Mahler-Interpretation: Aspekte zum Werk und Wirken von Gustav Mahler 3795717884, 9783795717889

Dieser Band enthält die (zum Teil erheblich erweiterten) Referate, die aus Anlass des Internationalen Gustav-Mahler-Symp

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Mahler-Interpretation: Aspekte zum Werk und Wirken von Gustav Mahler
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Interpretation Aspekte zum Werk und Wirken von Gustav Mahler Herausgegeben von Rudolf Stephan

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Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT Der Abdruck der Notenbeispiele und der Faksimilia geschieht mit freundlicher Genehmigung der Internationalen Gustav-Mahler-Gesellschaft, Wien, der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien, der Stadt- und Landesbibliothek Wien sowie der Verlage C. F. Kahnt und Universal Edition, Wien.

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Bestellnummer :ED 7260

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© B. Schott’s Söhne, Mainz, 1985 Printed in Germany - BSS 45 632 Umschlaggestaltung :Günther Stiller, Taunusstein

ISBN 3-7957-1788-4

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Vorbemerkung Im Rahmen der zyklischen Aufführung des Gesamtwerks von Gustav Mahler in NordrheinWestfalen fand in Düsseldorf unter Leitung des Unterzeichnenden vom 30. Oktober bis 1. November 1979 ein Internationales Gustav-Mahler-Symposium statt, das dank der Initiative von Dr. Karl Richter, dem Leiter des Sekretariats für gemeinsame Kulturarbeit Nordrhein-Westfalen im Robert-Schumann-Institut der Hochschule für Musik Rheinland (Leitung Prof. Dr. Helmut Kirchmeyer) durchgeführt werden konnte. Zweck dieses Symposiums war es, denen, die sich um Mahlers Werk ernstlich bemühen, Gelegenheit zu geben, dem Gespräch von Fachgelehrten über wissenschaftlich aktuelle Probleme der MahlerForschung beizuwohnen. Die Hauptsache war außer dem Vortrag von Forschungsergebnissen das wissenschaftliche Gespräch über diese Ergebnisse und über sich daraus ergebende neue Fragen. Diese Gespräche, die zum Teil sehr lebhaft waren, gaben der Veranstaltung ihr besonderes Gepräge. Im Zentrum der wissenschaftlichen Befassung mit Mahlers Werk standen Fragen der Interpretation und der Rezeption: Mahler als Interpret klassischer Werke (vor allem von Beethoven und Schumann), die Interpretation Mahlers, die eigentliche Mahler-Tradition. Daß die Interpretationsfragen ohne geleistete Analyse nicht sinnvoll zu erörtern sind, war schon zuvor bekannt, in welchem Umfang jedoch adäquate Interpretation Analyse voraussetzt, wurde wohl zum ersten Mal in Düsseldorf deutlich.

Das Symposium war in Sektionen unterteilt: Komponisten über Mahler, Mahler als Interpret, Die Tradition der Mahler-Interpretation, Mahler-Rezeption, Mahlers Schule. Die durch diese Titel bezeichneten Themenkreise standen in unmittelbarem Zusammenhang mit der im Heinrich-Heine-Haus gezeigten Ausstellung Gustav Mahler: Autographe — Partituren — Dokumente, mit der das Symposium als Ganzes in mancher Hinsicht inhaltlich eine Einheit bildete. Beide zusammen stellten denn auch den wissenschaftlichen Teil des großen Mahler-Zyklus dar, der dem Werk Mahlers zahlreiche neue Freunde geworben hat. Der Zyklus war ein ganz großer Erfolg einerseits für Mahlers Kunst, andererseits für eine planvoll angelegte und großzügig realisierte Kulturpolitik. Wie das Symposium die Ausstellung glücklich ergänzte, so wird auch der vorliegende Bericht über das Symposium den Katalog der Ausstellung, der als Buch erschienen ist', ergänzen. Beide zusammen dokumentieren den wissenschaftlichen Teil des Mahler-Zyklus, den zu betreuen der Unterzeichnende die Ehre hatte. Er dankt noch einmal allen Herren Referenten und Gesprächsteilnehmern sowie Herrn Dr. Karl Richter (Wuppertal). Rudolf Stephan 1 Gustav Mahler, Werk und Interpretation: Autographe — Partituren — Dokumente. Zusammengestellt und kommentiert von Rudolf Stephan, mit einem Beitrag von Bruno Walter. Köln 1979

Hier die Berichtigung einiger Versehen und Druckfehler:

S. 24: Nr. 2a Die drei Pintos. Der 3. Absatz soll beginnen :Lithographierte Partitur der Oper in 2°, 124. 16. 78 u. 135 5. Der nächste Satz: Aus den Nummern am unteren Rand — 2953 1. 2953*. 2953 II. 2953 III — usf.

S. 35: Nr. 13. Mahler, Wunderhornlieder. Die Datumsangabe fol. 6’ lautet: Hamburg/1. Feber 92; fol. 8°: Samstag, 6. Februar 92/Hamburg S. 83, col. a, 8. Zeile: Musikschriftsteller, S. 85, col. a, Nr. 45, Zeile 3/4: (Vgl. oben Nr. 33, VII) S. 91, col. a, 8. Absatz, 2.-3. Zeile: seiner Vor- und Mitfahren $. 102, Nr. 63, 2. Absatz, 2. Zeile: 25. März 1912

$. 115, col. b, 2. Absatz, Zeile 4: statt „Sehen“, lies: Sehnen

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Marius Flothuis

Kapellmeistermusik 1: In einem Artikel über die im Rahmen des Holland Festivals 1969 aufgeführte Symphonie von Luciano Berio habe ich die Behauptung aufgestellt, es sei allmählich Zeit, eine Studie über Geschichte und Bedeutung des musikalischen Zitats zu verfertigen!. Einige Jahre später habe ich dann in Utrecht einen Vortrag gehalten über das Thema Vom Zitat zum Plagiat ;dabei kam die ganze Skala, von Anspielung über Selbstzitat, Gedächtniszitat und Huldigung bis zum bewußten Zitat und zum Plagiat, zur Sprache; der Inhalt dieses Vortrages wurde später im Band Notes on Notes abgedruckt?. Mit diesem Artikel beanspruchte ich übrigens nicht, der zuvor formulierten Forderung entsprochen zu haben ; auch die Aufsätze von Gernot Gruber, Tibor Kneif, Zofia Lissa, Günther von No& und Dieter

Schnebel? beschränken sich auf Ausführungen über das bewußte Zitat und erheben keinen Anspruch darauf, die ganze Materie erschöpfend behandelt zu haben. vr In der Mahlerliteratur kommt hin und wieder das Wort „Kapellmeistermusik“ vor, womit

bekanntlich ein Eklektizismus gemeint ist, der besonders bei Komponisten in Erscheinung tritt, die auch als Dirigenten tätig sind. Übrigens sind es nicht etwa die Autoren, die Mahlers Musik als Kapellmeistermusik bezeichnen; vielmehr zitieren sie eine mündliche Tradition, die Mahler bezichtigt, Musik dieser Art geschrieben zu haben*. Die oben genannten Autoren stimmen in zwei wesentlichen Punkten überein: a) die Anwendung eines musikalischen Zitats entspricht einer Intention des Autors, ist also „bewußst“ (ganz abgesehen davon, daß das Zitat verschiedenartige Funktionen im neuen Kontext haben kann); b) die Wirkung

des Zitats hängt von dem Vermögen des Hörers ab, es als solches zu identifizieren und zu interpretieren.

3

Wer Pech angreift, besudelt sich — dieses Sprichwort könnte als Motto einer Abhandlung dienen, die dem Einfluß nachgeht, den die Kompositionen, die ein komponierender Dirigent (oder dirigierender Komponist) aufführt, auf seine eigenen Werke haben. Wenn bei Mahler überhaupt von Kapellmeistermusik die Rede sein kann, so kann es sich nur um die Verwendung von unbewußten Zitaten, oder Gedächtniszitaten handeln. (Das schließt an sich nicht

1 Enige gedachten naar aanleiding van het Holland Festival 1969, in: Feniks, September 1969, S. 20-21

2 Marius Flothuis : From Quotation to Plagiarism, in: Notes on Notes, [Amsterdam] 1974, S. 139 —157 3 Gernot Gruber: Das musikalische Zitat als historisches und musikalisches Problem, in: Musicologica Austriaca,

1 (1977), S. 121-135; Tibor Kneif: Zur Semantik des musikalischen Zitats, in: Neue Zeitschrift für Musik Jg. 134 (1973), 5. 3-9; Zofia Lissa: Ästhetische Funktionen des musikalischen Zitats, in: Aufsätze zur Musikästhetik, Berlin 1969, S. 141— 155 ; Günther von No&: Das musikalische Zitat, in: Neue Zeitschrift für Musik Jg. 123 (1964), S. 134-137; ders.: Das Zitat bei Richard Strauss, in: Neue Zeitschrift für Musik Jg. 124 (1965), S. 234— 238;

Dieter Schnebel: Das Spätwerk als neue Musik, in: Gustav Mahler, Tübingen 1966, S. 168 — 188 + so z.B. Dika Newlin :Bruckner

— Mahler — Schönberg, New York 1978, S. 136

Marius Flothuis

aus, daß auch bei Mahler bewußte Zitate vorkommen können ;man sollte dann aber auch imstande sein, den Grund für das gewählte Zitat aufzuzeigen, wie es Zofia Lissa und Tibor Kneif in den genannten Aufsätzen getan haben.) Bei einem Dirigenten, der die Werke, die er aufführen muß, so intensiv studiert, wie es Mahler eben getan hat, ist es nicht weiter verwunderlich, daß hin und wieder etwas vom Studierten in seine eigenen Werke hineingerät. Und nicht nur vom Studierten! Wir können vielmehr drei Kategorien von Quellen annehmen, aus denen der Komponist (unbewußt) schöpft:

1. Werke, die er (auf dem Klavier) gespielt oder dirigiert hat; 2. Werke, die er gehört hat oder hätte hören können; 3. Werke, die er studiert hat. Dank der Veröffentlichung der Dokumentation Vondenhoff° sind wir besonders über die erste Kategorie jetzt ziemlich gut informiert. Was die zweite und dritte Kategorie betrifft, müssen wir uns weitgehend auf Annahmen beschränken. Bevor wir an eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Aufgeführtem, Gehörtem und Studiertem einerseits und Mahlers Kompositionen anderseits herangehen, sind noch einige Feststellungen zu machen:

a) Die Übereinstimmung zwischen einem Passus in einem Werk Mahlers und einem Passus in einem Werk eines anderen Komponisten ist an sich noch kein Zeugnis eines (bewufßsten oder unbewußten) Zitates. b) Kreativität stimuliert Kreativität. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: die gegenseitige Beeinflussung von Haydn und Mozart legt hiervon ein beredtes Zeugnis ab. c) Wenn man einen Passus in einem Werk als Zitat bezeichnet, muß man glaubhaft machen können, daß der Komponist das Werk, aus dem er vielleicht zitiert, tatsächlich gekannt hat oder doch wenigstens hätte kennen können.

Da die meisten Autoren nur dann von Zitat sprechen, wenn es sich um eine bewußte Übernahme handelt, werden wir im folgenden, anstatt von „unbewußten Zitaten“ oder „Gedächtniszitaten“, von „Entlehnungen“ sprechen. Dieses neutrale Wort ermöglicht es uns, in jedem einzelnen Fall festzustellen, ob es sich um bewußtes Zitieren, um ein Selbstzitat, um einen Einfluß des Gedächtnisses, um eine Huldigung, eine Parodie oder gar um ein Plagiat handelt. 4.

In der Mahlerliteratur werden einige Entlehnungen immer wieder genannt, die so offensichtlich sind, daß sie jeder Esel gleich merkt (das ist nun ein bewußtes Zitat). Ich erinnere an die Motive aus Schuberts Es-Dur-Sonate für Klavier (D 568) und aus der D-Dur-Sonate (D 850) in Mahlers 4. Symphonie; an einen Passus aus Liszts Spanischer Rhapsodie im Posthornsolo der 3. Symphonie; an den Anfang der 3. Symphonie, in dem sich zum

mindesten der Rhythmus des Hauptthemas aus dem Finale von Brahms’ 1. Symphonie widerspiegelt; an den Anfang des VI. Satzes der 3. Symphonie, in welchem die melodische Linie aus dem Largo von Beethovens Streichquartett op. 135 (bei veränderter Rhythmik) wiederkehrt. Das Thema aus Liszts Klavierkonzert in Es:

° Gustav Mahler Dokumentation

— Sammlung Eleonore Vondenhoff, Materialien zu Leben und Werk, heraus-

gegeben von B. und E. Vondenhoff, Tutzing 1978

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Kapellmeistermusik

das in der 6. Symphonie (mit zwei Alterationen) wiederkehrt, könnte darauf hinweisen, daß Mahler dieses Konzert mit den Wiener Philharmonikern aufgeführt hat. Ich habe schon früher dargelegt, daß das Konzert in diesen Jahren zwar gespielt wurde, nur eben nicht von Mahler dirigiert. Aber er hat das Werk in seiner Studienzeit natürlich gehört, vielleicht sogar selber studiert, und so mag sich das Motiv in sein Unterbewußtsein eingesenkt haben. Das Echo aus Schuberts Sonate D 784, das wir an einigen Stellen im I. Satz der 1. Symphonie hören:

Mahler

läßt wohl den Rückschluß zu, daß die Sonate in a-Moll, die Mahler laut den vorhandenen Berichten in seiner Studienzeit gespielt hat, eben diese war. Ebenso glaube ich, daß die Ballade von Chopin, die er am 12. 9. 1876 spielte, diejenige in g-Moll, op. 23, gewesen ist:

Der Orgelpunkt auf e mit dem Hin- und Herpendeln zwischen fis und gis in der Oberstimme findet sich mit dem gleichen Spannungsgehalt im Klagenden Lied. Um klarzumachen, wie vorsichtig man sein muß mit Konklusionen nur aufgrund von Ähnlichkeiten gewisser Motive oder melodischer Linien, zeige ich einige Takte aus einem Lied von Schubert, Mainacht (D 194), Text von Hölty:

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Die Ähnlichkeit mit dem Beginn des ersten der Lieder eines fahrenden Gesellen ist auffällig genug. Die Erstveröffentlichung des Liedes von Schubert erfolgte aber erst 1894, also etwa zehn Jahre nach der Komposition der Lieder eines fahrenden Gesellen. Möglich ist allerdings, daß beide Werke auf eine gemeinsame Quelle (ein Volkslied ?) zurückgehen. Auch die Ähnlichkeit zwischen dem ersten Thema

des Andante

aus Mozarts

„Linzer“

je und dem Trio des Scherzos aus Mahlers 1. Symphonie, sowie zwischen der Arie ELLE Lieder eines fahrenden Gesellen scheint mir eher zufällig. Die „Linzer“ Sinfonie gehörte damals wohl kaum zum gewöhnlichen Orchesterrepertoire (in Amsterdam wurde sie 1934 zum ersten Mal gespielt!), und wenn im Opernbetrieb von Weber die Rede war, so doch wohl in erster Linie im Hinblick auf den Freischütz. „Möglich“ ist es allerdings, daß Mahler solche Werke studiert hat.

SH; Ich habe anhand der Vondenhoff-Dokumentation eine stattliche Reihe von Partituren, die Mahler dirigiert hat, studiert (bei weitem nicht alle — das sei hier gleich zugegeben) und dabei mit Erstaunen festgestellt, wie wenig musikalisches Material aus den Werken der Meister, die Mahler am meisten verehrt hat, in seine eigenen Werke eingegangen ist. 12

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„Abgesehen von den schon genannten Beispielen könnte man noch auf eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Anfang des zweiten Satzes des Klagenden Liedes, dem Hochzeitsstück, mit dem Siegfriedmotiv aus Wagners Ring hinweisen, wohl auch auf die Parallele zwischen dem Meistersinger-Vorspiel und dem Finale der 7. Symphonie und auf die Verwandtschaft des Adagios der 10. Symphonie mit dem Adagio der „Neunten“ von Bruckner. Aber überall handelt es sich um eine gewisse äußere oder innere Ähnlichkeit, nicht um Zitate oder Entlehnungen im eigentlichen Sinne. Dieses Studium hat mich übrigens auf die Spur einiger merkwürdiger Tatsachen geführt. Es handelt sich hier um drei französische Komponisten, die — in sehr unterschiedlicher Weise



ihre Spuren in Mahlers Werken

hinterlassen haben, nämlich Hector Berlioz,

Emmanuel Chabrier und Georges Bizet. Und in zwei Fällen handelt es sich wieder um Werke, von welchen sich nicht nachweisen läßt, daß Mahler sie dirigiert hat. Wir wissen, dafs Mahler des öfteren die Symphonie fantastigque und einige Ouverturen von Berlioz aufgeführt hat. Ich halte es für wahrscheinlich, daß ihm auch die Stücke, die er nicht dirigiert hat, bekanntgeworden sind, ja, daß er sie sogar studiert hat. Die Ouverture Les Francs-juges ist eine jener Kompositionen, in welchen Berlioz das Orchester (an einer Stelle) in zwei Gruppen teilt, und jeder einzelnen eine eigene Funktion zuweist: L’orchestre prend ici un double caractere ; les instruments a cordes doivent, sans couvrir les Flütes, executer cependant avec un accent rude et farouche ; les Flütes et Clarinettes, au contraire, avec une

expression douce et melancolique (Ziffer 7). Siehe Notenbeispiel Seite 14. Es ist dies die Stelle, an welcher die Bratschen pianissimo ein Tremolo tres serre auf g spielen; Flöten und Klarinetten bringen ein von der Quinte über Terz und Sekunde zum Grundton herabsteigendes melodisches Gebilde; die Violinen werfen ein kurzes Motiv in Achteln dazwischen. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß diese Kombination das Vorbild für den Anfang der 2. Symphonie gewesen ist. Dazu kommt noch, daß das zweite Thema dieser Ouverture den aufrührerischen Melodientypus aufweist, der auch die Marseillaise und das F-Dur-Thema im I. Satz der 3. Symphonie charakterisiert. Whether it [d.h. der Beginn der 2. Symphonie] derives from Berlioz or Wagner is irrelevant sagt Michael Kennedy°. Dazu ist nur zu bemerken, daß Kennedy hier wahrscheinlich an den Beginn der Walküre denkt, dessen Charakter (oder vielleicht eher deren Atmosphäre) tatsächlich einige Ähnlichkeit mit dem Beginn der 2. Symphonie aufweist. Die Beziehung

zur Ouverture Les Francs-juges scheint mir viel offensichtlicher. Die Walküre wurde fast 30 Jahre später als die Ouverture von Berlioz komponiert. Der Name Chabrier scheint in den Berichten über Mahlers Tätigkeit nur ganz selten auf. In New York dirigierte er Espana ;daß er die Oper Gwendoline, die sozusagen päpstlicher als Papst Richard ist, abgelehnt hat, dürfte wahrscheinlich sein. Wohl das beste Stück dieser Oper ist das Vorspiel zum zweiten Akt, das dementsprechend in einer Schallplattenaufnahme, die sich als Complete orchestral works präsentiert’, fehlt. Es steht in Des-Dur ; hier die letzte Seite des Klavierauszugs :Siehe Notenbeispiel Seite 15. Bekanntlich hat Felix Mottl sich in Deutschland sehr für Chabrier eingesetzt und die ersten Aufführungen des Werkes dirigiert. Ich halte es durchaus für möglich, daß Mottl zur Zeit, als Mahler ernsthaft an ein Engagement in Karlsruhe gedacht hat (1886), Mahler die Partitur gezeigt hat; er hat ja auch versucht, Hans Richter für Chabrier zu interessieren.

6 Michael Kennedy :Mahler, London 1974, S. 97 ? Emmanuel Chabrier :Complete Orchestral Works. Orchestra of Radio Luxembourg — Louis de Froment, Conductor. Vox-Turnabout QTV-S 34671

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So würde sich erklären, daß Mahler sich mehr als zwanzig Jahre später unbewußt dieser Musik erinnern konnte, als er die letzten Takte der 9. Symphonie niederschrieb. Daß Mahler Bizets Carmen sehr hoch geschätzt hat, wissen wir. Schon während seiner Tätigkeit in Olmütz stand das Werk auf dem Spielplan, ebenso später in Wien, wo er auch Djamileh und die Suite Roma dirigierte. Die Musik zu L’Arlesienne fand ich erst in den New Yorker Programmen, doch hat ein Satz daraus schon viel früher Mahler beschäftigt. Das Wort Adagietto gehört nicht zum gewöhnlichen musikalischen Sprachgebrauch. Bizet verwendet es für ein kurzes Stück in F-Dur für Streicher (ohne Kontrabässe), das im Schauspiel von Alphonse Daudet eine Szene begleitete, in der sich zwei Menschen, die sich in der Jugend geliebt haben, nach 50 Jahren wieder treffen. Mahler bezeichnet den IV. Satz seiner 5. Symphonie mit Adagietto; es ist für Saiteninstrumente geschrieben und steht in F-Dur. Ich möchte hier von einem „ideellen“ Zitat sprechen; es handelt sich nicht um eine Entlehnung von Motiven, Rhythmen oder Harmonien, sondern um die einer gewissen

Atmosphäre, die durch die Verwendung gleichartiger Mittel hervorgerufen wird. 6.

Hat Mahler also Kapellmeistermusik komponiert ? Sie werden verstehen, daß mein Anliegen mit diesem Vortrag nicht war, zu beweisen, daß es bei Mahler so etwas wie Kapellmeistermusik nicht gibt; das hätten Sie ja auch ohne mein Zutun gewußt. Ich wollte vielmehr

lediglich klarmachen, daß die Beziehungen zwischen der Musik, mit der sich Mahler beschäftigt hat, und seinen eigenen Kompositionen viel komplizierter sind, als man gemeinhin annimmt, und daß den verschiedenen Aspekten dieser Beziehungen mit den gängigen Begriffen wie Zitat oder Entlehnung — von Plagiat ganz zu schweigen — nur in beschränktem Maße beizukommen ist.

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Diether de la Motte

Liebes-Erklärung an die 10. Symphonie von Gustav Mahler! Kaum ein Musikwerk unter denen, die ich so liebe wie das Adagio der 10. Symphonie von Gustav Mahler, macht mir solche Schwierigkeiten bei dem Versuch, den Grund für diese

Liebe in Worte zu bringen. Ich sehe mich zu einem umständlichen und für Hörer oder Leser ohne Frage recht beschwerlichen Weg gezwungen,

um zu einer stichhaltigen Erklärung

meiner Liebe zu gelangen. Beginnen wir den steinigen Weg. — An fünf Stellen des Satzes ist Orchesterklang aufs äußerste zurückgenommen. Dreimal spielen die Bratschen allein, an der vierten Stelle die zwei Geigen, an der fünften nur die ersten Geigen. Diese Stellen der Klanglosigkeit dauern 15, 10, 8, 10 und 7 Takte lang, zusammen also 50 Takte. Das sind von der Gesamtdauer von 275 Takten 18%. Ich kenne kein anderes Orchesterwerk, bei dem fast ein Fünftel

der Partitur in derart extremer Weise auf die klanglichen Möglichkeiten des Orchesters verzichtet. In der kostbaren und — wie es denn leider manchmal zusammentrifft — recht selten gespielten Haydn-Sinfonie Nr. 7 Le Midi von 1761 steht als zweiter ein kurzer Rezitativo überschriebener Satz, der an vier Stellen eine Solovioline allein läßt. Elf Jahre nach dem Tode Bachs entstanden, von dessen Matthäus-Passion also noch nicht weit entfernt, gibt

es für diese Takte der Rezitativ-Erinnerung keine Verständnisprobleme. Zwar sind diese Stellen im sich formierenden klassischen Stil bereits unerwartbar, wo sie im Wechsel höchst verschiedenartiger Ereignisse aber auftauchen, weiß der Hörer sich erinnernd noch zu orientieren. Mir beispielsweise geht das Bachsche doch nicht wie ich will, sondern wie du willst durch den Sinn. Mahlers Einstimmigkeit aber hat mit Bachs Musik überhaupt nichts zu tun. Eher kann man Mahler mit Mahler erklären und aus dem Lied von der Erde an den Anfang von Der Einsame im Herbst oder von Der Abschied denken. Abschied von so lange Zeit wie selbstverständlich vernommenem Orchesterklang, Abschied aber auch von der Tonalität: h-Moll, F-Dur, f-Moll, wieder F-Dur berührt das erste gleichsam suchende Rezitativ, um den ersten Orchestereinsatz im weit entfernten Fis-Dur einzuleiten! Nach dem ersten Bratschensolo dauert es 23 Takte bis zum nächsten, dann 55 Takte bis zum dritten, dann 72 Takte bis zum Geigenduett, 52 Takte bis zum Solo der ersten Violinen; dann folgen noch 23 Orchestertakte. 23 — 55 — 72 — 52 — 23: ein Bogen von auffallender

Ausgewogenheit. Leicht ist man versucht, eine vor Beginn der Komposition vorgenommene Vorplanung musikalischer Zeit anzunehmen, doch hat hier wohl unterbewußte Klugheit gewaltet, ein nicht zählendes Formgefühl. Unmittelbar auf das erste Rezitativ folgt, mit nur drei Posaunen und Streichern höchst ungewöhnlich instrumentiert, was ich provisorisch „Material 1“ nennen möchte, mich damit etwas darmstädtisch gebärdend; aber ich scheue mich, den Begriff Thema einzuset-

zen. Weiträumige, ruhig schreitende Melodik und satter, dunkler Klang charakterisieren dieses Material, dem die Vorstellung eines äußerst gegensätzlichen Materials 2 folgt: Tänzerin, auf Spitze tanzend, über Cello-Pizzikato

schwebend;

hohes Holz und Violinen in

i Der Analyse liegt die erste Druckausgabe des Werkes zugrunde, die im Verlag Associated Music Publishers, New York, 1951 erschienen ist [Anm. d. Hg.].

17

Diether de la Motte

leicht beweglichem Filigran. Viertel mit angebundener Vier-Sechzehntel-Gruppe als zentrale rhythmische Idee. Eindeutig aus Material 1 entwickelt sind 13 Abschnitte des Satzes, 35% von ihm umfassend, aus Material 2 neun Abschnitte mit 34% Anteil. Rechnen wir die 18% der Rezitative hinzu, ergeben sich 87% des Satzes als eindeutig in ihrer Zuordnung, so daß

nur 13% verbleiben, in denen uneindeutiges oder anderes geschieht. Nun macht die Anordnung der Gruppen unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Ausdehnung Schwierigkeiten bei dem Versuch, die Großform zu benennen. Hier die Taktdauern der 13 Material-1-Gruppen: 12, 28, 2, 2, 2,.6, 6, 2, 8, 19, 3, 5, 2. Bei Material 2 betragen die Abschnitt-Dauern 11, 23, 10, 2, 5, 6, 25, 2, 10 Takte. Das ständige Abwechseln

der Gruppen, gelegentlich von den Streichersoli unterbrochen, ließe sich als Doppelvariation interpretieren. Haydns f-Moll-Variationen für Klavier wären ein frühes Beispiel für dasselbe Prinzip. Die unterschiedliche Dauer der Abschnitte legt jedoch eine andere Definition nahe. Bratschensolo, 12 Takte Material 1, 11 Takte Material 2, Bratschensolo: Man möchte von Exposition sprechen. Nun erhält Material 1 mit 28 Takten seine längste

Entfaltung, Material 2 steht mit 23 Takten nur wenig nach. Das dritte Bratschensolo folgt. Bis dahin könnte man von einer sich entfaltenden zweiten Exposition sprechen. Dann bietet sich für das Folgende die Bezeichnung Durchführung an. Die Materiale — 2 beginnt — folgen einander jetzt nämlich in schnellem Wechsel von 10, 2, 2, 2, 5, 2, 6, 6 Takten, denen

noch sechs Takte folgen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen. Sodann aber erhält Material 2 seinen längsten Abschnitt im Stück, nämlich 25 Takte, Material 1 nur noch 6 Takte, wonach die beiden Geigen das Ende eines insgesamt 72taktigen, also des längsten, Satzabschnitts markieren. Material 2 hätte in diesem Abschnitt, dem wir die Bezeichnung Durchführung antrugen, ein starkes Übergewicht mit 48 Takten gegenüber nur 18 Takten aus Material 1. (Sollte man annehmen, daß Material 2 bereits seine Reprise erlebte?) In den auf das Solo der beiden Geigen noch folgenden 82 Takten, in deren Mitte nochmals ein Geigensolo erklingt (und diese Soli haben wir ja bisher immer als Scharnierstellen

zwischen Formteilen interpretiert), besitzt Material 2 nur noch 12 Takte, Material 1 dagegen 39 Takte. Der Ausdruck Reprise verbietet sich für eine solche Konstellation, die den ausgewogenen Gewichtsverhältnissen der Teile, denen wir die Bezeichnungen „Exposition“ und „entfaltende zweite Exposition“ gaben, widerspricht. (Oder ist die Reprise wirklich, wie eben einmal vermutet wurde, zweigeteilt, so daß jetzt nur noch Material 1 seine Reprise erhält?) Oder wir retten die Sonatenform durch folgendes Argument: In der Durchführung hat Material 2 starkes Übergewicht, in der Reprise dafür Material 1. Nun ereignen sich Dinge nach dem Geigenduett der Takte 184— 193, dessen bisherige Bezeichnung der formalen Position lautete „Ende der Durchführung, Einleitung der Reprise“, denen jedes Taktgefühl einer Sonatenform gegenüber abgeht. Völlig unerwartet bricht das Orchestertutti im fortissimo mit einem as-Moll-Klang herein, den die allgemeine Musiklehre bekanntlich zu den Konsonanzen rechnet, durchaus fälschlicherweise, denn ich kann mich nicht entsinnen, jemals einen ähnlich erschreckenden Klang des Grauens gehört zu haben, den das Ohr als erschütternde Dissonanz verbucht. 2 Takte aus Material 2, 2 Takte aus Material 1 folgen. Und dann, schrittweise aufgebaut, — ein Ton, vier Töne dazu, zwei Töne dazu, ein Ton dazu, noch ein Ton dazu — ein genauso: grauenvoller

Neun-Ton-Klang. Abgesehen von einer Basis-Quinte Terz über Terz, ein Alban-Berg-Klang gleichsam mit angenehmen Ton-Nachbarschaften, von erschreckender Kompaktheit aber durch etliche Oktavverdopplungen, so daß zwischen tiefer Cello- und hoher Flötenlage kaum eine Terzdistanz ausgelassen ist. Ich höre eine Streitmacht auf mich zuschreiten. Spieß neben Spieß; es wird kein Hindurchkommen geben, der Spieße einer wird mich durchbohren. Diese zwei Klänge des Schreckens machen für mein Formgefühl den Versuch 18

Liebes-Erklärung an die 10. Symphonie von Gustav Mahler

zunichte, sie als Ende der Durchführung und Einleitung einer Reprise — wie soll ich sagen — zu domestizieren. Sie stehen nicht „mitten in“ einem Satz, sie bringen Musik ans Ende. Nach ihnen von Reprise zu sprechen, wäre Blindheit gegenüber ihrer zerstörenden Wirkung. Also versuchen wir es mit „Coda“, einer Coda mit starkem Übergewicht von Material 1. So hätten wir folgende Benennung der Formteile: Bratschensolo, kurze Exposition 1, Bratschensolo, entfaltende Exposition 2, Durchführung, Geigenduett, zwei Klänge des jüngsten Gerichts, Coda, zweigeteilt durch ein Geigensolo. Die Sonatentermini aber verharmlosen, was eigentlich vorliegt. Durchführung ist angewiesen auf, wird komponiert im Hinblick auf Wiederherstellung des Durchgeführten in einer Reprise. Wird Durchführung aber nur noch gefolgt von Coda-artigen Abschnitten, die nicht Ende herbeiführen, sondern hören lassen, daß das Eigentliche schon zu Ende gebracht ist, so gewinnt, was wir Durchführung nannten, einen gefährlichen, zerstörenden Zug: fortschreitende Entfernung vom Ausgangsmaterial ohne Wiederkehr. Sieht man dies, dann empfiehlt es sich auch, den Terminus „zweite, entfaltende Exposition“ fallenzulassen. Übrig bleibt dann eine kurze exponierende Vorstellung der beiden Materiale des Stückes, eingerahmt durch Bratschensoli, und dann von Takt 49 an eine 226taktige Entwicklung und Entfaltung und Veränderung der Materiale derart, daß schließlich Erinnerung an die Ausgangssituation nicht mehr gelingt. Klassische Reprise bringt die Zeit, in der Musik erklingt, zum Stehen. Das Ende ist dem Anfang nahe. (So selbst noch in Liszts Berg-Sinfonie von 1856, die sonst dem Mahlerschen Verfahren schon erstaunlich nahesteht.) Diese Musik dagegen bringt die reißende Zeit Hölderlins ins Bewußtsein, läßt begreifen, daß wir, wie die Bibel formuliert, hier keine bleibende Statt haben. Es wäre nun lohnend, Querverbindungen zwischen den drei Materialen nachzuspüren, rhythmischen zum Beispiel. Hier nur als Wegweiser in Stichworten dies: Typisch für die Streichersoli sind Achtelauftakt und Sekundschritt. Diese leiten aber zugleich viele Material-2-Abschnitte ein. Punktiertes Viertel und zwei Sechzehntel sind zunächst eine Figur des Bratschensolo, dieselbe Figur erhält aber auch in Material 1 Gewicht, gerät in zunehmender Bewegung noch innerhalb von Material 1 in die gesteigerte Version Viertel mit angebundenen vier Sechzehnteln. Genau dies aber wird Hauptkennzeichen von Material 2. Wir wollen zunächst einen anderen Weg verfolgen. Betrachten wir ausführlich die 36 Gestalten, die die beiden ersten Takte der Material-1-Melodie im Laufe des Satzes annehmen. Jedes Mal ist der zweite Takt die Variation des ersten, meistens in gesteigerter Bewegung. Das Ausgangsmodell ist 1 ») r N N eff In 34 Fällen behält der zweite Takt die Richtung des ersten bei, nur in je einem Falle folgt auf ein Fallen ein Steigen bzw. auf ein Steigen ein Fallen. (Fünfmal erklingen zwei verschiedene Versionen gleichzeitig, was in meiner Untersuchung als 2 Versionen gezählt wird.) Als fünfte und als achte Fassung wird die Urgestalt tongetreu wiederholt, erklingt ab Takt 16, 49 und 58, also dicht gedrängt, zu Beginn des Satzes. So möchte man diese Fassung doch gern als Hauptthema bezeichnen. Mit den Schritten Oktave + Terz schreiten die ersten drei Töne hinauf. Insgesamt aber haben wir 15 steigende und 21, also deutlich mehr, fallende Versionen. Die Version, die man also vielleicht doch nicht Thema nennen sollte, eröffnet den Satz, aber beherrscht ihn nicht. Bleiben wir bei den ersten drei Tönen. Insgesamt 13 verschiedene Intervallfolgen tauchen auf. Hier die häufigsten: steigend Oktav + Terz (so wie die erste Version) siebenmal, gleich häufig aber Sexte + Terz fallend. Viermal Oktave + Terz fallend, je dreimal die Versionen Terz + Sexte steigend, Sexte + Sekunde fallend, Oktave + Sekunde fallend. Zweimal hört man die Versionen Oktave + Sekunde steigend und Terz + Sexte fallend. Fünf weitere Versionen treten nur je einmal 19

Diether de la Motte

auf. Aus zwei Schritten ergibt sich ein Gesamtintervall. So ergibt beispielsweise die erste Version, Oktave + Terz steigend, das Gesamtintervall steigende Dezime, während die fallende Oktave als Gesamtintervall sowohl erreicht wird von Terz + Sexte wie auch von Sexte + Terz. Häufigstes Gesamtintervall ist nun die zehnmalige fallende Oktave; dann erst folgt mit acht Auftritten die steigende Dezime, wie sie in der Ausgangsversion erscheint. Fünfmal fallende Dezime, viermal steigende Oktave, dreimal fallende Septime, gleich oft fallende None, zweimal steigende None, einmal steigende Undezime. Lassen wir die Richtung der Intervalle außer acht, haben wir als häufigstes Gesamtintervall 14mal die Oktave, nur 13mal die Dezime wie in der ersten Version, fünfmal die None, dreimal die Septime, einmal die Undezime. Was auch immer wir testen: Die Version der ersten Erscheinung von Material 1 kann über andere Versionen nicht siegen. Steigen unterliegt dem Fallen, Oktave + Terz steigend ist nur gleich häufig mit Sexte + Terz fallend, das Gesamtintervall Dezime steigend unterliegt dem Gesamtintervall fallende Oktave; läßt man die Richtung außer acht, unterliegt die Dezime der Oktave. Es wird also vergessen. Aber wie schnell wird vergessen? Siebenmal hebt im Laufe des Satzes Material 1 an mit den aufsteigenden Intervallen Oktave + Terz. Und wie sind diese Auftritte über den ganzen Satz verteilt? Sie setzen ein in den Takten 16, 49, 51, 58, 73, 122 und 145. Der Satz hat 275 Takte, seine Mittelachse liegt also in Takt 137. Wenige Takte später, in Takt 145, erklingt also letztmalig, was ich eben aus diesem Grunde nicht mehr Thema nennen möchte, weil es eröffnet aber nicht beherrscht, weil es nicht im Mittelpunkt steht, sondern nur den Anfang eines Weges markiert, der sich mehr und mehr von seinem Ausgangspunkt entfernt und in der zweiten Hälfte, also nach Takt 146, nicht einmal mehr zurückfindet. Bestätigt wird, was sich hier ergibt, aus der Instrumentation. Eindrücklich ist die ungewöhnliche Klangfarbe drei Posaunen + Streichorchester, die Farbe der ersten Erscheinung von Material 1. Die drei Posaunen haben im ganzen Satz 15 Auftritte von stets sehr begrenzter Dauer. Hier die 15 Dauern: 4, 4, 4, 5, 2, 1, 2, 8, 3, 2, 6, 5, 3, 5, 4 Takte. Das sind insgesamt 58 Takte. Eindeutig zu Material 1 gehören, wie vorhin gesagt wurde, 35% des Satzes, nämlich 97 Takte. Wie verhält sich nun Posaunenpräsenz zu Material-1-Präsenz, bleiben die Posaunen also dieser Sphäre zugeordnet, kann man von formbildender Instrumentation reden? Die ersten 103 Takte, in denen wir hören: Bratschensolo, Einführung von Material 1, Einführung von Material 2, Bratschensolo, weitere Entfaltung von Material 1, weitere Entfaltung von Material 2 — diese ersten 103 Takte lassen die Posaunen 20 Takte lang erklingen; das sind 19,4% des Abschnitts, und zwar in sechs Einsätzen mit den Taktdauern 4,4,4,5,2 und 1. Von diesen 20 Takten gehören 19 eindeutig zu Material 1. Das Spiel der

Posaunen dient also der formalen Klärung. Setzen die Posaunen nach einer Pause wieder zum Spiel an, weiß der Hörer schon voraus, daß wieder Material 1 erscheinen wird.

Im weiteren Verlauf der Takte 104-275, also in insgesamt 172 Takten, spielen die Posaunen weitere 38 Takte. Das sind 22%. Also behalten die Posaunen ziemlich genau den Anteil am Geschehen, den sie im ersten Teil mit 19,4% innehatten. Von den 38 Takten der

Posaunenaktivität im zweiten Teil dienen aber nur 10 Takte der Sphäre von Material 1, 28 Posaunentakte erklingen bei anderer Gelegenheit. Wenn wir also jetzt Posaunen hören, ist es viel eher wahrscheinlich, daß es sich gerade nicht um Material 1 handelt. Von den neun kurzen Posaunenstellen, zwischen 2 und 8 Takte lang, gehören nur noch zwei in den Material-1-Bereich. Natürlich bleibt auch dies formbildende Instrumentation, nur handelt es sich nicht um einfache Verdopplung der unveränderlichen Kennzeichen einer Person bei jedem Wiederauf20

Liebes-Erklärung an die 10. Symphonie von Gustav Mahler

treten. Die Instrumentation bestätigt vielmehr eine Tendenz, die auch das Melodische bestimmt. Wie die Ausgangsgestalt von aufwärts gerichteter Oktave + Terz im Laufe des Satzes mehr und mehr von anderen Versionen überwuchert wird und in Takt 145 letztmalig erklingt, um sodann vergessen zu werden, so vergißt sich auch die ursprünglich mit Material 1 assoziierte Farbe Posaunen + Streicher. In den Takten 182— 183 erklingt sie zum letzten Male in der Material-1-Sphäre. Die 13 noch folgenden Versionen von Material 1 haben die Posaunen endgültig vergessen. Nun geschieht jedes Entgleiten in dieser Musik in äußerster Sanftheit. Jeder Hörerprotest gegen die Zerstörung einer thematischen Gestalt wäre undenkbar. Nie ein demonstrativer kompositorischer Gewaltakt der Materialveränderung, wie man ihn von Beethoven-Durchführungen her kennt. Der Hörer folgt dem Fluß der Musik ohne zu bemerken, was ihm entgleitet, ohne zu bemerken, daß er vergißt. Daß dies möglich ist, liegt an der Anlage der Materiale. Sie setzen in den meisten Fällen deutlich ein, in Tonsatz und Instrumentation durch auffälligen Farbwechsel gleichsam akzentuiert, aber sie führen niemals zu einem Schlußpunkt. Es gibt, von den letzten Takten des Satzes abgesehen, keine Kadenzschlüsse. Gerade die letzten Takte beweisen doch, daß die gute alte Dominant-Tonika-Kadenz durchaus noch verwendbar ist; erst spätere Musik des 20. Jahrhunderts tut sich schwer mit der Entwicklung neuer harmonischer Schlußformeln. Aber auch außerhalb des Harmonischen blieben für die Musik des späten Mahler genügend Möglichkeiten, Schlüsse auf andere Art zu präzisieren: Deutlicher Instrumentationswechsel, deutlicher Wechsel der rhythmischen Elemente, Einschnitt zwischen unterschiedlichen Tonsatzpraktiken. Deshalb ist es lohnend zu überprüfen, wie die 13 Auftritte von Material 1 zu Ende gebracht werden. Viermal löst sich der Orchestersatz auf, ein Instrument nach dem anderen verklingt und ein einziger Ton bleibt liegen. So eine einsame Bratsche in Takt 80 und in Takt 150, ein hoher Geigenton in Takt 203. Um ihn herum wird sich dann der neuntönige Katastrophenklang sammeln. In Takt 246 bleibt eine einsame zweite Geige zurück. An sie schließt sich das letzte Rezitativ des Satzes an, das die ersten Geigen spielen. Viermal wird eine unauffällige Materialverwandlung vollzogen, und zwar im rhythmischen Bereich. An den Übergangsstellen in den Takten 27, 123 und 134 tritt im Material-1-Herrschaftsbereich das für Material

2 typische und in seinen Bereich mühelos hineingleitende rhythmische Modell Viertel mit angebundenen vier Sechzehnteln deutlich hervor. In Takt 183 spielt die erste Geige im letzten Material-1-Takt das eben genannte rhythmische Modell, läßt ihm punktierte Viertel mit zwei Sechzehnteln folgen und wiederholt letztgenannte Figur dreimal, und ohne es recht zu bemerken, befinden wir uns längst im Zwei-Geigen-Rezitativ. Eine besonders rührende Stelle: In den Takten 253 — 255 erklingt Material 1 in der zweiten Geige. Die erste spielt darüber in halben Noten mit den Tönen cis — fis — eis — dis den Anfang einer Melodie, die dem Hörer schon früher einmal bekannt gemacht worden war. Der Streichersatz reißt ab, Material 1 verschwindet, aber die Oboe läßt tröstend den Verlust verschmerzen — falsch formuliert: Sie läßt den Verlust gar nicht erst ins Bewußtsein dringen, indem sie den Melodieanfang der ersten Geige genau wiederholt und weiterführt. Und so mag sich denn aus solcher Hörerfahrung für das vorletzte Material-1-Motiv, das den Dominantseptakkord der Schlußkadenz einleitet, und für das letzte unvollständige, nur noch aus drei Tönen bestehende, das in die in himmlischen Höhen erklingende Schlußtonika führt, der Eindruck einstellen, die Musik würde immer noch weitergehen und es würde nur eine

Fortführung eingeleitet, die sich durch fortschreitendes decrescendo und durch weitergehendes Aufsteigen im nicht mehr Hörbaren vollzieht. Dieser letzte vollendete sinfonische Satz Mahlers enthält in den Schlußtakten eine einzige eindeutig schlußfähige und auch schlußwillige Kadenz. Bis dahin ist die Musik 266 Takte

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Diether de la Motte

lang begrenzungsfeindlich, ohne Unterbrechung fließend, hat manche Anfänge aber kein

einziges Ende. Eine „endlose“ Musik im wörtlichen Sinne, daher der Höreindruck der unendlichen Weite, den sie vermittelt. Was erklang, moduliert unbemerkbar ins Folgende hinein, nichts kann und nichts soll der Hörer bewußt als abgeschlossen verabschieden, wie

er sonst A-Teile als in sich geschlossene Einheiten verabschiedet und damit als A-Teile begreift im Augenblick eines kadenzierenden Einschnitts vor Beginn eines kontrastierenden B-Teils. Wie es kompositionstechnisch möglich wurde, dem Hörer diesen Eindruck des unendlichen Fließens zu vermitteln, träte besonders deutlich vor Augen, würden wir einmal von allen Material-1-Anfängen die Takte 3 und 4 untersuchen. Es war ja wohl auffällig, daß sich meine Material-1-Untersuchung auf spärliche drei Töne beschränkte, wobei nur gesagt wurde, daß dieselbe Geste stets im zweiten Takt in meist bewegterer Fassung wiederholt wurde. Material 1 hieß also nicht mehr als lediglich dies:

Wet net (Diese rhythmische Fassung tritt immerhin 14mal auf.) Schon im dritten Takt aber trennen

sich die Wege. Hier treten Taktrhythmen auf wie|J. N. 2 oder|d 2. Fa , aber auch |) 72] |und die Umkehrung dieser Figur: | J_JTIJ Wrrr |. Mit den schreitenden Vierteln des ersten Takts hat das alles nichts mehr zu tun; in unbemerkbarem fließendem Übergang ist man über den bewegteren Takt zwei nun schon völlig in den Einflußbereich von Material 2 geraten. Ist doch das Typische für Material 2 die Verlängerung der Viertelnote um ein Achtel oder um ein Sechzehntel, also:

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Meine ganze Analyse hat demnach gelogen mit ihrer präzisen Zuteilung von Abschnitten zu Material 1 und 2. Suchen wir eine zutreffendere Definition: Material 1 kann immer wieder neu anfangen, weil es sich stets in einem erstaunlich frühen Stadium, nämlich schon im dritten Takt, verliert in sein Gegenüber, das deshalb Teil seiner selbst und eben nicht

sein Gegenüber ist. Also auch diese Definition auf den Müll! Geben wir die bis jetzt durchgehaltene Halsstarrigkeit auf, auf zwei kontrastierenden Materialen zu bestehen. Die eine immer wieder ähnlich realisierte Idee des Satzes ist es, in schreitenden Vierteln zu

beginnen, den Schritten ihre Schwere zu nehmen, die Musik durch zunehmende Bewegung aller Gewichte zu erlösen und in Spitzentanz zu befreien. Über die große Kammermusik der Takte 209-275, in der das Element des Tanzes fehlt und nur noch der Viertelschritt

im Vordergrund steht, würden wir nun formulieren: In diesem Schlußabschnitt fehlt den Vierteln ihr früheres Posaunengewicht. Zarte Kammermusik, helle Orchesterfarben, hohe Lage dominieren. Die Viertel wurden von aller Last befreit, mit der Leichtigkeit des Tänzers schweben sie nun selbst. Immer und immer wieder verwandelten sich die Viertel auf ein Tanzen hin; nun sind sie selbst Tanz geworden. Meinen Klangeindruck der Katastrophe beim as-Moll-Akkord in Takt 194 kann ich mir, so über das Stück denkend, endlich erklären. Mein Eindruck der Schreckensdissonanz

beruht auf der formalen, nicht der klanglichen Dissonanz, denn letztere liegt ja nicht vor. Erkennen wir alles Geschehen als eines, tritt die zerstörende Wirkung des Klangeinbruchs

deutlicher ins Bewußtsein, während es auf der Basis der früheren Behauptung, zwei Materiale wechselten ständig miteinander ab, nicht gar so erschreckend und unwahrscheinlich ist, daß irgendwann einmal ein drittes Material erscheint. Haben wir nun aber die zerstörende Wirkung des ersten Klangeinbruchs überstanden, kann Klang an sich nicht mehr 22.

Liebes-Erklärung an die 10. Symphonie von Gustav Mahler

von solcher Wirkung sein. Im zweiten Klangaufbau wird deshalb wirksam die effektive Dissonanz des Neun-Ton-Klanges. Ich glaube, daß diese Musik von den großen 150 Jahren der Sonatenform schon weiter entfernt ist, als der Komponist selbst es wußte und weiter jedenfalls, als er selbst es wollte. Ich glaube durchaus, daß dem Komponisten beim Entwurf der letzten 70 Takte nichts anderes als die Vorstellung „Sonatensatz-Coda“ vor Augen stand und ich will den Hörer nicht tadeln, der sie so im Sinne Mahlers hört, und der, wie ich selbst bis vor einer Viertelstunde, aus dieser Musik den guten alten Kontrast zweier Themen heraushört. Diese

Musik, in den vorgestellten Personen so prägnant und dabei doch schon athematisch, steht dem Komponisten von heute so nah und ist doch so wunderbar weit entfernt von allem Demonstrativen, das man uns in den fünfziger Jahren aufzwingen wollte und den meisten aufgezwungen hat. Beweise von Muskelkraft waren abzuliefern, revolutionäre Aktivität mußte auf den Tisch. Mahlers „Zehnte“ dagegen ist für mich eine Revolution wider Willen, dem Komponisten selbst unbewußt vollzogen. Mahler dachte gewiß noch in den Kategorien Thema I, Thema Il, Exposition, Durchführung, Reprise als Coda. Nur fehlt der Gegensatz

von Durchführen und Exponieren, ohne den es Sonatenform nicht gibt, den Themen selbst fehlt die Gestaltbegrenzung, ohne die es Themen nicht gibt, der Reprise mißlingt, was Reprise ausmacht, nämlich das Erlebnis der Wiederherstellung, sie erklingt als Klage über die Unmöglichkeit von Reprise. Nichts mehr kommt zum Stehen in dieser „end-losen“ und doch in jedem Augenblick vergänglichen, also endenden Musik, und vielleicht klärt sich nun endlich, weshalb sie mich so berührt und ihr meine Liebe gehört. Es kränkt meine Eitelkeit, daß ein anderer besser formulieren konnte, worauf die Erklärung meiner Liebe zu dieser Musik hinausläuft. So sage ich es denn mit den Worten Rudolf Stephans, die ich eben lese als Schlußworte seiner analytischen Arbeit über Mahlers 2. Sinfonie. Es ist der unvergängliche Zauber der Vergänglichkeit.

23

Diether de la Motte

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Liebes-Erklärung an die 10. Symphonie von Gustav Mahler

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28

Ernst Hilmar

Mahlers Beethoven-Interpretation Mahlers Programme brachten Beethoven und immer wieder Beethoven; es gab Konzerte,

in denen überhaupt nur Beethoven gespielt wurde: Paul Stefan hat noch zu Lebzeiten Mahlers diese von Begeisterung getragene Aussage formuliert‘. Beethovens sinfonisches Schaffen bildete tatsächlich einen Schwerpunkt in Mahlers Konzerten, was bereits aus den erhaltenen Programmblättern ersichtlich ist; und andere (zeitgenössische) Quellen bestätigen’, daß Mahler sich mit den aufführungspraktischen Problemen der Sinfonien Beethovens im besonderen befaßt hat. Die gemeinhin vertretene Meinung der Unantastbarkeit der Werke des Meisters wurde von ihm gewiß nicht geteilt: Freilich bedürfen die gesamten Beethovenschen Werke einer gewissen Redaktion [...] Denn Beethoven rechnete auf Künstler, nicht auf Handwerker, in der Leitung sowohl als in der Ausführung. Er hat nicht alles so minutiös hergeschrieben |...|, war auch nicht so erfahren in der Orchestertechnik?. Eine andere seiner Äußerungen zu diesem Problem lautet: Von Beethovenschen Symphonien lassen sich noch die Erste, Zweite und Vierte durch die heutigen Orchester und Dirigenten allenfalls aufführen, alle anderen gehen unter ihren Händen verloren |...) Beethovens Symphonien sind ein Problem, das für den gewöhnlichen Dirigenten einfach unlösbar ist |...) Sie bedürfen unbedingt der Interpretation und Nacharbeitung. Schon die Zusammensetzung und Stärke des Orchesters macht das nötig*. Mahlers redaktionelle Absichten waren seinen Zeitgenossen wenigstens ein Jahrzehnt lang kaum bekannt. Das änderte sich mit der Aufführung der 9. Sinfonie in Wien unter seiner Leitung, wo durch eine Indiskretion der beteiligten Orchestermusiker die Presse über seine „Eingriffe“ informiert wurde. So sah er sich zu einer öffentlichen Rechtfertigung gezwungen’, und sein zusammen mit dem Dichter Siegfried Lipiner verfaßtes Memorandum gab wiederum Anlaß zu Mißverständnissen. Man warf Mahler „Ungeheuerlichkeiten“ und reine Willkür vor, und doch wußten weder Kritiker noch Beethovenianer, die sich als

Richter aufspielten, in welchem Umfang Mahler in den Partituren geändert hatte. Erwähnenswert ist, wie sich der Personenkreis, der sich um Mahler scharte, zu dem Problem der Retuschen stellte. Guido Adler ließ sich von solcher machtvoller Persönlichkeit,

die in ihrer Auffassung nur dem Werke gerecht werden will, eine Abweichung ohne weiteres gefallen‘. Alban Berg war nach Einsicht in das Mahlersche Partiturexemplar der 9. Sinfonie anfangs erschüttert, später überzeugt’. Arnold Schönberg und Alexander Zemlinsky scheuten vor Aufführungen in Mahlers Sinne nicht zurück®. Gewiß war Mahler jene von Adler zitierte machtvolle Persönlichkeit, die jeder Interpretation ihren Stempel aufgedrückt hat. Alle Eingriffe, Retuschen, oder wie man das Ergebnis

Paul Stefan: Gustav Mabhlers Erbe; Ein Beitrag zur neuesten Geschichte der deutschen Bühne und des Herrn Felix von Weingartner, München 1908, S. 13 vgl. dazu z.B. Natalie Bauer-Lechner: Erinnerungen = Gustav Mahler, Leipzig — Wien — Zürich 1923 2.2.0.9. 24 440.8.

131

Kurt Blaukopf: Mahler. Sein Leben, sein Werk und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und Texten, Wien 1976,

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S. 224 Guido Adler: Gustav Mahler, Wien 1916, S. 31 ? vgl. Arnold Schönberg, Gedenkausstellung (Katalog), hg. von Ernst Hilmar, Wien 1974, S. 263

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® ebda.

29

Ernst Hilmar

der Redaktion bezeichnen möchte, aber nur als eine sehr persönliche Interpretation klassifizieren zu wollen, hieße, Mahlers Absichten zu simplifizieren. Was sich an Partituren und Stimmen mit Mahlers Retuschen erhalten hat, darüber wurde

vor kurzem an anderer Stelle Bericht erstattet”. Abgesehen von Egmont und der 8. Sinfonie enthalten sowohl die Partituren als auch das Aufführungsmaterial eine Fülle von Retuschen. Mahler hat das Material in verschiedenen Konzerten benutzt und dabei immer wieder geändert. Eine Chronologie herauszufinden, ist ausgeschlossen. Bekannt ist nur, daß die Partituren der 5., 6. und 7. Sinfonie (jeweils ein Exemplar) aus seiner Budapester Zeit stammen. Andererseits ist nachweisbar, daß bei der Aufführung der 2. Leonore-Ouvertüre in New York ein erweiterter Stimmensatz verwendet wurde, der aus den Beständen der Philharmonic Society stammte. Mahlers Änderungen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: zur ersten Gruppe gehören jene, die „am grünen Tisch“ entworfen wurden, und zur zweiten Gruppe Änderungen, die er vom Dirigentenpult aus verlangte. Die erste und umfangmäßig größere Gruppe ist von besonderer Bedeutung; sie ist Gegenstand dieses Beitrages. Mahlers Änderungen sind grundsätzlich wohlüberlegt und fast ausschließlich in aufführungspraktischen Problemen begründet. Um die Schwierigkeiten im Umgang mit den Orchestermusikern in diesem heiklen Fragenkomplex möglichst gering zu halten, hat er jede Stimme des jeweiligen

Aufführungsmaterials selbst überprüft. Jede Änderung ist dort verzeichnet, und oft mußte eine Stimme mehrmals korrigiert werden. Ein Beispiel hierfür ist die von ihm zusätzlich geforderte 3. Hornstimme in der 7. Sinfonie, die von einem Kopisten nach seinen Anweisungen ausgeführt wurde. In dieser Stimme änderte dann Mahler eigenhändig eine Gruppe von 29 Takten (Beispiel 1, S. 34, dort auch die folgenden Beispiele). Gelegentlich machte er auch unabhängig vom Notenbild Notizen über abzuändernde Passagen. Solche Aufzeich-

nungen finden sich auf dem sogenannten letzten Schmutzblatt der gebundenen Partitur der 7. Sinfonie. Mahler war in seinen aufführungspraktischen Bestrebungen „musikologisch“ vorgegangen. Erinnerlich ist, daß er zu Natalie Bauer-Lechner über die Zusammensetzung und Stärke des modernen Orchesters gesprochen hat. Das Hauptproblem dabei war, daß sich die Relation zwischen Streichern und Bläsern seit Beethoven wesentlich geändert hatte. Gibt es auch nur wenig verläßliche Angaben über die tatsächliche Größe der Besetzung der in Wien verfügbaren Orchester zu Beethovens Zeit, lassen sich doch Durchschnittswerte eruieren. Das Theater nächst dem Kärntnertor wird über 5 erste Violinen, 6 zweite, 4 Bratschen, 3 Celli, 4 Kontrabässe, jeweils 2 Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte, Hörner,

Trompeten und schließlich Pauken verfügt haben. Dieses Orchester zählte zu den angesehenen und größeren Vereinigungen'°. Im Theater an der Wien waren zur selben Zeit nur 2 erste, 3 zweite Violinen, 2 Bratschen, 1 Cello und 2 Kontrabässe beschäftigt, die Besetzung

der Bläser war aber dieselbe wie am Kärntnertortheater. Das erhaltene Material der Uraufführung Beethovenscher Werke ist leider nur fragmentarisch'', aber aus den Resten (aus dem Gesamtmaterial der Sinfonien) ergibt sich folgendes Bild (auszunehmen ist hiervon die Besetzung der Beethoven-Akademien, wofür der Komponist stets eine größere Zahl von Dilettanten beschäftigen konnte): ° Ernst Hilmar: Mahleriana in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 5, Wien 1979

vgl. dazu Adam Carse: The orchestra from Beethoven to Berlioz. A history of the orchestra in the first half of the 19th century, and of the development of orchestral baton-conducting, Cambridge 1948 !! Die Stimmen befinden sich im Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 10

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Mahlers Beethoven-Interpretation

In der Regel bestand die Streichergruppe eines Orchesters aus 3 bis 5 ersten Violinen und ebensoviel zweiten, 2 bis 3 Bratschen, 2 Celli und 2 Kontrabässen, und diese Besetzung entspricht auch in etwa der Mitteilung von Anton Schindler, daß Beethoven im Jahre 1813 8 Violinen, 2 Bratschen, 2 Celli und 2 Kontrabässe und jeweils doppelte Besetzung bei den Bläsern verlangte'*. Im Orchester saßen folglich bis zu 30 Spieler, darunter 12 bis 16 Streicher. Das Verhältnis Streicher/Bläser lautete 1:1. Als Mahler 1898 die Leitung der Philharmonischen Konzerte in Wien übernahm, hatte er ein Orchester von ganz anderer Größe zur Verfügung. 17 erste, 17 zweite Violinen, 11 Bratschen, 10 Celli, 10 Kontrabässe traten in „Wettstreit“ mit dem üblichen doppelt besetzten Bläserensemble'?. Das Orchester bestand aus insgesamt 101 qualifizierten Spielern, und das Verhältnis Streicher/Bläser hatte sich zu 2:1 geändert. Das war der Punkt, an dem Mahler einhakte. Ihm ging es einerseits um die klangliche Balance zwischen Bläsern und Streichern, zum andern um die Hörbarkeit einzelner ihm (kompositionstechnisch) wichtig erscheinender Stimmen. Daß Deutlichkeit sein prinzipielles Anliegen war, dafür gibt es Zeugnisse genug. Mahler nahm zunächst eine Reduzierung der Streichergruppe an jenen Stellen vor, an denen das Übergewicht des Streicherklanges die Balance verschob. Aus der Vielzahl von Beispielen für diese Vorgangsweise ist jenes aus dem ersten Satz der 7. Sinfonie zu erwähnen, wo die Zielsetzung deutlich ersichtlich ist (Beispiel 2). Mahler greift aber oft im reinen Streichersatz zum Mittel der Reduzierung, wenn es um die Verdeutlichung thematischer Abläufe geht. Im langsamen Satz der 7. Sinfonie läßt er ab Takt 187 dergestalt die Gegenstimme verschwindend in den Hintergrund treten. Gelegentlich setzt er die Reduzierung für eine Art „Terrassendynamik“ ein, wie dasselbe Beispiel zeigt, und erreicht damit, ausgehend von pp, ein pppp. Die Argumentation, daß Mahler die ursprüngliche Streicher/Bläser-Balance zuerst durch die Verkleinerung der Streichergruppe wiederherstellen wollte und erst später wohl aus Gründen der Akustik der großen Säle zum Mittel der Verstärkung gegriffen hat, stützt sich auf den Vergleich der beiden Partiturexemplare der 7. Sinfonie. Jenes Exemplar, das

einen reduzierten Streicherapparat enthält und in dem sich erst Ansätze zu verstärkten Bläserpartien finden, war Mahlers erstes (?) Handexemplar der Partitur und stammt aus seiner Budapester Zeit. Vermutlich ab seiner Wiener Zeit diente ihm dann das zweite Exemplar als Vorlage. Von der Möglichkeit der Reduzierung im Streichercorpus hat Mahler gelegentlich auch zu dem Zeitpunkt, als er die Bläser verstärkte, Gebrauch gemacht. So läßt er in den Einleitungstakten im Schlußsatz der 9. Sinfonie die Geigen und Bratschen nur in halber Besetzung spielen, und im ersten Satz der 7. Sinfonie gibt er (im zweiten Partiturexemplar) genaue Anweisungen zur Besetzungsstärke: Hier lautet die Vorschrift für die Streicher 5-4-3-2-2 für lediglich sieben Takte (Beispiel 3). Auf ähnliche, aber für die damalige wie auch für die heutige Praxis ganz ungewöhnliche Weise erzielt er beispielsweise in der dritten Leonore-Ouvertüre ein crescendo: Taktweise läßt er jeweils ein weiteres Pult (ausgehend von vier Pulten der ersten Violine) einsetzen. Das Presto beginnen zunächst nur vier Pulte, im letzten Taktteil in Takt 5 setzt das fünfte Pult ein, und dann folgen taktweise jeweils auf den letzten Taktteilen (mit Auftakt in Takt 7 und 8) die Pulte sechs bis acht, und erst im neuten Takt, auf dem zweiten Achtel einsetzend, spielen alle neun Pulte (tutti). 12 Anton Schindler: Biographie Ludwig van Beethovens, Münster 1840 13 Die Besetzungsgröße ist den einschlägigen Programmbüchern der Zeit zu entnehmen (Besitz z.B. Archiv der Wiener Philharmoniker)

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Ernst Hilmar

Wie bereits angedeutet, fällt Mahlers Entschluß, von Reduzierungen der Streicher zugunsten von Verstärkungen bei den Bläsern Abstand zu nehmen, zeitlich wohl mit seiner Übersiedlung nach Wien zusammen. Einerseits hatte er gewiß Probleme, eine Reduzierung bei dem großen und qualifizierten Streicherensemble der Wiener Philharmoniker durchzusetzen, andererseits werden ihn akustische Momente bewogen haben, den Bläserapparat aufzustocken. (Mit von Bedeutung war wohl auch seine Vorliebe für eine größere Besetzung des Blechs.) Bei den Verstärkungen im Holzbläserensemble beschränkte er sich im wesentlichen auf Verdopplungen bzw. Oktavierungen. Zu sehen ist dies am Beispiel des ersten Satzes der 9. Sinfonie (Beispiel 4). Eine Erweiterung erfährt die Holzbläsergruppe aber gelegentlich durch die Einführung der Es-Klarinette. Mahler hatte eine Vorliebe für dieses Instrument, das von der Klangfarbe und Klangschärfe her aufhorchen läßt, und setzte es als Verstärkung vor allem motivischthematischer Gruppen ein. In der 3. Sinfonie sowie in der Ouvertüre Die Weihe des Hauses verlangte er dieses Instrument durchgehend, ferner auch im „Gewittersturm“ in der

6. Sinfonie als Verstärkung der Partie der Piccolo-Flöte. Gleichfalls an Stellen von musikalisch-thematischer Bedeutung vergrößert Mahler im vollen Orchestersatz häufig den Blechbläserapparat. So verstärkt er beispielsweise zu Beginn des Finalsatzes der 5. Sinfonie die beiden vorgeschriebenen Hornstimmen durch ein weiteres Hornpaar. Mitunter haben diese zusätzlichen Stimmen auch eine crescendo-Funktion wie im ersten Satz der 7. Sinfonie (Beispiel 5). Gleichzeitig wird damit an dieser Stelle die Baßfortschreitung hervorgehoben. Als „lärmend“ könnten heute Mahlers Verstärkungen in Beethovens 9. Sinfonie empfun-

den werden. Besonders eindringlich wirkt seine Forderung nach zwei weiteren Hörnerpaaren im IV. Satz sowie die Stimmergänzungen der dritten Posaune und Baßtuba (Beispiel 6). Nicht von der Hand zu weisen ist die Vorstellung, daß Mahler — wenigstens seit seiner Wiener Zeit — im Orchester ein virtuoses Instrument gesehen haben muß. Schließlich war es ihm nur dank der außerordentlichen Brillanz seines Orchesters möglich, die ihm vorschwebenden dynamischen Gegensätze, von der Schärfe und Fülle des großen orchestralen Klanges bis hin zum Verlöschen im pppp, zu realisieren. Im Zusammenhang mit seinen Bestrebungen, starke dynamische Gegensätze herauszuarbeiten, sind auch seine in den Partituren sichtbaren Bemühungen um klangliche Verdeutlichung zu verstehen. Die Folge waren eben Stimmänderungen, die. sowohl Bläser als auch Streicher betrafen. Und immer wieder erzielt er damit Hervorhebungen thematischer Teile: Im langsamen Satz der 5. Sinfonie verstärkt er z.B. ab Takt 114 Celli und Bässe durch Bratschen und Fagotte, oder zu Beginn des letzten Satzes der 7. Sinfonie gliedert er die zweiten Violinen den ersten ein. Die Tendenz, thematisch-motivische Teile besonders hörbar zu machen, ist auch bei der Verarbeitung des Themas im Schlußsatz der 7. Sinfonie zu schen (Beispiel 7). Mahler gab, wie erwähnt, seinem Bestreben nach Transparenz in den Partituren sichtbar Ausdruck: jede klangliche Abstufung ist dort notiert. So schreibt er beispielsweise in Beethovens 7. Sinfonie (I. Satz) den Streichern an mehreren Stellen ein ppp vor, die Bläser spielen ebendort als tragende Stimmen nur p (Takt 23ff.). Seine abstufenden Anweisungen in der Partitur betreffen nicht nur die Vertikale, sondern auch die Horizontale. Im ersten Satz der 7. Sinfonie verlangt er von Takt 183 an mp absteigend bis zum pppp, oder in der Szene am Bach in der 6. Sinfonie bleibt das diminuendo keineswegs dem Zufall überlassen, sondern wird Takt für Takt angezeigt (Beispiel 8). 32

Mahlers Beethoven-Interpretation

Hatte eine Stimme solistische Funktion, wurde jedes Detail wie crescendo, Phrasierung usf. genauestens angegeben, wie aus dem Beispiel des Baß-Solos im Finale der 9. Sinfonie zu ersehen ist (Beispiel 9). Diese Angaben mögen heute vielleicht als übertrieben erscheinen, und wahrscheinlich hat Mahler selbst sie unter diesem Aspekt gesehen. Als Hilfsmittel zur Interpretation waren sie ihm aber unentbehrlich: auf diese Weise konnte er sich gewiß problemloser den Musikern verständlich machen. Die genannten Stimmänderungen, Verstärkungen und dynamischen Vorschriften lediglich als (ungerechtfertigte) „Eingriffe“ Mahlers zu werten, steht selbst der kritisch orientierten Forschung nicht zu. Mahler hat aus aufführungspraktischen Erwägungen gehandelt, und er hatte sich nach raumakustischen Problemen, Besetzungsumständen und wohl auch nach der Qualität der Orchestermusiker zu richten. Die Beweggründe für viele seiner Anderungen müssen heute mangels greifbarer Tatbestände unbekannt bleiben. Es gibt aber im großen Komplex seiner Retuschen Zusätze und Änderungen, die eine zu subjektive Auslegung vermuten lassen. Das sind jene Stellen, an denen Mahler in Abweichung von der Partiturvorlage (als Komponist?) „gestaltet“. Darunter fällt beispielsweise eine heute als willkürlich aufzufassende dynamische Vorschrift in der Trompetenstimme im ]. Satz der 7. Sinfonie (ab Takt 34): Beethovens Angabe sf wird von Mahler gänzlich verleugnet. Auf das ff folgt unmittelbar ein p (und dieses p gilt einen weiteren Takt lang), jeweils in den Takten 36, 38, 40. Nennenswert sind auch die Änderungen in der Partitur

der 5. Sinfonie. Zu Beginn des Schlußsatzes weicht Mahlers Vorschrift einer klanglichen Differenzierung erheblich vom Original ab, indem er das Blech an einer allgemeinen f-Stelle von einem p zu einem fp anschwellen läßt (Beispiel 10). Wohl kaum vom Komponisten beabsichtigt war die Mahlersche Auslegung einer Stelle im Schlußsatz der 7. Sinfonie, an der es in Mahlers Anweisung heißt: Kleine Halte zur Hervorbringung eines furchtbaren crescendos u.zw. durch starken aber unmerklichen Bogenwechsel“*. Von einem „Eingriff“ kann auch beim Beginn des Adagio-Satzes in Beethovens 9. Sinfonie die Rede sein. Schon zu Beginn entwickelt Mahler im Holz aus dem vorgeschriebenen p mit nachfolgender crescendo-Gabel ein ff. Dann aber verlangt er eine klangliche Einfärbung durch die Anweisung an die Hörner, die Dämpfer zu verwenden (Beispiel 11). Sieht man von solchen problematischen Zusätzen ab, wird man Mahlers Bemühen, sich

aufführungspraktischen Fragen zu stellen, nicht nur als historische Kuriosität abtun. Mahler hatte seine Absichten sehr deutlich formuliert: Dem Dirigenten war es überall nur darum zu thun, fern von Willkür und Absichtlichkeit, auch von keiner „Tradition“ beirrt, den

Willen Beethoven’s bis in’s scheinbar Geringfügigste nachzufühlen und in der Ausführung auch nicht das Kleinste von dem, was der Meister gewollt hat, zu opfern |...]'° Das Problem hat auch heute keineswegs an Aktualität verloren '*®.

i# vgl. das Faksimile in Rudolf Stephan: Gustav Mahler, Werk und Interpretation, Köln 1979, S. 75, dazu S. 71 15 vgl. Anm. 5 16 Versuche, die ursprüngliche Streicher-Bläser-Balance wiederherzustellen, wurden jüngst auf Anregung von Luciano Berio vom Israel Chamber Orchestra unternommen.

83

Ernst Hilmar

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Peter Andraschke

Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie Die 6. Symphonie Mahlers, wie sie uns heute in der von Erwin Ratz besorgten Revision im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe! vorliegt, ist in ihrem Notentext nicht identisch mit der Partitur, die Mahler bei der Uraufführung in Essen dirigiert hat. Und auch diese unterschied sich bereits von der kurz zuvor erschienenen ersten Druckfassung. Denn Mahler hatte inzwischen die Positionen der beiden Mittelsätze vertauscht (bei der Uraufführung erklangen sie in der Reihenfolge Andante — Scherzo) und er hatte zudem zahlreiche Retuschen während einer vorangegangenen Leseprobe mit seinem Orchester in Wien und während den Proben in Essen vorgenommen. Und auch in der Folgezeit hat Mahler immer wieder an dieser Symphonie gefeilt und dabei ihr Klangbild in einem solchen Maße verändert, daß mit Recht von zwei Fassungen gesprochen werden kann, vergleicht man die von Erwin Ratz revidierte Edition?, welche die Retuschen einbezieht, mit dem Erstdruck°. Die Neuausgabe der Sechsten gab den Dirigenten und Schallplattenfirmen Anlaß für ein erneutes Interesse an dieser Symphonie. Der jeweils deutlich herausgestellte Verweis auf die Neufassung sollte dabei als Qualitätsmerkmal die Wiederaufnahme des vom breiten Publikum vernachlässigten Werkes* legitimieren und zugleich seine Verbreitung fördern. Bereits in den Rezensionen der Uraufführung stand das monumentale Finale im Mittelpunkt des Interesses. Und vor allem die Neuheit und die Fülle der instrumentalen Klangmittel und die Art seiner Instrumentierung bewirkten eine Mischung aus Faszination, Ratlosigkeit und Bestürzung bei den Kritikern. Deshalb soll zunächst von der Rezeption der Symphonie bei ihrer Uraufführung? ausgegangen werden, bevor die Retuschen im Finale untersucht werden, vor allem die zentrale Frage nach den Hammerschlägen.

Die Uraufführung der 6. Symphonie dirigierte Gustav Mahler am 27. Mai 1906 in Essen innerhalb des 42. Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musikvereins. Diese Uraufführung wurde als das Hauptereignis dieser Konzerttage herausgestellt und daher besonders gut und aufwendig vorbereitet. Allenthalben wird deutlich, welchen außerordentlichen Einfluß Mahler damals vor allem wohl als Dirigent und sicher auch aufgrund seiner -

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6 in vier Sätzen für großes Orchester, =Kritische Gesamtausgabe, hg. von der Internationalen Gustav-Mahler-Gesellschaft Wien, Bd. 6, Lindau (B) 1963

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Über die Gültigkeit der Edition von Ratz im Detail ein ausführlicher Revisionsbericht fehlt; vgl. dazu kritischen Gesamtausgabe, in: Die Musikforschung untersuchten Partien bestätigt jedoch die Korrektheit

herrscht in der Mahlerforschung zum Teil Unsicherheit, da Hans Ferdinand Redlich: Gustav Mahler. Probleme einer Jg. 19 (1966) S. 378-401. Die Prüfung der im folgenden der Ausgabe

3 Der Erstdruck (C. F. Kahnt, Leipzig 1906, Plattennummer 4526) ist von Hans Ferdinand Redlich als Taschenparti-

tur (Edition Eulenburg Nr. 586, Adliswil-Zürich 1968) neu ediert worden. Diese Neuausgabe kann im Vergleich mit der Edition von Ratz als Quellenmaterial für die vorliegende Untersuchung dienen. + Während dem Werk ein weitreichender Publikumserfolg zunächst versagt blieb — auch Mahler konnte es vermutlich nur in der Konzertsaison 1906/07 dirigieren — ist seine kompositorische Bedeutung und das Interesse an ihm in Mahlerkreisen, etwa bei den Komponisten der Zweiten Wiener Schule, stets gesichert gewesen. So begeistert sich Alban Berg in einem Brief an Anton Webern: [...] es gibt doch nur eine Vlte, trotz der Pastorale. (zitiert nach Hans Ferdinand Redlich: Alban Berg. Versuch einer Würdigung, Wien 1957, S. 360) 5 Für das Überlassen wichtiger Uraufführungskritiken aus ihrem reichen Archiv sei an dieser Stelle Eleonore und Bruno Vondenhoff gedankt. Eine Zusammenstellung wichtiger Rezensionen zur 6. Symphonie findet sich in: Gustav Mahler Dokumentation Sammlung Eleonore Vondenhoff. Materialien zu Leben und Werk, hg. von Bruno und Eleonore Vondenhoff, Publikationen des Instituts für österreichische Musikdokumentation Bd. 4, Tutzing 1978

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Peter Andraschke

gewichtigen Position als Wiener Hofoperndirektor auf den europäischen Konzertbetrieb hatte. Rechtzeitig zur Uraufführung war die Partitur erschienen. Zudem lag ein thematischer Führer durch diese Symphonie von Richard Specht vor, 48 Seiten lang‘. Partitur und Führer wurden, wie die Rezensionen belegen, eifrig benutzt. Für seine ca. 80 Minuten dauernde 6. Symphonie hatte Mahler eines der beiden Orchesterkonzerte, und zwar das prestigereiche Schlußkonzert, ganz für sich reservieren lassen’, zudem eine öffentliche Generalprobe — ein als außergewöhnlich bewertetes Novum. Beide Aufführungen waren ausverkauft. Die übrigen sieben Orchesterstücke dieses Tonkünstlerfestes, darunter immerhin Werke von Engelbert Humperdinck und Frederick Delius, wurden in dem anderen Konzert zusammengepfercht, wie die Neue Musik-Zeitung es drastisch formulierte. Dieses Mammutkonzert dauerte dadurch insgesamt fünf Stunden. In der Presse wurde Kritik laut®: Warum ließ man nicht lieber die Generalprobe fallen und verteilte die Werke der Sieben auf den Vormittag und den Abend? Das nur einmalige Hören [der 6. Symphonie] hätte entschieden weniger Nachteile gebracht, als dieser langandauernde, konzentrierte Musikgenuß in buntester Fülle. Die Uraufführung der 6. Symphonie wurde der Öffentlichkeit schon allein durch die außergewöhnliche Gewichtung im Programm des Tonkünstlerfestes als bedeutend suggeriert. Auf diese Erwartungshaltung nimmt auch der Rezensent der Neuen Musikalischen Presse Bezug, wenn er den Essener Erfolg der Symphonie kritisch resümiert?: Die Zukunft wird lehren, ob ein gänzlich unbeeinflußtes Publikum sich für das Werk genau so wird erwärmen lassen, wie es am 27. Mai in Essen geschehen ist. Mahlers Symphonie wurde schon lange vor dem Konzert in der Presse zum besonderen Ereignis propagiert und gab damit auch Anlaß zu zahlreichen Gerüchten und zu Klatsch. So berichten etwa die Signale für die Musikalische Welt'°:

Ich beginne mit dem Clou des ganzen Festes, auf den diese Art der Kritik sogleich in vollem Umfange Anwendung finden darf: mit Gustav Mahlers sechster Sinfonie. Dies Werk, welches am 27. Mai als abendfüllendes Schlußstück des ganzen Festes unter Mahler selbst zur Aufführung kam, hat durch einige Aeußerlichkeiten der Instrumentierung, schon bevor die erste Note erklang, einige Kubikmeter Druckerschwärze verschwenden lassen. Ein ganzes Arsenal von Schlagzeug ist aufgeboten, um die Intentionen des Komponisten genügend zu bekräftigen. Ein Zuhörer vom Fach meinte, es sei von jetzt ab unabweislich, daß die Konservatorien eine Meisterklasse für Schlaginstrumente einrichteten. Die mit Ruten gestrichene Wand der großen Trommel, welche den Eindruck hervorbringt, als ob ein lakenbehemdetes Gespenst in unserm Schlafzimmer ein Salto mortale vollführt, fehlt auch diesmal nicht. Neu treten auf: Kuhglocken in verschiedener Größe, zu vier oder fünf aneinandergereiht, welche bald als ein ganz entferntes Lockmotiv, wie im ersten Satz, bald als Alpen-Accessoire aus nächster Nähe wie in den Mittelsätzen, bald im Finale, als a

Richard Specht: Gustav Mahlers Sechste Symphonie. Thematischer Führer, Leipzig (1906)

Wegen des plötzlichen Todes des Essener Oberbürgermeisters Zweigert am Tage der Uraufführung dirigierte Richard Strauss in einer Gedächtnisfeier vor Beginn dieses Schlußkonzertes Mozarts Maurerische Trauermusik

(KV 477)

® Neue Musik-Zeitung Jg. 27, Nr. 18, Stuttgart-Leipzig 14. Juni 1906, S. 386

° Eduard Reuß in: Neue Musikalische Presse Jg. 15, Nr. 14, Wien 30. Juni 1906, S. 287 '" Otto Neitzel: Das 42. Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Essen (24. bis 27. Mai 1906), in: Signale für die musikalische Welt, Jg. 64, Nr. 41, Leipzig 6. Juni 1906, S. 690

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Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie

die Klänge der Sehnsucht — c’est la ou je voudrais vivre — auftaucht. Dann der Hammerschlag! Da für einen solchen die kühnsten Hilfsmittel der modernen Instrumentation versagten und der Pistolenschuß, als noch nicht konzertfähig, nicht in Betracht kam, so ließ Herr Mahler einen Rahmen von anderthalb Metern im Quadrat mit dem Fell eines ausgewachsenen Ochsen bespannen, verlieh diesem Rahmen zur Erzeugung der nötigen Resonanz einen halben Meter Tiefenausdehnung und stellte diesen Apparat, von vielen als das Wahrzeichen seiner neuen Schöpfung begrüßt, auf die oberste Stufe der Estrade. Warum der Apparat nicht in Tätigkeit trat, ist mir unklar geblieben. Es heißt, daß ein genügend kräftiger Mann, der den Schlag gegen das Ochsenfell in einer ekrasanten Stärke hätte vollführen können, in Essen und Umgegend nicht aufzutreiben war. Im weiteren Verlauf ist dann der Ton dieser Rezension durchaus ernst und im Urteil verständnisreich und positiv. Ein Zwiespalt, der sich somit hier zwischen zunächst nonchalanter und später ernsthafter Berichterstattung zeigt, ist typisch für die Gesamtheit der Rezensionen dieser Uraufführung. Sie zeigen fast durchweg eine Mischung aus Bewunderung und Skepsis: Bewunderung vor allem für den souveränen und glanzvollen Dirigenten Mahler — Achtung, verbunden zugleich mit Befremden über sein neues Werk, dessen Überdimensioniertheit (Klang, Länge) und instrumentale Extravaganzen (Kuhglocken, Hammer) vielfach Verwirrung und auch Ärger auslösten. Auch das Publikum war in seiner Beurteilung gespalten. Während sich in der öffentlichen Generalprobe auch starke Kritik am Werk äußerte, reagierte das gesellschaftlich und fachlich sicher anders geschichtete Premierenpublikum insgesamt begeistert: das Konzert erzielte einen großen, äußeren Erfolg und unzählige Hervorrufe Mahlers, begleitet von Orchesterfanfaren''. Daß das Werk „überinstrumentiert“ sei, war nicht allein die Ansicht von Richard Strauss, die er während der Proben in Essen offen kundtat"?. Auch die Besprechungen der Uraufführung heben

dies, bei allem Lob für die Instrumentierungskünste

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beziehen sich dabei besonders auf das Finale. Dabei wird vor allem eine Unverhältnismäßigkeit der musikalischen Mittel moniert, wie die nachfolgenden Auszüge aus Kritiken belegen, die zum

Teil, etwa das zweite und dritte zitierte Beispiel, an den Sachverhalten völlig

vorbeigehen: [...] eine Symphonie verlangt ein anderes Orchester als eine symphonische Dichtung, da in der letzteren infolge des reichen dichterischen Hintergrundes viele Mittel verwandt werden können, die in der ersteren ganz ausgeschlossen sind. Daher er-

scheint es von vornherein zweifelhaft, ob die von Herrn Mahler in seiner sechsten Symphonie aufgehäuften Mittel im richtigen Verhältnisse zu den zu Tage getretenen Gedanken stehen." Soviel scheint sicher zu sein, dass diese in Essen vielbejubelte „Symphonie mit den zwei Hammerschlägen“ in irgend einem musikalischen Raritätenkabinett von späteren Generationen ihren Platz angewiesen erhält. Was soll man über Mahler und seinen Komponistenruhm noch sagen? — Jedermann weiss, dass er einer unserer 1 Heinrich Hammer, in: Neue Musikalische Presse, Jg. 15, Wien 30. Juni 1906. Rudolf Stephan wies in seinem Vortrag während des Düsseldorfer Mahler-Symposiums 1979 auf die Diskrepanz zwischen den Publikumserfolgen Mahlers und der kritischen Haltung und negativen Resonanz sogenannter Fachleute, vor allem der Journalisten, hin (die bei der Uraufführung der Sechsten sicherlich vor allem in der Generalprobe anwesend waren).

12 Klaus Pringsheim, Zur Uraufführung von Mahlers Sechster Symphonie, in: Musikblätter des Anbruch Jg. 2 (1920) S. 497

13 Eduard Reuß, in: Neue Musikalische Presse, Jg. 15, Wien 30. Juni 1906, S. 289

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Peter Andraschke

bedeutendsten Orchestertechniker, ein Kolorist ersten Ranges ist, der die modernen

Ausdrucksmittel mit staunenswertem Raffinement behandelt, dass aber der innere Gehalt seiner Produktion in durchaus keinem Verhältnis zu all diesem riesigen Aufwand steht. Wer davon jedoch noch nicht überzeugt sein sollte, der höre sich die 6. Symphonie mit ihrem brutalen Heidenlärm an und er wird, falls er noch als einfacher Mensch (nicht Übermensch) gesund empfindet, sich mit Widerwillen von diesem grotesken Produkte einer entarteten Phantasie und Kunstanschauung abwenden. Mit solchen Werken ist meiner Ansicht nach einem gedeihlichen Fortschritt nicht gedient, es sei denn, dass sie als warnendes Menetekel junge Talente vor Verirrung schützen. Das Orchester hielt sich der Riesenaufgabe gegenüber ausgezeichnet und Mahler selbst erwies sich als der souverän gebietende Orchesterleiter. —'* Es gibt Menschen, deren mit breiter Eloquenz, mit technischer Gewandtheit vorgetragenen Ansichten man einen Abend hindurch mit Vergnügen lauscht; kommen diese Leute aber immer wieder mit derselben Weisheit, nur in immer auf- und vordringlicherer Form, mit immer grösserem Aplomb und Selbstgefälligkeit, mit immer lauterem Vortrag ihrer Gemeinplätze, so fühlt man sich schliesslich angewidert und geht ihnen aus dem Wege. In dieser Lage befinde ich mich allmählich Mahler gegenüber. Was er zu sagen hat, ist im Grunde genommen immer dasselbe, wie er es aber sagt, das wird immer unausstehlicher. Er kennt nur noch die Blechsprache; er redet nicht mit uns — er brüllt und tobt uns an, und verwundert fragt man: Wozu der Lärm? Es gelingt ihm nicht, uns von der inneren Notwendigkeit des von ihm Gesagten zu überzeugen, vor allem wegen der ungeschlachten Masslosigkeit seiner Gebilde. Goethe sagt: „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister“, Mahler sagt (oder tut) das Gegenteil, — ich für mein Teil halte es mit Goethe." Der erste, von männlicher Kraft erfüllte Satz machte einen imponierenden Eindruck, wunderbar tiefe und edle Empfindung spricht aus dem langen Andante moderato, und in sonniger, fast Schubert’scher Heiterkeit erklingt das Scherzo. Aber der Schlußsatz, in seinem Aufbau und mit seinem thematischen Reichtum inhaltlich sicherlich

für den Musiker der interessanteste, ergeht sich in einer Kakophonie und einem polyphonen Gewirr, daß mein Ohr sich nicht mehr zurechtfinden konnte, trotzdem ihm das Auge mit dem Nachlesen der Partitur zu Hilfe kam. Aber auch in dieser Häßlichkeit bleibt Mahler doch eine imposante Erscheinung, und so war es ebenso verständlich, daß es vormittags in der Generalprobe eine Menge Leute gegeben hat, die das Werk energisch ablehnten, wie daß es am Abend mit begeistertem Beifall aufgenommen wurde und dem Komponisten wenigstens ein halbes Dutzend Hervorrufe eintrug. Die Aufführung, von Mahler in einer Anzahl von Proben selbst vorbereitet, verlief glänzend, und das Orchester brachte die zahllosen fesselnden Klangeffekte mit vollster Wirkung zum Vortrag. Ob ein Komponist über die Mablersche Orchesterbesetzung noch wird hinausgehen können? Die Partitur erfordert nämlich neben dem vielfach noch geteilten Streichquintett vier Flöten, vier Oboen, vier Klarinetten und Baßklarinette, drei Fagotte und Kontrafagott, acht Hörner, vier Trompeten, drei Posaunen und Baßtuba, Pauken, Glockenspiel, Herdenglocken, X ylophon, große und kleine Trommel, Triangel und Becken, Tambourin, zwei Harfen und Celesta, 1# Hugo Daffner, in: Musikalisches Wochenblatt Jg. 37, Nr. 25 vom 21. Juni 1906, S. 462 15 Gustav Altmann, in: Die Musik Jg. 5 (1905/06) S. 49

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Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie

ein Tasteninstrument, dessen Töne anscheinend durch Stahlplatten hervorgebracht werden, und das, weil es nur zart klingt, „womöglich zwei- oder mehrfach besetzt“ sein soll. Daß bei diesem Riesenorchester einzelne Stellen der Partitur nur für das Auge erkennbar, für das Ohr aber nicht vernehmbar sind, ist kaum zu verwundern, die Harfen und die Celesta zumal hatten unter dem Uebergewicht des übrigen Orchesters vielfach zu leiden, während sie da, wo der Komponist ihnen die Möglichkeit gegeben hatte, zu wirken, sich um so dankbarer erwiesen.“ Mahler war sich der Schwierigkeiten durchaus bewußt, die ungewöhnlich aufwendigen orchestralen Mittel, die er zur Darstellung seiner Ideen in der Sechsten benötigte, durchhörbar und klar zu gestalten. Deshalb hatte er als Vorbereitung für diese Uraufführung noch in Wien eigens eine Art „Generalprobe“ mit dem Orchester der Hofoper veranlaßt. Bei dieser Gelegenheit und bei den Proben in Essen konnte er aufgrund der eigenen Dirigiererfahrung an der klanglichen Darstellung der Symphonie weiterarbeiten. Und er war durchaus bereit, wie Klaus Pringsheim’?” berichtet, auch Anregungen anderer hinsichtlich der instrumentalen Wirkung zu prüfen und anzunehmen. Denn ihm fiel das Instrumentieren nicht leicht, bzw. er machte es sich nicht leicht. Denn die Klanggestaltung war ihm, was die Retuschen deutlich belegen, ein wesentliches Moment der sinngehaltlichen Darstellung. Nach der Probe [in Essen] sagte Richard Strauß in seiner selbstverständlich-legeren Art, der Satz sei „überinstrumentiert“

— der Strauß der „Salome“-Partitur. (Es war

ein großes Jahr deutscher Musik, das uns „Salome“ und Mahlers Sechste brachte.) Überinstrumentiert? Das Wort gab Mahler viel zu denken. (Weil Strauß es gesprochen hatte.) Er kam oft darauf zurück, sprach viel über sein Verhältnis zu Strauß — er sprach, wie immer, einfach, rührend-menschlich, und alle lauschten ihm wie einem Weisen; denn Mahler lehrte, wie Sokrates gelehrt hat: gab in Gesprächen, ohne die Geste des Gebenden, unendlich viel — er sprach damals nicht von sich, sondern von dem andern, den er nie verkannt hat, fragte ohne Neid, ohne Bitterkeit, fast demutvoll-ergeben, woran es wohl liege, daß jenem alles so leicht, ihm so schwer würde;

und man fühlte den ewigen Gegensatz der Sieghaft-Blonden und der Dunklen, Schicksalbeladenen. Jemand hielt den Augenblick für gekommen, höflich opponierend ihm von seiner „meisterhaft sicheren Instrumentation“

zu reden. Sicherheit

(und gar meisterhafte)? Nein, davon wußte er nichts. Man erfuhr, wenn noch zu erfahren hatte, daß Mahlers „Können“,

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die unerhörte Beherrschung des

orchestralen Apparates, ihm nichts Selbstverständliches war, nicht ein festes Kapital, mit dem sichs bequem wirtschaften, mit dem sichs schließlich auch leicht Symphonien schreiben läßt (wie oft haben seine Gegner ihm das vorgeworfen, versucht, mit seiner Meisterschaft den Meister zu schlagen!) — nein, daß es ein höchst mühseliges Können war, mit jedem Tage, mit jedem Takt neu erworben, ein wahrhaft schöpferisches Können, weil sein künstlerischer Wille es immer neu schuf. Man erfuhr, daß seine letzte Arbeit, bevor er eine Partitur niederschrieb, die orchestrale Disposition war; daß er selbst, wenn das musikalische Bild feststand, oft noch kaum ahnte,

welche klanglichen Mittel er zu seiner Verwirklichung werde aufwenden müssen, wie einmal das Partiturbild aussehen werde. An der Partitur, auch wenn sie längst fertig, schon gedruckt war, arbeitete er Tag und Nacht — er arbeitete, richtiger: es arbeitete in ihm, zu jeder Stunde, während der Proben, auf Spaziergängen, wenn er 16 Otto Leßmann, in: Allgemeine Musik-Zeitung, Berlin 8. Juni 1906, S. 389 17 Klaus Pringsheim, a.a.O., S. 497.

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Peter Andraschke

bei Tische saß, arbeitete einer immer höheren — und der unerreichbaren, höchsten

Vollkommenheit zu. Ganz gewiß, „leicht“ ließ er sichs nicht werden. Und wie stand es mit seiner „Sicherheit“? Mußte er nicht instinktiv-unbewußt Sicherheit verwerfen, wie er öffentlich Routine und Tradition verworfen hat? Doch seine Unsicherheit war die des ewig Ringenden, ewig Suchenden, dem kein Maß, kein Messender sichere Gewähr bietet; und dem doch kaum je, in tiefsten Augenblicken des Lebens, das eigene Gefühl sagen kann, ob er auf rechten Wegen ist |...]"* Beachtenswert für die Rezeption sind auch die verschiedentlich auftauchenden Anmerkungen der Rezensenten, daß sie sich wegen der fehlenden programmatischen Hinweise Mahlers alleine gelassen fühlten. Äußerlich nun gibt sich das Werk als „absolute“ Musik; die Form ist die viersätzige der alten Symphonie: Allegro, Scherzo, Andante, Finale |...) Marsch, Tanz, volkstümliches Lied sind auch diesmal als Gestaltungsmittel stark herangezogen. Aber in Wahrheit schreibt Mahler keine absolute Musik; es sind nicht jene tiefinnerlichen Klänge, die keiner Deutung von außen mehr bedürften, wie etwa das Andante aus der fünften Symphonie von Beethoven, die so ganz für sich selbst sprächen. Wenn z.B. im Andante moderato zu zarten Harmonien die Herdenglocken leise erklingen, so fühlt man sich bei Mahler dadurch eben noch nicht ohne weiteres entzückt und in höhere, reine Sphären gehoben, sondern man fragt: was soll das, was bedeutet das? Und ich habe absichtlich das Andante gewählt, weil Mahler hier seinem vorgeblichen Ziele, durch die Musik allein zu wirken, noch am nächsten kommt. Nun könnte

man sagen: mache sich jeder sein „Programm“ selber. Aber Mahlers Musik hat anderseits auch nicht jene bildnerische Kraft, die uns das hier durchaus notwendig dünkende poetische Gemälde vor die Seele zauberte. Ich stehe heute — nachdem ich eine Mahlersche Symphonie zum ersten Male gehört habe — auf dem Standpunkt, daß Mahler da, wo er das Wort zu Hilfe nähme, große Wirkungen erzielen könnte, oder daß er in der reinen Instrumentalmusik seine Wirkungen durch, wenn auch nur kurze programmatische Erklärungen steigern würde. Wie hilfreich und phantasiefördernd stellt hier das eine Wort „Altväterisch“ im reizvollen, fortwährend den Takt

wechselnden Menuett des Scherzos zur rechten Zeit sich ein!”? Programmatische Erläuterungen waren damals, so scheint es, dem Hörer als Anhaltspunkte willkommen. Denn im weiteren Verlauf der eben zitierten Rezension wird bei einer Symphonie von Hermann Bischoff die Beigabe von Erklärungen dankbar aufgenommen. Zum Teil wurde in den Rezensionen der 6. Symphonie gar die chaotisch wirkende Lautheit der Musik als ihr besonderer Sinngehalt gedeutet, ohne einen Zusammenhang dieser klanggewaltigen Ausdrucksmittel mit dem musikalischen Prozeß im Werk deutlich herzustellen ?° Endlich kamen noch zwei Celestas, die kleinen Stahlklaviere, die, ich glaube, Masse-

net zum erstenmal in seinen Opern angewandt hat, die durch Charpentiers Louise sodann auch nach Deutschland kamen, und die jetzt in keinem honnetten französi-

schen Werk mehr fehlen, zur Verwendung: sie erzeugen wahrhafte Himmelsklänge und übertragen diesen flutenden Gold- und Silberschimmer, der bei der Engelszene Send: 1% Neue Musikzeitung, a.a.O., S. 388

2° Otto Neitzel, in: Signale für die musikalische Welt, a.a.O., 5. 690f.

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Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie

in Humperdincks Hänsel und Gretel sich von oben ergießt, in die Welt des Klanges. Kuhglocken und Celesta! Paradies auf Erden und elysäische Gefilde dort oben! Es wäre recht einfach, wenn sich Mahlers Sinfonie nur zwischen diesen beiden schönen Dingen [gemeint sind Kuhglocken und Celestas] abspielte. Aber dazwischen gähnt ein tiefer Riß, ein unbefriedigtes sich Sehnen, ein Verzweifeln, ein sich Abmühen des vollen Orchesters namentlich im letzten Satz, wo das starkbesetzte Blechkorps fast keinen Augenblick zur Ruhe gelangt, ein Stöhnen und Aechzen und ein Schreien und Brüllen, und das ist es, was der Sinfonie die Tragik verleiht, die ihr der obenhin Urteilende wohl abstreitet, die sie bei näherem Aufhorchen dennoch besitzt und mehr besitzt als die frühern Schöpfungen Mabhlers. Ein geistreicher und kompetenter Hörer sprach in diesem Finale von einer Hypertrophie des instrumentalen Ausdrucks; ich finde, er trifft den Nagel auf den Kopf, um dies unsäglich schmerzliche, sehnsuchtgepeitschte Ringen zu kennzeichnen. Tragisch deswegen, weil dies Ringen unbefriedigt, weil diese Sehnsucht unausgelöst bleibt, wie hier. Die Quellenlage der 6. Symphonie hat Rudolf Stephan im Katalog der Ausstellung Gustav Mahler. Werk und Interpretation, Düsseldorf 30. Oktober 1979-6. Januar 1980, aufgeschlüsselt und beschrieben*!. Es handelt sich danach um folgende grundlegende Quellen, die bei einer umfassenden Untersuchung von Mahlers Kompositionsprozeß herangezogen werden müssen: iL Autograph der Partitur (Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)” an Partitur, geschrieben von einem Berufskopisten (Gustav Mahler Archiv der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien: N/V1/13) 3. Dirigier- und Studienpartitur, C. F. Kahnt Nachfolger, Leipzig, Copyright 1906 (mit dem Scherzo als II. Satz) und Studienpartitur C. F. Kahnt Nachfolger, Leipzig, Copyright 1906 (mit dem Andante als II. Satz) ** . Partitur. Plattenabzug zu Korrekturzwecken mit zahlreichen Retuschen Mahlers (Gustav Mahler Archiv der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien: N/V1/14) . Dirigierpartitur C. F. Kahnt Nachfolger, Leipzig, Copyright 1906 (mit Andante als II. Satz), in welche die Retuschen eingegangen sind . Edition in: Kritische Gesamtausgabe, hg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien, Bd. VI, C. F. Kahnt, Lindau 1963. Sie enthält den Text der zweiten Fassung und zusätzlich eine Retusche, die Mahler nachträglich Willem Mengelberg mitgeteilt hat’. Alle gedruckten Ausgaben (oben Nr. 3 — 6) haben die gleiche Platten-Nr. 4526, was vielfache Verwirrung gestiftet hat. Zu den Quellen gehört zudem ein erhaltenes Blatt einer ParticellSkizze zum ersten Satz?’. Wichtig sind ferner der von Alexander Zemlinsky eingerichtete Klavierauszug zu vier Händen (C. F. Kahnt, Leipzig, Copyright 1906)” und Willem Mengelv [2

Gustav Mahler. Werk und Interpretation. Autographe. Partituren. Dokumente zusammengestellt und kommentiert von Rudolf Stephan mit einem Beitrag von Bruno Walter, Köln 1979 (im folgenden abgekürzt Stephan) Stephan Nr. 18, S. 43; siehe auch Farbtafel I, Abbildungen 18 — 20, S. 51-53 Stephan Nr. 19, S. 54; siehe auch Abbildung 21, S. 55

Stephan Nr. 23, $. 57f. — Zur Frage der Satzvertauschungen vgl. auch Peter Andraschke: Struktur und Gehalt im ersten Satz von Gustav Mahles Sechster Symphonie, in: Archiv für Musikwissenschaft 35 (1978) S. 275 — 296 Stephan Nr. 20, S. 54f.; siehe auch Farbtafel II

vgl. den Revisionsbericht von Erwin Ratz, a.a.O. Abbildung und Analyse bei Andraschke, a.a.O., S. 288f. Stephan Nr. 24, 5. 59

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Peter Andraschke

bergs Dirigierexemplar der Sechsten in der von Mahler retuschierten Fassung (oben Nr. 5). Hier sind zahlreiche Eintragungen?” Mengelbergs zu finden, die für seine aus der Mahlernähe stammende Auffassung bezeichnend sind. Im folgenden wird vor allem Bezug ErnomImen auf das Autograph und die erste Druckfassung mit Mahlers eingetragenen Retuschen Mahlers Retuschen in der Dirigierpartitur (Gustay Mahler Archiv der ee Gustav Mahler Gesellschaft N/Vl/14) zeigen durch die Verschiedenheit des Schriftbildes (von sehr flüchtiger bis deutlicher Notierung) und durch die Vielzahl des verwendeten Schreibmaterials, daß sie zu verschiedenen Zeiterf, vor allem wohl in Orchesterproben geschahen. Die Eintragungen mit Rot-, Blau-, Braun-, Blei-, Kopierstift und (sehr wenige) mit roter Tinte sind in ihrer zeitlichen Abfolge nicht mehr aufzuschlüsseln. Überblickt man die Gesamtheit der Retuschen im Finale, so fällt besonders die Zurücknahme des Schlagzeugklanges auf. Vermutlich hat Mahler dabei die allgemein ablehnende, in der Presse oft scharf geübte Kritik an der überreichen Verwendung des Schlagzeuges mitberücksichtigt. Darauf verweist z.B. auch seine Reaktion auf die „inoffizielle Generalprobe“ in Wien, in der er — laut dem Berichterstatter der Neuen Musik-Zeitung vom 14. Juni 1906 — betonte, daß er nirgends die Absicht habe zu lärmen, daß er durch Verwendung der verschiedenartigen Schlaginstrumente nur Abwechslung in der Klangfarbe erzielen wolle.°* Insgesamt hat Mahler gegenüber der ersten Druckfassung allein im Finale 110 Takte Schlagzeug gestrichen, darunter immerhin sehr klangbestimmende 19 Takte Becken und 51 Takte Pauken; dabei sind die Reduzierungen in der Instrumentenbesetzung (z.B. von zwei Pauken auf eine) und die Verkürzung von Notenwerten hier nicht mitgerechnet; oft wurde der Schlagzeugpart zudem dynamisch zurückgenommen. Insgesamt fehlt jetzt gegenüber der ursprünglichen Konzeption in 56 Takten das Schlagwerk ganz. Allein schon dieser deutliche Verzicht auf Schlagzeugklang bewirkte eine größere Durchsichtigkeit der Partitur. Das verbliebene Schlagzeug wirkt zudem in seinem Einsatz gezielter: es verdeutlicht motivische Strukturen, setzt wichtige Akzente und dient dem Kolorit. Lediglich in vier Takten hat Mahler Schlagzeug neu zugefügt: die Große Trommel im Takt 336 zur Verstärkung eines Hammerschlages, die Pauke in Takt 519, direkt vor dem Eintritt der Reprise und das Glockenspiel in den Takten 665 f. Wie üblich hat Mahler an der Grundstruktur des Satzes nichts mehr geändert’. Seine Retuschen betreffen vor allem die Instrumentierung und die Dynamik. Er beabsichtigt mit ihnen insgesamt eine größere Durchsichtigkeit des Satzes. Dabei ist ein Trend weg von sich vermischenden Instrumentalfarben und hin zu einer individuelleren Klangunterscheidung der die Motivstruktur bestimmenden Instrumentalstimmen zu beobachten. Dafür seien einige Beispiele genannt. Der getragene Choral wird in der zweiten Fassung bei seinem ersten Erscheinen (Ziffer 106) zunächst nur von den Holzbläsern vorgetragen. Die Hörner und die Baßtuba wurden gestrichen und setzen nun erst nach vier Takten klangtragend ein: das erinnert an den registerartigen Klangwechsel beim Orgelspielen bzw. an die Alternativpraxis des Choralsingens.

” Stephan Nr. 51, S. 88; siehe auch Abbildungen 40 —41, S. 89f. ° Für das Verständnis der folgenden Darstellungen genügen als Belegmaterial die Neuedition der Erstausgabe von Hans Ferdinand Redlich und die Edition der revidierten Fassung von Erwin Ratz #1 Neue Musikzeitung, a.a.O., S. 388

®2 Die Änderung des Harfenklanges im Takt 292 ist die einzige Ausnahme

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Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie

Auffallend ist, wie Mahler die zum Seitensatz der Exposition hinführenden Takte 178 — 190 in ihrem Klang reduziert hat. Holzklappen und Becken wurden gestrichen; lediglich der Beckenschlag am Höhepunkt im Takt 178 blieb stehen; im Autograph stand auch noch zu Beginn von Takt 180 ein verstärkender Beckenschlag, der aber schon in der ersten Druckfassung fehlt. Mahler trennte zudem die beiden hier gleichzeitig ablaufenden Entwicklungen klanglich dadurch voneinander, daß er die abwärtsgerichtete Sechzehntelbewegung in den Holzbläsern, Takt 180 — 183, strich. Die in die Tiefe abstürzende Bewegungsgeste ist jetzt nur noch in der Klangeinheit der Streicher auskomponiert. In den Bläsern erklingt dagegen die großintervallige Motivik des Hauptsatzes. Doch ist hier ein großer Teil der Füllstimmen und Verdoppelungen weggelassen. Und vor allem ist die Dynamik überall reduziert. So diminuieren etwa die Fagotte bis zum piano (ursprünglich sempre forte) im Takt 190; in diesem Schlußtakt ist auch der Paukenwirbel weggelassen. Die Partie der Bläser, in der sich schon in der Grundkonzeption ab Takt 184 die Abwärtsgestik verstärkt durchsetzt, nähert sich demnach in der revidierten Fassung stärker dem Ausdruck der abebbenden Bewegung in den Streichern. Aus diesem Zusammenbruch und der gleichzeitigen Auflösung der thematischen Entwicklung ersteht der Seitensatz und ist in der Neukonzeption auch in seiner Klangzartheit (pp, pizz.) sogleich präsent, da er nun nicht mehr ausschließlich als Kontrast, sondern klanglich vermittelt erscheint. Doch soll diese Reduzierung im Klangvolumen und in der Dynamik nicht durch eine Tempoverlangsamung übertrieben werden. Nicht schleppen lautet Mahlers neue Anweisung im Takt 183 und gleichzeitig streicht er den ursprünglichen Pesante-Vermerk im nachfolgenden Takt. Auch schon in den instrumentalen Änderungen im Autograph zeigt sich Mahlers Wille zur instrumentalen Individuation von Motiven und Themen. Im zweiten Abschnitt der Einleitung zur Exposition wurde die das Hauptthema vorbereitende Motivik in den Takten 16-26 im Autograph zunächst nur von den Fagotten vorgetragen. Noch im Autograph individualisiert Mahler sie, gliedert sie instrumental-räumlich durch eine Verteilung auf Baßtuba (T. 16-22), A-Baßklarinette (T. 24/25), A-Baßklarinette und Fagotte (T. 26) auf. Und das Motiv in der Baßklarinette, Takt 34 — 35, war ursprünglich dem 4. Horn zugedacht; es wird jetzt von dem gleichzeitig im 1. Horn erklingenden Thema klanglich abgelöst. Die im Vergleich mit den Instrumentationsretuschen nur geringen Veränderungen und Ergänzungen der Artikulation, des Tempos und der Vortragsanweisungen entstammen schon im Autograph einer späteren bereits das Satzganze überblickenden Durchsicht bzw. sind sie dann später während des Erprobens der Symphonie mit dem Orchester gemacht worden. Sie dienen einer immer deutlicheren Konturierung des musikalischen Prozesses und seines Sinngehaltes. Während die beschriebenen Streichungen von Instrumentalstimmen vor allem die Struktur des Satzes durchhörbarer und klarer gestalten, betreffen andere wesentlich den Sinngehalt in dieser Symphonie. Dazu gehören insbesondere die Hammerschläge°’.

33 Die folgende Untersuchung setzt voraus und ergänzt in ihrem analytischen Teil meinen bereits oben (Anm. 24)

zitierten Aufsatz. Dort wurde versucht, darzustellen, in welcher Weise für die 6. Symphonie ein gedanklich außermusikalischer Hintergrund bestimmend ist, den man bis in das Detail der musikalischen Struktur analytisch verfolgen und interpretieren kann. Grundlage der ausführlichen Analyse, welche die Retuschen deutend einbezieht, ist vor allem die Exposition des ersten Satzes; Exkurse gelten der Naturepisode und dem Kompositionsprozeß, u.a. der von Mahler wiederholt umgestellten Satzfolge.

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Peter Andraschke

Alma Mahler umreißt die Bedeutung des Finale wie folgt: Im letzten Satz beschreibt er sich und seinen Untergang oder, wie er später sagte, den seines Helden. „Der Held, der drei Schicksalsschläge bekommt, von denen ihn der dritte fällt, wie einen Baum.“ Dies Mahlers Worte. Kein Werk ist ihm so unmittel-

bar aus dem Herzen geflossen wie dieses. Wir weinten damals beide. So tief fühlten wir diese Musik und was sie vorahnend verriet. Die Sechste ist sein allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein. Er hat sowohl mit den Kindertotenliedern wie auch mit der Sechsten sein Leben „anticipando musiziert“. Auch er bekam drei Schicksalsschläge und der dritte fällte ihn |...]°*

Gustav Mahler selbst soll, leider ohne weiterführende Hinweise, die Sechste als seine Tragische bezeichnet haben. Das ästhetische Subjekt dieser Symphonie, Mahlers „Held“, lebt und leidet, reagiert auf Schicksalsschläge (Katastrophen) mit neuen Aktivitäten und

Hoffnungen, bevor er (seine Welt) tief getroffen zusammenbricht. Jeder Hörer dieser Symphonie wird entsprechend seiner eigenen Erfahrungen, seiner Erlebnisfähigkeit und seiner psychischen Verfassung von den im Werk enthaltenen Stimmungen und Konflikten berührt werden. Und er wird die Musik innerhalb der von der Grundkonzeption Mahlers offengehaltenen Möglichkeiten je für sich individuell empfinden und deuten. Programmatische Momente durchdringen diese Komposition bis in das Detail der Struktur. Sie bestimmen auch im Finale werkimmanent den Entwicklungsprozeß und bedingen letztlich die Formkonzeption. Zwar trägt dieser Satz, wie auch der Anfangssatz der Symphonie, Züge der Sonatensatzform. Doch zeigen die zum Teil unterschiedlichen Ergebnisse der bisherigen Analysen, etwa von Eberhard Klemm, Erwin Ratz°*, Hans Ferdinand Redlich”

und Bernd Sponheuer?® — auf die, wenngleich ohne weiterführende Diskussion, zur Orientierung über die Satzgestalt verwiesen sei — wie schwer es fällt, das musikalische Geschehen der Sonatensatzform entsprechend zu gliedern und zu benennen. Erst in den kommentierenden Beschreibungen, die in der Art der Formulierung stets auch auf den außermusikalischen Grund dieser Komposition verweisen, wird dann das Besondere der formalen Gestaltung deutlicher. Die Hammerschläge sind ungewöhnliche und auffällige Symbol- und Sinnträger im Finale. Sie haben ihre besondere Geschichte im Kompositionsprozeß, die trotz der zahlreichen Diskussionen bislang nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Im Autograph der Sechsten stehen Hammerschläge an insgesamt fünf verschiedenen Stellen. Sie sind alle mit Blaustift und demnach nach Reinschrift der Partitur, die mit schwarzer Tinte ausgeführt ist, eingetragen worden. In diesem nachträglichen Arbeitsgang hat Mahler auch drei Extrainstrumente neu in die Partitur des Finales aufgenommen: ein Tenorhorn, eine Tenortuba und eine Baßtuba in F. Sie sollten beispielsweise den Bläsersatz am Ausklang des Finales (ab Ziffer 165) klanglich bestimmen; von diesen drei Instrumenten ist dann nur die Baßtuba ” Alma Mahler: Gustav Mahler. Erinnerungen und Briefe, Amsterdam 1949, S. 92. ® Eberhard Klemm: S. 447 — 455

Notizen

zu Mahler,

in: Festschrift Heinrich

Besseler zum

60. Geburtstag,

Leipzig

1961,

36

Erwin Ratz: Gustav Mahler. Symphonie Nr. 6 in a-Moll, in: Gesammelte Aufsätze, hg. von F. C. Heller, Wien 1975, 5. 123-130; ders.: Zum Formproblem bei Gustav Mahler. Eine Analyse des Finales der VI. Symphonie,

37

Hans Ferdinand Redlich: Mahler’s Enigmatic „Sixth“, in: Festschrift Otto Erich Deutsch zum 80. Geburtstag, Kassel, Basel etc. 1963, S. 250-256; ders.: Vorwort zur Edition Gustav Mahler Symphony Nr. 6, a.a.O., S. VII —

38

Bernd Sponheuer: Logik des Zerfalls. Untersuchungen zum Finalproblem in den Symphonien Gustav Mahlers,

a.a.O., S. 131-146

XXI

Tutzing 1978

22.

Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie

in die erste Druckfassung eingegangen. Auch zahlreiche Tempovorzeichnungen sind erst bei dieser späteren Durchsicht des Autographs vermerkt worden. Allgemein bekannt sind die drei Hammerschläge in der ersten Druckfassung in den Takten 336, 479 und 783, wobei der letzte in der Neufassung fehlt. Ein weiterer Hammerschlag steht im Autograph im Takt 530; er ist aber bereits hier wieder gestrichen. Und auch im Takt 9 ist mit Sicherheit ein Hammerschlag von der Dauer einer Viertelnote unter dem System der Großen Trommel notiert. Es fehlt hier zwar die entsprechende Instrumentenangabe zu Beginn des Systems. Doch ist dieser Schlag in der gleichen Weise eingetragen wie etwa der letzte Hammerschlag®”; auch die zugehörenden Pausen sind in den nachfolgenden Takten auf dieser Seite sorgfältig vermerkt. Dieser Hammerschlag ist im Autograph noch nicht gestrichen; er wurde jedoch von Mahler nicht in den Druck übernommen. Der Hammerschlag im Takt 336 ist anders als die übrigen notiert. Mahler hatte hier bereits nachträglich mit schwarzer Tinte einen Schlag der Großen Trommel im fff notiert, und zwar im Raum zwischen den Systemen der F-Trompete und der Pauke*. Es war demnach im Partiturraum des Schlagzeugs kein Platz für den Hammerschlag mehr frei. Deshalb ist er durch einen großen Anmerkungsstern mit Blaustift in einem freien Takt der F-Trompete markiert; unmittelbar davor steht in großer Schrift Hammer. Dieser Stern steht auch vor der zugehörenden Erläuterung unter dem Notenbild, die später auch in. veränderten Formulierungen in den Druckfassungen erscheint. Sie lautet im Autograph: kurz dumpf, mächtig aber dumpf hallender Schlag von nicht metallischem Charakter.

Diese Anmerkung muß bereits vor dem Eintragen des Hammers gestanden haben. Denn sie ist, wie die Partiturniederschrift, sauberlich mit schwarzer Tinte geschrieben. Doch können über den ursprünglichen Zusammenhang von Großer Trommel, Anmerkung und Hammerschlag nur Vermutungen geäußert werden: Die Anmerkung könnte zusammen mit dem Nachtrag des Trommelschlages formuliert worden sein und eine besondere, hier nicht näher angegebene Ausführung meinen. Ein Argument dafür wäre auch, daß der Schlag der Großen Trommel dann in der Druckfassung fehlt, also mithin durch den späteren Hammerschlag ersetzt worden ist. Dagegen spricht wiederum, daß kein Verbindungszeichen existiert, das die Große Trommel und die Anmer-

kung aufeinander bezieht. Vielleicht hat Mahler, als er die Anmerkung schrieb, vorerst nur an eine klangverstärkende Möglichkeit des Schlages im Takt 336 gedacht, ohne schon eine genaue Vorstellung des zu fordernden Instrumentes zu haben. Jedenfalls hat die Klangidee eines besonderen Schlages, wie sie ihn die Erläuterung beschreibt, vor dem Einfall seiner technischen Ausführung bestanden. Aber auch die spätere Vorzeichnung Hammer ist keine eindeutige Instrumentenangabe und erforderte deshalb eine umschreibende Anmerkung. Mahler selbst hat bei der Darstellung des Hammerschlages, wie die Rezensionen der Uraufführung belegen, experimentiert. Und bis heute ist es offen, wie er zu verwirklichen ist. Denn der Hammerschlag hat primär Symbolcharakter und ist Ausdruck der außermusikalischen Klangvorstellungen, wie sie etwa in der Anmerkung angesprochen sind. Und auch die Ergänzung in der zweiten Druckfassung wie ein Axthieb ist kein näher bestimmender Instrumentalhinweis, sondern präzisiert die sinngehaltliche Bedeutung dieses Schlages. Der Takt 336 ist aber sicher die Stelle in der Partitur, an der Mahler die Idee des symbolträch39 Reproduktion bei Stephan, Farbtafel I

# Der Trommelschlag wurde aber in die erste Druckfassung nicht aufgenommen; er steht erst wieder in der zweiten Fassung

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Peter Andraschke

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Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie

tigen, das Einbrechen einer Katastrophe bezeichnenden Schlages zuerst notiert hat. Die anderen Hammerschläge sind danach eingetragen worden. Im folgenden sollen die mit den Hammerschlägen zusammenhängenden Retuschen untersucht werden. Dabei stellt sich vor allem die Frage, wie es zu der Reduzierung von ursprünglich fünf auf drei Hammerschläge vor der ersten Druckfassung und von drei auf zwei Hammerschläge vor der zweiten Druckfassung kam. In den beiden Druckfassungen fällt der erste Hammerschlag in der Durchführung, Takt 336. An dieser Stelle endet und beginnt je einer ihrer Hauptabschnitte. Die Durchführung wird, wie auch die Exposition, Reprise und Coda von dem Eröffnungsthema des Satzes eingeleitet, das sich hier zu einer Naturepisode weitet. Ihr folgt ab Takt 228 ein Abschnitt, in dem das Material des Seitensatzes entwickelt wird. Diese Partie, die unmittelbar zum

ersten Hammerschlag führt, ist im Ausdruck schwelgend und führt zu Höhepunkten größter klanglicher Erfüllung. An ihrem Beginn hat Mahler auffällig retuschiert, ähnlich stark wie am Seitenthema in der Exposition des ersten Satzes, dem sogenannten Alma-MahlerThema*'. Anders als Richard Strauss, fiel es ihm nicht leicht, zu instrumentieren, d.h., seine musikalischen Gedanken innerhalb eines Entwicklungsprozesses klangfarblich zu charakterisieren. Und gerade um einen auch von der Instrumentierung her glänzend und prächtig wirkenden Klang mußte er sich besonders bemühen. Eine entscheidende Änderung im Ausdruck ab Ziffer 124 bewirkt die neue Tempoanweisung Sostenuto (zuvor Immer dasselbe Tempo), die zugleich die neue Vortragsart betrifft. Sie fordert den Dirigenten auf, die folgende Passage in Ruhe auszukosten. Auch schon die zum Sostenuto-Abschnitt hinführenden Takte 283 — 287 hat Mahler verändert. Um den vollen und zugleich warmen Tuttiklang des neuen Themas zu betonen, reduzierte Mahler das Klangvolumen zuvor: — 284) und Reduzieren (zwei statt durch Streichen (Oboen T. 284-287, 3. Horn T. 283 vier Fagotte; einstimmiges Glissando statt viertöniges Akkord-Glissando in der II. Violine T. 284— 287) von Instrumentalstimmen. Die insgesamt neue Ausdruckshaltung des Sostenuto wird zudem durch einen verbreiterten Auftakt in den Streichern angegangen (Achtelstatt Sechzehntel-Triolen); dabei geht jetzt die II. Violine unisono mit, dafür fehlt ihr ursprünglicher Akkord zu Beginn von T. 288. Zu Beginn des Sostenuto-Abschnittes waren die thematischen und die begleitenden Verläufe in der ersten Fassung wie folgt instrumentiert: der Hauptgedanke dieses Abschnitts in zwei Flöten, zwei Oboen, in der D-Klarinette und in den Violinen; ein Nebengedanke

in den Violoncelli und in den Kontrabässen; ein fanfarenartiges Thema in der F-Trompete mit der Vortragsanweisung schmetternd (Schalltrichter hoch). Dazu erklangen gehaltene Akkorde in den Holzbläsern und den Hörnern, rauschende Arpeggien in den beiden Harfen, füllende Triolenbegleitung in den Bratschen und durchgehender Paukenwirbel. Der Hauptgedanke wurde ursprünglich in der Weise instrumental gegliedert, daß seine Motive und Motivteile zu Beginn des Sostenuto-Abschnitts klanglich differenziert waren: die melodieführenden und die begleitenden Flöten, Oboen und Klarinetten wechselten nach dem zweiten Takt (ähnlich auch nach dem vierten Takt) ihre Funktion; in den beiden Violinen erfolgte der Wechsel gar taktweise. In der Neufassung verzichtet Mahler dann

weitgehend auf diese Differenzierung: die hohen Holzbläser (Flöten, Oboen, D- und B-Klarinetten) und auch die Bratschen spielen jetzt das Hauptthema ganz mit, nur die Violinen wechseln sich weiterhin in seinem Vortrag ab. Der Nebengedanke in den tiefen Streichern wird zu Beginn (T. 288-289) auch von der Baßklarinette und den vier Fagotten übernommen, danach von den Bratschen. Die F-Trompete beginnt ihr Thema jetzt mit + vgl. dazu Andraschke, a.a.O., 5. 286 ff.

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Peter Andraschke

einem piano crescendo zum sf und ff, dringt somit erst allmählich als gleichberechtigt durch

das Orchestertutti und geht dann, am Ende von Takt 289, wieder zurück. Überhaupt arbeitet Mahler eine an- und abschwellende, sich quasi wellenförmig jeweils zu Höhepunkten hin bewegende Dynamik heraus; er verwendet dabei oft extreme dynamische Vorzeichen, um so die Gefühlshaltung dieser Partie stärker wirken zu lassen. Der Paukenwirbel ist in der Neufassung unterbrochen und akzentuiert nur noch den Beginn, die Mitte und die Kadenz des Themas. Vorschläge zu Taktbeginn des Hauptthemas in den Violinen, wie sie ursprünglich nur in den Takten 290 und 292 gefordert waren, werden nun auch an anderen Stellen der Themenführung als gestisches Steigerungsmittel eingesetzt (T. 294, 296 — 298). Mahler hat mit seinen Retuschen eine insgesamt zusammenhängendere und die thematischen Linien verdeutlichendere Darstellung erreicht und den Bewegungsfluß durch ein weitgehendes Auflösen der Halteakkorde betont. Anders als etwa bei der Neufassung des Hauptthemas im ersten Satz (T. 6ff.)*, das er durch eine differenzierende Instrumentierung analytisch aufbrach, um den Zustand einer fortgeschrittenen Situation darzustellen, suchte er den strömenden Glanz dieser Partie im Finale, diese Passage der Verheißung und Erfüllung mit ihrer optimistisch vorwärts strebenden Haltung durch eine vereinfachendere instrumentale Struktur klanglich zu entwirren und damit großflächiger und großzügiger entfalten zu lassen. Bezeichnend ist, daß im Sostenuto-Teil, anders als im Abschnitt zuvor Tempomodifikationen fehlen; das Gehalten im Takt 302 kostet nur kurz den sehr ausdrucksvollen Vortrag der Bläser aus. Der erste Hammerschlag fällt am Höhepunkt des Sostenuto-Teiles und bricht die Entwicklung abrupt ab. Der Kontrast zwischen Abschluß und Neubeginn ist bereits in der ursprünglichen Fassung überaus deutlich. Das Hinführen zum Kulminationspunkt war schon durch das hinauszögernde ritardando der beiden letzten Takte (T. 334f.) auf der Dominante, die crescendo-Vorzeichnung in einigen Instrumenten, die zum Teil von einem fff ausgeht, den abschließenden Triller der Holzbläser und das Tremolo der Streicher als intensive Steigerung und als Erwarten einer Lösung komponiert. Mahler verstärkt dies noch in der Neufassung, indem er die B-Trompeten zwei Takte früher (ab T. 332) beginnen läßt, um die abschließende Wendung in den Hörnern zu unterstützen; auch die B-Trompeten haben jetzt (ab T. 334) die Anweisung Schalltrichter auf, und die Hörner erhielten neu ein crescendo zum Takt 336. Der Hammerschlag wird in der zweiten Fassung durch die Große Trommel verstärkt, die ja ursprünglich bereits im Autograph notiert war und dann (versehentlich?) nicht in den ersten Druck aufgenommen wurde. Die Anmerkung zu ihm ist jetzt durch einen Klammerzusatz — (wie ein Axthieb) — ergänzt. Er erläutert jedoch wider Erwarten nicht den Klangcharakter des Instrumentes, sondern besitzt außermusikalische Bildkraft. Das Niederschmettern des Hammers, das Einbrechen einer Katastrophe am Höhepunkt bewirkt einen Umschlag, der im neuen Klangbild deutlich abzulesen ist. Nach dem ritardando auf der Dominante (T. 334f.) erklingt im Takt 336 statt des erwarteten Tonikadreiklanges allein der Grundton d und bricht nach einer Achtel ab. Das d wird durch das Einsetzen des Posaunenmotivs mit dem Ton b zum Trugschluß. Sinngehaltlich könnte diese trugschlüssige Wendung (sie ist bezeichnend auch bei dem nächsten Hammerschlag komponiert) eine doppelte Bedeutung haben, etwa: der Hammerschlag (in seiner Bedeutung von Katastrophe, Schicksalsschlag) fällt zum Zeitpunkt höchsten Glückes — es ist also ein trügerisches Glück; oder: auch dieser Schicksalsschlag wird verkraftet, er bewirkt einen Beginn voller neuer Hoffnung und Orientierung, worauf auch die einsetzende Choralmoti* vgl. Andraschke, a.a.O., S. 279ff.

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Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie

vik in den Blechbläsern deutlich verweist. Trotz des Schicksalmotivs* (hier G-Dur/ g-Moll) in den Hörnern (T. 338f.) und in der unruhigen Bewegung der Streicher, das gleichsam als Menetekel die Sätze dieser Symphonie durchzieht, strebt die Entwicklung zu neuen Höhepunkten (siehe etwa die Aufwärtsgestik ab T. 351). Die Situation beim zweiten Hammerschlag (T. 479) ist ähnlich wie beim ersten. Auch er fällt auf einem Höhepunkt und ist wiederum Beginn eines neuen Durchführungsabschnittes, nämlich der Rückführung zur Reprise. Nach ausführlichen, zum Teil lautstarken und im Charakter betont kämpferisch vorwärtsdrängenden Partien, denen das thematische Material des Hauptthemas und der Überleitung zugrunde liegt — eine der Vortragsanweisungen lautet, diesen Entwicklungsprozeß charakterisierend: Etwas wuchtiger. Alles mit roher Kraft [...] Allegro energico (T. 385) —, tritt für kurze Zeit eine Beruhigung ein (T. 459: Allmählich sich beruhigend, T. 469: Noch mehr zurückhaltend). Es ist gleichsam die Ruhe vor einer neuen Katastrophe. Kantable Melodiegestalten, molto espressivo vorzutragen, die thematisch zwischen Einleitungsthema, Choral und Seitenthema anzusiedeln sind, bestimmen den zunächst leiser werdenden Ausdruck. Sie steigern sich dann jedoch ab Takt 469

in Gestalt einer zehntaktigen Einleitungsgeste (aufwärtsgerichtete chromatische Bewegung, Eröffnungsgestik, Verdichtung des Satzes, Zunahme an Lautstärke) zu einem Höhepunkt,

auf dem der zweite Hammerschlag fällt. Auch diese Kulmination wird wieder durch ein Verzögern auf der Dominante über einem crescendierenden Paukenwirbel besonders herausgefordert und endlich wie auch der erste Hammerschlag als Trugschluß erreicht. Der zweite Hammerschlag ist in der ursprünglichen Fassung gegenüber dem ersten verstärkt: durch Becken, Tamtam und Große Trommel. Pesante, also: wuchtig, lautet hier die Vorzeichnung. In der Neufassung hat Mahler dann eine etwas verwirrende Fußnote zugefügt: Becken und Tamtam nur im Falle der „Hammer“ nicht ausreichend besetzt ist. Diese beiden Instrumente, die zusammen mit der Großen Trommel den zweiten Hammerschlag gegenüber dem ersten klanglich steigern, sollen demnach gar nicht eingesetzt werden. Denn Klangvolumen und Dynamik haben sich gegenüber dem ersten Orchesterschlag nicht vergrößert: ein Orchestertutti im ff ist hier wie dort notiert, und die Dynamik des Hammers ist gar vom fff zum ff reduziert. Mahler wollte demnach das, was er durch die Zunahme an Schlagzeug ursprünglich als Steigerung komponiert hat, letztlich in der Neufassung nicht mehr als solche verstanden wissen: geschieht dies bereits im Blick auf den in der Neufassung eliminierten dritten Hammerschlag? Das Klangbild nach dem zweiten Hammerschlag ähnelt dem nach dem ersten: die Posaunen (und zusätzlich die Baßtuba) setzen mit dem gleichen Motiv wie dort und sogar in der gleichen Tonlage ein. Die hohen Streicher hatten im Takt des Hammerschlages ausgesetzt, also den von ihnen zuvor angestrebten Höhepunkt nicht mehr erreicht. Dadurch wirkt ihr plötzliches Losstürmen im darauffolgenden Takt auch als besonderer Klangkontrast. Das Schicksalsmotiv fehlt an dieser Stelle. Zwar wechselt die Harmonik der Takte zwischen Moll und Dur. Doch lichtet sie sich dabei insgesamt zum Dur auf. Dieser optimistische Trend wird in der Neufassung noch dadurch betont, daß Mahler nun die vorwärtsdrängende Sechzehntelbewegung durch die Holzbläser (T. 481-483) und später auch durch die Celli (T. 483.) verstärkt.

# Die Folge Dur-Dreiklang und Moll-Dreiklang gleicher Stufe tritt zuerst im ersten Satz, Takt 59 — 60, auf, unmittelbar vor Eintritt des Chorals, der auch dort Hoffnung und Lösung verheißt. Zu ihr erklingt meist ein markantes Rhythmusmotiv im Schlagzeug. Siehe Andraschke, a.a.O., S. 285

MÄR

Peter Andraschke

Der dritte Hammerschlag** fiel in der ursprünglichen Fassung im Takt 783, also im Einleitungsteil der Coda. In der Neufassung ist er gestrichen. Diese Stelle und ihre Umgebung unterscheidet sich sehr deutlich von der musikalischen Situation, welche die beiden

Hammerschläge zuvor bedingte. Mit dem dritten Hammerschlag beginnt kein neuer Abschnitt und keine neue Entwicklung. Er erklingt mitten im Einleitungsgedanken und nicht auf einem Höhepunkt. Die Schlußgruppe der Reprise (T. 728ff.), welche der Coda vorausgeht, ist voll optimistischer Haltung. Sie faßt gleichsam die Erfüllungspartien im Finale zusammen. Durch diese Vorbereitung wirkt der deutliche Rückgriff auf die’Einleitung des Satzes hier zu Beginn der Coda zunächst wie die Gewähr für einen doch noch guten Ausgang: als eine erneute Hoffnung, daß es diesmal gut werden könnte. Zur verstärkenden Erinnerung an den Satzbeginn (T. 1) hat Mahler in der Neufassung auch den weichen Klang der Celestas an den Anfang der Coda-Einleitung (T. 773) zugefügt. Das Einleitungsthema setzt diesmal, anders als am Satzbeginn, nicht über einem in seinen weiterführenden harmonischen Möglichkeiten offenen übermäßigen Terzquartakkord ein, sondern erhebt sich über der Umkehrung eines zielgerichteten Quintsextakkordes, dessen Baßton a zunächst Orgelpunkt ist und später dann zur Tonika des Satzschlusses wird. (Letztlich wird der Quintsextakkord bezeichnenderweise eben doch nicht seiner Dominantfunktion entsprechend zu einer Tonika B-Dur oder b-Moll aufgelöst; doch ist die Erwartung einer funktionsgerechten Auflösung beim Hörer zunächst zweifellos vorhanden.) Der dritte Hammerschlag steht an der Stelle des Einleitungsthemas, an der, wie auch

schon am Satzbeginn, das Schicksalsmotiv zusammen mit seinem rhythmischen Motto in der Pauke erklingt. Hier am Ende der Symphonie wiederholt sich demnach eine Situation, wie sie zuerst in der Exposition des ersten Satzes (T. 57ff.) zwischen Hauptthema und Choral komponiert war. Alle Ausflüchte aus der schicksalhaften Verstrickung, die im Verlauf der Symphonie versucht wurden, alle Hoffnungen waren demnach vergeblich. In der Neufassung hat Mahler durch das Streichen des dritten Hammerschlages und die klangliche Mäßigung dieser Stelle wohl eher ein resignierendes Moment betont, als eine hoffnungsweisende Auflichtung komponiert. Der dritte Hammerschlag ist an dieser Stelle eigentlich gar nicht mehr nötig, um den bei Mahler singulären pessimistischen Ausklang in einer Symphonie zu gewährleisten. Die Dynamik ist an der Stelle des ursprünglichen Hammerschlages durch die Retuschen leiser geworden bzw. wird durch ein decrescendo zurückgenommen. Die Pauken sind von zwei auf eine reduziert und sollen, wie auch die kleine Trommel (jetzt mf statt ff) gedämpft gespielt werden. Durch den neuen Celestaaufschwung, der das Glissando der Harfe (jetzt von A-Dur nach B-Dur umgestellt) unterstützt, wird der Einsatz des Orchesterschlages weicher angegangen. Am Ende des Abschnittes sind zahlreiche Instrumente gestrichen. Das Eingangsthema endet in den Hörnern ppp, im Cello p (ursprünglich sempre ff) und die Kleine Trommel erklingt morendo aus. Es kommt zu keiner Entwicklung mehr: ein sehr langsamer und leiser Bläsersatz mit choralartigen Wendungen schließt an. Er soll im Vortrag schwer sein. Viel stärker als die Stelle mit dem ursprünglichen Hammerschlag wirkt und erschreckt jetzt der brutal-laute Ausbruch (Aufschrei) des Orchesters in dieser leisen Passage, drei Takte vor Schluß. Ihn hat Mahler in der Neufassung nicht gemildert. Nach ihm klingt die Symphonie aus. Morendo heißt jetzt die neue Anweisung für die Trompeten. Und die Musik endet, nach einer letzten “ Im Katalog der Düsseldorfer Mahler-Ausstellung finden sich zwei Farbtafeln zum dritten Hammerschlag. Die Farbtafel I zeigt die Stelle im Autograph, die Farbtafel II Mahlers verschiedenfarbige Retuschen in seinem Dirigierexemplar der ersten Druckfassung

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Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie

vorgezeichneten Atempause, mit einem pizzicato-a der Streicher und einem leisen Schlag der Großen Trommel. Die Hammerschläge gehören nicht unmittelbar zur kompositorischen Grundstruktur des Satzes; sie sind erst im Autograph nachträglich zugefügt worden. Sie haben — zumindest die in die Druckfassungen übernommenen — auch keine die Formgliederung unterstützende Funktion, sondern fallen überraschend und unerwartet wie Schicksalsschläge. Der instrumentale Effekt des Hammers ist nicht bedeutend; sein Schlag wirkt cher klangunterstützend, meist ist er im Orchestertutti nicht durchzuhören. Auch ohne die Hammerschläge wäre die pessimistische Gesamtentwicklung in dieser Symphonie verständlich. Die Hammerschläge, wie auch die Herdenglocken, haben primär außermusikalische, symbolische Bedeutung. Es ist wohl auch nicht das Bild des Hammers, das Mahler eigentlich vorschwebte, sondern wohl eher das Symbol der Axt bzw. des Beiles. Wie ein Axthieb lautet denn auch die entscheidende Zufügung in der Anmerkung zum ersten Hammerschlag in der zweiten Fassung. Die Axt, die fällt oder das Beil, das erschlägt, konnten aber nicht als Klanginstrument in die Partitur aufgenommen werden. Der Hammer besitzt ein vergleichbares Bild von Gewalt und Zerstörung und war zudem als ein — wenn auch extremes —

Schlaginstrument vorstellbar. Um den Sinngehalt seiner Kompositionen zu gewährleisten, waren Mahler auch ungewöhnliche klangsymbolische Mittel recht. In der rein instrumentalen Sechsten, wo er das Wort weder als den Sinngehalt verdeutlichenden Gesangstext noch als programmatische Erklärung heranzog, erhält der Hammerschlag eine wichtige, werkerläuternde Bedeutung. Die im Konzert auffällig wahrnehmbare Geste des Schlagens und das Eindeutige ihres Symbolgehaltes vermögen das fehlende verbale Programm für diese Symphonie zu ersetzen, das manche der Uraufführungsbesucher ja von Mahler als ein dem Verständnis der Musik dienliches Hilfsmittel erwartet hatten. Das Wissen um die Hammerschläge in dieser Symphonie und damit eine das Hören beeinflussende Rezeptionshaltung ist seit der Uraufführung vom Werk nicht mehr zu trennen. Und der sicher mit ihnen verbundene publikumswirksame Beiname Tragische, von dem es nicht sicher ist, ob er auf Mahler direkt zurückgeht, scheint sich allmählich festzusetzen. Im Autograph standen ursprünglich fünf Hammerschläge. In der endgültigen zweiten Druckfassung der Sechsten sind davon nur noch die beiden Hammerschläge in der Durchführung übriggeblieben. Dafür soll eine Begründung versucht werden. Es sind also von Mahler diejenigen drei Hammerschläge gestrichen worden, die jeweils in den Einleitungen zu den Hauptteilen der Sonatensatzform das Schicksalsmotiv dieser Symphonie markieren und dabei vor allem den Anfang des zu ihm erklingenden Rhythmus verstärken: In der Einleitung zur Exposition (T. 9), zur Reprise (T. 530) und zur Coda (T. 783). Diese drei Hammerschläge hatten hier neben ihrer symbolischen Bildkraft wesentlich auch klangunterstützende und formgliedernde Bedeutung. In der Einleitung zur Durchführung fehlt das Schicksalsmotiv und damit auch der Hammerschlag. Mahler hat demnach im Finale nur die beiden Hammerschläge in der Durchführung gelassen. Sie stehen, wie oben ausgeführt, miteinander funktional und thematisch an engverwandten Stellen. Sie fallen an Höhepunkten glanzvoller und optimistischer Musik urplötzlich und ohne Vorwarnung. Sie ereignen

sich wie Katastrophen, verdeutlichen die sich in der Musik widerspiegelnde Situation in auffälliger Weise und bedingen einen Umschwung und eine Neuentwicklung. Den Hammerschlag vor der Exposition und seine Wiederaufnahme vor der Reprise hatte Mahler schon in die erste Druckfassung nicht aufgenommen; beide gehören demnach vorläufigen und vorübergehenden Überlegungen an. Der Schlag am Satzbeginn, am Eingang der mit ihren 113 Takten großdimensionierten Einleitung, die zugleich Rückschau auf die vorangehenden Sätze ist, stand an dramaturgisch schlechter Stelle. Denn er hätte zu früh 7

Peter Andraschke

und vor der sich erst allmählich im Satzverlauf entfaltenden Entwicklung ein späteres Ergebnis vorweggenommen. Der Hammerschlag vor der Coda, also der dritte und letzte Hammerschlag in der ersten Druckfassung, hat jedoch eine davon verschiedene Bedeutung und Gewichtung. Er stand hier am Satzende konsequent und in Übereinstimmung mit dem pessimistischen Ausklang des Werkes. Und sein Streichen geschah, anders als bei den beiden Hammerschlägen zuvor, in Verbindung mit einschneidenden instrumentalen Änderungen. Es hat den Ausgang des Werkes zwar nicht in der Substanz der Aussage, aber doch in einer wichtigen Nuancierung verändert. Das Reduzieren von drei auf zwei Hammerschläge könnte in Verbindung mit dem traditionellen Bedeutungshintergrund der Zahl 3 stehen, der etwas Geschlossenes und Endgültiges beinhaltet, vor dem Mahler möglicherweise letztlich zurückgeschreckt ist. Dementsprechend erklärte Erwin Ratz das spätere Weglassen des dritten Hammerschlages aus einer neuen Lebensauffassung des Komponisten während der Vertonung des Pfingsthymnus Veni creator spiritus und der Schlußszene aus dem zweiten Teil von Goethes Faust in seiner 8. Symphonie*. Auch der Hinweis auf die in ihrer lebensbejahenden Haltung von der Sechsten so ganz verschiedene 7. Symphonie bezeugt diese veränderte Lebensanschauung. Mit dem Weglassen des letzten Hammerschlages und den damit zusammenhängenden Retuschen ist dennoch ein Resignieren und Aufgeben komponiert.

* vgl. etwa Erwin Ratz im Revisionsbericht von Mahlers 6. Symphonie.

Unklar bleibt bis heute, zu welchem

Zeitpunkt eigentlich der dritte Hammerschlag gestrichen worden ist. Eine der zitierten Uraufführungskritiken spricht davon, daß bereits in Essen nur zwei Hammerschläge erklungen sind

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Eduard Reeser

Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911 I Im Mai 1920 fand in Amsterdam anläßlich des 25jährigen Jubiläums von Willem Mengelberg als Dirigent des Concertgebouw-Orchesters ein Mahler-Fest statt, das weltweite Beachtung fand. Innerhalb von zwei Wochen wurde in neun Konzerten das Gesamtwerk (die neun Symphonien, Das klagende Lied und die drei Liederzyklen) aufgeführt — ein namentlich für den Dirigenten und das Orchester äußerst anspruchsvolles Unternehmen, das nur gelingen ae weil man sich in den vorangegangenen Jahren intensiv mit dieser Musik beschäftigt atte.

Mengelberg hatte Mahler 1902 in Krefeld bei der Uraufführung der 3. Symphonie kennengelernt und den 11 Jahre älteren Komponisten eingeladen, das Werk im Oktober 1903 in Amsterdam zu dirigieren, wobei er versprach, selbst die Vorbereitung auf sich zu nehmen. Es ist Mengelbergs Verdienst gewesen, Mahler die Gelegenheit verschafft zu haben, die meisten seiner Werke in Amsterdam persönlich bekannt zu machen, und zwar im Oktober 1903 die 3. (zweimal) und die 1. Symphonie, im Oktober 1904 je zweimal die 4. und 2., im März 1906 die 5., die Kindertotenlieder und Das klagende Lied und im

Oktober 1909 die 7. Symphonie, die er in drei Konzerten (einmal in Den Haag und zweimal in Amsterdam) dirigierte!. Für den Januar 1907 war die holländische Erstaufführung der 6. geplant gewesen, doch in diesem Falle mußte Mahler kurz vor dem vereinbarten Datum absagen, da er seinen Urlaub von der Wiener Hofoper nicht länger ausdehnen konnte. Obwohl Mengelberg alle diese Werke sorgfältig einstudiert hatte, ist er merkwürdigerweise während Mahlers Lebenszeit nicht dazu gekommen, sie in seine eigenen Programme regelmäßig aufzunehmen. Anfang 1904 hat er die 1. Symphonie viermal kurz nacheinander aufgeführt, davon einmal in Den Haag. Je eine Aufführung der 4. in Amsterdam und Den Haag folgte im Februar 1905. Im März 1906, anschließend an Mahlers Besuch, kam die 5. Symphonie sechsmal zur Aufführung — in Rotterdam, Den Haag, Arnheim, Haarlem und Amsterdam (zweimal) — ; zuvor hatte er die zweite Aufführung des Klagenden Liedes von Mahler übernommen und auch die Kindertotenlieder wiederholt. Anstatt im Januar 1907 die 6. Symphonie herauszubringen, die er für Mahler schon halbwegs vorbereitet und für deren Aufführung er speziell in Paris eine Celesta gekauft hatte, griff Mengelberg zu diesem Termin wiederum auf die 1. zurück. Zwischen Januar 1907 und März 1910 hat Mengelberg in Holland gar keine Musik von Mahler hören lassen. — In seiner Begeisterung für Mahlers Kunst konnte jedoch der holländische Komponist Alphons Diepenbrock, der an sich gar kein Dirigent war, mit der Aufführung der 4. Symphonie 1908 und 1910 diesem Werk dennoch zu einem Erfolg verhelfen. — Erst im März und April 1910 dirigierte Mengelberg wieder selbst eine Mahler-Symphonie, und zwar die 7., die er in Arnheim, Den Haag und Amsterdam zur Aufführung brachte. Im Februar und im März 1911 hat er dann nochmals die 1. vorgenommen, die in Amsterdam zweimal gespielt wurde. Insgesamt bedeutet das bis zu Mahlers Tod nicht mehr als zwanzig Aufführungen innerhalb von acht Jahren, in denen Mengelberg die Sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss ungleich öfter in seine Programme aufgenommen hat.

ı Willem Mengelberg — Gedenkboek 1895 — 1920, ’s-Gravenhage 1920, S. 273 — 278

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In den nächstfolgenden acht Jahren (1911-1919) jedoch hat sich die Mahler-Pflege in Holland unter Mengelberg sturmartig vollzogen; in dieser Periode dirigierte er 18mal die 1., 11mal die 2., 17mal die 3., 33mal die 4., 2mal die 5., 3mal die 6., 5mal die 7., 7mal die 8.,7mal die 9., 17mal Das Lied von der Erde, 9mal die Kindertotenlieder, 4mal die Lieder

eines fahrenden Gesellen und 2mal Das Klagende Lied — insgesamt 135 Aufführungen, also fast das Siebenfache der vorherigen Periode. Und damit waren die Grundlagen für das große Mahler-Fest 1920 geschaffen. II Dennoch war es nicht in Amsterdam, wo zum ersten Mal in Holland ein Werk von Mahler zum Klingen kam, sondern in Arnheim, wo Martin $. Heuckeroth als Musikdirektor

wirkte. Dieser hatte sich nach der aufsehenerregenden Uraufführung der 3. Symphonie in Krefeld entschlossen, das Werk als „piece de resistance“ in das Programm eines für Juli 1903 geplanten zweitägigen Musikfestes aufzunehmen. Unvorhergesehene Umstände machten eine Verschiebung auf Oktober notwendig, und so geschah es, daß genau eine Woche vor Mahlers erstem Auftreten in Amsterdam als Dirigent seiner 3. Symphonie das gleiche Werk in Arnheim unter Heuckeroth seine holländische Erstaufführung erlebte. Es musizierten die Arnhemsche Orkest-Vereeniging zusammen mit dem Utrechtsch Stedelijk Orkest — letztgenanntes Orchester sollte 1906 auch bei der Uraufführung der 6. Symphonie in Essen mitwirken —, und für das Alt-Solo war die namhafte holländische Sängerin Pauline de Haan-Manifarges verpflichtet worden. Das ausführliche Programmbuch enthielt eine vortreffliche Analyse der Symphonie (nicht weniger als 24 Seiten mit 27 Notenbeispielen), worin der anonyme Autor — Eingeweihte wußten, daß es sich um

P. A. van Westrheene

handelte, einen musikalisch

begabten

Gymnasiallehrer in klassischen Sprachen, dabei einen lokal angesehenen Chordirigenten, der an der Vorbereitung des Festes weitgehend beteiligt war — Mahlers ursprüngliches Programm (als die Symphonie noch den Titel Ein Soemmermorgentraum trug) abdrucken ließ. Er erwähnte dabei, daß Mahler bei der Aufführung in Krefeld gebeten hatte, von jeglicher Erläuterung im Programm abzusehen. Zweifellos hat Mahler dabei seine damaligen Zuhörer, auch die zünftigen Kritiker, völlig überschätzt, wie auch aus der jetzt zu erörternden Rezeption in Holland deutlich wird. Zur Aufführung am 17. Oktober 1903 begaben sich die maßgebenden Musikkritiker Hollands nach Arnheim: $. van Milligen (Algemeen Handelsblad, Amsterdam), Daniel de Lange (Het Nieuws van den Dag, Amsterdam), Barend Kwast (Amsterdamer Korrespondent von De Nieuwe Courant, Den Haag), W. N. F. Sibmacher Zijnen (Nieuwe Rotterdamsche Courant), Ant. Averkamp (Weekblad „De Amsterdammer“). Van Milligen berichtete auch in der Monatsschrift Caecilia, die er zusammen mit Henri Viotta leitete, und Van Westrheene lieferte ausführliche Betrachtungen über „sein“ Musikfest an das von Hugo Nolthenius (wie er ein Gymnasiallehrer für klassische Sprachen) redigierte Weekblad voor Muziek. Die meisten der hier Genannten waren professionell ausgebildete Musiker, Komponisten und Dirigenten, die ihre Kritikertätigkeit nur als Nebenberuf ausübten. Van Milligen hatte im Juni 1903 der Aufführung der 2. Symphonie in Basel beigewohnt und berichtete darüber mit Bewunderung in Caecilia*. Sibmacher Zijnen war in Krefeld dabeigewesen und erinnerte sich in seiner Vorbetrachtung des Arnheimer Ereignisses an Mahlers Erscheinen im Konzertsaal: *® Caecilia, Jg. LX (1902— 1903), S. 504 — 507

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Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

[...] klein von Gestalt, mit unsicherem Gang, in gebeugter Haltung mit suchenden, kurzsichtigen Augen hinter großen Brillengläsern, mit den heftigen Gebärden eines nervösen Menschen, — aber am Pult plötzlich ein anderer Mann, hoch aufgerichtet, mit ruhigen und sicheren Gebärden jetzt, ein Dirigent mit großer Autorität. Unvergeßlich sein schönes Phrasieren, die Sorgfalt, mit der er jede Klimax vorbereitet, seine eiserne Beherrschung der Rhythmen, sein scharfes Trennen der musikalischen Perioden, seine Begeisterung! |[...] Ein energischer und origineller Mann, dieser Dirigent und Komponist aus Wien. Von seinem Recht, frei und unbekümmert seinem Schöpfungsdrang zu folgen, macht er ohne irgendwelche Skrupel Gebrauch. Weder in der Wahl seiner Mittel, noch in deren Anwendung nimmt er Rücksicht auf jegliche Konventionen. In der Erfindung der Themen zeigt er sich oft verblüffend gewandt, im Nebeneinanderstellen des aus sehr heterogenen Elementen bestehenden Materials, in dessen Verbindung und Verarbeitung zeigt er eine Originalität, die selten ist und das Publikum für ihn einnimmt. Auch diejenigen, die nicht entscheiden wollen, ob die äußerlich so mitreißenden orchestralen Mittel auch dem innerlichen Gehalt der Komposition entsprechen und also als „echt“ gelten dürfen, — auch diese Zuhörer werden von den enormen Klangeffekten aufgepeitscht und andererseits gefesselt von der Naivität und Popularität, die aus verschiedenen Seiten der Partitur aufklingen. Die Symphonie ist faßlicher, als man beim Lesen der tiefsinnigen deutschen Kommentare vermuten könnte. |...) Ursprünglich hatte Mahler durch Titel über den Sätzen dem Zuhörer einen Weg gewiesen, doch für den Druck der Symphonie hat er diese Bezeichnungen wieder gestrichen, und vor der Aufführung in Krefeld hatte er gebeten, jeden Kommentar wegzulassen. Daß der Autor der Einleitung zum Arnbheimer Musikfest sich nicht allzu streng an diesen Wunsch gehalten hat und versucht, in einer Übersicht der Themen dieser sehr umfangreichen und meisterlichen Komposition Mabhlers Gedankengänge zu deuten, — dafür dürften ihm seine Leser dankbar sein |...]°

In seiner Kritik der Arnheimer Aufführung* macht Sibmacher Zijnen deutlich, daß er erst beim zweiten Hören eine bessere Einsicht in das Werk gewinnen konnte, namentlich, was

den riesigen ersten Satz anbelangt, der von den anderen Rezensenten, die die Symphonie zum erstenmal hörten, entweder ablehnend oder reserviert aufgenommmen wurde, wie von Van Milligen und auch Averkamp, der zwar häufig schöne Episoden anerkennt, aber dennoch in dieser Symphonie eine nobele und zugleich fesselnde Originalität der Gedanken und eine meisterhafte Bearbeitung, welche den organischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen

Episoden herstellt, ein „einheitliches

Ganzes“,

wie die Deutschen

sagen,

vermißt°. Barend Kwast läßt in seiner überwiegend distanzierten Einstellung lediglich den kurzen zweiten Satz (Tempo di Menuetto) gelten, den einzigen, den er als „absolute Musik“, Mahlers Forderung entsprechend, auffassen konnte; seines Erachtens könne dieser Satz als

Einzelnummer durchaus ein Konzertprogramm bereichern!‘ — In einem Punkt waren sich jedoch alle Berichterstatter einig, nämlich daß Heuckeroth mit den vereinigten Orchestern eine ausgezeichnete Leistung vollbracht hatte. Sie erwähnen auch, daß die leider nicht zahlreichen Zuhörer den Ausführenden besonders nach dem zweiten und dem letzten Satz mit einer Ovation dankten. 3 Nieuwe Rotterdamsche Courant, 18. 10. 1903. — Der holländische Originaltext ist, wie auch bei allen nachfolgenden Zitaten, von mir ins Deutsche übertragen worden. + Nieuwe Rotterdamsche Courant, 20. 10. 1903 5 De Amsterdammer. Weekblad voor Nederland, 25. 10. 1903 % De Nieuwe Courant, 19. 10. 1903

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II Wie es nicht anders zu erwarten war, wurde Heuckeroths Leistung durch die Aufführung in Amsterdam unter Leitung des Komponisten in den Schatten gestellt: Alle Kritiker — und diesmal sind außer Van Milligen, De Lange, Kwast und Averkamp auch Otto Knaap (De Telegraaf, Amsterdam), H. L. Berckenhoff (Amsterdamer Korrespondent der Nieuwe Rotterdamsche Courant’) und J. H. Garms jr. (Weekblad voor Muziek) anwesend — stellen übereinstimmend fest, daß Gustav Mahler als genialer Dirigent wie kein anderer Zeitgenosse imstande ist, den wahren Gehalt serner eigenen Musik zum Ausdruck zu bringen. Alle Berichterstatter sind aber auch der Meinung, daß es ein Fehler war, die ursprüngliche Programmerläuterung nicht mehr abzudrucken, da diese Symphonie (und speziell deren erster Satz) ohne Angabe des außermusikalischen Hintergrunds nicht logisch zu begreifen sei. Immerhin mußte J. H. Garms jr. zugeben, daß das Werk auch als „absolute Musik“ einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht habe. Ebenso habe das Publikum die Symphonie mit sehr großer Wärme und Anerkennung aufgenommen‘. Von den Rezensenten, die eine Woche vorher bei der Aufführung in Arnheim anwesend waren, zeigte sich nun Van Milligen mehr überzeugt von der inneren Notwendigkeit, die auch dieser Symphonie eigen ist, obschon er auch jetzt noch den ersten Satz im Wert hinter die vier übrigen stellte?. Daniel de Lange dagegen hielt den ersten Satz für den wichtigsten des ganzen Werkes, vermißte aber in Mahler die Fähigkeit, das innigste, reinste Seelenleben in Tönen wiederzugeben; er bezeichnete ihn als einen Mann von enormer Gewandtheit, der die vielfältigsten Wirkungen zu erzielen weiß, dem es jedoch an Tiefe der Empfindung fehlt'°. Averkamp fand sein in Arnheim gebildetes Urteil bestätigt; nur der III. Satz mit dem Posthorn-Solo hat ihm in Amsterdam besser gefallen, weil Mahler es verstand, seinen Klangbildern eine größere Plastizität zu geben, hier u.a. mit dem akustischen Hilfsmittel einer abwechselnd geschlossenen und offenen Tür zum Korridor, wo er den Hornisten musizieren ließ'!. (Bemerkenswert war auch, wie Mahler die weihevolle Stimmung des Adagio zu bewahren wußte: er forderte die Damen des Chores auf, nach dem Schluß des vorletzten Satzes bis zum Ende der Symphonie still stehen zu bleiben, da das sonst übliche geräuschvolle Hinsetzen gestört hätte.) Spürt man bei De Lange und Averkamp noch deutlichen Respekt vor Mahlers überragender Persönlichkeit, so spricht aus der Kritik von Otto Knaap nur der altmodische Geschmack eines der modernen Musik völlig abgeneigten musikalischen Laien. Das Anhören dieser Symphonie sei ihm eine Marter gewesen und habe ihm geradezu körperlich weh getan mit ihren schrecklichen Mißklängen und ohrenzerreißenden Dissonanzen, namentlich im ersten Satz, der ihm den Eindruck vermittelte, als habe der Komponist die „allermodern-

ste“ Musik parodieren wollen. Was ihn bei diesem Werk besonders unangenehm berühre, sei die völlige melodische Armut'*. Es muß diesen Rezensenten sehr verdrossen haben, daß zwei Tage später (auch in De Telegraaf) der angesehene Dirigent und Musikschriftsteller Dr. Henri Viotta — Gründer der Wagnervereeniging in Amsterdam (1884) und des Residen’ Bei der Nieuwe Rotterdamsche Courant und verschiedenen anderen hölländischen Tageblättern war es damals Brauch, Kunstkritiken nicht zu signieren. Berichte aus anderen Städten wurden in diesem Fall eingeleitet mit den Worten: Man schreibt uns aus ... Es besteht daher nie die absolute Sicherheit, daß eine Kritik wirklich von dem

mit Namen bekannten Musik-Schriftleiter oder Korrespondenten stammt. ® Weekblad voor Muziek, 31. 10. 1903

° Algemeen Handelsblad, 23. 10. 1903 10 Het Nieuws van den Dag, 24. 10. 1903

!! De Amsterdammer, 1. 11. 1903 ? De Telegraaf, 23. 10. 1903

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Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

tie-Orkest in Den Haag (1903) — in seiner wöchentlichen musikalischen Chronik die überragende Bedeutung der 3. Symphonie Mahlers nachdrücklich betonte®. Viotta blieb zwar bei seiner schon nach der Krefelder Uraufführung in seiner Zeitschrift Caecilia formulierten Überzeugung"*, daß diese Sinfonie nicht als „absolute Musik“ aufzufassen sei, da für das Verständnis (abgesehen vom zweiten Satz) Kenntnis des Programms ebenso notwendig sei wie bei der Symphonie fantastique von Berlioz, aber das hinderte ihn nicht, Mahler als einen Musiker von großer Genialität anzusehen. Ebenso wie Van Milligen rühmte Viotta die vorzügliche Leistung des Concertgebouw-Orchesters, und erwähnte auch Mahlers nach dem Konzert ausgesprochenes Urteil, er habe seine Musik noch nie so vollendet ausführen gehört. Wie nachteilig sich das gänzliche Fehlen einer Programmerläuterung auswirken kann, zeigte sich bei der Amsterdamer Erstaufführung der 1. Symphonie unter Mahlers Leitung am 25. Oktober 1903. Man verstand seine musikalische Aussage nicht. Namentlich mit dem langsamen Satz wußte kein Kritiker etwas anzufangen; offenbar konnten sie das Parodistische in diesem Trauermarsch nicht heraushören. So wurde allgemein angenommen, daß es sich hier um ein unreifes Jugendwerk des Komponisten handele, das er besser in seinem Schreibtisch hätte zurückhalten sollen; Averkamp findet das Melodische naiv, oft billig, selbst banal'’. Kwast spricht von unnatürlich, leer, unwahr, ungesund“. De Lange bekundet zwar größte Bewunderung für Mabhlers virtuose Technik, hat aber den Eindruck, die Künste eines genialen Gauklers vorgeführt bekommen zu haben. Er empfindet Mahlers Musik als oberflächlich und erklärt daraus den eindeutigen Erfolg, den auch die 1. Symphonie beim Amsterdamer Publikum hatte!’. Dabei handelte es sich ausnahmsweise um ein Sonntagabend-Konzert außerhalb eines Abonnements, das vor allem von interessierten Zuhörern besucht wurde. Die Abonnementskonzerte am Donnerstagabend und Sonntagnachmittag dagegen wurden von einem elitären Publikum mit ausgesprochen konservativem Geschmack frequentiert, das einen Konzert- oder Theaterbesuch mehr als ein gesellschaftliches denn ein künstlerisches Ereignis betrachtete. Das zeigte sich im Februar 1904, als Mengelberg im Concertgebouw bei einem Sonntagnachmittags-Konzert nach der Pause die 1. Symphonie wiederholte: der größte Teil des Publikums war schon nach Hause gegangen und die übrigen verließen nach jedem Satz scharenweise den Saal. Kurz zuvor war Mengelberg in Den Haag schon das Gleiche widerfahren. Und die Haager Kritiker — Dr. J. de Jong in Het Vaderland, Willem Landre in De Nieuwe Courant, H. F. Völlmar in der Nieuwe Rotterdamsche Courant u.a. — waren in ihrer Beurteilung ebenso unterschiedlich wie ihre Amsterdamer Kollegen. Landre ließ seine Leser wissen, daß er Mahler für einen genialen Scharlatan halte. Er hatte offenbar die 3. in Amsterdam gehört und hielt es für unvorstellbar, daß diese Anhäufung von schrillsten, gemeinsten Mißklängen in einem gesunden Hirn entstanden sein könnten. Er vertrat daher die Annahme, daß Mahler sein Publikum einfach zum besten haben wollte. Die 1. empfand er wohl weniger ohrenzerreißend und unnatürlich, hielt sie aber als quasi absolute Musik für ein Unding. Er pries die meisterliche Bearbeitung und die raffinierte Instrumentation, tadelte jedoch die Banalität der Motive, namentlich desjenigen, das ihm Frere Jacques, dormez-vous in Erinnerung gebracht hatte!!* — Weniger abweisend zeigt sich Völlmar, der 3 De Telegraaf, 25. 10. 1903 1 Caecilia, Jg. LX (1902— 1903), S. 105 — 106

5 Algemeen Handelsblad, 26. 10. 1903. — Averkamp vertrat bei diesem Konzert den abwesenden Van Milligen.

16 De Nieuwe Courant, 26. 10. 1903

17 Het Nieuws van den Dag, 27. 10. 1903 18 De Nieuwe Courant, 4. 2. 1904

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zwar auch der Meinung ist, daß Mahlers Werke in die Kategorie der Programmusik eingereiht werden sollten (ob der Komponist das nun bestritt oder nicht). Immerhin aber findet er in der 1. Symphonie zahlreiche Episoden von ungewöhnlichem Charme, glänzender Erfindung, fesselnder Originalität und selbst von Humor"”. — Noch einen Schritt weiter geht Het Vaderland, dessen Musikschriftleiter Dr. J. de Jong das Geständnis ablegt, Mahlers 1. Symphonie amüsant, höchst amüsant gefunden zu haben, und nicht nur den dritten Satz,

dessen Schluß er köstlich (!) nennt?°. — Eine anonyme Kritik in De Avondpost betont den fröhlichen Grundcharakter der Sinfonie”. Dagegen liest man in De Hofstad, daß in dieser Musik neben anmutigen Stellen viele bizarre Effekte und gesuchte Dissonanzen vorkämen?”. Nur der Rezensent des Residentiebode vermittelt einen überaus positiven Eindruck; er rühmt die Ehrlichkeit und Natürlichkeit dieser Tonsprache, aus der eine sehr starke Persönlichkeit spricht, und gibt seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß nach jedem Satz Zuhörer in Scharen den Saal verließen *. IV Im Oktober 1904 kam Mahler wiederum nach Amsterdam, diesmal um seine 4. und 2. Symphonie zu dirigieren. Die 4. bedeutete für die unvorbereiteten Kritiker eine vollständige Überraschung. Nur S. van Milligen hatte seine Leser im Algemeen Handelsblad vorher ausführlich auf die kommenden Ereignisse vorbereitet?*, und nach der Aufführung kennzeichnete er die Sinfonie als ein Werk, das uns im höchsten Grade sympathisch ist und das in seinem durchsichtigen, oft lockeren, aber auch so poetischen Inhalt Mahler erkennen läßt als einen sehr ursprünglichen Meister, der etwas auszusagen hat und das mit so besonderen Ausdrucksmitteln erreicht, daß man immer mehr Bewunderung für ihn empfindet. [...] Es würde uns nicht wundern, wenn diese Symphonie nicht nur einen festen Platz in den Programmen des Concertgebouw-Orchesters bekommen, sondern auch ein sehr geliebtes Werk werden sollte.”” — Diesmal zeigt sich auch Daniel de Lange in Het Nieuws van den Dag völlig für Mahlers Kunst gewonnen. Man darf es, schreibt er, als eine außergewöhnliche Tat betrachten, daß ein genialer Künstler wie Mahler in dieser Zeit ein Werk von so naivem Charakter, mit solchen kindlichen Empfindungen geschrieben hat, als ob ihn das nicht die geringste Mühe gekostet hätte, und man vergißt dabei allmählich, welche polyphonen Kunststücke in dieser Partitur zustande gebracht worden sind*‘. Kaum weniger begeistert äußern sich H. L. Berckenhoff in der Nieuwe Rotterdamsche Courant, F. M. Lurasco in De Tijd und Ant. Averkamp in De Amsterdammer. Alle Kritiker sind erfreut über die ungekünstelte Schlichtheit der Thematik, die geeignet erscheint, die Manen Haydns und Schuberts heraufzubeschwören, und vor allem wird das Adagio wegen seiner ausdrucksvollen Thematik gerühmt. Aber es gab auch andere Reaktionen. In De Telegraaf schreibt Otto Knaap, daß seine Meinung über Mahlers Musik leider unverändert geblieben sei; er könne nur die im alten Stil komponierten Episoden akzeptieren, alles übrige sei ihm ein Greuel gewesen. So habe es ihn gestört, daß im Adagio so zahlreiche Tempowechsel vorkommen; das sei stillos. Im 1% 2° 2! ?2

Nieuwe Rotterdamsche Courant, 4. 2. 1904 Het Vaderland, 5. 2. 1904 De Avondpost, 5. 2. 1904 De Hofstad, 6. 2. 1904

23 De Residentiebode, 5. 2. 1904

”+* Algemeen Handelsblad, 22. 10. 1904 25 Algemeen Handelsblad, 24. 10. 1904 2° Het Nieuws van den Dag, 25. 10. 1904

Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

Gegensatz zu den vorher genannten Kritikern lehnte er die Wiederholung der Symphonie nach der Pause ab. Er erklärt, weggegangen zu sein, weil seine Ohren diese Musik nicht mehr aushalten konnten. Aber, fügt er hinzu, dies alles verhindert nicht, daß ich für Gustav Mahler als Dirigenten nur Ehrfurcht hege””. Schlimmer war es mit dem Weekblad voor Muziek bestellt. Der Schriftleiter Hugo Nolthenius war den bisherigen Mahler-Aufführungen ferngeblieben. Er hatte neben seiner alten Verehrung für Richard Wagner eine neue für Richard Strauss entwickelt, die er anscheinend nicht beeinträchtigen lassen wollte durch Eindrücke, die ihm Mahlers Musik hätten vermitteln können. Auch bei der Erstaufführung der 4. Symphonie in Amsterdam war er weggeblieben (er hatte eine Repertoire-Aufführung von Mignon in Utrecht vorgezogen!), obwohl er wissen mußte, daß sein Amsterdamer Berichterstatter, J. H. Garms jr., verhindert war. Er rettete sich aus dieser Situation dadurch, daß er in seine Zeitschrift das Urteil eines

Kunstbruders über Mahler aufnahm, das wie folgt lautet: Ein maßgebender Tonkünstler (wer, das tut nichts zur Sache) schreibt mir von der Tortur, die ihm ein zweimaliges Hintereinander-anhören-Müssen von Mahlers vierter Symphonie bereitet haben würde, wenn er am vergangenen Sonntag bis zum Schluß geblieben wäre. Er ist in der Pause weggegangen. — Er kann die Vorliebe eines gebildeten Publikums für ein solches Werk nicht begreifen. „Sind die Menschen denn

wirklich so dumm, oder ist die dargebotene Huldigung nur eine Folge des widerlichen Umstands, daß so etwas überhaupt machbar ist. Ein umfangreiches, höllisch langweiliges Gebilde, ohne irgendwelche musikalischen Ideen, in dem auf unsinnige Weise gezeigt wird, wie man Instrumente nicht gebrauchen soll. Mahler versteht es großartig, aus den Instrumenten

Töne herauszulocken,

die diese gar nicht besitzen. Ein

Genie wie Richard Strauss hat für seine Riesengedanken nichts anderes nötig als eine einfache Singstimme und ein zwar großes, aber doch natürliches und einfaches Orchester. Und solch ein Scharlatan wie Mahler verwendet für seine einfallslosen Klänge die unmöglichsten Instrumente, die er überdies tuten und blasen läßt in gänzlichem Widerstreit mit ihrer Natur. Die drei ersten Sätze sind ganz und gar falsch, unwahr, impotent. Der kürzere vierte Satz macht nur darum einen besseren Eindruck, weil Mahler der Sopranistin keinen Dämpfer in den Mund stopfen konnte. [...] Und so etwas hat die Prätention — Apollo vergebe ihm — das illustre Beispiel des von Bülow nachzuahmen und sein langweiliges Spektakel zweimal an einem Abend aufführen zu lassen.“* Der Autor dieser Schmähungen muß zweifellos in dem Kreis um Bernard Zweers gesucht werden, dem namhaften holländischen Komponisten und Pädagogen, der 1890 ein Werk von Mahlerschen Ausmaßen und entsprechender Besetzung, seine 3. Sinfonie Aan mijn Vaderland, veröffentlich hatte, aber dennoch Mahlers Musik sein Leben lang verabscheute. Zu seinen Schülern gehört Willem Landre, dessen Ablehnung von Mahlers 1. Symphonie wir schon zur Kenntnis haben nehmen können. Sein Stil entspricht ziemlich genau der hier abgedruckten Beurteilung der 4. Symphonie. Seine spätere Stellungnahme zu der Aufführung des gleichen Werkes in Den Haag unter Mengelberg im Februar 1905 (s.u.) bestätigt sie vollends. Nolthenius mußte in der nächsten Nummer seines Weekblad zugeben, daß die Meinungen über Mahler weit auseinandergingen; in einer privaten Korrespondenz mit einem Tonkünst”” De Telegraaf, 24. 10. 1904 28 Weekblad voor Muziek, 29. 10. 1904

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ler von bestimmt nicht geringerer Autorität als der desjenigen, dessen abfälliges Urteil in der vorigen Nummer bekanntgegeben wurde, sei ihm uneingeschränkte Bewunderung für Mahler bezeugt worden, der als der Beethoven unserer Zeit, der größte heute lebende Komponist betrachtet wird”. Diese Qualifizierung stammt ohne Zweifel von Alphons Diepenbrock, der sie auch anderen gegenüber geäußert hat, und dessen Freundschaft mit seinem etwas älteren Kollegen Zweers immer wieder durch hitzige Diskussionen für und wider Mahler erschüttert wurde. Inzwischen hatte im Concertgebouw die holländische Erstaufführung der 2. Symphonie unter Mahlers Leitung stattgefunden. Auf dem Programm war zu lesen, daß der Komponist gebeten habe, auf eine Erläuterung seines Werkes zu verzichten. Aber diesmal wurde von den Rezensenten das Fehlen einer Analyse weit weniger gerügt als im vorigen Jahr bei der 3. Symphonie. Alle Berichte vermerken, daß das Publikum sich die ganze Symphonie mit der größten Aufmerksamkeit angehört habe; nach dem ersten Satz habe es sich vollkommen still verhalten, aber nach dem Andante und Scherzo warm applaudiert, und am Ende seien der Dirigent und die Solisten viermal gerufen worden. Allgemein wird festgestellt, daß die Aufführung ein Triumph für Mahler gewesen sei. — Aber, wie nicht anders zu erwarten, gibt es in den Pressestimmen wieder Divergenzen: unumschränkte Bewunderung zeigt wie schon früher S. van Milligen, und auch Berckenhoff und Kwast äußern sich lobend und voll Respekt. Averkamp wundert sich über das Fehlen eines einheitlichen Charakters in den ersten vier Symphonien, als ob Mahler verschiedene Persönlichkeiten in sich vereinige, und auch innerhalb der 2. Symphonie sei ihm der fortwährende Ausdruckswechsel zu sehr kaleidoskopisch; er selbst fände die erste Hälfte des letzten Satzes abstoßend

und nur

äußerlich effektvoll, den Schluß-Chor dagegen von tiefer Wirkung”. Für Daniel de Lange liegen Probleme auf der ethischen Seite; nur bei wesensmäßiger Übereinstimmung mit dem Komponisten könne man dieses Werk ganz verstehen. Auf ihn mache solche Musik — bei aller Bewunderung für Mahlers Inventivität und technisches Können — einen sehr unsympathischen Eindruck; namentlich der Versuch, im letzten Satz das Allerhöchste darzustellen, bliebe seines Erachtes in Theatereffekten stecken ®!.

Für ein Satyrspiel sorgte wieder Otto Knaap: er veröffentlichte seine Kritik in Form eines Briefes seines jüngeren Bruders aus Amerika, den er angeblich zum Besuch dieses Konzertes eingeladen hatte. Dieser Bruder macht kein Hehl daraus, daß er Mahler verwünscht habe um der ärgerlichen Mißklänge und des höllischen Lärms wegen, den er sein Riesenorchester erzeugen ließ. Gleichzeitig habe er aber auch lachen müssen über seine Narrheiten, die ihm die Vermutung eingaben, daß diese Musik gemacht sei pour Epater le bourgeois. Er halte Mahler für einen Poseur, nicht nur in Bezug auf seine Musik, sondern auch als Persönlichkeit, wie er zum Beispiel zwischen zwei Sätzen auf dem Dirigentenstuhl sitzen geblieben sei, mit dem Rücken zum Publikum und den Kopf in die Hand gestützt, wie in tiefes Nachdenken versunken. Abschließend gibt er seiner Verwunderung Ausdruck darüber, daß es noch ziemlich viel Applaus gab, und er fragt sich, ob die Leute vielleicht fürchteten für Esel gehalten zu werden, wenn sie ihren Abscheu vor dieser Musik zeigten!??

2? Weekblad voor Muziek, 5. 11. 1904 30 De Amsterdammer, 6. 11. 1904

»1ı Het Nieuws van den Dag, 28. 10. 1904 »2 De Telegraaf, 27. 10. 1904

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Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

V Im Jahre 1905 fanden in Holland nur drei Mahler-Aufführungen statt. Im Februar brachte Mengelberg die 4. Symphonie nach Den Haag, wo sie bei Publikum und Presse ähnliche Eindrücke hinterließ wie in Amsterdam: die Meinungen schwanken zwischen teilweise abstoßend oder befremdend und teilweise schön bis fesselnd. Dr. de Jong, der die 1. so amüsant gefunden hatte, fühlt sich wiederum angenehm überrascht von Mahlers Humor®. Völlmar dagegen stört Mahlers Sarkasmus’*. Allgemein werden der Anfang des Adagio und die letzte Strophe des Himmlischen Lebens als Höhepunkte der für die meisten Zuhörer überlangen Symphonie angesehen. Im Weekblad voor Muziek nennt Karel Textor den Komponisten Mahler einen germanischen Berlioz und er stellt fest, daß er über Jahre hin keine Musik mit solch zwingendem Charakter gehört habe, wobei er überzeugt sei, daß bei mehrmaligem Hören zahlreiche Härten in Klang und thematischer Bearbeitung, unmotivierte Kontraste und auch einige Banalitäten akzeptiert werden könnten®®. — Nur Willem Landre bleibt abweisend. Auch er findet bei Mahler vielfache Übereinstimmung mit Berlioz, was bei ihm aber keineswegs zu positiven Ergebnissen führt: Dürfen wir gestehen, daß der I. und Il. Satz abscheulich sind? Und oft ausgesprochen trivial? Den Motiven fehlt ein symphonischer Charakter. Nein, niemand in der Welt wird uns je dazu bekehren können, den Mittelteil des ersten Satzes, voll von

verwirrten schrillen Klängen aus Holz- und Blech-Instrumenten, schön zu finden. Schrecklich anzuhören! — Der zweite Satz ist fast noch schlimmer. Er heißt Totentanz; der Tod fiedelt, um die Menschen anzulocken. Bis jetzt hatte der Tod für uns wenig Anziehendes, aber wenn er jetzt auch noch solch abscheuliche Klänge aus seiner Violine holt! Künftig wird unsere Antwort auf die Frage: „Tod, wo ist dein Stachel?“ lauten: „In seiner Violine“. — Daß die durchsichtige Instrumentation uns

mehrmals gefesselt hat, wollen wir gerne gestehen. Übrigens sind wir froh, dieses Werk von Mahler kennengelernt zu haben, obschon wir noch froher sein werden,

wenn wir diese Probe von dekadenter Kunst nie mehr zu genießen brauchen°“. (Die Ehrlichkeit gebietet hier nachdrückich zu betonen, daß es Willem Landre keineswegs an musikalischen Kenntnissen mangelte. Landre war ein sehr begabter Komponist, der sich schon damals als einer der ersten Musiker in Holland von der neueren französischen Musik — Cesar Franck und seiner Schule, dem frühen Debussy — inspirieren ließ, wie z.B. in seinen Lioba-Liedern von 1905.) Einen Tag später führte Mengelberg die 4. Symphonie in Amsterdam auf. Die Presse nahm von dieser Wiederholung kaum Notiz; der Besprechung in De Tijd kann man jedenfalls entnehmen, daß Werk und Wiedergabe beim Publikum viel Sympathie und langanhaltenden Beifall fanden”, was nach der ziemlich kühlen Aufnahme der Erstaufführung als erfreulicher Fortschritt bezeichnet werden darf. Die dritte Mahler-Aufführung in diesem Jahr fand bemerkenswerterweise im Kurhaus in Scheveningen statt: am Abend eines glühendheißen Sommertags spielten die Berliner Philharmoniker (seit 1885 jährlich für die ganze Sommersaison in Scheveningen engagiert) unter der Leitung von August Scharrer zum erstenmal in Holland die 5. Symphonie — was 33 3# 35 36

Het Vaderland, 16. 2. 1905 Nieuwe Rotterdamsche Courant, 16. 2. 1905 Weekblad voor Muziek, 4. 3. 1905 De Nieuwe Courant, 16. 2. 1905

37 De Tijd, 18. 2. 1905

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man für einen Badeort wohl als eine Zumutung bezeichnen kann. Der Saal war größtenteils leer geblieben, nicht nur der Temperatur wegen, sondern auch, weil verbreitet worden war,

daß die neue Symphonie 80 Minuten dauern würde. Immerhin haben die wenigen, die sich nicht hatten abschrecken lassen, nach jedem Satz laut applaudiert, was man jedenfalls nach der Lektüre der Rezensionen nicht hätte erwarten können. Landres Beschreibung in Stichworten ist vielsagend genug: Imposant ist der erste Satz, ein Trauermarsch; höllisch häßlich, schneidend, grotesk der zweite, stürmisch bewegt; eine Kakophonie der dritte, Scherzo (wenn auch mit anmutigen Stellen) ; innig-schön und schlicht der vierte, ein kurzes Adagietto nur für Streichorchester und Harfe; und der fünfte, Rondo-Finale, einfach beginnend, machte schon bald solch einen Lärm, daß wir über einen Spaßmacher lachen mußten, der uns zuflüsterte, daß diese Sinfonie bestimmt speziell für eine Taubstummenanstalt verfertigt worden sei.°®

Auch Mahlers Instrumentation wurde von Landre heftig getadelt. Sie ist uns meistens antipathisch wegen ihrer überfüllten, dicken lärmenden Unruhe. Man vergleiche damit einmal die immer klare, schlanke Orchestrierung eines Berlioz! Zurückhaltender ist diesmal die Nieuwe Rotterdamsche Courant, deren Korrespondent (vermutlich nicht Völlmar) zugibt, daß er ein Werk von solchem Ausmaß wie diese 5. Symphonie nicht nach einmaligem Hören beurteilen könne. Aber er stellt fest, daß ein Komponist mit der Fähigkeit, solch einen Trauermarsch und ein solches Adagietto zu schreiben, das Recht hat zu fordern, daß das weniger Faßliche und Begreifliche nicht sofort zu „la mort sans phrase“ verurteilt werde. Am positivsten äußert sich wieder Dr. de Jong. Zwar verzeichnet er im Scherzo viele tote Stellen, das schöne Adagietto ist ihm zu kurz und das Rondo-Finale zu lang, aber all das hindere ihn nicht, Mahler als die vielleicht interessanteste musikalische Persönlichkeit aus der Periode nach Berlioz zu bezeichnen®”.

VI

Anfang Januar 1906 betrat Henri Viotta mit seinem Residentie-Orkest zum erstenmal mit einer Mahler-Symphonie die Bühne, und zwar mit der 4., und das sollte vorläufig seine

einzige Tat auf diesem Gebiet bleiben. Erst nach Mahlers Tod hat er häufiger Werke von ihm aufgeführt, und 1917 hat er sich als fast Siebzigjähriger mit Mahlers 8. Symphonie von dem von ihm gegründeten Orchester verabschiedet. Inzwischen hatten in den Musikredaktionen dreier großer Zeitungen Veränderungen stattgefunden. Simon van Milligen verließ das Algemeen Handelsblad, und sein Nachfolger wurde W. F. N. Sibmacher Zijnen. Dieser wurde bei der Nieuwe Rotterdamsche Courant ersetzt durch Willem Landre, und bei der Nieuwe Courant wurde Herman Rutters (wie Landre ein Schüler von Bernard Zweers) Musikschriftleiter. — Rutters erste mit H.R. signierte Mahler-Kritik in der Haager Zeitung kann seinen Lehrmeister kaum enttäuscht haben. Er hört in der 4. Symphonie zwar viel Schönes, aber dieses Schöne sei fragmentarisch; oft suche man vergebens nach einem logischen Zusammenhang, und ein Gefühl von Weitläufigkeit verursache beim Hörer eine nicht zu unterdrückende Müdigkeit; oft sei die

38? De Nieuwe Courant, 1. 7. 1905 » Nieuwe Rotterdamsche Courant, 1. 7. 1905 #

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Het Vaderland, 1.7. 1905

Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

Melodik banal und das Schöne nicht originell. Für das Sopran-Solo im vierten Satz findet

er bei diesem Werk keine innere Motivierung, wie sie etwa Beethoven veranlaßte, das

vokale Element in seiner 9. Sinfonie anzuwenden*". Als Haager Korrespondent der Nieuwe Rotterdamsche Courant führt in diesem Falle zweifellos Völlmar wieder das Wort. Er erwähnt, daß das Programm das gleiche war wie bei dem Konzert am vorigen Abend in Rotterdam, allerdings ohne die 4. Symphonie von Schumann, die in Den Haag durch die 4. Mahlers ersetzt wurde, eine allertraurigste Wahl, denn Schumann bringt wenigstens Musik, aber Mahler? Das weiß er wahrscheinlich selbst nicht. Völlmar vergleicht den zweiten Satz mit der Danse macabre von Saint-Saens und folgert daraus, wie arm Mahler an Charakter sei. Auch die Sopranistin bekäme keine Gelegenheit sich zur Geltung zu bringen, und so verschaffe die Symphonie dem Hörer nur ein Gefühl der Langeweile. Der Beifall am Schluß darf getrost ausschließlich der Ausführung zugeschrieben werden**. (Rezensenten können offenbar immer genau abschätzen, wofür ein Publikum applaudiert!) Einen bedenklichen Standpunkt vertritt Peter Spaan, der in De Hofstad feststellt, daß Mahlers Musik keinen Stil hat, woraus man ersehen kann, daß der Komponist kein echter Germane ist. Hier wird der heutige Leser sofort das Schlimmste befürchten — aber wenig später bezeichnet der Autor Mahler als eine äußerst begabte lyrische Natur mit der echt böhmischen Neigung, sich in dramatisch-romantische Formen zu ergießen*. (Vielleicht sollte hier schon darauf hingewiesen werden, daß es in der gesamten holländischen MakhlerRezeption niemals eine Anspielung auf Mahlers Judentum gegeben hat.) Ein grotesker Irrtum unterläuft dem Rezensenten des Residentiebode, der ein halbes Jahr vorher in Scheveningen die 5. Symphonie gehört hatte und diese jetzt mit der 4. verwechselt. Er teilt seinen Lesern mit, daß ihm das kolossale Werk beim zweiten Hören besser gefallen habe**!

Vu Im März 1906 ist Mahler wieder in Amsterdam, um nunmehr seine 5. Symphonie und die Kindertotenlieder sowie drei Einzellieder zu dirigieren. Als Solist war der Wiener Bariton Friedrich Weidemann engagiert, der jedoch im letzten Augenblick krankheitshalber absagen mußte. Man fand den holländischen Bariton Gerard Zalsman bereit, unvorbereitet für Weidemann einzuspringen; aber dadurch mußten zwei von den angekündigten Einzelliedern wegfallen, so daß nur Ich bin der Welt abhanden gekommen übrigblieb. Ursprünglich sollte die Symphonie den Schluß des Konzertes bilden. Jetzt wurde sie vor der Pause gespielt, was

den Vorteil hatte, daß das Publikum

dieser schweren

unbekannten

Musik

frisch

gegenüberstand. Andererseits aber konnte man für die Lieder nach der Pause nicht mehr die erforderliche Konzentration aufbringen. So wurde der Komponist mit dem beschämenden Schauspiel konfrontiert, daß nach jedem Lied etliche Zuhörer ziemlich geräuschvoll den Saal verließen. Da schon die Symphonie ziemlich kühl bis ablehnend aufgenommen worden war, kann man verstehen, daß Mahler sich schließlich sehr deprimiert fühlte, obschon er

das in seinen Briefen an Alma nicht zeigte. Es muß ihm denn auch eine gewisse Genugtuung bereitet haben, daß zwei Tage später eine von ihm geleitete Aufführung von Das klagende Lied im Rahmen eines Toonkunst-Konzerts, in dessen Verlauf Mengelberg die Hymnische +4 De Nieuwe Courant, 8. 1. 1906 #2 Nieuwe Rotterdamsche Courant, 9. 1. 1906 #3 De Hofstad, 13. 1. 1906

*# De Residentiebode, 9. 1. 1906

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Rhapsodie „Dem Verklärten“ op. 21 von Max Schillings und die Ballade „Taillefer“ op. 52 von Richard Strauss dirigierte, beim Publikum den weitaus größten Erfolg errang; er wurde unter Ovationen dreimal zurückgerufen und mit einem Lorbeerkranz ausgezeichnet. Die Presse hat diesen zwei Mahler-Konzerten in Amsterdam große Aufmerksamkeit gewidmet. Sibmacher Zijnen folgt im Algemeen Handelsblad dem 1904 von seinem Vorgänger Van Milligen gegebenen Vorbild und kündigt die Konzerte in einem Feuilleton an, wobei sich zeigt, daß er sich intensiv mit Mahlers Werken befaßt hatte*. Seine wiederum ausführliche Kritik nach dem ersten Konzert kann daher nur die Vorbetrachtung bestätigen: Es ist etwas Rätselhaftes in der interessanten Erscheinung des Komponisten Gustav Mahler. Er fasziniert uns, wir kommen nicht mehr von ihm los. Die Zaubermacht seiner Musik hat uns in ihrem Griff *. Mit diesem Rätselhaften hat Herman Rutters größere Schwierigkeiten als Sibmacher Zijnen oder Van Milligen. In seiner ausführlichen, eindringenden Kritik in De Nieuwe Courant, die ein schönes Zeugnis von seinem Verantwortungsgefühl und seinem Ernst ablegt, bezieht er den Eindruck, den Mahlers Art zu dirigieren auf ihn macht — einerseits unbeugsam und entschlossen, andererseits nervös und überreizt —, auf seine Musik; was ihn bei seiner unumschränkten Bewunderung für Mahlers Wollen und Können unsicher macht, ist der ständig auftretende Gegensatz zwischen reiner Schönheit und oberflächlicher Banalität. Kunst erfordert völlige Hingabe, nicht nur emotionell, sondern auch intellektuell. Aus solcher Hingabe erzeugte Befriedigung schenkt Mahlers Musik nicht, weil sein Wesen zu unausgeglichen ist*’. Aber dies alles verhindert nicht, daß auch Rutters sich stellenweise immer wieder völlig hingerissen fühlt, z.B. beim Adagietto und Finale der Symphonie, ebenso bei den Kindertotenliedern. Ähnliche Gedanken treffen wir in der Nieuwe Rotterdamsche Courant an, wo Berckenhoff seine Eindrücke wie folgt zusammenfaßt: Die Ruhe, die feierliche Pracht, die bei den Klassikern niemals fehlende Vornehmheit braucht man bei Mahler nicht zu suchen (womit nicht gesagt sein soll, daß er dem Ordinären frönt); es herrscht in seinen Gefühlsäußerungen eine Übermäßigkeit, eine Ausgelassenheit, die zwar im Gegensatz zur klassischen Besonnenheit stehen, aber oft spannend und mitreißend wirken.*® Averkamp, der diesmal in Het Nieuws van den Dag schreibt, — Daniel de Lange machte gerade in diesen Tagen eine Konzertreise mit eigenen Kompositionen — ist es aufgefallen, daß die motivische Arbeit, so typisch für die sinfonische Kunst der Klassiker und Romantiker, bei Mahler fehlt. Er verfüge dagegen über einen melodischen Reichtum, der immer wieder neue Bilder hervorbringe, als ob für ihn das Komponieren ein unaufhörliches Phantasieren bedeute. Für Averkamp ist die 5. Symphonie in jeder Hinsicht ein großartiges Werk, reifer als die vorhergehenden.* — Otto Knaap dagegen empfindet das AnhörenMüssen von Mahlers 5. Symphonie als einzige Tortur — abgesehen vom Adagietto, in dem ihn übrigens auch noch etliche derbe Harmonien gestört hätten — , voll von unerträglichem Lärm und brutalen Dissonanzen,

kurz: „hypermodern“!°° —

Daß S. van Milligen diese

Symphonie als ein Werk aus einem Guß bewunderte°, war zu erwarten. Auch J. H. Garms jr. äußert sich sehr positiv beeindruckt; er rühmt die Kindertotenlieder als noble, sehr * Algemeen Handelsblad, 7. 3. 1906 + Algemeen Handelsblad, 9. 3. 1906 # De Nieuwe Courant, 9. 3. 1906 *# Nieuwe Rotterdamsche Courant, 9. 3. 1906 # Het Nieuws van den Dag, 10. 3. 1906

0 De Telegraaf, 9. 3. 1906 51 Caecilia, Jg. LXII (1906) S. 170-171

Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

ergreifende Kunstwerke und erklärt, daß ihm dieses Konzert Mahler und seine Ausdrucksweise näher und zu höherer Wertschätzung gebracht habe.°? Aus Anlaß des Toonkunst-Konzerts war Hugo Nolthenius aus Utrecht angereist, nicht

um Das klagende Lied, sondern um Taillefer anzuhören. Jetzt mußte er in seinem Weekblad voor Muziek endlich Farbe bekennen, und das tut er auch: Strauss hat etwas Spontanes von genialem Gehalt; damit kann er auch Mahler leicht in den Schatten stellen, das heißt, soweit dieser sich präsentiert in seinem klagenden Lied. Wie ich las, ist es eine Komposition aus früherer Zeit und zweifellos ein Beweis seiner außerordentlichen Anlagen, die meines Erachtens damals noch mehr auf seinem Verstand beruhten, als auf Gefühl und natürlicher Begabung°®. Diese dürftige summarische Kritik — der Dirigent Mahler wird von Nothenius nicht einmal erwähnt! — kontrastiert auffallend mit der eindringlichen und liebevollen Besprechung Van Milligens in Caecilia, der keinerlei Anlaß findet, Mahlers Stimmungsmusik gegenüber dem von ihm ebenfalls bewunderten Stück von Strauss herabzusetzen”*. — Sibmacher Zijnen und Averkamp heben nachdrücklich die von Mahler auch in der Instrumentation feinsinnig ausgebildete Märchenstimmung hervor. Lurasco dagegen findet, daß Mahler die Grenzen, wo Klänge aufhören Musik zu sein, wiederholt überschritten habe. Darüber hinaus verurteilt er nicht nur die allerbizarrste Weise, mit der der Komponist die Singstimmen

behandelt, sondern

auch die Geräusche,

die ein Fest im Palast schildern

sollten, jedoch eher ein Pandämonium für Tartaren und Mongolen zu sein scheinen. Das von Mahler hier vorgeschriebene Fernorchester hält der Kritiker für absolut unmotiviert”. vi Gleich nach Mahlers Abreise unternahm es Mengelberg, die 5. Symphonie in „die Provinz“ einzuführen. Die Mitglieder der „Societeit Harmonie“ in Rotterdam — eines geschlossenen Vereins von wohlhabenden, meist liberalen Bürgern, zu dem (wie oft damals in Holland) Juden nicht zugelassen wurden — bekamen zum erstenmal ein Werk von Mahler zu hören (es sollte bis 1912 auch das letze Mal sein), und waren natürlich auf die 5. am allerwenigsten vorbereitet. Vom Rezensenten der Nieuwe Rotterdamsche Courant konnten sie keine geeignete Einführung erwarten, denn Willem Landre hatte seine in Den Haag gebildete Meinung über Mahler kaum geändert. Nach dem Konzert muß er wiederum bekennen, daß die Symphonie ihm wenig musikalischen Genuß bereitet habe. Das Naive und das Exaltierte, das Schöne und das Häßliche, das Natürliche und das Gekünstelte sind dermaßen

wunderlich durcheinander gemischt, daß sich der seriöse Zuhörer nach fünf Viertelstunden in einem Zustand geistiger Betrunkenheit befindet. Diese Symphonie ist prachtvoll, abscheulich, erhaben, banal, klar, trübe |...) einmal so, ein andermal so. Immerhin will Landre nicht leugnen, daß Mahler über eine riesige Formkraft verfügt, und er hat für den Bau der Symphonie denn auch allen Respekt. Aber ihn stören immer wieder neben dem Fehlen einer originellen und dabei vornehmen Melodik die schrillen Dissonanzen im rücksichtslosen Kontrapunkt und die lärmende Instrumentation°. — Auch der anonyme Kritiker des Rotterdamsch Nieuwsblad (vermutlich H. W. de Ronde) fühlt sich von dieser Musik abwechselnd angezogen und abgestoßen; die Tatsache, daß das Publikum am Schluß kaum applaudierte (ungeachtet der virtuosen, auch von Landre mit größtem Lob ausgezeichneten s2 Weekblad voor Muziek, 17. 3. 1906 53 Weekblad voor Muziek, 17. 3. 1906 + Caecilia, Jg. LXIII (1906), S. 171-172 [2 5 De Tijd, 13. 3. 1906

56 Nieuwe Rotterdamsche Courant, 13. 3. 1906

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Wiedergabe durch Mengelberg und sein Orchester), macht es für De Ronde unwahrscheinlich, daß man in Rotterdam eine baldige Wiederholung der 5. Symphonie erwarten könne’. (Es sollte in der Tat genau zwanzig Jahre dauern!) Die Kritiken aus Den Haag machen deutlich, wie sehr seit der Erstaufführung in Scheveningen die Meinungen an positivem Gehalt gewonnen haben. Es gibt zwar noch Vorbehalte, namentlich was den II. und III. Satz anbelangt, aber Respekt und Bewunderung überwiegen jetzt. Für De Jong steht es jedenfalls fest, daß ein Mann, der dieses Adagietto schrieb, zu den Großen gehöre‘. Und die Nieuwe Rotterdamsche Courant publiziert in offenem Widerspruch zum Urteil ihres Musik-Schriftleiters, daß Mahler in der 5. Symphonie einen so ergreifenden Charakter in Tönen wiedergegeben habe, daß den aufmerksamen Zuhörer nur stille Hingabe erfasse in der Erkenntnis, daß hier Reichtum an Können und Erfindungsgabe in seltener Harmonie vereint seien°”. — In De Avondpost gibt Eduard Bondam eine vortreffliche Beschreibung der schmerzlichen Gefühlswelt, die in dieser Symphonie klanglich symbolisiert worden ist, einer Gefühlswelt, die für Menschen, denen das Leben

nur als ein gemächlich-gemütlicher Spaziergang auf ruhigen, gebahnten Wegen erscheint und deren Seele weder von brennendem Weltschmerz noch von flammender Begeisterung je durchzuckt wurde, ein wahrer Schrecken sein muß. Für Bondam ist Mahler ein Künstler, der in diesem ungeheuren musikalischen Poem seine Verzweiflungen und seine Freuden mit der Kraft eines Übermenschen zum Ausdruck gebracht hat, der den furchtbaren Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit am eigenen Leib erfahren hat und die Disharmonie als Kontrast zur konventionellen Harmonie notwendig braucht, bis sie sich in der Polyphonie des letzten Satzes auflösen kann in einer neuen Harmonie auf einer höheren Ebene“. — Auch der unsignierten Kritik in De Hofstad liegt die Überzeugung zugrunde, daß es sich hier jedenfalls um eine wichtige Symphonie handelt, in deren Verlauf der Zuhörer immer stärker gefesselt wird; die wehmütige Träumerei des Adagietto (für Streicher und Harfe) zieht Sie in ihren Zauberbann, und der fieberhaft jagende musikalische Strom des letzten Satzes reißt Sie mit bis zum gewaltigen emphatischen Schluß .** Es ist begreiflich, daß das Adagietto vom Publikum und von den konservativ gesinnten Rezensenten als Höhepunkt der Symphonie empfunden wird. Desto mehr fällt auf, daß der Kritiker der Arnhemsche Courant (er signiert nur mir Kr.) gerade diesen weichen Satz als den schwächsten der Symphonie bezeichnet, weil Mahler sich hier zur Wiedergabe einer Empfindung habe verleiten lassen, die nicht zu den besten Elementen seines Talents gehöre. Für „Kr.“ sind es die anderen Sätze, in denen Mahler vollkommen und vorbehaltlos sich selbst getreu sei”. — Beim Publikum waren die Meinungen auch in Arnheim heftig geteilt, wobei vorläufig der ablehnende Teil überwog. Im Laufe der Jahre entstand allmählich bezüglich der Mahler-Rezeption eine Diskrepanz zwischen Publikum und Presse, da letztere naturgemäß häufiger Gelegenheit nehmen konnte, Mahlers Werke zu hören. So war auch „Kr.“ einer der „Eingeweihten“, der schon der Amsterdamer Erstaufführung der 5. unter Mahlers Leitung beigewohnt und damals schon in der Arnhemsche Courant ausführlich über dieses Ereignis geschrieben hatte. Seine jetzige Kritik zeigt, daß er die Symphonie nunmehr als ein ausgeglichenes Kunstwerk ansehe, in dem jeder Takt stimme. Erneut wird aber auch von ihm das Fehlen einer Erläuterung im Programm beanstandet; die Symphonie 57” 58 >? 6

Rotterdamsch Nieuwsblad, 14. 3. 1906 Het Vaderland, 15. 3. 1906 Nieuwe Rotterdamsche Courant, 15. 3. 1906 De Avondpost, 15. 3. 1906

61 De Hofstad, 17. 3. 1906 62 Arnhemsche Courant, 20. 3. 1906

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Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

sei zwar keine Programmusik, sie drücke aber jedenfalls bestimmte Stimmungen aus. So könne man es verstehen, daß der unvorbereitete Zuhörer den Faden verliere, wenn ihm nicht vorher eine Deutung dieser Stimmungen gegeben werde. (Das Arnheimer Publikum, dem 1903 die 3. Symphonie von Heuckeroth präsentiert wurde, war sicherlich besser

bedient gewesen!) Als schließlich gegen Ende des Monats die 5. Symphonie in Amsterdam wiederholt wurde, begnügten sich die Rezensenten damit, nur die Tatsache der Wiederholung zu erwähnen. Einzig J. H. Garms jr. äußert sich im Weekblad voor Muziek erfreut darüber, daß ihm die Symphonie durch Mengelbergs glänzende Interpretation nähergebracht worden sei. Das ganze Werk, wie lange es auch dauert, bleibt fesselnd durch die meisterhafte Bearbeitung der Motive und die farbenreiche, brillante Instrumentation. Es ist ein großartiges Werk‘. Daß das Publikum auch diesmal nicht wärmer reagierte als bei der Erstaufführung, wird u.a. von Sibmacher Zijnen nachdrücklich gerügt: Es darf nicht verschwiegen werden, daß schon die Wiedergabe der Symphonie, diesmal unter Mengelberg (abgesehen von der Frage, inwieweit man mit Mahlers Musik sympathisiere), eine viel deutlichere, herzlichere Anerkennung verdient hätte, als ihr zuteil wurde. Der Vortrag von Mengelberg und dem Orchester war eine große, Ehrfurcht heischende Tat!‘* Im Programmheft war wiederum kein Wort über Mahler und sein Werk zu finden ... IX

Es sollte zwei Jahre dauern, bis wieder eine Symphonie von Gustav Mahler im Concertgebouw aufgeführt wurde. Der Komponist Alphons Diepenbrock, den Mengelberg ersucht hatte, für ihn ein Konzert mit eigenen Werken zu dirigieren, bekam die Erlaubnis, Mahlers Vierte hinzuzunehmen, für die er eine eigene Erläuterung verfaßte. Sie wurde unsigniert im Programmheft abgedruckt und von den Rezensenten, sowie bestimmt auch vom Publikum dankbar begrüßt. Im übrigen wird die Symphonie in den verschiedenen Kritiken mit viel besserem Verständnis gewürdigt als bei den früheren Aufführungen und überwiegend positiv beurteilt. Nur der neue Korrespondent des Weekblad voor Muziek, der Pianist Karel de Jong, hörte das Werk zum erstenmal, und seine Stellungnahme strotzt schon wieder von Ausdrücken wie sonderbar, heterogen, Kakophonie, schrille Dissonanzen usw.

Immerhin muß er zugeben, daß Mahlers Melodik in ihrer präzise abgerundeten Gestalt sich sofort ins Gedächnis einpräge, eine Wohltat in diesem melodielosen Zeitalter“. — Das Publikum scheint diesmal viel stärker interessiert gewesen zu sein als früher, obwohl die meisten Kritiker Diepenbrock Mangel an Dirigentenroutine und damit an Spannung und Exaktheit vorwerfen. Erst zu Beginn der übernächsten Saison war in Holland wieder eine Symphonie von Mahler zu hören, und zwar die 7., vom Komponisten selbst dirigiert. Und wieder wurden die Zuhörer, auch die Rezensenten, abwechselnd angezogen und abgestoßen. Nach der Erstaufführung in Den Haag schildert Herman Rutters die Ambivalenz seiner Empfindungen so: Man möge über Gustav Mahlers Kunst denken wie man will, sicher ist, daß er uns als Künstler immer wieder unumschränkte Ehrfurcht abfordert. Ehrfurcht für seine enorme Arbeitskraft, für seinen unerschütterlichen Willen, für die eiserne Konse6% Weekblad voor Muziek, 24. 3. 1906 % Algemeen Handelsblad, 22. 3. 1906 65 Weekblad voor Muziek, 4. 4. 1908

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Eduard Reeser

quenz, mit der er seinem Ideal entgegenstrebt, das ihm das Höchste ist. Was hat man nicht Einwände gemacht gegen sein Streben, was hat man seine Arbeit nicht verspottet. All diese Einwände, all diesen Spott beantwortet er nur mit wieder einem neuen Werk, großartig und mächtig, woraus sich unwiderlegbar ergibt, daß er trotz allem nicht um Haaresbreite von dem Wege abweicht, der ihm als der einzig wahre erscheint. Und dieser Weg führt schnurgerade zu seinem Ziel, nichts kann ihn dazu bringen, auch nur einen Augenblick zu zaudern, ob er nicht seine Richtung ändern solle. Das ist es, warum wir für Gustav Mahler einen tiefen Respekt empfinden, auch nach dieser wunderlichen 7. Symphonie, weil wir auch diese — ungeachtet des vielen, worin wir auch diesmal nicht mit dem Schöpfer mitgehen können — empfunden haben als das stolze Bekenntnis seines unerschütterlichen Glaubens an ein in schwerem Kampf errungenes Ideal. |...) Mahlers Entwicklung bewegt sich in die Richtung eines Impressionismus, worin das Streben nach reiner Gefühlsäußerung sich dermaßen konsequent auswirkt, daß der Komponist die Form vernachlässigt und verachtet. Rutters schließt: Unsere Auffassung von Kunst ist der seinen völlig entgegengesetzt, und darum fühlen wir uns auch der Siebenten gegenüber fremd.“ Rutters vermißt in der Siebenten die Architektur, das Ebenmaß, die Logik. Diese Musik scheine ziellos fortzutreiben ins Unendliche, in bizarre Wechselwirkung. Zweifellos ist Mahler ein Meister, ein Künstler mit einer fein konstruierten, sehr komplizierten, tief empfindenden Seele, ein Meister mit einem gewaltigen Können. Ab und zu weiß er uns auch zu treffen, ja unwiderstehlich zu fesseln. Aber nur für einen Augenblick ; dann kommt wieder die Leere. In De Avondpost, wo im März 1906 Mahlers 5. Symphonie so warmherzig gegen ihre Gegner verteidigt worden war, schrieb E.J.B.[ondam?] nunmehr sehr geringschätzig über die Siebente. Er habe sich sechs Viertelstunden

hintereinander,

das Andante

Amoroso

ausgenommen, nur gereizt und geärgert gefühlt. Er habe den Eindruck bekommen, daß der Komponist fortwährend darauf bedacht gewesen sei, das ästhetische Empfinden und die Nerven der Zuhörer durch die schrillsten und schneidensten Klänge auf die Probe zu stellen und sie, sobald sie meinen, endlich den Faden eines musikalischen Gedankens erfaßt zu haben, wieder aus dem Gleis zu werfen und aufs neue herumirren zu lassen in einem Chaos von fremdartigen und ominösen Geräuschen, in der Wüste seiner sonderbaren Phantasie. Der Autor zaudert nicht zu bekennen, daß ihm persönlich diese Kunst, wie sehr auch dann und wann ein geniales Können unverkennbar ist, in der Hauptsache sehr unsympathisch sei und er hofft, daß der Himmel uns bewahren möge vor einer Musik, die dazu verdammt wäre, sich in diese Richtung zu entwickeln, oder in diese sichtbare Dekadenz hinabzugleiten. Er wundert sich über den langanhaltenden Beifall am Schluß, denn während der ganzen Aufführung sei eine fast allgemeine Unruhe und Unbehaglichkeit beim Publikum zu spüren gewesen”. — In krassem Gegensatz zu dieser Verurteilung steht die Meinung von De Jong in Het Vaderland. Er findet die 7. Symphonie origineller, reicher und zugleich vornehmer als die anderen ihm bekannten Werke (vermutlich nur die 1., 4. und 5. Symphonie) und spricht die Hoffnung aus, daß Mengelberg bald eine Wiederholung zustande bringen möge. Eine Bemerkung über Mahlers Verhalten während des Beifalls verdient festgehalten zu werden. De Jong erzählt, daß er, als Mahler zum vierten oder fünften Mal vom Publikum herausgerufen wurde, einen Blick auffangen konnte, den dieser dem Konzertmeister zuwarf.

6° De Nieuwe Courant, 3. 10. 1909

# De Avondpost, 4. 10. 1909

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Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

Aus diesem Blick sprachen unverhohlen Anerkennung und Genugtuung über das Erreichte. Der bei solchen Gelegenheiten übliche Händedruck unterblieb. Mahler ist kein Mann von Außerlichkeiten; er macht keine Reverenzen, mag ebensowenig wie Wüllner Lorbeerkränze auf dem Podium (das war deutlich genug zu sehen), und er verschwindet sofort nach der Aufführung, um Begrüßungen und Komplimenten zu entgehen. In seinem Äußeren etwas asketisch, mit die Brillengläser durchbohrenden Augen, macht Mahler einen höchst ein-

fachen Eindruck. Und Einfachheit ist auch bezeichnend für sein Dirigieren: seine Bewegungen sind ruhig und entschieden. Der Vorstand des Concertgebouw hatte die vortreffliche Idee, einige Amsterdamer Musikkritiker einzuladen, der letzten Probe der 7. Symphonie beizuwohnen. Wie fruchtbar diese Initiative war, kann man aus den verschiedenen Rezensionen deutlich erkennen. So schreibt Daniel de Lange in einer Vorankündigung der kommenden Mahler-Konzerte: Diese Symphonie darf man als ein großartiges Kunstwerk von ganz außergewöhnlicher Art begrüßen. Das Publikum in unserem Land ist zu beglückwünschen, daß ihm die Gelegenheit geboten wird, dieses Werk kennenzulernen in einer Wiedergabe, wie sie nur durch ein so vortreffliches Orchester wie das unsere zustande gebracht werden kann, und dazu noch unter der Leitung des Komponisten selbst. Am Sonntag und am Donnerstag werden wir Feste der Tonkunst feiern“. Auch diejenigen Kritiker, die, anders als De Lange, von Anfang an eine positive Einstellung zu Mahlers Kunst hatten — wie S. van Milligen und W.N. F. Sibmacher Zijnen —, waren dankbar für die Möglichkeit, sich die so schwierig scheinende Symphonie mehrmals kurz nacheinander anhören zu dürfen. — Im Programmheft fehlte auch in diesem Falle wieder die bei anderen Kompositionen übliche Analyse mit Notenbeispielen. Es wurde dagegen nochmals mitgeteilt, daß Mahler keinerlei Erläuterung seiner Werke wünsche. Aber immerhin wurden doch ein paar Anhaltspunkte für die Konzertbesucher gegeben: daß die drei Mittelsätze als Nachtmusik aufzufassen seien, daß Mahler nach eigener Aussage beim Komponieren des zweiten Satzes Die Nachtwache von Rembrandt vor Augen gehabt habe, und daß der letzte Satz von ihm Der Tag genannt werde. Damit waren die meisten Rezensenten anscheinend zufriedengestellt; jedenfalls sind die vorstehenden Kennzeichnungen in allen Kritiken anzutreffen. Allgemein werden die beiden Ecksätze als die wichtigsten bezeichnet, aber auch als die schwerstverständlichen. Für das Publikum zugänglicher als die Ecksätze, böten die drei Mittelsätze in Stimmung und Klangfarben einen wirksamen Kontrast. — Bei De Telegraaf hatte inzwischen L. van Gigh jr. den Mahler-Gegner Otto Knaap abgelöst; er schloß sich in seiner ausführlich dokumentierten Bewunderung für die Siebente seinen schon genannten Kollegen an”®. — Nur Lurasco in De Tijd zeigt offen seine Abneigung gegen Mahlers Musik. Er hält das thematische Material dieser Symphonie für unbedeutend; eine thematische Einheit, wie Beethoven und Brahms sie in ihren Werken erarbeitet hätten, fehle hier; wo Mahler sich an

reine Melodie wage, versage er, wie z.B. im „schattenhaften“ Scherzo und im gesanglichen zweiten Hauptthema des zweiten Satzes. Entweder lassen diese Melodien Ursprünglichkeit vermissen, oder sie grenzen an Banalität; in keinem Fall offenbaren sie eine große Seele oder ein starkes Gefühl. Lurasco bezieht aus dieser Komposition den Eindruck, daß Mahler ein Phlegmatiker sei: Nach den drei energielosen Mittelsätzen habe Mahler sich im RondoFinale nur zum Ziel gesetzt, seine Zuhörer zu zerschmettern und zu vernichten; in dieser

Hinsicht sei der letzte Satz am besten gelungen!”' 6

Het Vaderland, 4. 10. 1909

% Het Nieuws van den Dag, 1. 10. 1909

70 De Telegraaf, 5. 10. 1909 71 De Tijd, 4. 10. 1909

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Eduard Reeser

Größte Aufmerksamkeit bei Publikum und Presse fand ebenfalls die zweite Aufführung, vielleicht auch, weil man Mahler bei der Gelegenheit zum ersten (und letzten!) Mal ein

Werk von einem anderen Komponisten dirigieren sehen konnte: das Meistersinger-Vorspiel. (In den beiden anderen Konzerten hatte Mengelberg nach der Pause die 1. Sinfonie von Beethoven dirigiert, aber wegen seiner Verpflichtungen in Frankfurt/Main mußte er Mahler bitten, bei dieser Veranstaltung die Gesamtleitung zu übernehmen.) Laut gedrucktem Programm hätte dieses Stück das Konzert eröffnen sollen, aber Mahler ließ es schließlich nach seiner Symphonie spielen — ein Wagnis in vieler Augen, da, wie Averkamp schreibt, die urwüchsige Kraft dieses doch auch durch und durch modernen Werkes den Zuhörer verspüren ließ, wie ohne extravagante Hilfsmittel dennoch ein großartiger Eindruck erreicht werden kann’*. Immerhin war man ohne Ausnahme der Meinung, daß Mahler seine unumstrittene Genialität als Dirigent nicht besser als an diesem Exempel hätte demonstrieren können. Der Beifall nach der Symphonie soll den Charakter einer großen Ovation angenommen haben, namentlich als Mahler Händedrücke wechselte mit den Solo-Geigern Christiaan Timner und Julius Thornberg sowie dem Solo-Bratschisten Herman Meerloo. Die meisten Kritiker schreiben wiederum ausführlich über die Siebente — Sibmacher Zijnen widmet ihr sogar einen ganzes Feuilleton”® —, aber bei aller Bewunderung bleibt in fast allen Fällen der Vorbehalt bestehen, daß Mahlers Klanggestaltung doch eigentlich nicht zu verstehen sei ohne Kenntnis der außermusikalischen Vorstellungen, die ihn doch bestimmt inspiriert haben dürften (und dabei werden dann immer die Kuhglocken hervorgehoben). Wie sehr dennoch die Urteile auseinandergingen,

zeigt das Weekblad voor Muziek, dessen Schriftleiter Hugo Nolthenius den Aufführungen ferngeblieben war. In ein und derselben Nummer dieser Zeitschrift”* findet man eine sehr abfällige Kritik von „E.P.D.“ über das Konzert in Den Haag, eine nur bedingt zustimmende von „V.N.“ nach dem ersten Konzert in Amsterdam und eine äußerst positive vom selben Autor nach dem zweiten

Konzert in Amsterdam. Überdies ist ausnahmsweise eine speziell für das Weekblad aufgenommene Fotografie abgedruckt, und zwar das bekannte Gruppenbild im Concertgebouw mit Mahler, sitzend, umgeben von den Haus-Dirigenten Cornelis Dopper und Willem Mengelberg, dem Geschäftsführer H. Freyer und dem Komponisten Alphons Diepenbrock. Der Schriftleiter der Zeitschrift De Kunst, N. H. Wolf, bemühte sich in besonderer Weise, die Mahler-Konzerte ausführlich zu würdigen. Auch er konnte sich rühmen, der Generalprobe am 1. Oktober beigewohnt zu haben. Es gelang ihm, am Tage des letzten Konzerts zu Mahler selbst vorzudringen und ihn im Hause Mengelberg zu fotografieren’”°. In seinem Bericht”° spricht er von dem enormen Beifall des Publikums für die 7. Symphonie, obwohl auch während der letzten Aufführung wieder nach jedem Satz einige Hörer den Saal verließen. Wolf hatte die Idee, gleich nach der ersten Aufführung die anwesenden holländischen Komponisten (Alphons Diepenbrock, Julius Röntgen, Dirk Schäfer, Johan Wagenaar und Bernard Zweers) zu bitten, ihm ihre Eindrücke schriftlich zu übermitteln. Diepenbrock beschränkt sich auf die Mitteilung, daß er Mahler schon seit vielen Jahren als den größten und universellsten Tondichter dieser Zeit betrachte. Röntgen zeigt sich völlig begeistert, spricht von ehrlicher, absoluter Musik und rühmt namentlich den Orchesterklang. Dirk Schäfer dagegen hat nur Nachempfundenes gehört; ungleichwertig, stillos, 72 De Amsterdammer, 17. 10. 1909

”® Algemeen Handelsblad, 9. 10. 1909 ”+ Weekblad voor Muziek, 9. 10. 1909 ”s vgl. Alfred Roller: Die Bildnisse von Gustav Mahler, Leipzig-Wien 1922, Nr. 62 7° De Kunst, 9. 10. 1909

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Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

banal, sentimental (ein verwässerter Schubert!), eintönig vor Vieltönigkeit — das seien die Eindrücke, die seine Bewunderung für Mahlers technisches Können ganz überschattet hätten. Johan Wagenaar gibt seiner Überzeugung Ausdruck, daß man es hier mit einem Meisterwerk eines der genialsten Komponisten seiner Zeit zu tun habe. Bernard Zweers dagegen nennt die Umfrage nutzlos, denn nur die Zeit, ohne Leidenschaft für und wider, wird erweisen können, ob Mahler ein großer Tondichter genannt werden darf. — Ebenso hat Wolf ein paar Orchester-Mitglieder befragt: den Solo-Kontrabassisten Samuel Blazer, den Solo-Cellisten Gerard Hekking und den Bratschisten Herman Meerloo. Auch sie sprechen mit größtem Respekt über den Komponisten und Dirigenten Mahler, dessen geniale Orchestrierungskunst und fabelhaftes Gehör vor allem gerühmt werden.

x Die Erinnerung an dieses große Ereignis blieb noch lange lebendig. Auch als Mengelberg im Februar und März 1910 die Siebente in mehreren Konzerten wiederholte (nachdem die Symphonie kurz zuvor in Frankfurt ausgezischt worden war), bezog man sich oft wieder auf die Erstaufführung unter Mahler und stellte dabei ohne Chauvinismus fest, daß Mengelbergs Interpretation keineswegs hinter derjenigen Mahlers zurückstünde. Nur der neue Rezensent von De Tijd, v.d.M.[eulen] — er sollte sich bald unter dem Namen Matthijs Vermeulen zu einem der meistgelesenen und meistumstrittenen Kritiker Hollands entwickeln, dessen sprachgewaltige Schriften jetzt der Literaturgeschichte angehören — lehnte Mengelbergs Interpretation ab, weil er zuviel Nachdruck auf interessante Details und instrumentale Effekte lege; diese Veräußerlichung sei völlig falsch, denn es fehle Mahler ohnehin schon an Innerlichkeit und Konzentration; er ist schon barock, er ist schon banal,

er betreibt schon Effekthascherei, er foltert den Hörer schon durch sein sinnloses Spielen mit Stimmungen. Dies alles bedarf keines besonderen Nachdrucks’’. — Die verschiedenen Standpunkte gegenüber Mahlers Musik hatten sich allmählich gefestigt, und so trifft man in den maßgebenden Kritiken eigentlich hauptsächlich Wiederholungen von früher geäußerten Meinungen an, wobei die Frage zentrale Stellung einnimmt, ob es sich bei Mahler um „absolute“ oder um „Programmusik“ handele. Nur Daniel de Lange war von seiner anfänglichen Begeisterung abgekommen; für ihn war bei wiederholtem Hören die effektvolle Mache auf Kosten des Gefühls zu sehr in den Vordergrund getreten”®. (Übrigens

ist bezeichnend, daß neu angestellte Kritiker, die Mahlers Symphonie zum erstenmal hörten, überwiegend negative Aspekte in dieser Musik wahrzunehmen schienen.) Einige Wochen später bekam man in Amsterdam Gelegenheit, sich Mahlers 4. Symphonie wieder einmal anzuhören. Alphons Diepenbrock war wie vor zwei Jahren eingeladen worden, Mengelberg zu vertreten, der im Ausland zu dirigieren hatte. Ebenso wie damals wählte Diepenbrock die 4. Symphonie, die für ihn den Höhepunkt der ganzen damaligen modernen Musik darstellte. Er revidierte dazu seine 1908 erschienen Erläuterung, mit der er die Aufnahmefähigkeit des Publikums (und vielleicht auch der Kritiker) bestimmt gefördert hat. Zwar war in den meisten Rezensionen die Aufmerksamkeit vor allem auf Diepenbrocks eigene Kompositionen gerichtet, die nach der Pause dargeboten wurden, doch auch seine Wiedergabe von Mahlers Werk wurde freundlich aufgenommen; nur Daniel de Lange wußte im voraus, daß diese Aufführung nicht das Niveau erreichen würde, das man im Concertgebouw gewohnt war””. Aus der Lektüre dieser Kritiken kann man 7” De Tijd, 11. 3. 1910

78 Het Nieuws van den Dag, 11. 3. 1910 7 Het Nieuws van den Dag, 15. 4. 1910

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Eduard Reeser

den Eindruck gewinnen, daß die 4. Symphonie Mahlers jetzt bereits fast allgemein als Repertoirestück angesehen wird, das keines Werturteils mehr bedarf. Lediglich „v.d.M.“ (Vermeulen) sieht sich genötigt, anhand von Diepenbrocks Programmerläuterung in De Tijd kritisch auf das Werk einzugehen®”. Auch die Wiederholung der 1. Symphonie im Februar 1911 unter Mengelberg fand in der Presse kaum mehr Beachtung als irgendein anderes Standardwerk; immerhin wußte Caecilia zu berichten®!, daß Mengelberg die ursprüngliche Programmfolge — vor der Pause sollte die „Italienische Sinfonie“ von Mendelssohn gespielt werden — im letzten Augenblick geändert hatte, wodurch die Konzertbesucher, die nur wegen Mendelssohn gekommen waren, gezwungen wurden, sich zuerst die Symphonie von Mahler anzuhören. Wiederum war es nur der junge Vermeulen (er hörte das Werk vermutlich zum erstenmal), der in De Tijd mit einer ausführlichen Betrachtung über den „Inhalt“ dieser Musik aufwartete; er

spürt, daß alle vier Sätze vom Anfang bis zum Ende beherrscht werden von dem QuartIntervall, das wie ein Naturlaut den Keim aller nachfolgenden Motive bildet, und findet in

der Symphonie zahlreiche Stellen von leidenschaftlicher Schönheit und visionärer Kraft, namentlich da, wo Mahler mit einfachen Mittel arbeitet®*. XI

Mahlers früher Tod hat seine holländischen Freunde und Bewunderer gewiß nicht weniger erschüttert als seinen Wiener Kreis. Viele Zeitungen gaben ihren Lesern täglich Nachricht vom Verlauf der tödlichen Krankheit, und auch Mahlers Leichenbegängnis wurde ausführlich geschildert, insbesondere in der Nieuwe Rotterdamsche Courant, deren Wiener Korrespondent G. J. Rive zusammen mit den Vertretern des Concertgebouw und der Maatschappij tot bevordering der Toonkunst (H. de Booy und Dr. Alphons Diepenbrock) die holländische Mahler-Gemeinde repräsentierte®®. Es gab in Holland wohl kaum eine Zeitung, die nicht einen Nekrolog enthielt, in dem Mahlers Lebenslauf bis ins Detail geschildert, seine Bedeutung als Dirigent und sein kompositorisches Schaffen gewürdigt wurden; mit Stolz und Dankbarkeit fand das wiederholte Auftreten Mahlers in Amsterdam Erwähnung, und im Angesicht des Todes schien sich die Feindseligkeit, mit der etliche Musikschriftsteller Mahlers Musik gegenübergestanden hatten, wenigstens in Respekt zu verwandeln, soweit Liebe und Verehrung noch nicht durchbrechen konnten. Was dem lebenden Dirigenten nicht gelungen war: seine Musik beim Publikum widerstandslos durchzusetzen, blieb dem toten Komponisten vorbehalten. Die holländische Mahler-Pflege, von Mengelberg in Gang gebracht, geriet in den nächsten Jahren vollends in eine Stromschnelle. Nur noch einzelne, meist ältere Konzertbesucher zeigten sich nach wie vor als verstockte Gegner, wie es z.B. deutlich wird aus dem folgenden Brief, den der angesehene Amsterdamer Rechtsgelehrte und Musikliebhaber J. A. Levy am 10. April 1918 an den Vorstand des Concertgebouw richtete:

M. H. Es kann weder Ihnen noch Herrn Mengelberg unbekannt sein, daß ich der einzige nicht bin, der die „Musik“

scheut.



des persönlich

verächtlichen

Mahler

verab-

Schon ist dadurch das Caecilia-Konzert verdorben worden und jetzt

®° De Tijd, 18. 4. 1910 ®: Caecilia, Jg. LXVII (1911) S. 122-123 ©

2 De Tijd, 7.2.1911

°° vgl. Eduard Reeser: Gustav Mahler und Holland Gesellschaft), Wien 1980, S. 34— 35

100



Briefe (Bibliothek der Internationalen Gustav Mahler

Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911 Te en ee er I IORANER INN

wiederum das Pensionskonzert (das ich darum nicht besuchen werde). — Mahler neben Beethoven ist eine Entheiligung. Wenn das so weitergeht, vertreibt man uns aus dem Concertgebouw.** Zwei Jahre später fand im gedrängt vollen Concertgebouw das erste große Mahler-Fest Statt.

Die Mahler-Aufführungen in Holland 1903 — 1911 Abkürzungen:

17.10.1903

AOV BPO co RO USO EA

Arnheimer Orchester-Verein Berliner Philharmonisches Orchester Concertgebouw-Orchester Residentie-Orchester Utrechter Städtisches Orchester Erstaufführung in Holland

Arnheim

3. Symphonie (EA)

AOV und USO

Dirigent: Martin $. Heuckeroth Alt-Solo: Pauline de Haan-Manifarges

3

22.10.1903

Amsterdam co

3. Symphonie Dirigent: Gustav Mahler Alt-Solo: Hermine Kittel

23.10.1903

Amsterdam co

3. Symphonie Dirigent: Gustav Mahler

25.10.1903

Amsterdam co

1. Symphonie (EA) Dirigent: Gustav Mahler

31. 1.1904

Den Haag co

1. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

3. 2.1904

Den Haag co

1. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

10. 2.1904

Amsterdam co

1. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

11. 2.1904

Amsterdam co

1. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

23.10.1904

Amsterdam co

4. Symphonie (EA) Im gleichen Programm wiederholt. Dirigent: Gustav Mahler Sopran-Solo: Alida Oldenboom-Lütkemann

26.10.1904

Amsterdam co Toonkunst-Chor

2. Symphonie (EA) Dirigent: Gustav Mahler

Amsterdam co Toonkunst-Chor

2. Symphonie Dirigent: Gustav Mahler

Alt-Solo: Hermine Kittel

27.10.1904

Sopran-Solo: Alida Oldenboom-Lütkemann Alt-Solo: Martha Stapelfeldt

Sopran-Solo: Alida Oldenboom-Lütkemann Alt-Solo: Martha Stapelfeldt

#+ Faksimile bei E. Bysterus Heemskerk: Rondom Willem Mengelberg, Amsterdam 1971, S. 60

101

Eduard Reeser

je

15: 2.1905

Den Haag

co 16. 2.1905

Amsterdam:

co Scheveningen

30.

BPO

Den Haag

RO 3.1906

Amsterdam co

4. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg Sopran-Solo: Alida Oldenboom-Lütkemann 4. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg Sopran-Solo: Alida Oldenboom-Lütkemann 5. Symphonie (EA) Dirigent: August Scharrer

4. Symphonie Dirigent: Henri Viotta Sopran-Solo: Johanna van Linden van den Heuvell 5. Symphonie Kindertotenlieder (EA) Ich bin der Welt abhanden gekommen (EA)

Dirigent: Gustav Mahler Bariton: Gerard Zalsman 10. 3.1906

Amsterdam

co Toonkunst-Chor

Das klagende Lied (EA) Dirigent: Gustav Mahler Solisten: Dina Mahlendorf, Sopran Lucie Koenen, Sopran

Maria Philippi, Alt Albert Jungblut, Tenor 11. 3.1906

. 3.1906

Amsterdam co Toonkunst-Chor

Das klagende Lied Dirigent: Willem Mengelberg Solisten: wie am 10. 3. 1906

Rotterdam

5. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

co . 3.1906

Den Haag

co . 3.1906

5. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

co

5. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

. 3.1906

Haarlem co

5. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

23.1906

Amsterdam co

5. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

3.1906

Amsterdam co

5. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

4.1906

Amsterdam

Adagietto aus der 5. Symphonie Kindertotenlieder Dirigent: Willem Mengelberg Bariton: Gerard Zalsman

Arnheim

co

24. 1.1907

Amsterdam co

26. 3.1908

2.10.1909

Amsterdam co

4. Symphonie Dirigent: Alphons Diepenbrock Sopran-Solo: Johanna van Linden van den Heuvell

Den Haag

7. Symphonie (EA) Dirigent: Gustav Mahler

co 3.10.1909

Amsterdam

co

102

1. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

7. Symphonie Dirigent: Gustav Mahler

Die Mahler-Rezeption in Holland 1903 — 1911

7.10.1909

Amsterdam co

7. Symphonie Dirigent: Gustav Mahler

27: 2.1910

Amsterdam

7. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

co 3.1910

Arnheim

co 3.1910 3,1910 12 3.1910

7. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

co

7. Symphonie (nur IV. Satz) Dirigent: Willem Mengelberg

Amsterdam co

7. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

Den Haag

7. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

Haarlem

co 14. 4.1910

Amsterdam co

4. Symphonie Dirigent: Alphons Diepenbrock Sopran-Solo: Aaltje Noordewier-Reddingius

2.1911

Amsterdam

1. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

co

2.1911

3.1911

co

Kindertotenlieder Dirigent: Cornelis Dopper Alt: Anke Schierbeek

Amsterdam co

1. Symphonie Dirigent: Willem Mengelberg

Amsterdam

103

Gösta Neuwirth

Zur Geschichte der 4. Symphonie In der Bibliothek des Grazer Landeskonservatoriums befindet sich eine gedruckte Partitur der Symphonie |in |G Dur N’ 4| von | Gustav Mahler; sie kam im Jahr 1946 mit anderen Archivalien, Büchern und Noten aus dem Besitz des Steiermärkischen Musikvereins Graz in die Bibliothek des als Nachfolgerin der ehemaligen Vereinsschule weitergeführten Steiermärkischen Landeskonservatoriums. Die Partitur enthält neben den Stempeln des Musikvereins und des Landeskonservatoriums viele handschriftliche Eintragungen: daß es mit diesen eine merkwürdige Bewandtnis hat, ist zuerst meinen Schülern aufgefallen; das freut mich besonders. Zum einen mit blauem Stift, zum andern mit Bleistift, haben Dirigenten, die die Partitur für Aufführungen benutzten, markiert und hervorgehoben, was ihnen wichtig schien, ohne die musikalische Substanz und die Vorschriften der Partitur zu verändern. Eine dritte Art von mit roter Tinte geschriebenen Eintragungen zielt jedoch schon auf der ersten Seite und dann weiter durch die ganze Partitur nicht unmittelbar auf die dirigentische Praxis; sie stammen von Mahlers eigener Hand. Die Werkgeschichte der 4. Symphonie ist, wie die der anderen Symphonien Mahlers, eine fortdauernder Revisionen. Die Grazer Partitur ist die 1902 bei Doblinger in Wien erschienene Erstausgabe. Ein Jahr zuvor, am 25. November 1901, hatte Mahler in München die Uraufführung und anschließend Aufführungen in Berlin und Wien dirigiert. Die Reaktionen waren so, daß Mahler in einem Brief am 12.September 1903 das Werk ein verfolgtes Stiefkind nannte!. Auch am 23. Oktober 1904 dirigierte er selbst: Willem Mengelberg hatte das Concertgebouw-Orchester vorbereitet, und die Symphonie wurde an diesem Abend in Amsterdam zweimal gespielt; wie Klaus Kropfinger? darlegt, hat Mahler für diese Gelegenheit die Partitur gründlich revidiert. Dem Erstdruck folgte — ohne Jahreszahl — eine Studienausgabe der Partitur in gr. 8°. Im Katalog der Düsseldorfer Mahler-Ausstellung hat udolf Stephan diese Edition auf das Jahr 1905 datiert’. Die Verlagsbezeichnung auf dem Titelblatt lautet: Wien | Ludwig Doblinger | (Bernhard Herzmansky) | und darunter, abgesetzt: In die Universal-Edition aufgenommen [...] Dieselbe Ausgabe, die mit geänderter Verlagsangabe Universal-Edition | Aktiengesellschaft | Wien-Leipzig. Pl.Nr.U.E. 952 erschien, hat Stephan mit (ca. 1906) chronologisch eingeordnet. Die Studienpartitur kann durch eine Wiener Quelle genauer datiert werden: die Musikliterarischen Blätter, eine Illustrierte Monatsschrift, enthalten im 1. Heft ihres IV. Jahrgangs, das in Wien, 31. Jänner 1907 erschien, einen Aufsatz Die Universal-Edition und ihre Gründer von Adolf Neumann, der die präzise Angabe enthält: das Verlagsjahr 1906 brachte noch |...) Gustav Mahlers Sinfonien I-IV in vierhändigem Klavierarrangement (Part. im Taschenformat). Bei der Ausgabe der Part[itur] im Taschenformat, die 1906 erschien, handelt es sich, das macht der Artikel deutlich, um die Studienpartitur der Universal-Edition, die damals noch kein selbständiges Unternehmen war, sondern eine von den großen Wiener Verlegern Weinberger, Herzmansky (Doblinger) und Robitschek gegründete Aktiengesellschaft, in die von 1 Gustav Mahler: Briefe 1879-1911, hg. von Alma Maria Mahler, Wien 1924, S. 317; vgl auch: Rudolf Stepahn:

Gustav Mahler, IV. Symphonie G-Dur, München 1966, 5. 36 2 Klaus Kropfinger: Mengelbergs Interpretation von Mahlers Vierter Symphonie, Referat auf dem Mahler-Symposion . in Düsseldorf (31. Okt. 1949) vgl. S. 111ff. 3 Rudolf Stephan: Gustav Mahler, Werk und Interpretation, Autographe

— Partituren

— Dokumente, Köln 1979,

S. 67 (Nr. 33/Il)

105

za

Gösta Neuwirth

den einzelnen Verlegern bestimmte Werke eingebracht wurden. Erst später — wohl nach 1906 — wurde das Unternehmen von den Verlagen der Gründer unabhängig und auf der Mahlerschen Partitur verschwand der Hinweis auf die ursprünglichen Verlagsinhaber ebenso, wie sie eine neue Plattennummer erhielt. Im Sommer 1910, als ein Generalvertrag

= nun selbständigen — Universal-Edition zustande mit der s über die WerkeMahler

gekommen war, wurde ein Neudruck der Partitur mit einer Korrektur auf Bürstenabzügen der alten Platten begonnen, und noch kurz vor seinem Tod im Mai 1911 war Mahler mit der Revision der Symphonie beschäftigt. In die Lücke zwischen der Erstausgabe von 1902 und der Studienpartitur von 1906 kann nun die Grazer Partitur eingeordnet werden: sie wurde von Mahler im Sommer 1905 für die Aufführung der 4. Symphonie in Graz unter dem Dirigenten Richard Wickenhaus(s)er* eingerichtet. Ihre Geschichte wirft zugleich Licht auf ein bisher kaum bekanntes Kapitel der lokalen Musikgeschichte, nämlich die Aufführungen und die Rezeption der Musik Mahlers in Graz zu Beginn des Jahrhunderts. Am Anfang stand eine Aufführung der 1. Symphonie im Jahr 1899 durch Martin Spörr, die aber, nach dem Bericht Ernst Decseys in der Grazer Zeitung Tagespost vom 5. November 1905, kaum zu zählen ist, weil sie sozusagen mit Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand. Damals wurde übrigens recht lebhaft gezischt. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit Mahlers Musik begann erst durch einen Anstoß von außen, als das „41. Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins“ in Graz abgehalten wurde. Dabei dirigierte Mahler am 1. Juni 1905 im Stephaniensaal eine Aufführung von 13 Orchesterliedern mit Solisten der Wiener Hofoper, die mit Enthusiasmus aufgenommen wurde. Das Tonkünstlerfest und die von Mahler geleitete Aufführung waren ein Ereignis, das Graz — wenigstens für einige Tage — in den Mittelpunkt des deutschen Musiklebens rückte: daß diese Hervorhebung damals durchaus politisch — im Sinn so bürgerlicher wie deutsch-nationaler Manifestation — verstanden wurde, zeigen die im Grazer Tagblatt vom 1. Juni 1905 abgedruckten Reden der örtlichen Repräsentanten und der Industriellen, die das Tonkünstlerfest finanzierten. Die publizistische Vorbereitung begann ein halbes Jahr vorher, als im Morgenblatt der Grazer Tagespost vom 8. Januar 1905 eine Artikelfolge Meister des Taktstocks von dem damals noch ganz jungen Paul Bekker mit einem Aufsatz über Richard Strauss eröffnet wurde. Am 7. März 1905 erschien am selben Ort als dritter Teil der Reihe ein Feuilleton Bekkers über Gustav Mahler, das wohl die früheste publizistische Auseinandersetzung des später so einflußreichen Kritikers und Autors mit Person und Musik Mahlers darstellt. Maahlers Lieder hatten Erfolg bei einem repräsentativen Publikum, aus dem ein Kritiker Guido Adler, Max

Reger und andere Zelebritäten hervorhob°,

und Mahler

setze sein

Prestige als Direktor der Wiener Hofoper für diesen Erfolg ein, indem er selbst eine Aufführung dirigierte, bei der die ersten Sänger der Hofoper, Weidemann, Moser, Schrödter und Schmedes auf dem Podium standen. Dies alles wirkte als Voraussetzung dafür zusammen, daß schon für das erste Orchesterkonzert der nächsten Saison am 3. November 1905 Mahlers 4. Symphonie aufs Programm gesetzt werden konnte. Der Schlüssel für diese schnelle Reaktion ist die Person des künstlerischen Direktors des Musikvereins, Richard

Wickenhauser.

* In den älteren Quellen heißt es stets Wickenhausser, später Wickenhauser. ° Richard Strauss sollte Heldenleben dirigieren, sagte aber wegen seines Vaters Tod am 31. Mai 1905 ab.

106

Zur Geschichte der 4. Symphonie Tr Te en RERtISYINPNONIE

Wickenhauser, im mährischen Brünn 1867, sieben Jahre nach Mahler geboren und wie

dieser aus dem Norden der Monarchie nach Wien gekommen, hatte dort am Konservato-

rium der Musikfreunde bei Robert Fuchs, der auch Mahlers Lehrer gewesen war, studiert. Seit 1902 war er künstlerischer Direktor des Musikvereins in Graz. In einer Situation,

die den Musikverein als bürgerliche Musikgesellschaft® gegenüber anderen musikalischen Bestrebungen immer mehr im Hintertreffen sah, versuchte Wickenhauser dieser Institution wieder Prestige zurückzugewinnen. In den Jahren nach 1900 hatten die wesentlichen Ereignisse des Grazer Musiklebens außerhalb des Musikvereins stattgefunden, und auch beim Anschluß an die internationale Moderne, die sich etwa 1905 in der Veranstaltung des Tonkünstlerfestes niederschlug, stand der Musikverein beiseite. Hier sah Wickenhauser offenbar eine Chance. Es ist gut möglich, daß er Mahler noch aus Wien kannte; jedenfalls hat er während Mahlers Anwesenheit in Graz den Kontakt hergestellt — er bereitete das aus den Mitgliedern des Opernorchesters und aus den Lehrern und besseren Schülern der Musikschule [des Musikvereins] zusammengesetzte’” Orchester vor — und den Komponisten dazu bewogen, die Aufführung der 4. Symphonie nach Graz zu vergeben. Das schloß durchaus ein Risiko ein, hatte sich das Werk doch zu diesem Zeitpunkt keineswegs durchgesetzt. Am 1.November 1905 wies die Tagespost auf die bevorstehende Erstaufführung der Symphonie mit einem Artikel hin, der in der Hauptsache Bruno Walters „unter Vorbehalt“ gegebene programmatische Erklärungen des Werks aus der Zeitschrift Die Musik referiert. Zugleich wird jedoch Mahler zitiert, daß er unter keiner Bedingung irgendwelche thematische Analyse wünscht, weswegen zu diesem Konzerte der übliche Führer nicht erscheint. Am 3. November, dem Tag des Konzerts, bei dem außer Mahlers Symphonie noch Beethovens Coriolan-Ouverture und drei Lieder Wagners gespielt wurden, erschien in derselben Zeitung ein längerer Aufsatz Ernst Decseys Gustav Mahler. Der Grazer Kritiker und Julius WeisOstborn, der seit 1905 im Ausschuß des Musikvereins tätig war und zwischen 1911 und 1914 alle wichtigen Mahler-Aufführungen in Graz dirigierte, hatten Mahler im Sommer in Maiernigg besucht. Die Reaktion des Publikums und der Kritik auf die Novität (am 4. November im Grazer Tagblatt, am 5. November in der Tagespost) ist insgesamt durchaus positiv. Decsey vergleicht die Symphonie als ein Werk des fröhlichen Lebens mit der Achten Beethovens. Vielleicht ist Mahler der reichstbegabte unter allen lebenden Musikern, sicher der stärkste Melodiker [...] das Werk |[...] wird zwar von Kolossalgebilden wie einer Brucknerschen Sinfonie überragt, wird aber schwer in der modernen Literatur ihresgleichen inden.

j Wickenhauser erzielte einen großen persönlichen Erfolg, zugleich scheint er aber damit

Behinderungen herausgefordert zu haben, die das Ende einer kulturpolitischen Öffnung bedeuteten. Deren weiteste Entwicklung darf man in der Premiere der Salome im Mai 1906 sehen; als Wickenhauser im selben Frühling die 3. Symphonie Mahlers zum ersten Mal in Graz aufführte, war dies nur außerhalb des Musikvereins möglich. Bald darauf resignierte Wickenhauser und kehrte nach Wien zurück. Als Weis-Ostborn Jahre später, 1911, wieder eine Symphonie Mahlers in Graz dirigierte, war es die 4., danach die 2. Symphonie, also schon ein Blick zurück. Mahler hat sich für die Aufführung seiner vierten Symphonie in Graz sehr interessiert und hat die Partitur, aus der Herr Direktor Wickenhauser dirigierte, mit vielen wichtigen

Anmerkungen über dynamische und rhythmische Eigentümlichkeiten versehen, die zum * Harald Kaufmann: Eine bürgerliche Musikgesellschaft. 7 Grazer Tagblatt vom 4. November 1905

150 Jahre Musikverein für Steiermark, Graz 1965, S. 46f.

107

Gösta Neuwirth

Teil die ursprünglichen Vorschriften abänderten, heißt es in der Rezension des Grazer Tagblatts vom 4. November 1905 (leider hat sich der in einer anderen Grazer Zeitung erwähnte Briefwechsel Mahlers mit Wickenhauser bis jetzt nicht auffinden lassen). Bei der gründlichen Revision der Partitur und _d llständigen Orchestermaterials, die Mahler nenne eukannman SE — nicht nur die Grazer Aufführung, sondern auch das (im nächsten Jahr realisierte) Projekt der Studienpartitur im Auge, ist doch die Partitur nicht nur für den Interpreten, sondern auch — so scheint

es — für den Stecher korrigiert. Viele Korrekturen - sie betreffen alle Bereiche des Werkes,

_Tempovorschriften, Dynamik, Agogik und Notentext — werden auch am Rand angezeigt; Mahler bringt sehr sorgfältig mit roter Tinte Partitur und Orchestermaterial auf den letzten Stand seiner kompositorischen Auffassung. Die Eintragungen in die Grazer Partitur nehmen zum größten Teil die Version der Studienpartitur vorweg; trotzdem ist es unwahrscheinlich, daß sie Mahler bei der Revision als Vorlage diente, blieb sie doch mit großer Gewißheit nach der Aufführung in Graz, wo sie zusammen mit dem Orchestermaterial bei allen späteren Aufführungen bis zum Jahre 1935 benutzt wurde. Einige Differenzen zwischen der Einrichtung des Sommers 1905 und der Suudienpartiur, die 1906 veröffentlicht wurde, deuten noch einen Schritt der Revision an:

sr

EA 1902, pag. 17,1. Satz, £ Takte nach [11: Flöte 1-4 Schalltrichter auf >

4

I)

Oboe

|

In der EA ist die auftaktige Figur der 1. Oboe allein zugeteilt, dann kommen im 2. Takt die anderen Oboen hinzu.

108

Zur Geschichte der 4. Symphonie

Revision 1905:

1 2 Flöte

3 4

1 Oboe

1905 verändert Mahler den Klang durch Aufteilung der Passage auf Flöten und Oboen; der Zeitverlauf bleibt innerhalb der Klanggruppen homogen.

Studienpartitur (1906):

1 >: Flöte

3 4

1 Oboe 2

In der Studienpartitur greift Mahler in die Zeitstruktur ein: die Flötenfigur wird verkürzt und akzentuiert nur noch den Auftakt; in der korrespondierenden 1. Oboe steht statt des einfachen ff ein cresc. zum f; die 1905 hinzugekommene 2. Oboe erhält Akzente wie die 1. Oboe, das decresc. im 2. Takt wird durch die Verkürzung der Note realisiert.

109

Gösta Neuwirth

Die Grazer Partitur bedeutet in der Werk-Geschichte von Mahlers 4. Symphonie nur einen,

wenn auch entscheidend zusammenfassenden Schritt. Als Denkmal lokaler Musikgeschichte verweist sie aber auf die Veränderung der Beziehungen zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und den in ihrem Bereich hervorgebrachten Kunstwerken: als Mahlers 4. Symphonie im November 1905 in Graz mit größtem Interesse |...) der erste und letzte Satz sogar mit außerordentlicher Wärme aufgenommen wurde?, vollendete der Komponist gerade seine 7. Symphonie; die 5. Symphonie wurde in Graz erst 1924 aufgeführt, die 6. und 7. vollständig nach dem Jahr 1945. Das Bürgertum, das die Moderne, wie sie Mahler in der 4. Symphonie artikuliert hatte, noch akzeptierte, wandte sich wenig später im Zeichen der am Horizont stehenden politischen und ökonomischen Krisen rückwärtigem Zeitvertreib zu; daß unsichtig Wetter nah sei, war unerwünschte Kunde.

® ebenda

110

Klaus Kropfinger

Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation! I

Im Gedenkboek Mengelberg, mit dem man 1920 bereits den Dirigenten, Pädagogen und Pianisten, die künstlerische und menschliche Persönlichkeit Willem Mengelbergs feierte,

gedachte man auch des Mahlerinterpreten. Es war Alma Maria Mahler, die eine Laudatio mit besonderem Akzent beisteuerte: Als ich Dir, mein verehrter und lieber Freund Mengelberg, vor zwei Jahren in Wien die Manuskript-Partitur der VII. Symphonie von Gustav Mahler überreichte, hatte ich das Gefühl, der Verewigte wäre mit diesem Danke an Dich einverstanden gewesen. Der Widmung will ich nun einige Worte hinzufügen. Du warst nicht nur einer der ersten, der Gustav Mahler’s damals so angefeindete Kunst verstand — Du warst der Erste, der sich ohne Grenzen für sie eingesetzt hat. Er hat immer in Dir seinen nahen Freund, seinen unvergleichlichen Interpreten und mehr noch die starke, selbständige Künstler- und Menschenseele gesehen und

geliebt. Mochte er, der nur die höchsten Kriterien kannte, an allem, was vollkommen schien nicht Genüge finden, sprach er aber von Dir, so war in seinen Worten niemals Kritik und immer höchste Bewunderung. Einmal nach einer Aufführung seiner IV. Symphonie durch Dich, bei der er anwesend war, sagte er: „Mir war, als ob ich selber oben gestanden wäre.“

Diese Zeilen und zahlreiche andere Zeugnisse über die Beziehung zwischen Willem Mengelberg und Gustav Mahler machen deutlich, daß wir es hier mit Äußerungen zu tun haben, die längst legendengleich die Zeiten überdauern. Durch den Rang des Mitteilenden wie durch die besondere Qualität des Mitgeteilten wurden sie zum beglaubigten Zeugnis des Vergangenen. Doch wie steht es um die eigentlichen Dokumente, die Klangerzeugnisse des nachschaffenden Dirigenten? 1

vn

Die Druckfassung des Vortrags geht nach Umfang und Inhalt über die gesprochene Version hinaus. Ermöglicht, ja notwendig wurde die Umarbeitung, nachdem die verschollene Dirigierpartitur Mengelbergs wieder aufgetaucht war. Hilfe und Unterstützung erhielt ich bei der Suche durch Fräulein E. Bysterus Heemskerk im ehemaligen Mengelberg-Archiv, Amsterdam, wie auch von Herrn Eduard Reeser, Bilthoven. Die jetzt im Gemeentemuseum Den Haag liegende Partitur machte mir Herr D. van der Hul durch Mikrofilm und für Studien am Original zugänglich, Herr John Valk half bei der Entzifferung und Übersetzung der zum Teil holländischen Eintragungen. Ihnen allen sei ebenso gedankt wie Herrn Rudolf Stephan, Freie Universität Berlin, und Frau Elly J. G. Zwarts, Concertgebouw Amsterdam, für die Beschaffung der Schallplatteneinspielung. Herzlich danke ich Helga von Kügelgen für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Willem Mengelberg — Gedenkboek. 1895 — 1920, ’s-Gravenhage 1920, S. 109. Aufschlußreich für das von Mahlers Frau auf ihre Weise fortgesetzte Verhältnis des Komponisten zu seinem Interpreten ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie Mengelberg Retuschen in der X. Symphonie konzedierte. In einem Brief vom 10. November 1924 heißt es dazu: Das was Du machst wird eben Befehl und Tradition für alle anderen Dirigenten der Erde werden. Nur Du hast das Recht dazu [...] (vgl. Gustav Mahler. Werk und Interpretation. Autographe — Partituren — Dokumente, zusammengestellt und kommentiert von Rudolf Stephan, Köln 1979, S. 91). Daß in Alma Mahlers

Worten gleichwohl die außerordentliche Hochachtung Mahlers für Mengelbergs interpretatorische Leistung nachschwingt, dürfte außer Frage stehen.

111

Klaus Kropfinger

Der Bestand dessen, was mit Hilfe der Schallplatte an Mahleraufführungen Mengelbergs hinübergerettet wurde, ist äußerst karg. Lediglich die 4. Symphonie und das Adagietto der 5. Symphonie liegen als Klangdokument vor?. Gerade deswegen aber ist es sinnvoll, von der einzigen Gesamtaufnahme der Vierten unter Mengelberg ausgehend, die Frage zu verfolgen, welche Charakteristika die Mahlerinterpretation des Dirigenten prägen. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß der klangliche Eindruck immer des kritischen Korrektivs, der Überprüfung anhand der Partitur bedarf. Das gilt in verstärktem Maße für die in Frage stehende Aufnahme der Vierten, die nicht nur wegen zeitbedingter klanglicher Mängel, sondern vor allem wegen des Interpretationsstils erheblich vom gängigen Hörbild abweicht. Dieser Sachverhalt ist bisher kaum mehr als marginal kommentiert worden‘. Man hat Mengelbergs Auffassung als eher romantisch derjenigen Bruno Walters gegenübergestellt, der ein eher klassizistischer Zuschnitt bescheinigt wird°. Doch wird damit weder zur Charakterisierung Mengelbergs Entscheidendes gesagt, noch die Frage nach der Triftigkeit seiner Interpretation überhaupt auch nur gestellt. Das gilt auch für Bruno Walter. Welches sind die entscheidenden Elemente seiner Auffassung, worin unterscheidet sich diese von derjenigen Mengelbergs? Gibt es eine authentische Tradition der Mahlerinterpretation und wer repräsentiert sie? Mengelbergs Dirigierpartituren bergen Mahlertradition. Gilt dieser Satz für die Partitur der 9. Symphonie, deren Eintragungen erst in die Zeit nach Mahlers Tod fallen‘, so in erhöhtem Maße für die der 4. Symphonie mit der Fülle ihrer Notizen und Interpretationsanmerkungen, die praktisch unter den Augen Mahlers vorgenommen wurden. Die Geschichte dieser Partitur ist mit dem freundschaftlich-künstlerischen Austausch zwischen Mahler und Mengelberg verflochten. Mengelbergs erster Kontakt mit Mahlers Werk datiert ins Jahr 1902. Die Krefelder Uraufführung der 3. Symphonie am 9. Juni wurde zum prägenden Erlebnis’. Bereits am 22. und 23. Oktober 1903 konnte Mahler in Amsterdam mit dem Concertgebouw-Orchester, das Mengelberg seit 1895 leitete, seine 3. Symphonie aufführen. Es waren Konzerte, die Mengelberg durch intensive Probenarbeit vorbereitete und denen weitere folgten®. Voraussetzung für Mengelbergs Vorbereitungen war eine möglichst genaue Kenntnis der authentischen Werkgestalt. So übersandte Mahler für die erste Aufführung seiner 4. Symphonie in Amsterdam (23. Oktober 1904) Mengelberg am 13. Oktober 1904 ein Exemplar der Partitur, in das mit rother Dinte oder Bleistift einige Correkturen eingetragen waren”. Im selben Brief bat Mahler, den Solo-violinpart in Nro II in gewöhnliche Stimung umschreiben zu lassen, da es ihm darum ging, diesen Violinpart

w

»

vgl. hierzu: The Recordings of Willem Mengelberg. A Discography compiled by R.H. Hardie, Vanderbilt University, Nashville, Tennessee 1972. Die Aufnahme der 4. Symphonie gibt ein Konzert vom 9. November 1939 wieder. Eine Ausnahme ist Peter Andraschkes Monographie über Mahlers IX. Symphonie, wo in einem Exkurs die exemplarische Bedeutung von Mengelbergs Mahler-Interpretation gewürdigt wird, ausgehend von Willem Mengelbergs Eintragungen in seine Dirigierpartitur von Mahlers IX. Symphonie (vgl. Peter Andraschke: Gustav Mahlers IX. en Kompositionsprozeß und Analyse, Wiesbaden 1976 [Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft

14], S. 80ff.).

[7

so bei Jean Matter: Mahler, Lausanne 1974, S. 394

a

dazu Andraschke: Die Eintragungen Mengelbergs in die Paritur der IX. Symphonie sind zwar erst nach Mahlers Tod vorgenommen worden [...], doch sind sie in ihrer Bedeutung für die Interpretation dieses Werkes im Sinne

S

vgl. Gustav Mahler und Holland. Briefe, hg. und eingeleitet von Eduard Reeser, Wien 1980, $. 6 vgl. die Bijlage I. im Willem Mengelberg-Gedenkboek (s. Anm. 2, 5. 273-278) und Reeser (s. Anm. 7,$.12-33).

Mahlers nicht hoch genug einzuschätzen (s. Anm. 4, S. 80). ©

Reeser (S. 24) weist darauf hin, daß in der Saison 1907/08 und 1908/09 keine Mahler-Konzerte stattfanden. ° 5. Reeser (s. Anm. 7), S. 50

112

Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

einmal mit einer gewöhnlich gestimten Geige [zu] versuchen“°. Aber nicht nur dieses Werk und nicht nur Mahlersche Kompositionen lernte Mengelberg in der Auffassung des Komponisten kennen. Neben seiner 5. und 6. Symphonie, die Mahler anforderte, um in Mengelbergs Dirigierpartitur seine Retuschen einzutragen!!, überließ er Mengelberg eine ganze Anzahl „eingerichteter“ Partituren, darunter die Coriolan-Ouvertüre und die 2. LeonorenOuvertüre von Beethoven, zwei Mozart-Sinfonien und Schumanns Manfred-Ouvertüre'*. Mengelberg erfuhr Mahlers Auffassung eigener und anderer Werke also gleichsam durch die Feder wie auch aus dem Munde des Komponisten, nicht zuletzt auch bei den Proben, die Mahler in Amsterdam vor Konzerten abhielt!?; andererseits wurde Mahler auch mit der Mengelbergschen Interpretation vertraut, und zwar sowohl anhand der ihm zugesandten und teilweise auch bereits mit Eintragungen versehenen Dirigierpartituren wie auch durch die Vorproben des Concertgebouw-Orchesters'*. Die Zusammenarbeit mit Mengelberg und dem Concertgebouw-Orchester scheint Mahlers außerordentlich hohen Ansprüchen gerecht geworden zu sein. Die uneingeschränkt positive und freundschaftliche Anerkennung, die aus Mahlers Briefen spricht, spiegelt zweifellos seine innere Überzeugung wider. Bereits im November schrieb er, von den Amsterdamer Konzerten zurückgekehrt, bei denen die 4. Symphonie zweimal erklang"’, an Mengelberg: Mein lieber Freund! Nachdem ich nun in meiner Heimat angekomen, und mich ein

wenig von den Strapatzen meiner Reise erholt, richten sich meine Gedanken auf die so wundervoll verlebten Tage in Amsterdam, das mir so schnell eine 2. musikalische Heimath geworden. — Was ich nach dieser Richtung Ihnen zu danken habe, Ihrer jugendfrischen und thatkräftigen Initiative, Ihrer congenialen Interpretationskunst und durchdringendem Verständnis meiner Werke — dieß gehört zu jenen Dingen, von denen wir uns gelegentlich eines freundschaftlichen Symposion gesagt haben, daß man sie tief empfinden aber für sie nicht danken kan |...] Der Zweck meines heutigen Briefes ist hauptsächlich, Sie zu bitten bei Ihrem wundervolljen] Chor, bei Ihrem prachtvollen Orchester der Dolmetsch meiner dankbaren Empfindungen zu sein. Was diese beiden Corporationen in jenen Tagen geleistet, kan nur ich beurtheilen und — Sie. — '*

10 5, Reeser (s. Anm. 7), S. 50. Bei der Durchsicht des orchestereigenen Stimmaterials im Concertgebouw konnte ich diese umgeschriebene Stimme der Solo-Violine finden (samt einer Kopie). Verschiedene Eintragungen beweisen, daß sie auch verwendet wurde — wann und wie lange, muß offenbleiben. 11 vgl. Reeser (s. Anm. 7), S. 57, 59, 62f., 82, 84 {=} vgl. Reeser (s. Anm. 7), S. 43, 48, 59, 71f.,79

ı3 Als im Vorfeld der Planung für Mahlers Aufführung seiner 5. Symphonie in Holland Antwerpen als Ausweichort im Gespräch war, schrieb Mahler an Mengelberg:: Aber Sie müssen nach Antwerpen hinüber komen, und mit mir einige Tage oder wenigstens Stunden beisamen zu sein, und auch die Symphonie in meiner Auffassung kenen zu lernen (Reeser [s. Anm. 7], S. 60). + Mengelbergs Notizen über Mahlers Probenbemerkungen in der Dirigierpartitur der 4. Symphonie vermitteln einen Eindruck

davon, wie groß der Informationsgewinn

aus Mahlers

Proben

war, die immer



sei es auch nur

implizit — einen Reflex auf Mengelbergs Vorarbeit enthielten. 15 vgl. Willem Mengelberg-Gedenkboek (s. Anm. 2), S. 275 und Reeser (s. Anm. 7), S. 14, 35 16 Reeser (s. Anm. 7), $. 52, 55

113

Klaus Kropfinger

I

Mahlers Schreiben vom 13. Oktober 1904 avisierte die auf uns gekommene Dirigierpartitur Mengelbergs’”. Sie enthält eine Fülle von Eintragungen, die — von der Hand Mahlers und Mengelbergs stammend — funktionsgebundene Unterschiede aufweisen: 1. a) b) c)

Art der Eintragung Textkorrekturen (Mahler) dokumentierende Notizen (Mengelberg) . Anmerkungen und Zusätze zum Notentext (Mengelberg)

2. Schreibmaterial und Eintragungsschichten a) rote Tinte, Bleistift (Mahler) b) Bleistift, schwarze Tinte, Blaustift, Rotstift (Mengelberg)

3. Zeit der Eintragungen Zwischen 1903/04, bzw. 1904 (Mahler und Mengelberg) und dem 30. Mai 1937 (Mengelberg) Zul:

a) Mahlers Korrekturen zielen auf Verbesserungen und auf Verdeutlichung, sie gelten verschiedenen Elementen des Notentextes bei unterschiedlicher Gewichtung. Den weitaus größten Anteil hat die motivische Präzisierung des Sextmotivs der I. Violine (I. Satz, T.4) und seiner Modifikationen durch die Umwandlung des zweiten Achtels in ein Sechzehntel plus Sechzehntelpause'®. Ähnliche Korrekturen finden sich vereinzelt auch im II. Satz. Selten, aber nicht weniger gewichtig ist die Änderung von Satzüberschriften. Korrigierte Instrumentenangaben und Schlüssel, aber auch ergänzte oder gestrichene Vortragsbezeichnungen und Vorzeichen, kommen nur sporadisch vor”. Mengelbergs Eintragungen haben unterschiedliche Funktion. Zahlenmäßig gering, dafür aber von besonderem Gewicht sind b) die dokumentierenden Notizen. Dazu gehören an erster Stelle die, mit denen die Echtheit der Mahlerschen Korrekturen bezeugt wird. Sie finden sich auf der Titelblattrückseite und auf der ersten Notenseite: ' Es handelt sich hierbei — wie bereits im Vortrag vermutet — um die erste gedruckte Partitur-Ausgabe der 4. Symphonie Mahlers (zu den Ausgaben vgl. zuletzt: Gustav Mahler. Werk und Interpretation [s. Anm. 2], S. 67f.). Die Partitur befindet sich jetzt mit dem gesamten Mengelberg-Nachlaß im Gemeentemuseum Den Haag. Aus einem Stempel auf dem Titelblatt geht hervor, daß Mengelberg sie bei der folgenden Musikhandlung erworben hat: De Agemeene Muziekhandel/Stumpff © Koning/Hofmuziekhandel/ Amsterdam, Spui 2. Stumpff & Koning war die Musikhandlung, bei der Mengelberg alle von ihm dirigierten Werke zu Anfang seiner Karriere zu kaufen pflegte. Stumpff war es auch, mit dem zusammen Mengelberg das Projekt der jährlichen Aufführung von Bachs Matthäus-Passion realisieren konnte. (Für diese Information danke ich E. Bysterus Heemskerk.)

‘® Allein diese, den ganzen ersten Satz durchsetzende Änderung läßt Hans Ferdinand Redlichs Feststellung, die zweite Partiturausgabe sei mit der ersten „identisch“, als nicht zutreffend erscheinen (vgl. die von Redlich edierte und kommentierte Eulenburg-Partitur [Pl. Nr. E.E. 6448], S. XXV). Tatsächlich bedeutet diese Korrektur allein schon

wegen der damit erst sich herauskristallisierenden motivischen Vernetzungen eine Mehrung des musikalischen Gehalts (Rudolf Stephan: Betrachtungen zu Form und Thematik in Mahlers Vierter Symphonie, mit einem Anhang über die verschiedenen Druckfassungen des Werkes, in: Neue Wege der musikalischen Analyse, hg. von R. Stephan, Berlin 1967 [Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung 6], S. 34. Zu der die verschiedenen Drucke diskutierenden Literatur vgl. ferner: Gustav Mahler. Werk und Interpretation [s. Anm. 2], S. 68). Es versteht sich, daß auch die im Verlauf dieser Untersuchung noch zu behandelnden, von Mahler geänderten Überschriften im I. Satz zu dieser Mehrung des musikalischen Gehalts beitragen. 1% vgl. hierzu die Tabellen S. 122 ff.

114

Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

Titelblattrückseite

N. B.: Alle mit rother Tinte eingetragenen Veränderungen (retouchen) etc. sind von: Gustav _Mah Gustav Mahlers: lers eigener : Hand. W. Mengelberg (Bleistift/schwarze Tinte, Blaustift, nme. Rotseife), hewinm Erste Notenseite

„Rot“ von G. Mahlers eigener Hand eingezeichnet! W. M. (schwarze Tinte)

Nicht weniger gewichtig sind die Notizen, die Probenbemerkungen Mahlers festhalten: Titelblattrückseite

Der erste Satz in Ruhlig] gemessenem Tempo etwa! 80-92-manchesmal 96 (aber immer

wieder in selbes zurück) und fließend flottes Tempo (Bleistift/schwarze Tinte) 1 Satz: nicht zu: Ruhig, damit „Er“ doch „heiter“ „lustig“ und ... u. bedächtig ist!!

(Blaustift/schwarze Tinte)

>

2ter Satz, Walzer, nicht zu schnell 3ter Satz, nicht zu langsam

fließend ruhiges Tempo (Bleistift/schwarze Tinte) alle crescendi: leiser anfangen „Alle“ kleinen ®& Großen Accente machen!!!

(Blaustift/schwarze Tinte) Erste Notenseite

VI.I. Mahler sagte in der Probe: Bitte spielen Sie das rall.[entando] so, als ob wir in Wien einen „Wienerwalzer‘ anfangen! (schwarze Tinte)

Gemeinsam ist diesen Eintragungen, daß sie durch die Absicherung des korrigierten Textes?! wie auch durch eine Art Dokumentation Mahlerscher Probenbemerkungen auf eine Fundierung authentischer Mahlerinterpretation zielen. Das wird besonders deutlich durch Mengelbergs Zusätze auf der Titelblattrückseite, mit denen er die Glaubwürdigkeit seiner Notizen unterstreicht:

Alle: Bemerkungen

— machte Mahler selbst in den Proben in Amsterdam vor”* der

I. Aufführung dieser Symphonie, hier! (schwarze Tinte) Und ferner, fast gleichlautend:

Bemerkungen von: Mahler selbst in den Proben in Amsterdam Concertgebouw (schwarze Tinte) 20 Fin Schrägstrich zwischen den angegebenen Schreibmaterialien bedeutet, daß der an zweiter Stelle stehende Schreibstoff den zuerst genannten überdeckt. 21 Die zweite Druckfassung der Partitur erschien erst 1905. Mahlers Eintragungen repräsentierten also im Jahre 1904 gleichsam die Fassung letzter Hand. Die Änderungen der Ausgabe von 1910 hat Mengelberg freilich nicht in seine Partitur übernommen. ?2 ursprünglich bevor, die erste Silbe des Wortes hat Mengelberg dann mit Blaustift gestrichen.

115

Klaus Kropfinger

ET

tt

Schließlich hat Mengelberg die Zuverlässigkeit seiner Eintragungen gleichsam noch einmal gesiegelt mit den knappen Anmerkungen: Garantiert W. Mengelberg (schwarze Tinte) und

Ehrenwort W. Mengelberg (schwarze Tinte)

An dieser Grundierung des Authentischen haften c) Mengelbergs eigene Anmerkungen und Zusätze zum Notentext. Die Hauptüberschriften und Metronomangaben*, die Mengelberg den vier Sätzen vorangestellt hat, gehören aufgrund des Schreibmaterials und/oder weil sie an Mahlers eigene erläuternde Bemerkungen anknüpfen zu einem Bereich, dessen Echtheit ebenfalls verbürgt erscheint. Dies gilt insbesondere für folgende Formulierungen: 1eSarz

Das Himmlische Tinte)

Leben! sehr natürliche, naive „kindliche“

Vorstellung!!! (schwarze

II. Satz

Totentanz Holbein (Blaustift) Der Tod führt uns (Blaustift) II. Satz

Wir sehen hier, wo der Tod uns hingeführt hat (Blaustift) IV. Satz Das ganze himmlisch, lustig. Ein Kind erzählt! (Bleistift/schwarze Tinte, Blaustift)

Dafg Mengelberg bei seinen Satzüberschriften grundsätzlich von Mahlers Bemerkungen ausgeht, ist nicht zuletzt der Eintragung Das Himmlische Leben |...) zu entnehmen. Sie erscheint in Mengelbergs Partitur zu Beginn des I. Satzes, obgleich sie doch eigentlich als Titel des Liedes zum Finale gehört und im Programm des Konzerts vom 23. Oktober 1904 auch dort steht”*. Wir wissen indes aus Bruno Walters Brief an Ludwig Schiedermair vom 6. Dezember 1901”, daß Mahler diesen Titel gerade auch für die ersten drei Sätze gelten ließ. Mahler hat also im Gespräch mit Mengelberg und wahrscheinlich auch während der Proben im Concertgebouw diese wie auch andere Leitworte und -sätze verwendet. Von

” Geht man von den Metronomangaben zum 1. Satz aus, so gehören sicherlich die zu Beginn des jeweiligen Satzes, bis auf den II. Satz, in der Formulierung gen[au] Metr[onom] ... sich findenden Notierungen zu einer frühen wenn nicht zur frühesten Schicht überhaupt. Was für den I. Satz nachweisbar, kann wohl auch für die anderen Sätze

gelten: Mengelberg gibt mit diesen Tempi Mahlers Vorstellung wieder, so wie sie durch Proben und Aufführungen deutlich wurden. Ein Vergleich der Tempoangaben in ihrer Schichtung, das Zusammentreffen in gewissen Grenzen voneinander abweichender Tempi und/oder Tempobereiche verweist aber darauf, daß sich in Mengelbergs Tempovorstellung bestimmte Wandlungen oder Modifikationen vollzogen haben. Der letzte Satz zeigt indes, daß hier nicht nur das Grundtempo und bestimmte Gerüstwerte der Mengelbergschen Tempoangaben mit Mahlers Tempi weitgehend übereinstimmen, sondern daß auch gerade bestimmte Abweichungen vom eingetragenen Tempo mit dem vom Komponisten gewählten korrespondieren (z.B. T. 25, 40, 48, 115, 153; vgl. auch S. 88 ff. 2* vgl. Reeser (s. Anm. 7), $. 53

> vgl. Bruno Walter. Briefe 1894 — 1962, Frankfurt a. Main 1969, S. 51

116

Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

ihrer Indizierung Musikern und Eingeweihten gegenüber kann offenbar nicht die Rede sein?®, Den fließenden Übergang zwischen den von Mahlers Kommentaren und Probenbemer-

kungen geprägten Notizen Mengelbergs und seinen eigenen Anmerkungen und Zusätzen verdeutlichen bestimmte Satzüberschriften, wie die Formulierung Totentanz Holbein zu Beginn des II. Satzes. Zwar knüpft Mengelberg hier an die ebenfalls im Programm abgedruckte Überschrift Todtentanz an?’, doch deutet er einen einfachen Begriff des Reigens

im Sinne einer Bilderfolge*®. Eine Modifikation erfahren auch Mahlers erklärende Äußerungen zum II. Satz. Seine göttlich heitere und tieftraurige Melodie” hat Mahler — ausgehend vom Lächeln der Hl. Ursula — im Bild des zu ruhiger Seligkeit hinübergeschlummerten Menschenkindes? wiedererkannt. Mengelberg deutet diese vom Geäder der Traurigkeit durchzogene Seligkeit auch an, aber sehr viel allgemeiner. Seine Formulierung Wir sehen hier wo der Tod uns hingeführt hat deutet an, wie sehr seine Interpretation sich im Grunde auf den musikalischen Gehalt und die Struktur der Musik verläßt. Mengelbergs Anmerkungen und Zusätze sind nicht ein der Partitur übergestülpter eigener Text. Das zeigt sich in besonderem Maße da, wo es um den Notentext selbst geht — der bei weitem überwiegende Teil. Verdeutlichende, wiederholende, bestätigende und teilweise auch ergänzende Einzeichnungen, forcierende oder dämpfende Eintragungen zum Tempo, zu Dynamik und Artikulation, zu den Instrumenten und zur Dirigierweise zeichnen ein interpretatorisches Profil, das bestimmte Konturen hervorhebt, ohne doch das Werk zu verdecken. Zu2:

Das Schreibmaterial der Eintragungen ist vielfätig wie diese selbst. Doch ist zwischen der Hand Mahlers und derjenigen Mengelbergs genau zu unterscheiden. a) Mahlers Schreibmaterial ist freilich nicht nur rote Tinte, wie es Mengelberg in seiner

zitierten Anmerkung behauptet, sondern auch Bleistift. Mahler selbst spricht in dem erwähnten Brief von rother Dinte oder Bleistift, und seine Angabe ist nachprüfbar richtig. Mengelberg hatte allerdings mit seiner reduzierenden Mitteilung nicht gänzlich unrecht; beschränkt sich doch Mahlers Bleistiftgebrauch offensichtlich auf wenige Takte°!. Dem ganzen Duktus der Korrekturen zufolge sind diese also mit einem Schreibvorgang zu verbinden. Mahlers Eintragungen sind „einschichtig“.

b) Mengelbergs Notizen, Anmerkungen und Zusätze sind demgegenüber verwirrend kom-

plex. Zu unterscheiden sind: Bleistift, schwarze Tinte, Blaustift und Rotstift. Bleistift

26 Daß Mahler vor allem die durch Titel und erklärende Zusätze veranlaßten Mißverständnisse fürchtete, geht nicht nur aus seinen Ausführungen gegenüber Max Marschalk hervor (vgl. Gustav Mahler, Briefe 1879-1911, hg. von A. M. Mahler, Berlin/Wien/Leipzig 1924, S. 185), sondern auch aus seinen Bemerkungen gegenüber Natalie BauerLechner (vgl. N. Bauer-Lechner: Erinnerungen an Gustav Mahler, Wien 1923, S. 144). 2S

vgl. Reeser (s. Anm. 7), S. 53

2

vgl. S. 127, 168f.

2? vgl. N. Bauer-Lechner (s. Anm. 26), S. 144 30 s, Walter (s. Anm. 25), $. 52 31 Es geht hier offenbar um die Takte 200 (3. Ob., Klar.), 202 3. Ob., Klar.) und 204 (Klar.), wo Mahlers Streichung

dann allerdings durch Mengelbergs Zusatz wel blyft alles rückgängig gemacht wurde, auch dies ein Zeichen für die enge Korrespondenz zwischen Komponist und Dirigent.

117

Klaus Kropfinger BASGERTOPENgERTe ge

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wird fast ausschließlich auf der Titelblattrückseite verwendet”, Blau- und Rotstift

überwiegend im Notentext®. Schwarze Tinte” ist dagegen der beide Bereiche überlagernde und verbindende Schreibstoff. Auf der Rückseite des Titelblatts hat Mengelberg die zuerst mit Blei- oder Blaustift festgehaltenen dokumentierenden Notizen in einem späteren Schreibvorgang” mit schwarzer Tinte nachgezogen. Die dokumentierenden Notizen der ersten Seite des Notentextes, die die voranstehenden zum Teil wiederholen,

sind nur mit Tinte geschrieben. Es ist also anzunehmen, daß Mengelberg die Bemerkungen der Titelblattrückseite in einem Schreibvorgang nachzog und anschließend hieran — oder jedenfalls in zeitlicher Verbindung hiermit” — seine Bemerkungen in den Notentext übertrug und durch andere ergänzte. Mengelbergs Eintragungen sind jedoch nicht nur im Bereich der authentischen Grundierung mehrschichtig. So wie diese mit späteren Blau- und Rotstiftspuren versetzt ist, bilden die Blau- und Rotnotierungen des Notentextes selber Schichten. Auch hier ist Mengelbergs (nachzutragender) Hinweis von der Titelblattrückseite alle [Korrekturen] mit rotem Bleistift sind von mir zu modifizieren. Nicht nur machen wirkliche Korrekturen einen verschwindend geringen Teil seiner Einzeichnungen aus, hervorzuheben ist darüber hinaus, daß für die Grundschicht der Anmerkungen und Hervorhebungen zu Dynamik, Artikulation, Tempo etc. Blaustift der „Arbeitsgriffel“ war. Rotstift war dagegen häufig den Unterstreichungen und der Verstärkung früherer Eintragungen vorbehalten. Die Rotschicht überlagert also vielfach die Blauschicht. Doch wird aus Abweichungen hiervon deutlich, daß Mengelberg immer wieder Eintragungen hinzufügte, daß er korrigiert oder getilgt hat — zweifellos nicht zuletzt auch bei seiner äußerst peniblen Probenarbeit?”. So entsteht eine Vielzahl von Lagen, die voneinander abzuheben einer speziellen „Archäologie“ Mengelbergscher Quellenforschung vorbehalten bleibt®*®.

®2 Bleistift verwendet Mengelberg aber auch für die Überschrift Das ganze himmlisch, lustig. Ein Kind erzählt! als erstes Schreibmaterial, um dann mit Tinte nachzuziehen und das Wort Kind noch mit Blaustift zu unterstreichen.

33

Angaben zur Dynamik und Metronomziffern in Bleistift, die sich ganz vereinzelt finden, können hier nicht aufgeführt werden. Blau- und Rotstift verwendet Mengelberg vereinzelt auch auf der Titelblattrückseite. So für den Zusatz alle [Korrekturen] mit rotem Bleistift sind von mir, wo die Schriftzüge in Blaustift, die Unterstreichungen in Blau- und

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Rotstift sind. Ferner ist die Angabe Metr.gen. J = 69 in Blaustift, die Umrandung dagegen in Rotstift ausgeführt. Eintragungen in Tinte finden sich außer auf der ersten Notentextseite, der erwähnten Überschrift zum IV. Satz und den Tempo- und Zeitangaben am Partiturende innerhalb des gesamten Notentextes nicht. Ob die Tinteneintragungen der Titelblattrückseite und der ersten Seite des Notentextes wie auch der Überschrift zum IV. Satz und am Partiturende selbst wieder verschiedenen Schreibvorgängen zuzurechnen sind, konnte im Rahmen dieser Untersuchung nicht festgestellt werden. Nicht auszuschließen ist natürlich auch eine andere Abfolge. Bezeichnend ist Mengelbergs Eintragung am Partiturenende: Duur:I

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Der Zusatz: Sonntag Sommer Konzert/mit nur: 2 Stunden Probe zeigt wie erwähnenswert Mengelberg eine so kurze Probe war. John Valk, der im Gemeentemuseum Den Haag den Mengelbergnachlaß bearbeitet, untersucht im Rahmen dieser Aufgabe auch Mengelbergs Dirigierpartituren und die Struktur der Eintragungen.

118

Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

Zu3.

Mahlers Korrekturen fallen in eine recht schmale, aber nur nach einer Seite sicher abzugrenzende Zeitspanne. Der terminus ante quem steht durch den bereits erwähnten Brief Mahlers vom 13. Oktober 1904 fest, nicht eindeutig festzulegen ist hingegen der frühestmögliche Zeitpunkt. Brachte Mahler die Partitur bereits von den Amsterdamer Konzerten zwecks Korrektur mit nach Wien oder wurde sie ihm erst von Mengelberg nachgeschickt? Diese Frage ist vorläufig nicht sicher zu beantworten. Doch ist nicht auszuschließen, daß Mengelberg seine Partitur erst nach einem anderen Brief Mahlers, vom 29. Juli 1904°°, an den Komponisten sandte; findet sich doch in der Partitur am Ende des vierten Satzes eben jene Angabe der Gesamtspieldauer von 45’, die in besagtem Brief mitgeteilt wird. Dann allerdings wäre Mahlers Korrektur frühestens im August möglich gewesen. Weit weniger klar noch sind die Daten für Mengelbergs Anmerkungen und Zusätze. Unwahrscheinlich ist, daß er die Partitur bereits vor Mahlers Verbesserungen umfassend mit Eintragungen versehen hatte*. Er könnte mit den eigentlichen Einzeichnungen im Zusammenhang mit seinen Vorproben zu Mahlers Konzert begonnen haben, also nicht lange vor dem 20. 10. 1904*. Diese Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen, und wir hätten dann die frühesten dieser Eintragungen in wenigen, eher noch vorläufigen und tastenden Blau- und Roteinzeichnungen zu sehen. Die eigentliche Durcharbeitung der Partitur begann aber sicherlich im Anschluß an Mahlers Proben, die — wie aus den Partiturnotizen hervorgeht — überhaupt erst eine Orientierung über das Werk und seine Wiedergabe ermöglichten*?. Die Notierungen der Titelblattrückseite, entstanden während und/oder im Anschluß an Mahlers Proben im Concertgebouw*, wären dann auf jeden Fall die ersten Zeichen einer intensiven und an Mahlers Interpretation orientierten Beschäftigung mit der 4. Symphonie. Sind die frühesten Notierungen zeitlich nur mit beträchtlichen Toleranzen einzugrenzen und zu unterscheiden, so verschließen sich die nachfolgenden Spuren des Werkstudiums und der Interpretation jeder Festlegung. Anzunehmen ist, daß sie im wesentlichen in die Zeit zwischen Mahlers ersten Concertgebouw-Konzerten und dem Mahler-Fest von 1920 fallen**. So bleibt das einzige gesicherte Datum der Partitureintragungen die bereits erwähnte Tintennotiz zur Aufführungsdauer vom 30. Mai 1937*. Diese Notierung freilich lenkt den Blick wieder zurück. Der eingeklammerte Nachtrag: (65’ vroeger) — also: früher 65° — verweist auf eine Änderung der Spieldauer. Tatsächlich findet sich auch am Ende des IV. Satzes mehrmals die Angabe: 65’. Hierbei handelt es sich indes um eine Korrektur der erwähnten Zeitangabe: 45’*, eben jene Aufführungsdauer, die Mahler in seinem Brief vom 29. Juli mitteilt. Deutlich wird, daß die Schichten der Eintragungen, gleichsam Zeit speichernd, ein Stück Interpretationsgeschichte repräsentieren. # vgl. Reeser (s. Anm. 7), S. 48

# Eine Eintragung wie die erwähnte zur Gesamtdauer der Symphonie spricht für die Annahme einzelner Eintragungen. 45

Mahler kam am 20. Oktober in Amsterdam an (vgl. Reeser [s. Anm. 7], S. 12).

#2 Mengelberg war in diesem Punkt — dem Umgang mit Mahlers Werk — sehr behutsam. Als Mahler die für den 24. Januar 1907 vorgeschene holländische Erstaufführung seiner 6. Symphonie nicht leiten konnte, sprang Mengelberg nicht für ihn ein. Dabei hatte ihm Mahler selbst dazu geraten (vgl. Reeser [s. Anm. 7], S. 23). # Mahlers Proben fielen in die Zeit zwischen dem 20. und dem 23. Oktober 1904. “ Es muß offen bleiben, ob einzelne englische Anmerkungen in die Zeit von Mengelbergs Tätigkeit in England (1911— 1914) gehören oder erst später in den USA (1921 — 1929) im Zusammenhang mit Mengelbergs saisongebundener Direktion des National Philharmonic Orchestra entstanden. * vgl. Anm. 37 + Mengelberg macht aus der 4 eine 6.

119

Klaus Kropfinger

II

Mengelbergs Eintragungen bilden ein Markierungsnetz, das auf die Werkstruktur zurückprojiziert werden muß, um interpretierbar zu sein. Diese Zusammenschau wird in einem ersten Schritt mit einer Aufstellung der Satzüberschriften samt Metronomangaben und den folgenden Tabellen, in einem nächsten mit der knappen Analyse bestimmter Form- und Strukturqualitäten gegeben (IV), gefolgt von Betrachtungen zum Tempogefüge (V), um von hier aus die Konturen der dem Werk wie auch immer sich anschmiegenden oder sperrenden Interpretation ins Blickfeld zu rücken (VI). Im Vergleich mit Bruno Walters Auffassung soll schließlich eine wenn auch schmale Spur der Interpretationsproblematik als Teil der Rezeptionsgeschichte beleuchtet werden (VI). Die Tabellen sind so angelegt und angeordnet, daß später unumgängliche Vergleiche hier bereits vorbereitet werden. Die ersten Zusammenstellungen enthalten Mahlers Korrekturen, die folgenden bringen sowohl Mengelbergs Metronomangaben und sonstige Eintragungen wie auch die Tempi seiner Schallplatteneinspielung. Heranzuziehen waren hier bereits auch die wichtigsten Tempi Bruno Walters* ;unverzichtbar war die wohl einzige Schallplatteneinspielung Mahlers, die mittlerweile erschlossene Welte-Mignon-Aufnahme des vom Komponisten selbst vorgetragenen Schlußsatzes in der Klavierübertragung**.

* Bei der Aufnahme handelt es sich um die vom 10. Mai 1945 datierende Einspielung Bruno Walters mit dem New Philharmonic Orchestra und Desi Halban, Sopran (odyssey, Stereo 32160026). * Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1905 (vgl. Telefunken SLA 25057-T1/5, Begleittext). Zwar sind Mängel der

Aufnahme- und Wiedergabetechnik und — daraus resultierend — gewisse zeitliche Verschiebungen in Rechnung zu stellen. Der gerade für Grundtempo und Tempostruktur dokumentarische Wert dieser Mahleraufnahme wird

davon indes nicht tangiert.

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Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

IV Nicht die Präferenz des Geschmacks oder Trends im Konzertbetrieb sind Maßstab der Interpretation, sondern das Werk und die ins Werk eingegangene kompositorische Intention. Zu bedenken ist allerdings, daß die damit notwendige Analyse von der Betrachtungsperspektive des Analysierenden wesentlich bestimmt ist; auch Analyse ist vorurteilsgebunden. Den Ansatz zur Überwindung des Problems bietet eine Betrachtungsweise, die als Differentialanalyse bezeichnet werden könnte: eine Unterscheidung von Gestaltqualitäten, ausgehend von bestimmten strukturellen Symptomen in der musikalischen Erscheinung. Bestimmt wird diese analytische Perspektive nicht zuletzt durch die Überlegung, daß das Werk als intentionales Gebilde im Sinne Ingardens* unterschiedliche Konkretisierungen nicht nur im Wechsel der Aufführungen und ihrer unterschiedlichen Bedingungen erlebt, diese Abweichungen im klanglichen Erscheinungsbild sind vielmehr auch als Umsetzung von Unbestimmtheitsstellen denkbar, die in der strukturellen Komplexität des intentionalen Werkes wurzeln°®. Wenn Ingarden die Unbestimmtheitsstellen aus der Beschaffenheit des Werkes als schematisches Gebilde herleitet, beruhend auf der Unvollkommenheit der Notenschrift°‘, dann gehört hierzu vor allem auch, daß die Komplexität sich überlagernder Strukturschichten” nicht in eine Textform gebracht werden kann, die die praktische °*. Realisierung und mögliche Alternativen präzise festlegt Die Differentialanalyse scheint für Mahlers 4. Symphonie besonders angemessen, schließt sich diese doch nur auf den ersten Blick der Norm gängiger formaler Schemata an. Der formal-strukturelle Zuschnitt der Symphonie als Ganzes und in ihren Teilen ist nur scheinbar klassizistisch°*. Heißt es zu Mahlers 9. Symphonie, hier sei der Konflikt mit den Schemata |...) gegen diese entschieden°’, so ist namentlich im Kopfsatz der 4. Symphonie der Konflikt mit dem Schema im musikalischen Prozeß selbst greifbar; das Sonatensatzgefüge ist von anderen Gestalt- und Strukturqualtiäten durchwachsen. Es ist der Schein des Verständlichen, in den das Andere sich kleidet°“. Das Verständliche, das ist jene auf das Schema zu projizierende Folge von Exposition (T. 1- 101) — Einleitung (T. 1-3), Hauptgedanke (T. 4— 17) samt Wiederholung (T. 18-31), erste Überleitung (T. 32 — 37), Seitengedanke (T. 38 — 57), zweite Überleitung (T. 58-71) und „fausse reprise‘“ (Hauptgedanke T. 72-90 sowie Schlußgruppe T. 91— 101) —, Durchführung (T. 102— 225/238) — mittels Kombination und Transformation

zuvor exponierter Motive und Motivfolgen in mehreren Schüben -, Reprise (T. 225/ 238-339) — als der die Exposition aus der Perspektive der Durchführung weiterführende Formabschnitt — und Coda (T. 340 — 349).

# vgl. Roman Ingarden: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk

— Bild — Architektur — Film,

Tübingen 1962 5° vgl. Anm. 49, S. 101 u. passim

RX 51 vgl. Anm. 49, S. 101 keine s2 Der Begriff der Schicht wird hier nicht im Sinne Ingardens verwendet: er hat in diesem Zusammenhang ontologische Bedeutung sondern analytische Funktion. 53 Hierauf weist Mahlers insgesamt bis zur „Fassung letzter Hand“ von 1910 sich fortsetzende Korrektur der

Überschriften zwecks Bestimmung der Tempo-Charaktere hin. Das Problem der Fixierung im Text aber verweist zurück auf die Komplexität der Strukturen. + vgl. Rudolf Stephan: Mahler. IV. Symphonie, München 1966 (Meisterwerke der Musik 5) ,5. 8 55 Theodor W. Adorno: Mahler. Eine musikalische Physiognomik, in: Gesammelte Schriften 13, Frankfurt/Main 1971, S. 298 56 s, Anm. 55, 5. 168

Klaus Kropfinger

Das Andere wird sichtbar in der Differenz der zweiten Überleitung wie auch der als „fausse reprise“ bezeichneten‘ fragmentarischen Expositionswiederholung zum Sonatensatzgefüge, wirksam aber wird es in der vom Schema wegführenden funktionalen Schwerkraft der Form- und Strukturelemente. So ist die zweite Überleitung in einem plastischen musikalischen Gedanken zentriert — von einer überleitenden Entwicklung, einer den thematischen Gestalten nachgeordneten vermittelnden Partie kann keine Rede sein. Als einprägsamer musikalischer Gedanke ist sie vielmehr kontrastbestimmt, wie überhaupt Kontraste, verschieden nach Art, Umfang und Reichweite die einzelnen Satzabschnitte, deren Korrelation im Satzverlauf, aber auch die Beziehung der Sätze zueinander prägen. Dementsprechend sind nicht nur der Haupt- und Seitensatz des Sonatensatzrasters, sondern auch die Gelenkstellen des formalen Gefüges mit charakteristischen musikalischen Gebilden besetzt. Die Gelenkstellen, das sind die Überleitungsabschnitte, einschließlich der Schluß-

gruppe als Folie des Durchführungsbeginns. Die Konfiguration charakteristischer musikalischer Elemente bestimmt jedoch nicht nur die strukturellen Relationen im Satz, sondern auch den Aufbau der Themen. Am deutlich-

sten wird das am Hauptgedanken des ersten Satzes, der gleichsam auf zwei verschiedenen Ebenen mehrgliedrig ist. Bestehen die Takte 4— 11 aus zwei konzisen musikalischen Gedanken, so ist deren zweiter in sich wiederum zweiteilig, er setzt sich aus zwei zweitaktigen Phrasen |...) [zusammen], die motivisch und in der Instrumentation deutlich voneinander abgehoben sind’°®. Ein Beispiel für die Verkettung knapper motivischer Gebilde ist auch die erste Überleitung (T. 32 — 37), die wenigstens vier impulsgebende Motivzellen aneinanderbindet, die mehr durch die modulatorische Zielrichtung als durch einen entwickelten Zusammenhang miteinander verbunden sind. Ganz anders beschaffen ist wiederum das Kontrastmoment des Seitensatzes, in dem die einzelnen Abschnitte — auf den Aufbau und

Zusammenhang bezogen — funktional verfremdet sind. Die den Seitensatz einleitende viertaktige Phrase ist viel eher als Schlußphrase eines periodisch organisierten Gebildes denkbar, ein Eindruck, den die Wiederholung T. 41/42 —46 bestätigt und den die in der Schwebe gelassenen harmonischen Verhältnisse unterstützen. Davon hebt sich nun aber der dritte Abschnitt T. 46/47ff. deutlich ab, der einerseits für sich betrachtet eher als Anfang denkbar wäre, der andererseits aber wie eine nun frei ausschwingende Fortsetzung erscheint, eine Erwartung, die durch die T. 5Off. eintretende Stauung sogleich wieder korrigiert wird. Die Folge ist, daß die tatsächlich als Abschluß eintretenden Takte 52 — 57 nunmehr sehr nachdrücklich, mit breitem Gestus und in fluktuierendem Tempo erklingen,

um in ihrer abschließenden Funktion deutlich zu werden. Die einzelnen Abschnitte stehen also zu ihrer eigenen Funktion und damit auch zueinander im Gegensatz. Funktionaler Kontrast, Fragmentcharakter und — daraus resultierend — zunehmende Stauung innerhalb und namentlich am Schluß charakterisieren die Struktur dieses Seitensatzes. Ist das Gegeneinander der musikalischen Elemente ein wesentliches Moment des musikalischen Gefüges, so der Wechsel und die entwickelnde Umgruppierung der Kontrastelemente ein Zeichen der musikalischen Entfaltung. Ein Beispiel satz- und zugleich werküberspannender Verwendung ist das Schellenmotiv. Zu Satzbeginn Einleitung und Kontrastfolie zugleich°?, fungiert es im Finale in erster Linie als gegensatzbildender Einwurf, von dem 7 so bereits bei Adorno (vgl. Anm. 55, S. 204) ® 5, Stephan (s. Anm. 54), $. 9

” Gewöhnlich wird nur vom Generalauftakt gesprochen, so auch noch bei Sponheuer (Logik des Zerfalls. Untersuchungen zum Finalproblem in den Symphonien Gustav Mahlers, Tutzing 1978, S. 209). Gerade in der funktionalen Wandelbarkeit des Motivs liegt jedoch seine Bedeutung und die Verwendung vor allem auch im Schlußsatz begründet.

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Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretat ion

sich die Strophen abheben”. Kontrastbewegung auf engstem Raum findet sich zu Beginn des 1. Satzes sogleich in den Takten 7-14, hier verbunden mit einer Variante des Violaund Violoncello-Motivs von Takt 7/8° ein Beispiel für Mahlers Verfahren der Motivumwandlung, das in diesem Satz, wie auch im Zusammenhang des ganzen Werkes eine wichtige Rolle spielt. Prägnante — diastematische, rhythmische, harmonische — Elemente wirken einzeln oder kombiniert als Kristallisationskerne neuer musikalischer Motive und Gedanken, die — in die Abfolge wechselnder Konstellationen eingebunden — den musikalischen Verlauf akzentuieren und über weite Strecken hinweg tragen. Die Kenntnis dieses Verfahrens der Motivtransformation ist deswegen wichtig, weil so als verwandt erkennbar wird, was sonst als unverbunden aufgefaßt werden könnte. Man hat bisher die erste Ankündigung des im III. Satz, T. 320, dem Finale vorausklingenden Liedmotivs in der Oboenmelodie T. 96f. des 1. Satzes erkennen wollen“, Tatsächlich läßt sich aber das charakteristische „Sekundpendel“ dieser Melodie wiederum vom Seitensatz (Vc., T 38/39) ableiten, die Punktierung wie auch die Folge von steigender Sext und fallender Terz dagegen hat ihren Ausgangspunkt in der Phrase der Bratschen und Violoncelli (T. 7/8). Eine wichtige Zwischenstation ist der in der Durchführung des I. Satzes, T. 126 mit der Flöte einsetzende Gedanke, der sich in der Folge von zwei Viertelnoten und einer Halben samt „Sekundpendel“ eindeutig auf den Seitensatzgedanken bezieht. Diese Station dient in der Durchführung aber auch als Bindeglied zu den Klarinetten- und OboenFanfaren der Takte 145 — 147 und weiterhin zu dem erstmals in T. 148/149 in Cello und Kontrabaß auftauchenden Gedanken und den von ihm ausgehenden Einwürfen der Trompeten, von Fagott, Kontrafagott und Flöten in den Takten 150, 153/154 und 160- 163. Dieser von Cello und Kontrabaß ausgehende Gedanke wird schließlich in der Reprise zum zentralen musikalischen Element ‘®. Vom Symphoniebeginn bis zum Finale spannt sich demnach ein Bogen, an dem sich ablesen läfst, daß die Geschichte der musikalischen Gedanken und Motive die ihrer sich wandelnden Kristallisationsformen und deren Verflechtung ins Gefüge der Kontraste ist‘*. Motivumwandlung prägt auch einen für die Satzgestaltung ebenso wichtigen wie kritischen Punkt: den Übergang von der Durchführung zur Reprise. Hier ist an Hans Swarowskys tiefgreifende analytische Betrachtungen anzuknüpfen“. Tatsächlich erscheinen die Takte 225—238 und besonders das musikalische Geschehen ab T. 231 als verschleierter Reprisenbeginn mit noch verschwimmenden Konturen, die erst ab T. 238 deutlich hervortreten. Swarowskys Kritik an der Fixierung des Reprisenbeginns auf Takt 239 ist also durchaus berechtigt. Doch wäre hinzuzufügen, daß Mahler hier einen Übergang komponiert hat, der doppelte Funktion erfüllt. In der verebbenden Durchführung zeichnen sich zugleich die Umrisse der Reprise ab“, und die funktionale Verschränkung an dieser wichtigen Nahtstelle des formalen Gefüges bewirkt, daß die Reprise den Entwicklungsimpuls der Durchführung aufnimmt und sogleich mit dem aus der Durchführung stammenden Motiv 6% Das bestätigt gerade die 2. Strophe für die das Schellenmotiv insgesamt bestimmend ist. Der musikalische Charakter korrespondiert mit dem des Textes und bewirkt so einen Gegensatz im Verhältnis der Strophen zueinander. 6 vgl. Anm. 54, S. 9 %2 vgl. Stephan (s. Anm. 18), S. 31

% vgl. Stephan (s. Anm. 54), S. 16f. + Die zu Beginn des Satzes überwiegend sukzessive Kontrastbildung steigert sich im Verlauf des Satzes und namentlich a in der Durchführung durch polyphone Verdichtung. 6% Hans Swarowsky: Wahrung der Gestalt. Schriften über Werk und Wiedergabe, Stil und Interpretation in der Musik, herausgegeben und redigiert von Manfred Huss, Wien 1979, S. 52f.

66 Es ist wohl auf diese Doppelfunktion der in Frage stehenden Takte zurückzuführen, daß der Reprisenbeginn bisher gewöhnlich mit T. 239 und nicht schon mit T. 225 angesetzt wurde.

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der Violinen in T. 240ff. weiterträgt. Ganz deutlich wird die Doppelfunktion der Takte 225ff. freilich erst, wenn wir die Verwendung des Kopfmotivs vom Satzbeginn näher ins Auge fassen. Swarowsky zufolge machen vier Noten in Fagott und Hornbaß (Takt 226 ff.) [...] den Eindruck einer zerdehnten Vorwegnahme der ersten vier Noten des Themas (in nochmaliger Vergrößerung fortgesetzt, dann aber verebbend)®. Nach dieser Dehnung des Motivauftaktes folgt dann — im Anschluß an den rhythmisch korrekten, metrisch und im Intervallrahmen aber modifizierten Motivbeginn (T. 234) — eine Verbreiterung der Motivfortsetzung (T. 235 ff.). Diese gleichsam in zwei Schüben sich vollziehende Streckung des Motivgestus stellt nun aber nichts anderes dar, als die Verarbeitung eben jener Gestaltqualität, die Mahler mit seiner von Mengelberg festgehaltenen Probenbemerkung herausgestellt hat. Was in den Takten 225 ff. verarbeitet wird, ist die walzerhafte Auftaktdehnung des Kopfmotivs, ja die agogische Finesse des „Wienerwalzers“ schlechthin. Der bereits konturierte Reprisenbeginn ist zugleich die letzte Durchführungsstation, die ein wesentliches Moment motivischer Verarbeitung — nämlich Motivtransformation — an die Reprise weitergibt. Kaum einem Zweifel dürfte unterliegen, daß auch der Beginn der Solovioline im II. Satz durch Motivtransformation geprägt ist und damit zur Verkettung sich wandelnder musikalischer Gedanken gehört; basiert doch der insistierende Auftakt auf einer Vertauschung der zweiten und dritten Auftaktnote von Cello und Kontrabaß in T. 7 des I. Satzes”. Die damit angesprochene Satzverknüpfung, auf die Mahler selbst hingewiesen hat und die sicherlich auch an den vom Finale ausgehenden, „rückwärts“ sich entwickelnden Kompositionsprozeß gebunden ist”, wird allerdings noch von übergeordneten Zusammenhängen umpgriffen. So ist die fragmentarische Expositionswiederholung T. 72ff. nicht nur das Signum eines durch Rondo-Elemente angereicherten Sonatensatzes”'. Den RondoAspekt überbietet die Funktion der an diese „fausse reprise“ gebundenen Schlußgruppe (T. 91-101). Sie ist Sammlung und ausstrahlende Überhöhung zugleich. Diese doppelte Wirkungsrichtung tritt nur deswegen in Erscheinung, weil die Expositionswiederholung ohne Seitensatz bleibt und so die Schlußgruppe den Ausdrucksbereich des Seitensatzes steigert und in eine neue, auf die zyklische Werkeinheit gerichtete Dimension überführt”?. Erst von hier aus erklärt sich auch die Bedeutung, die die Schlußgruppe in der Reprise erhält. Mit dem unter der Wölbung der I. Violine und anstelle der Oboe (vgl. T. 96) erklingenden Horn weitet sie sich ins Atmosphärische. Weisen die Takte 323 — 339 gerade wegen des Fehlens der Oboenphrase aufs Finale voraus”°, so ist es doch die Abhebung der Schlußgrupe, die diese Tendenz trägt und die ihre besondere Strebekraft aus den strukturellen Besonderheiten des Kopfsatzes gewinnt. Diese hier sehr knapp dargestellten Gestaltungsmomente verdeutlichen, was es mit der von Adorno geforderten materialen Formenlehre auf sich hat”*. Die überkommenen 67 5, Swarowsky (s. Anm. 65), S. 52

% ygl.S. 115, 163

% hier allerdings im Rahmen der kleinen Sext 70 vgl. hierzu zuletzt Sponheuer (s. Anm. 59), S. 185f. ”! zu diesem Rondo-Aspekt vgl. Stephan (s. Anm. 54), S. 12 ”* Wirksam wird hier auch noch ein anderes Moment. Auf die weitgehend übereinstimmenden Takte 27-31 auf der einen und 86-90 auf der anderen Seite folgen höchst unterschiedliche Gebilde: in der Exposition die mit Frisch überschriebene Überleitung, in der fausse reprise aber die Schlußgruppe. Nicht zuletzt dieser Kontrast über die Distanz steigert die Wirkung der Takte 91 - 101. J {m}

vgl. Stephan (s. Anm 18), S. 31

vgl. Adorno (s. Anm. 55), S. 193. Hierzu auch Arno Forchert: Zur Auflösung traditioneller Formkategorien in der Musik um 1900, in: Archiv für Musikwissenschaft 32 (1975), 5. 85 ff.

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Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

Formkategorien und Formstrukturen geraten gleichsam in den Bann eines neuen Spannungsfeldes funktionaler Konfiguration, dessen Feldlinien auch die Elemente der satzübergreifenden zyklischen Gestaltung ausrichten. Diese Elemente, ihre Bindungs- und Strebekräfte gilt es jeweils neu zu erfassen und zu bestimmen. Nicht zufällig öffnet sich im Il. Satz, wo Scherzo und Trio ohnehin im Kontrast des schneidend-grellen und des naturhaft-naiven Tonfalls gegenüberstehen, der dritte Teil des 2. Trios (T. 254ff.) zu einer sphärenhaften Auflichtung des Ausdruckshorizonts, in dem bereits die Konturen des II. Satzes ahnbar werden. Es ist eine Stufung fortschreitender Abhebung. Mahlers Bestürzung, als er während seiner Krankheit im Februar 1901 feststellen mußte, daß der Kopist irrtümlich das Scherzo als dritten Satz gekennzeichnet hatte, verweist auf die konstruktive zyklische Idee der 4. Symphonie, die mit einer Umstellung der Mittelsätze zerstört worden wäre’. In der Tat erfüllt der dritte Satz im Werkzusammenhang doppelte Funktion. Evoziert er nach den vorangehenden

Sätzen in seinem ersten Thema

einerseits kontemplative

Gelöstheit, so

entwickelt sich aus der Gegenüberstellung dieses und des nachfolgenden zweiten Variationsthemas andererseits jener Durchbruch der Takte 315ff., mit dem sich die musikalische Szene zum letzten Satz hin öffnet. Diese Entwicklung resultiert aber aus der Bauidee des Satzes, der potenzierenden und kontrastierenden Verkettung von Variationen, die die Konfiguration der Themen zur Gestalt des Satzes entfalten. Hat dieser Durchbruch in der Schlußgruppe des I. und im dritten Teil des II. Satzes — in den vorangehenden „Erfüllungsfeldern“ also” — seine Vorstufen, seine Voraussetzung aber im Verhältnis der Sätze zueinander, so eröffnet er nunmehr jene Dimension, die selbst das erste Thema des

III. Satzes erst ahnbar macht. Hinter allem aber steht die Schlußgruppe des I. Satzes als werküberspannendes „Leitmotiv“ besonderer Qualität. Daß am Schluß der Symphonie das Lied vom Himmlischen Leben steht — die nach Sätzen und Stufen erreichte endgültige Entrückung aus dem weltlich Getümmel, aus der bunt-motivischen Bilderfolge des I. Satzes”’ —, hat freilich nicht nur einen im inneren musikalischen Prozeß des Werkes liegenden Sinn. Das Lied schlechthin scheint berufen, eine in den Durchwachsungen des Sonatengerüsts wie in den Relationen der Satzcharaktere doppelbödige Werkgestaltung aufzulösen. Doch ist der Schlußsatz trotz seiner transzendierenden Funktion alles andere als von durchgehend getragenem Charakter. Der zweiten dritten und vierten Strophe sind kontrastierende Elemente zugeordnet: zu Strophenbeginn das Schellenmotiv aus dem I. Satz, am Strophenende jeweils eine choralartige Schlußklausel, entlehnt aus dem V. Satz der 3. Symphonie”*®. Sucht man im strophischen Aufbau des Finales”” nach musikalischen Elementen, die — für den Aufbau konstitutiv — zugleich zwischen Liedtext und musikalischer Struktur

75 vgl. Henry-Louis de La Grange: Mahler, Bd. I, London 1974, S. 614 76 Dazu Adorno, von dem dieser Begriff stammt: Mahlers Erfüllungsfelder leisten in der Form, durch ihre Relation

zum Vorhergegangenen, was der Durchbruch vom Außen sich versprach |...](s. Anm. 55, S. 192). Die aus einem unscheinbaren Kontrapunkt aus dem Hauptthemenkomplex gebildete G-Dur-Episode nach der Exposition des

ersten Satzes der Vierten Symphonie Mahlers, eine selige Stelle, liegt vor dem Hörer da wie das Dorf, vor dem ihn das Gefühl ergreift, das wäre es |...) Das Mahlersche Formgefühl verlangt aber, daß dieser episodische Charakter der Gesamtsymphonie nicht wieder entgleite; das lang ausgesponnene erste Thema des Variationssatzes

der Vierten hat, ohne alles schrille Pathos, denselben Frieden eines wunschlos Heimatlichen, geheilt vom Schmerz

der Grenze (S. 193). ”7 zur Doppelbödigkeit der 4. Symphonie zuletzt Sponheuer (s. Anm. 59), S. 216 f. 78 vgl. Sponheuer (s. Anm. 59), S. 192 79 hierzu eingehender Sponheuer (s. Anm. 59), S. 187 — 200

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Klaus Kropfinger

vermitteln, so sind zwei hervorzuheben: das mit der ersten Strophe erklingende Hauptthema und das Schellenmotiv, dessen Wirkung freilich eng an die gegensätzliche Schlußklausel gebunden ist. Während das Schellenmotiv zu Beginn der zweiten Strophe in die himmlische Sphäre einbricht (Johannes das Lämmlein auslasset) und seine Kontrastfunktion®° auch in den Sechzehntelpassagen im zweiten Teil der dritten Strophe wirksam wird (Willst Rehbock, willst Hasen), verdrängt das Hauptthema schließlich in der vierten Strophe die naiv verklärte Brutalität. Textlich wird das an der Wiederholung der Verse Kein Musik ist ja auf Erden, strukturell und formal daran sichtbar, daß dieser letzte Abschnitt der vierten Strophe die Position des Nebengedankens einnimmt*'. Mit dieser Wiederholung aber

wächst der letzte Strophenabschnitt über den Rang eines bloßen Nebengedankens hinaus. Es ist die eigentliche Stufe der Abhebung im Werk; die himmliche Verklärung ist eine Verklärung durch Musik. Sie ist eine Apotheose der Verinnerlichung. V In Wahrheit baut er [Mahler] das Modell der Interpretation in das Modell der Komposition ein, und zwar in einem Grad, den der Komponist vor ihm nie gekannt hat; er schmilzt die Forderung des Interpreten in den Gang der Erfindung ein, ohne sich indessen von ihnen tyrannisch festlegen zu lassen.°?

Boulez verweist auf die bei Mahler wohl einzigartige Verbindung von kompositorischem und interpretatorischem Impuls. Der schöpferische Impetus lenkte den Gestus des Dirigenten, dieser aber wirkte zurück aufs Werk. Es ist dieser Gestus, Inbegriff kompositorisch stimulierter Konzeption und Nachgestaltung, der Faszination und Schock des Orchesterleiters bestimmte. Hiervon zeugen zahlreiche Konzert- und Opernkritiken. Nicht zuletzt eigenwillige und wechselnde Tempi wurden zum vielzitierten Qualtitätssiegel des Dirigenten*°. Diese bekannten Kritikpunkte lassen jedoch aufhorchen, wenn in der Wirkung des Dirigenten die Identität des eigenen Werkes zur Sprache kommt, wenn anläßlich der von Mahler geleiteten Aufführungen der 4. Symphonie vom dauernden Wechsel des Tempos** die Rede ist. Was steht hinter dieser Aussage? Meinte sie Tempoübergänge und Vermittlung der Tempi, meinte sie Tempostufung — oder beides? Zu Beginn des I. Satzes lautet die Überschrift der durch das Schellenmotiv bestimmten ersten drei Takte Bedächtig , die des Hauptsatzgedankens aber Recht gemächlich. Mahler hat durch Zusätze — Nicht eilen (T. 1) und Haupttempo (T. 4) — verdeutlicht, daß es sich nicht um ein und dasselbe Tempo handelt. Den Tempounterschied hat er aber erst in der Abfolge mehrerer Korrekturen präzisiert. Der von Erwin Ratz im Revisionsbericht der Gesamtausgabe erwähnte Bürstenabzug, der noch an zahlreichen Stellen von der Erstausgabe (EA) abweicht®°, weist für den

*° Dieser Eindruck wird durch die grelle Instrumentation, die hier besonders deutlich hervortetenden Piccoloflöten, unterstrichen. Dieser funktionelle Aspekt ist gegenüber der bei Sponheuer (s. Anm. 59, S. 198f.) betonten, bloß andeutende[n] Wiederaufnahme der Rhythmik des Nebengedankens hervorzuheben. Pierre Boulez: Mahler aktuell?, in: Gustav Mahler und Wien, Stuttgart/Zürich 1976, S. 26 ®® vgl. de La Grange (s. Anm. 75), S. 263, 380, 881 °* vgl. de La Grange (s. Anm. 75), S. 651

vgl. Gustav Mahler, Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe |...] Band IV, Symphonie Nr. 4|...] Erstausgabe der endgültigen Fassung, Universal Edition [...] mit einem knappen Revisionsbericht von Erwin Ratz, S. 1 des (unpaginierten) Revisionsberichts

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Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

Satzbeginn noch die Überschrift Heiter, behaglich samt der Metronomisierung J= 88 auf,

für Takt 4 jedoch .= 76. Über die Erstausgabe (1902), in der die Metronomisierung wegfiel und die Überschrift sich in Heiter, bedächtig wandelte, gelangte Mahler schließlich in der zweiten Partitur-Ausgabe (1905) zur seitdem gültigen Version: Bedächtig, nicht eilen!**. Aus einer ohne Zweifel auf den I. Satz zu beziehenden Überschrift samt Metronomisierung” wurde schließlich eine die ersten drei Takte allein charakterisierende Bezeichnung. Von ihr hebt sich nun einerseits der Hauptgedanke — Recht gemächlich (Haupttempo) — ab, mit ihr korrespondiert andererseits der zweite Überleitungsgedanke Plötzlich langsam und bedächtig, dessen vom Seitensatz unterschiedene Tempoqualität ja auch erst durch eine Änderung der Überschrift ganz klar geworden war*®. Diese Temporelationen des Satzbeginns mit anderen Teilen des Satzes bestätigen, daß nicht eilen mit Blick auf die folgende Überschrift Haupttempo soviel bedeutet wie langsamer. Die Unterscheidung der Tempi aber entspricht einer formal und strukturell unverkennbaren Differenzierung der musikalischen Motive und Gedanken; repräsentieren doch die Takte 1-3 die Miniaturform einer Einleitung und zugleich einen prägnanten Kontrast zum ersten Hauptsatzmotiv. Mahler hat diesen Kontrast auf engstem Raum vermittelt, und er hat diese Vermittlung so komponiert, daß die musikalische Textur den Tempoübergang bereits einschließt. Die dem Dirigenten durchs Ritardando signalisierte Dehnung des Tempos findet ihre komposi-

torische Umsetzung in der sich wandelnden rhythmischen Dichte der 3. und 4. Flöte. Die Abstufung über die Folge vier Sechzehntel/zwei Achtel — vier Sechzehntel/ein Achtel + zwei Sechzehntel — Zwei Sechzehntel/ein Achtel bis zu den verebbenden drei Achteln ist eine verschlüsselte agogische Anweisung. Sie ist die interpretationsbezogene strukturelle Vermittlung der Gegensätze, kompliziert dadurch, daß es sich bei den Takten 1-3 um die Abbreviatur einer Einleitung handelt. Mahler löst das Problem, indem er die Einleitungskurzform selbst noch verkürzt gibt. Vier Takte wenigstens werden gleichsam ineinandergeschoben und auf drei reduziert, was daraus hervorgeht, daß die erste Folge von vier Sechzehnteln + zwei Achteln nur einmal erscheint und damit das rhythmisch-metrische

Gefüge nicht ausgewichtet ist. Dadurch aber erweckt die Einleitung die Vorstellung einer verdeckt vorangehenden Entwicklung, sie wirkt — paradox gesprochen — auch durch das, was nicht klingt. Auf dieser Bahn des Verebbens wird die Verbindung der einleitenden Takte mit dem Hauptsatz möglich; die Einleitung verschmilzt mit dem Walzerauftakt im Moment einer dosierten Stauung, aus der sich der melodische Fluß mit T. 4 löst. Mahlers Probenbemerkung Bitte, spielen Sie das rall[entando] so, als ob wir in Wien einen „Wiener-

walzer“ anfangen*” war die aufführungspraktische Verdeutlichung eines kompositorischen Sachverhalts. Ist der Satzbeginn ein Beispiel dafür, daß kontrastierende musikalische Gedanken durch Elastizität des Tempos vermittelt werden, so bildet der Seitensatz einen namentlich von der zweiten Überleitung deutlich abgesetzten Tempobereich aus. Mahler hat den Gegensatz dadurch unterstrichen, daß er die Überschriften zum zweiten Überleitungsgedanken geän-

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Auch in diesem Punkt vermittelten Mahlers Korrekturen in Mengelbergs Dirigierpartitur vor dem Erscheinen der zweiten Partitur-Ausgabe die aktuelle Version. Zur Streichung in der Überschrift des Satzbeginns vgl. die Tabelle 34122

— J=88 7 Gemeint ist hier die erste Überschrift des Bürstenabzugs: Heiter, behaglich, deren Metronomisierung J=76 bezog sich dagegen auf das infolge des Walzerauftaktes dem Mittelwert des Haupttempos enspricht. zwangsläufig langsamere Anfangstempo in T. 4. # vgl. die Tabelle S. 122 ®% vgl. die Tabelle S. 131

Klaus Kropfinger

dert hat. Anstelle des ursprünglichen Sehr gemächlich (langsam) schrieb er in Mengelbergs Partitur Plötzlich langsam und bedächtig (Molto meno mosso)”. Diese Korrektur ist auch ein Hinweis darauf, daß der Seitensatz nicht zu langsam genommen werden darf, damit

das Tempo der zweiten Überleitung nicht zu stark zurückgenommen werden muß und die Temponuancen in der Überleitung selbst verwirklicht werden können. Das Tempo des Seitensatzes steht aber auch in Relation zur Schlußgruppe, deren Tempo sich nicht nur vom unmittelbar vorangehenden Geschehen abheben, sondern die aufgrund des breiteren Tempocharakters auch gegenüber dem Seitensatz eine deutliche Steigerung beinhalten muß. Mahlers „dauernder Wechsel des Tempos“ umfaßte Tempostufungen und Tempovermittlung in den verschiedensten strukturellen Konstellationen und formalen Zusammenhängen, interpretatorische Umsetzung eines kontrastreichen, vielschichtigen und vernetzten musikalischen Gefüges”". VI

Die Untersuchungen zum musikalischen Gefüge und zur Tempostruktur in Mahlers 4. Symphonie vervielfältigen die Probleme des Tempos, damit aber auch die Aspekte, unter denen Mengelbergs Interpretation betrachtet werden muß. Nicht nur das Grundtempo, sondern auch Temporelationen, Tempostufung und -vermittlung spielen eine zentrale Rolle. Damit ist das komplexe Feld des musikalischen Vortrags nicht etwa an die Peripherie verwiesen. Mahlers Korrekturen zielten auf beide Bereiche. Die Schärfung der motivischen Artikulation wie auch die Präzisierung bestimmter Tempocharaktere — beides hervorstechende Merkmale seiner Redaktion, die in die zweite Partitur-Ausgabe eingingen” — haben sich Mengelberg ohne Zweifel ebenso mitgeteilt wie die Probeneindrücke und die Concertgebouw-Aufführungen im Oktober 1904. Mengelberg geht bei den Metronomangaben zum I. Satz von den Notizen der Titelblattrückseite aus, also von den Tempoangaben Mahlers oder von deren metronomischer Umsetzung. Die über dem Satzanfang stehende Folge von Metronomzahlen — 69-72 — 80-92 —, deren erste und letzte umkreist sind, zeigt, daß Mengelberg die Grenzwerte des Tempos besonders hervorhebt. Die Spannweite des Tempos erweist sich als ebenso wichtig wie heikel”. Die Erklärung für den bemerkenswerten Abstand zwischen den Eck werten ist in der den I. Satz in besonderem Maße bestimmenden Vielfalt musikalischer Charaktere”* zu suchen. Gefordert wird ein nicht zu ruhiges Grundtempo dessen Modifikationen sich ebenso balanciert entfalten wie die Abweichungen der Tempocharaktere bei aller Balance deutlich sein müssen. Folgt man Mengelbergs Notizen, dann bewegt sich das Grundtempo zwischen ’”° vgl. die Tabelle S. 122 ®* Diese Feststellung wird nicht etwa durch eine spätere Änderung wie die Einfügung der Überschrift Etwas fließender (T. 63) aufgehoben, die in erster Linie die Tempomodifikation im Rahmen der zweiten Überleitung betrifft und die mit der Änderung der Vortagsanweisung T. 66 zusammenzusehen ist. Diese Änderungen führten von der Bezeichnung Heftig (Erstausgabe) über Etwas eilend (2. Partitur-Ausgabe) zur schließlichen Eliminierung in der GA (vgl. das Vorwort von Ratz). ; 92 vgl. die Tabellen der Mahler-Korrekturen. Ein durchgehender Vergleich dieser Korrekturen, die dann in die zweite Partitur-Ausgabe eingingen, und der tatsächlichen Fassung dieser Ausgabe kann im Rahmen dieser Arbeit nicht vorgenommen werden, wie ja ein Vergleich der Partiturausgaben insgesamt noch aussteht. 93 Zu den hier angeführten Metronomzahlen gehört natürlich auch die auf der Titelblatt-Rückseite als Angabe Mahlers zu findende Ziffer J= 96, die ja im Satzverlauf auch immer wieder auftaucht. 94 Den Ausdrucksbereich des Heiteren hatte Mahler durch die Korrektur der Überschriften (vgl. S. 122) nicht etwa eliminiert, werden doch in der von Mengelberg mitgeteilten Probenbemerkung zum 1. Satz, die ja in die Zeit nach den Korrekturen fällt, die Bereiche heiter/lustig und bedächtig auseinandergehalten.

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Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

d= 80 und J= 92°, und gewöhnlich ist dieser Tempobereich gemeint, wenn sich in der Partitur Mengelbergs Eintragungen a tempo findet. „Tempo primo“ wird dagegen dann

verlangt, wenn es um eine Orientierung am Satzbeginn geht (J= 69), sei es im Sinne des Neuansatzes (T. 239) oder des Tempocharakters (T. 67, 2832 Die Metronomangaben des Satzbeginns bieten auch gewisse Anhaltspunkte für die Erschließung anderer Eintragungen. Durch Bindestriche verbundene Metronomzahlen sind häufig, und sie lassen erkennen, daß kurz bemessene Temponuancen wie auch länger sich erstreckende Tempoabweichungen und -modifikationen in Mengelbergs Interpretation eine wesentliche Rolle spielten. Bei der Häufung mehr oder weniger differierender Metronomzahlen ist zwischen Angaben zu unterscheiden, die auf Tempo-Alternativen oder auf einen Wandel des Tempos im Laufe der Zeit hindeuten, und solchen, die nach einem bestimmten Anfangstempo den Bereich des eigentlichen, des mittleren Tempos angeben. Als TempoAlternativen anzusprechen sind die zu Takt 32 und 80/81 eingetragenen Zahlen, eine Anderung im Tempo ist wohl Angaben wie denen von T. 91 und 251 zu entnehmen; eine Unterscheidung von Anfangs- und Grundtempo liegt wie für den Satzbeginn so auch für T. 4, 18, 109 und 239 vor”. Wie stellt sich nun das Panorama der Tempi und Temporelation insgesamt und in seinem Verhältnis zur Werkstruktur dar? Sieht man die Metronomzahlen des I. Satzes unter dem Aspekt der Sonatensatzform zusammen, so zeigt sich, daß die Tempi korrespondierender Formteile einander entsprechen. Die Tempoangaben der Einleitungstakte samt Hauptsatz (T. 1-3: J= 69; T. 4ff.: J= 69.80 — 92.96), der „fausse reprise“ (T. 72: J= 84), des Durchführungsbeginns (T. 102: J=92-96) und des unverschleierten Eintritts der Reprise (T. 239/240: J= 69.80/92—96) lassen das klar erkennen, wobei allerdings eine Unterscheidung erforderlich ist: Expositionsbeginn und Reprise stimmen auch im Anfangstempo J= 69 überein, während „fausse reprise“ und Durchführungsbeginn dieses Anfangstempo nicht haben. Die in Takt 239 neben der Metrononizahl 69 auch eingetragene Ziffer 80 laßt den Schluß zu, daß hier eine spätere Angabe vorliegt, die ein strafferes Tempo für Takt 239 — und damit auch für den Satzbeginn — signalisiert. Tempoentsprechung liegt auch vor, wenn man die Angaben für den ersten Überleitungsgedanken in der Exposition (T. 32: J= 104) und in der Reprise (T. 257: J= 104) vergleicht. Das gilt nicht minder für den zweiten Überleitungsgedanken (Exposition, T. 58: J=60 — Reprise, T. 283: J= 60-69) sowie für die Schlußgruppe (Exposition, T. 91: J=69-72 — Reprise, T. 323: J= 69). Dagegen ist der mit dem Seitengedanken in der Reprise (T. 263: J= 92) gegebene Tempoanstieg gegenüber der Exposition (T. 38: J= 80) an die in der Reprise dynamisch wie auch im Ausdruck überhaupt unverkennbare Steigerung gebunden. Mengelberg wendet — wie die hinzugefügte Überschrift Sehr begeistert zeigt” — das Schwungvoll von T. 267 schon zu Seitensatzbeginn an”. Mit dieser formbezogenen Zusammenschau der Temporelationen zeigt sich: Mengelbergs Tempogefüge trägt dem Sonatensatzgefüge Rechnung, es weist 95 Außer einer von Mahler selbst konzedierten Toleranz nach oben (J= 96!) ist als zusätzlicher unterer Grenzwert

des Grundtempos auch die Ziffer J= 72 einzubeziehen. 9° Auch für den Beginn des Hauptmotivs (T. 4, 18) trägt Mengelberg die Bezeichnung J=69 oder T[empo] Io ein. Die Begründung hierfür liegt wohl im Charakter des von Mahler in Verbindung mit dem Walzerauftakt hervorgehobenen Rallentando. Dieses Rallentando, ein Nachlassen und anschließendes Fortsetzen im erreichten Tempo (Swarowsky [s. Anm. 65], S. 60) bewirkte, daß Mengelbergs Anfangstempo in T. 4 (und T. 18) das Tempo des Satzbeginns ist. Die sowohl in T. 4 wie in T. 18 hinzugefügten Metronomzahlen 76 —80 deuten in diesem Falle jedoch darauf hin, daß Mengelberg das Tempo sehr rasch straffte (vgl.die Tempoangabe J =80.1n02 21). Tempoanga9” Der Reprisenbeginn (in seiner unverschleierten Form, vgl. S. 159.) birgt jedoch eine Schichtung von zu ben: neben der Metronomzahl J= 69 finden wir die Angabe 80. Hieraus ist auf eine spätere Tempoänderung schließen (vgl. den folgenden Text).

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zugleich aber Besonderheiten auf. Ein deutliches Zeichen hierfür ist das Tempo des Seitensatzes. Trotz seines ausgesprochenen kantablen Zuschnitts ist er nicht als eigentlicher Widerpart des Hauptsatzes aufgefaßt. Sein Tempo, das Mengelberg aus dem Charakter des Marsches gewinnt, hebt sich zwar von dem des vorhergehenden musikalischen Geschehens ab, doch es bildet nur eine Stufe in der Konfiguration der Kontraste. Die einschneidendere Tempostufung im Gefüge aufeinandertreffender musikalischer Charaktere realisiert Mengelberg mit dem zweiten Überleitungsgedanken, ganz im Sinne der korrigierten Überschrift Plötzlich langsam und bedächtig'”. Erwin Stein, der für diesen Symphoniesatz den Unterschied zwischen „bedächtig“ und „gemächlich“ hervorhebt

— ein Unterschied nicht nur

[...] des Charakters, sondern auch des Tempos*?" — und der die Nachlässigkeit so mancher Aufführung in diesem Punkt beklagt, hätte Mengelberg als Beispiel für eine angemessen differenzierende Tempostufung anführen können. Gefordert ist ein unvermittelt und deutlich zurückgenommenes Tempo, das sich nicht nur von dem des Seitensatzes, sondern auch vom Haupttempo unterscheidet. Wie genau Mengelberg diese Unterschiede berücksichtigt, geht aus der Parallelstelle in der Reprise hervor, wo die Partitureintragung ausdrücklich lautet: Tempo Io, wie Anfang, 69, aber etwas ruhiger“”. Ruhiger meint hier, daß die Bezeichnung Bedächtig durch das Wort langsam eine das Tempo zusätzlich dämpfende Bestimmung erhält. Eine nicht weniger deutliche Tempostufung zeichnet Mengelberg schließlich am Ende der Exposition, zu Beginn der Schlußgruppe ein. Molto meno — plötzlich heißt es in seiner Partitur, die Metronomangaben bewegen sich zwischen J= 60-69 und 72. Der Notiz plötzlich ist zu entnehmen, daß es hier wie bei der zweiten Überleitungsgruppe um einen unvorbereiteten Tempowechsel geht. Mengelberg hat aber auch die Vermittlung unterschiedlicher Tempi genau nachgezeichnet. In T. 1-3 zielen senkrechte Striche auf präzise Sechzehntel und Achtel im Ritardando und die Fermate am Ende von Takt drei verweist auf einen besonders breiten Übergang. Nicht weniger deutlich ist Mengelbergs ausgefeilte Tempovermittlung und Tempomodifikation im Seitensatz. Hier findet der Wechsel von ritardando- und a-tempo-Takten des Dirigenten besondere Aufmerksamkeit; überschreibt er doch die Takte 54 und 56 zusätzlich mit breit, hebt er doch die dynamische Kurve, Spannung und Lösung im fluktuierenden Tempo verdeutlichend, noch hervor. Geht aus der Dirigierpartitur bereits die Intention einer möglichst plastischen Realisierung des musikalischen Gefüges hervor, so zeigt die Schallplattenaufnahme demgegenüber noch eine beträchtliche Steigerung der Kontraste und Tempo-Modifikationen, dabei aber auch zum Teil deutliche Abweichungen von Metronomangaben. Der Tempovergleich'® bestätigt sofort die im Zusammenhang mit der geänderten Aufführungsdauer'°* sich aufdrängende Vermutung strafferer Tempi. Die Unterschiede, die Mengelbergs spätere Zeit von einer nicht genauer zu umreißenden früheren abheben, betreffen verschiedene Bereiche: einmal das Haupttempo, dessen Werte höher liegen (« = 88-108), aber auch das Anfangstempo (J = 88), ferner die von der Tempomitte nach oben und unten weiter entfernten Eckwerte (J= 116, J= 48). Damit fallen auch die Tempo”® vgl. die Tabelle, S. 137 ® Mengelberg nimmt damit eine spätere Änderung des Komponisten voraus. In der Gesamtausgabe erscheint Schwungvoll bereits T. 263. 100 vgl. die Tabelle, S. 122, ferner S. 163.

Erwin Stein: Eine unbekannte Ausgabe letzter Hand von Mahlers IV. Symphonie, in: Pult und Taktstock,

6 (1929), S. 32

122 vgl. die Tabelle, S. 137 103 vgl. die Tabelle, S. 131 — 139 1% vgl. S. 118, Anm. 37 und 119

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stufungen weitaus deutlicher aus. So nimmt Mengelberg die Überleitung schneller (T. 32: J= 108), den Seitensatz langsamer (T. 38: J= 76). Ganz besonders deutlich aber ist das viel breitere Tempo der Schlußgruppe. Es liegt nicht nur entschieden unter der Metronomisierung der Partitur (T. 91: J= 48-54), es hebt sich auch ab, weil die vorangehenden Partien ä er reprise“ das vorgesehene Tempo übersteigen (T.83: J= 104, T. 89/90: Die Extremwerte der Tempi, die den Kontrast der musikalischen Charaktere intensivieren, korrespondieren mit den Überschriften, die Mengelberg einzelnen Abschnitten des Satzes hinzugefügt hat. Neben dem den Seitensatz charakterisierenden Marsch tempo fällt besonders das der Schlußgruppe beigefügte Seligkeit ins Auge. Es ist die knappe Formel für das „Verweile doch, du bist so schön“, das der weit ausholende melodische Gestus „sich wölbender Überschlagsfiguren“ in Mengelbergs Interpretation zu beschwören scheint. Ähnlich, nur in eine entgegengesetzte Ausdrucksrichtung steigert Mengelberg T. 80 in Verbindung mit einem charakterisierenden Zusatz ins Gestische. Er fügt dem keck der Partitur frisch und lustig hinzu und verleiht damit dem Detail zusätzlich Deutlichkeit, so wie er T. 66, im Verlauf des zweiten Überleitungsgedankens, nicht etwa das in der zweiten Partiturausgabe als Korrektur erscheinende Etwas eilend, sondern — seine Eintragung zeigt es — die frühere Überschrift Heftig realisiert!°. Für Mengelberg blieb dieser Takt ein kontrastierender Einwurf. Was auf diese Weise als Plastizität des Gegensatzes sich darstellt, erweist sich an anderer Stelle des Satzes als prägnante Nachzeichnung motivischer Gestaltung und Konfiguration. Ein Beispiel hierfür ist der ff-Einsatz der Streicher T. 109, zusätzlich gekennzeichnet durch die Eintragung stark. Aber auch dort, wo sich keine Überschriften und Zusätze finden, ist Mengelbergs Bemühen um klar herausgearbeitete Konturen unüberhörbar. So in der Durchführung, etwa an den Einkerbungen T. 109, T. 167 und 177, wo die Achtel sich jedesmal gleichsam neu formieren: gliedernde Gestaltung wird zur musikalischen Gebärde. Doch verleiht Mengelberg den musikalischen Elementen Deutlichkeit nicht etwa durch plakative, sondern differenzierende Prägnanz. Das zeigt sich nicht zuletzt mit dem T. 125 einsetzenden Geschehen, in dessen Verlauf das für den Flöteneinsatz charakteristische Kernmotiv (zwei Viertelnoten + eine Halbe) nuanciert durch die Stimmen geführt wird, ohne daß dabei die Nebenstimmen vernachlässigt würden. Nicht weniger hervorzuheben ist auch die Triolenreihung der Es-Klarinette T. 159, wie ein Vogelruf hervorstechend und doch den Zusammenhang mit dem nachfolgenden Kernmotiv durch eben die artikulierende Rhythmik wahrend, die diesem einen Takt eigenes Profil verleiht. Im forcierten Streben nach Deutlichkeit liegen freilich auch die Gefahren der Interpretation Mengelbergs. Sie lassen sich auf die Formel bringen: überzogene Tempi und allzu breit

deklamierende agogische Differenzierung. Der wohl krasseste Fall für letzere findet sich gleich zu Beginn. Mengelberg macht aus dem etwas zurückhaltend des Violin-Auftaktes ein Molto ritardando, und er unterstreicht diese Übersteigerung noch durch die — eingezeichnete — Fermate auf fis. Mengelberg überträgt also gewissermaßen die Fermate des letzten Einsatzes vom Beginn der Coda auf den Satzanfang. Damit nicht genug, bringt er 105 Aufschlußreich ist die unterschiedliche Verbindung zwischen den Takten 89/90 und der anschließenden Schlußgruppe bei einzelnen Dirigenten. Abbado stoppt in den beiden letzten Takten das Tempo, Walter führt einen fließenden Übergang aus, unterstützt durch nicht allzu weit auseinanderliegende Tempobereiche; Mengelberg dagegen federt ohne vorherige Temporücknahme im Vc-Auftakt ab, Bernstein wiederum nimmt das Tempo etwa ein Achtel vor dem Auftakt zurück, Haitink dämpft merklich ab, und auch Solti glättet den Übergang. 106 Mahler hatte bereits korrigiert. Mengelbergs Partitur enthält von seiner Hand die Eintragung eilend (vgl. die Tabelle, $. 122).

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die übermäßige Dehnung von T. 3 auch noch auf T. 17, wo überhaupt kein Ritardando steht. So selbstverständlich das Einschleifen des Walzers, worauf sich Mahlers Probenbemerkung bezieht, auch mit einer über das Poco ritardando hinausgehenden Dehnung verbunden sein mag, eine derart exzessive interpretatorische Verwirklichung schießt in jedem Fall übers Ziel hinaus; in T. 17 ist überhaupt von einem Verstoß gegen den Notentext zu sprechen. Derartige Übersteigerungen mögen einmal dem Temperament Mengelbergs zuzuschreiben sein, denkbar ist aber auch, daß er im Laufe der Zeit die Konturen der Interpretation immer wieder nachzog, um ein Verblassen zur Routine zu vermeiden '””.

Eine Besinnung auf die Grundstruktur der Interpretation ist für die angemessene Beurteilung Mengelbergs jedoch unerläßlich. Nicht die Übergipfelungen, sondern das diese letztlich tragende interpretatorische Gefüge ist ausschlaggebend. Und hier erweist sich Mengelbergs Wiedergabe nicht trotz, sondern in vieler Hinsicht gerade wegen ihres Nachdrucks als werkgerecht. Das zeigt sich an der Pointierung des Details wie auch der Kontraste als Zusammenhang stiftendes Moment. Die Durchführung erklingt bei Mengelberg als Teil eines zwar kleinteilig gefügten, doch satzübergreifenden Zusammenhanges. Die Schärfung der Kontraste wiederum faßt Mengelberg als Voraussetzung eines Spannungsausgleichs auf, der über die Satzgrenzen hinaus wirkt. Das wird im Kopfsatz der 4. Symphonie besonders deutlich durch die getragenen Partien, letztendlich in der Entfaltung der Schlußgruppe. Wenn Adornos Charakterisierung der am Schluß erklingende G-Dur-Episode je ihr Pendant gefunden hat, dann hier. Jene selige Stelle — in der Aufnahme des ConcertgebouwOrchesters wird sie klangliches Ereignis. Eine auf diese Weise den Satzaufbau entfaltende Interpretation ist ohne Analyse nicht denkbar. Sie tritt bei Mengelberg durch die Metronomangaben ebenso hervor wie in den Satzüberschriften. Spuren solcher Analyse zeigen sich aber auch dort, wo der Dirigent — wie namentlich im II. Satz — zwei oder mehr Takte unter einem Bogen oder unter mehreren Bögen zusammenfaßt. Daß dabei nicht eine strikt durchgeführte Taktgruppenanalyse vorliegt, wird allerdings sehr schnell klar'®. So handelt es sich im II. Satz, ausgehend von Motivschachtelung und Wiederholungsstruktur, um Taktzusammenfassungen, die vor allem die das Scherzo einleitende Wendung des Hornes und den Einsatz der Solovioline kennzeichnen, aber auch bestimmte andere, sich wiederholende Motivgruppen miteinander verbinden, so vor allem an den Nahtstellen des Satzes T. 102ff., T. 199 ff. und 246ff. Man kann in dieser Taktverklammerung eine Grundschicht der Erarbeitung erkennen, die dann von anderen Einzeichnungen überlagert wurde, von Metronomangaben, charakterisierenden Überschriften und anderen Zusätzen. Wie im I. Satz, so ist auch hier — und nicht anders im IN. und IV. Satz — davon auszugehen, daß? Mengelbergs Metronomzahlen im wesentlichen die Mahlerschen Tempi wiedergeben. Dabei sind die formalen Eckpfeiler durch konstant wiederkehrende Tempi oder Tempobereiche bezeichnet, im Zusammenhang mit bestimmten instrumentalen Ausdrucks- und Klangfeldern, auf die Mengelberg auch eigens hinweist. Den ganzen Satz faßt Mengelberg — ausgehend von Mahlers Charakterisierung als Todtentanz '” — unter das

Bild Der Tod führt uns''°, was freilich seinen ganzen Sinn erst erhält, wenn wir Mengelbergs eigene Version der Satzüberschrift: Totentanz Holbein hinzunehmen. Gemeint ist Holbeins 7 Eduard Reeser hat in seinem Symposiumsvortrag auf die Tendenz fortschreitender Übersteigerung in Mengelbergs Interpretation hingewiesen. Zur Taktgruppenanalyse vgl. Swarowsky (s. Anm. 65), S. 29-37 10% vgl. Reeser (s. Anm. 7), S. 53 und S. 116

10 vgl. S. 116 168

Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

Holzschnittfolge Bilder des Todes“, die Mengelberg allein schon durch die Werkstatt seines Vaters!’ bekannt gewesen sein dürfte. Nehmen wir noch die Anmerkung hinzu Sologeige der Tod immer sehr wüst fff einsetzen‘"°, dann wird deutlich, daß dieser II. Satz sich dem Dirigenten als musikalische Bilderfolge eines Totentanzes darstellte. In diese Bilderfolge sind die Trio-Abschnitte als die Welt des Todes transzendierende oder doch

zumindest überstrahlende Erscheinungen eingeblendet. Das Wesen dieser Auffassung ist aber nun sicherlich nicht die Überführung der Musik ins Programmatisch-Plakative. Entscheidend ist vielmehr, daß diese Vorstellung es Mengelberg ermöglichte, den Trio-Abschnitten die Ausstrahlung des Ereignishaften, etwas vom Verweilen des glücklichen Augenblicks in der Sequenz des Todes abzugewinnen. Überschriften wie schöne Gegend und Schöne Wiese zeigen das deutlich genug. Daß Mengelbergs Vorstellung dabei letztlich immer an die Struktur der Musik gebunden blieb, kann man wohl an der Steigerung T. 254ff. ablesen, wo er allein die Zunahme an Überhöhung signalisiert: noch schöner — sehr lieb und schön''*. Es kann nicht überraschen, daß die Tempi der Aufnahme auch in diesem Satz gegenüber der Partitur einen Anstieg der Intensität erkennen lassen. Der in der Partitur festgehaltene Tempoabstand zwischen Scherzo und Trio (N ca. 120 und J ca. 100) wird auf der Schallplatte für die Scherzo-Teile eindeutig überschritten (N = 138 und mehr). Der entscheidende Unterschied liegt indes an der eigentlich transzendierenden Stelle des Satzes bei jenen Takten 254ff., die Mahler mit sich noch mehr ausbreitend überschrieben hat. Während Mengelberg nämlich den Beginn des ersten und zweiten Trios auch in der

Aufnahme auf der Tempo-Ebene der Partitur hält, reduziert er das Tempo im dritten Teil des zweiten Trios gegenüber der Metronomisierung sehr deutlich. Damit aber wird dieser Satzabschnitt nicht nur im Verhältnis zum Scherzo, sondern vor allem im Rahmen des Trios vom musikalischen Kontext abgehoben. Das Tempo trägt auf diese Weise die im pp besonders weit ausschwingende Violinstimme, unter deren Überwölbung die B-Klarinette sich — etwas hervortretend — in breitem Bogen entfaltet. Die Wölbung dieses Trio-Abschnitts ist freilich aufgehoben in dem Bogen, der die Formabschnitte und Sätze übergreift. Mengelbergs Interpretation nimmt die von der Schlußgruppe des I. Satzes stammende Ausstrahlung des Erfüllungsfeldes auf, um sie weiterzuentfalten, um den entscheidenden Aufschwung des III. Satzes im Durchbruch der Takte 315ff. aus der Konstellation seiner Variationsthemen zu entwickeln. Entscheidend für das Gelingen dieses Prozesses ist die Relation der Tempi. Mengelberg leitet sie her aus dem getragenen Charakter des ersten Themas, dessen Tempo er allerdings nicht zu langsam nimmt, so daß das viel langsamer des zweiten Variations-Themas durch eine Stufung der Tempi deutlich wird. Verwirklicht Mengelberg auf diese Weise die Differenz der Variations-Themen, so hält er sich auch mit seiner Metronomisierung im weiteren Verlauf grundsätzlich an die Partitur. Die Temporelation ab T. 107(J=J des letzten Taktes) beachtet er ebenso wie die von T. 179 (J wie zuletzt J), und auch T. 283 nimmt er das Tempo weitgehend der Partiturvorschrift entsprechend zurück (J wie vorher ..). Auch in diesem Ill. Satz ändern sich die Tempi jedoch mit der Schallplattenaufnahme. Die Tempoausschläge nach „oben“ und „unten“ werden größer; doch ist festzuhalten, daß

die Temporelationen gleichwohl gewahrt bleiben. Indem Mengelberg die Tempogegensätze 111 Der Zyklus,

der 51 Holzschnitte

umfaßt,

figuriert auch

unter dem

Titel Todesbilder,

vgl. den Katalog der

Ausstellung Die Malerfamilie Holbein in Basel, Basel (1960), S. 327f.

112 Mengelbergs Vater war Bildhauer und hatte in Utrecht ein Atelier für kirchliche Kunst (vgl. Reeser [s. Anm. 7), SLR).

113 yo]. S. 121 114 vgl. die Tabelle, S. 143

169

Klaus Kropfinger

verschärft, gelingt es ihm, sogar die Entwicklungskurve von der Gelöstheit des ersten Themas

bis zum

Durchbruch

zu intensivieren.

Doch wäre es falsch und einseitig, die

Mengelbergsche Interpretation hierauf zu reduzieren. Ein ganz wesentliches Moment der Interpretation gewinnt er aus der unterschiedlichen Gestaltung der beiden VariationsThemen. Nimmt er das erste fließend, so das zweite samt Variationen in einem besonders ausgeprägten Rubatostil. Was sich hier ab T. 71 an Tempo-Fluktuation entwickelt, entdeckt Mengelberg bereits zu Beginn des Themas auf engstem Raum, in den Ausdruckswerten klagend sehr ausdrucksvoll und singend. Es ist die äußerst verfeinerte Artikulation, der er besondere Aufmerksamkeit widmet; aber auch die kurzgliedrige Melodik dieser Passagen trägt zur Biegsamkeit des Tempos bei. Diese Beziehung von Tempo-Kontrast und differenzierender Gestaltung verbindet Detail und Gesamtentwicklung in überzeugender Weise. Mengelbergs Interpretation überhöht den Durchbruch im III. Satz zur Epiphanie. Die neue Dimension des Himmlischen Lebens wird zum klanglichen Ereignis — eine musikalische Szenerie des Überirdischen und der Rahmen des ersten Auftritts für das Hauptthema des Liedfinales. Die diesen musikalischen Sachverhalt suggestiv verdeutlichende Überschrift zu Takt 315 — Gottes Herrlichkeit —Glanz""’ — ist sicherlich nicht zufällig die einzige in Rotstift. Doch so intensiv wie er den Durchbruch gestaltet, so behutsam glättet Mengelberg bis zum Verklingen die Wellen der Klang-Eruption. Es wäre falsch, nach dieser klanglichen Phantasmagorie im letzten Satz sogleich eine Zurücknahme ins Unirdisch-Esoterische zu erwarten. Mengelberg folgt auch hier nicht einem programmatischen Schema, sondern der musikalischen Struktur. Dabei erweist sich der Schlußsatz trotz der hinzugefügten Überschrift Leise, leise Fromme Weise aber fröhlich durchaus als hintergründig. Die Anmerkung bas solo den Ochsen""® ist mehr als nur ein Fingerzeig für den Dirigenten. Tatsächlich klingt dem Hörer etwas vom Aufschrei der Kreatur entgegen, die Verbindung von Vorschlag und Vorhalt wird zur musikalischen Fassung einer evokativen Klanggebärde, angezeigt auch durchs Wort medelijden''’. In solchem Kontext wirken die Einwürfe des Schellenmotivs greller. Dem Kontrast trägt Mengelberg durch Steigerung der Tempi Rechnung. Indem er das Tempo der Schlußklausel zurücknimmt, wirkt das Schellenmotiv besonders kraß. Es durchschlägt die Stille. In dieser Kontrastschärfung und in der deutlichen Zurücknahme der letzten Strophe liegen die einzig hervortretenden Unterschiede zwischen Mengelbergs Tempi und denen Mahlers. Zwar folgt auch Mahler dem Plötzlich zurückhalten der Schlußklausel; aber er deutet eher an, Mengelberg spitzt die Divergenz der Tempi zu, auch hier über die Partitureinzeichnungen hinausgehend. Folgt des Dirigenten Tempokurve grundsätzlich der des Komponisten, so bewirkt Mengelbergs Auffassung doch, daß die Schlußstrophe — gesteigert durch die Wiederholung im Nebengedanken — auf ebenso behutsame wie eindrucksvolle Weise vom vorhergehenden musikalischen Geschehen sich abhebt. Nehmen alle Interpreten hier auch das Tempo zurück, bei Mengelberg erlangt die Beruhigung des Ausdrucks einen ganz besonderen Grad der Wendung nach innen!"*, Die Progression der Erfüllung — vom ersten Satz ausgehend, aus der Struktur des Kopfsatzes in die Dimension der satzübergreifenden zyklischen Form wachsend — gewinnt eine eigene ns angemessener Nachgestaltung.

115 vgl. die Tabelle, S. 151 und S. 117 {116 vgl. die Tabelle, S. 153

17 vgl. die Tabelle, S. 153 In dieser Wendung nach innen ist durchaus eine Verbindung zu der Doppelbödigkeit zu sehen, die gerade auch den letzten Satz zeichnet.

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Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

Vu Mengelbergs Mahler-Interpretation hat ihre Wurzeln in der Auffassung des Komponisten aber sie unterscheidet sich — geht man von der 4. Symphonie aus — wesentlich von BE Bruno Walters, der seine Aufführungen mit gleichem Recht als authentisch verstehen konnte'"?. Walter gehörte zum engsten Kreis Mahlers, er war als Korrepetitor und Chorleiter 1894 —96 in Hamburg und seit 1901 in Wien durch den unmittelbaren künstlerischen und menschlichen Umgang mit Mahler wesentlich geprägt worden'?°, Die Vertrautheit mit Mahler kommt in dem Brief zum Ausdruck, den Walter anstelle des Komponisten auf eine Anfrage Ludwig Schiedermairs über den Grundgedanken der IVten Symphonie Gustav Mahlers'* schrieb und in dem er sich sehr dezidiert äußerte:

Es wird von so vielen Seiten der Ruf nach einem Programm erhoben, daß es wichtig erscheint, Mahler’s Stellung zu dieser Frage zu präzisieren. Um es gleich herauszusagen: Mahler perhorresziert aufs energischste jedes Programm; muß man denn wirklich, so fragt er, ein Programm haben, um einen Satz mit erstem Thema, zweitem Thema, Durchführung und Reprise zu verstehen? Oder ein Scherzo mit Trio? Oder ein Andante mit Variationen? Die Konstruktion der drei ersten Sätze der IVten ist eine so völlig diesem Schema entsprechende, daß der Ruf nach einem Programm höchstens durch den Wunsch gerechtfertigt erscheinen könnte, das Verhältnis des vokalen, vierten Satzes zu den vorhergehenden zu ergründen; und diesem Wunsch wird durch den Text des letzten Satzes schon zur Genüge entsprochen. Aber man ist eben heut gewöhnt, bei komplizierter erscheinenden musikalischen Gebilden durch ein Programm über alle Intentionen des Autors aufgeklärt zu werden, und kommt deshalb nicht darauf, daß, auch heutzutage noch, die Musik selbst Kern und Schale zugleich sein kann; das ist aber bei Mahler durchaus der Fall.'*? 119

Nach der Aufnahme der 4. Symphonie mit dem New York Philharmonic Orchestra schrieb Bruno Walter an Alma Mahler-Werfel: Seit Jahren und Jahren bemübe ich mich, Aufnahmen von den Mahler’schen Symphonieen zu machen, damit doch ein Anhalt für die kommenden jungen Dirigenten da ist (s. Anm. 25, S. 277£.). Es existiert allerdings noch eine weitere und spätere Aufnahme mit Bruno Walter als Dirigent von Mahlers 4. Symphonie. Es ist die Wiedergabe eines Konzerts mit dem Wiener Philharmonischen Orchester und Elisabeth Schwarzkopf als Solistin (Discocorp, BWS - 705). Diese aus dem Jahre 1960 stammende Interpretation zeigt in verschiedenen Punkten größere Flexibilität, an bestimmten Stellen aber namentlich eine deutlichere Abhebung der Tempi. Das gilt nicht zuletzt für den ersten Satz. Die Einleitung beginnt mit J= 69, T. 4 ist ein Tempo von J ca. 72, T. 7/8 schließlich von J= 80 erreicht; eine Tempostufung, die ziemlich genau den Eintragungen der Dirigierpartitur Mengelbergs entspricht. Hervorzuheben ist aber, daß Walter jetzt die G-Dur-Episode weitaus breiter nimmt, als in der amerikanischen Einspielung. Bestätigt Walter damit einerseits gleichsam bestimmte, auch in der Analyse betonte Aspekte der Mengelbergschen Interpretation, so ist er andererseits in der Gestaltung der Mahlerschen Kontraststruktur auch hier bei weitem nicht so konsequent wie Mengelberg. So gerät der Walzerauftakt T. 3 zwar etwas breiter, doch immer noch zu flach — auch wenn man Mengelbergs exzessive Dehnung nicht als Maßstab

120

nimmt.

Vor allem aber behalten die Takte 58ff. und 283ff. auch jetzt, weil entschieden zu schnell

gespielt, Überleitungscharakter. Die Kontraststruktur tritt also auch hier zugunsten der Sonatensatzform zurück. Die Frage, warum Walter später in bestimmten Punkten so deutlich von der Einspielung des Jahres 1945 abwich, kann hier nicht eingehend untersucht werden. Denkbar wäre aber immerhin, daß er in den USA eine geglättete, bewußt ‚angepaßte‘ Interpretationsversion bot. Möglicherweise wiederholte sich hier in gewisser Weise die problematische Situation der Mahlerschen Symphonik aus der Zeit der Werkentstehung und ersten Aufführungen (vgl. Arnold Schönbergs Auseinandersetzung mit dem Musikredakteur der New York Times, Olin Downes, über Mahlers 7. Symphonie. Downes Auffassung ist ein Dokument der vorurteilsbedingten Ablehnung Mahlerscher Musik. Schönberg führte diese Position mit dem analytischen Hinweis auf Mahlers schöpferische melodische Kraft ad absurdum — A. Schönberg: Briefe, eingel. und hg. von Erwin Stein, Mainz [1958], S. 271-277). vgl. Bruno Walter: Gustav Mahler, Frankfurt a. Main *1957

121

vgl. Walter (s. Anm. 25), S. 48

122

Walter (s. Anm. 25), S. 48.

171

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Walter läßt es damit jedoch nicht bewenden. Er geht an anderer Stelle des Briefes noch auf die Frage ein, inwieweit mit der Musik korrespondierende Bilder möglich sind: Sie sehen, daß jemand, der das Wesen der Musik so begriffen hat — als Gleichnis des tiefsten Wesens der Dinge, und deshalb ungeeignet, dessen einzelne Erscheinungen wiederzugeben — niemals Musik zu einem Programm schreiben kann. Dagegen wird er im Stande sein, eine ganze Anzahl von Bildern zu nennen, deren Wesen mit dem seines Werkes verwandt ist. Unter diesem, etwas ausführlich geratenen Vorbehalt, teile ich Ihnen nun mit, daß die drei ersten Sätze der IVten Symphonie ein himmliches Leben schildern können: man könnte sich im ersten Satz einen Menschen denken, der es kennen lernt; es waltet darin eine unerhörte Heiterkeit, eine unirdische Freude, die ebenso oft anzieht wie befremdet, ein erstaunliches Licht und eine erstaunliche Lust, der freilich auch menschliche und rührende Laute nicht fehlen. — Der zweite

Satz könnte die Bezeichnung finden: Freund Hein spielt zum Tanz auf; der Tod streicht recht absonderlich die Fiedel und geigt uns in den Himmel hinauf. Ich bemerke nochmals, daß dies nur eine der vielen möglichen Bezeichnungen ist. — „Sankt Ursula selbst dazu lacht“ könnte der dritte Satz genannt werden, die ernsteste der Heiligen lacht, so heiter ist diese Sphäre, d.h. sie lächelt nur, und zwar lächelt sie so, erzählte mir Mahler, wie die Monumente der alten Ritter oder Prälaten, die

man beim Durchschreiten alter Kirchen mit über der Brust gefalteten Händen sieht, und die das kaum bemerkbare, friedvolle Lächeln des zu ruhiger Seligkeit hinübergeschlummerten Menschenkindes haben;

feierliche selige Ruhe, ernste, milde Heiter-

keit ist der Charakter dieses Satzes, dem auch tief schmerzende Kontraste — wenn Sie so wollen als Reminiszenz des Erdenlebens — , sowie eine Steigerung der Heiterkeit ins Lebhafte nicht fehlen. — Wenn der Mensch nun verwundert fragt, was das alles bedeutet, so antwortet ihm ein Kind mit dem vierten, letzten Satz: Das ist das

himmlische Leben.'> Bruno Walters Auffassung vom Wesen der Musik hat ihr Zentrum in Schopenhauer '**. Die Beliebigkeit der zum Werk hin vermittelnden Bilder, auf die im Brief besonders hingewiesen wird, läßt sich von des Philosophen Ausführungen herleiten, die von der Verbindung zwischen Musik und Dichtung und/oder anschaulicher Darstellung handeln:

Solche einzelnen Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt, sind nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden, oder entsprechend; sondern sie stehn zu ihr im Verhältniß eines beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff |..."

Verständlich wird, daß in Walters Auffassung die formalen Gegebenheiten des Sonatensatzes absoluten Vorrang hatten, eine ästhetische Position mit interpretatorischen Folgen. Anders als im Falle Mengelbergs ist denn auch seine Dirigierpartitur relativ frei von

13 Walter (s. Anm. 25), S. 51f.

"* Allein die Auffassung der Musik als Gleichnis des tiefsten Wesens der Dinge deutet auf Schopenhauer hin. Der Frage, ob Walter hier eigene Gedanken hinzufügt, kann in diesem Zusammenhang nicht nachgegangen werden.

*

1722

Zu fragen wäre, ob die Orientierung an Schopenhauer, sollte sie Walters Zutat sein, nicht auf Mahlers Einfluß zurückgeht, der als Schopenhauer-Kenner den Jüngeren sehr wahrscheinlich ins Denken des Philosophen eingeführt hat. Verbürgt ist, daß Mahler Weihnachten 1894 Schopenhauers Gesammelte Schriften Walter zum Geschenk machte (vgl. de La Grange [s. Anm. 75], S. 312f.). Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Sämtliche Werke II, Leipzig 1938, S. 310f.

Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

Eintragungen ’*°, Handschriftliche Anmerkungen, soweit vorhanden, dienen eher der Glättung — etwa der Milderung dynamischer Kontraste'?7, Eine Erschließung und Verdeutlichung der kontrastbestimmten Überformung des Sonatensatzes, wie im Falle der 4. Symphonie, lag nicht im Interpretationswollen Walters. Diesen Eindruck bestätigt die Schallplatteneinspielung. Dämpft Walter in der Partitur die Dynamik, so in der Aufführung zusätzlich fast durchweg allzu starke Tempokontraste. Dabei ist die Einspielung nicht etwa metronomisch geglättet, auf eine Tempoebene reduziert. Sie kann, namentlich was den I. Satz betrifft, durchaus als eine Wiedergabe mit wohldosierten Temponuancen angesprochen werden. Doch hier stellt sich die Frage, ob solche Abgemessenheit den tatsächlichen strukturellen und formalen Gegebenheiten angemessen ist. Wie und wo setzt Walter Tempounterschiede ein, wie sind sie beschaffen, wo klammert er sie aus? Die entscheidenden Punkte sind rasch auszumachen. Die Interpretation erhebt den Seitensatzbereich zum eigentlichen Gegensatz des Hauptthemas, das aber verzerrt die gesamte Tempo- und Satzstruktur. Da Walter den Seitensatz — ganz im Sinne des Sonatensatzes\ — als untere Grenze der Tempominderung auffaßt, kann er weder den zweiten Überleitungsgedanken noch die Schlußgruppe in adäquatem Tempo bringen. Die nicht nur für den Kopfsatz, sondern für den zyklischen Aufbau überhaupt einschneidende Konsequenz ist, daß die Schlußgruppe nicht als charakteristisches Gebilde der Überhöhung fungiert; die Erfüllung der G-Dur-Episode fällt ins Schema zurück. Bezieht man die anderen Sätze auch nur kursorisch ein, so wird die aus dem I. Satz sich ergebende Auffassung bestätigt. Bleibt im II. Satz allein schon der unterschiedliche Charakter von Scherzo und Trio äußerst blaß, so behält Walter T. 254ff. das Tempo des zweiten Trios bei, so daß die nicht zuletzt aus der Tempodehnung sich ergebende Auflichtung ausbleibt. Noch deutlicher wird des Dirigenten Prinzip weitgehender Kontrastreduzierung aber im III. Satz; ist doch das Tempo des ersten auch für das zweite Variations-Thema gut genug. Die Folge ist, daß die Interpretation auch hier die Bauidee des Satzes verfehlt, daß auch der Durchbruch — die Erscheinung, in der die Zeit vom Klangereignis absorbiert scheint — ausbleibt. Allzu schnell setzt sich eine allzu rasche Zählzeit durch. Rasche Zählzeiten regieren auch das Liedfinale. Walter nimmt namentlich die Tempi der Liedstrophen zum Teil deutlich schneller als Mengelberg und Mahler, was vor allem in der letzten Liedstrophe auffällt, wo selbst die Takte 153 ff. nicht zurückgenommen werden '*®, Dies und die damit durchgehend verbundene starke Annäherung der Liedstrophen und der Schelleneinwürfe an denselben Tempobereich stehen aber jener Idee der Überhöhung entgegen, aus der das Liedfinale seine Stellung als Werkabschluß gewinnt und die es aus sich selbst noch einmal verwirklicht. In dieser Auffassung Walters wirkt das Finale als Schlußsatz im geläufigen Sinne. Der tiefere Grund hierfür liegt freilich darin, daß in Walters Interpretation der über die Erlösungsfelder der einzelnen Sätze zum Schlußsatz sich erstreckende Bogen der Abhebung und Überhöhung nicht wirksam wird. Es ist die Differenz der ästhetischen Perspektive, die letztlich die Interpreten trennt. Im Gegensatz zu Walter gewann Mengelberg die bestimmenden Elemente seiner Interpretation nicht aus dem festliegenden Raster bestimmter Formen, sondern aus einer strikten Orientie126 Walters in der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, Bruno-Walter-Archiv, liegendes Handexem-

plar der 4. Symphonie war 1979/80 in Düsseldorf im Rahmen der Ausstellung Gustav Mahler. Interpretation zu sehen (vgl. den Ausstellungskatalog [s. Anm. 18], S. 85).

Werk und

E 127 vgl. Mahler. Werk und Interpretation (s. Anm. 18), S. 85 128 Es ist bemerkenswert, daß selbst Mahler hier das Tempo reduziert, obgleich doch die Partiturvorschrift a tempo lautet.

173

Klaus Kropfinger

rung an der individuellen musikalischen Struktur, deren Verlaufs- und Spannungsformen er durch die katalysatorische Funktion bestimmter Vorstellungen und Bilder intensivierte. Hierbei ging Mengelberg von den programmatischen Bemerkungen des Komponisten aus, und seine Einzeichnungen wären wohl kaum stehengeblieben, hätte Mahler sich gegen sie ausgesprochen, hätte er sie perhorresziert wie Walter schreibt. Warum aber hier Zustimmung, in Walters Brief dagegen Ablehnung? Aus einem sehr erhellenden Aufsatz Hermann Danusers!?? geht hervor, daß die absolute Negierung des programmartig deutenden Zugangs zu Mahlers frühen Symphonien jedenfalls nur die einseitig verkürzende Lösung einer tiefgreifenden Problematik sein kann, einer Problematik, die im Werk selbst liegt. Danach ist — ausgehend von Mahlers eigenen Bemerkungen — auch für seine 4. Symphonie an der Existenz eines inneren Programmes als Umriß von Stimmungs- und Charakterkonstellationen, aus denen sich die musikalische Entwicklung herleitete, nicht zu zweifeln'?°. Entscheidend war die rein musiksprachliche Ausformung, der unzweideutig musikalische Erzählton, der das immer mißverständliche Programm als Verständniszugabe schließlich überflüssig machen sollte. Mengelberg war also dem inneren Programm des Werkes auf der Spur, wenn er in seiner Partitur — bildhaft deutlich, aber immer von Mahlers Vorstellungen und Angaben ausgehend — Ausdrucksund Evokationszonen der musikalischen Struktur bezeichnete und ihren Verknüpfungen nachspürte. Hinter Mengelbergs Partitureintragung steht ohne Zweifel eine bedeutende analytische Leistung, und es ist auffallend, wie sehr seine Interpretation die Doppelbödigkeit des Werkes unterstreicht, die doch erst durch Adorno als hermeneutischer Begriff in die Mahlerliteratur Eingang gefunden hat. Dabei ist Mengelbergs Interpretation sicherlich nicht als Dechiffrierung des Werkes angelegt. Seine aufs Detail gehende, die mosaikhafte Fülle präzisierende, Tempo- und Klangkontrast schärfende Wiedergabe schafft jene Dichte im Mannigfaltigen, die den Begriff des Weltgetümmels musikalisch ins Bild bringt, zugleich aber auch in der hiervon ausgehenden Abhebung und Überhöhung die Hintergründe und Abgründe ahnbar macht. Die zwiespältige Situation, in der gerade Mahlers 4. Symphonie den Zeitgenossen angesichts seiner Stellung zum Programm erschien, die rezeptionshistorische Perspektive also, läßt beide Dirigenten freilich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Das äußerst kritische Echo, das gerade Mahlers „Vierte“ anfangs fand'*', war sicherlich mehrfach begründet. Enttäuschte, weil aus der 3. Symphonie gewonnene Erwartung, Unverständnis angesichts des Liedfinales'** und Verärgerung wegen des fehlenden Programms fielen zusammen. Vor allem die Frage nach dem Programm aber spitzte das Problem der Interpretation zu. Es schien sinnvoll, eine möglichst geglättete, auf die bekannten Bahnen des Sonatensatzes zugeschnittene Wiedergabe zu präsentieren, war es doch offenbar nicht zuletzt die Verschränkung von Sonatensatz und Kontrastgefüge, die ein programmgestütztes Verständnis als unumgänglich erscheinen ließ '??, Hermann Danuser: Zu den Programmen von Mahlers frühen Symphonien in: Melos/NZfM 1 (1975), 5. 14-19

Zur Differenz zwischen Mahler selbst sprach in das bis jetzt noch wenig Die Kritik ging so weit,

; innerem und äußerem Programm vgl. Danuser (s. Anm. 129), S. 16. einem Brief an Julius Buths vom 12. September 1903 von diesem verfolgten Stiefkinde, Freude auf der Welt erlebt hat (vgl. Stephan [s. Anm. 54], S. 35). Mahler eine gewollt falsche Auffassung der 9. Symphonie Beethovens vorzuwerfen (vgl.

de La Grange [s. Anm. 75], S. 657, 659).

In den Signalen für die musikalische Welt hieß es nach der ironischen Bemerkung, natürlich sei alles, was der Wiener Opern-Director zu componiren für gut befindet, „bedeutend“: [...] es fragt sich nur, was es bedeuten soll, und da die Mahler’sche Symphonie merkwürdiger Weise ohne Programm erschienen ist, so kann man nur

174

Gerettete Herausforderung: Mahlers 4. Symphonie — Mengelbergs Interpretation

Es kann deshalb auch nicht überraschen, daß Walters Interpretation sich als authentische Mahlertradition durchgesetzt und behauptet hat, während Mengelbergs Rang als Mahlerinterpret eher Legende als festumrissener Begriff ist. Mögen auch äußere Umstände mitspielen, Mengelbergs Dirigierverbot nach dem Krieg, das Fehlen weiterer Einspielungen und der ungenügende technische Standard des kargen Plattenbestandes — die Gründe liegen wohl tiefer. Anzunehmen ist, daß Mengelbergs Tendenz zur Überzeichnung vielfach sogleich Distanz, wenn nicht Ablehnung bewirkt, die authentischen Grundzüge seiner Interpretation verdeckt. Dabei erscheint im Extrem seiner Auffassung etwas von den Zügen des Mahlerschen Werkes, die die Zeitgenossen irritierten. Der heutigen Zeit zumal tritt Mahler, der Komponist der Unvereinbarkeiten'°*, gerade in Mengelbergs Interpretation entgegen. Sie ist geeignet, die Gewöhnung an Mahler aufzubrechen. Sie ist gerettete Herausforderung.

sagen, das Sie ohne Programm unbedeutend und, als absolute Musik betrachtet, reizlos ist (Signale für die musikalische Welt 60 [1902], S. 25). Was sich hier, angesichts des fehlenden Programms und nach den Kriterien der absoluten Musik, als reizlos darstellte, galt in Wirklichkeit als durch und durch abnorm, exzentrisch, steril (s. Signale [s. Anm. 133], S. 5), als Pasticcio

(s. de La Grange

[s. Anm. 75], S. 660), als heterogen

(s. de La Grange, S. 653) und chamäleonartig

(s. de La Grange, $. 661). 134 s, Boulez (s. Anm. 82), S. 22

17)

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Hermann Danuser

Karl Horwitz’ Vom Tode — Ein Dokument der Mahler-Verehrung aus der Schönberg-Schule Wenn ich mich im Rahmen eines Gustav Mahler gewidmeten Kolloquiums mit einem weitgehend, wenn nicht vollständig in Vergessenheit geratenen Schönberg-Schüler befasse, so sollte dies nicht ohne ein knappes Wort im voraus geschehen. Mag doch der Verdacht naheliegen, ein CEuvre wie jenes von Karl Horwitz, das vom — doch oft heilsamen — Vergessen der Geschichte ereilt wurde, solle ohne zwingenden Grund der Gegenwart

wieder verfügbar gemacht werden. Es ist dies nicht der Fall. Im Unterschied zu jüngst „wiederentdeckten“ Komponisten der Epoche wie Franz Schreker oder Alexander von Zemlinsky, von denen einige Werke in ihrer musikalischen Ausdrucksgewalt manch neuen Freund hinzuzugewinnen vermochten, scheint Horwitz’ (Euvre gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht aktualisierbar. Von Interesse kann es dagegen sein als historisches Dokument, mit dem unter dem Aspekt der Mahler-Rezeption sich zu beschäftigen vor allem im Hinblick auf den Zyklus Vom Tode lohnen dürfte. Das Leben des 1884 in Wien geborenen Karl Horwitz, eines jener zahlreichen, in die der

Erste Weltkrieg eine tiefe Zäsur eingrub, ist überschattet von dreifach unerfüllt gebliebener Hoffnung. Im äußeren Werdegang dem des fast gleichaltrigen Anton Webern ähnlich, hatte sich Horwitz einem Doppelstudium der Musikgeschichte und der Komposition — bei Guido Adler und Arnold Schönberg — zugewandt. Er promovierte im Jahre 1906 mit einer Dissertation über Georg Christoph Wagenseil, besorgte anschließend — zusammen mit Karl Riedel — die Herausgabe eines Bandes mit Wiener Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert (DTÖ

XV, 2; erschienen 1908), verabschiedete sich aber danach von der Musikfor-

schung, um als Dirigent und Komponist zu leben. Als Kapellmeister nun brachte er es, nach anfänglich schnell wechselnden Anstellungen an Provinzbühnen, durch Vermittlung Zemlinskys 1911 immerhin zu einer Kapellmeisterposition am Deutschen Landestheater in Prag, mußte diese Tätigkeit indessen nach Ausbruch des Krieges einstellen und konnte nach 1918 in diesem Bereich nicht mehr Fuß fassen. Als Komponist schließlich war Horwitz, der von 1904 bis 1908 mit Berg, Webern und Jalowetz zu Schönbergs frühesten Schülern zählte, in den skandalumwitterten Konzerten der Schönberg-Schüler vom 4. November 1908 und 24. April 1911 mit einem Symphonie-Satz bzw. einem Streichquartett vertreten" und konnte, zumal nach dem Krieg, einige, freilich niemals durchschlagende Erfolge erringen — mit Liedern in Donaueschingen 1921? und auf dem Salzburger Musikfest 1922?, mit der Symphonischen Ouvertüre in d-Moll (Opus 5) auf dem Tonkünstlerfest in Düsseldorf in demselben Jahr* sowie endlich mit dem Liederzyklus Vom Tode (Opus 8) in Wien,

Herrn Professor Rudolf Stephan, der mir einen Partiturdruck des Werkes aus seinem Privatbesitz freundlicherweise überließ, möchte ich dafür sehr herzlich danken.

»

Rosemary Hilmar: Alban Berg. Leben und Wirken in Wien bis zu seinen ersten Erfolgen als Komponist (Wiener musikwissenschaftliche Beiträge, hg. v. O. Wessely, Bd. 10), Wien etc. 1978, S. 45 f. bzw. 50 vgl. den Bericht Neue Kammermusik in Donaueschingen von Paul Stefan, in: Musikblätter des Anbruch 3. Je: (1921), S. 293

w *

vgl. z.B. den Bericht von Adolf Weißmanns in: Die Musik 15. Jg. (1922/23), S. 73 vgl. Max Hehemanns Bericht über das 52. Tonkünstlerfest Düsseldorf, in : Die Musik 15. Jg. (1922/23), S. 69

177.

Hermann Danuser

Bochum und auf dem IGNM-Fest in Prag 1924°. Seine Werke fanden jedoch auch im die erforderlich gewesen wäre, um ihnen kleinen Kreis nie jene vorbehaltlose Anerkennung, über den frühen Tod ihres Autors im Jahre 1925 hinaus — eine Erkrankung an Tuberkulose hatte ihn ein Jahr zuvor schon seines Gehörs beraubt — bleibende Geltung zu sichern. Und der Wechsel vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit, der sich auch in der Musikgeschichte damals ankündigte, entzog einem (Euvre der nicht-revolutionären Moderne wie dem seinigen überdies die allgemeine ästhetische Grundlage, auf der es — vielleicht — die Chance zu einer bescheidenen Wirkungsgeschichte gehabt hätte. So aber sarık es, der Fürsorge des aktiven Komponisten beraubt, bald in völlige Vergessenheit. Im Lichte seines Doppelstudiums bei Schönberg und Adler erscheint die Mahler-Verehrung von Karl Horwitz wohl verständlich, gehörte dieser doch zu Mahlers ältesten und treuesten Freunden‘, jener aber wandelte sich — nach einer Aufführung der 3. Symphonie — in seinem Verhältnis zu Mahler bekanntlich vom Saulus zum Paulus just in jenem Jahr 1904, als Horwitz den Kompositionsunterricht bei ihm aufnahm. Im Unterschied nun zu Schönbergs Ambivalenz zwischen Polemik und Apologie, die seine Beziehung zum Mahlerschen Euvre — nicht zur Person! — im übrigen bis in die letzten Lebensjahre kennzeichnete’, war der Mahler-Enthusiasmus von Horwitz, wie auch jener Bergs und Weberns, nach anfanglichen Zweifeln vorbehaltlos un erhaft. chönbergreis Mahler seine Ehrerbietung bezeugte, stand Horwitz nicht abseits: Er signierte — zusammen mit Webern, Stefan und Jalowetz — den Aufruf zur Verabschiedung Mahlers von Wien am 9. Dezember 1907 und zählte auch zu den Mitunterzeichnern des Textes, den

Schönberg für eine Kranzschleife nach Mahlers Tod verfaßt hatte®. Aus dem Jahr 1908 datiert übrigens jener Brief Mahlers an Horwitz, den Alma Mahler als einzigen in den

Auswahlband von 1924 aufgenommen hat”: Mahler beantwortete damit eine Anfrage, die Horwitz bezüglich seiner bei Peters erschienenen Bearbeitung des Mozartschen Figaro'!® ihn gerichtet hatte. Er bestätigte dem jungen Kollegen die freie Verwendbarkeit der Edition, riet ihm jedoch gleichzeitig davon ab, das anspruchsvolle Werk an einem so kleinen Theater wie dem von Gablonz, wo Horwitz damals wirkte, zur Aufführung bringen zu wollen. Der Tonfall dieses Schreibens verrät das Wohlwollen, mit dem der Meister den Enthusiasmus seines jugendlichen Verehrers erwiderte. Daß diese Bewunderung nicht allein personenbezogen war und über das Jahr 1911 hinaus andauerte, versteht sich um so eher, als Mahlers An-

sehen als Komponist, soweit es sich in Aufführungsziffern niederschlägt, laut den in der Zeitschrift Die Musik veröffentlichten Statistiken nach seinem Hinschied unmittelbar stark anwuchs''. Und anfangs der zwanziger Jahre schrieb Horwitz, im Spannungsfeld end

° vgl. die Notizen in: Die Musik 16. Jg. (1923/24), S. 453, 854 und 928

\

° dazu die vor kurzem erschienene Publikation von Edward R. Reilly: Gustav Mahler und Guido Adler. Zur Geschichte einer Freundschaft, Wien 1978 zu diesem Aspekt des Verhältnisses von Schönberg zu Mahler vgl. vom Verf.: Ambivalenz von Polemik und Apologie. Bemerkungen zu Arnold Schönbergs Mahler-Gedenkrede von 1912, in: Neue Zürcher Zeitung vom

4

23./24. April 1977 (Nr. 94), S. 61/62 [.}

w

vgl. die Gustav Mahler Dokumentation. Sammlung Eleonore Vondenhoff. Materialien zu Leben und Werk, hg. v. B. und E. Vondenhoff, Tutzing 1978, Nr. 837 und Nr. 840 (S. 87/88) Gustav Mahler: Briefe. 1879— 1911, hg. v. A. M. Mahler, Berlin etc. 1924, S. 427, Brief Nr. 389 — ohne Datum, Poststempel: Toblach, 27. Juni 1908 vgl. dazu Donald Mitchell: Gustav Mahler. The Wunderhorn Years. Chronicles and Commentaries, London 1975, S. 419f.

Die in den Jahrgängen der Zeitschrift Die Musik publizierte Statistik, die weit über 200 vorwiegend deutsche Konzertveranstalter erfaßte, weist für das Konzertjahr 1911/12 180 Mahler-Aufführungen Vorjahr erst 40 gewesen waren. Die Musik 12. Jg. (1912/13), 2. Bd., S. 98

178

auf, während

es im

Karl Horwitz’ Vom Tode — Ein Dokument der Mahler-Verehrung aus der Schönberg-Schule

zwischen einer Mahler- und einer Schönberg-Tradition, jenen Zyklus Vom Tode, in de Das Werk, das am Ende mit Wien, 1. Oktober 1922 datiert ist, erschien 1922 im Selbstverlag, hergestellt von Waldheim -Eberle inWien alsopus8,Esstellt einen Zyklus von drei

orchesterbegleiteten Gesängen für Bariton dar, den ein Orchestervorspiel eröffnet. Den

onzeptionellen Spielraum, attung des Orchesterlied-Zyklus eigen ist, konkretisierte Horwitz dergestalt, daß er, statt Gedichte eines einzelnen Dichters zyklisch zu vertonen, drei Dichtungen verschiedener Autoren zusammmenstellte, die einem gemeinsamen Sujet - dem Tod — gewidmet sind: Der Feind (Clemens Brentano), Der Tod (Matthias Claudius) und Zur Ruh’ (Justinus Kerner). Ein solches Verfahren mag die Gefahr mit sich bringen, daß die für einen Zyklus damals wünschbare ästhetische Mannigfaltigkeit durch die Einheit des Stoffes eingeschränkt wird. In der Tat unterscheiden sich die vier Sätze im Hinblick auf die Tempodisposition kaum nennenswert, jedenfalls nicht mit der DeutlichRAR notwendig Powesenmräre unrüte Tolyerderksäänge als Analogie zur zyklischen Satzfolge von Sonate oder Symphonie auszuweisen. Die Satzüberschriften — feierlich; schleichend;, langsam/schwer; äußerst ruhig und gehalten — bewegen sich, von entsprechenden Metronomzahlen gestützt, alle im Adagio-Bereich. Dessen ungeachtet bilden die vier Sätze eine sinnvoll gegliederte Form aus: Sie geht aus von einem vergleichsweise dichten umfangreichen Instrumentalsatz, Zichtsich danach zu zwei gedrängten Mittelsätzen zusammen und gelangt mit der wieder ausgedehnteren, ruhig fließenden Kerner-Vertonung zu Ende. Im Hinblick nun auf dasBroblem einer kompositorischen Mahler-Rezeption, die in diesem Werk vorliegt, lassen si plizit nach äußen gekehrte Momente von implizi- (&) ten, der musikalischen Faktur verborgen einbeschriebenen Elementen unterscheiden.

Jene

sind Inpgrchestrafen Vorspiel greifbar, diese insbesondere im abschließenden Gesang Zur Ruh’. Das Vorspiel ist zweifach als Hommage a Mahler ausgewiesen, durch seine Überschrift und durch ein musikalisches Zitat. Der Titel — Totenfeier (Zum 18. Mai 1911) — verknüpft die Überschrift, die Mahler unter Anlehnung an Adam Mickiewicz’ gleichnamige Dichtung"? ursprünglich dem ersten Satz seiner 2. Symphonie — zumal wenn er als Symphonische Dichtung aufgefaßt wurde — gegeben hatte, mit dem Todesdatum des Komponisten. Während in Mahlers später zurückgezogenem Programmentwurf der Held, der musikalisch zu Grabe getragen wird (Mahler), keinen bestimmten Menschen, auch nicht — verkappt — den Autor selbst meint, vielmehr als symphonischer Held auf das ästhetische Subjekt verweist, das der Musik selbst innewohnt”°, ist der Held, den Horwitz’ Totenfeier musikalisch ehrt, niemand anders als Gustav Mahler selbst. Das ästhetische Subjekt erscheint in diesem Vorspiel personalisiert, die Totenfeier gilt als musikalisches Eingedenken an Mahlers

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Tod am 18. Mai 1911. Das verbale Zitat, das die Übernahme eines Mahlerschen Satztitels darstellt, steht indessen nicht für sich allein; es korrespondiert mit einem musikalischen,

das den begrifflich faßbaren Sinn dieser Überschrift allererst in ästhetische Wirklichkeit überführt. ı2 Adam Mickiewicz: Poetische Werke, übersetzt v. S. Lipiner, Bd. II: Todtenfeier (Dziady), Leipzig 1887. Für de Aufführung des Werkes beim Prager Musikfest 1924 verfaßte Horwitz ein in der Zeitschrift Pult und Taktstock publiziertes Geleitwort, in dem es u.a. heißt: Das Vorspiel (Totenfeier zum 18. Mai 1911) ist unter dem Eindruck des Todes Gustav Mahlers geschrieben, die drei Gesänge sind Auseinandersetzungen des Menschen mit dem Tode,

welcher ihn entweder mit Schrecken erfüllt (2. Der Feind) oder ihm unsägliche Trauer bringt (3. Der Tod) oder

für ihn die ersehnte Erlösung bedeutet (4. Zur Ruh’). Die drei Gesänge bilden also zusammen einen Gedanken,

welcher sich innerlich aus dem Vorspiel entwickelt: das persönliche Erlebnis löst die Reflexion des Menschen aus.

(1 [1924], S. 29).

13 ygl. vom Verf.: Zu den Programmen von Mablers frühen Symphonien, in: Melos/NZ 1. Jg. (1975), S. 14.

179

,

Il

Hermann Danuser

Das musikalische Zitat entstammt dem Finale von Mahlers 2. Symphonie. Es handelt sich um eine Passage von nicht mehr als vier Takten Länge, die ob ihrer Unverwechselbarkeit gewiß besonders zitierfähig ist, um den Anfang des Bläserchorals nämlich, der am Schluß der Exposition die Brücke schlägt zwischen erstem und letztem Satz der Symphonie, zwischen Totenfeier und Auferstehungsfinale:

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Fass Tuba

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Becken

1.Viol.

2.Viol. Viola

Cello

Dieser feierliche Bläserchoral, in dessen Anfangstakten der Beginn der Dies-irae-Sequenz zitiert wird (1. Posaune), greift in der ersten Periode auf die Durchführung des ersten Satzes der Symphonie zurück (T. 280f.) und nimmt in der zweiten, in unserem Notenbeispiel nicht mehr reproduzierten Periode, die sich unmittelbar daran anschließt, das Thema des Auferstehungschorals instrumental vorweg. Man kann demnach, ohne hier das Verhältnis der beiden Themen, ihre weitere Bedeutung und formalen Funktionen in der 2. Symphonie näher zu erörtern'*, von einem ideellen Angelpunkt des gesamten Werkes sprechen. In unserem Zusammenhang erscheint vor allem wichtig, daß Horwitz eine Passage aus Mahlers Werk als Zitat gewählt hat, die dreifach auf das Sujet seines Zyklus Vom Tode bezogen ist: durch die melodische Allusion auf die Dies-irae-Sequenz in einem weiten historischen Bedeutungskontext, durch den formalen Stellenwert der Passage als Rückblick im Auferstehungsfinale auf die Totenfeier des ersten Satzes und endlich durch die geschichtlich begründeten Todes-Konnotationen von Tonsatz und Instrumentation, die der von vier Posaunen

(Tuba und Kontrafagott) vorgetragene Bläserchoral mit einschließt. Die Bedingungen, die Zofia Lissa für die Zitierbarkeit von Musik rekonstruierte'‘, werden somit auf der musikalisch-strukturellen Ebene von dieser Passage in ausgezeichneter Weise erfüllt. Hinzu kommt, daß sie auch der unerläßlichen rezeptionsästhetischen Voraussetzung — einem hohen Bekanntheitsgrad der als Zitat gewählten Musik — vollauf genügt, denn gerade die

* vgl. u.a. dazu Carl Dahlhaus: Analyse und Werturteil, Mainz 1970, S. 89£.; Bernd Sponheuer: Logik des Zerfalls. Untersuchungen zum Finalproblem in den Symphonien Gustav Mabhlers, Tutzing 1978, S. 91f.; sowie die jüngst erschienene Monographie von Rudolf Stephan über die Symphonie in der Reihe Meisterwerke der Musik, München 1979

" Zofia Lissa: Aesthetische Funktionen des musikalischen Zitats, in: Aufsätze zur Musikästhetik. Eine Auswahl, Berlin (DDR), 1969, S. 139.

180

Karl Horwitz’ Vom Tode — Ein Dokument der Mahler-Verehrung aus der Schönberg-Schule

2. Symphonie war lange Mahlers populärstes und, zusammen mit dem Lied von der Erde, am häufigsten aufgeführtes Werk geblieben und genoß zumal nach dem Ersten Weltkrieg wohl auch um ihres künstlerisch-metaphysischen Gehaltes willen bei der leidgeprüften Bevölkerung eine dermaßen große Beliebheit, daß sich Paul Stefan in seinem Mahler-Buch von 1920 sogar ausdrücklich davor zu warnen veranlaßt sah, Mahler ausschließlich als Komponisten der Auferstehungssymphonie gelten lassen oder verstehen zu wollen '*. Welcher Art nun ist der Kontext des Zitats bei Horwitz, welche Bedeutung wächst ihm im neuen musikalischen Zusammenhang zu? So wie der noch unter Schönbergs Anweisung entstandene Symphonie-Satz dem Plan einer Sonatenform — frei — folgte’, so läßt sich auch der Prolog zu den drei Gesängen Vom Tode am ehesten aufgrund der Prinzipien verstehen, die der Sonatenform und dem sie tragenden kompositorischen Denken eigen sind. Es konstrastieren jedenfalls zunächst zwei Themenkomplexe gegeneinander, die aus einem anfangs vorgestellten Motivbestand mit den Verfahren entwickelnder Variation gebaut sind; daran schließt sich ein längerer, mit traditionellen Mitteln der Durchführungstechnik komponierter Formteil an (ab T. 35); und wohl hebt sich endlich eine Art Reprise, da sie zunächst starken Durchführungscharakter besitzt, nur geringfüging von dem vorangehenden Teil ab, doch rundet sie danach durch klärende Motiv-Entflechtungen das Vorspiel ruhig ab (ab T. 56). Die nahezu lückenlose Schlüssigkeit in der Abfolge und Entwicklung der musikalischen Gedanken aus dem im Haupt- und Seitenthema (T. 1-7; T. 21f.) präsentierten Motivbestand, die kunstvolle motivische Ableitung auch von Neben- und Begleitstimmen sowie die Mannigfaligkeit der Verfahren, die für stets neue Motiv- und Themenkombinationen sorgen, zeugen Takt für Takt von dem hohen kompositorischen Niveau der Schönberg-Schule, das auch Horwitz repräsentiert. Eine besondere Funktion im Sinne eines instrumentalen Widerparts des Baritons, der in den nachfolgenden Gesängen auftritt, erfüllt — auch im Zusammenhang des Mahler-Zitats — das Solovioloncello. Ihm bleibt die Eröffnung der Totenfeier vorbehalten:

Feiedlich. (12a 46)

16 zit, nach Sponheuer, a.a.O., S. 91 (bei Stefan S. 122)

:

17 ygl. die Konzertrezension von Elsa Bienenfeld im Neuen Wiener Journal, zitiert in der in Anmerkung 1 erwähnten Arbeit von Rosemary Hilmar, $. 45f.: Eine andere Individualität zeigt ein Symphoniesatz von Karl Horwitz, nach dem Modell der Sonatenform gebaut, mit gewichtiger Durchführung, verkürzter Reprise und weit ausgedehnten, düster verklingendem Schluß. Was von der Technik Weberns gesagt ist, bezieht sich auch auf diese Arbeit. Die Verwendung der Mittel ist der einfacheren Anlage gemäß eine andere, die Melodik leichter verständlich; der Satz hat symphonischen Schwung.

181

Hermann Danuser

Dem Solo-Cello fallt auch die Aufgabe zu, mit einer sprechenden Instrumentalstimme die vier Takte aus Mahlers Bläserchoral vorzubereiten und — teilweise — zu begleiten. Seinen Platz hat das notengetreue (3 statt 4 Posaunen) Zitat inmitten der Durchführung, aus derem

dicht gefügtem Kontext es als formale Episode, als Suspension (um Adornos Kategorie zu verwenden), gleichsam als negativer Höhepunkt plastisch herausragt:

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Die Einbettung des Zitats in den Kontext hat übrigens Paul Stefan in dem Nachruf auf seinen Freund Horwitz, der 1925 im Anbruch erschien, zu Recht gewürdigt, indem er schrieb, jene schwierige Aufgabe, zu zitieren, ohne daß das Zitat den Rahmen sprengte, sei kompositionell glänzend gelöst". In der Tat hat die Abgrenzung des Zitats gegenüber dem '* Paul Stefan: Karl Horwitz f, in: Die Musikblätter des Anbruch 7. Jg. (1925), S. 461

182

Karl Horwitz’ Vom Tode — Ein Dokument der Mahler-Verehrung aus der Schönberg-Schule

übrigen, sehr kohärenten Formverlauf seine Grenze an dem begleitenden Cello-Kontrapunkt, der eine kontinuitätstiftende Funktion in zweifacher Hinsicht erfüllt: zum einen sorgter, vermöge motivischer Beziehungen zum Hauptthema (T. 5), dafür, daß die disparate Zitatzeile auf der Ebene thematischer Logik mit dem Satzverlauf behutsam vermittelt

erscheint; zum andern vermindert er, kraft der von ihm gestifteten Dissonanzen, die Kluft auf der Ebene der Harmonik, welche zwischen dem schlicht diatonischen Mahler-Zitat und der auf erweiterter, chromatischer Tonalität beruhenden Horwitzschen Musiksprache

besteht. Das Zitat tritt in leicht archaisierender Färbung hervor und hebt sich aufs deutlichste vom übrigen ab, ohne doch, wie es — zumal ohne die Vermittlungsfunktionen des Cellos — in einem strikt atonalen Kontext wirken müßte, als heterogener Fremdkörper den musikalischen Zusammenhang aufzusprengen. Kein Zweifel, Horwitz ist es bei seiner Huldigung an Mahler gelungen, einen glücklichen Ausgleich zwischen Integration und Diskretion, zwischen Einfügung und Geschiedenheit des Zitats zu erreichen. Wenn wir uns nun der Frage nach einer implizit vollzogenen kompositorischen MahlerRezeption zuwenden, so mag sich ein Zugang zu ihr aus einem Vergleich mit Anton von Webern eröffnen, dessen Lebensweg — wie erwähnt — dem Horwitzschen in manchem parallel verlief, ohne daß doch die zu Anfang bestehende enge Freundschaft der beiden — Horwitz’ Vertonung von Storms Dämmerstunde etwa trägt, publiziert als zweites Lied von opus 2, den Widmungstext Meinem lieben Anton von Webern — über die Jahre hinweg von beständiger Dauer geblieben wäre. In einer Studie über das musikalische Verhältnis zwischen Mahler und Webern hat Elmar Budde Schönbergs Kritik an der Kategorie Stil auf dieses Problem bezogen und dargelegt, daß allfällige Beziehungen zwischen Mahlers episch ausgreifender und Weberns im konzentrierten Augenblick sich erfüllender Musik nur jenseits der Stilkategorie aufdeckbar seien: Einerseits stehen die Kompositionen Mahlers und die der Wiener

Schule

zeitlich in einem

engen

Zusammenhang,

andererseits

verhalten sie sich jedoch aufgrund ihrer äußeren Erscheinungsformen scheinbar gegensätzlich. Differenzen des Stils sind aber zumindest seit Mahler keine der Sache selbst mehr. Mögliche Berührungspunkte oder Beziehungen sind also in Bereichen zu suchen, die über die äußeren Erscheinungsformen hinausgehen, d.h. in Bereichen, die der traditionellen Kategorie des Stils inkommensurabel sind”. In der Tat läßt sich das kompositionsgeschichtliche Verhältnis zwischen Mahler und Webern vorwiegend auf der Ebene der kompositorischen Denkformen erörtern, was jedoch nicht ausschließt, daß sich auch konkrete strukturelle Beziehungen — wie die von Rudolf Stephan anhand der Bethge-Lieder aus Opus 13 aufgezeigten?° — greifen lassen. Wohl grundsätzlich anders liegt der Fall bei Karl Horwitz, der nicht zu den großen, authentischen Komponisten der modernen bzw. neuen Musik rechnet und dem es nicht gegeben war, in seinen Werken zu einer unverwechselbar eigenen Musiksprache zu finden. Mag sein, daß der Mangel an originärer kompositorischer Begabung, den auch Theodor Wiesengrund-Adorno in einer Konzertbesprechung aus dem Jahre 1927 beobachtete?', das unverkennbare stilistische Anlehnungsbedürfnis von Horwitz erklären hilft. Schönberg jedenfalls mußte ihn, zur Zeit des Umbruchs um 1910, ausdrücklich vor einer Nachahmung seiner „revolutionären“ kompositorischen Schritte warnen: 19 Elmar Budde: Bemerkungen zum Verhältnis Mahler-Webern, in: Archiv für Musikwissenschaft 33 (1976), S. 161 2° Rudolf Stephan: Zu einigen Liedern Anton Weberns, in: Beiträge 1972/73, hrsg. v..d. Österreichischen Gesellschaft für Musik (Bericht des Webern-Kongresses Wien 1972), Kassel etc. 1973, S. 135.

21 Adorno schrieb: Voraus gingen ein paar Lieder des jüngst verstorbenen Karl Horwitz, dessen weiches Naturell sich der Schönberg’schen Strenge allzu rasch entzog, dem es überhaupt wohl an ursprünglich musikalischer Substanz gebrach, die ein gehäuftes Espressivo ersetzen möchte; dessen Lyrik aber doch ein so hohes Komponierniveau hält, wie eben allein Schönbergs Schule es garantiert. In: Die Musik 19 Jg. S. 612

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Sie müssen nicht so schreiben, weil ich so schreibe. Lassen Sie Ihre Persönlichkeit das aussprechen, wozu Sie sich mit aller Gewalt gedrängt fühlen. Jeder hat eine andere Entwicklung hinter sich und gelangt auf seinem Weg zum Ziel, das sich notwendig ergeben muß”. Es scheint, als habe Horwitz den Rat seines Lehrers befolgt, wenngleich er sich damit, um seine künstlerische Identität zu finden und zu wahren, außerhalb der bahnbrechenden

musikhistorischen Entwicklungslinie der Schönberg-Schule ansiedelte, sich — als konservativer Moderner — freiwillig ins Abseits der Geschichte begab. So konnte Paul Stefan im erwähnten Nekrolog vermerken: Aus seinem Wahrheitsdrang ergab es sich für Horwitz von selbst, daß er nie „moderner“ scheinen wollte, als er innerlich sein durfte”. Gerade aber

weil Horwitz die radikalen kompositorischen Maßnahmen der Schule beim Durchbruch zur Atonalität nicht mitvollzog, blieb es ihm freigestellt, über eine direktere Anverwandlung von Mahlers Musik in sein eigenes Schaffen zu verfügen, als es Schönberg oder Webern, ja vielleicht selbst Berg sinnvollerweise zulässig erscheinen mußte. Als Pendant zur Stätte der expliziten Mahler-Huldigung im Vorspiel zum Zyklus Vom Tode darf, als Ort einer direkten Übernahme Mahlerscher Stilelemente, die Kerner-Verto-

nung Zur Ruh” gelten. Demgegenüber stehen weder das symphonische Vorspiel noch die beiden mittleren Gesänge Mahler stilistisch nahe. Im Vorspiel herrscht, bei aller Stringenz der thematischen Entwicklung, eine gewisse Kurzatmigkeit der musikalischen Gedanken, ein Mahler durchaus fremder Verzicht auf Expansion vor, die ja selbst in der Webernschen Konzentration, wie Schönberg im Vorwort zu den Bagatellen opus 9 bemerkte, ex negativo, wenngleich kompositionsgeschichtlich aporetisch im Hintergrund vorausgesetzt bleibt. Der zweite Satz des Zyklus, die Vertonung des Brentano-Gedichtes Der Feind, worin der Tod als

bitteres, unausweichliches Schicksal charakterisiert wird, kennt weder Strophengliederung noch liedhafte Melodik, Prinzipien, die der Mahlerschen Liedkunst zentral eigen sind. Statt dessen verweisen der deklamatorische, kraft dramatischer Neigung nicht mit der erzählenden Deklamation des späten Mahler zusammenhängende Gesangstypus sowie die aus satztechnisch inkohärenten Passagen gebildete Orchesterbegleitung auf andere Traditionsgrundlagen als Mahler; eher erinnern sie — neben dem frühen Schönberg — an Hugo Wolf, dessen Andenken im übrigen Horwitz seine Vertonung des Storm-Liedes Schließe mir die Augen beide (opus 3 Nr. 1) gewidmet hat. Der folgende Gesang, der auf jenem auch von Webern und von Hanns Eisler komponierten Gedicht Der Tod von Matthias Claudius** beruht, ist eine kunstvolle Miniatur, in welcher Singstimme und Begleitung motivisch ineinaner verwoben sind. Dieses Lied ist überdies für die Entstehungsgeschichte des Werkes insofern von Belang, als es zeigt, daß Horwitz bei seiner Hommage a Mahler sich nicht scheute, auch früher, außerhalb dieser Konzeption Entstandenes in den späteren Kontext zu übernehmen: Die Claudius-Vertonung entstand nämlich ursprünglich als Klavierlied und wurde in dieser Form als drittes Lied von opus 6 publiziert”, ehe es in orchestrierter Fassung in opus 8 aufgenommen wurde. Nur nebenbei sei bemerkt, daß dieser entstehungsgeschichtliche Sachverhalt den zyklischen Charakter des Werkes, der in der musikalisch-ästhetischen Geltung gründet, nicht beeinträchtigt. ®* Nach Horwitz’ eigenem Zeugnis in seinem Beitrag für: Arnold Schönberg. Mit Beiträgen von A. Berg u.a., München 1912, S. 84. In Tagebuchnotizen aus dem Jahre 1912 spricht Schönberg meist in sehr abschätziger Weise von Horwitz, vgl. Arnold Schönberg: Berliner Tagebuch, hg. v. J. Rufer, Frankfurt am Main etc. 1974, passim. 23 Paul Stefan, a.a.O., S. 461

als zweites von Eislers Klavierliedern Opus 2, die bei der Universal Edition erschienen sind. Weberns Vertonung dieses Gedichts entstand in Wien 1904 und mag Horwitz bekannt gewesen sein (gedruckt posthum durch Carl Fischer, New York 1961).

In der Klavierfassung erschien Der Tod auch in der Horwitz gewidmeten Notenbeilage der Musikblätter des Anbruch (3. Jg., 1921).

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Karl Horwitz’ Vom Tode — Ein Dokument der Mahler-Verehrung aus der Schönberg-Schule

Im Gegensatz zu den mittleren Gesängen sind im abschließenden Gesang Zur Ruh’ nach einem — schon von Hugo Wolf schön vertonten — Kerner-Gedicht Spuren der Mahlerschen Musiksprache so tief eingegraben, daß es scheint, als habe Horwitz die Erwartung, welche die Mahler-Huldigung im Vorspiel erweckte, am Schluß des Werkes nachdrücklich einlösen und bestätigen wollen. Der Anfang des Liedes mutet an wie ein Mahler-Plagiat:

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Dichte Beziehungen bestehen offenkundig zum Lied von der Erde, doch ließen sich mit Leichtigkeit Verbindungslinien auch zu anderen Werken ziehen, da Horwitz auf jene Elemente zu zielen scheint, die nach der Stiltheorie Guido Adlers Mahlers personalstilistische Individualidiotismen ausmachen **. Folgende Züge treten hervor: Pendelnde Terzen im Baß (T.1-3) und das daraus hervorgehende Motiv der aufsteigenden Terz, mit dem der Gesang, charakteristischerweise durch die Celli vorbereitet, anhebt (T. 4/5), ein Motiv, das im Abschied etwa zu den Worten Die Welt schläft ein (T. 148/149) eindrucksvoll eingesetzt ist, das selbstverständlich aber — zumal als Naturlaut — schon in früheren Symphonien, etwa im Mitternachtslied der Dritten (Vogel der Nacht?”), relevant ist und auch im Finale ° Guido Adler: Gustav Mahler, Wien etc. 1916, S. 60f.; vgl. dazu vom Verf.: Versuch über Mahlers Ton, in: Jahrbuch

des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin 1975, hg. v. D. Droysen, Berlin, 1976,

S. 46f. ?” nach dem Zeugnis von Paul Stefan, Gustav Mahler, 1920, S. 125f.

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Karl Horwitz’ Vom Tode — Ein Dokument der Mahler-Verehrung aus der Schönberg-Schule

der 2. Symphonie (T. 57/58) auftritt; der fallende Sekundschritt, mit dem die Bratschen in T. 3 einsetzen und der als gegenläufiges Motiv zur aufsteigenden Terz den Ausgangspunkt für die zahlreichen absteigenden Sekundgänge (beginnend mit der Phrase in T. 4) bildet, ist ein zentrales Motiv nicht erst, aber vor allem des späten Mahler, wo der fallende Sekundschritt im ersten Satz der Neunten (ab T.4 bzw. 7) zum Haupt-Motivbestand rechnet und auch im Lied von der Erde als Teil der Dreitonkonstellation a-g-e für das ganze Werk, als Motiv insbesondere im zweiten und sechsten Lied von Bedeutung ist. Als wäre

damit nicht genug getan, erinnert Horwitz, indem er dieses Seufzermotiv (in T.3 und 4 )

wechselweise von der kleinen bzw. der großen Sexte in die Quinte der Tonika Es hinunter-

führt, an die Mahlersche Dur-Moll-Manier, und schließlich komponiert er vom fünften

Takt an eine in stufenweisen Vierteln verlaufende Sextparallelbewegung, welche, vom Abschied abgesehen, an das Strukturprinzip im vierten Kindertotenlied: Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen erinnert, welches im übrigen einen tröstlichen Charakter innerhalb der Todessphäre ausprägt wie der Horwitzsche Gesang. Im Hinblick auf diesen Aspekt einer chromatischen Sextparallelführung mag, wie Gösta Neuwirth in der Diskussion bemerkte,

ein weiteres Modell

für Horwitz

in Anton von Weberns

Dehmel-Vertonung

Aufblick (komponiert 1903) bestanden haben, die Horwitz gekannt haben dürfte. Von Ruhe ist mit besonderem Nachdruck ja auch an zwei Stellen im Lied von der Erde die Rede: im Einsamen im Herbst beim Text Ich komm’ zu dir, traute Ruhestätte! Ja, gib mir Ruh’, ich hab’ Erquickung not! (T. 92£.) und im Abschied bei der Passage Ich suche Ruhe, Ruhe für mein einsam’ Herz! (T. 416f.). Für beide Stellen sind zwei Momente — eine Austerzung der Melodie und eine (verschieden gehandhabte) Dur-Moll-Mischung — charakteristisch,

Elemente,

die Horwitz

wohl

nicht zufällig, wenngleich

leicht verändert,

seinem Gesang Zur Ruh’ zugrundelegte. Isoliert betrachtet, ist selbstverständlich keiner der genannten musikalischen Sachverhalte hinreichendes Indiz einer kompositorischen Mahler-Rezeption, denn jeder rechnete um den Ersten Weltkrieg längst zum allgemein verfügbaren Bestand musiksprachlicher Möglichkeiten. Im gemeinsamen Auftreten jedoch summieren, ja potenzieren sie sich zu einem musikalischen Tonfall, den kein gebildeter Hörer von Mahlers Idiom zu trennen vermag. Horwitz’ Verfahren birgt zweifellos große Gefahren, wäre doch eine planlose Häufung musikalischer Idiotismen ein denkbar ungeeignetes, gar peinliches Procedere, eines verstorbenen Komponisten in Tönen zu gedenken. Immerhin spricht es für das auch hier waltende Geschick unseres Komponisten, daß es ihm gelang, kein einziges der aufgezählten Momente als isoliertes Merkmal einer willentlichen Huldigung an Mahler hervortreten zu lassen, sondern alle in einen eigens ausgewiesenen, in sich tragenden musikalischen Sinnzusammenhang einzubinden verstand: Die pendelnde Terzbewegung im Baß erweist sich als Vorbereitung des aufsteigenden Terzmotivs, mit dem die Celli in T. 4 die instrumentale Vorimitation des Gesangs eröffnen; und dadurch, daß sich dieses Motiv bei seiner Wiederholung in der Gesangsmelodik zum Tritonus weitet und somit der entwickelnden Variation unterliegt, streift es jegliche Konnotationen zum Mahlerschen Naturlaut ab. Vergleichbares geschieht mit der resignativen Seufzergeste der fallenden Sekunde, insofern diese Motiv nicht für sich bestehen bleibt, sondern — in Halbtonabständen höher einsetzend (T. 3-5) — sich beim dritten Mal in den tröstlichen Sextparallelgang abwärts löst. Eine solcherart starke Präsenz Mahlers als musikalischer Hintergrund dieses Gesangs lenkt den Erwartungshorizont des Hörers unweigerlich dahin, Allusionen an Mahlersche Passagen auch dort zu vermuten, wo sich darüber nichts mit Sicherheit befinden läßt. So bei der Stelle Nacht muß es sein,/Daß Licht mir werde (T. 20-24), einer Partie, die in ihrer plötzlichen, mit größtem Ausdruck vorzutragenden Aufhellung beim Wort Licht im 187

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Hinblick sowohl auf die komponierte Struktur als auch auf die formale Idee des Durchbruchs mit der überwältigenden Passage Sonne der Liebe aus Der Einsame im Herbst (Es 128f.)JVerwandtschaft besitzt, in Wirklichkeit sich jedoch triftiger als Rückgriff auf Schönbergs Lied Natur aus opus 8 und als kompositorische Konkretisierung eines historisch sehr viel weiteren Traditionsangebots deuten läßt, nämlich als Anwendung jenes NachtLicht-Topos, der schon in Haydns Schöpfung für eine Klärung des Chaos sorgte. Außer Zweifel hingegen dürfte die Deutlichkeit stehen, mit der Horwitz, um den Zyklus mit einem symphonisch etwas ausgreifenderen Nachspiel zu beenden, auf den — freilich unvergleichlich größeren — Schluß des Liedes von der Erde zurückgriff: Im Abschied beruht der schwebende Charakter des gänzlich ersterbenden Schlusses, der keiner im traditionellen Sinn mehr ist, bekanntlich auf der Weigerung von Sekunde und Sexte, sich

in den reinen Tonika-Akkord aufzulösen. Und ganz ähnlich läßt Horwitz in den letzten Takten von Zur Ruh’, die auf den Anfang des Liedes zurückverweisen, die Sexte c über

dem Tonika-Akkord Es-Dur im Wechselspiel der beiden Hauptmotive stehen, bis ganz verklingend der Schlußakkord eintritt, und zwar — wir sind ihm dankbar für sein künstlerisches Taktgefühl — ohne Sexte (siehe gegenüberliegende Seite). Diese Beispiele dürften gezeigt haben, wie dicht sich Horwitz in der Kerner-Vertonung stilistisch an Mahler anlehnt, wie weit er gleichzeitig von dessen epischer Großräumigkeit entfernt ist, wie sehr sein Talent die Kraft, einen ausgreifenden musikalischen Zusammen-

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hang zu gestalten, entbehrt, eine Fähigkeit, die Mahler unvergleichlich eigen. Immerhin gelangt er im Schlußgesang zu einer gewissen symphonischen Dimension, zum einen aufgrund des mit reprisenhaften Zügen ausgestatteten Nachspiels, zum andern aufgrund der Tatsache, daß der regulär vierstrophige Aufbau des Gedichtes von Kerner — jede Strophe zu vier Zeilen — einen musikalischen Grundrifß zuließ, der in freier Weise an Mahlers Prinzipien des variierten Strophenliedes anknüpft. Der Zyklus Vom Tode ist somit Gustav Mahler in vielfältiger Weise verpflichtet, von gattungsgeschichtlichen Voraussetzungen des Orchesterliedzyklus über das doppelte Mahler-Zitat im symphonischen Vorspiel bis hin zur Anverwandlung eines Mahlerschen Tonfalls durch bestimmte Stilelemente im Schlußgesang. Horwitz scheint die damit verbundene Problematik teilweise reflektiert zu haben, schreibt er doch in einem 1921 veröffentlichten

Fragment: Die Idee des Künstlers kommt aus dem Leben oder aus seiner eigenen Kunstgattung. Die Entlehnung einer Idee aus einem fremden Werk kann bei einer stark produktiven Persönlichkeit niemals als Diebstahl gedeutet werden. Die fremde Idee wirkt in diesem Fall als Anregung, erweckt das Bedürfnis, sie wie die eigene Idee als Glied der Kette einzufügen, sei es aus was immer für einer Empfindung oder einem Intellekt heraus. Sie erscheint bloß fremd und ist in Wirklichkeit Eigentum des Entlehners geworden, der sie mit seiner ganzen Persönlichkeit durchtränkt und aus ihr das seinem Werk Adäquate gestaltet hat. [...] Im Grunde ist es |...] ganz gleich, woher die Idee kommt. Der Künstler muß nur sagen können: sie ist mein! — Unbewußte Ideenverwandtschaft bedeutet kongeniales Ahnen”. Kein anderes Programm als dieses mag die künstlerische Intention von Horwitz bestimmt haben, als er es unternahm, die Idee des Todes, der Mahlers Spätwerk gilt, in einem Zyklus von Orchestergesängen zu gestalten, die mit der Huldigung auch dessen musikalische Erbschaft zu beanspruchen scheinen. Bei allem gebotenen Respekt indessen vor dem kompositorischen Niveau, das dieses Werk hält, kann nicht behauptet werden, es löse die programmatische Absicht ein. Da Horwitz kaum jene stark produktive Persönlich-

® Karl Horwitz: Fragmente, in: Musikblätter des Anbruch 3. Jg. (1921), S. 190

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keit war, von der er schrieb, war ihm nicht beschieden, die zyklische Idee und die erwähnten Stilidiotismen Mahlers, auf die er rekurrierte, zu einem Kunstwerk eigener Handschrift, zu

Musik von bedeutender Originalität zu gestalten — und die Originalitätsästhetik muß doch wohl, ohne sie als überhistorischen Maßstab zu hypostasieren, als Wertkriterium an ein C@Euvre jener Zeit gerichtet werden. Im Spannungsfeld stehend zwischen der SchönbergSchule, über deren kompositonstechnische Grundlagen er verfügte, ohne den Schritt zur Atonalität mitzuvollziehen (er war darin keineswegs der einzige aus dem Schönberg-Kreis!), und einer Mahler-Tradition,

deren Ideen er sich anzueignen wünschte, ohne sie doch

produktiv verwandeln zu vermögen — in diesem Spannungsfeld komponierte Karl Horwitz mit dem Zyklus Vom Tode ein Werk, das die Widersprüche der historischen Situation und die Eigenart seiner kompositorischen Begabung offenbart. Die Ehrfurcht, mit der er Mahler seine Reverenz erweisen wollte, hat — daran ist kein Zweifel — zu einem Dokument der —mean a

Epigonalität geführt. Arnold Schönberg etwa hat mit seinem letzten Klavierstück von

us 19, das unter dem Eindruck von Mahlers Tod 1911entstand und alseine Art musikai