Luther lesen: Die zentralen Texte 9783666690037, 9783647690032, 9783525690031

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Luther lesen: Die zentralen Texte
 9783666690037, 9783647690032, 9783525690031

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Luther lesen Die zentralen Texte

Auf der Grundlage von Kurt Alands »Luther deutsch« bearbeitet und kommentiert von Martin H. Jung, herausgegeben vom Amt der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (VELKD)

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 10 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-69003-2 Umschlagabbildung: © Martin Luther: Das Neue Testament. Wittenberg: Hans Lufft 1530. Landesbibliothek Coburg P I 6/12 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Philipp Melanchthon über die Herkunft und die Geburt Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Das Gewitter bei Stotternheim: Luther wird Mönch (1505)

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Das Turmerlebnis: Luther wird Reformator . . . . . . . . . . . . . . . 18 Der Schritt an die Öffentlichkeit: Thesen gegen den Ablass (1517) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Neue Thesen: Die Disputation von Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Luther fordert Reformen: »An den christlichen Adel« (1520) 33 »Von der Freiheit eines Christenmenschen« . . . . . . . . . . . . . . . 55 »Über die Gefangenschaft der Kirche« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Schule und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Pfarrer und Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 »Ich widerrufe nicht!« Die Wormser Rede (1521) . . . . . . . . . . 89 Bibelübersetzung und Bibelinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Rücksicht auf die Schwachen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Elementare Glaubenslehren: Katechismus . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Luthers Anleitung zum Beten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Die Unfreiheit des menschlichen Willens und der verborgene Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Die Gegenwart Christi in Brot und Wein . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

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Inhalt

»Von weltlicher Obrigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Sind Kriege erlaubt? Darf ein Christ Soldat sein? . . . . . . . . . . .153 Kritik am Großhandel und am Großkapital . . . . . . . . . . . . . . . 157 Luthers Nein zum Aufstand der Bauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 »Mit Juden freundlich umgehen!« (1523) . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 »Man soll die Synagogen verbrennen!« (1543) . . . . . . . . . . . . . 173 Türken, Mohammed, Islam, Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 »Nein« zum Konzil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 »In Rom regiert der Antichrist!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 »Keine Angst vor dem Tod!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Justus Jonas über Luthers letzte Tage und sein Sterben . . . . . . 202 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Verzeichnis der verwendeten Lutherschriften . . . . . . . . . . . . . 208 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Personen- und Sachregister (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

Geleitwort

2017 feiern wir das Reformationsjubiläum. Die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen widmen eine ganze Dekade der Vorbereitung auf dieses Datum und stellen die einzelnen Jahre unter zentrale Themen der Reformation. Eine Fülle von Literatur ist bereits erschienen und im Erscheinen begriffen. Spezialstudien und einführende Bücher, aber auch populäre Sammlungen von Luther­ zitaten und Anekdoten füllen mittlerweile die Auslagen der Buchläden. Daneben stehen der Lutherforschung umfangreiche Editionen zur Verfügung. Die große Weimarer Ausgabe, zum 400. Geburtstag Luthers 1883 begonnen, umfasst heute 127 Bände mit ca. 80.000 Druckseiten. Zahlreiche andere Ausgaben bestehen daneben und machen das Feld für den interessierten Laien eher unübersichtlich. Wo anfangen und wie sich in den Textmassen zurechtfinden? Das vorliegende Buch möchte hier Orientierung bieten. Es liegt nun ein Werk vor, in dem die zentralen Texte des Reformators in einem Band versammelt sind. Auf ihn können Pastorinnen, Pfarrer und Gemeindepädagoginnen in der Konfirmandenarbeit und für Themenabende zurückgreifen. Lehrerinnen und Lehrern steht für den Geschichts- oder Religionsunterricht eine wertvolle Textsammlung zur Verfügung. Aber auch für die private Lektüre sei das Buch empfohlen. So sehr es eine Auswahl ist und so wenig damit das Ganze der Theologie Luthers repräsentiert sein kann, so sehr können Sie als Leserin und Leser versichert sein, dass Sie damit einen guten und profunden Einblick in das Leben und Denken Luthers g­ ewinnen können. So wie Luther von den Christen forderte, selbst die Bibel zu lesen, und dies bis heute gilt, so möchte ich Sie dazu ermutigen, Luther im Original zu lesen. Mit Gewinn werden Sie merken, dass seine kraftvolle Sprache verständlich ist, dass er es vermag, deutlich und ­prägnant auszudrücken, worum es ihm geht. Aber auch die Abständigkeiten und die dunklen Seiten Luthers sind nicht ausgespart. Die Textauswahl bringt die Spannungen und die Ambivalenzen seiner Theologie zum Ausdruck. In jedem Fall werden Sie in die Lage versetzt, sich ein eigenes Urteil zu bilden, was Sie persönlich an Luther

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Geleitwort

begeistert und wo es auch einfach gut ist, dass es schon 500 Jahre zurückliegt. Luther lebt in diesen Texten: als ein Motor der Neuzeit und als ein Mensch seiner Epoche, verwickelt in Konflikte und Auseinandersetzungen, als ein Denker von hoher theologischer und philosophischer Bildung, der bis heute fasziniert und inspiriert. Er kommt uns in den Texten nahe als ein frommer Christ in Glaube und Zweifel, als ein von Ängsten gepeinigter wie von großen Hoffnungen beseelter Mensch – und als einer, mit dessen Texten es sich lohnt, das eigene Reformationsgedenken inhaltlich zu vertiefen. Mein Dank gilt allen, die zum Gelingen dieses Buches ihren Beitrag geleistet haben. Insbesondere danke ich Prof. Dr. Martin H. Jung, der in einer professionellen Mischung aus tiefer Sachkenntnis und Pragmatik die Luthertexte ausgewählt und zum Teil neu übersetzt hat. Seine knappen und informativen Texteinleitungen versprechen eine gute Unterstützung der Lektüre. Mein Dank gilt auch Oberkirchenrat Dr. Georg Raatz, der vonseiten des Amtes der VELKD das Projekt von Anfang an unterstützt und redaktionell begleitet hat. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht sei Dank gesagt für die Aufnahme des Bandes in sein Programm und Jörg Persch und Christoph Spill für die verlegerische Betreuung. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich gewinnbringende Lektüre und dass sie sich anstecken lassen von der Sache, von der Luther begeistert war: dass »Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten, also dass ein Gott haben nichts anders ist denn ihm von Herzen trauen und glauben« (Luther, Großer Katechismus). Schwerin, Ostern 2016

Landesbischof Gerhard Ulrich Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD)

Einführung

Prof. Dr. Martin H. Jung

Martin Luther – er hat mich immer fasziniert, aber er hat mich manchmal auch abgestoßen. Er hat mich immer inspiriert, aber manchmal habe ich ihn auch nicht verstanden. Martin Luther – erstmals begegnet bin ich ihm, als ich 1969 als 13-Jähriger die Lutherstadt Wittenberg mit der Lutherhalle und dem Luthergrab besuchte. 1969/70 im Konfirmandenunterricht habe ich seinen Kleinen Katechismus auswendig gelernt und aufgesagt. Im schulischen Religionsunterricht spielte Luther, anders als Freud und Feuerbach, damals keine Rolle. 1976, als Freiwilliger der Aktion Sühne­ zeichen/Friedensdienste in Israel, wurde ich erstmals auf Luthers Judenfeindschaft angesprochen und lernte so den »bösen Luther« kennen. Die Begegnungen mit Luthers dunklen Seiten setzten sich zunächst fort. Ich erfuhr, dass er zum Totschlagen der um Freiheit und Gerechtigkeit kämpfenden Bauern aufgerufen hatte. Ich erfuhr, dass er, anders als ich und viele andere junge Christen damals, Christsein und Kriegsdienst für vereinbar hielt. Ich erfuhr, dass er Obrigkeitsgehorsam eingeschärft und den Christenmenschen zum Bürger zweier verschiedener Reiche erklärt hat, mit der Konsequenz, dass die Ethik Jesu in der Welt nur bedingt Geltung habe. Einen neuen, positiven Zugang zu Luther fand ich als Student bei Michael Welker in Tübingen sowie bei Helmut Gollwitzer (1908–1993) und Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) in Berlin. Ich entdeckte, dass Luther Religion mit Freiheit verbunden und gerade damit die neuzeitliche Religionsgeschichte nachhaltig geprägt hatte. Ich entdeckte, wie Luther bei aller Wertschätzung der Bibel auch schon Bibelkritik, Sachkritik an der Bibel, übte und sie nicht als ein Lehrbuch der Weltgeschichte und der Naturwissenschaft ansah. Ich entdeckte die faszinierende Gottesdefinition Luthers: Ein Gott ist das, woran du dein Herz hängst. Ich entdeckte den Luther, der das allgemeine Priestertum propagiert, die Pfarrerwahl durch die Gemeinde gefordert sowie die Rolle und das Ansehen der Frauen aufgewertet hatte, der für mehr und bessere Bildung eingetreten war, also nicht nur eine Kirchen-, sondern eine Gesellschaftsreform forderte, Sexualität als ein natürliches

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Einführung

menschliches Bedürfnis ansah, die Tolerierung der Juden verlangte, den Eheschluss zwischen Juden und Christen erlauben wollte sowie dafür sorgte, dass erstmals eine Übersetzung des Korans in lateinischer Sprache erscheinen konnte. Der moderne, der innovative Luther war und ist freilich manchmal auch unbequem. Dies gilt besonders für seine scharfen Worte, mit denen er die politisch und wirtschaftlich Mächtigen in ihre Grenzen weist. Vieles liest sich, als wäre es für heute geschrieben. Meine nächste Luther-Erfahrung verbindet sich mit dem Ersten Kirchlichen Examen 1984 in Tübingen. Heiko Augustinus Oberman (1930–2001), einer der größten Lutherforscher des 20. Jahrhunderts, bei dem ich aber nie studiert hatte, fragte mich nach Luthers Begründung der Kindertaufe – und ich musste passen. Damals wusste ich sie nicht, heute teile ich sie: Die Kindertaufe zeigt, dass Gott Menschen annimmt, die noch gar nichts für ihn leisten können. So gesehen steht die Kindertaufe für die Kernaussage der Reformation: Der Sünder wird vor Gott gerecht durch den Glauben allein, nicht durch Werke. Bei Luther fasziniert auch die Sprache. Luther war ein Meister im Formulieren. Sein anschaulicher und lebendiger, mitunter witziger, mitunter grober Sprachstil macht das Lesen seiner Texte, selbst wenn sie theologisch gesehen schwere Kost bieten, zum Vergnügen. Noch heute lesen wir Luther – natürlich und vor allem an den theologischen Fakultäten und Instituten, aber auch in den Gemeinden und mitunter privat bei uns zu Hause. Luther hätte das nie erwartet. Von den meisten seiner Werke hielt er selbst nicht viel. Er wusste, dass sie schnell dahingeschriebene Gelegenheitsschriften waren. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn sie bald wieder vergessen worden wären. Nur seine Katechismen und sein Buch über die Unfreiheit des menschlichen Willens wollte er der Nachwelt erhalten wissen. Es kam anders. Schon vor Luthers Tod begannen seine Anhänger und Nachfolger damit, seine Schriften zu sammeln und noch einmal herauszugeben. Die Reihe der Lutherausgaben wurde begonnen, und sie findet bis heute immer wieder Fortsetzung. Luther wollte, dass sich die Christen, auch die Universitätsgelehrten, in erster Linie mit der Bibel beschäftigten. Der Protestantismus entwickelte eine ausgesprochene Bibelfrömmigkeit und eine Theologie, die sich als Auslegung der Heiligen Schrift verstand. Doch auch den Katholizismus hat Luther, spät und indirekt, beeinflusst. Heute hat die Bibel,

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anders als zu Luthers Zeit, auch in der römisch-katholischen Kirche und in der katholisch-theologischen Forschung einen höheren Rang. Luther gehört zu den größten Theologen in der Geschichte der Christenheit. Er steht gleichrangig neben Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin, Friedrich Schleiermacher und Karl Barth. Indem sich die evangelischen Kirchen auf seine reformatorischen Impulse zurückbeziehen und weil sich alle nachfolgenden Epochen der protestantischen Kirchen- und Theologiegeschichte in ein Verhältnis zu ihm gesetzt haben und bis heute setzen, hat Luther eine integrative Funktion und stiftet konfessionelle Identität. Aber wie gehen wir mit den dunklen Seiten Luthers um? Können Evangelische ihren katholischen Brüdern und Schwestern oder Juden und Muslimen noch in die Augen sehen, nachdem sie gelesen haben, was Luther über den Papst und über Mohammed gesagt und welche Vorwürfe er den Juden gemacht hat? Aber betroffen sind auch evangelische Mitchristen – Zwinglianer, Calvinisten, Mennoniten, Baptisten, Schwenkfelder –, gegen die Luther kaum weniger hart polemisiert hat. Rom hat Luther verketzert, Luther hat Rom verteufelt. Die römisch-katholische Kirche von heute ist aber nicht mehr die Kirche, die Luther bekämpft hat. Auch die evangelischen Kirchen haben sich seit Luthers Zeit erheblich verändert. Über manche innerkirchliche Polemik Luthers muss, wer sich heute angegriffen fühlen könnte, einfach hinwegsehen. Und: Luther war kein Heiliger und wollte kein Heiliger sein. Er bekannte sich bis zuletzt dazu, fehlerhaft, sündig zu sein. Eines seiner letzten Worte lautete: »Wir sind Bettler«, Bettler vor Gott, bettelnd um Verzeihung und Gnade. Luther hat sich selbst relativiert, und auch wir dürfen ihn relativieren. Wer Luthers dunkle Seiten nicht ignoriert – nur wer Luthers dunkle Seiten nicht ignoriert –, hat auch das Recht, sich weiter auf Luther zu berufen, und darf es auch mit gutem Gewissen tun. Es gibt keine Identität, zu der nicht auch schwarze Flecken gehören würden. Wer sich wegen seiner dunklen Seiten von Luther distanzieren wollte, müsste sich auch vom Christentum als solchem distanzieren, denn seine Geschichte ist reich an dunklen Flecken. Identität gibt es nur in gebrochener Form und sie muss deshalb Selbstkritik immer einschließen. Nicht Purismus, sondern historische Kritik ist die richtige Antwort auf die Gebrochenheit dieser und aller Identitätsgeschichten.

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Einführung

Auch für evangelische Christen ist manches, was Luther geschrieben hat, heute befremdlich. Luther sprach viel vom Teufel. Der Teufel war für ihn eine Realität – wie Gott. Viele Christen und viele Theologen würden Luther an diesem Punkt heute nicht mehr zustimmen. Ein personhafter Teufel ist vielen fragwürdig geworden. Gleichwohl könnte man Luther darin Recht geben, dass das Böse mehr und mächtiger ist als die Summe der bösen Taten. Die Rede vom Teufel wollte genau dies ausdrücken. Und noch etwas wäre zu bedenken: Wenn Luther Personen wie den Papst als vom Teufel besessen darstellt, unterscheidet er zwischen der Person und der Macht, die sie lenkt, und lässt der Person eine Chance, sich von dieser Macht zu befreien. Luther rechnete zeitlebens mit einem baldigen Weltende. Auch dies spürt man seinen Schriften an und auch dies befremdet heute. Das heutige Lebensgefühl ist, allen Umwelt- und Klimakrisen zum Trotz, ein anderes. Wir leben, als ob es kein Ende gäbe, als ob wir ewig Zeit hätten und als ob die Welt ewig Bestand hätte. Wir halten es entgegen allen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sozusagen mit Aristoteles, dem von Luther bekämpften »toten Heiden«, der die Welt ebenfalls als ewig angesehen hat. Die Bibel und Luther erinnern uns aber daran, dass unsere Zeit und die Zeit dieser Welt begrenzt sind, und mahnen uns dadurch, verantwortlich mit unserem Leben und unserer Welt umzugehen. Richtig verstanden, richtig übersetzt, kann also auch der Luther, der uns auf den ersten Blick befremdet, aktuell und lesenswert sein. Über Luther wird viel geschrieben. Lohnend ist es, Luther selbst zu lesen und selbst zu beurteilen. Luther ist lesenswert, aber schwer zu lesen. Die Schwierigkeit liegt weniger an seinen Gedanken als daran, dass er entweder lateinisch schrieb oder in einem Deutsch, das nicht mehr das unsere ist. Man muss Luther übersetzen und lesbar machen, und das ist nicht so einfach. 1948 hat der Kirchenhistoriker Kurt Aland (1915–1994) damit begonnen, Luthertexte ins heutige Deutsch zu übertragen. Sein vielbändiges, oftmals nachgedrucktes Werk »Luther deutsch«, 1948–1974 erschienen, wurde zu einer der erfolgreichsten Luther-Quellenpublikationen der neueren Zeit. Es diente meiner Arbeit als Grundlage. Vielfach musste jedoch noch einmal neu oder anders übersetzt und formuliert werden, um Luthers Gedanken in einer heute wirklich für jeden verständlichen Sprache wiederzugeben. Bibelzitate orientieren sich an der Lutherübersetzung von 1984,

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es sei denn, dass es der Sinnzusammenhang erforderlich machte, an Luthers Form des Zitats festzuhalten. Luther zitierte die Bibel häufig nicht wörtlich, sondern frei und paraphrasierend. Meine Textzusammenstellung bietet wichtige, interessante und für heute relevante Luthertexte. Bei der Auswahl wurde besonders darauf geachtet, die Texte einzubeziehen, über die häufig gesprochen und kontrovers diskutiert wird, wie die Judenschriften Luthers, und alle Facetten von Luther zur Sprache kommen zu lassen, also auch seine Schattenseiten. Der Aufbau des Buches orientiert sich an der Biografie des Reformators. Mitgeholfen bei den anspruchsvollen Arbeiten an und mit den Texten hat meine Wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Helen-Kathrin Treutler. Bei weiteren Korrekturen halfen meine Wissenschaftliche Mitarbeiterin Sarah-Christin Leder, M. Ed. sowie meine Wissenschaftlichen Hilfskräfte Annika Redmann und Christian Fischer, B. A. Ferner danke ich Oberkirchenrat Dr. Georg Raatz im Amt der VELKD für eine aufmerksame Durchsicht des Manuskripts und viele hilfreiche Anregungen. Für alle, die sich für die vollständigen und die Originaltexte interessieren, werden jeweils die Fundorte in den zitierfähigen LutherAusgaben in Kurzform nachgewiesen. Die Abkürzungen werden im Literaturverzeichnis aufgelöst, wo sich auch Hinweise auf die gängige Luther- und Reformationsliteratur finden.

Zeittafel

1483 Geburt Luthers in Eisleben (10. November) 1497/98 Schüler in Magdeburg (Domschule) 1498–1501 Schüler in Eisenach (Pfarrschule St. Georg) 1501 Student in Erfurt (Grundstudium) 1505 Erwerb des Magistergrads, Beginn des Jurastudiums 1505 Gewittererlebnis und Klostereintritt 1507 Priesterweihe, Beginn des Theologiestudiums 1511/12 Reise nach Rom 1512 Luther wird Professor in Wittenberg 1517 95 Thesen gegen den Ablass: Beginn der Reformation (31. Oktober) 1518 Heidelberger Disputation 1519 Leipziger Disputation 1520 Luther wird der Ausschluss aus der Kirche angedroht (Bannbulle, 15. Juni) 1521 Ausschluss aus der Kirche (3. Januar) 1521 Luther steht in Worms vor dem Kaiser (17./18. April) 1521 Der Kaiser verhängt die Reichsacht über Luther (25. Mai) 1521/22 Luther auf der Wartburg, Übersetzung des Neuen ­Testaments 1525 Bauernkrieg 1525 Luther heiratet Katharina von Bora 1529 Protest der Evangelischen auf dem Reichstag von Speyer 1530 Augsburger Reichstag und Augsburger Bekenntnis 1534 Vollendung der Bibelübersetzung 1545 Beginn des Konzils in Trient 1546 Luther stirbt in Eisleben (18. Februar)

Philipp Melanchthon über die Herkunft und die Geburt Luthers Von Luther sind nur autobiografische Bemerkungen überliefert. Die erste Biografie des Reformators schrieb sein Wittenberger Kollege und Mitreformator Philipp Melanchthon, der ab 1518 an seiner Seite gestanden hatte. Melanchthon berichtete auch erstmals von Luthers Herkommen und Geburt, und daran lehnen sich alle modernen Luther-Biografen an. Ganz sicher ist der Geburtstag, nicht aber das Jahr. Neben 1483 kommen auch 1482 und 1484 infrage. Kirchenbücher, in denen Geburten und Taufen festgehalten wurden, gab es im 15. Jahrhundert noch nicht. Melanchthon hatte mit Luthers Mutter und Luthers Bruder gesprochen sowie einem aus Mansfeld stammenden Studenten. Als Geburtsort hatte Luther selbst mehrfach Eisleben genannt. Es wurde jedoch auch schon diskutiert, ob es nicht doch Mansfeld gewesen sein könnte.

Philipp Melanchthon, Praefatio (1546): Corpus Reformatorum. Bd. 6. Halle/Saale 1839, Sp. 155–170.

Die Familie mit dem Nachnamen Luther ist alt, niederen Standes und im Herrschaftsbereich der ruhmreichen Grafen von Mansfeld weit verbreitet. Aber Martin Luthers Eltern wohnten zuerst in der Stadt Eisleben, wo Martin Luther geboren wurde. Später zogen sie in die Stadt Mansfeld, wo der Vater Johannes Luther Ämter bekleidete und wegen seines guten Rufs von allen rechtschaffenen Bürgern sehr geschätzt wurde. Bei der Mutter Margarita, der Ehefrau von Johannes Luther, zeigten sich nicht nur die zu einer anständigen verheirateten Frau gehörenden guten Eigenschaften, sondern es leuchteten auch besonders ihre Sittsamkeit, ihre Gottesfurcht und ihr Gebet hervor. Die anderen anständigen Frauen sahen in ihr ein Vorbild der Tugend. Als ich sie mehrmals nach der Zeit fragte, wann ihr Sohn geboren wurde, antwortete sie, sie erinnere sich an Tag und Stunde genau, habe aber Zweifel am Jahr. Sie versicherte aber, er sei am 10. November geboren, nachts nach der elften Stunde. Und das Kind habe den Namen Martin erhalten, weil der nächste Tag, an dem das Kind durch die Taufe der Kirche eingefügt wurde, dem heiligen Martin geweiht war. Aber sein Bruder Jakob, ein anständiger und angesehener Mann, sagte, die Familie sei zum Alter seines Bruders der Ansicht gewesen, dass er im Jahre 1483 nach Christi Geburt geboren sei. Nachdem Martin das bildungsfähige Alter erreicht hatte, erzogen die Eltern ihren

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Philipp Melanchthon über die Herkunft und die Geburt Luthers

Sohn zu Hause, Gott zu erkennen und zu fürchten und sich anderen Tugenden verpflichtet zu fühlen. Wie es bei rechtschaffenden Menschen üblich ist, sorgten sie dafür, dass er Lesen und Schreiben lernte. Der Vater von Georg Oemler brachte den noch kleinen Jungen in die Grundschule. Da er noch lebt, kann er unseren Bericht bezeugen.

Das Gewitter bei Stotternheim: Luther wird Mönch (1505) Der Reformator war Mönch. Dass Luther zwanzig Jahre lang im Kloster gelebt hat, steht vielen nicht vor Augen. Von seinen Eltern war er allerdings nicht zum Klosterleben bestimmt worden. Sie hatten ihn im Jahre 1505 in Erfurt ein Jura-Studium aufnehmen lassen. Doch im ersten Semester warf ihn ein Gewitter aus der Bahn, woraufhin er ins Kloster der Erfurter Augustiner-Eremiten eintrat. Es war, das hatte er sich gemerkt, am Alexiustag, dem 17. Juli. Alexius war ein zu Luthers Zeit angesehener, aber ganz legendarischer Heiliger und Asket. In Todesangst hatte Luther nämlich der heiligen Anna, der Großmutter Jesu und Patronin der Bergleute, versprochen, wenn er überlebe, Mönch zu werden. Hierüber berichtete er 34 Jahre später, 1539, in einer sogenannten Tischrede. Zu Hause am Tisch mit Besuchern erzählte er am 16. Juli, dem Vorabend des Alexiustags, davon, und einer der Besucher schrieb die Erzählung auf.

Martin Luther, Tischrede am 16. Juli 1539: WA.TR 4, S. 440, Nr. 4707.

Am 16. Juli, dem Alexiustag, sprach er: »Heute jährt es sich, dass ich in das Kloster zu Erfurt gegangen bin.« Und er begann die Geschichte zu erzählen, wie er ein Gelübde abgelegt hatte, als er nämlich kaum vierzehn Tage vorher unterwegs gewesen und durch einen Blitzstrahl bei Stotternheim nicht weit von Erfurt derart erschüttert worden sei, dass er im Schreck gerufen habe: »Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!« – »Nachher reute mich das Gelübde, und viele rieten mir ab. Ich aber beharrte darauf, und am Tag vor Alexius habe ich die besten Freunde zum Abschied eingeladen, damit sie mich am folgenden Tag ins Kloster geleiteten. Als sie mich aber zurückhalten wollten, sprach ich: Heute seht ihr mich zum letzten Mal. Da begleiteten sie mich unter Tränen. Auch mein Vater war sehr zornig über das Gelübde, doch ich beharrte auf meinem Entschluss. Niemals dachte ich, das Kloster zu verlassen. Ich war der Welt ganz abgestorben.«

Das Turmerlebnis: Luther wird Reformator Zehn Jahre nach Luthers erster Lebenswende, zehn Jahre nach seinem Klostereintritt, wurde der Mönch zum Reformator. Luther hatte seit 1505 Theologie studiert und war 1512 Theologieprofessor in Wittenberg geworden. Er hielt Vorlesungen über die Psalmen (1513–1515) und über die Paulusbriefe (1516–1518). Dabei kämpfte er – theologisch und existenziell – um die Frage, wie Gottes Gerechtigkeit zu verstehen sei. Anhand des Römerbriefs (Römer 1,17) fand er eine Antwort, die sein Verständnis der Theologie, ja sein Verständnis Gottes völlig veränderte. Luther berichtete darüber nur einmal ausführlich, dreißig Jahre später, 1545, in einer Vorrede zu einer Sammelausgabe seiner lateinischen Schriften. Weil er die hier geschilderte theologische Erkenntnis in seiner Studierstube im Turm des Wittenberger Augustinerklosters gewonnen hatte, sprach man später vom Turmerlebnis. Viel diskutiert wurde die Frage, wann genau sich die Wende vollzog. Luthers Ausführungen sind nicht eindeutig. War es während der ersten Psalmenvorlesung oder erst im Zusammenhang der zweiten, die 1519 begann? War es vielleicht 1518, also nach den 95 Thesen? Oder gab es überhaupt keinen Wendepunkt? War es vielmehr ein sich über Monate und Jahre hinziehender Erkenntnisprozess, den Luther dann später erzählerisch verdichtete? Die Kontroverse unter den Lutherforschern dauert an und wird wohl nie enden, weil die Antwort immer auch von der jeweiligen Perspektive der Interpreten abhängt. Vieles spricht dafür, das Turmerlebnis wie die ältere Lutherforschung auf oder um das Jahr 1514 zu datieren. Dass Luther nicht sofort und sogleich alle Konsequenzen seiner Erkenntnis übersah, ist selbstverständlich. Ein einschneidendes Erlebnis und ein längerer Erkenntnisprozess sind durchaus miteinander vereinbar. Neben Paulus fand Luther auch im Kirchenvater Augustinus einen Gewährsmann für seine neue Lehre. Martin Luther, Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften (1545): WA 54, S. 176–187; Cl 4, S. 421–428; StA 5, S. 618–638; LDStA 2, S. 491–509.

Unterdessen war ich in diesem Jahr von Neuem daran gegangen, den Psalter auszulegen. Ich vertraute darauf, geübter zu sein, nachdem ich die Briefe des Paulus an die Römer, an die Galater und an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Mit außerordentlicher Leidenschaft war ich davon besessen gewesen, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Nicht die Herzenskälte, sondern ein einziges Wort im ersten Kapitel (Römer 1,17) war mir bisher dabei im Wege: »Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart.« Ich hasste nämlich dieses Wort »Gerechtigkeit Gottes«, weil ich durch den Brauch und

Das Turmerlebnis: Luther wird Reformator 19

die Gewohnheit aller Lehrer unterwiesen war, es philosophisch von der formalen oder aktiven Gerechtigkeit, wie sie es nennen, zu verstehen, nach der Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich hasste ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Bußleistungen versöhnen könnte. Und wenn ich mich auch nicht in Lästerung gegen Gott empörte, so murrte ich doch heimlich gewaltig gegen ihn: Als ob es noch nicht genug wäre, dass die elenden und durch die Erbsünde ewig verlorenen Sünder durch das Gesetz der Zehn Gebote mit jeder Art von Unglück beladen sind – musste denn Gott auch noch durch das Evangelium Jammer auf Jammer häufen und uns auch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen? Voller Unruhe, in meinem Inneren wild und verwirrt, klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an. Ich dürstete glühend danach zu wissen, was Paulus wolle. Da hatte Gott mit mir Erbarmen. Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete: »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (im Evangelium) offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben.« Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.« Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht. Ich ging die Schrift durch, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch bei anderen Worten das Gleiche, zum Beispiel: »Werk Gottes« (Johannes 6,29) bedeutet das Werk, das Gott in uns wirkt; »Kraft Gottes« (1. Petrus 4,11) – durch die er uns kräftig macht; »Weisheit Gottes« (Lukas 2,40) – durch die er uns weise macht. Das Gleiche gilt für »Stärke Gottes«, »Heil Gottes«, »Ehre Gottes«. Mit so großem Hass, wie ich zuvor das Wort »Gerechtigkeit Gottes« gehasst hatte, mit so großer Liebe hielt ich jetzt dieses Wort als das allerliebste hoch. So ist für mich diese Stelle des Paulus in der

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Das Turmerlebnis: Luther wird Reformator

Tat die Pforte in das Paradies gewesen. Später las ich Augustinus’ Schrift »Vom Geist und vom Buchstaben«, wo ich wider Erwarten darauf stieß, dass auch er »Gerechtigkeit Gottes« in ähnlicher Weise auslegt als eine Gerechtigkeit, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns gerecht macht. Und obwohl dies noch unvollkommen geredet ist und nicht alles deutlich ausdrückt, … so gefiel es mir doch, dass eine Gerechtigkeit Gottes gelehrt wird, durch welche wir gerecht gemacht werden.

Der Schritt an die Öffentlichkeit:  Thesen gegen den Ablass (1517) Seit 1515 wurde von der Kirche auch in Deutschland in großem Stil Ablass verkauft. Das Geld sollte dem Neubau der Peterskirche in Rom zugute kommen. Was ist Ablass? Ablass meint Nach­lass oder Erlass. Es geht um den Erlass von Sündenstrafen, die hinsichtlich ihrer Schuld schon vergeben waren. Die Kirche unterschied zwischen Schuld und Strafe. Wer sündigte, mach­te sich schuldig. Die Schuld wur­ de durch das Bußsakrament, zu dem die Beichte gehörte, vom Priester im Namen Gottes vergeben. Die Vergebung befreite aber nicht von der Strafe. Jede Sünde hatte aus Sicht der Kirche auch eine Strafe zur Folge. Viele Strafen, so glaubte man, würden erst im Abb. 1: Luther als Mönch 1520 Jenseits verbüßt, im Fegefeuer. Im Fegefeuer wurden Strafen vollstreckt. Das Fegefeuer darf nicht verwechselt werden mit der Hölle. In der Hölle wurden Sünder, die schwere Sünden nicht gebeichtet hatten oder denen ihre Schuld nicht vergeben worden war, und notorische Ketzer ewig bestraft. Es gab kein Entrinnen. Im Fegefeuer wurden die Menschen eine Zeit lang bestraft, sozusagen gereinigt, damit sie anschließend Eingang in den Himmel fänden. Ablass bedeutete vor allem den Erlass dieser »zeitlichen«, diesseitigen Sündenstrafen, die nach dem Tod im Fegefeuer vollstreckt würden. Wer Ablass kaufte, dem gab die Kirche die Zusage, dass er am Fegefeuer vorbei in den Himmel käme. Luther zweifelt an, ob es ein Fegefeuer überhaupt gäbe. Er bestreitet der Kirche auch das Recht, sich in Gottes Strafhandeln einzumischen, was diese mit der Lehre vom »Schatz der Kirche«, womit die Verdienste Christi und der Heiligen gemeint waren, begründete. Er kritisiert ferner, dass der Ablassverkauf offenkundig erfolgt, um Geld einzunehmen. Und er betont, dass Buße, biblisch verstanden, kein kirchliches Ritual, sondern eine Lebenshaltung sei. Den Papst sieht Luther 1517 – noch – nicht als den eigentlich Schuldigen an. In 95 Thesen in lateinischer Sprache entfaltete Luther seine Gedanken. Die Sätze sind sprachlich und theologisch anspruchsvoll, weil sie für Gelehrte gedacht waren. Nicht alle sind für heutige Leser verständlich. Luther wandte sich an die Öffentlichkeit, aber zunächst nur an die universitäre und innerkirchliche Öffentlichkeit, mit der er über seine Thesen disputieren wollte, noch nicht an die Allge-

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meinheit. Er soll, so berichtete später Melanchthon, die Thesen am 31. Oktober an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg »angeschlagen« haben. Die Schlosskirche diente der Universität als Aula für große Veranstaltungen. Außerdem beherbergte sie eine große Sammlung von Reliquien von Heiligen, deren Besuch und Verehrung ebenfalls Ablass versprach. Auf jeden Fall hat Luther seine Thesen am 31. Oktober an verschiedene Bischöfe geschickt und Freunden ausgehändigt. Schnell erschienen sie, möglicherweise ohne Luthers Zutun, im Druck, auch übersetzt in deutscher Sprache. Wir haben kein Bild Luthers aus dieser frühen Zeit. Das erste Lutherbild, ein Kupferstich, entstand 1520 und wurde, wohl weil es zu wenig gefällig war, nicht im Druck verbreitet. Es zeigt einen ernsten, hageren Mönch, der in die Ferne blickt, also auf Gott und ins Jenseits schaut (Abb. 1, S. 21). Lukas Cranach, Maler in W ­ ittenberg, hat das Bild geschaffen. Luthers Thesen werden im Folgenden vollständig wiedergegeben. Die wichtigsten und leichter verständlichen sind hervorgehoben. Martin Luther, Disputatio pro declaratione virtutis ­indulgentiarum (1517): WA 1, S. 229–238; Cl 1, S. 1–9; StA 1, S. 173–185; LDStA 2, S. 1–15.

1. Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: »Tut Buße …« (Matthäus 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll. 2. Dieses Wort kann nicht auf die Buße als Sakrament – also die Beichte und die Bußleistungen –, die durch das priesterliche Amt verwaltet wird, bezogen werden. 3. Aber es bezieht sich auch nicht nur auf die innere Buße, ja eine solche wäre gar keine, wenn sie nicht nach außen mancherlei Werke zur Abtötung des Fleisches bewirken würde. 4. Daher bleibt die Strafe, solange die Feindschaft des Menschen gegen sich selbst – das ist die wahre innerliche Buße – bestehen bleibt, also bis zum Eingang ins Himmelreich. 5. Der Papst will und kann keine Strafen erlassen außer solchen, die er nach seiner eigenen Entscheidung oder der der kirchlichen Satzungen auferlegt hat. 6. Der Papst kann eine Schuld nur dadurch erlassen, dass er sie als von Gott erlassen erklärt und bestätigt. Außerdem kann er sie in den ihm vorbehaltenen Fällen erlassen. Wollte man das gering achten, bliebe die Schuld ganz und gar bestehen. 7. Gott erlässt überhaupt keinem die Schuld, ohne ihn zugleich demütig in allem dem Priester, seinem Stellvertreter, zu unterwerfen.

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8. Die kirchlichen Bestimmungen über die Buße sind nur für die Lebenden verbindlich, den Sterbenden darf demgemäß nichts auferlegt werden. 9. Daher handelt der Heilige Geist, der durch den Papst wirkt, uns gegenüber gut, wenn er in seinen Erlassen immer den Fall des Todes und der höchsten Not ausnimmt. 10. Unwissend und schlecht handeln diejenigen Priester, die den Sterbenden kirchliche Bußstrafen noch für das Fegefeuer aufsparen. 11. Die Meinung, dass eine kirchliche Bußstrafe in eine Fegefeuerstrafe umgewandelt werden könne, ist ein Unkraut, das offenbar gesät worden ist, als die Bischöfe schliefen. 12. Früher wurden die kirchlichen Bußstrafen nicht nach, sondern vor der Lossprechung auferlegt als Prüfstein für die Aufrichtigkeit der Reue. 13. Die Sterbenden werden durch den Tod von allem frei, und für die kirchlichen Satzungen sind sie schon tot, weil sie von Rechts wegen davon befreit sind. 14. Ist die Haltung eines Sterbenden und die Liebe Gott gegenüber unvollkommen, so bringt ihm das notwendig große Furcht, und diese ist umso größer, je geringer die Liebe ist. 15. Diese Furcht und dieser Schrecken genügen für sich allein – um von anderem zu schweigen –, die Pein des Fegefeuers hervorzurufen, denn sie kommen dem Grauen der Verzweiflung ganz nahe. 16. Es scheinen sich demnach Hölle, Fegefeuer und Himmel in der gleichen Weise zu unterscheiden wie Verzweiflung, annähernde Verzweiflung und Sicherheit. 17. Offenbar haben die Seelen im Fegefeuer die Mehrung der Liebe genauso nötig wie eine Minderung des Grauens. 18. Offenbar ist es auch weder durch Vernunft- noch Schriftgründe erwiesen, dass sie sich außerhalb des Zustandes befinden, in dem sie Verdienste erwerben können oder in dem die Liebe zunehmen kann. 19. Offenbar ist auch dieses nicht oder wenigstens nicht für alle Seelen erwiesen, dass sie ihrer Seligkeit sicher und gewiss sind, wenn auch wir ihrer völlig sicher sind. 20. Daher meint der Papst mit dem »vollkommenen Erlass aller Strafen« nicht einfach den Erlass sämtlicher Strafen, sondern nur derjenigen, die er selbst auferlegt hat. 21. Deshalb irren jene Ablassprediger, die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und selig werde.

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22. Vielmehr erlässt er den Seelen im Fegefeuer keine einzige Strafe, die sie nach den kirchlichen Satzungen in diesem Leben hätten abbüßen müssen. 23. Wenn überhaupt irgendwem irgendein Erlass aller Strafen gewährt werden kann, dann gewiss nur den Vollkommensten, das heißt aber: ganz wenigen. 24. Deswegen wird zwangsläufig ein Großteil des Volkes durch jenes in Bausch und Bogen und großsprecherisch gegebene Versprechen des Straferlasses getäuscht. 25. Die gleiche Macht, die der Papst bezüglich des Fegefeuers ganz allgemein hat, besitzt auch jeder Bischof und jeder Seelsorger in seinem Bistum bzw. seinem Pfarrbezirk. 26. Der Papst handelt sehr richtig, wenn er den Seelen im Fegefeuer die Vergebung nicht auf Grund seiner – ihm dafür nicht zur Verfügung stehenden – Schlüsselgewalt, sondern auf dem Weg der Fürbitte zuwendet. 27. Menschenlehre predigen, die sagen, dass die Seele aus dem Fegefeuer emporfliege, sobald das Geld in der Kasse klinge. 28. Gewiss, sobald das Geld in der Kasse klingt, können Gewinn und Habgier wachsen, aber die Fürbitte der Kirche steht allein im Ermessen Gottes. 29. Wer weiß überhaupt, ob alle Seelen im Fegefeuer losgekauft werden wollen? Beim heiligen Severin und Paschalis soll das beispielsweise nicht der Fall gewesen sein. 30. Keiner kann der Aufrichtigkeit seiner Reue gewiss sein, viel weniger dessen, dass er völligen Erlass der Sündenstrafe erlangt hat. 31. So selten einer in rechter Weise Buße tut, so selten kauft einer in der rechten Weise Ablass, nämlich außerordentlich selten. 32. Wer glaubt, durch eine Ablassurkunde seines Heils gewiss sein zu können, wird auf ewig mit seinen Lehrmeistern verdammt werden. 33. Nicht genug kann man sich vor denen hüten, die den Ablass des Papstes jene unschätzbare Gabe Gottes nennen, durch die der Mensch mit Gott versöhnt werde. 34. Jene Ablassgnaden beziehen sich nämlich nur auf die von Menschen festgesetzten Strafen der sakramentalen Genugtuung. 35. Nicht christlich predigt, wer lehrt, dass für diejenigen, welche Seelen aus dem Fegefeuer loskaufen oder Beichturkunden erwerben, Reue nicht nötig sei.

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36. Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassurkunden. 37. Jeder wahre Christ, sei er lebendig oder tot, hat Anteil an allen Gütern Christi und der Kirche. Gott gibt ihm diese auch ohne Ablassurkunde. 38. Doch dürfen der Straferlass und der Anteil an den genannten Gütern, die der Papst vermittelt, keineswegs gering geachtet werden, weil sie – wie ich schon sagte – die Verkündung der göttlichen Vergebung darstellen. 39. Auch den gelehrtesten Theologen dürfte es sehr schwerfallen, vor dem Volk zugleich die Fülle der Ablässe und die Aufrichtigkeit der Reue zu rühmen. 40. Aufrichtige Reue begehrt und liebt die Strafe. Die Fülle der Ablässe aber macht gleichgültig und lehrt sie hassen; wenigstens legt sie das nahe. 41. Nur mit Vorsicht darf der apostolische Ablass gepredigt werden, damit das Volk nicht fälschlicherweise meint, er sei anderen guten Werken der Liebe vorzuziehen. 42. Man soll die Christen lehren: Die Meinung des Papstes ist es nicht, dass der Erwerb von Ablass in irgendeiner Weise mit Werken der Barmherzigkeit zu vergleichen sei. 43. Man soll den Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen. 44. Denn durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe und wird der Mensch besser, aber durch Ablass wird er nicht besser, sondern nur teilweise von der Strafe befreit. 45. Man soll die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht, ihn übergeht und statt dessen für den Ablass gibt, kauft nicht den Ablass des Papstes, sondern handelt sich den Zorn Gottes ein. 46. Man soll die Christen lehren: Die, welche nicht im Überfluss leben, sollen das Lebensnotwendige für ihr Hauswesen behalten und keinesfalls für den Ablass verschwenden. 47. Man soll die Christen lehren: Der Kauf von Ablass ist eine freiwillige Angelegenheit, nicht geboten. 48. Man soll die Christen lehren: Der Papst hat bei der Erteilung von Ablass ein andächtig für ihn gesprochenes Gebet nötiger und wünscht es deshalb auch mehr als zur Verfügung ­gestelltes Geld.

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49. Man soll die Christen lehren: Der Ablass des Papstes ist nützlich, wenn man nicht sein Vertrauen darauf setzt, aber sehr schädlich, falls man darüber die Furcht Gottes fahren lässt. 50. Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche versinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde. 51. Man soll die Christen lehren: Der Papst wäre, wie es seine Pflicht ist, bereit, wenn nötig die Peterskirche zu verkaufen, um von seinem Geld einem großen Teil jener zu geben, denen gewisse Ablassprediger das Geld aus der Tasche holen. 52. Auf Grund einer Ablassurkunde das Heil zu erwarten ist vergeblich, auch wenn der Ablasskommissar, ja der Papst selbst seine Seele dafür verpfänden würde. 53. Feinde Christi und des Papstes sind diejenigen, die anordnen, dass wegen der Ablasspredigt das Wort Gottes in den umliegenden Kirchen völlig zum Schweigen kommen soll. 54. Dem Wort Gottes geschieht Unrecht, wenn in ein und derselben Predigt auf den Ablass die gleiche oder längere Zeit verwendet wird als für das Wort Gottes. 55. Die Meinung des Papstes muss unbedingt sein: Wenn der Ablass – als das Geringste  – mit einer Glocke, einer Prozession und einem Gottesdienst gefeiert wird, sollte das Evangelium – als das Höchste – mit hundert Glocken, hundert Prozessionen und hundert Gottesdiensten gepredigt werden. 56. Der Schatz der Kirche, aus dem der Papst den Ablass austeilt, ist dem Volk Christi weder genügend bezeichnet noch bekannt. 57. Offenbar besteht er nicht aus zeitlichen Gütern, denn die würden viele von den Predigern nicht so leicht mit vollen Händen austeilen, sondern nur einsammeln. 58. Er besteht aber auch nicht aus den Verdiensten Christi und der Heiligen, weil diese dauernd ohne den Papst Gnade für den inneren Menschen sowie Kreuz, Tod und Hölle für den äußeren bewirken. 59. Der heilige Laurentius hat gesagt, dass der Schatz der Kirche ihre Armen seien, aber die Verwendung dieses Begriffes entsprach der Auffassung seiner Zeit. 60. Wohlbegründet sagen wir, dass die Schlüssel der Kirche – die ihr durch das Verdienst Christi geschenkt sind – jenen Schatz darstellen.

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61. Selbstverständlich genügt die Gewalt des Papstes allein zum Erlass von Strafen und zur Vergebung in besonderen, ihm vorbehaltenen Fällen. 62. Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes. 63. Dieser ist zu Recht allgemein verhasst, weil er aus Ersten Letzte macht. 64. Der Schatz des Ablasses jedoch ist mit gutem Grund außerordentlich beliebt, weil er aus den Letzten Erste macht. 65. Also ist der Schatz des Evangeliums das Netz, mit dem man einst die Besitzer von Reichtum fing. 66. Der Schatz des Ablasses jedoch ist das Netz, mit dem man jetzt den Reichtum von Besitzenden fängt. 67. Der Ablass, den die Ablassprediger lautstark als außerordentliche Gnade anpreisen, kann tatsächlich dafür gelten, was das gute Geschäft anbelangt. 68. Doch ist er verglichen mit der Gnade Gottes und der Verehrung des Kreuzes in Wahrheit ganz geringfügig. 69. Die Bischöfe und Pfarrer sind gehalten, die Kommissare des apostolischen Ablasses mit aller Ehrerbietung zuzulassen. 70. Aber noch mehr sind sie gehalten, Augen und Ohren anzustrengen, dass jene nicht anstelle des päpstlichen Auftrags ihre eigenen Hirngespinste predigen. 71. Wer gegen die Wahrheit des apostolischen Ablasses spricht, der sei verworfen und verflucht. 72. Wer aber gegen die Zügellosigkeit und Frechheit der Worte der Ablassprediger auftritt, der sei gesegnet. 73. Wie der Papst zu Recht seinen Bannstrahl gegen diejenigen schleudert, die das Ablassgeschäft auf mannigfache Weise zu schädigen versuchen, 74. so will er noch viel mehr den Bannstrahl gegen diejenigen schleudern, die unter dem Vorwand des Ablasses auf Betrug hinsichtlich der heiligen Liebe und Wahrheit sinnen. 75. Es ist irrsinnig zu meinen, der päpstliche Ablass sei mächtig genug, einen Menschen loszusprechen, auch wenn er – um etwas Unmögliches zu sagen – die Mutter Gottes vergewaltigt hätte. 76. Wir behaupten dagegen, dass der päpstliche Ablass auch nicht die geringste lässliche Sünde wegnehmen kann, was deren Schuld betrifft.

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77. Wenn es heißt, auch der heilige Petrus könnte, wenn er jetzt Papst wäre, keine größeren Gnaden austeilen, so ist das eine Lästerung des heiligen Petrus und des Papstes. 78. Wir behaupten dagegen, dass dieser wie jeder beliebige Papst größere hat, nämlich das Evangelium, Geisteskräfte und »Gaben, gesund zu machen« usw., wie es 1. Korinther 12,28 heißt. 79. Es ist eine Gotteslästerung zu sagen, dass das in den Kirchen an hervorragender Stelle errichtete Ablasskreuz, das mit dem päpstlichen Wappen versehen ist, die gleiche Kraft wie das Kreuz Christi besitze. 80. Bischöfe, Pfarrer und Theologen, die dulden, dass man dem Volk solche Predigt bietet, werden dafür Rechenschaft ablegen müssen. 81. Diese freche Ablasspredigt macht es auch gelehrten Männern nicht leicht, das Ansehen des Papstes vor böswilliger Kritik oder vor gar spitzfindigen Fragen der Laien zu schützen. 82. Zum Beispiel: Warum räumt der Papst nicht das Fegefeuer leer um der heiligsten Liebe und höchsten Not der Seelen willen – also aus einem wirklich triftigen Grund –, da er doch unzählige Seelen loskauft um des unseligen Geldes zum Bau einer Kirche willen – also aus einem sehr fadenscheinigen Grund? 83. Oder: Warum bleiben die Totenmessen sowie Jahrestage für die Verstorbenen bestehen, und warum gibt der Papst nicht die Stiftungen, die dafür gemacht worden sind, zurück oder gestattet ihre Rückgabe, wenn es doch ein Unrecht ist, für die bereits aus dem Fegefeuer Losgekauften zu beten? 84. Oder: Was ist das für eine neue Frömmigkeit vor Gott und dem Papst, dass sie einem Gottlosen und Feind erlauben, für sein Geld eine fromme und von Gott geliebte Seele loszukaufen, doch um der eigenen Not dieser frommen und geliebten Seele willen erlösen sie diese nicht aus frei geschenkter Liebe? 85. Oder: Warum werden die kirchlichen Bußsatzungen, die »tatsächlich und durch Nichtgebrauch« an sich längst abgeschafft und tot sind, doch noch immer durch die Gewährung von Ablass mit Geld abgelöst, als wären sie höchst lebendig? 86. Oder: Warum baut der Papst, der heute reicher ist als der reichste Crassus1, nicht wenigstens die eine Kirche Sankt Peter lieber von seinem eigenen Geld als dem der armen Gläubigen? 1 Römischer Politiker der Antike, berühmt für seinen Reichtum.

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87. Oder: Was erlässt der Papst denen oder woran gibt er denen Anteil, die durch vollkommene Reue ein Anrecht haben auf völligen Erlass und völlige Teilhabe? 88. Oder: Was könnte der Kirche Besseres geschehen, als wenn der Papst, wie er es jetzt einmal tut, hundertmal am Tage jedem Gläubigen diesen Erlass und diese Teilhabe zukommen ließe? 89. Wieso hebt der Papst, wenn er durch den Ablass das Heil der Seelen mehr sucht als das Geld, früher gewährte Urkunden und Ablässe jetzt auf, die doch ebenso wirksam sind? 90. Diese äußerst peinlichen Einwände der Laien nur mit Gewalt zu unterdrücken und nicht durch vernünftige Gegenargumente zu beseitigen, heißt, die Kirche und den Papst dem Gelächter der Feinde auszusetzen und die Christenheit unglücklich zu machen. 91. Wenn daher der Ablass dem Geiste und der Auffassung des Papstes gemäß gepredigt würde, lösten sich diese Einwände alle ohne weiteres auf, ja es gäbe sie überhaupt nicht. 92. Darum weg mit allen jenen Propheten, die den Christen predigen: »Friede! Friede!« (Jeremia 6,14), obwohl kein Friede ist. 93. Wohl möge es gehen allen den Propheten, die den Christen predigen: »Kreuz! Kreuz!«, auch wenn vom Kreuz nichts zu spüren ist. 94. Man soll die Christen ermutigen, dass sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen trachten 95. und dass sie lieber darauf vertrauen, durch viele Trübsale ins Himmelreich einzugehen, als sich in falscher geistlicher Sicherheit zu wiegen.

Neue Thesen: Die Disputation von Leipzig Mit seinen Ablassthesen von 1517 wollte Luther eine Disputation, ein damals übliches akademisches Streitgespräch an seiner Universität, anstoßen. Diese kam jedoch nie zustande. Luther disputierte aber 1518 in Heidelberg mit Mitgliedern seines Ordens und 1519 in Leipzig mit dem großen katholischen Theologen Johann Eck aus Ingolstadt. In seinen Thesen zur Leipziger Disputation wiederholte Luther früher Gesagtes, stieß aber am Schluss zu noch schärferer Kirchenkritik vor. Seine Gegner brandmarkte Luther als »Sophisten« und »Theologisten«, d. h. als schlechte Philosophen und schlechte Theologen, und berief sich selbst auf Entscheidungen des Konzils von Nizäa, das im Jahre 325 getagt hatte und von allen anerkannt wurde. Luther entfaltete im Anschluss an den Kirchenvater Augustinus eine sehr strenge, ernste Sündenlehre, die seinen Erfahrungen als Mönch entsprach. Die Gegenposition brandmarkte er als Pelagianismus, womit er sie mit einer unter anderem auf den Theologen Pelagius zurückgehenden Lehre des 4. Jahrhunderts in Verbindung brachte, die auf verschiedenen Synoden verurteilt worden war. Er glaubte, an diesem Punkt sogar Aristoteles, von seinen Gegnern höchst verehrt, auf seiner Seite zu haben. Der radikalen Sündenerkenntnis des Menschen stellte Luther aber eine radikale Vergebungsbereitschaft Gottes gegenüber. Die Praxis der Kirche, die Vergebung spezieller Sünden höheren Würdenträgern vorzubehalten, lehnte er ab. Jeder Priester sei verpflichtet, jedem Bußwilligen zu vergeben. Bei der Disputation selbst lockte Eck Luther noch weiter aus der Reserve, und Luther erklärte, Päpste und Konzile könnten irren und hätten oftmals geirrt. Auf dem Konzil zu Konstanz 1415 seien einige Gedanken von Johann Hus zu Unrecht verurteilt worden. Der Prager Theologe Hus war 1415 in Konstanz zum Ketzer erklärt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Martin Luther, Die Thesen zur Leipziger Disputation (1519): WA 2, S. 160f.

Gegen die neuen und alten Irrtümer wird Martin Luther folgende Thesen an der Universität zu Leipzig verteidigen: 1. Täglich sündigt jeder Mensch, aber täglich tut er auch Buße, wie Christus (Matthäus 4,17) lehrt: »Tut Buße!« Nur die vermeintlichen neuen Gerechten meinen, der Buße nicht zu bedürfen. Allerdings reinigt der himmlische Weingärtner selbst die Frucht bringenden Reben täglich. 2. Der Mensch sündigt auch, wenn er Gutes tut. Die Sünde erlangt Vergebung nicht aus sich selbst, sondern bloß durch Gottes Barm-

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herzigkeit. Auch nach der Taufe bleibt noch Sünde im Kinde. Dies zu leugnen, hieße Paulus und Christus zugleich mit Füßen zu treten. 3. Wer da behauptet, dass das gute Werk und die Buße schon beim Abscheu vor den Sünden, noch vor der Liebe zur Gerechtigkeit beginnt und dass man dabei nicht mehr in der Sünde sei, den zählen wir zu den pelagianischen Ketzern, beweisen aber auch, dass er zugleich gegen seinen heiligen Aristoteles verstößt. 4. Gott verwandelt die ewige Strafe in eine zeitliche, nämlich das Kreuz zu tragen. Dieses aufzuerlegen oder wegzunehmen, haben kirchliche Rechtssatzungen oder Priester keine Macht, selbst wenn sie – durch schädliche Heuchler verführt – sich das anmaßen. 5. Jeder Priester muss den Bußwilligen von Strafe und Schuld lossprechen, sonst sündigt er. Ebenfalls sündigt auch ein höherer Prälat, wenn er sich die Vergebung verborgener Taten ohne zwingenden Grund vorbehält, mag auch der Brauch der Kirche, das heißt der Heuchler, anders sein. 6. Vielleicht leisten die Seelen im Fegefeuer Genugtuung für ihre Sünden; dass aber Gott von einem Sterbenden mehr als die Bereitschaft zum Sterben verlangt, ist eine gänzlich unbegründete und verwegene Behauptung, da das auf keine Weise bewiesen werden kann. 7. Dass er nicht versteht, was Glaube, Reue noch was freier Wille ist, zeigt der, welcher da stammelt, der freie Wille sei Herr über die Taten, seien es gute oder böse, oder der da träumt, dass einer nicht allein durch den Glauben ans Wort gerechtfertigt werde oder dass der Glaube nicht jede Schuld aufhebe. 8. Es ist gegen Wahrheit und Vernunft, dass es denen, die ungern sterben, an der Liebe mangelt und dass sie deswegen den Schrecken des Fegefeuers zu erleiden haben – außer wenn Wahrheit und Vernunft dasselbe wären wie die Meinung der Theologisten. 9. Wir wissen wohl, dass von den Theologisten behauptet wird, die Seelen im Fegefeuer seien ihres Heiles gewiss und die Gnade werde in ihnen nicht gemehrt, doch wundern wir uns über diese hochgelehrten Männer, dass sie für diesen ihren Glauben keinerlei glaubhafte Begründung auch nur im geringsten vorbringen können. 10. Dass das Verdienst Christi der Schatz der Kirche ist und dieser durch die Verdienste der Heiligen noch bereichert wird, ist gewiss. Dass das aber ein Schatz des Ablasses sei, das erdichtet nur ein

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schändlicher Schmeichler oder diejenigen, die von der Wahrheit abirren, und gewisse falsche Übungen und Bräuche der Kirche. 11. Zu sagen, der Ablass sei für die Christen etwas Gutes, heißt dummes Zeug reden. In Wahrheit ist er nämlich gerade das Gegenteil von einem guten Werk. Ein Christ muss den Ablass wegen des Missbrauches verwerfen, weil der Herr sagt: »Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen« (Jesaja 43,25), nicht um des Geldes willen. 12. Dass der Papst jede Strafe, die man für seine Sünden schuldig ist, sowohl für dieses wie für das zukünftige Leben erlassen könne und dass der Ablass auch denen zugutekomme, die nichts Böses getan haben, das träumen nur die ganz ungelehrten Sophisten und die verderblichen Schmeichler, können es aber nicht im geringsten beweisen. 13. Dass die römische Kirche über alle anderen erhaben sei, wird mit den kraftlosesten, in den letzten vierhundert Jahren entstandenen, Dekreten der römischen Päpste bewiesen. Gegen diese steht die glaubhafte Geschichte von 1100 Jahren, der Wortlaut der Heiligen Schrift und der Beschluss des Konzils von Nizäa, des heiligsten von allen Konzilen.

Luther fordert Reformen: »An den christlichen Adel« (1520) Von allen Schriften Luthers ist sein 1520 erschienenes Reformprogramm, adressiert an die Adligen, für den Gang der Reformationsgeschichte die wirkmächtigste gewesen. Luther schildert eine Kirche, die sich selbst eingemauert hat, um sich vor Reformen zu schützen. Die Mauern bestehen aus drei zentralen Lehren, die Luther darstellt und anschließend widerlegt: 1. Es gibt einen geistlichen und einen weltlichen Stand und der geistliche steht über dem weltlichen. 2. Nur Geistliche, vor allem der Papst, haben das Recht und die Fähigkeit, die Bibel auszulegen. 3. Nur der Papst kann eine Kirchenversammlung, ein Konzil, einberufen und leiten. Luther dagegen erklärt alle Christen zu Geistlichen, Abb. 2: Luther als Mönch mit Bibel zu Priestern. Mit seiner Lehre vom »allgemeinen Priestertum«, wie man später sagte, ermutigte er den Adel, die weltlichen Obrigkeiten, zu Kirchenreformen, aber auch jeden einzelnen Christen dazu, in der eigenen Gemeinde kirchliche Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Im zweiten Teil seiner Schrift legte Luther 44 Reformvorschläge vor, welche die Kirche, Politik und Gesellschaft betrafen. Nahezu keinen Bereich des Lebens ließ er aus, auch mit sozialen Forderungen hielt er sich nicht zurück. Luthers »Adelsschrift«, wie das Werk kurz und bündig bezeichnet wird, erschien im August 1520 und erlebte rasch fünfzehn Auflagen. Zehntausendfach wurde sie nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa verbreitet. Bis heute gehört sie zu den häufig und gerne gelesenen Luther-Schriften. Im Jahre 1520 erlebte Luther seine größten publizistischen Erfolge und es wurde auch damit begonnen, Bilder von ihm zu verbreiten. Nach dem ersten, nie im Druck verbreiteten Lutherbild (Abb. 1, S. 21) schuf Lukas Cranach 1520 ein zweites, gefälligeres, das in vielen Varianten gedruckt wurde. Es zeigt den Mönch, würdevoll, in einer Nische mit der Heiligen Schrift in der Hand (Abb. 2). Cranach wollte so Luther dem neugierigen Volk als theologischen Lehrer, Prediger und Mönch zeigen, dessen Lehren fest auf der Heiligen Schrift gründen.

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Luther fordert Reformen: »An den christlichen Adel« (1520)

Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation (1520): WA 6, S. 381–469; Cl 1, S. 362–425 (gekürzt); StA 2, S. 89–167.

Mit drei Schutzmauern verhindert die Kirche Reformen Die Römischen haben mit großem Eifer drei Mauern um sich gezogen, womit sie sich bisher geschützt haben, sodass sie niemand hat reformieren können. Dadurch ist die ganze Christenheit grauenvoll gefallen. Zum Ersten: Wenn man mit weltlicher Macht auf sie eingedrungen ist, haben sie festgesetzt und gesagt, weltliche Macht habe kein Recht über sie, sondern umgekehrt: Die geistliche Macht sei über der weltlichen. Zum Zweiten: Hat man sie mit der Heiligen Schrift tadeln wollen, setzten sie dagegen, es gebühre niemandem die Schrift auszulegen außer dem Papst. Zum Dritten: Droht man ihnen mit einem Konzil, so erdichten sie, es könne niemand ein Konzil einberufen außer dem Papst. So haben sie uns die drei Ruten heimlich gestohlen, damit sie ungestraft bleiben. Sie haben sich in die sichere Befestigung dieser drei Mauern gesetzt, um allen Frevel und Bosheit zu treiben, die wir jetzt sehen. Und wenn sie schon ein Konzil machen mussten, haben sie doch dasselbe vorher dadurch lahm gelegt, dass sie die Fürsten zuvor mit Eiden verpflichteten, sie sein zu lassen, wie sie sind. Dazu haben sie dem Papst die ganze Macht über alle Konzilsordnungen gegeben, sodass es gleich ist, ob es viele Konzile gibt oder gar kein Konzil. Abgesehen davon betrügen sie uns ohnehin nur mit Schwindelei und Spiegelfechten. Mit so großem Grauen fürchten sie um ihre Haut vor einem rechten, freien Konzil. Sie haben Könige und Fürsten eingeschüchtert, sodass diese glauben, es wäre gegen Gott, wenn man den Römischen nicht in allen diesen schalkhaften, listigen Schreckgespensten gehorchen würde. Nun helfe uns Gott und gebe uns eine von den Posaunen, womit die Mauern Jerichos umgeworfen wurden, dass wir diese Mauern aus Stroh und Papier auch umblasen und die christlichen Ruten, Sünden zu strafen, losmachen, des Teufels List und Trug an den Tag zu bringen, damit wir uns durch Strafe bessern und Gottes Gunst wiedererlangen.

Angriff auf die erste Mauer: Die Trennung zwischen Geistlichen und Laien Luther zeigt, dass es infolge des allgemeinen Priestertums in der Christenheit keine grundsätzliche Trennung zwischen Geistlichen und Laien gibt, sondern nur eine pragmatische Aufgabenverteilung. Dass Bischöfe vom Volk gewählt wurden,

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macht er an anerkannten Kirchenvätern des 4. und 5. Jahrhunderts, an Augustinus, Ambrosius und Cyprian, deutlich. Energisch lehnt er die römische Auffassung ab, die Geistlichen stünden – selbst im weltlichen Bereich – über den Laien und damit über der Obrigkeit. Im Gegenteil: Luther spricht der Obrigkeit das Recht zu, in die Kirche einzugreifen und diese zu reformieren. Er wendet sich gegen kirchliche Gesetze – das sogenannte Geistliche Recht –, die dies verhindern.

Wir wollen die erste Mauer zuerst angreifen! Man hat sich ausgedacht, dass Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt werden, Fürsten, Herren, Handwerks- und Ackerleute der weltliche Stand. Das ist eine sehr feine Erdichtung und Trug. Doch soll niemand deswegen eingeschüchtert werden, und das aus folgendem Grund: Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist unter ihnen kein Unterschied außer allein des Amts wegen, wie Paulus 1. Korinther 12,12ff. sagt, dass wir alle gemeinsam ein Leib sind, obwohl doch ein jedes Glied sein eigenes Werk hat, womit es den anderen dient. Das alles kommt daher, dass wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und auf gleiche Weise Christen sind. Denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und ein Christenvolk. Dass aber der Papst oder Bischof salbt, eine Tonsur verleiht, ordiniert, weiht, sich anders als Laien kleidet, kann einen Heuchler und Ölgötzen2 machen, macht aber nimmermehr einen Christen oder geistlichen Menschen. Demnach werden wir alle durch die Taufe zu Priestern geweiht, wie Petrus (1. Petrus 2,9) sagt: »Ihr seid ein königliches Priestertum und ein priesterliches Königreich«, und Offenbarung 5,10: »Du hast uns durch dein Blut zu Priestern und Königen gemacht.« Denn wo nicht eine höhere Weihe in uns wäre, als der Papst oder Bischof gibt, so würde durch des Papstes und Bischofs Weihen nimmermehr ein Priester gemacht, er könnte auch weder Messe halten noch predigen noch Sünde vergeben. Darum ist die Weihe durch den Bischof nichts anderes, als wenn er an Stelle und Person der ganzen Versammlung einen aus der Menge nähme – die alle gleiche Macht haben – und ihm befehle, diese Macht für die anderen auszuüben. Das ist gleich, als wenn zehn Brüder, eines Königs Kinder und gleiche Erben, einen erwählten, das Erbe für sie zu regieren. Sie wären ja alle Könige und von gleicher Macht, und doch wird einem zu regieren befohlen. Und damit ich es noch klarer sage: Wenn ein Häuflein frommer Christenlaien gefangen und sie in eine 2 Polemisch für einen – mit Öl gesalbten, als heilig verehrten – Priester.

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Wüste gesetzt würden, die nicht einen von einem Bischof geweihten Priester bei sich hätten, und würden sich dort in der Sache einig, erwählten einen von ihnen, er wäre verheiratet oder nicht, und würden ihm das Amt befehlen zu taufen, Messe zu halten, Sünde zu vergeben und zu predigen, der wäre wahrhaftig ein Priester, als ob ihn alle Bischöfe und Päpste geweiht hätten. Daher kommt es, dass in der Not ein jeder taufen und Sünde vergeben kann, was nicht möglich wäre, wenn wir nicht alle Priester wären. Diese große Gnade und Macht der Taufe und des christlichen Standes haben sie uns durch das Geistliche Recht ganz zerstört und unbekannt gemacht. Auf diese Weise erwählten die Christen vor Zeiten ihre Bischöfe und Priester aus der Menge, die danach von anderen Bischöfen ohne alles Prangen, das jetzt regiert, bestätigt wurden. So wurden Augustinus, Ambrosius und Cyprian Bischöfe. Weil nun die weltliche Obrigkeit gleich uns getauft ist, denselben Glauben und dasselbe Evangelium hat, müssen wir sie Priester und Bischöfe sein lassen und ihr Amt als ein Amt ansehen, das der christlichen Gemeinde gehöre und nützlich sei. Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem jeden ziemt, ein solches Amt auszuüben. Denn weil wir alle gleichermaßen Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun und sich vornehmen, ohne unser Bewilligen und Erwählen das zu tun, wozu wir alle gleiches Recht haben. Denn was allgemein ist, kann niemand ohne Wille und Befehl der Gemeinde an sich nehmen. Und wo es geschähe, dass jemand zu einem solchen Amt erwählt und danach wegen Missbrauchs abgesetzt würde, so wäre er gleich wie vorher. Darum sollte ein Priesterstand in der Christenheit nicht anders sein als ein Amtmann: Während er im Amt ist, geht er vor; wo er abgesetzt ist, ist er ein Bauer oder Bürger wie die anderen. Ebenso wahrhaftig ist ein Priester nicht mehr Priester, wenn er abgesetzt wird. Aber nun haben sie die »unzerstörbaren Merkmale« erdichtet3 und schwätzen, dass ein abgesetzter Priester dennoch etwas anderes sei als ein schlichter Laie. Ja, ihnen träumt, es könne ein Priester nimmermehr etwas anderes als ein Priester, er könne kein Laie werden. Das sind alles von Menschen erdichtete Reden und Gesetze. 3 In der kirchlichen Lehre hatte sich mit dem Verständnis der Priesterweihe als Sakrament die Vorstellung durchgesetzt, dass die Weihe eines Mannes zum Priester diesen bleibend und dauerhaft verändere, vergleichbar mit der Taufe, die ja auch nicht rückgängig gemacht werden kann.

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So folgt aus diesem, dass Laien, Priester, Bischöfe und, wie sie sagen, »Geistliche« und »Weltliche« im Grunde wahrlich keinen anderen Unterschied haben als wegen des Amts oder Werks und nicht wegen des Stands. Denn sie sind alle geistlichen Stands, wahrhaftige Priester, Bischöfe und Päpste, aber nicht gleichen und einerlei Werks, gleichwie auch unter den Priestern und Mönchen nicht ein jeder dieselbe Aufgabe hat. Und das steht bei Paulus Römer 12,4ff. und 1. Korinther 12,12ff. und bei Petrus 1. Petrus 2,9, wie ich oben gesagt habe, dass wir alle ein Leib des Hauptes Jesu Christi sind, ein jeder des anderen Gliedmaß. Christus hat nicht zwei oder von zweierlei Art Leiber, einen weltlichen einerseits, einen geistlichen andererseits. Ein Haupt ist er und einen Leib hat er. Gleichwie nun die, die man jetzt geistlich oder Priester, Bischöfe und Päpste nennt, von anderen Christen nicht weiter noch würdiger geschieden sind, als dass sie das Wort Gottes und die Sakramente handhaben sollen – das ist ihr Werk und Amt –, ebenso hat die weltliche Obrigkeit das Schwert und die Rute in der Hand, die Bösen damit zu strafen, die Guten zu schützen. Ein Schuster, ein Schmied, ein Bauer, ein jeder hat seines Handwerks Amt und Werk, und doch sind alle gleichermaßen geweihte Priester und Bischöfe. Und ein jeder soll mit seinem Amt oder Werk den anderen nützlich und dienstbar sein, sodass vielerlei Werke alle auf eine Gemeinde gerichtet sind, Leib und Seele zu fördern, gleichwie die Gliedmaßen des Körpers alle eines dem anderen dienen. Nun sieh, wie christlich das festgesetzt und gesagt ist: Weltliche Obrigkeit sei nicht über der Geistlichkeit, solle sie auch nicht strafen. Das ist so, als ob gesagt würde: Die Hand soll nichts dazu tun, wenn das Auge große Not leidet. Ist es nicht unnatürlich, geschweige denn unchristlich, dass ein Glied dem anderen nicht helfen, seinem Verderben nicht wehren soll? Ja, je edler das Glied ist, desto mehr sollen ihm die anderen helfen. Darum sage ich: Weil die weltliche Gewalt von Gott eingesetzt ist, die Bösen zu strafen und die Guten zu schützen, soll man ihr Amt frei und ungehindert durch den ganzen Körper der Christenheit ohne Ansehen der Person gehen lassen, sie treffe Papst, Bischöfe, Pfaffen, Mönche, Nonnen oder was es ist. Wenn das ausreichend wäre, die weltliche Obrigkeit daran zu hindern, dass sie unter den christlichen Ämtern geringer ist als der Prediger und Beichtiger Amt oder der geistliche Stand, so sollte man auch die Schneider, Schuster, Steinmetze, Zimmerleute, Köche, Kellner, Bauern und alle weltlichen Handwer-

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ker daran hindern, dass sie dem Papst, Bischöfen, Priestern, Mönchen Schuhe, Kleider, Haus, Essen, Trinken machen oder ihnen Zins geben. Lässt man aber die Werke dieser Laien ungehindert, was machen dann die römischen Schreiber mit ihren Gesetzen, dass sie sich dem Wirken weltlicher, christlicher Obrigkeit entziehen, damit sie nur ungehindert böse sein und erfüllen können, was Petrus (2. Petrus 2,1.3) gesagt hat: »Es werden falsche Meister unter euch erstehen und mit falschen, erdichteten Worten mit euch umgehen, euch im Sack zu verkaufen«? Darum soll weltliche christliche Obrigkeit ihr Amt frei und ungehindert ausüben, unangesehen, ob es Papst, Bischof oder Priester sei, den sie trifft. Wer schuldig ist, der leide! Was das Geistliche Recht dagegen gesagt hat, ist lauter erdichtete römische Vermessenheit. Denn so sagt Paulus Römer 13,1 allen Christen: »Jedermann« – ich bin überzeugt auch der Papst – »sei untertan der Obrigkeit, denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin, zur Strafe der Bösen und zum Lob der Guten«, auch Petrus (1. Petrus 2,13.15): »Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen … Denn das ist der Wille Gottes.« Er hat es (2. Petrus 2,10) auch verkündet, dass solche Menschen kommen würden, die die weltliche Obrigkeit verachten würden, wie durch das Geistliche Recht tatsächlich geschehen ist. So meine ich, diese erste Mauer aus Papier liegt danieder, weil die weltliche Herrschaft ein Mitglied des christlichen Leibes geworden ist und, obwohl sie ein leibliches Werk hat, doch geistlichen Standes ist, weshalb ihr Werk frei und ungehindert in alle Gliedmaßen des ganzen Körpers gehen soll, strafen und antreiben, wo es die Schuld verdient oder die Not fordert, unangesehen der Päpste, Bischöfe, Priester, sie mögen drohen oder bannen, wie sie wollen. Daher kommt es, dass die schuldigen Priester, wenn man sie dem weltlichen Recht überantwortet, zuvor der priesterlichen Würde enthoben werden, was doch nicht recht wäre, wenn nicht die weltliche Obrigkeit über dieselben zuvor aus göttlicher Ordnung Macht hätte. Es ist auch zu viel, dass man im Geistlichen Recht Freiheit, Leib und Güter der Geistlichen so hoch erhebt, gerade als wären die Laien nicht auch geistlich so gute Christen wie sie oder als gehörten sie nicht zur Kirche. Warum ist dein Leib, Leben, Gut und Ehre so frei und nicht der meine, obwohl wir doch gleiche Christen sind, gleiche Taufe, Glauben, Geist und alle Dinge haben? Wird ein Priester erschlagen, so liegt ein Land im Interdikt4, 4 Verbot aller kirchlichen Amtshandlungen.

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warum nicht auch, wenn ein Bauer erschlagen wird? Wo kommt dieses große Unterscheiden unter den gleichen Christen her? Allein aus Menschengesetzen und -erdichtungen! Es kann auch kein guter Geist gewesen sein, der solche Ausnahmen erfunden und die Sünde geradezu unsträflich gemacht hat. Denn wenn wir verpflichtet sind, gegen den bösen Geist, seine Werke und Worte zu streiten und ihn zu vertreiben, wie wir können – wie uns Christus und seine Apostel gebieten –, wie kämen wir denn dazu, dass wir stillhalten und schweigen sollten, wo der Papst oder die Seinen teuflische Worte oder Werke vornähmen? Sollten wir um der Menschen willen göttliches Gebot und Wahrheit zerstören lassen, der wir bei der Taufe mit Leib und Leben beizustehen geschworen haben? Fürwahr, wir wären an allen Seelen schuldig, die dadurch verlassen und verführt würden! Darum muss das der Hauptteufel selbst gesagt haben, was im Geistlichen Recht steht: »Wenn der Papst so schädlich böse wäre, dass er gleich die Seelen in großer Menge zum Teufel führte, könnte man ihn dennoch nicht absetzen.« Auf diesen verfluchten, teuflischen Grund bauen sie zu Rom und meinen, man solle eher alle Welt zum Teufel fahren lassen als ihrer Schurkerei widerstreben. Wenn das ausreichen würde, dass einer über den anderen ist, dass er deshalb nicht gestraft werden dürfte, dann dürfte kein Christ den anderen strafen, da Christus gebietet (Matthäus 18,4; Lukas 9,48), ein jeder solle sich für den Untersten und Geringsten halten. …

Angriff auf die zweite Mauer: Das Recht zur Bibelauslegung Die römische Kirche wollte die Bibel nicht in der Hand des Volkes wissen, sondern sie den Gelehrten und den Amtsträgern der Kirche vorbehalten. Oberste Instanz in Sachen Bibelauslegung war der Papst. Auch diese Auffassungen bestreitet Luther durch die Lehre vom allgemeinen Priestertum. Er führt viele biblische Beispiele dafür an, dass das rechte Verständnis der Bibel keine Angelegenheit einer höchsten kirchlichen Instanz sein könne. Glaube entstehe durch das innere geistliche Verstehen der Bibel, und deshalb müsse die Bibel allen zur Verfügung stehen.

Die andere Mauer, dass sie allein Meister der Schrift sein wollen, obwohl sie ihr Leben lang nichts darin lernen, ist noch brüchiger und untauglicher. Sie maßen sich allein die Obrigkeit an, gaukeln uns mit unverschämten Worten vor, der Papst könne nicht im Glauben irren, sei er böse oder gut, können aber nicht einen Buchstaben als

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Beweis dafür vorzeigen. Daher kommt es, dass so viele ketzerische und unchristliche, ja unnatürliche Gesetze im Geistlichen Recht stehen, davon jetzt nicht zu reden not ist. Denn weil sie der Meinung sind, der Heilige Geist verlasse sie nicht, sie seien so ungelehrt und böse, wie sie könnten, werden sie kühn festzusetzen, was sie nur wollen. Und wenn das so wäre, wozu wäre die Heilige Schrift dann notwendig und nütze? Lasst sie uns verbrennen und uns an den ungelehrten Herren zu Rom begnügen, die angeblich den Heiligen Geist besitzen, und der kann ja nur in frommen Herzen wohnen. Wenn ich es nicht gelesen hätte, hätte ich es nicht geglaubt, dass der Teufel zu Rom solche unmöglichen Argumente vorbringen und Unterstützung finden sollte. Doch damit wir nicht mit eigenen Worten gegen sie kämpfen, wollen wir die Heilige Schrift heranziehen. Paulus sagt 1. Korinther 14,30: »So jemand etwas Besseres offenbar wird, ob er schon sitzt und dem anderen im Gotteswort zuhört, so soll der Erste, der da redet, stillschweigen und weichen.« Was wäre dieses Gebot nütze, wenn allein dem zu glauben wäre, der da redet oder obenan sitzt? Auch Christus sagt, Johannes 6,45, dass alle Christen von Gott gelehret werden sollen. So kann es ja geschehen, dass der Papst und die Seinen böse und weder rechte Christen sind noch von Gott gelehrt das rechte Verständnis haben, während umgekehrt ein geringer Mensch das rechte Verständnis hat. Warum sollte man ihm dann nicht folgen? Hat der Papst nicht vielmals geirrt? Wer sollte der Christenheit helfen, wenn der Papst irrt, wenn nicht einem anderen, der die Schrift für sich hätte, mehr als ihm geglaubt würde? Darum ist es eine frevelhaft erdichtete Fabel, und sie können auch keinen Buchstaben aufbringen, womit sie beweisen, dass es dem Papst allein zustehe, die Heilige Schrift auszulegen oder ihre Auslegung zu bestätigen. Sie haben sich die Macht dazu selbst angemaßt. Und wenn sie vorgeben, es wäre Petrus diese Macht gegeben worden, als ihm die Schlüssel gegeben wurden, ist es offenbar genug, dass die Schlüssel nicht allein Petrus, sondern der ganzen Gemeinde gegeben sind. Überdies sind die Schlüssel nicht zur Lehre oder zum Regiment, sondern allein die Sünde zu binden oder zu lösen verordnet, und es ist eine bloß erdichtete Sache, was sie sich anderes und weiter aus den Schlüsseln zuschreiben. Dass aber Christus in Lukas 22,32 zu Petrus sagt: »Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre«, kann sich nicht auf den Papst beziehen, da der größere Teil der Päpste ohne Glauben gewesen ist, wie sie selbst bekennen müssen. Ebenso hat

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Christus auch nicht allein für Petrus gebeten, sondern auch für alle Apostel und Christen, wie er Johannes 17,9.20 sagt: »Vater, ich bitte für sie, die du mir gegeben hast, und nicht allein für sie, sondern für alle, die durch ihr Wort an mich glauben.« Ist das nicht klar genug geredet? Denk doch bei dir selbst: Sie müssen bekennen, dass fromme Christen unter uns sind, die den rechten Glauben, Geist, Verständnis, Wort und Meinung Christi haben. Ja, warum sollte man denn derselben Wort und Verständnis verwerfen und dem Papst folgen, der weder Glauben noch Geist hat? Das hieße doch den ganzen Glauben und die christliche Kirche verleugnen! Weiter: Es kann ja nicht der Papst allein recht haben, wenn der Artikel recht ist: »Ich glaube an die heilige christliche Kirche.« Oder wir müssen so beten: »Ich glaube an den Papst zu Rom«, und so die christliche Kirche ganz in einen Menschen ziehen, welches nichts anderes als ein teuflischer und höllischer Irrtum wäre. Überdies sind wir doch alle Priester, wie ich oben gesagt habe, haben alle einen Glauben, ein Evangelium, einerlei Sakrament, wie sollten wir dann nicht auch Macht haben zu spüren und zu urteilen, was da Recht oder Unrecht im Glauben wäre? Wo bleibt das Wort des Paulus 1. Korinther 2,15: »Ein geistlicher Mensch beurteilt alles und wird von niemand beurteilt«, und 2. Korinther 4,13: »Wir haben alle einen Geist des Glaubens«? Wie sollten wir denn nicht ebensogut wie ein ungläubiger Papst fühlen, was dem Glauben gemäß oder unpassend ist? Aus diesem allen und vielen anderen Bibelworten sollen wir mutig und frei werden und den Geist der Freiheit, wie ihn Paulus nennt, nicht von erdichteten Worten der Päpste abschrecken lassen, sondern frisch hindurch alles, was sie tun oder lassen, nach unserem gläubigen Verständnis der Schrift richten und sie zwingen, dem besseren und nicht ihrem eigenen Verständnis zu folgen. Musste doch vor Zeiten Abraham seine Sara hören (1. Mose 21,12), die ihm doch härter unterworfen war als wir jemandem auf Erden. Ebenso war die Eselin Bileams auch klüger als der Prophet selbst (4. Mose 22,28). Hat Gott da durch eine Eselin gegen einen Propheten geredet, warum sollte er nicht noch durch einen frommen Menschen gegen den Papst reden können? Ebenso straft Paulus (Galater 2,11ff.) Petrus als einen Irrenden. Darum gebührt einem jeglichen Christen, dass er sich des Glaubens annehme, ihn zu verstehen und zu verfechten und alle Irrtümer zu verdammen.

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Angriff auf die dritte Mauer: Die Macht über Konzile Seitdem 325 erstmals ein gesamtkirchliches Konzil in Nizäa in der heutigen Türkei tagte, gab es in der Christenheit große, allgemeine Versammlungen von Bischöfen, die gemeinsam kirchliche Fragen regelten. Ein Konzil könnte – so Luthers Meinung – die Kirche reformieren. Allerdings hatte der Papst die Kompetenz für sich beansprucht, Konzile einzuberufen, zu leiten und Konzilsbeschlüsse zu bestätigen oder nicht zu bestätigen. Luther argumentiert dagegen wieder mit dem allgemeinen Priestertum und dem Beispiel des Konzils von Nizäa, das nicht von einem Papst, sondern vom Kaiser, von Konstantin, dem ersten römischen Kaiser, der sich zum Christentum bekannte, einberufen worden war.

Die dritte Mauer fällt von selbst, wenn diese ersten zwei fallen. Denn wenn der Papst gegen die Heilige Schrift handelt, sind wir schuldig, der Schrift beizustehen, ihn zu strafen und zu zwingen nach dem Wort Christi Matthäus 18,15ff.: »Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir. Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide.« Hier wird einem jeden Glied befohlen, für das andere zu sorgen. Wie viel mehr sollen wir helfen, wo ein die Gemeinde regierendes Glied übel handelt, welches durch sein Handeln den anderen viel Schaden und Ärgernis gibt! Soll ich ihn denn vor der Gemeinde verklagen, so muss ich sie ja zusammenbringen. Sie haben auch keinen Grund in der Schrift, dass es allein dem Papst gebührt, ein Konzil zu berufen und zu bestätigen, als allein ihre eigenen Gesetze, die nicht weiter gelten als sofern sie nicht der Christenheit und Gottes Gesetzen schädlich sind. Wenn sich nun der Papst sträflich verhält, hören solche Gesetze schon auf, weil es der Christenheit schädlich ist, ihn nicht durch ein Konzil zu strafen. So lesen wir Apostelgeschichte 15,6, dass das Apostelkonzil nicht von Petrus einberufen wurde, sondern von allen Aposteln und den Ältesten. Wenn das nun Petrus allein gebührt hätte, wäre das nicht ein christliches Konzil, sondern ein ketzerisches Konzilchen gewesen. Auch das berühmteste Konzil, das zu Nizäa, hat der Bischof von Rom weder berufen noch bestätigt, sondern der Kaiser Konstantin. Und nach ihm haben viele andere Kaiser dasselbe getan, und es sind doch die allerchristlichsten Konzile gewesen. Aber sollte der Papst allein die Macht dazu haben, so müssten sie alle ketzerisch gewesen

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sein. Ich finde auch nichts Besonderes, wenn ich die Konzile ansehe, die der Papst gemacht hat, was da ausgerichtet wurde. Darum, wenn es die Not erfordert und der Papst für die Christenheit zum Ärgernis geworden ist, soll helfen, wer zuerst kann, als ein treues Glied des ganzen Körpers, dass ein rechtes, freies Konzil zustande komme. Das vermag niemand so gut wie die weltliche Obrigkeit, besonders weil sie auch Mitchristen sind, Mitpriester, Mitgeistliche, mitmächtig in allen Dingen, und weil man ihr Amt und Werk, das sie von Gott über jedermann haben, frei wirken lassen soll, wo es not und nütze ist zu wirken. Wäre es nicht ein unnatürliches Verhalten, wenn in einer Stadt ein Feuer ausbräche und jedermann stillstehen würde, immer weiter brennen lassen würde, was da brennen kann, nur deshalb, weil er nicht die Macht des Bürgermeisters hätte oder weil das Feuer vielleicht an des Bürgermeisters Haus anfinge? Ist hier nicht ein jeder Bürger schuldig, die anderen zu bewegen und zusammenzurufen? Um wie viel mehr muss das in der geistlichen Stadt Christi geschehen, wenn sich ein Feuer des Ärgernisses erhebt, es sei an des Papstes Regiment oder wo es wolle. Dasselbe geschieht auch, wenn Feinde eine Stadt überfallen. Da verdient der Ehre und Dank, der die anderen als Erster alarmiert. Warum sollte denn der nicht Ehre verdienen, der die höllischen Feinde erspäht und die Christen aufweckt und zusammenruft? Dass sie aber ihre Macht rühmen, der zu widerstehen sich nicht zieme, hat gar keine Bedeutung. Es hat niemand in der Christenheit das Recht, Schaden anzurichten oder zu verbieten, dem Schaden zu wehren. Alle Macht in der Kirche muss zur Besserung dienen. Darum, wenn der Papst seine Macht gebrauchen sollte, zu verwehren ein freies Konzil zu machen, womit die Besserung der Kirche verhindert würde, so sollen wir ihn und seine Macht nicht ansehen. Und falls er bannen und donnern würde, sollte man das als eines wahnsinnigen Mannes Verhalten verachten und ihn, mit Zuversicht auf Gott, wiederum bannen und in die Enge treiben, wie man vermag. Denn solche angemaßte Macht ist nichts. Er hat sie auch nicht und sie wird sogleich mit einem Wort der Heiligen Schrift widerlegt. Denn Paulus sagt 2. Korinther 10,8: »Gott hat uns Macht gegeben, nicht die Christenheit zu verderben, sondern zu bessern.« Wer will über diesen Spruch hüpfen? Des Teufels und des Antichrist Macht ist es, die dem wehrt, was zur Besserung der Christenheit dient. Darum ist ihr gar nicht zu folgen, sondern mit Leib und Gut und allem, was wir vermögen, zu widerstehen.

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Und wenn sogar ein Wunderzeichen für den Papst gegen die weltliche Macht geschähe oder jemandem eine Plage widerführe, wie sie rühmen, dass es etliche Male geschehen sei, soll man das nicht anders ansehen als durch den Teufel geschehen wegen unseres Mangels an Glauben zu Gott, wie das Christus Matthäus 24,24 verkündigt hat: »Es werden in meinem Namen falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, sodass sie auch die Auserwählten verführen werden«; und Paulus sagt 2. Thessalonicher 2,9ff., dass der Antichrist durch den Satan mächtig in falschen Wunderzeichen sein werde. Darum lasst uns das festhalten: Christliche Macht vermag nichts wider Christus, wie Paulus 2. Korinther 13,8 sagt: »Wir vermögen nichts wider Christus, sondern nur etwas für Christus zu tun.« Tut sie aber etwas wider Christus, so ist sie des Antichrist und Teufels Macht, selbst wenn sie Wunder und Plagen regnen und hageln lassen sollte. Wunder und Plagen beweisen nichts, besonders in dieser letzten, ärgsten Zeit, von welcher falsche Wunder in der ganzen Heiligen Schrift verkündet sind. Darum müssen wir uns an die Worte Gottes mit festem Glauben halten. So wird der Teufel seine Wunder wohl lassen. Hiermit, hoffe ich, wird das falsche, lügenhafte Erschrecken, womit uns die Römer nun lange Zeit eingeschüchterte und verzagte Gewissen gemacht haben, daniederliegen. Ebenso wird feststehen, dass sie mit uns allen gleichermaßen dem Schwert unterworfen sind, nicht die Macht haben die Schrift durch bloße Gewalt und ohne Kompetenz auszulegen und kein Recht haben, einem Konzil zu wehren oder es nach ihrem Mutwillen zu berauben, zu verpflichten und ihm seine Freiheit zu nehmen. Wo sie das tun, gehören sie wahrhaftig zur Gemeinschaft des Antichrist und des Teufels und haben nichts von Christus außer dem Namen. …

Reformvorschlag 1: Das Papsttum Mit seinen Reformvorschlägen setzte Luther am Kopf der Kirche an, beim Papsttum. 1520 hielt er dieses noch für reformierbar. Er hatte allerdings auch bereits den Verdacht, auf dem Papstthron zu Rom sitze der im Neuen Testament angekündigte Antichrist, eine Gestalt der Endzeit, die die Kirche von innen zerstören wolle. In seiner ausufernden Rhetorik spielte Luther auch mit dem Gedanken, gewaltsam gegen den Papst und seinen Stab vorzugehen.

Nun wollen wir sehen die Stücke, die man von Rechts wegen in den Konzilen verhandeln sollte und mit denen Päpste, Kardinäle, Bischöfe

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und alle Gelehrten korrekterweise Tag und Nacht umgehen sollten, wenn sie Christus und seine Kirche lieb hätten. Wenn sie das aber nicht tun, sollten die Menge und die weltliche Obrigkeit handeln, auch wenn sie dann bannen und donnern. Denn ein unrechter Bann ist besser als zehn rechte Sündenvergebungen und eine unrechte Sündenvergebung ist schlimmer als zehn rechte Bannsprüche. Darum lasset uns aufwachen, liebe Deutsche, und Gott mehr als die Menschen fürchten, damit wir nicht mitschuldig werden an all den armen Seelen, die so kläglich durch das schändliche teuflische Regiment der Römer verloren gehen. Täglich nimmt der Teufel mehr und mehr zu, wenn es überhaupt noch möglich ist, dass dieses teuflische Regiment noch schlimmer werden könnte, was ich doch kaum begreifen noch glauben kann. Zum Ersten ist es grauenvoll und schrecklich anzusehen, dass der Oberste in der Christenheit, der sich Stellvertreter Christi und Sankt Peters Nachfolger zu sein rühmt, so weltlich und prächtig daherkommt, dass ihn darin kein König und kein Kaiser erreichen und ihm gleich werden kann. In dem, der sich »allerheiligst« und »geistlichst« nennen lässt, herrscht ein weltlicheres Wesen, als die Welt selbst ist. Er trägt die dreifache Krone, wo die höchsten Könige nur eine Krone tragen. Gleicht das dem armen Christus und Sankt Peter, so ist es eine ganz neue Form von Gleichheit. Man plärrt, es sei ketzerisch, wenn man etwas dagegen sagt. Man will aber auch nicht hören, wie unchristlich und ungöttlich dieses Verhalten ist. Ich meine aber, wenn er mit Tränen vor Gott beten wollte, müsste er jedes Mal diese Krone ablegen, weil unser Gott keine Überheblichkeit leiden kann. Allerdings sollte sein Amt nichts anderes sein als ein tägliches Weinen und Beten für die Christenheit und ein Beispiel aller Demut. Sei es, wie es will: Eine solche Pracht ist ärgerlich und ein Papst bei seiner Seelen Seligkeit schuldig, sie abzulegen, weil Sankt Paulus sagt (1. Thessalonicher 5,22): »Enthaltet euch von allen Gebärden, die da ärgerlich sind«, und Römer 12,17: »Wir sollen Gutes zu tun uns befleißigen, nicht allein vor Gottes Augen, sondern auch vor allen Menschen.« Dem Papst müsste eine gewöhnliche Bischofskrone reichen. Nur in Gelehrsamkeit und Heiligkeit sollte er größer sein als andere. Die Krone der Überheblichkeit sollte er dem Antichrist lassen, wie das seine Vorfahren vor einigen hundert Jahren getan haben. Sie sagen aber, er sei ein Herr der Welt. Doch das ist erlogen, denn Christus, dessen Statthalter und Amtmann zu sein er sich rühmt, sprach vor Pilatus (Johannes 18,36): »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«

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Es kann niemals ein Statthalter mächtiger regieren als sein Herr. Er ist auch nicht ein Statthalter des erhöhten, sondern des gekreuzigten Christus, wie Paulus sagt (1. Korinther 2,2): »Ich habe nichts bei euch wissen wollen als Christus und denselben nur als Gekreuzigten.« Und Philipper 2,5ff.: »So solltet ihr euch verhalten, wie ihr seht in Christo. Der hat sich entäußert und eine Knechtsgestalt angenommen.« Ebenso 1. Korinther 1,23: »Wir predigen Christus den Gekreuzigten.« Nun machen sie den Papst zu einem Statthalter des erhöhten Christus im Himmel, und einige haben den Teufel so stark in sich regieren lassen, dass sie glaubten, der Papst sei über den Engeln im Himmel und habe ihnen zu gebieten. Das sind die eigentlichen rechten Werke des rechten Antichrist. …

»Hängen wir die Diebe …« Weil also ein solches teuflische Regiment nicht allein eine öffentliche Räuberei, Trügerei und Tyrannei der Höllenpforte ist, sondern auch die Christenheit an Leib und Seele verdirbt, sind wir hier verpflichtet, allen Fleiß aufzuwenden, diesem Jammer und der Zerstörung der Christenheit zu wehren. Wollen wir gegen die Türken kämpfen, so lasst uns hier anfangen, wo sie am allerärgsten sind. Hängen wir mit Recht die Diebe und köpfen die Räuber, warum sollen wir frei gewähren lassen den römischen Geiz, der der größte Dieb und Räuber ist, der auf die Erde gekommen ist und kommen kann? Und das alles in Christi oder Sankt Peters heiligem Namen! Wer kann es noch dulden und dazu schweigen? Es ist jedenfalls gestohlen und geraubt fast alles, was er hat. Daran ist nichts zu ändern. Es wird aus allen geschichtlichen Überlieferungen bewiesen. …

Reformvorschlag 13: Das Klosterleben Als Luther 1520 sein Reformprogramm entfaltete, war er noch Mönch und lebte noch als Mönch. Dennoch verlangte er auch nach einer Reform des Klosterlebens, das sich wieder an den Anfängen und Ursprüngen des Mönchtums orientieren sollte. Klöster sollten wieder der Bildung dienen, und eine lebenslange Bindung der Mönche und Nonnen sollte es nicht mehr geben.

Es wäre nach meiner Ansicht eine notwendige Ordnung, zumal in unserer gefahrvollen Zeit, dass Stifte und Klöster wieder auf die Weise geordnet würden, wie sie im Anfang waren bei den Aposteln und eine

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lange Zeit danach, als es jedermann frei stand, in ihnen zu bleiben, so lange er wollte. Denn was sind Stifte und Klöster anderes gewesen als christliche Schulen, in denen man lehrte Schrift und Zucht nach christlicher Weise und Leute aufzog, zu regieren und zu predigen? Wir lesen, dass Sankt Agnes in die Schule ging, und sehen dasselbe noch in einigen Frauenklöstern wie zu Quedlinburg. Wahrlich, es sollten alle Stifte und Klöster auch so frei sein, dass sie Gott mit freiem Willen dienen und nicht gezwungen. Aber später hat man Gelübde eingeführt und ein ewiges Gefängnis aus Stiften und Klöstern gemacht. Die Mönchsgelübde sind zwar angesehener als das Taufgelübde, was aber für Frucht daraus gekommen ist, sehen, hören, lesen und erfahren wir täglich mehr und mehr. Ich glaube wohl, dass dieser mein Ratschlag für ganz töricht gehalten wird. Aber da frage ich jetzt nicht danach. Ich rate, was ich für gut halte, verwerfe es, wer es will. Ich sehe gut, wie die Gelübde gehalten werden, besonders das der Keuschheit. Gerade sie wird propagiert durch diese Klöster, und doch ist sie von Christus nicht geboten, sondern nur sehr wenigen gegeben worden, wie er selbst (Matthäus 19,1f.) und Sankt Paulus (1. Korinther 7,7) sagen. Ich wollte gerne, dass jedem geholfen wird und dass christliche Seelen nicht durch von Menschen selbst erfundene Verhaltensweisen und Gesetze gefangen werden. …

Reformvorschlag 25: Das Bildungswesen Als Luther sein Reformprogramm entfaltete, war er nicht nur Mönch, sondern auch Universitätsprofessor. Die Reform des Bildungswesens, sowohl der Universitäten als auch der einfachen Schulen, war ihm ein wichtiges Anliegen. Die Bibel solle ein fester und zentraler Bestandteil der Bildungsarbeit werden. Auch Mädchen müsste eine elementare Bildung ermöglicht werden. An den Universitäten dürfe der heidnische griechische Philosoph Aristoteles nicht mehr so viel Bedeutung haben. Ebenso sollten sich die Studenten und Professoren nicht mehr in der gewohnten Intensität mit den »Sentenzen« des mittelalterlichen Theologen Petrus Lombardus, einer Sammlung von Zitaten der Kirchenväter, befassen. Auch mit dem Rechtssystem der Zeit, das aus weltlichem Recht einerseits und kirchlichem, sogenanntem Geistlichen Recht andererseits bestand, setzt sich Luther kritisch auseinander.

Die Universitäten bedürften auch wohl einer guten starken Reformation. Ich muss es sagen, es verdrieße, wen es will. Es ist doch alles, was das Papsttum eingesetzt und angeordnet hat, nur darauf gerichtet, Sünde und Irrtum zu mehren. Was sind die Universitäten, wenn sie nicht anders als bisher geordnet werden, anderes als, wie das Buch

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der Makkabäer sagt, Übungsstätten der Jünglinge und des griechischen Ruhmes, in denen ein freies Leben geführt, wenig von der Heiligen Schrift und vom christlichen Glauben gelehrt wird und allein der blinde, heidnische Meister Aristoteles regiert, sogar umfassender als Christus? Hier wäre nun mein Rat, dass die Bücher des Aristoteles, »Physik«, »Metaphysik«, »Über die Seele«, »Ethik«, welche bisher für die besten gehalten wurden, ganz abgeschafft werden mit allen anderen, die mit natürlichen Dingen angeben, obgleich man doch nichts aus ihnen lernen kann, weder über natürliche noch geistliche Dinge. Außerdem hat seine Meinungen bislang niemand verstanden. Mit unnützer Arbeit, Studium, Kosten und viel edler Zeit wurden die Seelen ohne Nutzen beladen. Ich wage zu sagen, dass ein Töpfer mehr von natürlichen Dingen versteht, als in diesen Büchern steht. Es tut mir weh in meinem Herzen, dass der verdammte, hochmütige, arglistige Heide mit seinen falschen Worten so viele der besten Christen verführt und genarrt hat. Gott hat uns so mit ihm geplagt um unsrer Sünde willen. Lehrt doch der elende Mensch in seinem besten Buche »Über die Seele«, dass die Seele sterblich sei mit dem Körper. Obwohl ihn viele mit vergeblichen Worten haben retten wollen, als hätten wir nicht die Heilige Schrift, durch die wir überreichlich in allen Dingen belehrt werden, von der Aristoteles nicht einen kleinsten Geruch je empfunden hat. Dennoch hat der tote Heide den Sieg davon getragen und des lebendigen Gottes Bücher behindert und ganz unterdrückt, sodass, wenn ich diesen Jammer bedenke, ich nichts anderes glauben kann, als dass der böse Geist diese Art zu studieren aufkommen hat lassen. … Das will ich gerne dulden, dass Aristoteles’ Bücher von der Logik, Rhetorik und Poetik beibehalten und sie, in eine andere, kürzere Form gebracht, mit Nutzen gelesen werden, damit junge Leute sich üben, gut zu reden und zu predigen. Aber die Kommentare und Schulmeinungen müssten abgeschafft werden. Und genau wie Ciceros Rhetorik ohne Kommentar und Schulmeinung gelesen wird, so sollte auch Aristoteles’ Logik einfach, ohne solche großen Kommentare gelesen werden. Aber jetzt lernt man weder reden noch predigen daraus und es ist gänzlich eine Disputation und Quälerei daraus geworden. Daneben hätte man nun die Sprachen Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, die mathematischen Disziplinen und die Geschichtskunde. Das überlasse ich Verständigeren. Es wird sich selbst wohl ergeben, wenn man mit Ernst nach einer Reformation trachtet. Fürwahr, viel ist daran gelegen.

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Denn hier soll die christliche Jugend und unser edelstes Volk, durch das die Christenheit Bestand hat, gelehrt und vorbereitet werden. Darum denke ich, dass kein päpstlicheres noch kaiserlicheres Werk geschehen könnte als eine gute Reformation der Universitäten, wiederum nichts Teuflischeres, Ärgeres als unreformierte Universitäten. Die Ärzte lass ich ihre Fakultäten selbst reformieren. Die Juristen und Theologen nehme ich mir vor und sage zum Ersten, dass es gut wäre, das Geistliche Recht würde vom ersten Buchstaben bis zum letzten gründlich ausgetilgt, besonders die Dekretalen, denn es ist uns mehr als genug in der Bibel beschrieben, wie wir uns in allen Dingen verhalten sollen. Dieses Studieren behindert nur die Heilige Schrift. Ferner riecht das meiste nach lauter Geiz und Überheblichkeit. Und selbst wenn viel Gutes enthalten wäre, sollte es dennoch zurecht untergehen, weil der Papst alle geistlichen Rechte in seines Herzens Kasten gefangen hat. Deshalb ist jetzt nur unnützes Studieren und Betrug damit verbunden. Heute ist das Geistliche Recht nicht das, was in den Büchern steht, sondern was in des Papstes und seiner Schmeichler Mutwillen steht. Hast du eine Sache im Geistlichen Recht begründet aufs allerbeste, so hat der Papst eine eigene Lehre in seinem Herzen, und danach muss sich richten alles Recht und die ganze Welt. Nun regiert diese Herzenslehre vielmals wie ein Bösewicht und wie der Teufel selbst und lässt sich preisen, der Heilige Geist regiere sie. So geht man um mit dem armen Volk Christi, setzt ihm viel Recht und hält keines, zwingt andere zu halten oder mit Geld davon frei zu werden. … Das weltliche Recht, hilf Gott, ist auch eine Wildnis geworden, obwohl es viel besser, kunstvoller, redlicher ist als das Geistliche Recht, an welchem außer dem Namen nichts Gutes ist. Aber auch aus ihm ist viel zu viel geworden. Fürwahr, vernünftige Regenten neben der Heiligen Schrift wären wirklich genug da, wie Sankt Paulus 1. Korinther 6,1 sagt: »Ist niemand unter euch, der da könnte seines Nächsten Sache richten, dass ihr vor heidnischen Gerichten müsst hadern?« Ich halte es für angemessen, dass Landesrecht und Landessitten den kaiserlichen, allgemeinen Rechten vorgezogen und die kaiserlichen nur notfalls gebraucht werden. Und wollte Gott, dass, wie jedes Land seine eigene Art und Gaben hat, es so auch mit eigenen kurz gefassten Rechten regiert würde, wie sie regiert worden sind, ehe ein solches kaiserliches Recht erfunden wurde. Und noch werden ohne es viele Länder regiert. Die weitläufigen und von ferne hergeholten Rechte dienen nur der Beschwerung der Leute und behindern mehr als sie

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fördern. Doch ich hoffe, dass diese Sache von anderen schon besser bedacht und betrachtet wurde, als ich es kann. Meine lieben Theologen haben sich der Mühe und Arbeit enthoben, lassen die Bibel gut ruhen und behandeln die Sentenzen. Ich meine, die Sentenzen gehören an den Anfang bei den jungen Theologen und die Bibel sollte Aufgabe der Doktoren sein. Gleichwohl ist es umgekehrt: Die Bibel steht am Anfang, mit dem ist sie erledigt, und die Sentenzen sind das Letzte. Sie bleiben mit dem Doktorat ewiglich, dazu mit dieser heiligen Verpflichtung, dass die Bibel wohl lesen kann, wer nicht Priester ist, aber dass die Sentenzen ein Priester lesen muss. Es könnte also ein ehelich lebender Mann Doktor sein in der Bibel, wie ich sehe, aber keineswegs in den Sentenzen. Was soll uns an Glück widerfahren, wenn wir so verkehrt handeln und die Bibel, das heilige Wort Gottes, so in den Hintergrund drängen? Dazu gebietet der Papst mit vielen strengen Worten, seine Gesetze in den Schulen und Gerichten zu lesen und zu gebrauchen. Aber an das Evangelium wird wenig gedacht. Ebenso ist es auch üblich, dass das Evangelium in Schulen und Gerichten wohl müßig unter der Bank im Staub liegt, damit die schädlichen Gesetze des Papstes alleine regieren können. Da wir den Namen und Titel Lehrer der Heiligen Schrift haben, sollten wir wahrlich gezwungen werden, dem Namen entsprechend die heiligen Schriften und keine anderen zu lehren. Freilich ist auch der hochmütige, aufgeblasene Titel übertrieben. Wie könnte sich ein Mensch rühmen und krönen lassen als ein Lehrer der Heiligen Schrift? Doch es wäre zu dulden, wenn das Werk den Namen bestätigte. Nun aber, da die Sentenzen allein herrschen, findet man mehr heidnischen und menschlichen Dünkel als heilige, gewisse Lehre der Schrift bei den Theologen. Was wollen wir da nun tun? Ich weiß hier keinen anderen Rat als ein demütiges Gebet zu Gott, dass uns dieser Doktoren der Theologie gebe. Doktoren der Philosophie, des Heilens, der Rechte, der Sentenzen können der Papst, Kaiser und Universitäten machen. Aber sei gewiss, einen Doktor der Heiligen Schrift wird dir niemand machen als allein der Heilige Geist vom Himmel, wie Christus sagt Johannes 6,45: »Sie müssen alle von Gott selbst gelehrt sein.« Nun fragt der Heilige Geist nicht nach roten, braunen Baretten und nach dergleichem Prangen, auch nicht, ob einer jung oder alt, Laie oder Pfaffe, Mönch oder weltlich, jungfräulich oder ehelich ist. Ja, er redete vorzeiten durch ein Eselein gegen den Propheten, der darauf

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ritt. Wollte Gott, wir wären seiner würdig, dass uns solche Doktoren gegeben würden, sie wären Laien oder Priester, ehelich oder jungfräulich. Dagegen will man den Heiligen Geist zwingen in den Papst, den Bischof und in die alten Doktoren, obgleich doch kein Zeichen noch Anschein ist, dass er bei ihnen sei. Die Bücher müsste man auch reduzieren und die besten auswählen. Denn viele Bücher machen nicht gelehrt, viel lesen auch nicht, sondern gute Dinge oft lesen, wie wenig es auch sein mag, das macht gelehrt in der Schrift und fromm dazu. Ja, es sollten aller heiligen Väter Schriften nur eine Zeit lang gelesen werden, um dadurch in die Heilige Schrift hinein zu kommen. Zurzeit aber lesen wir sie nur, damit wir in ihnen bleiben und nie in die Heilige Schrift kommen. So sind wir wie Menschen, die Wegzeichen sehen und doch niemals auf dem Weg wandeln. Die lieben Väter haben uns in die Schrift führen wollen mit ihrem Schreiben. So aber führen wir uns damit heraus, obgleich doch allein die Schrift unser Weingarten ist, in dem wir alle uns üben und arbeiten sollten. Vor allen Dingen sollte in den hohen und niederen Schulen die Heilige Schrift die vornehmste und allgemeinste Lektion sein und bei den jungen Knaben das Evangelium. Und wollte Gott, eine jegliche Stadt hätte auch eine Mädchenschule, in der täglich die Mädchen eine Stunde lang das Evangelium hörten, es wäre deutsch oder lateinisch. Fürwahr, die Schulen, Männer- und Frauenklöster wurden vorzeiten dazu errichtet, ganz aus löblicher christlicher Absicht, wie wir lesen von Sankt Agnes und noch mehr Heiligen. Da gab es heilige Jungfrauen und Märtyrer, und es stand recht gut um die Christenheit. Aber nun ist nicht mehr als beten und singen daraus geworden. Sollte nicht jeder Christenmensch im Alter von neun oder zehn Jahren das ganze heilige Evangelium kennen, da doch sein Name und Leben darin enthalten ist? Lehrt doch eine Spinnerin und Näherin ihre Tochter ihr Handwerk in jungen Jahren. Aber nun kennen das Evangelium auch die großen, gelehrten Prälaten und Bischöfe selbst nicht. …

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Reformvorschläge zum Lebensalltag Am Schluss seiner Adelsschrift behandelt Luther gesellschaftliche Missstände. Auch hier schlägt er Reformen vor. Luther war gegen jeden Luxus im Alltag. Im wirtschaftlichen Bereich lehnte er den sich gerade entwickelnden Zinshandel und die neuartigen Kreditgeschäfte ab. Dem größten Handelshaus Deutschlands, der Firma Fugger in Augsburg, wollte er Zügel anlegen.

Das sei nun genug gesagt von den Missständen im geistlichen Bereich. Man wird und kann ihrer mehr finden, wenn man sich richtig umsehen würde. Aber ich will auch einige von den weltlichen Missständen schildern. Zum Ersten wäre hochnotwendig ein allgemeines Gebot und die Zustimmung der deutschen Nation gegen den überschwänglichen Überfluss und die Kosten der Kleidung, weil dadurch so viel Adel und reiches Volk verarmt. Hat doch Gott uns wie anderen Ländern genug gegeben an Wolle, Haar, Flachs und an allem, was zu züchtiger, maßvoller Kleidung einem jeden Stand redlich dient. Also sollten wir nicht einen so grauenvoll großen Schatz für Seide, Samt, Goldschmuck und andere ausländische Ware so verschwenderisch verbrauchen. Ich meine, wenn schon der Papst mit seiner unerträglichen Schinderei uns Deutsche nicht berauben würde, hätten wir dennoch mehr als zu viel an diesen heimlichen Räubern, den Seiden- und Samtkrämern. Zudem sehen wir, dass dadurch ein jeder den anderen gleich sein will und damit Überheblichkeit und Neid unter uns, wie wir verdienen, erregt und gemehrt werden. Das alles und viel mehr Jammer würden wohl unterbleiben, wenn der Vorwitz uns ließe an den von Gott gegebenen Gütern dankbar sich genügen. Desgleichen wäre auch not, zu verringern den Gewürz- und Spezialitätenhandel. Auch er ist eines der großen Schiffe, mit denen das Geld aus den deutschen Landen hinausgeführt wird. Es wächst uns wahrlich von Gottes Gnaden mehr Essen und Trinken und so köstlich und gut als irgendeinem anderen Land. Ich werde hier vielleicht närrische und unmögliche Dinge vortragen, als wollte ich den größten Handel, die Kaufmannschaft, abschaffen. Aber ich tue das Meine. Wird es nicht allgemein gebessert, so bessere für sich selbst, wer es tun will. Ich sehe nicht viele gute Sitten, die je in ein Land gekommen sind durch Kaufmannschaft. Und Gott hat vorzeiten sein Volk Israel darum weit vom Meer entfernt wohnen und nicht viel Kaufmannschaft treiben lassen.

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Aber das größte Unglück für die deutsche Nation ist sicher das Kreditwesen. Wenn das nicht wäre, müsste mancher seine Seide, Samt, Goldschmuck, Spezerei und allerlei Prangen wohl ungekauft lassen. Es existiert kaum länger als hundert Jahre und es hat schon beinahe alle Fürsten, Stifte, Städte, Adel und Ehrbare in Armut, Jammer und Verderben gebracht. Wird es weitere hundert Jahre bestehen, so wäre es nicht möglich, dass Deutschland einen Pfennig behielte. Wir müssten uns sicher untereinander fressen. Der Teufel hat den Zinskauf erdacht und der Papst hat aller Welt geschadet mit seiner Bestätigung. Darum bitte ich und rufe hier. Es sehe ein jeder sein eigenes, seiner Kinder und Erben Verderben an, das ihm nicht vor der Tür, sondern schon im Hause rumort! Und es trage Kaiser, Fürsten, Herren und Städte dazu bei, dass der Zinskauf so bald wie möglich verdammt und hinfort verwehrt werde, unangesehen ob der Papst und all sein Recht oder Unrecht dagegen ist, es seien Lehen oder Stifte darauf gegründet. Es ist besser, ein Lehen in einer Stadt mit redlichen Erbgütern oder Zinsen zu stiften als hundert mithilfe des Zinskaufs. Ja, ein Lehen auf den Zinskauf ist ärger und schwerer als zwanzig auf Erbgütern. Fürwahr, der Zinskauf ist wohl ein Symbol und ein Gleichnis dafür, dass die Welt mit schweren Sünden an den Teufel verkauft ist, sodass es uns zugleich an zeitlichem und geistlichem Gut fehlt. Dennoch merken wir nichts. Hier müsste man wahrlich auch den Fuggern und dergleichen Gesellschaften einen Zaum ins Maul legen. Wie ist es möglich, wie könnte es göttlich und recht zugehen, wenn während eines Menschenlebens so große königliche Güter auf einen Haufen gebracht werden? Ich kenne die Rechnung nicht. Auch das verstehe ich nicht, wie man mit hundert Gulden in einem Jahr zwanzig erwerben kann, ja sogar ein Gulden einen weiteren, und das alles nicht aus der Erde oder von dem Vieh, wo das Gut nicht in menschlicher Klugheit, sondern in Gottes Segen steht. Ich übergebe das den Weltgelehrten. Ich als ein Theologe habe nicht mehr daran zu tadeln als das böse, ärgerliche Ansehen, von dem Sankt Paulus sagt: »Meidet das Böse in jeder Gestalt.« (1. Thessalonicher 5,22). Das weiß ich wohl, dass es viel göttlicher wäre, Ackerwerk zu mehren und Kaufmannschaft zu mindern, und dass die viel besser tun, die der Heiligen Schrift nach die Erde bearbeiten und ihre Nahrung daraus suchen, wie zu uns und allen gesagt ist bei Adam (1. Mose 3,17ff.): »Verflucht sei der Acker, auf dem du arbeitest; er soll dir Disteln und Dornen tragen und im Schweiße

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deines Angesichts sollst du dein Brot essen.« Es gibt noch viel Land, das nicht umgepflügt und beackert ist. Es folgt noch der Missbrauch des Fressens und Saufens, wovon wir Deutschen als einem besonderen Laster keinen guten Ruf haben in fremden Landen. Mit bloßem Predigen kann man ihm nicht mehr beikommen, so sehr ist es eingerissen und hat überhand genommen. Es wäre noch der Schaden am Gut das Geringste, wenn nicht weitere Laster wie Mord, Ehebruch, Stehlen, Gottesentehrung und alle weiteren Untugenden daraus folgten. Es sollte die weltliche Obrigkeit hier etwas wehren, sonst wird es enden, wie Christus sagt, dass der Jüngste Tag kommen wird wie ein Fallstrick (Lukas 21,34), wenn sie trinken und essen, freien und buhlen, bauen und pflanzen, kaufen und verkaufen werden. Das ist ja jetzt der Fall, so stark, dass ich fürwahr denke, der Jüngste Tag sei vor der Tür, obwohl man es wohl am wenigsten erwartet. Zuletzt: Ist das nicht eine jämmerliche Sache, dass es unter uns Christen Freudenhäuser gibt, obwohl wir doch alle durch die Taufe zur Keuschheit verpflichtet sind? …

»Von der Freiheit eines Christenmenschen«

Zu den heute noch inspirierendsten Schriften Luthers gehört eine zweite Schrift des Jahres 1520, in der er religiöse und theologische Fragen behandelt, die jeden einzelnen Christen betreffen. Luther bringt hier, wieder an Paulus und Augustinus anknüpfend, den Gedanken der Freiheit mit der Religion in eine enge Verbindung, ein Ansatz, der fortan und bis heute die christliche Theologiegeschichte nachhaltig prägte. Religion hatte und hat ja oftmals mit Zwang zu tun: Sie wird erzwungen und sie erzeugt selbst Zwänge. Für Luther aber macht der Glaube einerseits frei, und er darf andererseits auch nicht mit Zwängen belegt werden. Freiheit gründet bei Luther allerdings in der Bindung an Gott, und sie mündet in die Verpflichtung zum Dienst am Nächsten.

Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520): WA 7, S. 12–38; DDStA 1, S. 277–315. Martin Luther, Tractatus de libertate christiana (1520): WA 7, S. 39–73; StA 1, S. 260–309; LDStA 2, S. 101–185.

Zum Ersten: Damit wir gründlich erkennen können, was ein Christenmensch ist und wie es um die Freiheit beschaffen ist, die ihm Christus erworben und gegeben hat, wovon Paulus viel schreibt, will ich diese zwei Leitsätze aufstellen: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Diese zwei Leitsätze sind klar: Paulus, 1. Korinther 9,19: »Ich bin frei von jedermann und habe mich doch jedermann zum Knecht gemacht«, ebenso Römer 13,8: »Seid niemand etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt.« Liebe aber, die ist dienstbar und untertan dem, was sie lieb hat. So heißt es auch von Christus, Galater 4,4: »Gott hat seinen Sohn gesandt, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan.« Zum Zweiten: Um diese zwei sich widersprechenden Reden von der Freiheit und von der Dienstbarkeit zu verstehen, müssen wir bedenken, dass jeder Christenmensch von zweierlei Natur ist: geistlicher und leiblicher. Nach der Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerer Mensch genannt, nach dem Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und

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äußerer Mensch genannt. Und um dieses Unterschieds willen werden von ihm in der Schrift Dinge gesagt, die sich strikt widersprechen, wie ich jetzt von der Freiheit und der Dienstbarkeit gesagt habe.

Der innere, geistliche Mensch ist frei Luther zeigt, dass die Freiheit eines Christen darin besteht, dass ihm Äußerlichkeiten – Werke – zur Seligkeit weder nutzen noch schaden. Seine Freiheit verdankt er Christus, und er erlangt sie durch den Glauben. Diese Freiheit kann ihm sogar durch Unterdrückung und Gefangenschaft nicht geraubt werden. Luther fragt ferner nach dem Sinn der göttlichen Gebote in der Heiligen Schrift und sagt, dass sie dem Menschen zeigen sollen, dass er zum wirklich Guten unfähig ist. Gerade wer viele gute Dinge tut, wird im Kern häufig von Selbstsucht getrieben, ist also in Wirklichkeit ein Sünder. Ein Mensch, der dies erkannt hat und dadurch gedemütigt wird, greift zu der ihm in Christus angebotenen göttlichen Gnade und hört auf die in der Bibel enthaltenen Worte der Verheißung. Der Glaube, so Luther, verbindet die menschliche Seele mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam. Wie in einer Ehe entsteht eine Gütergemeinschaft, und Christus nimmt der Seele die Sünden ab und lässt die Seele an seiner Gerechtigkeit teilhaben. Christus gibt den Gläubigen ferner teil an seiner geistlichen Königsherrschaft und an seinem Priestertum. Letzteres verleiht jedem Christen das Recht, wie ein Priester vor Gott zu treten und Gott für andere zu bitten. Um diese komplizierten Zusammenhänge zu erläutern, wendet sich Luther, nachdem er zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen unterschieden hat, zunächst dem inneren Menschen zu.

Zum Dritten: Wenn wir uns den inneren, geistlichen Menschen vornehmen, um zu sehen, was dazu gehöre, dass er ein frommer, freier Christenmensch sei und heiße, so ist offenbar, dass ihn kein äußerliches Ding frei noch fromm machen kann, wie es auch immer genannt werden mag. Denn seine Frömmigkeit und Freiheit und umgekehrt seine Bosheit und sein Gefängnis sind nicht leiblich noch äußerlich. Was hilft es der Seele, dass der Leib nicht gefangen, frisch und gesund ist, isst, trinkt, lebt, wie er will? Umgekehrt: Was schadet es der Seele, dass der Leib gefangen, krank und matt ist, hungert, dürstet und leidet, wie er nicht gerne will? Von diesen Dingen reicht keines bis an die Seele, sie zu befreien oder zu fangen, gut oder böse zu machen. Zum Vierten: Ebenso hilft es der Seele nichts, wenn der Leib heilige Kleider anlegt, wie die Priester und Geistlichen tun, auch nicht, wenn er in Kirchen und heiligen Stätten ist, auch nicht, wenn er mit heiligen Dingen umgeht, auch nicht, wenn er leiblich betet, fastet, wallfahrtet und lauter gute Werke tut, die durch und in dem Leib immer

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geschehen können. Es muss noch ganz etwas anderes sein, das der Seele Frömmigkeit und Freiheit bringt und gibt. Denn alle diese eben genannten Stücke, Werke und Weisen kann auch ein böser Mensch an sich haben und üben, ein Gleisner und Heuchler. Auch entsteht durch ein solches Wesen kein anderes Volk als lauter Heuchler. Umgekehrt schadet es der Seele nichts, wenn der Leib unheilige Kleider trägt, an unheiligen Orten ist, wenn er isst, trinkt, nicht wallfahrtet, nicht äußerlich betet und alle die Werke anstehen lässt, welche die eben genannten Heuchler tun. Zum Fünften hat die Seele keine andere Sache, weder im Himmel noch auf Erden, worin sie lebt, fromm, frei und christlich ist, als das heilige Evangelium, das Wort Gottes, von Christus gepredigt, wie er selbst Johannes 11,25 sagt: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt«, ebenso 14,6: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben«, ebenso Matthäus 4,4: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« So müssen wir nun gewiss sein, dass die Seele alle Dinge außer dem Wort Gottes entbehren kann und dass ihr ohne das Wort Gottes mit keiner Sache geholfen wird. Wenn sie aber das Wort hat, so bedarf sie auch keiner anderen Sache mehr, sondern sie hat in dem Wort Genüge: Speise, Freude, Friede, Licht, Kunst, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gut überschwänglich. So lesen wir im Psalter, besonders im 119. Psalm, dass der Prophet nach nichts anderem ruft als nach dem Gotteswort. Und in der Schrift wird es als die allerhöchste Plage und als Ausdruck von Gottes Zorn angesehen, wenn er sein Wort von den Menschen nimmt. Umgekehrt wird es als keine größere Gnade angesehen, als wenn er sein Wort hinsendet, wie im Psalm 107,20 steht: »Er sandte sein Wort und machte sie gesund.« Und Christus ist um keines anderen Amts willen als das Wort Gottes zu predigen gekommen, auch sind alle Apostel, Bischöfe, Priester und der ganze geistliche Stand allein um des Wortes willen berufen und eingesetzt, obwohl es jetzt leider anders zugeht. Zum Sechsten fragst du aber: Welches ist denn das Wort, das diese große Gnade gibt, und wie soll ich es gebrauchen? Antwort: Es ist nichts anderes als die Predigt, von Christus geschehen, wie sie das Evangelium enthält. Diese soll sein und ist so beschaffen, dass du deinen Gott zu dir reden hörst, wie all dein Leben und deine Werke vor Gott nichts seien, sondern du müssest mit allem dem, was in dir ist,

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ewig verderben. Wenn du das recht glaubst, wie du verpflichtet bist, musst du an dir selbst verzweifeln und bekennen, dass der Spruch Hosea 13,9 wahr sei: »O Israel, in dir ist nichts denn dein Verderben, allein aber in mir steht deine Hilfe.« Damit du aber aus dir heraus und von dir los, das ist aus deinem Verderben herauskommen mögest, setzt er dir seinen lieben Sohn Jesus Christus vor und lässt dir durch sein lebendiges, tröstliches Wort sagen: Du sollst dich ihm mit festem Glauben ergeben und mutig auf ihn vertrauen. Ebenso sollen dir um dieses Glaubens willen alle deine Sünden vergeben sein, soll all dein Verderben überwunden sein und du gerecht, wahrhaftig, in Frieden, fromm sein, sollen alle Gebote erfüllt und du von allen Dingen frei sein, wie Paulus Römer 1,17 sagt: »Ein gerechtfertigter Christ lebt nur aus seinem Glauben«, und Römer 10,4ff.: »Christus ist das Ende und die Fülle aller Gebote denen, die an ihn glauben.« … Zum Achten: Wie geht es aber zu, dass der Glaube allein fromm machen und ohne alle Werke so überschwänglichen Reichtum geben kann, obwohl uns doch in der Schrift so viele Gesetze, Gebote, Werke, Stände und Weisen vorgeschrieben sind? Hier ist fleißig zu merken und ja mit Ernst festzuhalten, dass allein der Glaube ohne alle Werke fromm, frei und selig macht, wie wir später mehr hören werden, und ist zu wissen, dass die ganze Heilige Schrift in zweierlei Worte geteilt wird, welche sind Gebote oder Gesetze Gottes und Verheißungen oder Zusagen. Die Gebote lehren und schreiben uns mancherlei gute Werke vor, aber damit sind sie noch nicht geschehen. Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht. Sie lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu bestimmt, dass der Mensch durch sie sein Unvermögen zum Guten sehe und an sich selbst verzweifeln lerne. Und darum heißen sie auch das Alte Testament und gehören alle ins Alte Testament. Wie das Gebot »Du sollst nicht böse Begierde haben« beweist, dass wir allesamt Sünder sind und kein Mensch ohne böse Begierde zu sein vermag, er tue, was er will. Daraus lernt er an sich selbst zu verzagen und anderswo Hilfe zu suchen, damit er ohne böse Begierde sei und so das Gebot durch einen anderen erfülle, was er aus sich selbst nicht vermag. Ebenso sind auch alle anderen Gebote uns unmöglich zu erfüllen. Zum Neunten: Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, dass ihm nun angst wird, wie er dem Gebot Genüge tue – da das Gebot erfüllet werden muss oder er verdammt sein wird –, so ist er recht gedemütigt und in seinen Augen zunichte geworden, findet nichts an sich, womit er könnte

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fromm werden. Dann kommt das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusage, und spricht: Willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde los werden, wie die Gebote zwingen und fordern, siehe da, glaube an Christus, in welchem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zusage. Glaubst du, so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht. Denn was dir mit allen Werken zur Erfüllung der Gebote unmöglich ist – deren viele sind und von denen doch keines nütze sein kann –, das wird dir durch den Glauben leicht und schnell zuteil. Denn ich habe in Kürze alle Dinge in den Glauben gestellt, dass, wer ihn hat, soll alle Dinge haben und selig sein; wer ihn nicht hat, soll nichts haben. So geben die Zusagen Gottes, was die Gebote fordern, und vollbringen, was die Gebote befehlen, damit es alles Gottes eigen sei: Gebot und Erfüllung. Er befiehlt allein, er erfüllt auch allein. Darum sind die Zusagen Gottes Wort des Neuen Testaments und gehören auch ins Neue Testament. Zum Zehnten: Nun sind diese und alle Gottesworte heilig, wahrhaftig, gerecht, friedsam, frei und voller Güte. Darum: Wer ihnen mit einem rechten Glauben anhängt, dessen Seele wird mit ihnen so ganz und gar vereinigt, dass alle Tugenden des Wortes auch der Seele eigen werden und durch den Glauben die Seele so durch das Gotteswort heilig, gerecht, wahrhaftig, friedsam, frei und voller Güte, ein wahrhaftiges Kind Gottes wird, wie Johannes 1,12 sagt: »Er hat ihnen Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben.« Hieraus ist leicht zu verstehen, warum der Glaube so viel vermag und dass keine guten Werke ihm gleich sein können. Denn kein gutes Werk hängt so an dem göttlichen Wort wie der Glaube und kann auch nicht in der Seele sein, sondern allein das Wort und der Glaube regieren in der Seele. Wie das Wort ist, so wird auch die Seele von ihm, gleichwie das Eisen aus der Vereinigung mit dem Feuer glutrot wie das Feuer wird. So sehen wir, dass ein Christenmensch am Glauben genug hat. Er bedarf keines Werks, dass er fromm sei. Bedarf er denn keines Werks mehr, so ist er gewisslich von allen Geboten und Gesetzen entbunden. Ist er von ihnen entbunden, so ist er gewisslich frei. Das ist die christliche Freiheit: Der Glaube allein, der da macht, nicht dass wir müßig gehen oder übel tun könnten, sondern dass wir keines Werks bedürfen, um zur Frömmigkeit und Seligkeit zu gelangen, wovon wir später mehr sagen wollen. … Zum Zwölften: Nicht allein gibt der Glaube so viel, dass die Seele dem göttlichen Wort gleich wird, aller Gnaden voll, frei und selig, son-

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dern er vereinigt auch die Seele mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam. Aus dieser Ehe folgt, wie Paulus (Epheser 5,30) sagt, dass Christus und die Seele ein Leib werden. Ebenso werden auch beider Güter – Glück, Unglück und alle Dinge – gemeinsam, sodass, was Christus hat, der gläubigen Seele eigen wird, was die Seele hat, Christus eigen wird. Christus hat alle Güter und Seligkeit. Die werden der Seele eigen. Die Seele bringt alle Untugend und Sünde mit sich. Die werden Christus eigen. Hier beginnt nun der fröhliche Wechsel und Tausch: Christus ist Gott und Mensch zugleich. Er hat noch nie gesündigt, und seine Frömmigkeit ist unüberwindlich, ewig und allmächtig. Wenn er sich der gläubigen Seele Sünde durch ihren Brautring, das ist der Glaube, selbst zu eigen macht und so tut, als hätte er sie getan, müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden. Denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist stärker als alle Sünden. So wird die Seele von allen ihren Sünden durch ihre Verlobungsgabe, das ist der Glaube, ledig und frei und mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus ausgestattet. Ist das nicht ein fröhlicher Hausstand, wenn der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie von allem Übel frei macht, sie mit allen Gütern ziert? So ist es nicht mehr möglich, dass die Sünden sie verdammen, denn sie liegen nun auf Christus und sind in ihm verschlungen. So hat sie eine so reiche Gerechtigkeit in ihrem Bräutigam, dass sie abermals gegen alle Sünden bestehen kann, ob sie schon auf ihr lägen. Davon sagt Paulus 1. Korinther 15,55ff.: »Gott sei Dank, der uns einen solchen Sieg in Christus Jesus gegeben hat, in welchem der Tod mit der Sünde verschlungen ist.« … Zum Vierzehnten: Um weiter zu sehen, was wir in Christus haben und ein wie großes Gut ein rechter Glaube ist, muss man wissen, dass sich Gott vor dem und in dem Alten Testament alle erste männliche Geburt, von Menschen und Tieren, ausnahm und vorbehielt. Und die erste Geburt war kostbar und hatte zwei große Vorteile vor allen anderen Kindern, nämlich die Herrschaft und Priesterschaft oder das Königreich und Priestertum. So war auf Erden das als Erstes geborene Knäblein ein Herr über alle seine Brüder und ein Pfaffe oder Papst vor Gott. Durch dieses Bild wurde auf Jesus Christus hingewiesen, der eigentlich dieselbe erste männliche Geburt Gottes des Vaters von der Jungfrau Maria ist. Darum ist er ein König oder Priester, doch geistlich, denn sein Reich ist nicht irdisch noch im Irdischen, sondern in geistlichen Gütern, wie Wahrheit, Weisheit, Friede, Freude, Seligkeit

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usw. Damit ist aber zeitliches Gut nicht ausgenommen, denn es sind ihm alle Dinge unterworfen in Himmel, Erde und Hölle, obwohl man ihn nicht sieht, weil er geistlich, unsichtbar regiert. So besteht auch sein Priestertum nicht in den äußerlichen Gebärden und Kleidern, wie wir sie bei den Menschen sehen, sondern es besteht im Geiste unsichtbar so, dass er vor Gottes Augen ohne Unterlass für die Seinen eintritt und sich selbst opfert und alles tut, was ein frommer Priester tun soll. Er bittet für uns, wie Paulus Römer 8,28 sagt, ebenso lehrt er uns innen im Herzen, welches zwei eigentliche, rechte Ämter eines Priesters sind, denn so bitten und lehren auch äußerliche, menschliche, zeitliche Priester. Zum Fünfzehnten: Wie nun Christus die erste Geburt mit ihrer Ehre und Würdigkeit hat, so teilt er sie mit allen Christen, sodass sie durch den Glauben auch alle Könige und Priester mit Christus werden, wie Petrus 1. Petrus 2,9 sagt: »Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft.« Und das geht so zu, dass ein Christenmensch durch den Glauben so hoch über alle Dinge erhoben wird, dass er aller Dinge geistlich ein Herr wird, denn es kann ihm kein Ding schaden an der Seligkeit. Ja, es muss ihm alles untertan sein und helfen zur Seligkeit, wie Paulus Römer 8,28 lehrt: Alle Dinge müssen den Auserwählten zu ihrem Besten helfen, es sei Leben, Sterben, Sünde, Frömmigkeit, Gutes oder Böses, wie man es nehmen will. Ebenso heißt es 1. Korinther 3,21f.: »Alles ist euer, es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges« usw. Nicht dass wir aller Dinge leiblich mächtig sind, sie zu besitzen oder zu gebrauchen, wie die Menschen auf Erden, denn wir müssen leiblich sterben und niemand kann dem Tode entfliehen. Ebenso müssen wir auch vielen anderen Dingen unterliegen, wie wir an Christus und seinen Heiligen sehen. Denn dies ist eine geistliche Herrschaft, die sogar bei leiblicher Unterdrückung besteht. Das heißt: Ich kann mich ohne alle Dinge der Seele nach bessern, sodass auch der Tod und die Leiden mir dienen und zur Seligkeit nützlich sein müssen. Das ist eine gar hohe, ehrenvolle Würdigkeit und eine rechte, allmächtige Herrschaft, ein geistliches Königreich, in dem alle Dinge, seien es gute, seien es böse, mir zum Guten dienen müssen, falls ich glaube. Und ich bedarf ihrer doch nicht, sondern mein Glaube ist mir genug. Siehe, was ist das für eine köstliche Freiheit und Macht der Christen! Zum Sechzehnten: Überdies sind wir Priester. Das ist noch viel mehr als König zu sein, weil das Priestertum uns würdig macht, vor

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Gott zu treten und für andere zu bitten. Denn vor Gottes Augen zu stehen und zu bitten, gebührt niemandem als den Priestern. Das hat uns Christus ermöglicht, dass wir geistlich füreinander eintreten können und bitten, wie ein Priester leiblich vor das Volk tritt und bittet. Wer aber nicht an Christus glaubt, dem dient kein Ding zum Guten. Er ist ein Knecht aller Dinge und muss sich über alle Dinge ärgern. Dazu ist sein Gebet nicht angenehm und kommt auch nicht vor Gottes Augen. Wer kann nun die Ehre und Höhe eines Christenmenschen ausdenken? Durch sein Königreich ist er über alle Dinge mächtig, durch sein Priestertum hat er Macht über Gott, denn Gott tut, was er bittet und will, wie im Psalter geschrieben steht: »Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren, und hört ihr Schreien und hilft ihnen.« (Psalm 145,19) Zu diesen Ehren kommt er allein durch den Glauben und durch kein Werk. Daraus sieht man klar, wie ein Christenmensch frei von allen Dingen und über alle Dinge ist, sodass er keiner guten Werke dazu bedarf, dass er fromm und selig sei, sondern der Glaube bringt ihm alles im Überfluss. Und wo er so töricht wäre und meinte, durch ein gutes Werk fromm, frei, selig oder ein Christ zu werden, so verlöre er den Glauben mit allen Dingen, gleichwie der Hund, der ein Stück Fleisch im Mund trug und nach dem Spiegelbild im Wasser schnappte, damit Fleisch und Spiegelbild zugleich verlor. …

Der äußere Mensch ist zum Dienst verpflichtet Im zweiten Teil der Freiheitsschrift entfaltet Luther seine Ethik und zeigt, dass nur der in Christus durch den Glauben frei gewordene Mensch in der Lage ist, selbstlos anderen Menschen Gutes zu tun. Er braucht dafür keine Gebote im Sinne von Vorschriften, sondern handelt, erfüllt von der ihm von Gott geschenkten Liebe, automatisch richtig, so wie ein guter Baum gute Früchte bringt.

Nun kommen wir zum zweiten Teil, zum äußeren Menschen. Hier wollen wir allen denen antworten, die sich über die vorigen Reden ärgern und zu sprechen pflegen: Ei, wenn denn der Glaube alles ist und allein genügt, um fromm zu machen, warum sind dann die guten Werke geboten? So wollen wir guter Dinge sein und nichts tun! Nein, lieber Mensch, nicht so! Es wäre wohl so, wenn du allein ein innerer Mensch wärst und ganz geistlich und innerlich geworden, was bis zum Jüngsten Tag aber nicht geschieht. Es ist und bleibt auf Erden

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nur ein Anfangen und Zunehmen, welches in jener Welt zu Ende gebracht wird. Daher spricht der Apostel (Römer 8,23) von Spiritualprimizien, das heißt den ersten Früchten des Geistes. Darum gehört hierher, was oben gesagt wurde: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan. Das heißt: Sofern er frei ist, braucht er nichts zu tun, sofern er Knecht ist, muss er allerlei tun. Wie das zugeht, wollen wir sehen. Zum Zwanzigsten: Obwohl der Mensch innerlich nach der Seele durch den Glauben genügend gerechtfertigt ist und alles hat, was er haben soll, außer dass dieser Glaube und dieses Genügen immer zunehmen muss bis in jenes Leben, bleibt er doch noch in diesem leiblichen Leben auf Erden und muss seinen eigenen Leib regieren und mit Menschen umgehen. Da haben nun die Werke ihren Platz. Hier darf er nicht müßig gehen, da muss fürwahr der Leib mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit aller mäßigen Zucht getrieben und geübt sein, dass er dem inneren Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere noch ihm widerstrebe, wie seine Art ist, wo er nicht gezwungen wird. … Zum Einundzwanzigsten: Aber diese Werke dürfen nicht in der Absicht geschehen, dass der Mensch dadurch vor Gott gerecht werde. … Zum Dreiundzwanzigsten: Darum sind die zwei Sprüche wahr: Gute, fromme Werke machen nimmermehr einen guten, frommen Mann, sondern ein guter, frommer Mann macht gute, fromme Werke. Und: Böse Werke machen nimmermehr einen bösen Mann, sondern ein böser Mann macht böse Werke. Es ist so, dass stets die Person zuvor, vor allen guten Werken gut und fromm sein muss und die guten Werke von der frommen, guten Person folgen und ausgehen. … Zum Sechsundzwanzigsten: Das sei von den Werken allgemein gesagt und von denen, die ein Christenmensch gegen seinen eigenen Leib üben soll. Nun wollen wir von solchen Werken reden, die er anderen Menschen gegenüber tut. Denn der Mensch lebt nicht allein in seinem Leib, sondern auch unter anderen Menschen auf Erden. Darum kann er ihnen gegenüber nicht ohne Werke sein, er muss ja mit ihnen zu reden und zu schaffen haben, obwohl ihm von diesen Werken keines zur Frömmigkeit und Seligkeit not ist. … Zum Siebenundzwanzigsten: … Und ob er nun auch ganz frei ist, soll er sich wiederum willig zu einem Diener machen, seinem Nächsten zu helfen, mit ihm verfahren und handeln, wie Gott mit ihm durch Christus gehandelt hat. Und das alles soll er umsonst tun, nichts darin

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suchen als göttliches Wohlgefallen und so denken: Wohlan, mein Gott hat mir unwürdigem, verdammten Menschen ohne alle Verdienste, rein umsonst und aus purer Barmherzigkeit durch und in Christus vollen Reichtum aller Frömmigkeit und Seligkeit gegeben, dass ich hinfort nichts mehr bedarf als zu glauben, es sei so. Ei, so will ich diesem Vater, der mich mit seinen überschwänglichen Gütern so überschüttet hat, umgekehrt frei, fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefällt, und meinem Nächsten auch ein Christ werden, wie Christus es mir geworden ist, und nichts mehr tun, als was ich nur sehe, dass es ihm not, nützlich und selig sei, während ich doch durch meinen Glauben alle Dinge in Christus genug habe. Siehe, so fließt aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. … Zum Dreißigsten: Aus dem allen folgt der Beschluss: Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe, wie Christus Johannes 1,51 sagt: »Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf des Menschen Sohn.« Siehe, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Gott gebe uns, das recht zu verstehen und zu behalten! Amen.

»Über die Gefangenschaft der Kirche«

Neben der Adels- und der Freiheitsschrift verfasste Luther 1520 noch ein drittes grundlegendes Werk, anders als die beiden anderen allerdings bestimmt für Gelehrte und deshalb in lateinischer Sprache. In ihm beklagt er, dass Rom die Christenheit gefangen halte wie einst im 6. Jahrhundert vor Christus die Babylonier das Volk Israel, allerdings nicht äußerlich, körperlich, sondern innerlich, geistlich. Das Buch »Über die babylonische Gefangenschaft der Kirche« behandelt konkret die Lehre von den Sakramenten. Die mittelalterliche Kirche hatte insgesamt sieben rituelle Handlungen zu Sakramenten erklärt und damit zu einem Akt, der den Gläubigen göttliche Gnade vermittelte: Taufe, Firmung, Ehe, Letzte Ölung (heute: Krankensalbung), Weihe, Buße und Abendmahl (Eucharistie). Luther aber will nur noch als Sakrament gelten lassen, was eindeutig auf Jesus selbst zurückgeht, und nur solche Handlungen, zu denen einerseits ein klares biblisches Verheißungswort (bei der Taufe der Taufbefehl Jesu mit der Verheißung der Seligkeit) und andererseits eine klare, ebenfalls biblisch belegte Zeichenhandlung (bei der Taufe das dreimalige Untertauchen im Wasser oder Begießen mit Wasser) gehören. Wie beim Kirchenvater Augustinus besteht für Luther ein Sakrament aus Wort und Zeichen, und er begreift das Zeichen als das sichtbar gemachte Wort. Diese Bedingungen erfüllen nach Luther allein die Taufe und das Abendmahl, die er weiter zu den Sakramenten zählt. Anfangs erwägt er auch noch die Buße, verbunden mit der Beichte, weiter als Sakrament zu betrachten. Doch nicht nur bei der Zahl der Sakramente trifft Luther eine andere Entscheidung, sondern auch in der konkreten Praxis, durch die die Sakramente in »Gefangenschaft« geraten waren, will er Veränderungen. Beim Abendmahl fordert er, dass der Wein allen gereicht werde. Seit dem 12. Jahrhundert war es üblich geworden, den Gläubigen nur eine »Gestalt«, das Brot, zu geben, weshalb man auch verkürzend vom »Sakrament des Brotes« sprach. Luther fordert das Abendmahl »in beiderlei Gestalt«, so die Fachterminologie, also mit Brot und Wein. Des Weiteren kritisiert Luther die ebenfalls im Mittelalter festgelegte Lehre, bei der Feier des Abendmahls werde Brot durch die Worte des Priesters der Substanz nach in den Leib Christi verwandelt und der Wein in sein Blut, wenngleich sie äußerlich (akzidentiell) Brot und Wein blieben. Man sprach deshalb von einer Wesensverwandlung, einer Transsubstantiation. Luther glaubt zwar auch an die leibliche Gegenwart Christi beim Abendmahl, aber er will das nicht mit Kategorien der aristotelischen Philosophie erklären, die Substanz und Akzidenzien einer Sache unterschied und eine Wandlung der Substanz unter Beibehaltung der Akzidenzien für möglich hielt. Das Brot bleibt für Luther Brot und ist doch zugleich real der Leib Christi, der Wein bleibt Wein und ist doch zugleich real das Blut Christi. Und schließlich lehnt Luther auch die Lehre ab, das Abendmahl sei ein von Menschen vollbrachtes, Gott wohlgefälliges Werk, das durch seinen bloßen äußeren Vollzug (der lateinische Fachbegriff hierfür lautete: opus operatum) Gnade bewirke. Für Luther ist das Abendmahl eine Handlung Gottes, durch die Glaube

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geschenkt wird und sich der Glaube der Gnade Gottes bewusst wird. Es ist kein Werk eines Menschen mit dem Ziel, Gott gnädig zu stimmen. Die Messe – der Gottesdienst, in dessen Zentrum das Abendmahl stand – hatte sich aus Luthers Sicht weit von dem entfernt, was Christus gewollt hatte, als er das Abendmahl stiftete. In der Annahme, damit für sich, für Angehörige und sogar für Verstorbene etwas Gutes zu tun, kauften und bezahlten die Menschen eine Vielzahl von Messen, und das Abhalten von Gottesdiensten war für die Kirche und ihre Amtsträger zu einem großen Geschäft geworden. Martin Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae (1520): WA 6, S. 489–573; LDStA 3, S. 173–375; StA 2, S. 173–259; Cl 1, S. 426–512.

Vom Sakrament des Brotes Die erste Gefangenschaft: Kelch mit Wein nur für die Priester Ich will also sagen, wie ich beim Nachdenken über die Verwaltung dieses Sakraments weitergekommen bin. … Es gibt zwei Stellen, welche hiervon ganz klar handeln: die Evangelien beim Bericht über das letzte Mahl des Herrn und Paulus 1. Korinther Kapitel 11. Die wollen wir betrachten. Denn Matthäus, Markus und Lukas stimmen darin überein, dass Christus allen Jüngern das ganze Sakrament gegeben hat. Und dass Paulus den Genuss des Abendmahls in beiderlei Gestalt überliefert hat, ist sicher. Es ist also keiner jemals so unverschämt gewesen, dass er etwas anderes gesagt hätte. Nimm noch hinzu, was Matthäus berichtet: Nicht vom Brot habe Christus gesagt: »Esset alle davon«, sondern vom Kelch: »Trinket alle daraus« (Matthäus 26,27). Und ebenso sagt Markus nicht: »Sie aßen alle davon«, sondern: »Sie tranken alle daraus« (Markus 14,23). Sie setzen also beide den Hinweis auf die Allgemeinheit zum Kelch und nicht zum Brot, so als ob der Heilige Geist den künftigen Meinungsunterschied vorhergesehen hätte, der den Genuss des Kelches einigen verbietet, von dem doch Christus wollte, dass er allen gemeinsam sein sollte. Mit was für einer Leidenschaft, meinst du, würden sie gegen uns wüten, wenn sie das Wörtlein »alle« beim Brot und nicht beim Kelch gefunden hätten! Gar keine Ausflucht würden sie uns gönnen, sie würden schreien, uns zu Ketzern machen und als Verursacher einer Kirchenspaltung verdammen. Aber weil es unsere Auffassung stützt und nicht die ihre, lassen sie sich durch keinen logischen Schluss bewegen. Sie sind Menschen, die mit einem ganz freien Willen auch in den Dingen, die Gott angehen, ändern und wieder ändern und alles in Unordnung bringen.

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Ich bekenne, dass ich durch diesen Grund, der mir unüberwindlich ist, überwunden bin und weder gelesen noch gehört oder gefunden habe, was ich dagegen sagen könnte. Denn hier steht das Wort und Beispiel Christi absolut fest. Und er sagt es nicht, als ob er es nur zuließe, sondern gebietend: »Trinket alle daraus.« Denn wenn alle trinken sollen, dann kann das nicht allein als zu den Priestern gesagt verstanden werden. So ist es ganz gewiss gottlos, die Laien, die es begehren, davon auszuschließen, und wenn es schon ein Engel vom Himmel täte (Galater 1,8). Denn wenn sie sagen, es sei dem Willen der Kirche anheimgestellt, in welcher Gestalt sie das Abendmahl austeilen wolle, so wird das ohne Grund gesagt und ohne Schriftbeleg vorgebracht und wird ebenso leicht widerlegt, wie es behauptet wurde. Wenn man aber den Laien eine Gestalt verweigern kann, dann kann man ihnen auch einen Teil der Taufe und der Buße nach dem gleichen Willen der Kirche entziehen, weil überall der gleiche Grundsatz und die gleiche Macht gilt. Darum: Wie die ganze Taufe und die ganze Sündenvergebung erteilt wird, so soll auch das ganze Sakrament des Brotes allen Laien gegeben werden, wenn sie es begehren. … Ich beschwöre dich aber: Was besteht für ein Zwang, was für religiöse Bedenken können wir haben und wozu dient es, den Laien den Genuss des Abendmahls in beiderlei Gestalt, das heißt das sichtbare Zeichen, zu verwehren? Dabei gestehen ihnen doch alle das Sakrament als solches zu – allerdings ohne das Zeichen. Gestehen sie ihnen nun das Sakrament als solches zu, was ja das Wesentliche ist, warum nicht auch das Zeichen, das von geringerer Bedeutung ist? Denn in jedem Sakrament ist das Zeichen, soweit es nur ein Zeichen ist, von unvergleichlich geringerer Bedeutung als das Sakrament selbst. Was hindert es also, so frage ich, das Unwesentlichere zu geben, wo man doch das Wesentliche gibt? Mir scheint, das hat der zürnende Gott geschehen lassen, um damit eine Ursache für die Trennung in der Kirche zu geben. Das soll ein Hinweis darauf sein, dass wir das wahre Sakrament längst verloren haben und um des äußeren Zeichens willen, um dessen willen, was ganz unwesentlich ist, gegen die einzig wichtige Sache ankämpfen, so wie einige für die äußerlichen Kirchenbräuche und gegen die Liebe streiten. Ja, dieses Ungeheuerliche scheint zu einer Zeit entstanden zu sein, als wir gegen die christliche Liebe anfingen auf den Reichtum dieser Welt ganz versessen zu sein, damit uns Gott durch dieses schreckliche Zeichen zu verstehen gäbe, dass wir die äußerlichen Zeichen höher achten als die Dinge selbst. Was für eine

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»Über die Gefangenschaft der Kirche«

Torheit wäre es, wenn du zwar zugäbest, dass dem Täufling der Glaube der Taufe gegeben wird, wolltest ihm aber verwehren, dass ihm auch das Zeichen dieses Glaubens, nämlich das Wasser, gegeben würde. … Das ist die erste Gefangenschaft dieses Sakraments. Sie erstreckt sich auf dessen Substanz und Ganzheit, die uns die römische Tyrannei genommen hat. Nicht, dass die gegen Christus sündigen, die das Abendmahl in einer Gestalt gebrauchen. Denn Christus hat nicht geboten, das Abendmahl in irgendeiner der beiden Gestalten zu gebrauchen, sondern hat das dem Willen jedes Einzelnen anheimgestellt und nur gesagt: »Sooft ihr es tut, so tut das zu meinem Gedächtnis.« Aber die sündigen, die verbieten, dass das Abendmahl in beiderlei Gestalt denen gegeben werde, die es freiwillig so nehmen wollen. Die Schuld liegt nicht bei den Laien, sondern bei den Priestern. Das Sakrament gehört nicht den Priestern, sondern allen. So sind auch die Priester nicht Herren darüber, sondern Diener, die beiderlei Gestalt denen geben sollen, die es und sooft sie es begehren. Wenn sie den Laien dieses Recht entziehen und mit Gewalt abschlagen, so sind sie Tyrannen, und die Laien sind ohne Schuld, sei es, dass sie das Abendmahl in einer oder in beiderlei Gestalt verlieren. Sie müssen einstweilen im Glauben und dem Verlangen nach dem ganzen Sakrament bewahrt bleiben. Ebenso sind sie als Diener schuldig, dem die Taufe und die Sündenvergebung zu geben, der sie begehrt, als einem, der ein Recht darauf hat. Wenn sie Taufe und Sündenvergebung aber nicht geben, so hat der nach Taufe und Sündenvergebung Verlangende diese durch den Glauben vollkommen erlangt. Und sie werden vor Christus als unnütze Knechte angeklagt werden. Das ist dann so, wie die heiligen Väter vor Zeiten in der Wüste in all den Jahren das Sakrament unter keinerlei Gestalt, sondern nur im Glauben empfangen haben. … Die zweite Gefangenschaft: Die Lehre von der Wandlung Die zweite Gefangenschaft dieses Sakramentes ist nicht ganz so schlimm, soweit es das Gewissen betrifft. Aber es ist überaus gefährlich, daran zu rühren, erst recht sie zu verdammen. … Darauf allein kommt es mir jetzt an, dass ich die Gewissenszweifel aus dem Wege räume. Niemand soll sich fürchten, der Ketzerei schuldig zu sein, wenn er glaubt, dass auf dem Altar wahres Brot und wahrer Wein sind. … Ich habe aber für meine Auffassung eine starke Begründung, vor allem diese: Den göttlichen Worten darf keine Gewalt angetan wer-

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den, weder durch einen Menschen noch durch einen Engel, sondern sie sollen – soweit wie nur möglich – in der allereinfachsten Bedeutung genommen werden. Und wo uns nicht ein eindeutiger Umstand zwingt, sollen sie in ihrer wörtlichen und eigentlichen Bedeutung aufgefasst werden, damit man den Gegnern keine Gelegenheit bietet, mit der ganzen Heiligen Schrift ihr Spiel zu treiben. So auch hier: Weil die Evangelisten klar schreiben, dass Christus das Brot genommen und gesegnet habe, und weil die Apostelgeschichte und der Apostel Paulus es auch nachher Brot nennen, so muss man das vom echten Brot verstehen und vom echten Wein und vom echten Kelch. Denn auch sie behaupten nicht, dass sich der Kelch verwandle. Eine Transsubstantiation also, die durch eine göttliche Macht geschähe, vorauszusetzen, ist nicht nötig. Man muss sie vielmehr für ein erdichtetes Menschengebilde ansehen, weil sie sich weder auf die Schrift noch auf einen vernünftigen Grund stützt, wie wir sehen werden. … Die Kirche hat mehr als zwölfhundert Jahre recht geglaubt, nie und nirgends haben die heiligen Väter die Transsubstantiation – was schon ein recht ungeheuerliches Wort ist und erträumt – erwähnt, bis die sogenannte Philosophie des Aristoteles in diesen letzten dreihundert Jahren in der Kirche überhandgenommen hat. … Siehe, Eisen und Feuer, zwei Substanzen, werden in einem glühenden Eisen so vermischt, dass jeder Teil Eisen und Feuer zugleich ist. Warum kann nicht der verklärte Leib Christi viel eher ebenso in allen Teilen der Substanz des Brotes sein? Was sollen wir hierzu sagen, wenn wir den Aristoteles und menschliche Lehren zu Richtern über so hohe und göttliche Dinge machen? Warum verwerfen wir nicht solchen Vorwitz und bleiben schlicht bei den Worten Christi und sind bereit, nicht zu wissen, was da geschehe, und sind zufrieden damit, dass kraft der Worte der Leib Christi da ist? Ist es denn nötig, dass wir die Art und Weise des göttlichen Handelns gänzlich begreifen? … Die dritte Gefangenschaft: Die Lehre, die Abendmahlsfeier sei ein menschliches Werk Die dritte Gefangenschaft dieses Sakramentes ist der überaus gottlose Missbrauch, durch den es gekommen ist, dass heute in der Kirche beinahe nichts verbreiteter ist und fester geglaubt wird, als dass die Messe ein gutes Werk und ein Opfer sei. Dieser Missbrauch hat andere unzählige Missbräuche nach sich gezogen, bis der Glaube an das

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Sakrament ganz erloschen ist und sie aus dem göttlichen Sakrament lauter Jahrmärkte, Krämerei und gewinnsüchtige Verträge gemacht haben. Daher werden die Teilhaberschaften, die Bruderschaften, die Fürbitten, die Verdienste, die Jahresfeiern, die Gedenktage und dergleichen Handlungen mehr in der Kirche verkauft, durch Verträge erhandelt und verglichen, und an diesen hängt die ganze Nahrung der Priester und Mönche. … Zuerst, um sicher und erfolgreich zu der wahren und freien Erkenntnis dieses Sakraments zu gelangen, müssen wir uns vor allen Dingen darum bemühen, alles das abzuschaffen, was zu der ersten und schlichten Stiftung dieses Sakraments aus menschlicher Andacht und Eifer hinzugetan worden ist. Als da sind die Messgewänder, Zierrate, Gesänge, Gebete, Orgeln, Lichter und die ganze Pracht der sichtbaren Dinge. Lasst uns unsere Augen und unser Gemüt allein auf die reine Stiftung Christi richten und auf nichts anderes sehen als auf das Wort Christi, durch das er das Sakrament eingesetzt, vollbracht und uns anbefohlen hat. Denn in diesem Wort und sonst in gar keinem anderen liegt die Kraft, Natur und das ganze Wesen der Messe. Alles andere ist menschlicher Eifer, zum Worte Christi hinzugekommen, ohne den die Messe sehr gut gehalten werden und bestehen kann. … Du siehst also, dass die Messe, wie wir sie nennen, eine von Gott gegebene Verheißung der Vergebung der Sünden ist. Es ist eine solche Verheißung, die durch den Tod des Sohnes Gottes bekräftigt wird. … Daraus ist an und für sich schon klar, was der rechte Brauch und was der Missbrauch, was eine würdige und was eine unwürdige Vorbereitung zur Messe ist. Denn ist sie, wie gesagt, eine Verheißung, so darf man nicht mit eigenen Werken, Kräften und Verdiensten hinzutreten, sondern allein mit dem Glauben. Denn wo das Wort des verheißenden Gottes ist, da ist der Glaube des Menschen nötig, der diese Verheißung ergreift. Es ist also klar, dass der Glaube der Anfang unserer Seligkeit ist. Der Glaube aber hängt am Wort des verheißenden Gottes, der ohne all unser Zutun uns umsonst und mit unverdienter Barmherzigkeit zuvorkommt und uns das Wort seiner Verheißung anbietet. … Daraus siehst du, dass für eine würdige Messe nichts anderes gefordert wird als der Glaube, der sich fest auf die Verheißung verlässt, der daran glaubt, dass Christus in diesen seinen Worten die Wahrheit redet, und nicht zweifelt, ihm seien diese unermesslichen Güter geschenkt. Auf diesen Glauben folgt bald von selbst die angenehmste Bewegung des Herzens, durch die der Geist des Menschen weit und

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kräftig gemacht wird – das ist die Liebe, durch den Heiligen Geist im Glauben an Christus geschenkt –, dass er zu Christus, einem so milden und gütigen Erblasser, hingerissen und gänzlich ein anderer und neuer Mensch wird. Denn wer würde nicht innig weinen, ja vor Freude an Christus fast sterben, wenn er ganz ohne Zweifel glauben kann, dass diese unschätzbare Verheißung Christi ihm zusteht? Wie sollte man einen solchen Wohltäter nicht lieb haben, der dem Unwürdigen, der weit anderes verdient hätte, solchen Reichtum und diese ewige Erbschaft anbietet, verheißt und schenkt, ehe man darum bittet? Darum ist das unser ganzes großes Elend, dass wir viele Messen in der Welt haben und niemand oder nur wenige diese Verheißungen und diesen angebotenen Reichtum erkennen, betrachten und annehmen. … Hieraus sehen wir, aus was für einem mächtigen Zorn Gottes es kam, dass gottlose Lehrer uns die Worte dieses Testaments verborgen und dadurch – soweit es an ihnen lag – den Glauben selbst ausgelöscht haben. Nun ist leicht zu sehen, was auf das Erlöschen des Glaubens notwendig folgen musste, nämlich der ganz und gar gottlose Aberglaube an die Werke. Denn wo der Glaube untergeht und das Wort vom Glauben verstummt, da entstehen alsbald an dessen Stelle menschliche Werke und Satzungen von Werken. Durch diese sind wir wie durch eine babylonische Gefangenschaft aus unserem Vaterland vertrieben worden, nachdem man uns all unseren wertvollen Besitz genommen hat. So ist es mit der Messe gegangen: Durch die Lehre gottloser Menschen ist sie in ein »gutes Werk«, das sie selbst ein »opus operatum« nennen, verwandelt worden, durch welches sie sich bei Gott alles zu vermögen anheischig machen. Von hier aus ist es weitergegangen bis zu diesem äußersten Wahnsinn: Weil sie erlogen haben, die Messe wirke kraft ihres äußeren Vollzuges – als »opus operatum« –, haben sie noch hinzugesetzt, sie wäre den anderen auf jeden Fall nützlich, selbst wenn sie dem schädlich sei, der sie ohne Glauben darbringe. Und auf diesen Sand haben sie ihre Zuwendungen, ihre Teilhaber- und Bruderschaften, Jahresgedächtnisse und dergleichen unendliche Gewinn und Verdienst bringende Dinge gegründet.

Ehe und Familie

In seiner Schrift über die babylonische Gefangenschaft hatte sich Luther mit der Sakramentenlehre befasst und dargelegt, dass die Ehe nicht zu den Sakramenten zu rechnen ist. Die mittelalterliche Kirche lehrte wie die römisch-katholische noch heute, dass im Eheschluss ein Sakrament zu sehen ist, das sich die Eheleute gegenseitig spenden und das unauflöslich ist. Luther dagegen konnte die Ehe als ein »weltlich Ding« bezeichnen und erlaubte unter bestimmten Umständen Scheidung und Wiederverheiratung. In mehreren Schriften setzte er sich mit der Ehe auseinander. Dabei legt er auch dar, dass Sexualität zum Menschen gehört, wie ihn Gott geschaffen hat, und der Verzicht auf sexuelle Betätigung kein anzustrebendes Ideal sei, wie es die Kirche seiner Zeit lehrte. Deswegen lehnt er auch den Zölibat der Priester, deren Verpflichtung zur Ehelosigkeit, die für römisch-katholische Geistliche noch heute gilt, grundsätzlich als der Natur des Menschen widersprechend ab und weist deutlich auf die schädlichen Folgen eines Zwangszölibats hin. Luther wehrt der in seiner Zeit verbreiteten Geringschätzung der Frau, der Ehe und der Arbeit in Haus, Hof und Familie. Martin Luther, Vom ehelichen Leben (1522): WA 10/2, S. 267–304.

Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen und zur Partnerschaft bestimmt Aufs Erste wollen wir sehen, welche Personen miteinander die Ehe schließen können. Und damit wir dazu einen passenden Eingang haben, nehmen wir uns den Spruch 1. Mose 1,27 vor: »Gott schuf den Menschen als Mann und Frau.« Aufgrund dieses Bibelwortes sind wir sicher, dass Gott die Menschen in die zwei Teile geteilt hat: Dass Mann und Frau oder ein Er und ein Sie sein soll. Und das hat ihm so gefallen, dass er es selbst ein gutes Schöpfungswerk nennt (1. Mose 1,31). Darum: Wie Gott einem jeden von uns seinen eigenen Körper geschaffen hat, so muss er ihn annehmen, und es steht nicht in unserer Gewalt, dass ich mich zu einem Weibsbild oder du dich zu einem Mannsbild machst, sondern wie er mich und dich gemacht hat, so sind wir: Ich ein Mann, du eine Frau. Und ein solches gutes Schöpfungswerk will er geehrt und als sein göttliches Werk geachtet haben. Der Mann darf die Frau nicht verachten noch verspotten und umgekehrt auch die Frau den Mann nicht, sondern ein jeder soll des

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anderen Bild und Körper als ein göttliches gutes Werk ehren, das Gott selbst wohl gefällt. Zum Zweiten. Nachdem er Mann und Frau gemacht hatte, segnete er sie und sprach (1. Mose 1,28) zu ihnen: »Seid fruchtbar und mehret euch.« Wegen dieses Worts sind wir gewiss, dass Mann und Frau zusammen sollen und müssen, dass sie sich mehren. Und dies ist genauso ernst zu nehmen wie das Erste und noch weniger zu verachten noch zu verlachen als das Erste, weil Gott hierzu seinen Segen gibt und etwas über die Schöpfung hinaus tut. Deshalb: So wenig wie es in meiner Macht steht, dass ich kein Mann sei, ebenso wenig steht es auch bei mir, dass ich ohne Frau sei. Und umgekehrt: So wenig wie es in deiner Macht steht, dass du keine Frau seist, ebenso wenig steht es auch in deiner Macht, dass du ohne Mann seist. Denn es ist nicht ein freies Ermessen oder ein freier Ratschluss, sondern eine notwendige, natürliche Sache, dass jeder Mann eine Frau haben muss und jede Frau einen Mann. Denn dieses Wort, wo Gott spricht: »Seid fruchtbar und mehret euch«, ist nicht ein Gebot, sondern mehr als ein Gebot, nämlich ein göttliches Werk, das zu verhindern oder zu unterlassen nicht an uns liegt, sondern es ist ebenso notwendig, wie dass ich ein Mann bin, und notwendiger als Essen und Trinken, Reinigung des Körpers, Schlafen und Wachen. Es ist eine dem Menschen eingepflanzte Natur und Art ebensowohl wie die Gliedmaßen, die dazu gehören. Darum: Gleichwie Gott niemandem gebietet, dass er Mann oder Frau sei, sondern es schafft, dass sie so sein müssen, ebenso gebietet er auch nicht, sich zu mehren, sondern schafft es, dass sie sich mehren müssen. Und wo man dem wehren will, da kann es dennoch nicht aufgehalten werden und geht doch durch Hurerei, Ehebruch und stumme Sünde5 seinen Weg, denn es ist Natur und kein freies Ermessen. Zum Dritten. Aus dieser Schöpfungsordnung hat Gott selbst dreierlei Menschen ausgenommen. Matthäus 19,12 sagt Christus: »Etliche enthalten sich der Ehe, weil sie von Geburt an zur Ehe unfähig sind. Etliche enthalten sich, weil sie von Menschen zur Ehe untauglich gemacht sind. Und etliche enthalten sich, weil sie um des Himmelreichs willen auf die Ehe verzichten.« Über diese drei Gruppen hinaus vermesse sich kein Mensch, ohne ehelichen Partner zu sein. Und wer nicht zu diesen drei Gruppen gehört, der ziele nur auf das eheliche Leben. Denn etwas anderes würde nichts. Du würdest nicht rechtschaf5 Selbstbefriedigung.

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fen bleiben, es wäre unmöglich. Das Wort Gottes, das dich geschaffen und gesagt hat: »Sei fruchtbar und mehre dich«, das bleibt und regiert in dir, und du kannst dich ihm mitnichten entziehen. Sonst wirst du grauenvolle Sünde ohne Ende tun müssen. … Ehescheidung und Wiederverheiratung sind erlaubt! Aufs Zweite wollen wir sehen, welche Personen man voneinander scheiden könne. Drei Gründe weiß ich, die Mann und Frau voneinander scheiden. Der erste, von dem jetzt und oben geredet wird: Wenn Mann oder Frau wegen der Gliedmaßen oder von Natur aus untüchtig zur Ehe ist. … Der zweite ist der Ehebruch. … Der dritte Grund ist, wenn sich eins dem andern selbst beraubt und entzieht, dass es die eheliche Pflicht nicht leisten noch bei ihm sein will. … Über diese drei Gründe hinaus gibt es noch einen, dass sich Mann und Frau voneinander scheiden, aber in diesem Fall so, dass beide hinfort ohne Ehe bleiben oder sich wieder versöhnen müssen. Der ist, wenn Mann und Frau sich nicht wegen der ehelichen Pflicht, sondern um anderer Sachen willen nicht vertragen. … Wie aber, wenn jemand einen kranken Partner hat, der ihm zur ehelichen Pflicht unbrauchbar geworden ist, darf der nicht einen anderen nehmen? Beileibe nicht, sondern er diene Gott in dem Kranken und pflege ihn. Denke, dass dir Gott an ihm etwas in dein Haus geschickt hat, womit du den Himmel erwerben sollst. Selig und abermals selig bist du, wenn du solche Gabe und Gnade erkennst und deinem Partner so um Gottes willen dienst. Sagst du aber: Ja, ich kann mich aber nicht enthalten, so lügst du. Wirst du mit Ernst deinem kranken Partner dienen und anerkennen, dass dir Gott diesen zugesandt hat, und ihm dafür danken, so lass ihn sorgen. Gewiss wird er dir Gnade geben, dass du nicht mehr tragen musst, als du kannst. Er ist viel zu treu, als dass er dich deines Partners durch Krankheit berauben und dich nicht auch dafür aus des Fleisches Mutwillen herausnehmen sollte, sofern du deinem Kranken treulich dienst. Haushalt führen und Kinder erziehen sind göttliche Werke Aber davon wollen wir am meisten reden, dass der eheliche Stand so einen jämmerlichen Ruf bei jedermann hat. Es sind viel heidnische Bücher, die nichts als Weiberlaster und die Unlust des ehelichen

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Standes beschreiben, sodass etliche gemeint haben, wenn die Weisheit selbst eine Frau wäre, sollte man dennoch nicht freien. Es wollte einmal ein römischer Ratsherr, Metellus, die jungen Gesellen dazu anreizen, Frauen zu nehmen – denn die Stadt bedurfte vieler Menschen um des täglichen Krieges willen –, da sagte er unter anderem: Liebe Gesellen, wenn wir ohne Frauen leben könnten, so wären wir ja einer großen Unlust enthoben. Aber weil es sich ohne sie nicht leben lässt, so nehmt Frauen usw. Solche Rede wurde von etlichen getadelt, weil sie nicht der Redekunst entsprach und weil die Gesellen mehr abgeschreckt worden seien. Aber die anderen sagten, weil Metellus ein tapferer Mann sei, habe er recht geredet, denn ein redlicher Mann solle die Wahrheit ohne Scheu und Heuchelei sagen. So haben sie beschlossen, dass eine Frau ein nötiges Übel und kein Haus ohne solches Übel sei. Das sind nun Worte blinder Heiden, die nicht wissen, dass Mann und Frau Gottes Geschöpfe sind, und ihm sein Werk verlästern, gerade als kämen Mann und Frau zufällig daher. Ich meine auch, wenn die Frauen Bücher schreiben würden, so würden sie von den Männern auch dergleichen schreiben. Was sie aber nicht geschrieben haben, das richten sie doch mit Klagen und Schwätzen aus, wenn sie beieinander sind. Man findet auch noch täglich Eltern, die ihre Bedürftigkeit vergessen haben – wie die satten Mäuse das Mehl – und ihre Kinder vom ehelichen Stand zur Pfafferei und Nonnerei anhalten und anreizen, indem sie von der Mühe und den bösen Tagen im ehelichen Leben sprechen. So führen sie ihre eigenen Kinder dem Teufel zu, wie wir täglich sehen, und verschaffen ihnen gute Tage für den Leib, aber die Hölle für die Seele. … Damit wir nun nicht so blind einherfahren, sondern christlich wandeln, halte erstens fest, dass Mann und Frau Gottes Werk sind, und halte dein Herz und deinen Mund geschlossen und tadle sein Werk nicht und nenne das nicht böse, was er selbst gut nennt. Er weiß besser, was gut und dir nützlich ist, als du selbst, wie er 1. Mose 2,18 sagt: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.« Da siehst du, dass er die Frau gut und eine Gehilfin nennt. Stellst du es aber anders fest, so ist es bestimmt deine Schuld, wenn du Gottes Wort und Werk nicht verstehst noch glaubst. Siehe, mit diesem Spruch Gottes stopft man allen das Maul, die über die Ehe klagen und schelten. … Die Welt sagt von der Ehe: Eine kurze Freude und eine lange Unlust. Aber lass sie sagen, was sie will: Was Gott schafft und haben will, das

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muss ihr ein Spott sein. Was sie auch für Lust und Freude außerhalb der Ehe hat, meine ich, werde sie am besten im Gewissen gewahr. Es ist eine völlig andere Sache, ehelich zu sein oder das Wesen des ehelichen Lebens zu erkennen. Wer ehelich lebt und das Wesen des ehelichen Lebens nicht erkennt, der kann nimmermehr ohne Unlust, Mühe und Jammer darin leben. Er muss klagen und lästern wie die Heiden und unvernünftigen, blinden Menschen. Wer es aber erkennt, der hat ohne Unterlass Lust, Liebe und Freude damit, wie Salomo Sprüche 18,22 sagt, dass »wer eine Ehefrau gefunden hat, der hat etwas Gutes gefunden« usw. Die sind es aber, die es erkennen, die fest glauben, dass Gott die Ehe selbst eingesetzt, Mann und Frau zusammengegeben, Kinder zu zeugen und zu betreuen verordnet hat. Denn sie haben 1. Mose 1,28 Gottes Wort darauf, sodass sie sicher sind, dass er nicht lügt. Deshalb sind sie auch sicher, dass ihm der Ehestand an sich mit allem seinem Wesen, seinen Werken und Leiden und was dazu gehört gefällt. Nun sage mir: Wie kann ein Herz ein größeres Gut, größeren Frieden und größere Lust haben als in Gott, wenn es sicher ist, dass sein Stand, Wesen und Werk Gott gefällt? Siehe, das bedeutet: »eine Frau finden«. Viele haben Frauen, aber wenige »finden Frauen«. Warum? Sie sind blind, können nicht merken, dass es Gottes Werk ist und Gott wohlgefalle, was sie mit einer Frau leben und tun. Wenn sie das fänden, so würde ihnen keine Frau so hässlich, so böse, so unartig, so arm, so krank sein, dass sie nicht die Lust ihres Herzens an ihr fänden deshalb, weil sie immerdar Gott sein Werk und Geschöpf und Willen vorhalten könnten. Und weil sie sehen, dass es ihres lieben Gottes Wohlgefallen ist, könnten sie Friede im Leid und Lust mitten in der Unlust, Freude mitten in der Trübsal wie die Märtyrer im Leiden haben. … Nun sieh zu, wenn die kluge Hure, die natürliche Vernunft – welcher die Heiden gefolgt sind, wo sie am klügsten sein wollten – das eheliche Leben ansieht, rümpft sie die Nase und spricht: »Ach, sollte ich das Kind wiegen, die Windeln waschen, Betten machen, Gestank riechen, die Nächte durchwachen, auf sein Schreien achten, seine Ausschläge und Blattern heilen, danach die Frau pflegen, sie ernähren, mich abmühen, hier sorgen, da sorgen, hier tun, da tun, das leiden und dies leiden und was der Ehestand noch mehr an Unlust und Mühe mit sich bringt? Ei, sollte ich so gefangen sein? O du elender, armer Mann! Hast du eine Frau genommen, pfui, pfui des Jammers und der Unlust! Es ist besser, frei bleiben und ohne Sorge ein ruhiges Leben zu führen. Ich will ein Pfaffe oder eine Nonne werden und meine Kinder auch dazu anhalten.«

Ehe und Familie77

Was sagt aber der christliche Glaube hierzu? Er tut seine Augen auf und sieht alle diese geringen, lustlosen, verachteten Werke im Geist an und wird gewahr, dass sie alle mit göttlichem Wohlgefallen wie mit dem köstlichsten Gold und Edelsteinen geschmückt sind und spricht: »Ach Gott, weil ich gewiss bin, dass du mich als einen Mann geschaffen und von meinem Leib das Kind gezeugt hast, deshalb weiß ich auch sicher, dass es dir aufs allerbeste gefällt, und bekenne dir, dass ich nicht würdig bin, dass ich das Kindlein wiegen noch seine Windeln waschen noch es oder seine Mutter pflegen sollte. Wie bin ich ohne Verdienst in die Würdigkeit gekommen, dass ich deiner Kreatur und deinem liebsten Willen zu dienen gewiss geworden bin? Ach wie gerne will ich solches tun, und wenn es noch geringer und verachteter wäre. Nun soll mich weder Frost noch Hitze, weder Mühe noch Arbeit verdrießen, weil ich sicher bin, dass dir es so gut gefällt!« So soll auch die Frau bei ihrer Arbeit denken, wenn sie das Kind säugt, wiegt, badet und andere Dinge mit ihm tut und wenn sie sonst arbeitet und ihrem Mann hilft und gehorsam ist. Es sind alles lauter goldene, edle Werke. So soll man auch eine Frau in Kindesnöten trösten und stärken, nicht mit Legenden und anderen närrischen Weiberwerken umgeben, sondern so zu ihr sprechen: »Denke daran, liebe Greta, dass du eine Frau bist und Gott dieses Werk an dir gefällt. Getröste dich fröhlich seines Willens und lass ihm sein Recht an dir. Gib das Kind her und tu das Deine mit aller Macht dazu. Stirbst du dabei, so fahre hin! Wohl dir, denn du stirbst bestimmt bei einem edlen Werk und im Gehorsam zu Gott. Ja, wenn du nicht eine Frau wärst, so solltest du dir jetzt allein um dieses Werks willen wünschen, dass du eine Frau wärest, damit du so köstlich in Gottes Werk und Willen Not leiden und sterben könntest. Denn hier ist Gottes Wort, das dich so geschaffen, dir solche Not eingepflanzt hat. Sage mir, ist das nicht auch, wie Salomo Sprüche 18,22 sagt, Wohlgefallen von Gott her erhalten, auch mitten in solcher Not?« Nun sage mir: Wenn ein Mann herginge und wüsche die Windeln oder täte sonst am Kind ein verachtetes Werk und jedermann spottete seiner und hielte ihn für einen Maulaffen und Frauenmann, obwohl er es doch in der oben geschilderten Haltung und christlichem Glauben täte – Lieber, sage, wer spottet hier des anderen am besten? Gott lacht vor Freude mit allen Engeln und Kreaturen, aber nicht, weil der Mann die Windeln wäscht, sondern weil er es im Glauben tut. Jener Spötter aber, die nur das Werk sehen und den Glauben nicht, spottet Gott

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Ehe und Familie

mit allen Kreaturen als der größten Narren auf Erden. Ja, sie spotten nur ihrer selbst und sind des Teufels Maulaffen mit ihrer Klugheit. Wer ehelos leben will, kann ehelos leben Ich will es hierbei lassen und anderen anbefehlen, weiter zu suchen, was der eheliche Stand noch mehr Gutes und Nutzen habe. Denn ich will nur den aufgezählt haben, den ein christlicher Mensch haben kann, um seine Ehe christlich zu führen, sodass er, wie Salomo Sprüche 18,22 sagt, vor Gott seine Frau finde und von Gott her Wohlgefallen erhalte. Denn ich will damit den ehelosen Stand nicht verwerfen noch davon weg zum ehelichen Leben reizen. Ein jeder fahre, wie er kann und fühlt, dass ihm von Gott gegeben ist. Allein den Lästermäulern habe ich wehren wollen, die den ehelichen Stand so weit unter den ehelosen stellen, dass sie sagen können, wenngleich die Kinder heilig werden sollten, wäre dennoch Keuschheit besser. Man soll keinen Stand vor Gott besser sein lassen als den ehelichen. Der Keuschheitsstand ist auf Erden wohl besser, weil er weniger Sorge und Mühe mit sich bringt. An sich ist er aber nicht besser, sondern nur, weil er besser predigen und Gottes Wort wahrnehmen kann, wie Paulus 1. Korinther 7,35 sagt. Gottes Wort und das Predigen machen den Stand der Keuschheit, so wie ihn Christus und Paulus geführt haben, besser als den Ehestand. Von sich aus ist er aber viel geringer. … Deshalb schließe ich: Wer sich nicht für die Keuschheit geeignet findet, der tue beizeiten etwas dafür, dass er etwas schaffe und zu arbeiten habe, und wage es danach in Gottes Namen und greife zur Ehe. Ein Jüngling spätestens, wenn er zwanzig, ein Mädchen, wenn es gegen fünfzehn oder achtzehn Jahre alt ist. So sind sie noch gesund und tüchtig. Und sie sollen Gott sorgen lassen, wie sie mit ihren Kindern ernährt werden. Gott macht Kinder. Er wird sie auch wohl ernähren. Hebt er dich und sie nicht hoch auf Erden, so lass dir daran genügen, dass er dir eine christliche Ehe gegeben und dich hat erkennen lassen, dass er dich dort hoch erhebe, und sei ihm dankbar für diese seine Güter und Gaben. …

Schule und Bildung

In seinen Eheschriften setzte sich Luther für die stärkere Anerkennung des Lebens in der Familie und der Arbeit im weltlichen Beruf gegenüber dem Klosterleben und geistlichen Tätigkeiten ein. Zum Erfolg im Beruf und zur Sicherung der Existenzgrundlagen von Familien gehörte für ihn Bildung. Alle Knaben und Mädchen sollten lesen, schreiben und rechnen lernen, zu ihrem Nutzen und zum Vorteil der Gesellschaft. Doch auch der Religion sollte die Bildung förderlich sein. Das allgemeine Priestertum war nur praktikabel, wenn alle Menschen über gewisse Bildungsvoraussetzungen verfügten. Im Jahre 1524 wandte sich Luther »An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes« und forderte von ihnen, »dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen«. Die Reformation war auch eine Bildungsbewegung. Sie förderte die Breitenbildung und verbesserte die Elitenbildung.

Martin Luther, An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524): WA 15, S. 9–53; Cl 2, S. 442–464.

Als ich jung war, gebrauchte man in der Schule ein Sprichwort: »Es ist nicht weniger schlimm, einen Schüler zu vernachlässigen als eine Jungfrau zu verderben.« Das sagte man, damit man die Schulmeister erschreckte, denn man wusste damals keine schwerere Sünde als Jungfrauen zu schänden. Aber, lieber Herr Gott, wie gar viel geringer ist es, Jungfrauen oder Frauen zu schänden – was doch als eine leibliche, offenbare Sünde gebüßt werden kann – im Vergleich zu dieser, wo die edlen Seelen vernachlässigt und geschändet werden und wo solche Sünde überdies nicht als solche angesehen noch erkannt und nie gebüßt wird! O wehe der Welt immer und ewiglich! Da werden täglich Kinder geboren und wachsen bei uns auf, und es ist leider niemand, der sich des armen jungen Volks annehme und es leite. Da lässt man es gehen, wie es geht. Die Klöster und Stifte sollten es tun, trotzdem sind sie eben die, von denen Christus (Matthäus 18,7.6) sagt: »Weh der Welt der Verführungen wegen! Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.« Die Klöster und Stifte sind nur Kinderfresser und -verderber.

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Schule und Bildung

Ja, wendest du ein, das alles ist den Eltern gesagt. Was geht das die Ratsherren und die Obrigkeit an? Das stimmt. Aber was, wenn die Eltern solches nicht tun? Wer soll es dann tun? Soll es deshalb unterbleiben und die Kinder vernachlässigt werden? Wie wollen sich da die Obrigkeit und der Rat entschuldigen, dass sie dafür nicht zuständig sein sollten? Dass es von den Eltern nicht geschieht, hat mancherlei Ursachen. Aufs Erste: Es sind etliche nicht so fromm und redlich, dass sie es täten, auch wenn sie es könnten. Sondern wie die Strauße verhärten sie sich auch gegen ihre Jungen und lassen es dabei bleiben, dass sie die Eier von sich geworfen und Kinder gezeugt haben. Nicht mehr tun sie dazu. Nun, diese Kinder sollen dennoch unter uns und bei uns in der Stadtgemeinschaft leben. Wie will denn nun die Vernunft und insbesondere die christliche Liebe das dulden, dass sie ungebildet aufwachsen und den anderen Kindern Gift und Krankheit werden, wodurch zuletzt eine ganze Stadt verdirbt, wie es denn zu Sodom und Gomorra und Gibea und etlichen Städten mehr ergangen ist (vgl. 1. Mose 19; Richter 19; 20)? Aufs Zweite: Der größte Teil der Eltern ist leider dazu ungeschickt und weiß nicht, wie man Kinder erziehen und lehren soll. Denn sie haben selbst nichts gelernt, außer den Bauch zu versorgen, und es bedarf besonderer Leute, um Kinder gut und recht zu lehren und zu erziehen. Aufs Dritte: Obgleich die Eltern geschickt wären und es gerne selbst tun wollten, haben sie doch wegen anderer Geschäfte und Verpflichtungen weder Zeit noch Raum dazu, sodass die Not zwingt, gemeinsame Erzieher für die Kinder anzustellen, es wollte denn ein jeder für sich selbst einen eigenen anstellen. Aber das würde dem einfachen Mann zu schwer, und es würde abermals mancher feiner Knabe aus Armut vernachlässigt. Dazu sterben viele Eltern und lassen Waisen hinter sich. Und wie die durch Vormünder versorgt werden, sollte uns, falls uns die Erfahrung zu wenig wäre, das wohl zeigen, dass sich Gott selbst Vater der Waisen nennt (Psalm 68,6) als derer, die von jedermann sonst verlassen sind. Auch gibt es einige, die keine Kinder haben. Die kümmern sich darum auch nicht. Darum ist es Aufgabe des Rats und der Obrigkeit, allergrößte Sorge und Fleiß aufs junge Volk zu verwenden. Denn weil ihnen der ganzen Stadt Gut, Ehre, Leib und Leben zu treuer Hand befohlen ist, wirkten sie nicht redlich vor Gott und der Welt, wenn sie nicht der Stadt

Schule und Bildung81

Gedeihen und Besserung mit allem Vermögen Tag und Nacht suchten. Nun liegt das Gedeihen einer Stadt nicht allein darin, dass man große Schätze sammelt und feste Mauern, schöne Häuser, viele Geschütze und Brustpanzer anschafft. Ja, wo viel davon da ist und verrückte Narren herrschen, ist es ein viel schlimmerer und größerer Schaden für diese Stadt. Vielmehr ist das einer Stadt bestes und allerreichstes Gedeihen, Heil und Kraft, dass sie viele feine, gelehrte, vernünftige, ehrbare, wohlerzogene Bürger hat. Die könnten danach gut Schätze und alles Gut sammeln, halten und recht gebrauchen. … Weil also eine Stadt solche Menschen haben soll und muss und allenthalben größtes Gebrechen, Mangel und Klage ist, dass es an solchen Menschen fehle, so darf man nicht warten, bis sie von selbst wachsen. Man wird sie auch weder aus Steinen hauen noch aus Holz schnitzen. Ebenso wird Gott nicht Wunder tun, solange man der Sache durch andere von seinen dargebotenen Gütern abhelfen kann. Darum müssen wir selbst etwas dafür tun und Mühe und Kosten darauf verwenden, sie selbst zu erziehen und zu machen. Denn wer hat Schuld daran, dass es jetzt in allen Städten an gebildeten Menschen so dünn gesät aussieht, wenn nicht die Obrigkeit, die das junge Volk hat aufwachsen lassen, wie das Holz im Walde wächst, und nicht darauf geachtet hat, wie man es lehre und erziehe? Deshalb ist es auch so unordentlich gewachsen, dass es zu keinem Bau taugt, sondern nur eine unnütze Hecke und nur zum Feueranmachen geeignet ist. Wir brauchen auch weiterhin weltliche Regierungen. Soll man denn zulassen, dass nur Rüpel und Flegel regieren, obwohl man es wohl bessern kann? Das wäre ja ein wildes, unvernünftiges Ansinnen. So lasse man eben immer mehr Säue und Wölfe zu Herren machen und über die setzen, die nicht daran denken wollen, wie sie von Menschen regiert werden. Ebenso ist es auch eine unmenschliche Bosheit, wenn man nicht weiter denkt als so: Wir wollen jetzt regieren; was geht es uns an, wie es denen gehen wird, die nach uns kommen? Nicht über Menschen, sondern über Säue und Hunde sollten solche Leute regieren, die im Regiment nicht mehr als ihren Nutzen oder Ehre suchen. Wenn man gleich den höchsten Fleiß aufwendet, dass man lauter feine, gelehrte, geschickte Leute erzöge zu regieren, es würde dennoch Mühe und Sorge genug machen, dass es recht zuginge. Wie sollte es denn zugehen, wenn man gar nichts dafür tun würde? …

Pfarrer und Gemeinden

1520 hatte Luther in seiner Adelsschrift die Lehre vom allgemeinen Priestertum entwickelt. 1523 legte er »aus der Schrift« erneut dar, was er damals schon angedeutet hatte, nämlich »dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen«. Luther entwickelt das Modell eines Gemeindeaufbaus von unten, das in seiner Zeit und in seiner Kirche so aber nie umgesetzt wurde. Drei Jahre später dachte er laut über eine »dritte Form des Gottesdienstes« neben dem lateinischen und dem deutschen Predigt- und Abendmahlsgottesdienst nach und skizzierte, seiner Zeit weit voraus, ein Modell, wie es später im Pietismus und in Freikirchen, heute in Basisgemeinden und Hauskreisen praktiziert werden sollte. Martin Luther, Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift (1523): WA 11, S. 401–416; Cl 2, S. 395–403; StA 3, S. 72–84; DDStA 2, S. 383–401.

Aufs Erste ist vonnöten, dass man wisse, wo und wer die christliche Gemeinde sei, damit nicht, wie es die falschen Christen allezeit machten, Menschen menschliche Handlungen unter dem Namen der christlichen Gemeinde vornehmen. Daran aber soll man die christliche Gemeinde gewisslich erkennen: wo das lautere Evangelium gepredigt wird. Denn gleichwie man an dem Heerpanier als einem sicheren Zeichen erkennt, was für ein Herr und Heer zu Felde liegt, so erkennt man auch gewiss an dem Evangelium, wo Christus und sein Heer liegt. Dafür haben wir die gewisse Verheißung Gottes Jesaja 55,11f.: »So soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.« Daher sind wir sicher, dass es unmöglich ist, dass dort nicht Christen sein sollten, wo das Evangelium gefördert wird, wie wenig ihrer auch immer und wie sündhaft und gebrechlich sie auch seien. Genauso ist es unmöglich, dass dort Christen und nicht lauter Heiden sind, wo das Evangelium nicht gefördert wird und Menschenlehren regieren, wie viel ihrer auch immer seien und wie heilig und fein sie auch immer daherkommen.

Pfarrer und Gemeinden83

Daraus folgt unwidersprechlich, dass die Bischöfe, Stifte, Klöster und was zu ihnen gehört noch längst keine Christen noch eine christliche Gemeinde gewesen sind, obwohl sie diesen Namen allein vor allen in Anspruch genommen haben. Denn wer das Evangelium erkennt, der sieht, hört und begreift, wie sie noch heutzutage auf ihren Menschenlehren bestehen und das Evangelium ganz von sich weggetrieben haben und auch noch vertreiben. Darum muss man als eine heidnische und weltliche Sache ansehen, was diese Menschen tun und vorgeben. Zweitens darf man sich in solchen Handlungen, nämlich Lehre zu beurteilen, Lehrer oder Seelsorger ein- und abzusetzen, in keiner Weise um Menschengesetz, Recht, altes Herkommen, Brauch, Gewohnheit usw. kümmern, gleichgültig ob es vom Papst oder Kaiser, vom Fürsten oder Bischof festgesetzt sei oder gesagt würde, die halbe oder ganze Welt habe es so gehalten, es habe ein Jahr oder tausend Jahre gewährt. Denn die Seele des Menschen ist eine ewige Sache, über allem, was zeitlich ist. Darum darf sie nur von einem ewigen Wort regiert und angefasst werden. Denn es ist gar schimpflich, mit von Menschen stammendem Recht und langer Gewohnheit die Gewissen vor Gott zu regieren. Darum muss man in dieser Angelegenheit nach der Heiligen Schrift und nach Gottes Wort handeln. Denn Gottes Wort und Menschenlehre, wenn sie die Seele regieren will, streiten unausweichlich gegeneinander. Das wollen wir in diesen aktuellen Auseinandersetzungen klar beweisen, nämlich so: Menschenworte und -lehren haben festgesetzt und angeordnet, man solle die Lehre zu beurteilen nur den Bischöfen und Gelehrten und den Konzilen überlassen. Was diese beschlössen, solle alle Welt für recht und für Artikel des Glaubens halten. Das beweist zur Genüge ihr tägliches Prahlen mit dem Geistlichen Recht des Papstes. Denn man hört beinahe nichts anderes von ihnen als solches Prahlen, dass ihnen die Macht und das Recht zustehe, zu urteilen, was christlich oder ketzerisch sei. Und der einfache Christenmann solle auf ihr Urteil warten und sich danach richten. Siehe, wie dieses Prahlen, mit dem sie alle Welt zu sich getrieben haben und das ihr höchster Hort und Schutz ist, unverschämt und närrisch gegen Gottes Gesetz und Wort stürmt! Denn Christus setzt genau das Gegenteil fest und nimmt den Bischöfen, Gelehrten und Konzilen beides, Recht und Macht die Lehre zu beurteilen, und gibt sie jedermann und allen Christen insgesamt, wenn er Johannes 10,1ff. sagt: »Meine Schafe kennen meine Stimme. Meine

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Pfarrer und Gemeinden

Schafe folgen den Fremden nicht, sondern fliehen vor ihnen, denn sie kennen nicht der Fremden Stimme. Wie viele von ihnen gekommen sind, die sind Diebe und Mörder. Aber die Schafe hörten sie nicht.« Hier siehst du ganz klar, wer das Recht hat, die Lehre zu beurteilen. Bischof, Papst, Gelehrte und jedermann hat die Macht zu lehren, aber die Schafe sollen urteilen, ob sie Christi Stimme lehren oder der Fremden Stimme. Mein Lieber, was können hiergegen die Seifenblasen sagen, die da anmaßend reden: »Konzile, Konzile! Ei, man muss die Gelehrten, die Bischöfe, die Menge hören, man muss den alten Brauch und die Gewohnheit ansehen!« Meinst du, dass ich Gottes Wort deinem alten Brauch, deiner Gewohnheit, deinen Bischöfen hintanstellen sollte? Nimmermehr! Darum lassen wir Bischöfe und Konzile beschließen und festsetzen, was sie wollen. Aber wo wir Gottes Wort für uns haben, soll uns die Entscheidung zustehen und nicht ihnen, was Recht oder Unrecht sei. Und sie sollen uns weichen und unserem Wort gehorchen. Hier siehst du, meine ich, ganz klar, inwieweit denen zu vertrauen ist, die nach Menschenwort mit den Seelen verfahren. Wer sieht hier nun nicht, dass alle Bischöfe, Stifte, Klöster, hohe Schulen mit allem ihrem Lehrkörper gegen dieses klare Wort Christi toben, wenn sie das Urteil über die Lehre den Schafen unverschämt nehmen und sich selbst zueignen durch eigene Festsetzungen und auf frevelhafte Weise? Darum muss man sie auch gewiss als Mörder und Diebe, Wölfe und abtrünnige Christen ansehen, die hier öffentlich dessen überführt werden, dass sie nicht nur Gottes Wort verleugnen, sondern sich auch dagegen stellen und handeln, wie es sich dem Antichrist und seinem Reich zu tun gebührt laut der Prophezeiung des Paulus, 2. Thessalonicher 2,3. … Also folgern wir nun, dass, wo eine christliche Gemeinde ist, die das Evangelium hat, sie nicht allein Recht und Vollmacht hat, sondern bei der Seelen Seligkeit, ihrer Pflicht nach, die sie Christus in der Taufe gelobt hat, schuldig ist, zu meiden, zu fliehen, abzusetzen, sich zu entziehen der Herrschaft, welche die jetzigen Bischöfe, Äbte, Klöster, Stifte und ihresgleichen ausüben, weil man offen sieht, dass sie gegen Gott und sein Wort lehren und regieren. Somit also ist für das Erste sicher und stark genug begründet und man soll sich darauf verlassen, dass es göttliches Recht ist und der Seelen Seligkeit not tut, solche Bischöfe, Äbte, Klöster und was zu ihrem Regiment gehört abzutun oder zu meiden.

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Zum Zweiten: Weil aber eine christliche Gemeinde nicht ohne Gottes Wort sein soll noch kann, folgt aus dem Vorigen deutlich genug, dass sie dennoch sehr wohl Lehrer und Prediger haben muss, die das Wort verkündigen. Und weil in dieser verdammten letzten Zeit die Bischöfe und das falsche geistliche Regiment solche Lehrer nicht sind noch sein wollen und sie dazu auch nichts beitragen wollen, und weil Gott nicht versucht werden darf mit der Bitte, dass er vom Himmel neue Prediger sende, müssen wir uns nach dem Gebot der Schrift verhalten und unter uns diejenigen selbst berufen und einsetzen, die man geeignet dazu findet und die Gott mit Verstand erleuchtet und mit Gaben dazu ausgestattet hat. Denn das kann niemand leugnen, dass jeder Christ Gottes Wort hat und von Gott zum Priester gelehrt und gesalbt ist, wie Christus Johannes 6,45 sagt: »Sie werden alle von Gott gelehrt sein«, und Psalm 45,8: »Gott hat dich gesalbt mit Freudenöl vor allen deinen Mitgenossen«. Diese Mitgenossen sind die Christen, Christi Brüder, die mit ihm zu Priestern geweiht sind, wie auch Petrus 1. Petrus 2,9 sagt: »Ihr seid das königliche Priestertum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.« … Da wendest du ein: Ja wie? Wenn er nicht dazu berufen ist, so darf er ja nicht predigen, wie du selbst oft gelehrt hast! Antwort: Hier sollst du den Christen an zwei Orte stellen. Aufs Erste: Wenn er an einem Ort ist, wo keine Christen sind, da bedarf er keiner anderen Berufung, als dass er ein Christ ist, innerlich von Gott berufen und gesalbt. Da ist er schuldig, den irrenden Heiden oder Nichtchristen zu predigen und sie das Evangelium aus der Pflicht brüderlicher Liebe zu lehren, auch wenn ihn kein Mensch dazu beruft. So handelte Stephanus Apostelgeschichte Kapitel 6 und 7, dem doch kein Amt zu predigen von den Aposteln übertragen worden war. Und er predigte doch und bewirkte große Zeichen im Volk. Ferner handelte ebenso auch Philippus, der Diakon, des Stephanus Gefährte, Apostelgeschichte 8,5, dem auch das Predigtamt nicht übertragen war. Ebenso handelte Apollos, Apostelgeschichte 18,24. Denn in einem solchen Fall sieht ein Christ aus brüderlicher Liebe die Not der armen gefährdeten Seelen und wartet nicht, ob ihm Befehle oder Urkunden von Fürsten oder Bischöfen gegeben werden. Denn Not bricht alle Gesetze und hat kein Gesetz. So ist die Liebe schuldig zu helfen, wo sonst niemand ist, der hilft oder helfen könnte.

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Aufs Zweite: Wenn er aber irgendwo ist, wo Christen am gleichen Ort sind, die mit ihm gleiche Vollmacht und Recht haben, da soll er sich selbst nicht hervortun, sondern sich berufen und vorziehen lassen, sodass er an der Stelle und auf Befehl der anderen predige und lehre. Ja, ein Christ hat sogar so viel Vollmacht, dass er auch mitten unter den Christen, unberufen durch Menschen, auftreten und lehren kann und soll, wenn er sieht, dass der Lehrer daselbst falsch lehrt, jedoch so, dass es sittsam und züchtig zugeht. Das hat Paulus klar 1. Korinther 14,30 beschrieben, wo er sagt: »Wird dem, der da sitzt, etwas offenbart, so soll der Erste schweigen.« Siehe da, was Paulus hier tut: Er heißt mitten unter den Christen den schweigen und abtreten, der da lehrt, und den auftreten, der da zuhört, auch ohne Berufung. Das alles deshalb, weil die Not kein Gebot kennt. Wenn denn nun Paulus hier, wenn es not ist, mitten unter den Christen einen jeden auch ohne Berufung auftreten heißt und ihn durch solche Gottesworte beruft und den anderen abtreten heißt und ihn in Kraft dieser Worte absetzt, wie viel mehr ist es dann recht, dass eine ganze Gemeinde einen zu solchem Amt beruft, wenn es not ist, wie es denn allezeit und besonders jetzt ist. Denn an derselben Stelle gibt Paulus auch einem jeden Christen Vollmacht, unter den Christen zu lehren, wenn es not ist, und sagt 1. Korinther 14,31.39f.: »Ihr könnt alle nacheinander weissagen, damit sie alle lernen und alle ermahnt werden«, ferner: »Ihr sollt euch befleißigen zu weissagen, und wehrt nicht, mit Zungen zu reden; doch lasst es alles ordentlich und ehrbar zugehen.« Dieses Wort nimm als sichere Begründung. Es gibt der christlichen Gemeinde Macht im Überfluss, dass sie predigen, predigen lassen und berufen kann. Besonders wo es notwendig ist, beruft Gott selbst einen jeden ganz ohne Berufen der Menschen, damit wir keinen Zweifel haben, dass die Gemeinde, die das Evangelium hat, unter sich selbst den erwählen und berufen könne und solle, der an ihrer Stelle das Wort lehre. Du wendest aber ein: »Paulus hat doch Timotheus und Titus befohlen, sie sollen Priester einsetzen. Ebenso lesen wir auch Apostelgeschichte 14,23, dass Paulus und Barnabas unter den Gemeinden Priester einsetzten. Darum kann nicht die Gemeinde jemanden berufen noch jemand sich selbst hervortun, unter den Christen zu predigen, sondern man muss der Bischöfe, Äbte oder anderer Prälaten Erlaubnis und Befehl haben, die an der Stelle der Apostel sitzen.« Antwort: Wenn unsere Bischöfe und Äbte usw. an der Apostel Stelle säßen, wie sie sich rühmen, wäre das wohl eine berechtigte Meinung, dass man

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sie tun ließe, was Titus, Timotheus, Paulus und Barnabas mit dem Einsetzen von Priestern usw. taten. Da sie jetzt aber an des Teufels Stelle sitzen und Wölfe sind, die das Evangelium nicht lehren noch dulden wollen, so geht sie die Sorge um das Predigtamt und die Seelsorge unter den Christen ebensoviel an wie den Türken und die Juden. Esel sollten sie treiben und Hunde führen. Überdies: Wenn sie nun tatsächlich rechtschaffene Bischöfe wären, die das Evangelium haben und rechtschaffene Prediger einsetzen wollen, könnten und sollten sie dennoch das nicht tun ohne der Gemeinde Willen, Erwählen und Berufen, ausgenommen, wo es die Not erzwänge, damit die Seelen nicht aus Mangel am göttlichen Wort zugrunde gingen. Denn in solcher Not, so hast du gehört, kann nicht allein ein jeder einen Prediger beschaffen, es sei durch Bitten oder mittels der Macht weltlicher Obrigkeit, sondern er soll auch selbst hinzulaufen, auftreten und lehren, wenn er es kann. Denn Not ist Not und hat kein Maß, genauso wie jedermann herbeilaufen und handeln soll, wenn es in der Stadt brennt, und nicht warten soll, bis man ihn darum bittet. Ansonsten, wenn keine Not ist und Menschen vorhanden sind, die Recht und Vollmacht und Gnade zu lehren haben, soll kein Bischof jemanden einsetzen ohne Wahl, Willen und Berufen der Gemeinde, sondern er soll den von der Gemeinde Erwählten und Berufenen bestätigen. Tut er es nicht, soll derselbe dennoch durch die Berufung der Gemeinde bestätigt sein. Denn es hat weder Titus noch Timotheus noch Paulus je einen Priester eingesetzt ohne der Gemeinde Erwählen und Berufen. Das beweist sich klar daraus, dass er Titus 1,7 und 1. Timotheus 3,2 sagt, ein Bischof oder Priester solle untadelig sein, ferner: Die Diakone solle man zuerst prüfen. Nun wird ja Titus nicht gewusst haben, welche untadelig gewesen sind, sondern ein solches Zeugnis muss aus der Gemeinde kommen, die muss einen solchen vorschlagen. So lesen wir doch Apostelgeschichte 6,3, dass auch die Apostel selbst, bei einem sehr viel geringeren Amt, nicht Personen zu Diakonen einsetzen durften ohne Wissen und Willen der Gemeinde. Sondern die Gemeinde erwählte und berief die sieben Diakone, und die Apostel bestätigten sie. Wenn nun die Apostel ein solches Amt, das nur für das Austeilen von leiblicher Nahrung zuständig war, nicht aus eigener Gewalt besetzen durften, wie sollten sie so kühn gewesen sein, dass sie das höchste Amt, das Amt zu predigen, jemandem aus eigener Gewalt, ohne der Gemeinde Wissen, Willen und Berufen, übertragen hätten? …

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Martin Luther, Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts (1526): WA 19, S. 72–113; Cl 3, S. 294–309 (gekürzt); DDStA 2, S. 427–441.

Eine alternative Form des Gottesdienstes Die dritte Weise des Gottesdienstes, die wirklich evangelisch wäre, dürfte nicht öffentlich auf dem Platz unter allerlei Volk stattfinden. Sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit der Tat und dem Munde bekennen, müssten sich mit ihrem Namen in eine Liste eintragen und sich etwa in einem Haus für sich allein versammeln zum Gebet, die Schrift zu lesen, zu taufen, das Abendmahl zu empfangen und andere christliche Werke zu tun. In dieser Einrichtung könnte man die, welche sich nicht christlich verhielten, erkennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann tun nach der Regel Christi Matthäus 18,15ff. Hier könnte man den Christen auch ein gemeinsames Almosen auferlegen, das man freiwillig gäbe und unter die Armen nach dem Vorbild des Paulus austeilte (2. Korinther 9,1). Hier bedürfte es nicht vieler und großer Gesänge. Hier könnte man auch Taufe und Abendmahl auf eine kurze feine Weise halten und alles aufs Wort und Gebet und die Liebe richten. Hier müsste man einen guten kurzen Unterricht über das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote und das Vaterunser haben. In Kürze: Wenn man die Menschen und Personen hätte, die mit Ernst Christen zu sein begehrten, die Ordnungen und Regeln dafür wären schnell gemacht. Aber ich kann und mag eine solche Gemeinde oder Versammlung noch nicht anordnen und einrichten. Denn ich habe noch nicht die Menschen und Personen dazu. Ebenso sehe ich auch nicht viele, die danach begehren. …

»Ich widerrufe nicht!« Die Wormser Rede (1521) 1517 hatte Luther mit seinen Ablassthesen Anstoß erregt und war deshalb angeklagt worden, ein Ketzer zu sein. 1520 wurde in Rom sein Ketzerprozess abgeschlossen. Er endete mit der Verurteilung Luthers durch ein päpstliches Schreiben, eine »Bulle«, und seinem Ausschluss aus der römischen Kirche. Anschließend hätten ihn die Obrigkeiten auf den Scheiterhaufen befördern müssen, doch im April 1521 wurde er auf Veranlassung seines Landesherrn, des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen, zum Reichstag nach Worms geladen und sprach am 17. und am 18. April vor Kaiser Karl V. und Repräsentanten des Reichs. Am Abb. 3: Luther in Worms 18. April hielt er in lateinischer Sprache eine längere Rede und lehnte es ab, sich von seinen Schriften zu distanzieren. Er schloss seine Ausführungen mit einem schlichten »Gott helfe mir, Amen!« in deutscher Sprache. Das berühmte »Hier stehe ich und kann nicht anders« hat sich erst später in die Überlieferung eingeschlichen. Aufsehen erregt hat Luthers Auftritt aber auch so. Seine Rede wurde im Wort verbreitet und in bildlichen Darstellungen. Zahlreiche Bilder zeigten, wie er allein mit der Bibel in der Hand, dem Kaiser gegenübertrat – oder dem Papst. Der Papst war jedoch nicht in Worms dabei. Aber der Papst, nicht der Kaiser, war der eigentliche Gegner. So gesehen treffen gerade die Luther-Papst-Bilder den Kern der Sache (Abb. 3).

Dictio d[octoris] Martini Lutheri coram caesare Carolo et principibus Wormaciae, in: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 2, 2. Aufl., Göttingen 1962, S. 551–555.

Allergnädigster Kaiser, durchlauchtigste Fürsten! Mir waren gestern durch Eure allergnädigste Majestät zwei Fragen vorgelegt worden, nämlich ob ich die genannten, unter meinem Namen veröffentlichten Bücher als meine Bücher anerkennen wolle und ob ich dabei bleiben wolle, sie zu verteidigen, oder bereit sei, sie zu widerrufen. Zum ersten Punkt habe ich sofort eine unverhohlene Antwort gegeben, zu

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»Ich widerrufe nicht!« Die Wormser Rede (1521)

der ich noch stehe und in Ewigkeit stehen werde: Es sind meine Bücher, die ich selbst unter meinem Namen veröffentlicht habe, vorausgesetzt, dass die Tücke meiner Feinde oder eine unzeitige Klugheit darin nicht etwa nachträglich etwas geändert oder fälschlich gestrichen hat. Denn ich erkenne schlechterdings nur das an, was allein mein eigen und von mir allein geschrieben ist, aber keine weisen Auslegungen von anderer Seite. Hinsichtlich der zweiten Frage bitte ich aber Euer allergnädigste Majestät und fürstliche Gnaden dies beachten zu wollen, dass meine Bücher nicht alle den gleichen Charakter tragen. Die erste Gruppe umfasst die Schriften, in denen ich über den rechten Glauben und rechtes Leben so schlicht und evangelisch gehandelt habe, dass sogar meine Gegner zugeben müssen, sie seien nützlich, ungefährlich und durchaus lesenswert für einen Christen. Ja, auch die Bulle erklärt ihrer wilden Gegnerschaft zum Trotz einige meiner Bücher für unschädlich, obschon sie sie dann in einem abenteuerlichen Urteil dennoch verdammt. Wollte ich also anfangen, diese Bücher zu widerrufen – wohin, frage ich, sollte das führen? Ich wäre dann der einzige Sterbliche, der eine Wahrheit verdammte, die Freund und Feind gleichermaßen bekennen, der einzige, der sich gegen das einmütige Bekenntnis aller Welt stellen würde! Die zweite Gruppe greift das Papsttum und die Taten seiner Anhänger an, weil ihre Lehren und ihr schlechtes Beispiel die ganze Christenheit sowohl geistlich wie leiblich zerstört haben. Das kann niemand leugnen oder übersehen wollen. Denn jedermann macht die Erfahrung und die allgemeine Unzufriedenheit kann es bezeugen, dass päpstliche Gesetze und Menschenlehren die Gewissen der Gläubigen aufs jämmerlichste verstrickt, beschwert und gequält haben, dass aber die unglaubliche Tyrannei auch Hab und Gut verschlungen hat und fort und fort auf empörende Weise weiter verschlingt, ganz besonders in unserer hochberühmten deutschen Nation. Und doch sehen sie in ihren Dekreten selbst vor …: päpstliche Gesetze, die der Lehre des Evangeliums und den Sätzen des Evangeliums und den Sätzen der Kirchenväter widersprächen, seien für irrig und ungültig anzusehen. Wollte ich also diese Bücher widerrufen, so würde ich die Tyrannei damit geradezu kräftigen und stützen. Ich würde dieser Gottlosigkeit für ihr Zerstörungswerk nicht mehr ein kleines Fenster, sondern Tür und Tor auftun, weiter und bequemer, als sie es bisher je vermocht hat. So würde mein Widerruf ihrer grenzenlosen, schamlosen Bos-

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heit zugute kommen. Und ihre Herrschaft würde das arme Volk noch unerträglicher bedrücken und nun erst recht gesichert und begründet sein. Und das umso mehr, als man prahlen wird, ich hätte das auf Wunsch Eurer allergnädigsten Majestät getan und des ganzen Römischen Reiches. Guter Gott, wie würde ich da aller Bosheit und Tyrannei zur Deckung dienen! Die dritte Gruppe sind die Bücher, die ich gegen einige sozusagen für sich stehende Einzelpersonen geschrieben habe, die den Versuch machten, die römische Tyrannei zu schützen und das Christentum, wie ich es lehre, zu erschüttern. Ich bekenne, dass ich gegen diese Leute heftiger vorgegangen bin, als in Sachen des Glaubens und in meinem Stande schicklich ist. Denn ich mache mich nicht zu einem Heiligen und trete hier nicht für meinen Lebenswandel ein, sondern für die Lehre Christi. Trotzdem wäre mein Widerruf auch für diese Bücher nicht statthaft, denn er würde wieder die Folge haben, dass sich die gottlose Tyrannei auf mich berufen könnte und das Volk so grausamer beherrschen und misshandeln würde als je zuvor. Aber ich bin ein Mensch und nicht Gott. So kann ich meinen Schriften auch nicht anders beistehen, als wie mein Herr Christus selbst seiner Lehre beigestanden hat. Als ihn Hannas nach seiner Lehre fragte und der Diener ihm einen Backenstreich gegeben hatte, sprach er (Johannes 18,23): »Habe ich übel geredet, so beweise, dass es böse ist.« Der Herr selbst, der doch wusste, dass er nicht irren kann, hat also nicht verschmäht, einen Beweis gegen seine Lehre anzuhören, dazu noch von einem elenden Knecht. Wie viel mehr muss ich erbärmlicher Mensch, der nur irren kann, da bereit sein, jedes Zeugnis gegen meine Lehre, das sich vorbringen lässt, zu erbitten und zu erwarten. Darum bitte ich um der göttlichen Barmherzigkeit willen, Eure allergnädigste Majestät, durchlauchtigste fürstliche Gnaden oder wer es sonst vermag, er sei höchsten oder niedersten Standes, möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen oder evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen, ja, werde der Erste sein, der meine Schriften ins Feuer wirft. … Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so

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bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilen allein, weil es offenkundig ist, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.

Bibelübersetzung und Bibelinterpretation

Nach Luthers Auftritt auf dem Reichstag zu Worms hielt der Kaiser, obwohl er über Luther entsetzt war, sein Versprechen und ließ den Wittenberger Mönch wieder abreisen. Gleichwohl war Luther nunmehr hochgradig gefährdet, denn der Kaiser hatte zum Ende der Wormser Versammlung die Reichsacht über Luther verhängt und damit die Konsequenz aus dem päpstlichen Ketzerurteil gezogen. Luther war nun völlig rechtlos und ihm drohte der Scheiterhaufen. Sein Landesherr Friedrich der Weise hatte jedoch einen Plan, in den Luther selbst nicht eingeweiht war. Er ließ Luther auf halber Strecke zwischen Worms und Wittenberg, im Thüringer Wald bei Eise­nach, »überfallen« und auf die WartAbb. 4: Luther als Bibelübersetzer burg in Sicherheit bringen. Dort begann Luther mit der Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen ins Deutsche. Später folgte das Alte Testament aus dem Hebräischen ins Deutsche. 1534 war die Luther-Bibel, an der auch sein Kollege Melanchthon starken Anteil hatte, vollendet. Luther war nicht der Erste, der die Bibel ins Deutsche übersetzte, aber er war der Erste, der sie aus den Originalsprachen ins Deutsche übersetzte und nicht aus dem Lateinischen, also aus einer anderen Übersetzung, und er sah sich als den Ersten, der die Bibel in eine deutsche Sprachform kleidete, die von den Menschen wirklich verstanden werden konnte. Zu den Grundsätzen seiner Bibelübersetzung sowie seiner Bibelinterpretation äußerte sich Luther verschiedentlich in kleineren Schriften sowie in Vorreden, die er seinen Übersetzungen voranstellte. Luther liebte die Evangelien, vor allem das Johannesevangelium, sowie einige Paulusbriefe, vor allem den Brief an die Römer. Sie dienten ihm als Grundlage zur Interpretation der gesamten Bibel. Berühmt ist Luthers Vorrede zum Römerbrief, wo er das Thema Glaube und Werke erörtert. Überhaupt nicht schätzte Luther den Jakobusbrief und bezeichnete ihn 1522 in seiner Vorrede zum Neuen Testament als »recht stroherne Epistel«. Am liebsten hätte er ihn aus seiner Bibel entfernt, was er aber nicht wagte. Doch er rückte ihn an den Schluss. Obwohl er in den alten griechischen Bibeln zwischen dem Hebräer- und den Petrusbriefen steht, platzierte ihn Luther weit hinten, vor dem Judasbrief und der Offenbarung, die Luther ebenfalls nicht schätzte. Für einen Bibeldruck des Jahres 1530 schuf Lukas Cranach einen doppeldeutigen Holzschnitt, der eigentlich den Apostel Matthäus (in der Gestalt Luthers) bei der Verfassung seines Evangeliums, aus anderer Perspektive aber Luther als

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Bibelübersetzung und Bibelinterpretation

erleuchteten Bibelübersetzer in der Gestalt des Evangelisten Matthäus zeigt (Abb. 4, S. 93 und Titelbild). Schreibend sitzt Luther an einem Renaissancetisch. Ein Engel, Symbol für Matthäus, leuchtet ihm mit einem Spiegel. Eine Taube symbolisiert den Heiligen Geist. Luthers Blick ist in die Arbeit vertieft. Die Landschaft mit ihren Burgen und Bergen, die man durchs Fenster erblicken kann, interessiert ihn nicht. Die beiden Hühner im Vordergrund könnten eine Anspielung auf Matthäus 23,37 sein: Gott will die Kinder Jerusalems sammeln wie eine Henne ihre Küken. Martin Luther, Ein Sendbrief vom Dolmetschen (1530): WA 30/2, S. 627–646; Cl 4, S. 179–193.

Grundsätze der Bibelübersetzung Zum Ersten: Wenn ich, Doktor Luther, das hätte erwarten können, dass die Päpstlichen alle auf einem Haufen so geschickt wären, dass sie ein Kapitel in der Schrift recht und gut verdeutschen könnten, so wollte ich mich fürwahr demütig gezeigt und sie um Hilfe und Beistand gebeten haben, das Neue Testament zu verdeutschen. Aber weil ich gewusst und noch vor Augen habe, dass keiner von ihnen recht weiß, wie man übersetzen oder deutsch reden soll, habe ich sie und mich solcher Mühe enthoben. Das merkt man aber wohl, dass sie aus meinem Übersetzen und Deutsch überhaupt erst deutsch reden und schreiben lernen und mir so meine Sprache stehlen, wovon sie zuvor wenig gewusst haben. Sie danken mir aber nicht dafür, sondern gebrauchen sie viel lieber gegen mich. Aber ich gönne es ihnen wohl, denn es schmeichelt mir doch, dass ich auch meine undankbaren Jünger, dazu meine Feinde, reden gelehrt habe. Zum Zweiten könnt ihr sagen, dass ich das Neue Testament verdeutscht habe nach meinem besten Vermögen und in Verantwortung vor meinem Gewissen. Damit habe ich niemanden gezwungen, dass er es lese, sondern es jedem frei gestellt und es allein denen zu Dienst getan, die es nicht besser machen können. Es ist niemandem verboten, es besser zu machen. Wer es nicht lesen will, der lass es liegen. Ich bitte und preise niemanden darum. Es ist mein Testament und meine Übersetzung, und es soll mein sein und bleiben. Habe ich dabei irgendwie Fehler begangen – dessen ich mir noch nicht bewusst bin, auch wollte ich nicht einen Buchstaben absichtlich falsch übersetzen –, darüber will ich die Päpstlichen nicht als Richter dulden. Denn sie haben zurzeit noch zu lange Ohren dazu, und ihr »iah!«, »iah!« ist zu schwach, mein Verdolmetschen zu beurteilen. Ich weiß wohl, und sie wissens weniger als des Müllers Tier, was für Kunst, Fleiß, Vernunft, Verstand zum guten Übersetzer gehört; denn sie haben es nicht versucht. …

Bibelübersetzung und Bibelinterpretation95

Denn man darf nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man deutsch reden soll, wie diese Esel tun, sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den einfachen Mann auf dem Markt danach fragen und denselben auf das Maul schauen, wie sie reden, und danach übersetzen. So verstehen sie es dann und merken, dass man deutsch mit ihnen redet. … Zum Beispiel wenn Christus (Matthäus 12,34; Lukas 6,45) sagt: Ex abundantia cordis os loquitur. Wenn ich den Eseln folgen würde, würden sie mir die Buchstaben vorlegen und so übersetzen: »Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund.« Sage mir, ist das deutsch geredet? Welcher Deutsche versteht so etwas? Was ist »Überfluss des Herzens« für ein Ding? Das kann kein Deutscher sagen, es sei denn, er wollte sagen, dass einer ein allzu großes Herz habe oder zu viel Herz habe, obwohl das auch noch nicht richtig ist. Denn »Überfluss des Herzens« ist kein Deutsch, so wenig wie das Deutsch ist: »Überfluss des Hauses«, »Überfluss des K ­ achelofens«, »Überfluss der Bank«, sondern so redet die Mutter im Haus und der Mann auf der Straße: »Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über.« Das heißt gut deutsch geredet! Darum habe ich mich bemüht, es aber leider nicht immer erreicht und getroffen. Denn die lateinischen Buchstaben hindern über alle Maßen sehr, gutes Deutsch zu reden. Martin Luther, Vorrede zum Brief des Paulus an die Römer (1522): WA.DB 7, S. 384–386; StA 1, S. 388–402.

Der Brief des Paulus an die Römer: Das rechte Hauptstück des Neuen Testaments Dieser Brief ist das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium. Er ist wohl würdig und wert, dass ihn ein Christenmensch nicht allein Wort für Wort auswendig wisse, sondern täglich damit umgehe wie mit einem täglichen Brot für die Seele. Denn er kann nie zu viel und zu gründlich gelesen oder betrachtet werden. Und je mehr er behandelt wird, desto kostbarer wird er und umso besser schmeckt er. Darum will ich auch meinen Dienst dazutun und durch diese Vorrede einen Zugang dazu bereiten, so viel mir Gott verliehen hat, damit er desto besser von jedermann verstanden werde. Denn er wurde bisher durch Kommentare und mancherlei Geschwätz übel verfinstert, obwohl er doch an sich ein helles Licht ist, völlig ausreichend, die ganze Schrift zu erleuchten.

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Aufs Erste müssen wir der Sprache kundig werden und wissen, was Paulus mit diesen Worten meint: Gesetz, Sünde, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Fleisch, Geist und dergleichen, sonst ist kein Lesen darin von Nutzen. … Glaube ist nicht der menschliche Wahn und Traum, den etliche für Glauben halten. Und wenn sie sehen, dass keine Besserung des Lebens noch gute Werke danach folgen, und sie doch vom Glauben viel hören und reden können, so fallen sie in den Irrtum und sagen, der Glaube sei nicht genug, man müsse Werke tun, wolle man gerecht und selig werden. Daraus folgt, wenn sie das Evangelium hören, so handeln sie voreilig und machen sich aus eigenen Kräften einen Gedanken im Herzen, der sagt: »Ich glaube.« Das halten sie dann für einen rechten Glauben. Aber so wie das ein menschlicher Einfall und Gedanke ist, der nie bis zum Grund des Herzens dringt, so tut er auch nichts und folgt keine Besserung später. Der wahre Glaube aber ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott, Johannes 1,13, und den alten Adam tötet, uns zu ganz anderen Menschen an Herz, Gemüt, Sinn und allen Kräften macht und den Heiligen Geist mit sich bringt. Oh, es ist ein lebendig, wirkend, tätig, mächtig Ding um den Glauben, sodass es unmöglich ist, dass er nicht ohne Unterlass Gutes wirken sollte. Er fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie getan und ist immer im Tun. Wer aber keine solche Werke tut, der ist ein glaubensloser Mensch, tappt und sieht um sich nach dem Glauben und guten Werken und weiß weder, was Glaube oder gute Werke sind, und redet und schwätzt doch viele Worte vom Glauben und guten Werken. Glaube ist eine lebendige, unerschütterliche Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiss, dass er tausendmal darüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, beharrlich und angenehm vor Gott und allen Kreaturen, was der Heilige Geist im Glauben bewirkt. Daher wird er ohne Zwang willig und bereit, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, alles zu leiden, Gott zu Liebe und Lob, der ihm solche Gnade erwiesen hat, sodass es unmöglich ist, die Werke vom Glauben zu scheiden, ebenso unmöglich, wie Brennen und Leuchten vom Feuer geschieden werden kann. Darum siehe dich vor vor deinen eigenen falschen Gedanken und vor unnützen Schwätzern, die klug sein wollen, vom Glauben und guten Werken zu urteilen, und doch die größten Narren sind. Bitte Gott, dass er Glauben in dir wirke, sonst bleibst du wohl ewig ohne Glauben, auch wenn du erdichtest und tust, was du willst oder kannst. …

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So finden wir in diesem Brief aufs allerreichlichste, was ein Christ wissen soll, nämlich: Was Gesetz, Evangelium, Sünde, Strafe, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Christus, Gott, gute Werke, Liebe, Hoffnung, Kreuz sei und wie wir uns gegen jedermann, er sei fromm oder Sünder, stark oder schwach, Freund oder Feind, und gegen uns selbst verhalten sollen. Dazu das alles mit Schriftstellen trefflich begründet, mit Beispielen von sich selbst und den Propheten bewiesen, dass nichts mehr zu wünschen übrig ist. Darum scheint es auch, als habe Paulus in diesem Brief einmal die ganze christliche und evangelische Lehre in die Kürze fassen und einen Zugang zum ganzen Alten Testament bereiten wollen. Denn wer diesen Brief recht im Herzen hat, der hat ohne Zweifel des Alten Testaments Licht und Kraft bei sich. Darum lasse ihn ein jeder Christ sich vertraut und in steter Übung sein. Da gebe Gott seine Gnade zu, Amen. … Martin Luther: Vorrede zum Jakobus- und zum Judasbrief (1522): WA.DB 7, S. 384–386; StA 1, S. 403–405.

Der Brief des Jakobus stammt nicht von einem Apostel! Den Brief des Jakobus, obwohl er von den Alten verworfen wurde, lobe ich und halte ihn doch für gut, und zwar deshalb, weil er gar keine Menschenlehre aufstellt und Gottes Gesetz eifrig behandelt. Aber, damit ich meine Meinung darüber begründe, jedoch ohne irgendjemandens Nachteil: Ich halte ihn nicht für die Schrift eines Apostels. Und dies sind meine Gründe dafür: Aufs Erste, weil er stracks gegen Paulus und alle andere Schrift den Werken die Rechtfertigung zuschreibt und sagt, Abraham sei aus seinen Werken gerechtfertigt worden, als er seinen Sohn opferte, obwohl doch Paulus Römer 4 entgegengesetzt lehrt, dass Abraham ohne Werke, ehe er denn seinen Sohn opferte, gerechtfertigt worden sei allein durch seinen Glauben, und das mit 1. Mose 15,6 beweist. Wenn nun diesem Brief vielleicht geholfen und für solche Rechtfertigung der Werke eine Erklärung gefunden werden könnte, kann man ihn doch darin nicht schützen, dass er den Spruch 1. Mose 15,6 – welcher allein von Abrahams Glauben und nicht von seinen Werken redet, wie ihn Paulus Römer 4,3ff. anführt – doch auf die Werke bezieht. Darum folgt aus diesem Mangel, dass er von keinem Apostel stammt. Aufs Zweite, weil er Christenleute lehren will und nicht ein einziges Mal in seinen langen lehrhaften Ausführungen des Leidens, der Auferste-

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Bibelübersetzung und Bibelinterpretation

hung, des Geistes Christi gedenkt. Er nennt Christus etliche Male, aber er lehrt nichts von ihm, sondern spricht vom allgemeinen Glauben an Gott. Das Amt eines rechten Apostels ist es, dass er von Christi Leiden und Auferstehen und Amt predigt und für diesen Glauben den Grund legt, wie Christus selbst sagt Johannes 15,27: »Ihr seid meine Zeugen.« Und darin stimmen alle rechtschaffenen, heiligen Bücher überein, dass sie allesamt Christus predigen und lehren. Das ist auch der rechte Prüfstein, um alle Bücher zu beurteilen, wenn man sieht, ob sie Christus lehren oder nicht, denn die ganze Heilige Schrift stellt Christus vor Augen, Römer 3,22ff., und Paulus will nichts als allein Christus wissen, 1. Korinther 2,2. Was Christus nicht lehrt, das ist nicht apostolisch, wenn es gleich Petrus oder Paulus lehrte. Und umgekehrt: Was Christus predigt, das ist apostolisch, wenn es gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte. Aber dieser Jakobus tut nicht mehr, als zum Gesetz und seinen Werken zu treiben, und wirft eins so unordentlich ins andere, dass ich vermute, er sei irgendein guter, rechtschaffener Mann gewesen, der etliche Sprüche von den Jüngern der Apostel aufgenommen und so aufs Papier geworfen hat. Oder es ist vielleicht nach seiner Predigt von einem anderen niedergeschrieben worden. Er nennt zum Beispiel das Gesetz ein Gesetz der Freiheit, obwohl es Paulus doch ein Gesetz der Knechtschaft, des Zornes, des Todes und der Sünde nennt. Darüber hinaus zitiert er die Sprüche 1. Petrus 4,8: »Die Liebe bedeckt der Sünden Menge«, ferner 1. Petrus 5,6: »So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes«, ferner das Wort des Paulus Galater 5,17: »Der Geist begehrt auf gegen das Fleisch«, obwohl doch Jakobus bereits früh von Herodes zu Jerusalem, und zwar vor Petrus, getötet worden war, sodass sicher scheint, dass der Verfasser des Briefes lange nach Petrus und Paulus gelebt hat. Ich fasse zusammen: Er hat denen wehren wollen, die sich auf den Glauben ohne Werke verließen, ist aber für diese Sache an Geist, Verstand und Worten zu schwach gewesen. Er zerreißt die Heilige Schrift und widersteht damit Paulus und aller Schrift. Er will das mit dem Gesetz und dem Antreiben ausrichten, was die Apostel mit dem Anreizen zur Liebe ausrichten. Darum will ich ihn nicht in meiner Bibel unter den rechten Hauptbüchern haben. Ich will aber damit niemandem wehren, ihn so wertzuschätzen, wie er will, denn es sind ansonsten viele gute Sprüche in ihm zu finden. »Ein Mann ist kein Mann in weltlichen Sachen«, sagt ein Sprichwort. Wie sollte also dieser Einzelne allein gegen Paulus und alle andere Schrift Recht haben? …

Rücksicht auf die Schwachen!

Luther lebte auf der Wartburg inkognito. Um nicht erkannt zu werden, verwandelte sich der Mönch in einen Adligen. Martin Luther ließ sich Haare und Bart wachsen und wurde zu »Junker Jörg« (Abb. 5). Auch innerlich löste er sich vom Mönchtum und schrieb ein Buch gegen die Mönchsgelübde, das viele Mönche und Nonnen zum Anlass nahmen, ihr Kloster zu verlassen. Während Luther im Sommer, Herbst und Winter 1521 auf der Wartburg weilte, trieben seine Mitstreiter die Refor­mation in Wittenberg voran. Melanchthon und vor allem Karlstadt, ein weiterer Professorenkollege Luthers, leiteten praktische Veränderungen wie die Reform des Gottesdienstes ein. Heftige Konflikte waren die Folge. Luther beob- Abb. 5: Luther als Junker Jörg achtete die Entwicklung mit Sorge. Im Frühjahr 1522 eilte er zurück nach Wittenberg. Am Sonntag Invokavit, dem 9. März 1522, hielt er eine berühmte Predigt, in der er den praktischen Veränderungen Einhalt gebot und dazu mahnte, Rücksicht auf die Schwachen zu nehmen, das heißt auf die Menschen, die mit ihrem Herzen noch am alten Glauben und den alten Traditionen hingen. Martin Luther, Acht Sermone, gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit (1522): WA 10/3, S. 1–64, 430–439; Cl 7, S. 362–387; StA 2, S. 520–558.

Wir werden alle mit dem Tod konfrontiert werden und es wird keiner für den anderen sterben. Sondern ein jeder wird in eigener Person für sich mit dem Tode kämpfen. In die Ohren können wir das wohl schreien, aber ein jeder muss für sich selbst bereit sein in der Zeit des Todes. Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir. Hierfür muss jeder selbst die Hauptstücke, die einen Christen angehen, gut wissen und damit gerüstet sein, und das sind die: Zum Ersten, dass wir Kinder des Zorns sind und insbesondere alle unsere Werke, Ansinnen und Gedanken nichts sind. Hierfür brauchen

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Rücksicht auf die Schwachen!

wir einen klaren starken Spruch, der das bezeugt, wie es das Wort des Paulus Epheser 2,3 ist, das prägt euch ein: »Wir sind alle Kinder des Zorns.« Und obwohl es viele gibt in der Bibel, will ich euch doch nicht mit vielen Sprüchen überschütten. Zum Zweiten, dass uns Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat, damit wir an ihn glauben. Und wer auf ihn vertraut, soll von Sünde frei und ein Kind Gottes sein, wie Johannes 1,12 sagt: »Er hat ihnen die Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben.« Hier sollten wir uns alle in der Bibel gut auskennen und mit vielen Sprüchen gerüstet sein, um sie dem Teufel entgegenzuhalten. In diesen zwei Stücken verspüre ich bei euch noch kein Defizit oder Mangel. Sie wurden euch sorgfältig gepredigt, und ich würde es sehr bedauern, wenn es anders geschehen wäre. Ja, ich sehe es wohl und darf sagen, dass ihr gelehrter seid, als ich es bin, es gibt nicht nur einen, zwei, drei oder vier, sondern wohl zehn oder mehr, die so in der Erkenntnis erleuchtet sind. Drittens müssen wir aber auch die Liebe haben und durch die Liebe einander tun, wie uns Gott durch den Glauben getan hat. Ohne diese Liebe ist der Glaube nichts, wie Paulus sagt 1. Korinther 13,1: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.« Habt ihr hier, liebe Freunde, nicht sehr gefehlt? Ich spüre in keinem die Liebe und merke sehr wohl, dass ihr Gott für den reichen Schatz und die Gabe, die ihr von ihm erhalten habt, nicht dankbar gewesen seid. Hier lasst uns zusehen, dass aus Wittenberg nicht Kapernaum werde (Matthäus 11,23). Ich sehe wohl, dass ihr viel von der Lehre redet, die euch gepredigt wurde, von dem Glauben und der Liebe. Und das wundert nicht. Wenn sogar ein Esel singen lernen kann, solltet ihr dann nicht auch die Lehre oder die Wörtlein reden und lernen? Aber es besteht, liebe Freunde, das Reich Gottes, das wir sind, nicht in der Rede oder in Worten, sondern in der Kraft, das heißt in der Tat, in den Werken und Übungen (1. Korinther 4,20). Gott will nicht Zuhörer oder Nachredner haben, sondern Nachfolger und Täter, und das im Glauben durch die Liebe. Denn der Glaube ohne die Liebe ist nicht genug, ja ist nicht einmal ein Glaube, sondern ein bloßer Schein des Glaubens, wie ein Angesicht im Spiegel betrachtet nicht ein wahrhaftes Angesicht ist, sondern nur der Schein eines Angesichts. Viertens ist uns auch not die Geduld. Denn wer den Glauben hat, Gott vertraut und seinem Nächsten Liebe erweist, in der er sich täglich

Rücksicht auf die Schwachen!101

übt, der kann ja nicht ohne Verfolgungen sein. Denn der Teufel schläft nicht, sondern gibt ihm reichlich zu schaffen. Aber die Geduld wirkt und bringt die Hoffnung, welche sich frei hingibt und in Gott aufgeht, und so nimmt der Glaube durch viele Anfechtung und Anstöße immer mehr zu und wird von Tag zu Tag gestärkt. Ein solches Herz, mit Tugenden begnadet, kann nie ruhen und sich still verhalten, sondern ergießt sich wiederum zum Nutzen und Wohltun an seinen Brüdern, wie ihm von Gott geschehen ist. Hier, liebe Freunde, darf nicht jeder tun, wozu er ein Recht hat, sondern er muss zusehen, was seinem Bruder nützlich und förderlich ist, wie Paulus 1. Korinther 6,12 sagt: »Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.« Denn wir sind nicht alle gleich stark im Glauben. Einige unter euch haben einen stärkeren Glauben als ich. Darum dürfen wir nicht auf uns oder unser Vermögen schauen und es betrachten, sondern auf das unseres Nächsten. Denn Gott hat durch Mose (5. Mose 1,31) gesprochen: »Ich habe dich getragen und aufgezogen, wie eine Mutter ihrem Kinde tut.« Was tut denn die Mutter ihrem Kinde? Zum Ersten gibt sie ihm Milch, danach einen Brei, danach Eier und weiche Speise. Wenn sie es umgekehrt machte und zunächst harte Speise gäbe, würde aus dem Kind nichts Gutes. So sollen wir auch mit unserem Bruder umgehen, mit ihm eine Zeit lang Geduld haben und seine Schwachheit dulden und tragen helfen, ihm auch Milchspeise geben, wie wir sie erhalten haben, bis auch er stark werde. Wir sollen nicht alleine in den Himmel fahren, sondern unsere Brüder, die jetzt nicht unsere Freunde sind, mitnehmen. Würden alle Mütter ihre Kinder wegwerfen, was würde aus uns werden? Lieber Bruder, wenn du genug gesaugt hast, schneide ja nicht so vorschnell die Mutterbrust ab, sondern lass deinen Bruder auch saugen, wie du gesaugt hast. Ich hätte die Dinge nicht so weit vorangetrieben, wie es geschehen ist, wäre ich hier gewesen. Die Sache ist wohl gut, aber das Eilen ist zu schnell, denn auf der anderen Seite sind auch noch Brüder und Schwestern, die zu uns gehören. Die müssen noch einbezogen werden. Merke dir ein Gleichnis: Die Sonne hat zwei Dinge, den Glanz und die Hitze. Es ist kein König so stark, dass er den Glanz der Sonne biegen oder lenken könnte, sondern der bleibt an seiner Stelle. Aber die Hitze lässt sich lenken und biegen und ist allwegs um die Sonne. Ebenso muss der Glaube allezeit ganz unbeweglich in unseren Herzen bleiben und wir dürfen nicht davon weichen, aber die Liebe beugt und

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lenkt sich, sodass unser Nächster sie begreifen und ihr folgen kann. Es gibt einige, die können gut rennen, einige können gut gehen, einige aber kaum kriechen. Darum dürfen wir nicht unser Vermögen, sondern müssen das unseres Bruders betrachten, damit der Schwache im Glauben, sofern er dem Starken folgen will, nicht vom Teufel zerrissen werde. Darum, liebe Brüder, folgt mir. Ich habe es noch nie verdorben. Ich bin auch der Erste gewesen, den Gott auf dieses Kampffeld gesetzt hat. Ich kann ja nicht entlaufen, sondern werde so lange bleiben, wie es Gott gibt. Ich bin auch der gewesen, dem es Gott als Erstem offenbart hat, euch diese seine Worte zu predigen. Ich bin mir auch gewiss, dass ihr das lautere Wort Gottes habt. Darum lasst uns mit Furcht und Demut handeln und einer dem anderen zu Füßen liegen, uns die Hände reichen, einer dem anderen helfen. Ich will das Meine tun, das ich schuldig bin, und bin besorgt um euch wie um meine Seele. Denn wir streiten nicht gegen Papst und Bischof usw., sondern gegen den Teufel. Glaubt ihr, er schläft? Er schläft nicht. Sondern er sieht das wahre Licht aufgehen. Damit es ihm nicht direkt entgegentrete, wollte er gerne von der Seite her Eingang finden. Und wenn er es tun wird, werden wir nicht darauf achten. Ich kenne ihn gut. Ich hoffe auch, so Gott will, ich bin sein Herr. Geben wir ihm einen Fuß breit Raum, so können wir zusehen, wie wir seiner wieder los werden. Deshalb haben alle die geirrt, die dazu geholfen und eingewilligt haben, die Messe abzutun. Nicht, weil es nicht gut gewesen wäre, sondern weil es nicht ordentlich vonstattengegangen ist. Du sagst: Es ist recht nach der Schrift. Ich bekenne es auch, aber wo bleibt die Ordnung? Denn es ist voreilig geschehen ohne alle Ordnung und zum Ärgernis des Nächsten. Wenn man zuvor ganz ernsthaft darum gebetet und die Obrigkeit einbezogen hätte, so wüsste man, dass es aus Gott geschehen wäre. … Ich bin ja nicht so ferne gewesen. Ihr hättet mich mit Briefen erreichen können. Es wäre nicht das geringste Stück gewesen, dessentwegen ihr zu mir hättet schicken können. Wollt ihr etwas anfangen und ich soll es verantworten, das wäre mir zu schwer. Ich werde es nicht tun. Hier merkt man, dass ihr den Geist nicht habt, obwohl ihr euch in der Heiligen Schrift gut auskennt. … Ich wollte auch wohl viele Dinge anfangen, in denen mir nur wenige folgen würden. Was würde es aber helfen? Denn ich weiß, dass die, die solches mit mir angefangen hätten, wenn es darauf ankäme, nicht bestehen könnten und die Ersten wären, die wieder zurücktreten

Rücksicht auf die Schwachen!103

würden. Wie würde es sein, wenn ich den Haufen auf den Plan brächte, und ich, der ich der Erste gewesen bin und die anderen aufgestachelt habe, den Tod fliehen und seiner nicht fröhlich warten würde? Wie würde der arme Haufen verführt werden! Darum lasst uns den anderen auch so lange Milchspeise geben, wie wir sie erhalten haben, bis auch sie im Glauben stark werden. Denn es gibt noch viele, die uns dann zufallen und gerne auch diese Dinge mit uns haben und annehmen wollen. Aber sie konnten es noch nicht ganz begreifen. Diese treiben wir auf diese Weise zurück. Darum lasst uns unseren Nächsten Liebe erweisen. Werden wir das nicht tun, so wird unser Tun nicht Bestand haben. Wir müssen eine Zeit lang mit ihnen Geduld haben und dürfen nicht den verwerfen, der noch schwach im Glauben ist. Noch mehr müssen wir alles tun oder lassen, wenn es die Liebe erfordert und es uns nicht an unserem Glauben Schaden bringt. Falls wir Gott nicht ernsthaft bitten und uns in die Sache nicht recht schicken, so befürchte ich, dass all der Jammer, der zwischen den Päpstlichen und uns angefangen hat, über uns kommen werde. Darum habe ich nicht länger fernbleiben können, sondern habe kommen müssen, euch diese Dinge zu sagen.

Elementare Glaubenslehren: Katechismus Reformation hieß für Luther zuerst und vor allem: Unterweisung des Geistes und Befreiung des Gewissens. Dies war das Ziel seiner Bibelübersetzung, seiner Predigten und seiner Schriften. Praktische Veränderungen waren für Luther sekundär. Auch die beiden von ihm Ende der Zwanzigerjahre geschaffenen Katechismen, der Kleine Katechismus und der Große Katechismus, dienten diesem Zweck. Katechismen, wie sie es in der Christenheit seit alters her gab, fassten die christlichen Glaubenslehren zusammen und entfalteten sie anhand der Zehn Gebote, des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers. Luther und viele Reformatoren mit ihm schufen neue, evangelische Katechismen. Sie dienten der Glaubensunterweisung in Kirche, Schule und Familie und wurden von Pfarrherren und Schulmeistern als homiletische und didaktische Hilfsmittel benutzt. Dafür war Luthers Kleiner Katechismus gedacht. Sein Großer Katechismus dagegen glich einem Lehrbuch der Theologie und sollte vor allem die Prediger selbst zurüsten. Luthers Glaubenshandbücher wurden ein großer Erfolg und werden bis in die Gegenwart verwendet. In lutherischen Kirchen haben sie den Rang von Bekenntnisschriften. Luthers Kleiner Katechismus findet sich auch heute noch in jedem Evangelischen Gesangbuch. Luthers Erläuterung des ersten Gebots im Großen Katechismus ist berühmt wegen der in ihr enthaltenen Definition, was ein Gott sei: Woran dein Herz hängt, das ist dein Gott. Geld und Reichtum als Gott oder vielmehr Abgott bezeichnet Luther, mit Lukas 16,9, als »Mammon«. Bei der Erklärung der Taufe begründet Luther unter anderem die Kindertaufe, deren Berechtigung nicht wenige Anhänger der Reformation – Luther diffamiert sie als »Rotten« – anzweifelten. Als Beweis für die Gültigkeit und Kräftigkeit der Kindertaufe verweist er auf anerkannte Theologen des Mittelalters wie Bernhard von Clairvaux und Johannes Gerson, aber auch auf den als Ketzer verurteilten Johann Hus. In allen dreien sieht Luther Beispiele für das Wirken des Heiligen Geistes, trotz oder vielmehr wegen ihrer Taufe schon als Kind. Außerdem stellt Luther dar, dass die Buße, von der römisch-katholischen Kirche weiter als Sakrament angesehen, eigentlich nichts anderes ist als die Rückkehr zur Taufe. Als solche schätzte er sie, einschließlich der zu ihr gehörenden Beichte. Martin Luther, Der große Katechismus: WA 30/1, S. 390–521; Cl 4, S. 1–99; BSLK, S. 543–733; BSELK, S. 912–1162.

Das erste Gebot Du sollst nicht andere Götter haben Das heißt: Du sollst mich allein für deinen Gott halten. Was ist da gesagt, und wie versteht man es? Was heißt, einen Gott haben, oder was ist ein Gott? Antwort: Ein Gott heißt das, von dem man alles Gute erhofft und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nimmt. Also

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meint einen Gott haben nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben. Ich habe ja oft gesagt, dass allein das Vertrauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott. Ist der Glaube und das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht. Und wiederum: Wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen: Glaube und Gott. Woran du nun, so sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott. Darum ist nun die Bedeutung dieses Gebots, dass es fordert rechten Glauben und Zuversicht des Herzens, welche den rechten einigen Gott trifft und an ihm allein hängt. Und es will sagen: Siehe zu und lass mich allein dein Gott sein und suche ja keinen anderen. Was dir mangelt an Gutem, das erwarte von mir und suche bei mir. Und wenn du Unglück und Not leidest, komm her und halte dich zu mir. Ich, ich will dir genug geben und aus aller Not helfen. Lass nur dein Herz an keinem anderen hängen noch ruhen. Das muss ich etwas deutlicher erklären, damit man es verstehe und an ganz gegensätzlichen Beispielen aus dem Alltag erkenne. Es gibt manch einen, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat. Er verlässt und brüstet sich darauf so steif und sicher, dass er auf niemanden etwas gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott. Der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er sein ganzes Herz setzt. Das ist auch der verbreitetste Abgott auf Erden. Wer Geld und Gut hat, der weiß sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies. Und umgekehrt: Wer keines hat, der verzweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott. Man wird nur wenige finden, die guten Muts sind, nicht trauern noch klagen, wenn sie den Mammon nicht haben. Er klebt und hängt der menschlichen Natur an bis ins Grab. Ein weiteres Beispiel: Wer darauf traut und trotzt, dass er große Kunst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre hat, der hat auch einen Gott, aber nicht den rechten, einigen Gott. Das siehst du abermals daran, wie vermessen, sicher und stolz man ist auf solche Güter und wie verzagt, wenn sie nicht vorhanden sind oder entzogen werden. Darum sage ich abermals, dass die rechte Auslegung des ersten Gebotes sei, dass einen Gott haben heißt etwas haben, worauf das Herz ganz vertraut. Schau dir ebenso einmal an, was wir bisher getrieben und getan haben in der Blindheit unter dem Papsttum: Wenn jemandem ein Zahn weh tat, der fastete und verehrte Sankt Apollonia. Fürchtete einer

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sich vor Feuersnot, so machte er Sankt Lorenz zum Nothelfer. Fürchtete er sich vor Seuchen, so legte er Sankt Sebastian oder Rochius ein Gelübde ab. Solche Gräuel gab es noch unzählige mehr, da jeder seinen Heiligen wählte, anbetete und anrief in der Not zu helfen. Hierher gehören auch diejenigen, die es besonders grob treiben und mit dem Teufel einen Bund machen, dass er ihnen genügend Geld gebe oder zu einer Liebschaft verhelfe, ihr Vieh bewahre, verlorenes Gut wiederbeschaffe usw., wie die Zauberer und Schwarzkünstler. Denn diese alle setzen ihr Herz und ihr Vertrauen auf etwas anderes als auf den wahrhaftigen Gott: Sie erwarten das Gute nicht von ihm und suchen es auch nicht bei ihm. Also verstehst du nun einigermaßen, was und wie viel dieses Gebot fordert, nämlich das ganze Herz des Menschen und alle Zuversicht auf Gott allein und niemanden anders. Wer Gott haben möchte, ist sich darüber im Klaren, dass man ihn nicht mit Fingern ergreifen und fassen noch in eine Tasche stecken oder in einen Kasten schließen kann. Vielmehr wird er erfasst, wenn ihn das Herz ergreift und an ihm hängt. Mit dem Herzen aber an ihm hängen ist nichts anderes, als sich gänzlich auf ihn verlassen. Darum will er uns von allem anderen abwenden, das außer ihm ist, und zu sich ziehen, weil er das einzige ewige Gut ist. Er will uns sagen: Was du zuvor bei den Heiligen gesucht oder wofür du auf den Mammon und anderes vertraut hast, das suche alles bei mir und halte mich für den, der dir helfen und dich mit allem Guten reichlich überschütten will. … Den einfachen Menschen aber sage ich, dass sie sich das Verständnis dieses Gebotes wohl merken und behalten, dass man Gott allein trauen und nur Gutes von ihm erhoffen und von ihm erwarten soll. Er gibt uns Leib, Leben, Essen, Trinken, Nahrung, Gesundheit, Schutz, Friede und alles, was not ist, an zeitlichen und ewigen Gütern. Dazu bewahrt er vor Unglück und, so uns etwas zustößt, rettet er und hilft heraus. Somit ist Gott, wie ich mehrfach gesagt habe, allein der, von dem man alles Gute empfängt und bei dem man alles Unglück los wird. Daher auch, so denke ich, nennen wir Deutschen Gott eben mit dem Namen von alters her – feiner und artiger als keine andere Sprache – nach dem Wörtlein »gut«. Er ist eine ewige Quelle, aus der nichts als Güte hervorquillt und von dem alles, was gut ist und heißt, herausfließt. Denn ob uns gleich sonst viel Gutes von Menschen widerfährt, so heißt es doch alles von Gott empfangen, was man durch seinen Befehl und seine Ordnung empfängt. Denn unsere Eltern und alle Obrigkeit,

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dazu ein jeder gegen seinen Nächsten, haben den Befehl, dass sie uns allerlei Gutes tun, sodass wir es also nicht von ihnen, sondern durch sie von Gott empfangen. Denn die Kreaturen sind nur die Hand, der Kanal und das Mittel, wodurch Gott alles gibt, wie er der Mutter Brüste und Milch gibt, dem Kind zu reichen, Korn und allerlei Gewächs aus der Erde zur Nahrung. Keine Kreatur kann eines dieser Güter selbst machen. Deshalb soll sich kein Mensch unterstehen, etwas zu nehmen oder zu geben, es sei denn von Gott befohlen, damit man es erkenne als seine Gabe und ihm darum danke, wie dieses Gebot es fordert. Darum dürfen wir auch die Mittel, durch die wir von den Kreaturen Gutes empfangen, nicht ausschlagen, und wir dürfen auch nicht in Vermessenheit andere Weisen und Wege suchen, als Gott befohlen hat. Denn das hieße nicht von Gott empfangen, sondern bei sich selbst suchen. … Darum lasst uns das erste Gebot gut lernen, damit wir sehen, dass Gott keine Vermessenheit noch Vertrauen auf irgendein anderes Ding dulden will und nichts Höheres von uns fordert als eine herzliche Zuversicht auf alles Gute. Also dass wir richtig und gerade vorangehen und alle Güter, die Gott gibt, nicht anders gebrauchen als wie ein Schuster seine Nadel, Ahle und Draht gebraucht zur Arbeit und danach weglegt. Oder wie ein Gast Herberge, Futter und Lager allein aus äußerlichen Gründen benutzt. Ein jeder handle in seinem Stand nach Gottes Ordnung und lasse nur keines der Güter seinen Herrn oder Abgott sein. Das sei genug gesagt vom ersten Gebot. Wir haben das mit Worten breit darlegen müssen, weil es darauf am allermeisten ankommt. Denn, wie zuvor gesagt, wenn das Herz mit Gott verbunden ist und dieses Gebot gehalten wird, folgt die Erfüllung der anderen von selbst.

Von der Taufe Nun muss noch gesprochen werden von unseren zwei Sakramenten, die von Christus eingesetzt wurden, wovon auch jeder Christ wenigstens eine allgemeine kurze Unterweisung haben muss, weil ohne diese Sakramente kein Christ sein kann. Gleichwohl hat man leider bisher nichts darüber gelehrt. Zuerst aber nehmen wir uns die Taufe vor, durch die wir ganz am Anfang in die Christenheit aufgenommen werden. Damit man es aber gut fassen kann, will ich es ordentlich behandeln und allein dabei bleiben, was uns nötig ist zu wissen. Denn wie

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man es erhalten und verteidigen müsse gegen die Ketzer und Rotten, wollen wir den Gelehrten überlassen. Zuerst muss man vor allen Dingen die Worte wohl wissen, auf die die Taufe gegründet ist und auf die sich alles bezieht, was davon zu sagen ist, nämlich wenn der Herr Christus spricht in Matthäus im letzten Kapitel (Matthäus 28,19): »Gehet hin in alle Welt, machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Ferner Markus im letzten Kapitel (Markus 16,16): »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.« Bei diesen Worten sollst du erstens merken, dass hier Gottes Gebot und Einsetzung steht. Es gibt keinen Zweifel, dass die Taufe eine göttliche Sache ist, nicht von Menschen erdacht und erfunden. Denn wie ich sagen kann, die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser hat kein Mensch aus seinem Kopf gesponnen, sondern sie sind von Gott selbst offenbart und gegeben, so kann ich auch rühmen, dass die Taufe kein Menschentand ist, sondern von Gott selbst eingesetzt. Überdies ist ernst und streng geboten, dass wir uns taufen lassen. Sonst würden wir nicht selig werden. Man soll nicht denken, es sei eine so leichte Angelegenheit, wie einen neuen roten Rock anziehen. Denn daran liegt am meisten, dass man die Taufe vortrefflich, herrlich und hoch halte. Denn darum streiten und fechten wir am meisten, weil die Welt jetzt so voller Rotten ist, die da schreien, die Taufe sei eine äußerliche Angelegenheit. Äußerliche Dinge seien aber nichts nütze. Aber lass es ein äußerliches Ding sein, wie auch immer, es steht da aber Gottes Wort und Gebot, das die Taufe einsetzt, begründet und bestätigt. Was aber Gott einsetzt und gebietet, kann nicht vergeblich, sondern muss ein wahrhaft köstliches Ding sein, wenn es auch dem Ansehen nach geringer als ein Strohhalm wäre. Wenn man es bisher hat groß achten können, wenn der Papst mit Briefen und Bullen Ablass austeilte, Altäre oder Kirchen bestätigte, allein um der Briefe und Siegel willen, so müssen wir die Taufe als viel höher und köstlicher ansehen, weil sie Gott befohlen hat und sie überdies in seinem Namen geschieht. Denn also lauten die Worte: Gehet hin, tauft – aber nicht in eurem, sondern in Gottes Namen. Denn in Gottes Namen getauft zu werden, bedeutet nicht von Menschen, sondern von Gott selbst getauft zu werden. Ob es also gleich durch des Menschen Hand geschieht, ist es doch wahrhaft Gottes eigenes Werk. …

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Also muss man die Taufe ansehen und Nutzen daraus ziehen, dass wir uns stärken und trösten, wenn uns unsere Sünde oder Gewissen beschwert, und sagen: Ich bin getauft; bin ich aber getauft, so ist mir zugesagt, ich solle selig werden und das ewige Leben haben – mit Seele und Leib. Denn darum geschieht dieses beides in der Taufe, dass der Leib übergossen wird, welcher nicht mehr erkennen kann als das Wasser, und dazu das Wort gesprochen wird, dass die Seele auch begreifen könne. Weil nun beide, Wasser und Wort, eine Taufe ist, so muss auch beides, Leib und Seele, selig werden und ewig leben. Die Seele durch das Wort, an das sie glaubt, der Leib aber, weil er mit der Seele vereinigt ist und die Taufe auch ergreift, wie er sie ergreifen kann. Darum haben wir an unserem Leib und Seele kein größeres Schmuckstück. Denn dadurch werden wir ja heilig und selig, welches sonst kein Leben, kein Werk auf Erden erlangen kann. Das sei nun genug gesagt von dem Wesen, Nutzen und Brauch der Taufe, soviel hierher passt. An dieser Stelle fällt nun eine Frage ein, womit der Teufel durch seine Rotten die Welt verwirrt, von der Taufe der Kinder, ob sie auch glauben und recht getauft werden. Dazu sagen wir in Kürze: Wer keine besondere Bildung hat, wehre die Frage ab und verweise sie zu den Gelehrten. Willst du aber antworten, so antworte so: Dass die Kindertaufe Christus gefällt, beweist sich zur Genüge aus seinem eigenen Werk, nämlich dass Gott viele von denen heilig machte und ihnen den Heiligen Geist gegeben hat, die so getauft wurden. Und auch heutzutage sind noch viele, an denen man spürt, dass sie den Heiligen Geist haben, beide, der Lehre und des Lebens halber. Wie uns von Gottes Gnade auch gegeben ist, dass wir ja die Schrift auslegen und Christus erkennen können, welches ohne den Heiligen Geist nicht geschehen kann. Wo aber Gott die Kindertaufe nicht annähme, würde er keinem von diesen den Heiligen Geist oder auch nur ein Stück davon geben. Kurz und bündig: Es dürfte seit langer Zeit bis auf diesen Tag kein Mensch auf der Erde Christ sein. Weil nun Gott die Taufe bestätigt durch Eingeben seines Heiligen Geistes, wie man an nicht wenigen Vätern wie Sankt Bernhard, Gerson, Johann Hus und anderen wohl spürt, und die heilige christliche Kirche nicht untergeht bis ans Ende der Welt, so müssen sie bekennen, dass die Kindertaufe Gott gefällig sei. Denn er kann ja nicht gegen sich selbst sein oder den Lügen und dem Frevel helfen noch seine Gnade und Geist dazu geben. Dies ist beinahe der beste und stärkste Beweis für die einfachen und ungelehrten Menschen. Man wird uns diesen Artikel: »Ich glaube eine heilige

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christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen usw.« nicht nehmen noch umstoßen. Danach sagen wir weiter, dass nicht viel daran liegt, ob der, der da getauft wird, glaubt oder nicht glaubt. Denn darum wird die Taufe nicht unrecht, sondern an Gottes Wort und Gebot liegt es alles. … Aufs Letzte ist auch notwendig zu wissen, was die Taufe bedeutet und warum Gott eben dieses äußerliche Zeichen und Gebärde anordnet als das Sakrament, wodurch wir am Anfang in die Christenheit aufgenommen werden. Das Werk oder die Gebärde ist das, dass man uns ins Wasser senkt, das über uns hergeht, und danach wieder herauszieht. Diese zwei Stücke, unter das Wasser sinken und wieder herauskommen, deuten die Kraft und das Werk der Taufe, welches nichts anderes ist als die Tötung des alten Adams, danach die Auferstehung des neuen Menschen. Beides soll unser Leben lang in uns vorgehen, sodass ein christliches Leben nichts anderes ist als eine tägliche Taufe, einmal angefangen und immer darin weitergegangen. Denn es muss ohne Unterlass also getan werden, dass man immer ausfege, was des alten Adams ist, und hervorkomme, was zum neuen gehört. Was ist denn der alte Mensch? Das ist der, der uns angeboren ist von Adam: zornig, hasserfüllt, neidisch, unkeusch, geizig, faul, überheblich, ja ungläubig, mit allen Lastern besetzt und von Natur nichts Gutes an ihm. Wenn wir nun in Christi Reich kommen, soll dies täglich abnehmen, sodass wir je länger je milder, geduldiger, sanftmütiger werden, den Unglauben, Geiz, Hass, Neid, Überheblichkeit immer mehr ablegen. … Und hier siehst du, dass die Taufe mit beidem, mit ihrer Kraft und Bedeutung, auch das dritte Sakrament umgreift, welches man Buße genannt hat. Sie ist eigentlich nichts anderes als die Taufe. Denn was heißt Buße anderes, als den alten Menschen mit Ernst angreifen und in ein neues Leben treten? Darum, wenn du Buße tust, so gehst du in die Taufe, welche dieses neue Leben nicht allein deutet, sondern auch bewirkt, anhebt und antreibt. Denn darin wird Gnade, Geist und Kraft gegeben, den alten Menschen zu unterdrücken, dass der neue hervorkomme und stark werde. Darum bleibt die Taufe immerdar stehen. Und obgleich jemand davon abfällt und sündigt, haben wir doch immer einen Zugang dazu, dass man den alten Menschen wieder unter sich werfe. Aber mit Wasser darf man uns nicht mehr begießen. Denn ob man sich gleich hundertmal ließe ins Wasser senken, so ist es doch nicht mehr als eine Taufe, das Werk aber und die Bedeutung gehen weiter und bleiben. Also ist die Buße nichts anderes als eine Rückkehr

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und ein Hinzutreten zur Taufe, dass man das wiederholt und macht, was man zuvor angefangen und doch wieder davon abgelassen hat. … Also sieht man, was für eine vortreffliche Angelegenheit es ist um die Taufe. Sie reißt uns aus dem Hals des Teufels, macht uns Gott zu eigen, dämpft die Sünden und nimmt sie weg. Danach stärkt sie täglich den neuen Menschen und geht immer weiter und bleibt, bis wir aus diesem Elend zur ewigen Herrlichkeit kommen. Darum soll ein jeder die Taufe als sein tägliches Kleid ansehen, in dem er immerdar gehen soll, damit er sich allezeit im Glauben und seinen Früchten finden lasse, damit er den alten Menschen dämpfe und im neuen wachse. Denn wollen wir Christen sein, so müssen wir das Werk treiben, wovon wir Christen sind. Fällt aber jemand heraus, so komme er wieder hinzu. Denn wie Christus, der Gnadenstuhl, darum nicht weicht noch uns wehrt, wieder zu ihm zu kommen, ob wir gleich sündigen, so bleiben auch alle seine Schätze und Gaben. Wie du nun einmal in der Taufe die Vergebung der Sünden bekommen hast, so bleibt sie noch täglich, solange wir leben, das heißt solange wir den alten Menschen am Hals tragen.

Luthers Anleitung zum Beten

Die Reformation hat mit vielen Ausdrucksformen der christlichen Frömmigkeit gebrochen. Es gab keine Heiligenanrufung mehr, Wallfahrten wurden eingestellt, Ablass konnte nicht mehr erworben werden. Das Wesen christlichen Glaubens sah Luther vielmehr im Hören auf die lebendige Verkündigung des Evangeliums und im Gebet. Luther hat viel zum Thema Gebet geschrieben und gab auch vielfach Zeugnis von seinem eigenen Beten. Besonders eindrucksvoll und auch heute noch anregend für das persönliche Beten ist Luthers 1535 »für einen guten Freund« verfasste »Einfältige Weise zu beten«. Luther ging es in seiner eigenen Frömmigkeit nicht darum, fromme Abb. 6: Luther als Heiliger Werke zu tun, sondern um wahrhaftige Selbsterkenntnis und um die Gewissheit von Gottes Barmherzigkeit. Das spürt und merkt man ganz besonders beim Lesen dieser Gebetsanleitung. Luther sah sich nie als Heiligen, sondern immer, und auch das wird an seiner Gebetsanleitung deutlich, als Sünder. Dennoch hat man ihn auch, schon zu Lebzeiten, als Heiligen angesehen und gemalt. Der Straßburger Maler Hans Baldung Grien schuf 1521 einen Holzschnitt, der Luther mit einem Heiligenschein zeigt (Abb. 6). Martin Luther, Eine einfältige Weise zu beten (1535): WA 38, S. 351–375; DDStA 1, S. 599–631.

Erstens: Wenn ich fühle, dass ich durch fremde Geschäfte oder Gedanken kalt und lustlos zu beten geworden bin – auf welche Weise das Fleisch und der Teufel allezeit das Gebet abwehren und behindern –, so nehme ich mein Psalterlein, laufe in die Kammer oder, wenn es der richtige Tag und die richtige Zeit ist, in die Kirche zur Gemeinde und fange an, die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und, je nachdem ich Zeit habe, einige Worte Christi, des Paulus oder der Psalmen laut vor mich hin zu sprechen, wie es die Kinder tun.

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Darum ist es gut, wenn man frühmorgens das Gebet das erste und des Abends das letzte Werk sein lässt. Und man soll sich mit Fleiß vor diesen falschen, trügerischen Gedanken hüten, die da sagen: Warte ein wenig, in einer Stunde will ich beten, ich muss dies oder das zuvor erledigen. Denn mit solchen Gedanken kommt man vom Gebet in die Geschäfte, und die halten und umfangen einen dann, sodass aus dem Gebet den Tag über nichts mehr wird. Allerdings können etliche Dinge vorkommen, die ebenso gut oder besser als das Gebet sind, insbesondere wenn sie die Not fordert. So lautet zum Beispiel ein Wort, das dem Hieronymus6 zugeschrieben wird: »Alles Werk der Gläubigen ist Gebet.« Und ein Sprichwort lautet: »Wer zuverlässig arbeitet, der betet doppelt.« Das ist richtig, weil ein gläubiger Mensch bei seiner Arbeit Gott fürchtet und ehrt und an Gottes Gebot denkt, niemandem unrecht zu tun noch jemanden zu bestehlen oder zu übervorteilen oder etwas zu veruntreuen. Solche Gedanken und dieser Glaube machen ohne Zweifel aus seinem Werk zusätzlich ein Gebet und Lobopfer. Umgekehrt ist es dagegen auch wahr, dass das Werk eines Ungläubigen lauter Fluchen ist und dass, wer nachlässig arbeitet, doppelt flucht. Denn seines Herzens Gedanken sind in seiner Arbeit so ausgerichtet, dass er Gott verachtet und die Absicht hat, Gottes Gebot zu übertreten und seinem Nächsten Unrecht zu tun, zu stehlen und zu veruntreuen. Solche Gedanken sind nichts anderes als lauter Flüche gegen Gott und die Menschen, durch welche sein Werk und seine Arbeit auch ein zweifacher Fluch wird, mit dem er sich selbst verflucht. Und solche Leute bleiben dann auch Bettler und Stümper. Von diesem ständigen Gebet spricht Christus Lukas 11,9ff.: Man soll ohne Unterlass beten – denn man soll sich ohne Unterlass vor Sünden und Unrecht hüten. Das kann nicht geschehen, wenn man Gott nicht fürchtet und sein Gebot nicht vor Augen hat, wie Psalm 1,2 sagt: »Wohl dem, der Tag und Nacht an Gottes Gebot denkt« usw. Jedoch müssen wir auch darauf achten, dass wir uns das eigentliche Gebet nicht abgewöhnen und zuletzt selbst Werke für nötig halten, die es doch nicht sind. Wir könnten dadurch zuletzt müde und faul, kalt und überdrüssig zum Gebet werden. Denn der Teufel um uns her ist nicht faul noch müde. Ebenso ist unser Fleisch noch allzu lebendig und bereit zur Sünde und dem Geist des Gebets abgeneigt. 6 Kirchenvater, lebte ca. 354 bis ca. 420.

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Luthers Anleitung zum Beten

Wenn nun das Herz durch dieses Vor-sich-Hinsprechen erwärmt und zu sich selbst gekommen ist, so knie nieder oder stehe mit gefalteten Händen und die Augen zum Himmel gerichtet und sprich oder denke so konzentriert, wie du kannst: Ach himmlischer Vater, du lieber Gott! Ich bin ein unwürdiger, armer Sünder und nicht wert, dass ich meine Augen oder Hände zu dir erhebe oder bete. Aber weil du uns allen geboten hast zu beten und dazu auch Erhörung zugesagt hast und weil du selbst überdies uns beides, Worte und Weise, durch deinen lieben Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, gelehrt hast, so folge ich deinem Gebot, bin dir gehorsam und verlasse mich auf deine gnädige Zusage. Und im Namen meines Herrn Jesus Christus bete ich mit allen deinen heiligen Christen auf Erden, wie er mich gelehrt hat, das ganze Vaterunser, Wort für Wort.

Das Gebet des Vaterunsers Danach wiederhole ein Stück oder wie viele du willst, zum Beispiel die erste Bitte: »Geheiligt werde dein Name«, und sprich: Ach ja, Herr, Gott, lieber Vater, heilige doch deinen Namen sowohl in uns selbst als auch in aller Welt. Zerstöre und vertilge die Gräuel, Abgötterei und Ketzerei des Türken, des Papstes und aller falschen Lehrer oder Sektengeister, die deinen Namen fälschlich führen und so schändlich missbrauchen und grauenvoll lästern. Sie sagen und berufen sich darauf, es sei dein Wort und das Gebot der Kirche, obwohl es doch des Teufels Lüge und Betrügerei ist, womit sie unter deinem Namen so viele arme Seelen jämmerlich verführen in der ganzen Welt und dazu auch töten, unschuldiges Blut vergießen und verfolgen und meinen, dir damit einen Gottesdienst zu leisten. Lieber Herr, Gott, bekehre und wehre! Bekehre die, die noch bekehrt werden können, damit sie mit uns und wir mit ihnen deinen Namen heiligen und preisen mit rechter, reiner Lehre und mit gutem, heiligen Leben. Wehre aber denen, die sich nicht bekehren wollen, dass sie aufhören müssen, deinen heiligen Namen zu missbrauchen, zu schänden und zu entehren und die armen Menschen zu verführen. Amen. Bete die zweite Bitte: »Dein Reich komme«, und sprich: Ach lieber Herr, Gott, Vater, du siehst, wie nicht allein Weisheit und Vernunft der Welt deinen Namen schändet und die dir zustehende Ehre der Lüge und dem Teufel gibt, sondern wie die Menschen auch die Gewalt, Macht, Reichtum und Ehre, die du ihnen auf Erden gegeben hast, um

Luthers Anleitung zum Beten115

weltlich zu regieren und dir damit zu dienen, gegen dein Reich einsetzten und ihm widerstreben. Sie sind groß, mächtig und viel, dick, fett und satt und plagen, behindern, zerstören die kleine Schar deines Reiches, die schwach, verachtet und gering an Zahl ist. Sie wollen sie auf Erden nicht leiden, meinen aber gleichwohl, dir damit einen großen Gottesdienst zu leisten. Lieber Herr, Gott, Vater, bekehre und wehre! Bekehre die, die noch Kinder und Glieder deines Reiches werden können, dass sie mit uns und wir mit ihnen dir in deinem Reich in rechtem Glauben und wahrhaftiger Liebe dienen und aus diesem begonnenen Reich in das ewige Reich kommen. Wehre aber denen, die ihre Macht und ihr Vermögen nicht von deines Reiches Zerstörung abwenden wollen, sodass sie, vom Stuhl gestürzt und gedemütigt, ablassen müssen. Amen. Bete die dritte Bitte: »Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden«, und sprich: Ach lieber Herr, Gott, Vater, du weißt, wie die Welt, wo sie deinen Namen nicht ganz zunichte machen und dein Reich nicht ganz vertilgen kann, doch Tag und Nacht böse Absichten verfolgt. Sie planen viele Intrigen und durchtriebene Anschläge, sie halten Rat, besprechen sich im Geheimen, trösten und stärken sich, drohen und toben, gehen alle bösen Willens voll gegen deinen Namen, Wort, Reich und Kinder vor, um dieselben umzubringen. Darum, lieber Herr, Gott, Vater, bekehre und wehre! Bekehre die, die deinen guten Willen noch erkennen können, dass sie mit uns und wir mit ihnen deinem Willen gehorsam seien und darüber alles Übel, Kreuz und Widerwärtigkeit gern, geduldig und fröhlich erdulden und deinen gütigen, gnädigen, vollkommenen Willen hierin erkennen, erproben und erfahren. Wehre aber denen, die von ihrem Wüten, Toben, Hassen, Drohen und bösen Willen, Schaden zu tun, nicht ablassen wollen, und mache ihre Absichten, böse Anschläge und Praktiken zunichte und zuschanden, sodass es mit ihnen selbst ausgehe, wie es Psalm 7,16 besingt. Amen. … Bete die sechste Bitte: »Und führe uns nicht in Versuchung«, und sprich: Ach, lieber Herr, Gott, Vater, erhalte uns tapfer und mutig, eifrig und fleißig in deinem Wort und Dienst, dass wir nicht sicher, faul und träge werden, als hätten wir nun alles, sodass uns der grimmige Teufel nicht überfallen und überraschen und uns wieder dein liebes Wort nehmen oder Zwietracht und Spaltungen unter uns anrichten oder uns sonst in Sünde und Schande führen könne, geistlich oder leiblich. Sondern gib uns durch deinen Geist Weisheit und Kraft, dass wir ihm ritterlich widerstehen und den Sieg behalten. Amen.

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Luthers Anleitung zum Beten

Bete die siebte Bitte: »Sondern erlöse uns von dem Bösen«, und sprich: Ach, lieber Herr, Gott, Vater, es ist doch dieses elende Leben so voll Jammer und Unglück, so voll Gefährlichkeit und Unsicherheit, so voll Untreue und Bosheit, wie Paulus Epheser 5,16 sagt: »Es ist böse Zeit«, dass wir zu Recht des Lebens müde und des Todes begierig sein sollten. Aber du, lieber Vater, kennst unsere Schwachheit. Darum hilf uns durch solch mannigfaltiges Übel und Bosheit sicher hindurch und, wenn die Zeit kommt, gib uns ein gnädiges Stündlein und seligen Abschied von diesem Jammertal, sodass wir vor dem Tod nicht erschrecken noch verzagen, sondern mit festem Glauben unsere Seele in deine Hände befehlen. Amen. Zuletzt achte darauf, dass du das »Amen« jedesmal betonst und nicht zweifelst, Gott höre dir gewiss mit aller Gnade zu und sage Ja zu deinem Gebet. Und denke ja daran, dass du nicht alleine da kniest und stehst, sondern die ganze Christenheit, alle frommen Christen bei dir sind und du unter ihnen in einmütigem, einträchtigem Gebet, welches Gott nicht missachten kann. Und geh nicht weg vom Gebet, du hättest denn gesagt oder gedacht: Wohlan, dieses Gebet ist bei Gott erhört, das weiß ich gewiss und fürwahr. Das heißt: »Amen«. Auch sollst du wissen, dass ich diese Worte nicht alle als Gebet gesprochen haben will. Denn da würde doch zuletzt ein Geplapper und nichts als leeres Gewäsch daraus, aus dem Buch oder Buchstaben dahergelesen, wie die Rosenkränze bei den Laien und die Gebete der Pfaffen und Mönche gewesen sind. Sondern ich will das Herz damit angereizt und unterrichtet haben, was für Gedanken es beim Vaterunser haben soll. Solche Gedanken aber kann das Herz, wenn es recht erwärmt und zum Beten geneigt ist, wohl mit ganz anderen Worten, auch wohl mit weniger oder mehr Worten aussprechen. Denn ich selbst binde mich auch an solche Worte und Silben nicht, sondern spreche die Worte heute so, morgen anders, je nachdem mir zumute ist, bleibe aber doch gleichwohl bei denselben Gedanken und demselben Sinn, so gut ich immer kann. Es kommt wohl oft vor, dass ich bei einem Abschnitt oder einer Bitte in so viele Gedanken komme, dass ich die anderen sechs Bitten alle zurückstelle. Und wenn solche reichen, guten Gedanken kommen, soll man die anderen Gebete sein lassen und solchen Gedanken Raum geben und still zuhören und sie auf keinen Fall behindern. Denn da predigt der Heilige Geist selbst. Und ein Wort von seiner Predigt ist weit besser als tausend unserer Gebete. Und ich habe so auch oft mehr in einem Gebet gelernt, als ich aus vielem Lesen

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und Nachsinnen hätte gewinnen können. Darum kommt es am meisten darauf an, dass sich das Herz zum Gebet frei und geneigt macht, wie auch Sirach 18,23 sagt: »Bereite dein Herz auf das Gebet vor, damit du nicht Gott versuchst.« Was ist es anderes als Gott versuchen, wenn das Maul plappert und das Herz mit seinen Gedanken anderswo ist? … Das ist kurz vom Vaterunser oder vom Gebet gesagt, wie ich selbst zu beten pflege. Denn ich sauge noch heutzutage an dem Vaterunser wie ein Kind, trinke und esse davon wie ein alter Mensch und kann daran nicht satt werden. Es ist mir auch über den Psalter hinaus, den ich doch sehr lieb habe, das allerliebste Gebet. Fürwahr, es zeigt sich, dass es der rechte Meister aufgestellt und gelehrt hat. Es ist ein großer Jammer, dass dieses Gebet dieses Meisters so ohne alle Andacht in aller Welt zerplappert und zerklappert wird. Viele beten im Jahr vielleicht etliche tausend Vaterunser. Und wenn sie tausend Jahre so beten sollten, so hätten sie doch nicht einen Buchstaben oder Punkt davon geschmeckt noch gebetet. Kurzum: Das Vaterunser ist der größte Märtyrer – ebenso wie der Name Gottes und das Wort Gottes – auf Erden. Denn jedermann plagt es und missbraucht es, nur wenige trösten es und machen es fröhlich durch rechten Gebrauch.

Die Zehn Gebote als Gebetsübung Wenn ich aber noch Zeit und Gelegenheit neben dem Vaterunser habe, so mache ich es mit den Zehn Geboten auch so wie mit ihm und wiederhole ein Stück nach dem anderen, damit ich ja, so viel es möglich ist, ganz zum Gebet frei werde. Ich mache aus jedem Gebot ein vierfaches oder ein vierfach gewundenes Kränzlein. Ich nehme nämlich jedes Gebot erstens als eine Lehre, was es ja wirklich an sich ist, und bedenke, was Gott, unser Herr, in ihm so entschieden von mir fordert. Zweitens mache ich eine Danksagung daraus, drittens eine Beichte und viertens ein Gebet, und zwar so oder mit ähnlichen Gedanken und Worten: »Ich bin der Herr, dein Gott«, usw. »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir« usw. Hier bedenke ich erstens, dass Gott von mir fordert und mich lehrt herzliche Zuversicht zu ihm in allen Dingen und dass es sein voller Ernst ist, dass er mein Gott sein wolle und dass ich ihn dafür halten solle bei Verlust der ewigen Seligkeit und dass mein Herz sonst auf nichts bauen noch vertrauen solle, es sei Gut, Ehre, Weisheit, Gewalt, Heiligkeit oder irgendeine Kreatur.

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Zweitens danke ich für seine von mir nicht verdiente Barmherzigkeit, dass er sich so väterlich zu mir verlorenem Menschen herunterneigt und sich mir selbst ungebeten, ungesucht, unverdient anbietet, mein Gott zu sein und sich meiner anzunehmen, und dass er in allen Nöten mein Trost, Schutz, Hilfe und Stärke sein will. Wir armen, blinden Menschen haben doch so mancherlei Götter gesucht und müssten sie noch suchen, wenn er selbst sich nicht so öffentlich hören ließe und sich nicht uns in unserer menschlichen Sprache anböte, dass er unser Gott sein wolle. Wer kann ihm dafür immer und ewig genug danken? Drittens beichte und bekenne ich meine große Sünde und Undankbarkeit, dass ich diese schöne Lehre und hohe Gabe durch mein ganzes Leben so schändlich verachtet und mit unzähligen Abgöttereien seinen Zorn so grauenvoll gereizt habe. Das tut mir leid und ich bitte um Gnade. Viertens bitte ich und spreche: Ach mein Gott und Herr, hilf mir durch deine Gnade, dass ich dieses dein Gebot täglich besser lernen und verstehen und mit herzlicher Zuversicht danach handeln möge. Behüte ja mein Herz, dass ich nicht mehr so vergesslich und undankbar werde, keine anderen Götter noch Trost auf Erden noch in allen Kreaturen suche, sondern allein rein und fein an dir, meinem einzigen Gott, bleibe. Amen. Lieber Herr, Gott, Vater: Amen. Danach behandle ich, wenn ich will oder Zeit habe, auch das zweite Gebot so auf vierfache Weise, nämlich so: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen« usw. Erstens lerne ich, dass ich Gottes Namen herrlich, heilig und rein halten, nicht mit ihm schwören, fluchen, lügen, nicht überheblich sein noch eigene Ehre oder eigenen Ruhm suchen, sondern demütig seinen Namen anrufen, anbeten, preisen und rühmen soll. Und ich lasse das meine ganze Ehre und meinen ganzen Ruhm sein, dass er mein Gott ist und ich seine arme Kreatur und sein unwürdiger Diener bin. Zweitens danke ich für die herrlichen Gaben, dass er mir seinen Namen offenbart und gegeben hat, dass ich mich seines Namens rühmen und Gottes Diener, Kreatur usw. nennen lassen kann, dass sein Name meine Zuflucht ist wie eine feste Burg – wie Salomo Sprüche 18,10 sagt –, zu welcher der Gerechte flieht und wo er beschirmt wird. Drittens beichte und bekenne ich meine schändliche, schwere Sünde gegen dieses Gebot, die ich mein Leben lang getan habe. Ich habe seinen heiligen Namen nicht nur nicht angerufen, nicht gerühmt und nicht geehrt, sondern bin auch undankbar für diese Gabe gewe-

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sen und habe denselben zu allerlei Schande und Sünde missbraucht durch Schwören, Lügen, Betrügen usw. Das tut mir leid, und ich bitte deshalb um Gnade und Vergebung. Viertens bitte ich um Hilfe und Stärke, damit ich in Zukunft dieses Gebot recht lernen möge und Gott mich vor der schändlichen Undankbarkeit, dem Missbrauch und der Sünde gegen seinen heiligen Namen behüte, sodass er mich dankbar findet und in rechter Furcht und Ehre seines Namens. Und wie ich oben beim Vaterunser gesagt habe, ermahne ich abermals: Wenn bei solchen Gedanken der Heilige Geist käme und anfinge in dein Herz zu predigen mit reichen, erleuchteten Gedanken, so tu ihm Ehre und lass die von dir gefassten Gedanken los, werde still und höre dem zu, der es besser kann als du. Und was er predigt, das merke und schreibe es auf, so wirst du, wie David Psalm 119,18 sagt, am Gesetz Gottes Wunder erfahren. Das dritte Gebot: »Gedenke des Feiertags, dass du ihn heiligst.« Hier lerne ich erstens, dass der Feiertag ein Gesetz ist nicht zum Müßiggang noch zu fleischlichem Wohlleben, sondern damit er von uns geheiligt werde. Durch unsere Werke aber und unser Tun wird er nicht geheiligt, denn unsere Werke sind nicht heilig, sondern geheiligt wird er durch das Wort Gottes, welches allein ganz rein und heilig ist und alles heiligt, was damit Umgang hat, sei es Zeit, Stätte, Person, Werk, Ruhe usw. Denn durch das Wort werden unsere Werke auch heilig, wie Paulus 1. Timotheus 4,5 sagt, sodass auch alle Kreatur durch das Wort und Gebet geheiligt wird. Darum erkenne ich durch das Gebot, dass ich am Feiertag vor allem Gottes Wort hören und bedenken, danach mit dem gleichen Wort danken, Gott für alle seine Wohltat loben und für mich und alle Welt beten soll. Wer sich so am Feiertag verhält, der heiligt den Feiertag. Wer es nicht tut, der verhält sich schlimmer als die, die am Feiertag arbeiten. Zweitens danke ich bei diesem Gebot für die große, schöne Wohltat und Gnade Gottes, dass er uns sein Wort und seine Predigt gegeben und am Feiertag besonders zu üben befohlen hat. Diesen Schatz kann kein menschliches Herz ausreichend bedenken. Denn sein Wort ist das einzige Licht in der Finsternis dieses Lebens und ein Wort des Lebens, Trostes und aller Seligkeit. Und wo das liebe, heilsame Wort nicht ist, da ist nichts als schreckliche, grauenvolle Finsternis, Irrtum, Spaltungen, Tod, alles Unglück und des Teufels eigene Tyrannei, wie wir täglich vor Augen haben.

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Drittens beichte und bekenne ich meine große Sünde und schändliche Undankbarkeit, dass ich die Feiertage mein Leben lang so lasterhaft verbracht und sein teures, wertes Wort so jämmerlich verachtet habe. Ich war faul, lustlos und überdrüssig, dasselbe zu hören, geschweige denn, dass ich es herzlich begehrt oder jemals dafür gedankt hätte. Ich habe so meinen lieben Gott mir umsonst predigen und den edlen Schatz fahren lassen und bin mit Füßen darüber gegangen, was er aber mit lauter göttlicher Güte von mir ertragen und deshalb nicht nachgelassen hat, mir immerfort zu predigen und mich zu meiner Seelen Seligkeit zu rufen mit aller väterlicher, göttlicher Liebe und Treue. Das tut mir leid und ich bitte um Gnade und Vergebung. Viertens bete ich für mich und alle Welt, dass der liebe Vater uns bei seinem heiligen Wort erhalten und dasselbe nicht um unserer Sünde, Undankbarkeit und Faulheit willen von uns nehmen wolle. Er möge uns vor Sektengeistern und falschen Lehrern behüten. Er sende uns treue und rechte Arbeiter in seine Ernte, nämlich treue und fromme Pfarrer und Prediger. Er gebe uns allen auch Gnade, dass wir deren Worte als seine Worte demütig hören, annehmen und ehren, dazu auch von Herzen dafür danken und loben usw. Das vierte Gebot: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« Erstens lerne ich hier Gott, meinen Schöpfer, erkennen, und zwar wie wunderbar er mich mit Leib und Seele geschaffen, mir aus meinen Eltern das Leben geschenkt hat. Er hat ihnen das Herz gegeben, dass sie mir, als ihres Leibes Frucht, mit allen Kräften gedient, mich zur Welt gebracht, mich ernährt, mich betreut, mich gepflegt und mich mit großem Fleiß, Sorge, Gefahr, Mühe und Arbeit erzogen haben. Und er hat bis auf diese Stunde mich, sein Geschöpf, an Leib und Seele vor unzähligen Gefahren und Nöten behütet und mir auch oft ausgeholfen, als würde er mich jede Stunde aufs Neue erschaffen. Denn der Teufel gönnt uns nicht einen Augenblick lang das Leben. Zweitens danke ich dem reichen, gütigen Schöpfer für mich und alle Welt, dass er mit diesem Gebot die Vermehrung und den Erhalt des menschlichen Geschlechts gestiftet und gesichert hat, nämlich das Haus und den Staat, das Familienleben und das öffentliche Leben. Denn ohne diese zwei Institutionen oder Regimente könnte die Welt nicht ein Jahr lang bestehen, weil ohne weltliches Regiment kein Friede wäre. Wo kein Friede ist, kann kein Hauswesen sein, wo kein Hauswesen ist, da können weder Kinder gezeugt noch erzogen werden und müsste der Vater- und Mutterstand ganz aufhören. Aber dafür

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steht dieses Gebot ein und hält und bewahrt beide, Hauswesen und Staatswesen, gebietet den Kindern und Untertanen Gehorsam, wacht auch darüber, dass es geschehen muss. Und wenn es nicht geschieht, lässt Gott es nicht ungestraft. Sonst hätten die Kinder durch Ungehorsam längst alles Hauswesen und die Untertanen durch Aufruhr das Staatswesen zerrissen und wüst gemacht, weil es viel mehr Kinder und Untertanen gibt als Eltern und Regenten. Darum ist diese Wohltat nicht mit Worten zu beschreiben. Drittens beichte und bekenne ich meinen elenden Ungehorsam und meine Sünde, dass ich entgegen diesem Gebot meines Gottes weder meine Eltern geehrt habe noch ihnen gehorsam gewesen bin. Ich habe sie oft erzürnt und beleidigt, ihre elterliche Strafe nur mit Ungeduld angenommen, gegen sie gemurrt, ihre treue Ermahnung verachtet. Ich bin vielmehr loser Gesellschaft und Bösewichten gefolgt, obwohl doch Gott selbst solche ungehorsamen Kinder verflucht und ihnen ein langes Leben abspricht, wie denn gar viele deswegen auch schändlich umkommen und untergehen, ehe sie erwachsen werden. Denn wer Vater und Mutter nicht gehorcht, muss dem Henker gehorchen oder anders durch Gottes Zorn böse um sein Leben kommen usw. Das alles tut mir leid und ich bitte deswegen um Gnade und Vergebung. Viertens bete ich für mich und alle Welt, dass Gott uns seine Gnade verleihen und seinen Segen reichlich ausschütten wolle über Hausund Staatswesen, damit wir von nun an fromm werden, die Eltern in Ehren halten, den Herrschaften gehorsam sind, dem Teufel widerstehen und seinem Reizen zu Ungehorsam und Unfrieden nicht folgen. So werden wir durch unser Verhalten das Haus und das Land verbessern und den Frieden erhalten helfen, Gott zu Lob und Ehre, uns selbst zum Nutzen und allem Guten. Und wir werden seine Gaben erkennen und dafür danken. Hier soll mit inbegriffen sein auch das Gebet für die Eltern und Oberherren, dass ihnen Gott Verstand und Weisheit verleihe, uns friedlich und selig vorzustehen und zu regieren. Er behüte sie vor Tyrannei, Toben und Wüten und wende sie davon ab, damit sie Gottes Wort ehren, nicht verfolgen noch jemandem Unrecht tun. Denn solche hohen Gaben muss man mit Beten erlangen, wie Paulus Römer 12,12 lehrt. Sonst ist der Teufel der oberste Hofprediger, und es geht übel und wüst zu. … Das fünfte Gebot: »Du sollst nicht töten.« Hier lerne ich erstens, dass Gott von mir fordert, ich solle meinen Nächsten lieben, sodass

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ich ihm kein Leid an seinem Leibe tue, weder mit Worten noch mit Werken, nicht durch Zorn, Ungeduld, Neid, Hass oder irgendeine Bosheit mich an ihm räche oder ihm Schaden tue, sondern wissen soll, dass ich schuldig bin, ihm zu helfen und ihm in allen seinen äußerlichen Nöten beizustehen. Denn er hat mir mit diesem Gebot meines Nächsten Leib zu bewahren befohlen und umgekehrt meinem Nächsten befohlen, meinen Leib zu bewahren, wie Sirach 17,14 sagt: »Er hat jedem von uns seinen Nächsten befohlen.« Zweitens danke ich hier für die unaussprechliche Liebe, Sorge und Treue mir gegenüber, dass er einen solchen großen, starken Schutz und eine Mauer um mich herum aufgerichtet hat, dass alle Menschen verpflichtet sein sollen, mich zu schonen und mich zu behüten, und umgekehrt ich auch gegenüber allen Menschen. Er wacht auch darüber, und wo es nicht geschieht, hat er das Schwert zur Strafe derjenigen befohlen, die es nicht tun. Sonst, wo dieses sein Gebot und seine Stiftung nicht wären, würde der Teufel ein solches Morden unter uns Menschen anrichten, dass keiner auch nur eine Stunde sicher leben könnte, wie es denn geschieht, wenn Gott zürnt und die ungehorsame und undankbare Welt straft. Drittens beichte und klage ich hier über meine Bosheit und die der Welt, dass wir nicht nur für diese seine väterliche Liebe und Sorge für uns so grauenhaft undankbar sind, sondern auch – was ja doch überaus schändlich ist – dieses Gebot und diese Lehre nicht kennen, und sie auch nicht lernen wollen, sondern verachten, als gingen sie uns nichts an oder als hätten wir nichts davon. Wir verhalten uns dazu unbekümmert, machen uns kein Gewissen, dass wir unseren Nächsten entgegen diesem Gebot so verachten, verlassen, ja verfolgen und verletzen oder auch im Herzen wohl töten. Wir folgen unserem Zorn, Grimm und aller Bosheit, als täten wir recht und wohl daran. Fürwahr, hier ist es Zeit zu klagen und zu schreien über uns Bösewichte und blinde, wilde, ungütige Menschen. Wie die grimmigen Tiere treten, stoßen, kratzen, reißen, beißen und fressen wir einander und fürchten das ernste Gebot Gottes nicht. Viertens bitte ich, es wolle der liebe Vater uns dieses heilige Gebot erkennen lehren und helfen, dass wir uns auch daran halten und danach leben. Er behüte uns alle miteinander vor dem Mörder, der alles Mordens und Schadens Meister ist, und gebe seine reiche Gnade, damit die Menschen – und wir mit ihnen – zueinander freundlich, sanft und gütig werden, einander von Herzen vergeben und einer des

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anderen Mangel und Gebrechen christlich und brüderlich trage und wir so in rechtem Frieden und Einigkeit leben, wie dies Gott uns lehrt und von uns fordert. … Das neunte und zehnte Gebot: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hauses, ebenso nicht seines Weibes« usw. Das lehrt uns erstens, dass wir mit keinem Schein des Rechts unseres Nächsten Güter und was sein ist ihm abspannen, abwenden, abdrängen, sondern dabei helfen sollen, dass er es behalten möge, wie wir es selbst gerne uns geschehen lassen wollten. Das ist auch ein Schutz gegen die schlauen Kniffe und Intrigen der Weltweisen, die doch auch zuletzt ihre Strafe bekommen. Zweitens sollen wir dafür danken, drittens mit Reue und Leid unsere Sünde beichten, viertens um Hilfe und Stärke bitten, fromm zu werden und dieses Gebot Gottes zu halten. Das sind die Zehn Gebote vierfach abgehandelt, nämlich als ein Lehrbüchlein, als ein Dankbüchlein, als ein Beichtbüchlein und als ein Betbüchlein. Daraus soll das Herz zu sich selbst kommen und zum Gebet erwärmt werden. Aber sieh zu, dass du dir nicht alles auf einmal und zu viel vornimmst. Sonst wird der Geist müde. Ebenso muss ein gutes Gebet nicht lang sein und auch nicht in die Länge gezogen werden, sondern man soll oft und eifrig beten. Es reicht aus, wenn du ein Stück oder auch nur ein halbes findest, an dem du in deinem Herzen ein Feuerlein anzünden kannst. Aber das wird und muss der Geist geben und im Herzen weiter lehren, wenn es so mit Gottes Wort in Einklang gebracht und von fremden Geschäften und Gedanken frei gemacht ist.

Die Unfreiheit des menschlichen Willens und der verborgene Gott Neben Büchern, die zu einer erneuerten, lebendigen, evangelischen Frömmigkeit anleiten sollten, verfasste Luther auch anspruchsvolle theologische Werke, gedacht für Gelehrte. Am gewichtigsten unter allen, so sah das auch Luther selbst, war seine 1525 erschienene Abhandlung über die Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe oder nicht. Luther hatte diese Frage erstmals 1516 aufgeworfen und dann 1518 in Thesen aufgegriffen, die er an der Universität Heidelberg zur Diskussion stellte. Schon damals hatte er für seine Zeitgenossen und bis heute anstößig erklärt: Der Mensch ist nicht frei, sich für oder gegen Gott, für oder gegen den Glauben, für oder Abb. 7: Luther mit Doktorhut gegen das Heil zu entscheiden. Luthers Position rief jedoch Gegner auf den Plan. 1524 griff der angesehene Humanist Erasmus von Rotterdam, der damals in Basel lebte, zur Feder und stellte Luther in einer »Diatribe«, einer Streitschrift, seine Meinung gegenüber, dass der Mensch sehr wohl einen freien, wenn auch nur begrenzt freien Willen habe. Als Antwort verfasste Luther sein Buch »Über den versklavten Willen« (De servo arbitrio), in dem er nicht nur seine Heidelberger Position wiederholte und ausbaute, sondern auch zu zahlreichen weiteren schwierigen Fragen der Theologie Stellung bezog. Mit Erasmus, der selbst immer höflich und bescheiden auftrat, geht Luther schonungslos ins Gericht. Polemisch kanzelt er in unverblümter direkter Ansprache den großen, weltweit angesehenen Gelehrten ab, der daraufhin von Luther und der Reformation nichts mehr wissen wollte, sondern sich wieder konsequent zur alten Kirche hielt. Sein Selbstbewusstsein, großen Gelehrten und mächtigen Kirchenmännern zu widersprechen – Luther beschimpft die großen Theologen des Mittelalters gerne als »Sophisten« –, gewinnt Luther aus der Tatsache, dass er Doktor der Theologie war und als solcher Einsichten gewonnen hatte, welche die herkömmliche Theologie und Philosophie fundamental in Frage stellten. 1512 war er in Wittenberg promoviert worden. Lukas Cranach, der Luther am häufigsten porträtierte, zeichnete ihn auch mehrfach als Gelehrten, als Doktor der Theologie. Berühmt wurde das Profilbildnis von 1521, das Luther mit dem Doktorhut zeigt (Abb. 7).

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Martin Luther, De servo arbitrio (1525): WA 18, S. 600–787; Cl 3, S. 94–293; StA 3, S. 170–356; LDStA 1, S. 219–661.

Zuerst wollen wir, wie es richtig ist, bei der Definition selbst beginnen, mit welcher du den freien Willen folgendermaßen definierst: »Weiter verstehen wir hier unter dem freien Willen das Vermögen des menschlichen Willens, durch das der Mensch sich dem anpassen oder von dem abwenden kann, was zum ewigen Heil führt.« Weise, wahrlich, wird von dir die Definition ohne Zusatz hingestellt und keiner ihrer Teile erklärt – wie es doch die Gepflogenheit anderer ist –, denn du hast wohl gefürchtet, gleich mehrfach Schiffbruch zu erleiden. Daher sehe ich mich genötigt, auf die einzelnen Teile einzugehen. Sicher besagt der von dir definierte Gegenstand bei genauer Prüfung mehr als die Definition. Die Sophisten würden eine solche Definition fehlerhaft nennen, wenn die Definition das Definierte nicht voll umfasst. Denn wir haben oben nachgewiesen, dass der freie Wille niemandem zukommt als Gott allein. Ein gewisses Maß freier Entscheidung kannst du wohl dem Menschen mit Recht zubilligen, aber ihm in göttlichen Dingen einen freien Willen zuzubilligen, das geht zu weit. Denn mit dem Wort »freier Wille« wird nach dem Urteil aller, die das hören, etwas bezeichnet, was Gott gegenüber vermag und tut, was ihm gefällt, ohne durch irgendein Gesetz oder Gebot behindert zu werden. Denn du würdest ja auch einen Sklaven nicht als frei bezeichnen, der unter dem Gebot seines Herrn handelt. Wie viel weniger nennen wir einen Menschen oder einen Engel mit Recht frei, die unter Gottes universaler Gewalt – von Sünde und Tod ganz zu schweigen – so dahinleben, dass sie keinen Augenblick aus eigener Kraft bestehen können. … Kommen wir jetzt zu den Teilen, die den Angelpunkt der ganzen Frage ausmachen. Einige dieser Teile sind ohne weiteres klar, andere aber scheuen das Licht, als wenn sie alles zu fürchten hätten. Nichts aber muss klarer und sicherer sein als eine Definition. Unklar zu definieren ist dasselbe wie überhaupt nicht definieren. … Ich glaube also, dass unter »Kraft des menschlichen Willens« das Vermögen oder die Fähigkeit oder Geschicklichkeit oder Eignung, zu wollen und nicht zu wollen und zu verschmähen, zuzustimmen oder zurückzuweisen und was es sonst noch für Betätigungen des Willens gibt, zu verstehen ist. Aber was das bedeutet, dass dieselbe Kraft sich anpasst und abwendet, das sehe ich nicht, sondern nur das Wollen und Nichtwollen, das Wählen, Verschmähen, Zustimmen und das Zurückweisen, was ja eben Handlungen des Willens selbst sind. Stellen wir uns vor, jene

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Kraft sei gewissermaßen ein Mittelding zwischen dem Willen selbst und seiner Betätigung, wie ja der Wille die Tätigkeit des Wollens und Nichtwollens hervorbringt und auch die Tätigkeit des Wollens und Nichtwollens selbst hervorgerufen wird. Etwas anderes kann man sich hierbei weder vorstellen noch denken. Wenn ich mich nicht irre, liegt die Schuld beim Verfasser, der die Definition gegeben hat, nicht bei mir, der ich sie untersuche. Mit Recht sagen die Juristen: Wenn sich jemand – obwohl er es hätte deutlicher sagen können – unklar ausdrückt, so können seine Worte gegen ihn ausgelegt werden. … Grob muss man reden, wenn man lehren und verstanden werden will. Das aber, was zum ewigen Heil führt, das sind nach meiner Meinung die Worte und Werke Gottes, die dem menschlichen Willen angeboten werden, damit er sich zu ihnen hinwenden oder sich von ihnen abwenden kann. Gottes Worte aber nenne ich das Gesetz und das Evangelium. Das Gesetz schreibt uns vor, was wir zu tun haben, das Evangelium fordert den Glauben. Denn etwas anderes gibt es nicht, um uns zur Gnade Gottes und zum ewigen Heil zu führen, als das Wort und Werk Gottes, da ja die Gnade und der Geist das Leben selbst bedeuten, zu dem wir durch Gottes Wort und Werk geführt werden. Dieses Leben oder ewige Heil ist aber dem menschlichen Fassungsvermögen unbegreiflich, wie Paulus 1. Korinther 2,9 aus Jesaja 64,4 zitiert: »Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben.« Denn gerade dies ist einer der wichtigsten Artikel unseres Glaubensbekenntnisses, wenn wir sagen: »und das ewige Leben«. Was aber der freie Wille für diesen Glaubensartikel bedeutet, das bezeugt Paulus 1. Korinther 2,10, indem er fortfährt: »Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist.« Das heißt: Wenn es der Geist nicht offenbarte, würde keines Menschen Herz davon etwas wissen oder daran denken. So fern ist es davon, sich dem zuzuwenden oder es anzustreben. Siehe die Erfahrung an, was die hervorragendsten Geister unter den Heiden über das künftige Leben und die Auferstehung gedacht haben. Ist es nicht so, dass ihnen, je mehr sie hochgebildet waren, die Auferstehung und das ewige Leben desto mehr als etwas Lächerliches erschienen? Waren jene griechischen Philosophen nicht kluge Männer, die doch in Athen den Paulus als eitlen Schwätzer und Verkünder neuer Götter bezeichneten, als er jenes lehrte (Apostelgeschichte 17,18)? Porcius Festus nannte Paulus (Apostelgeschichte 26,24) »wahnsinnig«, als er das ewige Leben predigte. … Denn im Geheimen kennt, glaubt und wünscht

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kein Mensch das ewige Leben, wenn man auch in Wort und Schrift viel davon redet, er sei denn vom Heiligen Geist durchdrungen. … Der freie Wille ist also nach der Darstellung des Erasmus eine Kraft des Willens, aus sich heraus Wort und Werk Gottes zu wollen oder nicht zu wollen. Dadurch wird man zu etwas geführt, das über alles Fassen und Begreifen hinausgeht. Wenn er aber wollen und nicht wollen kann, so kann er auch lieben und hassen. Wenn er lieben und hassen kann, so kann er auch ein wenig das Gesetz erfüllen und an das Evangelium glauben, denn es ist unmöglich, wenn du irgendetwas willst oder nicht willst, dass du mit diesem Willen nicht irgendetwas erreichen würdest, wenn du es auch, wirst du durch andere behindert, nicht vollenden kannst. Da zu den Werken Gottes, die zum Heil führen, auch Tod, Kreuz und alle Übel dieser Welt gezählt werden, wird der menschliche Wille imstande sein, auch den Tod und sein eigenes Verderben zu wollen. Ja sogar alles kann er wollen, wenn er Gottes Wort und Werk wollen kann. Denn was kann es unterhalb, oberhalb, innerhalb oder außerhalb des Wortes und Werkes Gottes geben, wenn nicht Gott selbst? Was aber bleibt hier für die Gnade und den Heiligen Geist zu tun? Das heißt ja geradezu, dem freien Willen göttliche Eigenschaften beilegen, denn das Gesetz und das Evangelium wollen, die Sünde nicht wollen und den Tod wollen, das liegt nur in Gottes Macht, wie Paulus an mehr als einer Stelle sagt (1. Korinther 2,14; 2. Korinther 3,5). … Selbst die Sophisten müssen deine Definition verurteilen und würden auch, wenn sie nicht in blindem Hass gegen mich so rasten, vielmehr gegen dein Buch wüten. Nun aber, da du den Luther angreifst, sagst du in ihren Augen, obwohl sich deine Ausführungen gegen dich selbst und auch gegen jene richten, nichts als Heiliges und Rechtgläubiges; so weit geht die Nachsicht dieser heiligen Männer. Ich sage das nicht, weil ich etwa die Auffassung der Sophisten über den freien Willen billigen würde, sondern weil ich sie für annehmbarer halte als die des Erasmus, denn sie kommen der Wahrheit näher. Zwar sagen sie nicht wie ich, dass es mit dem freien Willen nichts ist, aber da sie zugeben, dass er ohne die Gnade nichts vermag, … widersprechen sie dem Erasmus. Ja, sie scheinen sogar sich selbst zu widersprechen und nur am Streit um das Wort Gefallen zu haben, als echte Sophisten mehr auf ein Wortgefecht als auf die Wahrheit bedacht. Denn nimm einmal an, ich hätte einen einigermaßen vernünftigen Sophisten vor mir, mit dem ich privat in vertraulicher Unterredung jene Fragen erörtern und den ich um seine ehrliche und freie Meinung folgen-

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dermaßen bitten könnte: Wenn dir jemand sagte, das sei frei, was aus eigener Kraft nur nach einer Seite hin etwas vermag, nämlich nach der schlechten hin, nach der anderen aber, also nach der guten Seite hin, zwar auch etwas vermag, aber nicht aus eigener Kraft, sondern lediglich mit Hilfe eines anderen – könntest du dann darüber wohl dein Lachen zurückhalten, Freund? Denn so kann ich leicht nachweisen, dass auch ein Stein oder ein Baumstamm einen freien Willen hat, da er sich ja sowohl nach oben als nach unten bewegen kann, aus eigener Kraft allerdings nur nach unten, nach oben aber nur mit fremder Hilfe. … Dir scheint die Ansicht derer hart zu sein, aber doch recht annehmbar, die da verneinen, dass der Mensch ohne besondere Gnade das Gute wollen könne, die da verneinen, dass er anfangen könne, verneinen, dass er fortschreiten, vollenden könne usw. Diese Ansicht lässt du deshalb gelten, weil sie dem Menschen das Bemühen und Versuchen, aber nichts belässt, was er seinen eigenen Kräften zuschreiben könnte. Härter ist dir die Ansicht derer, die behaupten, der freie Wille sei nur imstande zu sündigen, die Gnade allein wirke in uns das Gute usw. Am härtesten jedoch scheint dir die Ansicht jener, welche sagen, dass der freie Wille eine leere Bezeichnung sei, sondern dass Gott vielmehr sowohl das Gute wie das Böse in uns wirke und dass alles, was geschehe, aus reiner Notwendigkeit vor sich gehe. Gegen diese zuletzt Genannten richtet sich deine Schrift, wie du bekennst. Weißt du auch, was du redest, lieber Erasmus? Du unterscheidest hier drei Meinungen, als ob sie zu drei Richtungen gehörten. Du merkst nicht, dass es dieselbe Sache ist, die von uns einmal mit diesen, das andere Mal mit jenen Worten auf verschiedene Weise erörtert wird. Wir sind und bleiben aber dieselben und gehören nur einer einzigen Richtung an. Doch wir wollen dich unterweisen und dir die Schläfrigkeit bzw. Stumpfheit deines Urteils zeigen. Ich frage dich, wie passt die oben von dir gegebene Definition des freien Willens zu dieser ersten, dir recht annehmbar scheinenden Meinung? Du hast nämlich gesagt, der freie Wille sei das Vermögen des menschlichen Willens, durch das sich der Mensch zum Guten hinwenden kann. Hier aber behauptest du und billigst die Behauptung, dass der Mensch ohne die Gnade nicht das Gute wollen kann. Die Definition bejaht, was ihre zweite Formulierung verneint, und man findet in deinem freien Willen zugleich Ja und Nein, sodass du uns zugleich zustimmst wie verdammst, wie du auch dich selbst verdammst und billigst in ein und demselben Lehrsatz und Artikel. Oder meinst du, es sei nicht etwas Gutes, sich zu dem

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hinzuwenden, was zum ewigen Heil gehört, wie es deine Definition dem freien Willen zuerkennt? Denn die Gnade ist überhaupt nicht nötig, wenn so viel Gutes im freien Willen ist, dass er dadurch sich selbst zum Guten wenden kann. Darum ist etwas anderes der freie Wille, den du definierst, und etwas anderes der freie Wille, den du verteidigst. Und es hat nun Erasmus zwei freie Willen, die im Übrigen einander selbst geradezu entgegengesetzt sind. Doch wir wollen das fallenlassen, was die Definition ersonnen hat, und das betrachten, was an Gegenteiligem die Meinung selbst vorträgt. Du gibst zu, dass der Mensch ohne besondere Gnade nicht das Gute wollen kann. Wir erörtern jetzt nicht, was die Gnade Gottes vermag, sondern was der Mensch ohne die Gnade vermag. Du gibst also zu, dass der freie Wille nicht das Gute wollen kann. Das bedeutet nichts anderes, als dass er sich nicht zu dem hinwenden kann, was zum ewigen Heil gehört, wie deine Definition lautete. Kurz vorher sagst du sogar, der menschliche Wille sei nach dem Sündenfall so verderbt, dass er, nachdem er die Freiheit verloren habe, gezwungen werde, der Sünde zu dienen, und sich nicht zu einer Besserung seiner selbst zurückwenden könne. … O du ungewöhnlich freier Wille, den Erasmus selbst nach Verlust seiner Freiheit als der Sünde verknechtet bezeichnet! Wenn Luther dies sagen würde, so hätte man nichts Törichteres gehört, so könnte nichts Unnützeres als dieser Widersinn verbreitet werden, sodass man sogar Diatriben gegen ihn schreiben müsste. So ist die erste Meinung beschaffen, wenn man sie mit sich selbst vergleicht: Sie verneint, dass der Mensch etwas Gutes wollen könne. Und wenn ihm auch ein Streben belassen werde, sei es dennoch auch nicht sein eigen. Lasst uns nun diese Meinung mit den übrigen zwei vergleichen! Die andere nämlich ist jene härtere, die da urteilt, der freie Wille sei zu nichts fähig außer zum Sündigen. … Jene dritte, härteste Meinung ist diejenige Wyclifs7 und Luthers selbst, dass der freie Wille eine leere Bezeichnung sei und dass alles, was geschehe, aus reiner Notwendigkeit erfolge. Mit diesen beiden liegt die Diatribe im Kampf. Hier sage ich: Vielleicht können wir nicht genug Latein oder Deutsch, dass wir die Sache selbst nicht haben vollständig vortragen können. Aber ich rufe Gott zum Zeugen an, ich habe nichts anderes sagen noch etwas anderes unter der Formulierung der 7 Als Ketzer verurteilter englischer Theologe des 14. Jahrhunderts.

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beiden zuletzt genannten Ansichten verstanden wissen wollen als das, was in der ersten Meinung gesagt ist. … Nachdem nämlich zugestanden und begriffen ist, dass der freie Wille, nachdem er die Freiheit verloren hat, unter die Knechtschaft der Sünde gezwungen worden ist und gar nichts Gutes wollen könne, so kann ich aus diesen Worten nichts anderes entnehmen, als dass der freie Wille ein leeres Wörtchen ist, dessen Inhalt verloren ist. Eine verlorene Freiheit nennt meine Sprachlehre keine Freiheit. Dem aber die Bezeichnung Freiheit beizulegen, was keine Freiheit hat, bedeutet ein leeres Wort beizulegen. Wenn ich hier irre, so widerlege mich, wer es vermag. Wenn das dunkel und schwankend ist, so helle es auf und halte es aufrecht, wer da kann. Ich kann die verlorene Gesundheit nicht Gesundheit nennen, und, falls ich sie einem Kranken zuerkannt habe, glaube ich nicht, ihm etwas anderes zuerkannt zu haben als eine leere Bezeichnung. Aber die ungereimten Worte mögen sich fortscheren. Wer kann diesen Missbrauch der Rede ertragen, dass wir gleichzeitig sagen wollen, der Mensch habe einen freien Willen, und zugleich behaupten möchten, er sei, nachdem er die Freiheit verloren habe, unter die Knechtschaft der Sünde gezwungen und könne nichts Gutes wollen? Das widerstreitet dem allgemeinen Verständnis und hebt überhaupt den Sprachgebrauch auf. … Denn wer die Freiheit verloren hat und gezwungen wird, der Sünde zu dienen, und nichts Gutes wollen kann, was wird folgerichtiger von ihm angenommen, als dass er mit Zwangsnotwendigkeit sündige oder das Böse wolle? … Die Schrift aber schildert uns den Menschen als einen solchen, der nicht nur gebunden, elend, gefangen, krank und tot ist (Epheser 2,1), sondern der unter dem Einfluss seines Fürsten, des Satans, zu all diesem Jammer auch noch den der Blindheit hinzufügt, indem er sich für frei, glücklich, erlöst, mächtig, gesund und lebendig hält. Denn Satan weiß wohl, dass er, wenn der Mensch sein Elend erkennen würde, keinen in seinem Reiche behalten könnte, weil Gott sich dessen, der seinen Jammer sieht und zu ihm schreit, sofort erbarmen und ihm helfen muss. Denn in der ganzen Heiligen Schrift wird besonders gerühmt, dass er nahe ist denen, die zerbrochenen Herzens sind (Psalm 34,19); Christus selbst bezeugt – nach Jesaja 61,1 – dass er gesandt sei, den Armen das Evangelium zu verkündigen und die Zerschlagenen zu heilen (Lukas 4,18). Daher, um die Menschen an sich zu fesseln, liegt dem Satan daran, dass sie ihr Elend nicht erkennen, sondern annehmen, sie könnten alles leisten, was man sagt. Mose will jedoch und dem Gesetz-

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geber liegt im Gegenteil daran, dem Menschen durch das Gesetz sein Elend zu enthüllen, ihn zur Erkenntnis seiner selbst, zerknirscht und außer Fassung zur Gnade vorzubereiten und zu Christus zu bringen, damit er so gerettet werde. Keineswegs lächerlich, sondern äußerst ernst und notwendig ist also, was durch das Gesetz bewirkt wird. …

Biblische Verheißungsworte beweisen keinen freien Willen Erasmus argumentiert in seiner Diatribe unter anderem mit Hesekiel 33,11, wo Gott sagt: »Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen«, und meint, daraus eine gewisse Freiheit des Willens beweisen zu können. Luther entgegnet, dass Erasmus damit aus einem Verheißungswort ein Wort des Gesetzes macht. Für Luther ist bei der Bibelinterpretation die Unterscheidung von Gesetz und Verheißung fundamental. Erasmus wirft er vor, sie nicht zu kennen und nicht zu beachten. Für Luther haben Gesetzesworte eigentlich die Funktion, den Sünder seiner Sünden zu überführen und zu erschrecken. Verheißungsworte haben die Funktion, die betrübten Sünder zu trösten. Beide Worte, so Luther, beweisen keine Freiheit des Willens, sondern widersprechen ihr.

Ein evangelisches Wort und ein gar süßer Trost für die elenden Sünder ist es in jeder Hinsicht, wenn Hesekiel sagt: »Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe« (Hesekiel 33,11). Wie auch Psalm 30,6: »Denn sein Zorn währet einen Augenblick, und Leben ist vielmehr sein Wille.« Ebenso Psalm 69,17: »Wie lieblich ist deine Barmherzigkeit, Herr!« Und: »Denn ich bin gnädig« (Jeremia 3,12). Dazu Christi Wort Matthäus 11,28: »Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.« Und schließlich 2. Mose 20,6: »Ich erweise Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich lieben.« Besteht nicht mehr als die Hälfte der Heiligen Schrift aus Versprechungen der Gnade, durch die den Menschen Barmherzigkeit, Leben, Friede und Heil von Gott angeboten wird? Was anderes aber klingt aus allen Worten der Verheißung als jenes: »Ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen«? Und wenn er sagt: »Ich bin barmherzig«, ist es nicht dasselbe wie: »Ich zürne nicht, ich will nicht strafen, ich will nicht, dass ihr sterbt, ich will verzeihen, ich will verschonen«? Und wenn nicht jene göttlichen Verheißungen da wären, durch welche die von Schuldbewusstsein gebeugten, durch die Furcht vor dem Tode und dem Jüngsten Gericht erschreckten Herzen aufgerichtet würden, wo bliebe dann noch Raum für Vergebung und Hoffnung? Müsste nicht jeder Sünder verzweifeln? Aber wie der freie Wille sich weder aus anderen Worten des

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Die Unfreiheit des menschlichen Willens und der verborgene Gott

Erbarmens, der Verheißung, des Trostes nachweisen lässt, so auch nicht aus diesem: »Ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen« usw. Aber unsere Diatribe kennt wiederum keinen Unterschied zwischen Worten des Gesetzes und Worten der Verheißung und macht jene Stelle bei Hesekiel zu einer Stimme des Gesetzes und legt sie folgendermaßen aus: »Ich will nicht den Tod des Gottlosen«, das heißt ich will nicht, dass er tödlich sündigt oder ein des Todes schuldiger Sünder werde, sondern vielmehr, dass er sich von der Sünde abkehre, wenn er eine begangen hat, und so lebe. Denn wenn sie es nicht so auslegte, würde es nichts zur Sache beitragen. Aber das heißt ja geradezu jenes überaus liebliche Wort Hesekiels: »Ich will nicht den Tod« verdrehen und aufheben. Wenn wir die Schrift in unserer Blindheit so lesen und verstehen wollen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sie dunkel und zweideutig ist. Denn er sagt nicht: Ich habe keinen Gefallen an der Sünde des Menschen, sondern: »Ich habe keinen Gefallen am Tode des Sünders«, womit er klar zum Ausdruck bringt, dass er von der Bestrafung der Sünde spricht, wie sie der Sünder für seine Sünde fühlt, nämlich von der Furcht vor dem Tode. Den so betrübten und verzweifelten Sünder richtet er auf und tröstet er, denn »das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen« (Jesaja 42,3), sondern Hoffnung auf Vergebung und Heil einflößen, damit er sich vielmehr bekehre, nämlich von der Todesstrafe zum Heil, und lebe, das heißt dass es ihm gut gehe und er sich eines ruhigen Gewissens erfreue. Denn Folgendes ist noch besonders zu beachten: Wie die Stimme des Gesetzes sich nur auf diejenigen erstreckt, die ihre Sünde nicht spüren und sie nicht erkennen – wie Paulus im Römerbrief Kapitel 3,20 sagt: »Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde« –, so findet das Wort der Gnade nur bei denen Zugang, die ihre Sünde spüren und in Betrübnis, ja sogar in Verzweiflung darüber geraten. Daher siehst du, dass in allen Gesetzesworten von der Sünde die Rede ist, wobei gezeigt wird, was wir tun sollen. Dagegen ist – wie du siehst – in allen Worten der Verheißung das Böse bezeichnet, an dem die Sünder oder diejenigen, die aufgerichtet werden sollen, leiden, wie ja das Wort: »Ich habe keinen Gefallen am Tode des Sünders« ausdrücklich den Tod und den Sünder nennt, also sowohl das Böse selbst, dessen man sich bewusst ist, als auch den Menschen, der sich dessen bewusst ist. Aber mit dem Wort »Liebe Gott von ganzem Herzen« (Matthäus 22,37) wird uns angezeigt, was wir Gutes tun sollen, nicht was uns an Bösem bewusst ist, damit wir erkennen, dass wir dieses Gute nicht zu tun vermögen.

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Nichts ist daher weniger geeignet, zugunsten des freien Willens angeführt zu werden, als jene Stelle aus Hesekiel. Ja im Gegenteil, sie spricht ganz deutlich gegen den freien Willen. Hier wird nämlich dargelegt, was es mit dem freien Willen auf sich hat und was er beim Erkennen der Sünde oder bei der Umkehr des Sünders vermag, nämlich dass dieser nur zum Schlimmeren herabsinken und zu seinen Sünden auch noch Verzweiflung und Unbußfertigkeit hinzufügen würde, wenn nicht Gott alsbald helfend eingreifen, ihn durch das Wort der Verheißung zurückrufen und wieder aufrichten würde. Denn die Besorgnis Gottes, der seine Gnade verheißt, um den Sünder zurückzurufen und wieder aufzurichten, ist ein ausreichend starkes und zuverlässiges Argument dafür, dass der freie Wille von sich aus nur noch tiefer und (wie die Schrift Sprüche Salomos 5,5 sagt) in die Hölle sinken kann. Oder glaubst du etwa, dass Gott leichtfertig genug sei, um ohne irgendwelche Notwendigkeit für unser Seelenheil, aus bloßer Lust an Worten, in so reicher Fülle Worte der Verheißung zu spenden? So siehst du also, dass nicht nur alle Worte des Gesetzes gegen den freien Willen sind, sondern auch alle Worte der Verheißung ihn vollständig widerlegen, das heißt dass die ganze Heilige Schrift gegen ihn streitet. So siehst du, dass mit jenem Wort: »Ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen« nichts anderes bezweckt wird, als dass in der Welt Gottes Barmherzigkeit gepredigt und angeboten wird. Doch nur die wahrhaft Betrübten und von Todesfurcht Gepeinigten nehmen diese Botschaft voll Freude und Dankbarkeit auf, denn in ihnen hat das Gesetz schon seine Aufgabe, das heißt Erkenntnis der Sünde, vollbracht. Diejenigen aber, die noch nicht das Gesetz erfahren haben, ihre Sünde nicht erkennen, den Tod nicht fühlen, verachten die in jenem Worte verheißene Barmherzigkeit.

Den verborgenen Gott ignorieren, den offenbarten Gott anschauen Nun stellt sich für Luther wie für Erasmus in seiner Diatribe die Gottesfrage. Wenn der Mensch keinen freien Willen hat, ist dann der Sünder selbst für den durch seine Sünden bewirkten Tod nicht verantwortlich, sondern letztlich Gott? Wie kann aber Gott den Tod des Sünders beklagen, obwohl er ihn doch selbst bewirkt? Folgt aus der Klage Gottes über den Tod des Sünders nicht doch, dass der Sünder selbst und nicht Gott für dessen Tod verantwortlich ist, also der Sünder einen freien Willen hat, ihn aber nicht einsetzt, um sich vor dem Tod zu bewahren? Während Erasmus hier weitere Argumente für die von ihm behauptete Freiheit des Willens findet, unterscheidet Luther zwischen Gott und Gott, zwischen dem im Wort offenbarten Gott, der das Heil aller Menschen will, und dem uns verborgenen, über uns

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stehenden Gott, der auf für uns uneinsichtige Weise alles wirkt. Pointiert formuliert Luther: Was über uns ist, geht uns nichts an. Seine Devise: Haltet euch an den offenbarten Gott, wie er gepredigt wird, und an seine Barmherzigkeit und fragt nicht nach seinem verborgenen Plan.

Warum im Übrigen die einen von dem Gesetz getroffen werden und die anderen nicht, sodass jene die von Gott dargebotene Gnade annehmen, die anderen nicht, das ist eine andere Frage und wird an unserer Stelle von Hesekiel nicht behandelt. Er spricht nämlich von der gepredigten und angebotenen Barmherzigkeit Gottes, nicht von jenem verborgenen, furchtbaren Willen Gottes, der nach seinem Ratschluss bestimmt, welche und was für Menschen der gepredigten und angebotenen Gnade teilhaftig werden sollen. Diesen Willen Gottes sollen wir nicht erforschen, sondern nur voll Ehrfurcht anbeten als ein höchst verehrungswürdiges Geheimnis göttlicher Majestät, das ihr allein vorbehalten, uns aber versagt ist … Wenn nun die Diatribe spitzfindig fragt: »Bedauert denn der gute Gott den Tod seines Volkes, den er selbst unter ihnen bewirkt? Das scheint doch gar zu widersinnig zu sein«, so antworten wir, wie schon gesagt: Anders ist über Gott oder Gottes Willen zu disputieren, uns gepredigt, offenbart, angeboten und verehrt, und anders über den Gott, der nicht gepredigt, nicht offenbart, nicht angeboten und nicht verehrt wird. Insofern Gott sich in Dunkel hüllt und nicht von uns erkannt werden will, geht er uns nichts an. Hier gilt nämlich wirklich das Wort: Was über uns ist, geht uns nichts an. Und damit niemand glaube, diese Unterscheidung stamme von mir, folge ich Paulus, der an die Thessalonicher (2. Thessalonicher 2,4) über den Antichrist schreibt, dass er sich über jeden erhebt, der als Gott gepredigt und verehrt wird. Damit weist er deutlich darauf hin, dass sich jemand über Gott erheben kann, soweit er gepredigt und verehrt wird, das heißt über das Wort und den Gottesdienst, wodurch uns Gott bekannt ist und mit uns in Verbindung steht. Aber über den nicht verehrten und nicht gepredigten Gott, wie er in seinem Wesen und in seiner Majestät ist, kann sich nichts erheben, sondern alles ist unter seiner gewaltigen Hand. Wir müssen also Gott in seiner Majestät und in seinem Wesen lassen, denn so haben wir nichts mit ihm zu schaffen, und er hat auch nicht gewollt, dass wir so mit ihm zu schaffen haben. Aber soweit er sich durch sein Wort, durch das er sich uns dargeboten hat, umkleidet und bekannt gemacht hat, haben wir mit ihm zu schaffen. Denn das Wort ist sein Schmuck und sein Ruhm, in das gekleidet der

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Psalmist ihn feiert (Psalm 21,6). Wir sagen also: Der gute Gott beklagt nicht den Tod des Volkes, den er in ihm bewirkt, sondern er beklagt den Tod, den er im Volke vorfindet und den er abzuwenden strebt. So nämlich handelt der gepredigte Gott, dass Sünde und Tod beseitigt und wir gerettet werden. Denn »er sandte sein Wort und machte sie gesund« (Psalm 107,20). Im Übrigen beklagt weder der in seiner Majestät verhüllte Gott den Tod, noch beseitigt er ihn, sondern er wirkt Leben, Tod und »alles in allen« (1. Korinther 12,6). Auch hat er sich in seinem Wort nicht begrenzt, sondern hat die Freiheit seiner selbst über alles behalten. Die Diatribe aber täuscht sich in ihrer Unwissenheit, indem sie keinen Unterschied zwischen dem gepredigten und dem verborgenen Gott kennt, das heißt zwischen dem Wort Gottes und Gott selbst. Vieles tut Gott, ohne es uns durch sein Wort zu erklären, vieles auch will er, ohne in seinem Worte ausdrücklich zu erwähnen, dass er es will. So will er – nach seinem Wort – nicht den Tod des Sünders, er will ihn aber doch nach jenem unerforschlichen Willen. Nun dürfen wir nur das Wort betrachten, jenen unerforschlichen Willen müssen wir stehen lassen. Nach Gottes Wort nämlich müssen wir uns richten, nicht nach jenem unerforschlichen Willen. Wer könnte sich auch nach einem völlig unerforschlichen und nicht erkennbaren Willen richten? Uns genügt, so viel zu wissen, dass in Gott ein unerforschlicher Wille ist. Was er aber will, warum und inwieweit er es will, das zu erforschen, danach zu fragen, uns darum zu kümmern, daran nur zu rühren, steht uns nicht zu. Wir können ihn nur fürchten und anbeten. Daher wird mit Recht gesagt: Wenn Gott den Tod nicht will, ist es unserem Willen zuzuschreiben, dass wir zugrunde gehen. Mit Recht, sage ich, wenn du von dem gepredigten Gott sprichst. Denn er will, dass alle Menschen gerettet werden (1. Timotheus 2,4), da er mit dem Wort des Heils zu allen gekommen ist. Die Schuld liegt an unserem Willen, der ihn nicht aufnimmt, wie Matthäus 23,37 sagt: »Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen … und ihr habt nicht gewollt.« Warum aber jene Majestät diese Schuld unseres Willens nicht aufhebt oder bei allen Menschen ändert – da dies doch nicht in der Gewalt des Menschen liegt – oder warum er dem Menschen diese Schuld zurechnet – obwohl doch der Mensch von ihr nicht frei sein kann –, danach zu fragen steht uns nicht zu. Und wenn du noch so viel fragst, wirst du es doch nicht ergründen, wie Paulus Römer 9,20 sagt: »Wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst?« …

Die Gegenwart Christi in Brot und Wein

Ein zweiter, noch folgenreicherer Streit als der zwischen Luther und Erasmus um die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens entbrannte ebenfalls Mitte der Zwanzigerjahre zwischen Luther und dem Züricher Reformator Ulrich Zwingli um das Verständnis des Abendmahls. Während Luther mit der mittelalterlichen und der römischen Kirche daran festhielt, dass bei diesem Sakrament das Brot der Leib Christi sei, und nur die Lehre von der Wesensverwandlung (Transsubstantiation), das heißt die rationale Erklärung des Geheimnisses ablehnte, verstand Zwingli das Brot als Zeichen für den Leib Christi. Wenn Jesus in den Einsetzungsworten »Das ist mein Leib« sagt, dann meint er: »Das bedeutet …«, »das ist ein Zeichen für meinen Leib«. Luther widersprach Zwingli energisch und bezichtigte ihn der »Schwärmerei« und des Spiritualismus, der das geschriebene Wort der Bibel nicht hinreichend wertschätze. 1526 und noch mehrfach verfasste er Streitschriften »gegen die Schwarmgeister«. Zwinglis Anhänger schlugen zurück und polemisierten gegen Luther und seine Unterstützer, indem sie ihnen wie schon der mittelalterliche arabisch-islamische Philosoph Averroes vorwarfen, Gott essen zu wollen. Martin Luther, Sermon von dem Sakrament des Leibes und ­Blutes Christi, wider die Schwarmgeister (1526): WA 19, S. 482–523.

Weil jetzt das Sakrament von vielen angefochten wird und sich die Prediger, die auch für die besten gehalten werden, darüber spalten und zusammenrotten, sodass bereits in anderen Ländern eine große Menge dem anhängt und meint, dass Christi Leib und Blut nicht im Brot und Wein sei, ist es jetzt notwendig, dazu auch etwas zu sagen. Zum Anfang aber sage ich, wenn es so ist, dass jemand in diesem Irrtum gefangen ist, dem möchte ich treulich raten, dass er vom Sakrament so lange wegbleibe, bis er von dem Irrtum loskomme und im Glauben stark werde. Denn wir haben für uns den klaren, hellen Text und das Wort Christi (Matthäus 26,26–28; Markus 14,22–24; Lukas 22,19f.): »Nehmet, esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird«; »Trinket alle daraus, das ist mein Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Das tut zu meinem Gedächtnis.« Das sind die Worte, auf die wir pochen. Die sind so einfach und klar geredet, dass auch die Widersacher bekennen müssen, es koste Mühe, sie anders zu interpretieren. Und doch stellen sie diese hellen Worte zur Seite und gehen ihren eigenen Gedanken nach. Aus hellem Licht machen sie sich selbst Finsternis. Aber wer den rechten Weg gehen und nicht anstoßen will, hüte sich

Die Gegenwart Christi in Brot und Wein137

vor den spitzfindigen Gedanken, die der Teufel in Bezug auf diese Lehre in der Welt erregt, damit er, der Teufel, ja das Ei aussaufen und uns die Schalen lassen könne: Das ist, den Leib und das Blut Christi aus dem Brot und Wein nehmen, sodass es nicht mehr als ein gewöhnliches Brot bleibe, wie es der Bäcker backt. Und sie verspotten uns danach, wie es sie gelüstet, dass wir Fleischfresser und Blutsäufer sind und einen gebackenen Gott anbeten, wie auch vorzeiten der abtrünnige verzweifelte Bösewicht Averroes … über die Gläubigen spottete und lästerte: Es sei kein schlimmeres Volk auf Erden als die Christen, weil sie ihren eigenen Gott fräßen, was kein anderes Volk je getan habe. War das nicht ein köstliches, spitziges Wort? Eben dies treibt der Teufel gegen uns jetzt allenthalben in der Welt. Nun ist Gott ein solcher Mann, der Lust hat zu tun, was vor der Welt närrisch und untüchtig ist, wie Paulus 1. Korinther 1,23 sagt: »Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit«, ebenso Vers 21: »Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt zu retten, die daran glauben.« Wohlan, wer es nun nicht glaubt, der glaube also, es sei bloßes Brot. Wer den richtigen Glauben verfehlt hat, der mag danach glauben, was er will. Das gilt ebensoviel wie zum Beispiel: Wer ersaufen soll, der ersaufe in einem Bach oder mitten im Strom, so ist er ebensowohl ersoffen. Ebenso sage ich von diesen Geistern: Wenn sie das Wort fallen lassen, so lasse sie immer glauben und sich spalten, wie lange sie wollen. Es ist bereits geschehen, dass sechs oder sieben Sekten wegen des Sakraments entstanden sind. Alle teilen sie den Wahn, dass Christi Fleisch und Blut nicht gegenwärtig sei. Die Ursache ist erstens, sage ich, dass sie nicht bei den Worten Christi geblieben sind. Zweitens, dass sie eigene Überlegungen anstellen und sich fragen: Sollte Christus im Brot und Wein sein und so weit in der Welt ausgebreitet werden, und ein jeglicher sollte den Christus essen? Das wäre eine ungereimte Sache. Das haben sie zunächst gedacht. Davon haben sie dann ein gemaltes Glas vor den Augen. Da müssen dann die Worte auch heißen, was sie denken. So handeln alle Rottengeister. Sie fassen als erstes eine eigene Meinung. Wenn ihnen die gefällt, unterstehen sie sich, die Heilige Schrift auch in diese Richtung zu zwingen. Wer aber den rechten Glauben aus den Worten der Schrift schöpft, der glaubt so: Wie auch immer, Christus begebe sich in Brot oder Kelch oder wo hinein er will – wenn ich die Worte habe, will ich nicht weiter sehen noch denken. Was er sagt, das will ich halten. So wickelt er sich ins Wort, lässt sich davon nicht abweisen, wird auch dadurch erhalten.

»Von weltlicher Obrigkeit«

Zu den umstrittenen Luther-Themen gehört seine Obrigkeitslehre. Zu seiner Zeit stand Luther vor der Herausforderung, die Notwendigkeit von Obrigkeiten und die Pflicht des Christen, Obrigkeiten zu gehorchen, zu begründen. Denn einige evangelische Zeitgenossen schlussfolgerten aus seiner Theologie: Wer wirklich fromm sei, brauche keine Obrigkeiten mehr. Luther schärfte demgegenüber Obrigkeitsgehorsam ein. Und in späterer Zeit, als sich die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen grundlegend gewandelt hatten, hielten gerade an Luther orientierte Kirchen an einem strengen Obrigkeitsgehorsam fest. Es ist deshalb verschiedentlich die These vertreten worden, dass Luthers Obrigkeitslehre eine Mitschuld dafür trage, dass die evangelischen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus weitgehend versagten. Wer Luther liest, entdeckt jedoch, dass er auch überaus obrigkeitskritisch aufgetreten ist. Nur mit dem Papst ging er noch strenger ins Gericht als mit den Fürsten. Obrigkeiten hält Luther für notwendig, um das Böse in der Welt zu bändigen. Obrigkeiten dürfen sich aber aus Luthers Sicht nicht in religiöse Angelegenheiten, insbesondere nicht in Fragen des Gewissens einmischen. Selbst falsche Lehren und Ketzer zu bekämpfen, ist nicht Aufgabe der Obrigkeit. So positioniert sich Luther 1523 in einer gewissen Spannung zu dem, was er drei Jahre zuvor in seiner Adelsschrift gesagt hatte. Anlass für Luthers neue Schrift »Von weltlicher Obrigkeit« war, dass in verschiedenen katholischen Gebieten, unter anderem in Bayern und in Brandenburg, von den Obrigkeiten die Beschlagnahmung von Luthers Bibelübersetzung angeordnet worden war. Luther weist die Obrigkeiten in die Schranken und skizziert auch, wie Fürsten, die sich wirklich als Christen verstehen, regieren sollten. Zu jeder Obrigkeit gehört auch Polizeigewalt, das Schwert, wie Luther formuliert. Aber wie verträgt sich das mit der Bergpredigt Jesu? Luther lehnt die traditionelle kirchliche Lehre ab, die sagte, die Bergpredigt sei kein Gebot für alle Christen, sondern gelte als göttlicher Ratschlag oder Empfehlung nur für besonders vollkommen lebende Christen wie Geistliche und Mönche. Sie dürften tatsächlich nicht zur Waffe greifen. Diese Interpretation der Bergpredigt durch die »Sophisten«, wie Luther die traditionellen Theologen spöttisch bezeichnet, lehnt Luther ab und entwickelt stattdessen seine Lehre von den zwei Reichen. Ein Christ lebt einerseits im Reich Christi, andererseits im Reich der irdischen Welt. Im Reich Christi gilt die Bergpredigt, nicht aber im Reich der Welt, nicht in der Gesellschaft, der Politik, den internationalen Beziehungen. Das heißt: Für sich selbst und unter Christen verzichtet ein Christ auf Gewalt und Rache, aber gleichzeitig ist er bereit, Gewalt anzuwenden, um seinen Nächsten zu schützen und dem Bösen zu wehren. Über diese sogenannte Zweireichelehre Luthers wird noch heute äußerst kontrovers diskutiert.

»Von weltlicher Obrigkeit«139

Martin Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523): WA 11, S. 229–281; Cl 2, S. 360–394; StA 3, S. 27–71.

Ich habe früher ein Büchlein an den deutschen Adel geschrieben und gezeigt, was sein christliches Amt und Werk sei. Aber inwieweit sie sich danach gerichtet haben, liegt genügend vor Augen. Darum muss ich meinen Fleiß anders verwenden und nun auch schreiben, was sie lassen und nicht tun sollen. Ich erwarte aber, sie werden sich ebenso wenig danach richten, wie sie sich nach jenem gerichtet haben, damit sie ja Fürsten bleiben und nie Christen werden. Gott der Allmächtige hat unsere Fürsten wahnsinnig gemacht, sodass sie denken, sie könnten tun und ihren Untertanen gebieten, was sie nur wollen. Und die Untertanen irren auch und glauben, sie seien schuldig, dem allen zu folgen. Die Fürsten sind so ganz und gar von Sinnen, dass sie nun angefangen haben, den Menschen zu gebieten, Bücher herzugeben und zu glauben und zu halten, was sie vorgeben. Damit vermessen sie sich, sich auch in Gottes Stuhl zu setzen und die Gewissen und den Glauben zu meistern und nach ihrem verrückten Gehirn den Heiligen Geist zur Schule zu führen. Dennoch verlangen sie, man dürfe es ihnen nicht sagen und solle sie auch noch gnädige Junker nennen. Sie schreiben und bringen Gebotszettel in den Umlauf, der Kaiser habe geboten, was sie verlangen. Sie behaupten, sie wollten christliche, gehorsame Fürsten sein, gerade als wäre es ihr Ernst und als ob man den Schalk hinter ihren Ohren nicht merkte. Denn wir wollten wohl sehen, was geschehen würde, wenn ihnen der Kaiser ein Schloss oder eine Stadt nähme oder ihnen etwas Unrechtes gebieten würde, wie rasch sie zu der Auffassung gelangten, dass sie dem Kaiser widerstehen dürften und nicht gehorsam zu sein brauchten. Da es nun aber darum geht, den armen Mann zu schinden und ihren Mutwillen an Gottes Wort zu stillen, muss es Gehorsam gegenüber dem kaiserlichen Gebot heißen. Solche Leute nannte man vorzeiten böse Buben, jetzt muss man sie christliche, gehorsame Fürsten nennen. Sie wollen dennoch niemanden anhören oder sich vor jemandem verantworten, wie sehr man sich auch anbietet, obwohl es für sie selbst doch eine ganz unerträgliche Sache wäre, wenn der Kaiser oder jemand anders mit ihnen so verführe. Das sind jetzt die Fürsten, die das Kaisertum in deutschen Landen repräsentieren. Darum muss es auch in allen Landen so großartig zugehen, wie wir es sehen.

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»Von weltlicher Obrigkeit«

Weil aber das Wüten dieser Narren zur Vertilgung des christlichen Glaubens, zur Verleugnung des göttlichen Wortes und zur Lästerung der göttlichen Majestät führt, will und kann ich meinen ungnädigen Herren und zornigen Junkern nicht länger zusehen. Ich muss ihnen wenigstens mit Worten Widerstand leisten. Und da ich ihren Götzen, den Papst, nicht gefürchtet habe, der mir die Seele und den Himmel zu nehmen droht, muss ich auch zeigen, dass ich seine Anhänger und Seifenblasen nicht fürchte, die mir den Leib und die Erde zu nehmen drohen. Gott gebe, dass sie zürnen, bis die grauen Mönchsröcke untergehen, und helfe uns, dass wir wegen ihres Drohens ja nicht vergehen. Amen.

Obrigkeiten sind notwendig Aufs Erste müssen wir das weltliche Recht und Schwert gut begründen, dass nicht jemand daran zweifle, es sei durch Gottes Willen und Ordnung in der Welt. Die Bibelworte aber, die sie begründen, sind diese: Römer 13,1f: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu«, ferner 1. Petrus 2,13f: »Seid untertan aller menschlichen Ordnung, es sei dem König als dem Obersten oder den Statthaltern als denen, die von ihm gesandt sind zur Bestrafung der Übeltäter und zum Lob derer, die Gutes tun.« Auch ist das Recht dieses Schwertes von Anfang der Welt an gewesen. Denn als Kain seinen Bruder Abel erschlug, fürchtete er sich so sehr, man würde ihn auch töten, dass Gott ein besonderes Verbot darauf legte und das Schwert um seinetwillen entmachtete. Niemand sollte ihn töten (1. Mose 4,14f.). Diese Furcht hätte er nicht gehabt, wenn er nicht bei Adam gesehen und gehört hätte, dass man die Mörder töten solle. Darüber hinaus hat Gott das Schwert mit ausdrücklichen Worten nach der Sintflut wieder eingesetzt und bestätigt, wenn er 1. Mose 9,6 sagt: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.« Das kann nicht als eine von Gott über die Mörder verhängte Plage und Strafe verstanden werden. Denn viele Mörder bleiben durch Buße oder Gunst lebendig und sterben nicht durch das Schwert. Sondern es ist vom Recht des Schwertes die Rede, dass nämlich ein Mörder des Todes schuldig ist und man ihn

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mit Recht durch das Schwert töten solle. Wenn nun das Recht behindert oder das Schwert nachlässig sein würde, sodass der Mörder eines natürlichen Todes stirbt, ist deshalb die Heilige Schrift nicht falsch, wenn sie sagt: Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden. Denn es ist der Menschen Schuld und Versagen, dass dieses Recht, von Gott befohlen, nicht ausgeübt wird, so wie auch andere Gebote Gottes übertreten werden. Danach ist es auch durch das Gesetz des Mose bestätigt worden, 2. Mose 21,14: »Wenn jemand an seinem Nächsten frevelt und ihn mit Hinterlist umbringt, so sollst du ihn von meinem Altar wegreißen, dass man ihn töte«, und daselbst abermals (2. Mose 21,23ff.): »Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.« Darüber hinaus bestätigt es Christus auch, wenn er zu Petrus im Garten Gethsemane sagt: »Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen« (Matthäus 26,52), was ebenso wie das Wort 1. Mose 9,6 zu verstehen ist: »Wer Menschenblut vergießt« usw. Ohne Zweifel deutet Christus mit diesem Wort darauf hin und führt dasselbe Bibelwort damit ein und will es bestätigt haben. So lehrt auch Johannes der Täufer. Als die Kriegsknechte ihn fragten, was sie tun sollten, sagte er (Lukas 3,14): »Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!« Wäre das Amt des Schwertes nicht eine göttliche Einrichtung, würde er sie abtreten heißen, da er das Volk vollkommen machen und recht christlich unterweisen wollte. So ist es gewiss und klar genug, dass es Gottes Wille ist, das weltliche Schwert und Recht zu handhaben zur Strafe der Bösen und zum Schutz der Frommen. Aufs Zweite: Dagegen spricht nun mächtig, was Christus Matthäus 5,38ff. sagt: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei« usw. Ebenso Paulus Römer 12,19: »Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr«; ferner Matthäus 5,44: »Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen«, sowie 1. Petrus 3,9: »Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort

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mit Scheltwort« usw. Diese und dergleichen Worte scheinen jedenfalls deutlich zu sagen, dass die Christen, die ja im Neuen Bund leben, kein weltliches Schwert haben sollten. Deshalb sagen auch die Sophisten, Christus habe das Gesetz des Mose damit aufgehoben, und machen aus solchen Geboten »Ratschläge« für die »Vollkommenen« und teilen die christliche Lehre und den christlichen Stand in zwei Gruppen: Einen Stand nennen sie den »vollkommenen«. Dem eignen sie solche Ratschläge zu. Den anderen, den »Unvollkommenen«, eignen sie nur die Gebote zu. Sie tun das aus lauter eigener Vermessenheit und Mutwillen ohne jede Begründung aus der Heiligen Schrift und sehen nicht, dass Christus an demselben Ort seine Lehre so nachdrücklich gebietet, dass er auch das Kleinste nicht aufgelöst haben will und die in die Hölle verdammt, die ihre Feinde nicht lieb haben. Deshalb müssen wir anders davon reden, sodass Christi Worte für jedermann bestimmt bleiben, er sei »vollkommen« oder »unvollkommen«. Denn Vollkommenheit und Unvollkommenheit bestehen nicht in Werken, machen auch keinen besonderen äußerlichen Stand unter den Christen, sondern bestehen im Herzen, in Glauben und Liebe, sodass wer mehr glaubt und liebt, der ist vollkommen, er sei äußerlich Mann oder Frau, Fürst oder Bauer, Mönch oder Laie. Denn Liebe und Glaube machen keine Sekten noch äußerliche Unterschiede. Aufs Dritte: Wir müssen Adams Kinder und alle Menschen zwei Reichen zuordnen: die einen dem Reich Gottes, die anderen dem Reich der Welt. Die zum Reich Gottes gehören, das sind alle Rechtgläubigen in Christus und unter Christus. Denn Christus ist der König und Herr im Reich Gottes, wie Psalm 2,6 und die ganze Heilige Schrift sagt. Er ist dazu gekommen, dass er das Reich Gottes anfinge und in der Welt aufrichte. Deshalb sagt er auch vor Pilatus (Johannes 18,36f.): »Mein Reich ist nicht von dieser Welt, sondern wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme«, und nimmt immer im Evangelium auf das Reich Gottes Bezug und sagt (Matthäus 3,2): »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!«, weiter (Matthäus 6,33): »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit.« Er nennt auch das Evangelium ein Evangelium des Reiches Gottes, weil es das Reich Gottes lehrt, regiert und erhält. Nun siehe: Diese Menschen bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts. Und wenn alle Welt rechte Christen, das heißt rechte Gläubige wären, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht

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notwendig oder von Nutzen. Denn wozu sollte es ihnen dienen? Weil sie den Heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehrt und macht, dass sie niemandem Unrecht tun, jedermann lieben, von jedermann gerne und fröhlich Unrecht leiden, auch den Tod. Wo nichts als Unrechtleiden und nichts als Rechttun ist, da ist kein Zank, Hader, Gericht, Richter, Strafe, Recht noch Schwert nötig. Deshalb ist es unmöglich, dass unter den Christen das weltliche Schwert und Recht etwas zu tun haben sollten. Sie tun viel mehr von selbst, als alle Rechte und Lehre fordern könnten. Gleichwie Paulus 1. Timotheus 1,9 sagt: »Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben, sondern den Ungerechten.« … Aufs Vierte: Zum Reich der Welt oder unter das Gesetz gehören alle, die nicht Christen sind. Denn da nur wenige glauben und sich nur der kleinere Teil nach christlicher Art verhält und dem Übel nicht widerstrebt und selbst nicht Übel tut, hat Gott denselben außer dem christlichen Stand und Gottes Reich ein anderes Regiment gegeben und sie dem Schwert unterworfen. So können sie, wenngleich sie es gerne wollten, ihre Bosheit doch nicht ausüben. Und wenn sie es tun, können sie es doch nicht ohne Furcht noch mit Friede und Glück tun. Das ist wie wenn man ein wildes, böses Tier mit Ketten und Banden fesselt, dass es nicht nach seiner Art beißen noch reißen kann, obwohl es gerne wollte, während ein zahmes, zutrauliches Tier dessen nicht bedarf, sondern ohne Ketten und Bande dennoch unschädlich ist. … Wenn nun jemand die Welt nach dem Evangelium regieren und alles weltliche Recht und Schwert aufheben und behaupten würde, sie seien alle getauft und Christen, unter welchen das Evangelium kein Recht noch Schwert haben wolle und bei denen es auch nicht nötig sei – mein Lieber, rate, was würde der machen? Er würde den wilden, bösen Tieren die Bande und Ketten lösen, sodass sie jedermann zerrissen und zerbissen und gleichwohl behaupteten, sie wären feine, zahme, zutrauliche Tierlein. Ich würde es aber an meinen Wunden anders fühlen. So würden die Bösen unter dem christlichen Namen die evangelische Freiheit missbrauchen, ihren Frevel treiben und sagen, sie seien Christen und keinem Gesetz noch Schwert unterworfen, wie jetzt schon etliche toben und närrisch behaupten. Diesen muss man sagen: Ja freilich ist es wahr, dass Christen um ihrer selbst willen keinem Recht noch Schwert untertan sind noch seiner bedürfen. Aber siehe zu und mach die Welt zuvor voll rechter Christen, ehe du sie christlich und evangelisch regierst. Das wird dir aber nie gelingen, denn die Welt und die Menge sind und bleiben

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Unchristen, ob sie gleich alle getauft sind und Christen heißen. Die wirklichen Christen wohnen, wie man sagt, fern voneinander. Deshalb ist es in der Welt nicht möglich, dass ein christliches Regiment sich über alle Welt erstreckt, ja nicht einmal über ein Land oder eine größere Menge. Denn Böse gibt es immer viel mehr als Gute. Zu versuchen, ein ganzes Land oder die Welt mit dem Evangelium zu regieren, das wäre ebenso, als wenn ein Hirte in einen Stall Wölfe, Löwen, Adler, Schafe zusammentäte und ein jegliches frei neben dem anderen laufen ließe und sagte: Da weidet und seid rechtschaffen und friedlich untereinander, der Stall steht offen, Weide habt ihr genug, Hunde und Keulen braucht ihr nicht zu fürchten. Hier würden die Schafe wohl Frieden halten und sich friedlich so weiden und regieren lassen, aber sie würden nicht lange leben. Und kein Tier würde auf das andere Rücksicht nehmen. Deshalb muss man diese beiden Regimente deutlich unterscheiden und beide bestehen lassen: eines, das fromm macht, ein anderes, das äußerlich Frieden schafft und bösen Werken wehrt. Keines kann ohne das andere in der Welt ausreichen. Denn ohne Christi geistliches Regiment kann niemand vor Gott fromm werden allein durch das weltliche Regiment. Ebenso erstreckt sich Christi Regiment nicht über alle Menschen, denn immer gibt es nur wenige Christen und sie leben mitten unter den Unchristen. Wo nun das weltliche Regiment und das Gesetz allein regiert, da wird selbst die Beachtung von Gottes Geboten zur Heuchelei. Denn ohne den Heiligen Geist im Herzen wird niemand recht fromm, er tue so feine Werke, wie er kann. Wo aber das geistliche Regiment allein über Land und Leute regiert, da wird die Bosheit entbunden und allem Frevel Raum gegeben, denn die Welt als solche kann das geistliche Regiment nicht annehmen noch verstehen. Da siehst du, worauf Christi Worte gerichtet sind, die wir oben aus Matthäus 5,39 berichtet haben, dass die Christen nicht streiten noch das weltliche Schwert unter sich haben sollen. Eigentlich sagt er es nur seinen lieben Christen. Die allein nehmen es auch an und handeln entsprechend. Sie sind im Herzen durch den Geist so beschaffen, dass sie niemandem übel tun und von jedermann willig Übel leiden. Wenn nun alle Welt Christen wären, so gingen diese Worte alle Menschen an und sie handelten danach. Da sie aber Unchristen sind, gehen sie die Worte nichts an und sie handeln auch nicht so, sondern gehören unter das andere Regiment, wo man die Unchristen äußerlich zum Frieden und zum Guten zwingt und nötigt. …

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Aufs Fünfte: Jetzt wendest du ein: Wenn denn die Christen weder des weltlichen Schwerts noch des Rechts bedürfen, warum sagt dann Paulus Römer 13,1 zu allen Christen: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat«, und 1. Petrus 2,13: »Seid untertan aller menschlichen Ordnung« usw., wie oben geschildert wurde? Antwort: Ich habe gesagt, dass die Christen untereinander und bei sich und für sich selbst keines Rechts noch Schwerts bedürfen, denn sie haben es nicht nötig und es ist ihnen nicht von Nutzen. Aber weil ein rechter Christ auf Erden nicht für sich selbst, sondern für seinen Nächsten lebt und ihm dient, tut er seiner Geistesart entsprechend auch das, dessen er nicht bedarf, was aber seinem Nächsten von Nutzen und nötig ist. Da das Schwert aber aller Welt ein großer und nötiger Nutzen ist, dass Friede erhalten, Sünde gestraft und den Bösen gewehrt werde, so stellt sich der rechte Christ aufs allerwilligste unter das Regiment des Schwertes, zahlt Steuern, ehrt die Obrigkeit, dient, hilft und tut alles, was er kann und was der weltlichen Gewalt förderlich ist, damit sie funktioniert und in Ehren und Furcht gehalten werde, obwohl er nichts davon für sich braucht und es ihm nicht nötig ist. Denn der rechte Christ sieht darauf, was anderen von Nutzen und gut ist, wie Paulus Epheser 5,21ff. lehrt. Ebenso tut er auch alle anderen Werke der Liebe, derer er nicht bedarf. Denn er besucht die Kranken nicht deshalb, damit er selbst dadurch gesund werde. Er speist niemanden, weil er selbst der Speise bedürfte. Ebenso dient er auch der Obrigkeit nicht, weil er ihrer bedürfte, sondern weil die anderen sie brauchen, damit sie beschützt und die Bösen nicht schlimmer werden. Denn es ist ihm kein Nachteil und solcher Dienst schadet ihm nichts und bringt doch der Welt großen Nutzen. Und wo er es nicht täte, handelte er nicht als ein Christ, außerdem gegen die Liebe. Er gäbe auch den anderen ein böses Beispiel, die dann ebenso keine Obrigkeit haben wollten, obgleich sie Unchristen sind. In der Folge würde dann das Evangelium beschuldigt, es lehre Aufruhr und mache eigensinnige Leute, die niemandem von Nutzen noch zu Dienst sein wollten, während das Evangelium doch einen Christen zu jedermanns Knecht macht. So gab Christus (Matthäus 17,27) den Zinsgroschen, damit er seine Gegner nicht ärgerte, obwohl er dessen doch nicht bedurfte. … Aufs Sechste: Nun fragst du, ob denn auch ein Christ das weltliche Schwert führen und die Bösen strafen dürfe, weil Christi Worte so streng und unzweideutig lauten: »Du sollst dem Übel nicht wider-

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streben«, dass die Sophisten einen »Ratschlag« daraus machten. Antwort: Du hast jetzt zwei Dinge gehört. Erstens, dass unter den Christen das Schwert keinen Platz hat. Darum kannst du es über und unter den Christen nicht führen, die seiner nicht bedürfen. Darum müsstest du die Frage aufwerfen in Bezug auf den anderen Haufen derer, die nicht Christen sind, ob du es dort als Christ anwenden könntest. Das ist der zweite Aspekt, dass du dem Schwert zu dienen schuldig bist und es fördern sollst, womit du kannst, es sei mit Leib, Gut, Ehre und Seele. Denn es ist eine Sache, deren du zwar nicht bedarfst, die aber aller Welt und deinem Nächsten sehr von Nutzen und nötig ist. Du solltest, wenn du sähest, dass es an Henkern, Polizisten, Richtern, Herren oder Fürsten mangelte, und du dich geeignet dafür fändest, dich dazu anbieten und dich darum bewerben, damit ja die notwendige weltliche Gewalt nicht verachtet und schwach würde oder unterginge. Denn die Welt kann und vermag auf sie nicht verzichten. Begründung: In diesem Falle würdest du ganz in fremdem Dienst und Werken agieren, die nicht dir noch deinem Gut und Ehre, sondern nur dem Nächsten und anderen nützen. Und du würdest das nicht in der Absicht tun, dich zu rächen oder Böses mit Bösem zu vergelten, sondern deinem Nächsten zugute und zur Erhaltung des Schutzes und des Friedens der anderen. Denn für dich selbst bleibst du beim Evangelium und hältst dich an Christi Wort und erduldest gerne den anderen Backenstreich und gibst mit dem Rock auch den Mantel, wenn es dich und deine Sache betrifft. So fügt sich nämlich beides fein zueinander, dass du zugleich Gottes Reich und der Welt Reich gerecht wirst, äußerlich und innerlich, zugleich Übel und Unrecht erduldest und Übel und Unrecht strafst, zugleich dem Übel nicht widerstehst und doch widerstehst. Denn mit dem einen siehst du auf dich und auf das Deine, mit dem anderen auf den Nächsten und auf das Seine. In Bezug auf dich und das Deine hältst du dich an das Evangelium und erduldest Unrecht als ein rechter Christ. In Bezug auf den anderen und das Seine verhältst du dich nach der Liebe und duldest kein Unrecht gegen deinen Nächsten. Das alles verbietet das Evangelium nicht, ja vielmehr gebietet es das an anderer Stelle. … Du wendest ein: Warum haben dann Christus und die Apostel nicht das Schwert geführt? Ich antworte: Sage mir, warum hat er nicht auch eine Frau genommen oder ist ein Schuster oder Schneider geworden? Sollte deshalb ein Stand oder Amt nicht gut sein, weil es Christus selbst nicht bekleidet hat? Was würde dann mit allen Ständen und

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Ämtern, ausgenommen das Predigtamt, welches allein er ausgeübt hat? Christus hat sein Amt und seinen Stand geführt. Damit hat er aber keinen anderen Stand verworfen. Es stand ihm nicht zu, das Schwert zu führen. Denn er sollte nur das Amt führen, durch das sein Reich regiert wird und das eigentlich zu seinem Reich dient. Nun gehört zu seinem Reich nicht, dass er ehelich, Schuster, Schneider, Bauer, Fürst, Henker oder Polizist sei, auch weder Schwert noch weltlich Recht, sondern nur Gottes Wort und Geist. Damit werden die Seinen innerlich regiert. Welches Amt er auch damals ausübte und noch immer ausübt, er gibt immer Geist und Gottes Wort. Und in dem Amt mussten ihm die Apostel nachfolgen und alle geistlichen Regenten. Denn sie haben an dem geistlichen Schwert, dem Wort Gottes, wohl so viel zu schaffen, wenn sie dieses ihr Handwerk recht ausüben, dass sie auf das weltliche Schwert wohl verzichten und es anderen überlassen müssen, die nicht zu predigen haben. Obwohl es ihrem Stand nicht zuwider wäre, es zu gebrauchen, wie ich gesagt habe. Denn jeder muss seinen Beruf und sein Werk ausüben. Obwohl also Christus nicht das Schwert geführt noch gelehrt hat, so reicht es doch aus, dass er es nicht verboten noch aufgehoben, sondern bestätigt hat. Gleichwie es ausreicht, dass er den ehelichen Stand nicht aufgehoben, sondern bestätigt hat, obwohl er keine Frau genommen noch etwas darüber gelehrt hat. Denn er musste vor allen Dingen in solchem Stand und Werk tätig sein, die eigentlich nur seinem Reich dienten. Es sollte kein Grund dafür gegeben und kein Vorbild daran genommen werden zu lehren und zu glauben, das Reich Gottes könne nicht ohne Ehe und Schwert und dergleichen äußerliche Dinge bestehen. Denn Christi Vorbild zwingt zur Nachahmung. Das Reich Gottes besteht nur durch Gottes Wort und Geist, was Christi eigentliche Aufgabe gewesen ist und die Aufgabe des obersten Königs in diesem Reich sein muss. Da nun aber nicht alle Christen dasselbe Amt haben, obwohl sie alle Ämter haben könnten, ist es richtig, dass sie irgendein äußerliches Amt haben, womit Gott gedient werden kann. Aus diesem allen ergibt sich nun, welches das rechte Verständnis der Worte Christi Matthäus 5,39 ist: »Ihr sollt dem Übel nicht widerstreben« usw. Nämlich dass ein Christ so beschaffen sein soll, dass er alles Übel und Unrecht erdulde, sich nicht selbst räche, sich auch nicht vor Gericht verteidige, sondern dass er in allen Dingen der weltlichen Macht und des Rechts für sich selbst nicht bedürfe. Aber für andere kann und soll er Rache, Recht, Schutz und Hilfe suchen und dazu tun,

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was und wie er kann. Ebenso soll ihm auch die weltliche Macht helfen und ihn schützen entweder von selbst oder auf Anregen anderer, ohne seine eigene Klage, Ersuchen und Anregen. Wo sie das nicht tut, soll er sich schinden und schänden lassen und keinem Übel widerstehen, wie Christi Worte lauten. …

Die Macht der Obrigkeit hat Grenzen Jetzt kommen wir zum Hauptstück dieser Abhandlung. Denn nachdem wir gelernt haben, dass eine weltliche Obrigkeit auf Erden sein muss und wie man sie christlich und selig ausüben soll, müssen wir nun lernen, wie lang ihr Arm ist und wie weit ihre Hand reicht, sodass sie nicht zu weit ausgreife und in Gottes Reich und Regiment eingreife. Und das ist sehr notwendig zu wissen. Denn unerträglicher und grauenvoller Schaden folgt daraus, wenn man ihr zu viel Raum gibt. Und es ist auch nicht ohne Schaden, wenn sie zu sehr eingeengt wird. Einmal straft sie zu wenig, einmal straft sie zu viel. Es ist allerdings erträglicher, wenn sie zu wenig straft und so sündigt, weil es immer besser ist, einen Bösewicht leben zu lassen als einen rechtschaffenen Mann zu töten, denn die Welt hat Bösewichte und wird sie immer haben, Gute aber nur wenige. Aufs Erste muss bedacht werden, dass die zwei Teile der Adamskinder, deren einer in Gottes Reich unter Christus, deren anderer im Reich der Welt unter der Obrigkeit steht, wie ich oben erläutert habe, unter zweierlei Gesetz leben. Denn jedes Reich hat seine Gesetze und sein Recht, und ohne Gesetze kann kein Reich bestehen, wie das hinreichend die tägliche Erfahrung zeigt. Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken als über Leib und Gut und was äußerlich auf Erden ist. Denn über die Seele kann und will Gott niemanden regieren lassen als sich selbst allein. Deshalb gilt: Wenn weltliche Gewalt sich vermisst, der Seele Gesetze zu geben, greift sie Gott in sein Regiment und verführt und verdirbt nur die Seelen. Das wollen wir so klar machen, dass man es mit Händen greifen kann, damit unsere Junker, die Fürsten und Bischöfe, sehen, was sie für Narren sind, wenn sie die Menschen mit ihren Gesetzen und Geboten zwingen wollen, so oder so zu glauben. … Deshalb ist es eine gar überaus närrische Sache, wenn sie gebieten, man solle der Kirche, den Vätern, den Konzilen glauben, obgleich kein Gotteswort da sei. Teufelsapostel gebieten solches und nicht die

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Kirche. Denn die Kirche gebietet nichts, sie wisse denn sicher, dass es Gottes Wort sei, wie 1. Petrus 4,11 sagt: »Wenn jemand redet, rede er es als Gottes Wort.« Sie werden aber nicht beweisen können, dass die Festlegungen der Konzile Gottes Wort sind. Viel närrischer ist es aber noch, wenn man sagt: Die Könige und die Fürsten und die Menge glauben so. Mein Lieber, wir sind nicht getauft auf Könige oder Fürsten noch auf die Menge, sondern auf Christus und Gott selbst. Wir heißen auch nicht Könige, Fürsten oder Menge, wir heißen Christen. Der Seele soll und kann niemand gebieten, er wisse ihr denn den Weg gen Himmel zu weisen. Das kann aber kein Mensch, sondern Gott allein. Deshalb soll in den Sachen, welche die Seligkeit der Seele betreffen, nichts anderes als Gottes Wort gelehrt und angenommen werden. … Wenn nun dein Fürst oder weltlicher Herr dir gebietet, es mit dem Papst zu halten und so oder so zu glauben, oder dir gebietet, Bücher von dir zu tun, sollst du sagen: »Es gebührt Luzifer nicht, neben Gott zu sitzen. Lieber Herr, ich bin verpflichtet, euch zu gehorchen mit Leib und Gut. Gebietet mir nach dem Maß eurer Gewalt auf Erden, so will ich folgen. Heißt ihr mich aber etwas Bestimmtes zu glauben oder Bücher abzugeben, so will ich nicht gehorchen. Denn dann seid ihr ein Tyrann und greift zu hoch, gebietet, wo ihr weder Recht noch Macht habt usw.« Nimmt er dir darüber dein Gut und straft deinen Ungehorsam, so bist du selig und kannst Gott danken, dass du gewürdigt wurdest, um des göttlichen Wortes willen zu leiden. Lass ihn nur toben, den Narren, er wird seinen Richter wohl finden. Denn ich sage dir, falls du ihm nicht widersprichst und du ihm Raum gibst, dass er dir den Glauben und die Bücher nimmt, so hast du wahrlich Gott verleugnet. … Und du sollst wissen, dass von Anbeginn der Welt an kluge Fürsten gar seltene Vögel sind. Noch viel seltener aber sind fromme Fürsten. Die Fürsten sind im Allgemeinen die größten Narren und die schlimmsten Bösewichte auf Erden. Deshalb muss man bei ihnen allezeit auf das Schlimmste gefasst sein und kann nur wenig Gutes von ihnen erwarten, besonders in göttlichen Dingen, die das Seelenheil betreffen. Sie sind Gottes Gefängniswärter und Henker, und Gottes Zorn gebraucht sie, um die Bösen zu strafen und äußerlichen Frieden zu halten. Er ist ein großer Herr, unser Gott. Deshalb braucht er auch solche edlen, hochgeborenen, reichen Henker und Ordnungshüter und will, dass sie Reichtum, Ehre und Furcht von jedermann im Überfluss haben sollen. Es gefällt seinem göttlichen Willen, dass wir

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seine Henker »gnädige Herren« nennen, ihnen zu Füßen fallen und mit aller Demut untertan sind, sofern sie ihr Handwerk nicht zu weit ausdehnen und von Henkern zu Hirten werden wollen. Wenn nun ein Fürst klug, fromm und ein Christ wird, ist das ein großes Wunder und ein allerwertvollstes Zeichen göttlicher Gnade für dessen Land. Denn im Allgemeinen geht es nach dem Spruch Jesaja 3,4: »Ich will ihnen Knaben zu Fürsten geben, und Mutwillige sollen über sie herrschen«, und Hosea 13,11: »Ich gebe dir Könige in meinem Zorn und will sie dir nehmen in meinem Grimm.« Die Welt ist zu böse und nicht wert, dass sie viele kluge und fromme Fürsten haben könnte. Zu Fröschen gehören Störche. Da wendest du abermals ein: Ja, weltliche Gewalt darf nicht zum Glauben zwingen, aber sie kann äußerlich wehren und verhindern, dass die Menschen mit falscher Lehre verführt werden. Wie könnte man sonst den Ketzern wehren? Ich antworte: Das sollen die Bischöfe tun. Denen ist dieses Amt befohlen und nicht den Fürsten. Denn Ketzerei kann man nie mit Gewalt bekämpfen. Ein anderer Zugriff ist notwendig. Es muss anders gehandelt werden als mit dem Schwert. Gottes Wort soll hier streiten. Wenn Gottes Wort nichts ausrichtet, so wird auch weltliche Gewalt nichts ausrichten können, selbst wenn sie die Welt mit Blut füllen würde. Ketzerei ist eine geistliche Sache. Die kann man mit keinem Eisen zerhauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken. Es steht allein das Gotteswort zur Verfügung. Das tut es, wie Paulus 2. Korinther 10,4f. sagt: »Die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig im Dienste Gottes, Festungen zu zerstören. Wir zerstören damit Gedanken und alles Hohe, das sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, und nehmen alle Gedanken unter den Gehorsam Christi gefangen.« …

Grundsätze einer christlichen Amtsführung Nun ist es an der Zeit, dass wir, nachdem wir wissen, wie weit weltliche Gewalt sich erstreckt, auch darüber schreiben, wie ein Fürst sich verhalten soll um derer willen, die auch gern christliche Fürsten und Herrn sein wollen und auch in jenes Leben zu kommen gedenken, von welchen es allerdings nur wenige gibt. Christus beschreibt selbst die Art der weltlichen Fürsten Lukas 22,25, wenn er sagt: »Die Könige der Völker herrschen, und ihre Mächtigen nennt man gnädige Herren.« Denn sie denken nicht anders als so: Weil sie als Herren gebo-

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ren oder erwählt sind, haben sie ein Recht darauf, dass sie sich dienen lassen und mit Gewalt regieren. Wer nun ein christlicher Fürst sein will, der muss wahrlich die Meinung ablegen, dass er herrschen und mit Gewalt vorgehen solle. Denn verflucht und verdammt ist alles Leben, das sich selbst zu Nutzen und zugute gelebt und gesucht wird, verflucht alle Werke, die nicht in der Liebe erfolgen. Sie erfolgen aber in der Liebe, wenn sie nicht auf eigene Lust, Nutzen, Ehre, Sicherheit und Heil, sondern auf anderer Nutzen, Ehre und Heil von ganzem Herzen gerichtet sind. … Zuerst muss er seine Untertanen ansehen und dabei sein Herz recht ausrichten. Das tut er aber dann, wenn er seinen ganzen Sinn dahin richtet, dass er denselben nützlich und dienlich sei, und nicht so denkt: Land und Leute sind mein, ich will es machen, wie es mir gefällt, sondern so: Ich bin für das Land und die Leute da, ich muss alles so machen, wie es ihnen nützlich und gut ist. Nicht darf ich suchen, wie ich hoch einherfahre und herrsche, sondern wie sie in gutem Frieden beschützt und verteidigt werden. Und er soll sich Christus vor seine Augen stellen und sagen: Siehe, Christus, der oberste Fürst, ist gekommen und hat mir gedient, nicht gesucht, wie er Macht, Gut und Ehre durch mich gewinnen könne, sondern er hat meine Not angesehen und alles daran gewandt, dass ich Macht, Gut und Ehre an ihm und durch ihn bekomme. So will ich mich auch verhalten. Ich will nicht an meinen Untertanen das Meine suchen, sondern das Ihre, und ich will ihnen mit meinem Amt dienen, sie schützen, ihnen nachsichtig sein und sie verteidigen. Ich will allein mit der Absicht regieren, dass sie und nicht ich Gutes und Nutzen davon haben. Also sollte sich ein Fürst in seinem Herzen seiner Macht und Obrigkeit entäußern und sich der Bedürfnisse seiner Untertanen annehmen und so handeln, als wäre es sein eigenes Bedürfnis. Denn so ist Christus mit uns umgegangen, und das sind die Werke wahrer christlicher Liebe. Und nun sagst du: Wer wollte dann noch Fürst sein? Auf diese Weise würde der Fürstenstand doch der elendeste auf Erden sein, da viel Mühe, Arbeit und Unlust dazu gehören. Wo würden dann die fürstlichen Ergötzungen mit Tanzen, Jagen, Laufen, Spielen bleiben und welche weltlichen Freuden es noch gibt? Da antworte ich: Wir lehren jetzt nicht, wie ein weltlicher Fürst leben soll, sondern wie ein weltlicher Fürst ein Christ sein soll, damit er auch in den Himmel komme. Wer weiß das nicht, dass ein Fürst, wie man sagt, Wildbret im Himmel, also etwas im Himmel nur selten zu Findendes ist? Ich

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rede auch nicht deshalb darüber, weil ich hoffen würde, weltliche Fürsten würden es annehmen, sondern nur für den Fall, dass es irgendeinen gäbe, der gerne Christ sein und wissen wollte, wie er verfahren solle. Denn ich bin mir sicher, dass Gottes Wort sich nicht nach den Fürsten richten noch beugen wird, sondern die Fürsten müssen sich nach ihm richten. Mir reicht es, wenn ich zeigen kann, dass es einem Fürsten nicht unmöglich sei, ein Christ zu sein, obwohl es selten und für ihn mühsam ist. Denn wenn sie sich so verhalten würden, dass ihr Tanzen und Jagen und Laufen für die Untertanen ohne Schaden wäre und sie ihr Amt auch sonst ihnen gegenüber mit Liebe ausüben würden, wäre Gott nicht so hart, dass er ihnen nicht Tanz und Jagd und Rennen gönnen würde. Aber es würde sich von selbst wohl ergeben, dass gar mancher lieber Tanz, Jagd, Rennen und Spielen unterblieben, wenn sie ihre Untertanen ihrem Amt gemäß betreuen und versorgen würden.

Sind Kriege erlaubt? Darf ein Christ Soldat sein?

Eng mit der Obrigkeitsfrage zusammen hängt die Frage: Dürfen christliche Obrigkeiten Kriege führen und dürfen Christen Soldaten sein? Luthers Grundsatz, sich in Theologie und Ethik streng am Neuen Testament zu orientieren, legte nahe, beide Fragen mit einem Nein zu beantworten, denn Jesus hatte ja eindeutig geboten: Liebt eure Feinde … (Matthäus 5,44). 1526 äußerte sich Luther auch zu dieser Frage und erklärt das Kriegführen, wenn es letztlich dem Frieden dient, zu einem »Werk der Liebe«. Nicht erlaubt ist aus Luthers Sicht allerdings ein Krieg von Untertanen gegen ihre Obrigkeit, selbst die gewaltsame Beseitigung eines Tyrannen lehnt er ab. Ein wahnsinnig gewordener Fürst dürfe aber abgesetzt und gefangen genommen werden. Die Verweigerung des Kriegsdienstes, konkret die Nichtbeteiligung an offenkundig ungerechten Kriegen, ist aber möglich.

Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526): WA 19, S. 616–662; Cl 3, S. 317–351; StA 3, S. 357–401.

Von dem Kriegsamt und -werk, das an sich recht und göttlich ist, gedenke ich hier nicht ausführlich zu schreiben, weil ich davon im Büchlein von weltlicher Obrigkeit reichlich geschrieben habe. Ich wage mich zu rühmen, dass seit der Apostel Zeit das weltliche Schwert und die Obrigkeit nie so klar beschrieben und herrlich gepriesen wurden wie durch mich. Das geben auch meine Feinde zu. Aber als Dank dafür wird meine Lehre als aufrührerisch und als eine, die sich gegen die Obrigkeit richte, gescholten und verdammt. Doch Gott sei gelobt dafür. Weil das Schwert von Gott eingesetzt wurde, die Bösen zu strafen, die Frommen zu schützen und Frieden zu schaffen, wie wir Römer 13,1ff., 1. Petrus 2,13ff. lesen, so ist es auch unwiderlegbar genug bewiesen, dass Kriegführen und Töten und was Kriegszeiten und Kriegsrecht mit sich bringen, von Gott eingesetzt sind. Was ist Krieg anderes, als Unrecht und Böses strafen? Warum führt man Krieg, außer weil man Frieden und Gehorsam haben will? Obwohl es nun nicht so aussieht, als ob das Töten und Rauben Werke der Liebe seien, weshalb Einfältige denken, es seien keine christlichen Werke und es zieme auch einem Christen nicht sie zu tun, so sind sie doch in Wahrheit auch Werke der Liebe. Denn es ist genauso wie bei einem guten Arzt: Wenn die Seuche so böse und groß ist, dass er Hand, Füße, Ohr oder Augen abhauen oder zerstören muss, damit er den Leib

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Sind Kriege erlaubt? Darf ein Christ Soldat sein?

rette, scheint es, er sei ein grauenhafter, unbarmherziger Mensch, wenn man das Glied ansieht, das er abhaut. Wenn man aber den Leib ansieht, den er damit retten will, so findet es sich in Wahrheit, dass er ein tüchtiger, zuverlässiger Mensch ist und ein gutes christliches – soweit es an ihm selbst liegt – Werk tut. So ist es auch, wenn ich das Kriegsamt beobachte, wie es die Bösen straft, die Unrecht haben tötet und diesen Jammer anrichtet. Es scheint ein gar unchristliches Werk zu sein und ganz und gar gegen die christliche Liebe. Schaue ich mir aber an, wie es die Guten schützt, Frau und Kind, Haus und Hof, Gut und Ehre und Friede damit erhält und bewahrt, so zeigt sich, wie köstlich und göttlich das Werk ist. Und ich bemerke, dass es auch ein Bein oder eine Hand nur abhaut, damit nicht der ganze Leib vergehe. Denn wo das Schwert nicht wehrte und Frieden hielte, müsste alles durch Unfrieden verderben, was in der Welt ist. Deshalb ist ein solcher Krieg nichts anderes als ein kleiner kurzer Unfriede, der einem ewigen unermesslichen Unfrieden wehrt, ein kleines Unglück, das einem großen Unglück wehrt. … Kurz gesagt: Man darf beim Kriegsamt nicht darauf schauen, wie es tötet, brennt, schlägt und fängt usw. Denn das tun die kurzsichtigen, einfältigen Kinderaugen, die dem Arzt nicht weiter zusehen, als wie er die Hand abhaut oder das Bein absägt, sehen aber oder merken nicht, dass es darum geht, den ganzen Leib zu retten. So muss man auch dem Kriegs- oder Schwertamt mit männlichen Augen zusehen und bedenken, warum es so tötet und grausam handelt. Dann wird es sich von selbst beweisen, dass es ein Amt ist, das an sich göttlich und der Welt so nötig und nützlich ist wie Essen und Trinken oder sonst ein anderes Werk. Dass aber etliche dieses Amt missbrauchen, ohne Notwendigkeit töten und schlagen, aus lauter Mutwillen, das ist nicht die Schuld des Amtes, sondern die der konkreten Person. Denn wo ist je ein Amt, Werk oder irgendein Ding so gut, dass es die mutwilligen, bösen Menschen nicht missbrauchten? Diese gleichen wahnsinnigen Ärzten, die eine gesunde Hand eines Menschen aus lauter Mutwillen abhauen. Ja, sie sind Teil des allgemeinen Unfriedens, dem man mit rechtem Krieg und Schwert wehren und den man zum Frieden zwingen muss. Es geschieht auch allewege und ist immer geschehen, dass die geschlagen werden, die Krieg ohne Not anfangen. Denn sie können zuletzt doch Gottes Gericht, das ist seinem Schwert, nicht entgehen. Er findet und trifft sie zuletzt. … Danach behandeln wir nun auch das Kriegsrecht oder den Umgang mit dem Kriegswerk mit Blick auf die Personen. Erstens ist zu sagen, dass Krieg von dreierlei Personen geführt werden kann. Es kann 1. einer

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gegen seinesgleichen streiten. In diesem Fall hat keine der beiden Personen der anderen Treue geschworen oder ist ihr untertan, obgleich die eine Person nicht so groß, herrlich, mächtig sein mag wie die andere. 2. kann die »Oberperson« gegen ihre »Unterperson« Krieg führen. Ferner kann 3. die »Unterperson« gegen ihre »Oberperson« streiten. Das Dritte nehmen wir uns zuerst vor. Hier steht das Recht und sagt, dass niemand gegen seinen Oberherren fechten noch streiten solle, denn der Obrigkeit ist man Gehorsam, Ehre und Furcht schuldig, Römer 13,1ff. Wer mit dem Beil nach oben haut, dem fallen die Späne in die Augen. Und Salomo sagt (Sprüche 26,27): »Wer einen Stein wälzt, auf den wird er zurückkommen.« Das ist kurzum das Recht selbst, das Gott selbst eingesetzt hat und das von den Menschen angenommen wurde. Denn es passt nicht zusammen, gehorsam zu sein und doch zu widerstreiten, untertänig zu sein und den Herrn nicht leiden zu wollen. … Erlaubt ist es aber, einen Fürsten, König oder Herrn, der wahnsinnig wurde, abzusetzen und gefangen zu nehmen. Denn dieser kann nicht mehr als ein Mensch angesehen werden, weil seine Vernunft dahin ist. Ja, sagst du, ein wütender Tyrann ist sicher auch für wahnsinnig oder wohl noch für schlimmer zu erachten als einer, der seinen Verstand verloren hat, denn er tut viel mehr Schaden usw. Aber hier wird die Antwort schwierig. Dieser Gedanke hat einen mächtigen Schein des Rechts und will eine Rechtfertigung herauszwingen. Aber meine Meinung ist, dass ein Wahnsinniger und ein Tyrann nicht dasselbe ist. Denn der Wahnsinnige kann nichts Vernünftiges tun noch leiden, es ist auch keine Hoffnung darauf mehr da, weil das Licht der Vernunft weg ist. Aber ein Tyrann handelt noch vernünftig. Er weiß, wann er Unrecht tut, und er hat noch ein Gewissen und Erkenntnis. Und es gibt noch Hoffnung, dass er sich bessern, sich etwas sagen lassen und lernen und dem folgen könnte. Das ist bei dem Wahnsinnigen nicht so. Er ist wie ein Klotz oder ein Stein. Überdies wären noch eine böse Folgerung und ein gefährliches Beispiel damit verbunden. Wo es gebilligt würde, Tyrannen zu ermorden oder zu verjagen, könnte es bald einreißen und eine allgemeine Willkür daraus werden. Man würde Herrscher als Tyrannen schelten, die gar keine Tyrannen sind, und sie auch ermorden, wie es dem Pöbel in den Sinn kommt. Das zeigt uns die römische Geschichte. Sie haben manchen guten Kaiser nur deswegen getötet, weil er ihnen nicht gefiel oder nicht ihren Willen tat und sie nicht Herren sein ließ und sich nicht für ihren Knecht und Maulaffen hielt. So ist es dem Galba, Per-

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tinax, Gordian, Alexander und mehreren anderen Kaisern geschehen. Man darf dem Pöbel nicht zu viel zugestehen, er wird sonst gern toll. Es ist besser ihm in solchen Fällen zehn Ellen abzubrechen, als eine Handbreit, ja einen Fingerbreit einzuräumen. Und es ist besser, dass ihnen die Tyrannen hundertmal Unrecht tun, als dass sie den Tyrannen einmal Unrecht tun. Denn da ja Unrecht erduldet werden soll, ist es vorzuziehen, es von der Obrigkeit zu erdulden, als dass es der Obrigkeit von den Untertanen zugefügt werde. Denn der Pöbel hat und weiß kein Maß und in jedem Einzelnen aus dem Pöbel stecken mehr als fünf Tyrannen. Es ist besser von einem Tyrannen, das heißt von der Obrigkeit, Unrecht zu erleiden als von unzähligen Tyrannen, das heißt vom Pöbel, Unrecht zu erleiden. … Eine weitere Frage: Was wäre, wenn mein Herr unrecht hätte, Krieg zu führen? Antwort: Wenn du sicher weißt, dass er unrecht hat, sollst du Gott mehr fürchten und gehorchen als den Menschen, Apostelgeschichte 5,29, und sollst nicht Krieg führen noch dienen. Denn du könntest dabei kein gutes Gewissen vor Gott haben. Ja, sagst du, aber mein Herr zwingt mich, nimmt mir mein Lehen, gibt mir mein Geld, Lohn und Sold nicht. Außerdem würde ich von der Welt als ein Feigling verachtet und gescholten, ja als ein Treuloser, der seinen Herrn in der Not verlässt usw. Antwort: Das musst du darauf ankommen lassen und um Gottes willen geschehen lassen, was da geschieht. Er kann es dir wohl hundertfältig wiedergeben, wie er im Evangelium, Matthäus 19,29, verheißt: »Wer um meinetwillen verlässt Haus, Hof, Frau, Gut, der wird es hundertfach empfangen« usw. Man muss solcher Gefahr in allen anderen Werken auch gewärtig sein, wenn die Obrigkeit zwingt Unrecht zu tun. Aber weil Gott auch Vater und Mutter um seinetwillen verlassen haben will, muss man freilich auch seinen Herrn um Gottes willen verlassen usw. Wenn du aber nicht weißt oder nicht erfahren kannst, ob dein Herr im Unrecht sei, sollst du den sicheren Gehorsam wegen eines unsicheren Rechts nicht schwächen, sondern dich nach der Liebe Art des Besten zu deinem Herrn versehen. Denn die Liebe »glaubt alles« und »rechnet das Böse nicht zu«, 1. Korinther 13,7.5. So bist du sicher und fährst abermals gut vor Gott. Greift man dich deshalb an oder beschimpft dich als treulos, so ist es besser, dass dich Gott als treu und redlich preist, als dass dich die ganze Welt als treu und redlich preist. Was würde es dir helfen, wenn dich die Welt für Salomo oder Mose hielte und du würdest von Gott so böse angesehen wie Saul oder Ahab? …

Kritik am Großhandel und am Großkapital

Es ist nur wenig bekannt, dass Luther auch zu Wirtschaftsfragen Stellung genommen hat. Lange Zeit hielt man seine kritischen Äußerungen hierzu für völlig überholt, doch das könnte sich ändern. »Kapitalismus tötet« hat Papst Franziskus gesagt (2013) und damit gewagt, an einem Tabu zu rühren. Auch der Islam brandmarkt eine Geldwirtschaft, in der sich Kapital durch bloße Spekulation vermehrt. 2015 hat in Deutschland die erste Bank geöffnet, die nach islamischen Prinzipien wirtschaftet, wozu das Verbot gehört, für Geldleihe Zinsen zu nehmen. Auch für Luther war wie für die Kirche des Mittelalters das Zinsnehmen mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar. In seiner Zeit zählte er in diesen Fragen zu den Konservativen. Durchgesetzt hat sich im 16. Jahrhundert zunächst in der römischen Kirche, dann auch unter den Protestanten eine liberale Haltung, die dem modernen Kapitalismus den Weg bereitete. Schon in seiner Adelsschrift 1520 hat sich Luther kurz zu Wirtschaftsfragen geäußert und die Fugger angegriffen. 1524 wandte er sich dem Thema in einer eigenen, grundsätzlichen Schrift erneut zu. Martin Luther, Von Kaufhandlung und Wucher (1524): WA 15, S. 293–322; Cl 3, S. 1–46.

Das heilige Evangelium straft und zeigt, nachdem es an den Tag gekommen ist, allerlei Werke der Finsternis, wie Paulus sie Römer 13,12 nennt. Denn es ist ein helles Licht, das die ganze Welt erleuchtet und sie lehrt, wie böse die Werke der Welt sind, und die rechten Werke zeigt, die man gegen Gott und den Nächsten üben soll. Deshalb sind auch einige unter den Kaufleuten aufgewacht und haben gemerkt, dass bei ihrem Handeln manche böse Tricks und schädliche Wucherpraktiken vorkommen und zu befürchten ist, es gehe hier zu, wie Sirach 26,28 sagt, dass Kaufleute schwerlich ohne Sünde sein können. Ja, ich meine, es treffe sie der Spruch des Paulus 1. Timotheus 6,10: »Geldgier ist eine Wurzel alles Übels«, und ebenso 1. Timotheus 6,9: »Welche reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Verstrickung und in viele törichte und schädliche Begierden, welche die Menschen versinken lassen in Verderben und Verdammnis.« … Erstens haben die Kaufleute unter sich eine allgemeine Regel, das ist ihr Hauptspruch und Grund aller Wuchertricke, dass sie sagen: Ich darf meine Ware so teuer verkaufen, wie ich kann. Das halten sie für ihr Recht. Aber da wird dem Geiz Raum gegeben und der Hölle alle

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Kritik am Großhandel und am Großkapital

Türen und Fenster geöffnet. Was ist das denn anderes als: Ich frage nicht nach meinem Nächsten. Wenn ich nur meinen Gewinn habe und meinen Geiz stille, was geht mich es an, dass es meinem Nächsten zehn Schaden auf einmal zufügt? Da siehst du, wie dieser Gedanke so geradewegs und unverschämt nicht nur gegen die christliche Liebe, sondern auch gegen das natürliche Gesetz verstößt. Was sollte nun Gutes im Kaufhandel sein? Was sollte ohne Sünde sein, wo solches Unrecht das Hauptstück und die Regel des ganzen Handels ist? Der Kaufhandel ist so gesehen nichts anderes, als den anderen ihr Gut zu rauben und zu stehlen. … Die Kaufleute sollten nicht sagen: Ich darf meine Ware so teuer verkaufen, wie ich kann oder will, sondern so: Ich kann meine Ware so teuer verkaufen, wie ich darf oder wie es recht und angemessen ist. Denn dein Verkaufen soll nicht ein Werk sein, das frei in deiner Macht und Willen ohne alles Gesetz und Maß steht, als wärst du ein Gott, der an niemanden gebunden wäre. Sondern weil dein Verkaufen ein Werk ist, das du gegen deinen Nächsten ausübst, soll es durch Gesetz und Gewissen begrenzt sein, sodass du es ohne Schaden und Nachteil deines Nächsten ausübst. Und du sollst viel mehr darauf achten, dass du ihn nicht schädigst, als darauf, wie du Gewinn machst. Ja, wo sind solche Kaufleute? Es gäbe sicher weniger Kaufleute und der Kaufhandel würde abnehmen, wenn sie ihr böses Recht verbessern und auf christliche, angemessene Weise arbeiten würden. Du fragst nun: Ja, wie teuer soll ich denn verkaufen? Wo finde ich das Recht und das Maß, dass ich meinen Nächsten nicht übervorteile und ihm zu teuer verkaufe? Antwort: Das wird freilich mit keiner Schrift noch Rede jemals festgesetzt werden können. Es hat es auch noch niemand vorgenommen, jede Ware festzusetzen, den Preis zu steigern oder zu erniedrigen. Der Grund ist folgender: Die Waren sind nicht alle gleich. Außerdem holt man eine von ferner her als die andere. Manche verursachen mehr Kosten als andere. So ist hier alles ungewiss und muss ungewiss bleiben. Nichts Bestimmtes kann festgesetzt werden. Denn man kann auch keine bestimmte Stadt festlegen, wo man die Waren alle herholt, oder feste Unkosten bestimmen, die damit verbunden sind. Zumal es geschehen kann, dass dieselbe Ware aus derselben Stadt, auf derselben Straße heute mehr kostet als vor einem Jahr, weil vielleicht Weg und Wetter schlechter sind oder sonst ein Zufall kommt, der zu mehr Unkosten führt als zu einer anderen Zeit. Nun ist es aber billig und recht, dass ein Kaufmann an seiner

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Ware so viel verdient, dass seine Kosten ausgeglichen und seine Mühe, Arbeit und Gefahr belohnt werden. Es muss ja auch ein Ackerknecht Nahrung und Lohn von seiner Arbeit bekommen. Wer kann umsonst dienen oder arbeiten? So sagt das Evangelium Lukas 10,7: »Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.« Ich will nun aber doch einen Vorschlag machen: Es wäre das Beste und Sicherste, wenn die weltliche Obrigkeit hier vernünftige, redliche Leute einsetzen und beauftragen würde, die alle Waren mit ihren Kosten überschlagen und danach das Maß und Ziel festsetzen würden, was sie kosten sollten. So könnte der Kaufmann zurechtkommen und ausreichend Nahrung davon haben, wie man an etlichen Orten die Preise für Wein, Fisch, Brot und dergleichen festsetzt. Aber wir Deutschen haben mehr damit zu tun, zu trinken und zu tanzen, als dass wir uns um solche Regelungen und Ordnungen kümmern würden. Weil also eine solche Ordnung nicht zu erwarten ist, ist das der nächste und beste Rat, dass man die Ware kosten lasse, wie sie der allgemeine Markt gibt und nimmt oder wie es Landesgewohnheit zu geben und zu nehmen ist. Denn hier mag man das Sprichwort gelten lassen: Tu wie andere Leute, so bist du nicht närrisch. Was auf solche Weise verdient wird, halte ich für redlich und gut verdient. Denn hiermit verbunden ist die Gefahr, dass sie manchmal an der Ware und bei den Kosten verlieren und sie sich nicht allzureichen Verdienst holen können. … Wie hoch aber dein Lohn sein kann, den du mit diesem Handel und Mühe verdienen sollst, kannst du nicht besser errechnen und erschließen, als wenn du die Zeit und Größe der Arbeit überschlägst und einen gewöhnlichen Tagelöhner als Vergleich nimmst, der sonst irgendwo arbeitet, und siehst, was derselbe an einem Tag verdient. Dementsprechend berechne, wie viel Tage du an der Ware, sie zu holen und zu erwerben, dich gemüht und wie viel Mühe und Gefahr du dabei ausgestanden hast. Denn große Mühe und viel Zeitbedarf soll auch größeren Lohn haben. Näher und besser und bestimmter kann man in dieser Sache nicht reden noch lehren. Wem das nicht gefällt, der mach es besser. Meine Begründung steht, wie ich gesagt habe, im Evangelium (Lukas 10,7), dass ein Arbeiter seines Lohnes wert ist. Und Paulus sagt auch 1. Korinther 9,7: »Wer weidet eine Herde und nährt sich nicht von der Milch der Herde? Wer zieht denn in den Krieg und zahlt sich selbst den Sold?« Hast du eine bessere Begründung, gönne ich sie dir gerne. …

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Kritik am Großhandel und am Großkapital

Weiter kommt vor, dass einige ein Gut oder eine Ware in einem Land oder in einer Stadt ganz und gar aufkaufen, damit sie allein dieses Gut ganz und gar in ihrer Gewalt haben und es danach festsetzen, steigern und verkaufen können, wie teuer sie wollen und können. Nun habe ich oben gesagt, dass es falsch und unchristlich ist, wenn jemand sein Gut so teuer verkauft, wie er will und kann. Noch grauenvoller ist es, wenn man ein Gut alleine aufkauft. Das verbieten auch die kaiserlichen und weltlichen Rechte und nennen es ein Monopol. Das sind eigennützige Käufe, die in Land und Stadt gar nicht zu dulden sind. Und Fürsten und Herren sollten dieses verwehren und bestrafen, wenn sie ihr Amt recht führen wollen. Denn solche Kaufleute tun gerade, als wären die Kreaturen und Güter Gottes allein für sie geschaffen und gegeben und als könnten sie diese den anderen nach ihrem Mutwillen nehmen und festsetzen. … Weiter kommt vor, dass einige ihre Monopole und eigennützigen Käufe nicht ausnützen können, weil andere da sind, die auch die gleiche Ware und Gut haben. Dann fangen sie an, ihr Gut so billig zu verkaufen, dass die anderen nicht mitkommen können, und zwingen sie damit, dass sie entweder nichts verkaufen oder zu ihrem Verderben so billig verkaufen müssen wie jene. Auf diese Weise erreichen sie schließlich doch ein Monopol. Diese Leute sind nicht wert, dass sie Menschen heißen oder unter Menschen wohnen. Ja, sie sind nicht wert, dass man sie unterweise oder ermahne, da der Neid und Geiz hier so groß und unverschämt ist, dass er mit seinem Schaden auch andere zu Schaden bringt, damit er ja alleine übrig bleibe. Recht täte hier die weltliche Obrigkeit, wenn sie solchen alles nähme, was sie haben, und triebe sie zum Lande hinaus. Solche Dinge wären wohl nicht nötig zu erzählen, aber ich will sie deshalb mit eingemengt haben, damit man sieht, welch eine große Bosheit mit dem Kaufhandel verbunden ist, und es an den Tag komme vor jedermann, wie es in der Welt zugeht, und er sich vor solchen gefährlichen Tätigkeiten zu hüten weiß. … Von den Handelsgesellschaften könnte ich wohl viel sagen, aber es ist alles so grund- und bodenlos voller Geiz und Unrecht, dass nichts daran zu finden ist, was mit gutem Gewissen behandelt werden könnte. Denn wer ist so einfältig, dass er nicht sieht, dass die Gesellschaften nichts anderes sind als bloße Monopole? Diese verbieten auch die weltlichen heidnischen Rechte als aller Welt offenbar schädliche Einrichtungen. Ich will vom göttlichen Recht und vom christlichen Gesetz schweigen. Denn sie haben alle Ware unter ihren Händen und

Kritik am Großhandel und am Großkapital161

machen damit, was sie wollen, und treiben ohne alle Scheu die oben geschilderten Dinge. Sie steigern oder erniedrigen die Preise nach ihrem Gefallen und bedrängen und verderben alle kleinen Kaufleute gleichwie der Hecht die kleinen Fische im Wasser, gerade als wären sie Herren über Gottes Kreaturen und frei von allen Gesetzen des Glaubens und der Liebe. Daher kommt es, dass man in aller Welt die Gewürze so teuer kaufen muss, wie sie wollen. Sie treiben es im Wechsel: Heute steigern sie den Ingwer, über ein Jahr den Safran oder umgekehrt, sodass es sich allezeit ausgleicht und sie keinen Verlust, Schaden noch Gefahr riskieren. Sondern wenn der Ingwer verdirbt oder fehlt, so erholen sie sich am Safran und umgekehrt, damit sie ihres Gewinns sicher bleiben. Das ist gegen die Art und Natur nicht allein der Kaufgüter, sondern aller zeitlichen Güter, die Gott unter der Gefahr und Unsicherheit haben will. Aber sie haben es gefunden und getroffen, dass sie durch gefährliche, unsichere, zeitliche Waren sicheren, zuverlässigen und ewigen Gewinn machen. Aber dafür muss gleichwohl alle Welt ganz ausgesogen werden und alles Geld in ihre Kasse sinken und schwimmen. Wie könnte das je göttlich und recht zugehen, dass ein Mann in kurzer Zeit so reich wird, dass er Könige und Kaiser auskaufen könnte? Aber weil sie es dahin gebracht haben, dass alle Welt mit Gefahr und Verlust handeln muss, heute gewinnen, über ein Jahr verlieren, sie aber immer und ewiglich gewinnen und ihren Verlust mit gesteigertem Gewinn ausgleichen, so verwundert es nicht, dass sie bald aller Welt Gut an sich reißen. Ein ewiger sicherer Pfennig ist besser als ein zeitlicher unsicherer Gulden, sagt man. Nun machen aber solche Gesellschaften ihre Geschäfte mit unseren zeitlichen ungewissen Pfennigen für lauter ewige sichere Gulden. Wen würde es noch wundern, wenn sie zu Königen und wir zu Bettlern werden? Könige und Fürsten sollten hier aufmerken und dem mit strengem Recht wehren. Aber ich höre, sie haben Anteil daran und es geht nach dem Spruch Jesaja 1,23: »Deine Fürsten sind der Diebe Gesellen geworden.« Während sie Diebe hängen lassen, die einen Gulden oder einen halben gestohlen haben, machen sie Geschäfte mit denen, die alle Welt berauben und mehr stehlen als alle anderen, damit ja das Sprichwort wahr bleibe: Große Diebe hängen die kleinen Diebe, und wie der römische Ratsherr Cato sprach: Kleine Diebe liegen im Schuldturm und im Stock, aber öffentliche Diebe gehen in Gold und Seide. Was wird aber zuletzt Gott dazu sagen? Er wird tun, wie er bei

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Kritik am Großhandel und am Großkapital

Hesekiel 22,20 spricht: Fürsten und Kaufleute, einen Dieb mit dem anderen ineinander verschmelzen wie Blei und Erz, gleich als wenn eine Stadt ausbrennt, sodass weder Fürsten noch Kaufleute mehr seien. Ich befürchte, das steht bald bevor. Wir denken doch nicht daran, uns zu bessern, wie groß auch Sünde und Unrecht seien. Ebenso kann er Unrecht nicht ungestraft lassen. Deshalb darf niemand fragen, wie er mit gutem Gewissen in den Gesellschaften sein könne. Es gibt keinen anderer Rat als: Lass ab, da wird nichts Besseres daraus. Werden die Handelsgesellschaften bleiben, so werden Recht und Redlichkeit untergehen. Sollen Recht und Redlichkeit bleiben, so müssen die Handelsgesellschaften untergehen. Das Bett ist zu schmal, sagt Jesaja 28,20, einer muss herausfallen, und die Decke ist zu schmal, sie kann nicht beide zudecken.

Luthers Nein zum Aufstand der Bauern

Schon in der Adelsschrift 1520 hatte Luther den Kaufleuten die Bauern als Vorbild vor Augen gestellt: »Das weiß ich wohl, dass es viel göttlicher wäre, Ackerwerk zu mehren und Kaufmannschaft zu mindern.« Wenige Jahre später traten die Bauern mit sozialen Forderungen an die Öffentlichkeit. Biblisch begründet verlangten sie in ihren »Zwölf Artikeln«, einer im Druck verbreiteten Programmschrift, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Entlastung von Abgaben sowie die freie Pfarrerwahl auch in Dorfgemeinden. Zunächst in Süddeutschland, später in anderen Regionen, vor allem in Thüringen, sammelten sich unzufriedene Bauern in »Brüderlichen Vereinigungen« und bewaffneten sich. Es kam zu Übergriffen auf Burgen und Klös- Abb. 8: Luther als Hercules Germanicus ter. Die Bauern wollten sich mit Gewalt zurückholen, was man ihnen abgenommen hatte. Zunächst schlugen die Bauern Verhandlungen vor, griffen dann aber zu Gewalt. Im März 1525 begann der Bauernkrieg, der nach wenigen Monaten mit einer vernichtenden Niederlage der Bauern endete. Luther hat mehrfach zum Aufstand der Bauern Stellung genommen. Als er von Gewaltorgien vernahm, distanzierte er sich von den Bauern wie auch von ihren kirchlichen Unterstützern, beispielsweise Thomas Müntzer, und rief die Obrigkeiten dazu auf, gewaltsam gegen die Bauern und ihre Unterstützer vorzugehen. Es ging ihm zum einen um die Aufrechterhaltung der Ordnung und um die Souveränität der Obrigkeit, zum anderen sah er wegen der Gewaltausbrüche die Gefahr, dass die Reformation in Misskredit geraten könnte. Trotzdem schlug er auch noch einmal Verhandlungen vor und rief dazu auf, bloße Mitläufer zu schonen. Luther trat nicht immer friedfertig auf. Mehrfach hat er zu Gewalt aufgerufen, nicht nur gegen die Bauern, sondern auch gegen die Juden, die christlichen Täufer, die Türken sowie gegen den Papst und andere Repräsentanten der alten Kirche. Auch diese Seite Luthers hat Eingang gefunden in die Bilder, die zu seinen Lebzeiten verbreitet wurden. Hans Holbein, ein Baseler Maler, präsentierte 1522 Luther als Hercules Germanicus, als deutschen Herkules. Herkules war in der antiken Mythologie ein Halbgott, der viele Gefahren bestand und mehrere Ungeheuer tötete. Auf Holbeins Bild schlägt Luther mittelalterlichen Theologen die Köpfe ab. Das war natürlich symbolisch gemeint. Sie waren ja schon tot, und Luther bekämpfte sie mit Argumenten (Abb. 8).

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Luthers Nein zum Aufstand der Bauern

Martin Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525): WA 18, S. 344–361; Cl 3, S. 69–74; StA 3, S. 140–147.

In meinem ersten Büchlein zum Thema wagte ich die Bauern nicht zu verurteilen, weil sie anboten, sich zurechtweisen und belehren zu lassen, wie denn Christus Matthäus 7,1 gebietet, man solle nicht verurteilen. Aber ehe ich mich umsehe, machen sie den nächsten Schritt und greifen zu Gewalt und vergessen ihr Angebot. Sie rauben und toben und tun wie die rasenden Hunde. Daran sieht man nun gut, welche falsche Absicht sie gehabt haben und dass es lauter erlogene Sachen gewesen sind, die sie unter dem Namen des Evangeliums in den Zwölf Artikeln aufgeführt haben. Sie treiben kurzum reines Teufelswerk. Und besonders der, der in Mühlhausen regiert,8 richtet nichts als Raub, Mord und Blutvergießen an, wie denn Christus Johannes 8,44 von ihm sagt, dass er ein Mörder von Anbeginn sei. Da sich also diese Bauern und armen Leute verführen lassen und sich anders verhalten, als sie gesagt haben, muss ich auch anders von ihnen schreiben und ihnen als erstes ihre Sünde vor ihre Augen stellen, wie Gott Jesaja (Jesaja 58,1) und Hesekiel (Hesekiel 2,7) befiehlt. Vielleicht werden dadurch einige ihre Schuld erkennen. Danach werde ich das Gewissen der weltlichen Obrigkeit unterrichten, wie sie sich in der Angelegenheit verhalten soll. Dreierlei grauenhafte Sünden gegen Gott und Menschen laden diese Bauern auf sich, womit sie den Tod an Leib und Seele mannigfaltig verdient haben: Zum Ersten, dass sie ihrer Obrigkeit Treue und Gehorsam geschworen haben, ihr untertänig und gehorsam zu sein, wie Gott solches gebietet, wenn er Lukas 20,25 sagt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist«, und Römer 13,1: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit« usw. Weil sie aber diesen Gehorsam mutwillig und frevelhaft brechen und sich dazu gegen ihre Herren empören, haben sie damit Leib und Seele verwirkt, wie es bei treulosen, meineidigen, lügenhaften, ungehorsamen Buben und Bösewichten der Fall ist. Deshalb fällt auch Paulus Römer 13,2 folgendes Urteil über sie: »Die der Anordnung Gottes aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu.« Dieses Wort wird auch die Bauern schließlich treffen, es geschehe über kurz oder lang. Denn Gott will Treue und Pflicht erhalten haben. 8 Der frühere Luther-Anhänger Thomas Müntzer.

Luthers Nein zum Aufstand der Bauern165

Zweitens richten sie Aufruhr an, berauben und plündern frevelhaft Klöster und Schlösser, die nicht ihnen gehören, womit sie wie die offenen Straßenräuber und Mörder allein schon zweimal des Todes an Leib und Seele schuldig sind. Auch ist ein Mensch, den man des Aufruhrs überführen kann, schon von Gott und Kaiser geächtet, sodass recht und gut tut, wer ihn als Erster töten kann und mag. Denn über einen öffentlichen Aufrührer ist ein jeder Mensch beides, Oberrichter und Scharfrichter, gleich als wenn ein Feuer ausbricht: Wer als Erster löschen kann, der ist der Beste. Denn Aufruhr ist nicht ein einfacher Mord, sondern wie ein großes Feuer, das ein Land anzündet und verwüstet. So bringt Aufruhr mit sich ein Land voll Mordens und Blutvergießens und macht Witwen und Waisen und zerstört alles wie das allergrößte Unglück. Darum soll hier erschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch. Man muss ihn totschlagen wie einen tollwütigen Hund. Schlägst du ihn nicht tot, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir. Drittens bemänteln sie diese schreckliche, grauenvolle Sünde mit dem Evangelium und nennen sich christliche Brüder. Sie verlangen Eide und Huldigungen und zwingen die Menschen, sich an diesen Gräueln zu beteiligen. Damit werden sie die allergrößten Gotteslästerer und Schänder seines heiligen Namens. So ehren und dienen sie unter der Vorgabe des Evangeliums dem Teufel. Damit verdienen sie wohl zehnmal den Tod an Leib und Seele. Von einer hässlicheren Sünde habe ich nie gehört. Ich meine, dass der Teufel den Jüngsten Tag nahe fühlt, wenn er sich diese unerhörten Dinge vornimmt. Vielleicht will er sagen: Es ist das Letzte, darum soll es das Schlimmste sein. Er will den Bodensatz der Hölle aufrühren und dem Fass den Boden ganz hinausstoßen. Gott wolle ihm wehren! Da siehe, welch ein mächtiger Fürst der Teufel ist, wie er die Welt in Händen hat und ineinander mengen kann. Er hat so schnell so viele tausend Bauern gefangen, verführt, verblendet, verstockt und empört und macht mit ihnen, was sein allerwütigster Grimm sich vornimmt. Es hilft den Bauern auch nicht, dass sie vorgeben, nach 1. Mose Kapitel 1 und 2 seien alle Dinge frei und für alle geschaffen und wir seien alle gleich getauft. Denn im Neuen Testament hält und gilt Mose nichts, sondern da steht unser Meister Christus und unterwirft uns mit Leib und Gut dem Kaiser und weltlichem Recht, wenn er Lukas 20,25

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Luthers Nein zum Aufstand der Bauern

sagt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.« Ebenso sagt auch Paulus Römer 13,1 zu allen getauften Christen: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit«, und Petrus 1. Petrus 2,13: »Seid untertan aller menschlichen Ordnung.« Dieser Lehre Christi nachzuleben sind wir schuldig, wie der Vater vom Himmel gebietet und Matthäus 17,5 sagt: »Dies ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören.« Denn die Taufe macht nicht Leib und Gut frei, sondern die Seelen. Auch macht das Evangelium nicht die Güter allen gemeinsam. Eine Ausnahme bilden allein die, welche das freiwillig, aus sich selbst heraus tun wollen, wie die Apostel und Jünger Apostelgeschichte 4,32ff. Sie forderten allerdings nicht, dass die ihnen nicht gehörenden Güter des Pilatus und Herodes ihnen allen gemeinsam sein sollten, wie unsere unsinnigen Bauern toben, sondern ihre eigenen Güter. Aber unsere Bauern wollen die anderen, ihnen nicht gehörenden Güter für alle haben, ihre eigenen jedoch für sich behalten. Das sind mir feine Christen! Ich meine, dass kein Teufel mehr in der Hölle sei, sondern sie sind allzumal in die Bauern gefahren. Das Wüten ist übergroß und über alle Maßen. Weil nun die Bauern beide, Gott und Menschen, gegen sich aufbringen und so mannigfaltig schon des Todes an Leib und Seele schuldig sind und sich keinem Schiedsgericht stellen noch es abwarten, sondern immerfort toben, muss ich hier die weltliche Obrigkeit unterrichten, wie sie in dieser Sache mit gutem Gewissen verfahren solle. Erstens: Der Obrigkeit, welche ohne ein vorhergehendes Angebot zu einem gerichtlichen Vergleich diese Bauern schlagen und strafen kann und will, will ich nicht wehren, auch wenn es eine Obrigkeit ist, die das Evangelium nicht duldet. Denn sie hat das gute Recht dazu, da die Bauern nun nicht mehr um das Evangelium kämpfen, sondern offenbar geworden sind als Treulose, Meineidige, Ungehorsame, Aufrührerische, Mörder, Räuber, Gotteslästerer, welche auch eine heidnische Obrigkeit zu strafen Recht und Macht hat. Ja sie ist geradezu schuldig, solche Bösewichte zu strafen. Denn deshalb trägt sie das Schwert und ist Gottes Dienerin gegenüber denen, die Übles tun, Römer 13,4. Aber die Obrigkeit, welche christlich ist und das Evangelium fördert, weshalb jedoch die Bauern nicht einmal einen Schein des Rechts gegen sie haben, soll hier vorsichtig handeln und zuerst die Sache Gott anheimstellen und bekennen, dass wir das wohl verdient haben. Ferner soll sie sich Sorge machen, dass Gott vielleicht den Teufel zu einer allgemeinen Strafe für das deutsche Land so erregt hat. Danach

Luthers Nein zum Aufstand der Bauern167

soll sie demütig gegen den Teufel um Hilfe bitten. Denn wir kämpfen hier nicht nur gegen Blut und Fleisch, sondern gegen die geistlichen Bösewichte in der Luft, welche mit Gebet angegriffen werden müssen (Epheser 6,12; 2,2). Wenn nun das Herz so gegen Gott gerichtet ist, dass man seinen göttlichen Willen walten lässt, ob er uns als Fürsten und Herren haben wolle oder nicht wolle, soll man sich gegen die aufrührerischen Bauern auch noch, obwohl sie es eigentlich nicht wert sind, für Verhandlung und zu einem Vergleich anbieten. Danach, wenn das alles nicht hilft, soll man umgehend zum Schwert greifen. Ein Fürst und Herr muss hier bedenken, dass er Gottes Amtmann und Diener seines Zorns ist, Römer 13,4, dem das Schwert über solche Bösewichte anvertraut ist. Er würde sich vor Gott ebensosehr versündigen, wenn er nicht straft und dem Unrecht nicht wehrt und sein Amt nicht ausübt, als wenn einer mordet, dem das Schwert nicht befohlen ist. Denn wo er es kann und nicht straft, es sei durch Morden oder Blutvergießen, so ist er an allem Mord und Übel schuldig, das solche Bösewichte begehen, weil er durch Vernachlässigung seines göttlichen Befehls mutwillig solche Bösewichte ihre Bosheit ausüben lässt, obwohl er dem wehren kann und dessen schuldig ist. Deshalb darf man hier nicht schlafen. Es zählt hier auch nicht Geduld oder Barmherzigkeit. Es ist hier die Zeit des Schwertes und des Zornes und nicht die Zeit der Gnade. So soll nun die Obrigkeit hier getrost fortfahren und mit gutem Gewissen dreinschlagen, solange sie eine Sehne regen kann. Denn sie hat den Vorteil, dass die Bauern ein schlechtes Gewissen und unrechte Gründe haben und dass der Bauer, welcher deshalb erschlagen wird, mit Leib und Seele verloren und ewig des Teufels ist. Aber die Obrigkeit hat ein gutes Gewissen und rechte Gründe und kann zu Gott mit aller Sicherheit des Herzens sprechen: Siehe, mein Gott, du hast mich zum Fürsten oder Herrn gesetzt, daran ich nicht zweifeln kann, und hast mir das Schwert über die Übeltäter anvertraut, Römer 13,4. Es ist dein Wort und es kann nicht lügen. Deshalb muss ich dieses Amt bei Verlust deiner Gnade ausüben. Ebenso ist es auch offenbar, dass diese Bauern vor dir und vor der Welt vielfach den Tod verdienen und dass mir befohlen ist, sie zu strafen. Willst du mich nun durch sie töten lassen und mir die obrigkeitliche Gewalt wieder nehmen und mich untergehen lassen, wohlan, so geschehe dein Wille. Dann sterbe ich und gehe aus deinem göttlichen Befehl und Wort unter und werde im Gehorsam gegenüber deinem Befehl und meinem Amt gesehen.

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Luthers Nein zum Aufstand der Bauern

Darum will ich strafen und schlagen, solange ich eine Sehne regen kann, du wirst es gut richten und machen. So kann es denn geschehen, dass, wer auf der Obrigkeit Seite erschlagen wird, ein rechter Märtyrer vor Gott ist, sofern er mit einem solchen Gewissen kämpft, von dem ich gesprochen habe. Denn er handelt gemäß dem göttlichen Wort und im Gehorsam. Umgekehrt wird zu einem ewigen Höllenbrand werden, wer auf der Seite der Bauern umkommt. Denn er führt das Schwert gegen Gottes Wort und Gehorsam und ist ein Teufelsglied. Natürlich könnte es geschehen, dass die Bauern siegen – wovor Gott bewahre. Gott sind alle Dinge möglich, und wir wissen nicht, ob er vielleicht als Vorspiel des Jüngsten Tages, welcher nicht mehr ferne ist, durch den Teufel alle Ordnung und Obrigkeit zerstören und die Welt in einen wüsten Haufen werfen will. Auch wenn es so käme, sterben doch die in Frieden und gehen mit gutem Gewissen unter, die in ihrem Schwertamt recht handeln und dem Teufel das weltliche Reich lassen und dafür das ewige Reich nehmen. Solche wunderlichen Zeiten sind jetzt, dass sich ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, besser als andere mit Beten. Am Ende gibt es noch eine Sache, welche die Obrigkeit in angemessener Weise bedenken sollte. Die Bauern begnügen sich nicht damit, dass sie des Teufels sind, sondern sie zwingen und drängen viele rechtschaffene Menschen, die es ungern tun, zu ihrem teuflischen Bund und machen diese so aller ihrer Bosheit und Verdammnis teilhaftig. Denn wer ihnen willfährt, der fährt auch mit ihnen zum Teufel und ist aller Übeltat mitschuldig, die sie begehen. Und diese Menschen tun es, weil sie so schwachen Glaubens sind, dass sie dem Verlangen der Bauern nicht widerstehen können. Doch hundert Tode sollte ein frommer Christ lieber erleiden, ehe er ein Haarbreit in die Sache der Bauern einwilligte. Oh, viele Märtyrer könnten jetzt durch die blutdürstigen Bauern und Mordpropheten geschaffen werden! Solcher Gefangener unter den Bauern sollte sich die Obrigkeit erbarmen. Auch wenn sie sonst keinen Grund hätte, das Schwert getrost gegen die Bauern ausgehen zu lassen und selbst Leib und Gut daranzusetzen, so wäre es doch eine großartige Sache, dass man solche Seelen, die durch die Bauern zu solchem teuflischen Bündnis gezwungen werden und ohne ihren Willen mit ihnen so grauenvoll sündigen und verdammt werden müssen, errette und ihnen helfe. Denn solche Seelen gehören nicht ins Fegefeuer, nicht in die Hölle und des Teufels Bande.

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Darum, liebe Herren, erlöset hier, rettet hier, helft hier, erbarmt euch der armen Menschen! Steche, schlage, töte hier, wer da kann. Kommst du dadurch zu tot, wohl dir, einen seligeren Tod kannst du nimmermehr finden. Denn du stirbst im Gehorsam gegen das göttliche Wort und den Befehl, Römer 13,4ff., und im Dienst der Liebe, deinen Nächsten aus der Hölle und des Teufels Banden zu erretten. So bitte ich nun, fliehe weg von den Bauern, wer da kann, wie vom Teufel selbst. Die aber nicht fliehen, bitte ich, Gott wolle sie erleuchten und bekehren. Welche aber nicht zu bekehren sind, da gebe Gott, dass sie kein Glück noch Gelingen haben. Hier spreche ein jeder fromme Christ: Amen. Denn dieses Gebet ist recht und gut und gefällt Gott gut. Das weiß ich. Kommt das jemandem zu hart vor, bedenke er, dass Aufruhr unerträglich ist und jederzeit der Welt Zerstörung zu erwarten ist.

»Mit Juden freundlich umgehen!« (1523)

Die Bauern hatten auf die Reformation gesetzt und wurden enttäuscht. Die Leibeigenschaft fand in Deutschland erst im 19. Jahrhundert ihr Ende. Auch andere benachteiligte und unterdrückte Bevölkerungsgruppen verbanden mit der Reformation große Hoffnungen. Dies gilt vor allem für die Juden, die im 15. Jahrhundert in vielen Städten des Reichs von Verfolgungen und Vertreibungen heimgesucht worden waren. In Wittenberg selbst gab es keine Juden, denn sie waren schon im frühen 14. Jahrhundert vertrieben worden. Luther kannte kaum Juden persönlich. Und doch nahm er sich auch dieser Thematik an. Auf der Basis seiner biblischtheologischen Reflexionen nahm er 1523 zur Judenthematik eine eigene Stellung ein und machte weitreichende Vorschläge. Der Anlass für Luther, über Jesu Jude-Sein und über die Juden zu schreiben, waren 1523 Vorwürfe von römischer Seite, Luther leugne die Jungfräulichkeit Marias. Seine Judenschrift war also keine Missionsschrift. Sie wandte sich nicht an Juden, wurde aber auch von Juden gelesen. Martin Luther, Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (1523): WA 11, S. 307–336.

Eine neue Lüge wurde über mich verbreitet. Ich soll gepredigt und geschrieben haben, Maria, die Mutter Gottes, sei nicht immer Jungfrau gewesen, sowohl vor als auch nach der Geburt Jesu, sondern sie habe Christus von Joseph empfangen und danach noch mehr Kinder gehabt. … Das ist aber eine so armselige Lüge, dass ich sie verachte und eigentlich nicht darauf antworten wollte. Denn ich bin es seit drei Jahren ziemlich gut gewohnt, Lügen zu hören, auch von unseren nächsten Nachbarn. Und umgekehrt haben sie sich die edle Tugend angewöhnt, dass sie nicht rot werden noch sich schämen, auch wenn sie des Lügens öffentlich überführt werden. Sie lassen sich Lügner schelten und treiben es immer bunter. Dennoch gelten sie als die allerchristlichsten Leute, die den Türken besiegen und alle Ketzerei mit Leib und Gut vertilgen wollen. Weil ich aber um anderer willen auf diese Lüge antworten muss, habe ich gedacht, damit verbunden auch etwas Nützliches zu schreiben, damit ich nicht den Lesern mit diesen unbegründeten üblen Torheiten nutzlos die Zeit raube. Darum will ich aus der Heiligen Schrift die Gründe darlegen, die mich bewegen zu glauben, dass Christus ein

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Jude sei, von einer Jungfrau geboren. Ich möchte damit vielleicht auch einige der Juden zum Christenglauben reizen. Denn unsere Narren, die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönche, die groben Eselsköpfe, sind bisher so mit den Juden umgegangen, dass ein guter Christ am liebsten ein Jude geworden wäre. Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte diese Tölpel und Grobiane gesehen, wie sie den Christenglauben leiten und lehren, so wäre ich lieber eine Sau geworden als ein Christ. Denn sie haben die Juden behandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen. Sie haben nichts anderes getan, als sie zu beschimpfen und ihnen ihr Gut wegzunehmen. Wenn man sie getauft hat, hat man ihnen keine christliche Lehre noch Leben gezeigt, sondern sie nur der Päpsterei und der Möncherei unterworfen. Wenn sie dann gesehen haben, dass es für die Position der Juden starke Schriftargumente gab, das Christentum aber lauter Geschwätz war ohne Grundlage in der Heiligen Schrift, wie konnten sie da ihre Herzen stillen und rechte, gute Christen werden? Ich habe es selbst gehört von frommen, getauften Juden, dass sie, wenn sie nicht in unserer Zeit das Evangelium gehört hätten, ihr Leben lang Juden unter dem Christenmantel geblieben wären. Denn sie bestätigen, dass sie noch nie etwas von Christus gehört haben bei ihren Täufern und Meistern. Ich hoffe, wenn man mit den Juden freundlich umgeht und sie aus der Heiligen Schrift sorgfältig unterweist, würden viele rechte Christen aus ihnen werden. Und sie würden wieder zu dem Glauben ihrer Väter, der Propheten und Patriarchen, zurückfinden. Davon werden sie nur weiter abgeschreckt, wenn man ihnen Vorhaltungen macht und nichts auf sich beruhen lässt und wenn man sie nur mit Hochmut und Verachtung behandelt. Wenn die Apostel, die auch Juden waren, so mit uns Heiden umgegangen wären wie wir Heiden mit den Juden, wäre nie kein Christ unter den Heiden geworden. Aber da sie mit uns Heiden so brüderlich umgegangen sind, sollten auch wir brüderlich mit den Juden handeln, damit wir einige bekehren mögen. Denn wir sind auch selbst noch nicht alle am Ziel, geschweige denn hindurch. Und wenn wir uns auch hoch rühmen, so sind wir dennoch Heiden, die Juden aber haben das Blut Christi. Wir sind Schwäger und Fremdlinge. Sie sind Blutsfreunde, Vettern und Brüder unseres Herrn. Darum: Wenn man sich des Bluts und des Fleisches rühmen wollte, so stünden die Juden Christus allemal näher als wir. So sagt auch Sankt Paulus Römer 9,5. Auch hat es Gott wohl mit der Tat bewiesen. Denn keinem Volk unter den Heiden hat er je solche große Ehre erwiesen

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»Mit Juden freundlich umgehen!« (1523)

wie den Juden. Denn es stammt ja kein Patriarch, kein Apostel und kein Prophet aus den Heiden. Dazu haben sich auch nur wenige rechte Christen gefunden. Und obgleich das Evangelium der ganzen Welt kund getan wurde, so hat er doch keinem anderen Volk die Heilige Schrift, das ist das Gesetz und die Propheten, anvertraut als den Juden, wie Sankt Paulus sagt Römer 3,2 und Psalm 147,19f.: »Er verkündigt Jakob sein Wort, Israel seine Gebote und sein Recht.« Er hat mit keinem anderen Volk so gehandelt noch sein Recht ihnen offenbart. Ich bitte hiermit meine lieben Päpstlichen, nachdem sie müde geworden sind, mich einen Ketzer zu schimpfen, dass sie nun anfangen, mich als einen Juden zu beschimpfen. Vielleicht werde ich auch noch ein Türke werden und was meine Junker noch so wollen. … Die Juden nehmen Anstoß daran, dass wir unseren Jesus als einen Menschen und doch wahren Gott bekennen. Das wollen wir ihnen mit der Zeit auch deutlich aus der Heiligen Schrift nahebringen. Aber es ist für den Anfang zu hart. Lass sie zuvor Milch saugen und zuerst diesen Menschen Jesus als den rechten Messias erkennen. Danach sollen sie Wein trinken und auch lernen, dass er wahrhaftiger Gott sei. Sie sind zu tief und zu lange verführt worden. Man muss vorsichtig mit ihnen umgehen, denn es ist ihnen allzusehr eingeprägt worden, dass Gott nicht könne Mensch sein. Darum wäre meine Bitte und Rat, dass man rücksichtsvoll mit ihnen umgeht und sie aus der Heiligen Schrift unterrichtet. So könnten einige von ihnen herbeikommen. Aber wir versuchen sie mit Gewalt zu treiben. Wir erzählen Lügen und Possen. Wir beschuldigen sie, sie würden Christenblut verwenden, angeblich um nicht zu stinken. Und welches Narrenwerk findet sich noch? Man behandelt sie wie Hunde. Was könnten wir so Gutes bewirken? Man verbietet ihnen unter uns zu arbeiten, Handwerk zu treiben und an der menschlichen Gemeinschaft teilzuhaben. Damit zwingen wir sie zu wuchern! Wie aber sollte sie das bessern? Will man ihnen helfen, darf man nicht nach des Papstes Gesetz, sondern muss nach dem Gesetz der christlichen Liebe mit ihnen umgehen und sie freundlich annehmen. Man muss ihnen den Erwerb ermöglichen und sie arbeiten lassen, damit sie Grund und Raum gewinnen, bei und um uns zu sein und unsere christliche Lehre und Leben zu hören und sehen. Auch wenn einige halsstarrig bleiben – was liegt daran? Wir sind doch auch nicht alle gute Christen. Hier will ich dieses Mal aufhören, bis ich sehe, was ich bewirkt habe. Gott gebe uns allen seine Gnade. Amen.

»Man soll die Synagogen verbrennen!« (1543)

Luther hat später noch einmal grundsätzlich zur Judenfrage Position bezogen. Zwischen seinen beiden Stellungnahmen liegen zwanzig Jahre – und Welten. Leider hat er die judenfreundlichen, nach Vorne weisenden Ideen von 1523 nicht weiterverfolgt, sondern fiel auch aus Enttäuschung darüber, dass die Juden entgegen seiner Erwartung im Alten Testament kein Zeugnis von Jesus als dem Messias Israels erkennen und sich nicht zum Christentum bekehren wollten, in die feindselige Grundhaltung zurück, in der er als Student und Mönch in Erfurt groß geworden war. 1543 ließ er eine antijüdische Schrift ausgehen, auf die sich später sogar die Nationalsozialisten berufen haben: »Von den Juden und ihren Lügen«. Weitere Schriften und Predigten ähnlichen Inhalts folgten. Auch vor der Verwendung des Begriffs »Saujuden« schreckte Luther nicht zurück und bezeichnete die Synagogen als »Sauschulen« und ihre Rabbiner als »Schweine«. Sogar seine beiden allerletzten Predigten im Februar 1546 bekämpften die Juden und forderten deren Vertreibung. Christenhass und Wucher sind Luthers Hauptvorwürfe. Er bediente sich aber auch der stereotypen mittelalterlichen Anschuldigungen, die Juden vergifteten Brunnen und ermordeten christliche Kinder. Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen (1543): WA 53, S. 412–552.

Was sollen wir Christen nun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden tun? Dulden dürfen wir sie nicht, da sie unter uns sind und wir ihr Lügen, Lästern und Fluchen kennen. Wir würden uns sonst ihrer Lügen, Flüche und Lästerungen teilhaftig machen. Wir können das unlöschbare Feuer des göttlichen Zorns, wie die Propheten sagen, nicht löschen noch die Juden bekehren. Wir müssen im Gebet und mit Gottesfurcht eine scharfe Barmherzigkeit üben, damit wir vielleicht einige aus der Flamme und Glut erretten können. Rächen dürfen wir uns nicht. Sie haben die Rache am Hals, tausendmal schlimmer, als wir ihnen wünschen könnten. Ich will meinen treuen Rat geben. Erstlich, dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und zuschütte, sodass kein Mensch mehr einen Stein oder Schlacke sehe ewiglich. Und das soll man tun unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen sind und das öffentliche Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen nicht wissentlich geduldet noch darin

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»Man soll die Synagogen verbrennen!« (1543)

eingewilligt haben. Denn was wir bisher aus Unwissenheit geduldet haben – ich habe es selbst nicht gewusst –, wird uns Gott verzeihen. Nachdem wir es aber wissen, können wir nicht direkt vor unserer Nase ein Haus schützen und beschirmen, in dem die Juden Christus und uns verleumden, lästern, fluchen, anspeien und schänden, wie ich oben geschildert habe. Das wäre das Gleiche, als wenn wir es selbst tun würden, und noch viel schlimmer, wie jeder zur Genüge weiß. Mose schreibt 5. Mose 13,14ff., dass eine Stadt, die Abgötterei treibt, mit Feuer ganz zerstört werden muss und nichts davon übrigbleiben darf. Und wenn er jetzt lebte, so würde er der Erste sein, der die Judenschulen und -häuser ansteckte. Denn er hat gar deutlich geboten 5. Mose 4 und 12, sie sollen nichts zu- noch abtun von seinem Gesetz. Und Samuel sagt 1. Samuel 15,23, es sei Abgötterei, Gott nicht zu gehorchen. Nun besteht der Juden Lehre jetzt aus nichts anderem als aus nichtigen Zusätzen der Rabbiner und sie ist Abgötterei aus Ungehorsam. Mose ist ganz unbekannt geworden bei ihnen, wie ich gezeigt habe, wie bei uns unter dem Papsttum die Bibel unbekannt geworden ist. Also darf man auch wegen Mose ihre Schulen nicht dulden. Sie schänden ihn ebenso wie uns. Es gibt keinen Grund, dass sie für diese Abgötterei eigene, freie Gotteshäuser haben sollten. Zweitens: Man soll auch ihre Häuser zerbrechen und zerstören. Denn sie treiben ebendasselbe in ihnen, was sie in ihren Schulen treiben. Als Ersatz mag man sie unter ein Dach oder in einen Stall stecken wie die Zigeuner, damit sie wissen, dass sie nicht unsere Herren sind in unserem Lande, wie sie rühmen, sondern im Elend und gefangen, wie sie ohne Unterlass vor Gott über uns zetern, schreien und jammern. Drittens: Man soll ihnen alle Betbüchlein und Talmudkommentare wegnehmen, worin diese Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird. Viertens: Man soll ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbieten, weiter zu lehren. Denn dieses Amt haben sie mit allem Recht verloren, weil sie die armen Juden mit dem Spruch Moses 5. Mose 17,10ff. gefangen halten, wo er gebietet, sie sollen ihren Lehrern bei Verlust des Leibes und der Seele gehorchen. Doch Mose fügt klar hinzu: »Was sie dich lehren nach dem Gesetz des Herrn.« Das übergehen die Bösewichte und gehen mit dem Gehorsam des armen Volks nach ihrem Mutwillen um gegen das Gesetz des Herrn. Sie gießen ihnen Gift, Fluch und Lästerung ein. Das ist, wie uns der Papst mit dem Wort Matthäus 16,18

»Man soll die Synagogen verbrennen!« (1543)175

gefangen hielt, sodass wir alles glauben mussten, was er uns an Lug und Trug aus seinem Teufelskopf und nicht nach Gottes Wort lehrte. Deswegen hat er auch das Amt zu lehren verloren. Fünftens: Man soll den Juden keine Reiseerlaubnisse mehr geben, denn sie haben nichts auf dem Lande zu schaffen, weil sie nicht Herren noch Amtleute noch Händler noch desgleichen sind. Sie sollen daheim bleiben. Ich habe gehört, es würde jetzt ein reicher Jude mit zwölf Pferden – Der will wohl ein Bar Kochba9 werden! – über das Land reiten und Fürsten, Herren, Land und Leute auswuchern. Und große Herren sehen das mit an. Wenn ihr Fürsten und Herren diesen Wucherern die Straße nicht auf ordentliche Weise verbietet, könnte sich irgendwann eine Reiterschaft dagegen sammeln. Denn aus diesem Büchlein werden sie lernen, was die Juden sind und wie man mit ihnen umgehen und dass man ihr Treiben nicht schützen solle. Denn ihr sollt und dürft sie auch nicht schützen, ihr wolltet denn vor Gott aller ihrer Gräuel teilhaftig werden. Ob daraus etwas Gutes kommen könnte, das solltet ihr wohl bedenken und solltet es deshalb verhindern. Sechstens: Man soll ihnen den Wucher verbieten und ihnen alles Bargeld und alle Kleinodien an Silber und Gold nehmen und zur Verwahrung beiseitelegen. Und das aus folgendem Grund: Alles, was sie haben (wie ich schon gesagt habe), haben sie uns gestohlen und geraubt durch ihren Wucher, weil sie sonst keinen anderen Broterwerb haben. Dieses Geld sollte man dazu verwenden und nur dafür, um einem Juden, der sich wirklich bekehrt, hundert, zweihundert, dreihundert Gulden je nach der Person in die Hand zu geben, damit er ein Gewerbe für seine arme Frau und seine Kinder anfangen und die Alten und Gebrechlichen damit unterhalten kann. Dieses auf böse Weise gewonnene Gut ist verflucht, wenn man es nicht mit Gottes Segen für etwas Gutes und Nötiges verwendet. … Siebtens: Den jungen, starken Juden und Jüdinnen soll man in die Hand geben Dreschflegel, Axt, Hacke, Spaten, Spinngerät und Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße ihres Angesichts, wie es Adams Kindern geboten ist 1. Mose 3,19. Denn es ist nicht richtig, dass sie uns, die sie uns als »Heiden« verfluchen, im Schweiße unseres Angesichts arbeiten lassen, und sie, die heiligen Leute, wollen es hinter dem Ofen an faulen Tagen mit Pracht und Pomp verzehren und dabei auf lästerliche Weise prahlen, sie seien der Christen Herren und 9 Anführer der Juden in einem Aufstand gegen die Römer im 2. Jahrhundert.

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»Man soll die Synagogen verbrennen!« (1543)

lebten von unserem Schweiß. Man müsste ihnen das faule Schelmenbein aus dem Rücken treiben. Wir müssen allerdings befürchten, dass sie uns an Leib, Frau, Kind, Gesinde, Vieh usw. Schaden tun, sollten sie uns dienen und arbeiten müssen. Denn es ist zu vermuten, dass diese edlen Herren der Welt und bitteren Würmer, die keine Arbeit gewohnt sind, sich gar ungern so tief demütigen unter uns, die »verfluchten Heiden«. Deshalb wäre es besser, wenn wir so klug verfahren wie andere Nationen, wie Frankreich, Spanien, Böhmen usw.: Wir rechnen mit ihnen ab, was sie uns abgewuchert haben, und teilen das gütlich unter uns. Sie aber werden für immer aus dem Lande hinausgetrieben. Denn, wie gesagt, Gottes Zorn ist so groß über sie, dass sie durch sanfte Barmherzigkeit nur schlimmer und schlimmer, durch Schärfe aber auch kaum besser werden. Darum nur weg mit ihnen! …

Türken, Mohammed, Islam, Koran

Nicht nur zu den Juden hat sich Luther geäußert, sondern auch, ebenfalls mehrfach, zu den Moslems. Sie begegneten Luther in erster Linie als Türken, die vom Südosten her gegen das Reich vorrückten und 1529 Wien belagerten. Luther kannte den Koran und setzte sich dafür ein, dass dieser 1542/43 in Basel erstmals in lateinischer Sprache gedruckt und somit dem Abendland bekannt gemacht wurde. Wie das Judentum so lehnte Luther auch den Islam ab. Anders als beim Judentum konnte Luther aber bei den Moslems auch positive Seiten ihrer Religion und Mentalität entdecken.

Martin Luther, Eine Heerpredigt wider den Türken (1530): WA 30/2, S. 149–197.

Die Schrift weissagt uns von zwei grausamen Tyrannen, die vor dem Jüngsten Tag die Christenheit verwüsten und zerstören, und zwar einer geistlich, mit List oder falschem Gottesdienst und Lehre gegen den rechten christlichen Glauben und das Evangelium. Davon schreibt Daniel 11,36ff., dass er sich über alle Götter und über alle Gottesdienste erheben werde, welchen auch Paulus 2. Thessalonicher 2,4 den Antichrist nennt. Das ist der Papst mit seinem Papsttum, wovon wir an anderer Stelle genug geschrieben haben. Der andere Tyrann soll es aufs grauenvollste mit dem Schwert tun, leiblich und äußerlich, wovon Daniel 7,7f. überdeutlich weissagt und Christus Matthäus 24,15, der von einer Trübsal spricht, wie sie auf Erden noch nicht gewesen sei. Das ist der Türke. So muss der Teufel, weil das Ende der Welt vor der Tür steht, die Christenheit zuvor mit seinen beiden Mächten aufs allergrauenvollste angreifen und uns auf die zu ihm passende Weise verabschieden, ehe wir gen Himmel fahren. Wer nun zu dieser Zeit ein Christ sein will, der fasse sich ein Herz in Christus und denke nur nicht weiter an Frieden und gute Tage. Die Zeit dieser Trübsal und Weissagung ist da. Desgleichen ist unsere Hoffnung und Trost auf die Zukunft Christi und unsere Erlösung auch nicht fern, sondern wird sehr schnell darauf folgen, wie wir hören werden. Darum halte fest und sei sicher, dass der Türke bestimmt der letzte und ärgste Zorn des Teufels gegen Christus ist, womit er dem Fass den Boden ausschlägt und seinen Grimm gegen Christi

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Türken, Mohammed, Islam, Koran

Reich ganz ausschüttet, dazu auch die größte Strafe Gottes auf Erden über die undankbaren und gottlosen Verächter und Verfolger Christi und seines Worts und ohne Zweifel das Vorspiel der Hölle und ewiger Strafe. Denn Daniel sagt, dass nach dem Türken umgehend das Gericht und die Hölle folgen sollen (Daniel 7,10). Und man sieht es auch gut an den Ereignissen, wie grauenvoll der Türke die Menschen, Kinder, Frauen, Jung und Alt erwürgt, aufspießt, zerhackt, die ihm doch nichts getan haben, und so handelt, als sei er der zornige Teufel selbst leibhaftig. Denn nie hat ein Königreich so mit Morden und Wüten getobt, wie er tut. … Bisher haben wir nun gesehen, wofür der Türke und sein mohammedanisches Reich nach der Heiligen Schrift zu halten sei, nämlich dass er ein Feind Gottes und ein Lästerer und Verfolger Christi und seiner Heiligen durch Schwert und Streit sei. Er ist darauf aus, mit Schwert und Krieg gegen Christus und die Seinen zu wüten. Denn obwohl andere Könige vorzeiten auch die Christen mit dem Schwert verfolgt haben, so ist doch ihr Reich und Regiment nicht darauf ausgerichtet gewesen, dass sie Christus lästern und bekriegen, sondern es geschah zufällig, aus Missbrauch. Hat ein König verfolgt, so ist ein anderer König später gut gewesen und hat es wieder sein lassen. So haben sich also nicht die Königreiche oder Regimente selbst gegen Christus gewandt, sondern die Personen, die das Regiment innegehabt haben, sind zuweilen böse gewesen. Aber das Schwert und Reich Mohammeds selbst ist stracks gegen Christus gerichtet, als hätte es sonst nichts zu tun und könnte es sein Schwert nicht besser gebrauchen, als dass es gegen Christus lästert und streitet, wie denn auch sein Koran und die Taten dazu beweisen. Aus dem kann nun ein jeder sein Gewissen unterrichten und sich versichern, wenn er zum Kampf gegen den Türken gerufen wird, wie er denken und sich verhalten soll. Er darf nämlich keinen Zweifel haben, dass er gegen Gottes Feind und den Lästerer Christi, ja gegen den Teufel selbst kämpft, wenn er gegen den Türken, sofern dieser Krieg anfängt, kämpft. So darf er sich nicht sorgen, wenn er etwa einen Türken tötet, dass er unschuldig Blut vergießt oder einen Christen tötet, sondern er tötet bestimmt einen Feind Gottes und Lästerer Christi, den Gott selbst durch das Buch Daniel 7 als einen Feind Christi und seiner Heiligen zum höllischen Feuer verurteilt hat. Deshalb kann auch kein Christ oder ein Freund Gottes im Heer des Türken sein, er verleugne denn Christus und werde auch Gottes und seiner Heili-

Türken, Mohammed, Islam, Koran179

gen Feind. Sie sind vielmehr alle dem Teufel zu eigen und vom Teufel besessen wie ihr Herr Mohammed und der türkische Kaiser selbst. … Unter vielen anderen Ärgernissen bei den Türken ist das wohl das hervorstechendste, dass ihre Priester und Geistlichen ein so ernstes, konsequentes, strenges Leben führen, dass man sie als Engel und nicht als Menschen ansehen könnte. Alle unsere Geistlichen und Mönche im Papsttum sind ein Witz im Vergleich zu ihnen. Oft werden sie auch verzückt, auch bei Tisch vor den Menschen, sodass sie sitzen, als wären sie tot. Sie tun zuweilen auch große Wunderzeichen dazu. Wen sollte nun das nicht erstaunen und bewegen? Du aber, wenn dir solche begegnen, so wisse und bedenke, dass sie dennoch nichts von deinem Glaubensbekenntnis oder von deinem Herrn Jesus Christus wissen noch halten. Deshalb muss es falsch sein. Denn der Teufel kann auch ernst sein, streng blicken, viel fasten, falsche Wunder tun und die Seinen verzücken. Aber Jesus Christus kann er nicht leiden noch hören. Darum wisse, dass diese türkischen Heiligen Heilige des Teufels sind, die durch ihre eigenen großen Werke fromm und selig werden wollen und anderen ohne den einzigen Heiland Jesus Christus helfen. So verführen sie sich selbst und alle anderen, die das Glaubensbekenntnis zu Jesus Christus nicht kennen oder nicht achten, genauso wie uns unsere Mönche mit ihrer eigenen Heiligkeit zum Himmel haben helfen wollen. Zweitens wirst du auch finden, dass sie in ihren Gotteshäusern oft zum Gebet zusammenkommen und mit solcher Zucht, Stille und schönen äußerlichen Gebärden beten, wie sie bei uns in unseren Kirchen auch nirgends zu finden sind. Denn bei ihnen sind die Frauen an einem besonderen Ort und so verhüllt, dass man keine anschauen kann. Auch unsere gefangenen Brüder in der Türkei klagen über unser Volk, dass es sich nicht auch in unseren Kirchen so still, ordentlich und geistlich verhält und darstellt. Siehe, das könnte abermals einen solchen Gedanken in dein Herz kommen lassen und du könntest sagen: Fürwahr, so fein verhalten und stellen sich die Christen in ihren Kirchen nicht dar. Da drücke abermals mit dem Daumen auf einen Finger und denke an Jesus Christus, den sie nicht haben noch achten. Denn lasse sich verhalten, darstellen, gebärden, wer da will und wie er will. Glaubt er nicht an Jesus Christus, so sei sicher, dass Gott Essen und Trinken im Glauben lieber hat als Fasten ohne Glauben. Lieber wenige ordentliche Gebärden im Glauben als viele schöne Gebärden ohne Glauben. Lieber wenige Gebete im Glauben als viele Gebete

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ohne Glauben. Christus urteilt doch im Evangelium, Lukas 7,39ff., dass die arme Sünderin mit ihren wenigen Gebärden frommer ist als Simon der Aussätzige mit allem seinem Gepränge. Und der arme Sünder, der Zöllner, war ohne Fasten und Feiern besser als der hochmütige Pharisäer mit seinem Fasten und aller Heiligkeit (Lukas 18,14). Und Christus sagte ferner gegen die hübschen, ungläubigen Pharisäer: »Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr« (Matthäus 21,31). Drittens wirst du auch Wallfahrten zu den türkischen Heiligen daselbst finden, die doch nicht im Christenglauben, sondern in Mohammeds Glauben gestorben sind, wie sie bekennen und rühmen. Die Türken legen Gelübde ab, sie zu besuchen. Sie laufen hin und rufen sie an. Es ist in allem so, wie wir zu unseren Wallfahrten gelaufen sind und unsere Heiligen angerufen haben. Es wird auch vielen geholfen und es geschehen viele große Zeichen, gleichwie sie bei uns auch geschehen sind. Von solchen falschen Wunderzeichen haben wir oft und viel geschrieben, die bei uns durch die Heiligen, wie wir gemeint haben, und bei den Wallfahrten geschehen sind. Es sind auch etliche Tote auferweckt, Blinde sehend und Lahme gehend geworden und dergleichen. Christus hat Matthäus 24,24 verkündigt, dass die falschen Christusse und falschen Propheten solche Wunder tun werden. Dass auch die Auserwählten verführt würden, hat auch Paulus 2. Thessalonicher 2,9 verkündigt. Denn das ist dem Teufel ein Geringes, einen Menschen so zu plagen, dass dieser Mensch und jedermann meint, er sei blind, lahm oder tot. Wenn der Teufel damit die Abgötterei bewirkt und die Menschen von Christus weg und etwa dazu getrieben hat, die Heiligen, das heißt ihn selbst, anzurufen, dann hört er auf zu plagen, damit der Mensch glaubt, sein Heiliger habe ihm geholfen. Der Teufel beherrscht auch wohl so viel Kunst, dass er zuweilen wirkliche Krankheiten vertreiben und rechte Schäden heilen kann. Denn er ist ein Doktor über alle Doktoren in der Arznei, dazu ein Fürst der Welt. Siehe, welche Wunder tut er mit und durch seine Zauberer. Auf wie seltsame Weise hilft er ihnen, unbegreifliche Dinge zu tun. … Viertens wirst du bei den Türken nach dem äußerlichen Wandel ein ernstes, strenges und ehrbares Wesen sehen. Sie trinken keinen Wein, saufen und fressen nicht, wie wir es tun. Sie kleiden sich nicht so frei und locker, bauen nicht so prächtig, prangen auch nicht so, schwören und fluchen nicht so. Sie haben großen, trefflichen Gehorsam, Zucht und Ehre gegenüber ihrem Kaiser und Herrn. Sie haben ihr Regiment

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äußerlich so geordnet und so gut funktionierend, wie wir es gerne in deutschen Landen haben wollten. Und obwohl ihr Gesetz zulässt, dass einer zwölf Ehefrauen und dazu Mägde und Beischläferinnen haben kann, wie viel er will, und dennoch alle Kinder gleichermaßen Erben sind, halten sie doch ihre Frauen alle in großem Zwang und Gehorsam. Auch redet der Mann vor den Menschen selten mit einer seiner Frauen und sitzt leichtfertig bei ihr und liebkost sie. Obwohl der Mann sich solche Frauen durch die Priester antrauen lässt, behält er doch das Recht und die Macht, wegzuschicken, welche er will, je nachdem sie es verdient hat oder er sie lieb hat oder er ihr überdrüssig wird. Hiermit halten sie ihre Frauen mächtig unter Kontrolle. Und obwohl eine solche Ehe nicht eine Ehe vor Gott, sondern mehr ein Schein ist als eine Ehe, haben sie dennoch ihre Frauen unter Kontrolle und erreichen ein schönes Benehmen, sodass bei ihnen nicht dieser Vorwitz, diese Üppigkeit und Leichtfertigkeit und anderer überflüssiger Schmuck, Luxus und Pracht unter den Frauen ist wie bei uns.

»Nein« zum Konzil

In der Adelsschrift von 1520 hatte Luther ein Konzil gefordert, das die kirchlichen Missstände diskutieren und lösen sollte. Allerdings forderte er immer ein »christliches« und »freies« Konzil. Das heißt: Es sollte nur der Bibel verpflichtet und nicht dem Papst unterstellt sein. Luther forderte ein Konzil, doch die Päpste dachten nicht daran, eines einzuberufen, da sie fürchteten, es könnte ihnen selbst gefährlich werden. Das änderte sich erst 1534 mit der Wahl von Papst Paul III. Er ließ sich vom Kaiser dazu drängen, dem Konzilsgedanken näherzurücken. 1537 rief er erstmals ein Konzil zusammen, aber erst 1545 kam es wirklich zustande. Die Evangelischen standen vor der Herausforderung, ob sie teilnehmen sollten oder nicht. Luther lehnte eine Teilnahme an dem anstehenden Konzil kategorisch ab, da es nicht »christlich« und nicht »frei« sei. Er wandte sich dem Thema unter anderem 1539 zu, kritisierte das Vorgehen des Papstes und stellte den Sinn von Konzilen grundsätzlich in Frage, machte aber auch noch einmal den erneut vergeblichen Vorschlag eines Nationalkonzils: beschränkt auf Deutschland, unter Leitung des Kaisers. Als das päpstliche Konzil 1545 in Trient zusammentrat, waren keine Evangelischen anwesend.

Martin Luther, Von den Konzilen und Kirchen (1539): WA 50, S. 488–653; StA 5, S. 448–617; DDStA 2, S. 527–799.

Ich habe oft selbst mitgelacht, wenn ich gesehen habe, dass man Hunden mit einem Messer einen Bissen Brot angeboten hat und, wenn sie danach geschnappt haben, ihnen mit dem Griff auf die Schnauze geschlagen hat. So hatten die armen Hunde nicht nur den Schaden, sondern auch noch Schmerzen dazu. Und es gab ein großes Gelächter. Damals dachte ich aber nicht, dass der Teufel mit uns Menschen auch ein solches Gelächter haben und mit uns wie mit solchen armen Hunden umgehen könnte, bis ich erfahren habe, dass der Heiligste Vater, der Papst, sowohl mit seinen Bullen und Büchern als auch mit seiner täglichen Praxis mit der Christenheit auch solche Hundescherze treibt. Aber, Herr Gott, mit welch großem Schaden für die Seelen und mit welchem Spott auf die göttliche Majestät! So macht er das jetzt mit dem Konzil. Danach hat die ganze Welt geschrien und darauf hat die ganze Welt gewartet. Darauf hat der gute Kaiser mit dem ganzen Reich zwanzig Jahre lang hingearbeitet. Der Papst aber hat immer vertröstet und die Sache hinausgezögert und hat dem Kaiser wie einem Hund den Bissen Brot immer angeboten. Aber wenn er zugreifen wollte, schlug

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er ihm auf die Schnauze und spottete noch dazu über ihn und nannte ihn seinen Narren und sein Gaukelmännchen. Nun schreibt er zum dritten Mal das Konzil aus. Aber zuvor schickt er seine Apostel in die Länder und lässt sich von den Königen und Fürsten zusichern, dass sie bei der Lehre des Papstes bleiben. Dem stimmen auch die Bischöfe mit ihren Geistlichen zu und wollen gar nichts nachgeben oder reformieren lassen. Und so ist das Konzil bereits abgeschlossen, bevor es begonnen hat, nämlich dass man nichts reformieren soll, sondern alles beibehalten, wie es bisher Brauch gewesen ist. Ist das nicht ein feines Konzil? Es hat noch nicht begonnen, hat aber bereits erreicht, was es erreichen sollte, wenn es angefangen hätte. Das heißt dem Kaiser auf die Schnauze schlagen, ja den Heiligen Geist übereilen und ihm weit zuvorkommen. Ich habe das aber immer befürchtet und auch oft geschrieben und gesagt, sie würden und könnten kein Konzil halten, es sei denn, dass sie den Kaiser, Könige und Fürsten zuvor gefangen und in der Hand hätten, sodass sie völlig frei wären zu beschließen, was sie wollten, um ihre Tyrannei zu stärken und die Christenheit zu unterdrücken mit noch größerer Last, als zuvor je geschehen ist. Im Namen Gottes: Wenn ihr Herren, Kaiser, Könige und Fürsten es gern habt, dass euch diese verzweifelten verdammten Leute auf dem Maul herumtrampeln und euch auf die Schnauze schlagen, so müssen wir es geschehen lassen und daran denken, dass sie früher noch Schlimmeres getan haben. Da haben sie Könige und Kaiser abgesetzt, verflucht, verjagt, verraten, ermordet und einen rein teuflischen Mutwillen mit ihnen gespielt. Das bezeugt die Geschichte. Und sie gedenken das auch wieder zu tun. Aber Christus wird dennoch seine Christenheit bewahren und erhalten, auch gegen die Höllenpforte, selbst wenn Kaiser und Könige nicht helfen könnten oder wollten. … Nimm sie alle zusammen, die Kirchenväter und die Konzile. Du kannst doch nicht die ganze christliche Glaubenslehre aus ihnen herausklauben, auch wenn du ewig daran herumklaubst. Ohne die Heilige Schrift, wenn es die nicht bewirkt hätte, hätte die Kirche auf Grundlage der Konzile und der Kirchenväter nicht lange Bestand gehabt. Bedenke doch: Woher haben denn die Väter und die Konzile, was sie lehren und behandeln? Glaubst du, dass sie es zu ihrer Zeit erst erfunden haben oder dass es ihnen vom Heiligen Geist immer aufs Neue eingegeben worden ist? Wodurch hatte denn die Kirche Bestand vor diesen Konzilen und Vätern? Oder gab es denn keine

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»Nein« zum Konzil

Christen, bevor die Konzile und Väter aufkamen? Deshalb müssen wir ganz anders von den Konzilen und Vätern reden und dürfen nicht auf die Buchstaben achten, sondern müssen nach dem Sinn fragen. … Wir hätten in unserer Zeit wohl Punkte, die mehr als wichtig und wert genug wären, ein Konzil zusammenzurufen. Denn wir armen, elenden, schwachgläubigen und leider recht arbeitsscheuen, faulen Christen, die noch übrig sind, müssten den Papst verklagen … Wir rufen und schreien nach einem Konzil und bitten die ganze Christenheit um Rat und Hilfe gegen diesen Erzkirchenverbrenner und Christenmörder … Und wenn die anderen Monarchen zu einem großen Konzil nichts beitragen wollen, so könnten dennoch Kaiser Karl und die deutschen Fürsten ohne Weiteres ein Provinzialkonzil abhalten in deutschen Landen. Und wenn einige meinen, dann würde eine Kirchenspaltung entstehen – wer weiß denn, ob Gott nicht das Herz der anderen Monarchen wenden könnte, sodass sie nach einiger Zeit die Beschlüsse eines solchen Konzils gutheißen und annehmen würden? Wir müssen nur das Unsere tun und Gottes Ehre und der Seelen Heil mit Ernst suchen! Sofort könnte es natürlich nicht geschehen, aber von Deutschland aus könnten die Beschlüsse des Konzils auch in andere Länder gelangen. Ohne einen so großen Prediger, wie es das Konzil ist, das eine starke Stimme hat, die man in der Ferne hört, könnten sie dorthin nicht oder nur schwerlich kommen. Wohlan, müssen wir aber an dem Konzil verzweifeln, so sei es dem rechten Richter, unserem barmherzigen Gott anbefohlen …

»In Rom regiert der Antichrist!«

Schon in seiner Schrift an den Adel (1520) hatte Luther den Verdacht geäußert, der Papst in Rom sei das in der Offenbarung des Johannes geschilderte »Tier aus dem Meer« (Offenbarung 13) und der in 1. Johannes 2,18 angekündigte »Antichrist«, der die Kirche von innen zerstören würde. Später setzte sich Luther mehrfach mit dem auch heute noch aktuellen Anspruch des Papstes auseinander, das Oberhaupt aller Christen zu sein, und lehnte ihn ab. Ferner widersprach Luther energisch und polemisch der schon zu seiner Zeit vom Papst für sich reklamierten, von der römisch-katholischen Kirche aber erst 1870 dogmatisierten Unfehlbarkeit. Auch den vom Papst Abb. 9: Luther im Alter exklusiv erhobenen Anspruch auf den »Apostolischen Stuhl«, das ist die Petrus-Nachfolge, bestritt Luther. In seiner grundlegenden und zugleich abschließenden Schrift von 1545 bezeichnet er, schon im Titel, das Papsttum als »vom Teufel«, nicht von Jesus oder Petrus, »gestiftet«. Luther argumentiert biblisch und historisch. Er beruft sich auf die allgemein anerkannten Kirchenväter des 3., 4. und 5. Jahrhunderts, Cyprian, Hieronymus und Augustinus, sowie auf ein Konzil, das 680/81 in Konstantinopel (nicht in Chalcedon) stattgefunden hat. In dem ebenfalls von allen geschätzten Gregor dem Großen, der von 590 bis 604 als Bischof von Rom amtierte, erblickt Luther den letzten Inhaber dieses Amtes, der damit keine überzogenen päpstlichen Ansprüche verbunden hat. Mit Bonifatius III., der 607 regierte, sieht Luther die verhängnisvolle Papstgeschichte beginnen. Luthers Leben war reich an Wandlungen, seine Biografie kennt viele Brüche. Das wird auch an den Bildern deutlich, die Luther in verschiedenen Lebensphasen zeigen. Aus dem asketischen Mönch (Abb. 1, S. 21) wurde nach 1525 ein Ehemann und Familienvater, der es liebte, gut zu essen und viel zu trinken. Aus dem aufrührerischen Gelehrten mit vielen innovativen Ideen wurde ein gesetzter, gut verdienender Professor. So zeichnete ihn, letztmals, Lukas Cranach d. J. im Jahre 1546, kurz vor seinem Tod (Abb. 9). Auch von Enttäuschungen und Krankheiten war Luthers letzte Lebensphase gezeichnet. Dies erklärt vielleicht auch die für heutige Ohren beinahe unerträgliche Polemik, die seine späten Schriften kennzeichneten.

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»In Rom regiert der Antichrist!«

Martin Luther, Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet (1545): WA 54, S. 195–299.

Sehr leicht ist es zu beweisen, dass der Papst nicht der Oberste und das Haupt der Christenheit ist oder Herr der Welt, über Kaiser, Konzile und alles. Das erlügt er in seinem Kirchenrecht und lästert, flucht und tobt, so wie ihn der höllische Satan treibt. Er selbst weiß wohl und es ist so klar wie die liebe Sonne, dass der römische Bischof nicht mehr als ein Bischof gewesen ist und noch sein sollte. Das folgt aus allen Dekreten der alten Konzile, aus allen Historien und Schriften der heiligen Väter, des Hieronymus, des Augustinus, Cyprians und aus der ganzen Christenheit, die vor dem ersten Papst, genannt Bonifatius III., gewesen ist. Und Hieronymus darf frei heraus zu sagen wagen, alle Bischöfe seien gleich, allesamt seien sie Erben des Apostolischen Stuhls. Es gibt Beispiele dafür, dass der Bischof einer kleinen Stadt dem Bischof einer großen Stadt gleich ist wie Eugubium und Rom, Rhegium und Konstantinopel, Theben und Alexandria. Wenn aber einer höher oder geringer ist als ein anderer, hängt das damit zusammen, dass ein Bistum reicher oder ärmer ist als das andere. Abgesehen davon sind sie alle gleichermaßen Nachkommen der Apostel. Soweit Hieronymus. Das, sage ich, weiß der Papst zu Rom sehr wohl, auch dass Hieronymus dies schreibt. Dennoch wagt der Papst dagegen so lästerlich und mutwillig zu lügen und alle Welt zu betrügen. Überdies weigerte sich Gregor der Große entschieden, als es ihm von einigen großen Bischöfen angeboten wurde. Er schreibt, dass keiner seiner Vorfahren so vermessen gewesen sei, dass er einen solchen Titel habe annehmen oder führen wollen, obwohl das sechste Konzil zu Chalcedon ihnen dies angeboten hätte. Er folgert und sagt kurzerhand, es solle sich keiner als obersten Bischof der ganzen Christenheit bezeichnen, wie auch etliche weitere Dekrete sagen, dass auch der römische Bischof, obwohl er der größeren einer sei, dennoch nicht als »universal«, als Oberster über die ganze Christenheit, zu bezeichnen sei. Das ist die öffentliche, gewisse Wahrheit ohne Rücksicht darauf, wie der Papst selbst und seine Schmeichler diese Worte martern und quälen. Denn sie sind zu klar und zu gewaltig. Die Sache ist ganz eindeutig. Er ist noch nie über den Bischöfen in Afrika, Griechenland, Asien, Ägypten, Syrien, Persien usw. gewesen. Er wird es auch nie sein, ja er hat auch Italiens Bischöfe zur damaligen Zeit nicht unter sich gehabt, besonders nicht Mailand und Ravenna.

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Dieser Gregor der Große ist der letzte Bischof Roms gewesen. Nach ihm hat die römische Kirche keinen Bischof mehr gehabt bis auf den heutigen Tag. Sie wird auch keinen mehr bekommen, es geschehe denn eine wunderliche Änderung. Sie hatte anschließend nur noch unnütze Päpste, das sind des Teufels Larven, wie du hören wirst. Die haben dort regiert und alle Kirchen geistlich und leiblich zerstört. Denn das ist gewiss, wie gesagt, dass es zur Zeit Gregors des Großen keinen Papst gegeben hat und er selbst auch samt seinen Vorfahren kein Papst hat sein wollen. Dazu hat er mit vielen Schriften das Papsttum verdammt, obwohl man ihn mit der Papstkrone malt und viele Lügen von ihm erdichtet wurden. Aber er war kein Papst und wollte auch kein Papst sein, wie seine Bücher bezeugen zuschanden aller Päpste, die sich selbst nach ihm und gegen ihn erhoben haben. … Nun kommen wir zu den eigentlichen Punkten. Sicher ist, dass der Papst und sein Stand eine reine Erdichtung und Erfindung von Menschen ist. Denn, wie gehört, er ist nicht durch eine Ordnung der weltlichen Obrigkeit begründet und will es auch nicht sein. Er ist auch nicht durch eine Ordnung der Konzile und der Kirche begründet und will es auch nicht sein. Ebenso weiß man auch sicher, dass über ihn kein Buchstabe göttlichen Worts in der Heiligen Schrift gefunden wird. Er hat sich vielmehr aus Überheblichkeit, Vermessenheit und Frevel in diese Höhe gesetzt. Danach hat er sich mit Gottes Wort geschmückt, dadurch Gott schändlich gelästert, sich zum Abgott gemacht und die Christenheit mit seiner grauenhaften Abgötterei erfüllt, belogen, betrogen und sie zu abgöttischen, verdammten Leuten gemacht, die dieses geglaubt und darauf vertraut haben, als hätte es Gott durch sein Wort so geboten. So haben sie den Teufel fürchten und ehren, anbeten und ihm dienen müssen unter Gottes Namen. Da hast du den Papst, was er ist und wo er herkommt, nämlich ein Gräuel – wie Christus Matthäus 24,15 sagt – aller Abgötterei, von allen Teufeln aus dem Grund der Hölle hervorgebracht. Ja, sagst du, er will wahrlich aus Gottes Wort und aus Gott herkommen, denn er führt in vielen Dekreten den Spruch Matthäus 16,18 an: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben« usw. Damit will er sagen: Der Papst zu Rom ist Herr über die ganze Christenheit. Wahrlich, das wäre schön! Wer hätte einen so hohen Verstand beim Heiligsten Vater erwartet! Man hätte einen armen Gesellen wie mich doch zuvor warnen können, ehe er sich so tief und hoch versündigte und

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den Papst einen Esel, Narren, Abgott und Teufel nannte. Wohl mir, dass ich mich heute fest angezogen habe. Es überkam mich schon der Schafshusten vor lauter Schrecken vor diesem hohen Verstand des Papstes. Und es hätte leicht geschehen können, wenn ich nicht Hosen angehabt hätte, ich hätte gemacht, was die Leute nicht gerne riechen. So angst und bange wurde mir vor dieser päpstlichen, hohen Weisheit! … Weiter spricht der Herr Vers 18: »Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.« Johannes 1,42 nennt er ihn Kephas: »Du sollst Kephas heißen.« »Keph« hebräisch, »Kepha« aramäisch, »Petros« oder »Petra« griechisch, »rupes« lateinisch – das alles heißt auf Deutsch »Fels«. Wie die hohen Felsen, auf denen Schlösser erbaut stehen. Nun will der Herr sagen: Du bist Petrus, das ist ein Felsenmann. Denn du hast den rechten Mann, welcher der rechte Fels ist, erkannt und genannt, wie ihn die Heilige Schrift nennt: Christus. Auf diesen Felsen, das ist, auf mich, Christus, will ich meine ganze Christenheit bauen. Gleichwie du mit den anderen Jüngern darauf gebaut bist durch meinen Vater im Himmel, der es euch offenbart hat. Auf deutsche Weise lässt sich das wunderbar so sagen: Du sagst, im Namen aller, ich sei der Messias oder Christus, des lebendigen Gottes Sohn. Wohlan, so sage ich dir wiederum: Du bist ein Christ, und auf den Christen will ich meine Kirche bauen. Denn in deutscher Sprache umfasst das Wort »Christ« beides, den Herrn selbst (wie man singt: Christ ist erstanden, Christ fuhr gen Himmel) und auch den, der an den Herrn Christus glaubt, wie man sagt: Du bist ein Christ. So sagt Lukas Apostelgeschichte 11,26, dass die Jünger zu Antiochien zuerst Christen genannt worden sind. Daher kommt diese Bezeichnung: Christen, Christenheit, christlicher Glaube usw. So gibt hier der Herr dem Simon, dem Sohn des Jona, den Namen Felsenmann oder Christ, weil er den wahren Felsen oder Christus vom Vater her erkennt und ihn rühmt mit seinem Munde im Namen aller Apostel. Hieraus ist es klar genug, dass Christus hier mit dem Bauen seiner Kirche auf den Felsen oder auf sich selbst nichts anderes meint als den allgemeinen christlichen Glauben, wie ich oben aus den Aposteln Petrus und Paulus dargelegt habe. Wer an Christus glaubt, der ist auf diesen Felsen gebaut und wird selig, auch gegen alle Pforten der Hölle. Wer nicht an Christus glaubt, der ist nicht auf diesen Felsen gebaut und muss mit den Pforten der Hölle verdammt sein. Das ist das schlichte,

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einzige, sichere Verständnis dieser Worte. Und es gibt kein anderes, wie die Worte es klar und überzeugend ergeben. Sie entsprechen dem Wort Markus 16,16: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden«, und Johannes 11,26: »Wer an mich gaubt, wird nimmermehr sterben.« Ja, sage ich, merk es dir gut und zeichne es fleißig auf, dass der Herr hier Matthäus 16 nicht von Gesetzen, Zehn Geboten oder unseren Werken redet, die wir tun sollen oder können, sondern vom christlichen Glauben und vom Werk des Vaters, das er mit dem Sohn und dem Heiligen Geist in uns wirkt, nämlich dass er uns geistlich auf den Felsen baut, seinen Sohn, und glauben lehrt an Christus, damit wir sein Haus und Wohnung werden, wie aus 1. Petrus 2,5 und Epheser 2,19 oben bewiesen wurde! Weiter Vers 19: »Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du binden wirst auf Erden, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.« Der Herr will seine Kirche, die auf ihn gebaut ist und an ihn glaubt, gut versorgen. Denn weil sie das Evangelium, dass Christus Jesus Gottes Sohn sei, vor der Welt predigt und bekennt und damit regieren soll, will er ihr Wort geehrt und nicht verachtet haben. Sondern man soll es glauben und in solchen Ehren halten, als redete er es selbst persönlich vom Himmel. Wer nun das Evangelium von den Aposteln oder der Kirche hört und nicht glauben will, dem sollen sie ein solches Urteil sprechen, dass er verdammt sein soll. Ebenso wenn er, nachdem er gläubig geworden ist, fällt und sich nicht wieder zum Glauben bekehren will, sollen sie ihm auch ein solches Urteil fällen, dass seine Sünde bleibe und er verdammt sein soll. Umgekehrt: Wer das Evangelium hört und glaubt oder sich von seinen Sünden wieder zum Glauben kehrt, über dem sollen sie das Urteil sprechen, dass ihm seine Sünden vergeben sind und er selig werde. Und über dieses Urteil will er im Himmel wachen, als habe er es selbst gesprochen. Siehe, das sind die Schlüssel des Himmelreichs und das ist ihr Amt, damit man in der Kirche sowohl ein ewiges Festhalten als auch eine ewige Vergebung der Sünden habe, nicht allein zur Zeit der Taufe oder einmal im Leben, sondern ohne Unterlass bis ans Ende. Festhalten bei den Unbußfertigen und Ungläubigen, Vergebung bei den Bußfertigen und Gläubigen. … Wenn nun der Papst gleich unentwegt und stolz auf dem Spruch Matthäus 16 stehen könnte, wie er es nicht kann, so stehen wir dagegen noch viel stolzer und unentwegter auf Matthäus 18. Denn es ist nicht

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ein anderer Christus, der Matthäus 16 mit Petrus redet und Matthäus 18 mit den anderen Jüngern eben dieselben Worte redet und ihnen Macht gibt, Sünde zu binden und zu lösen. So fahre der Papst mit seinem Petrus hin, binde und löse, was er kann. Wir wollen der anderen Apostel Macht zu binden und zu lösen der des Petrus gleich halten, selbst wenn hunderttausend Petrusse ein Petrus und alle Welt nichts als Papst wäre, dazu ein Engel vom Himmel bei ihm stünde. Denn wir haben hier den Herrn selbst, der über allen Engeln und Kreaturen steht. Der sagt, sie sollen alle gleiche Gewalt, Schlüssel und Amt haben, selbst zwei einfache Christen, allein in seinem Namen versammelt. Diesen Herrn sollen uns Papst und alle Teufel nicht zum Narren, Lügner noch Trunkenbold machen. Sondern wir wollen den Papst mit Füßen treten und sagen, er sei ein verzweifelter Lügner, Gotteslästerer und abgöttischer Teufel, der die Schlüssel unter des Petrus Namen an sich allein gerissen hat, obwohl Christus diese allen insgemein auf gleiche Weise gegeben hat. Der Papst will den Herrn in Matthäus 16 zum Lügner machen. Ja, das müsste man loben! … Der Papst meint wohl, der Heilige Geist sei an Rom gebunden. Aber nur, wenn er das mit Brief und Siegel beweisen könnte, hätte er gewonnen. Denn wenn er das Haupt aller Kirchen sein will, was unmöglich ist, muss er uns zuvor beweisen, dass er und seine Nachfolger den Heiligen Geist fest und erblich haben müssen und nicht irren können. Ja, die Briefe und Siegel möchte ich gerne sehen! Denn dass er mit Matthäus 16,18 vorgibt, die römische Kirche sei auf den Felsen gegründet, sodass die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen könnten, so ist oben klar genug bewiesen worden, dass das auf die ganze Christenheit bezogen werden muss und nicht auf den römischen päpstlichen Stuhl. Und ganz kurz, wie gesagt: Gott fragt in seinem Reich nicht nach Großen, Hohen, Mächtigen, vielen, Weisen, Edlen usw., sondern, wie Maria singt Lukas 1,48ff.: »Er sieht die Niedrigen an.« Und wie er seinen Aposteln Matthäus 18,3ff. und sonst oft sagt: »Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, gleichwie ich nicht gekommen bin, dass man mir diene, sondern ich unter euch bin als ein Diener« (Matthäus 20,26ff.). Aber im Papsttum und im Kirchenrecht geht es darum, dass er allein ja der Größte, Oberste, Mächtigste sei, dem niemand gleich sei, den niemand verurteilen noch richten dürfe. Sondern jedermann solle untertan sein und sich richten lassen. Und dabei rühmt er sich doch, er sei ein Knecht aller Knechte Gottes. Das heißt auf Römisch

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und Päpstlich: Herr aller Herren, König aller Könige, auch über alle Christen, das ist: über Gott, Christus und den Heiligen Geist, der in den Christen wohnt und lebt, wie Johannes 15,4 und 14,17.23 sagt. Diesen angeblichen Herrn aller Herren nennt Paulus 2. Thessalonicher 2,3 den »Menschen der Sünde« und ein »Kind des Verderbens«, den Antichrist, der sich gegen und über Gott setzt und erhebt. Denn die Christenheit hat kein Haupt, kann auch kein anderes haben als den einzigen Sohn Gottes, Jesus Christus. Der hat Siegel und Briefe, dass er nicht irren kann, und er ist weder an Rom noch an irgendeinen Ort gebunden. … Ich muss aufhören. Ich mag nicht mehr in dem lästerlichen, höllischen Teufelsdreck und Gestank wühlen. Möge ein anderer diese Dinge lesen. Wer Gott reden hören will, lese die Heilige Schrift. Wer den Teufel reden hören will, lese des Papstes Dekrete und Bullen. O weh, weh, weh dem, der dahin kommt, dass er Papst oder Kardinal wird! Dem wäre besser, dass er nie geboren wäre! Judas hat den Herrn verraten und umgebracht, aber der Papst verrät und verdirbt die christliche Kirche, welche der Herr lieber und teurer als sich selbst und als sein Blut angesehen hat. Denn er hat sich selbst für sie geopfert. Weh dir, Papst!

»Keine Angst vor dem Tod!«

Der christliche Glaube beinhaltet eine Hoffnung über den Tod hinaus. Er bereitet auch auf Sterben und Tod vor und hilft im Sterben. Zu Luthers Zeit war der Tod allgegenwärtig. Viele Kinder starben kurz nach der Geburt, viele Frauen starben im Kindsbett, viele Menschen wurden von Seuchen dahingerafft. Schon in den Jahren zwischen 1520 und 1530 rechnete Luther mit seinem baldigen Tod. 1519 hatte er eine kleine Schrift im Stil einer Predigt verfasst, die den Christen auf Sterben und Tod vorbereiten sollte. In vielem ist Luther 1519 noch ganz traditionell. Die Heiligen spielen für ihn eine große Rolle, und die Letzte Ölung – heute als Krankensalbung bezeichnet – ist für ihn ein geschätztes Sakrament. Er betont aber auch – schon –, dass einzig der Glaube entscheidend ist. Und bei der Frage nach der Prädestination vertritt er ebenfalls schon die Position, die er später in seinem Streit mit Erasmus entfaltet hat: Niemand soll sich durch die Frage nach der göttlichen Erwählung verunsichern lassen. Der Glaubende soll sich stattdessen an Gottes Heilszusage halten.

Martin Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519): WA 2, S. 680–697; Cl 1, S. 161–173; StA 1, S. 230–243; DDStA 1, S. 45–73.

Erstens: Weil der Tod ein Abschied ist von dieser Welt und von allen ihren Geschäften, ist es nötig, dass der Mensch sein zeitliches Gut in Ordnung bringe, wie es sich gehört oder er es zu regeln gedenkt, damit es nach seinem Tod keinen Anlass gibt für Zank, Hader oder sonst ein Ärgernis unter seinen hinterbliebenen Verwandten. Das ist ein leiblicher oder äußerlicher Abschied von dieser Welt. Hier wird Hab und Gut entlassen und verabschiedet. Zweitens soll man auch geistlich Abschied nehmen, das heißt man soll freundlich, rein nur um Gottes willen allen Menschen vergeben, so sehr sie uns auch Leid zugefügt haben. Umgekehrt soll man auch rein um Gottes willen von allen Menschen Vergebung begehren. Denn zweifellos haben wir vielen von ihnen Leid zugefügt, zumindest mit bösem Beispiel oder mit zu wenigen Wohltaten, wie wir nach dem Gebot brüderlicher, christlicher Liebe schuldig gewesen wären. Das sollen wir tun, damit die Seele nicht mit irgendwelchen Angelegenheiten auf Erden behaftet bleibe.

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Drittens: Wenn man sich so von jedermann auf Erden verabschiedet hat, soll man sich allein auf Gott ausrichten, wohin der Weg des Sterbens sich auch immer wendet und wohin er uns auch immer führt. Hier beginnt die enge Pforte, der schmale Pfad zum Leben. Auf ihn muss sich jeder fröhlich wagen. Denn er ist wohl sehr eng, aber er ist nicht lang. Es geht hier zu, wie wenn ein Kind aus der kleinen Wohnung im Leib seiner Mutter mit Gefahren und Ängsten hineingeboren wird in den weiten Raum von Himmel und Erde, also auf diese Welt. Ebenso geht der Mensch durch die enge Pforte des Todes aus diesem Leben. Obwohl der Himmel und die Welt, in der wir jetzt leben, als groß und weit angesehen werden, sind sie doch verglichen mit dem zukünftigen Himmel viel enger und kleiner als es der Mutterleib verglichen mit unserem Himmel ist. Darum nennt man das Sterben der lieben Heiligen eine neue Geburt. Und ihre Sterbe- und Festtage bezeichnet man auf Lateinisch als Natale, als ihren Geburtstag. Aber der enge Gang des Todes bewirkt, dass uns dieses Leben weit und jenes eng vorkommt. Darum muss man es glauben und an der leiblichen Geburt eines Kindes lernen. So sagt ja Christus (Johannes 16,21): »Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.« Ebenso muss man sich auch beim Sterben auf die Angst einstellen und wissen, dass nachher ein großer Raum und Freude sein wird. Viertens: Ein solches Sich-Richten und Sich-Vorbereiten auf diese Fahrt besteht vor allem darin, dass man aufrichtig beichte, besonders die wichtigsten Punkte und diejenigen, die einem mit fleißigem Bemühen in die Erinnerung kommen. Ferner bemühe man sich um die heiligen christlichen Sakramente des heiligen, wahren Leibs Christi und der Letzten Ölung. Man begehre sie andächtig und empfange sie mit großer Zuversicht, wenn man sie bekommen kann. Ist das aber nicht möglich, so soll einem nichtsdestoweniger auch schon das Verlangen und Begehren nach ihnen zum Troste gereichen, und man soll deshalb nicht zu sehr erschrecken. Christus spricht (Markus 9,23): »Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.« Die Sakramente sind nichts anderes als Zeichen, die zum Glauben dienen und reizen, wie wir sehen werden. Und ohne diesen Glauben sind sie nichts nütze. Fünftens soll man auf jeden Fall mit allem Ernst und Fleiß darauf sehen, dass man die heiligen Sakramente hochachte und sie in Ehren halte. Man soll sich frei und fröhlich auf sie verlassen und sie gegen-

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»Keine Angst vor dem Tod!«

über Sünde, Tod und Hölle so abwägen, dass sie bei Weitem das Übergewicht haben. Auch soll man sich viel mehr mit den Sakramenten und ihrer Kraft beschäftigen als mit den Sünden. Wie aber das Ehren der Sakramente recht geschieht und welche Kraft in ihnen steckt, das muss man wissen. Das Ehren besteht darin, dass ich glaube, dass das, was die Sakramente bedeuten, und alles, was Gott mit ihnen sagt und anzeigt, wahr ist und mir zuteil wird. Man soll also mit Maria, der Gottesmutter, in festem Glauben sprechen (Lukas 1,38): »Mir geschehe, wie du gesagt hast.« Denn weil hier Gott durch den Priester redet und ein Zeichen gibt, kann man Gott an seinem Wort und Werk keine größere Unehre antun, als wenn man daran zweifelt, dass es wahr ist, und keine größere Ehre antun, als wenn man glaubt, dass es wahr ist, und sich zuversichtlich darauf verlässt. Sechstens: Um die Kraft der Sakramente zu erkennen, muss man vorher die Bedrohungen kennen, gegen die sie kämpfen und wogegen sie uns gegeben sind. Es sind drei: Die erste ist das erschreckende Bild des Todes, die zweite das grauenerregende, mannigfaltige Bild der Sünde, die dritte das unerträgliche und unentrinnbare Bild der Hölle und der ewigen Verdammnis. Nun wächst jedes von diesen dreien und wird groß und stark dadurch, dass zusätzliche Dinge hinzukommen. Der Tod wird groß und schrecklich, weil unsere furchtsame, verzagte Natur sich dieses Bild zu tief einprägt und zu sehr vor Augen stellt. Dazu steuert nun der Teufel das Seine bei, damit sich der Mensch in das grässliche Aussehen und Bild des Todes vertiefe und dadurch bedrückt, weich und zaghaft werde. Da wird er sich wohl alle die schrecklichen, jähen, bösen Todesfälle vorhalten, die ein Mensch je gesehen, gehört oder gelesen hat. Gleichzeitig wird er einbeziehen, wie der Zorn Gottes einst da und dort die Sünder heimgesucht und vernichtet hat. So wird er die ängstliche Natur zur Furcht vor dem Tod treiben und zur Liebe und Sorge um das Leben. Mit solchen Gedanken zu viel belastet, wird der Mensch Gott vergessen, den Tod fliehen und hassen und sich so zuletzt Gott ungehorsam zeigen und bleiben. Denn je tiefer der Tod betrachtet, angesehen und erkannt wird, desto schwerer und bedenklicher scheint das Sterben. Im Leben sollte man sich mit dem Gedanken an den Tod beschäftigen und ihn auffordern, vor uns zu treten, solange er noch ferne ist und uns noch nicht bedrängt. Im Sterben dagegen, wenn er schon von selbst nur allzu stark ist, ist das gefährlich und nichts nütze. Da muss man sich sein Bild aus dem Sinn schlagen und es nicht sehen wollen, wie wir hören werden. So

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hat der Tod seine Kraft und Stärke in der Schwachheit unserer Natur und darin, dass man ihn zur Unzeit zu viel ansieht und betrachtet. Siebtens: Die Sünde wächst und vergrößert sich ebenfalls dadurch, dass man sie zu viel ansieht und ihr zu tief nachdenkt. Dazu trägt die Schwachheit unseres Gewissens bei, das sich selbst vor Gott schämt und sich schreckliche Vorwürfe macht. Damit hat dann der Teufel ein Schwitzbad gefunden, wie er es gesucht hat. Da bedrängt er einen. Da macht er die Sünden so viel und groß. Da wird er einem alle die vor Augen führen, die gesündigt haben, und viele, die mit weniger Sünden doch verdammt worden sind. So muss der Mensch abermals verzagen oder widerwillig werden zum Sterben und muss somit Gott vergessen und sich bleibend ungehorsam zeigen bis in den Tod. Das ist vor allem die Folge davon, dass der Mensch meint, er müsse jetzt die Sünde betrachten und tue wohl recht und nützlich daran, dass er damit umgeht. Da findet er sich dann so sehr unvorbereitet und unfähig, dass ihm auch alle seine guten Werke zu Sünden geworden sind. Daraus muss dann ein unwilliges Sterben folgen, Ungehorsam gegen Gottes Willen und ewige Verdammnis. Denn das Betrachten der Sünde ist da nicht recht und hat da keine Zeit. Das soll man zu Lebzeiten tun. So verkehrt uns der böse Geist alle Dinge: Im Leben, wo wir das Bild des Todes, der Sünde und der Hölle stets vor Augen haben sollten, wie Psalm 51,5 sagt: »Meine Sünde ist immer vor mir«, da verschließt er uns die Augen und verbirgt uns jene Bilder. Im Sterben aber, wo wir nur das Leben, Gnade und Seligkeit vor Augen haben sollten, öffnet er uns die Augen dafür und ängstigt uns mit den zur Unzeit kommenden Bildern, damit wird die rechten Bilder nicht sehen. Achtens: Die Hölle wird groß und wächst gleichfalls dadurch, dass man sie zu viel ansieht und zur Unzeit streng bedenkt. Dazu trägt außerordentlich viel bei, dass man Gottes Urteil nicht weiß und dass der böse Geist die Seele dahin treibt, dass sie sich mit überflüssigem, unnützem Vorwitz, ja mit dem allergefährlichsten Unterfangen belastet. Sie will das Geheimnis des göttlichen Ratschlusses erforschen, ob sie zu den Erwählten gehöre oder nicht. Hier betätigt der Teufel sein letztes, größtes, listigstes Können und Vermögen. Denn damit führt er den Menschen, wenn er sich nicht in Acht nimmt, über Gott hinaus, dass er Zeichen für den göttlichen Willen sucht und es nicht ertragen will, dass er nicht wissen soll, ob er zu den Erwählten gehört. Er macht ihm seinen Gott verdächtig, dass er sich beinahe nach einem anderen Gott sehnt. Kurzum, hier beabsichtigt er, die Liebe zu Gott mit

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einem Sturmwind auszulöschen und Hass gegen Gott zu erwecken. Je mehr der Mensch dem Teufel folgt und solche Gedanken duldet, desto gefährdeter steht er da und kann zuletzt nicht mehr durchhalten. Er fällt in Hass und Lästerung gegen Gott. Denn wenn ich es wissen will, ob ich erwählt bin, was ist das anderes, als dass ich alles wissen will, was Gott weiß, und dass ich ihm gleich sein will? Gott soll nicht mehr wissen als ich, und Gott soll somit nicht mehr Gott sein, wenn er nicht mehr als ich wissen soll. Da hält einem der Teufel vor, wie viel Heiden, Juden und Christenkinder verloren gehen, und treibt es mit solchen gefährlichen und unnützen Gedanken so weit, dass der Mensch, auch wenn er sonst gerne stürbe, doch jetzt einen Widerwillen fasst. Das heißt mit der Hölle angefochten werden, wenn der Mensch mit dem Gedanken an seine Erwählung angefochten wird. Darüber gibt es im Psalter gar viele Klagen. Wer hier aber gewinnt, der hat die Hölle, die Sünde und den Tod auf einmal überwunden. Neuntens: Nun muss man in diesem Streit allen Fleiß darauf verwenden, dass man keines dieser drei Bilder zu sich ins Haus lade und den Teufel nicht über die Türe male. Sie werden schon von selbst nur allzu stark eindringen und das Herz mit ihrem Anblick, ihrem Disputieren und Beweisen ganz und gar innehaben wollen. Wenn das geschieht, ist der Mensch verloren und Gott ganz vergessen. Denn diese Bilder gehören nur in diese Zeit, um mit ihnen zu kämpfen und sie auszutreiben. Ja, wenn sie allein da sind, ohne dass man durch sie hindurch auf die anderen Bilder sieht, gehören sie nirgends sonst hin als in die Hölle unter die Teufel. Wer nun erfolgreich mit ihnen kämpfen und sie austreiben will, dem wird es nicht genügen, sich mit ihnen hin- und herzuzerren und herumzuschlagen oder zu ringen. Sie würden ihm zu stark sein, und es würde schlimmer und schlimmer. Der Kunstgriff besteht darin, sie ganz und gar fallen zu lassen und nichts mit ihnen zu tun zu haben. Wie geht das aber? Es geht so: Du musst den Tod in Verbindung mit dem Leben, die Sünde in Verbindung mit der Gnade, die Hölle in Verbindung mit dem Himmel ansehen und darfst dich von dieser Art des Ansehens oder Blicks nicht wegtreiben lassen, auch wenn alle Engel, alle Kreaturen, ja sogar, wie es dir vielleicht vorkommt, Gott selbst dir es anders nahelegen. Das tun sie allerdings nicht, vielmehr verursacht der böse Geist einen solchen Anschein. Wie soll man dem begegnen? Zehntens: Du darfst den Tod nicht an und für sich ansehen und betrachten, auch nicht in dir oder deiner Natur, auch nicht in denen,

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die durch Gottes Zorn getötet worden sind und die der Tod überwunden hat. Sonst bist du verloren und wirst mit ihnen überwunden. Vielmehr musst du deine Augen, die Gedanken deines Herzens und alle deine Sinne gewaltsam von diesem Bild abkehren und den Tod stark und aufmerksam nur in denen ansehen, die in Gottes Gnade gestorben sind und den Tod überwunden haben, vor allem in Christus, ferner in allen seinen Heiligen. Sieh, an diesen Bildern wird dir der Tod nicht zum Schrecken oder Grauen, vielmehr verachtet und getötet und durch das Leben erwürgt und überwunden. Denn Christus ist nichts als lauter Leben und seine Heiligen auch. Je tiefer und fester du dir dieses Bild einprägst und ansiehst, desto mehr fällt des Todes Bild dahin und verschwindet von selbst, ohne alles Hin- und Herzerren und Streiten. Und so hat dein Herz Frieden und kann mit Christus und in Christus gelassen sterben, wie es Offenbarung 14,13 sagt: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.« Darauf wird 4. Mose 21,9 hingewiesen: Als die Kinder Israel von den feurigen Schlangen gebissen waren, durften sie sich nicht mit diesen Schlangen abgeben, sondern mussten die tote, eherne Schlange ansehen. Da fielen die lebendigen Schlangen von selbst ab und gingen zugrunde. Ebenso darfst du dich auch nur um den Tod Christi kümmern. Dann wirst du das Leben finden. Wenn du aber den Tod anderswo ansiehst, tötet er dich durch große Unruhe und Pein. Darum sagt Christus (Johannes 16,33): »In der Welt habt ihr Angst, in mir aber den Frieden.« Elftens: Ebenso darfst du die Sünde nicht ansehen in den Sündern und auch nicht in deinem Gewissen. Auch nicht in denen, die endgültig in den Sünden geblieben und verdammt worden sind. Sonst kommst du gewiss ins Hintertreffen und wirst überwunden. Vielmehr musst du deine Gedanken davon abkehren und die Sünde nur noch im Bild der Gnade ansehen. Du musst dir dieses Bild mit aller Kraft einprägen und vor Augen haben. Das Bild der Gnade ist nichts anderes als Christus am Kreuz und alle seine lieben Heiligen. … Fünfzehntens: Nun kommen wir zurück auf die heiligen Sakramente und ihre Kraft, damit wir lernen, wozu sie gut und wofür sie zu gebrauchen sind. Wem nun die Gnade und die Zeit geschenkt ist, dass er beichtet und Sündenvergebung, Abendmahl und Letzte Ölung empfängt, der hat wohl großen Anlass, Gott zu lieben, zu loben und zu danken und dann fröhlich zu sterben, wenn er sich nur getrost auf die Sakramente verlässt und an sie glaubt, wie oben gesagt wurde. Denn in den Sakramenten handelt, redet, wirkt durch den Priester

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dein Gott, Christus selbst, mit dir. Da geschehen nicht Menschenwerke oder -worte, sondern da verspricht dir Gott selbst alle Dinge, die soeben von Christus gesagt wurden. Er will, dass die Sakramente ein Wahrzeichen und eine Urkunde dafür sind: Christi Leben soll deinen Tod, sein Gehorsam soll deine Sünde, seine Liebe deine Hölle auf sich genommen und überwunden haben. Dazu wirst du durch diese Sakramente mit allen Heiligen einem Leibe eingefügt und vereinigt und kommst in die rechte Gemeinschaft der Heiligen, sodass sie mit dir in Christus sterben, die Sünde tragen und die Hölle überwinden. Daraus folgt, dass die Sakramente – das heißt die äußerlichen Worte, gesprochen durch einen Priester – ein ganz großer Trost sind und gleichsam ein sichtbares Zeichen der Gesinnung Gottes. Daran soll man sich mit festem Glauben halten wie an einen guten Stab, mit dem der Patriarch Jakob durch den Jordan ging, oder wie an eine Laterne, nach der man sich richten und auf die man mit allem Fleiß ein Auge haben soll auf dem finsteren Weg des Todes, der Sünde und der Hölle, wie der Prophet sagt (Psalm 119,105): »Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg«, und Sankt Petrus (2. Petrus 1,19): »Wir haben ein Wort Gottes, das gewiss ist, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet.« Es kann sonst nichts helfen in Todesnot, und nur mit diesem Zeichen werden alle gerettet, die gerettet werden. Es weist hin auf Christus und sein Bild, damit du gegen das Bild des Todes, der Sünde und der Hölle sagen kannst: »Gott hat mir seine Zusage gemacht und ein gewisses Zeichen für seine Gnade in den Sakramenten gegeben: Christi Leben soll meinen Tod in seinem Tod überwunden haben, sein Gehorsam soll meine Sünden in seinem Leiden vertilgt, seine Liebe meine Hölle in seiner Verlassenheit zerstört haben. Dieses Zeichen, die Zusage, dass ich selig werde, wird mich nicht belügen noch betrügen. Gott hat es gesagt. Gott kann nicht lügen, weder mit Worten noch mit Werken.« Wer so darauf pocht und sich auf die Sakramente stützt, dessen Erwählung und Vorherbestimmung zur Seligkeit wird sich von selbst ohne seine Sorge und Mühe wohl finden. … Achtzehntens soll kein Christenmensch an seinem Ende daran zweifeln, dass er nicht allein ist in seinem Sterben, sondern er soll dessen gewiss sein, dass, wie das Sakrament es anzeigt, gar viele Augen auf ihn sehen. Erstens die Augen Gottes selbst und Christi, weil er seinem Wort glaubt und seinem Sakrament anhängt. Ferner die Augen der lieben Engel, der Heiligen und aller Christen. Denn daran ist, wie

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das Altarsakrament zeigt, kein Zweifel, dass diese alle wie ein ganzer Körper seinem Gliedmaß herbeieilen und ihm helfen, den Tod, die Sünde, die Hölle zu überwinden. Sie tragen alle mit ihm. Da ist das Werk der Liebe und Gemeinschaft der Heiligen ernsthaft und gewaltig im Gange, und ein Christenmensch soll es sich auch vor Augen stellen und keinen Zweifel daran haben. Daraus wird er dann beherzt werden zum Sterben. Denn wer daran zweifelt, der glaubt nicht an das hochwürdige Sakrament des Leibes Christi, in dem doch Gemeinschaft, Hilfe, Liebe, Trost und Beistand aller Heiligen in allen Nöten gezeigt, zugesagt und gelobt wird. Denn wenn du an die Zeichen und Worte Gottes glaubst, so hat Gott ein Auge auf dich, wie er Psalm 32,8 sagt: »Ich will meine Augen stets auf dich richten, dass du nicht untergehst.« Wenn aber Gott auf dich sieht, so sehen mit ihm alle Engel, alle Heiligen, alle Kreaturen auf dich. Und wenn du in diesem Glauben bleibst, so halten sie alle die Hände unter dich. Geht deine Seele von dir, so sind sie da und nehmen sie in Empfang. Du kannst nicht untergehen. Das ist bezeugt bei Elisa 2. Könige 6, der zu seinem Knecht sprach: »Fürchte dich nicht; es sind mehr mit uns als mit ihnen.« Und doch hatten die Feinde sie umringt, und sie sahen sonst niemanden. Aber Gott öffnete dem Knecht die Augen. Da war um sie ein großer Haufe von feurigen Pferden und Wagen. Ebenso ist es auch gewiss um jeden bestellt, der an Gott glaubt. Hierher gehören die Worte Psalm 34,8: »Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus.« Psalm 125,1: »Die auf den Herrn hoffen, werden nicht fallen, sondern ewig bleiben wie der Berg Zion. Hohe Berge« – das heißt Engel – »sind um ihn her, und Gott selbst umringt sein Volk von nun an bis in Ewigkeit.« Psalm 91,11ff.: »Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Über Löwen und Ottern wirst du gehen und junge Löwen und Drachen niedertreten« – das heißt: Alle Stärke und List des Teufels werden dir nichts tun. »Denn er hat mir vertraut, darum will ich ihn erretten. Ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen. Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.« Ebenso sagt auch der Apostel (Hebräer 1,14), dass die Engel, von denen es unzählige gibt, allzumal dienstbar sind und ausgeschickt werden um der Menschen willen, die da selig werden sollen. Das sind alles große Dinge. Wer kann es glauben? Darum soll man wissen, dass es Gottes Werke sind. Sie sind größer als jemand den-

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ken kann, und doch wirkt er sie in einem so kleinen Zeichen, in den Sakramenten, um uns zu lehren, was für eine große Sache ein rechter Glaube an Gott ist. Neunzehntens sollte sich aber niemand anmaßen, diese Dinge aus seinen eigenen Kräften fertig zu bringen, sondern man soll Gott demütig bitten, dass er solchen Glauben und solches Verständnis seiner heiligen Sakramente in uns schaffe und erhalte, damit es so mit Furcht und Demut zugehe und wir nicht uns dieses Werk zuschreiben, sondern Gott die Ehre lassen. Dazu soll der Mensch alle heiligen Engel, besonders seinen Schutzengel, die Mutter Gottes, alle Apostel und lieben Heiligen anrufen, besonders diejenigen, zu welchen ihm Gott besondere Andacht gegeben hat. Er soll aber so bitten, dass er nicht zweifle, sein Gebet werde erhört. Dafür hat er zwei Gründe. Erstens hat er soeben aus der Heiligen Schrift gehört, wie Gott ihnen befohlen hat und wie es das Sakrament mit sich bringt, dass sie allen, die glauben, lieben und ihnen helfen müssen. Das soll man ihnen vorhalten und sie damit bedrängen. Nicht als ob sie es nicht selbst wüssten oder sonst nicht tun würden, sondern damit der Glaube und das Zutrauen zu ihnen und durch sie zu Gott desto stärker und fröhlicher werde, um so dem Tod zu begegnen. Zweitens hat Gott geboten, wenn wir beten wollen, sollen wir gewiss fest glauben, dass das geschehe, was wir bitten, und es solle ein wahrhaftiges »Amen« geben. Dieses Gebot muss man Gott gleichfalls vorhalten und sagen: »Mein Gott, du hast geboten, zu bitten und zu glauben, die Bitte werde erhört. Daraufhin bitte ich und verlasse mich darauf, du werdest mich nicht verlassen und mir einen rechten Glauben geben.« Dazu sollte man das ganze Leben lang Gott und seine Heiligen um einen rechten Glauben für die letzte Stunde bitten, wie das ja sehr fein am Pfingsttag gesungen wird: »Nun bitten wir den Heiligen Geist um den rechten Glauben allermeist, wenn wir heimfahren aus diesem Elende.« Und wenn die Stunde des Sterbens gekommen ist, soll man Gott außer an sein Gebot und seine Zusage an dieses Gebet erinnern, ohne irgendwie daran zu zweifeln, dass es erhört sei. Denn wenn er geboten hat, zu bitten und beim Beten Vertrauen zu haben, und wenn er außerdem Gnade zum Bitten gegeben hat: Was sollte man daran zweifeln, dass er das alles darum getan hat, weil er es erhören und erfüllen will? Zwanzigstens: Nun sieh, was soll dir dein Gott mehr tun, damit du den Tod willig annimmst, nicht fürchtest und überwindest? Er

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zeigt und gibt dir in Christus das Bild des Lebens, der Gnade und der Seligkeit, damit du dich nicht vor dem Bild des Todes, der Sünde und der Hölle entsetzst. Er legt weiter deinen Tod, deine Sünde und die Hölle auf seinen liebsten Sohn, überwindet sie für dich und macht sie unschädlich für dich. Er lässt obendrein deine Anfechtung durch den Tod, die Sünde und die Hölle auch über seinen Sohn gehen und lehrt dich, dich daran zu halten, und macht sie unschädlich und auch erträglich. Er gibt dir für das alles ein zuverlässiges Wahrzeichen, damit du nie daran zweifelst, nämlich die heiligen Sakramente. Er befiehlt seinen Engeln, allen Heiligen und allen Kreaturen, dass sie mit ihm zusammen auf dich sehen, auf deine Seele Acht geben und sie in Empfang nehmen. Er gebietet, du sollst das von ihm erbitten und der Erhörung gewiss sein. Was kann und soll er mehr tun? Darum siehst du, dass er ein wahrer Gott ist und rechte, große, göttliche Werke mit dir wirkt. Warum sollte er dir nicht etwas Großes, wie es das Sterben ist, auferlegen, wenn er so große Überlegenheit, Hilfe und Stärkung hinzufügt, um zu erproben, was seine Gnade vermag, wie Psalm 111,2 geschrieben steht: »Groß sind die Werke des Herrn; wer sie erforscht, der hat Freude daran«? Deshalb muss man darauf sehen, dass man ja mit großer Freude des Herzens seinem göttlichen Willen danke, weil er an uns gegen den Tod, die Sünde und die Hölle so wunderbar, reichlich und unermesslich Gnade und Barmherzigkeit übt. Man darf sich nicht so sehr vor dem Tode fürchten, sondern soll allein seine Gnade preisen und lieben. Denn die Liebe und das Loben erleichtern das Sterben gar sehr, wie Gott durch Jesaja sagt (Jesaja 48,9: »Ich will deinen Mund mit meinem Lob zäumen, dass du nicht untergehst.« Dazu helfe uns Gott! Amen.

Justus Jonas über Luthers letzte Tage und sein Sterben Zufällig starb Luther an dem Ort, an dem er auch geboren wurde, in Eisleben. Hierher war Luther im Winter 1545/46 gereist, um einen Streit unter den Mansfelder Grafen zu schlichten. Schon auf der Reise erkrankt, sollte er sich nicht mehr erholen. Am 18. Februar 1546 starb er in Gegenwart einiger Freunde und Kollegen, darunter Justus Jonas, der in Halle an der Saale als Reformator wirkte. Luthers letzte Tage und Stunden hat er in einem Bericht festgehalten, und das Antlitz des toten Luthers wurde auch gezeichnet (Abb. 10). Auf diese Weise wollten die Anhänger Luthers dokumentieren, dass er einen friedlichen, einen seligen Tod gestorben sei. Abb. 10: Luthers Totenantlitz Luther starb in einer schwierigen Zeit. In Trient war 1545 das Konzil zusammengetreten. Die Evangelischen hatten sich ihm jedoch geschlossen verweigert, da sie es nicht als frei und christlich ansahen. Der Kaiser war empört, es drohte Krieg. Wenige Monate nach Luthers Tod begann in Deutschland tatsächlich ein Religionskrieg, mit dem man schon lange gerechnet hatte. Schwierige Jahre bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 mussten die Evangelischen nun ohne Luther durchstehen.

Justus Jonas, Doctor Martin Luthers abschied und sterben (1546): Christof Schubart (Hg.): Die Berichte über Luthers Tod und Begräbnis. Texte und Untersuchungen. Weimar 1917, S. 2–6.

Schon in Wittenberg und auf der Anreise hat der ehrwürdige, in Christus unser aller lieber Vater Doktor Martin Luther über sein Befinden geklagt und auch, als er in Eisleben angekommen ist, über Schwachheit geklagt. Dennoch hat er, während wir in Eisleben über die Angelegenheiten der Grafen verhandelten, das Mittag- und Abendessen eingenommen und gut gegessen und getrunken. Auch hat er Speis und Trank besonders gelobt und gesagt, dass es ihm sehr wohl schmecke in seiner Heimat. Jede Nacht hat er auch gut geschlafen und geruht.

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Sein Diener Ambrosius, ich selbst Doktor Jonas, seine zwei kleinen Söhne Martin und Paul und noch ein oder zwei Diener wohnten bei ihm in der Kammer. Wir haben ihn auch mit angewärmten Kissen, wie er es gewohnt war, jeden Abend ins Bett gebracht, oft ich gemeinsam mit Magister Michael Celius, dem Prediger von Mansfeld. Drei Wochen lang hat er uns fröhlich jeden Abend Gute Nacht gesagt, oft mit diesen Worten: »Doktor Jonas und Herr Michael, betet zu unserem Herrgott, dass mit seiner Kirche und Sache alles gut werde, denn das Konzil in Trient ist sehr zornig.« Auch hat der Herr Doktor von Wittenberg Kraftnahrung, Wasser und Branntwein, was er zu Hause im Gebrauch hatte, holen lassen. Die Doktorin10 hat ihm das auch von sich aus hierher geschickt. So ist er also während dieser drei Wochen alle zwei oder drei Tage, wenn verhandelt wurde, bei meinem gnädigsten Herrn, Fürst Wolf zu Anhalt, und Graf Hans Heinrich von Schwarzburg gesessen. Aber gestern, am Mittwoch nach dem Valentinstag, dem 17. Februar, ist er auf Wunsch des Fürsten von Anhalt und des Grafen Albrecht, auch auf meine Bitte und Ermahnung hin, vormittags in seiner Stube geblieben und nicht zu den Verhandlungen gegangen. In der Stube ist er aber ohne Hose, im Mantelrock umhergegangen, hat von Zeit zu Zeit zum Fenster hinausgeschaut und gebetet, und zwar so laut, dass auch wir es, die wir bei ihm in der Stube waren, gehört haben. Dabei war er immer fröhlich. Von Zeit zu Zeit ließ er ein Wort hören und sagte: »Doktor Jonas und Herr Michael! Ich bin hier in Eisleben geboren und getauft worden – was wäre, wenn ich hier bleiben sollte?« Aber an jenem Mittwoch hat er dennoch nicht in seiner Kammer, sondern unten in der großen Stube Mahlzeit gehalten und dabei am Tisch viel von schönen Bibelworten gesprochen. Ein- oder zweimal hat er beim allgemeinen Gespräch gesagt: »Wenn ich, so Gott es will, ein Abkommen unter meinen lieben Landesherren, den Grafen, erreiche und diese Reise ihren Zweck erfüllt hat, so will ich heimziehen und mich in den Sarg schlafen legen und den Würmern den Leib eines guten feisten Doktors zum Fressen geben.« An eben diesem Mittwoch aber vor dem Abendessen hat er angefangen zu klagen, er spüre einen Druck auf der Brust, aber nicht zum Herz hin. Er verlangte danach, ihn mit warmen Tüchern zu reiben. Danach sagte er, der Druck habe etwas nachgelassen. Die Mahlzeit 10 Luthers Frau Katharina von Bora.

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hielt er unten in der großen Stube und sagte: »Allein sein macht nicht fröhlich.« Beim Abendessen hat er gut gegessen und ist fröhlich gewesen, machte auch Scherzreden. Nach dem Abendessen hat er wieder etwas geklagt, er spüre einen Druck auf der Brust, und hat warme Tücher begehrt. Da wollten die Herren und wir die Ärzte holen lassen, einen Magister und einen Doktor, aber er hat es verboten und dann zweieinhalb oder dreieinhalb Stunden auf dem Ruhebett geschlafen. Ungefähr bis halb elf Uhr haben Herr Michael Celius, ich Jonas, der Wirt und Stadtschreiber von Eisleben und die Wirtin sowie seine zwei kleinen Söhne bei ihm gewacht. Danach begehrte er, man solle ihm das Bett in der Kammer wärmen. Das wurde sehr sorgfältig gemacht und wir haben ihn zu Bett gebracht. Magister Celius lag auch in der Kammer und Luthers Diener Ambrosius, der von Wittenberg mit ihm gekommen war. Und ich, seine zwei kleinen Söhne und die Diener sind auch bei ihm in der Kammer gelegen. Ungefähr um elf Uhr ist er eingeschlafen und hat geruht und der Atem war natürlich. Danach um ein Uhr nachts hat er den Diener Ambrosius und mich gerufen und zunächst dem Diener gesagt: »Mach die Stube warm!« Der Diener beeilte sich, und als die Stube warm war, was die ganze Nacht vorbereitet worden war, hat er zu mir gesagt: » Oh, Herrgott, Doktor Jonas, wie ist mir so übel, ich spüre einen so harten Druck auf der Brust. Oh, ich werde in Eisleben bleiben.« Währenddessen sind Ambrosius und wir alle zu ihm gegangen und haben ihm aus dem Bett geholfen. Als er in die Stube gegangen war, ist er noch einmal umhergegangen, hat danach aber warme Tücher begehrt. Wir haben schnell beide Ärzte in der Stadt, den Doktor und den Magister, wecken lassen. Diese kamen auch gleich. Ebenso ließen wir meinen gnädigsten Herrn Graf Albrecht wecken, der bald zusammen mit der Gräfin kam. Wir haben es mit Kümmelbranntwein und des Doktors Arznei und allem versucht. Da fing der Herr Doktor an zu beten: »Mein himmlischer Vater, ewiger, barmherziger Gott! Du hast mir deinen lieben Sohn, unseren Herrn Jesus Christus offenbart. Ihn habe ich gelehrt, ihn habe ich bekannt, ihn liebe ich und ihn ehre ich als meinen lieben Heiland und Erlöser, den die Gottlosen verfolgen, schänden und schelten. Nimm meine Seele zu dir!« Danach sagte er dreimal, lateinisch: »In deine Hände befehle ich meinen Geist, denn du hast mich erlöst, Gott der Wahrheit« (Psalm 31,6), und fügte hinzu: »Denn also hat Gott die Welt geliebt …« (Johannes 3,16). Obwohl die Ärzte und wir ihn zu stärken versuchten, begann er still zu sein, als

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sinke er dahin, und er hat auch nicht geantwortet, obwohl wir ihn laut riefen und ihn schüttelten. Die Gräfin und die Ärzte rieben ihn mit Kümmelbranntwein ein. Da begann er Herrn Michael Celius und mir wieder mit Ja und Nein zu antworten, aber nur sehr schwach. Und als wir ihn laut riefen und fragten: »Allerliebster Vater, ihr bekennt ja Christus, den Sohn Gottes, unseren Heiland und Erlöser«, sprach er noch einmal so laut, dass man es hören konnte: »Ja«. Danach wurden ihm die Stirn und das Gesicht kalt, und wie laut man ihn auch rief, schüttelte und mit seinem Taufnamen »Doktor Martin« ansprach, antwortete er nicht mehr. Er atmete sanft und seufzte, mit gefalteten, ineinandergeschlagenen Händen, und so ist er in Christus entschlafen ungefähr zwischen zwei und drei Uhr in der Nacht gegen den Morgen, was wir mit betrübtem Herzen und vielen Tränen beklagen. Graf Albrecht und unsere gnädige Frau, die Gräfin, auch meine gnädigen Herren von Schwarzburg, sind rechtzeitig dagewesen, zum Teil am Ende gekommen. …

Literatur

Einführende Literatur zu Luther und zur Reformation Christine Axt-Piscalar/Mareile Lasogga (Hg.): Dimensionen christlicher Freiheit. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung der Theologie Luthers. Leipzig 2015. Hans-Martin Barth: Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung. Gütersloh 2009. Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. Tübingen 22004. Albrecht Beutel: Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Leipzig 22006. Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch. Tübingen 22010 (Theologen-Handbücher) (UTB 3416) (UTB Mittlere Reihe). Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 1–3. Studienausgabe. Stuttgart 1994. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers. Darmstadt 2013 (Einführung Theologie). Martin H. Jung: Die Reformation. Theologen, Politiker, Künstler. Göttingen 2008. Martin H. Jung: Reformation und Konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2012 (Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft) (UTB 3628). Martin H. Jung: Die Reformation. Frankfurt a. M. 2016 (marixwissen). Martin H. Jung/Peter Walter (Hg.): Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus, Reformation, Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Darmstadt 2002. Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Frankfurt a. M. 2009. Ulrich Köpf: Martin Luther. Der Reformator und sein Werk. Ditzingen 2015. Armin Kohnle: Martin Luther. Reformator, Ketzer, Ehemann. Leipzig 2015. Volker Leppin: Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang. Darmstadt 2009. Volker Leppin: Martin Luther. Darmstadt 2006 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance). Volker Leppin: Martin Luther. Vom Mönch zum Feind des Papstes. Darmstadt 22015. Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Gütersloh 2014. Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie. München 2012. Reinhard Schwarz: Luther. Göttingen 42014 (UTB 1926). Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde/Amt der VELKD (Hg.), Johannes Hund/Hans-Otto Schneider (Red.). Gütersloh 62013.

Literatur207

Wissenschaftliche Ausgaben von Luthers Werken sowie der Bekenntnisschriften WA Martin Luther: Kritische Gesamtausgabe. Schriften. Bd. 1–65. Weimar 1883–1993. WA.DB Martin Luther: Kritische Gesamtausgabe. Die Deutsche Bibel 1522– 1546. Bd. 1–12. Weimar 1906–1961. WA.TR Martin Luther: Kritische Gesamtausgabe. Tischreden 1531–1546. Bd. 1–6. Weimar 1912–1921. Cl Martin Luther: Werke in Auswahl. Otto Clemen (Hg.). Bd. 1–8. 1. Aufl. Bonn/Berlin 1912–1930; letzte Aufl. Berlin (West) 1962–1967. StA Martin Luther: Studienausgabe. Hans-Ulrich Delius (Hg.). Bd. 1–6. Leipzig 1979–1999. LDStA Martin Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Wilfried Härle/Johannes Schilling/Günther Wartenberg (Hg.). Bd. 1–3. Leipzig 2006–2009. DDStA Martin Luther: Deutsch-Deutsche Studienausgabe. Johannes Schilling (Hg.). Bd. 1–2. Leipzig 2012–2015. BSLK Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. Göttingen 13 2010. BSELK Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition. Irene Dingel (Hg.). Göttingen 2014.

Verzeichnis der verwendeten Lutherschriften

Acht Sermone, gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit: S. 99–103. An den christlichen Adel deutscher Nation: S. 34–54. An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen: S. 79–81. Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen: S. 82–88. Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei: S. 170–172. De captivitate Babylonica ecclesiae: S. 66–71. De servo arbitrio: S. 125–135. Der große Katechismus: S. 104–111. Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts: S. 88. Dictio doctoris Martini Lutheri coram caesare Carolo: S. 89–92. Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum: S. 22–95. Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben: S. 192–201. Eine einfältige Weise zu beten: S. 112–123. Eine Heerpredigt wider den Türken: S. 177–181. Ein Sendbrief vom Dolmetschen: S. 94 f. Invokavitpredigten: siehe Acht Sermone … Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können: S. 153–156. Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi, wider die Schwarmgeister: S. 136 f. Thesen zu Ablass und Buße: siehe Disputatio … Thesen zur Leipziger Disputation: S. 30–32. Tischrede über das Blitzerlebnis bei Stotternheim: S. 17. Vom ehelichen Leben: S. 72–78. Von den Juden und ihren Lügen: S. 173–176. Von den Konzilen und Kirchen: S. 182–184. Von der Freiheit eines Christenmenschen: S. 55–64. Von Kaufhandlung und Wucher: S. 157–162. Von weltlicher Obrigkeit: S. 139–152. Vorrede zum Brief des Paulus an die Römer: S. 95–97. Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften: S. 18–20. Vorrede zum Jakobus- und zum Judasbrief: S. 97 f. Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet: S. 186–191. Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern: S. 164–169. Wormser Rede: siehe Dictio …

Abbildungsnachweise

Titelbild: Luther als Bibelübersetzer (Holzschnitt, Lukas Cranach, 1530): Martin Luther: Das Neue Testament. Wittenberg: Hans Lufft 1530. Landesbibliothek Coburg P I 6/12. © Landesbibliothek Coburg. Abb. 1: Luther als Mönch (Kupferstich, Lukas Cranach, 1520): © akg-images. Abb. 2: Luther als Mönch mit Bibel (Holzschnitt, unbekannter Künstler, 1521; nach einem Kupferstich von Lukas Cranach, 1520): Doctor Martini Luthers offentliche verhör zuo Worms im[m] Reichstag […]. [Augsburg: Sigmund Grimm u. Marx Wirsung], 1521, Titelbild. Abb. 3: Luther in Worms (Holzschnitt, unbekannter Künstler, 1521): Ain anzaigung wie D. Martinus Luther zu Wurms auff dem Reichs tag eingefaren durch K. M. Jn aygner person verhört vnd mit jm darauff gehandelt. Augsburg: Melchior Ramminger, 1521, Titelblatt. Abb. 4: Luther als Bibelübersetzer (Holzschnitt, Lukas Cranach, 1530): Das Newe Testament Mar[tin] Luthers. Wittenberg: [Hans Lufft], 1530, Avv (im Original koloriert). Druckvorlage aus: Heimo Reinitzer: Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition. © Wolfenbüttel: Herzog-August-Bibliothek 1983 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 40), S. 110. Abb. 5: Luther als Junker Jörg (Holzschnitt, Lukas Cranach, 1521): © akg-images. Abb. 6: Luther als Heiliger (Holzschnitt, Hans Baldung Grien, 1521): Katalog der Ausstellung Martin Luther 1483 bis 1546 in der Staatlichen Lutherhalle Wittenberg. © Lutherstadt Wittenberg: Staatliche Lutherhalle, 1984, Bildtafel 48. Abb. 7: Luther mit Doktorhut (Kupferstich, Lukas Cranach, 1521): Helmar Junghans: Wittenberg als Lutherstadt. Berlin (Ost): Union Verlag, 1979, S. 95, Bildtafel 46. Abb. 8: Luther als Hercules Germanicus (Holzschnitt, Hans Holbein, 1522): © akgimages. Abb. 9: Luther im Alter (nach einem Holzschnitt von Lukas Cranach d. J. 1546, um 1560): © akg-images. Abb. 10: Luthers Totenantlitz (Lukas Cranach d. J. nach einer Federzeichnung von Lukas Furtenagel, 1546): Katalog der Ausstellung Martin Luther 1483 bis 1546 in der Staatlichen Lutherhalle Wittenberg. © Lutherstadt Wittenberg: Staat­liche Lutherhalle, 1984, Bildtafel 61.

Personen- und Sachregister (in Auswahl)

Abendmahl 65–71, 88, 136 f., 197 Abgott/Abgötterei 105, 107, 114, 118, 174, 180, 187 Ablass 21–29, 32, 108 Abraham 41, 97 Agnes (Heilige) 47, 51 Alexander der Große (König) 156 Alexius (Heiliger) 17 allein Christus (solus Christus) 98 allein die Schrift (sola scriptura) 51 allein durch den Glauben (sola fide) 31, 58 f., 62, 70, 97 allein durch die Gnade (sola gratia) 128 allgemeines Priestertum 33–44, 61 f., 85 Almosen 88 Altes Testament 58, 97 Amt 22, 35–38, 43, 45, 61, 85–87, 98, 139, 146 f., 150–152 Ambrosius 35 Anfechtung 101, 201 Anna (Heilige) 17 Antichrist 43–46, 84, 134, 177, 185–191 Apostel 39, 41 f., 46, 57, 63, 69, 85–87, 97 f., 146–148, 153, 166, 171 f., 183, 186, 188–190, 199 f. Aristoteles 12, 30 f., 47 f., 69 Armut 52, 80 Auferstehung 57, 110, 126 Aufruhr 121, 145, 163–169 Augustinus (Kirchenvater) 11, 18, 20, 30, 35, 36, 55, 65, 185 Averroes 136 Bann 27, 38, 43, 45, 88 Barnabas (Apostel) 86 f. Bauern 38 f., 163–169 Bauernkrieg 163–169 Beichte 22, 117–119, 121–123, 193, 197 Bekehrung 114 f., 132, 169, 171, 173, 175, 189 Bergpredigt 141 f., 144, 147

Bernhard von Clairvaux 104, 109 Beten (siehe Gebet) Betteln/Bettler 113, 161 Bibelauslegung 39–41, 93–95 Bibelübersetzung 93–95 Bildung 47–51, 79–81 Bileam (Prophet) 41 Bischof/Bischöfe 23 f., 27 f., 35–38, 42, 44 f., 51, 57, 83–87, 102, 148, 150, 171, 183, 186 f. Bonifatius III. (Papst) 185 f. Buße 22–24, 30 f., 67, 110, 140, 142 Christ/Christenheit 188 Cicero 48 Cyprian (Kirchenvater) 35, 36, 185 f. David (König) 119 Dekalog (siehe Zehn Gebote) Deus absconditus (der verborgene Gott) 133–135 Deus revelatus (Gott, wie er sich offenbart hat) 133–135 Dreiständelehre 35 Eck, Johann 30 Ehe 72–78, 181 Ehebruch 74 Ehelosigkeit (siehe Zölibat) Ehescheidung 74 Engel 46, 64, 67, 69, 77, 94, 125, 179, 190, 196, 198–201 Erasmus von Rotterdam 124–135 Erbsünde 19 Erhörung 114, 116, 200 f. Erwählung 134, 195 f. Eucharistie (siehe Abendmahl) Evangelium 19, 26 f., 50 f., 57, 82, 126, 143, 145, 189 ewiges Leben 109, 111, 115, 117, 125– 127, 129, 168

Personen- und Sachregister (in Auswahl)211

Fasten 56, 63, 105, 179 f. Fegefeuer 21–29, 31, 168 Feiertage 120 Feindesliebe 141 f. Frauen 72–78, 146 f., 181 Freiheit 41, 55–62, 64, 143 Fressen 54 Freude 57, 60, 71, 75–77, 133, 151, 193, 201 Freudenhäuser 54 Friede 29, 57–60, 76, 106, 120, 123, 131, 143–146, 149, 151, 153 f., 168, 177, 197 Friedrich der Weise (Kurfürst von Sach­ sen) 89, 93 Fugger (Augsburger Kaufmannsfamilie) 51, 53, 157 Fürbitte(r) 24 Gebet 25, 45, 50, 62, 70, 88, 102, 112– 123, 173, 179, 200, 203 Gebote (siehe auch Zehn Gebote) 39, 58, 113 f., 125, 141 f., 172, 192, 200 Geburt 193 Geduld 100 f., 103, 167 Gelübde 17, 47, 106, 180 Gemeinde 36 f., 40, 42, 82–87 Gerechtigkeit Gottes 18–20 Gericht 131, 154, 178 Gesetz 58, 126, 130–133, 143 Gewalt 151 Gewaltaufrufe Luthers 46, 168, 173, 176 Gewissen 19, 92, 109, 155, 158, 195 Gewittererlebnis Luthers 17 Glaube 19, 31, 36, 59, 77, 96–98, 100, 179 f., 188, 193, 199 Glaubensbekenntnis 88, 108, 112, 126, 179 Gnade 26 f., 31, 36, 52, 57, 59, 74, 87, 96 f., 109–111, 116, 118–122, 126– 129, 131–134, 150, 167, 172, 195– 198, 200 f., Gott 104–106 Gottesdienst 26, 88, 114f, 134, 177 Gregor der Große (Papst) 185–187

Hannas (Hoherpriester) 91, 98 Heilige 17, 31, 106, 193, 197 f., 180 Heilige Schrift 19, 23, 32, 34, 39–44, 47–51, 53, 56–58, 67, 69, 83, 85, 88, 91 f., 94 f., 97 f., 102, 110, 130– 133, 137, 141 f., 170–172, 177 f., 183, 187 f., 191, 200 Heiligung 114 Herodes (König) 98, 166 Heuchler/Heuchelei 31, 35, 57, 75, 144 Hieronymus (Kirchenvater) 113, 185 f. Himmel 74, 95, 101, 151, 193 Hoffnung 97, 101, 131 f., 155, 177 Hölle 23, 26, 29, 46, 60, 75, 133, 142, 157, 165 f., 168 f., 178, 183, 187 f., 190, 194–196, 198 f., 201 Hus, Johann 30, 104, 109 Islam 177–181 Jakob (Patriarch) 172, 198 Jakobus (Apostel) 93, 97 f. Johannes Gerson 104, 109 Jonas, Justus 202–205 Judas (Jünger) 93, 98, 191 Juden/Judentum 87, 170–176, 196 Jüngster Tag 54, 62, 165, 168, 177 Kaiser 42, 45, 49 f., 53, 83, 89–92, 139, 155, 161, 164–166, 182–184, 186 Karl V. (deutscher Kaiser) 89, 184 Katechismus 104–111 Katharina von Bora (siehe von Bora) Kaufhandel 53, 157–162 Ketzer/Ketzerei 31, 39, 42, 45, 66, 68, 83, 108, 114, 150, 170, 172 Keuschheit 47, 54, 78, 110 Kindertaufe 109 Kirche 32, 67, 109, 183, 188, 191 Kirchenspaltung 66, 184 Kloster 17, 46 f., 51, 79, 83 f., 165 Konstantin der Große (römischer Kaiser) 42 Konzil 32, 34, 42–44, 92, 182–184 Konzil von Nizäa (325) 32, 42 Koran 177–181 Krankheit 56, 74, 76, 80, 130, 145, 180

212

Personen- und Sachregister (in Auswahl)

Kreditwesen 53 Krieg 153–156, 178 Letzte Ölung 193, 197 Liebe 25, 64, 100, 103, 156 Lorenz/Laurentius (Heiliger) 26, 106 Luther, Katharina (siehe von Bora) Mammon 105 f. Maria (Mutter Jesu) 60, 170, 190, 194 Märtyrer 51, 76, 117, 168 Melanchthon, Philipp 15, 22, 93, 99 Messe 28, 35 f., 69–71, 102 Mohammed 178–180 Mönche 17, 19, 37 f., 50, 70, 116, 140, 142, 171, 179 Mönchsgelübde (siehe Gelübde) Mose 101, 130, 141 f., 156, 165, 174 Müntzer, Thomas 163 f. Nachfolge 100, 147 Nächstenliebe 63 f., 100–103, 107, 121– 123, 145 f., 157 f., 169 Nachtmahl (siehe Abendmahl) Neues Testament 59, 94 f., 165 Obrigkeit/Obrigkeitslehre 36–39, 43, 45, 54, 80 f., 87, 102, 106, 138–153, 155 f., 159 f., 164, 166–168, 187 Offenbarung 18 f., 102, 108, 118, 126, 134, 172, 204 Papst/Papsttum 21–29, 33–46, 90, 182, 186–191 Paul III. (Papst) 182 Paulus (Apostel) 11, 18 f., 31, 35, 37 f., 40 f., 43–47, 49, 53, 55, 58–61, 66, 69, 78, 84, 86–88, 93, 95–98, 100 f., 112, 116, 119, 121, 126 f., 132, 134 f., 137, 141, 143, 145, 150, 157, 159, 164, 166, 171 f., 177, 180, 188, 191 Petrus (Apostel) 19, 27, 35, 37 f., 40–42, 61, 85, 93, 98, 140 f., 145, 149, 153, 166, 185, 187–190, 198 Petrus Lombardus 47 Pfarrer 82–87 Philippus (Apostel) 85

Philosophie/Philosophen 19, 50, 69, 126 Pontius Pilatus 45, 98, 142, 166 Prädestination (siehe Erwählung) Predigt 24–26, 28 f., 57, 82, 85, 87, 98, 119, 133–135, 147 Psalmen/Psalter 18, 57, 62, 112, 117, 196 Recht/Rechtswesen 49 Rechtfertigung/Rechtfertigungslehre 18–20, 58, 63 Reformation 49 Reich Gottes 100, 142 f., 146–148, 180 Reue 24 f. Rochius (Heiliger) 106 Sakramente 37, 67, 193 f., 197 f., Salomo (König Israels) 76–78, 118, 133, 155 f. Sara 41 Saufen 54 Schatz der Kirche 26 f., 31 Schöpfung 72–74, 120 Schriftprinzip 91 Schuld 22–29 Schule 47, 50 f., 79–81, 84, 173 f. Schwärmer/Schwarmgeister 136 Sebastian (Heiliger) 105 Sentenzen 50 Sexualität 73 Soldatenberuf 153–156 Spiritualismus 136 Stände 33–39 Stephanus (Apostel) 85 Sterben 31, 77, 116, 192–205 Strafe Gottes 19, 22, 29, 31, 38, 97, 123, 140, 166, 178 Sünde 19, 30–32, 40, 60, 74, 108, 111, 113, 117–123, 129, 132, 195 Synagoge 173 Talmud 174 Taufe 31, 35 f., 39, 88, 107–111 Teufel 39, 45, 49, 75, 78, 106, 113, 121, 137, 179 f., 191, 194 f. Theologie/Theologen 25, 28, 31, 49 f., 53

Personen- und Sachregister (in Auswahl)213

Thomas von Aquin 11 Timotheus (Apostel) 86 f., 119, 135, 143, 157 Tischreden 17 Titus (Apostel) 86 f. Tod 99, 116, 192–201 Todesstrafe 121, 146 f., 149 Transsubstantiation 69 Trost 58, 77, 109, 115, 117–119, 132, 177, 193, 198 f. Trübsal 29, 76, 177 Türken 177–181 Turmerlebnis Luthers 18–20 Tyrannen 155 Unfehlbarkeit des Papstes 39, 190 Universität 47–51 Vaterunser 88, 108, 114–117, 119 Vergebung 25, 31, 68, 70, 111, 189, 192 Verheißung 58, 71, 132 Vernunft 76, 92, 155 Versuchung 115, 157 Vertrauen 25, 29, 58, 105–107, 117, 200 Verzweiflung 23, 57 f., 68, 105, 131–133 Vollkommenheit 24, 142 von Bora, Katharina (Ehefrau Luthers) 203

Wallfahrt 56 f., 180 Wandlung (siehe Transsubstantiation) Weihe 35 f. Werke 25, 57, 62 f., 77, 96–98, 119, 195, Widerruf 89, 91 Widerstand/Widerstandsrecht 139 f., 155 Wiederverheiratung 74 Willensfreiheit 31, 124–135 Wirtschaftsleben 52 f. Wort Gottes 26, 37, 50, 57, 73, 102, 117, 119, 135, 147, 198 Wucher 175 Wunder 44, 81, 119, 150, 179 f. Wyclif, John 129 Zauberer 106, 180 Zehn Gebote 19, 104–107, 112, 117– 123, 189 Zigeuner 174 Zinshandel 53 Zölibat 78 Zorn Gottes 19, 25, 57, 71, 118, 121, 131, 141, 149, 167, 173, 176, 194, 197 Zweifel 70f., 116, 167, 194, 198–201 Zweireichelehre 142, 144, 146 Zwingli, Ulrich 11, 136

Luthers Gebetslehrgang ist ein Beitrag zur Wiederentdeckung seiner Spiritualität

Martin Luther

Wie man beten soll Für Meister Peter den Barbier Herausgegeben von Ulrich Köpf und Peter Zimmerling. 2011. 64 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56009-9 eBook: ISBN 978-3-647-56009-0

Die Neuherausgabe von Martin Luthers Schrift von 1535 ermöglicht einen Blick in die persönliche Spiritualität des Reformators – ein bisher nur selten genutzter Zugang zu ihm als Mensch und zu seiner Theologie. Auf wenigen Seiten hat Luther einen Lehrgang des Betens entwickelt. Der Reformator will einem Laien, der offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Gebet hat, eine Gebetshilfe geben und ihn dadurch zum Beten ermutigen. Luther geht davon aus, dass der Glaube der geistlichen Übung bedarf, wenn er nicht verkümmern soll. Eine Beschäftigung mit seiner Spiritualität bietet die Chance, die Fremdheit Luthers zu überwinden – besonders im Rahmen der Lutherdekade zum 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017. Die Neuherausgabe des Luthertextes zeichnet sich durch Einfachheit und Anschaulichkeit aus. Die Einleitung der beiden Herausgeber erleichtert den Zugang zu Luthers Schrift.

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