß der Staat einer intertemporalen Budgetbeschränkung gerecht werden muß, so daß der abdiskontierte Wert der Steuereinnahmen dem abdiskontierten Wert der Ausgaben entsprechen muß. Aber wir wissen auch, daß das Budget nicht in jeder Periode ausgeglichen werden muß. Falls der Staat einen Budgetausgleich in jeder Periode herbeizufuhren versucht, muß t\ vermutlich sehr viel höher sein als t2 (es sei denn, Y\ ist ebenfalls sehr viel höher als Y2, so daß die Steuerbemessungsgrundlage in der ersten Periode auch sehr viel größer ist). Barro macht jedoch geltend, daß eine solche Politik zu unnötig hohen Effizienzkosten führt. Seiner Ansicht nach ist es besser, ij und ^ auf derselbe Höhe zu halten. Dies würde zu einem Budgetdefizit und einem Anstieg der Staatsschuld in der ersten Periode fuhren, aber auch zu einem Budgetüberschuß in der zweiten Periode, und in dieser Zeit kann die Schuld getilgt werden. Das Budget wird intertemporal ausgeglichen, nicht jedoch in jeder Periode. Auf Barros Theorie, die heute als "tax-smoothing proposition" bekannt ist, wurde erstmals präsentiert in dem Aufsatz "On the Determination of Public Debt", Journal Economy,

Oktober 1979.

of

Political

276

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

diese Weise deckt der Staat seine Ausgaben durch Steuern, vermeidet aber die Effizienzkosten sehr hoher Steuersätze in der ersten Periode. Daher sollten die Steuern dem durchschnittlichen Ausgabenniveau entsprechend normiert werden und nicht nach Maßgabe der Ausgaben der jeweils betroffenen Periode. So wie der private Konsum auf dem permanenten Einkommen basiert, so sollten auch der Staat die Steuersätze auf der Basis eines Konzepts der "permanenten" Ausgaben festlegen. Barro weist darauf hin, daß die Idee einer geschmeidigen Steueranpassung nicht allein ein normatives Konzept ist (d.h. eine Aussage darüber enthält, wie der Staat sich verhalten sollte), sondern bis zu einem gewissen Grade auch eine Erklärung des tatsächlichen Verhaltens des Staates darstellt. Unter Verwendung von Daten aus den letzten zwei Jahrhunderten in den USA und Großbritannien demonstriert er, daß die stärksten temporären Zunahmen der Staatsausgaben in Kriegszeiten auftraten. Barro beobachtete ferner, daß Regierungen in Kriegszeiten ein Budgetdefizit und damit eine Erhöhung der Staatsschuld zuließen und diese durch Budgetüberschüsse in Friedenszeiten wieder reduzierten. Dies scheint zu bestätigen, daß Regierungen tatsächlich die Steuern entsprechend dem Durchschnitt der Staatsausgaben erheben. 26 Steuersätze und Steuereinnahmen Wenn der Staat seine Einnahmen aus Einkommensteuern erzielt, so können Regierungen zwar die Steuersätze verändern, sie können aber nicht direkt das sich ergebende Steueraufkommen kontrollieren. Falls die Steuer die Entscheidung zwischen Arbeit und Freizeit verzerrt, ist wahrscheinlich das Einkommensniveau selbst eine Funktion des Steuersatzes, so daß sich die Steuerbasis mit den Steuereinnahmen verändert. Zwei extreme Fälle sollten diesen Punkt sehr klar werden lassen. Sofern der Steuersatz t gleich Null ist, dann sind die Gesamteinnahmen (T = tY) ebenfalls gleich Null. Ist der Steuersatz gleich 100% - d.h. das gesamte Einkommen muß als Steuer abgeführt werden - , so hätte niemand einen Anreiz, überhaupt ein Einkommen zu erzeugen; Y wäre gleich Null, die gesamten Steuereinnahmen T wären ebenfalls gleich Null. Die Schlußfolgerung, die wir daraus ziehen können, lautet, daß der Staat weniger Steuern einnimmt bei hohen Steuersätzen als bei niedrigen Steuersätzen, sofern hohe Steuersätze eine ernste Störung des Anreizes zur Erzeugung von Einkommen bedeuten. Formaler betrachtet können wir annehmen, daß das Einkommen Y eine Funktion des Steuersatzes t ist, und schreiben diese funktionale Beziehung 26

Vgl. z.B. seinen Aufsatz "Government Spending, Interest Rates, Prices and Budget Deficits in the United Kingdom, 1701-1918", Journal of Monetary Economics, September 1987.

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

277

als Y = Y(t). Wir haben bereits angemerkt, daß ein Anstieg von t sowohl einen Einkommens- als auch einen Substitutionseffekt in bezug auf den Arbeitseinsatz hervorbringt, so daß das Einkommen mit steigendem t zu- oder abnehmen kann. Für sehr hohe Steuersätze nahe 100% wird Yjedoch mit Sicherheit eine negative Funktion von t sein. Die Gesamteinnahmen können andererseits durch T = tY(t) ausgedrückt werden. Falls der Steuersatz erhöht wird, ist die Wirkung auf das Gesamtaufkommen ungewiß. Ein höheres t führt bei jedem gegebenen Niveau von Y sicherlich zu höheren Steuereinnahmen; da aber Y selbst mit steigendem t zurückgehen kann, mag der Gesamteffekt auf die Einnahmen positiv oder negativ sein. Die Einnahmen mögen tatsächlich fallen, nicht nur wegen des realen Rückgangs des Arbeitseinsatzes, sondern auch deshalb, weil die Steuerzahler einen größeren Anreiz haben, Steuern illegal zu hinterziehen und Steuern legal zu vermeiden, indem sie auf Aktivitäten ausweichen, für die niedrigere Steuersätze gelten. Ausgehend von einem Steuersatz von Null, führen Anhebungen von t notwendigerweise zu einer Zunahme der Einnahmen. Aber von einem bestimmten Punkt ab erbringen nachfolgende Steuersatzerhöhungen wegen der negativen Anreizeffekte kein zusätzliches Aufkommen. Wenn wir die Beziehung zwischen Steuersätzen und Steuereinnahmen graphisch darstellen, gelangen wir zu einer inversen U-förmigen Kurve, die etwa so aussieht, wie die in Abb. 7-4 gezeigte. Bei Steuersätzen unterhalb von tA führen höhere Steuersätze zu höheren Steuereinnahmen; bei Steuersätzen oberhalb von tA erbringen höhere Sätze ein geringeres Aufkommen.

Steuereinnahmen

et

tA

i

Steuersatz

Abb. 7-4: Die Beziehung zwischen Steuersätzen und Gesamteinnahmen: die Laffer-Kurve

Diese Kurve wird häufig als Laffer-Kurve bezeichnet, benannt nach dem Ökonomen Arthur B. Laffer, der diese Kurve in den frühen 80er Jahren in den USA bekannt machte (und der behauptete, sie erstmals auf einer Serviette in einem Restaurant in Washington, DC, gezeichnet zu haben). Die Kur-

278

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

ve wurde besonders populär bei einer Gruppe von Ökonomen, den sogenannten "supply-siders", die während der Reagan-Administration in hohem Maße Einfluß gewannen. Indem sie faktisch geltend machten, die US-Steuersätze seien so hoch, daß sie den Satz tA in Abb. 7-4 überstiegen, behaupteten sie, daß eine Steuersenkung die Gesamteinnahmen in den USA steigern würden. Die Argumente der "supply-siders" waren zumindest teilweise für die einschneidenden Senkungen der US-Einkommensteuersätze in den frühen 80er Jahren verantwortlich. Die Einkommenszunahme infolge eines erhöhten Arbeitsanreizes würde, so meinten sie, die durch niedrigere Steuersätze verursachten Einnahmeverluste mehr als wettmachen. Es stellte sich freilich ganz anders dar: die Gesamtsteuereinnahmen gingen zurück, und das USBudgetdefizit weitete sich kräftig aus. Die ausbleibende Erhöhung des Steueraufkommens nach der Steuerkürzung machte allerdings das Konzept der Laffer-Kurve nicht ungültig; der Fehler lag vielmehr in der Vorhersage, die US-Volkswirtschaft bewege sich vor der Steuersenkung der frühen 80er Jahre rechts von tA. Es ist im allgemeinen schwierig, eine präzise Schätzung abzugeben über die Rate tA, von der ab die Einnahmen mit steigenden Steuersätzen zu sinken beginnen. So ist beispielsweise für Schweden ermittelt worden, daß tA bei einem Grenzsteuersatz von ungefähr 70% liegt. 27 Der marginale Steuersatz lag Mitte der 80er Jahre in Schweden nahe bei 80%, und unter solchen Bedingungen hätte eine Steuersenkung einen Anstieg des gesamten Steueraufkommens hervorbringen können. (Die Grenzsteuersätze gingen Anfang 1991 auf 51% zurück, so daß wir in naher Zukunft Gelegenheit haben werden, diese Prognose zu überprüfen.) In den USA der frühen 80er Jahre sah sich der durchschnittliche Steuerzahler mit einem Grenzsteuersatz in der Größenordnung von 32% konfrontiert, und es ist nicht wahrscheinlich, daß damit der Punkt tA erreicht worden war. 28 Das zyklische Muster von Budgetdefiziten Ein weiterer Faktor, der die Höhe des Budgetdefizits bestimmt, ist, zumindest kurzfristig, die Fluktuationen des volkswirtschaftlichen Outputs. Derartige Fluktuationen oder Konjunkturschwankungen sind in freien Wirtschaften üblich. In Rezessionsperioden, in denen Q niedrig ist, weisen Budgets gewöhnlich Defizite auf, während sie in Boomzeiten zu Überschüssen neigen. Dieses Muster zeigt sich in Abb. 7-5 deutlich, in der das Defizit des 27

Vgl. Charles Stuart, "Swedish Tax Rates, Labor Supply and Tax Revenues", Journal

Political 28

Economy,

of

Oktober 1981.

Vgl. Robert Barro und Chaipat Sahasakul, "Measuring the Average Marginal Tax Rate from the Individual Income Tax", The Journal of Business, Oktober 1983.

279

KAPITEL 7 : D E R STAATLICHE SEKTOR

US-Bundesbudgets als prozentualer Anteil am BIP in Tälern (7) oder Rezessionen bzw. Gipfeln (P) oder Boomphasen im Konjunkturzyklus dargestellt ist.

P T

PT

PT

P T

P T

P TPT

Abb. 7-5: Das US-Budgetdefizit im Konjunkturzyklus, 1948-1990 {Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-76.)

Es sind mehrere Phänomene - einige auf der Einnahmeseite und einige auf der Ausgabenseite des Budgets - , die für dieses Muster von Defiziten und Überschüssen verantwortlich sind. In konjunkturellen Abschwüngen gehen die Steuereinnahmen aus den Einkommensteuern und anderen direkten Steuern kräftig zurück, da die Besteuerungsbasis eingeschränkt wird. Zugleich verhalten sich gewisse Kategorien staatlicher Ausgaben kontrazyklisch, was bedeutet, daß sie während der Abschwünge zunehmen und während der Aufschwünge abnehmen. Die bedeutendste dieser kontrazyklischen Kategorien sind natürlich die Transferzahlungen an Haushalte, die von der Rezession betroffen werden; dazu gehören solche Posten wie die Arbeitslosenunterstützung (die offensichtlich mit steigender Arbeitslosenquote zunimmt) und die Wohlfahrtsausgaben (für Nahrungsmittelgutscheine usw.). Da die Steuereinnahmen sinken und die Transfers während wirtschaftlicher Abschwünge zunehmen, ist leicht einzusehen, daß die verfügbaren Ein-

280

TEIL I I : INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

kommen des Haushaltssektors im Konjunkturzyklus weniger stark schwanken als das BIP. (Später werden wir sehen, daß diese relative Stabilität der verfugbaren Einkommen auch dazu dient, die zyklischen Schwankungen des Outputs und der Beschäftigung zu mildern.)

7-8 Zusammenfassung Das staatliche Budget gibt Auskunft über die Einnahmen und Ausgaben des öffentlichen Sektors. Die Differenz zwischen Ausgaben und Einnahmen entspricht dem Budgetüberschuß (bzw. -defizit), wodurch der Umfang der Kreditvergabe oder -aufnähme des staatlichen Sektors bestimmt wird. Genauer gesagt, ist das Budgetdefizit gleich der Zunahme der Staatsschuld (sofern, wie wir angenommen haben, keine Finanzierung durch Geldschöpfung möglich ist). Steuern sind die wichtigste Quelle für Staatseinnahmen; und dabei lassen sich drei weitgefaßte Kategorien unterscheiden: Einkommensteuern und Vermögensteuern, die von Personen und Unternehmen gezahlt werden, sowie Ausgabensteuern, die an den Güterkauf anknüpfen. Die ersten beiden werden auch als direkte Steuern bezeichnet, während letztere indirekte Steuern genannt werden. Entwickelte Volkswirtschaften erzielen zumeist einen hohen Anteil der Staatseinnahmen aus direkten Steuern; Entwicklungsländer stützen sich dagegen vornehmlich auf indirekte Steuern. Die von staatseigenen Unternehmen und Agenturen erwirtschafteten Gewinne sind eine weitere (im allgemeinen weniger bedeutende) Quelle öffentlicher Einnahmen. Die Staatsausgaben lassen sich in vier Kategorien aufgliedern: staatlicher Konsum, staatliche Investition, Transfers an andere Sektoren und Zinszahlungen auf die Staatsschuld. Staatliche Ausgaben können auch auf andere Weise unterschieden werden: als laufende Ausgaben und als Vermögensausgaben. Die öffentlichen Ausgaben haben weltweit im Verhältnis zum BIP während dieses Jahrhunderts zugenommen. Der Staatssektor kann auf einfache Weise in unsere laufende Analyse der Leistungsbilanz einbezogen werden. Wir haben den Saldo der Leistungsbilanz bereits definiert als Ersparnis minus Investition. Daher können wir auch sagen, daß dieser gleich dem privaten Finanzierungsüberschuß (private Ersparnis minus Investition) zuzüglich des staatlichen Finanzierungsüberschusses (Ersparnis minus Investition des Staates) ist. Der staatliche Finanzierungsüberschuß entspricht ebenfalls dem Budgetüberschuß. Bei Konstanz des privaten Überschusses führt ein Rückgang des Budgetüberschusses oder eine Zunahme des Budgetdefizits - zu einer Abnahme des Leistungsbilanzsaldos. Selbstverständlich lautet eine der Schlüsselfragen, ob der private Überschuß mit Veränderungen des staatlichen Überschusses korrespondiert

KAPITEL 7: D E R STAATLICHE SEKTOR

281

oder nicht. Die Daten zeigen, daß sich in den meisten großen Industrieländern die Entwicklung des Budgets in den 80er Jahren recht klar im Zeitpfad der Leistungsbilanz widerspiegelt. Die finanzpolitischen Aktionen des Staates beeinflussen das Verhalten der Privaten am direktesten über die intertemporale Budgetbeschränkung der Haushalte. Eine temporäre Zunahme der Steuern findet ihre Entsprechung in einer temporären Verringerung des verfügbaren Einkommens, und diese führt wiederum zu einer Abnahme der privaten Ersparnis. Eine permanente Steuererhöhung läßt das permanente, verfügbare Einkommen sinken. Dies bewirkt eine Senkung des privaten Konsums in annähernd gleichem Umfang, und daher hat eine anhaltende Steuererhöhung wenig Einfluß auf die private Ersparnis. Verdrängung ist ein Begriff, der sich auf einen Rückgang der privaten Ausgaben bezieht, der eine Ausdehnung der öffentlichen Ausgaben begleitet. Im allgemeinen meint "Verdrängung" eine Abnahme der privaten Investition, die durch eine Ausweitung der Staatsausgaben bewirkt wird. In einer offenen Volkswirtschaft kann jedoch ein Anstieg der staatlichen Ausgaben eine Reduktion anderer Ausgabenarten bewirken, insbesondere eine Verringerung der Netto-Exporte. Das ricardianische Äquivalenztheorem besagt, daß unter bestimmten Umständen (und bei Konstanz des Zeitpfades der Staatsausgaben) eine Veränderung im zeitlichen Verlauf der Steuern - z.B. geringeren Steuern in der Gegenwart, höheren Steuern in der Zukunft - keinen Einfluß auf die privaten Konsumausgaben hat, sofern der Gegenwartswert der Steuern unverändert bleibt. Daher erfahren weder die volkswirtschaftliche Ersparnis, noch die Investition, noch die Leistungsbilanz eine Veränderung. Eine heutige Steuersenkung, die durch eine morgige Steuererhöhung kompensiert wird, wird zwar das laufende verfugbare Einkommen erhöhen, aber die gesamte Zunahme wird gespart und nicht konsumiert, um die zukünftige Steuererhöhung zu bezahlen; der Konsum bleibt daher unberührt. Obwohl theoretisch interessant, erscheint das ricardianische Äquivalenztheorem im Sinne einer empirischen Beschreibung tatsächlichen Verhaltens zweifelhaft. Die Aussagefähigkeit der Theorie ist aus verschiedenen Gründen begrenzt. Der öffentliche Sektor kann erstens einen längeren Verschuldungshorizont haben als die Haushalte. Falls der Staat die Steuern in diesem Jahr senkt, aber in einer sehr fernen Zukunft erneut erhöht, muß die zukünftige Abgabenerhöhung nicht von der gegenwärtigen Generation bezahlt werden. In diesem Fall werden die Haushalte vermutlich ihre Zufallseinkommen nicht sparen, um die künftige Steuererhöhung zu finanzieren, sondern statt dessen ihren Konsum erhöhen. Robert Barro argumentierte, daß

282

TEIL II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK.

die Aussage selbst in diesem Fall gültig bleibt, sofern die gegenwärtige Generation für die von ihren Kindern zu zahlenden Steuern Sorge trägt; aber die empirischen Belege stützen Barros Theorie nicht. Die ricardianische Äquivalenz ist auch dann nicht gültig, wenn die Haushalte in ihrer Liquidität eingeschränkt sind. Ein in seiner Liquidität beschränkter Haushalt neigt dazu, einen Zuwachs seines verfügbaren Einkommens zu verausgaben, selbst wenn er für sich und seine Nachkommen in Zukunft höhere Steuern erwartet. Schließlich wird die ricardianische Äquivalenz durch die Unsicherheit über zukünftige Einkommensniveaus in Frage gestellt. Budgetäre Handlungen sind selbstverständlich mit der politischen und institutionellen Umgebung, in der Regierungen ihre Entscheidungen fällen, verbunden. Es ist weitgehend anerkannt, daß machtbewußte Regierungen am Vorabend von Wahlen dazu neigen, eine Erhöhung bestimmter staatlicher Ausgaben vorzunehmen. Kontraktive Maßnahmen werden gewöhnlich nach den Wahlen vollzogen. Und im allgemeinen werden Regierungen, die zufallige Einnahmeerhöhungen erblicken, selbst wenn diese nur temporär sind, Schwierigkeiten haben, sich des Druckes zu erwehren, diese nicht auch auszugeben. Regierungen werden normalerweise nicht von einer einzelnen Person getragen, nicht einmal von einer einzelnen Partei. Fiskalpolitik ist generell die Summe von Handlungen vieler Entscheidungsträger, wie etwa der Zentralregierung, der dezentralen staatlichen Institutionen und der großen öffentlichen Unternehmen. Daher mögen Theorien, die die Rationalität finanzpolitischer Entscheidungen hervorheben, die zentrale Tatsache übersehen, daß die Fiskalpolitik das Ergebnis eines komplexen politischen Verhandlungsprozesses sind. Öffentliche Ausgaben beeinflussen den privaten Sektor nicht allein über die intertemporale Budgetbeschränkung und über induzierte Effekte auf die Zinssätze, sondern über zahlreiche andere Kanäle. Die meisten Steuern knüpfen an das Einkommen, an die Ausgaben oder an das Vermögen an (sie sind also keine Pauschalsteuern). Daher berührt die Höhe der Steuern die privaten Entscheidungen zu arbeiten, zu sparen und zu investieren. Einkommensteuern haben sehr wahrscheinlich Einfluß auf die Arbeitsbereitschaft. Obwohl die Wirkungsrichtung theoretisch ungewiß ist (Substitutions- und Einkommenseffekt wirken in entgegengesetzte Richtungen), wurde im allgemeinen festgestellt, daß Erhöhungen der Einkommensteuern die Arbeitsbereitschaft vermindern. Persönliche Einkommensteuern können ferner die Sparentscheidungen berühren, während Steuern auf Unternehmensgewinne die Investitionsentscheidungen beeinflussen.

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

283

Die durch Steuern bewirkten verzerrenden Effekte oder "Effizienzverluste" nehmen überproportional mit dem Anstieg des Grenzsteuersatzes zu. Zur Vermeidung der sehr hohen Verzerrungskosten hoher marginaler Steuersätze erscheint eine Steuerpolitik vorteilhaft, die die Grenzsteuersätze im Zeitablauf einigermaßen konstant hält, gegenüber einer solchen, bei der die Steuersätze unvorhersehbar sind - manchmal niedrig und manchmal hoch. Stabile Grenzsteuersätze sind im Sinne einer "geschmeidigen Steuerpolitik" generell erwünscht. Das Korrelat zu dieser ausgeglichenen Besteuerung ist, daß das Budget in Zeiten vorübergehend hoher Staatsausgaben ein Defizit und in Perioden temporär niedriger öffentlicher Ausgaben einen Überschuß aufweisen sollte. Der Zusammenhang zwischen Steuersätzen und Steuereinnahmen, als inverse U-förmige Kurve darstellbar, ist unter dem Namen Laffer-Kurve bekannt geworden. Ausgehend von einem Steuersatz von Null führt eine Erhöhung des Satzes zu einem Anstieg des Steueraufkommens, allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt. Danach erzeugen weitere Erhöhungen des Steuersatzes negative Anreizeffekte und führen zu niedrigeren statt höheren Steuereinnahmen. Auch der Konjunkturzyklus spielt eine wichtige Rolle für die Höhe des Budgetdefizits. In Rezessionsperioden nehmen Budgetdefizite gewöhnlich zu, während sie in Boomperioden tendenziell abnehmen. Es sind zwei Faktoren, die zu diesem Muster beitragen: erstens erhöhen sich die Steuereinnahmen in Boomzeiten deutlich und gehen in Rezessionen zurück; zweitens verhalten sich einige Kategorien staatlicher Ausgaben, wie die Transferzahlungen an Arbeitslose, kontrazyklisch, d.h. derartige Ausgaben nehmen tendenziell bei Abschwüngen zu und bei Aufschwüngen ab. Schlüsselbegriffe Fiskalpolitik Staatliches Budget Staatseinnahmen Staatsausgaben Direkte Steuern Indirekte Steuern Laufende Ausgaben Kapitalausgaben Öffentliche Unternehmen Staatsschuld Temporäre Steueränderung

Permanente Steueränderung Verdrängung Ricardianische Äquivalenz Barro-Ricardo-Äquivalenz Anreizeffekte von Steuern Unterschiedliche Zeithorizonte Budgetdefizit Übermäßige Staatsausgaben Glättung von Steuern Laffer-Kurve Modelle der Politischen Ökonomie

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T E I L II: INTERTEMPORALE ÖKONOMIK

Probleme und Fragen 1. Beschreiben Sie die verschiedenen Formen staatlicher Ausgaben. Welche unterschiedlichen Methoden zur Finanzierung dieser Ausgaben gibt es? 2. Angesichts der bevorstehenden Wahlen erwartet der private Sektor in Land A, daß der Staat die Steuern im nächsten Jahr senken wird. Was wird mit der Leistungsbilanz des Landes A in diesem Jahr geschehen? 3. Vermindert eine durch Steuern finanzierte temporäre Zunahme der Staatsausgaben die private Investition? Hängt dies davon ab, ob das Land ein großes oder kleines Land ist? 4. Angenommen, ein kleines Land, dem die internationale Kreditaufnahme und -vergäbe offensteht, entscheidet sich aus Gründen der nationalen Sicherheit dafür, die staatlichen Militärausgaben zu verdoppeln. Diskutieren Sie die wahrscheinlichen Wirkungen einer solchen Aktion auf die Leistungsbilanz unter Berücksichtigung der erwarteten Dauer dieser Aufrüstung (temporär oder permanent) sowie die Methode ihrer Finanzierung (durch Steuern oder Verschuldung). Wie würde sich Ihre Antwort verändern, wenn es sich um ein großes Land handelte? 5. Das Ricardianische Äquivalenztheorem besagt, daß eine Verringerung der Staatsausgaben in diesem Jahr weder einen Einfluß auf die volkswirtschaftliche Ersparnis noch auf die Leistungsbilanz hat (gehen Sie davon aus, daß das Muster der zukünftigen Staatsausgaben unverändert bleibt). Richtig oder falsch? Begründen Sie Ihre Antwort. 6. Nehmen Sie an, die Präferenzen der Wirtschaftssubjekte im Zwei-Perioden-Modell seien derart, daß sie eine vollständige Glättung des Konsums wollen (d.h. C j = C 2 ). Der Staat hat einen längeren Zeithorizont als die Haushalte, so daß er am Ende der zweiten Periode eine gewisse Schuld besitzt [d.h. seine intertemporale Budgetbeschränkung ist G j + G2/(l +/*) = T\ + T2!(\ + r) + DS2/(\ + r)}. Die Struktur der Volkswirtschaft ist folgende: Produktion der Haushalte Q\ = 200, Q2 = ' Staatsausgaben G\ = 50, G 2 = 110, Steuern Tx = 40, T2 = 55, Zinssatz r = 10%. a. Wie hoch ist der Gegenwartswert der Staatsausgaben? Welchen Gegenwartswert haben die Steuern? Welche Höhe hat die Staatsschuld am Ende der zweiten Periode? (Nehmen Sie an, der Staat war anfangs nicht verschuldet.) Wieviel konsumieren die Haushalte in jeder Periode? b. Welche Werte haben die volkswirtschaftliche, die private und die staatliche Ersparnis in den Perioden 1 und 2? c. Nehmen Sie an, der Staat ändert die Steuern in T\ = 50 und T2 = 44, läßt die Ausgaben aber unverändert. Verändert sich der Gegenwartswert der Steuern? Wie hoch ist die Staatsschuld am Ende der zweiten Periode? Welche Werte haben die volkswirtschaftliche, die private und die staatli-

KAPITEL 7: DER STAATLICHE SEKTOR

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che Ersparnis in den Perioden 1 und 2? Was sagt Ihnen Ihre Antwort zur ricardianischen Äquivalenz? 7. Erörtern Sie die Frage, warum Ein-Parteien-Regierungen vermutlich erfolgreicher bei der Durchsetzung einer strengen Budgetpolitik sind als Mehr-Parteien-Koalitionsregierungen. 8. Analysieren Sie die Vor- und Nachteile von Einkommensteuern im Vergleich zu Pauschalsteuern. Welche verdienen Ihrer Meinung nach aus Effizienzgründen den Vorzug? Welche sind gerechter? 9. Wie beeinflußt das zyklische Muster der Budgetdefizite die Leistungsbilanz? Inwieweit hängt Ihre Antwort vom Verhalten des privaten Sektors im Konjunkturzyklus ab? 10. Die Alliierten hatten gemeinsame Ausgaben in Höhe von mehr als 100 Mrd. $ durch den Golfkrieg. Wäre es sinnvoller, wenn die Staaten diese durch Steuern oder durch Kreditaufnahme finanzierten?

Kapitel 8

Geldnachfrage 8-1 Was ist Geld? Geld spielt in allen modernen Volkswirtschaften eine fundamentale Rolle. Da Geld ein derart natürliches Merkmal des Wirtschaftslebens zu sein scheint, machen wir uns im allgemeinen keine Gedanken darüber, wie das Leben ohne Geld aussähe. Aber ohne Geld wäre der Wirtschaftsalltag äußerst beschwerlich; selbst die einfachsten Kauf- und Verkaufstätigkeiten wären in ihrer Handhabung fast zu komplex und zu lästig. Bis zu diesem Punkt haben wir die grundlegende Rolle des Geldes in unserer Analyse vernachlässigt. Wir betrachteten eine Volkswirtschaft mit dem Output ( 0 und einem Finanzaktivum (B); aber diese Volkswirtschaft verwendete kein Geld. Wenn wir damit beginnen, Geld in unseren analytischen Rahmen einzubeziehen, so besteht unsere erste wichtige Aufgabe darin, Geld zu definieren. Geld ist eine Sammlung finanzieller Aktiva (Bargeld, scheckfahige Guthaben, Reiseschecks und anderes) mit sehr speziellen Charakteristika, die sie von anderen Formen finanzieller Forderungen unterscheiden. Wie alle Finanzaktiva verleiht Geld Herrschaft über Ressourcen. Aber anders als sonstige Aktiva besitzt Geld eine besondere Eigenschaft: es ist für Transaktionen verwendbar. Eine Komponente dessen, was wir als Geld bezeichnen werden, ist, daß es ein Zahlungsmittel ist (in den USA "greenbacks" genannt). Wenn jemand ins Kino geht, Geschirr kauft, ein Auto anschafft, so wird er niemals versuchen, mit Anleihen oder Aktien zu bezahlen. Er verwendet irgend eine Form von Geld, um die Transaktion abzuwickeln. Ein bereitwillig akzeptiertes Tauschmittel zu sein, das ist das eigentlich entscheidende Funktionsmerkmal von Geld. Ein wichtiger Grund dafür, warum Geld als Tauschmittel so nützlich ist, verdient besondere Erwähnung. Im allgemeinen fungiert das nationale Zahlungsmittel als gesetzliches Zahlungsmittel. Nimmt man eine US-Dollarnote beliebiger Stückelung zur Hand, so sieht man in der linken oberen Ecke folgenden Hinweis: "Diese Note ist gesetzliches Zahlungsmittel für alle Schulden, öffentliche und private." Das bedeutet, daß alle Verpflichtungen nach dem Gesetz in Geld festgesetzt werden können; niemand kann eine Geldzahlung zur Erfüllung einer Verpflichtung verweigern. Und der Staat besteht typischerweise darauf, daß Steuern in der Landeswährung gezahlt werden.

288

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

Wir wollen für einen Moment unterstellen, es gäbe keine Geld. Die Wirtschaftssubjekte hätten dann ihre Transaktionen durch Naturaltauschgeschäfte abzuwickeln. Wollte z.B. ein Farmer ein wenig Volkswirtschaftslehre lernen, so müßte er einen Volkswirt finden, der bereit ist, Weizen oder Geflügel als Gegenleistung für den Unterricht zu akzeptieren. Wenn ein Maler erkrankt und ins Krankenhaus muß, dann müßte er die Krankenhausverwaltung davon überzeugen, einige seiner Bilder im Austausch für die medizinischen Leistungen anzunehmen. Unter solchen Umständen würde es sehr schwierig, Transaktionen durchzuführen. Eine Naturaltauschwirtschaft erfordert dafür die wechselseitige Übereinstimmung der Bedürfnisse. Aber selbst wenn die Wirtschaftssubjekte in der Lage sind, andere zu finden, die gerade das wollen, was sie anzubieten haben, bleibt noch das Problem, den Preis für die Transaktionen festzulegen. In einer sehr primitiven Volkswirtschaft, in der lediglich zwei Güter, z.B. Mahlzeiten und Kleidung, existieren, wäre es notwendig, nur einen relativen Preis zu bestimmen: den Preis einer Mahlzeit ausgedrückt in Einheiten von Kleidung. In modernen Volkswirtschaften gibt es jedoch Hunderttausende von Gütern und Dienstleistungen, also eine große Zahl, die wir mit"«" bezeichnen wollen. Sofern kein einzelnes Gut oder Aktivum existiert, in dem die Preise aller übrigen Güter ausgedrückt werden, dann muß eine Tauschrate (wie viel Essen für wie viel Kleidung) für jedes Güterpaar bestimmt werden, d.h. für n(n - l)/2 Güterpaare. 1 Bei Verwendung von Geld sind gerade n Preise in Geldeinheiten erforderlich. 2 Daher dient Geld auch als Recheneinheit, und dies erleichtert die Festsetzung der relativen Preise in einer Volkswirtschaft ganz erheblich. Selbst diese knappe Schilderung einer Naturaltauschwirtschaft erhellt bereits die Wichtigkeit von Geld. Tatsächlich hat Geld drei grundlegende Funktionen. Erstens dient es als Tauschmittel. Die Wirtschaftssubjekte sind bereit, Geld als Gegenleistung für Güter und Dienste zu akzeptieren, und eine wechselseitige Übereinstimmung der Bedürfnisse ist nicht erforderlich, damit ein Tausch stattfinden kann. Zweitens dient Geld als Recheneinheit. Preise werden in Geldeinheiten ausgedrückt statt in Einheiten anderer Güter ' Falls es n Güter und Dienstleistungen gibt, dann läßt sich der Preis eines jeden Gutes und einer jeden Dienstleistung gegenüber allen anderen (n - 1) ausdrücken. (Es ist nicht nötig, den Preis eines Gutes sich selbst gegenüber zu bestimmen, da dieser gleich 1 ist.) Das führt zu n(n - 1) Preisen. Aber z.B. der Preis von Birnen, ausgedrückt in Äpfeln liefert dieselbe Information w i e der Preis von Äpfeln, ausgedrückt in Bimen. D i e s gilt für jedes Güterpaar. Daher ist es erforderlich, nur n{n - l)/2 Preise zu bestimmen. 2

Bedenken wir die Vereinfachung. Bei 100.000 Gütern gibt es 5 . 0 0 0 . 0 5 0 . 0 0 0 verschiedene Paare von Gütern, und jedes erfordert eine gesonderte Tauschrate. Vergleichen wir das mit 100.000 Preisen, die in Geld ausgedrückt werden.

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

289

oder Dienstleistungen. In diesen beiden Funktionen vereinfacht Geld den Tauschprozeß. Drittens schließlich fungiert Geld als Wertaufbewahrungsmittel. In dieser Rolle entspricht es anderen Finanzaktiva. Wenn Wirtschaftssubjekte Geld als Gegenleistung für Güter und Dienstleistungen erhalten, so müssen sie dieses nicht unverzüglich ausgeben, weil sein Wert erhalten bleibt (abgesehen von Zeiten sehr hoher Inflation, in denen Geld seine Funktion als Wertaufbewahrungsmittel verliert). Offensichtlich wäre Eis als Geld nicht sonderlich brauchbar: wird es nicht unverzüglich gekühlt, verliert es recht bald seinen Wert, und nach jeder Transaktion müßten die Wirtschaftssubjekte zu einem Eisschrank eilen. Daher bestehen zwei notwendige Merkmale von Geld darin, daß es seinen physischen Wert behält und kostengünstig gelagert werden kann. Aus diesem Grunde waren historisch die beliebtesten Formen von Geld wertvolle Metalle, Münzen oder Papiergeld. Das sog. Gresham'sche Gesetz erfaßt eine interessante Regelmäßigkeit bei der Verwendung von Geld: schlechtes Geld verdrängt gutes Geld. So wurde z.B. eine Zeitlang in Tansania Vieh als Geld verwendet. Die Menschen bemerkten bald, daß nur dürres und krankes Vieh bei Transaktionen zu Zahlungszwecken benutzt wurde. Der Grund war einfach: der Wert von Gütern und Dienstleistungen war lediglich in einer Zahl von Rindern ausgedrückt, ohne daß bei den Preisen zwischen gutem und schlechtem Vieh unterschieden wurde. Da Rinder einen wahren Wert wegen des Fleisches, der Milch, des Fells und der bereitgestellten Transportleistungen besitzen, erschien es günstiger, mit schlechtem Vieh zu bezahlen und das gute zu behalten. Ähnliches ereignete sich auch in Ländern, die ein "bimetallisches" Währungssystem hatten. So zirkulierten z.B. in China am Ende des vorigen Jahrhunderts Gold- und Silbermünzen nebeneinander. Die Güter- und Dienstleistungspreise wurden in beiden Metallen ausgedrückt, und die Rate, zu der sie konvertiert wurden, war fixiert. Aber Gold und Silber wurden unabhängig voneinander als Güter gehandelt. Immer, wenn sich der relative Preis dieser Metalle auf den Gütermärkten von den Umtauschsätzen als Geld unterschied, wurde das "gute" Geld dem Umlauf entzogen. Falls z.B. eine Goldmünze den Wert von drei Silbermünzen hatte, aber eine Unze nichtmonetären Goldes (d.h. Gold, das nicht als Geld verwendet wurde) gegen vier Unzen nicht-monetären Silbers eingetauscht werden konnten, verschwanden Goldmünzen als Geld, und es zirkulierten nur noch Silbermünzen. Während Geld in früheren Jahrhunderten zumeist in Form von Waren (Vieh oder Goldmünzen) für Tauschzwecke Verwendung fand, setzten die

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TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

Staaten im vorigen Jahrhundert zunehmend Papiergeld durch (zur Geldgeschichte siehe Box 8-1). In den meisten Fällen waren diese Papiernoten jedoch in Edelmetalle konvertierbar, in dem Sinn, daß der Staat bereit war, jede Note in eine genau bestimmte Menge an Gold oder Silber einzutauschen. Geld, das durch Edelmetalle oder andere Güter gedeckt ist, wird als "fiduziarisches" Geld bezeichnet. Heute identifiziert man Geld zumeist mit "ungedecktem" Geld, d.h. mit einem vom Staat gedrucktem Papiergeld, das nicht gegen eine andere Ware umgetauscht wird. Derartiges Geld fand erst im 20. Jahrhundert große Verbreitung; heute wird es in allen Ländern verwendet. Die Definition von Geld ist eine knifflige Sache. Münzen und Banknoten sind offensichtlich Geld, aber was ist mit scheckfähigen Guthaben, Reiseschecks, Sparguthaben usw.? Wo soll die Grenze gezogen werden zwischen Geld und anderen Formen von Finanzaktiva? Für praktische Zwecke haben sich Ökonomen auf eine Klassifizierung von unterschiedlichen Arten von Geld und "geldnahen" Aktiva verständigt, die darauf abstellt, in welchem Maße diese Aktiva die Hauptfunktionen des Geldes - als Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel - erfüllt. Tabelle 8-1 enthält die Abgrenzungen verschiedener Geldkategorien und deren Wert in den USA.

BOX 8-1: Eine kurze Geschichte des Geldes Schon sehr früh in der Geschichte der Menschheit haben Gesellschaften die Unbequemlichkeiten des Naturaltausches erkannt und sind dazu übergegangen, Geld zu verwenden. Es ist allerdings unklar, wann irgendeine Form von Geld erstmals benutzt wurde. Wir wissen einigermaßen zuverlässig, daß Metallgeld um das Jahr 2000 v. Chr. in Gebrauch kam. Obwohl Metalle gegenüber anderen Formen von Nicht-Papiergeld viele Vorteile aufweisen, wurden sie keineswegs ausschließlich benutzt. Bis in die nicht allzu ferne Vergangenheit wurden alle möglichen Dinge als Geld verwendet; das reichte von Muscheln in Indien über Zigaretten in den Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkriegs, Walzähne auf den Fidschiinseln bis hin zu großen Steinscheiben auf der Insel Yap. Metallische Formen des Geldes waren zu Beginn weder standardisiert noch beglaubigt, so daß es erforderlich war, die Metalle im allgemeinen vor den Transaktionen zu wiegen und auf ihre Echtheit zu prüfen (man weiß: nicht alles, was glänzt, ist Gold!). Die Prägung von Münzen, die um 700 v. Chr. in Griechenland aufkam, war eine brauchbare Methode, dieses Problem zu verringern, und sie setzte sich bald durch. Münzen reduzieren die Notwendigkeit der Gewichts- und der Echtheitsprüfling ganz wesentlich und

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

291

erleichtern damit Transaktionen. 3 Über 400 Jahre lang, bis etwa 300 v. Chr., behielt die athenische Drachme nahezu unverändert ihren Silbergehalt und war die in der Alten Welt weitaus am häufigsten verwendete Münze. Zur Zeit des Römischen Imperiums wurde eine Doppelwährung eingeführt, bei der der Silber-Denarius und der Gold-Aureus nebeneinander existierten. Während des 1. Jh. n. Chr., zur Zeit des berüchtigten Kaisers Nero, begann der Edelmetallgehalt dieser Münzen zu schrumpfen, als sowohl das Gold als auch das Silber zunehmend mit Legierungen versehen wurden. Es war daher nicht überraschend, daß die in diesen Recheneinheiten ausgedrückten Preise mit beispiellosen Raten stiegen. Hinter diesem inflationären Prozeß verbargen sich wachsende Staatsdefizite, denen die Römer nicht durch Ausgabenkontrollen oder Steuererhöhungen Einhalt gebieten konnten. Einige Historiker schrieben daher der Inflation eine wesentlichen Rolle beim Niedergang des Römischen Reiches zu. Obgleich auch andere Metalle gelegentlich Verwendung fanden, waren Gold und Silber für lange Zeit die beliebtesten Währungsmetalle. So wurden z.B. in Schweden zu Beginn des 17. Jh. Kupfermünzen eingeführt, wobei dies sehr stark von dem Umstand beeinflußt war, daß sich dort die größte Kupfermine der Welt befand. In der Konkurrenz zwischen Gold und Silber übernahm Silber in der zweiten Hälfte des 16. Jh. eine eindeutige Führung. Die gerade entdeckte Neue Welt wies einen viel größeren Reichtum an Silber als an Gold auf, und dies galt insbesondere nach der Erschließung ergiebiger Silberminen in Mexiko und Peru, die in der Folgezeit ausgebeutet wurden. Papiergeld erlangte erst im späten 19. Jh. Bedeutung; anfangs in der "fiduziarischen" Form, d.h. es handelte sich um Zertifikate mit dem Versprechen, eine bestimmte Menge an Gold oder Silber zu zahlen. Diese Schuldscheine wurden zu Beginn von Privaten (Unternehmen und Banken) ausgegeben; später fiel dem Staat dabei eine zunehmende Rolle zu. Zur gleichen Zeit tauchte eine andere Form des Papiergeldes auf, die "ungedeckten" Noten. Diese hatten einen in Einheiten der jeweiligen Landeswährung (Dollar, Mark, Franken usw.) festgesetzten Wert, beinhalteten aber nicht die Verpflichtung, eine bestimmte Menge an Gold, Silber oder anderen Gütern zu zahlen. Ihr Wert beruhte einfach auf der Bereitschaft anderer Wirtschaftssubjekte, sie als Zahlungsmittel zu akzeptieren. 3

Durch die Münzprägung wurde dieses Problem keineswegs beseitigt. Noch 1529 hatte König Franz I von Frankreich ein Lösegeld in Höhe von 12 Mill. Escudos zu zahlen, um seine beiden in Spanien als Geiseln gehalten Söhne zu befreien. Die Spanier benötigten vier Monate, um die Zahlung nachzuzählen und zu wiegen, und sie wiesen 40.000 Münzen zurück, weil sie angemessenen Standards nicht entsprachen.

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T E I L III: MONETÄRE ÖKONOMIK

Ungedecktes Geld war schon im ausgehenden 18. Jh. z.B. in Frankreich zur Zeit der Revolution und in den amerikanischen Kolonien in Gebrauch. Der Übergang zu dieser Form des Geldes fand in großem Stil statt, nachdem die Staaten die Konvertibilität von Noten in Gold oder Silber suspendierten, die unter dem ursprünglichen fiduziarischen System gegolten hatte. Diese Aufhebung der Einlöseverpflichtung stand in Zusammenhang mit einer beträchtlichen Ausdehnung der Staatsausgaben, etwa in Kriegs- und Revolutionszeiten. Der Staat druckte einfach die Menge an Geld, die er für seine steigenden Käufe benötigte; ein Vorgang inflationärer Finanzierung, den wir ausführlicher insbesondere in Kapitel 11 erörtern werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. erlebte die Welt eine massive Hinwendung zum Goldstandard. In diesem System war Geld in Form von Münzen und fiduziarischen Noten zu einer feststehenden Parität in Gold einlösbar. Am Ende des 19. Jh. war die Verwendung von Silber für monetäre Zwecke nahezu völlig aufgegeben worden. Unter den bedeutenden Ländern führte nur China ein System der Doppelwährung unter Gebrauch von Gold und Silber fort. Einige Volkswirtschaften verwendeten einen Gold-Devisen-Standard, bei dem die inländische Währung in Devisen konvertierbar und diese wiederum in Gold einlösbar waren. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hoben die meisten Länder die Goldkonvertibilität ihrer Währungen auf, und der Goldstandard brach zusammen. Die Versuche, diesen nach dem Krieg wiederherzustellen, blieben halbherzig; und die Weltwirtschaftskrise sowie der Zweite Weltkrieg bedeuteten das endgültige Aus. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden im Jahr 1944 die Währungsarrangements neu geordnet. Die Vereinbarung von Bretton Woods führten zur allgemeinen Anerkennung des Gold-Devisen-Standards auf der Basis des US-Dollars; die wichtigsten Währungen waren an den Dollar gebunden und dieser war in Gold konvertierbar. Das BrettonWoods-System brach 1971 zusammen, nachdem US-Präsident Richard Nixon die Goldeinlösbarkeit des Dollars aufkündigte. Seither lebt die Welt mit einem System nationaler Währungen und flexiblen Wechselkursen zwischen den Hauptwährungen.

Das Hauptkriterium zur Definition von "Geld" ist die Bequemlichkeit, mit der ein Aktivum für Transaktionen verwendet werden kann und insbesondere die Liquidität eines Aktivums. Liquidität bedeutet die Fähigkeit, ein Aktivum schnell ohne Wertverlust in Bargeld verwandeln zu können. Bargeld (Münzen und Zentralbanknoten) stellen das liquideste Aktivum dar, an dem andere gemessen werden. Das umlaufende Bargeld und die von Banken

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KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

Tabelle 8-1: Verschiedene monetäre Aggregate in den USA, 1960 und 1990 (in Mrd. $)

1. Bargeldumlauf 2. Reiseschecks 3. Sichteinlagen 4. andere scheckfähige Einlagen (einschl. NOW-Kontent) 5. Ml (1 + 2 + 3 + 4) 6. sehr kurzfristige Rückkaufvereinbarungen und Eurodollars 7. Investmentfondsanteile 8. Geldmarkteinlagen 9. Spareinlagen 10. Termineinlagen 11. M2 (5 +6 + 7 + 8 + 9 + 1 0 ) 12. Geldmarktfonds (nur institutionelle) 13. Termingelder (kleine Stückelung) 14. Rückkaufvereinbarungen (befristet) 15. Eurodollars (befristet) 16. M3 (11 + 12 + 13 + 14+ 15) 17. Sparbriefe 18. kurzfristige Schatzanweisungen 19. Bankakzepte 20. kurzfr. Geldmarktpapiere, Handelswechsel 21. M3 plus andere liquide Aktiva ( 1 6 + 1 7 + 1 8 + 19 + 20)

1960

1990*

28,7 0,4 111,6 0

244,7 8,4 277,2 292,3

140,7

822,6

0 0 0 159,1 12,5 312,4 0 2,0 0 0,8 315,3 45,7 36,7 0,9

77,6 340,3 507,0 413,8 1.156,0 3.317,3 120,1 506,6 91,4 72,6 4.108,0 125,2 347,9 34,0

5,1 403,7

357,7 4.972,8

* November 1990 t NOW = Negotiable-order-of-withdrawal; verzinsliche Konten, über die faktisch per Scheck verfugt werden kann (Anm. d. Übers.). Quelle: Economic Report of the President, 1991, U.S. Government Printing Office, Tab. B67 und B-68.

bei der Notenbank gehaltenen Kassenreserven werden als "high-powered money"* {Mh) bezeichnet. Dies ist, wie wir sehen werden, eine Schlüsselgröße, da Mh diejenige Kategorie von Geld darstellt, die von der Notenbank direkt kontrolliert werden kann. Sichtguthaben bei Banken stellen nach dem Bargeld das liquideste Aktivum insoweit dar, als Bargeld von derartigen * "High-powered money" wird nachfolgend als Zentralbankgeld oder auch als Geldbasis bezeichnet (Anm. d. Übers.).

294

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

Konten "auf Sicht" ohne Zeitverlust und ohne Strafzinsen abgehoben werden kann. Schecks, die auf Sichtguthaben ausgestellt werden, sind ebenfalls in den meisten Ländern allgemein anerkanntes Zahlungsmittel. Durch Addition von Bargeld, Sichtguthaben, Reiseschecks und anderen scheckfähigen Guthaben gelangen wir zu einem monetären Aggregat, das als M l bezeichnet wird. Geldmarktkonten und Sparguthaben, die eine begrenzte Zahl von Abhebungen pro Monat erlauben, werden als weniger liquide angesehen. Zählt man diese Aktiva zu M l hinzu, so erhält man das Geldaggregat, das als M2 bezeichnet wird. Einlagenzertifikate (certificates o f deposits, CDs) sind befristet festgelegte Finanzaktiva, die auch eine Form von Geld darstellen, obgleich sie weniger liquide sind als die in M2 enthaltenen Posten; daher werden sie zu M3 gezählt. Insgesamt werden die monetären Aggregate M l , M2, M3 usw. nach dem Grad ihrer Liquidität geordnet, wobei M l den höchsten Liquiditätsgrad aufweist. Jedes M mit einer höheren Rangzahl schließt die Positionen mit geringer Zahl ein; mithin ist in M3 auch M2, und in diesem wiederum M l enthalten. Die Abgrenzungen der verschiedenen monetären Aggregate, d.h. der besonderen, in jeder Kategorie enthaltenen Finanzinstrumente, haben sich im Zeitverlauf gewandelt, da durch zahlreiche Finanzinnovationen die Art und Weise, wie Transaktionen abgewickelt werden, verändert wurden. Es ist zu beachten, daß die in Tabelle 8-1 genannten NOW- und Geldmarktkonten nicht in den monetären Aggregaten des Jahres 1960, wohl aber in den Daten zu 1990 enthalten sind. Diese Aktiva existierten 1960 noch nicht, sie tauchten erst Mitte der 70er Jahre auf. Was als "Geld" betrachtet wird, variiert im Zeitverlauf aus technologischen und regulativen Gründen. Dies ist ein Thema, auf das wir bei der Analyse der Finanzmärkte in Kapitel 2 0 zurückkommen werden. Das Geldangebot einer jeder Volkswirtschaft steht in einem bestimmten historischen und politischen Zusammenhang, und dieser Kontext hat zwei besondere Merkmale (diese werden in den späteren Kapiteln wichtig). Das eine betrifft das Recht zur Ausgabe von Zentralbankgeld, das nahezu immer ein gesetzliches Monopol des Staates ist. Dieses Monopol sichert dem Staat eine wichtige Einnahmequelle, und es ist ein Bereich, der stets für potentiellen Mißbrauch offensteht. Nicht immer stand jedoch das Monopol der Geldschaffung dem Staat zu. Früher, als bestimmte Güter als Geld Verwendung fanden, war jeder, der derartige Güter produzieren konnte, in der Lage, Geld zu schaffen. Als in vielen Ländern Papiergeld in Gebrauch kam, konnten sowohl einige private Banken als auch die Notenbank Geld ausgeben. Dadurch entstanden Probleme, da die in der Volkswirtschaft zirkulierenden verschiedenen Gelder j e nach Solvenz der ausgebenden Institution einen unter-

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

295

schiedlichen Wert haben konnten. Im Verlauf der Zeit eigneten sich die Notenbanken der Welt zunehmend das alleinige Recht zum Notendruck an. Die zweite interessante Beobachtung in bezug auf das Geldangebot betrifft die allgemeine Regel, daß jedes Land nur ein einziges "offizielles" Geld als gesetzliches Zahlungsmittel hat. Warum besitzt jedes kleine Land z.B. in Lateinamerika seine eigene Währung, während die Staaten der USA an einer gemeinsamen Währung teilhaben? Wäre es vorteilhafter, wenn alle Länder der Europäischen Union eine einzige Währung hätten? Gerade diese letzte Frage wird derzeit heftig diskutiert (wir werden auf die Thematik der Europäischen Währungsunion in Kapitel 14 zurückkommen). Es gibt einige erwähnenswerte Ausnahmen von der Regel einer einzigen nationalen Währung pro Land. Einige Länder, wie z.B. Liberia und Panama, besitzen keine eigene Währung, statt dessen ist dort der US-Dollar das gesetzliche Zahlungsmittel. In anderen Ländern zirkulierte zu bestimmten Zeiten mehr als eine Währung. Dies ist recht typisch für instabile Länder, in denen ausländischem Geld mehr Vertrauen entgegengebracht wird als dem inländischen. So wurde beispielsweise in einigen Ländern bei sehr hoher Inflation neben der nationalen Währung der US-Dollar verwendet, und zwar nicht nur als Wertaufbewahrungsmittel, sondern auch als Tauschmittel. Bisher haben wir lediglich die besondere Rolle des Geldes vorgestellt. Sobald wir einen genaueren Blick auf die Bedeutung des Geldes geworfen haben, können wir viele andere wichtige Merkmale der Volkswirtschaft erklären. So sind z.B. Preise nichts anderes als der Wert von Gütern, ausgedrückt in Geld, so daß Veränderungen des Geldangebots und der Geldnachfrage eine fundamentale Bedeutung für das Preisniveau erlangen. Auch der Wechselkurs ist lediglich der Preis, zu dem eine nationale Währung gegen eine andere ausgetauscht wird. Daher sind Geldnachfrage und -angebot für das Verständnis dafür, wie dieser Kurs bestimmt wird, ebenfalls von Bedeutung. 8-2 Zu einer Theorie der Geldnachfrage Ausgangspunkt der meisten Theorien der Geldnachfrage ist die spezifische Funktion des Geldes als Zahlungsmittel. Geld leistet "Liquiditätsdienste", die von anderen Aktiva nicht bereitgestellt werden. Die Nützlichkeit von Geld als Transaktionsmittel erklärt, warum die Individuen Geld halten, obwohl es von anderen Finanzaktiva "dominiert" wird (man sagt, Geld sei ein "dominiertes Aktivum"). Dies besagt einfach, daß andere Aktiva, wie z.B. Schatzwechsel, als ebenso sicher wie eine Finanzanlage in Geld angesehen werden, aber einen höheren Zinssatz einbringen. Zentralbankgeld wird nicht

296

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

verzinst, und Sichtguthaben sowie andere Formen von Geld haben gewöhnlich eine niedrigere Verzinsung als andere sichere Wertpapiere. Um eine Theorie der Geldnachfrage zu entwickeln, erscheint es wichtig, zunächst einige grundlegende Vorstellungen über die Preise und den Zinssatz einzuführen. Wir sollten insbesondere das Konzept der Inflation und den Unterschied zwischen nominalen und realen Zinssätzen vorstellen. Dazu verändern wir teilweise den analytischen Rahmen, den wir in den Kapiteln 4 bis 7 verwendeten. Dort hatten wir P = 1 gesetzt und sodann das Preisniveau vernachlässigt. Nun verändern sich die Preise bei einer Änderung des Geldangebots, und diesen Veränderungen des Preisniveaus gilt unser besonderes Interesse. Wir bleiben jedoch bei unserem früheren klassischen Modell, d.h. wir ignorieren die Effekte der Gesamtnachfrage auf den Output und unterstellen statt dessen, daß Störungen der aggregierten Nachfrage die Preise berühren, während der Output durch Angebotsfaktoren bestimmt wird. Zinssätze und Preise in einer Geldwirtschaft Sobald wir damit beginnen, Geld zu betrachten, kommen wir nicht umhin, die Rolle der Preise und des Preisniveaus anzusprechen. Preise sind einfach ein Maß dafür, wie Geld gegen Güter getauscht werden kann. Wenn ein Gut den Preis P hat (z.B. P Dollars in den USA), so bedeutet dies, daß P Geldeinheiten für eine Gütereinheit ausgetauscht werden müssen. Für unsere Zwecke möge jede Einheit des Outputs Q in der laufenden Periode einen Preis P haben. Q sei das reale BIP und PQ das nominale BIP ("real" bezieht sich auf das Outputvolumen und "nominal" auf den in Geld ausgedrückten Wert). Analog dazu ist PC der nominale Konsum und PI die nominale Investition. 4 Die Inflationsrate mißt die prozentuale Veränderung des allgemeinen Preisniveaus für eine gegebene Periode. Wenn P das Preisniveau am Ende

4

Ein technischer Aspekt muß zumindest für die an formalen Details Interessierten angemerkt werden. In der Realität können sich Konsumgüter vom inländischen Output unterscheiden, so daß wir manchmal zwischen Pc und P (wobei Pc der Preis von Konsumgütern in der laufenden Periode ist) differenzieren müssen (eine ähnliche Unterscheidung ergibt sich bei Investitionsgütern). Falls der Konsum sowohl Importe (Cm) als auch inländische Güter ( C d ) einschließt, dann ist der Preis der Konsumgüter (Pc) ein gewichteter Durchschnitt des Preises von Importen, ausgedrückt in heimischer Währung (Pm), und dem Preis inländischer Güter (P). In diesem Fall ist daher Pc = aP + {1 - a)Pm, wobei a eine Zahl zwischen 0 und 1 ist. Technisch gesehen, bezieht sich Pc auf einen gewichteten Durchschnitt von P und Pm. Im ersten Teil dieses Buches werden wir unterstellen, daß der relative Preis zwischen Importen und Inlandsgütem, Pm/P, konstant und exogen gegeben ist. Tatsächlich können bei einer angemessener Verwendung von Einheiten Pm = P setzen, so daß Pc = aP + (1 - a)P = P ist.

KAPITEL 8: G E L D N A C H F R A G E

297

der Periode t ist und P_\ der entsprechende Wert am Ende der Periode t - 1, dann ist die Inflationsrate ( P ) definiert als: (8.1) P-1 so daß P/P_x = 1 + P ist. Nach der Einfuhrung von Geld haben wir auch zwischen realen und nominalen Zinssätzen zu unterscheiden. Der reale Zinssatz gibt die Erträge der Ersparnis an, ausgedrückt in der Menge an Gütern, die in Zukunft für eine gegebene Höhe der heutigen Ersparnis gekauft werden kann. Dagegen mißt der nominale Zinssatz die Sparerträge in einer Menge an Geld, die künftig für eine gegebene Höhe der gegenwärtigen Ersparnis zu erhalten ist. Um präziser zu sein, wollen wir zwei Fragen stellen: 1. Falls eine Person heute eine Einheit des Outputs weniger konsumiert und die Ersparnis zum Kauf eines Finanztitels verwendet, wie viele zusätzliche Einheiten des Outputs kann sie in der nächsten Periode verbrauchen? 5 2. Falls eine Person heute eine Gemeinheit (z.B. 1 $) weniger konsumiert und die Ersparnis zum Kauf eines Finanztitels verwendet, wieviele zusätzliche Geldeinheiten kann sie in der nächsten Periode verbrauchen? Der reale Zinssatz ist die Antwort zu Frage 1, während der nominale Zinssatz die Antwort zu Frage 2 liefert. Es ist zu beachten, daß wir in den bisher in diesem Buch analysierten Modellen den Zinssatz r verwendeten, weil dieser der Menge an realen Gütern entspricht, die in Zukunft für eine gegebene, gegenwärtige reale Ersparnis gekauft werden kann. Die Verzinsung der meisten Finanzaktiva wird in nominalen Sätzen angegeben. So bedeutet z.B. eine 8%ige Verzinsung pro Jahr für einen Schatzwechsel, daß jeder heute in diesem Papier angelegte Dollar im nächsten Jahr 1,08 $ einbringt. Um den impliziten realen Zinssatz aus dem Nominalzins zu ermitteln, können wir das folgende Beispiel betrachten. Angenommen, der Output hat gegenwärtig einen Preis P, und der Preis im nächsten Jahr ist Falls man heute eine Einheit des Outputs spart, so sind P Geldeinheiten für den Kauf eines Finanztitels verfügbar. Legt man P $ zum 5 Es ist zu beachten, daß in unserem Modell, in dem es nur eine allgemeine Form des volkswirtschaftlichen Outputs gibt, kein Unterschied zwischen dem Outputgut Q und dem Konsumgut C besteht. Falls dies so ist, können wir tatsächlich von einem einzigen realen Zinssatz sprechen, der entweder in Werten des Outputs oder in Werten des Konsumguts ausgedrückt wird. Falls Q und C unterschiedliche Güter sind und sich der relative Preis von C, ausgedrückt in Q, im Zeitablauf verändert, dann müssen wir zwischen einem realen Zinssatz in Werten der Konsumgüter und einem solchen in Werten des Outputs differenzieren.

298

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

nominalen Zins i an, so erhält man P(1 + /') $ im nächsten Jahr. Da eine Outputeinheit dann P+ x kosten wird, kann für jede Einheit des Outputs, die man heute nicht konsumiert, P(1 + i)/P+\ Outputeinheiten im nächsten Jahr erworben werden. Insoweit können wir den realen Zinssatz definieren als: 0

+

r)-iä±2

(8.2)

Aus Gleichung (8.1) wissen wir, daß P/P+\ = 1 /(I + P+x) ist, so daß wir auch schreiben können: (l + r) = - ^ O + ^+l)

(8.3)

Daher ist (1 + r)(l + ß+x) = ( 1 + ¡) oder 1 + r + P+x + rP+x = 1 + Da rP+x normalerweise sehr klein ist, können wir im Sinne einer Annäherung folgern, daß: r = i-P+1

(8.4)

Der gegenwärtige reale Zinssatz ist dann (näherungsweise) gleich dem gegenwärtigen nominalen Zinssatz abzüglich der Inflationsrate zwischen der laufenden und der nächsten Periode. Aus Gleichung (8.4) ist ersichtlich, daß es bei einer Inflationsrate von Null keinen Unterschied zwischen dem nominalen und realen Zinssatz gibt. Abb. 8-1 zeigt die Entwicklung der Nominal und Realzinsen in den USA, einem Land, das moderate Inflation erlebte. Es gibt selbstverständlich nicht den Zinssatz, wie der Zinssatz auf US-Schatzbriefe für die Periode 1970-89 illustriert. Während sich der nominale Zinssatz zwischen 3 und 15% p.a. bewegte, variierte der reale Zinssatz ex post in einem viel größeren Umfang zwischen - 1 2 und +13%. Wie gut wird durch Gleichung (8.4) die exakte Definition von r in Gleichung (8.3) approximiert? Angenommen, jemand kauft einen Depotschein, der in der nächsten Periode 8% einbringt. Falls die Inflationsrate bei 5% liegt, so beträgt der reale Zinssatz gemäß Gleichung (8.4) 3%. Der exakte Satz ist jedoch 2,86%. 6 Bei diesen Zahlen weist die Approximation eine Abweichung von 0,14% auf. Wir sollten beachten, daß diese mit steigender Inflationsrate entsprechend zunimmt. Daher stellt Gleichung (8.4) eine brauchbare Annäherung dar für Länder, die charakteristischerweise eine geringe oder sehr moderate Inflation aufweisen, wie Japan, Deutschland, die Schweiz sowie, zumindest in einigen Perioden, die USA. Für Länder mit sehr hohen Inflationsraten, wie z.B. Argentinien oder Brasilien, ist die Abweichung beträchtlich. 6

Der reale Zinssatz wird gegeben durch (1 + r) = (1,08/1,05) = 1,0286, so daß r = 2,86% ist.

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE



Nominal

299

Real

Abb. 8-1: Nominale und reale Zinssätze von US-Schatzbriefen (Jahresraten bis zum gleichen Quartal des folgenden Jahres), 1970-1989 {Quelle: International Monetary Fund, International

Financial Statistics,

Quartalsdaten.)

Es mag befremdlich erscheinen, daß wir zur Berechnung des realen Zinssatzes in dieser Periode auf die Inflationsrate der nächsten Periode zurückgreifen. Der Grund ist recht einfach: der nominale Ertrag der in dieser Periode angelegten Ersparnis wird in der nächsten Periode ausgezahlt. Daher kommt es auf die Inflationsrate zwischen dem Ende dieser Periode und dem Ende der nächsten Periode an; und diese ist definitionsgemäß P + 1 . In vielen Fällen ist P +1 in der laufenden Periode nicht bekannt, so daß die reale Verzinsung eines Wertpapiers mit einem nominalen Ertrag nur "geschätzt" werden kann. Wir können daher unterscheiden zwischen dem realen Zinssatz ex ante auf der Grundlage der Inflationseinschätzungen der Wirtschaftssubjekte und dem realen Zins ex post auf Grund der tatsächlichen Inflation zwischen den Perioden t und t + 1 (der in Abb. 8-1 abgebildete reale Zinssatz ist der Realzins ex post). Wir werden später analysieren, wie die Wirtschaftssubjekte ihre Schätzungen oder, formaler ausgedrückt, ihre "Erwartungen" bilden.

300

TEIL III: M O N E T Ä R E ÖKONOMIK

In einigen Sonderfallen ist es möglich, die endgültige reale Verzinsung der Ersparnis im voraus zu kennen. Bei einigen Finanzaktiva ist die Zahlung in realen Größen bestimmt, indem die zukünftige Rückzahlung mit der tatsächlich eintretenden Inflation verknüpft wird. Derartige Aktiva werden als indexierte Aktiva bezeichnet. In vielen Entwicklungsländern, in denen die Inflationsraten recht hoch und variabel waren, bestand der einzige Weg zum Abschluß eines Finanzkontraktes, der sowohl für die Schuldner als auch für die Gläubiger akzeptabel war, darin, das Inflationsrisiko durch eine Indexierung zu beseitigen. Ein indexiertes Wertpapier erbringt einen Ertrag in Höhe der Inflationsrate (wie hoch sie auch immer ist) zuzüglich eines bestimmten realen Zinssatzes. In Ländern mit einer durch hohe Inflation gekennzeichneten Vergangenheit ist für Finanzaktiva mit einer Laufzeit von über einem Jahr (und manchmal mit einer solchen von 6 Monaten oder darunter) typischerweise keine Verzinsung in nominalen Größen bestimmt. Geld in der Budgetbeschränkung der Haushalte Unter Verwendung des Zwei-Perioden-Modells wollen wir nun betrachten, inwieweit Geld die Budgetbeschränkung der Haushalte berührt. In den vorangegangenen Kapiteln konnte die Ersparnis für die Investition (I) oder Ansammlung von Wertpapieren (B) verwendet werden. Nun können die Haushalte auch Geld (M) halten, und dies erweitert ihre Portfolio-Möglichkeiten. Aber zugleich wird die Analyse modifiziert, da wir insbesondere sehr sorgfältig zu unterscheiden haben zwischen den nominalen und realen Werten von Variablen sowie zwischen der Verzinsung aus der Haltung von Wertpapieren und der Haltung von Geld. Dabei ist eine wichtige Annahme die, daß Geld einen Zins von Null hat; eine Annahme, die auf Bargeld exakt zutrifft (wenngleich sie weniger zutreffend ist für andere Komponenten von M l und M2, die Zinsen tragen, welche aber gewöhnlich niedriger sind als die von Wertpapieren). Das nominale verfügbare Einkommen (PYd) ist nun definiert als: PYd = PQ + i-\B_\ - PT

(8.5)

wobei Yd, Q und T in realen Größen gemessen werden und die Wertpapiere (B) in nominalen Größen; d.h. in Dollars. Die nominale Ersparnis des privaten Sektors wird daher gegeben durch: PSP =

PYd-PC

(8.6)

wobei SP die reale Ersparnis ist. Wir wissen ferner, daß die Ersparnisse (PSP) für Investitionen (PI), die Ansammlung von Wertpapieren (B oder Geld (M - M_{) verwendet werden können; also:

301

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

PSP = PI + (B -Ä_i) + (M-

(8.7)

M_i)

Betrachten wir diese Beziehungen nun im üblichen Zwei-Perioden-Rahmen. Falls der Haushalt B\ und M\ gespart hat, sind die Konsummöglichkeiten in Periode 2: oder

P2C2 = PliQl

~ T2) + (1 + i)B\ + Mx

(8.8)

P2C2 = P2(02 - T2) + (1 + i)(Bx + MO - iMx

Sofern sich jemand dazu entschließt, eine zusätzliche Einheit seiner Ersparnis statt in Geld in Wertpapieren anzulegen, so erhöht er seine Konsummöglichkeiten in der Zukunft um HP2. Der Grund ist klar: da Wertpapiere Zinsen einbringen, Geld aber nicht, fuhrt eine höhere Haltung von B und eine entsprechend geringere Haltung von M zu einem höheren Einkommen in Periode 2. Nunmehr sollten wir die Zwei-Perioden-Budgetbeschränkung für einen Haushalt ableiten, der ohne Aktiva startet und endet; oder, um es anders auszudrücken, für den M 0 = M2 = 0 = BQ = B 2 gilt. In der ersten Periode wird der Konsum eines solchen Haushalts gegeben durch: P\C\

=P m

- T\) - P\h -

+

MO

(8.9)

[Dies ist die direkte Anwendung von (8.6) und (8.7) auf das Zwei-PeriodenModell.] In der zweiten Periode kann der Haushalt sein gesamtes Einkommen und die akkumulierten Aktiva konsumieren, wie Gleichung (8.8) zeigt. Nach Kombination von (8.8) und (8.9) sowie einigen geringen Umstellungen erhalten wir die Zwei-Perioden-Budgetbeschränkung des Haushalts: 7 1+r

1 +r

(1 + r)

Es ist zu beachten, daß Gleichung (8.10) im wesentlichen die gleiche Budgetbeschränkung zeigt, wie wir sie in Kapitel 7 ableiteten [vgl. Gleichung (7.11)], allerdings mit einem wichtigen Unterschied: dem Auftreten des Terms i(M\IPj)l{\ + r). Der Grund dafür ist einfach zu erklären: die Haltung von Geld ist im Gegensatz zur Wertpapierhaltung mit Opportunitätskosten in Höhe der entgangenen Zinsen verbunden. Diese Kosten entsprechen exakt dem nicht erhaltenen Zinssatz (/') auf die reale Geldhaltung (M/P). Da der Zins in Periode 2 verlorengeht, wird die reale Geldhaltung gemessen, indem Ml durch das Preisniveau der zweiten Periode P2 dividiert und sodann mit dem realen Zinssatz abdiskontiert wird, um den Gegenwartswert des Verlustes zu erhalten. Es ist zu beachten, daß der monetäre Ausdruck auf der rechten Seite von (8.10) auch in der Form 1"(A/j/Pj)/(1 + r) geschrieben wer7

Die Ableitung von Gleichung (8.10) wird im Anhang 8-1 vorgeführt.

302

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

den kann; in diesem Fall wird der Verlust in der Größe und dies ist die herkömmlichere Schreibweise.

A/J/PJ

ausgedrückt,

Die Haltung von Geld ist mit Kosten verbunden, die in entgangenen Konsummöglichkeiten ausgedrückt sind, und diese Kosten nehmen mit steigendem nominalen Zinssatz (/) zu. Da i mit höherer Inflation zunimmt (wir werden später sehen, warum das so ist), steigert Inflation die Kosten der Geldhaltung. Wenn es also Kosten im Sinne eines Verlustes an Konsummöglichkeiten verursacht, Geld zu halten, warum tun es die Wirtschaftssubjekte dann?

8-3 Die Nachfrage nach Geld Das Baumol-Tobin-Modell Die bekannteste Theorie der Geldnachfrage, die als Lagerhaltungsansatz bezeichnet wird, basiert auf eigenständigen Beiträgen von William Baumol und James Tobin um die Mitte der 50er Jahre. 8 Heute ist sie als Baumol-Tobin-Modell bestens bekannt. Sowohl Baumol als auch Tobin stellten heraus, daß die Individuen Vorräte von Geld halten, so wie Unternehmen Gütervorräte unterhalten. Ein Haushalt hält jederzeit einen gewissen Teil seines Vermögens in Form von Geld, um Käufe in der Zukunft tätigen zu können. Wenn er einen größeren Teil seines Vermögens in dieser Form hält, verfugt der Haushalt stets über Geld für Transaktionen. Hält er wenig Geld, so muß er andere Vermögensformen in Geld umwandeln, indem er z.B. Wertpapiere verkauft, wann immer er Käufe zu tätigen wünscht. Im allgemeinen hat der Haushalt jedesmal Kosten, wie etwa Bankgebühren, wenn er sich das für Käufe benötigte Geld durch den Verkauf von zinstragenden Aktiva beschafft. Der Haushalt sieht sich daher einem trade-ojf gegenüber. Hält er einen größeren Teil seines Vermögens in Form von Geld, so gehen ihm Zinsen verloren, die er durch die Haltung von zinstragenden Aktiva hätte erzielen können. Aber zugleich verringert der Haushalt die Transaktionskosten, die jedesmal, wenn er Käufe vorhat, mit der Umwandlung von Wertpapieren in Geld verbunden sind. Der Haushalt hat daher die Opportunitätskosten der Geldhaltung (entgangener Zins) gegen die Transaktionskosten einer häufigen Konvertierung von anderen Aktiva in Geld abzuwägen. Dieses Problem ist vergleichbar mit dem eines Unternehmens, das zu entscheiden hat, in welchem Umfang es Vorräte halten sollte. Bei hoher Lagerhaltung hat das Unternehmen stets Inputs für die Produktion oder Güter für Verkäufe ver8

Vgl. W. Baumol, "The Transaction Demand for Cash: An Inventory Approach", Quarterly Journal of Economics, November 1952 sowie J. Tobin, "The Interest-Elasticity o f the Transaction Demand for Cash", Review of Economics and Statistics, August 1956.

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

303

fugbar. Aber Vorräte sind kostspielig, da sie keine Zinsen einbringen und Zahlungen für die Lagerhaltung und Versicherung erforderlich machen. Folglich hat das Unternehmen die Vorteile größerer Vorräte gegen die Kosten (Opportunitätskosten und direkte Beschaffungskosten) abzuwägen. Wir zeigen nun, wie Baumol und Tobin diese Idee formalisierten. Angenommen, ein Haushalt bezieht ein Einkommen mit einem nominalen Wert von PQ je Periode, sagen wir, pro Monat. 9 Wir unterstellen, daß dieses Einkommen automatisch zu Beginn einer jeden Periode auf ein verzinsliches Sparguthaben bei einer Bank eingezahlt wird. Ferner sei angenommen, daß die Konsumausgaben des Haushalts einen konstanten Strom während des Monats darstellen und sich am Ende des Monats zu PQ addieren. Der Haushalt kann lediglich unverzinsliches Geld für Käufe verwenden, nicht aber Zahlungen über sein Sparguthaben abwickeln. Daher muß der Haushalt vor geplanten Käufen Geldabhebungen von seinem Sparguthaben vornehmen und dabei entstehen fixe Kosten (Pb) bei jeder Abhebung (b sind die realen Kosten, Pb die nominalen Kosten). Diese stellen den Zeitaufwand und die Auslagen für einen Gang zur Bank und das Warten in der Schlange bei einer Abhebung vom Sparkonto dar (falls der Haushalt andere verzinsliche Aktiva hält, so bestehen die Kosten auch aus den Gebühren, die für den Verkauf derartiger Aktiva und die Geldeinzahlung auf ein scheckfähiges Konto zu zahlen sind). Der Haushalt muß entscheiden, wie häufig er jeden Monat zur Bank geht und wieviel Geld er jedesmal abhebt. Da seine Ausgabenrate für Güter während des Monats konstant ist, wird er die Bank in regelmäßigen Zeitabständen besuchen und jeweils den gleichen Geldbetrag M* abheben. Dieser Vorgang wird in Abb. 8-2 dargestellt. Auf der vertikalen Achse wird der Geldbetrag abgetragen, den die Haushalte zu jedem Zeitpunkt während des Monats halten; auf der horizontalen Achse wird die Zeit gemessen (jede Zeiteinheit kann als ein Monat interpretiert werden). Zum Zeitpunkt der Abhebung verfügt der Haushalt über M* in bar. Die Kassenhaltung nimmt dann allmählich mit den Geldausgaben des Haushalts ab. Wenn alles ausgegeben ist, geht der Haushalt zur Bank, hebt M* ab, und der Zyklus beginnt von neuem.

9

Weil es sich später als bequemer erweisen wird, verwenden wir hier Q statt Y. Wie wir wissen, ist Q der Output, und dieser steht in einem engen Zusammenhang mit dem Einkommen. Die Frage lautet hier: wovon hängt die Geldnachfrage ab? Baumol und Tobin haben in ihrem Modell die Geldnachfrage vom Konsum abhängig gemacht (weil das gesamte Einkommen bei ihnen konsumiert wird).

304

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

M* M*12

0

1/3

2/3

Zeit

Abb. 8-2: Die Geldhaltung der Haushalte im Zeitverlauf Dieses Muster der Geldnachfrage veranschaulicht Abb. 8-2. Sofern der Haushalt jeden Monat mit M* beginnt und seine Kasse allmählich auf Null reduziert, so beträgt die durchschnittliche Geldhaltung während des Monats M*l2.10 Wir wollen die Geldnachfrage als diesen durchschnittlichen Betrag der Geldhaltung während des Monats definieren. Die Frage ist nun, wie der Haushalt den Betrag M* bestimmt, den er bei jedem Bankbesuch abhebt, und durch den er die Höhe seiner Geldnachfrage festlegt. Die optimale Höhe der Geldnachfrage hängt von verschiedenen Kosten ab. Erstens von den Kosten eines jeden Bankbesuches Pb und deren Häufigkeit während des Monats PQ/M*.U Daher machen die gesamten Kosten der Bankbesuche pro Monat Pb(PQ!M*) aus. Ferner entstehen Opportunitätskosten der Geldhaltung in Höhe des entgangenen Zinssatzes auf die durchschnittliche Geldhaltung, die wir mit i(M*/2) bezeichnet haben. Der Haushalt sieht sich folgendem Problem gegenüber: j e höher M* ist, um so seltener muß die Bank aufgesucht werden, um so höher ist jedoch der Zinsverlust pro Monat. Der Haushalt kann die Kosten des Bankbesuchs minimieren, indem er eine große Abhebung zu Monatsbeginn (M* = PQ) vornimmt und damit das für seine monatlichen Ausgaben benötigte Geld hat. 10

Technisch gesehen, entspricht die Geldnachfrage der gesamten Fläche der drei Dreiecke

in Abb. 8 - 2 . Da die Intervalle gleiche Abstände haben, ist die Basis eines jeden Dreiecks 1/3 (ungefähr 10 Tage, sofern das Intervall einen Monat umfaßt); die Höhe ist durch M * gegeben. Die Gesamtfläche ist dann ( l / 2 ) [ ( l / 3 ) + ( 1 / 3 ) + ( l / 3 ) ] ( A i * ) = M*/2. beachten, daß der Ausdruck 11

M*I2

Es ist zu

nicht mit der Zahl der Dreiecke variiert.

U m dies zu erkennen, betrachten wir das einfache Beispiel eines Haushalts, der 1 . 0 0 0 $

im Monat verdient und jedesmal 2 5 0 $ abhebt. Es ist klar, daß die Zahl der Bankbesuche 4 ist.

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

305

Aber ein derart hohes M* maximiert auch die Zinsen, die dem Haushalt im Laufe des Monats entgehen; und wenn er kein Guthaben auf dem Sparkonto hat, so wird er überhaupt keine Zinsen erzielen. Deshalb muß der Haushalt die Kosten häufiger Bankbesuche (bei geringem M*) gegen die entgangenen Zinsen (bei hohem M*) abwägen. Die optimale Entscheidung in bezug auf M* ist, die Gesamtkosten der Geldhaltung (TC) zu minimieren, und diese ergeben sich als Summe von Transaktionskosten und Opportunitätskosten im Sinne des Verlustes von Zinseinnahmen:

-KfMf)

Kosten

Abb. 8-3: Die Kosten der Geldhaltung und die optimale Geldhaltung Die optimale Höhe von M* ist ablesbar in Abb. 8-3, in der auf der vertikalen Achse TC als Funktion von M* abgetragen ist. Die Kurve CW gibt die Kosten der Abhebungen Pb(PQ/M*) an. (Die CW-Kurve ist eine gleichseitige Hyperbel, da die Kosten umgekehrt proportional zu M* sind.) Die aus dem Ursprung kommende Gerade bildet die Opportunitätskosten, OC = i(M*/2), ab. Durch vertikale Addition beider Kosten gelangen wir zur U-förmigen Gesamtkostenkurve (TC). Das Minimum der totalen Kosten wird in Punkt A erreicht, bei dem M*Q als optimale Höhe der Geldabhebung zu jedem Zeitpunkt bestimmt wird. Die Geldnachfrage (durchschnittliche Geldhaltung während des Monats) ergibt sich dann aus MD = (M* 0 /2). Wir können auch einen algebraischen Ausdruck für die Geldnachfrage im Baumol-Tobin-Modell erhalten. Dieser ist insofern von Interesse, als er uns

306

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

erlaubt, die Geldnachfrage als Funktion der drei Schlüsselvariablen zu bestimmen: des Einkommens, des Zinssatzes und der fixen Kosten. Wie gezeigt werden kann, gilt: 12 (8.12) Eine grundlegende Schlußfolgerung, die wir aus dem Baumol-Tobin-Modell ziehen können, ist die, daß die Geldnachfrage eine Nachfrage nach realer Kasse ist. Mit anderen Worten: die Wirtschaftssubjekte sind allein an der Kaufkraft des von ihnen gehaltenen Geldes interessiert, nicht aber an dessen nominalem Wert. Dieses Merkmal der Geldnachfrage wird im allgemeinen als das Fehlen von "Geldillusion" bezeichnet. Aus (8.12) ist ersichtlich, daß sich bei einer Verdoppelung des Preisniveaus und Konstanz aller übrigen Variablen (/', Q, b) die Nachfrage nach M ebenfalls verdoppelt. Wir können allgemeiner folgern, daß eine Veränderung des Preisniveaus die geplante nominale Kassenhaltung proportional ändert, aber die reale Geldnachfrage unberührt läßt. Das Modell erfaßt auch wichtige Effekte des Einkommens, des Zinssatzes und der fixen Kosten b auf die Geldnachfrage. Aus Gleichung (8.12) folgt klar, daß eine Erhöhung des realen Einkommens Q zu einer Steigerung der geplanten Geldhaltung fuhrt. Anders gesagt: ein höheres Niveau des Einkommens veranlaßt den Haushalt, seine Ausgaben zu erhöhen, und um das höhere Volumen von Transaktionen abwickeln zu können, dehnt der Haushalt seine durchschnittliche Geldhaltung aus. Aber das Baumol-TobinModell erlaubt uns noch mehr; wir können sogar den genauen quantitativen Effekt einer Einkommenszunahme bestimmen. Betrachten wir einen Haushalt, der das Glück hat, eine Steigerung seines realen Einkommens um 10% zu erleben; damit nimmt das Niveau von Q auf 1,10g zu. Aus Gleichung (8.12) können wir ersehen, daß die Geldnachfrage ' 2 F ü r diejenigen, die m i t der Differentialrechnung vertraut sind: die G e l d n a c h f r a g e kann dadurch abgeleitet w e r d e n , daß die Gleichung der Gesamtkosten in bezug a u f M * m i n i m i e r t und der A u s d r u c k gleich Null gesetzt wird:

Bei A u f l ö s u n g n a c h

M*

ergibt sich

M*2 = (2PblPQ)li.\

Da d i e durchschnittliche Geldhaltung durch M*/2P unmittelbar.

also:

g e g e b e n wird, folgt G l e i c h u n g (8.12)

307

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

um ungefähr 5% ansteigt. 13 Technisch gesprochen, ist die reale Einkommens-Elastizität der Geldnachfrage gleich 1/2; d.h. eine Erhöhung des realen Einkommens Q um a Prozent läßt die geplante Geldhaltung um a / 2 Prozent zunehmen. Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz: da die prozentuale Zunahme der Geldnachfrage geringer ist als die prozentuale Erhöhung des Einkommens, fuhrt ein Anstieg des realen Einkommens zu einem Rückgang des Verhältnisses der Geldhaltung zum Einkommen. Die Haushalte "ökonomisieren" mit anderen Worten ihre Kassenhaltung, wenn ihr Einkommen steigt. Um einen vertrautes ökonomisches Konzept zu verwenden: es gibt Skalenerträge der Geldhaltung.

Kosten

0

CW = Pb(PQlM')

Abb. 8-4: Zinserhöhung und optimale Abhebung Ein Erhöhung des Zinssatzes schlägt sich in einer Abnahme der Geldnachfrage nieder. Dieses Ergebnis ist intuitiv einleuchtend: ein höherer Zinssatz steigert die Opportunitätskosten der Geldhaltung, und dies veranlaßt die Haushalte, ihre Kassenhaltung zu reduzieren. Wir können anhand von Abb. 8-4 erläutern, wie das funktioniert. Der höhere Zinssatz bewegt die Gerade i(M*/2) nach oben, ohne daß sich die CTf-Kurve (die gleichseitige Hyperbel) verändert. Die Gesamtkostenkurve muß sich ebenfalls nach oben bewegen. Es ist leicht zu erkennen, daß sich die minimalen Gesamtkosten nun bei einer geringeren Zahl von Abhebungen einstellen. Daher nimmt das optimale Niveau von M* ab. Wiederum kann uns Gleichung (8.12) eine exakte Beziehung zwischen MD/P und i liefern. Eine Zinserhöhung um 10% verur-

13

Sie nimmt genau um 4 , 8 8 % zu. Dies kann überprüft werden, indem man die Rechnung

in Gleichung (8.12) durchfuhrt.

308

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

sacht einen Rückgang der Geldnachfrage um etwa 5%. Mithin ist die Zinselastizität der Geldnachfrage gleich -(1/2). Schließlich können wir den Effekt einer Erhöhung der mit der Geldabhebung vom Sparguthaben verbundenen Kosten auf die Geldnachfrage betrachten. Es ist leicht einzusehen, daß ein Anstieg dieser Kosten dazu veranlaßt, weniger häufig zur Bank zu gehen. Dementsprechend wird der jeweils abgehobene Betrag höher, und die durchschnittliche Geldhaltung nimmt in jeder Periode zu. Gleichung (8.12) besagt, daß die Elastizität der Geldnachfrage in bezug auf die fixen Kosten b gleich -(1/2) ist. Bisher sind wir davon ausgegangen, daß Geld keine Zinsen einbringt (im = 0). Dies ist offensichtlich zutreffend für Bargeld. Es war in den USA lange Zeit auch zutreffend für scheckfähige Guthaben, da ein berühmtes Gesetz, die sog. Regulation Q, Zinszahlungen auf Sichtguthaben untersagte. Dieses Bankgesetz ist 1980 liberalisiert worden, und seither ist die Verzinsung von scheckfähigen Guthaben in das Belieben der Banken gestellt. Viele andere Länder kennen immer noch gesetzliche Verbote derartiger Zinszahlungen. Das Baumol-Tobin-Modell kann leicht um den Fall erweitert werden, daß auf Geld ein gewisser Zins, im, gezahlt wird. Wir müssen nur die Opportunitätskosten der Geldhaltung als Differenz zwischen dem Zinssatz von Wertpapieren (die "Alternative") und dem Zinssatz von Geld im interpretieren. Da dieses einen geringeren Zins hat als Wertpapiere, existieren nach wie vor gewisse Opportunitätskosten in Höhe von (/ - im). Bei der Berechnung von im muß man sorgfaltig darauf achten, eventuelle Gebühren für Scheckkonten zu berücksichtigen. Hält jemand z.B. 1.000 $ auf seinem Konto bei einem Zinssatz von 5% und wird eine Kontoführungsgebühr von 20 $ pro Jahr erhoben, so beträgt der Netto-Zins nur 3%. Diese korrigierte Zahl macht die Opportunitätskosten der Geldhaltung aus. Das Baumol-Tobin-Modell liefert eine interessante Erklärung der Geldnachfrage von Haushalten. In vielen Volkswirtschaften haben jedoch auch Unternehmen einen beträchtlichen Anteil an der gesamten Geldhaltung. Ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des Baumol-Tobin-Modells nahmen sich Merton Miller und Daniel Orr dieses Themas an. 14 Der grundlegende Unterschied zwischen Unternehmen und Haushalten besteht nach Miller und Orr darin, daß erstere eine stärkere Fluktuation ihrer Einkommen aufweisen. Haushalte haben gewöhnlich Arbeitsverträge mit vereinbarter Entlohnung, während Unternehmen keine derartige Sicherheit in bezug auf ihre Einnahmen haben. Sie akkumulieren Geld, wenn ihre Einnahmen aus Verkäufen ih-

14

Vgl. ihren Aufsatz "A Model of the Demand for Money by Firms", Quarterly Journal of Economics, August 1966.

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

309

re Ausgaben übersteigen, und im umgekehrten Fall fahren sie ihre Geldhaltung herunter. Wiederum ergibt sich die Frage nach dem optimalen Kassen-Management, diesmal aber unter Bedingungen der Unsicherheit. Unternehmen wollen eine zu starke Ansammlung von Geld vermeiden, da sie sonst beträchtliche Zinsverluste haben. Andererseits müssen sie bei zu geringer Kassenhaltung andere Aktiva verkaufen (und dabei Maklergebühren auf sich nehmen), um das benötigte Geld zu beschaffen. Es zeigt sich, daß das optimale Verhalten der Unternehmen dem im Baumol-Tobin-Modell sichtbar gewordenen sehr ähnlich ist. Die Geldnachfrage der Unternehmen ist eine Nachfrage nach realer Kasse; bei einer Verdoppelung des Preisniveaus verdoppelt sich auch die geplante Geldhaltung. Ebenso wie bei den Haushalten reagiert die Geldnachfrage der Unternehmen in negativer Weise auf eine Zinserhöhung und in positiver Weise auf einen Anstieg der Transaktionskosten. Die genauen Größenordnungen dieser Reaktionen sind andere als im Baumol-Tobin-Modell, sie sind aber in qualitativer Hinsicht ähnlich. Ein zusätzlicher, interessanter Aspekt bei Miller und Orr ist der Effekt der Unsicherheit auf die Geldnachfrage. Falls die Variabilität der Nettoeinnahmen des Unternehmens in den Wechselfällen des Geschäftslebens zunimmt, besteht die vorteilhafteste Reaktion darin, die durchschnittliche Geldhaltung auszudehnen. Dies erlaubt dem Unternehmen, besser mit unerwarteten Veränderungen der Netto-Einnahmen umzugehen. 15 Zusammenfassend können wir schließlich feststellen, daß die Geldnachfrage einfach eine Funktion "/' des nominalen Zinssatzes und des realen Einkommens ist, wie Gleichung (8.13) zeigt: Md



= /(»'. ß )

(8-13)

Wir sollten diesem Ausdruck besondere Aufmerksamkeit schenken, da er bei unserer späteren Analyse nützlich sein wird. Die Nachfrage nach Geld als Wertaufiewahrungsmittel Unsere Theorie der Geldnachfrage betonte bisher die Nützlichkeit von Geld für Transaktionen. Dadurch wird die Funktion des Geldes als Tauschmittel und Recheneinheit erfaßt. Nun haben wir die anderen Zwecke, denen Geld dient, hinzuzufügen. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels stellten wir fest, daß Geld die Funktion eines Wertaufbewahrungsmittels hat. Da aber andere Aktiva ebenso si15

Unter Anwendung moderner Methoden des "cash managements" haben die US-Unternehmen jedoch ihre Geldnachfrage im Verhältnis zum BIP deutlich gesenkt.

310

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

eher wie Geld sind (z.B. Schatzwechsel) und höhere Zinsen einbringen, ist Geld auch ein "dominiertes" Aktivum. Aus diesem Grund wird Geld vor allem wegen seiner besonderen Eigenschaften als Tauschmittel und Recheneinheit - d.h. für Tauschzwecke - gehalten und nicht als ein allgemeines Wertaufbewahrungsmittel. Gleichwohl gibt es einige Gründe für die Attraktivität von Geld für diesen Zweck. Geld schützt die Anonymität des Besitzers etwa im Vergleich zu scheckfahigen Bankguthaben. Diese Geldeigenschaft wird von Individuen und Unternehmen sehr geschätzt, die in illegalen Aktivitäten engagiert sind - Steuerhinterziehung, Drogenhandel und Schmuggel, um nur wenige zu nennen. Es ist beispielsweise für Steuerbehörden sehr viel schwieriger, Zahlungen aufzuspüren, wenn diese in Bargeld statt mit Bankschecks abgewickelt werden. Es ist gleichfalls weniger wahrscheinlich, daß es den Behörden gelingt, illegal (z.B. durch Drogenhandel) erworbene Vermögen aufzudecken, wenn diese in Bargeld und nicht in Form von Bankkonten oder Wertpapieren gehalten werden. Wie nicht anders zu erwarten, ist es sehr schwierig, den Umfang der illegalen Aktivitäten in der sog. Untergrundwirtschaft zu erfassen, aber er ist unverkennbar sehr groß in einigen Ländern (vgl. Box 8-2). BOX 8-2: Untergrundwirtschaft Die Untergrundwirtschaft wird häufig auch als eine "schwarze", "parallele" oder "informelle" Wirtschaft bezeichnet. Auch wenn kein Konsens über die Definition dieses Phänomens gefunden werden konnte, so können wir derjenigen bedenkenlos folgen, die Vito Tanzi, Ökonom beim IMF und Vorreiter auf diesem Forschungsgebiet, vorgeschlagen hat: "[die Untergrundwirtschaft] ist das Bruttoinlandsprodukt, das, weil es keine oder nur unvollständige Meldungen gibt, nicht in den offiziellen Statistiken ausgewiesen wird." 16 Es gibt zwei Ursachenkomplexe, die dieses Phänomen erklären. Es gibt erstens Wirtschaftssubjekte, die Steuerzahlungen vermeiden wollen und ihre Einkommen zu niedrig (oder schlicht gar nicht) angeben oder solche, die der Zahlung von indirekten Steuern (wie Umsatzsteuern) bei Transaktionen ausweichen wollen. Zweitens werden etablierte ökonomische Aktivitäten durch staatliche Verbote nur selten vollständig beseitigt; sie werden vielmehr in den Untergrund abgedrängt. Die Beispiele sind zahlreich - Drogenhandel, verbotenes Glücksspiel, Prostitution. Den meisten illegalen Aktivitäten ist gemeinsam, neben ihrer Gesetzwidrigkeit natürlich, die überwiegende oder Vito Tanzi, "Underground Economy and Tax Evasion in the United States: Estimates and Implications," in: Vito Tanzi, Hrsg., The Underground Economy in the United States and Abroad (Lexington, Mass.: Lexington Books, 1982), S. 70.

311

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

ausschließliche Verwendung von Bargeld als Tauschmittel. Auf diese Weise versuchen die "Händler" jene Spuren ihrer inkriminierten Beute zu vertuschen, die Schecks oder andere Finanzinstrumente hinterlassen würden. Wäre es möglich, den Umfang der Untergrundwirtschaft genau zu erfassen, so wäre sie nicht länger im Untergrund. Dennoch haben Forscher nicht vor dieser Schwierigkeit kapituliert und Schätzungen vorgelegt, die auf unterschiedlichen Methoden beruhen. Eine der beliebtesten Vorgehensweisen bedient sich der monetären Größen selbst, wobei unterstellt wird, daß der Gebrauch von Bargeld - insbesondere in großen Stückelungen - eng mit illegalen Aktivitäten verbunden ist. Die Schätzungen des Umfangs der Untergrundwirtschaft variieren leider erheblich, und im allgemeinen wird keine einzelne Zahl für irgendein Land akzeptiert. Für die USA reichen die Schätzungen von etwa 5 bis zu 25% des BSP. Abb. 8-5 zeigt die Reichweite der Schätzungen zur Untergrundwirtschaft in 19 Ländern, die zumeist Industrieländer sind. 17 Obwohl diese Daten mit Vorsicht zu beurteilen sind, schälen sich zumindest zwei Ländergruppen heraus. In der einen Gruppe, die Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan, Norwegen und die Schweiz umfaßt, scheint die informelle Wirtschaft bei einer Größenordnung von 0 bis 10% des BSP zu liegen. Für die andere Ländergruppe mit Belgien, Italien, Kanada und den USA scheint die Annahme begründet, daß die Untergrundwirtschaft einen Umfang von 10 bis 20% des BSP haben könnte. Indien stellt in soweit einen Sonderfall dar, als es die größte Reichweite der Schätzungen in dieser Auswahl aufweist: von weniger als 10% des BSP bis zu annähernd 50%. Die Untergrundwirtschaft hat in einigen Entwicklungsländern einen bemerkenswerte Größe angenommen. Ein solcher Fall ist Peru, für das eine Forschergruppe unter Leitung von Hernando de Soto wertvolle Einzelheiten zu diesem Thema beigesteuert hat. 18 Nach ihren Schätzungen umfaßt die informelle Wirtschaft in Peru nahezu 40% des ausgewiesenen BIP und beschäftigt rund 48% der erwerbstätigen Bevölkerung. Welche Ursachen hat dieser riesige Umfang der Untergrundwirtschaft in Peru? De Soto führt dies auf die Funktionsmängel der rechtlichen Institutionen dieses Landes zurück, die es für viele Individuen und Unternehmen so außerordentlich kostspielig machen, im offiziellen Sektor tätig zu werden. Ein Team von akademisch 17

Die Abbildung stammt aus Vito Tanzi, "The Underground Economy", Finance

Development, 18

and

Dezember 1983.

Ein interessanter Bericht über ihre Ergebnisse wurde veröffentlicht in einem Buch von

Hernando de Soto, The Other Path: York: Harper & R o w , 1989).

The Invisible

Revolution

in the Third

World

(New

312

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

ausgebildeten Forschern versuchte auf legale Weise, eine kleine Kleiderfabrik anzumelden, ohne Bestechungsgelder zu zahlen, es sei denn, daß es sich für den Fortgang der Registrierung als absolut unvermeidlich erweisen sollte. Es nahm (neben einigen Schmiergeldern) 289 Tage in Anspruch, um die 9 zur Gründung des Unternehmens erforderlichen Genehmigungen zu erhalten, und die gesamten Kosten machten das 32fache des Mindestlohns aus. Es fallt daher nicht schwer einzusehen, warum viele angehende Unternehmer legale Wege meiden.

Australien Belgien Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Großbritannien Indien Japan Kanada Norwegen Österreich Schweden Schweiz Spanien USA (ehem.) UdSSR 0

10

20 in % des BSP

30

40

50

D i e s e Daten geben den Bereich der Schätzungen für jedes Land zu unterschiedlichen Zeiten wieder; sie sind nicht eindeutig und sollten nicht als präzise angesehen werden.

Abb. 8-5: Wie groß ist die Untergrundwirtschaft? (Schätzungen in % des BIP) Auch wenn für die Bewohner der USA Geld durch andere Aktiva, wie etwa Schatzwechsel, dominiert wird, mag das auf andere Länder nicht zutreffen. In einigen Ländern, die Zeiten hoher Instabilität und hoher Inflation durchlebt haben, kann der erwartete Ertrag der Haltung von US-Dollars durchaus höher sein als der inländischer Finanzaktiva. Im übrigen mögen

313

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

die Wirtschaftssubjekte in diesen Ländern Zugang zur US-Währung haben (etwa über den Schwarzmarkt), nicht aber zu auf Dollar lautende, verzinsliche Finanztitel, oder sie haben einen solchen Zugang, aber nur zu sehr hohen Transaktionskosten. In diesem Fall könnten US-Dollars die anderen Aktiva, die für die heimische Bevölkerung zugänglich sind, dominieren. Es gibt in der Tat Hinweise darauf, daß ein beträchtlicher Anteil der in Umlauf befindlichen US-Dollars in Lateinamerika, Osteuropa und Asien gleichsam "unter der Matratze" gehalten werden. Ökonomen verwenden den Begriff der Währungssubstitution für den Fall, daß die inländische Bevölkerung einen Teil ihres Vermögens in fremder Währung hält. Wir haben die Gründe dafür soeben genannt. In Zeiten extremer Instabilität beginnen die Inländer ausländische Währung nicht nur als Wertaufbewahrungsmittel zu verwenden, sondern auch als Tauschmittel. In Ländern mit sehr hoher Inflation, in denen wegen des rapiden Wertverlustes die Haltung von einheimischer Währung sehr kostspielig ist, wird der US-Dollar häufig als sekundäres Tauschmittel benutzt, vor allem für große Transaktionen. Ein weiterer Grund dafür, daß Haushalten einen Teil ihres Vermögens in Geld halten, dürfte der sein, daß sie den Finanzinstitutionen mißtrauen. In Zeiten finanzieller Unsicherheit lösen die Wirtschaftssubjekte ihre Guthaben bei Banken auf. Ein heftiger Ansturm auf die Banken der USA erfolgte während der Weltwirtschaftskrise, als die Geldnachfrage in spektakulärer Weise zunahm, weil man Sorge hatte, die Banken könnten scheitern und die Guthaben verlorengehen. Charles Kindleberger vom MIT hat eine lebendige Schilderung der Ereignisse gegeben, die der 1929er Depression folgten, unter anderem auch zum Ansturm auf die Banken. 19 Eine weitere Theorie der Geldnachfrage wird schließlich als Theorie der spekulativen Geldnachfrage bezeichnet. Diese von Keynes in der General Theory und danach von Tobin und anderen diskutierte Variante besagt, daß die Geldnachfrage deshalb positiv ist, weil verzinsliche Aktiva mit Risiken verbunden sind und zu Vermögensverlusten führen können. 20 Nehmen wir z.B. an, ein Haushalt könne zwischen der Haltung von unverzinslichem Geld und einer langfristigen Anleihe mit positivem Zinssatz, aber schwankendem Kurs wählen. Selbst wenn der durchschnittliche Ertrag der Anleihe positiv ist, kann für den Haushalt aus der Anleihe ein Vermögensverlust er19

Kindleberger hat eine untechnische und faszinierende historische Analyse der Finanzkrise geschrieben. Vgl. seine Maniacs, Panics and Crashes: A History of Financial Crises ( N e w York: Basic Books, 1978). 20

Vgl. James Tobin, "Liquidity Preference as Behavior Towards Risk", Review

mic Studies,

Februar 1958.

of

Econo-

314

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

wachsen. Sofern dies die einzigen verfugbaren Aktiva sind, wird sich ein risikoaverser Haushalt (ein solcher, der das Risiko scheut) dazu entschließen, einen Teil seines Vermögens selbst dann in sicherem Geld zu halten, wenn das alternative Aktivum im Durchschnitt eine sichere Verzinsung bietet. (Eine ausführlichere Diskussion der Portfoliowahl bei Risiko folgt in Kapitel 20.) Die spekulative Geldnachfrage dürfte dann Bedeutung haben, wenn außer Geld keine anderen sicheren und liquiden Anlagemöglichkeiten verfugbar sind. In den meisten entwickelten Ländern ist diese Theorie jedoch nicht mehr relevant wegen der Verfügbarkeit sicherer kurzfristiger Aktiva mit positivem Zinssatz, die kein Risiko des Vermögensverlustes bergen. Das beste Beispiel dafür ist ein kurzfristiger Schatzwechsel, der nahezu risikolos ist und eine positive Verzinsung hat. Derartige Aktiva behaupten insoweit ihre Dominanz gegenüber Geld, als sie ein geringes Risiko, aber eine höhere Verzinsung haben. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes Die Einkommenskreislaufgeschwindigkeit des Geldes (V) ist das Verhältnis des Nationaleinkommens (üblicherweise das BIP) zum Geldumlauf; ein Quotient, der aus der Quantitätsgleichung {MV = PQ) folgt: V: =^ J Mj

(8.14)

Dieser Quotient wird als "Umlaufgeschwindigkeit" bezeichnet, weil man sich diese als die Häufigkeit vorstellen kann, mit der jede Geldeinheit in einer gegebenen Periode (gewöhnlich ein Jahr) in der Volkswirtschaft umläuft. Bei einem BIP der USA von 5.201 Mrd. $ im Jahr 1989 und einem Geldangebot (Ml) von 795 Mrd. $ hat jeder Dollar für 6,5 Dollar der Endnachfrage beizutragen, so daß Ml sechseinhalbmal im Jahresdurchschnitt zirkuliert. Es ist zu beachten, daß wir Mund Fmit einem Subskript versehen haben, da es unterschiedliche Gelddefinitionen gibt (Mi, Ml, M2 usw.) und mit jeder eine bestimmte Umlaufgeschwindigkeit verbunden ist. Daraus ergibt sich Vh, VI, V2 usw. Während VI (mit Bezug auf Ml) 1989 6,5 ausmachte, lag V2 (bezogen auf M2 in Höhe von 3.222 Mrd. $ im Jahr 1989) bei 1,6. Ein anderes Konzept der Umlaufgeschwindigkeit ist als Transaktionsgeschwindigkeit des Geldes bekannt. Diese ist definiert als die Häufigkeit, mit der Geld in einer Periode zur Abwicklung sämtlicher Transaktionen in der Volkswirtschaft zirkuliert. Es ist leicht einzusehen, warum der Wert der Transaktionen in einem bestimmten Jahr sehr viel höher ist als der Wert des Einkommens: jedesmal, wenn ein Gut von einem Wirtschaftssubjekt an ein

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

315

anderes weiterverkauft wird, findet eine Transaktion statt, ohne daß dabei irgendein Einkommen erzeugt wird. Daher ist die Transaktionsgeschwindigkeit stets höher als die entsprechende Einkommenskreislaufgeschwindigkeit des Geldes.

Geldbasis

Ml

M2

p = vorläufig

Abb. 8-6: Einkommenskreislaufgeschwindigkeit des Geldes in den USA, 1960-1990 (Quelle: Economic Report of the President, 1991, Tab. B-l und B-69.)

Abb. 8-6 zeigt die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes fiir Mh, Ml und M2 in den USA für die Periode 1960-1990. Beachtenswert ist der nach oben gerichtete Trend der Umlaufgeschwindigkeit von Mh und Ml sowie die langfristige Stabilität von M2. Mit großer Gewißheit ist der langfristige Aufwärtstrend von Vh und VI mit technischen Veränderungen, wie Bankautomaten und der starken Verbreitung von Kreditkarten, verbunden. Der langfristige Anstieg der durchschnittlichen Inflationsraten und nominalen Zinssätze seit den 60er Jahren lieferte einen weiteren Anreiz zur "Ökonomisierung" der Geldhaltung. Die Umlaufgeschwindigkeit von M2 hat andererseits nicht zugenommen, vermutlich weil M2 Zinsen einträgt und weil viele der technischen Veränderungen tatsächlich zu einer Bewegung von Mh zum verzinslichen M2 geführt haben. Das Baumol-Tobin-Modell kann auch als eine Theorie der Umlaufgeschwindigkeit verwendet werden. In diesem Modell leiteten wir - in Glei-

316

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

chung (8.12) - einen Ausdruck für M D ab, der in einen solchen für V umgewandelt werden kann: (8.15) Diese Gleichung enthält einige Vorhersagen über die Wirkungen ökonomischer Faktoren auf die Umlaufgeschwindigkeit. Erstens hat das Preisniveau selbst keinen Einfluß auf die Umlaufgeschwindigkeit; eine Verdoppelung des Preisniveaus dürfte bei unveränderten Niveaus des realen Einkommens, der realen Transaktionskosten und des nominalen Zinssatzes keinen Effekt auf V haben. Zweitens hat der Zinssatz gewiß einen bedeutenden Einfluß auf die Umlaufgeschwindigkeit. Wenn i ansteigt, dann verringern die Haushalte bekanntlich ihre Geldhaltung, indem sie häufiger zur Bank gehen. Daher ergibt sich bei gegebenem Q eine Abnahme von M DIP. Ein höherer Zinssatz dürfte deshalb im Ergebnis zu einer höheren Umlaufgeschwindigkeit des Geldes führen. Dieser wichtige Zusammenhang hat sich empirisch bestätigt, und er wird eine Schlüsselrolle bei unseren Erörterungen in späteren Kapiteln spielen. Drittens hat eine Zunahme des realen Einkommens einen Effekt auf die Umlaufgeschwindigkeit. Wir erwähnten bereits, daß die reale Einkommenselastizität der Geldnachfrage im Baumol-Tobin-Modell einen Wert von 1/2 hat. Mit steigendem Realeinkommen nimmt auch die reale Geldnachfrage zu, jedoch mit einer geringeren Rate. Daher erhöht sich das Verhältnis von Einkommen zu Geldhaltung, und dies zeigt, daß die Umlaufgeschwindigkeit eine zunehmende Funktion des realen Einkommens sein dürfte. Dies wiederholt - und stützt - unsere frühere Aussage, daß es Skalenerträge der Geldhaltung zu geben scheint. Wir können schließlich sagen, daß die Umlaufgeschwindigkeit eine zunehmende Funktion von b, den realen Transaktionskosten einer Umwandlung von verzinslichen Aktiva in Geld, ist. In der Realität wird b stark beeinflußt sowohl durch technische Veränderungen als auch durch finanzielle Regulierungen. Veränderungen der Banktechnik, wie die Einführung von Kreditkarten, der elektronische Transfer von Einlagen oder elektronische Kassen, erleichtern Transaktionen ohne die Notwendigkeit, die Bank aufzusuchen. Soweit Bankenregulierungen die Bedingungen bestimmen, unter denen verzinsliche Konten in scheckfahige Konten umgewandelt werden können, berühren auch sie die Einfachheit - und die Kosten - eines Umtauschs von zinstragenden Aktiva in Geld.

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

317

Gleichung (8.15) zeigte die spezifische Form der Einkommenskreislaufgeschwindigkeit im Baumol-Tobin-Modell. Ihre allgemeine Form kann auf einfachere Weise als eine (positive) Funktion des Zinssatzes und des realen Einkommens angegeben werden: V= V(i, Q)

(8.16)

+ +

Wir werden später in Kapitel 10 eine noch einfachere Version verwenden. Dort nehmen wir an, daß Fallein eine Funktion des Zinssatzes ist: V= V(i)

(8.16')

Gleichung (8.16') bezieht sich auf einen besonderen Fall, bei dem die Einkommenselastizität der Geldnachfrage gleich 1 ist. In diesem Fall kann MIP durch Q!V(i) ausgedrückt werden. 8-4 Empirische Studien zur Geldnachfrage Wir analysierten bisher die theoretischen Argumente zur Geldnachfrage. Wir wollen nun sehen, inwieweit die Theorie mit den Fakten übereinstimmt, und insbesondere, wie sich das Baumol-Tobin-Modell im Lichte der empirischen Befunde darstellt. Evidenz des Baumol-Tobin-Modells und der Transaktionsnachfrage nach Geld In einer einflußreichen Arbeit hat Stephen Goldfeld von der Princeton Universität eine sorgfältige Studie zur Geldnachfrage in den USA für die Periode 1952-1972 vorgelegt.21 Unter Verwendung des grundlegenden Rahmens des Baumol-Tobin-Modells schätzte Goldfeld eine ökonometrische Gleichung der folgenden Form: log (M/P) = aQ + al log(M/P)_, + a2 log (ß) + a3i

(8.17)

wobei a0 eine Konstante ist; a¡, a2 und a 3 sind die Koeffizienten der zeitverzögerten realen Geldhaltung, des Einkommens und des Zinssatzes. Es ist zu beachten, daß die Gleichung in logarithmischer Form geschätzt wurde: der Logarithmus der realen Kassenhaltung ist auf die Logarithmen der realen Geldhaltung des vorhergehenden Quartals, des realen Einkommens und des Zinssatzes bezogen.22

21

Vgl. Stephen Goldfeld, "The Demand for Money Revisited", Brookings Papers on Economic Activity, 3: 1973. 22

Ein wichtiger technischer Aspekt zu dieser Gleichung wird im Anhang 8-2 zu diesem Kapitel diskutiert.

318

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

Der wesentliche Unterschied zwischen dem grundlegenden Baumol-Tobin-Modell und der Goldfeld-Gleichung ist der, daß Goldfeld die Geldnachfrage als Funktion der verzögerten Geldnachfrage formuliert, d.h. der Geldhaltung des vorhergehenden Quartals. Dies deutet darauf hin, daß es eine Verzögerung in der Anpassung der aktuellen Geldhaltung an ihr ideales Niveau in bezug auf Q und b gibt. Goldfeld fand bei Verwendung von Quartalsdaten einige interessante Ergebnisse. Das erste wichtige Resultat bestand darin, daß die Geldnachfrage eine Nachfrage nach realer Kasse ist, so wie es vom Baumol-Tobin-Modell vorausgesagt wird. Ein Anstieg des Preisniveaus führt zu einer proportional gleichen Zunahme der Geldnachfrage, welche die reale Geldhaltung unverändert läßt. Dieses Ergebnis wurde von vielen anderen Untersuchungen bestätigt, und es wird heute als empirisch gesichert angesehen. Der Effekt des Einkommens auf die Geldnachfrage (hier M l ) erwies sich als positiv. Die kurzfristige Einkommenselastizität der Geldnachfrage lag bei 0,2; d.h. eine Zunahme des Einkommens um 10% führt zu einer Zunahme der geplanten Geldnachfrage um geschätzte 2% im gleichen Quartal. Dies ist jedoch nur die kurzfristige Wirkung. Sofern die Einkommenszunahme für ein Jahr anhält, erhöht sich die Geldnachfrage um 0,5. Langfristig errechnete sich eine Einkommenselastizität von 0,7. Nach Goldfelds Schätzungen war die Anpassung der Geldnachfrage an eine Einkommenserhöhung zu ungefähr fünf Siebteln oder 70% am Ende des ersten Jahres und zu 90% am Ende des zweiten Jahres abgeschlossen. Die Analyse des Einflusses von Änderungen des Zinssatzes auf die Geldnachfrage ist etwas komplizierter, weil es in der Realität so etwas wie den Zinssatz nicht gibt. Die Forscher haben den Zinssatz (bzw. die Zinssätze) zu identifizieren, den (die) sie für das Modell am relevantesten halten. Goldfeld schätzte Geldnachfragegleichungen sowohl unter Verwendung des Zinssatzes von kurzfristigen Geldmarktpapieren als auch des Zinssatzes von Terminguthaben. Der Effekt dieser beiden Zinssätze auf die Geldnachfrage war erwartungsgemäß negativ. Eine Erhöhung des Geldmarktzinses um 10% ließ die Geldnachfrage im ersten Quartal um 0,2% und kumulativ um 0,5% am Ende des ersten Jahres sinken. Eine gleiche proportionale Änderung des Termingeldzinses hatte einen stärkeren Einfluß auf die geplante Geldhaltung; sie ging im ersten Quartal um 0,5% und insgesamt um 1,2% in einem Jahr zurück. Die langfristigen Elastizitäten der Geldnachfrage betrugen - 0 , 1 in bezug auf den Geldmarktzins und - 0 , 2 für den Termingeldzins. Wie zuvor, waren 90% der gesamten Anpassung am Ende des zweiten Jahres abgeschlossen.

319

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

Es erwies sich also, daß die grandlegenden Voraussagen des BaumolTobin-Modells durch die Daten bestätigt wurden. Die Tatsache, daß die nominale Kassenhaltung proportional zu den Preisen stieg, fand durch die Daten eine eindeutige Stützung. Obwohl die Einkommenselastizität nicht exakt bei 0,5 lag, war sie doch nicht sehr weit von dieser Größe entfernt. Die empirischen Belege deuteten daher auf die Existenz von Skalenerträgen bei der Geldhaltung hin. Andererseits hatten die Effekte von Zinsveränderungen, auch wenn sie geringer waren, als es aus theoretischer Sicht nahelag, die vorhergesagte Richtung. Es ist ferner zu beachten, daß Goldfeld seine Schätzungen auf aggregierte Daten stützte, während das Baumol-Tobin-Modell für einen einzelnen Haushalt konstruiert ist. Goldfelds Arbeit (wie die Beiträge anderer Forscher) scheinen dieses Modell als eine angemessene Darstellung der aggregierten Volkswirtschaft zu belegen. Die ökonometrischen Schätzungen der Geldnachfragegleichungen waren alles in allem jedoch nicht ganz so günstig. Nur wenige Jahre nach Goldfelds wichtiger Studie erwiesen sich die Gleichungen als unzutreffend; sie zeigten ab Mitte der 70er Jahre für die USA eine deutliche Überschätzung der Geldnachfrage. Im Rückblick scheint eine strukturelle Veränderung der aggregierten Nachfrage nach Geld zur Mitte der 70er Jahre stattgefunden zu haben, die seither andauert. Einer der ersten, der auf dieses Problem warnend hinwies, war Goldfeld selbst. Er veröffentlichte 1976 einen Aufsatz mit dem vielsagenden Titel: "The Case of the Missing Money". 23 Darin rätselte Goldfeld über die dürftigen Resultate seines erneuten Versuchs, die Geldnachfrage zu schätzen. Nachfolgende Untersuchungen zu diesem Gegenstand bestätigten eine eindeutige Verschiebung der Geldnachfrage nach 1973. 24 Diese Instabilität der Geldnachfragegleichung wurde ebenfalls für die Entwicklungsländer belegt. 25 Die bekanntesten Erklärungen für dieses Problem der Überschätzung verweisen auf die grundlegenden Finanzinnovationen und Deregulierungen des Bankwesens, die während der 70er Jahre auftraten. Die herkömmlichen Geldnachfragegleichungen konnten den Einfluß der Zinssätze und des Ein23

Dieser Aufsatz erschien in den Brookings

Papers on Economic

Activity,

3: 1976.

24

V . Vance Roley zeigte diese Verschiebungen der Geldnachfrage für zwei verschiedene ausgewählte Perioden: 1 9 5 9 - 1 9 7 3 und 1 9 7 4 - 1 9 8 3 . Die strukturelle Veränderung ergab eine signifikante Variation in den Werten der geschätzten Koeffizienten für diese beiden Unterperioden. Vgl. seinen Aufsatz "Money Demand Predictability", Journal of Money, Credit and Banking, N o v e m b e r 1985. 25

Für Chile z.B. fanden Felipe und Aníbal Larrain eine starke und beständige Überschät-

zung auf der Grundlage der traditionellen Gleichungen der Geldnachfrage. Über ihre Ergebnisse wird berichtet in "El Caso del Dinero Desaparecido: Chile, 1 9 8 0 - 1 9 8 5 " , nos de Economía,

August 1988.

Cuader-

320

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

kommens erfassen, nicht jedoch die gesonderten Effekte dieser Neuerungen. Unter den neuen Einrichtungen fanden sich Geldautomaten sowie der Telefon- und Computertransfer von Geldmitteln, wodurch sich die Kosten der Umwandlung zinstragender Aktiva in Bargeld verringerten. Die vermehrte Benutzung von Kreditkarten erwies sich bei Transaktionen als guter Geldersatz. Darüber hinaus gestattete die Überziehungsmöglichkeit und die Einrichtung von Finanzierungskonten den Vermögensbesitzern, ihre Geldhaltung sparsam zu handhaben. Alle diese Veränderungen führten zu einem Rückgang der zur Abwicklung eines bestimmten Transaktionsvolumens erforderlichen Geldbeträge. Einige verringerten die Transaktionskosten der Konvertierung von Aktiva in Geld, andere wiederum erwiesen sich als ein brauchbares Geldsubstitut. Insgesamt bedeutete dies, daß die geplante Geldhaltung für ein gegebenes Einkommen und für gegebene Zinssätze abnahm. Daher ist es nicht überraschend, daß die von Goldfeld und anderen geschätzten Gleichungen die tatsächliche Geldnachfrage deutlich und beständig überschätzten. Theoretisch gesehen kann man im Baumol-Tobin-Modell einige Finanzinnovationen durchaus berücksichtigen. Zumeist laufen sie auf eine Verringerung der Transaktionskosten der Umwandlung weniger liquider Aktiva in Geld hinaus. Dies bedeutet eine Abnahme des Modellparameters b, und dies führt zu einem Rückgang der Geldnachfrage. Die Schwierigkeit liegt in der Messung der Wirkungen unterschiedlicher Innovationen auf b. Einige Forscher erzielten ermutigende Ergebnisse bei der Lösung dieser Aufgabe; so konnte z.B. Michael Dotsey zeigen, daß die Geldnachfrage nach Einfuhrung des elektronischen Geldtransfers nachließ. 26 Der wichtige hierbei zu beachtende Aspekt ist einfach dieser: trotz aller mit der Schätzung der Geldnachfrage für die Zeit seit Mitte der 70er Jahre verbundenen Probleme bleiben die grundlegenden Schlußfolgerungen des Baumol-Tobin-Modells weiterhin gültig. Die Geldnachfrage wird in negativer Weise beeinflußt durch einen Zinsanstieg und positiv berührt von einer Zunahme des Einkommens. Empirische Belege für andere Motive der Geldhaltung Wir haben uns bisher auf das traditionelle Transaktionsmotiv der Geldhaltung konzentriert. Was ist mit den anderen Quellen der Geldnachfrage, die wir in einem früheren Abschnitt erörterten? Gelegentliche Belege zeigen die Existenz einer beträchtlichen Geldhaltung, die sich durch einfache Transak26

Vgl. seinen Aufsatz "The Use of Electronic Funds Transfers to Capture the Effect of Cash Management Practices on the Demand for Demand Deposits", Jounal of Finance, Dezember 1985.

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

321

tionszwecke nicht erklären lassen. Die durchschnittliche Geldhaltung belief sich 1988 in den USA auf nicht weniger als 855 $ pro Person, ein Betrag, der wesentlich höher ist, als er für normale Tauscherfordernisse gerechtfertigt erscheint. Darüber hinaus wissen wir, daß ein großer Teil der US-Noten in großer Stückelung, z.B. 100 $-Noten, außerhalb der USA in Umlauf sind. Es spricht vieles dafür, daß ein erheblicher Teil des US-Geldbestandes zur Abwicklung illegaler Aktivitäten sowohl in den USA als auch im Ausland verwendet wird. Ein weiterer beträchtlicher Anteil wird in legaler Weise benutzt als Wertaufbewahrungsmittel in Ländern, die mit hoher Inflation geschlagen sind. Wie wir zuvor feststellten, hat der US-Dollar in einigen Ländern augenscheinlich die traditionellen Funktionen der Inlandswährung übernommen und ist als Wertaufbewahrungsmittel und Recheneinheit in Gebrauch. Dieser als Währungssubstitution bekannte Vorgang ist sehr auffallend in Ländern mit politischer und wirtschaftlicher Instabilität. Einige neuere Untersuchungen haben die Bedeutung dieses Phänomens für verschiedene Entwicklungsländer Lateinamerikas und Afrikas dokumentiert. 27 8-5 D i e monetaristische Doktrin Eine bedeutende Denkrichtung zur Geldnachfrage ist der Monetarismus. Viele heftige und wohlpublizierte Debatten fanden und finden immer noch über alle möglichen Arten "monetaristischer" Themen statt. Trotz des verbreiteten und vertrauten Gebrauchs dieses Begriffes gibt es nach wie vor zahlreiche einander widersprechende Definitionen des Monetarismus, und in vielen öffentlichen Argumentationen wird daraus ein recht ungenaues Konzept. Gleichwohl sollten wir diesen Begriff hier betrachten und einige grundlegende Diskussionsthemen referieren. 28 (Wir werden in späteren Kapiteln Gelegenheit haben, die monetaristischen Vorstellungen ebenfalls zu diskutieren.) Monetaristen unterscheiden sich von anderen Ökonomen dadurch, daß sie die Existenz einer stabilen Geldnachfragefunktion hervorheben. Mit anderen Worten: sie meinen, daß ( M / P ) D eine Funktion weniger, identifizierbarer Variablen ist. Eine von den Monetaristen angedeutete Implikation der Sta27

Zwei interessante Studien zu Lateinamerika sind: Guillermo Ortiz, "Currency Substitution in Mexico: the Dollarization Problem", Journal of Money, Credit and Banking, Mai 1983 sowie C.L. Ramirez-Rojas, "Currency Substitution in Argentinia, Mexico and Uruguay", International Monetary Fund Staff Papers, März 1988. Zu Afrika vgl. Mohamed ElErian, "Currency Substitution in Egypt and the Yemen Arab Republic", International Monetary Fund Staff Papers, März 1988. 28

Zu einer exzellenten zusammenfassenden Diskussion der monetaristischen Doktrinen vgl. auch das Eintreten für den Monetarismus durch Phillip Cagan in: The New Palgrave: A Dictionary ofEconomics (New York: Stockton Press, 1988).

322

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

bilität der Geldnachfrage ist die, daß der beste Weg zur Stabilisierung der Volkswirtschaft darin besteht, die Wachstumsrate des Geldangebots auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren. Die Vorstellung von der Stabilität des Geldnachfiragezusammenhangs wird, vereinfachend gesprochen, wie folgt geltend gemacht. Angenommen, der Output wird exogen (durch mikroökonomische Angebotsentscheidungen der Haushalte und Unternehmen) bestimmt, so daß Q als gegeben angesehen werden kann, dann heißt das für die Definition der Umlaufgeschwindigkeit: Q

(8.18)

Falls V einigermaßen stabil und Q exogen gegeben ist, dann besagt die Gleichung, daß sich Veränderungen von M auf Änderungen des Preisniveaus übertragen. Monetaristen heben mithin hervor, daß Veränderungen von M der Schlüssel zur Kontrolle des Preisniveaus sind, zumindest dann, wenn Preisveränderungen über eine Periode von mehreren Jahren betrachtet werden. Sie meinen, daß der Geldmenge erlaubt werden sollte, mit einer konstanten Rate pro Jahr zuzunehmen (die sog. X-Prozent-Regel, die ein Wachstum der Geldmenge um X Prozent pro Jahr gestattet), um eine konstante Rate des Preisanstiegs in jedem Jahr hervorzubringen. Die Kontrolle von Inflation wird so zu einem bloßen Problem der Kontrolle von M. Nicht-Monetaristen ziehen diese Ansicht aus verschiedenen Gründen in Zweifel. Sie halten erstens V nicht für eine Konstante, so daß eine stabile Wachstumsrate von M nicht notwendigerweise zu einem konstanten Anstieg von P führt, nicht einmal in mittlerer Sicht. V ist nicht bloß eine Funktion von z und Q, sondern reagiert empfindlich auf Störungen infolge technischer und regulativer Veränderungen. Zweitens berühren Veränderungen von M wahrscheinlich kurzfristig sowohl Q als auch P (ein Punkt, der von den meisten Monetaristen anerkannt wird). Für Nicht-Monetaristen haben Verschiebungen von Mund Q zwei mutmaßliche Implikationen. Einerseits kann die Anwendung des monetaristischen Politikrezepts eines stabilen Geldmengenwachstums eine bedeutende Veränderung der Politik (gegenüber den vorherigen monetären Regeln) bedeuten und unerwünschte Schwankungen von Q provozieren. Andererseits schließt eine fixierte Geldwachstumsregel aus, die Geldpolitik in aktiver Weise zur kurzfristigen Stabilisierung von Q zu benutzen. Die meisten Monetaristen lehnen die Vorstellung ab, die Geldpolitik für kurzfristige Stabilisierungszwecke verwenden zu wollen. Obwohl Monetaristen häufig anerkennen, daß Geld kurzfristig den realen Output berührt, machen sie geltend, daß die Zusammenhänge zwischen Geld und Output "lang und variabel" und tatsächlich zu unzuverlässig für kurzfristige Stabi-

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

323

lisierungszwecke seien. Sie sprechen sich deshalb für eine mittelfristige Ausrichtung der Geldpolitik aus und erwarten, daß ein stabiles und geringes Wachstum der Geldmenge eine stabile und geringe Inflationsrate hervorbringt. Wir werden diese interessante Debatte später an verschiedenen Stellen erneut aufgreifen.

8-6 Zusammenfassung Geld ist ein fundamentales Finanzaktivum in allen modernen Volkswirtschaften. Ohne Geld hätten die Wirtschaftssubjekte bei jedweder Transaktion Naturaltauschgeschäfte abzuwickeln. Dies wäre hochgradig ineffizient, nicht nur weil eine wechselseitige Übereinstimmung der Wünsche vorliegen muß, sondern auch, weil die Preise eines jeden Gutes oder einer jeden Dienstleistung in allen anderen Gütern ausgedrückt werden müßten. Geld zu definieren, erweist sich als einigermaßen schwierig, vor allem deshalb, weil es viele Formen von Aktiva gibt, die als Geld dienen können (Münzen, Noten, scheckfahige Konten, Sparkonten usw.). Ökonomen haben die unterschiedlichen Formen des Geldes und der "geldnahen" Aktiva entsprechend ihrer Liquidität zu bestimmten Aggregaten zusammengefaßt. Münzen, Notenumlauf und Reserven bei der Notenbank werden als Zentralbankgeld ("high-powered money", Mh) bezeichnet. Fügt man diesem Sichtguthaben, Reiseschecks und weitere scheckfähige Einlagen hinzu, so gelangt man zum monetären Aggregat M l . Die nächste Kategorie, M2, schließt Geldmarktkonten und Sparguthaben ein. Die unterschiedlichen Finanzaktiva haben sich ebenso wie M l , M2 usw. im Zeitverlauf entwickelt. Der Kontext, innerhalb dessen das Geldangebot bestimmt wird, weist besondere Merkmale auf. Erstens ist das Recht, Zentralbankgeld zu schaffen, nahezu immer ein gesetzliches Monopol des Staates. Zweitens besitzt in der Regel jedes Land eine und nur eine offizielle Währung. Von dieser Regel gibt es nur wenige Ausnahmen; die Volkswirtschaften Liberias und Panamas z.B. verwenden den US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel. Die Einbeziehung von Geld in unser Modell erlaubt uns, die volkswirtschaftliche Rolle der Preise und der Inflation anzusprechen. Preise drücken schließlich einfach aus, in welchem Verhältnis Geld gegen Güter getauscht werden kann. Inflation ist ein Maß für die prozentuale Veränderung des allgemeinen Preisniveaus in einer bestimmten Periode. Bei Auftreten von Inflation ist es erforderlich, zwischen zwei Konzepten des Zinssatzes zu unterscheiden. Der nominale Zinssatz gibt die zusätzlichen Geldeinheiten an, die ein Individuum durch die Anlage eines Dollars in einem Finanzaktivum erzielen kann. Der reale Zinssatz mißt die zusätzlichen Einheiten des Outputs,

324

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

die jemand durch den gleichen Vorgang erhalten kann. Der reale Zinssatz entspricht (näherungsweise) dem nominalen Zinssatz abzüglich der Inflationsrate. Die Existenz von Geld berührt die intertemporale Budgetbeschränkung der Haushalte, weil Geld ein alternatives Aktivum darstellt, in dem die Haushalte ihre Ersparnis halten können. Die Haltung von Geld ist im Vergleich zu Wertpapieren mit Opportunitätskosten in Höhe der entgangenen Zinsen verbunden. Diese Kosten sind eine zunehmende Funktion des nominalen Zinssatzes und des Niveaus der realen Kassenhaltung. Die meisten Theorien der Geldnachfrage beziehen sich auf die spezifische Rolle des Geldes als Tauschmittel. Dies gilt für den Lagerkostenansatz (der auch als Baumol-Tobin-Modell bezeichnet wird), das populärste Modell der Geldnachfrage. Die wesentliche Idee dieser Theorie ist diese: die Haushalte benötigen Geld, um Transaktionen durchfuhren zu können, und sie sehen sich dabei insoweit einem trade-off gegenüber, als sie die Opportunitätskosten der Geldhaltung (entgangene Zinsen) gegen die Transaktionskosten, die mit der häufigen Umwandlung von anderen Aktiva in Geld verbunden sind, abzuwägen haben. Dieses Problem ist der Entscheidung der Unternehmen über die optimale Lagerhaltung sehr ähnlich. Die wesentlichen Folgerungen, die wir aus dem Baumol-Tobin-Modell ziehen können, sind die, daß die Geldnachfrage eine Nachfrage nach realer Kasse ist (d.h. es gibt keine Geldillusion) und daß sie positiv vom realen Einkommen sowie negativ vom Zinssatz abhängig ist. Darüber hinaus liefert das Baumol-Tobin-Modell quantitative Schätzungen der Elastizität der Geldnachfrage in bezug auf das Einkommen (1/2) und den Zinssatz (-1/2). Geld kann auch als Wertaufbewahrungsmittel attraktiv sein, obgleich andere verfügbare Aktiva, wie etwa Schatzwechsel, so sicher wie Geld sind und eine höhere Verzinsung bieten. Geld schützt erstens die Anonymität seines Besitzers, eine im höchsten Maße geschätzte Eigenschaft bei Leuten, die in illegale Aktivitäten verwickelt sind, wie z.B. Steuerhinterziehung, Drogenhandel und Schmuggel. Der Umfang illegaler Handlungen in der Untergrundwirtschaft ist sehr schwer zu messen, aber in manchen Ländern recht groß. Zweitens ist Geld ein sicheres und schnell verfügbares Wertaufbewahrungsmittel in Ländern, die Perioden großer Instabilität und hoher Inflation durchlebt haben. Mißtrauen gegenüber den finanziellen Institutionen ist ein weiterer Grund, Geld in seiner liquidesten Form zu halten. Eine Flucht in das Geld bei einem Vertrauensverlust zu Banken hat sich zu verschiedenen Zeiten im Laufe der Geschichte ereignet, so z.B. 1930 beim Sturm auf die Banken in den USA. Schließlich kann Geld aus spekulativen

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325

Gründen gehalten werden, sofern keine, sicheren Anlagenalternativen (wie z.B. kurzfristige Schatzwechsel) mit positivem Zinssatz verfugbar sind. Die Einkommenskreislaufgeschwindigkeit des Geldes stellt ein wichtiges monetäres Konzept dar. Sie ist definiert als Verhältnis des nationalen Einkommens zum Geld. Mit anderen Worten: die Einkommenskreislaufgeschwindigkeit entspricht der durchschnittlichen Häufigkeit, mit der Geld in der Volkswirtschaft in einer Periode (normalerweise ein Jahr) zirkuliert, um den Gesamtwert des nominalen Einkommens zu bewältigen. Empirische Untersuchungen der Geldnachfrage haben alles in allem das Baumol-Tobin-Modell bestätigt. Die Nachfrage nach realer Kasse bleibt von Veränderungen des Preisniveaus unberührt, reagiert aber in positiver Weise auf einen Anstieg des realen Einkommens und in negativer Weise auf eine Erhöhung der nominalen Zinssätze. Schätzungen der quantitativen Wirkungen dieser Variablen auf die Geldnachfrage unterscheiden sich nicht allzu sehr vom theoretischen Modell. Seit Mitte der 70er Jahre haben sich jedoch die herkömmlichen Geldnachfrage-Gleichungen als anhaltende Überschätzungen der tatsächlichen Geldnachfrage in den USA erwiesen. Diese Ungenauigkeit wurde auch in anderen Ländern beobachtet. Die bekannteste Erklärung für dieses Problem der Überprognose stellt auf die Rolle der Finanzinnovationen und die Deregulierung des Bankwesens ab, die den Effekt hatten, die Kosten der Umwandlung von zinstragenden Aktiva in Geld zu verringern und Geldsubstitute verfugbar zu machen. Die monetaristische Doktrin hebt die Existenz einer stabilen Geldnachfrage-Funktion hervor, in der die reale Kassenhaltung eine Funktion weniger, identifizierbarer Variablen ist. Sofern dies, wie die Monetaristen meinen, zutreffend ist, kann die Stabilisierung des Geldangebots als eine sinnvolle Politik zur Stabilerhaltung der Volkswirtschaft angesehen werden. Monetaristen gehen ferner davon aus, daß die Einkommenskreislaufgeschwindigkeit des Geldes sehr stabil ist, und sich daher die Kontrolle des Geldangebots als eine effektive Methode zur Stabilisierung des nominalen BIP erweist. Schlüsselbegriffe Naturaltauschwirtschaft Monetarismus Gesetzliches Zahlungsmittel Wechselseitige Übereinstimmung der Bedürfnisse Recheneinheit Tauschmittel Gresham'sches Gesetz

Nominaler Zinssatz Realer Zinssatz Indexierte Aktiva Inflation Lagerhaltungsansatz der Geldnachfrage Geldillusion Einkommenskreislaufge-

326 Wertaufbewahrungsmittel Liquidität Zentralbankgeld

Ml M2 M3

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

schwindigkeit des Geldes Realkasse Untergrundwirtschaft Opportunitätskosten Quantitätsgleichung Währungssubstitution Finanzinnovation

Probleme und Fragen 1. Diskutieren Sie die Rolle des Geldes als Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel. Meinen Sie, daß einige reproduzierbare Güter, wie etwa Kakaosamen eine brauchbare Form von Geld abgeben würden? Begründen Sie Ihre Antwort. 2. Angenommen, das Finanzsystem unterliegt grundlegenden Veränderungen, so daß die Wirtschaftssubjekte in die Lage versetzt werden, Schecks auf ihre Sparguthaben auszustellen. Was würde mit der Geldnachfrage geschehen? Wäre das ein Grund, die monetären Aggregate neu zu definieren? 3. Betrachten Sie eine Volkswirtschaft, in der zwei Formen von Wertpapieren existieren. Wertpapier A erbringt einen nominalen Zinssatz von 10%. Wertpapier B ist eine indexierte Anleihe mit einem realen Zinssatz von 5%. Welche fuhrt zu einem höheren Ertrag, wenn die Wirtschaftssubjekte eine Inflation von 2% erwarten? Welche bringt bei einer erwarteten Inflation von 8% mehr ein? Welcher Form von Wertpapieren im Wert von 1.000 $ würden Sie den Vorzug geben, wenn Sie in der Schweiz lebten? Oder, wenn Sie in Brasilien lebten? 4. Im Zwei-Perioden-Modell entscheidet sich ein Haushalt dazu, 100 $ in Bargeld zu halten. Der auf Wertpapiere gezahlte Nominalzins beträgt 10%. a. Berechnen Sie den Gegenwartswert der Opportunitätskosten eines Haushalts, der eine solche Bargeldmenge hält. b. Wenn die Haltung von Geld etwas kostet, warum tun es die Haushalte? 5. Das Fehlen von "Geldillusion" bedeutet, daß eine Zunahme des Preisniveaus die nominale Geldhaltung der Haushalte erhöht. Richtig oder falsch? Begründen Sie Ihre Antwort. 6. Eine Person verdient 1.000 $ pro Monat. Die mit einem Bankbesuch und einer Abhebung verbundenen Kosten betragen jeweils 2 $. Der auf Wertpapiere gezahlte nominale Zins ist 10%. a. Berechnen Sie unter Verwendung des Baumol-Tobin-Modells die optimale durchschnittliche Geldhaltung pro Monat. b. Wie viele Bankbesuche macht die Person jeden Monat? c. Wie würde sich Ihre Antwort zu (a) und (b) verändern, wenn sich die Kosten pro Bankbesuch auf 3,125 $ erhöhten? Begründen Sie Ihre Antwort.

KAPITEL 8: GELDNACHFRAGE

327

d. Betrachten Sie nun den Fall, bei dem die Kosten pro Bankbesuch bei 2 $ bleiben, aber der Zinssatz auf 14,4% ansteigt. Wie lauten Ihre Antworten zu (a) und (b) unter diesen Bedingungen? 7. Betrachten Sie im Rahmen des Baumol-Tobin-Modells die Effekte der nachfolgenden Ereignisse auf die geplante, reale Geldhaltung der Haushalte: a. Die realen Einkommen steigen um 5%. b. Der Zinssatz sinkt um 10%. c. Der Zinssatz und das reale Einkommen nehmen um 10% zu. Analysieren Sie auch, was mit dem Verhältnis von Geldhaltung und Realeinkommen geschieht. 8. Was geschieht mit der geplanten, realen Geldhaltung der Haushalte, wenn der reale Zinssatz zunimmt, aber der nominale Zinssatz unverändert bleibt? Begründen Sie Ihre Antwort. 9. Würden Sie erwarten, daß die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes höher ist in einem Land mit stabilem Preisniveau oder in einem Land mit hoher Inflation? Begründen Sie Ihre Antwort. 10. Welche Erklärung können Sie für den von Goldfeld berichteten Fall "fehlenden Geldes" geben? Haben Goldfelds Ergebnisse irgendeine Konsequenz für die monetaristische Doktrin? ANHANG: 8 - 1 Die Zusammenfassung der Gleichungen (8.8) und (8.9) fuhrt zu: PlXClX

(1+f)

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P

2(Q2~T2)

_JML

(1 + 0/5

O + Ofl

(1+/)

(1+i)

Wir teilen nun beide Seiten durch P\\ (1 + l)Py ^

Diesen Ausdruck sollten wir uns genau ansehen. Der Term /^^Vl^iO + 0] kann umgeschrieben werden in C2I{\ + r), da der reale Zinssatz durch (1 + r) = P}( 1 + /)/ P2 gegeben wird. In ähnlicher Weise schreiben wir den Term PliQl ~ WO- + l ) p \ i n (02 - ^VO + r ) u®- Schließlich können wir z"M/(l + i)Px in i(M\/P2)/(l + r) umformulieren. Gleichung ( 8 . 1 0 ) ergibt sich daraus unmittelbar. ANHANG: 8 - 2 Zu Gleichung ( 8 . 1 7 ) kann eine wichtige technische Anmerkung gemacht werden. Sofern zum Logarithmus der realen Geldhaltung eine Regression

328

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

auf den Logarithmus der anderen Variablen durchgeführt wird, können die Koeffizienten a\, aj und a 3 unmittelbar als Elastizitäten der Geldnachfrage im Hinblick auf die verschiedenen Variablen auf der rechten Seite interpretiert werden; diese Elastizitäten werden über die ausgewählte Periode als konstant unterstellt. Wenn das Niveau von MIP auf die Niveaus der anderen Variablen bezogen wird, repräsentieren die Koeffizienten nicht mehr unmittelbar die Elastizitäten, und die angegebenen Elastizitäten bleiben über die betrachtete Periode hinweg nicht mehr unverändert. Wenn eine Gleichung in bezug auf die Niveaus spezifiziert wird, variieren die Elastizitäten systematisch mit dem Wert der Variablen. Angenommen, die Gleichung der Geldnachfrage ist wie folgt spezifiziert:

(£)-«.

Die Einkommenselastizität der Geldnachfrage kann dann folgendermaßen errechnet werden: [A(M/P)/(M/P)]_[A(M/P)/AQ]_ [AQ/Q]

[(M/P)/Q]

b} ~[(b0+b;Q/Q]~

bxQ bo+biQ

Wir sehen, daß die angegebenen Elastizitäten der Geldnachfrage in bezug auf das Einkommen nicht konstant sind, sondern statt dessen eine Funktion des Einkommensniveaus sind. Die Gleichung besagt, daß bei sehr niedrigem Einkommen (Q nahe Null) die Elastizität der Geldnachfrage nahe bei Null liegt. Ist Q sehr groß, dann ist die Elastizität der Geldnachfrage nahe bei 1, da (b\Q)/(bo + b\Q{) näherungsweise gleich b\Q\lb\Q\ ist (wenn Q groß ist, können wir den Einfluß von vernachlässigen). Die Variabilität der Elastizität der Geldnachfrage scheint aus empirischer Sicht nicht besonders zutreffend, was nahelegt, die Gleichung der Geldnachfrage nicht in linearer Form zu spezifizieren.

Kapitel 9

Der Geldangebotsprozeß Die Art und Weise, wie das Geldangebot in den meisten Ländern bestimmt wird, hat sich im Laufe dieses Jahrhunderts grundlegend verändert. Noch vor wenigen Jahrzehnten war deckungsloses Geld wenig gebräuchlich. Statt dessen wurden Güter, üblicherweise Edelmetalle wie Gold und Silber, als Geld verwendet; und Papiergeld, soweit es existierte, war typischerweise in die genannten Edelmetalle zu einem fixierten Preis konvertierbar. In solchen Geldsystemen wurden Veränderungen des Geldangebots im wesentlichen oder sogar fast ausschließlich durch die Produktion von Edelmetallen determiniert. Im Gegensatz dazu wird das Geldangebot in einem System mit deckungslosem Geld hauptsächlich durch die staatliche Politik bestimmt. Dies ist ein entscheidender Unterschied, wie wir noch sehen werden. Bis vor wenigen Jahrzehnten hatten die wesentlichen Erhöhungen des Geldangebots noch wenig mit der beabsichtigten staatlichen Politik zu tun. Die Entdeckung bedeutender Gold- und Silbervorkommen in der Neuen Welt führten zu einer reichlichen Vermehrung der in Europa zirkulierenden Edelmetalle. Ein großer Teil dieses Goldes und Silbers wurde zu Münzen geprägt, und die Einschleusung dieser neuen Münzen in das Geldangebot provozierte einen beträchtlichen Anstieg der Preise in der zweiten Hälfte des 16. Jh. Eine ähnliche Erscheinung trat in Verbindung mit den Goldfunden in Kalifornien und Australien in den späten 1840er Jahren auf und nochmals in den späten 1890er Jahren mit der zunehmenden Goldproduktion in Alaska, Kanada und Südafrika, die teilweise auf Neuentdeckungen und teilweise auf verbesserte Ausbeutungstechniken zurückzuführen waren.1

9-1 Geldangebot und Zentralbank: Ein Überblick In einem System mit deckungslosem Geld spielt für die Bestimmung des Geldangebots die staatliche Politik eine grundlegende, wenn auch nicht die einzige Rolle. Die meisten Länder besitzen eine offizielle Institution, zumeist die Zentralbank (oder Notenbank), die die gesetzliche Vollmacht hat, Geld in Umlauf zu bringen. In den USA ist dies die Federal Reserve (Fed), in Großbritannien die Bank von England, in Deutschland die Deutsche Bun1

Von Richard Cooper von der Harvard Universität stammt ein interessanter Überblick zum Goldstandard; vgl. "The Gold Standard: Historical Facts and Future Perspectives", Brookings Papers on Economic Aktivity, 1: 1982.

330

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

desbank und in Japan die Bank von Japan. In neuerer Zeit hat die Zentralbank das ausschließliche Recht zur Währungsausgabe. Es gibt allerdings einige Länder, die keine Zentralbank besitzen oder die, sofern eine solche existiert, nicht das Recht hat, die nationale Währung zu schaffen. Dies gilt z.B. für die Notenbanken in Liberia und Panama; in diesen beiden Ländern zirkuliert der US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel. In vielen frankophonen Ländern Westafrikas ist die jeweilige Währung an den Französischen Franc gebunden, und die nationalen Behörden haben wenig Einfluß auf das inländische Geldangebot. 2 Im allgemeinen bestimmt die Notenbank eines jeden Landes das Angebot an Zentralbankgeld (Mh), d.h. den Bargeldumlauf und die von Banken bei der Zentralbank gehaltenen Reserven. Sehen wir uns z.B. einen Dollar an; er ist eine "Federal Reserve Note", wie in der oberen Mitte der Banknote zu lesen ist (und im übrigen ist er "gesetzliches Zahlungsmittel für alle öffentlichen und privaten Schulden", wie wir im letzten Kapitel anmerkten). Da die Zentralbank das alleinige Recht zur Ausgabe von Banknoten hat, bestimmt sie das Angebot derartiger Noten in der Volkswirtschaft (die entweder vom Publikum als Bargeld oder von Banken als Reserven gehalten werden). Wir erinnern uns, daß das Zentralbankgeld nicht die einzige Geldkategorie ist und nicht einmal diejenige, anhand derer die Geldhaltung der Nichtbanken gemessen wird (da Mh die Kassenreserven der Banken einschließt). Es existieren einige weitergefaßte Abgrenzungen - M l , M2, M3 usw. Generell werden die Beträge dieser höheren, umlaufenden M's bestimmt durch eine Kombination aus der von der Notenbank geschaffenen Zentralbankgeldmenge, den Bankenvorschriften (die gewöhnlich von der Zentralbank erlassen werden) und den Finanzinstrumenten, für die sich das Publikum bei ihren Anlageportfolios entscheidet. Die Funktionsweise dieses Zusammenhangs zu zeigen, ist ein Anliegen dieses Kapitels. Das grundlegende Verfahren, mit dem die Notenbank die Zentralbankgeldmenge in der Volkswirtschaft verändert, ist der Ankauf von Aktiva z.B. Schatzwechseln - vom Publikum und der Verkauf von Aktiva an dieses. Angenommen, das Publikum habe zuvor Schatzwechsel direkt vom Schatzamt erworben. Später werden diese von der Notenbank angekauft, und für die Übertragung der vorher vom privaten Sektor gehaltenen Schatzwechsel wird an diesen mit Zentralbankgeld gezahlt. Diese Veränderung wird in der Bilanz der Notenbank als eine Zunahme ihrer Aktiva und als eine Zunahme des von ihr geschaffenen Zentralbankgeldes, welches zu den Verbindlichkeiten zählt, sichtbar. Um dies besser zu verstehen, wollen wir

2

So in Kamerun, Elfenbeinküste, Madagaskar, Mauretanien und im Senegal.

331

KAPITEL 9 : DER GELDANGEBOTSPROZESS

die Bilanz, also die Aktiva und Passiva der Federal Reserve im Dezember 1990 (Tabelle 9-1) betrachten. Die bei weitem wichtigste Form der von der Fed gehaltenen Aktiva sind Wertpapiere des US-Schatzamtes. Wir werden zu beschreiben haben, wie diese Wertpapiere in den Besitz der Fed über sog. "Offenmarkt-Geschäfte" gelangen, bei denen sie Wertpapiere vom Publikum und nicht direkt vom Schatzamt erwirbt (der Begriff "offener Markt" soll andeuten, daß der Ankauf am öffentlichen Wertpapiermarkt und nicht über den privaten Handel stattfindet). Eine weitere bedeutende Klasse von Aktiva der Fed sind Devisenforderungen, die im allgemeinen aus kurzfristigen Verbindlichkeiten ausländischer Staaten bestehen. Diese werden von der Fed nicht nur als ein Vermögensvorrat gehalten, sondern auch als Mittel zur Intervention am Devisenmarkt, um den Wert des Dollars zu stabilisieren. Tabelle 9-1: Bilanz der US-Federal Reserve, Dezember 1990 (in Mill. $) Aktiva

Passiva

Goldreserven 11.058 Devisenforderungen 32.633 Kredite an Finanzinstitute 190 Wertpapiere des US-Schatzamtes 252.103 andere Forderungen 31.589

gesamte Aktiva Quelle:

327.573

Federal Reserve Noten Einlagen von Finanzinstituten Einlagen des US-Schatzamtes andere Verbindlichkeiten gesamte Verbindlichk. Kapital gesamte Verbindlichkeiten und Kapital

267.000 38.658 8.960 7.504 322.727 4.846 327.573

Federal Reserve Bulletin, März 1991.

Die Fed gewährt auch Kredite an Finanzinstitute (Banken und Sparkassen) über das sog. "Diskontfenster"; ein Vorgang, den wir später in diesem Kapitel genauer erläutern werden. Diese Kredite an Finanzinstitute stellen für die Fed ein Aktivum dar. Es ist darauf hinzuweisen, daß die Fed Kredite nicht direkt an private Nichtbanken, wie etwa General Motors oder IBM, vergibt. Eine solche Einschränkung scheint allerdings nicht in jedem Land zu bestehen; die Zentralbanken vieler Entwicklungsländer gewähren Kredite direkt an private Unternehmen in bevorzugten Wirtschaftszweigen, häufig an die Landwirtschaft. In diesen Fällen nimmt die Notenbank nicht nur die Rolle der Währungsbehörde, sondern auch die einer Geschäftsbank ein.

332

TEIL III: M O N E T Ä R E ÖKONOMIK

Unter den Aktiva der Fed finden wir ferner die Goldreserven, die nicht zu ihrem Marktpreis bewertet werden, sondern mit 42 $ pro Unze, dem Goldpreis, der 1973 gültig war, als sich die USA von den letzten Koppelungen des Geldangebots an das Gold lösten. Gelegentlich kauft oder verkauft die Fed Gold am offenen Markt, aber diese Veränderungen der Goldhaltung haben heute wenig mit der Variation des Geldangebots zu tun. Dies war anders, als die USA noch dem Goldstandard angehörten. Auf der anderen Seite der Bilanz stellt der Banknotenumlauf im Publikum die wichtigste Verbindlichkeit der Fed dar. Aber inwieweit stellt dieser eine Verbindlichkeit dar bzw. etwas, was die Fed schuldet? Unter dem Goldstandard hatten die Wirtschaftssubjekte das gesetzlich garantierte Recht, Geld bei der Fed zu einem fixierten Preis in Gold umzutauschen. Dies machte die Geldbasis (ein anderer Begriff für das Zentralbankgeld) zu einer eindeutigen Verbindlichkeit der Fed in dem Sinne, als sie Gold gegen Zentralbankgeld an jedermann, der dies verlangte, abzugeben hatte. Unter den derzeitigen Bedingungen existiert kein automatisches Recht zum Umtausch von Zentralbankgeld in irgend etwas anderes, so daß Geld im wesentlichen eine formale Verpflichtung der Fed darstellt. 3 Wir werden später sehen, daß sich die Notenbank in einem System deckungslosen Geldes bei festen Wechselkursen dazu verpflichtet, inländisches Geld zu einem fixierten Preis in ausländische Währung umzutauschen. Bei flexiblen Wechselkursen, wie sie für die USA in den 80er Jahren bestanden, gibt es eine derartige Verpflichtung nicht. Die anderen Verbindlichkeiten der Fed schließen die Einlagen privater Finanzinstitute ein. Nach dem Gesetz müssen Geschäftsbanken einen Teil ihrer Einlagen als Guthaben bei der Fed halten. Die Fed fuhrt ferner ein besonderes Konto für die Einlagen des US-Schatzamtes, und diese stellen eine weitere Verbindlichkeit dar. Nach den Regeln der doppelten Buchführung muß der Wert der gesamten Forderungen dem der gesamten Verbindlichkeiten entsprechen. Nach diesem Überblick wenden wir uns nun den Operationen der Zentralbank und deren Verbindungen mit dem privaten Bankensektor, dem allgemeinen Publikum, dem Staatshaushalt und der gesamten Volkswirtschaft zu. 3 Eine berühmte Anekdote berichtet, daß 1961 der Senator Paul Douglas (von der CobbDouglas-Produktionsfunktion bekannt), Vorsitzender des Joint Economic Committee, den US-Schatzminister Douglas Dillon traf. Senator Douglas übergab Minister Dillon eine 20 $-Note und forderte ihn auf, seine Verbindlichkeit zu begleichen. Zur Überraschung vieler der im Raum Versammelten, zögerte Douglas Dillon nicht, die 20 $-Note zu nehmen und sie gegen zwei 10 $-Noten auszutauschen!

KAPITEL 9 : DER GELDANGEBOTSPROZESS

333

9-2 Notenbankgeschäfte und Geldbasis In vielen theoretischen Studien der Ökonomie wird das Bild vom "Hubschrauberabwurf' als Methode zur Erhöhung des Geldangebots verwendet. 4 Seltsam genug, denn die Notenbank hat dieses Verfahren der Einschleusung von Geld in die Volkswirtschaft nie benutzt. Die drei üblichen Methoden, derer sich die Währungsbehörde zur Veränderung des Bestandes an Zentralbankgeld bedient, sind diese: Offenmarktgeschäfte, Rediskontgeschäfte und Devisengeschäfte. Offenmarktgeschäfte Die Transaktionen der Notenbanken beim An- und Verkauf von Wertpapieren am offenen Markt werden, was kaum überrascht, als Offenmarktgeschäfte bezeichnet. Ein Ankauf von Finanztiteln durch die Notenbank in ihrer Rolle als Währungsbehörde fuhrt zu einer Zunahme des vom Publikum gehaltenen Zentralbankgeldes. Der Grund sollte klar sein: die Notenbank kauft die Aktiva mit Geld, das dann in Umlauf gelangt. Umgekehrt führt ein Verkauf von Wertpapieren durch die Notenbank zu einer Abnahme der Geldbasis. Wir wollen sehen, wie sich ein Offenmarktkauf in Höhe von 500 Mill. $ in der Bilanz der Fed darstellt; dies zeigt Tabelle 9-2 (wir erinnern uns daran, daß die Schatzwechsel vermutlich zu irgend einem Zeitpunkt in der Vergangenheit vom Schatzamt direkt an das Publikum verkauft worden sind). Wir gehen davon aus, daß diese Wertpapiere ursprünglich im Besitz des privaten Sektors - insbesondere der Haushalte - waren. Nach der vollzogenen Transaktion hat die Fed 500 Mill. $ mehr an Aktiva in Form von Schatzwechseln, und zugleich hat sie eben diese Summe an zusätzlichen Verbindlichkeiten in Form von Zentralbankgeld, das vom Publikum gehalten wird. Für den privaten Sektor stellt sich dies als spiegelbildliche Veränderung seiner Bilanz dar: eine Abnahme der Forderungen der Haushalte gegenüber dem Schatzamt und eine Zunahme der Forderungen gegenüber der Notenbank um 500 Mill. $ in Form von Zentralbankgeld. Wir sollten genau beachten, daß diese Transaktion weder für die Fed noch für den privaten Sektor eine unmittelbare Veränderung des Netto-Vermögens (Forderungen minus Verbindlichkeiten) bedeutet (obwohl gewisse indirekte Effekte wegen einer Veränderung des Preisniveaus oder der Kurse langfristiger Wertpapiere eintreten können).

4

D i e Urheberschaft an der "Hubschrauber"-Geschichte wird Milton Friedman zugeschrieben. Seither ist sie die beliebteste Metapher, die Wirtschaftsprofessoren verwenden, um die Einschleusung von Geld in die Volkswirtschaft zu beschreiben.

T e i l III: M o n e t ä r e

334

Ökonomik

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KAPITEL 9: DER GELDANGEBOTSPROZESS

335

In der Realität zahlt die Fed mit einem Scheck und nicht mit Bargeld. Dies verändert die Verbuchimg ein wenig, da wir nunmehr den Bankensektor einbeziehen müssen. Wenn die Haushalte einen Scheck von der Fed erhalten, so zahlen sie diesen bei ihrer Bank ein, und das verändert die Aktivseite der Bilanz der Haushalte in Tabelle 9-2. Ihre Einlagen nehmen um 500 Mill. $ zu, und ihr Bargeld bleibt unverändert. Das Bankensystem hat nach Einlösung des Schecks bei der Fed um 500 Mill. $ erhöhte Reserven. (Wir werden später sehen, daß die Banken einen erheblichen Teil dieser zusätzlich verfugbaren Guthaben ausleihen.) Offenmarktgeschäfte sind die wichtigste Methode der Fed, den Bestand an Zentralbankgeld in der Volkswirtschaft zu verändern. Ein Grund dafür ist, daß die Fed exakt vorhersehen kann, welchen Effekt diese Operation auf die Geldbasis hat. Beabsichtigt die Fed, die Zentralbankgeldmenge um z.B. 200 Mill. $ zu erhöhen, so muß sie nur ihren Börsenmakler beauftragen, Schatzwechsel in dieser Höhe zu kaufen - nicht mehr und nicht weniger. Bei anderen Operationen der Fed, wie z.B. einer Senkung des Diskontsatzes (wir kommen darauf im nächsten Abschnitt zurück), ist der genaue Effekt einer geldpolitischen Veränderung auf die Geldbasis nicht einfach vorauszusehen. In einigen Ländern ist der private Handel mit staatlichen Wertpapieren zu unbedeutend, um Offenmarktgeschäfte möglich zu machen. Der Markt für öffentliche Schuldtitel ist in vielen Entwicklungsländern tendenziell zu eng, ebenso in Ländern mit hoher und unvorhersehbarer Inflation sowie in Ländern, deren Bevölkerung nicht auf die Fähigkeit des Staates vertraut, seine Schulden zu tilgen. Im letzteren Fall sind die Wirtschaftssubjekte schlicht nicht bereit, staatliche Schuldtitel zu halten, oder sie verlangen als Kompensation für das Risiko einen sehr hohen Zinssatz als Prämie. In den U S A und den meisten anderen entwickelten Ländern bieten Staatsanleihen im Gegensatz dazu eine geringere Verzinsung als Wertpapiere des privaten Sektors, weil öffentliche Schuldverschreibungen als sicherere Aktiva gelten. Der Markt für staatliche Wertpapiere zeichnet sich daher durch eine hohe Aktivität aus, mit enormen Umsätzen pro Tag. Der Staat wird in vielen Industrieländern als ein so geringes Kreditrisiko und die Wirtschaft als so stabil angesehen, daß öffentliche Schuldtitel nicht nur für Inländer, sondern auch für Ausländer attraktiv sind. Tabelle 9-3 zeigt die Zusammensetzung des Eigentums an staatlichen Wertpapieren der U S A für die Periode 1976-1990. Es ist der Erwähnung wert, daß ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Schuld von Ausländern gehalten wird; im September 1990 waren es US-

336

T e i l III: M o n e t ä r e

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386

TEIL ILL: MONETÄRE ÖKONOMIK

Gleichung (10.2') besagt mit anderen Worten, daß bei Gültigkeit der KKP die inländische Inflationsrate gleich der Abwertungsrate (Aufwertungsrate) der Währung zuzüglich der ausländischen Inflationsrate ist. Aber selbst diese weniger restriktive Version der KKP ist wahrscheinlich nicht präzise gültig. Viele Güter werden nicht gehandelt oder lassen sich nicht auf einfache Weise handeln, und die den Preisindizes zugrunde liegenden Warenkörbe verschiedener Länder unterscheiden sich vermutlich in mancher Hinsicht. Daher ist es keinesfalls sicher, daß vollständige Preisparität zwischen zwei Preisindizes besteht. Zur Veranschaulichung von Preisunterschieden bei Gütern, deren grenzüberschreitender Handel nicht einfach ist, betrachten wir die erhebliche Variation in den Dollarpreisen für Haarschnitte in Tabelle 10-4. Die Preise reichen von einem Niedrigstpreis von 6,50 $ in Mexiko-Stadt bis zu einem Höchstpreis von 34,47 $ in Zürich, ein Unterschied von nahezu 500%. Die Länder sind in der Tabelle in absteigender Reihenfolge nach der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens geordnet. Tabelle 10-4: Internationaler Vergleich von Preisen für Haarschnitte, 1989 (in US-$)

Stadt Zürich Tokio New York Frankfurt a.M. Paris London Sydney Hongkong Sao Paulo Mexiko-Stadt Moskau

HerrenHaarschnitt

DamenHaarschnitt mit Föhnen

34,47 27,68 21,66 13,64 23,87 17,32 18,05 14,06 7,33 6,50 6,78

36,83 46,40 27,00 20,20 36,81 28,60 25,99 18,75 15,95 9,94 9,57

Pro-KopfEinkommen des Landes 1988 27.500 21.020 19.840 18.480 16.090 12.810 12.340 9.220 2.160 1.760 k.A.

k.A. = keine Angabe Quelle: The New York Times, 5. Nov. 1989; World Bank, World Development 1990 (New York: Oxford University Press).

Report

Warum versagt das Gesetz des einheitlichen Preises in diesem Fall? Einfach deshalb, weil die Transportkosten zu hoch sind, um die Arbitrage wirksam werden lassen. Zwischen dem Preis eines Haarschnitts in New York

KAPITEL 10: GELD, WECHSELKURSE UND PREISE

387

und Mexiko-Stadt besteht ein Unterschied von rund 15 $, aber vermutlich käme niemand auf die Idee, ein Flugzeug von New York nach Mexiko-Stadt zu nehmen, um bei einem Haarschnitt zu sparen; die Hin- und Rückflugkosten zwischen den beiden Städten liegen bei über 400 $, vom Zeitaufwand gar nicht zu reden. Ein Maß für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes auf internationalen Märkten - z.B. hinsichtlich der Attraktivität seiner Exporte im Vergleich zu denen anderer Länder - ist der Güterpreis dieses Landes relativ zum Preis der Güter der konkurrierenden Länder. Der Begriff "realer Wechselkurs" wird häufig für das Verhältnis e = EP*/P verwendet. Werden mit steigendem e ausländische Güter teurer als inländische Güter, so sprechen wir von einer Abwertung des realen Wechselkurses; sinkt e im umgekehrten Fall, so handelt es sich um eine Aufwertung des realen Wechselkurses. Offensichtlich steht hinter der KKP die Annahme, daß e im Zeitablauf konstant oder nahezu konstant bleibt.

1.5 r—

1.4

1.3

3

1.2

1.1

1960

1965

1970

1975

1980

1985

Abb. 10-2: Realer Wechselkurs und Kaufkraftparität: USA und Kanada, 1960-1989 {Quelle: International Monetary Fund, international

Financial

Statistics.)

Um dies zu überprüfen, betrachten wir den in Abb. 10-2 dargestellten realen Wechselkurs Kanadas gegenüber den USA in den Jahren 1960-1989.

388

TEIL III: MONETÄRE ÖKONOMIK

Da diese Volkswirtschaften eng miteinander verbunden sind, würden wir erwarten, daß die KKP für dieses Länderpaar gut bestätigt wird. P sei das kanadische Preisniveau und EP* das US-Preisniveau, ausgedrückt in kanadischen Dollars (so daß E der Wechselkurs des kanadischen Dollars gegenüber dem US-Dollar ist). Es ist beachtlich, daß e von Jahr zu Jahr deutlich schwankte, mit starker Abwertung zwischen 1976 und 1978 und starker Aufwertung in den Jahren 1985-1988. Aber es ist auch zu beachten, daß sich der reale Wechselkurs über die gesamte 20-Jahres-Periode um nur 4% veränderte. Da der reale Wechselkurs langfristig keinen erkennbaren Trend aufweist, läßt sich sagen, daß die KKP eine brauchbare Beschreibung über mehrere Jahre für diese beiden Länder abgibt. Genereller gesehen, fand Paul Krugman vom MIT kürzlich eine langfristig gute Bestätigung für die KKP für eine Gruppe wichtiger industrialisierter Volkswirtschaften.9 Internationale Zinsarbitrage Zu jedem Zeitpunkt verfügen Haushalte und Unternehmen in der inländischen Volkswirtschaft über ein durch Ersparnis in der Vergangenheit gebildetes Vermögen. Dieses Vermögen wird auf ein Portfolio finanzieller Aktiva aufgeteilt nach Maßgabe bestimmter Merkmale, vor allem dem Risiko und der Verzinsung sowie den Präferenzen der Wirtschaftssubjekte. (Die Portfoliowahl der Anleger wird in Kapitel 20 im Detail erörtert.) Ein Teil des Gesamtvermögens wird in Form monetärer Aktiva gehalten. Welcher Anteil dies ist, hängt selbstverständlich ab vom Wert der für eine bestimmte Periode erwarteten Transaktionen und den Opportunitätskosten der Geldhaltung. Zudem haben die Haushalte die Auswahl zwischen einer breiten Palette von monetären Aktiva - Bargeld, Sichtguthaben, NOWKonten, Geldmarktfonds, um nur einige zu erwähnen. Haushalte und Unternehmen werden sich ferner dazu entscheiden, einen Teil ihres Vermögens in nicht-monetäre inländische Aktiva anzulegen - z.B. in Schatzwechsel, Kommunalschuldverschreibungen und Anteilswerten an privaten Unternehmen. Bei unserer derzeitigen Analyse wollen wir annehmen, daß es nur einen Typ inländischen Geldes, M, und zinstragender Inlandsaktiva, ein risikoloses Wertpapier B gibt. Sofern es keine Wechselkursbeschränkungen beim Kauf von ausländischen Aktiva gibt, werden die Inländer auch auf ausländische Währungen lautende Vermögenswerte halten wollen. Wir sollten jedoch bedenken, daß sie zwar inländisches Bargeld zu halten wünschen, aber nur wenig oder kein ausländisches Geld M*. Dies ist gewöhnlich kein akzeptiertes Zahlungsmit9

Vgl. P. Krugman, "Differences in Income Elasticities and Trends in Real Exchange Ra-

tes", European

Economic

Review,

Mai 1989.

KAPITEL 10: GELD, WECHSELKURSE UND PREISE

389

tel in der heimischen Volkswirtschaft, und als eine Form der Vermögenshaltung haben zinstragende Auslandsaktiva tendenziell einen niedrigeren Rang. 10 Der Vereinfachung halber nehmen wir also an, daß die Inländer kein ausländisches Geld M* halten, und auch nur einen Typ verzinslicher und auf Auslandswährung lautender Aktiva - ein Wertpapier, das wir mit B* bezeichnen. Unter diesen Annahmen wird der nominale Wert des Finanzvermögens (W) des Haushalts gegeben durch: W = M+B + EB* (10.3) Während M und B in heimischer Währung angegeben werden, ist B* der Wert ausländischer Wertpapiere, ausgedrückt in Auslandswährung. Um den Wert von B* in inländischer Währung zu benennen, müssen wir B* mit dem Wechselkurs multiplizieren. Der reale Vermögenswert ist dann: W M B E n. — =—+—+—B* P P P P

„ (10.4)

Unter Verwendung der KKP-Bedingung aus Gleichung (10.1) können wir (10.4) ausdrücken als: W M B B* — =—+—+— (10.4') P P P P* Sobald über MIP auf Grund der in Kapitel 8 geschilderten Überlegungen entschieden worden ist, müssen die Haushalte das restliche Vermögen auf B und B* aufteilen. Diese Wahl wird unter Berücksichtigung des Risikos und der Verzinsung unterschiedlicher Aktiva getroffen. In einer Welt ohne Unsicherheit werden die Haushalte einfach prüfen, ob B oder B* die höhere Verzinsung bietet und das gesamte Portfolio in demjenigen Aktivum anlegen, das die höhere Ertragsrate hat. Falls sich das Kapital aber frei zwischen den in- und ausländischen Kapitalmärkten bewegen kann, und diese Annahme treffen wir, wird die Arbitrage dafür sorgen, daß die Verzinsung beider Aktiva ausgeglichen wird. Wir wollen sehen, wie das geschieht. Der erste Schritt besteht darin, die Verzinsung von B* in inländischer Währung auszudrücken, so daß sie mit dem Ertrag einer Anlage in B verglichen werden kann. Der Zinssatz des inländischen Aktivums ist einfach i. Wenn wir die USA als das Inland betrachten, so wird ein Dollar, der in 10 Wir sollten uns allerdings an einige in Kapitel 8 genannte Ausnahmen erinnern. In manchen Ländern werden Auslandswährungen vollends als Zahlungsmittel akzeptiert (der USDollar ist ein gutes Beispiel in den hochinflationären Volkswirtschaften Lateinamerikas). In einigen Fällen können Inländer zwar ausländisches Geld auf dem Schwarzmarkt kaufen, sehen sich aber hohen Transaktionskosten beim Erwerb verzinslicher Auslandsaktiva gegenüber.

390

TEIL III: M O N E T Ä R E ÖKONOMIK

Schatzanleihen angelegt wird, in der nächsten Periode in (1 + /) Dollars verwandelt. Die Berechnung des in Dollars ausgedrückten Zinssatzes von B* ist ein wenig schwieriger. Unsere Frage lautet: falls wir einen Dollar heute in B* anlegen, wie viele Dollars werden wir dann in der nächsten Periode haben? Um diesen Ertrag zu kalkulieren, müssen wir mehrere Schritte machen. Erstens tauscht der Anleger den Dollar in ausländische Währung um. Sagen wir, daß das Wertpapier ein französisches sei. Für einen Dollar erhält man in der laufenden Periode 1 IE Französische Francs, wobei E der in Dollars pro Franc ausgedrückte Wechselkurs ist (wir erinnern daran, daß E üblicherweise in umgekehrter Weise notiert wird, nämlich als Französische Francs pro Dollar). Wenn der französische Zinssatz /'* ist, dann bringt die Anlage von ME Französischen Francs in dem ausländischen Wertpapier in der nächsten Periode (1/£)(1 + /*) Francs ein. Um diese in Dollars zurückzutauschen, muß der Anleger Francs gegen Dollars zum Wechselkurs E+ \ der nächsten Periode verkaufen. Daher ist der Ertrag eines in französischen Wertpapieren angelegten Dollars, ausgedrückt in US-Währung, gleich (£+,/£)( 1 + /*). Die Arbitrage sollte dafür sorgen, daß der Dollar-Zinssatz von amerikanischen und französischen Wertpapieren ausgeglichen wird, sofern wir annehmen, daß es keine Barrieren beim internationalen Handel von Finanzaktiva gibt. Falls z.B. das französische Aktivum eine höhere Verzinsung bietet, werden alle Anleger versuchen, französische Wertpapiere zu kaufen und dabei den französischen Zinssatz nach unten und den US-Zinssatz nach oben drücken. Daher können wir in der Art eines Gesetzes des einheitlichen Preises für Finanzaktiva geltend machen, daß 2 — Oq — z + ^h2 z + ^h2 z + ^h2 z + hh2

,

Positive Angebotsschocks (Zunahmen von g) erhöhen den Output und senken die Preise, während ein Anstieg des Nominallohns (der in diesem Modell als starr unterstellt wird) die Preise erhöht und den Output senkt. Die qualitativen Wirkungen aller übrigen Variablen auf P und Q sind die gleichen wie die Wirkungen auf die Gesamtnachfrage. Eine Abwertung steigert beispielsweise die Gesamtnachfrage über ihren Effekt auf die Handelsbilanz; sie erhöht sowohl P als auch Q. Der Geldbestand schließlich reagiert sowohl auf Q als auch auf P. In diesem Modell gilt M=P + vQ-fi* und daher ist AM = AP + vAQ.

3

D i e Lösung für den Output ist die gleiche, wenn das gleichgewichtige Preisniveau in die Gleichung für die Gesamtnachfrage eingesetzt wird; nur die Algebra wäre unbequemer.

Kapitel 14

Makropolitik in der offenen Volkswirtschaft: Der Fall flexibler Wechselkurse In Kapitel 13 untersuchten wir die Effekte makroökonomischer Politik auf den Output in einer offenen Volkswirtschaft mit festen Wechselkursen. Dieser Fall trifft auf viele Länder der Welt zu, so auf fast alle Entwicklungsländer, aber auch viele Industrieländer wie die einzelnen Mitglieder des Europäischen Währungssystems (EWS). Die großen Industrieregionen - die USA, Japan, die Europäische Gemeinschaft als Ganzes - sind aber, wie wir angemerkt haben, durch flexible Wechselkurse miteinander verbunden. In diesem Kapitel nun werden wir sehen, wie die Makropolitik und ihre Effekte bei flexiblen Wechselkursen variieren. Wie bisher werden wir als grundlegenden Fall ein kleines Land ohne Kapitalverkehrskontrollen nehmen. Später betrachten wir die Wirkungen von Kapitalkontrollen. Sodann beobachten wir, was in einem großen Land passiert, welches die Variablen der Weltwirtschaft, besonders den Weltzinssatz, beeinflußt. Schließlich geben wir einen Überblick über die empirische Evidenz der Wirkungen von Fiskal- und Geldpolitik bei flexiblen Wechselkursen und stellen die Ergebnisse mehrerer ökonometrischer Großmodelle vor.

14-1 Der IS-LM-Analyserahmen

mit flexiblen Wechselkursen

Wir brauchen hier nicht die Ableitung der /S-Kurve für die offene Volkswirtschaft zu wiederholen. Um unsere Arbeitsgrundlage herzustellen, müssen wir uns daran erinnern, daß die /S-Kurve die Beziehung zwischen dem Zinssatz und dem Niveau der aggregierten Nachfrage reflektiert, wenn alle übrigen Variablen (z.B. G, T, [Q - T f , GPKE, A*/P* P und E) konstant sind. Sie hat bei flexiblen Wechselkursen die gleiche Abwärtsneigung wie bei festen Wechselkursen. Die LM-Kurve, welche wiederum die Beziehungen zwischen den Zinssätzen und den Niveaus der aggregierten Nachfrage, die den Geldmarkt räumen, aufzeigt, verläuft absteigend. 1 Wie zuvor gewährleistet hohe Kapitalmobilität, daß das Gleichgewicht auf der CM-(Ka-

1 Für diejenigen, die direkt in dieses Kapitel eingestiegen sind, empfiehlt sich ein Blick in Kapitel 13, Abschnitte 13-2 und 13-3, w o die Bestimmung der aggregierten Nachfrage und der /S-ZAZ-Rahmen in einer offenen Volkswirtschaft erörtert wird.

536

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

pitalmobilitäts-)Linie werden. 2

liegen muß, auf der i = i* ist, wie wir bald beschreiben

Bei flexiblen Wechselkursen ist der Wechselkurs natürlich keine politisch beeinflußbare Variable mehr. E bewegt sich endogen entsprechend den Kräften von Angebot und Nachfrage. Da die Lage der /S-Kurve von E wegen dessen Einflüssen auf die Handelsströme abhängt, bewegt sich die ISKurve ebenfalls endogen. So verschiebt sie sich nach rechts, wenn sich der Wechselkurs abwertet, bei Aufwertung nach links. Wir können daher feststellen: so wie sich die LM-Kurve im Fall fester Wechselkurse endogen verschiebt, bewegt sich die IS-Kurve endogen bei flexiblen Wechselkursen. Bei floatenden Wechselkursen verlieren die Währungsbehörden die Kontrolle über den Wechselkurs, erlangen diese aber wieder über das Geldangebot. Die Notenbank kann die Höhe des Geldangebots und damit die Lage der LM-Kurve bestimmen (gerade wie in einer geschlossenen Volkswirtschaft). Es ist klar, daß die i,M-Kurve sich nicht mehr wie im Falle fester Wechselkurse endogen anpaßt. Nehmen wir ein Beispiel fiir eine endogene Verschiebung der /S-Kurve. Ausgangspunkt ist ein /S-ZM-Gleichgewicht, z.B. das in Punkt E, wo sich die IS- und LM-Kurve mit der CM-Linie schneiden (Abb. 14-1). Wenn die Währungsbehörde das Geldangebot durch Verkauf von Wertpapieren an das Publikum verringert, verschiebt sich die ZM-Kurve nach oben, wo sie die /S-Kurve in Punkt B schneidet. In einer geschlossenen Volkswirtschaft wäre dort das neue Gleichgewicht. In einer offenen Volkswirtschaft mit hoher Kapitalmobilität kann jedoch der inländische Zinssatz nicht höher als i* bleiben. Bei Punkt B würden deshalb die in- und ausländischen Anleger von ausländischen auf heimische Wertpapiere umsteigen und damit einen Kapitalzufluß in Gang setzen. Der entscheidende Unterschied zwischen festen und flexiblen Wechselkursen liegt in der Anpassung an diesen Kapitalzustrom. Dieser führt zu einer beginnenden Aufwertung des Wechselkurses. Bei festen Wechselkursen würde der Kapitalzufluß eine Erhöhung des Geldangebots nach sich ziehen, da die Notenbank Devisen für inländisches Geld ankauft, um eine Aufwertung zu verhindern, und die LM-Kurve würde endogen nach rechts verscho2

Die Bedingung i = i* ist tatsächlich des Resultat dreier Voraussetzungen: hohe Kapitalmobilität, vollständige Substituierbarkeit zwischen heimischen und ausländischen Aktiva und Erwartung eines unveränderten Wechselkurses. Wenn eine Wechselkursänderung erwartet wird, werden die in- und ausländischen Zinssätze sich entsprechend der erwarteten Rate der Wechselkursänderung unterscheiden. Da wir zumeist ein statisches Modell analysieren, erörtern wir hier den Fall mit gleichbleibendem Wechselkurs. Wenn wir später explizit dynamische Veränderungen betrachten, werden wir einen komplexeren Ausdruck für das Kapitalmarkt-Gleichgewicht benötigen.

KAPITEL 1 4 : MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

537

ben, um die Bedingung für Kapitalmobilität i = i* wiederherzustellen. Bei flexiblen Wechselkursen jedoch interveniert die Währungsbehörde nicht, und das Geldangebot bleibt unverändert (die IM-Kurve verbleibt in der Position LM'). Nun ist es der Wechselkurs, der sich anpaßt.

Abb. 14-1: Offenmarktverkauf von Wertpapieren durch die Notenbank QD und die endogene Verschiebung der /S-Kurve Der Kapitalzufluß setzt eine Aufwertung der heimischen Währung in Gang, welche wiederum die Netto-Exporte drückt. Wenn dies eintritt, verschiebt sich die /S-Kurve nach links. Solange i oberhalb von /* bleibt, fließt weiterhin ausländisches Kapital zu, behält der Wechselkurs seine Aufwertungstendenz, und die /S-Kurve verschiebt sich weiter nach links. Das Endgleichgewicht ist bei Punkt C auf der CM-Linie erreicht, wo der Zinssatz auf das Weltniveau zurückgegangen und die aggregierte Nachfrage von QD auf QD' gesunken ist. Die Geldverknappung hat daher eine starke Kontraktionswirkung auf die aggregierte Nachfrage und, bei Zugrundelegung keynesianischer Angebotsbedingungen, auf den Output. Die Lehre aus dieser Analyse ist folgende: Bei flexiblen Wechselkursen und hoher Kapitalmobilität muß das Gleichgewicht in einem Punkt sein, wo i gleich i* ist (diese Bedingung setzt auch voraus, daß keine Wechselkursänderungen erwartet werden). Die LM-Kurve ist durch die Geldpolitik festgelegt und verschiebt sich nicht endogen. Daher befindet sich das Gleichgewichtsniveau der aggregierten Nachfrage dort, wo die CM-Linie die LMKurve schneidet, und die \S-Kurve muß sich endogen anpassen, um die LMKurve im gleichen Punkt zu schneiden. Es sind die Veränderungen des Wechselkurses, welche die endogene Anpassung verursachen: eine Verschiebung der /S-Kurve nach rechts ist auf eine Wechselkurs-Abwertung zurückzuführen, eine solche nach links auf eine Wechselkurs-Aufwertung.

538

T E I L I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK UND W A C H S T U M

(a)

Abb. 14-2:

(b)

Effekte einer Preissteigerung bei flexiblen Wechselkursen Verlauf der aggregierten Nachfragekurve: (a) /S-LM-Rahmen; (b) Gesamtnachfragekurve

Nun wollen wir den Verlauf der aggregierten Nachfragekurve bei flexiblen Wechselkursen herausfinden. Dafür beginnen wir bei dem IS-LM-Gleichgewicht und betrachten die Effekte, die ein Anstieg des inländischen Preisniveaus hat. Ein höheres Preisniveau senkt die reale Geldhaltung, und dies läßt die ZM-Kurve nach links wandern (nach LM' in Abb. 14-2). Das neue Gleichgewicht wird bei Punkt B, dem Schnittpunkt der ¿M'-Kurve mit der CM-Linie sein. Die /S-Kurve muß sich endogen bis zu diesem Schnittpunkt verschieben. Es ist klar, daß sich das neue Gleichgewicht auf einem niedrigeren Niveau von QD einstellt. Die aggregierte Nachfrage sinkt, wenn das Preisniveau steigt, und daher verläuft die Kurve der aggregierten Nachfrage fallend.

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

539

Die Verschiebung der /S-Kurve verdient sorgfaltige Beachtung. Insoweit, als ein höherer Inlandspreis geringere Konkurrenzfähigkeit im internationalen Handel bedeutet, muß sich die /S-Kurve nach links verschieben. Es ist aber nicht garantiert, daß die Linksverschiebung der /S-Kurve genauso groß wie die der ZAZ-Kurve ausfällt. Der Preiseffekt könnte geringer sein, wie in Abb. 14-2 gezeigt, wo die /S"-Kurve die allein durch den Preiseffekt verursachte Verschiebung von IS repräsentiert. Der flexible Wechselkurs muß sich ebenfalls aufwerten, um die /S-Kurve nach B zu verschieben. In diesem Fall verursacht das Steigen von P ein Sinken der aggregierten Nachfrage und ebenso eine Aufwertung des Wechselkurses. (Zu beachten ist, daß auch eine Abwertung des Wechselkurses möglich wäre.) 14-2 Makropolitik eines kleinen Landes bei freier Kapitalmobilität Nachdem wir nun gesehen haben, wie das /S-iM-Modell bei flexiblen Wechselkursen und hoher Kapitalmobilität funktioniert, wollen wir sehen, wie eine kleine Volkswirtschaft unter diesen Voraussetzungen auf fiskalund geldpolitische Maßnahmen reagiert. Effekte einer expansiven Fiskalpolitik Betrachten wir nun die Wirkungen einer expansiven Fiskalpolitik. Ein Anstieg der Staatsausgaben verschiebt die /S-Kurve nach rechts. Im Schnittpunkt der neuen /S-Kurve und der LM-Kurve sind die inländischen Zinssätze höher als die Weltzinssätze, was einen Kapitalzufluß und eine Aufwertung der heimischen Währung hervorruft. Die Aufwertung verschlechtert die Handelsbilanz, und die /S-Kurve schwenkt nach links zurück. Solange der Zinssatz über dem Weltniveau liegt, drückt das zufließende Kapital weiterhin auf den Wechselkurs. Die /S-Kurve wird weiter nach links verschoben. Das endgültige Gleichgewicht wird schließlich bei Punkt A in Abb. 14-3a in der ursprünglichen Lage der /S-Kurve erreicht. Die aggregierte Nachfrage bleibt unverändert (und tatsächlich bewegt sich die Kurve der aggregierten Nachfrage in Abb. 14-3b nicht von QD weg). Bei festen Wechselkursen provozierte eine expansive Fiskalpolitik ein endogenes Steigen des Geldangebots. Im Gegensatz dazu zieht eine expansive Fiskalpolitik hier eine Aufwertung der heimischen Währung nach sich, welche genau die expansive Nachfragewirkung der gestiegenen Staatsausgaben aufhebt. Die aggregierte Nachfrage bleibt deshalb in ihrer Anfangsposition. Das ist ein bemerkenswertes Resultat: die fiskalpolitische Maßnahme wurde total verdrängt durch einen Rückgang des Netto-Exports. Mit anderen Worten: da QD = C + I + G + HB ist, wird der Anstieg von G durch ein Sinken von HB ausgeglichen. Die Handelsbilanz verschlechtert sich genau in Höhe der gestiegenen Staatsausgaben.

540

T E I L I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

(a)

Q

A b b . 14-3: Effekte expansiver Fiskalpolitik bei flexiblen Wechselkursen: (a) der /S-iM-Rahmen; (b) die Gesamtnachfragekurve

In der geschlossenen Volkswirtschaft sind wir gewohnt, bei Verdrängung an Investitionsausgaben zu denken. Bei einer vertikalen LM-Kurve z.B. läßt expansive Fiskalpolitik die Zinssätze steigen und verdrängt zinsempfindliche Konsum- und Investitionsausgaben genau in Höhe der fiskalischen Expansion. Da QD = C + I + G ist, wird ein Anstieg von G durch ein Sinken von C + I ausgeglichen. In der offenen Volkswirtschaft mit flexiblen Wechselkursen und Kapitalmobilität kann der Zinssatz jedoch nicht steigen; die Verdrängung trifft den Netto-Export und nicht die Investition. Ein interessanter Fall expansiver Fiskalpolitik bei flexiblen Wechselkursen aus jüngerer Zeit ist jener der U S A in den frühen 80er Jahren, während der ersten Amtszeit von Präsident Reagan: durch das Zusammentreffen erhöhter Rüstungsausgaben und eine Senkung der Einkommensteuersätze stieg das Staatsdefizit erheblich. Dies wiederum ließ die US-Zinssätze steigen, zog Kapital aus dem Ausland an und wertete den Dollar auf. Das traf den Export und verursachte eine Verschlechterung der Handelsbilanz, wie nicht anders zu erwarten war. Der Fall der U S A muß jedenfalls detaillierter

KAPITEL 1 4 : MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

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im Kontext eines großen Landes untersucht werden, da die Maßnahmen der US-Politik - anders als in dem Modell, mit dem wir uns gerade beschäftigen - wichtige Auswirkungen auf die Weltzinssätze hatten. Daher verlassen wir die US-Erfahrungen hier und kommen auf sie später in diesem Kapitel zurück.

LM

(b)

Abb. 14-4: Wirkungen expansiver Geldpolitik bei flexiblen Wechselkursen: (a) der 75-ZM-Rahmen; (b) die Gesamtnachfragekurve

Expansive Geldpolitik Wir sollten uns nun ansehen, was passiert, wenn die Notenbank das Geldangebot durch einen Offenmarktkauf inländischer Wertpapiere erhöht. Dieses Vorgehen verschiebt die ¿M-Kurve nach unten (Abb. 14-4a). Das anfangliche Sinken des Zinssatzes ruft einen Kapitalabfluß aus dem Inland hervor, weil die Anleger auf die Lücke zwischen dem niedrigen Inlandszins und dem höheren Auslandszins reagieren. Dieser Kapitalabfluß läßt den Wechselkurs abwerten und verbessert die Handelsbilanz und induziert dadurch ei-

542

T E I L I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

ne Verschiebung der /S-Kurve nach rechts. Solange die inländischen Zinssätze unter dem Weltniveau bleiben, hält der Druck auf den Wechselkurs an, und dieser drückt die /S-Kurve noch weiter nach rechts. Das neue Gleichgewicht ist in Punkt C, dem Schnittpunkt der CM-Linie (mit i = /'*) und der ZA/-Kurve. Durch die Abwertung der Währung hat sich die /S-Kurve endogen von ihrem früheren zu diesem neuen Schnittpunkt verschoben. Die Zinssätze sind in dem neuen Gleichgewicht unverändert. Gleichwohl ist die aggregierte Nachfrage von QdQ auf QDJ in Abb. 14-4a gestiegen. Diese Erhöhung geht auf den Anstieg des Netto-Exports aufgrund der Abwertung zurück. In einer kleinen offenen Volkswirtschaft mit flexiblen Wechselkursen und hoher Kapitalmobilität wirkt die Geldpolitik über ihre Effekte auf den Wechselkurs und nicht über Effekte auf die Zinssätze, wie das in einer geschlossenen Volkswirtschaft der Fall wäre. Bei QD = C + / + G + HB wirkt Geldpolitik bei flexiblen Wechselkursen (in einer kleinen Volkswirtschaft mit hoher Kapitalmobilität) durch ihre Effekte auf HB, nicht auf C + / Da die IS- und die ZM-Kurve für ein vorgegebenes Preisniveau gezeichnet werden, impliziert dies die Rechtsverschiebung der aggregierten Nachfragekurve in Abb. 14-4b. Die Auswirkungen auf das Gleichgewicht von Output und Preisen hängt wie gewöhnlich vom Verlauf der aggregierten Angebotskurve ab. Vergleich der Makropolitik beifesten und flexiblen Wechselkursen Verweilen wir noch einen Moment bei den Haupterkenntnissen dieses Abschnitts. Tabelle 14-1 faßt die Auswirkungen von expansiver Geld- und Fiskalpolitik sowie einer Abwertung auf die Gleichgewichtsniveaus des Output, der Preise, der Währungsreserven und des Wechselkurses zusammen. Zu beachten ist, daß es in jedem einzelnen Fall erforderlich ist, präzise zu unterscheiden, mit welchem Wechselkurssystem die Volkswirtschaft operiert. Um zu sinnvollen Schlußfolgerungen zu gelangen, ist es auch entscheidend, die Art der aggregierten Angebotskurve zu spezifizieren. Zum Zwecke dieser Übung gehen wir davon aus, daß die Volkswirtschaft kurzfristig durch normale keynesianische Bedingungen charakterisiert ist, so daß die Kurve des aggregierten Angebots ansteigend verläuft. Vielleicht ist die interessanteste Erkenntnis in diesem und dem vorhergehenden Kapitel, daß die Auswirkungen einer bestimmten Wirtschaftspolitik ganz dramatisch voneinander abweichen, je nachdem, welches System von Wechselkursen vorherrscht. Fiskalpolitik erreicht ein Maximum an Effektivität auf die aggregierte Nachfrage bei festen Wechselkursen und ist bei flexiblen Kursen weitgehend wirkungslos. Bei der Geldpolitik verhält es sich genau umgekehrt. Diese Ergebnisse gelten natürlich nur für ein kleines Land

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

543

bei vollkommener Kapitalmobilität und gegebenen Zinssätzen auf dem Weltmarkt. Tabelle 14-1: Effekte der Geld-, Fiskal- und Wechselkurspolitik in einem kleinen Land mit vollkommener Kapitalmobilität Effekte auf Output (ß) Expansive Geldpolitik E fest E flexibel Zunahme der Staatsausgaben E fest E flexibel Abwertung E fest

Preisniveau

(P)

Währungsreserven (R*)

Wechselkurs (E)

+

0

+

+

+

0

0

+

+

+

0

0

0

-

-

+

+

+

+

14-3 Wechselkursdynamik Bis jetzt haben wir die Thematik dynamischer Anpassungen vernachlässigt. Eine Quelle solcher Dynamik ist in vielen Volkswirtschaften die schrittweise Anpassung der Nominallöhne als Reaktion auf die Lücke zwischen dem aktuellen Beschäftigungsstand und Vollbeschäftigung. Wie wir im 3. und nochmals im 12. Kapitel sahen, führt ein Prozeß langsamer Lohnanpassungen zu einer Volkswirtschaft mit kurzfristig keynesianischen und langfristig klassischen Eigenschaften. Es zeigt sich ferner, daß eine langsame Anpassung der Löhne und damit auch der Preise wichtige Implikationen für das System flexibler Wechselkurse hat. Überschießender Wechselkurs Wir wollen uns ansehen, was passiert, wenn die Notenbank das Geldangebot erhöht. Sofort steigt die aggregierte Nachfrage. Sodann steigt kurzfristig der Output, vorausgesetzt, die Löhne steigen nicht ebenso schnell. Nachdem sich langfristig die Nominallöhne vollständig der Erhöhung des Geldangebots angepaßt hat, steigen Löhne und Preise im gleichen Verhältnis wie die Geldmenge, und der Output kehrt auf sein ursprüngliches Niveau zurück (in Kapitel 12 ist dies im Detail beschrieben). In der Phase, in der M steigt, nimmt auch P zu, aber in geringerem Umfang als M (oder - im extremen

544

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

keynesianischen Fall - gar nicht), während langfristig P im gleichen Verhältnis wie M steigt. Die kurz- und langfristigen Gleichgewichte sind in Abb. 14-5b im £>S-Öö-Rahmen dargestellt (wobei der Zwischenwert von P als P" für eine spätere Bezugnahme bezeichnet wird).

(a)

(b)

samtnachfragekurve

Bei einer Erhöhung des Geldangebots wertet sich der Wechselkurs in gleichem Verhältnis zur Geldmengenausweitung ab, und langfristig auch zur Erhöhung der Löhne und Preise. Bei einer Erhöhung des Geldangebots um 10% ist der langfristige Abwertungseffekt der Währung auch 10%, und langfristig werden die Löhne und Preise ebenfalls um 10% steigen. Auf die-

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

545

se Weise ist M/P in dem neuen langfristigen Gleichgewicht unverändert, ebenfalls EP*„/P, da E und P in gleichem Umfang steigen. Der Wechselkurs wertet sich auch kurzfristig ab, wie wir aus dem IS-LMModell ersehen können. Betrachten wir das kurzfristige Gleichgewicht in Abb. 14-5a. Ausgangspunkt ist A. Wenn das Geldangebot steigt, verschiebt sich die ¿M-Kurve nach LM'. Davon ausgehend, daß wegen der Kapitalmobilität i = i* ist (auf diese Annahme kommen wir sogleich zurück), liegt das neue kurzfristige Gleichgewicht im Punkt B. Die /S-Kurve paßt sich endogen in Punkt B durch eine Abwertung des Wechselkurses an. All dies ist uns bis hierher schon vertraut. Wie groß muß diese Abwertung des Wechselkurses nun ausfallen, damit die /S-Kurve so weit verschoben wird, daß sie durch den Punkt B verläuft? Die Antwort lautet, daß die kurzfristige Änderung größer oder kleiner als die langfristige Änderung ausfallen kann, je nachdem, wie stark der Output auf die Änderung des Wechselkurses reagiert. Wenn die aggregierte Nachfrage nicht sehr stark auf den Anstieg des realen Wechselkurses reagiert, muß dessen anfängliche Erhöhung in der Tat recht groß sein. Eine Erhöhung von M um 1% kann in der gleichen Periode eine Erhöhung von E um mehr als 1% verursachen. In diesem Fall wertet sich der Wechselkurs kurzfristig stärker ab als langfristig. Technisch ausgedrückt kann die kurzfristige Abwertung von E den langfristigen Wert überschießen. Bei Auftreten eines "überschießenden Wechselkurses" entwickelt sich der Wechselkurs wie in Abb. 14-6 dargestellt. Zum Zeitpunkt der Geldausweitung tQ wertet sich der Wechselkurs sprunghaft ab, und zwar proportional stärker als das Geldangebot. Während die Volkswirtschaft sich allmählich auf ein neues langfristiges Gleichgewicht einpendelt - und vor allem Löhne und Preise als Folge des höheren Produktions- und Beschäftigungsniveaus steigen - wertet sich auch der Wechselkurs allmählich auf seinen langfristigen Wert auf. Langfristig ist der Prozentsatz der Abwertung genauso hoch wie die Erhöhung des Geldangebots.3 Abb. 14-6 zeigt ebenfalls die Zeitpfade des Outputs und der Preise. Zu beachten ist, daß die Preise allmählich auf ihr neues langfristiges Gleichgewicht steigen, während der Out3 Abb. 14-6 zeigt nur eine der denkbaren Verlaufskurven des Wechselkurses. Es ist auch möglich, daß die anfängliche Abwertung des Wechselkurses unter dem langfristigen Wert liegt, der Kurs daher noch allmählich bis zu seinem Endwert weitersteigt (obwohl nach allgemeiner Ansicht der Fall überschießender Wechselkurse der realistischere ist). Ein wichtiges Kriterium hierfür ist bekanntlich, wie sensibel die aggregierte Nachfrage auf Änderungen des realen Wechselkurses reagiert. Je weniger die Gesamtnachfrage auf Änderungen von EP*/P reagiert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines überschießenden Wechselkurses.

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TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

put zu Beginn hochschnellt, um sodann allmählich wieder auf sein früheres gleichgewichtiges Niveau zu sinken.

Abb. 14-6: Entwicklungspfad des Wechselkurses nach einer Ausweitung des Geldangebots Rüdiger Dornbusch vom MIT hat dieses Grundmodell des überschießenden Wechselkurses um einen interessanten Aspekt im Marktverhalten von Aktiva ergänzt. 4 Er zeigte auf, daß der Vorgang noch modifiziert werden muß, um dem Rechnung zu tragen, daß Haushalte und Unternehmen die später eintretende Aufwertung entlang des Anpassungspfades erwarten. Bei international ausgeglichenem Zinsniveau und der Aussicht auf eine Aufwertung der heimischen Währung wissen sie, daß ein Wechsel von ausländischen zu inländischen Aktiva lohnend ist. Der Versuch, ausländische Aktiva zu verkaufen und inländische Aktiva dafür zu erwerben, wird zu einem Rückgang des heimischen Zinssatzes im Verhältnis zum internationalen Zinsniveau führen. Die Lücke zwischen inund ausländischen Zinssätzen muß genau ausreichen, um die Erträge in- und ausländischer Aktiva zu egalisieren, wobei die allmähliche Aufwertung des Wechselkurses zu berücksichtigen ist. Um die Ertragsraten in- und ausländischer Aktiva bei erwarteten Wechselkursänderungen auszugleichen, muß der heimische Zinssatz in Höhe der erwarteten Wechselkursabwertung unter dem ausländischen Zinssatz liegen. 4

Sein klassischer Beitrag zur Hypothese überschießender Wechselkurse ist "Expectations and Exchange Rate Dynamics", Journal of Political Economy, Dez. 1976.

KAPITEL 1 4 : MAKROPOLITIK. BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

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Diese für das Gleichgewicht des Kapitalmarkts notwendige Bedingung ist nichts anderes als die Voraussetzung für Zinsarbitrage, die wir im Kapitel 10 untersuchten und hier wiederholen: i = i* + ( E +

E

(14.1)

In einer Phase der Währungsaufwertung (in welcher der letzte Term auf der rechten Seite negativ ist, weil E in jeder Periode auf dem Weg zum langfristigen Gleichgewicht sinkt) sollte der heimische Zinssatz niedriger sein als der Weltzinssatz , damit die Ertragsraten in- und ausländischer Aktiva gleich sind. Folgendes muß auf den Kapitalmärkten vorgehen: Nach der anfänglichen monetären Expansion sind die Kapitalmärkte nicht in ihrem kurzfristigen Gleichgewicht. Weil eine künftige Aufwertung erwartet wird, fließt Kapital in das Land. Der inländische Zinssatz sinkt so weit unter das internationale Niveau wie es dem Satz der in der nächsten Periode erwarteten Aufwertung entspricht. Nur allmählich steigt der Zinssatz wieder auf seinen langfristigen Wert /*, wie sich auch die Volkswirtschaft auf ihr langfristigen Gleichgewicht (mit steigenden Löhnen und Preisen und der Aufwertung der Währung) zubewegt. Abb. 14-6 zeigt den Zeitpfad des Zinssatzes. Was ist die Bedeutung des Phänomens überschießender Wechselkurse? Es kann uns helfen, ein empirisches Puzzle zusammenzusetzen. Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems gestützter Wechselkurse in den frühen 70er Jahren begannen die Wechselkurse der wichtigen Industrienationen untereinander zu floaten. Man glaubte allgemein, daß die Wechselkursschwankungen zum größten Teil durch Veränderungen in der Geldpolitik hervorgerufen würden, aber man stellte auch fest, daß die Schwankungen der Wechselkurse größer waren als die sie begleitenden Schwankungen des Geldangebots. Das Phänomen überschießender Wechselkurse hilft diese Erscheinung zu erklären, weil es in der Tat zeigt, daß Änderungen des Geldangebots Wechselkurssprünge verursachen können, die im Verhältnis dazu kurzfristig höher sind. Erwartungen und flexible Wechselkurse Es gibt noch einen anderen Grund für die Volatilität des Wechselkurses in einem System flexibler Wechselkurse. Erwartungen von zukünftigen Veränderungen der volkswirtschaftlichen Variablen können das derzeitige Wechselkursniveau beeinflussen. Selbst wenn sich in einer Volkswirtschaft nichts ändert als die Erwartungen über die Zukunft, kann dies eine sehr wichtige Wirkung auf den aktuellen Wert des Wechselkurses haben. Schwankungen in den Erwartungen können Schwankungen des Wechselkurses hervorrufen.

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T E I L I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND W A C H S T U M

Wir wollen nun sehen, wie so etwas geschehen kann. Angenommen, es wird allgemein erwartet, daß das Geldangebot ausgeweitet wird in der nächsten Periode, nicht aber in der gegenwärtigen. Wir können vermuten, daß sich der Wechselkurs aus den bereits erörterten Gründen in der Zukunft abwerten wird. Anleger werden eine Abwertung in der Zeit zwischen dem jetzigen und dem Zeitpunkt des höheren Geldangebots erwarten. Aufgrund dieser Erwartung werden die Anleger mit dem Verkaufen inländischer und dem Kauf ausländischer Aktiva beginnen, bis der Unterschied der Zinssätze gleich der erwarteten Wechselkursänderung ist. Wenn eine Abwertung des Wechselkurses bis zur nächsten Periode erwartet wird, muß der inländische den internationalen Zinssatz um den Satz der antizipierten Abwertung übertreffen, wie Gleichung (14.1) zeigt. Dieser Anstieg des gleichgewichtigen Zinssatzes beeinflußt das gesamte makroökonomische Gleichgewicht. Wie Abb. 14-7 zeigt, geht die CM-Linie im /S-LM-Modell nach oben und verschiebt das Gleichgewicht der aggregierten Nachfrage von X nach Y. Es ist zu beachten, daß die /S-Kurve sich nun endogen zu diesem neuen Gleichgewicht verschiebt. Da diese Verschiebung der /S-Kurve nach rechts erfolgen muß, muß sich der Wechselkurs abwerten. Das Resultat ist bemerkenswert: die Erwartung einer späteren Abwertung verursacht eine sofortige Abwertung, noch bevor das Geldangebot tatsächlich gestiegen ist.

'0

Abb. 14-7: Makroökonomisches Gleichgewicht nach einer antizipierten monetären Expansion

Es ist wichtig, das subtile Timing der einzelnen Abläufe in dem in Abb. 147 gezeigten Fall zu verstehen. Vor dem Zeitpunkt tQ befindet sich die Volkswirtschaft in einem stationären Gleichgewicht. Im Zeitpunkt /g wird (vielleicht aufgrund einer entsprechenden Ankündigung) allgemein erwartet, daß das Geldangebot irgendwann in der Zukunft steigen wird, sagen wir zum Zeitpunkt t\. Und schon bevor das Geldangebot tatsächlich zunimmt, beginnt die Volkswirtschaft zu reagieren. Der Wechselkurs wertet sich ab,

KAPITEL 1 4 : MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

549

wenn auch nicht in dem Maße wie später in Periode t\, wenn das Geldangebot tatsächlich ansteigt. Ebenso steigt der Zinssatz in (Q, um die Erträge aus in- und ausländischen Aktiva auszugleichen, und trägt der zwischen (Q und / | erwarteten Abwertung des Wechselkurses Rechnung. Der Output steigt gleichfalls in Periode IQ als Folge des real abgewerteten Wechselkurses. Dieses wichtige Ergebnis muß noch einmal wiederholt werden: Erwartungen künftig eintretender Ereignisse - nicht nur bei der Geldpolitik, auch bei der Fiskalpolitik, Auslandsnachfrage, Technologie usw. - beeinflussen den laufenden Wechselkurs und den Zinssatz und damit die gesamte Volkswirtschaft. Wechselkursschwankungen müssen nicht notwendigerweise auf gleichzeitige Schocks auf beobachtbare Variablen zurückzuführen sein, sondern können vielmehr auf veränderten Erwartungen über die künftige Wirtschaftsentwicklung beruhen. 14-4 Makropolitik bei freier Kapitalmobilität: Der Fall eines großen Landes Bis jetzt haben wir in unserer Analyse den Fall eines Landes beschrieben, das zu klein ist, um die Finanzmärkte der Welt zu beeinflussen. Insbesondere wurde i* in allen Modellen als gegeben vorausgesetzt. Diese Annahme trifft für die meisten Länder der Welt zu, nicht jedoch für die USA, Japan, Deutschland oder die Europäische Gemeinschaft als eine regionale Wirtschaftseinheit. In diesen wenigen Fällen (und in geringerem Maße auch für kleinere Länder) haben Veränderungen in der Wirtschaftspolitik Auswirkungen auf die Weltzinssätze, welche umgekehrt die Wirkungen der inländischen Politik beeinflussen. Daher müssen wir verstehen, wie globale Wirkungen funktionieren, um zu erkennen, wie die Wirtschaftspolitik der USA auf die US-Volkswirtschaft wirkt, von ihren Effekten auf die übrige Welt einmal abgesehen. Betrachten wir nun, wie sich die makropolitischen Effekte zwischen einem großen und einem kleinen Land unterscheiden. Das intuitive Resultat ist, daß das große Land sich hier irgendwo zwischen einer kleinen offenen und einer geschlossenen Volkswirtschaft bewegt. Es ist groß genug, um globale Variablen wie i* zu beeinflussen. Die Wirkungsrichtung ist dieselbe wie im /S-ZM-Modell einer geschlossenen Volkswirtschaft: eine expansive Fiskalpolitik läßt die Zinssätze (im In- und Ausland) tendenziell steigen, eine Zunahme des Geldangebots tendenziell sinken. Expansive Fiskalpolitik Wenn in einem großen Land eine expansive Fiskalpolitik betrieben wird, verschiebt sich die Gesamtbalance von Investitionen und Ersparnis in der

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TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

Weltwirtschaft und läßt den Weltzinssatz i* und inländischen Zins steigen. Dieser Effekt ist dem ähnlich, welchen wir im /S-Z-M-Modell einer geschlossenen Volkswirtschaft gefunden haben. 5 Die Wirkung auf in- und ausländische Zinssätze fuhrt zu wesentlichen Unterschieden zwischen der Wirkungsweise von Fiskalpolitik verglichen mit der, die wir für ein kleines Land herausgefunden haben. Wie zuvor verschiebt sich die ZS-Kurve nach rechts; aber nun verschiebt sich auch die CM-Linie nach oben, wie in Abb. 14-8a dargestellt. Wie im Fall eines kleinen Landes wird das neue Gleichgewicht im Schnittpunkt der Z,M-Kurve und der CM-Linie erreicht. Die ISKurve verschiebt sich zum Gleichgewicht über eine Aufwertung der Währung; aber es ist zu beachten, daß sie nicht völlig in ihre ursprüngliche Position zurückschwenkt wie im Fall eines kleinen Landes. Statt dessen wird das neue Gleichgewicht in Punkt C erreicht, und dieses Gleichgewicht ist gekennzeichnet durch eine höhere aggregierte Nachfrage QD, einen höheren Zinssatz (im In- und Ausland) und eine aufgewertete Währung.

Abb. 14-8: Expansive Fiskalpolitik bei flexiblen Wechselkursen und freier Kapitalmobilität: der Fall gegenseitiger Abhängigkeit, (a) Inland; (b) die übrige Welt Warum steigt in diesem Fall die aggregierte Nachfrage, wenn sie es nicht im Fall eines kleinen Landes tut? Im Fall eines kleinen Landes wird die Ex' Dieser Effekt ist auch dem Modell zweier Länder bei Vollbeschäftigung in Kapitel 7 ähnlich. Sowohl im /S-IAZ-Modell eines kleinen Landes, als auch im Modell zweier Länder mit Vollbeschäftigung führt eine expansive Fiskalpolitik tendenziell zur Erhöhung des Zinssatzes.

KAPITEL 1 4 : MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

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pansionswirkung expansiver Fiskalpolitik vollständig durch den kontraktiven Effekt der Währungsaufwertung wettgemacht. Im Fall des großen Landes wird die fiskalische Expansion nicht vollständig aufgehoben. Die ausländischen Zinssätze steigen, und es fließt dadurch weniger Kapital in das Inland, so daß der Aufwertungseffekt geringer ist. In einem kleinen Land verschlechtert sich die Handelsbilanz stärker als im Fall eines großen Land, weil die Wechselkursaufwertung größer ist. Im Kern ist im Fall eines großen Landes die Verdrängung der Netto-Exporte geringer. Was passiert nun im Ausland, wenn das Inland expandiert? Der Zinssatz i* steigt und die ausländische CM-Linie steigt, wie in Abb. 14-8b dargestellt. Das neue Gleichgewicht des Auslands wird im Schnittpunkt der CM*'-Linie und der IM*-Kurve sein. Die aggregierte Nachfrage im Ausland steigt von A* auf C*. Die ausländische Währung wird abgewertet - Spiegelbild der inländischen Aufwertung - und macht dadurch deren Export konkurrenzfähiger. Dadurch verschiebt sich die ausländische /S*-Kurve endogen nach rechts.

Abb. 14-9: Zunahme des Geldangebots bei flexiblen Wechselkursen und freier Kapitalmobilität - der Fall gegenseitiger Abhängigkeit: (a) Inland; (b) die übrige Welt Zunahme des Geldangebots Expansive Geldpolitik senkt den inländischen Zinssatz wie in dem IS-LMModell einer geschlossenen Volkswirtschaft. Daher verschiebt sich die LMKurve nach rechts und drückt auf den inländischen Zinssatz (Abb. 14-9a). In Reaktion darauf beginnt Kapital in das Ausland abzufließen. Bei flexiblen Wechselkursen wird sich der Kurs abwerten und dadurch die Handelsbilanz

552

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

verbessern. Sobald dies geschieht, wird sich die /S-Kurve nach rechts verschieben. Gleichzeitig wird im Fall des großen Landes die Zunahme des Geldangebots im Inland den Weltzinssatz leicht drücken (Abb. 14-9a). Was geschieht im Ausland? Die Abwertung der heimischen Währung, verursacht durch den Kapitalabfluß, ist gleichbedeutend mit einer Aufwertung der fremden Währung. Das wirkt sich negativ auf die Handelsbilanzen der anderen Länder aus und verschiebt die /5*-Kurve nach links. Die CM*Linie rutscht nach unten, und das neue Gleichgewicht liegt in Punkt B*. Bei diesem Geschehen zeigt sich eine bemerkenswerte Tatsache: Die Zunahme des Geldangebots im eigenen Lande senkt tatsächlich die aggregierte Nachfrage im Ausland. Wir sagen, daß der Transmissionseffekt negativ ist, wenn eine wirtschaftspolitische Maßnahme den Output im Inland erhöht und den Output im Ausland senkt (bisweilen als "beggar-thy-neighbor"-Politik bezeichnet, weil der Expansionseffekt im Inland auf Kosten eines gegenteiligen Effekts im Ausland erreicht wird). Im Gegensatz hierzu hatte eine expansive Fiskalpolitik einen positiven Transmissionseffekt: Die fiskalische Expansion im Inland erhöhte den Output sowohl dort als auch im Ausland. Ein abschließendes Wort zur Warnung: Die Richtung der Transmissionswirkungen (negative bei der Fiskalpolitik, positive bei der Geldpolitik) kann geändert werden durch geringfügige Variationen in den Annahmen des Zwei-Länder-Modells.6 Wenn die Volkswirtschaften z.B. ein weitgehend indexiertes Lohnsystem haben, wird die Zunahme des Geldangebots im eigenen Land vermutlich ein Steigen des Outputs in diesen Ländern hervorrufen, expansive Fiskalpolitik dagegen ein Sinken. Wir untersuchen die empirische Evidenz dieses Sachverhalts am Ende dieses Kapitels. 14-5 Kapitalkontrollen und flexible Wechselkurse Wo Kapitalverkehrskontrollen bei flexiblen Wechselkursen bestehen, muß die Leistungsbilanz stets ausgeglichen sein. Es gibt einfach keinen Weg, um einen Überschuß oder ein Defizit zu finanzieren. Private Kapitalströme in das Ausland oder aus diesem sind nicht zugelassen, und die Zentralbank kauft oder verkauft keine Devisen. Der flexible Wechselkurs paßt sich daher immer so an, daß er mit der Leistungsbilanz konsistent ist. Es gibt allerdings auf der Welt nur wenige Länder mit Kapitalverkehrskontrollen bei freien Wechselkursen. Die meisten Entwicklungsländer haben Kapitalkontrollen, aber bei gestützten Wechselkursen. Die meisten Industrieländer haben ihre Kapitalkontrollen seit dem Ende der 80er Jahre aufgegeben. 6

Vgl. Michael Bruno und Jeffrey Sachs, The Economics bridge, Mass.: Harvard University Press, 1985) Kap. 6.

of Worldwide

Stagflation

(Cam-

KAPITEL 1 4 : MAKROPOLITIK. BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

553

Dessenungeachtet sollten wir kurz die Besonderheiten dieser atypischen Wirtschaftspolitik zusammenfassen. Was die Fiskalpolitik anbetrifft, läßt eine Erhöhung von G den Output (wie bisher) steigen, aber in diesem Falle ruft das eine Abwertung statt einer Aufwertung der Währung hervor, da ein für eine Aufwertung notwendiger Kapitalzufluß aus dem Ausland nicht erfolgen kann. Ebenso läßt eine Zunahme des Geldangebots (wie bisher) den Output steigen und verursacht eine Abwertung der Währung, wie es auch bei freier Kapitalmobilität geschieht. Bei expansiver Fiskalpolitik steigen die Zinssätze wie in einer geschlossenen Volkswirtschaft, bei Zunahme des Geldangebots sinken sie. Es ist wichtig zu beachten, daß die Verteilung der Nachfrageausweitung auf C, I, G und HB sich im Fall von Kapitalkontrollen deutlich von dem bei freier Kapitalmobilität unterscheidet: Bei Kapitalmobilität bewirkt z.B. ein Anstieg von G ein Sinken von HB; dabei wird der Netto-Export verdrängt. Da der Zinssatz unverändert auf der Höhe von i = i* bleibt, gibt es keine Verdrängung in den zinssensiblen Bereichen von Konsum und Investition. Im Gegensatz dazu steigen bei Kapitalverkehrskontrollen die inländischen Zinssätze, wenn G ausgeweitet wird, und es sind eher die zinssensiblen Bereiche Konsum und Investition, welche (teilweise) verdrängt werden, und nicht die Handelsbilanz. Ebenso unterscheiden sich die Wirkungen einer expansiven Geldpolitik. Bei freier Kapitalmobilität stimuliert eine Erhöhung des Geldangebots die Nachfrage durch einen höheren Handelsbilanzsaldo; sie verursacht eine reale Abwertung und dadurch ein Steigen von HB. Da aber der Zinssatz bei i = /'* verbleibt, hat das keine Auswirkungen auf C und I. Bei Kapitalkontrollen verändert sich die Handelsbilanz nicht, jedoch sinkt der Zinssatz. Die Erhöhung des Geldangebots wirkt also über eine Ausweitung von C und /, genauso wie in einer geschlossenen Volkswirtschaft.

14-6 "Policy-Mix" Bisher haben wir die Auswirkungen einer einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahme, sei es im Bereich der Geldpolitik, der Fiskalpolitik oder der Wechselkursänderungen, untersucht. In der Praxis versuchen Wirtschaftspolitiker häufig, mehrere Ziele gleichzeitig zu erreichen und hierfür mehrere Politikvariablen gleichzeitig zu verändern. Und um tatsächlich eine Anzahl von n Zielen - Output, Preisstabilität, Leistungsbilanz usw. - zu erreichen, benötigen sie auch dieselbe Anzahl n voneinander unabhängiger wirtschaftspolitischer Instrumenten wie Geldpolitik, Fiskalpolitik usw. Oft übersteigt die Anzahl der Ziele die Zahl der zur Verfügung stehenden Instrumente. Dann können nicht alle Ziele erreicht werden, und es müssen verschiedene

554

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

Zugeständnisse gemacht werden. Die Theorie der Ziele und Instrumente wurde von dem holländischen Ökonomen Jan Tinbergen entwickelt, der später mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde.7 Wir werden uns mit seinem Werk in Kapitel 19 eingehender befassen. An dieser Stelle wollen wir den einfachen Fall annehmen, in dem eine Regierung zwei Ziele und zwei Instrumente hat. Nehmen wir z.B. an, diese Regierung wolle den Output unverändert halten und gleichzeitig das Defizit in der Leistungsbilanz reduzieren, wozu ihr die Geld- und Fiskalpolitik zur Verfugung stehen. Diese Problemlage ist nicht nur hypothetisch, sondern die der USA gegen Ende der 80er Jahre. Damit die Rahmenbedingungen mit denen der USA vergleichbar sind, nehmen wir ferner an, daß es sich um den Fall eines großen Landes mit einem System flexibler Wechselkurse handelt. Wir müssen uns nun folgendes vorstellen: Eine kontraktive Fiskalpolitik würde für sich allein die Handelsbilanz (durch Abwertung der Währung, wie zuvor beschrieben) verbessern, aber den Output sinken lassen. Eine expansive Geldpolitik würde für sich allein die Handelsbilanz (durch Währungsabwertung) verbessern, aber den Output erhöhen. Eine Kombination beider Instrumente - ein "Policy-Mix" - würde also die Handelsbilanz verbessern (denn beide Instrumente wirken in diese Richtung), ohne den Output nennenswert zu beeinflussen (weil die Outputwirkungen beider Instrumente sich gegenseitig aufheben). Ein weiteres interessantes Experiment eines "Policy-Mix" unternahmen die USA in den frühen 80er Jahren. Die Hauptsorge der Wirtschaftspolitiker galt damals der Eindämmung der Inflation. In einem System flexibler Wechselkurse, das für die USA seit 1971 bestand, kann eine Désinflation erreicht werden durch expansive Fiskalpolitik in Verbindung mit einer ausgleichenden, restriktiven Geldpolitik. Beide Instrumente führen zu Zinssteigerungen, und hohe Zinssätze provozieren einen massiven Kapitalzufluß aus dem Ausland, der den Wechselkurs abwertet. Ein Sinken der aggregierten Nachfrage kann vermieden oder zumindest gemildert werden, weil die Erhöhung der Staatsausgaben den (durch die Aufwertung) sinkenden Netto-Export und die (durch höhere Zinssätze) zurückgehenden Investitionen wettmacht. Die Auswirkungen auf den Konsum sind ungewiß: die höheren Zinssätze drücken ihn, aber die billigeren Importgüter fördern ihn.

7

Viele von Tinbergens Ideen sind in seinem Buch On the Theory of Economic Policy (Am-

sterdam: North Holland, 1952) enthalten.

KAPITEL 1 4 : MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

555

Diese theoretischen Erkenntnisse decken sich weitgehend mit den Erfahrungen, welche in den USA zu Beginn der 80er Jahre gemacht wurden: 8 Die Federal Reserve unter der Leitung von Paul Volcker verfolgte eine kontraktive Geldpolitik, um die Inflation einzudämmen. Kurz nachdem eine Einschränkung des Geldangebots lanciert worden war, beschloß die ReaganAdministration eine starke Erhöhung der Staatsausgaben, insbesondere für den militärischen Bereich, während sie gleichzeitig die Steuern senkte. Daraufhin ging die Inflation schnell zurück, und die Einbußen durch den Rückgang im Output waren geringer, als sie ohne eine Ausweitung der Staatsausgaben ausgefallen wären. Indessen hatte die starke Verschlechterung der Handels- und Leistungsbilanz durch diese Politik eine starke Gegenkraft aufgebaut: die steigende Kreditaufnahme im Ausland. Das Land erhöhte drastisch seine Schulden, die schließlich irgendwann einmal zurückgezahlt werden müssen. Die eingeschlagene Politik machte ein späteres Gegensteuern zum Ausgleich erforderlich. Und solch ein Gegensteuern macht insbesondere fiskalische Einschränkungen erforderlich, die weder leicht noch kostenlos zu erreichen sind. Die US-Wirtschaft erkennt nun, daß viele der anfänglichen Gewinne bei der Bekämpfung der Inflation letztlich wieder aufgegeben werden müssen, und daß dieser Prozeß nicht schmerzlos ist. 14-7 Empirische Evidenz In diesem Abschnitt untersuchen wir die quantitativen Auswirkungen verschiedener makropolitischer Maßnahmen anhand der in Kapitel 12 vorgestellten ökonometrischen Großmodelle. Insbesondere werden wir einen Überblick geben über die Ergebnisse für eine offene Volkswirtschaft, zu denen Ralph Bryant, John Helliwell und Peter Hooper vom Federal Reserve System gekommen sind.9 Ihre Simulationen verschiedener makropolitischer Maßnahmen der USA benutzten viele wohlbekannte ökonometrischen Großmodelle, einschließlich der in Box 12-1 beschriebenen. Da ihre Ergebnisse den Durchschnitt der benutzten Modelle wiedergeben, erscheint ein ausgewogenes Bild, das die spezifischen Ausgestaltungen einzelner Modelle vermeidet.

8 Diese Erfahrungen wurden von Jeffrey Sachs in seinem Beitrag "The Policy Mix and the Dollar", Brookings Papers on Economic Activity, 1: 1985, analysiert. 9

Vgl. ihren gemeinsamen Beitrag, "Domestic and Cross-border Consequences o f U.S. Ma-

croeconomic Policies", in: R. Bryant u.a., Hrsg., Macroeconomic

Policies

dent World, (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 1989).

in an

Interdepen-

556

TEIL IV: OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

Betrachten wir zuerst den Fall von Staatsausgaben-Kürzungen. Nach unserem theoretischen Modell erwarten wir einen Output-Rückgang in den USA, eine Abwertung des Dollars und einen Produktionsrückgang im Ausland (wir erinnern uns, daß im Grundmodell die Fiskalpolitik einen positiven Transmissionseffekt hat: die Wirkungen gehen im In- und Ausland in die gleiche Richtung). Ebenso verbessert sich die Handelsbilanz der USA, sowohl infolge der Dollar-Abwertung, als auch durch einen Rückgang der Absorption insgesamt in den USA. Wir wollen sehen, ob diese Ergebnisse auch im ökonometrischen Großmodell auftreten werden. Nach Bryant, Helliwell und Hooper reduziert eine Kürzung der USStaatsausgaben um 1% des BIP über einen Zeitraum von sechs Jahren den Output um etwas über 1% im ersten Jahr. 10 Im zweiten Jahr erholt sich der Output, ohne aber auf sein ursprüngliches Niveau zurückzukehren. Der Wechselkurs wertet sich im ersten Jahr um 2% ab. Sowohl der Rückgang des Outputs, als auch die Dollar-Abwertung verbessern die Leistungsbilanz der USA. Es wird geschätzt, daß eine Kürzung der Staatsausgaben um 100 Mrd. $ die Leistungsbilanz um etwa 20 Mrd. $ im ersten Jahr und etwa 32 Mrd. $ bis zum dritten Jahr verbessert. Die Echoeffekte kommen hauptsächlich durch die Handelsströme zustande. Das ausländische BIP sinkt wie erwartet, obwohl das Ausmaß des Effekts auf den ausländischen Output nicht so groß wie in den USA ist. Bis zum dritten Jahr der Maßnahme sinkt der Output der übrigen OECD-Länder um 0,4 %. Der Transmissionseffekt ist in Japan etwas größer, was an der großen Abhängigkeit des japanischen Exports vom US-Markt liegen dürfte. Betrachten wir nun eine Erhöhung des Geldangebots der USA um 1% über sechs Jahre. Dem theoretischen Modell entsprechend müßte die Ausweitung des Geldangebots den Output steigen lassen, die Zinssätze senken und zu einer Abwertung des Dollars führen. In den Simulationsmodellen sehen wir, daß die Zunahme des Geldangebots die Zinssätze im ersten Jahr deutlich sinken läßt, diese in den Folgejahren aber langsam wieder steigen. Der Output steigt im ersten Jahr um 0,25%, nimmt im zweiten Jahr weiter zu und geht danach auf sein früheres Niveau zurück. Der Wechselkurs wertet sich anfangs um 1,5% ab und klettert danach auf die Höhe von 1% über dem Ausgangspunkt. Welches sind nun die Auswirkungen auf die US-Leistungsbilanz? Es gibt zwei gegensätzliche Wirkungen: sinkende Zinssätze verursachen eine Steigerung der Absorption und verschlechtern damit die Leistungsbilanz, wähD i e Ergebnisse werden als Abweichungen v o m Trend ausgedrückt. Vgl. Fußnote 14 in Kapitel 12.

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

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rend die Abwertung die Leistungsbilanz tendenziell verbessert. Empirisch ist der Netto-Effekt der Zunahme des Geldangebots auf die Leistungsbilanz recht gering und kann in der Tat fast vernachlässigt werden. Betrachten wir den länderübergreifenden Transmissionseffekt, so geht der Output im Ausland tendenziell zurück, obwohl dieser Effekt nicht groß ist. Die ökonometrischen Simulationsmodelle erhärten daher in der Tendenz die Theorie, daß eine expansive Geldpolitik bei flexiblen Wechselkursen einen negativen Transmissionseffekt hat. Zum Schluß wollen wir einen kurzen Blick auf einen besonders interessanten Fall eines "Policy-Mix" der USA werfen. Ziel der Politik war die Verbesserung der Leistungsbilanz bei stabil bleibendem Output. Hierzu haben wir zum einen eine schrittweise Reduzierung der Staatsausgaben in Höhe von 0,5% des BSP jährlich über vier Jahre, was sich bis zum vierten Jahr zu einer Minderung von G um 2% des BSP addiert. Zum anderen sehen wir eine Zunahme des Geldangebots in den ersten drei Jahren um jeweils 2%, 3% und 4%, um danach allmählich wieder bis auf 2% über das Ausgangsniveau im sechsten Jahr zu sinken. Als Ergebnis dieses "Policy-Mix" verbessert sich die Leistungsbilanz (um fast 0,5% des BSP bis zum dritten Jahr), der Dollar wertet sich ab und der Output sinkt geringfügig (um 0,2% im ersten und 0,5% im zweiten Jahr). Würde die kontraktive Fiskalpolitik ohne expansive Geldpolitik vorgenommen, bliebe die Auswirkung auf die Leistungsbilanz etwa gleich, aber der Rückgang des Output wäre größer (etwa 0,7% im ersten Jahr). Daher hebt die expansive Geldpolitik die kontraktive Fiskalpolitik auf und hilft, den Output stabil zu halten. Noch einmal sei betont, daß die qualitativen Ergebnisse unseres grundlegenden Mundell-Fleming-Modells durch die komplexeren ökonometrischen Großmodelle bestätigt werden. Natürlich gibt es Komplikationen in der Realität, die unser einfacher Modellrahmen nicht so berücksichtigen kann, wie es die ökonometrischen Großmodelle vermögen. Die Grundmodelle der Theorie können die Effekte von Phasenverschiebungen und Zeitverzögerungen oder die in vielen Ländern und Regionen auftretenden "Spillover-Effekte" nicht angemessen berücksichtigen. Aber wir können gleichwohl mit dem einfachen Mundell-Fleming-Modell vernünftige qualitative Vorhersagen machen.

14-8 Die Notwendigkeit zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik Wir haben in Abschnitt 14-4 gesehen, daß Maßnahmen im Bereich der Makropolitik, welche ein Land trifft, Auswirkungen auf andere Volkswirtschaf-

558

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

ten haben können. Die Interdependenz-Effekte sind höchst wichtig bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die große Länder (oder Wirtschaftsräume) wie die USA, Japan, Deutschland oder die Europäische Gemeinschaft als Ganzes durchführen. Wenn Volkswirtschaften wechselseitig abhängig sind, sollten sie ihre Wirtschaftspolitik koordinieren. Eine politische Koordination dürfte vorteilhaft sein, weil es zu unerwünschten makroökonomischen Ergebnissen führen kann, wenn die Entscheidungen dezentral getroffen werden, d.h. wenn jedes Land diese für sich allein trifft. Das Interesse, die makroökonomischen Ergebnisse weltweit zu verbessern, führte in den 80er Jahren zu dem Ruf nach zunehmender wirtschaftspolitischer Koordination der großen Länder. In Europa ist die Koordination der Wirtschaftspolitik heute schon sehr weit gediehen, besonders auf dem Gebiet der Geldpolitik. Was ist nun ein Fall für eine Koordination der Wirtschaftspolitik bei voneinander abhängigen Volkswirtschaften? Die Spieltheorie liefert uns das analytische Werkzeug, um die Notwendigkeit von Politikkoordination zu untersuchen. Ihre Denkansätze können am besten an einem Beispiel vorgestellt werden. 11 Betrachten wir zwei Länder, die USA und Japan, die miteinander über flexible Wechselkurse verbunden sind. Nehmen wir an, beide Länder versuchen, ihre hartnäckig hohen Inflationsraten zu senken (ein realistischer Fall Anfang der 80er Jahre). In jedem der beiden Länder müssen die für die Wirtschaftspolitik Verantwortlichen entscheiden, mit welchem Grad an monetärer Strenge dieses Ziel verfolgt werden soll. In einer geschlossenen Volkswirtschaft würden die Wirtschaftspolitiker vermutlich den kurzfristigen trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit beachten (ein Thema, mit dem wir uns im 15. Kapitel eingehender befassen werden), um zu entscheiden, wie restriktiv die Geldpolitik sein sollte. In der offenen Volkswirtschaft hat das Problem indessen eine andere Dimension. Jedes Land weiß, daß durch eine im Inland restriktivere Geldpolitik als im Ausland der Wechselkurs aufgewertet wird und hierdurch die Importpreise und die heimische Inflation gesenkt werden. Daher wird jedes Land versucht sein, mit seiner Geldpolitik eine Aufwertung der Währung anzustreben, um von ihrer anti-inflationären Wirkung zu profitieren. Das Problem ist freilich, daß die Aufwertung des einen Landes die Abwertung des anderen Landes ist; beide Länder können nicht gleichzeitig eine Währungsaufwertung gegenüber dem anderen Land erreichen - eine offensicht-

11

Dieses Beispiel geht zurück auf Jeffrey Sachs, "Is there a Case for More Managed Exchange Rates?" in: The U.S. Dollar - Recent Developments, Outlook and Policy Options, Federal Reserve Bank of Kansas City, August 1985.

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

559

liehe Unmöglichkeit - , aber beide Länder könnten bei einem solchen Versuch Schaden nehmen! Wenn die Wirtschaftspolitiker in beiden Ländern dezentral vorgehen, d.h. ohne ihre Politik zu koordinieren, dann wird jedes versuchen, seine Geldpolitik so zu straffen, daß durch die Aufwertung der Währung die Inflationsrate gesenkt wird. Beide Länder werden eine höchst restriktive Geldpolitik anstreben. Unter dem Strich wird sich der Wechselkurs beider Währungen nicht verändern (da sich schließlich die Wirkungen gegenseitig aufheben) und beide Länder werden einen Rezessionsschub als Folge ihrer äußerst restriktiven Geldpolitik erleiden. Dieses Problem kann in Zahlen veranschaulicht werden. Nehmen wir an, beide Länder hätte die freie Wahl zwischen knappem und reichlichem Geld. In beiden Ländern haben wir anfanglich eine Inflationsrate von 6% und eine Arbeitslosenquote von 5%. Wenn beide Länder eine Politik des knappen Geldes verfolgen, wird eine schwere Rezession in beiden Ländern eintreten; die Arbeitslosenquote schnellt auf 10% hoch, während die Inflationsrate auf 2% gesenkt wird. Verfolgen dagegen beide Länder eine Politik des reichlichen Geldes, wird eine Rezession nicht eintreten; die Arbeitslosenquote verbleibt bei 5%, aber auch die Inflation bleibt mit 6% hoch. Verfolgt das eine Land eine Politik des knappen Geldes, das andere Land hingegen eine Politik des "leichten" Geldes, wird sich das erstere der anti-inflationären Segnungen einer Währungsaufwertung erfreuen, während das letztere eine empfindliche Währungsabwertung und einen sprunghaften Anstieg der Inflationsrate hinnehmen muß. Wir können zur Illustration annehmen, daß in diesem Fall das Land mit der Politik des knappen Geldes bei einer Inflationsrate von 0% und einer Arbeitslosenquote von 6% landet, während das Land mit der Politik des leichten Geldes am Ende eine Inflationsrate von 10% und eine Arbeitslosenquote von 4% hat. Nehmen wir weiter an, daß die Politiker in jedem Land eine "Verlust"Funktion haben, welche die von der Gesellschaft zu tragenden Kosten bei unterschiedlichen Kombinationen von Arbeitslosigkeit und Inflation darstellt. Diese Verlustfunktion einer jeden Volkswirtschaft sei der sogenannte Okun-Elendsindex, der die Summe aus Unterbeschäftigung und Inflation anzeigt. 12 Bei unseren Annahmen stellen sich die sozialen Verluste wie folgt dar: Wenn beide Länder eine Politik des knappen Geldes verfolgen 12(10 + 2) in jedem Land; wenn beide Länder eine Politik des reichlichen Geldes verfolgen 11 (5 + 6) in jedem Land; bei gegensätzlicher Geldpolitik für das 12

Dieser Index wurde von Arthur Okun, einem der führenden wirtschaftspolitischen Regierungsberater unter den Präsidenten Kennedy und Johnson, als ein intuitives "Thermometer" der makroökonomischen Leiden geprägt.

560

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

Land mit der Politik des leichten Geldes 14 (4 + 10), für das Land mit der Politik des knappen Geldes 6 (6 + 0). Diese Werte zeigt die sogenannte "Auszahlungs-Matrix" in Abb. 14-10.

Land 2 Leichtes Geld

Knappes Geld

Leichtes Geld

5Z., = 11 SL2=l\

SL] = 14 SL2 = 6

Knappes Geld

SLI = 6 SL, = 14

SL, = 12 SL-, = 12

Land 1

Abb. 14-10: Politikkoordination und Auszahlungs-Matrix Betrachten wir nun das strategische Zusammenwirken der beiden Zentralbanken: Nehmen wir zuerst an, daß beide Notenbanken ihre Aktionen gegenseitig beobachten können, ohne sie jedoch direkt zu koordinieren. Vom Standpunkt jedes einzelnen Landes aus ist es immer besser, eine Politik des knappen Geldes zu verfolgen, ungeachtet dessen, was das andere Land tut, da diese Strategie die sozialen Kosten minimiert, wenn sie die Handlungsweise des anderen Landes als gegeben annimmt. Wenn das andere Land ebenfalls eine Politik des knappen Geldes verfolgt, belaufen sich die Kosten im Inland auf 12, während sie bei einer Politik des reichlichen Geldes 14 wären. Ähnlich würden, sofern das andere Land eine Politik des reichlichen Geldes verfolgt, die Kosten im Inland bei einer Politik des knappen Geldes nur 6 betragen, bei einer Politik des reichlichen Geldes aber 11. In beiden Fällen ist es also sinnvoller, eine Politik des knappen Geldes zu verfolgen. Daher werden beide Länder dazu neigen, eine Politik des knappen Geldes zu betreiben, und beide werden zu einem Verlust von 12 gelangen. Man nennt dieses Ergebnis formal ein Nash-Gleichgewicht, in dem jeder Teil-

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK. BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

561

nehmer an dem "Spiel" die Strategie des anderen als gegeben hinnimmt und die Strategie wählt, welche die eigenen Verluste minimiert (oder die eigenen Gewinne maximiert). Das Problem ist jedoch, daß diejenige Kombination von Strategien des knappen Geldes insoweit ineffizient ist, als beide Länder mit der Wahl einer anderen Politik besser abschneiden würden. Wenn beide Länder ihre Geldpolitik lockerten, würden Ihre Verluste am Ende unter 11 liegen. Aber ohne Politikkoordination oder angemessene Spielregeln, die jedes Land zu der effizienten Politik führen, werden beide Länder zu einer übermäßig restriktiven Geldpolitik neigen. Es gibt allerdings einen besseren Weg: Erstens könnten beide Länder einfach zusammenkommen - zum Beispiel zu einem Gipfeltreffen ihrer führenden Politiker - und eine Lockerung ihrer Geldpolitik untereinander abstimmen. Als Alternative könnten die Länder Spielregeln aufstellen, um die Probleme fehlender Koordination zu reduzieren. Nehmen wir beispielsweise an, daß beide Länder mit einem festen Wechselkurs und einer auf Vereinbarungen beruhenden gemeinsamen Geldpolitik verbunden sind. Dann würde es beiden Ländern leichtfallen, einer Lockerung ihrer Geldpolitik zuzustimmen, weil jedes Land darauf vertrauen kann, daß seine Währung im Verhältnis zu der des Partnerlandes nicht abgewertet wird. Das kooperative Gleichgewicht wäre dann das effiziente Gleichgewicht. Wenn wechselseitig abhängige Länder nicht kooperativ miteinander umgehen, ist das resultierende Gleichgewicht gewöhnlich ineffizient. In vielen Situationen würden die Länder wahrscheinlich mit kooperativer - oder koordinierter - Politik besser fahren, auch wenn sich der Umfang ihres Vorteils nicht explizit ausdrücken läßt. 13 Aber es ist in keiner Weise leicht, Politikkoordination zu erreichen. Man muß nicht nur die Felder abstecken, auf denen Vorteile erzielt werden können, ebenso wichtig ist, die politischen Hürden, die einer Politikkoordination im Wege stehen, zu überwinden. Inzwischen hat die empirische Forschung die Einsicht untermauert, daß Politikkoordination zum allseitigen Vorteil der beteiligten Länder sein kann, wenn auch die Größe dieses Potentials noch umstritten ist. Seit Mitte der 80er Jahre haben die Industrieländer zunehmend Erfahrungen mit der Koordination ihrer Makropolitik gemacht. Im Februar 1985 hatte der Wechselkurs des US-Dollars einen historischen Höchststand von 260 Yen und 3,30 DM erreicht. An diesem Punkt begannen die Notenban13

Ein Versuch, die Koordinationsgewinne empirisch zu messen, findet sich z.B. bei War-

ren McKibbin und Jeffrey Sachs, Global Cooperation

in the World Economy

Linkages:

Macroeconomic

Interdependence

(Washington, D.C.: Brookings Institution, 1991).

and

562

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

ken der großen Industrieländer koordiniert an den Devisenmärkten zu intervenieren, um den Wert des Dollars herunterzufahren. Im September 1985 trafen die Finanzminister der G-5-Länder im New Yorker Plaza-Hotel zusammen. 14 Das danach benannte Plaza-Übereinkommen stellt fest, daß der Dollar überbewertet war, und daß die Notenbanken ihre Geldpolitik zur Senkung des Dollars koordinieren. Nach dessen substantiellem Wertverlust in den folgenden eineinhalb Jahren trafen die Finanzminister erneut im Februar 1987 im Louvre zusammen, wobei sie übereinstimmend feststellten, daß der Dollar inzwischen ausreichend gefallen war und die Wechselkurse nunmehr im großen und ganzen korrekt waren. Über den aktuellen Handlungsrahmen hinaus hat es verschiedene Vorschläge für eine verbesserte Politikkoordination gegeben. Ronald McKinnon von der Stanford Universität wurde einer der fuhrenden Kritiker des Systems flexibler Wechselkurse zwischen den USA, Japan und Europa. Er plädierte für eine Rückkehr zu festen Wechselkursen in diesen Regionen (vielleicht mit einer sehr engen Bandbreite) auf der Grundlage einer engen Koordination der Geldpolitik der genannten Länder. 15 John Williamson vom Institute for International Economics in Washington sprach sich für einen vergleichsweise weiten Zielkorridor der Wechselkurse aus, wiederum unterstützt durch eine kooperative Währungsordnung. 16 In der Mitte der 80er Jahre trat Richard Cooper von der Harvard Universität mit einem radikalen Vorschlag für einen langfristigen Wiederaufbau eines Weltwährungssystems an die Öffentlichkeit, welches auf eine einzige Währung und eine einzige Zentralbank für alle demokratischen Industrieländer bis zum Jahr 2010 abzielt. 17 Dies wäre natürlich der weitestgehende Schritt zu einer internationalen Politikkoordination. Im Lichte der neueren Entwicklungen der Europäischen Gemeinschaft, welche wir im nächsten Abschnitt untersuchen wollen, sieht Coopers Idee von einer einzigen Währung seit Ende der 80er Jahre nicht mehr ganz so utopisch aus.

14

Zu den G - 5 (Group o f Fife)-Ländem gehörten damals die BR Deutschland, Frankreich,

Großbritannien, Japan und die U S A . 15 McKinnon unterbreitete seinen Vorschlag zuerst kurz nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems in "A N e w Tripartite Monetary Arrangement or a Limping Dollar Standard?", Essays in International Finance, Nr. 176 (Princeton, N.J.: Princeton University Press, Okt. 1974); eine neuere und weiterentwickelte Fassung seiner Vorschläge findet sich in "Monetary and Exchange Rate Policies for International Financial Stability: A Proposal", Journal of Economic Perspectives, Winter 1988. 16

Vgl. J. Williamson und M. Miller, "Targets and Indicators: A Blueprint for the Interna-

tional Coordination of Economic Policy", Policy

Analyses

in International

Economics,

stitute for International Economics, Washington, D.C., Nr. 22, Sept. 1987. 17

Vgl. R. Cooper, "A Monetary System for the Future", Foreign Affairs, Herbst 1984.

In-

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

563

14-9 Politikkoordination innerhalb Europas Die 12 Länder, welche derzeit die Europäische Gemeinschaft (EG) bilden 18 , wagten 1985 einen kühnen Schritt, als sie sich entschlossen, das Ziel eines vollständig vereinigten Wirtschaftsraumes ohne innere Grenzen in den wesentlichen Schritten bis 1992 (daher das Schlagwort Europa '92) zu verwirklichen. Dieses Ziel, die Vision eines einheitlichen Marktes von 320 Millionen Menschen ohne innere Grenzen, hat seither die Phantasie der Europäer und potentieller ausländischer Investoren beflügelt. Die erfolgreiche Verwirklichung dieses Zieles erfordert ein außerordentlich hohes Maß an wirtschaftspolitischer Koordination unter den Mitgliedsstaaten. Im weitesten Sinne besteht das Projekt Europa '92 aus zwei Teilen: der Wirtschaftsunion, d.h. der Vollendung eines einheitlichen Marktes, sowie der Währungsunion, d.h. der Schaffung einer einheitlichen Währung. Dieser Prozeß soll schrittweise vollendet werden. Das erste Stadium, das im Juli 1990 begann, umfaßt die Vollendung eines gemeinschaftlichen Marktes ohne innere Grenzen, die Teilhabe aller Mitgliedsländer an einem festeren Europäischen Währungssystem mit untereinander gestützten Wechselkursen und engerer politischer Koordination. Die nächsten Schritte gehen in Richtung auf eine Währungsunion mit der Schaffung einer Einheitswährung und einer einzigen Europäischen Zentralbank, wenn auch der genaue Zeitplan dieser Folgeschritte noch nicht feststeht. Diese monumentale Reform dürfte wesentliche Wirkungen auf die Wachstumsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft entfalten, was wir in Kapitel 18 genauer untersuchen wollen. Uns interessiert hier die Koordination der Währungspolitik: Die meisten Mitgliedsländer der EG nehmen am Europäischen Währungssystem (EWS) teil, einer Ordnung zur Regelung der Wechselkurs-Paritäten zwischen den einzelnen Mitgliedsländern der EG. Das EWS hat einen Leitkurs festgesetzt, um den die Währungen untereinander innerhalb einer engen Bandbreite schwanken können. Die Mitgliedsländer konnten dabei zwischen einer engen Bandbreite, welche nur eine Abweichung von höchstens 2,5% vom Leitkurs erlaubt, und einer größeren Bandbreite mit einer erlaubten Abweichung von bis zu 6% wählen. Ende 1990 befanden sich acht der zwölf Mitgliedsländer in dem engen Band; Spanien (Juni 1989) und Großbritannien (Okt. 1990) hatten die größere Bandbreite gewählt, nur Griechenland und Portugal nahmen noch nicht am Europäischen Wechselkursverbund teil. Das EWS hat recht erfolgreich die Wechselkurse stabilisiert. Die Kursschwankungen der am Wechselkursverbund teilnehmenden Währungen ginBelgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland. Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Spanien.

564

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

gen seither auf rund ein Viertel ihres früheren Umfangs zurück. Als ein Ergebnis der Koordination der Wechselkurse glichen sich die Inflationsraten innerhalb der Gemeinschaft seit der Errichtung des EWS 1979 untereinander deutlich an; und was noch wichtiger ist, sie taten das auf einem niedrigen Niveau. Das kam daher, weil Deutschland im Zentrum des EWS stand und die übrigen Mitgliedsländer sich der deutschen Geldpolitik anpassen mußten. 19 Dabei hat das EWS wie ein Transmissionsriemen der deutschen Finanzdisziplin auf die anderen Länder gewirkt. Die Entscheidung für den Weg in Richtung Währungsunion - entweder in Form unveränderbar fester Währungsparitäten oder mit einer einzigen Währung in der EG - wurde 1990 getroffen. Gleichzeitig wurde die Errichtung einer Europäischen Zentralbank beschlossen. Eine Entscheidung zugunsten einer einheitlichen Währung würde offensichtlich implizieren, daß die einzelnen Mitgliedsländer die Möglichkeit verlieren, eigene Geld- und Wechselkurspolitik zu betreiben. Aus diesem Grunde ist der Vorschlag einer vollständigen Währungsintegration noch umstritten, und ihre spezifischen Mechanismen und ihr Zeitplan werden in Europa heftig diskutiert. Die Frage, ob eine einzige Währung für die EG von Nutzen ist, ist gleichbedeutend mit der Frage, ob die EG ein optimaler Währungsraum ist. Vor über dreißig Jahren hat Robert Mundell dieses Thema zuerst untersucht und ein Kriterium vorgeschlagen, um das optimale geographische Gebiet für eine einheitliche Währung zu definieren. 20 Nehmen wir mit Mundell an, daß es zwei Gebiete - Ost und West - gibt sowie eine plötzliche Verlagerung der Nachfrage, weg von östlichen und hin zu westlichen Gütern. Das wird in der Tendenz einen Boom im Westen und eine Rezession im Osten auslösen. Ließen sich diese Schwankungen vermeiden? Wenn beide Länder getrennte Wechselkurse haben, würde eine Abwertung der östlichen Währung (eine Aufwertung der westlichen Währung) die Nachfrage stabilisieren. Wenn sich andererseits Arbeit und Kapital frei zwischen beiden Regionen bewegen können, entstünde nicht die Notwendigkeit zu einer Anpassung der Wechselkurse. Die Ressourcen würden aus dem in der Rezession steckenden Osten in den boomenden Westen wandern. Die Mobilität der Faktoren Arbeit und Kapital wäre ein Substitut für Wechselkursänderungen. Mundell schloß daraus, daß Ost und West eigene Währungen haben sollten, wenn die Mobilität der Faktoren zwischen beiden Regionen nicht gegeben ist, während sie bei großer Faktormobilität eine gemeinsame Währung haben soll-

19 20

Vgl. die frühere Erörterung in Kapitel 10. R. Mundell: "A Theory of Optimum Currency Areas", American

Sept. 1961.

Economic

Review,

KAPITEL 1 4 : MAKROPOLITIK. BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

565

ten, weil bei großer Mobilität die Notwendigkeit zu Wechselkursänderungen zur Stabilisierung der Regionen nach einem Umschlagen der Nachfrage geringer ist. Interessanterweise sind die USA ein fruchtbares Feld, um die Wirkungen der Währungsintegration zu studieren, seit ihre 49 Staaten eine vollständige Währungsunion bilden. Eine jüngere Untersuchung gelangt zu dem Ergebnis, daß die Kapitalmobilität der grundlegende Weg ist, auf dem die US-Wirtschaft Schocks, die für die Einzelstaaten spezifisch sind, absorbiert. 21 Die Vollendung des Gemeinsamen Marktes 1992 mit freier Mobilität der Produktionsfaktoren zwischen den Mitgliedsländern der EG scheint Mundells Anforderungen an einen optimalen Währungsraum zu erfüllen. Es gibt indes noch viele andere Argumente bei der Abwägung von Kosten und Nutzen einer Europäischen Währungsunion zu berücksichtigen. 22 Auf der Positivseite steht zunächst der Wegfall der Transaktionskosten zwischen den Währungen der Mitgliedsländer, geschätzt auf immerhin 0,5% des BIP der Gemeinschaft. Ein weiterer Vorteil ist der Wegfall schwankender und unsicherer Wechselkurse. Dies wird sich wahrscheinlich positiv auf europäische und ausländische Investitionen auswirken. Ein weiteres Argument für eine Einheitswährung ist, daß Preisstabilität eher durch eine vollständig unabhängige Europäische Zentralbank als durch die einzelnen Notenbanken der Mitgliedsländer erreicht werden kann. Einzelne Zentralbanken sind dem Druck ihrer jeweiligen Regierung stärker ausgesetzt, besonders in Zeiten vor Wahlen. Auf der Kostenseite schlägt der Wegfall unabhängiger Wechselkurs- und Geldpolitik für die Mitgliedsländer zu Buche. Sie könnten nicht mehr ihre Währung abwerten oder (bei flexiblen Wechselkursen) ihr Geldangebot erhöhen, um Output und Beschäftigung anzuregen. Natürlich hängt die Fähigkeit, ein höheres Niveau des Outputs durch Geldpolitik zu erreichen, davon ab, ob eine ansteigende Kurve des aggregierten Angebots gegeben ist. Verläuft diese vertikal, so macht der Verlust monetärer Unabhängigkeit keinen Unterschied in bezug auf die Stabilisierungspolitik. Des weiteren könnten die Länder keine unabhängige Inflationspolitik mehr betreiben, um Erlöse aus der Geldschaffung zur Deckung der Budgetdefizite zu erzielen.

21

Vgl. Barry Eichengreen: "One Money for Europe? Lessons from the U.S. Currency Union", Economic Policy, April 1990. 22

Ein jüngerer Bericht der Europäischen Kommission gewichtet detailliert Kosten und Nutzen der Währungsunion: "One Market, One Money", European Economy, Nr. 44, Okt. 1990.

566

T E I L I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK UND W A C H S T U M

14-10 Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir die Makropolitik bei flexiblen Wechselkursen untersucht, einem Arrangement, das zwischen den großen Industrieräumen wie den USA, Japan und der EG (gesehen als einer Wirtschaftseinheit) besteht. In einem System flexibler Wechselkurse sind diese nicht mehr eine politische Variable; sie bewegen sich vielmehr endogen in Reaktion auf andere volkswirtschaftliche Veränderungen. Bei formaler Betrachtung ändert der Fall flexibler Wechselkurse den Gebrauch des /S-LM-Rahmens: da die Position der /S-Kurve vom Wechselkurs (über dessen Auswirkungen auf die Handelsströme) abhängt, verschiebt sich die /S-Kurve nunmehr endogen. Die ¿AZ-Kurve ist bei flexiblen Wechselkursen indes exogen, weil die Zentralbank jeweils die Höhe des Geldangebots und damit den Verlauf der IM-Kurve bestimmt. Unser grundlegender Fall ist der eines kleinen Landes mit freier Kapitalmobilität. In diesem Rahmen verschiebt eine expansive Fiskalpolitik die ISKurve nach rechts und läßt den Zinssatz tendenziell steigen; höhere Zinssätze wiederum lassen ausländisches Kapital hereinströmen und bewirken so eine Aufwertung der Währung, die in der Folge die /S-Kurve nach links zurückschiebt. Solange der inländische Zinssatz über dem Weltniveau liegt, strömt weiterhin ausländisches Kapital herein, und dessen Aufwertungseffekt drückt die ZS-Kurve weiter nach links. In dem endgültigen Gleichgewicht kehrt die /S-Kurve in ihre ursprüngliche Lage zurück, und die aggregierte Nachfrage bleibt unverändert. Im wesentlichen ist der Expansionseffekt der Fiskalpolitik durch die Gegenwirkung der Währungsaufwertung aufgehoben worden. Wir betrachteten ebenso den Fall einer expansiven Geldpolitik. Ein Offenmarktkauf von Wertpapieren verschiebt die ZM-Kurve nach unten. Der Zinssatz sinkt tendenziell, und es beginnt Kapital ins Ausland abzufließen. Als Folge wertet sich der Wechselkurs ab. Diese Abwertung erhöht die Exportnachfrage und verschiebt dadurch die /S-Kurve nach rechts. Das neue Gleichgewicht wird bei dem anfänglichen Zinssatz und einem höheren Niveau der aggregierten Nachfrage erreicht. Daher gilt für eine kleine offene Volkswirtschaft mit hoher Kapitalmobilität und flexiblen Wechselkursen: Geldpolitik erweitert die aggregierte Nachfrage stärker über ihre Wirkungen auf den Wechselkurs als über ihre Wirkungen auf den Zinssatz, wie in der geschlossenen Volkswirtschaft. Wenn wir die Aspekte dynamischer Anpassung betrachten, macht eine Erhöhung des Geldangebots einen überschießenden Wechselkurs möglich, wenn der Wechselkurs anfangs proportional stärker steigt als die Geldmen-

K A P I T E L 1 4 : MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN W E C H S E L K U R S E N

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ge. Ebenso ist es möglich, daß sich der Wechselkurs aufgrund antizipierter künftiger Ereignisse verändert, schon bevor diese tatsächlich eintreten. So verursacht zum Beispiel eine antizipierte spätere Erhöhung des Geldangebots eine sofortige Abwertung des Wechselkurses. Bei einem großen Land darf der Weltzinssatz nicht als vorgegebene Größe angenommen werden. Wenn ein großes Land eine expansive Fiskalpolitik betreibt, steigt der Weltzinssatz. In diesem Fall wird der Expansionseffekt der Fiskalpolitik nicht vollständig von der Aufwertung der Währung wettgemacht. Dagegen fuhrt die expansive Geldpolitik eines großen Landes zum Rückgang der Zinsen im In- und Ausland. Existieren bei flexiblen Wechselkursen Kapitalverkehrskontrollen, muß die Leistungsbilanz immer ausgeglichen sein. In diesem Fall läßt eine expansive Fiskalpolitik die aggregierte Nachfrage steigen und provoziert eher eine Abwertung als eine Aufwertung der Währung (da kein einströmendes Kapital den Wechselkurs drücken kann). Die Zinssätze steigen, abgekoppelt vom internationalen Niveau. Auch eine Erhöhung des Geldangebots führt zu steigendem Output und einer Abwertung der Währung, während die Zinssätze sinken. Häufig verändern Wirtschaftspolitiker mehrere Politikvariablen zur gleichen Zeit. Wenn zum Beispiel ein großes Land wie die USA seine Handelsbilanz ohne Einbußen im Output verbessern will, kann es eine Kombination - einen "Policy-Mix" - von kontraktiver Fiskalpolitik und expansiver Geldpolitik wählen. Beide wirtschaftspolitischen Maßnahmen verbessern tendenziell die Handelsbilanz, und ihre gegensätzlichen Wirkungen auf den Output heben sich gegenseitig auf. Zwischen interdependenten Volkswirtschaften dürfte Politikkoordination nützlich sein, weil es zu unerwünschten makroökonomischen Ergebnissen fuhren kann, wenn Entscheidungen dezentral getroffen werden, d.h. jedes Land für sich allein entscheidet. Ein solcher Fall für Politikkoordination ist die Bekämpfung der Inflation in einer offenen Volkswirtschaft. Auf sich allein gestellt, würde jedes Land eine stark restriktive Geldpolitik verfolgen, um dadurch den Wechselkurs aufzuwerten. Da aber zwei Währungen nicht gleichzeitig aufgewertet werden können - da die Aufwertung der einen die Abwertung der anderen Währung bedeutet - , wäre das ein Anreiz zu noch stärkerer geldpolitischer Restriktion. Da ist Koordination der Politik der bessere Weg. Ein interessanter und weitreichender Fall von Politikkoordination ist das Streben in Europa nach einem einheitlichen Markt in 1992. Währungspolitische Koordination findet nun im Rahmen des Europäischen Währungssy-

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TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

stems statt, welches die Währungsparitäten der Mitgliedsländer der EG regelt. Das Ziel ist jedoch die Schaffung einer Währungsunion, d.h. einer einzigen Währung. Dies wäre auch gerechtfertigt auf der Grundlage dessen, daß Europa 1992 ein "optimaler Währungsraum" ist, wenn sich die Produktionsfaktoren frei über die Grenzen der Mitgliedsländer bewegen können.

Schlüsselbegriffe Dynamische Anpassung Politikkoordination Überschießender Wechselkurs Interdependente Volkswirtschaften

Zinsarbitrage Währungsunion Policy-Mix Optimales Währungsgebiet

Probleme und Fragen 1. Untersuchen Sie die Mechanismen, welche die IM-Kurve im Fall fester Wechselkurse und die /S-Kurve im Fall flexibler Wechselkurse endogen werden lassen. Inwieweit hängt dies damit zusammen, ob das Geldangebot oder der Wechselkurs in einer Volkswirtschaft endogen festgelegt sind? 2. Betrachten Sie den Fall expansiver Geldpolitik eines kleinen Landes. a. Was passiert mit dem nominalen Wechselkurs? b. Schwankt der Wechselkurs stärker, wenn Export und Import sehr sensibel auf Wechselkursschwankungen reagieren, oder wenn sie dafür unempfindlich sind? 3. Untersuchen Sie im /S-ZM-Modell, was mit dem nominalen Wechselkurs bei steigendem Preisniveau passiert. Was geschieht mit dem realen Wechselkurs? Können sich nominaler und realer Wechselkurs in entgegengesetzter Richtung bewegen? Warum? 4. Angenommen, die Regierungen der Länder A, B, C und D haben sich entschlossen, geld- oder fiskalpolitische Maßnahmen zur Erhöhung des Outputs und der aggregierten Nachfrage einzusetzen. Welche Strategie wird dieses Ziel in jedem Land erreichen? Beschreiben Sie auch die Auswirkungen dieser Strategien auf das Preisniveau. a. Land A hat einen festen Wechselkurs; die Kurve des aggregierten Angebots entspricht dem grundlegenden keynesianischen Fall. b. Land B hat einen flexiblen Wechselkurs; die Kurve des aggregierten Angebots entspricht dem extrem keynesianischen Fall. c. Land C hat einen festen Wechselkurs; die Kurve des aggregierten Angebots entspricht dem klassischen Fall. d. Land D hat einen flexiblen Wechselkurs; die Kurve des aggregierten Angebots entspricht dem klassischen Fall.

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

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5. Untersuchen Sie die Wirkung einer kontraktiven Geldpolitik auf den Wechselkurs in einem kleinen Land. In welchem Sinne tritt ein "Unterschießen" des Wechselkurses ein? Wie ändert sich Ihre Antwort, wenn Sie berücksichtigen, daß die Bedingung der Zinsarbitrage kurz- und langfristig erfüllt sein muß? 6. Was geschieht mit der aggregierten Nachfrage und ihren einzelnen Komponenten (Konsum, Investitionen, Staatsausgaben, Handelsbilanz), wenn die Staatsausgaben steigen? Betrachten Sie folgende Fälle: a. Eine kleine offene Volkswirtschaft. b. Ein großes Land (untersuchen Sie die Auswirkungen im Inland und im Ausland). 7. Beschreiben Sie die Auswirkungen einer expansiven Geldpolitik einer großen offenen Volkswirtschaft auf die Zinssätze, den Wechselkurs und den Output. Was geht in der übrigen Welt vor? 8. Nehmen wir den besonderen Fall an, in dem die Handelsbilanz allein vom Wechselkurs abhängt. Was würde bei vollständiger Kontrolle des Kapitalverkehrs mit dem Wechselkurs geschehen, wenn die Staatsausgaben ansteigen? 9. Betrachten Sie eine große offene Volkswirtschaft, in der die Regierung den Output steigern möchte, ohne daß sich der Zinssatz ändert. Warum könnte die Regierung das wollen? Welche Art von "Policy-Mix" würden Sie empfehlen? Welches sind die Auswirkungen Ihrer Strategie auf den Wechselkurs und die Handelsbilanz? 10. Diskutieren Sie, warum zwei Länder bei der Koordination ihrer Politik zur Inflationsbekämpfung profitieren können. Wie läßt sich diese Analyse auf feste Wechselkurse anwenden? 11. Untersuchen Sie die möglichen Vorteile einer Währungsunion in Europa. Kann die EG als optimaler Währungsraum angesehen werden? Begründen Sie Ihre Antwort. ANHANG Wir lösen nun das Modell für eine kleine, offene Volkswirtschaft bei flexiblen Wechselkursen. Das lineare Modell ist das gleiche wie das im Anhang zu Kapitel 13 verwendete; der Unterschied liegt in der Lösungsstrategie. Der Wechselkurs ist nicht mehr fest, sondern bewegt sich frei in Reaktion auf die Marktkräfte - d.h. der Wechselkurs ist endogen. Der Geldbestand wird andererseits durch die Währungsbehörde bestimmt.

570

T E I L I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK UND W A C H S T U M

Das Ziel ist, die Gleichgewichtswerte der Preise, des Outputs und des Wechselkurses als eine Funktion von exogenen Variablen zu erhalten. Wir wiederholen hier die /S-LM-Gleichungen aus Kapitel 13 (die Ausdrücke A.2 und A.3 im Anhang zu diesem Kapitel) und verwenden die Bedingung der Zinsparität (i = /*): Qd =

\Cf[Q - T]F - cT +1 + dGPKE ~(a + b)i* +G (A.1)

+«h [M*

+ ih - ho )P* m + h2 (E - P)]

o w

' — ; 4h = l-c(l-Ai) 1-cO-A,)

wobei

(M-P)

vQ

-

D

-

f

i

(A.2)

*

Die Gleichungen A.l und A.2 (IS bzw. LM) reichen aus, um die aggregierte Nachfrage zu bestimmen. Zur Lösung für das allgemeine Gleichgewicht der Volkswirtschaft benötigen wir auch das aggregierte Angebot. Das eröffnet die üblichen drei Alternativen. Klassisch Das Gesamtangebot ist auf das Vollbeschäftigungsniveau des Outputs (QS = ß ) festgelegt. Also: Q = Q = Q°

(A.3a)

Um das gleichgewichtige Preisniveau zu erhalten, können wir in Gleichung (A. 1) nicht einfach durch Q = QD ersetzen und nach P auflösen, da die Lösung für P vom Wechselkurs (E) abhängt, einer weiteren endogenen Variable. Unter Verwendung von QD = Q kann P direkt aus der Gleichgewichtsbedingung für den Geldmarkt gefunden werden, weil alle anderen Variablen dieser Gleichung ( M , Q, /*) exogen sind. P = M-vQ+fi*

(A.3b)

Nun können wir die Gleichgewichtswerte von Q und P in die Gleichung für die Gesamtnachfrage einsetzen, um die Lösung für E als Funktion ausschließlich exogener Variablen zu erhalten. E = M-axP

*M + a2Q -a3(cF[QE

-cT + 7 + dGPK wobei

-G) + a4i*-

T]F a5A *

(A.4)

571

KAPITEL 14: MAKROPOLITIK. BEI FLEXIBLEN WECHSELKURSEN

=

/j2-Än

l-/2,v

)2 würden die Arbeitgeber jedoch nach sehr knappen Arbeitskräften suchen. Im Falle eines derart engen Arbeitsmarktes wird die Arbeitslosigkeit gering sein und die Reallöhne steigen müssen. Wir können die Idee, daß die Veränderung des realen Lohns vom Niveau der Arbeitslosigkeit abhängt, formalisieren, indem wir schreiben: (•wlP)+l=-b{U-Un)

(15.1)

wobei U die Arbeitslosenquote in der laufenden Periode und Un die "natürliche Rate der Arbeitslosigkeit" repräsentiert; b ist der Koeffizient, der die Reaktion der realen Löhne auf die jeweils gegebene Höhe der Arbeitslosigkeit angibt. Ferner gilt (w// > ) + 1 = [(w/P) + ] ~(w/P)\/ (w/P). Die natürliche Rate der Arbeitslosigkeit Un wird eine wichtige Rolle bei der nachfolgenden Analyse spielen. Wir werden sehen, daß diese Rate für die langfristige Gleichgewichtsrate der Arbeitslosigkeit von wesentlicher Bedeutung ist, in dem Sinn, daß sich die Volkswirtschaft langfristig auf die Arbeitslosenquote Un hinbewegt. Sie wird manchmal mit dem widersprüch-

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TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGPOLITIK UND WACHSTUM

lieh erscheinenden Begriff "Vollbeschäftigungsrate der Arbeitslosigkeit" bezeichnet. 4 Selbst im langfristigen Gleichgewicht wird die Volkswirtschaft keine Arbeitslosigkeit von Null aufweisen. Es gibt immer einige Arbeitnehmer, die ohne Beschäftigung sind und sich auf der Suche nach einer Stelle befinden. Einige haben ihrer alte Stelle verlassen und suchen nach einer neuen, einige sind gerade in die Erwerbstätigkeit eingetreten (wie Schulabgänger) und machen auf ihren ersten Job Jagd und einige haben ihre alte Anstellung verloren, verfugen aber über so geringe Qualifikation, daß sie selbst zum niedrigsten Lohn keine neue Beschäftigung finden. Auch wenn von "Vollbeschäftigung" die Rede ist, wenn sich die Volkswirtschaft im langfristigen, makroökonomischen Gleichgewicht befindet, ist ein gewisser Teil der Erwerbstätigen ohne Beschäftigung. Obwohl das Konzept von grundlegender makroökonomischer Bedeutung ist, erscheint der Ausdruck "natürlich" als irreführend. Wie wir in Kapitel 16 sehen werden, wird die natürliche Rate der Arbeitslosigkeit durch viele besondere Merkmale der Erwerbstätigen beeinflußt, so durch die demographische Zusammensetzung von jungen und älteren Arbeitskräften, den Grad der gewerkschaftlichen Organisierung, der Art der technologischen Schocks, von denen die Volkswirtschaft betroffen wird, der Qualifikation der Erwerbstätigen. Der Staat kann sogar die natürliche Arbeitslosenrate beeinflussen durch spezielle Arbeitsmarktprogramme wie Umschulung und solche, die eine bessere Übereinstimmung zwischen Arbeitssuchenden und freien Stellen herbeiführen. Gleichung (15.1) besagt, daß die prozentuale Veränderung des Reallohns zwischen dem laufenden und folgenden Jahr auf die Arbeitslosenquote der gegenwärtigen Periode zurückgeht. Sofern die Arbeitslosigkeit über die natürliche Rate hinausgeht, wird der reale Lohn sinken; falls sie unter Un bleibt, steigt der Reallohn. Es ist zu beachten, daß diese Effekte nicht sofort auftreten. Die Arbeitsmarktbedingungen dieser Periode berühren den Lohnsatz der folgenden Periode. Die aktuelle Lohnhöhe ist durch die Entscheidungen in der Vorperiode bestimmt. Wir können daher sagen, daß die Lohnanpassung träge erfolgt oder daß die Löhne "starr" sind. Diese Annahme ei4

Milton Friedman gab der langfristigen, gleichgewichtigen Arbeitslosenquote den Namen "natürliche Rate". In seinem Aufsatz "The Role o f Monetary Policy", American Economic Review, März 1968, S. 8 sagt er: "The 'natural rate of unemployment' . . . is the level [of unemployment] that would be ground out by the Walrasian system o f general equilibrium equations, provides there is embedded in them the actual structural characteristics o f the labor and commodity markets, including market imperfections, stochastic variability in demands and supplies, the cost o f gathering information about job vacancies and labor availabilities, the costs o f mobility, and so on."

KAPITEL 15: INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

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ner verzögerten Anpassung steht in Übereinstimmung mit der empirischen Beobachtung und den institutionellen Merkmalen des Arbeitsmarktes. Die prozentuale Veränderung eines Bruchs (XIY) entspricht der prozentualen Änderung von X minus der prozentualen Änderung von V; d.h. (XIY) = X- Y. Daher können wir Gleichung (15.1) umschreiben in: w+l-P+l=-b(U-U„)

(15.2)

Da in Tarifverträgen gewöhnlich die Höhe des nominalen und nicht des realen Lohns festgelegt wird (mit Ausnahme des Falls einer vollständigen Indexierung), ist der in dieser Periode gewählte Lohn für das nächste Jahr: w+l=P+l-b(U-U„)

(15.3)

Wenn Lohnvereinbarungen für die nächste Periode abgeschlossen werden, stimmen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einem Lohn zu, der maßgebend sein wird, aber sie können die kommende Inflationsrate im voraus nicht beobachten. Sie müssen daher eine bestmögliche Schätzung zur Vorhersage der Inflation in der nächsten Periode vornehmen, d.h. Erwartungen bilden. Wir wollen die erwartete Inflation zwischen dieser und der nächsten Periode mit Pe+1 = (Pe+1 -P)/P bezeichnen. Wir nehmen an, daß beide Parteien das gegenwärtige Preisniveau P kennen, wenn Verhandlungen stattfinden; das eigentliche Problem besteht darin, eine Vorhersage über das Preisniveau im nächsten Jahr P+\ abzugeben. Wir sollten daher (15.3) ergänzen, um die Tatsache zu berücksichtigen, daß der nominale Lohn entsprechend der erwarteten und nicht der tatsächlichen Inflationsrate ausgehandelt wird: w+l=Pe+\-b(U-Un)

(15.4)

Die Gleichung (15.4) wird gewöhnlich als Phillips-Kurve bezeichnet, in Anknüpfung an die empirischen Forschungen von A. W. Phillips, einem ehemaligen Professor an der London School of Economics (dessen Arbeiten wir sogleich diskutieren). Im allgemeinen stellt eine "Phillips-Kurve" eine Beziehung her zwischen der Inflation (entweder der Preise oder der Löhne) und der Höhe der Arbeitslosigkeit. Die Verwendung dieses Zusammenhangs ist weit verbreitet, obwohl wir sehen werden, daß die genaue Spezifikation der Phillips-Kurve ganz erheblich von der Theorie der Löhne und Preise abhängt, von der der jeweilige Forscher ausgeht. Dynamische Verknüpfungen zwischen Gesamtangebot und Gesamtnachfrage Wir haben nun ein dynamisches keynesianisches Modell entwickelt. Innerhalb einer gegebenen Periode beruhen die Nominallöhne auf Vereinbarungen aus der Vergangenheit, d.h. sie sich vorherbestimmt. Zwischen den Pe-

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T E I L I V : OUTPUT, STABILISIERUNGPOLITIK UND W A C H S T U M

rioden bewegen sich die Löhne nach Maßgabe der Inflationserwartungen und der Arbeitslosenquote (im Verhältnis zur natürlichen Rate). Die dynamischen Eigenschaften dieses Modells, d.h. die Veränderungen der Variablen von Periode zu Periode, sind besonders interessant. So hat z.B. das heutige Niveau der aggregierten Nachfrage nicht allein Wirkung auf den laufenden Output und das gegenwärtige Preisniveau, sondern auch auf Produktion und Preise in der Zukunft über die Effekte auf die Lohnverhandlungen. Abb. 15-4 gibt eine graphische Darstellung dieses Verhaltens. Betrachten wir einen Fall, bei dem die Nominallöhne in der laufenden Periode zunehmen, möglicherweise deshalb, weil die Arbeitslosigkeit in der Vorperiode gering oder vorausgegangenen Inflationserwartungen hoch waren. Der Anstieg der Geldlöhne erhöht die Produktionskosten, wodurch die aggregierte Angebotskurve in Abb. 15-4 von nach Q^ verschoben wird. An diesem Punkt stehen den Wirtschaftpolitikern verschiedene Optionen der Nachfragesteuerung offen, von denen allerdings keine erfreulich ist.

Abb. 15-4:

Qi

Qo

Lohnanpassung und Gesamtnachfrage-Gesamtangebotsrahmen

Wenn die Wirtschaftspolitiker nichts unternehmen, die Gesamtnachfrage also konstant halten ( Q D = QD_ ]), erlebt die Volkswirtschaft einen Produktionsrückgang (von QQ nach Q\) und einen Anstieg des Preisniveaus von PQ auf P\, also Inflation. Diese Situation wird in Punkt A abgebildet. Nehmen wir statt dessen an, daß die Wirtschaftspolitiker einen zuverlässigen Anti-Inflationsstandpunkt eingenommen haben. Sie werden die inflationären Konsequenzen steigender Löhne nicht tolerieren und eine kontraktiven Kurs in

KAPITEL 15: INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

585

der Geld- und Fiskalpolitik einschlagen, um den Preisniveauanstieg zu verhindern. Die aggregierte Nachfragekurve geht auf QD\ zurück, und das Gleichgewicht stellt sich in Punkt B ein. Die Inflation ist vermieden worden (weil P = P_] = PQ), aber die Kosten im Sinne eines sinkenden Outputs sind erheblich (die Strecke BE in der Abbildung). Möglicherweise sind die Wirtschaftspolitiker außerordentlich besorgt über die negativen Produktions- und Beschäftigungseffekte. Sofern sie die Gesamtnachfrage auf QD2 ausweiten, wird der Output durch den Anstieg der Nominallöhne nicht berührt, aber das Preisniveau nimmt erheblich zu, wie im Punkt C erkennbar ist. Die Politik zur Erhaltung der Vollbeschäftigung, die eine Ausdehnung der aggregierten Nachfrage soweit wie notwendig erlaubt, wird als eine Politik der Akkommodierung bezeichnet: expansive Wirtschaftspolitik wird zur Erhöhung der Gesamtnachfrage angewendet, um die negativen Effekte des Lohnanstiegs auf das Gesamtangebot zu kompensieren. Mit anderen Worten: die Nachfragepolitik akkommodiert den Angebotsschock. Dies bringt uns zu einem wichtigen Punkt. Ausgehend von einer Situation mit positiven Inflationserwartungen - die wir in die Nominallohnverträge eingebaut haben - ergibt sich im allgemeinen ein Konflikt zwischen Preisstabilität und Beschäftigung. Eine akkommodierende Politik versucht, die Beschäftigung und den Output zu schützen, aber um den Preis höherer Inflationsraten. Durch eine unerbittliche Anti-Inflationspolitik kann Preisstabilität oder zumindest eine geringe Inflationsrate erreicht werden, aber nur auf Kosten einer steigenden Arbeitslosigkeit. Eine kurze Geschichte der Phillips-Kurve Obwohl die Phillips-Kurve den Namen von A.W. Phillips in Anerkennung seiner empirischen Arbeit über Arbeitslosigkeit und Geldlöhne in Großbritannien trägt, war es nicht Phillips, sondern Irving Fisher, der als erster den Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit untersuchte. 5 Phillips' Untersuchung dieses Phänomens war nicht so ausgefeilt wie die gegenwärtigen Arbeiten zu diesem Thema. Er konzentrierte sich allein auf die Nominallöhne sowie die tatsächliche Arbeitslosenquote und vernachläs5

Phillips' Arbeit wird dargestellt in seinem Aufsatz "The Relation Between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, 1861-1957", Economica, November 1958. Irving Fishers Aufsatz trägt den Titel "A Statistical Relation Between Unemployment and Price Changes", International Labor Review, Juni 1926. Dieser Artikel ist unter der Rubrik "Verloren und Wiedergefunden" in der März/April-Ausgabe 1973 des Journal of Political Economy wieder abgedruckt. Mit dem Versuch, Fisher posthum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wurde der Aufsatz umbenannt in: "I Discovered the Phillips Curve".

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TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGPOLITIK UND WACHSTUM

sigte die Inflationserwartungen sowie die natürliche Rate der Arbeitslosigkeit; Konzepte, die in dem Jahrzehnt nach Phillips' Originaluntersuchung entwickelt wurden. Phillips' ursprüngliche Gleichung war wie folgt spezifiziert: w = konstant -bU wobei b ein Koeffizient ist, der die Reaktion des Nominallohns auf die laufende Arbeitslosenquote bestimmt. In dieser Form kann die Phillips-Kurve wie in Abb. 15-5a graphisch dargestellt werden. Dieser Zusammenhang erwies sich für einige Länder und Zeitabschnitte bis zum Ende der 60er Jahre als bemerkenswert stabil. Im Laufe der Zeit wurde es jedoch üblich, die Inflationsrate statt der Lohnänderung als Standardmerkmal in der Phillipskurven-Analyse zu verwenden (darüber sagen wir im nächsten Abschnitt mehr). Abb. 15-5b zeigt die Kurve für die Inflation und Arbeitslosigkeit der USA in der Periode 1961-1969, eines der bekanntesten Beispiele einer stabilen Phillips-Kurve. Wie Abb. 155b verdeutlicht, entsprach die Beziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit in dieser Zeitspanne exakt der Voraussage von Phillips' ursprünglicher Analyse. Phillips' Darstellung vernachlässigte jedoch die Tatsache, daß sowohl für die Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber der reale Lohn zählt. Die Arbeitnehmer kümmert nicht der Geldlohn per se, sondern die Kaufkraft des Lohns. Auch die Arbeitgeber sind per se nicht am Nominallohn interessiert, sondern an den Arbeitskosten in Relation zum Güterpreis. Diese Beobachtung hat einige prominente Ökonomen dazu veranlaßt, die Gültigkeit der Phillips-Kurve, so wie sie ursprünglich formuliert war, in Frage zu stellen. Milton Friedman und Edmund Phelps argumentierten, daß der Nominallohn um die Inflationserwartungen korrigiert werden müsse, da es letztlich der reale Lohn ist, der eine Rolle spielt. 6 Dies führte zu einer Formulierung wie in Gleichung (15.2). Als die Inflation in den 70er Jahren zunahm, zeigte sich, daß Friedman und Phelps nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis recht hatten. Versuche, in den 70er Jahren die Inflation unter Verwendung der ursprünglichen Phillips-Kurve zu prognostizieren, erwiesen sich als notorisch erfolglos. Die einfache, beobachtbare Regelmäßigkeit des Zusammenhangs zwi-

6

Die ursprünglichen Aufsätze, in denen sie ihre Ansichten darlegten, waren: Milton Friedman, "The Role o f Monetary Policy", American Economic Review, März 1968 und Edmund Phelps, "Money Wage Dynamics and Labor Market Equilibrium", Journal of Political Economy, Teil 2, Juli/August 1968.

KAPITEL 15: INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

587

A

H'

Abb. 15-5: (a) Die ursprüngliche PhillipsKurve; (b) Inflation und Arbeitslosigkeit in den USA, 1961-1969

(a)

(Quelle: Organization of Petroleum Exporting Countries, Main Economic Indicators, verschiedene Ausgaben.)

Arbeitslosenquote (in %) (b)

sehen der Erhöhung der Nominallöhne und der Arbeitslosigkeit war verschwunden. Bei jeder Höhe der Arbeitslosigkeit war die Inflation der Nominallöhne in den 70er Jahren höher als in den 60er Jahren. Die Phillips-Kurve hatte begonnen, sich nach oben zu verschieben. Die geeignetste Erklärung dafür war, daß sich auch die Inflationserwartungen erhöht hatten, d.h. w + ] bei jedem Niveau von U zugenommen hatte.

588

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGPOLITIK UND WACHSTUM

Gleichwohl blieb ein Rätsel übrig. Sofern die Friedman-Phelps-Version der Phillips-Kurve richtig ist, wie war es dann möglich, daß die ursprüngliche Darstellung von Phillips für so lange Zeiträume zutreffend war, sowohl für die Vorkriegsdaten Großbritanniens als auch für die Daten der U S A in den 50er und 60er Jahren? Die Antwort schien mit den Merkmalen der Weltwirtschaft in unterschiedlichen Zeiträumen verbunden zu sein. In Großbritannien und in den USA herrschte vor dem Zweiten Weltkrieg sowie in den 50er und 60er Jahren ein bemerkenswerte, langfristige Stabilität der Preise; die Inflationsraten waren im allgemeinen niedrig und die Inflationserwartungen mußten ebenfalls gering und stabil gewesen sein. Daher spielte es in diesem Zeitraum bei statistischen Analysen der Lohninflation keine Rolle, ob Pe+1 akkurat gemessen oder in der Lohngleichung als Konstante behandelt wurde. In den 70er Jahren trat eine starke Ausweitung des Geldangebots in vielen Ländern auf, und das globale System fester Wechselkurse brach zusammen. Die Inflation nahm zu, und die Inflationserwartungen verschoben sich ebenfalls nach oben und wurden variabler. In dieser Situation A ^

kam der Messung von P +i eine große Bedeutung zu bei der statistischen Schätzung von Lohn- und Preisgleichungen.

Preisinflation und Phillips-Kurve Nachdem wir gesehen haben, wie die Phillips-Kurve Veränderungen der Nominallöhne, die erwartete Inflation und die Arbeitslosigkeit miteinander verknüpft, können wir nun eine Gleichung hinzufügen, die Preise und Löhne so verbindet, daß wir auch die Preisdynamik untersuchen können. Wir wollen erneut den in Kapitel 3 analysierten Spezialfall betrachten, bei dem der Output eine lineare Funktion des Arbeitseinsatzes ist. Angenommen, daß jede Arbeitseinheit (l/a)-Einheiten des Outputs produziert, dann wird die Produktionsfunktion der laufenden Periode gegeben durch:

Q= -

a

(15.5)

Da a Arbeitseinheiten erforderlich sind, um eine Einheit des Outputs herzustellen, sind die Arbeitskosten für jede Outputeinheit aw. Der Güterpreis kann dann bestimmt werden als: 7

P = aw

(15.6)

Unter diesen Annahmen verläuft die aggregierte Angebotskurve in jeder Periode flach (d.h. wir haben den "extremen keynesianischen" Fall). Da sich die Löhne jedoch zwischen den Perioden verändern, bewegt sie die Gesamt7

Eine alternative Betrachtungsweise dieser Gleichung ist, daß das Grenzprodukt der Arbeit

( 1 / a ) ausmacht. Daher gilt w/P = ( 1 / a ) oder P = aw.

KAPITEL 1 5 : INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

589

angebotskurve in Abhängigkeit von der Höhe der Arbeitslosigkeit und der Art der Inflationserwartungen nach oben oder unten. Unter diesen Bedingungen wird die prozentuale Rate der Lohnveränderung der Rate der Preisinflation entsprechen: P =w

(15.7)

Wir können nun Gleichung (15.7) wieder in den Ausdruck (15.2) einsetzen, um eine Version für die um die Erwartungen erweiterte Phillips-Kurve mit Preisinflation zu erhalten: P+\ =Pe+\-b{U-Un)

(15.8)

15-3 Der Mechanismus der Erwartungsbildung und die PhillipsKurve Bisher haben wir die Thematik der Erwartungen ohne formale Details diskutiert; daher wollen wir uns nun der Frage zuwenden, wie die Erwartungen gebildet werden. Das ist eine entscheidende Frage, weil der trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit von dem spezifischen Mechanismus abhängt, den die Wirtschaftssubjekte zur Prognose der künftigen Inflation verwenden. Wir beginnen mit dem Fall adaptiver Erwartungen und wenden uns den rationalen Erwartungen im nächsten Abschnitt zu. Bei adaptiven Erwartungen nehmen die Wirtschaftssubjekte Vorhersagen der künftigen Inflation allein auf der Basis der vergangenen Inflation vor. In formaler Weise wird dieser Mechanismus häufig wie folgt beschrieben: Pe+X = Pe + v{P-Pe)

(15.9)

Bei der Interpretation dieser Gleichung ist es wichtig, daran zu erinnern, daß sich der Term Pe+\ auf die in dieser Periode bestehenden Erwartungen bezüglich der Inflation der gegenwärtigen gegenüber der nächsten Periode bezieht. Der Ausdruck (15.9) läßt sich sehr leicht deuten. Die Erwartungen hinsichtlich der Inflation der nächsten Periode Pe+\ entsprechen den Erwartungen Pe, die für diese Periode bestehen, korrigiert um Vorhersagefehler, die sich im Verlaufe dieser Periode offenbaren ( P - P e ) . Mit anderen Worten: sofern sich die Inflation in dieser Periode als höher erweist als vorhergesagt, dann wird die für die nächste Periode erwartete Inflation nach oben korrigiert; ist die tatsächliche Inflation geringer als prognostiziert, so wird die erwartete Inflation der nächsten Periode nach unten revidiert.

590

T E I L I V : OUTPUT, STABILISIERUNGPOLITIK UND WACHSTUM

Der Korrekturfaktor v mißt die Schnelligkeit, mit der die Erwartungen revidiert werden. Ist v niedrig, so ändern sich die Inflationserwartungen langsam und die tatsächliche Inflation hat auf diese nur geringen Einfluß. Liegt v nahe bei 1, so passen sich die Inflationserwartungen in Reaktion auf die tatsächliche Inflation schnell an. Ist der Korrekturfaktor gleich eins (v = 1), dann können wir (15.9) erheblich vereinfachen: Pe+1 = P

(15.10)

In diesem Fall entspricht die Prognose der künftigen Inflation exakt der gegenwärtigen Inflation. Diese einfache Annahme, die wir zur Beschreibung des trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit im vorangegangenen Abschnitt verwendeten, ist eine besondere Form des adaptiven Mechanismus, der gelegentlich als statische Erwartung bezeichnet wird. Bei Anwendung des in (15.10) vorgeschlagenen statischen Erwartungsmechanismus wird die Gleichung für die Phillips-Kurve umgewandelt in: P+l=P-b(U-Un)

(15.11)

Gemäß Gleichung (15.11) bleibt die Inflation nur dann unverändert, wenn die gegenwärtige Arbeitslosenquote U der natürlichen Rate der Arbeitslosigkeit U„ entspricht. Wenn U kleiner als Un ist, ist P +1 größer als P. Und wenn U größer als Un ist, ist P+\ kleiner als P. Die Arbeitslosigkeit kann dann nur unter ihrer natürlichen Rate gehalten werden, wenn zu einer expansiven Wirtschaftspolitik Zuflucht genommen wird, die steigende Inflationsraten mit sich bringt. Dieses Ergebnis, das als Beschleunigungsprinzip bezeichnet wird, bedeutet, daß die Träger der Wirtschaftspolitik ein immer weiter zunehmendes Inflationsniveau akzeptieren müssen, um U unter U„ zu halten. Die Kosten einer solchen Politik wachsen im Zeitablauf und werden schließlich sehr hoch, wenn sich die Inflation ohne Grenzen beschleunigt. Gleichung (15.11) besagt, daß jede Reduzierung der Arbeitslosigkeit um einen Prozentpunkt unter die natürliche Rate dem Land eine Erhöhung der Inflation in der nächsten Periode um b Prozentpunkte aufbürdet. Das akzelerationistische Prinzip hat dazu veranlaßt, der natürlichen Rate der Arbeitslosigkeit einen anderen Namen zu geben: nicht-inflationsbeschleunigende Rate der Arbeitslosigkeit, diese entspricht jenem Niveau von Un, unterhalb dessen sich die Inflation beschleunigt bzw. oberhalb dessen sich der Preisauftrieb verlangsamt. Kurz- und langfristiger Phillipskurven-trade-off Das Beschleunigungsprinzip fuhrt uns zu einer wichtigen Schlußfolgerung. Als Phillips seinen berühmten trade-off zwischen Inflation und Arbeitslo-

KAPITEL 15: INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

591

sigkeit erstmals vorstellte, interpretierten diesen viele Ökonomen so, als könnten die Wirtschaftspolitiker eine dauerhaft niedrigere volkswirtschaftliche Arbeitslosenquote auf Kosten einer höheren, aber stabilen Inflationsrate wählen. Mit Blick auf die kurzfristige Phillips-Kurve (PCSR) in Abb. 15-6 glaubten sie, daß es möglich sei, sich permanent von Punkt A nach B zu bewegen, d.h. eine hohe Inflation um einer dauerhaft niedrigeren Arbeitslosigkeit willen zu erdulden. Eine Volkswirtschaft könnte z.B. wählen zwischen 5% Arbeitslosigkeit bei 1% Inflation, 4% Arbeitslosigkeit bei 2% Inflation oder 3% Arbeitslosigkeit bei 3% Inflation usw.

Abb. 15-6: Kurz- und langfristige Phillips-Kurve Aber das Beschleunigungsprinzip lehrt uns, daß ein solcher trade-off langfristig unmöglich ist. Wenn die Arbeitslosigkeit unterhalb der natürlichen Rate gehalten wird, wird die Inflation nicht nur hoch sein, sondern auch zunehmen. Wird eine Arbeitslosigkeit über der natürlichen Rate geduldet, nimmt die Inflation stetig ab. Langfristig gibt es keinen trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit. Allein die natürliche Rate der Arbeitslosigkeit ist mit einer stabilen Inflationsrate vereinbar. Diese kann darüber hinaus mit jeder stabilen Inflationsrate konsistent sein. Die langfristige Phillips-Kurve ( P Q ^ ) ist daher vertikal, wie in Abb. 15-6 gezeigt. Mit anderen

592

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGPOLITIK UND W A C H S T U M

Worten: wie hoch auch immer die Inflationsrate ist, die Arbeitslosenquote muß stets auf ihre natürliche Rate zurückkehren. Ein detailliertes Beispiel Betrachten wir eine Volkswirtschaft mit stabilen Preisen, die sich bei der natürlichen Rate der Arbeitslosigkeit U„ im Gleichgewicht befindet. Das Gleichgewicht von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage ist in Abb. 15-7a im Punkt A gegeben; die kurzfristige Phillips-Kurve - bei Inflation von Null und Arbeitslosigkeit Un - verläuft durch den Punkt Ä in Abb. 15-7b. Die aggregierte Angebotskurve verläuft kurzfristig beim Preisniveau PQ vollkommen flach. Warum? Mit den für die Periode gegebenen Löhnen ist auch das Preisniveau gegeben, wie Gleichung (15.6) zeigt. Die kurzfristige Phillips-Kurve verläuft fallend und zeigt den Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit U und der für die nächste Periode erwarteten Inflation P +1 unter der Annahme, daß die für die Periode 2 erwartete Inflation gleich Null ist. Wir wollen nun annehmen, daß der Staat die aggregierte Nachfrage in Periode 1 in der Absicht ausdehnt, die Arbeitslosigkeit unter die natürliche Rate Un zu drücken. Die Nachfragekurve verschiebt sich, wie in Abb. 15-7a gezeigt, nach außen. Der Output nimmt zu und die Arbeitslosigkeit wird gemäß Okuns Gesetz z.B. auf das Niveau U\ reduziert. Nach der Phillipskurven-Beziehung wird die Inflation im nächsten Jahr tatsächlich auf P2 ansteigen, wie Abb. 15-7b illustriert, obwohl die Inflationserwartungen noch immer bei Null verharren. Die Wirtschaftspolitiker könnten nun glauben, einen dauerhaften tradeoff von Inflation und Arbeitslosigkeit erreicht haben - schließlich ist doch die Arbeitslosigkeit unter Un gesunken und die Inflation gestiegen. Aber der trade-off kann nicht von Dauer sein. Betrachten wir das gleiche Problem aus der Sicht der Periode 2. Da die Löhne in Periode 2 gegenüber der Periode 1 gestiegen sind, ist die aggregierte Angebotskurve nach oben verschoben worden, wie aus Abb. 15-7a zu ersehen ist. Die Gesamtnachfrage muß in Periode 2 einfach deshalb erhöht werden, um den Output auf dem gleichen Niveau zu halten wie in Periode 1. Infolge der Inflation in Periode 2 werden die Inflationserwartungen aber ebenfalls zunehmen. Nehmen wir an, daß die Inflationserwartungen für Periode 3 auf die in Periode 2 tatsächlich erlebte Teuerungsrate ansteigen; d.h. r 3 = Pj. In Periode 2 werden daher die Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine positive Inflationserwartung in ihren Lohnabschlüssen für die Periode 3 berücksichtigen. Die kurzfristige Phillips-Kurve verschiebt sich nun nach

KAPITEL 1 5 : INFLATION U N D ARBEITSLOSIGKEIT

593

oben, wie in Abb. 15-7b gezeigt, und die Inflationsrate wird in Periode 3 auftreten - selbst dann, wenn die Arbeitslosigkeit erneut auf Un ansteigt. Die Wirtschaftspolitiker sehen sich nun einem Dilemma gegenüber. Wenn sie die Arbeitslosigkeit bei U\ (unterhalb von Un) halten wollen, wie in der ersten Periode, so können sie dies erreichen, indem sie die Gesamtnachfrage erneut in Periode 2 hinreichend ausdehnen; d.h. sie müßten die aggregierte Nachfrage in Abb. 15-7a auf QD\ verschieben. Doch sobald das geschehen ist, wird die Inflation in Periode 3 sogar noch höher sein als P^ (in Punkt C), wie aus der Phillips-Kurve in Abb. 15-7b abzulesen ist. Mit anderen Worten: die Arbeitslosenquote kann nur durch eine ständig zunehmende Inflationsrate unter Un gehalten werden.

(a)

(b)

Abb. 15-7: Nachfrageexpansion und volkswirtschaftliches Gleichgewicht: (a) Gesamtangebots-Gesamtnachfrage-Rahmen; (b) Phillips-Kurve Wenn die Wirtschaftspolitiker statt dessen die Inflationsrate bei Pi halten und ihren Anstieg verhindern wollen, müssen sie zulassen, daß die Arbeitslosigkeit auf die natürliche Rate zurückfällt. Am Ende bringt die höhere Inflation eine temporäre Verringerung der Arbeitslosigkeit hervor, nicht aber eine dauerhafte. Die höhere Inflation hält an, die Arbeitslosenquote kehrt jedoch auf Un zurück. Falls nicht, wird die Inflation in jeder Periode weiter zunehmen. Das Ergebnis einer inflationären Politik ist mithin nicht sonder-

594

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGPOLITIK U N D W A C H S T U M

lieh attraktiv: eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit in einer Periode um den Preis einer dauerhaft ansteigenden Inflation! Der zeitliche Verlauf von Inflation und Arbeitslosigkeit für unsere Illustration ist in Abb. 15-8 dargestellt.

A

P, U

iz

Un

p

A

P2 0

1

2

3

Abb. 15-8: Der zeitliche Verlauf von Inflation und Arbeitslosigkeit Die Opfer-Rate Wenn die Inflationsdynamik durch den Phillipskurven-Mechanismus wie in Gleichung (15.11) bestimmt wird, erfordert notwendigerweise jeder Versuch, die Inflation zu verringern, einen temporären Anstieg der Arbeitslosigkeit über die natürliche Rate hinaus. Die "Kosten" der Désinflation bestehen dann in dem Umfang an vorübergehender Arbeitslosigkeit, die hingenommen werden muß, um die Inflation in einem gegebenen Umfang zu drücken. Wir können eine quantitative Abschätzung dieser Kosten durch eine geringfügige Umformung von Gleichung (15.11) erhalten: f/-f/„ = - ^ ( P

+ 1

-P)

(15.12)

Verbal ausgedrückt, erfordert jede Verringerung der Inflation um einen Prozentpunkt eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit über die natürliche Rate hinaus um (Mb) Punkte. Die Opferrate (OR) stellt ein sehr nützliches Konzept zur Abschätzung der Kosten der Arbeitslosigkeit einer Désinflation dar. Sie mißt die kumulative Unterbeschäftigungslücke - d.h. den Uberschuß der Arbeitslosigkeit über die natürliche Rate - in einer bestimmten Periode, ge-

KAPITEL 15 : INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

595

teilt durch die Verringerung der Inflation innerhalb desselben Zeitraums. Je kleiner die Opferrate ist, um so geringer sind die Kosten der Desinflation. Die Box 15-1. in der wir eine Messung für die Opferrate der US-Desinflation 1980-1984 vornehmen, gibt einen Eindruck von der praktischen Verwendbarkeit dieses Konzepts. Formal läßt sich die OR für den Zeitraum 0 bis T wie folgt ausdrücken: U

QV_[ + i ) e = w + 1 / / , e + ] . Das ist formal gesehen nur eine Annäherung für gegebene, mathematische Eigenschaften der "Erwartungswerte". 12

Bei ausgefeilteren Anwendungen der Theorie rationaler Erwartungen kann ein Irrtum bei den Preisprognosen eine anhaltende Abweichung der Beschäftigung vom langfristigen Gleichgewichtsniveau hervorrufen. Gleichwohl besteht der eigentliche Kern des Ansatzes rationaler Erwartungen darin, daß die Märkte bei flexiblen Löhnen und Preisen sowie gut informierten Arbeitnehmern und Unternehmern schnell zur Vollbeschäftigung zurückkehren.

KAPITEL 15: INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

601

das markträumende Niveau, während eine geringere als die erwartete Inflation dazu führt, daß der Reallohn die markträumende Höhe übersteigt. Bevor wir fortfahren, sollten wir eine in Gleichung (15.16) versteckte Annahme beachten. Bei dieser Argumentation wird wpf als eine Konstante behandelt. Deshalb müssen Inflationsüberraschungen allein das Ergebnis von unerwarteten Veränderungen der Nachfrage und nicht von unerwarteten Verschiebungen des Angebots (die wpf ebenfalls beeinflussen) sein. Die Theorie rationaler Erwartungen beruht hinsichtlich des Zusammenhangs von Inflation und Arbeitslosigkeit implizit auf unerwarteten Nachfrageschocks. Trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit bei rationalen Erwartungen In dieses Bild fugen wir nun die rationalen Erwartungen ein. Wir folgen dabei der Vorstellung, daß die Unternehmen und Haushalte im Durchschnitt zutreffende Prognosen über die Inflation machen und daß die Irrtümer in einer Periode von den Fehleinschätzungen in einer anderen Periode statistisch unabhängig sind. Bezeichnen wir den Prognoseirrtum mit z = P- Pe, so besagt unsere Annahme, daß z im Durchschnitt gleich Null ist und Fehler in einer Periode (z.B. 2 > 0) nicht mit solchen in einer anderen Periode verknüpft sind. Jede Prognose ähnelt einem Münzwurf: das Ergebnis eines Münzwurfes erlaubt uns nicht, auf das Resultat des nächsten zu schließen. Unser nächster Schritt besteht darin festzustellen, daß das Beschäftigungsniveau eine negative Funktion des realen Lohns ist. Wenn wp+\ niedrig ist, dann ist die Beschäftigung hoch und die Arbeitslosigkeit gering. Ist wp+ j hoch, so gilt das Umgekehrte. Diese einfachen Fakten ergeben sich aus den Arbeitsangebots- und -nachfragekurven in Abb. 15-3. Die nachfolgende Gleichung faßt den Zusammenhang zwischen der Höhe des Reallohns und der Arbeitslosigkeit zusammen: ^+1 = Un + S(WP+1 -

w

pf)

(15.17)

Diese Gleichung besagt, daß £/ +] der natürlichen Rate der Arbeitslosigkeit Un entspricht, wenn wp+ j gleich wpf ist. Wenn der Reallohn höher ist, so ist es auch die Arbeitslosenquote und umgekehrt. Durch Einsetzen von Gleichung (15.16) in (15.17) erhalten wir die Schlüsselgleichung der Theoretiker rationaler Erwartungen: U+}=U„-h(P+l-Pe+1)

(15.18)

wobei h eine Variable ist, die g(wpf) entspricht. Unter Verwendung einer derartigen Phillips-Kurve leiten die Theoretiker rationaler Erwartungen die Aussage ab, daß die Arbeitslosigkeit der nächsten Periode eine Funktion des

602

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGPOLITIK UND WACHSTUM

Prognoseirrtums bezüglich der Inflation in der gleichen Periode ist. Wenn die Inflation höher als erwartet ausfallt (so daß z+j positiv ist), ist die Arbeitslosigkeit gering (weil der Reallohn ebenfalls niedrig ist). Stellt sich eine geringere Inflation ein als erwartet, so ist die Arbeitslosigkeit hoch (da dies auch für den realen Lohn gilt). Wir wollen nun Okuns Gesetz verwenden, um eine Beziehung zwischen der Arbeitslosenquote und dem Niveau des Outputs herzustellen. Okuns Gesetz begründet, wie wir uns erinnern, eine einfache Beziehung zwischen der Rate der Arbeitslosigkeit und der Höhe der Produktion. 13 Dementsprechend können wir (15.18) umschreiben in: Q+l=Qf+l+j(P+l-Pe+\)

(15.19)

wobei j eine Konstante ist. Wenn die Inflation höher als erwartet ist, übersteigt der Output das Vollbeschäftigungsniveau (wir erinnern daran, daß Qf+\ mit dem Beschäftigungsniveau Un korrespondiert). Ist die Inflation niedriger als erwartet, ist die Produktion geringer als Qf+\Wir machen nun Gebrauch vom Gesamtnachfrage-Gesamtangebots-Rahmen. Wie wir sahen, bildet die rationale Erwartung des zukünftigen Preisniveaus Pe+1 den Ausgangspunkt für die Lohnsetzung. Arbeitnehmer und Unternehmen bilden ihre Erwartungen bezüglich P+\, indem sie eine Einschätzung der Lage der aggregierten Nachfragekurve in der nächsten Periode vornehmen. Wir bezeichnen diese Position mit QDe+\, sie erscheint in Abb. 15-9. Pe+1 ist der Punkt auf der Kurve, der mit dem Vollbeschäftigungsniveau des Outputs übereinstimmt. Die Nominallöhne werden dann so festgelegt, daß die Gesamtangebotskurve durch den Punkt Pe+ j beim Vollbeschäftigungsniveau des Outputs geht. Die Gesamtangebotskurve schneidet daher die erwartete Gesamtnachfragekurve QDe+\ im Punkt E mit Qf als Produktionsniveau und Pe+i als Preisniveau, wie in Abb. 15-9 gezeigt.

' 3 Okuns Gesetz besagt, daß eine Verringerung der Arbeitslosenquote um 1% zu einer Outputerhöhung von 3% fuhrt. Formal können wir diesen Zusammenhang ausdrücken als

3 (U-U+l) = Q+i-Q Wenn wir bei Vollbeschäftigung beginnen (Qf) und damit bei der natürlichen Rate der Arbeitslosigkeit (U n ), kann diese Gleichung wie folgt ausgedrückt werden:

3 (U-U+}) = Q+l-Qf oder

V+l~Un = , , ( ö / - ß + 1 ) V.3/

Setzen wir dies in Gleichung (15.18), so gelangen wir unmittelbar zu (15.19) für j = 3h.

KAPITEL 15: INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

603

Wir wollen nun annehmen, daß die aggregierte Nachfrage sich als kontraktiver als erwartet erweist, so daß sich die Nachfragekurve in der nächsten Periode bei QD'+\ befindet. Aus Abb. 15-9 ist ersichtlich, daß sich in diesem Fall P + 1 als geringer als Pe+\ herausstellt - und auch P+\ ist kleiner

Abb. 15-9: Gleichgewicht bei rationalen Erwartungen als P e +\. So erhalten wir den Erwartungseffekt aus Gleichung (15.17): eine geringere als die erwartete Inflation führt zu einem Output unterhalb des Vollbeschäftigungsniveaus. Wenn sich die aggregierte Nachfrage als expansiver herausstellt, als erwartet, wie z.B. auf der Gesamtnachfragekurve QD"+1 in Abb. 15-9, stellt sich ein entgegengesetztes Ergebnis ein: die Inflation ist höher als erwartet und der Output liegt oberhalb seines Vollbeschäftigungsniveaus. Glaubwürdigkeit und Kosten der Desinflation Unter der Annahme rationaler Erwartungen existiert kein trade-off zwischen Output und Inflation. Die Wirtschaftspolitiker können, so wird gesagt, eine Inflation von Null in der nächsten Periode erreichen, ohne Outputverlust oder übermäßige Arbeitslosigkeit! Stellen wir uns vor, die Politiker würden der Öffentlichkeit mitteilen, daß sie beabsichtigen, eine restriktive Gesamtnachfragepolitik so durchzuführen, daß Pe+\ gleich P ist. Mit anderen Wor-

604

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGPOLITIK UND W A C H S T U M

ten: sie kündigen eine Null-Inflation für die nächste Periode an und die Verfolgung einer Nachfragepolitik, die ausreichend restriktiv ist, so daß Pe+1 = P ist (und mithin P +i = 0 ) . Unter diesen Bedingungen ergibt sich offensichtlich aus Abb. 15-9, daß der Output auf dem Vollbeschäftigungsniveau bei P+] = 0 sein wird. Die Begründung lautet wie folgt. Bei rationalen Erwartungen werden die Löhne auf der Basis vorausschauender Erwartungen festgelegt. Die Inflation der Vergangenheit spielt per se keine Rolle, und es tritt kein Trägheitsmoment auf. Die Erwartungen werden auf Grund der zukünftigen Wirtschaftspolitik gebildet, nicht auf der Grundlage der vergangenen Inflation. Daher besteht der "Trick" der Wirtschaftspolitiker darin, eine Politik der aggregierten Nachfragesteuerung anzukündigen, so daß Pe+\ gleich Null ist. Wird dies so durchgeführt, dann werden die Nominallöhne automatisch auf das zur Sicherung der Vollbeschäftigung und Null-Inflation angemessene Niveau festgelegt. Vergleichen wir diesen Ablauf mit den Vorgängen bei adaptiven Erwartungen, und gehen wir davon aus, daß die Inflation in der laufenden Periode positiv ist. Bei adaptiven Erwartungen wird die für die nächste Periode erwartete Inflation wahrscheinlich ebenfalls positiv sein. Daraus ergibt sich, wie wir zu Beginn dieses Kapitels sahen, ein Dilemma. Unter der Annahme, daß Pe+\ > 0 ist (wegen der vorangegangenen Inflation), müssen sich die Wirtschaftspolitiker entscheiden; sie können entweder die Inflation akkommodieren, um den Output bei Vollbeschäftigung zu halten, oder sie können die aggregierte Nachfrage einschränken, um die Inflation auf Null zu drücken, jedoch nur um den Preis eines unter Qf+\ sinkenden Outputs und einer U„ übersteigenden Arbeitslosigkeit. Bei rationalen Erwartungen können die Wirtschaftspolitiker andererseits Preisstabilität und Vollbeschäftigung erreichen, sofern es ihnen gelingt, die Arbeitnehmer und Unternehmen davon zu überzeugen, daß die Gesamtnachfrage hinreichend eingeengt wird, um die Inflation bei Null halten. Sie müssen die Öffentlichkeit insbesondere davon überzeugen, daß die Gesamtnachfragekurve durch den Punkt Qf+j verläuft, wenn P+\ gleich P ist, wie das in Abb. 15-9 der Fall ist. Mit anderen Worten: die Öffentlichkeit muß davon überzeugt sein, daß die aggregierte Nachfrage so knapp gehalten wird, daß sich eine Null-Inflation ergibt. Das ist der kritische Punkt. Die Wirtschaftssubjekte müssen die Überzeugung hegen, daß die Regierung tatsächlich eine Politik der Preisstabilität verfolgt. Es ist nicht damit getan, daß eine solche Politik angekündigt wird; vielmehr müssen die Wirtschaftssubjekte zunächst verstehen, wie Geld- und Finanzpolitik funktionieren, und dann davon überzeugt sein, daß die ange-

KAPITEL 15: INFLATION UND ARBEITSLOSIGKEIT

605

kündigte Nachfragepolitik tatsächlich mit dem Ziel einer Null-Inflation in Einklang steht, und dann werden sie ihr Lohnsetzungsverhalten auf die Grundlage einer solchen Politik stellen. Mit anderen Worten: die Politik muß glaubwürdig sein. Ist sie es nicht, so werden die Wirtschaftssubjekte ihre Erwartungen entsprechend anpassen. Thomas Sargent hat uns einen überzeugenden Fall hinsichtlich der Bedeutung von Glaubwürdigkeit bei der Beendigung von vier Hyperinflationen in Mitteleuropa in den 20er Jahren vorgeführt. 14 Wie man sich indes vorstellen kann, gelingt es der Regierung nicht so leicht, die Glaubwürdigkeit ihrer erklärten Politik herzustellen. Angenommen, die Regierung verkündet z.B., daß die Inflation in der nächsten Periode auf Null gesenkt wird, aber die Haushalte und Unternehmen wissen, daß die bisherige Inflation ihre Ursache in der Zuflucht des Staates zur Geldschaffimg bei der Finanzierung von bestehenden Budgetdefiziten hat. Wenn die Wirtschaftssubjekte bezweifeln, daß der Staat das Haushaltsdefizit tatsächlich beseitigen kann - etwa weil der Regierung die Mehrheit im Parlament fehlt dann werden sie auch Zweifel daran haben, daß die Inflation zügig beendet wird. Der Staat mag die gleiche Politik in der Vergangenheit angekündigt, aber sein Versprechen nicht eingelöst haben. Eine gewisse politische Ungewißheit mag auch deshalb bestehen, weil man nicht weiß, wer in Zukunft regieren wird, und dies erzeugt Zweifel an der Kontinuität der Politik der Nachfragesteuerung. So kann die Regierung z.B. ihre Absicht zur Einschränkung der Gesamtnachfrage im folgenden Jahr bekunden, aber in der Zwischenzeit finden Wahlen statt. Den Haushalten und Unternehmen dürfte es dann schwerfallen zu glauben, daß die Partei, welche die Regierung stützt, lange genug an der Macht bleibt, um ihre Politik auch durchzuführen. Die Regierung könnte ferner Gründe dafür finden, eine harte Linie zu versprechen, dann aber betrügerisch vorzugehen, indem sie eine expansive Politik verfolgt. Warum? Weil die Wirtschaftssubjekte den Ankündigungen Glauben schenken und die Löhne auf der Basis der niedrigen Inflationserwartung festlegen, könnte die Regierung die Gesamtnachfrage ganz bewußt ausweiten, um die Rate der Arbeitslosigkeit unter Un zu drücken und den Output über Qf hinaus anzuheben. Wir erinnern uns, daß eine "überraschende" Inflation, bei der P + \ > P e +\ ist, einen Rückgang der Arbeitslosigkeit herbeiführen kann, wie Gleichung (15.19) zeigt. Daher könnte die Regie-

14

Sein Beitrag gilt heute als Klassiker; vgl. "The Ends o f Four Big Inflations", in: Robert

Hall, Hrsg., Inflation:

Causes

and Effects (Chicago: National Bureau of Economic Re-

search, University o f Chicago Press, 1982).

606

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGPOLITIK UND W A C H S T U M

rang versuchen, den privaten Sektor bewußt zu überraschen, indem sie eine Sache ankündigt und eine andere Sache macht. Wenn der Staat seine Politik zur Erreichung einer geringen Inflation verkündet, so mag er tatsächlich vorhaben, diese durchzuführen. Aber sobald die Löhne festgelegt sind und die Möglichkeit zur Verringerung von Un erst in der nächsten Periode gegeben ist, kann sich das Versprechen, die Arbeitslosenquote ein wenig zu reduzieren, als nicht einlösbar erweisen. Das Problem ist eines der dynamischen Inkonsistenz,15 Wenn die Regierung jedoch häufig genug wortbrüchig wird, wird sie mit Sicherheit ihre Glaubwürdigkeit verlieren. (Wir werden das Problem dynamischer Inkonsistenz in Kapitel 19 näher ausführen.) Wir wissen bereits, daß die Glaubwürdigkeit der Regierung noch keine ausreichende Bedingung dafür ist, eine kostenlose Désinflation zu erreichen. Wenngleich die Theoretiker rationaler Erwartungen die Rolle langfristiger Lohnvereinbarungen heruntergespielt haben, ist es schlicht zutreffend, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer an Verträge gebunden sein können, die für mehrere zukünftige Perioden Gültigkeit haben. Vorherbestimmte Lohnerhöhungen - die wir als Trägheitsmoment der Inflation bezeichnet haben können die Kosten der Désinflation selbst dann steigern, wenn die Regierung hohe Glaubwürdigkeit besitzt. Und die Individuen mögen ihre Erwartungen nicht darauf gründen, was die Regierung verkündet, sondern auf Beobachtungen einer vorangegangener Inflation, wie dies die Theorie adaptiver Erwartungen für gegeben ansieht. Die Theorie kostenloser Desinflation erfordert zusammengefaßt dreierlei: schnelle Räumung des Arbeitsmarktes (keine langfristigen Tarifverträge), vorausschauende Erwartungen (und nicht adaptiven Erwartungen) und Glaubwürdigkeit der angekündigten Politik. Diese Kombination ist selten, wenn sie überhaupt je existiert. Die rationale Erwartungstheorie kostenloser Desinflation ist am Ende selbst nicht glaubwürdig. Die in der Box 15-1 analysierten empirischen Belege zur Desinflation unter Reagan zeigten eindeutig, daß diese zu Beginn der 80er Jahre für die USA keineswegs kostenlos war. Der Fédéral Reserve Board versuchte, seine restriktive Kreditpolitik zu erklären und energisch zu verteidigen; er versuchte, anders gesagt, seine Glaubwürdigkeit zu etablieren. Dennoch dauerte es mehr als zwei Jahre, bis die Politik des knappen Geldes zu einer niedri15

D i e Bedeutung des Umstands, daß sich der Staat veranlaßt sieht, seine Pläne nach einer

ursprüglichen Ankündigung zu revidieren, wird beschrieben in einem einflußreichen Aufsatz v o n Finn Kydland und Edward Prescott, "Rules Rather than Discretion: the Inconsistency o f Optimal Plans", Journal of Political

Economy,

Juni 1977.

KAPITEL 15: INFLATION U N D ARBEITSLOSIGKEIT

607

gen Inflation führte, und dies gelang auch nur deshalb, weil die USA 1981— 1982 in eine tiefe Rezession gerieten. Vermutlich begründete die Währungsbehörde ihre Glaubwürdigkeit nur langsam, und dieser Mangel an Glaubwürdigkeit kann für einen Teil der Desinflationskosten verantwortlich gemacht werden. Aber auch die bestehenden langfristigen Verträge machten es sicherlich schwieriger und kostspieliger, die gewünschte Verlangsamung der Inflation zu erreichen. 15-5 Die Verwendung des Wechselkurses zur Stabilisierung der Preise Bisher haben wir die internationalen Aspekte des Inflations-Arbeitlosigkeits-Problems weitgehend vernachlässigt, wenngleich diese nicht völlig fehlten, einige waren lediglich verdeckt. So schließen z.B. Verschiebungen der aggregierten Nachfrage, die auf eine expansive Geldpolitik zurückgehen, Veränderungen des Wechselkurses ein. Jedesmal, wenn die Gesamtnachfragekurve verschoben wurde, um sich z.B. an eine Erhöhung der Nominallöhne anzupassen, wurde der Wechselkurs ebenfalls verändert. Aber der Wechselkurs berührt den trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit auch in direkterer Weise. Erstens erhöhen sich vermutlich die Preise importierter Güter im Verhältnis der Wechselkursänderungen, und viele importierte Endprodukte (nicht Vorleistungen) sind Bestandteil des Konsumentenpreisindexes. Wenn P der Preis der im Inland produzierten Güter, Pm der Preis der Importe und Pc der gesamte Konsumentenpreisindex ist, erhalten wir zwei wichtige Zusammenhänge: Pm = EP*m Pc = dP + (\-ö)Pm

(15.20) (15.21)

wobei E den nominalen Wechselkurs, P*m die Preise importierter Güter im Ausland und 8 einen Parameter zwischen 0 und 1 symbolisiert, der das Gewicht heimischer Güter im Konsumentenpreisindex angibt (wobei 1 - 8 dem Gewicht der importierten Güter entspricht). Selbst wenn für die heimischen Preise P die Kaufkraftparität nicht gilt, wird der Teil des gesamten Konsumentenpreisindexes Pc, der von importierten Endprodukten ausgefüllt wird, unmittelbar vom Wechselkurs beeinflußt. Selbst wenn wir die KKP-Bedingung als Basis für die heimischen Güterpreise im ganzen abgelehnt haben, gilt diese tatsächlich zumindest für einige inländische Güter. Für im hohem Maße handelbare Güter einer Volkswirtschaft (wie etwa Rohstoffe) wirken sich Wechselkursänderungen direkt auf die heimischen Preise aus, und zwar unabhängig von den Angebots- und

608

T E I L I V : OUTPUT, STABILISIERUNGPOLITIK UND WACHSTUM

Nachfragebedingungen. (Wir werden später in Kapitel 19 die Produktion einer Volkswirtschaft in zwei Arten unterteilen: in handelbare und nicht-handelbare Produktion.) Die handelbare Produktion (mit T bezeichnet) hat Preise, die entsprechend der KKP-Bedingung determiniert sind: Pj = EP*T. Die Preise der nicht-handelbaren Güter P y werden durch das Gleichgewicht zwischen Gesamtangebot und Gesamtnachfrage bestimmt. Das gesamte inländische Preisniveau P ist der gewichtete Durchschnitt dieser beiden Arten von Preisen: = $(EP*t) + (\-$)Pn

(15.22)

wobei ein Parameter zwischen 0 und 1 ist, der das Gewicht der handelbaren Güter im gesamten inländischen Preisniveau repräsentiert (1 - t ist das Gewicht der nicht-handelbaren Güter). Ein dritter Kanal, über den der Wechselkurs die Preise unmittelbar beeinflußt, ist der über die importierten Vorprodukte - z.B. Öl, Futtermittel, Rohmetalle - , die bei der heimischen Produktion verwendet werden. Eine Abwertung des Wechselkurses erhöht die Preise importierter Vorprodukte, und dies wiederum läßt die Preise der Endprodukte steigen. Gleichung (15.4), die eine besonders einfache Form der aggregierten Angebotskurve beschrieb, kann so umgeschrieben werden, daß in ihr die Kosten der importierten Vorprodukte eingeschlossen werden. Dazu bezeichnen wir den Preis des importierten Vorprodukts mit Pn, von dem wir annehmen können, daß er gleich EP*„ ist, wobei P*n der Weltmarktpreis ist. Die Preise nicht-handelbarer Güter z.B. können dann als eine Funktion der Löhne und Pn ausgedrückt werden: PN=aw+ßPn = a w + ߣP*„

(15.23)

Indem wir die Gleichungen (15.20) bis (15.23) zusammenfügen, erfassen wir drei unterschiedliche Kanäle, über die der Wechselkurs das Preisniveau direkt beeinflußt: (1) über die Preise importierter Endprodukte, (2) über die Preise heimischer handelbarer Güter und (3) über die importierten Vorprodukte, welche die inländischen Produktionskosten berühren. Die endgültige Gesamtgleichung für den Konsumentenpreisindex sieht dann wie folgt aus: Pc = [a8(l - )]w + [ß8(l - §)P*n + 5 •3« .S

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XI x> u 0). Die Ersparnis, die zur Ausstattung neuer Arbeitsplätze verwendet wird, nennt man Kapitalerweiterung (wobei sich "Erweiterung" auf die Expansion des Arbeitskräftepotentials bezieht). Dagegen wird die für die Erhöhung der Kapital-Output-Rate (des sog. Kapitalkoeffizienten) verwendete Ersparnis als Kapitalintensivierung bezeichnet (wobei "Intensivierung" die Erhöhung des Kapitaleinsatzes pro Arbeitskraft meint). Daher besagt die grundlegende Gleichung der Kapitalakkumulation (18.13): Kapitalintensivierung = Pro-Kopf-Ersparnis minus Kapitalerweiterung Wir wollen nun das Konzept des "steady State"*, der langfristigen Gleichgewichtslage, vorstellen. Im steady State erreicht die Kapitalintensität einen Gleichgewichtswert und verbleibt unverändert auf diesem Niveau. Als Ergebnis dessen erreicht auch der Output pro Arbeitskraft einen steady State (wobei wir im Moment technische Veränderungen vernachlässigen). Daher erreichen im steady State sowohl k als auch q ein dauerhaftes Niveau. Um den steady State zu erreichen, muß die Pro-Kopf-Ersparnis genau gleich der Kapitalerweiterung sein, so daß Ak = 0 ist. Mathematisch ausgedrückt, muß die Bedingung erfüllt sein: sq = (n + d)k (18.14) Obwohl steady State einen konstanten Wert von q und k bedeutet, so muß das nicht Null-Wachstum heißen. Tatsächlich wächst im steady State der Output mit der positiven Rate n. Um das zu erkennen, erinnern wir uns, daß die Arbeitskraft (wie stets) mit der Rate n wächst. Da die Kapitalintensität gleich ist, bedeutet das daher, daß AK/K = AL/L = n. Folglich wächst der Kapitalstock ebenfalls mit der Rate n. (Ein anderer Weg, um dies zu sehen, ist, daß der Pro-Kopf-Output QU konstant ist, so daß Q mit derselben Rate wie L wächst. Dies bedeutet, daß AQ/Q = AL/L = n.) Graphische Veranschaulichung Das Gleichgewicht der Volkswirtschaft kann mit Hilfe von Abb. 18-3 dargestellt werden: Beginnen wir mit der Produktionsfunktion, wie in Abb. 18-2 gezeigt. Nun definieren wir eine neue Kurve sq, welche die Pro-Kopf-Ersparnis darstellt. Da die Ersparnis ein konstanter Bruchteil s des Outputs ist (0 < s < 1), hat die neue Kurve die gleiche Gestalt wie die Produktionsfunktion, aber mit einem Wert auf der vertikalen Achse, der das .v-fache des Werts der Produktionsfunktion ausmacht. Da 5 < 1, liegt die neue Kurve * Der steady state kann als (quasi-)stationäres Gleichgewicht bezeichnet werden; wir bleiben aber bei dem angelsächsischen Terminus [Anmerkung des Übersetzers].

KAPITEL 1 8 : LANGFRISTIGES W A C H S T U M

735

unter der Produktionsfunktion. Außerdem können wir die Kurve {n + d)k einzeichnen, eine Gerade, die im Ursprung beginnt und die Steigung (n + d) hat. Im steady State müssen sich die (n + i/)i-Linie und die sg-Kurve schneiden, da sq = (n + d)k ist. Dieser Schnittpunkt ist der Punkt A in der Abbildung. Wenn die Kapitalintensität kA ist und der Pro-Kopf-Output bei qA liegt, ist die Ersparnis genau ausreichend für die Kapitalerweiterung, d.h. sqA = (n + d)kA. Die Pro-Kopf-Ersparnis reicht genau aus, um das Kapital für die wachsende Bevölkerung und zum Ersatz des abgeschriebenen Kapitals vorzuhalten, ohne eine Veränderung im Gesamtverhältnis von Kapital und Arbeit hervorzurufen. (Es ist wichtig, daß wir uns daran erinnern, daß der steady State "steady" nur in bezug auf die Pro-Kopf-Werte der Variablen ist; die Gesamtwerte der Variablen - Output, Arbeit und Kapital - dagegen wachsen alle mit der Rate n.)

Abb. 18-3: Das steady-state-Gleichgewicht der Volkswirtschaft Links von Punkt A liegt die sg-Kurve über der (n + i/)A>Linie. Das bedeutet, daß die Ersparnis höher ist, als für die Kapitalerweiterung erforderlich. Daher erfolgt eine Kapitalintensivierung, wenn die Wirtschaft links von Punkt A operiert. Kapitalintensivierung bedeutet, daß der Kapitalstock pro Arbeitskraft steigt, Ak > 0. Folglich wird k links von Punkt A eine steigende Tendenz haben, was durch die Pfeile auf der X-Achse kenntlich gemacht ist.

736

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

Rechts von Punkt A geschieht das genaue Gegenteil: hier reicht das Kapital nicht für eine Kapitalerweiterung. Rechts von Punkt A ist sq < (n + d)k und Ak < 0. Daher hat k rechts von Punkt A eine fallende Tendenz, was ebenfalls durch Pfeile auf der X-Achse markiert ist. Wir wollen nun sehen, was in einer Volkswirtschaft vor sich geht, wenn sie an einem Punkt weit entfernt vom steady State beginnt. Nehmen wir an, das Land ist in einem frühen Stadium seiner wirtschaftlichen Entwicklung mit einer sehr niedrigen Kapitalintensität, sagen wir kA in Abb. 18-4. Der anfängliche Pro-Kopf-Output ist ebenfalls sehr niedrig, und liegt bei q^. Wegen des niedrigen Kapitalstocks besteht ein geringer Bedarf, die Ersparnis für eine Kapitalerweiterung zu verwenden, d.h. (n + d)kA ist klein. Daher ist die nationale Ersparnis sqA höher als der Kapitalerweiterungsbedarf, und der Kapitalstock expandiert tendenziell. Wenn das geschieht, bewegt sich die Volkswirtschaft auf der Produktionsfiinktion von Punkt A nach rechts. Mit der Zeit ergibt sich eine Kapitalintensivierung, und k nähert sich kB. Mit der Kapitalintensivierung steigt schließlich der für die Kapitalerweiterung nötige Betrag bis zu dem Punkt, wo die gesamte Ersparnis nur dazu verwendet wird, um k konstant zu halten. An diesem Punkt gelangt die Volkswirtschaft zum steady State.

(,n + d)k

Abb. 18-4: Wirtschaftsentwicklung eines hypothetischen Landes im Zeitablauf

KAPITEL 1 8 : LANGFRISTIGES W A C H S T U M

737

Was ist die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft in der Übergangsphase zum steady State? Es ist zu beachten, daß in einer Volkswirtschaft in der Kapitalintensivierungsphase sowohl q, als auch k mit der Zeit Steigungstendenzen haben; das heißt, daß QU und K/L in Richtung ihres steady-stateWertes steigen. Wenn Q/L ansteigt, wächst Q schneller als L. Daher gilt: AQ/Q > AL/L = n. Das bedeutet, daß in der Kapitalintensivierungsphase das Wachstum des Outputs über seiner steady-state-Rate liegt. Oder, um es einfacher auszudrücken: wir würden erwarten, daß - bei ansonsten gleichen Bedingungen - kapitalschwache Länder rascher wachsen als kapitalstarke Länder, und mit der Intensivierung des Kapitalstocks (wenn k sich kB nähert) die Wachstumsrate sich dann verlangsamt. Man kann leicht verifizieren, daß - wenn k über kB liegt - das Kapital pro Arbeitskraft tendenziell auf das steady-state-Niveau sinkt (das wird durch die Pfeile in Abb. 18-3 verdeutlicht). Die nationale Ersparnis reicht nicht aus, um wenigstens die Kapitalintensität konstant zu halten. Zu beachten ist, daß bei einem kapitalstarken Land, sofern es eine sinkende Kapitalintensität hat, das Wachstum des Outputs unter n liegt. Auf diese Weise haben wir festgestellt, daß immer, wenn die Volkswirtschaft (entweder durch zuviel oder zuwenig Kapital pro Arbeitskraft) vom steady State entfernt ist, Kräfte existieren, die sie in ihr langfristiges steadystate-Gleichgewicht zurückdrängen. Diese Eigenart des Solow-Modells ist extrem wichtig: sie zeigt nicht nur, daß der steady State ein Punkt ist, in welchem q und k sich nicht verändern, sondern auch, daß die Wirtschaft dazu neigt, sich zum steady State hin zu entwickeln. Ein dynamisches System, in welchem die Variablen sich natürlich auf ein steady-state-Gleichgewicht hinbewegen, nennen wir ein stabiles System. Daher beschreibt Solows Wachstumsmodell einen dynamisch stabilen Wachstumsprozeß. Wirkungen der Sparquote auf Einkommen und Wachstum Eine der populären Empfehlungen für eine Steigerung des Wirtschaftswachstums ist die Erhöhung der Sparquote. Ist es zutreffend, daß eine höhere Sparquote zu einem schnelleren Wirtschaftswachstum führt? Die Antwort lautet "ja und nein". Es überrascht vielleicht, aber die Sparquote hat keine Auswirkung auf die steady-state-Wachstumsrate im Solow-Modell. Egal, wie groß der Wert s ist, wächst die Volkswirtschaft langfristig mit der Rate n. Die Sparquote kann jedoch kurzfristig die Wachstumsrate beeinflussen, wie auch die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens im langfristigen steady State. Um dies zu untersuchen, benutzen wir noch einmal eine Graphik: Betrachten wir zwei Länder, das eine mit der Sparquote sA, das andere mit der

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TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

Sparquote sB, letztere höher sei als sA. Beide Länder haben die gleichen Raten des Bevölkerungswachstums und der Kapitalabschreibung. Der Unterschied zwischen beiden Ländern zeigt sich graphisch in der unterschiedlichen Lage der Schnittpunkte der Ersparniskurven mit der Kapitalerweiterungs-Linie. Wir sehen in Abb. 18-5: das Land mit der höheren Sparquote hat im steady State ein höheres Niveau des Pro-Kopf-Einkommens und eine höhere Kapitalintensität. Die Wachstumsrate im steady State ist indessen bei beiden Ländern dieselbe und gleich der Wachstumsrate der Arbeit n.

Abb. 18-5: Unterschiedliche Sparquoten zweier Länder; Auswirkungen auf die Kapitalintensität und das BIP pro Kopf Sehen wir uns nun an, was passiert, wenn in einem Land die Sparquote steigt. Nehmen wir z.B. an, das Land befindet sich im steady-state-Gleichgewicht mit der niedrigen Sparquote s, wie in Abb. 18-6 dargestellt. Die Regierung dieses Landes setzt nun eine wirtschaftspolitische Maßnahme ein, um die private Sparquote von s auf s' zu heben (eine solche Politik könnte einen Anstieg der staatlichen Sparquote oder einen steuerlichen Anreiz zur Erhöhung der privaten Sparquote beinhalten). Wenn die Sparquote zunimmt, übersteigt nun die nationale Ersparnis die für die Kapitalintensivierung erforderliche Höhe, und die Kapitalintensität beginnt zu steigen. Die Volkswirtschaft bewegt sich folglich von Punkt q*Q zu Punkt q*\ in Abb. 18-6. Während dieses Übergangs steigt die Wachstumsrate der Volkswirt-

KAPITEL 1 8 : LANGFRISTIGES W A C H S T U M

739

schaft über n, da AQ/Q > AL/L = n. Mit der Annäherung an das neue steadystate-Gleichgewicht verlangsamt sich die Wachstumsrate wieder bis zur steady-state-Rate n.

Abb. 18-6: Wirkungen eines Anstiegs der Sparquote Um die Untersuchung abzuschließen, können wir feststellen, daß in Solows Modell ein Anstieg der nationalen Ersparnis ein temporäres Ansteigen der Wachstumsrate und ein permanentes Ansteigen des Niveaus des Pro-KopfEinkommens und der Kapitalintensität zur Folge hat. Dagegen ist die steady-state-Wachstumsrate vom Anstieg der Ersparnis nicht betroffen, weil sie gleich der Zuwachsrate der Arbeitskräfte sein muß. Effekte einer höheren Wachstumsrate der Bevölkerung Eine weitere entscheidende Determinante des Wirtschaftswachstums und des Pro-Kopf-Einkommens ist die Wachstumsrate der Bevölkerung (die in unserem Modellrahmen gleich der Wachstumsrate der Erwerbspersonen ist). Wenn eine Volkswirtschaft im steady State ist, hat die Wachstumsrate der Bevölkerung zwei grundlegende Effekte. Zum einen fuhrt eine höhere Wachstumsrate der Bevölkerung zu einer höheren steady-state-Wachstumsrate, weil im langfristigen Gleichgewicht alle aggregierten Variablen (Q, K und L) in Höhe der Wachstumsrate der

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T E I L I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND W A C H S T U M

Bevölkerung steigen. Zum anderen bestimmt die Wachstumsrate der Bevölkerung, ein wie hoher Betrag aus der Ersparnis für die Kapitalerweiterung verwendet werden muß. Wir sollten daran denken, daß wegen des Wachstums des Arbeitskräftepotentials ein bestimmter Betrag der Ersparnis gebraucht wird, nur um die neuen Arbeitsplätze mit demselben Kapital auszustatten, den die bestehenden Arbeitsplätze bereits haben. Diese Kapitalerweiterung ist gleich nk. Wenn die Wachstumsrate der Bevölkerung steigt, muß ein größerer Teil der Ersparnis hierfür verwendet werden, um dies sicherzustellen, und das fuhrt zu einem Sinken des steady-state-Niveaus des Pro-Kopf-Einkommens. Das heißt, daß eine höhere Wachstumsrate der Bevölkerung, ceteris paribus, ein Sinken des Pro-Kopf-Einkommens im steady State zur Folge hat. Wir können diese Aspekte wiederum durch eine Graphik veranschaulichen: in Abb. 18-7 beschreiben wir das Gleichgewicht einer Volkswirtschaft mit zwei unterschiedlichen Wachstumsraten der Bevölkerung, n und ri > n. Der einzige Unterschied in beiden Fällen ist der, daß die Kapitalerweiterungs-Linie (n + d)k bei schnellerem Bevölkerungswachstum steiler ist. Selbstverständlich fuhrt die steilere Linie zu einem steady-state-Gleichgewicht mit einem niedrigeren Pro-Kopf-Einkommen.

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d)k

Abb. 18-7: Eine Wirtschaft mit zwei alternativen Wachstumsraten der Bevölkerung

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES WACHSTUM

741

Betrachten wir nun die Wirkungen einer sinkenden Wachstumsrate der Bevölkerung auf die Volkswirtschaft (Abb. 18-8), eine Situation, in der z.B. die Industrieländer in den letzten Jahrzehnten waren. Der Rückgang des Bevölkerungswachstums verschiebt die (« + d)&-Linie nach rechts unten. Mit der Abnahme des Bevölkerungswachstums geht die notwendige Kapitalerweiterung zurück auf ihr anfängliches steady-state-Niveau. Folglich setzt ein Prozeß der Kapitalintensivierung ein, beginnend bei ICQ, mit Ak > 0. Daher beginnt die Volkswirtschaft, sich auf der Produktionsfunktion nach rechts zu bewegen (in der Abbildung durch Pfeile markiert), bis der neue steady State erreicht ist. Dort wird die Wachstumsrate der Volkswirtschaft niedriger und das steady-state-Niveau des Pro-Kopf-Einkommens höher sein.

(n0 + d)k

Abb. 18-8: Sinken der Bevölkerungswachstumsrate Was geschieht mit dem Wirtschaftswachstum während dieser Übergangsphase? Interessanterweise senkt der Rückgang des Bevölkerungswachstums sofort die Rate des Gesamtwachstums der Volkswirtschaft, aber er erhöht auch die Pro-Kopf-Wachstumsrate. Das bedeutet: in Zeiten mit zurückgehendem Bevölkerungswachstum sinkt AQ/Q, während Aq/q steigt. Im steady State ist AQ/Q dauerhaft niedriger (und gleich nr), während Aq/q gleich Null ist.

742

TEIL IV: OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

Technologischer Wandel im Solow-Modell Bisher hat unser Modell nur zwei der drei Wachstumsquellen, nämlich Arbeit und Kapital, eingeschlossen, nicht aber den technologischen Fortschritt. Dieser läßt sich zum Glück relativ einfach in das Solow-Wachstumsmodell integrieren. Und wenn dies geschafft ist, haben wir einen erstaunlich flexiblen und aussagefahigen Analyserahmen, in dem wir das Wirtschaftswachstum bestimmen können. Wenn wir hier die Ergebnisse auch nicht formal ableiten wollen, so können wir doch die wichtigsten Schlußfolgerungen hinsichtlich des Wirtschaftswachstums mit technologischem Fortschritt aufzeigen. Der Kniff, mit dem wir den technologischen Wandel in das Modell integrieren, besteht darin, daß wir ihn in einer analytisch bequemen Weise einfuhren. Wir nehmen an, daß technologischer Wandel "arbeitsvermehrend" wirkt, womit gemeint ist, daß sich der Umfang des Arbeitsinputs einer Arbeitskraft im Laufe der Zeit erhöht, vermutlich infolge wachsender Routine, besserer Ausbildung usw. Das läßt sich in der Produktionsfunktion wie folgt ausdrücken: Q = F(K, TL). Der Parameter T für den technologischen Wandel wird direkt mit dem Wert des Arbeitseinsatzes L multipliziert.28 Ein höheres Niveau des technologischen Fortschritts, gekennzeichnet als höherer Wert von T, bedeutet, daß die durch L verfugbaren Inputs gestiegen sind. Die Arbeitsleistung pro Arbeitsstunde ist gestiegen. Der Gesamtwert für den Arbeitseinsatz, TL, wird manchmal als "effektiver Arbeitseinsatz" oder kurz als effektive Arbeit Le bezeichnet. Nehmen wir an, daß der technologische Wandel mit einer konstanten Rate 0 fortschreitet, daß also AT/T = 9 ist. In diesem Fall ist die Wachstumsrate der effektiven Arbeit gleich n + 6. Das heißt, daß die effektive Arbeit aus zwei Gründen wachsen kann: durch Bevölkerungswachstum und größere Produktivität pro Arbeitskraft. Die Wachstumsrate der effektiven Arbeit ist die Summe dieser beiden Wachstumsraten.29 Folglich erhöht der technologische Wandel die steady-state-Wachstumsrate der Volkswirtschaft, weil er die Wachstumsrate der Arbeitskraft in effektiven Werten anhebt. Mit diesem erweiterten Rahmen ist es möglich, die Wirkungen des technologischen Wandels auf das Wirtschaftswachstum abzuleiten. Die wesent28

Im ursprünglichen Solow-Modell wurde der Technologie-Parameter T mit der gesamten Produktionsfunktion multipliziert, hier nurmehr mit L. Tatsächlich wurden diese unterschiedlichen Annahmen nur w e g e n ihrer analytischen "Passform" gemacht; eine scharfsinnigere Theorie des technischen Wandels, welche die eine oder andere Form favorisiert, gibt es nicht. 29

A l s Formel ausgedrückt: Le = TL. Deshalb ist die Wachstumsrate von Le gegeben durch

ALg/Le = MIT + ALIL = Q + n.

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES WACHSTUM

743

liehen Schlußfolgerungen sind folgende: Bei positiver Rate des arbeitsvermehrenden technologischen Wandels wächst der Output im steady-stateGleichgewicht mit der Rate n + 0, der Summe von Arbeitskraftwachstum und technologischer Änderungsrate. Im steady State verändert sich der Output pro effektiver Arbeitskraft und das Kapital pro effektiver Arbeitskraft nicht. Der Output pro tatsächlicher Arbeitskraft und das Kapital pro tatsächlicher Arbeitskraft dagegen wachsen mit der Rate des technologischen Wandels 0. Daher bestimmt die Rate des technologischen Wandels die steadystate-Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens, d.h. das Output-Wachstum pro Person.

18-4 Neue Ansätze zur Erklärung des Wachstums Neuere Untersuchungen zum Wirtschaftswachstum gehen davon aus, daß die Rolle des Kapitals einschließlich des Humankapitals (als Investition in die Fähigkeiten von Arbeitskräften) größer ist als im Solow-Wachstumsmodell gemessen. Die der Forschung dabei zugrunde liegende Idee ist die, daß Kapitalinvestitionen, sei es in Maschinen oder Menschen, positive externe Effekte hervorbringen. Damit ist gemeint, daß Investitionen nicht nur die Leistungsfähigkeit des investierenden Unternehmens oder Beschäftigten, sondern auch bei anderen verwandten Unternehmen und Beschäftigten erhöhen. Das kann z.B. durch spill-over-Effekte beim Know-how neuer Technologien zwischen Unternehmen und Beschäftigten eintreten: das eine Unternehmen gewinnt neue Erfahrungen, und andere Unternehmen in der Nachbarschaft können davon profitieren. Solche spill-over-Effekte dürften eine Erklärung dafür sein, warum High-Tech-Unternehmen dazu neigen, sich in bestimmten Gebieten, wie etwa Silicon Valley nahe San Francisco oder an der Route 128 bei Boston, zu bündeln. Sofern die externen Effekte groß sind, können die Implikationen für das Wirtschaftswachstum bedeutend sein. Unter anderem würde der gemessene Anteil des Kapitaleinkommens am Gesamteinkommen den wahren Beitrag des Kapitals zum Wachstum des Outputs unterschätzen. Paul Romer von der Universität Rochester ging davon aus, daß der wahre Gesamtbeitrag einer Erhöhung des Kapitals um einen Prozentpunkt zum Wachstum des Outputs näher bei 1 als bei 0,25 liegt. 30 Die positiven externen Effekte des Kapitals wären in diesem Falle so beträchtlich, daß der traditionelle Wert (0,25) mit einem Faktor in der Größenordnung von 4 multipliziert werden müßte. 30

D i e s e Theorie wurde in zwei Arbeiten von Romer vorgestellt und untersucht: "Increasing Returns and Long-Run Growth", Journal of Political Economy, Okt. 1986 und "Crazy Explanations for the Productivity Slowdown", Marcroeconomics Annual ¡987 (Cambridge, Mass.: National Bureau o f Economic Research, 1987).

744

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

Wenn diese Folgerung zutreffend sein sollte, würde sie ein ganzes Stück zur Erklärung des Solow-Residuums beitragen, welches sich dann als zu groß herausstellen müßte, weil es in den traditionellen Modellen den Anteil des Kapital zu gering gewichtet. Diese Theorie bleibt indessen umstritten. 31 In jüngerer Zeit hat Robert Lucas ebenfalls die quantitative Bedeutung von Investitionen in das Humankapital für das Wachstum hervorgehoben. 32 Eine der bemerkenswertesten Implikationen der Theorien, die steigende Skalenerträge (oder wichtige externe Effekte von Investitionen) annehmen, ist die, daß Volkswirtschaften mit steigenden Skalenerträgen nicht notwendigerweise ein steady-state-Wachstum als Summe von Bevölkerungswachstum und arbeitsvermehrendem technischem Wandel erreichen. Vielmehr kann ein Wachstum auf höherem Niveau sich selbst erhalten ("endogen" sein, um den neuen Jargon zu gebrauchen). Im normalen Solow-Wachstumsmodell fuhrt Kapitalakkumulation mit einer höheren Rate als der Wachstumsrate der effektiven Arbeit zu abnehmenden Kapitalerträgen und einer Verlangsamung des Wachstums. Wenn die externen Effekte von Investitionen ausreichend groß sind, setzt eine Abnahme der Kapitalerträge jedoch nicht ein. Ein Ergebnis ist, daß ein Ansteigen der Sparquote eine permanente Erhöhung des Wachstums zur Folge haben könnte. (Denken wir daran, daß im Solow-Modell ein Anstieg der Sparquote keine Auswirkung auf die steady-state-Wachstumsrate hat, sondern nur auf das steady-stateNiveau des Outputs pro effektiver Arbeitskraft.) Auf einem anderen jüngeren Forschungsgebiet haben Volkswirte einen quantitativen Rahmen benutzt, um einige politische und institutionelle Faktoren zu prüfen, die Auswirkungen auf das Wachstum haben. Gerald Scully z.B. hat die Wachstumsraten von 115 Marktwirtschaften in der Periode 1960 bis 1980 verglichen, um mögliche Korrelationen von Wachstum und Maßnahmen zur politischen, persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit zu untersuchen. Er fand heraus, daß Wirtschaftswachstum in bedeutender Weise von politischen Institutionen abhängt, und insbesondere, daß das Wachstum in den Ländern am höchsten war, die politisch offen sind und das Recht auf Privateigentum schützen: 33 "The institutional framework has significant and large effects on the efficiency and growth rates of economies. Politically open societies, 31

Vgl. die Kommentare zu Romers Beitrag von 1987 im selben Band.

32

Die Sammlung seiner Marshall Lectures, 1985 in der Universität Cambridge gehalten, wurde unter dem Titel "On the Mechanics of Economic Development" herausgegeben im Journal ofMonetary Economics, Juli 1988. 33 G. W. Scully, "The Institutional Framework and Economic Development", Journal Political Economy, Juni 1988. Das Zitat findet sich auf S. 652.

of

KAPITEL 1 8 : LANGFRISTIGES W A C H S T U M

745

which subscribe to the rule of law, to private property, and to the market allocation of resources, grow at three times the rate and are two and one-half times as efficient as societies in which these freedoms are abridged."

18-5 Wirtschaftswachstum in der offenen Volkswirtschaft Das Solow-Wachstumsmodell wurde im Rahmen einer geschlossenen Volkswirtschaft vorgestellt, in der die inländischen Investitionen und die Ersparnis gleich groß sind und internationaler Handel nicht existiert. Tatsächlich steht das Wachstum einer einzelnen Volkswirtschaft natürlich in einem internationalen Kontext, welcher den Wachstumsprozeß stark beeinflussen kann. Zum einen kann ein Land Mittel als Teil seines Wachstumsprozesses leihen oder verleihen und damit die Verknüpfungen zwischen inländischer Ersparnis, inländischen Investitionen und Wachstum verändern. Zum anderen wird das Wachstum eines Landes mit den Strukturen seines internationalen Handels und dem Umfang, in dem es technologisches Know-how aus anderen Teilen der Welt importieren kann, verbunden sein. Wir wollen die Finanz-, Handels- und technologischen Aspekte von Wachstum in einer offenen Volkswirtschaft nunmehr betrachten. Wachstum und internationale Kapitalbewegungen Wir wissen, daß in einer offenen Volkswirtschaft die inländische Investition durch die ausländische und nicht allein durch die inländische Ersparnis finanziert werden kann. Wir wollen deshalb sehen, wie das Solow-Modell für eine offene Volkswirtschaft erweitert werden kann. Stellen wir uns vor, die Welt sei in zwei Regionen geteilt, deren Wirtschaften isoliert voneinander wachsen. Beide Länder haben die gleichen Wachstumsraten und befinden sich im steady-state-Gleichgewicht. Nehmen wir an, Land B hat eine höhere Sparquote als Land A. Aus unserer früheren Analyse wissen wir, daß im steady-state-Wachstum der Output pro Arbeitskraft und ebenso die Kapitalintensität in B höher als in A sein wird. Da B mehr Kapital pro Arbeitskraft als A aufwendet, wird das Grenzprodukt des Kapitals und folglich der Zinssatz in B niedriger als in A sein. Stellen wir uns nun vor, daß beide Länder sich den internationalen Kapitalströmen öffnen. Auf der Suche nach der höchstmöglichen Rendite wird Kapital von B nach A fließen. Land B wird einen Überschuß in der Leistungsbilanz (LBÜ) erwirtschaften, Land A dagegen ein Defizit (LBD), da die überschüssige Ersparnis in B Investitionsausgaben in A zu finanzieren beginnt. Schließlich werden die Kapitalintensität und der Pro-Kopf-Output in beiden Ländern trotz der unterschiedlichen Sparquoten ausgeglichen sein. Das Land mit dem niedrigen Anfangsniveau von k (und daher hohen Ren-

746

T E I L I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

diten von Investitionen) erhält einen Kapitalzufluß. Während der Übergangsphase zum neuen steady state wird das Land mit dem ursprünglichen Mangel an Kapital (Land A) eine Wachstumsrate des Outputs über der steady-state-Rate, das andere Land dagegen unter der steady-state-Rate haben. Ein einfaches Diagramm beider Länder vor und nach der Öffnung ihrer Volkswirtschaften ist in Abb. 18-9 dargestellt, wobei der Ersparnis-Investitions-Analyserahmen verwendet wird, den wir in Kapitel 6 eingeführt haben.

Land A

Land B

Abb. 18-9: Investition, Ersparnis, Zinssatz und Leistungsbilanz: der Fall einer Öffnung für Finanzströme BOX 18-2: Stadien der Leistungsbilanz Grenzüberschreitende Kapitalbewegungen haben eine wichtige Rolle für das Wirtschaftswachstum vieler Länder gespielt. Für ein Land, das mit einer geringen Kapitalintensität und vielen höchst produktiven Investitionen beginnt, dürfte es wünschenswert sein, Kapital von der übrigen Welt zu leihen, um die inländische Investition über das Niveau der inländischen Ersparnis zu erhöhen. In diesem Fall wird das Land vom Ausland Kredit aufnehmen, um ein Handelsdefizit und eine Erhöhung der inländischen Investitionsrate zu erreichen. Wenn der Kapitalstock mit der Zeit steigt, wird die Investitionsrate tendenziell sinken, und das Land kehrt zu einem Handelsüberschuß zurück. Erinnern wir uns an Kapitel 6: der Handelsüberschuß kann dazu dienen, die während der Phase der Kreditaufnahme angesammelte Schuld zu bedienen. Sollte am Ende die Investition mit der Reifung der Wirtschaft zurückgehen und die Sparquote genügend steigen, dürfte das Land in seiner

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES WACHSTUM

747

"reifen" Entwicklungsphase vom Defizit zum Überschuß in der Leistungsbilanz übergehen. Diese Logik, in der Phase schnellen Wachstums zu borgen und die Schuld in der Phase reifen Wachstums (wenn die Kapitalintensität nah an ihrem steady State ist) zurückzuzahlen, hat eine allgemeine Theorie eines "Lebenszyklus" von Kreditaufnahme und -rückzahlung hervorgebracht. Diese Theorie, bekannt als "Stadien der Leistungsbilanz", wurde zuerst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von John Cairnes aufgestellt und wird seitdem diskutiert und verfeinert. Eine populäre Formulierung besagt, daß die Länder sechs Stadien entsprechend der Lage ihrer Leistungsbilanz, Handelsbilanz, Dienstleistungsbilanz und ihrer Netto-Auslandsposition durchlaufen. Die Stadien sind in Tabelle 18-5 benannt. 34 In Stadium I nimmt das Land Kredit auf und beginnt, Schulden anzuhäufen. In Stadium II schwenkt das Land um in einen Handelsüberschuß, bleibt aber noch ein Nettoschuldner, dessen Leistungsbilanz negativ bleibt (d.h. die Zinszahlungen übersteigen den Handelsüberschuß). In Stadium III geht die Leistungsbilanz in einen Überschuß über, obwohl das Land immer noch ein Nettoschuldner ist. In Stadium IV haben die Leistungsbilanzüberschüsse schließlich eine positive Nettoauslandsposition geschaffen; das Land ist Gläubiger geworden. In Stadium V hat sich der Handelsüberschuß in ein Defizit verwandelt, weil das Land das Einkommen aus positiven Netto-Auslandsaktiva konsumiert; die Leistungsbilanz verzeichnet noch einen Überschuß. In Stadium VI ist das Land noch in der Gläubigerposition, aber das Handelsdefizit ist größer als der Überschuß in der Dienstleistungsbilanz, und die Leistungsbilanz gerät in ein Defizit. Die USA haben tatsächlich diese Stadien in etwa durchlaufen, wenn auch nicht in ihrer reinen Form (jährliche Schwankungen haben Abweichungen von dem vorgezeichneten Pfad verursacht). Wenn wir vom frühen 19. Jh. ausgehen, begannen die USA vom Ausland zu borgen, um eine Infrastruktur aufzubauen, welche ein rasches Wachstum unterstützte (z.B. durch Kanalbau in der ersten und Eisenbahnbau in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts). Die Investitionsrate als Teil des BIP stieg deutlich an, und die Investitionswelle führte zu einem beharrlichen Leistungsbilanzdefizit in den meisten 34

Die Klassifizierung der Stadien basiert auf G. Crowther: "Balances and Imbalances o f Payments", zitiert nach N. Halevi. Andere Wirtschaftswissenschaftler fanden die Aufteilung in sechs Stadien unzureichend, um den Unterschieden zwischen den Ländern Rechnung zu tragen. Nadav Halevi z.B. unterscheidet 12 Stadien in seinem Artikel "An Empirical Test of the 'Balance o f Payment Stages' Hypothesis", Journal of International Economics, Feb. 1971. A m Ende findet er, daß die Daten im sektoralen Ländervergleich die Theorie nicht stützen.

748

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK UND W A C H S T U M

Jahren dieses Jahrhunderts, besonders in der zweiten Hälfte, wie Tab. 18-6 zeigt. Bis in das zweite Jahrzehnt des 20. Jh. waren die USA ein Nettoschuldner gegenüber dem Ausland. Nach 1870 fingen die USA an, Handelsüberschüsse zu erwirtschaften. Bis 1896 hatten sie Stadium II durchlaufen und begannen, Überschüsse in der Leistungsbilanz zu machen. 1919 erreichten die USA Stadium IV und wurden Nettogläubiger. Von 1920 bis in die frühen 70er Jahre hatten die USA in fast jedem Jahr Überschüsse in der Handels- und in der Leistungsbilanz und wurden der Welt wichtigster Nettogläubiger. Zu Anfang der 70er Jahre erreichte das Land sein "Reife"-Stadium, und die Handelsbilanzdefizite wurden durch Überschüsse in der Dienstleistungsbilanz finanziert. Ende der 70er Jahre wurde Stadium VI erreicht, als die Leistungsbilanz zum ersten Mal seit Jahrzehnten trotz positiver Dienstleistungsbilanz in ein beharrliches Gesamtdefizit rutschte. Indes scheinen die USA wegen ihrer erheblichen fiskalischen Defizite über ein Jahrzehnt ein siebtes Stadium hinzugefügt zu haben: sie wurden wiederum ein großer Nettoschuldner. Während die Theorie der Leistungsbilanzstadien sehr gut auf die USA zutrifft, ist ihre generelle Anwendbarkeit noch für manchen Zweifel offen. Es gibt viele Fälle von Ländern - z.B. Australien und Kanada - , die sich in den frühen Stadien ihrer Entwicklung stark verschuldeten und große Schuldnerländer in allen Stadien bis zur wirtschaftlichen Reife blieben. Wie wir in Kapitel 6 sahen, gibt es keinen Grund, warum eine Nettoschuldner-Position sich langfristig in eine Nettogläubiger-Position verwandeln muß. Es ist allein erforderlich, daß die Schuld bedient wird, und das kann mit Überschüssen aus der Handelsbilanz geleistet werden; die Schuld muß deshalb nicht getilgt werden. Der Übergang nach Stadium III ist also für viele Länder weder theoretisch notwendig noch empirisch bestätigt. Überdies gibt es offenbar viele kapitalschwache Länder, die gleichwohl ein niedriges Grenzprodukt des Kapitals aufweisen und daher den Zufluß von Kapital nicht anziehen. Ein Land kann z.B. arm sein, weil es das Recht auf Privateigentum nicht sehr wirksam schützt. Daher könnte die private Rendite einer Investition trotz hoher gesellschaftlicher Rendite sehr gering sein, weil unvorhersehbar ist, ob sie sich auszahlt. Zum anderen könnte das Humankapital der Arbeitskräfte so niedrig sein, daß die Beschäftigten das einfließende Kapital nicht wirksam verwenden können. In beiden Fällen bliebe das Land entgegen der Theorie der Leistungsbilanz-Stadien arm und auch ohne Kapitalzufluß.

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES WACHSTUM

749

Tabelle 18-5: Stadien der Leistungsbilanz

I. II. III. IV. V. VI.

LeistungsBilanz

Handelsbilanz

Dienstl.Bilanz

NettoAuslandsposition

Defizit Defizit Uberschuß Uberschuß Uberschuß Defizit

Defizit Uberschuß Überschuß Uberschuß Defizit Defizit

Defizit Defizit Defizit Uberschuß Uberschuß Uberschuß

negativ negativ negativ positiv positiv positiv

Tabelle 18-6: US-Leistungsbilanz, Handelsbilanz und Netto-Auslandsposition 1800-1988 (Mill. US-Dollars) Durchschnitt je Dekade

Handelsbilanz

Leistungsbilanz

Netto-Auslandsposition

1800-1809 1910-1819 1820-1829 1830-1839 1840-1849 1850-1859 1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899 1900-1909 1910-1919 1920-1929 1930-1939 1940-1949 1950-1959 1960-1969 1970-1979 1980-1988

-19,3 -22,8 -3,7 -25,0 0,7 -9,2 -18,6 92,7 103,3 262,5 557,7 1.951,7 1.117,1 448,8 6.657,9 2.934,4 4.081,9 -10.383,1 -91.491,7

8,5 2,5 -0,6 -25,1 0,3 -31,3 -78.5 -24,7 -49,0 63,1 308,7 1.665,8 1.434,6 1.083,5 5.724,0 601,5 3.332,5 -440,1 -45.428,4

-82,0 -82,7 -84,6 -165,1 -217,2 -315,0 -688,6 -1.681,4 -1.952,5 -3.110,7 -3.200,5* 2.100,0t 11.250,0$ 15.533,3§ 29.433,3| 39.970,0 57.540,0 69.916,7# -90.455,6

* t t § |

Durchschnitt Durchschnitt Durchschnitt Durchschnitt Durchschnitt

nur für nur flir nur für nur filr nur für

1900 und 1908. 1914 und 1919. 1924 und 1927. 1930, 1931 und 1935. 1940, 1 9 4 5 - 1 9 4 9 .

# Durchschnitt nur flir 1970, 1972, 1974, 1976, 1978 und 1979. Quelle: Historical Statistics of the U.S. Colonial Times to 1970 und Economic Report o f the President.

750

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

Die Öffnung einer Volkswirtschaft wirkt daher in Richtung einer Schließung der Lücken zwischen Ländern in bezug auf den Pro-Kopf-Output und die Kapitalintensität. Das liefert uns allerdings keinen Grund zu glauben, daß die Wachstumsraten sich dauerhaft ändern: nach der Neuverteilung der Weltersparnis wird das steady-state-Wachstum in beiden Ländern gleich sein der Bevölkerungs-Wachstumsrate plus dem arbeitsvermehrenden technologischen Wandel. Da das Kapital dazu neigt, von kapitalstarken in kapitalschwache Länder zu fließen, gibt es Gründe für die Annahme, daß Länder in frühen Entwicklungsstadien Kapitalimporteure und erst später Kapitalexporteure sind. Dieser Gedanke ist die Grundlage der Theorie der Leistungsbilanzstadien, die in Box 18-2 erörtert wurde. Außenhandel und Wachstum: Zur Debatte über die Entwicklungsländer Finanzströme sind nur ein Weg, auf dem die internationale Wirtschaft das Wachstum eines Landes beeinflußt. Ein anderer sind die Handelsbeziehungen. In der seit den 50er und 60er Jahren geführten Diskussion über Entwicklungsstrategien für arme Länder und solche mit mittlerem Einkommen haben die Wirtschaftsforscher zwei gegensätzliche Entwicklungsmuster erkannt: bei der außenwirtschaftlichen Orientierung öffnet ein Land seine Märkte dem Ausland und fördert seinen Export. Bei der binnenwirtschaftlichen Orientierung setzt das Land dem internationalen Handel deutliche Grenzen und konzentriert sich auf die Entwicklung der heimischen Industrie, um den inländischen Markt zu bedienen; diese Strategie ist auch bekannt als das Entwicklungsmodell der Importsubstitution. Fast alle Untersuchungen der letzten 25 Jahre haben die überragenden Wachstumsleistungen außenwirtschaftlich orientierter Länder belegt. Bela Balassa von der John Hopkins Universität untersuchte das Wirtschaftswachstum einer großen Gruppe von Entwicklungsländern für die Zeit von 1963 bis 1984 und unterteilte sie in außenwirtschaftlich orientierte Länder (AOL) und binnenwirtschaftlich orientierte Länder (BOL). Unter den prominentesten Ländern in der AOL-Gruppe befanden sich die "ostasiatischen Drachen" Korea, Singapur und Taiwan, während zur BOL-Gruppe Ägypten, Argentinien, Indien, Jamaika und die Philippinen zählten. Wie Tabelle 18-7 zeigt, übertrafen die AOLs die BOLs beständig, vor allem seit der Mitte der 70er Jahre. Einzige Ausnahme hiervon waren die Jahre 1979-1982, als die AOLs drastische Anpassungsbemühungen zur Bewältigung des zweiten Ölpreisschocks unternahmen. Diese Bemühungen zahlten sich bald aus, und die AOLs gewannen ihre Führungsposition zurück.

751

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES WACHSTUM

Tabelle 18-7: Außenwirtschaftliche Orientierung und BSP-Wachstumsraten in Entwicklungsländern, 1963-1984 (Periodendurchschnitte in %)

1963--1973 1973--1976 1976--1979 1979--1982 1982--1984

Außenwirtschaftlich orientierte Länder

Binnenwirtschaftlich orientierte Länder

6,6 5,5 8,1 2,4 5,3

5,8 5,3 4,6 2,6 1,7

Quelle: Bela Balassa, "Policy Responses to Exogenous Shocks in Developing Countries", American Economic Review, Mai 1986, S. 77.

Übereinstimmend mit diesen Belegen für den Erfolg außenwirtschaftlicher Orientierung fanden empirische Studien eine starke Korrelation zwischen dem Gesamtwachstum des BIP und dem Wachstum der Exporterlöse. Länder mit erfolgreich entwickelten Exportmärkten schafften es auch, ein schnelleres Gesamtwachstum zu erreichen. Anne Krüger von der Duke Universität dokumentierte dieses Phänomen in ihrer schon klassischen Arbeit über die Liberalisierung des Handels in Entwicklungsländern. Die Erkenntnisse aus den in ihrer Studie untersuchten Ländern zusammenfassend fand sie heraus, daß das Ansteigen der Wachstumsrate der Exporterlöse um einen Prozentpunkt die Wachstumsrate des BSP um etwa 0,11 % steigen läßt.35 Eine Fülle empirischer Befunde hat bisher gezeigt, daß die außenwirtschaftliche Orientierung zu größerem Wachstum des BSP führt. Was aber steckt hinter dieser Beziehung? Eine Möglichkeit ist die Wirkung des Handels auf die Skalenerträge. In Entwicklungsländern ist die Größe des inländischen Marktes recht gering. Ein Land wie Argentinien zum Beispiel hat ein BSP in Dollars, das kleiner ist als das von Philadelphia, und die Wirtschaftskraft von Ecuador entspricht ungefähr der von Rochester im Bundesstaat New York. Bei einer Politik der Importsubstitution werden die inländischen Unternehmen ermutigt, für den heimischen Markt zu produzieren. Das engt ihren Handlungsspielraum ein, und sie verlieren die Chance, von Skalenerträgen zu profitieren. Die Öffnung des Handels vergrößert den Markt, und heimische Unternehmen können durch Verkäufe ins Ausland expandieren. Zusätzlich werden neue Unternehmen mit einem Blick sowohl für inländische als auch ausländische Märkte entstehen. Wenn Skalenerträge beAnne Krüger, Foreign Trade Regimes and Economic Development: Liberalization Attempts and Consequences ( N e w York: National Bureau o f Economic Research, Ballinger, 1978). Die Schätzungen werden in Kapitel 11 des Buches vorgetragen.

752

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

deutsam sind, kann die Öffnung zum Weltmarkt die Chance zu Industrialisierung und raschem Wachstum eröffnen. Eine offene Handelspolitik fuhrt zur Förderung des Wettbewerbs von außen, und die Effekte dieses Wettbewerbs sind eine weitere Quelle für stärkeres Wachstum. Unternehmen, die durch künstliche Restriktionen gegen das Ausland abgeschirmt sind, können hohe Preise durchsetzen und minderwertige Güter liefern. Darüber hinaus verwenden in einer weitgehend protektionistischen Wirtschaft die Geschäftsleute einen Großteil ihrer Zeit und Energie für Lobbyismus statt für die Leistungsfähigkeit ihrer Unternehmen. 36 Wenn die Grenzen aufgehoben werden, müssen die Unternehmen bessere Güter produzieren oder ihre Preise senken, um zu überleben. Dann kann Wettbewerb Produktivitätsverbesserungen in Gang bringen. In dem Ausmaß, in dem er die Produktivitätsrate (und nicht nur dessen Niveau) erhöht, kann Wettbewerb auf dem Weltmarkt eine Quelle für stärkeres Wachstum sein. Die empirische Befunde zeigen uns eine positive Beziehung zwischen Verbesserungen der Produktivität und außenwirtschaftlicher Orientierung. Dieses Phänomen wurde zum Beispiel in einer Untersuchung verschiedener Industrien in Korea, der Türkei und Jugoslawien belegt. 37 In einer Untersuchung von 20 Entwicklungsländern in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fand Hollis Chenery heraus, daß die Produktivität des gesamten Inputs mit jährlichen Raten von über 3% in den Ländern mit außenwirtschafts- und exportorientierten Strategien wuchs, während sie in stark importsubstituierenden Volkswirtschaften nur um etwa 1% zunahm. 38 Anne Krüger lieferte noch einen anderen Grund zur Erklärung der größeren Leistungsfähigkeit außenwirtschaftlich orientierter Länder. Nach ihren Erkenntnissen fördert die außenwirtschaftliche Orientierung eine bessere Wirtschaftspolitik. Wenn ein Land z.B. eine exportorientierte Strategie verfolgt, müssen seine Wirtschaftspolitiker den Wechselkurs auf einer realistischen Höhe halten, so daß die Exporte des Landes im Ausland konkurrieren können. Wird dies ignoriert, könnten Subventionen erforderlich werden, um die Rentabilität der Exporte zu verbessern, und diese belasten das Staatsbud-

36

Dieses Argument wurde erstmals vorgetragen von Anne Krüger, "The Political Economy o f the Rent-Seeking Society", American Economic Review, Juni 1974. 37

Vgl. Mieko Nishimuzu und Sherman Robinson, "Trade Policies and Productivity Change in Semi-Industrialized Countries", Journal of Development Economics, Sept./Okt. 1984. 38

Vgl. H. Chenery, "Structural Change" in: Chenery, Robinson und Syrquin, Hrsg., In-

dustrialization

and Growth,

A Comparative

Study.

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES W A C H S T U M

753

get. In einem solchen Fall werden Politiker vorsichtig sein, um unnötige Überbewertungen der Währung zu vermeiden. Ein letzter und wichtiger Grund für die Beziehung von außenwirtschaftlicher Orientierung und Wirtschaftswachstum ist der, daß außenwirtschaftlich orientierte Länder einen engeren Kontakt zu ausländischen Unternehmen haben und daher aus dem Ausland kommende technologische Verbesserungen besser aufnehmen können. Allgemein bleiben Entwicklungsländer weit hinter den Industrieländern in der Nutzung neuer Technologien zurück, und Kontakte zur Verbesserung der technologischen Transferrate können eine Hauptquelle von Produktivitätssteigerungen sein. Volkswirtschaften, die sich dem Außenhandel verschließen, verschließen sich auch oft neuen Ideen und Technologien, die im Ausland angewendet werden. Offene Volkswirtschaften und ökonomische Konvergenz Eine der Schlüsselfragen des Wirtschaftswachstums ist, ob die ärmeren Länder tendenziell schneller als die reichen Länder wachsen und somit im Lebensstandard aufschließen, d.h. konvergieren. Für diejenigen Länder, die für den internationalen Handel und Kapitalverkehr offen sind, sprechen starke Gründe für die Konvergenz. Erstens erwarten wir, daß in dem Umfang, in dem die Niveauunterschiede im Pro-Kopf-Output das Resultat unterschiedlicher Kapitalintensität sind, das Kapital von kapitalstarken hin zu den kapitalschwachen Ländern fließt und dadurch die bestehende Lücke schließt. Zweitens würden wir erwarten, daß in dem Umfang, in dem Einkommensunterschiede aus Technologieunterschieden resultieren, das technologische Know-how von den insoweit führenden zu den hinterherhinkenden Ländern fließen würde. Dies könnte in mannigfaltiger Form geschehen, u.a. durch Wissenstransfer in Form von formeller Ausbildung, Direktinvestitionen von High-Tech-Unternehmen in den benachteiligten Regionen, dem Kauf hochentwickelter Maschinen oder die Erteilung von Fertigungslizenzen an Unternehmen in diesen Regionen. Tatsächlich stellt sich die Konvergenz im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich dar. Innerhalb Westeuropas ist eine starke Neigung zu Konvergenz seit dem Zweiten Weltkrieg offensichtlich; die ärmeren Länder, wie Griechenland, Italien, Portugal und Spanien, wuchsen tendenziell schneller als die reicheren, wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande, und schlössen dadurch ganz oder teilweise die Lücken im ProKopf-Einkommen. In einer größeren Auswahl von Entwicklungs- und Indu-

754

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

strieländem spricht der Anschein zwar für eine Konvergenz zwischen reichen und armen Ländern, doch ist sie relativ schwach. 39 Zwei Arten von Erklärungen sind angeboten worden, um das Fehlen einer starken Konvergenz zwischen armen und reichen Ländern zu deuten: Zum einen, daß die Konvergenzkräfte nur dann gut zum Tragen kommen, wenn die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen in den ärmeren Ländern das Hereinfließen von fremdem Kapital und Knowhow unterstützen. 40 Wenn ein ärmeres Land politisch instabil ist oder nicht in der Lage ist, ausländische Investitionen und Rechte an Privateigentum zu schützen oder für die Ausbildung der Arbeitskräfte zu sorgen, werden die Konvergenzkräfte erheblich geschwächt. Dieser Ansatz deckt sich mit dem Umstand, daß die Länder in Westeuropa zur Konvergenz neigten, da sie einen gemeinsamen Grundrahmen von Eigentumsrechten und politischen und sozialen Institutionen haben, während die ärmeren Länder außerhalb Europas nicht schneller als die reicheren Länder wachsen konnten. Dieses Argument würde auch dem Umstand Rechnung tragen, daß einige der ärmeren Länder, vor allem in Ostasien, über mehr als zwanzig Jahre mit sehr hohen Raten wachsen konnten, indem sie günstige Bedingungen für hohe Investitionsraten und den Zufluß von Kapital und Technologie aus dem Ausland schufen. Ein zweiter Ansatz zur Erklärung der Konvergenzschwäche beruht auf den schon früher erwähnten neuen Wachstumstheorien von Romer und Lucas. Unter gewissen theoretischen Bedingungen, die beide Autoren erforscht haben, führt ein anfanglicher Vorsprung an Pro-Kopf-Humankapital eines Landes gegenüber einem anderen zu einem permanent unterschiedlichen Einkommensniveau beider Länder. Wenn die externen Effekte im Zusammenhang mit dem Humankapital stark sind, erreicht das reichere Land einen genügend höheren Output als Folge seiner besseren Ausstattung mit Humankapital, um die Führungsposition gegenüber dem anderen Land unbegrenzt behaupten zu können, indem genügend neue Ersparnisse und Investitionen geschaffen werden.

Ein neuerer Überblick über die theoretischen Probleme und die empirische Evidenz von wirtschaftlicher Konvergenz für verschiedene Ländergruppen findet sich bei: Robert J. Barro und Xavier Sala-i-Martin, "Convergence Across States and Regions", Brookings Papers on Economic Activity, 1: 1991. Barro und Sala-i-Martin finden deutliche Anzeichen einer Konvergenz zwischen den US-Bundesstaaten und innerhalb Europas und eine viel schwächere Evidenz bei einer breiten Auswahl von Entwicklungs- und Industrieländern. 40

Eine Erörterung dieses Gesichtspunktes findet sich in: Moses Abramovitz, "Catching

Up, Forging Ahead, and Falling Behind", The Journal Juni 1986, S. 3 8 5 - 4 0 6 .

of Economic

History,

Bd. 4 6 Nr. 2,

KAPITEL 1 8 : LANGFRISTIGES W A C H S T U M

755

Wenn die neuen Wachstumsmodelle korrekt sein sollten, böten sie den ärmeren Ländern die trübe Aussicht, daß sie dauernd den reicheren Ländern hinterherhinken müssen. Solange die Theorien von Wachstum und Konvergenz noch nicht zwingend schlüssig sind, erlaubt das Gewicht ihrer empirischen Evidenz - gestützt von den Fällen in Ostasien und Europa - nur die Schlußfolgerung, daß die ärmeren Länder die Möglichkeit zur Konvergenz haben, wenn sie die geeigneten rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen schaffen. Wachstum in Europa nach 1992 Einige der Argumente zugunsten außenwirtschaftlicher Orientierung und wirtschaftlicher Integration haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Europäische Gemeinschaft (EG) zur Entwicklung des Projekts '92 zu ermutigen und einen einzigen einheitlichen Markt durch Abbau noch bestehender Handelsschranken zu schaffen. Volkswirte erwarten, daß Europa einen Output-Anstieg und vielleicht sogar eine nachhaltige Steigerung des Wirtschaftswachstums als Folge des Projekts '92 durch dessen Effekte einer noch effizienteren Ressourcennutzung erfahren wird. Der Ceccini-Report, vorbereitet vom wirtschaftlichen Beraterstab der EG, hat versucht, diese Ziele zu quantifizieren. Der Report schätzt, daß Europa einen kumulierten Effizienzgewinn in Höhe von 2,5-6,5% seines GesamtBIP, verteilt über die nächsten Jahre, als Folge von verbessertem Wettbewerb und stärkeren Integration der Märkte in der EG erhalten wird. 41 Dieser Gesamtnutzen wird indessen nicht sofort erreicht, sondern sich vielmehr über einige Jahre nach 1992 verteilen. Die in dem Report festgestellten Effizienzgewinne können als eine Aufwärtsverschiebung der Produktionsfunktion im Standardmodell von Solow (von q nach q') beschrieben werden, wie Abb. 18-10 zeigt. Beim anfänglichen Kapitalstock k*A steigt der Output von q*A auf q'A. Einige Untersuchungen jüngeren Datums haben herausgefunden, daß die Berechnungen des Ceccini-Reports die voraussichtlichen Gewinne für Europa unterschätzen. Richard Baldwin von der Columbia Universität erkennt zwei Wege, die zur Unterschätzung führten. 42 Baldwin stellt heraus, daß der Ceccini-Report nicht die mittelfristigen Wirkungen der anfänglichen Effizienzgewinne berücksichtigt und ebenso nicht der Möglichkeit Rechnung trägt, daß die Skalenerträge der Produktion nach der Vereinigung der Märk-

41

Paolo Ceccini, The European Challenge, 1992: The Benefits of a Single Market, Brookfield, VT: Gower, 1988. 42

Richard Baldwin, "The Growth Effects of 1992", Economic Policy, Okt. 1989.

756

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

te die Wachstumsrate in Europa erhöhen Diese beiden Argumente wollen wir getrennt untersuchen.

(/i + d)k

Abb. 18-10: Die Effekte von Europa '92 im Solow-Modell Die mittelfristige Wirkung wird aus einer simplen Anwendung des in Abb. 18-10 gezeigten Solow-Wachstumsmodells deutlich. Nach dem anfanglichen Anstieg von qauf q'A, dem im Ceccini-Report gemessenen statischen Effizienzgewinn, wird das höhere Niveau des Outputs die Menschen dazu fuhren, mehr zu sparen und zu investieren. Sowohl der Output, als auch das Kapital werden zu wachsen beginnen, und ein neuer steady State wird in Punkt B erreicht werden, mit einem Pro-Kopf-Output von q*ß und einer Kapitalintensität von k*B. Folglich ist der in Ceccinis Berechnung nicht berücksichtigte Wachstums-"Bonus" die Differenz zwischen q'A und q*ß in der Abbildung. Es gibt eine weitere Möglichkeit: nach den neuen Wachstumsmodellen von Romer und Lucas, die wir in Abschnitt 18-4 erörtert haben, können die Effizienzgewinne zu einem permanenten Anstieg nicht nur des Pro-Kopf-

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES WACHSTUM

757

Einkommens, sondern auch der Wachstumsrate führen. Wenn die Investitionen bedeutende externe Effekte haben, und wenn die Integration des europäischen Marktes die Investitionsrate anhebt (was wahrscheinlich ist, sofern die Rentabilität steigt als Folge eines größeren vereinigten Marktes, auf dem die europäischen Unternehmen ihre Produkte verkaufen können), dann wird das Ergebnis eine nachhaltige Steigerung der europäischen Wachstumsrate sein. 43 Aus diesen Gründen dürfte der Nutzen der europäischen Integration deutlich höher als im Ceccini-Report angenommen sein. Baldwin hat errechnet, daß als Folge der Skalenerträge die langfristige jährliche Wachstumsrate in Europa um 0,2 bis 0,9 Prozentpunkte ansteigen dürfte. Bei Berücksichtigung aller Effizienzeffekte und des Gegenwartswerts der künftigen Einkommensgewinne errechnet Baldwin, daß der Gesamnutzen von Europa '92 zwischen 11 und 35% des laufenden BIP der EG liegen dürfte. 18-6 Makropolitik zur Förderung des Wachstums Was bestimmt eigentlich das Wachstum des Outputs? Das Solow-Modell besagt, daß nur ein höheres Bevölkerungswachstum und schnellerer technologischer Wandel eine permanente Erhöhung der Wachstumsrate fördern können. Andererseits dürften höhere Ersparnisse und Investitionen eine temporäre Erhöhung des Wachstums und eine dauerhafte Erhöhung des ProKopf-Einkommens bewirken. In den neuen Theorien, die von externen Effekten von Investitionen ausgehen, produziert eine höhere Sparquote tatsächlich eine permanente Erhöhung der Wachstumsrate. Wir können zumindest allgemein sagen, daß für ein höheres Tempo des Wirtschaftswachstums eine gewisse Kombination von höherem Wachstum des Kapitalstocks, des Arbeitseinsatzes und des technologischen Fortschritts erforderlich ist. Nun fragen wir, ob der Staat mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen durch Steigerung der Spar- und Investitionsraten, der Zahl der Erwerbstätigen sowie des technologischen Fortschritts das Wachstum fördern kann. Ohne Zweifel gehören zu den wichtigsten politischen Maßnahmen solche auf dem Gebiet der mikroökonomischen Politik, wie etwa der Schutz der Rechte an Privateigentum, die Aufrechterhaltung eines politisch stabilen Umfeldes und die Förderung der internationalen Integration durch eine Politik des freien Handels. Wir wollen jedoch bei unserem Grundthema bleiben

43

Ein theoretisches Modell, das aufzeigt, wie wirtschaftliche Integration die langfristige Wachstumsrate steigern kann, findet sich bei Luis A. Rivera-Batiz und Paul Romer, "Economic Integration and Endogenous Growth", NBER Working Paper, No. 3 5 2 8 , Dez. 1990.

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TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK UND W A C H S T U M

und unsere Aufmerksamkeit den möglichen makropolitischen Mittel zuwenden. Ersparnis und Investition In einer geschlossenen Volkswirtschaft oder einer solchen ohne Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten fuhrt der einzige Weg zu mehr Investition über mehr Ersparnis. In diesem Fall gibt es einen offensichtlichen tradeoff: zusätzliches Wachstum durch schnellere Kapitalakkumulation bedeutet weniger Konsum in der Gegenwart. Natürlich sollte eine Regierung nicht versuchen, die Sparquote um jeden Preis zu maximieren, da dies die jetzigen Konsumenten unnötig hart bestrafen würde. Es gibt eine optimale Sparquote, zugegebenermaßen schwer zu messen, die durch die Zeitpräferenzrate einer Gesellschaft, d.h. durch den Wert, den sie dem zukünftigen in Verhältnis zum gegenwärtigen Konsum beimißt, gegeben wird. Wenn Investitionsvorhaben eine Rendite versprechen, die es lohnend erscheinen läßt, dafür auf gegenwärtigen Konsum zu verzichten, dann sollten sie durchgeführt werden. Nach der Theorie der optimalen Sparquote lassen sich Gegenwart und Zukunft am besten ausbalancieren, wenn das Grenzprodukt des Kapitals (GPK) gleich der Rate der Zeitpräferenz plus der Bevölkerungswachstumsrate ist; diese berühmte Beziehung wird als "Politik der modifizierten goldenen Regel" bezeichnet. 44 In einer offenen Volkswirtschaft mit freier Kapitalmobilität dagegen müssen Investition und Ersparnis nicht gleich groß sein, da das Land auf ausländischen Märkten zum internationalen Zinssatz Kapital leihen oder verleihen und damit Leistungsbilanzdefizite eingehen kann. Einzig wichtig bei der Frage inländischer Investition ist, ob das Investitionsvorhaben genügend Rendite abwirft, um die Zinsen auf das Auslandsdarlehen zu decken. In diesem Fall bestimmt der Weltzinssatz die inländische Investition, während die inländische Ersparnis das Wachstum des Einkommens (BSP), aber nicht notwendigerweise das des Outputs (BIP) bestimmt. Ebenso muß eine höhere inländische Ersparnis nicht notwendigerweise höhere Investitionen zur Folge haben, sondern einfach eine Verminderung der Netto-Auslandsverschuldung. Ist das Land jedoch von den internationalen Kapitalmärkten abgeschnitten, wird die höhere inländische Ersparnis höhere inländische Investitionen 44

Diese Regel ist in einem mathematisch ausgetüftelten Modell des Wirtschaftswachstums abgeleitet. Für eine weitergehende Erörterung der "Politik der modifizierten goldenen Regel" siehe: Olivier Blanchard und Stanley Fischer, Lectures on Macroeconomics (Cambridge, Mass.: M I T Press, 1989), S. 45. Diese Formel bezieht sich auf einen Fall ohne langfristigen technologischen Wandel; existiert ein solcher, so muß die Formel geringfügig geändert werden.

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES WACHSTUM

759

zur Folge haben. In diesem Falle könnte der Staat in der Lage sein, die Kapitalbildung durch Anreize zum privaten Sparen zu fördern, etwa durch Senkung der Steuersätze auf Zinseinkünfte. So wurde z.B. behauptet, daß die hohen Sparquoten in Japan zum Teil Folge einer günstigen steuerlichen Behandlung von Zinseinkünften ist. Gleichwohl ist die empirische Evidenz zur Wirksamkeit von Steuerpolitik zur Steigerung der Ersparnis noch nicht schlüssig. Bis jetzt beschäftigte sich die Erörterung nur mit dem privaten Sparen. Die nationale Ersparnis kann jedoch auch durch eine Erhöhung der staatlichen Ersparnis oder die Minderung seiner Verbindlichkeiten bei bestehendem Budgetdefizit erhöht werden. 45 Das US-Staatsdefizit stieg z.B. in den 80er Jahren atemberaubend. Nachdem es 1986 mit mehr als 220 Mrd. $ seine Spitze erreicht hatte, sank es 1987 auf 150 Mrd. $. Sodann stieg es erneut und erreichte 1990 die Höhe von 220 Mrd. $. Das sind noch bemerkenswerte 4,1% des BIP an staatlichem "Entsparen", welche die Gesamtrate der Ersparnis des Landes mindert, wenn man annimmt, daß (wie es der Fall zu sein scheint) ein Anstieg der privaten Ersparnis nicht die niedrige Höhe der staatlichen Ersparnis kompensiert. Eine Minderung des Defizits würde tendenziell die nationale Sparquote erhöhen. Eine andere Möglichkeit, um zur Kapitalbildung anzuspornen, besteht darin, daß der Staat direkt in die Investitionen eingreift. In Kapitel 5 hatten wir die Wirkungen einer erhöhten Steuervergünstigung für Investitionen, die auf diese wie eine Subvention wirkt, untersucht. Die Einführung einer solchen Steuervergünstigung könnte die Höhe der Gesamtinvestition steigern, wenn wir davon ausgehen, daß eine solche Politik nicht nur die Investitionsneigung in einzelnen Bereichen auf Kosten anderer Bereiche fördert.46 Der Staat könnte auch direkt seine eigenen Investitionsausgaben erhöhen, vor allem im Bereich der Infrastruktur. Zunehmend wird deutlicher, daß staatliche Investitionen in die Infrastruktur deutliche Auswirkungen auf die Ge45

In den meisten Ländern kann das Defizit des öffentlichen Sektors nicht direkt als staatliche Verbindlichkeit interpretiert werden, weil die Staatsausgaben öffentliche Investitionen einschließen. Daher lautet die Beziehung richtig: DEFpu = Ipu - Spu. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der USA ordnen alle Investitionen dem privaten Sektor zu, und daher decken sich staatliches Defizit und staatliche Verbindlichkeiten. 46

Lawrence Summers hat ausgerechnet, daß von 1981 an eine Erhöhung der Steuervergünstigungen für Investitionen [investment tax credit - ITC] von 5,6% auf 11,2% die Höhe der Investitionen in den USA innerhalb von 10 Jahren um 9,4 Prozent gesteigert hätte. Er zeigte, daß eine Erhöhung der ITC einen größeren Investitionsanreiz pro Dollar an entgangenen Steuereinkünften birgt als Steuersenkungen, die neues und altes Kapital gleichermaßen treffen. Siehe seinen Beitrag "Taxation and Corporate Investment: A q Theory Approach", Brookings Papers on Economic Avtivity, 1: 1981.

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TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK UND WACHSTUM

samtwachstumsrate haben. Offensichtlich haben Investitionen in die Infrastruktur einen hohen gesellschaftlichen Ertrag. 4 7 Arbeitsleistungen Welche Instrumente hat ein Staat, um den Umfang der angebotenen Arbeitsleistungen zu erhöhen? Eine Möglichkeit wäre die Senkung der Steuersätze auf Arbeitseinkommen. Sie würde zu einer Erhöhung des Reallohns nach Steuern fuhren, und dies wiederum würde tendenziell das Arbeitsangebot erhöhen. 48 Dessenungeachtet ist die entscheidende Frage, sei es bei Steuersenkungen bei Arbeitseinkommen oder bei der Ersparnis, sei es bei Investitionssubventionen, wie der Staat seine Einnahmeverluste ausgleicht. Steuern sind zwar fast immer verzerrend, das kann aber nicht bedeuten, daß sie abgeschafft werden sollten. Schließlich haben die durch Steuern finanzierten staatlichen Leistungen auch ihren Wert. Das Ziel muß es folglich sein, das Steuersystem so effizient wie möglich bei jeder Höhe der Staatseinnahmen zu gestalten und zur gleichen Zeit die Verzerrungsverluste der Steuererhebung mit dem Nutzen höherer öffentlicher Ausgaben in Einklang zu bringen. Ein anderer Weg zur Erhöhung der Arbeitsleistungen ist die Erhöhung der Produktivität der Erwerbstätigen durch Erhöhung des Humankapitals, was wir als nächstes erörtern wollen. Produktivität Effektive Strategien zur Verbesserung der Produktivität zu entwerfen ist eine trickreiche Angelegenheit. Wenn jedoch die neuen Wachstumstheorien zurecht davon ausgehen, daß technologische Verbesserungen mit der Kapitalbildung verbunden sind, und den Investitionen deutliche positive externe Effekte zukommen, wären das kraftvolle Argumente, um zu Investitionen zu ermutigen. Wenn der Staat dies tut, wird er den technologischen Wandel fordern und dadurch das Wachstumspotential verbessern. In den von Robert Lucas entwickelten neuen Wachstumstheorien hängt das Produktivitätswachstum stärker mit Investitionen in das Humankapital

47 Siehe z.B. David Aschauer, "Is Public Expenditure Productive?", Journal of Monetary Economics, März 1989, und Robert Barro, "A Cross-country Study o f Growth, Savings, and Government", N B E R Working Paper, N o . 2855, Feb. 1989 48

Erinnern wir uns aber an Kap. 4, daß ein Anstieg der Löhne nach Steuern einen ambivalenten Effekt auf das Arbeitsangebot hat: Der Substitutionseffekt hebt das Arbeitsangebot, der Einkommenseffekt senkt es tendenziell. Die empirischen Befunde legen nahe, daß der Substitutionseffekt bei einer Steuersenkung für Arbeitseinkommen dominiert.

761

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES WACHSTUM

als in physisches Kapital zusammen. 49 Lucas hat auch argumentiert, daß jemand, der in sein Humankapital investiert, nicht nur seine eigene Produktivität steigert, sondern auch die Produktivität anderer; mit anderen Worten, daß von Investitionen in das Humankapital positive externe Effekte ausgehen. Nach seiner Einschätzung sind diese Effekte ganz erheblich. Und tatsächlich findet er, daß in den USA die Elastizität des Outputs, bezogen auf die externen Effekte von Investitionen in das Humankapital auf die Produktion, einen Faktor von 0,4 hat. Folglich wird eine 10%ige Erhöhung der positiven externen Effekte des Humankapitals in eine Erhöhung des Outputs um 4% umgesetzt. Die Schlußfolgerung lautet, daß Bildung und Erziehung, Berufsausbildung, sowie andere Maßnahmen zur Verbesserung des Humankapitals vom Staat subventioniert werden sollten, und das vielleicht noch stärker als derzeit. Schließlich haben auch Forschung und Entwicklung (F&E) einen Steigerungseffekt auf die Produktivität. Um deren Wirkungen auf den Output zu schätzen, sehen Wirtschaftsanalytiker generell Forschung und Entwicklung als eine andere Form des Kapitals und eine zusätzliche Variable in der Produktionsfunktion an. Dieser Vorgehensweise folgend hat die empirische Forschung für die USA geschätzt, daß die Elastizität des Outputs in bezug auf das F&E-Kapital zwischen 0,06 und 0,1 liegt, daß also eine 10%ige Erhöhung des F&E-Kapitalstocks eine Erhöhung des Outputs um 0,6 bis 1% bewirkt. 50 Und wiederum gilt, daß Steuervergünstigungen der erste Weg zur Steigerung der F&E-Ausgaben sein können; gleichwohl muß auch hier der übliche trade-off zwischen Steuersenkungen und dem Nutzen staatlicher Leistungen sorgfaltig abgewogen werden.

18-7 Zusammenfassung Wenn Volkswirtschaften auch zeitweise konjunkturelle Abschwünge erleiden, so erleben sie doch in der Tendenz ein langfristiges Wachstum, das sich in anhaltenden Erhöhungen des Gesamt-BSP und des BSP pro Kopf niederschlägt. Langfristiges Wirtschaftswachstum und insbesondere anhaltendes Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens ist indessen erst in den letzten 200 Jahren charakteristisch für die Weltwirtschaft. Die Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums lassen sich bis in die Anfänge der Industrialisierung zurückverfolgen. 49

Vgl. R. Lucas, "On the Mechanics of Economic Development", Journal Economics, Juli 1988. 50

of

Monetary

Zu diesen Ergebnissen kamen Zvi Grilliches und andere in einer Reihe von Arbeiten. Für einen neueren Überblick siehe Zvi Grilliches, "Productivity Puzzles and R&D: Another Nonexplanation", Journal of Economic Perspectives, Herbst 1988.

762

TEIL I V : O U T P U T , STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

Das Wachstum verursacht Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur. In wachsenden Volkswirtschaften wurde ein weitgehend übereinstimmendes Entwicklungsmuster beobachtet: Zuerst sinkt der Anteil des Agrarsektors am Gesamtoutput und der Beschäftigtenzahl. Als Gegenstück zum Schrumpfen dieses Teils einer Volkswirtschaft wächst zuerst der industrielle Sektor und später dann der Dienstleistungssektor. Auch die Urbanisierung, d.h. die Zusammenballung der Bevölkerung in dicht besiedelten Räumen, ist ein Weggefahrte des Wachstums. Um die Quellen für Wirtschaftswachstum zu untersuchen, beginnt das Rechenschema für das Wachstums mit einer aggregierten Produktionsftinktion für die Volkswirtschaft. Danach ist die Wachstumsrate des Gesamtoutputs die Summe von drei Termen: (1) der Rate des technologischen Fortschritts; (2) der Zuwachsrate des Arbeitseinsatzes, gewichtet mit dem Anteil der Arbeit am Output; (3) der Rate des Kapitalwachstums, gewichtet mit dem Anteil des Kapitals am Output. Um dieses Rechenschema empirisch anzuwenden, kann man auf Informationen über die Wachstumsraten von Arbeit und Kapital, über beider Anteil am Output und über das Wachstum des Outputs zurückgreifen. Der technische Fortschritt allerdings ist nicht direkt beobachtbar und wird üblicherweise als das Solow-Residuum, der Differenz zwischen der gemessenen Wachstumsrate des Outputs und dem Teil dieses Wachstums, das auf Kapital und Arbeit zurückgeht, rechnerisch ermittelt. Frühere Anwendungen dieses Rechenschemas auf die USA deckten auf, daß der größte Teil des Outputwachstums in diesem Jahrhundert auf das Konto dieses Solow-Residuum geht. Aus diesem Ergebnis hat man abgeleitet, daß der technologische Wandel eine bedeutende Rolle für das Gesamtwachstum gespielt hat. Das Produktivitätswachstum sank in den Industrieländern nach 1973 deutlich. Seitdem sind viele Erklärungen für dieses Phänomen entwickelt worden, vor allem mit Bezug auf die USA, doch keine hat sich als überzeugend herausgestellt. Einige Wirtschaftsforscher hoben hervor, daß die Ölpreisschocks der 70er Jahre eine schnelle Veralterung des Kapitalstocks verursacht und restriktive makropolitische Reaktionen zur Inflationsbekämpfung ausgelöst haben. Andere Faktoren, die erwähnt werden, sind die Kosten einer stärkeren staatlichen Reglementierung und der Kriminalität, der Rückgang der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, sowie mögliche Meßprobleme. Robert Solow vom MIT, der das Rechenschema für Wachstum vorgestellt hat, entwickelte auch ein Wachstumsmodell, das bis heute der wichtigste theoretische Untersuchungsrahmen für die Analyse der Beziehungen von Ersparnis, Kapitalakkumulation und Wachstum geblieben ist. In der einfach-

KAPITEL 18: LANGFRISTIGES W A C H S T U M

763

sten Version des Solow-Modells ist der Pro-Kopf-Output eine steigende Funktion der Kapitalintensität und des Standes der Technik, ist (unter den Bedingungen einer geschlossenen Volkswirtschaft) die Höhe der Ersparnis gleich der Investition, und die Rate des Bevölkerungswachstums wird als konstant und exogen angenommen. Im steady-stale-Gleichgewicht wachsen Kapital, Arbeit und Output mit der gleichen Rate, die durch die exogene Rate des Bevölkerungswachstums bestimmt wird. Das Solow-Wachstumsmodell zeigt mehrere interessante Resultate: Ein Ansteigen der Sparquote fuhrt zu einer dauerhaften Zunahme des Pro-KopfOutputs und der Kapitalintensität, nicht aber der steady-state-Wachstumsrate der Volkswirtschaft. Eine höhere Wachstumsrate der Bevölkerung fuhrt zu einer höheren Wachstumsrate der Volkswirtschaft, aber zu einem niedrigeren steady-state-Niveau des Pro-Kopf-Outputs. Technischer Fortschritt erlaubt ein schnelleres, dauerhaftes Wachstum. Die neueren Wachstumsmodelle von Romer und Lucas gehen davon aus, daß der Beitrag des Kapitals zum Wachstum im traditionellen Solow-Modell unterschätzt wird, da der Einsatz von Kapital externe Effekte hervorruft. In diesen neuen Modellen führen, im Gegensatz zum Solow-Wachstumsmodell, höhere Sparquoten zu höheren steady-state-Wachstumsraten. Das Solow-Modell läßt sich leicht für die Rahmenbedingungen einer offenen Volkswirtschaft erweitern. Eine der Implikationen einer offenen Wirtschaft ist die, daß innerhalb eines Landes die Höhe von Ersparnis und Investition nicht gleich sein muß. Wenn die Zinssätze sich von Land zu Land anzugleichen neigen, wird die Ersparnis von kapitalstarken in kapitalschwache Länder fließen. Kapitalintensität und Pro-Kopf-Output zeigen eine Tendenz zur Konvergenz. Tatsächlich haben internationale Kapitalströme in vielen Ländern eine wichtige Rolle bei der Finanzierung des Wirtschaftswachstums gespielt, und das Muster der Kapitalströme zwischen reichen und armen Ländern hat zu einer Theorie der Stadien der Leistungsbilanz geführt. Ein anderer Aspekt des Wachstums in einer offenen Volkswirtschaft ist die Beziehung der Handelspolitik zum Wachstum. Die Diskussion über Entwicklungsstrategien für arme Länder und solche mit mittlerem Einkommen hat sich auf zwei gegensätzliche Strategien konzentriert: bei außenwirtschaftlicher Orientierung öffnet ein Land seine Märkte dem Ausland und fordert den Export; bei binnenwirtschaftlicher Orientierung (oder Importsubstitution) setzt dagegen ein Land dem internationalen Handel deutliche Schranken und konzentriert sich auf die Entwicklung der inländischen Industrie zur Befriedigung des inländischen Marktes. Fast alle Untersuchungen der letzten 25 Jahre haben die Überlegenheit außenwirtschaftlich orientierter Länder in ihrer Wachstumsleistung belegt.

764

TEIL I V : OUTPUT, STABILISIERUNGSPOLITIK U N D W A C H S T U M

Was kann staatliche Wirtschaftspolitik zur Förderung des Wachstums tun? Ein höheres Tempo des Wirtschaftswachstums erfordert eine bestimmte Kombination von höherem Wachstum des Kapital stocks, des Arbeitseinsatzes oder des technologischen Fortschritts. Auf mikroökonomischer Ebene können Regierungen Maßnahmen treffen, die eine größere inländische Ersparnis und Investitionen durch eine liberale Handelspolitik, politische Stabilität und den Schutz privater Eigentumsrechte begünstigen. Auf makroökonomischer Ebene kann der Staat fiskalpolitische Anreize zum Sparen, Investieren und zu Ausgaben in Forschung und Entwicklung geben. Ebenso können vorhandene Budgetdefizite reduziert und damit die nationale Sparquote erhöht werden. Schlüsselbegriffe Langfristiges Wirtschaftswachstum Skalenerträge Produktivitätsverlangsamung Kapitalintensivierung Arbeitsvermehrender technologischer Fortschritt Außenwirtschaftliche Orientierung Entwicklungsmuster Agglomerationsvortei le Pro-Kopf-Output Steady State

Steigende Skalenerträge Binnen wirtschaftliche Orientierung

Industrialisierung Solow-Residuum Kapitalintensität Stabilität Positive externe Effekte Importsubstitution Urbanisierung Technologischer Fortschritt Kapitalerweiterung Konvergenztheorie Stadien der Leistungsbilanz Modifizierte goldene Regel

Probleme und Fragen 1. Angenommen, die Produktionsfunktion des Landes A ist: Q = Q(K, L,T) = TP'* Z, 1/4 a. Zeigt diese Produktionsfunktion konstante oder steigende Skalenerträge? b. Schreiben Sie die Produktionsfunktion in Pro-Kopf-Größen. c. Angenommen, es gibt keinen technologischen Fortschritt, und Kapital und Arbeit wachsen mit der konstanten Rate n. Wie hoch ist die Wachstumsrate des Outputs? Wie groß sind die Beiträge von Arbeit und Kapital zu diesem Wachstum? Berechnen Sie dies mathematisch. 2. Erklären Sie die folgende Aussage aus dem Economic Report of the President 1991: "Um ein starkes Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, müssen die USA eine hohe Investitionsrate in neues Kapital und neue Technologien beibehalten. Das wiederum erfordert einen angemessenen Strom der nationalen Ersparnis. Die erheblichen Defizite des Bundesbudgets in den

KAPITEL 1 8 : LANGFRISTIGES W A C H S T U M

765

letzten Jahren haben die Rate der nationalen Ersparnis gesenkt. Eine gesunde wachstumsorientierte Finanzpolitik macht daher die Reduzierung dieses Defizits erforderlich." 3. Diskutieren Sie die Aussage: "Höhere Lohnsätze nach Steuern fuhren zu einem höheren Output". 4. Wie kann ein Land sein Investitionsniveau ohne Beeinträchtigung seines laufenden Konsums erhöhen? Wo liegen die Grenzen dieser Option, sofern es welche gibt? 5. Angenommen, die Sparquote eines Landes sinkt. Wenn Sie vom steady State im Solow-Modell ausgehen, wird das welche Auswirkungen auf die Kapitalintensität, den Pro-Kopf-Output und das Output-Wachstum haben? Unterscheiden Sie sorgfältig zwischen der Übergangsphase und dem neuen steady State. 6. Kommentieren Sie die folgende Aussage: "Internationaler Handel kann das langfristige Wachstum dadurch fördern, daß er zu technologischen Innovationen ermutigt". 7. Wie wird es sich im Rahmen des Solow-Modells auf die Rate des Wirtschaftswachstums auswirken, wenn ein Land durch Krieg zerstört wurde? Deckt sich Ihre Antwort mit den Erfahrungen in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg? 8. Welche Wirkungen dürfte Ihrer Meinung nach das US-Einwanderungsgesetz von 1990, das die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften fördert, auf das langfristige Wirtschaftswachstum der USA haben? 9. Durch welche wesentliche Annahme unterscheiden sich die neuen Wachstumstheorien vom Solow-Modell? Welche Implikation hat diese Annahme für die Quellen des Wachstums? 10. Diskutieren Sie mindestens drei unterschiedliche Wege, auf denen eine außenwirtschaftliche Orientierung dem Wachstum forderlich sein kann.

Kapitel 19

Theorie und Praxis der Wirtschaftspolitik Seit Anbeginn der ökonomischen Analyse stand die Rolle der Wirtschaftspolitiker im Zentrum einer anhaltenden Diskussion, nicht allein unter Wirtschaftswissenschaftlern, sondern auch unter Journalisten und in der breiten Öffentlichkeit. Die Entscheidungen von Wirtschaftspolitikern berühren das Leben und die Wohlfahrt eines jeden in der Volkswirtschaft, und in vielen Fällen greifen die Auswirkungen über die nationalen Grenzen auf andere Volkswirtschaften über. Es kann daher nicht überraschen, daß viele der bedeutenden Fortschritte der Wirtschaftswissenschaften im Kontext hitziger Debatten über bestimmte wirtschaftspolitische Themen entstanden sind. Ein Teilgebiet der ökonomischen Theorie widmet sich der Erforschung der wichtigen Frage, wie Wirtschaftspolitiker handeln sollten; dies ist die normative Theorie der Wirtschaftspolitik. Die dabei gestellten Fragen kreisen um einige Hauptthemen: Sollten die Träger der Wirtschaftspolitik aktiv in die Volkswirtschaft eingreifen, oder sollten sie ihre Interventionen auf ein Minimum beschränken und den Markt ungehindert agieren lassen? Sofern sich Wirtschaftspolitiker zur Intervention entscheiden, welches sind die wirkungsvollsten Instrumente zur Erreichung ihrer Ziele? Auf welche Weise läßt sich die optimale Politik am besten ermitteln? Ein weiteres Teilgebiet der Wirtschaftstheorie, das Überschneidungen mit der Politikwissenschaft aufweist, untersucht, wie die Wirtschaftspolitiker tatsächlich handeln; dies ist die positive Theorie der Wirtschaftspolitik. Dabei wird zu erklären versucht, warum die Träger der Wirtschaftspolitik so handeln, wie sie es tatsächlich tun. Deren Handlungen sind vielen Einflüssen unterworfen: politischem Druck, institutionellen Beschränkungen, ökonomischen Theorien und sich verändernden praktischen Zielen. Die positive Theorie erforscht die Wirtschaftspolitik aus dieser und anderen Perspektiven sowohl innerhalb des jeweiligen Landes als auch im Ländervergleich. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf die normative Theorie der makroökonomischen Politik. Wir beginnen mit dem sog. "Tinbergen-System", das den Ausgangspunkt der meisten normativen Theorien der Wirtschaftspolitik bildet. Wir werden fortfahren, die Begrenzungen dieser grundlegenden Theorie zu untersuchen und weitere Themen einzuführen: das Problem der Unsicherheit, die Instabilität ökonometrischer Modelle, die zur Analyse der Wirtschaftspolitik verwendet werden (die sog. "Lucas-Kritik"), die Frage der Regelbindungen, der diskretionären Handlungen und der Zeit-

768

TEIL IV: SPEZIELLE FRAGEN

inkonsistenz. Am Ende des Kapitels wenden wir uns einigen Modellen zu, die in der positiven Analyse der Makropolitik Verwendung finden. 19-1 Die grundlegende Theorie der Wirtschaftspolitik Die grundlegende Theorie der Wirtschaftspolitik wurde in systematischer Weise erstmals in den frühen 50er Jahren durch den holländischen Ökonomen Jan Tinbergen analysiert, der 1969 als erster mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt wurde.1 Tinbergens Theorie hat insoweit einen normativen Charakter, als sie konzeptionell zu erfassen versucht, wie Wirtschaftspolitiker handeln sollten. Tinbergen schilderte sorgfaltig die entscheidenden Schritte einer optimalen wirtschaftspolitischen Entscheidung. Erstens müssen die gesellschaftlichen Grundziele spezifiziert werden, gewöhnlich in Form einer Sozialen Wohlfahrtsfunktion, die der Wirtschaftspolitiker zu maximieren versucht. Auf der Basis der Sozialen Wohlfahrtsfunktion identifiziert der Wirtschaftspolitiker die anzustrebenden Einzelziele. Zweitens muß er die wirtschaftspolitischen Instrumente darstellen, die zur Erreichung der Ziele verfügbar sind. Drittens muß der Wirtschaftspolitiker über ein Modell der Volkswirtschaft verfügen, das die Instrumente mit den Zielen verknüpft, um in der Lage zu sein, den optimalen Wert der wirtschaftspolitischen Instrumente zu wählen. Wie wollen nun jedes dieser drei Elemente der Wirtschaftspolitik, die Ziele, die Instrumente und das Modell der Volkswirtschaft, betrachten. Instrumente und Ziele der Wirtschaftspolitik Zur Untersuchung der normativen Theorie der makroökonomischen Politik müssen wir zuerst die Ziele im allgemeinen und sodann im einzelnen spezifizieren. Im weitesten Sinne sollte die Makropolitik die Maximierung der "Sozialen Wohlfahrt" anstreben, aber dieser Begriff ist offensichtlich zu vage. Ein weitgehend akzeptiertes Bündel von Zielen- das wir übernehmen werden - schließt Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität ein. Aber auch diese Ziele werden kontrovers diskutiert. Was bedeutet "Vollbeschäftigung"? Ist es die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in den USA in Höhe von etwa 5,5% der Erwerbspersonen? Ist es das in der US-Gesetzgebung festgelegte 4%-Ziel (das sog. Humphrey-Hawkins-Gesetz, das die Wirtschaftspolitiker auf das Ziel der Vollbeschäftigung verpflichtet)? Über die Frage, ob eine Inflation von Null wirklich optimal ist, wird ebenfalls debattiert. In einigen Theorien, wie jenen von Milton Friedman, ist 1

Tinbergens wichtigster Beitrag ist das Buch On the Theory of Economic

dam: North Holland, 1952).

Policy

(Amster-

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

769

die optimale Inflationsrate negativ. 2 In anderen wiederum kann sie positiv sein, weil die Inflationssteuer in geringem Umfang in einem optimalen Steuersystem genutzt werden sollte (wir erinnern an die Diskussion zu diesem Thema in Kapitel II). 3 Dennoch sind die Ziele Vollbeschäftigung und NullInflation vergleichsweise unkontrovers. Andere, umstrittenere Ziele werden gelegentlich vorgeschlagen, wie solche, die die Einkommensverteilung betreffen, die Aufteilung des Outputs zwischen privatem und öffentlichem Sektor und den Ausgleich der Leistungsbilanz. Sind die makroökonomischen Ziele einmal festgelegt, sollten die Wirtschaftspolitiker die Instrumente benennen, die zur Erreichung der volkswirtschaftlichen Ziele verfugbar sind. Generell gibt es zwei Arten von Instrumenten: die der Fiskalpolitik und jene der Geldpolitik. 4 Die Verfügbarkeit spezifischer Instrumente der Makropolitik hängt indes vom institutionellen Rahmen ab. Bei festen Wechselkursen und freier Kapitalmobilität beschränkt sich beispielsweise die Geldpolitik auf die Wahl der Höhe des Wechselkurses. Sobald diese feststeht, hat sich die Geldpolitik - etwa eine Veränderung des inländischen Geldangebots - im wesentlichen als Mittel zur Erreichung makroökonomischer Ziele erschöpft. Andererseits ist die Höhe des inländischen Geldangebots bei flexiblen Wechselkursen ein wirksames wirtschaftspolitisches Instrument, nicht jedoch der Wechselkurs. In ähnlicher Weise hängt der besondere Gehalt der Fiskalpolitik vom institutionellen Umfeld ab, und die Instrumentenwahl kann in diesem Bereich komplizierter sein, da die Fiskalpolitik eine Vielzahl separater Mittel umfaßt. So könnte der Staat z.B. entweder eine Ausgabenkürzung oder eine Steuererhöhung verwenden, um ein Budgetdefizit zu beseitigen; und es gibt selbstverständlich viele Arten von Steuern und Ausgaben, die unterschiedliche Effekte auf die Volkswirtschaft haben. Auf der anderen Seite können 2

Vgl. M. Friedman, The Optimum 1969).

Quantity

of Money and other Essays

(Chicago: Aldine,

3

Vgl. E. Phelps, "Inflation in the Theory o f Public Finance", Swedish Journal of Economics, Jan.-März 1973. Zur Diskussion der Ansichten von Friedman und Phelps vgl. A b schnitt 11-3 in Kapitel 11. 4

Tinbergen betonte, daß die Instrumente sowohl qualitativ als auch quantitativ sein sollten. Wir sprechen hier überwiegend von quantitativen Mitteln (Fiskal- und Geldpolitik). Aber auch die Veränderungen vieler qualitativer Instrumente der Wirtschaftspolitik haben einen bedeutenden Einfluß auf die Gesamtwirtschaft, z.B. die Deregulierung eines Wirtschaftsz w e i g s (etwa der US-Luftfahrt während der Carter-Administration), die Öffnung der Volkswirtschaft (oder von Teilen derselben) für den Handel mit der übrigen Welt usw. Einige dieser Instrumente sind in quantitativer Weise nicht einfach zu beschreiben. Tinbergens Analyse konzentrierte sich jedoch auf quantitative Instrumente, und diesem Ansatz folgen wir hier.

770

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

der Fiskalpolitik überhaupt keine Mittel zur Verfügung stehen. So mag der in Frage stehende Politikträger, etwa das Schatzamt, nur geringe Kontrolle über das Budgetdefizit haben, weil dieses vom Kongreß kontrolliert oder zumindest stark beeinflußt wird. Theoretiker der Wirtschaftspolitik müssen stets sehr sorgfaltig prüfen, welche Träger wirklich welche Instrumente unter ihrer Kontrolle haben. Nachdem Ziele wie Instrumente im einzelnen angegeben worden sind, kann das wirtschaftspolitische Problem wie folgt beschrieben werden: Eine Soziale Wohlfahrtsfiinktion, wie sie auch immer definiert sei, spezifiziert sowohl das optimale Niveau der Zielvariablen als auch der gesellschaftlichen Kosten einer Abweichung von diesem Niveau. Die Volkswirtschaft entfernt sich jedoch vom Optimum infolge von exogenen Störungen - einer Veränderung der Vorlieben, der terms of trade, des internationalen Zinssatzes usw. Die Wirtschaftspolitiker müssen nun ihre Instrumente so wählen und bemessen, daß die Volkswirtschaft zum Optimum zurückgeführt wird. Dazu nutzen die Träger der Wirtschaftspolitik ihre Kenntnis über die Struktur der Volkswirtschaft und insbesondere über den Zusammenhang zwischen Zielen und Instrumenten. Der formale Rahmen zur Verknüpfung von Zielen und Mitteln wurde zuerst von Tinbergen vorgestellt. Tinbergens Analyserahmen Tinbergen benutzte einen einfachen Rahmen zur Analyse der Theorie der Wirtschaftspolitik. Wir beginnen mit einem linearen Modell und wählen als Ausgangspunkt den grundlegenden Fall, bei dem nur zwei Ziele und zwei Instrumente existieren. Die Ziele bezeichnen wir ganz allgemein mit T¡ sowie T2 und die Instrumente mit / j und / 2 (wir werden später besondere Fälle untersuchen, in denen sowohl die Ziele als auch die Instrumente einen spezifischen makroökonomischen Gehalt haben). Ferner unterstellen wir, daß für die angestrebten Niveaus von T\ und T2 bestimmte Werte T*\ und T*2 gegeben sind. Wenn sich die Volkswirtschaft auf den gewünschten Niveaus bewegt, so wollen wir sagen, daß sie sich im Idealpunkt, d.h. im Punkt maximaler Wohlfahrt befindet. In diesem simplen Fall werden unsere Ziele als lineare Funktion der Instrumente beschrieben: T\ = 2^2 '2'2

(19.1b)

Es ist zu beachten, daß jedes Ziel durch beide Instrumente beeinflußt wird. Unter diesen Umständen ist es einfach, das grundlegende Ergebnis zu zeigen, daß die Wirtschaftspolitiker die gewünschten Niveaus beider Ziele erreichen können, vorausgesetzt, daß beide Instrumente für sie verfügbar und

771

KAPITEL 1 9 : THEORIE U N D PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

die Effekte der Instrumente auf die Ziele voneinander linear unabhängig sind. Damit dies erfüllt ist, darf formal gesehen ax/bx nicht gleich a2lb2 sein. Ist a\!b\ tatsächlich gleich a2lb2, so ist es im allgemeinen möglich, daß nur eines der beiden Ziele erfüllt wird. Es ist mathematisch einfach, die Lösung für die optimale Politik zu finden. Wir setzen T*\ und T*2 in die Gleichungen (19.1a) und (19.1b) ein und erhalten ein 2 x 2-System von Gleichungen (d.h. zwei Gleichungen und zwei Unbekannte): T

* \ =a\h

+a

lh

T*2 = b\I\ + b2I2 Wir lösen diese Gleichungen nach /] und / 2 auf, was zulässig ist, solange {a\b2 - b\ü2) nicht gleich Null bzw. a\!b\ nicht gleich a2lb2 ist. Wir erhalten: ,

/

fefW») («J&2 ~bxa2) 2

= M V ¥ ! i l (axb2 -bxa2)

( 1

,2a)

(19.2b)

Sofern die Bedingungen linearer Unabhängigkeit erfüllt sind, kann eine Volkswirtschaft ihr Optimum (T\ = T*\ und T2 = T*2) durch eine passende Wahl der Instrumentenwerte erreichen. Was geschieht, wenn a\!b\ = a2tb2 ist? Die beiden Instrumente haben dann die gleichen proportionalen Wirkungen auf die beiden Ziele, und tatsächlich verfügt der Wirtschaftspolitiker dann über ein unabhängiges Instrument, mit dem er zwei Ziele zu erfüllen versuchen kann. Gewöhnlich kann dies nicht erreicht werden. Der Wirtschaftspolitiker ist in der Lage, T\ = T* ] oder T2 = T*2 zu bestimmen, aber nicht beide gleichzeitig; es genügt daher nicht, über zwei Instrumente zur Erreichung zweier Ziele zu verfügen, die Mittel müssen linear unabhängige Effekte auf die Ziele haben, damit es sich wirklich um zwei separate Instrumente handelt. Dieses Ergebnis, daß zwei unabhängige Instrumente ausreichen, um zwei Ziele zu erfüllen, kann allgemeiner formuliert werden. Sofern der Wirtschaftspolitiker in einer Volkswirtschaft mit linearer Struktur N Ziele verfolgt, so können diese erreicht werden, so lange er mindestens über N linear unabhängige Politikinstrumente verfügt. Oder anders gesagt: es ist möglich, so viele Ziele zu treffen, wie es linear unabhängige Instrumente gibt. Wir wollen nun ein einfaches Beispiel anführen. Angenommen, die Ziele sind der Output und die Inflation. Im Idealpunkt entspricht das Niveau des

772

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

Outputs seinem Potentialwert (Q = Q*) und die Inflationsrate ist gleich Null ( P = 0 ) . Wir nehmen an, daß es zwei Instrumente gibt: die Geldpolitik M und die Fiskalpolitik G. Die Volkswirtschaft wird durch zwei einfache Beziehungen analog zu den Gleichungen (19. la) und (19.1b) abgebildet: Q = alG + a2M

(19.3a)

P = blG + b2M

(19.3b)

Die Koeffizienten a\, a2 , b\ und b2 messen die quantitative Wirkung von G und M auf Q und P; sie können einem makroökonomischen Modell von der Art, wie es in den Kapiteln 12 bis 14 beschrieben wurde, entnommen werden. Angenommen, die Volkswirtschaft beginnt mit einem Output, der dem Potentialwert entspricht (Q = Q*), aber die Inflationsrate beträgt 2% pro Jahr. Das Ziel lautet, die Inflation auf Null zu drücken, ohne den Output zu verringern. Ist das möglich? In diesem Rahmen lautet die Antwort ja, vorausgesetzt, die Effekte von G und M sind linear unabhängig. Wir müssen jedoch das Problem zunächst umformulieren, indem wir es im Sinne der Abweichungen von der Basislinie statt vom Niveau von G und M ausdrücken. Wenn AX die Abweichung der Variablen X von ihrem anfanglichen Wert auf der Grundlinie bezeichnet (wobei die "Basislinie" der Anfangswert der Variablen ist), dann kann die Gleichung (19.3) umgeschrieben werden zu: AQ = axAG + a2AM (19.3a*) AP-b\AG

+ b2AM

(19.3b')

Ein Ziel ist es, den Output auf dem Wert seines Basis-Niveaus zu halten, so daß das Ziel für AQ gleich Null ist. Unter Verwendung unserer früheren Schreibweise setzen wir AQ* = 0. Das andere Ziel ist die Verringerung der Inflation um zwei Prozentpunkte; daher setzen wir P* = - 2 . Setzen wir diese Werte in (19.3') ein, erhalten wir die folgenden Gleichungen: 0 = a\AG + a2AM

(19.4a)

-2 = bxAG + b2AM

(19.4b)

Die besondere Lösung dieses Systems von Gleichungen ist, wie wir allgemein in (19.2) gesehen haben: AG =

^ (,a\b2-a2b\)

(19.5a)

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

AM =

^ {axb2 -a2bx)

773 (19.5b)

Man sieht, daß diese Ergebnisse korrekt sind, wenn man AM und AG direkt wieder zurück in die beiden Gleichungen (19.4) einsetzt. In diesem einfachen Rahmen kann die Stabilisierung der Preise schmerzlos, ohne Verlust an Output, erreicht werden. Ist dieses Ergebnis realistisch? Aus zwei, miteinander in Zusammenhang stehenden Gründen könnte dies nicht so sein. Erstens hängt das Ergebnis wesentlich davon ab, daß a\!b\ nicht gleich a2lb2 d-h. Geld- und Fiskalpolitik linear unabhängige Wirkungen auf den Output und die Preise haben. Wie sieht die tatsächliche Beziehung zwischen a\!b\ und a2lb2 aus? Sie liegen in ihrem Wert nahe beieinander, sofern sie nicht genau gleich sind. Nehmen wir z.B. an, daß die Inflation durch den Phillipskurven-Mechanismus bestimmt wird, bei dem Geldpolitik (M) und Fiskalpolitik (G) den Output (Q), und dieser wiederum die Inflationsrate P beeinflußt. In diesem Fall könnte das zugrunde liegende Modell der Volkswirtschaft so aussehen: Q = ajG + a2M P = gQ wobei g der Koeffizient auf der kurzfristigen Phillips-Kurve ist. Sofern dies das ökonomische Modell ist, dann können wir es in zwei linearen Gleichungen ausdrücken, welche die Ziele auf die Instrumente beziehen, und wir stellen tatsächlich fest, daß die Instrumente linear verbunden sind. Wenn wir das Modell wie in (19.3) schreiben, so erhalten wir: Q = a\G + a2M P = blG + b2M mit b\ = ga\ und b2 = ga2 (dies kann man überprüfen). Dann ist leicht zu erkennen, daß a\!b\ und a2lb2 gleich Mg ist, und das Erfordernis der linearen Unabhängigkeit ist nicht erfüllt. Die Bedeutung dürfte intuitiv klar sein. Falls der einzige Weg, auf dem die Geld- und Fiskalpolitik die Inflation beeinflussen kann, über die Effekte auf das Outputniveau läuft, dann ist es generell unmöglich, sowohl den Output als auch die Inflation als Zielgrößen anzupeilen. Sobald das Output-Ziel erfüllt ist, kann das Inflations-Ziel nicht unabhängig davon erreicht werden, da die Inflation allein durch den Output bestimmt wird. Dieses Beispiel ist möglicherweise zu pessimistisch. Wir können uns in der Tat Gründe dafür vorstellen, warum a\!b\ nicht genau gleich a2/b2 ist.

774

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

Beispielsweise sollten wir erwarten, daß die Geldpolitik einen stärkeren diEffekt auf die Inflation hat als die Fiskalpolitik, je Einheit der Wirkung auf den Output. In diesem Fall wäre b^cij größer als b\!aj.5 Der Grund ist, daß die expansive Geldpolitik den Wechselkurs abwertet (in einem System flexibler Kurse), während die expansive Fiskalpolitik eine Aufwertung des Wechselkurses verursacht. Selbst wenn die Wirkungen beider Politiken auf den Output die gleichen wären, sollte die Wirkung der Geldpolitik auf das Preisniveau stärker sein. rekten

Die ökonometrischen Befunde des in Kapitel 14 vorgestellten Typs (auf der Basis ökonometrischer Großmodelle) bestätigen tatsächlich, daß die Geldpolitik einen stärkeren direkten Effekt auf die Inflation hat. Gemäß einer jüngeren empirischen Untersuchung 6 ergeben sich die folgenden Koeffizienten für unser Modell in Gleichung (19.3'): 13

Erwartungsgemäß ist b j l a j ( = 0,46) größer als b\!a\ (= 0,11). Geld- und Fiskalpolitik sind linear unabhängig, wie im Tinbergen-Rahmen gefordert. In einem Fall wie diesem können Output und Inflation Zielgrößen sein, die durch Geld- und Fiskalpolitik erreichbar sind. Eine restriktive Geldpolitik wäre mit einer expansiven Fiskalpolitik zu kombinieren, um den Output unverändert zu lassen, und zugleich wird der Wechselkurs stark genug aufgewertet, um die Inflationsrate im gewünschten Ausmaß zurückzufahren. (Wir erwähnten die Möglichkeit eines solchen Policy Mix für Zwecke der Anti-Inflationspolitik in Kapitel 14.) Da gibt es mit der vorgeschlagenen Lösung in (19.5) noch ein zweites Problem, selbst wenn die lineare Unabhängigkeit erfüllt ist. Wenn a\!b\ nahe bei, aber nicht gleich a^b^ ist, ist es - strikt formuliert - möglich, beide Ziele zu treffen, aber nur dann, wenn M und/oder G sehr ungewöhnliche, 5

Es ist zu beachten: bjja^ mißt die Zunahme der Inflation infolge einer expansiven Geldpolitik, die den Output um eine Einheit erhöht; b \ / a \ mißt die Zunahme der Inflation infolge einer expansiven Fiskalpolitik, die den Output um eine Einheit steigert. 6

Vgl. Ralph Bryant, John Helliwell und Peter Hooper, "Domestic and Cross-Border Consequences o f U.S. Macroeconomic Policies", in: R. Bryant u.a., Hrsg., Macroeconomic Policies in an Interdependent World (Washington, D.C.: International Monetary Fund, 1989). Die im Text gezeigten Ergebnisse zu den Effekten der Geld- und Fiskalpolitik im ersten Jahr stimmen mit den Abweichungen vom Basislinien-Szenario überein (Tabellen A-5 und A-6). Die Einheiten sind folgende: Eine Einheit der monetären Expansion entspricht einer Zunahme von M um einen Prozentpunkt; eine Einheit der finanzpolitischen Expansion entspricht einem Prozentpunkt der Zunahme der Staatsausgaben, die 1% des BSP ausmacht. Der Output-Effekt wird gemessen als prozentuale Veränderung im Verhältnis zur Basislinie und die Inflation als Änderung der Inflationsrate in Prozent pro Jahr.

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

775

vom normalen Niveau weit entfernte Werte aufweisen. 7 Die im TinbergenAnsatz gefundene Lösung könnte z.B. ein gewaltiges Budgetdefizit erforderlich machen, das in seiner Größenordnung nicht tolerabel wäre. Wir können dies unter Verwendung der soeben genannten Zahlenwerte nachprüfen. Um die Inflationsrate um 2% zu senken - der in Gleichung (19.5) gezeigte Fall - müßte die Restriktion der Geldpolitik 19,9% gegenüber der Basislinie, die Expansion der Fiskalpolitik um 4,2% des BSP ausmachen. Einen derartigen Policy Mix kann man nicht ernsthaft erwägen! In diesem Sinne ist die lineare Unabhängigkeit in der Praxis nicht ausreichend, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Die wirtschaftspolitischen Instrumente müssen wirksam und unabhängig genug sein, so daß durch plausible Veränderungen ihrer Werte die angestrebten Ziele erreicht werden. Effektive Marktklassifikation Robert Mundeil stellte das Politikproblem in einer anderen Weise dar als Tinbergen. Er ging davon aus, daß die verschiedenen Instrumente in vielen Fällen tatsächlich unter der Kontrolle bestimmter Träger der Wirtschaftspolitik stehen; die Geldpolitik steht z.B. unter der Aufsicht der Notenbank, die Fiskalpolitik unter jener der Exekutive. Angenommen, diese wirtschaftspolitischen Institutionen koordinieren ihre Politik nicht, wie dies Tinbergen voraussetzte, sondern entscheiden statt dessen aus politischen oder institutionellen Gründen getrennt voneinander. Gibt es einen Weg, dieses politische Problem zu lösen, wenn die Politik dezentralisiert ist, wobei jedes Instrument unter der Kontrolle eines bestimmten Wirtschaftspolitikers steht und die verschiedenen Träger ihre Handlungen nicht direkt koordinieren? Mundeil hat eine geistreiche Lösung dieses Problems vorgeschlagen. 8 Er untersuchte die Bedingungen, unter denen jedes Instrument einem Ziel zugewiesen werden kann, in Verbindung mit einer Regel, wie das Instrument angepaßt werden soll, wenn die Zielgröße von ihrem optimalen Wert abgewichen ist. Mundeil hat gezeigt, daß es tatsächlich möglich ist, einen optimalen Policy Mix auf dezentrale Weise zu erreichen, sofern die Zuweisung zwischen Zielen und Instrumente korrekt ist. Mundell stellte seine Lösung auf die Grundlage des Konzepts einer effektiven Marktklassifikation. Dies bedeutet im Kern, daß jedes Ziel dem Instrument zugeordnet werden sollte, 7

Zu beachten ist, daß der Nenner in (19.5) gleich (ü|6 2 - a 2 b]) ist. Dieser ist nahe Null, wenn nahe bei ajjb^ liegt. In diesem Fall müßten die erforderlichen Änderungen von G und M sehr groß sein. 8

Vgl. Robert Mundell, "The Monetary Dynamics of International Adjustment under Fixed and Flexible Exchange Rates", Quarterly Journal of Economics, Mai 1960.

ne

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

das die stärkste Wirkung auf dieses spezifische Ziel und so einen komparativen Vorteil zur Beeinflussung desselben hat. Zur Erläuterung wollen wir auf unser Beispiel der Inflationskontrolle zurückgreifen. Wir sagten bereits, daß die Geldpolitik einen relativ stärkeren Effekt auf die Inflation hat als die Fiskalpolitik. Ausgehend von einer Veränderung von M oder G, die eine Änderung des Outputs um eine Einheit bewirkt, hat M wahrscheinlich die stärkste Wirkung auf die Inflation. Formal gesehen, müßte b ^ a j größer sein als b\ta\, 9 In diesem Fall sollte die Währungsbehörde die Aufgabe haben, die Inflation anzugehen, während der Träger der Fiskalpolitik damit beauftragt werden sollte, die Schwankungen des Outputs unter Kontrolle zu bringen. Nach Mundells Zuweisungsregel sollte die Währungsbehörde M immer dann reduzieren, wenn die Inflation über dem Zielwert liegt; der Träger der Fiskalpolitik sollte G immer dann erhöhen, wenn das Outputniveau unter dem Zielwert liegt, und G im umgekehrten Fall verringern. Es kann mathematisch überprüft werden, daß diese politische Regel zu einer allmählichen Annäherung der Niveaus von G und M an die optimale Höhe führt. Ferner kann gezeigt werden, daß dieser Prozeß nicht konvergiert, sofern der Träger der Fiskalpolitik auf die Stabilisierung der Inflation verpflichtet und der Währungsbehörde die Aufgabe der Stabilisierung des Outputs zugewiesen wird. Statt dessen oszillieren M und G in diesem Fall in immer größer werdenden Schwingungen um die optimalen Werte. Weniger Instrumente als Ziele Unser Inflations-Output-Modell liefert uns zwei Instrumente, mit denen zwei Ziele erreicht werden können, und unter günstigen Umständen ist dies ausreichend. Was aber geschieht in dem wahrscheinlicheren Fall, daß es mehr Ziele als Instrumente gibt? Mit dem gleichen Modell fortfahrend, wollen wir sehen, welche Wahlmöglichkeiten der Wirtschaftspolitiker unter diesen Umständen hat. Angenommen, ein Land ist mit der Fiskalpolitik in eine wirtschaftspolitische Sackgasse geraten, weil es sich als unmöglich erwiesen hat, die Staatsausgaben als ein Mittel der Makropolitik einzusetzen. Die Fiskalpolitik ist daher auf AG = 0 fixiert, selbst wenn dies nicht die optimale Wahl ist; allein die Geldpolitik steht zur Beeinflussung des Outputs und der Inflation zur 9 Das Verhältnis b ^ a j mißt den Anstieg der Inflation pro Einheit der Zunahme des Outputs, wenn dessen Ausdehnung durch die Geldpolitik verursacht wird. Entsprechend mißt das Verhältnis b \ l a \ den Inflationsanstieg pro Einheit der Outputzunahme, wenn diese durch die Fiskalpolitik bewirkt wird. Wegen der unterschiedlichen Effekte von M und G auf den Wechselkurs und damit auf die Preise erwarten wir, daß ¿>2/^2 größer ist als b \ ! a \ .

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

777

Verfügung. Die Regierung wünscht, die Inflation mit den geringsten möglichen Kosten im Sinne eines Outputverlustes zu verringern. Aber ist es nun möglich, die Inflation zu beseitigen und den Output unverändert auf seinem Potentialwert zu belassen? Die Antwort ist klarerweise nein. Falls die Fiskalpolitik nicht nutzbar ist (AG = 0), wird Gleichung (19.3') zu: A ß = a2AM

(19.6a)

AP = t^AM

(19.6b)

Aber dann ist (AQ/a 2 ) = AM= (AP/b2) und deshalb AP =

V \

a

AQ

(19.7)

2j

Nun kann eine kostenlose Desinflation selbst in der Theorie nicht erreicht werden. Die Regierung verfügt über nur ein Instrument, und sie kann damit vermutlich nicht zwei Ziele treffen. Wie Gleichung (19.7) aussagt, müssen sich Inflation und Output in die gleiche Richtung bewegen. Wird eine restriktive Geldpolitik verfolgt, um die Inflation zu stoppen, dann wird dem Output ebenfalls Schaden zugefügt. Unter unseren neuen Annahmen können die Staatsausgaben nicht mehr ausgedehnt werden, um die rezessiven Effekte der restriktiven Geldpolitik auszugleichen. Die durch Gleichung (19.7) ausgedrückte Beschränkung der Politik wird in Abb. 19-1 graphisch dargestellt als Linie TT, welche die beiden Ziele AP und A ß miteinander in Beziehung setzt. Wie man erkennen kann, wird jede Bewegung zu einem höheren Output, Aß, von einem stärkeren Anstieg der Inflationsrate, AP, begleitet.

Abb. 19-1: Die Beschränkung der Politik bei weniger Instrumenten als Zielen

778

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

Wenn die Instrumente derart knapp sind, können die Wirtschaftspolitiker nicht alle gesellschaftlich erwünschten Ziele erreichen, und sie sehen sich dem bekannten Problem eines Konflikts zwischen unterschiedlichen Zielen gegenüber. In unserem Fall kann eine geringere Inflation nur auf Kosten des Outputs erreicht werden. Doch obwohl die Ziele nicht erfüllt werden, müssen die Wirtschaftspolitiker nicht untätig bleiben. Was genau sollten sie tun? Ihr erster Schritt sollte darin bestehen, eine soziale Verlustfunktion zu definieren, eine Beziehung, welche die gesellschaftlichen Kosten einer Abweichung der Ziele von ihren optimalen Werten repräsentiert. Eine soziale Verlustfunktion ist wie eine Nutzenfunktion auf der Ebene der Gesellschaft, nur wollen wir jetzt den Verlust minimieren, statt den Nutzen zu maximieren. Betrachten wir ein Standardbeispiel für eine soziale Verlustfunktion. Selbstverständlich erleidet die Gesellschaft einen Verlust, wenn die Inflations- und Outputziele nicht erfüllt werden, und wir dürfen davon ausgehen, daß große Abweichungen erheblich kostspieliger sind als kleine. Wir nehmen insbesondere an, daß die Verluste dem Quadrat der Abweichung des Ziels von seinem optimalen Wert entsprechen. Verdoppelt sich die Größe der Abweichung, ergibt sich der vierfache Verlust! Falls AQ von AQ* abweicht, werden die Verluste durch (AQ - AQ*)2 gemessen. Sofem AP von AP* abweicht, dann werden die Verluste als durch (AP - AP*) 2 gegeben angenommen. Der Gesamtverlust einer Verfehlung beider Ziele entspricht der Summe der quadratischen Abweichungen von jedem Ziel: L = (AQ-AQ*)2

+ (AP - AP*) 2

(19.8)

In allgemeinerer Weise können den Verlusten aus der Verfehlung der zwei Ziele unterschiedliche Gewichte zugeordnet werden, indem das Gewicht ctg einem der beiden Terme wie folgt vorangestellt wird: L = (AQ-AQ*)2+a0(AP-AP*)2

(19.8a)

In diesem Fall wird der Verfehlung des Inflationsziels eine höhere Bedeutung zugemessen, wenn das hinzugefugte Gewicht ctg > 1 ist, und eine geringere Bedeutung mit ctg < 1. In dem von uns verwendeten Beispiel sind die Ziele AP* = - 2 und AQ* = 0. Die Verlustfunktion wird dann (für OCQ = 1) gegeben durch: L = (AQ)2 +(AP + 2)2 (19.9) Wie üblich können wir für eine Nutzenfunktion (oder in diesem Fall für ihr Gegenteil: eine Verlustfunktion) Indifferenzkurven zeichnen, wie in Abb. 19-2 gezeigt. Im Punkt AQ = 0, AP = - 2 ist der Verlust gleich Null (Punkt B in der Abbildung). Wir nennen diesen Punkt des Verlustes von Null wie

KAPITEL 1 9 : THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

779

gewöhnlich den Idealpunkt. Betrachten wir die Indifferenzkurve für einen

Dies ergibt einen Kreis, dessen Mittelpunkt der Idealpunkt und dessen Radius LQ ist. Ist der Verlust noch größer, sagen wir L?-\ > Z 2 0 , dann bildet die Indifferenzkurve einen größeren Kreis, der ebenfalls um den Idealpunkt zentriert ist.

Ap

Abb. 19-2: Die soziale Verlustfunktion Die Indifferenzkurvenschar ist mithin eine Schar konzentrischer Kreise. Der geringste Verlust ist im Zentrum, in dem die Wirtschaftspolitiker die Ziele exakt treffen. Je größer die Abweichung, um so größer der Verlust, so daß die Kreise mit größerem Radius mit einem höheren Verlust verbunden sind. Die Abbildung bringt das Ziel des Wirtschaftspolitikers sehr einfach zum Ausdruck: erreiche diejenige Indifferenzkurve, die dem Idealpunkt am nächsten kommt. Um unter Verwendung der Indifferenzkurven die optimale Politik zu finden, legen wir die durch Gleichung (19.7) ausgedrückte Politikbeschränkung über die Indifferenzkurvenschar wie in Abb. 19-3. Wir erinnern uns, daß die Beschränkung besagt, daß Veränderungen der Inflation und des Outputs auf einer bestimmten Linie TT liegen müssen. Das Gleichgewicht wird am Tangentialpunkt der Zielbeschränkung TT und der dem Idealpunkt am nächsten liegenden Indifferenzkurve erreicht, und dies ist Punkt E. Dort ist gesichert, daß wir den kleinstmöglichen Kreis erreichen, d.h. den geringsten Verlust unter allen erreichbaren Alternativen realisieren. Zu beachten ist, daß sich im Gleichgewicht (Punkt E) ein gewisser Rückgang des Outputs (AQ < 0) und eine partielle Desinflation ergibt, die allerdings nicht ausreicht, die Inflation gänzlich zu beseitigen. Die Politik muß bei beiden Zie-

780

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

len Kompromisse eingehen und einen gewissen unerwünschten Outputrückgang akzeptieren, um die hohe, ererbte Inflationsrate zu verringern.

AP

Abb. 19-3: Indifferenzkurven des sozialen Verlusts und Politikbeschränkung: Gleichgewicht Diese Lösung erhellt den Charakter des politischen Konflikts. Die Inflation ist nicht beseitigt worden, weil der Outputverlust dabei zu groß gewesen wäre. Wäre die vollständige Desinflation durchgeführt worden, hätte der Produktionsrückgang AQq betragen, und die Gesellschaft hätte (in der Abbildung) einen Verlust in Höhe von Z,23 erlitten. Der Verlustfunktion gemäß stellt sich das Land besser, wenn es mit einer gewissen Inflation und mithin mit einem geringeren Verlust an Output lebt. 19-2 Grenzen aktiver Wirtschaftspolitik bei Unsicherheit Bisher bewegten wir uns in einem idealisierten Rahmen, in dem das einzige Problem der Wirtschaftspolitiker darin bestand, ob sie über genügend Instrumente mit linear unabhängigen Wirkungen zur Erreichung der Ziele verfügen. Wenn dem so ist, können sie den Idealpunkt erreichen; wenn nicht, müssen sie einen trade-off akzeptieren und die soziale Verlustfunktion verwenden, um die Verluste zu minimieren. Wirtschaftspolitiker haben jedoch Probleme, die weit darüber hinausreichen. In der Realität sind die Bedingungen unsicher, und die Träger der Wirtschaftspolitik wissen niemals genau, wie ihre Handlungen die Zielgrößen beeinflussen werden. Diese Unsicherheit berührt nachhaltig die angemessenen Handlungen.

KAPITEL 1 9 : THEORIE U N D PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

781

Formen der Unsicherheit Tatsächlich können wir viele unterschiedliche Formen von Unsicherheit unterscheiden. Wir nahmen an, daß die Wirtschaftspolitiker exakt wissen, welche Auswirkungen ihre Handlungen auf die Volkswirtschaft haben werden, d.h. sie kennen die präzisen Werte der Koeffizienten in dem Modell, das die Volkswirtschaft repräsentiert - die Größen a und b in den Gleichungen (19.1) bis (19.5) des hier verwendeten Rahmens. In der Praxis ist dies nicht der Fall, denn die Wirtschaftspolitiker haben lediglich eine ungefähre Vorstellung über die wahren Werte dieser Koeffizienten. Eine besondere Art der Unsicherheit bezüglich der Koeffizienten bezieht sich nicht auf die Gesamteffekte eines Instruments auf seine Ziele, sondern das Timing dieser Effekte. Es ist z.B. einigermaßen sicher, daß eine restriktive Geldpolitik einer bestimmten Größenordnung langfristig das nominale BSP in einem gewissen Umfang verringert. Der Zeitbedarf dieser Effekte ist jedoch gewöhnlich sehr viel unsicherer. Eine vornehmlich vom Nobelpreisträger Milton Friedman vorgetragene Klage gegen eine aktive Wirtschaftspolitik ist, daß diese ihre Instrumente wegen der "langen und variablen" Wirkungsverzögerungen auf die Ziele nicht häufig verändern sollte. 10 Wirtschaftspolitiker werden nicht nur durch die Unsicherheit über die Koeffizienten (oder das Modell, falls sie nicht einmal sicher sind, daß das korrekte Modell die Politikvariablen mit den Zielen verknüpft) irritiert, sondern auch durch die Tatsache, daß Ereignisse, die gänzlich außerhalb ihrer Kontrolle liegen, die Ziele beeinflussen. Sofern diese "exogenen Schocks" und ihre Effekte zuverlässig vorausgesagt werden könnten, dann könnten sie von den Wirtschaftspolitikern berücksichtigt werden, bevor sie ihre Instrumentenwahl treffen. Aber selbst nach guten Prognosen bleiben typischerweise exogene Ereignisse in hohem Maße unsicher. Ein einfaches Modell der Wirtschaftspolitik bei Unsicherheit Um die Unsicherheit unserem Modellrahmen auf die einfachste Weise hinzuzufügen, wollen wir den Fall betrachten, bei dem der Output das einzige Ziel und die Geldpolitik das einzige Instrument ist; es gibt also ein Instrument und ein Ziel, aber nun berücksichtigen wir Unsicherheit. Angenommen, die Volkswirtschaft befindet sich in einer Rezession, so daß das wirtschaftspolitische Ziel darin besteht, den Output zu erhöhen, AQ* > 0. Das neue "Modell" der Volkswirtschaft ist wie folgt spezifiziert: AQ = (xAA/ + e,

mit Aß* > 0

(19.10)

Vgl. u.a. Milton Friedman, "The Lag in the Effect of Monetary Policy", Journal of Political Economy, Okt. 1961.

782

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

Die soziale Verlustfunktion ist, wie zuvor, quadratisch: Z = (Aß-Aß*)2

(19.11)

Im neuen Modell spiegelt der "Irrtums- oder Störterm" e in Gleichung (19.10) Faktoren wider, die - wie z.B. das Wetter oder Streiks - den Output berühren, aber außerhalb der Kontrolle der Wirtschaftspolitiker liegen. Die Variable 8 ist eine Zufallsgröße, die entsprechend bekannter Wahrscheinlichkeiten schwankt, deren genauer Wert aber nicht bekannt ist zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung über AM getroffen werden muß. Die Variable kann entweder positiv oder negativ sein, und sie ist im Durchschnitt gleich Null. Diese Form des Irrtums wird als additive Unsicherheit bezeichnet, weil die Wirkung von 8 zu den Effekten des wirtschaftspolitischen Instruments hinzutritt. Der zweite wichtige Aspekt ist, daß der Koeffizient a nicht präzise bekannt ist, was durch eine Tilde über dem Symbol kenntlich gemacht ist. Die Wirtschaftspolitiker kennen den durchschnittlichen Wert von et, nicht aber die Höhe des Koeffizienten, wenn sie die Geldpolitik durchfuhren. Daher kann die Wirkung der Geldpolitik auf die Inflation nicht exakt bestimmt werden. Technisch gesprochen, repräsentiert der Koeffizient ä eine multiplikative Unsicherheit, da der Effekt der Unsicherheit mit dem wirtschaftspolitischen Instrument multipliziert wird. (In Kapitel 14 illustrierten wir die Existenz multiplikativer Unsicherheit, als wir darauf hinwiesen, daß sich die ökonometrischen Großmodelle in ihren Schätzungen zu den Multiplikatoreffekten verschiedener wirtschaftspolitischer Maßnahmen unterscheiden.) Worin bestehen die Implikationen der Unsicherheit für die Wirtschaftspolitik? Ohne Unsicherheit ist die Wahl der Politik gewissermaßen ein Kinderspiel. Bei einem Instrument und einem Ziel bestimmt der Wirtschaftspolitiker einfach AM, um AQ* zu erreichen. Aber was sollte er unter Unsicherheit tun? Eine intuitive Möglichkeit - aber es ist nicht die richtige (!) - würde in dem Versuch bestehen, das optimale Outputziel im Durchschnitt zu treffen. Unterstellt, die Wirtschaftspolitiker kennen die durchschnittlichen Werte von ä und e, die wir annehmen als: Durchschnitt (et) = et;

Durchschnitt (e) = 0

Dann ist die durchschnittliche Veränderung des Outputs gleich: A Q = cLAM

(19.12)

Sofern also AM gleich (AQ*/ä) gesetzt wird, wissen wir, daß das Ziel AQ = AQ* erreicht wird, aber eben nur im Durchschnitt.

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

783

Selbstverständlich gibt es keine Garantie dafür, daß das Ziel in jeder Periode erfüllt wird. Betrachten wir etwa den Effekt multiplikativer Unsicherheit. Falls AM auf der Grundlage des Durchschnitts von ä ( ä ) bestimmt wird und sich herausstellt, daß der Koeffizient kleiner als erwartet ist, dann wird AQ geringer sein als vermutet und erwünscht. Erweist sich andererseits, daß ÖL über dem Durchschnitt ÖL liegt, dann wird der Output mit AQ > AQ* über das Ziel hinausschießen. Dies führt zu Überbeschäftigung und einer unerwünschten Wohlfahrtseinbuße mit unzureichender Freizeit, volkswirtschaftlichen Engpässen und Knappheiten infolge überschüssiger Nachfrage. AQ kann auch größer oder kleiner als AQ* sein, je nachdem, ob e (die additive Unsicherheit) sich als höher oder niedriger als erwartet herausstellt. William Brainard von der Yale Universität hat 1967 in einem bedeutenden Aufsatz gezeigt, daß es nicht ausreicht, das Ziel AQ* im Durchschnitt anzustreben, sofern die soziale Verlustfunktion quadratisch ist." Er hob hervor, daß die Wirtschaftspolitiker besonders auf die Möglichkeit achten sollten, daß sich die Zufalls-Koeffizienten des Modells als höher als durchschnittlich erweisen können. In dem nicht vorhergesehenen Fall, daß ä über et liegt, kann das Ziel um eine erhebliche Spanne verfehlt werden; und da die soziale Verlustfunktion den Fehlschlag im Quadrat vergrößert, sind die Kosten eines großen Fehlers äußerst hoch. Die eindeutige Folgerung lautet, daß die Wirtschaftspolitiker vorsichtig - d.h. eher weniger als mehr aktionistisch sein sollten. In unserem Beispiel sollte der Wirtschaftspolitiker AM unter (AQ*lä) halten. Brainard zeigte durch einen formalen Beweis, daß die zur Minimierung der sozialen Kosten optimale geldpolitische Entscheidung gegeben wird durch: (a + cr2/a) und dies ist offensichtlich weniger als {AQ*Ia).12 Im Durchschnitt sollte die Volkswirtschaft unterhalb der Vollbeschäftigung operieren, weil andernfalls die Gefahr der Überhitzung der Volkswirtschaft besteht, sofern sich die Koeffizienten der Geldpolitik als unerwartet hoch herausstellen. Schwankungen von e beeinflussen die Entscheidung über M nicht auf die gleiche Weise wie Fluktuationen von ä , weil ein hoher Wert von e die Wirkung auf AM nicht so verstärkt, wie ein hoher Wert von d . Aus diesem 11 Brainards nunmehr klassischer Betrag zu diesem Thema ist "Uncercainty and the Effectiveness o f Policy", American Economic Review, Mai 1967. 12

Wobei a 2 die Varianz von ä ist. Diese Gleichung gilt für den Fall, daß der multiplikati-

ve Schock und der additive Schock nicht korreliert sind.

784

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

Grund können die Wirtschaftspolitiker bei der Entscheidung über die Geldpolitik tatsächlich davon ausgehen, daß s seinen durchschnittlichen Wert hat. Mit anderen Worten: die Existenz einer additiven Irrtumsgröße beeinflußt nicht die geldpolitische Entscheidung. Dieses wichtige Ergebnis wird als Sicherheits-Äquivalenz bezeichnet. Bei additiven Schocks, einem linearen ökonomischen Modell und einer quadratischen Verlustfiinktion sollten die wirtschaftspolitischen Instrumente so ausgewählt werden, als seien sie nicht unsicher. Zusammengefaßt: bei der Möglichkeit von nicht-antizipierten multiplikativen Schocks sollten sich die Wirtschaftspolitiker Zurückhaltung auferlegen. Andererseits haben nicht-antizipierte additive Schocks die Eigenschaft der Sicherheits-Äquivalenz und berühren deshalb nicht die Auswahl der optimalen Politik. Der Wirtschaftspolitiker kann einfach davon ausgehen, daß sich jede additive Störung auf ihrem durchschnittlichen Niveau bewegt. 19-3 Die Wahl zwischen wirtschaftspolitischen Instrumenten Bislang hat uns das Tinbergen-System eine eindeutige Garnitur von Instrumenten und Zielen geliefert. Die Aufgabe besteht darin, diejenigen Werte der Instrumente zu wählen, die den (erwarteten) Wert der sozialen Verlustfunktion minimieren. Nun fügen wir eine weitere Komplikation hinzu. In einigen Fällen verfügt der Wirtschaftspolitiker über eine Auswahl von Instrumenten; er kann das Instrument A oder B anwenden, aber nicht beide. Welches sollte er zur Minimierung des erwarteten sozialen Verlustes auswählen, falls Abweichungen von den angestrebten optimalen Zielwerten auftreten? Dieses Problem wurde zuerst in einer bahnbrechenden Untersuchung von William Poole von der Brown Universität analysiert.13 Zwei vertraute Beispiele sollen das Problem verdeutlichen. In einer offenen Volkswirtschaft mit freiem Kapitalverkehr kann die Währungsbehörde den Wechselkurs oder das Geldangebot als wirtschaftspolitisches Instrument einsetzen, nicht jedoch beides. In einer offenen Volkswirtschaft mit festen Wechselkursen und Kapitalkontrollen ist das verfügbare Instrument der Zinssatz oder das Geldangebot, aber wiederum nicht beides. Welche Geldpolitik ist die beste, wenn wir annehmen, daß das Ziel der Währungsbehörde die Stabilisierung des Outputs ist? Spielt das überhaupt eine Rolle? Diese Fragen können beantwortet werden im Rahmen der Minimierung der sozialen Verluste, die sich aus einer Abweichung des Outputs von seinem optimalen Niveau ergeben. 13

Vgl. W. Poole, "Optimal Choice of Monetary Policy Instruments in a Simple Stochastic Macro Model", Quarterly Journal of Economics, Mai 1970.

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

785

Betrachten wir eine Volkswirtschaft mit festen Wechselkursen und strikter Kontrolle des Kapitalverkehrs. Nehmen wir (der Einfachheit halber) die Gültigkeit des extremen keynesianischen Modells an. Bei somit fixierten Preisen können wir das 75-iM-Modell verwenden, wie in Abb. 19-4a gezeigt. Anders als zuvor, müssen wir nun die Möglichkeit zufälliger Störungen der aggregierten Nachfrage zulassen (die sich als Zufallsverschiebungen der ZS-Kurve zeigen). Derartige Verschiebungen illustriert Abb. 19-4b, in der sich die TS-Kurve nach oben oder unten verschiebt, je nachdem, welche Richtung der Nachfrageschock hat; Abb. 19-4c zeigt entsprechende Bewegungen der Z,M-Kurve in Abhängigkeit von der Richtung von Geldnachfrage-Schocks.

r LM

r

o

IS

ßo

Q

(a)

r

LM

LM

r

QCQLQ'QhQJ

(b)

(c)

Abb. 19-4: Das optimale Ziel der Geldpolitik im Falle ökonomischer Instabilität: (a) Gleichgewicht im /S-ZM-Rahmen; (b) Instabilität der aggregierten Nachfrage; (c) Instabilität der Geldnachfrage

786

TEIL I V : SPEZIELLE F R A G E N

Falls die Volkswirtschaft von Verschiebungen der Gesamtnachfrage und der Geldnachfrage getroffen wird, kommt es ebenfalls zu Schwankungen des Outputs. Angenommen, Q = Q* ist das optimale Niveau des Outputs und dieses stellt sich ohne Zufallsstörungen auch tatsächlich ein. Falls die Gesamtnachfrage ungewöhnlich hoch ist (ISj), ergibt sich in Abb. 19-4b ein Output von Qff > Q*; ist die Gesamtnachfrage ungewöhnlich niedrig, so stellt sich ein Output von Q£ < Q* ein. Bei einer ungewöhnlich hohen Geldnachfrage verschiebt sich die IM-Kurve in Abb. 19-4c nach links (ZMj) 14 und verursacht einen Rückgang des Outputs. Eine Abnahme der Geldnachfrage wirkt dagegen unerwartet expansiv und verschiebt die ZM-Kurve nach rechts (LM 2 ). Das Ziel des Wirtschaftspolitikers ist es nun, diejenige Politik auszuwählen, die den Output so gut wie möglich stabilisiert; das Ziel besteht insbesondere darin, (Q - Q*)2 zu minimieren. Sehen wir uns zwei Formen der Geldpolitik an. Bei der ersten wählt die Währungsbehörde das Geldangebot aus und hält dieses fixiert. Im zweiten Fall wählt sie den Zinssatz und hält diesen fest (sie tut dies, indem sie den Zinssatz verkündet, zu dem sie bereit ist, Geld gegen staatliche Schuldverschreibungen einzutauschen, wie in Kapitel 9 beschrieben). In beiden Fällen wird die jeweilige Politik ausgewählt, bevor die Störung auftritt, d.h. bevor die Verschiebungen der IS- und LMKurven sichtbar werden. Es ist einfach zu zeigen, daß die optimale Form der Geldpolitik davon abhängt, welches die wahrscheinlichste Ursache der ökonomischen Schocks ist. Nehmen wir beispielsweise an, daß nahezu alle Störungen ZS-Schocks sind wie in Abb. 19-4b. Falls die Währungsbehörde ein konstantes Geldangebot aufrechterhält, würde die IM-Kurve in der Position LM\ verbleiben. In diesem Fall bewegt sich der Output zwischen den Punkten Q^ und QL. Wählt die Währungsbehörde statt dessen den Zinssatz als geldpolitisches Instrument und fixiert diesen bei angemessener Anpassung des Geldangebots bei AQ, so schwankt die Volkswirtschaft in einem größeren Ausmaß zwischen QQ und Qj. Sofern also die Volkswirtschaft von IS-Schocks betroffen wird, dann ist das Geldangebot das bessere Stabilisierungsinstrument. Was geschieht, wenn die meisten Störungen LM-Schocks sind, und die /S-Kurve stationär ist? Falls die Währungsbehörde das Geldangebot fixiert, wird sich die LM-Kurve in Reaktion auf die Störungen bei der Geldnachfra14

Es ist zu beachten, daß ein Anstieg der Geldnachfrage ohne Änderung des Geldangebots zu einem Überschuß der Geldnachfrage beim ursprünglichen Zinssatz fuhrt. Deshalb wäre der Geldmarkt erst dann wieder im Gleichgewicht, wenn der Zinssatz steigt oder der Output sinkt, bzw. eine Kombination von beidem auftritt. Aus diesem Grund führt eine Zunahme der Geldnachfrage zu einer Linksverschiebung der IM-Kurve.

KAPITEL 1 9 : THEORIE U N D PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

787

ge verschieben und der Output wird sich zwischen QA und QB bewegen. Fixiert die Währungsbehörde dagegen den Zinssatz, so wird die Geldpolitik automatisch die Veränderungen der Geldnachfrage ausgleichen und der Zinssatz verbleibt bei rQ. Die LM-Kurve bleibt stationär, und der Output weicht nicht von Q* ab (Punkt C). Kommt es zu einem unerwarteten Anstieg der Geldnachfrage, so erhöht die Währungsbehörde das Geldangebot (durch einen Offenmarkt-Kauf). Sofern also die Volkswirtschaft von LMSchocks betroffen wird, dann ist der Zinssatz das bessere Instrument. Wie Poole anmerkte, operieren Wirtschaftspolitiker wahrscheinlich in einer Volkswirtschaft, in der sich sowohl die IS- als auch die LM-Kurve unerwartet verschieben, und die geldpolitischen Instrumente sind vermutlich bereits ausgewählt, bevor die Verschiebungen erkennbar werden. Dann muß irgend eine Entscheidung im voraus darüber getroffen werden, welcher Anteil der Unsicherheit insgesamt der Verschiebung der /S-Kurve oder der LMKurve zugeschrieben werden kann. In dem Maße, wie die AS-Verschiebungen dominieren, ist das Geldangebot das beste Instrument; überwiegen die LM-Verschiebungen, so ist es der Zinssatz. Wir schließen mit Klarstellungen zu zwei weniger bedeutsamen Punkten ab. Im Sinne der Tinbergen-Terminologie sprechen wir von "Instrumenten" (z.B. dem Geldangebot oder dem Zinssatz) und "Zielen" (etwa dem Output). Bei der Diskussion um die Geldpolitik sprechen wir häufig von den geldpolitischen Instrumenten als "Zwischenzielen" und beschreiben die Auswahl zwischen Geldangebot und Zinssatz als Entscheidung zwischen zwei Zwischenzielen. Wir behandeln die Instrumente so, als seien sie Ziele, weil selbst dann, wenn die Geldpolitiker sich zu einer Fixierung von M oder rG entschließen, sie im allgemeinen zuerst vorgelagerte Instrumente einsetzen müssen, wie etwa Offenmarkt-Geschäfte. Diese werden dazu verwendet, die Zwischenziele hinsichtlich des Geldangebots und des Zinssatzes zu erreichen, die ihrerseits wiederum Instrumente im Dienste der Endziele sind. Zweitens machte Poole eine Art von "kombinierter Politik" als Kompromiß zwischen einer strikten Geldangebots- und einer strikten Zinspolitik um aus. Diese fixiert eine optimale, lineare Beziehung zwischen M und den erwarteten sozialen Verlust zu minimieren. Bei der Beschreibung dieser kombinierten Politik wies Poole darauf hin, daß deren Anwendung schwierig ist, weil sie eine umfassende Kenntnis des zugrunde liegenden ökonomischen Modells erfordert.

788

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

19-4 Die Lucas-Kritik an der Theorie der Wirtschaftspolitik In den frühen 70er Jahren war es aufgrund der Untersuchungen einiger Ökonomen, wie Friedman, Brainard und Poole, klar, daß die von Tinbergen vorgestellte Theorie der Wirtschaftspolitik bedeutende Einschränkungen aufwies, insbesondere im Hinblick auf Unsicherheit. Ein eher noch schwerwiegenderer Angriff gegen diesen Rahmen, erfolge Mitte der 70er Jahre durch Robert Lucas von der Universität von Chicago. 15 Die sog. "Lucas-Kritik" attackiert in energischer Weise die Verwendung der existierenden makroökonometrischen Großmodelle für die Formulierung von Makropolitik. Diese Kritik hat durch ihren Einfluß auf das ökonomische Denken einen Schatten auf das von Wirtschaftspolitikern am regelmäßigsten verwendete Instrumentarium geworfen. Das Tinbergen-System beruht auf der Vorstellung einer stabilen (unveränderlichen) quantitativen Beziehung zwischen den wirtschaftspolitischen Instrumenten und Zielen. Bei Anwendung dieses Rahmens in der Praxis verwendeten die Wirtschaftspolitiker ökonometrische Großmodelle und unterstellten dabei, daß die von den Modellen errechneten wirtschaftspolitischen Multiplikatoren stabile Parameter sind, welche die Instrumente mit den Zielen verknüpfen. Lucas argumentierte energisch und für viele in überzeugender Weise, daß die Parameter ökonometrischer Großmodelle nicht als stabil angesehen werden können. Sofern sich die Politik der Regierung in drastischer Form ändert, sind die Modell-Koeffizienten seiner Auffassung nach nicht mehr zuverlässig, selbst wenn diese Fehler erst nach einer Neueinschätzung des Modells nach einigen Jahren erkennbar werden. Nach Lucas sind die ökonometrischen Großmodelle dürftig konstruiert. Er macht geltend, daß die Koeffizienten nicht die reale Struktur der Volkswirtschaft beschreiben (und deshalb instabil sind), sondern statt dessen eine statistische Zusammenfassung davon liefern, wie die Volkswirtschaft in der Vergangenheit funktionierte. Sofern die Wirtschaftspolitik stabil bleibt, ermöglicht das Modell vernünftige Vorhersagen über die Zukunft, ändern sich aber ihre Regeln, so liefert das Modell nach Lucas wahrscheinlich keine Prognosen darüber, wie die Volkswirtschaft reagieren wird. Ein Hauptproblem ist aus Lucas' Sicht die Behandlung von Erwartungen in den üblichen Großmodellen. Erwartungen über den zukünftigen Wert einer Variablen werden üblicherweise ökonometrisch angenähert durch eine Funktion mit zeitverzögerten Werten der zu prognostizierenden Variablen 15

Vgl. Robert Lucas, "Econometric Policy Evaluation: A Critique", Carnegie Rochester Conference Series on Public Policy, No. 1, 1976. Vgl. auch seine Studies in Business Cycle Theory (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1981).

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

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unter der impliziten oder expliziten Annahme, daß die Erwartungen durch einen Prozeß adaptiver Erwartungsbildung bestimmt werden. Dieses simple Modell wird aus Lucas' Sicht ernsthaft in Frage gestellt, weil er daran zweifelt, daß die Erwartungen tatsächlich durch mechanische Extrapolationen der Vergangenheitswerte einer Variablen gebildet werden. Lucas hebt hervor, daß sich die Bildung von Erwartungen bei einer Änderung der wirtschaftspolitischen Regeln wahrscheinlich ebenfalls verändert, aber in einer Weise, die von üblichen ökonometrischen Großmodellen nicht erfaßt werden. Um dieses Argument zu illustrieren, wollen wir annehmen, daß ein Wirtschaftspolitiker den Versuch unternimmt, die Beziehung zwischen Geldangebotsveränderungen und Output herauszufinden. Ein Ökonometriker könnte den linearen Zusammenhang zwischen den Änderungen des Geldangebots und der Produktion wie folgt schätzen: Q = bQ + bx(M-M_x)

(19.13)

Der geschätzte Koeffizient b\ könnte dann dazu verwendet werden, um eine Entscheidung über die optimale Geldpolitik nach Art des Tinbergen-Systems zu fällen; in diesem Fall: M - M_\. Lucas würde argumentieren, daß (19.13) ein schlechtes Modell ist, obwohl es statistisch einfach geschätzt werden kann, weil es vermutlich kein zutreffendes Bild davon liefert, wie zukünftige Veränderungen der Geldpolitik den Output Q beeinflussen. Ein besseres Modell, und eines, das in Übereinstimmung mit der Theorie rationaler Erwartungen steht, wäre aus seiner Sicht: Q=

+ a\(M-

Me)

(19.14)

e

wobei M der Wert des Geldangebots ist, der für diese Periode aus der Sicht der Vorperiode erwartet wird. Dabei beeinflussen lediglich unerwartete Veränderungen des Geldangebots den Output. 16 Unterstellt, (19.14) sei das wahre Modell, aber der Ökonometriker fährt fort und schätzt (fälschlicherweise) Gleichung (19.13). Der geschätzte Koeffizient b\ würde abhängig sein vom durchschnittlichen Zusammenhang zwischen dem Wachstum des Geldangebots (M- M_\) und dessen unerwarteten Zunahme (M - Me) während der Vergangenheitsperiode, in der die Statistiken erstellt wurden. Sofern der größte Teil des Geldmengenwachstums unerwartet wäre, würde man eine Korrelation zwischen Geldzunahme und Out-

16

Wir erinnern an das in Kapitel 17 beschriebene Modell, in dem allein unerwartete Veränderungen des Geldangebots den Output berühren.

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TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

put erkennen.17 Aber dieser durchschnittliche Zusammenhang in der Vergangenheit könnte für die Zukunft ohne Bedeutung sein. Sofern das zukünftige Geldangebotswachstum stets richtig vorhergesehen wird, hat dieses keinen Effekt auf den Output (da es keine Erwartungsfehler gibt). Die Schätzung des Koeffizienten b\ wäre daher eine sehr ungenaue Abbildung des "wahren" Zusammenhangs zwischen Geldmengenwachstum und Output in der Zukunft. Lucas behauptete, daß sich nahezu alle ökonometrischen Beziehungen in Großmodellen als unzuverlässig erweisen, da die Ökonometriker Modelle wie (19.13), und nicht solche wie (19.14) verwendet haben. Wesentliche Veränderungen der Wirtschaftspolitik würden seiner Meinung nach zu radikal abweichenden empirischen Schätzungen der ökonometrischen Zusammenhänge fuhren, sobald genügend Zeit verstrichen ist, um eine neue ökonometrische Schätzung des Modells vorzunehmen. Lucas' Kritik hatte einen starken direkten Einfluß, weil es gut zu einer wichtigen wirtschaftspolitischen Diskussion in den 60er Jahren paßte, nämlich der inkorrekten Verwendung einer geschätzten kurzfristigen Phillips-Kurve als Anhaltspunkt für einen permanenten trade-off zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation. 18 In den 60er Jahren wurden von vielen Ökonomen Gleichungen der folgenden Art geschätzt: P= + (19.15) eine Beziehung, die man irrtümlich für stabil hielt. Eine bessere Spezifikation wäre gewesen: P = -1QU + yxPe

(19.16)

wobei Pe die Inflationserwartung für diese Periode aus der Sicht der Vorperiode ist. In den frühen 60er Jahren lag die Schätzung für den Koeffizienten ßj in (19.15) bei etwa 0,2; aber sie erwies sich nicht als zuverlässig. Im Verlauf der 60er Jahre veränderte sich die Beziehung zwischen der zeitverzögerten Inflationsrate und der erwarteten Inflationsrate Pe mit dem Ergebnis, daß Gleichungen wie (19.15) die Inflation in den 60er Jahren ständig unterschätzten. Gegen Ende der 60er Jahre war die statistische Schätzung fiir ßj auf 0,9 gestiegen. In diesem Fall hatte Lucas recht. Das Modell hatte die Wirtschaftspolitiker durch die Unterschätzung der Rolle der Erwartungen ernsthaft irregeleitet.

17 Es könnte sein, daß während der Periode ( M - M e ) gleich ('A)(M - A/_j) war; d.h. eine Hälfte der Zunahme des Geldangebots war unerwartet. In diesem Fall würde die statistische Schätzung von 6 ] gleich ('/2)a i sein, wobei Ö] der Koeffizient in Gleichung ( 1 9 . 1 4 ) ist. 18

Vgl. unsere Erörterungen zur Phillips-Kurve in Kapitel 15.

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

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Es gibt andere eindeutige Fälle, die Lucas' Argument stützen. Wir wissen beispielsweise, daß die Effekte einer Änderung der Steuergesetze entscheidend davon abhängen, ob sie als temporär oder permanent wahrgenommen werden. Viele Großmodelle berücksichtigten diesen Unterschied nicht und waren mithin unzuverlässige Werkzeuge der Wirtschaftspolitik. Wie sollen wir Lucas' Kritik generell bewerten? Es besteht kein Zweifel, daß viele Teile von Großmodellen nicht auf eine solide Theorie gestützt sind, sondern auf durchschnittliche, statistische Beziehungen zwischen Variablen in der Vergangenheit; und tatsächlich ist die Rolle der Erwartungen häufig unterschätzt worden. Aus diesen Gründen sollten die Ergebnisse von Großmodellen mit Vorsicht beurteilt werden, insbesondere in solchen Fällen, von denen man weiß, daß Erwartungen eine wichtige Rolle spielen. Die Modelle erweisen jedoch weiterhin ihre Nützlichkeit bei der Interpretation bedeutender makroökonomischer Vorgänge, und sie sollten nicht leichtfertig aufgegeben werden. Bemerkenswerte Fortschritte sind in der Tat durch die Einfügung von Erwartungsvariablen in die Großmodelle erzielt worden, und dies berücksichtigt manches von Lucas' Anliegen. 19 Zugleich haben einige direkte Tests zu Lucas' Behauptung, daß Änderungen der Wirtschaftspolitik zu Veränderungen der Koeffizienten in Verhaltensgleichungen führen, keine starke Stütze für sein theoretisches Argument erbracht. 20 19-5 Regelbindungen, diskretionäre Politik und Zeitkonsistenz Bislang haben wir wirtschaftspolitische Handlungen so betrachtet, daß sie zu einem bestimmten Zeitpunkt unter Verwendung eines Bündels von Zielen und Instrumenten sowie eines Modells über die Funktionsweise der Volkswirtschaft stattfinden. Der Wirtschaftspolitiker vollzieht eine einzige, diskontinuierliche Aktion, um die soziale Verlustfunktion zu minimieren. Während die Wirtschaftspolitik traditionell in diesem einfachen Rahmen analysiert wurde, begannen Ökonomen zu erkennen, daß sich einige der wesentlichsten Probleme aus der Tatsache ergeben, daß Wirtschaftspolitik geWarwick McKibbin und Jeffrey Sachs haben z.B. in ihrer Untersuchung Global Linkages: Macroeconomic Interdependence and Cooperation in the World Economy (Washington, D.C.: The Brookings Institution, 1991) ein globales Modell verwendet, in dem Erwartungen sorgfältig berücksichtigt wurden, und gezeigt, daß sich mit einem derartigen Großmodell wichtige Entwicklungen der Weltwirtschaft während der 80er Jahre nachvollziehen lassen. 20

Olivier Blanchard hat z.B. Befunde präsentiert, die zeigen, daß sich die Verhaltenskoeffizienten langsam an Veränderungen der Geldpolitik in den U S A während der 80er Jahre angepaßt haben. Vgl. seinen Aufsatz "The Lucas Critique and the Volcker Deflation", American Economic Review, Mai 1984.

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TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

wohnlich aus einer Folge von Handlungen über einen längeren Zeitraum besteht. Die Frage lautet dann, wie die sozialen Verluste zu minimieren sind, wenn wirtschaftspolitische Handlungen zu vielen Zeitpunkten stattfinden. Ein wichtiges Thema ist, ob Wirtschaftspolitiker nach bestimmten Regeln, durch welche die zu irgendeinem Zeitpunkt vorzunehmenden Aktionen diktiert werden, handeln sollten oder diskretionär, in dem Sinne, daß sie nicht gebunden sind an vorab festgelegte Formeln, sondern zum jeweiligen Zeitpunkt eine optimale Auswahl der wirtschaftspolitischen Instrumente treffen. Die moderne Analyse der Wirtschaftspolitik hebt mit unterschiedliche Begründungen die Wichtigkeit von Regeln - wenn auch flexiblen Regeln - hervor. Zeitkonsistenz An irgendeinem Ausgangspunkt muß ein Wirtschaftspolitiker entscheiden, welches die besten Handlungen in einem bestimmten Zeitraum sind, und einige Aktionen müssen vermutlich in dieser Zeitspanne unternommen werden. Der Wirtschaftspolitiker kann über die "richtigen" Maßnahmen unter Beachtung eines Modells der Volkswirtschaft und der Verfügbarkeit von Instrumenten entscheiden, um den erwarteten sozialen Verlust zu minimieren. Die richtige Politik könnte eine Folge von Handlungen beinhalten, die in der Gegenwart oder zu verschiedenen zukünftigen Zeitpunkten vollzogen werden müssen. Ist der zukünftige Zeitpunkt erreicht, so mag es als günstiger erscheinen, eine andere Politik zu verfolgen, als die, zu der man sich am Anfang entschlossen hatte. Sollte der Wirtschaftspolitiker seine Handlungen überdenken und zu einer neuen optimalen Entscheidung gelangen oder seinen ursprünglichen Plan weiter verfolgen? Dieses Problem der Zeitkonsistenz läßt sich sinnvoll anhand eines Beispiels erläutern. Angenommen, ein Wirtschaftspolitiker hat über die Geldpolitik zu entscheiden. Er hat die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: einer geringen Erhöhung des Geldangebots ( M ¿ = 2%) oder einer stärkeren Erhöhung des Geldangebots ( M H = 6%). Wir unterstellen, daß die Zunahme des Geldangebots die Inflationsrate bestimmt und die monetäre Wachstumsrate tatsächlich der Inflationsrate entspricht. Wird M¿ gewählt, so ist P = 2%, und bei MH ist P = 6%. In jeder Periode muß die Gewerkschaft einen Nominallohn-Vertrag aushandeln auf der Basis ihrer Erwartungen über die Geldpolitik (und folglich über die Inflation), die in dieser Periode gewählt wird. Das Ziel der Gewerkschaft besteht einfach darin, den Reallohn der Arbeitnehmer abzusichern, indem die Veränderung des Nominallohns an die erwartete Inflation angepaßt wird. Sofern die Gewerkschaft von M L ausgeht, wird sie w L = 2%

KAPITEL 1 9 : THEORIE U N D PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

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aushandeln, und bei M y j wird sie w ^ = 6% fordern. Die Handlungsfolge sieht wie folgt aus: 1. Die Gewerkschaft schließt einen Nominallohn-Vertrag auf der Basis ihrer Erwartung über die Geldpolitik und mithin über die Inflation ab. 2. Der Wirtschaftspolitiker entscheidet über die Geldpolitik. 3. Die Volkswirtschaft reagiert auf die Kombination von Geldpolitik und Lohnsetzung. Es gibt vier mögliche Ergebnisse (der Wahl der Geldpolitik kombiniert mit der Lohnänderung) und jedes bringt in bezug auf die Inflation und Arbeitslosigkeit ein bestimmtes Resultat hervor. Wenn P = w ist, verbleibt die Arbeitslosigkeit bei 5%. Wenn die Inflation höher ist als die Änderung des Nominallohns, sinkt die Arbeitslosigkeit auf 3% (wegen des sinkenden Reallohns). Ist die Inflation geringer als die Änderung des Nominallohns, dann steigt die Arbeitslosigkeit auf 7%. Fassen wir die möglichen Ergebnisse zusammen: 1. 2. 3. 4.

Ml Mi Mh Mh

und und und und

w L — Inflation = 2%, Arbeitslosigkeit = 5%; Wfj — Inflation = 2%, Arbeitslosigkeit = 7%; w H — Inflation = 6%, Arbeitslosigkeit = 5%; m>i — Inflation = 6%, Arbeitslosigkeit = 3%.

Angenommen, die Wirtschaftspolitiker sind sehr an einer Verringerung der Arbeitslosigkeit interessiert, selbst wenn dies eine höhere Inflation bedeutet. Die Arbeitnehmer wollen andererseits einfach ihren Reallohn absichern. Beide ziehen eine geringere Inflation einer höheren vor, räumen aber ihren anderen Vorhaben den Vorrang ein. Betrachten wir zunächst die Entscheidung des Wirtschaftspolitikers. Sofern sich die Gewerkschaft bereits zu w L entschlossen hat, dann wird er M f j wählen, weil er eine Arbeitslosigkeit von 3% einer solchen von 5% vorzieht. Hat die Gewerkschaft sich für w H entschieden, so wird der Wirtschaftspolitiker wiederum M H auswählen, um sicher zu sein, daß die Arbeitslosigkeit bei 5% bleibt (da die alternative Geldpolitik zu einer Unterbeschäftigung von 7% führen würde). Gleichgültig, was die Gewerkschaft tut, die Währungsbehörde entscheidet sich für die inflationäre Geldpolitik. Sehen wir uns die Entscheidung der Gewerkschaft an. Da sie im voraus weiß, daß sich die Wirtschaftspolitiker fiir die höhere Inflation entscheiden werden, sichert sie den Reallohn durch die Wahl von w f j ab. Das wirtschaftspolitische Ergebnis entspricht daher der obigen Alternative 3 mit

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TEIL I V : SPEZIELLE F R A G E N

M = M f j und w -w^; das makroökonomische Resultat ist eine Inflation von 6% und eine Arbeitslosigkeit von 5%. Das ist ein unangenehmes Ergebnis. Wäre statt dessen das Geldangebot auf Mi und der Lohn auf wL festgelegt worden, wäre die gleiche Arbeitslosigkeit, der gleiche Reallohn, aber eine niedrigere Inflation herausgekommen, und jeder wäre besser gestellt. Das Problem besteht darin, die Lösung mit geringer Inflation zu erreichen. Angenommen, die Wirtschaftspolitiker verkünden von Anfang an, daß sie sich an eine Geldpolitik, die zu geringer Inflation führt, halten werden; sie versprechen der Gewerkschaft, M L zu wählen. Nehmen wir des weiteren an, daß sich die Gewerkschaft auf Grund dieses Versprechens tatsächlich für wi entscheidet. Sobald der Lohn feststeht, hat der Wirtschaftspolitiker einen Anreiz zum "Betrug", d.h. seine ursprüngliche Entscheidung zu revidieren und sich anders zu verhalten, als versprochen. Indem er statt Mi wählt, nachdem der Lohn festgelegt worden ist, kann die Arbeitslosigkeit verringert werden. Fassen wir die bisherige Argumentation zusammen: Sofern die Löhne zuerst festgelegt werden und die Geldpolitik danach, wählen sowohl die Gewerkschaft als auch der Wirtschaftspolitiker wahrscheinlich die inflationäre Option. Das Ergebnis ist in dem Sinne ineffizient, als die gleiche Arbeitslosigkeit und der gleiche Reallohn zu jedermanns Vorteil bei einer geringeren Inflation hätte erreicht werden können. Das effizientere Resultat könnte realisiert werden, falls der Wirtschaftspolitiker verspräche, die Lösung mit geringer Inflation zu suchen und dadurch die Arbeitnehmer veranlaßt, den Lohn anzustreben, der mit niedriger Inflation einhergeht. Das Problem ist, daß die Ankündigung, einem Pfad geringer Inflation folgen zu wollen, nicht sehr glaubwürdig ist. Die Gewerkschaft weiß (oder sollte wissen), daß der Wirtschaftspolitiker einen Anreiz zur Täuschung hat, sobald der Lohn feststeht. Daher ist das Gleichgewicht bei geringer Inflation tendenziell nicht erreichbar. Eine defensiv agierende Gewerkschaft kann nicht davon überzeugt werden, eine geringe Rate der Lohnveränderung zu wählen, da der Wirtschaftspolitiker nicht dazu gezwungen werden kann, das Versprechen einer niedrigen Inflation einzulösen. Der Versuch, zu einer geringen Teuerung zu gelangen, scheitert, und die Volkswirtschaft gelangt zu einem Gleichgewicht mit hoher Inflation. Übersetzen wir diesen komplexen Fall in die Sprache der Diskussion um Regeln versus diskretionäre Entscheidungen. Falls der Wirtschaftspolitiker bei der Geldpolitik diskretionär handelt, so wird er eine solche wählen, die zu hoher Inflation führt. Da die Gewerkschaft dies weiß, wird sie sich eben-

KAPITEL 19: THEORIE U N D PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

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falls für eine inflationäre Lohnpolitik entscheiden. Wenn der Wirtschaftspolitiker statt dessen dazu gebracht werden könnte, einer Regel zu folgen, die geringe Inflation hervorbringt, könnte ein vorteilhafteres Gleichgewicht erreicht werden. Die Regel könnte einfach besagen, daß die Währungsbehörde verpflichtet ist, unter allen Umständen M i zu wählen. Milton Friedman hat tatsächlich eine sog. X-Prozent-Regel vorgeschlagen, die den Wirtschaftspolitiker bindet, ohne Rücksicht auf die jeweiligen Umstände in jeder Periode die gleiche Wachstumsrate der Geldmenge zu wählen. 21 Friedman hatte die Befürchtung, daß die Währungsbehörde der Versuchung zur Inflationierung erliegt und nur durch eine formale Regel daran gehindert werden kann. Durch Befolgung einer Regel, mit der sich die Währungsbehörde praktisch "die eigenen Hände bindet", begrenzt sie ihre diskretionären Entscheidungen und macht ihre Ankündigung einer Politik der niedrigen Inflation glaubwürdig. Ein weiterer Satz von Begriffen der modernen Spieltheorie ist zur Beschreibung dieser Situation nützlich. Die Strategie MH ist eine zeitkonsistente Strategie der Währungsbehörde insoweit, als sie diejenige Politik ist, die ein rationaler Wirtschaftspolitiker tatsächlich verfolgen würde, der frei ist, die optimale Geldpolitik zum Zeitpunkt der Entscheidung über die monetäre Wachstumsrate zu wählen. Die Strategie M i ist die optimale Politik aus der Sicht der ursprünglichen Ankündigung, aber sie ist zeitinkonsistent insofern, als sie zu dem Zeitpunkt, zu dem über die Geldpolitik tatsächlich zu entscheiden ist, zur Täuschung verführt. Wir können die Zeitkonsistenz formaler ausdrücken. Eine zeitkonsistente Politik ist eine solche, bei der Wirtschaftspolitiker jedesmal, wenn er eine Auswahl trifft, optimiert. Das überraschende Ergebnis besteht, wie wir gesehen haben, darin, daß eine solche Optimierung von Periode zu Periode sehr schlecht sein kann - weil es einfach zu viele diskretionäre Entscheidungen gibt. Die optimale Politik (obwohl zeitinkonsistent) besteht darin, einen Plan oder einen Modus zu wählen, durch den die angestrebten Ziele zu Beginn festgelegt werden und an dem im Zeitverlauf festgehalten wird, ohne der Versuchung zu erliegen, von der Regel abzuweichen. Die Versuchung kann sehr groß sein; durch Täuschung lassen sich häufig die sozialen Verluste verringern. Das Problem ist indes, daß andere Wirtschaftssubjekte in der Volkswirtschaft sehr schnell lernen, die Täuschung zu antizipieren, und jeglicher Vorteil aus der anfänglichen Ankündigung einer optimalen Politik geht verloren, weil man ihr schlicht nicht glaubt.

21

Vgl. Kapitel 4 in Milton Friedman, A Program for Monetary Stability (New York: Fordham University Press, 1960).

796

T E I L I V : SPEZIELLE F R A G E N

Viele Ökonomen haben argumentiert, daß Wirtschaftspolitiker aus eben diesem Grund zu einer übermäßigen Inflation verleitet werden. Robert Barro von der Harvard Universität und David Gordon von der Universität Rochester haben neben anderen hervorgehoben, wie wichtig es ist, Wege zu finden, welche die Wirtschaftspolitiker dazu bringen, optimalen Plänen für eine niedrige Inflation zu folgen und nicht etwa zeitkonsistenten Plänen. 22 Viele derartige Wege sind vorgeschlagen worden. Einer besteht darin, die diskretionären Entscheidungen der Wirtschaftspolitiker zu reduzieren - z.B. durch Gesetz - und einem expliziten Plan von Anfang an zu folgen. Dies war die Idee des Gramm-Rudman-Hollings-Gesetzes in den USA, das den Kongreß und den Präsidenten zu zwingen versuchte, einem Pfad stetig sinkender Budgetdefizite zu folgen. Wie in der Box 19-1 gezeigt, war der Versuch, die Wirtschaftspolitiker zu binden, im besten Falle nur partiell erfolgreich, da schließlich ein Gesetz zu einem späteren Zeitpunkt auch geändert werden kann. Eine andere Methode, eine optimale Politik zu erzwingen, ist die "Bestrafung" der Politiker, die von der von ihnen angekündigten Politik abweichen. Wenn ein Politiker weiß, daß er eine Wahl verliert, oder daß man ihm in Zukunft nicht glaubt, dann wird er sich eher hüten, seine politischen Versprechungen nicht einzuhalten. Ökonomen haben damit begonnen, die Glaubwürdigkeit von Ankündigungen mit Blick auf die Erträge und Kosten der Täuschung zu untersuchen. Angekündigte Pläne können glaubwürdig sein, sofern die Verluste an Reputation oder Wahlchancen bei der Abweichung von diesen Plänen die kurzfristigen Vorteile, anders zu handeln, aufwiegen. Das Problem der Zeitkonsistenz ist bei allen Aspekten der Wirtschaftspolitik erkennbar. Betrachten wir als weiteres Beispiel den Fall von Steuerregeln. Der Staat ist stets darauf bedacht, Steuern zu erheben, da diese eine Quelle nicht-inflationärer Finanzierung seiner Ausgabenprogramme bieten. Zur Erreichung dieses Zwecks, droht das Gesetz im allgemeinen harte Strafen bei Nicht-Erfüllung von Steuerverpflichtungen an. Gleichwohl werden Steuern von vielen Leuten hinterzogen, indem sie entweder ihre Einkommen zu niedrig angeben oder schlicht keine Steuererklärung abgeben. Angesichts einer kritischen Haushaltslage weicht der Staat gelegentlich vom etablierten Steuerrecht ab, um kurzfristig höhere Einnahmen zu erzielen. Eine Methode besteht darin, eine Steueramnestie anzubieten, d.h. der Staat verspricht, von rechtlichen Schritten gegen Steuerhinterziehungen in der Vergangenheit abzusehen, sofern die Steuern während der Amnestiefrist gezahlt werden.

22

Vgl. ihren gemeinsamen Aufsatz "Rules, Discretion and Reputation in a Model of Monetary Policy", Journal of Monetary Economics, Juli 1983.

KAPITEL 19: THEORIE UND PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

BOX 19-1: Die Gramm-Rudman-Hollings-Budgetregel einer Budgetdefizits von Null

zur

797

Erreichung

Das US-Budgetdefizit nahm in der ersten Hälfte der 80er Jahre infolge von Steuersenkungen, verbunden mit höheren Verteidigungsausgaben durch die Reagan-Administration, beständig zu. 1985 erreichte das Defizit 212 Mrd. $ (oder ungefähr 6% des BIP), zu dieser Zeit ein Rekord in der amerikanischen Geschichte. Selbst bei einer weiteren Ausdehnung des Defizits erwiesen sich Kongreß und Präsident als unfähig, einem Programm zuzustimmen, welches das Defizit auf ein erträglicheres Niveau zurückgeführt hätte. Im Februar 1985 übermittelte der Präsident dem Kongreß einen Vorschlag zur Verringerung des Defizits, der im Kern daraufhinauslief, lediglich die inländischen Ausgaben zu kürzen (viele davon in sozial sensiblen Bereichen) und die Verteidigungsausgaben davon gänzlich auszunehmen. Darüber hinaus war der Präsident entschieden gegen Steuererhöhungen. Die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses war mit diesem Vorschlag unzufrieden. Das Repräsentantenhaus und der Senat waren indes in der Frage der Defizitverringerung gespalten, und in beiden Kammern entstanden unterschiedliche Koalitionen. 23 Die Unzufriedenheit eskalierte im Kongreß und in der breiten Öffentlichkeit wegen der Unfähigkeit, sich auf einen Vorschlag zur Defizitreduzierung zu verständigen, der unverzüglich umgesetzt wurde. In dieser Situation brachten Ende 1985 die Senatoren Phil Gramm (Republikaner aus Texas), Warren Rudman (Republikaner aus New Hampshire) und Ernest Hollings (Demokrat aus South Carolina) einen Gesetzesentwurf zur Festlegung automatischer Ausgabenkürzungen für den Fall ein, daß eine Einigung über ein Programm zur Verringerung des Defizits nicht erreicht werden konnte. Dieser Vorschlag wurde im Oktober 1985 vom Kongreß als "Balanced Budget and Emergency Act" (Public Law 99-177) zügig verabschiedet; das gewöhnlich als Gramm-Rudman-Hollings(GRH)-Gesetz bezeichnet wird. Das GRH-Gesetz aus dem Jahr 1985 legte maximale Defizitziele fest, die mit 180 Mrd. $ für das Haushaltsjahr 1986 begannen und das Defizit bis 1991 allmählich aufNull senken sollten. Diese Ziele sollten durch automatische, über alle Ressorts gehende Kürzungen von Ausgabenprogrammen erreicht werden, wenn sich Kongreß und Präsident nicht auf einen Plan zur Verringerung der Defizite verständigen konnten. Das Gesetz legte ferner fest, daß die Ausgabenkürzungen gleichmäßig auf die Inlandsprogramme und Verteidigungsausgaben verteilt werden. Später wurden eine Reihe von 23

Zur Diskussion des politischen Hintergrunds des Gramm-Rudman-Hollings-Gesetzes vgl. Darrel West, "Gramm-Rudman-Hollings and the Politics of Debt Reduction", Annais of the American Academy of Political and Social Science, Sept. 1988.

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T E I L I V : SPEZIELLE F R A G E N

Sozialprogrammen, aber auch einige Verteidigungsausgaben von diesen automatischen Kürzungen ausgenommen. Angesichts der Schwierigkeiten, diese Ziele zu erfüllen, wurde der ursprüngliche Fahrplan 1987 recht schnell (durch das "Balanced Budget and Emergency Deficit Control Reaffirmation Act") geändert. Tabelle 19-1 zeigt die ursprünglichen Defizitziele, die revidierten Ziele, die tatsächlichen Defizite sowie die offiziellen Projektionen für die Periode 1986-1995. Der Zielplan wurde Ende 1990 erneut durch eine Budgetvereinbarung zwischen dem Weißen Haus und dem Kongreß verändert, nachdem erhebliche Zunahmen bei den Projektionen für das Budgetdefizit eingetreten waren (im wesentlichen infolge der wirtschaftlichen Rezession, die im 3. Quartal 1990 begann, sowie wegen der Kosten des Golfkriegs). Das sog. "Omnibus Reconciliation Act" aus dem Jahr 1990 legte Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen von rund 500 Mrd. $ für den Zeitraum 1991-95 fest, jedoch keine festen Defizitziele oder "Durchsetzungs-Mechanismen" wie das GRH-Gesetz. Gemäß neuer Projektionen sollte sich das Budgetdefizit 1991 auf über 300 Mrd. $ belaufen, also für das Jahr, in dem nach den Zielen des GRH-Gesetzes ein Fehlbetrag von Null hätte erreicht werden sollen. Trotz seiner harten Sprache gegen unausgeglichene Budgets bewirkte das GRH-Gesetz sehr viel weniger als eine kleine Delle in dem Defizit, das dem Papier nach gefordert war, wie sich in der Tatsache zeigt, daß der tatsächliche Fehlbetrag während der gesamten Periode der Gültigkeit des Gesetzes systematisch die Ziele übertraf. Wie konnte das geschehen? Ein Teil der Ursache war in den Details des Gesetzes selbst begründet. Die Ausgabenkürzungen wurden nicht auf Grund der tatsächlichen Defizite vollzogen, sondern auf der Basis einer Prognose durch das Congressional Budget Office (CBO) und des Office of Management and the Budget (OMB). Da sich die Vorhersagen auf in hohem Maße optimistische Annahmen über das Einkommenswachstum und die Zinssätze stützten, blieben die budgetären Aktionen unzureichend, um das tatsächliche Defizit den GRH-Zielen entsprechend zu verringern. Auch dadurch, daß man einige Ausgaben aus dem Budget herausnahm, wurde das GRH-Gesetz geschwächt. Ein weiterer Grund war einfach der, daß immer dann, wenn das Gesetz zu greifen begann, die GRH-Ziele durch Gesetzesänderungen revidiert wurden. Wahrscheinlich hat diese Gesetzgebung eine gewisse Rolle bei der Begrenzung der Budgetdefizite gespielt, zumindest im Vergleich zu dem, was sonst geschehen wäre, aber die Ergebnisse blieben weit hinter den ambitionierten Zielen zurück. Diese Erfahrung verdeutlicht die Schwierigkeiten, klare und operationale Regeln zur Begrenzung diskretionärer Entscheidungen von Wirtschaftspolitikern zu etablieren.

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KAPITEL 19: THEORIE U N D PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

Tabelle 19-1: Das Gramm-Rudman-Hollings-Gesetz und das Budgetdefizit der USA, 1986-1995 (Mrd. US-$) Defizit-Ziele des GRH-Gesetzes Haushaltsjahr 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995

ursprüngl.

revidier;

172 144 108 72 36 0 0 0

172 144 144 136 100 64 28 0

-

Projektion tatsächl. Defizit 221 150 155 153 220 -

-

CBO ()*

OMB _

-

-

-

-

-

159 161(309) 124(294) 132(221) (69)

-

122 101 73 39

-

* In Klammern revidierte CBO-Projektion, Jan. 1991. Quelle: Robert Keith, "Sequestration Action for FY1991 Under the Gramm-Rudman-Hollings Act", Congressional Research Service Issue Brief, Mai 1990. Tatsächliches Defizit: Economic Report of the President, Feb. 1991

Eine Steueramnestie ist eine zeitkonsistente Politik, aber nicht notwendigerweise eine optimale. Der Staat verzichtet auf die Durchsetzung einer Regel, auf die er sich in der Vergangenheit selbst verpflichtet hat, um kurzfristig zusätzliche Einnahmen zu erreichen. Aber langfristig hat das Kosten. Die Glaubwürdigkeit des Staates ist beschädigt, und die Bürger könnten sich darauf verlassen, daß weitere Steueramnestien in der Zukunft angeboten werden, so daß sich noch mehr Bürger zur Steuerhinterziehung entschließen. Allein die Aussicht auf eine Steueramnestie könnte schon zu Beginn zu den Steuerausfällen beigetragen haben. Die Steueramnestie könnte formal gesehen zwar eine zeitkonsistente Politik sein, aber sie ist langfristig nicht unbedingt optimal. Ein weiteres Beispiel sind Patente. Um die Kreativität zu erhalten, wird denjenigen, die neue Technologien entwickeln, für eine bestimmte Zeit ein Monopol für ihre Erfindungen eingeräumt. Sobald der Durchbruch gelungen ist, könnten die Behörden jedoch versucht sein, den Patentschutz aufzuheben, um die Technologie jedermann zugänglich zu machen. Also beispielsweise dann, wenn ein medizinischer Durchbruch zu einer Wunderdroge gefuhrt hat, deren Verbreitung aber durch den Umstand behindert wurde, daß es von einem Pharma-Unternehmen mit einem temporären Monopol kon-

800

TEIL I V : SPEZIELLE FRAGEN

trolliert wurde. Die zeitkonsistente Politik könnte in einer Aufhebung des Patentschutzes liegen, um eine Verbreitung des Produkts zu ermöglichen. Aber die Aufhebung des Patentschutzes wäre vom ursprünglichen Standpunkt aus gesehen keine optimale Politik, weil die Befürchtung, der Patentschutz könnte nicht durchgesetzt werden, den Anreiz für kreative Menschen, neue Produkte und Technologien zu entwickeln, verringert. Deshalb gewähren die meisten Länder strikte Eigentumsrechte an technologischen Neuerungen, auch wenn dies zu unerwünschten Monopolen fuhren kann. Regelbingungen versus diskretionäre Politik Wir sahen, daß das Problem der Zeitkonsistenz Teil eines allgemeineren Themas ist, nämlich der Diskussion über Regelbindungen versus diskretionäre Politik. Sollten die Wirtschaftspolitiker die Freiheit haben, politische Entscheidungen zu treffen, oder sollten sie dazu verpflichtet werden, bestimmten Regeln zu folgen? Die Regeln selbst würden vermutlich das Resultat eines Optimierungsprozesses sein, ähnlich dem, der in diesem Kapitel durchweg beschrieben wurde. Die Unzulänglichkeiten einer Optimierung von Fall zu Fall sind das Hauptargument zugunsten von Regelbindungen an Stelle von diskretionären Entscheidungen. Aber es gibt auch Argumente zugunsten der letzteren. Wenn das ökonomische Modell nicht mit hoher Zuverlässigkeit bekannt ist, und Kenntnisse über die Struktur der Volkswirtschaft wahrscheinlich erst im Zeitablauf gewonnen werden, dann sind strikte Regeln im allgemeinen nicht klug. Wenn sich die Informationen über die Volkswirtschaft ändern, dann sollte dies auch für die Handlungsregeln der Wirtschaftspolitik gelten. Befürworter von Regelbindungen heben hervor, daß eine gewisse Flexibilität in die Regeln selbst eingebaut werden kann. Es kann insbesondere eine Unterscheidung gemacht werden zwischen festen Regeln und solchen mit Rückkoppelung (Feedback-Regeln). Feste Regeln legen eine spezifische Politik fest, ohne Rücksicht darauf, was in der Volkswirtschaft geschieht. Im Gegensatz dazu erlauben Feedback-Regeln Anpassungen der Politik an Veränderungen des Zustands der Volkswirtschaft, allerdings nach Maßgabe einer vorher festgelegten Formel. Der vermutlich berühmteste Vorschlag für eine feste Regel ist die von Milton Friedman gemachte monetaristische Anregung, daß die Geldpolitik - was auch immer geschieht - auf eine feste Wachstumsrate der Geldmenge beschränkt wird. Offensichtlich basiert ein solcher Vorschlag auf einem tiefen Mißtrauen gegenüber jeglichem wirtschaftspolitischen Aktionismus. Eine typische Feedback-Regel ist eine solche, bei der Zinssätze erhöht oder gesenkt werden in Reaktion auf eine Abweichung der Arbeitslosenquote von der natürlichen Rate.

KAPITEL 19: THEORIE U N D PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

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Einige Handlungen können schlicht nicht an Regeln gebunden werden. Wenn außergewöhnliche Ereignisse eintreten, dann existieren typischerweise keine formalen Regeln, die fiir die Wirtschaftspolitiker zum Gebrauch verfügbar wären. Ein gutes Beispiel für eine wahrhaft diskretionäre Handlung ist die Geldpolitik, die auf den Börsenkrach am Freitag, den 13. Oktober 1987 folgte. Nachdem der Dow Jones Industrial Average (ein Index der Aktienkurse an der New Yorker Börse) an einem einzigen Tag um mehr als 500 Punkte abgestürzt war, lockerte der Präsident der Federal Reserve die Zügel der Geldpolitik und intervenierte direkt bei verschiedenen Wertpapierhändlern, um sicherzustellen, daß sie wenigstens für den nächsten Tag über ausreichende Liquidität verfugten. Dieser Aktion im wesentlichen wird zugute gehalten, daß sie eine noch viel tiefere Krise nach dem Kollaps der Börse verhindert hat.

19-6 Einige Aspekte des tatsächlichen staatlichen Verhaltens Wir haben eine Diskussion über die normative Theorie der Wirtschaftspolitik geführt, oder darüber, wie sich Politiker verhalten sollten. Eine andere Dimension der Theorie der Wirtschaftspolitik ist die der positiven Theorie, also darüber, wie sich Wirtschaftspolitiker tatsächlich verhalten. In diesem Abschnitt werfen wir einen kurzen Blick auf verschiedene Aspekte der positiven Theorie staatlichen Verhaltens. Wie man sich denken kann, weicht der Staat häufig sehr drastisch von der Politik ab, die von der normativen Theorie nahegelegt wird. Wir müssen zunächst zur Kenntnis nehmen, daß der öffentliche Sektor keine geschlossene Einheit darstellt. Jede staatliche Handlung ist daher im allgemeinen das Resultat von Entscheidungen, die auf verschiedenen Ebenen gefällt werden. Nicht nur, daß der Zentralstaat aus verschiedenen Zweigen besteht (Exekutive, Legislative und Judikative), er ist auch nur ein Beteiligter; die anderen schließen die Einzelstaaten und Kommunen, die Notenbank, halbautonome Agenturen, öffentliche Unternehmen usw. ein. Diese staatlichen Institutionen erfreuen sich unterschiedlicher Grade der Unabhängigkeit von der zentralen Administration. Eine Handlung, von der wir annehmen, daß sie von einem einzelnen politischen Träger durchgeführt wird, mag rätselhaft erscheinen, sie kann jedoch durchaus einen Sinn haben, sobald wir erkennen, wie die Macht aufgeteilt ist. So hat z.B. eine jüngere Untersuchung über Lateinamerika gezeigt, daß die expansive staatliche Politik in den 70er und frühen 80er Jahren häufig mit öffentlichen Unternehmen, Regionalregierungen und quasi-fiskalischen Ausgaben der Zentralbank verbunden war, nicht aber unmittelbar mit dem

802

TEIL IV: SPEZIELLE FRAGEN

Budget des Zentralstaates. 24 Selbst wenn der Finanzminister in finanziellen Dingen konservativ war, lagen häufig sehr hohe und chronische Budgetdefizite außerhalb seiner Kontrolle. Im allgemeinen muß sich eine vollständige, positive Theorie der Wirtschaftspolitik auf verschiedene Dimensionen der politischen Struktur konzentrieren. Welche Institutionen treffen wirtschaftspolitische Entscheidungen? Welche Anreize bestehen für die Individuen innerhalb dieser Institutionen? Gibt es Machtzentren, die hinsichtlich einer bestimmten Politik, etwa des fiskalpolitischen Managements, miteinander konkurrieren? Wie wird der politische Wettbewerb durch das Wahlrecht gelenkt? Ist die Wählerschaft in bezug auf ökonomische Fragen kompetent genug, um die Handlungen der Politiker wirksam zu überwachen? Existiert eine freie Presse und Redefreiheit, um eine öffentliche Kontrolle der Wirtschaftspolitik zu ermöglichen? Obwohl wir diese Fragen nicht ausfuhrlich erörtern können, dürften sie die Komplexität der Formulierung einer positiven Theorie der Wirtschaftspolitik verdeutlichen. Wir wollen ein Einzelthema betrachten, statt einen Überblick über die allgemeine Theorie zu geben, damit sichtbar wird, inwieweit die normative Theorie durch die positive Theorie der Wirtschaftspolitik ergänzt wird. Ein generelles Muster, das wir verschiedentlich erwähnten, ist die Tendenz des Staates, eine übermäßig expansive Fiskalpolitik zu betreiben. Zur Erklärung dieses Verhaltens sind verschiedene Erklärungen angeboten worden. Eine solche haben wir soeben diskutiert: die zu einer inflationären Schieflage neigende zeitkonsistente Politik. Aber es gibt auch andere Erklärungen, die sich sowohl auf politische als auch ökonomische Überlegungen stützen. Erstens gibt es einen politischen Konjunkturzyklus, in dem die auf Machterhalt ausgerichteten Regierungen den Wahlausgang zu beeinflussen versuchen, indem sie unmittelbar vor der Wahl eine expansive Fiskal- und Geldpolitik verfolgen. Einige Forscher haben die Existenz von politisch veranlaßten zyklischen Expansionen, die Wahlen zeitlich vorausgehen, sorgfältig dokumentiert. Eine kontraktive Politik tritt, soweit sie überhaupt vorkommt, gewöhnlich erst nach Wahlen auf. 25

24

Vgl. Felipe Larrain und Marcelo Selowsky, Hrsg., The Public Sector and the Latin American Crisis (San Francisco: ICS Press, International Center for Economic Growth, 1991). 25

Z w e i klassische Arbeiten zum politischen Konjunkturzyklus sind: Edward Tufte, Political Control of the Economy (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1978) s o w i e William Nordhaus, "The Political Business Cycle", Review of Economic Studies, April 1975.

KAPITEL 19: THEORIE U N D PRAXIS DER WIRTSCHAFTSPOLITIK

803

Zweitens können Regierungen, die von einer Mehr-Parteien-Koalition gebildet werden, Schwierigkeiten haben, Einigung über ein unpopuläres Sparprogramm, soweit dieses notwendig wird, zu erzielen. Die empirischen Befunde zeigen, daß es Koalitionsregierungen schwerer gefallen ist, das Wachstum der öffentlichen Ausgaben nach den negativen Angebotsschocks der 70er Jahre zu begrenzen als Ein-Partei-Regierungen, und es stellten sich daher höhere Budgetdefizite ein. 26 Es ist ebenfalls naheliegend, daß in Ländern mit häufigem Wechsel der politischen Macht zwischen rivalisierenden Parteien sich eine Neigung zu übermäßig expansiver Fiskalpolitik ergibt. Die amtierende Regierung weiß, daß die rivalisierende Partei wahrscheinlich ihre Nachfolge antreten wird, und sie ist geneigt, dieser die Bürde eines höheren Budgetdefizits zu hinterlassen. 27 Drittens könnten sich Politiker, solange sie im Amt sind, allein für die wirtschaftliche Leistung interessieren, nicht aber für die später erforderlichen Anpassungen. Sie könnten versuchen, Kredit aufzunehmen, wann immer ausleihbare Fonds verfügbar sind, trotz der Tatsache, daß die Kredittilgung eine schwere Bürde für die Zukunft bedeutet. Die Frage hierbei ist, ob die Öffentlichkeit hinreichend gut informiert ist und ausreichenden Einfluß besitzt, diese kurzfristige Neigung der Politiker zu mäßigen. Für viele Länder muß dies in den 70er Jahren verneint werden. Die Entwicklung der Welt-Kapitalmärkte erlaubte plötzlich in den frühen 70er Jahren vielen Staaten, sich erstmals auf den internationalen Märkten ungehindert zu verschulden. Viele Regierungen tätigten ungehemmt Ausgaben, entweder zur Finanzierung pompöser Investitionsprogramme oder zur Finanzierung großer Budgetdefizite infolge hoher inländischer Subventionszahlungen. Bei der Untersuchung von Hyperinflationen in Kapitel 22 werden wir "schwachen" Regierungen begegnen, denen es an politischer Unterstützung oder institutioneller Macht fehlt, die zur Kontrolle fiskalischer Ausgaben erforderlich sind. Es liegt in der Natur der Sache, daß es für schwache Regierungen schwierig ist, dem Druck unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zu widerstehen, und daß sie dazu neigen, die Ausgaben zu erhöhen, um diese Gruppen zufriedenzustellen. Zugleich fehlt ihnen jedoch die Fähigkeit, diese Ausgaben durch Steuern zu finanzieren, und dies läßt hohe Finanzdefizite entstehen, die Phasen sehr hoher Inflationen einleiten. Wir werden schließlich in Kapitel 22 die verwirrende Frage behandeln, warum Regierungen Stabilisierungsanstrengungen zurückstellen. Das Zö26

Vgl. Nouriel Roubini und Jeffrey Sachs, "Political and Economic Determinants of Budget Deficits in the Industrial Democracies", European Economic Review, Mai 1989. 27

Vgl. Alberto Alesina und Guido Tabellini, "A Positive Theory of Fiscal Deficits and Government Debt in a Democracy", NBER Working Paper, No. 2308, 1987.

804

TEIL IV: SPEZIELLE FRAGEN

gern, gegen eine hohe Inflation vorzugehen