Luther als Begründer protestantischen Gesittung: Ein Vortrag zur Lutherfeier [Reprint 2021 ed.] 9783112440186, 9783112440179

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Luther als Begründer protestantischen Gesittung: Ein Vortrag zur Lutherfeier [Reprint 2021 ed.]
 9783112440186, 9783112440179

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Luther als Legränder der

protestantischen Gesittung. Ein Vortrag zur Lutherfeier von

D. Otto Pfleiderer, Professor an ver Universität Berlin.

(Abgedruckt aus der Protestantischen Kirchenzeitung 1883, Nr. 46.)

Berlin.

Druck und Verlag von G. Reimer. 1883.

Es war zu Erfurt an einem Sommerabend des Jahres 1505, da saß der junge Magister Martin Luther im heiteren

Kreise seiner Freunde, trank und sang mit ihnen die be­ liebten Lieder, wie sonst, dann erklärte er Plötzlich, daß sie

ihn hinfort nicht Wiedersehen werden, denn er gehe morgen

ins Kloster.

Wir mögen uns ihr Erstaunen denken: der

Luther, der immer so fröhlich mit den Fröhlichen gewesen,

der so eifrig seine Philosophie studirt und kürzlich erst die ehrenvolle Magisterwürde erworben, der ein Stolz der Uni­

versität und eine Hoffnung seiner Eltern war, der wollte nun

das alles von sich werfen und sein junges Leben fortan im Kloster begraben! Wie war das möglich? War es etwa nur die Folge eines zufälligen Ereignisses, das ihn momentan in

lebhafte Erregung versetzt hatte? Gewiß nicht, sondern was bei einem derartigen Erlebnis sich ihm zum Entschluß und

Gelübde gestaltete, das war seit lange in der Seele dieses Jünglings

gereift,

der

mit Faust sprechen konnte:

Zwei

Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen! Mit offenem Auge schaute er in die

Welt, die

eben jetzt in dieser

bewegten Universitätsstadt

Erfurt ihre Lebensfülle vor ihm erschloß; frischen empfäng­

lichen Sinn brachte er ihren mannigfachen Eindrücken ent­ gegen, mit seltenem Fleiß vertiefte er sich in die Wissens­ schätze der Hochschule und hatte eben die erste Staffel der

1*

4 academischen Ehren erstiegen.

Aber unter dieser heiter-ge­

schäftigen Oberfläche gärte es

in der Tiefe seiner Seele.

Ohne daß er nach menschlichem Urteil sich besondere Sünden vorzuwerfen hatte,

fühlte sich sein zartes und noch durch

strenge Erziehung verschüchtertes Gewissen in schwerer Schuld

vor Gott, dessen Zorn und Gericht stets drohend ihm vor Augen schwebte; und oft trat ihm die Frage auf die Lippen:

„O, wann wirst du einmal fromm werden und genugtun, daß du einen gnädigen Gott kriegst?"

Aber

mußte

er denn dazu gleich ins Kloster gehen?

Frommwerden — konnte er denn das nicht ebensogut auch

außer dem Kloster in seinem weltlichen Beruf? Ja freilich

konnte er das, wie wir jetzt wol wissen, dank dem Lichte,

das eben die Reformation Luther's der Welt gebracht hat; aber Luther wußte das damals eben noch nicht und konnte

es gar nicht wissen nach der strengkirchlichen Erziehung, in

welcher er aufgewachsen war. Da hatte er stets nur gehört, daß das wahre Frommsein blos im geistlichen Stande mög­

lich sei, weil dieser Stand allein eigentlich gottgefällig sei, während die anderen, die weltlichen Stände nur notdürftig

mittelst der überfließenden Verdienste des geistlichen Standes ihre Blöse vor Gott zu decken vermögen.

Man hatte dies

u. a. auch in einem Bilde veranschaulicht, dessen sich Luther von seiner Jugend her noch wol erinnerte:

Da war die

Kirche als ein großes dem Himmel zusteuerndes Schiff dar­ gestellt, das lauter Geistliche und Mönche zu Insassen hatte, während die Laien rings umher' im Master schwammen,

Einige an Stricken sich haltend, die vom Schiff aus ihnen zugeworfen wurden,

Andere aber in den Wellen des Welt­

lebens rettungslos ertrinkend.

Diese Ansicht von einem doppel­

ten, höheren und niederen Christentum erscheint uns nun

freilich recht sonderbar, aber gewiß ist, daß sie aus dem

mittelalterlichen Grundgedanken Gottesreich

folgte, nach welchem das

nur in der Kirche als dem Organismus der

5 Heilsmittel und Heilsmittler bestehen sollte, während alles außerkirchliche Leben der Welt, auch deren sittliche Ordnungen

und Bestrebungen eingeschlossen, an und für sich nur ein

Gebiet des gottwidrigen Fleisches, der Sünde und des Teufels sei. Dieser für die katholische Weltanschauung charakteristische

Zwiespalt zwischen Göttlichem und Weltlichem oder Geist­ lichem und Natürlichem war vom deutschen Volk noch nie

so tief und schmerzlich empfunden worden, wie eben zu jener Zeit, in welche Luther's Jugend fiel.

Ueberall regte sich

damals ein frisches und kräftiges Streben nach neuen Ge­

staltungen in Staat und Gesellschaft, ein heißer Durst nach

Wissen, eine inbrünstige Versenkung in die Schönheit und Weisheit der neuentdeckten classischen Welt,

ein sinnendes

Grübeln über die Geheimnisse der Natur, über die schaffen­

den Lebenskräfte und geheimnisvollen Zusammenhänge des

Weltalls.

Und nun sollte doch nach der Lehre der Kirche

diese ganze schöne Welt mit allen den Wundern und Schätzen der Natur

und Geschichte

etwas

Gottloses

und für des

Menschen wahre Bestimmung Wertloses sein, woran Inter­

esse und Freude zu haben

für die Seligkeit gefährlich sei.

So hatte ja der große Lehrer des Mittelalters, der Scho­

lastiker Thomas von Aquino gelehrt:

„Es ist der Mensch

zwischen die Dinge dieser Welt und die geistlichen Güter,

in welchen die ewige Seligkeit besteht, so hineingestellt, daß er, je mehr er dem einen von beiden anhängt, desto mehr vom andern sich entfernt, und umgekehrt."

So hatte der

Mensch also nur die Wahl, vom Einen oder vom Andern zu lassen — eine fürchterliche Wahl für das deutsche Gemüt,

das nun einmal ebenso schwer davon lassen kann, sich an

die Welt mit klammernden Organen zu halten, wie nach Gott zu suchen und zu fragen; das ebenso mächtig Trieb und Mut fühlt, sich in die Welt zu wagen, der Erde Glück,

der Erde Weh zu tragen, wie es doch zur Ruhe nirgends anders

kommen kann als am Herzen Gottes.

Aber der

6 dahin war eben der Christenheit abgeschnitten durch

Weg

den furchtbaren Abgrund, den die Kirche zwischen dem sündigen

Erdenleben und dem zornigen Richter im Himmel aufgetan

hatte.

Daher das ängstliche Suchen der ernsteren Gemüter

jener Zeit nach Brücken, die über den Abgrund führen

möchten, jenes Häufen der Heilsmittel und frommen Uebungen,

welche die Tiefe der Kluft ausfüllen sollten, jene Mehrung der Mittler und Heiligen, welche dem Verzagenden die rettende

Hand vom Ufer der Seligen herüberreichen sollten.

Ver­

gebens alles! Kein menschliches Tun vermochte den Abgrund zu füllen, der das schuldbewußte Gewissen von dem heiligen Richter trennt, und keines menschlichen Mittlers Arm war

genug, um über

groß

diese Kluft herüberzureichen.

Im

Gegenteil, je mehr man die Mittel und die Mittler häufte,

desto ferner entschwand nur immer der Gott, nach dessen Gemeinschaft und Huld man sich sehnte;

desto peinvoller

verzehrte sich das fromme Gemüt in fruchtlosem Sehnen nach Frieden, in verzweifelndem Ringen um seine Seligkeit.

Nur aus der Tiefe eines Herzens, welches diesen furcht­ baren Zwiespalt in seiner ganzen Schwere durchempfunden und

durchgerungen hatte, konnte auch die Versöhnung desselben,

konnte die Heilung und Genesung kommen. Darum mußte ein Luther in der Klosterzelle die harte Gesetzesschule durchmachen,

um unter den Höllenqualen des ruhelos sich ängstigenden

Gewissens zu erfahren, daß dieser Weg zum Heile nicht führe.

Nur allmählich ging diese Erkenntnis ihm auf; unter

dem Studium der heiligen Schrift, des Kirchenvaters Augustin und besonders auch

der mittelalterlichen Mystik begann er

den Grund der Erfolglosigkeit seines bisherigen Strebens

zu durchschauen.

Er fand in den Predigten Tauler's und

in der sogen. „Deutschen Theologie"

den tiefsinnigen Ge­

danken, daß der Grund unseres Unheils nicht in einzelnen

Gesetzesübertretungen oder in

sinnlichen Regungen bestehe,

sondern tiefer liege: in der Selbstliebe unseres Herzens, das,

7 trotzig und verzagt zugleich, vor der Liebe Gottes sich bald in Mistrauen und knechtischer Furcht verschließe,

bald in

hochmütiger Selbstgerechtigkeit seine Huld'durch verdienstliche

Werke erkaufen wolle, und das bei all' dem doch im Grund nur sich selber suche, nicht Gott und seine Liebe.

Daraus

folgt von selbst, daß die Ueberwindung des Unheils und der Unseligkeit niemals von irgendwelchem Tun zu erwarten sein

kann,

welches eben jener kranken Wurzel, nämlich

dem

selbstischen Sinn eines mit Gott entzweiten und lohnsüchtig

marktenden Herzens entstammt.

Gegen dieses Grundübel

kann vielmehr nur das eine Mittel helfen: von der Selbst­

liebe zu lassen und an Gottes Liebe vertrauensvoll und de­

mütig das Herz hinzugeben, um im Gefühl der Liebeseinheit

mit Gott der Seligkeit unmittelbar gewiß zu werden.

Diese

Gedanken hat Luther von der Mystik, ohne ihr übrigens auf allen ihren Wegen zu folgen, sich angeeignet und mit dem

paulinischen Begriff des rechtfertigenden Glaubens verbunden. Damit bekam ihm dieser Begriff, der sonst so oft nur in

äußerlichstem Sinn verstanden wurde und wird, jene echt paulinische gehaltvolle Tiefe, die ihn auch zum neuen ethi­ schen Lebensprincip geeignet machte.

Der Glaube ist für

Luther sowenig wie für Paulus bloses Fürwahrhalten der Geschichte von Christo, sondern er ist der Zusammenschluß des Herzens mit ihm zu einer geistlichen Person, das Auf­

nehmen des leuchtenden Heilandsbildes mit allen den Heils­

kräften, die von ihm ausströmen, ins eigene Herz, sowie der Edelstein

in den umfassenden Ring ausgenommen ist; mit

einem Wort der Glaube

ist

nach Luther

nichts

anderes

denn ein „Leben in Gott", im heiligen Geist der Wahrheit und Liebe, der Freiheit und Freude; darum wandelt er den Menschen ganz und gar um, macht ihn innerlich im Herzen gut, macht ihn frei von allem Werk und Gebot, zum Herrn

über alle Dinge, hinwiederum aber auch gebunden durch die Liebe und dienstbar dem Nächsten in allen Dingen.

So hat

8 Luther im Glauben, der ihm zunächst persönlich der rettende Fels

aus den Stürmen seiner Seele geworden war, zugleich das

Fundament einer neuen sittlichen Weltanschauung und Lebens­ ordnung für den Einzelnen und die Gesellschaft gefunden; er ist der Begründer nicht blos der nach ihm sich nennenden

gereinigten Kirche, sondern auch der weit über die Grenzen

dieser Kirche hinausragenden protestantischen Gesittung ge­ worden, in der wir Alle leben und weben.

Sei mir vergönnt,

hierüber etwas weiter mich zu verbreiten. Ueber den Gegensatz von gesetzloser Freiheit und un­

freier Gesetzlichkeit, in welchem die alte Welt der Heiden

und Juden befangen gewesen war, hatte sich zwar die christ­

liche Sittlichkeit principiell von Anfang

schon zur Einheit

von Gesetz und Freiheit erhoben, wie ja Paulus sagt: „Ich bin nicht unter dem Gesetz und nicht ohne Gesetz, sondern ich bin im Gesetz Christi; das Gesetz des Geistes des Lebens

in Christo hat mich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes,

denn

die Liebe ist

des

Gesetzes Erfüllung."

Aber dieses große neue Princip des verinnerlichten und frei­

machenden Geistesgesetzes war von der christlichen Kirche sehr bald wieder unter den Scheffel gestellt worden, indem sie ihre Satzungen als neues Knechtsjoch der christlichen Welt auf­

erlegte.

Zwar mochte wol in den früheren Jahrhunderten

eine solche

abermalige Erziehung der

unmündigen Völker

durch die kirchliche Gesetzesschule ganz zweckmäßig und heilsam sein.

Aber der Zögling entwuchs der Zuchtrute des Pä­

dagogen und doch wollte ihn die Kirche nicht freilassen.

Das

deutsche Volk vor allem fühlte Roms Herrschaft immer pein­ licher als drückendes Joch;

immer lauter erhoben sich die

Beschwerden und Proteste der schnöde geknechteten, mishan-

delten und ausgesogenen Nation, aber machtlos zerschellten sie alle an der furchtbaren Zwingburg römischer Tyrannei.

Zur kirchlich-hierarchischen Knechtung des Volks kam noch hinzu die immer schroffer>:werdende Entzweiung der Stände,

9 der

immer unerträglichere Druck der Feudalherrschaft auf

die Bauern.

Furchtbar gärte es in diesen Kreisen zu Anfang

des 16. Jahrhunderts, immer häufiger wurden die Ausbrüche

der gewaltsamen Selbsthülse und rohen Empörung.

Römische

Knechtschaft also auf der einen, und wilde alles verheerende Revolution auf der andern Seite — das schienen die einzigen

Chancen für die Zukunft der Nation zu sein. Da war es Luther, der zwischen Scylla und ßharybdis das Schifflein der „Freiheit eines Christenmenschen"

glücklich hindurchrettete.

Daß ein Christenmensch ein freier

Herr ist über alle Dinge —, dieses mutige Selbstbewußt­ sein evangelischen Glaubens, das er in stiller Klosterzelle für

sich selbst erkämpft

hatte, machte

er nunmehr auch zum

Fundament einer neuen sittlichen Welt durch zwei weltge­

schichtliche Taten: durch

die Verbrennung der

päpstlichen

Bannbulle, mit welcher der alte Zauber Roms über deutsche Gemüter für immer gebrochen war, und durch Has Bekenntnis

zu Worms vor Kaiser und Reich, womit die Gewissensfrei­ heit auch den irdischen Machthabern gegenüber erkämpft war.

Hinwiederum aber auch, daß ein Christenmensch ein dienst­ barer Knecht ist aller Dinge und Jedermann untertan —

dieses demütige Selbstbewußtsein evangelischer Liebe, das ihm unzertrennlich mit jenem mutigen Bewußtsein der Glaubens­

freiheit verknüpft war, hat er ebenfalls durch zwei welthisto­ rische Taten documentirt: durch die Ueberwindung der kirch­ lichen Revolution, welche die Schwarmgeister zu Wittenberg während Luthers Aufenthalt auf der Wartburg angestiftet

hatten, und durch die energische Verwerfung des Ausstandes der Bauern, welche aus der christlichen Freiheit einen Schand­ deckel ihrer heidnischen Gräuel gemacht hatten. Hiermit war die Grenzscheide

gegen

die

Revolution hin ebenso

scharf

gezogen, wie vorher die Scheidung von Rom vollzogen worden

war.

Beide Seiten gehören in Luther's Werk so eng zu­

sammen, wie die beiden Sätze, welche er seinem Sermon

10 von der Freiheit eines Christenmenschen als Thema voran­ gestellt hat, und wie im Christentum überhaupt die Freiheit des Gewissens und die Gebundenheit der Liebe zusammen­

gehören. Die Freiheit, welche Luther meinte, und welche er als den im Acker des Evangeliums verborgenen Schatz

an's

Licht brachte, war also nichts weniger als heidnische Zucht­

losigkeit pnd Willkürwesen; — wenn die Römischen immer wieder diesen Vorwurf gegen Luther erheben, so ist derselbe hier genau ebenso töricht und grundlos, wie es der gleiche

Vorwurf im Munde der Juden und Judenchristen gegen den Apostel Paulus gewesen war.

Nach Luther ist, wie nach

Paulus, allerdings das Gesetz als äußeres Gebot und zwingende

Fessel des Gewissens für den wahren Christen aufgehoben, aber nur sofern zugleich der ewige Gehalt des Gesetzes, der

Gotteswille des Guten, in das Herz des Menschen ausge­ nommen, Gegenstand seiner vernünftigen Einsicht und herz­

lichen Liebe geworden ist.

Der neue, in Gott lebende Mensch

bedarf eben nur darum keines zwingenden Gesetzes mehr,

weil das Göttliche sein eigenes Lebenselement geworden ist, weil er das, was er als das Wahre und Gute erkannt hat, zugleich als das höchste Gut liebt, und ihm Herz und Leben in freier und freudiger Hingabe zu weihen sich innerlichst

gedrungen fühlt.

Luther braucht selbst dafür das treffende

Gleichnis: wie man der Sonne nicht erst zu gebieten brauche,

daß sie leuchte, dem Feuer, daß es brenne, und dem Baum, daß er wachse, blühe und Früchte bringe, weil ja diese Creaturen das alles schon von selber aus ihrer eigenen Natur­

tun, ebenso sei es mit dem wahren Christen: er tut das Gute schon ganz von selbst aus dem eigenen Trieb seines Herzens

und kann garnicht anders, er müßte denn seine

eigene bessere Natur verleugnen.

Ja die sittliche Forderung

des Gesetzes wird im Stande der Freiheit nicht blos ebenso

gut erfüllt, wie im Stande der Knechtschaft, sondern sogar

11 noch viel besser; denn nur dasjenige Tun gelingt uns ja überall wirklich gut, was wir nicht widerwillig, sondern mit Lust und Liebe tun, wo wir mit ganzer Seele und vollem

Herzen dabei sind. Aber freilich, um so mit ganzer Seele bei einer Auf­ gabe zu sein, dazu ist notwendig erforderlich, daß wir sie

auch mit eigener Einsicht als das Wahre und Gute erkannt

haben.

Darum ist von der Verinnerlichung des Gesetzes

im Herzen des Menschen unzertrennlich das freie Recht des

Geistes auf eigene vernünftige Prüfung und Einsicht. Luther

hat dies auf ethischem Gebiet wenigstens durchweg mit einer

Bestimmtheit und Klarheit, die nichts zu wünschen übrig läßt,

ausgesprochen.

Einige Beispiele mögen das zeigen.

Ueber das Fasten bemerkt Luther, der freie Christ werde zwar allerdings unter Umständen auch durch Fasten und Wachen wie durch Arbeiten seinen Leib in Zucht und Zügel nehmen, aber nicht um der kirchlichen Satzungen oder um eines himm­

lischen Lohnes willen, sondern weil er und soweit er in jenen Uebungen ein vernünftiges Mittel erkenne, um seinen Leib ganz in die Gewalt des Geistes zu bringen.

Ebenso wird

nach Luther eine evangelische Gemeinde allerdings zwar Festund Feiertage halten, aber nicht etwa wegen des 3. Gebots,

das mit dem ganzen alttestamentlichen Gesetz zunächst nur das jüdische Volk angeht und für uns Christen keine ver­

pflichtende Kraft hat; sondern wir halten die Feiertage, weil

wir es als vernünftig und zweckmäßig erkennen, einen ge­ meinsamen Tag der Ruhe und gottesdienstlichen Feier fest­

zusetzen und zu begehen. So wird der Christ auch unablässig

gute Werke üben, aber nicht etwa, weil die Kirche sie ge­ bietet oder weil sie einen Lohn im Himmel verdienen — in

diesem Sinn getan, wären sie gerade nicht gut und rein, sondern selbstisch, also gottwidrig, also zur Seligkeit eher

schädlich als förderlich — vielmehr wird der Christ sie tun, weil die dankbare Liebe zu Gott und zum Heiland ihn un-

12 widerstehlich treibt, mit dem empfangenen Guten dem Nächsten in Liebe zu dienen und so Anderen seinerseits auch wieder

ebenso umsonst ein Christus, ein Heilbringer und Segens­ stifter zu werden, wie Jesus Christus es ihm umsonst ge­

wesen ist.

Darum heißt es am Schluß des Sermons von

der Freiheit eines Christenmenschen: „Ein Christenmensch lebet nicht in ihm selber, sondern in Christo und seinem Nächsten: in Christo durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe;

durch den Glauben fähret er über sich in Gott, aus Gott

fähret er wieder unter sich durch die Liebe, und bleibet doch immer in Gott und göttlicher Liebe."

Wie aber die Liebe

der einzige reine Quell des wahren Gutestuns ist, so soll

sie nach Luther auch die alleinige Norm und Richtschnur desselben sein.

Nach diesem Maßstab verwirft er dann die

meisten der von der Kirche empfohlenen sogenannten „guten

Werke"

als leere und wertlose Ceremonien und läßt nur

das Tun als sittlich wertvoll gelten, mit welchem man wirk­

lich dem Nächsten zu dessen Besten irgendwie dient.

Da

nun aber der Inbegriff der regelmäßigen Dienste, welche Jeder der Gesellschaft zum gemeinen Besten zu leisten hat,

in seiner Berufsarbeit sich zusammenfaßt, so ist nach Luthereben die treue Berufserfüllung das vorzügliche gute Werk,

womit der Christ nicht zwar das ewige Leben verdient, wol

aber aus der Fülle des höheren Lebens, das er im Glauben schon besitzt. Anderen fröhlich dient und seine empfangenen Gaben dankbar zum Segensquell für die Welt werden läßt.

Nicht oft und eindringlich genug kann Luther diesen Gedanken einschärfen, daß die treue Arbeit im irdischen Beruf, und

wäre derselbe auch noch so einfach und niedrig, das beste, das

wahrhaft gottgefällige Werk, die schönste Betätigung christlicher Gesinnung sei, gegen welche alle die hochgepriesenen Werke

kirchlicher Askese und Möncherei nichts, gar nichts wert seien.

Welche ein kerngesunder Gedanke war dies und von welch'

ungeheurer sittlicher Tragweite!

Ueberwunden war damit

— 13 endlich jener mittelalterliche Zwiespalt zwischen Frömmigkeit und Sittlichkeit, jener Wahn, als ob das irdische Leben mit

seiner Arbeit und Sorge, seiner Freude und seinem Leid ein wesen- und wertloses, ein gottverlassenes, fleischlich-sündiges

Gebiet wäre und nur das beschauliche Leben für den Himmel

eigentlich Gott gefällig und des Menschen würdig sein könnte. Erkannt war jetzt, daß vielmehr dieses Erdenleben voll ist

von wesenhaften göttlichen Gütern, Aufgaben und Zwecken und daß eben in der treuen Hingabe an diese wesenhaften

Zwecke der ,,vernünftige Gottesdienst" besteht, durch welchen

der Mensch

seinen Schöpfer

ehrt und seine irdische Be­

stimmung erfüllt; erkannt war jetzt, daß dieses Erdenleben

nicht ein Reich des Bösen ist, sondern vielmehr der Schau­ platz, auf welchem Gottes Reich teils schon da ist, nemlich

in den göttlichen Ordnungen der sittlichen Gesellschaft, teils

immer noch mehr verwirklicht werden soll durch unsere Taten

und Opfer im Dienst des Guten.

Hiermit war die ganze

Weltanschauung des Mittelalters principiell überwunden und abgetan, eine neue sittliche Welt war begründet, in welcher

erstmals eigentlich voller und allgemeiner Ernst gemacht war

mit dem, was freilich im Keim schon von Anfang das Wesen des Christentums ausmachte: mit der Versöhnung Gottes und der Welt,

mit dem Kommen des Himmelreichs auf

Erden und mit der Gotteskindschaft der Menschenkinder.

Hier liegt nun auch der Punkt, wo Luther sich von der mittelalterlichen Mystik bei aller nahen Berührung, die er

sonst mit ihr hatte, wesentlich entfernt.

Die Mystik war

zwar von den Aeußerlichkeiten des kirchlich-ceremoniellen Tuns

auf die Innerlichkeit der Gesinnung, des Herzens, der Liebe Gottes als auf das Wesentliche zurückgegangen; allein sie blieb

in dieser abgezogenen Innerlichkeit ganz und gar stecken; sie fand von dem Heiligtum der Gottesliebe nicht mehr den

Weg hinaus in die Arbeitsstätte des Gottesreiches, sondern verzehrte sich im Sehnen, Schmachten und Tändeln mit Lie-

14 bes- und Andachtsgefühlen und wußte nicht, daß die Kraft Gottes in unserer Schwachheit mächtig sein will, tatkräftig

sich erweisen im Wirken für Gottes Ehre und der Welt Heil. So blieb denn die Mystik bei all ihrer Vertiefung doch im­

mer noch in dem mönchischen Wesen der unfruchtbaren müßi­ gen Beschaulichkeit befangen und hatte auf die Besserung der

Dinge und Menschen in Kirche und Gesellschaft keinen merk­ lichen Einfluß.

Luthers mannhafte Heldennatur war nun

freilich von vornherein nicht darauf angelegt, in solch' einem weichlich müßigen Gefühlsleben auf- und unterzugehen. Aber es war nicht minder auch die liefere religiös-sittliche Er­

kenntnis, welche ihn vor jener Einseitigkeit bewahrt hat; es war die Einsicht, daß der Christenglaube ein Leben in

Gott ist und sich sonach auch lebendig wirksam erweisen muß; und die Einsicht, daß der Geist Gottes nicht so schwach ist,

um sich vor der Welt zaghaft ins Kämmerlein der Andacht flüchten zu müssen, sondern vielmehr stark genug, es mit der Welt aufzunehmen, sie zu überwinden und zu durchdringen,

daß er also überall da sein Heiligtum hat, wo es gilt Gutes zu schaffen und Menschen Gottes zu bilden.

M. e. W.: Was

Luther von den Mystikern trennte, war die tiefere Erkennt­

nis der unendlichen, alles Endliche umfassenden Kraft Gottes, und der unendlichen, in allem Besondern sich bewährenden Be­

stimmung des Menschen.

War aber hierin sein Denken viel

höher und großartiger als bei jenen, so war er in anderer

Hinsicht auch wieder viel besonnener und nüchterner als sie.

Die Mystiker redeten gerne von der „Vergottung" des Men­ schen in dem Sinne, daß er ganz ins Göttliche aufgehen, alles menschlich Unvollkommene verschwinden und ein Zu­

stand reiner Heiligkeit und Seligkeit hergestellt werden sollte.

Vor dieser die Grenzen der menschlichen Natur überfliegen­ den Ueberschwänglichkeit bewahrte Luther ebensowol sein ge­

sunder Sinn für das Wirkliche wie sein tieferes Schriftver­

ständnis.

Er wußte, daß der Christ hienieden nie ganz nur

15 neuer Mensch und reiner Geistesmensch werden kann, son­ dern daß ihm immer auch noch ein Stück vom alten Adam

anhaftet mit dessen sündigen Trieben des Eigenwillens und der Selbstsucht; daß daher der Kampf wider die Sünde und

die Arbeit an der eigenen Besserung nie zu Ende geht und daß insoweit der Mensch auch immer noch unter der Zucht des Gesetzes bleibt, obgleich er als neuer Mensch von dem­ selben frei ist.

So hat Luther unbeschadet seiner Lehre von der

Freiheit eines Christenmenschen doch auch dem Gesetz seine Geltung zu wahren gewußt, nemlich als einem Zuchtmittel für diejenigen, welche noch nicht wahre Christen sind, und

für dasjenige, was auch an den Frommen noch nicht geist­

lich sondern fleischlich ist. Luther hält sich also gleichweil vom

unevangelischen

Gesetzestreiben

wie

vom

schwärmerischen

Antinomismus entfernt: für das Innere des Gewissens und .frommen Gemüts will er die Freiheit von jedem Gesetzesjoch unangetastet wissen, aber für das äußere Leben in der Welt

und bürgerlichen Gesellschaft, in welcher Fromme und Gott­ lose immer zusammen sind, soll allerdings das Gesetz als zügelnde und richtende Autorität in Geltung bleiben.

In diesen kerngesunden Principien hat Luther die Grund­ lage einer neuen Moral gelegt.

Aber er hat sich nicht auf die

principielle Grundlegung beschränkt, sondern er zeigte auch

die Anwendung des Principes auf alle Seilen des gesell­ schaftlichen Lebens seines Volkes in einer Menge von Ab­ handlungen, Predigten und Briefen, sowie in zahlreichen

Aeußerungen, die unter den „Tischreden" überliefert sind. Vor allen aber gehört hieher die classische Schrift:

den christlichen

„An

Adel deutscher Nation von des

christlichen Standes Besserung", welche in gedräng­ ten Zügen ein großartig gedachtes und klar gezeichnetes Pro­

gramm einer allgemeinen Reform des gesellschaftlichen Le­

bens der Nation entwirft.

Daß Vieles faul sei im Staate

Deutschland, halten damals freilich alle Patrioten erkannt;

— 16 aber dem faulen Baum der mittelalterlichen Gesellschaft die Axt an die Wurzel zu legen, hatte Keiner so wie Luther ver­ standen, weil auch Keiner die eigentliche Wurzel der mannig­

fach sich äußernden socialen Notstände so klar erkannte, wie Luther.

Er erkannte sie in der grundverkehrten Scheidung von

geistlichem Stand und weltlichem Stand, welcher er entgegen­

setzte den großen urchristlichen aber längst vergessenen Gedanken

des allgemeinen Priestertums aller Christgläubigen.

„Ihr

seid ein königliches Priestertum" —mit diesem Schrift­

wort hat Luther vollen Ernst gemacht und seine Consequenzen nach allen Seiten hin gezogen.

Sind Alle durch Taufe

und Glaube schon geweiht zu Priestern d. h. zu Gottange­

hörigen und Gottverbundenen, so bedürfen sie nicht mehr der Mittlerschaft

eines besonderen Priesterstandes.

Sind Alle

in Christo zu geistlichen Königen und freien Herren über die

Dinge der Welt berufen, so brauchen sie keinen Papst mehr,

als König und Herrn über sich anzuerkennen und durch keine päpstlichen Bullen und Decretalen mehr ihre Gesellschafts­

ordnung bestimmen zu lassen, sondern sie erkennen in Christo

allein ihr Haupt, welchem alle Glieder des christlichen Leibes d. h. der Gemeine gleichmäßig untertan sind.

Wol sind an

diesem einen Leibe verschiedenartige Glieder mit ihren beson­

dern Aufgaben, Aemtern und Tätigkeiten, mit welchen jedes

Glied dem Ganzen auf seine Art zu dienen berufen ist.

Aber alle diese Aemter und Dienste des christlichen Gesell­

schaftsorganismus,

sei es Kirche oder Staat oder Familie,

beruhen doch gleichermaßen auf göttlicher Ordnung, haben allesamt gleich unmittelbar göttliches Recht für sich anzu­ sprechen; keines darf sich also eigenmächtig über die andern er­

heben, keines gewalttätig und störend in der anderen Be­ rufssphäre eingreifen. Hiermit hat Luther den Grund gelegt zu einer protestantisch-autonomen, von kirchlicher Bevor­ mundung und hierarchischen Anmaßungen unabhängigen Ge­

sellschaft.

17 Insbesondere war hiermit endlich einmal der bürger­

lichen Obrigkeit ihr gutes göttliches Recht zurückerobert, um welches die mittelalterlich-hierarchische Kirche sie so lange betrogen hatte, um welches Kaiser und Könige den jahrhun­

dertelangen schweren Kampf gekämpft hatten, ohne doch etwas

erreichen zu können, solange eben der Nimbus des geistlichen Standes noch ungebrochen im Bewußtsein der christlichen Völker bestand.

Jetzt erst, feit Luther gelehrt hat, auch in der

Obrigkeit einen „geistlichen Stand" und ein „Mitglied des christlichen Körpers" zu erkennen, dessen Werk, obgleich ganz anderer Art als das der Diener des Evangeliums, darum

doch nicht minder auf göttlicher Ordnung beruhe und gött­

liche Würde und Hoheitsrechte besitze: jetzt erst war jener Bann der Clerokratie gebrochen, der wie ein Alp auf dem mittelalterlichen Staat gelastet hatte; jetzt erst konnte die

bürgerliche Obrigkeit sich zum vollen Bewußtsein ihres er­

habenen Berufes erheben, konnte daran denken, selbständig und unbekümmert um canonisches Recht oder römische Ein­ sprache das Gemeinwesen zu ordnen nach Gesetzen, die aus

der Vernunft, aus der gesunden Beurteilung des natürlich Zweckmäßigen und Heilsamen entsprangen. M. e. W.: Jetzt

erst

konnte der moderne Staat mit seiner souveränen

Selbständigkeit nach außen und Machtfülle nach innen zur freien und gesunden Entwicklung kommen.

Diesen Segen

der Reformation hatten und haben alle modernen Staaten, auch die katholischen nicht ausgenommen, zu genießen, aber

gewiß keiner so sehr, wie der preußische Staat, der ja recht

eigentlich aus der Reformation herausgeboren ist; wollte dieser Staat nicht bestehen in der Freiheit, zu welcher Christus durch

Luther uns berufen hat, sondern sich wieder in das knechtische Joch Roms fangen lassen, so müßte er fürwahr sein eigen

Wesen und seinen Ursprung verleugnen und das ist ein Ding

der Unmöglichkeit! Aber wie Luther das gute Recht der Obrigkeit gegenüber 2

18 ihrer katholisch-kirchlichen

Vergewaltigung wieder zu Ehren

gebracht hat, so hat er andererseits auch die Grenzen ihres

Rechts festgesetzt.

„Das weltliche Regiment, sagt er, hat

Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken denn über Leib und Gut und was äußerlich ist auf Erden.

Denn über die Seele

kann und will Gott Niemand lassen regieren denn sich selbst allein.

Darum wo weltliche Gewalt sich vermißt, der Seele

Gesetze zu geben, da greift sie Gott in sein Regiment und

verdirbt und verführt nur die Seele."

Sein Beweis dieses

Satzes ist ebenso einfach wie einleuchtend: Jede Gewalt soll

und mag nur da handeln, wo sie richten und urteilen, wan­ deln und ändern kann; aber der Seele Gedanken und Sinne können Niemand denn Gott offenbar sein; darum ist's um­ sonst und unmöglich, Jemand zu gebieten und zu zwingen

mit Gewalt, so oder so zu glauben.

So wenig mir ein

Mensch den Himmel aufschließen kann, so wenig kann er mich zum Glauben treiben.

„Denn es ist ein frei Werk um den

Glauben, dazu man Niemand kann zwingen; ja es ist ein

göttlich Werk im Geist, geschweige denn daß es äußerlich Gewalt sollt' erzwingen und schaffen. . Denn Ketzerei kann

man nimmermehr mit Gewalt wehren, dazu gehört ein an­ derer Griff; Gottes Wort soll hier streiten; wenn's das nicht ausrichtet, so wird's licher Gewalt,

wol unausgerichtet bleiben von welt­

ob sie gleich die Welt mit Blut füllete."

Wir sehen, das Princip der staatlichen Duldung in Dingen der Religion und des Gewissens hat schon Luther mit voller

Klarheit und Bestimmtheit ausgesprochen; aber allerdings ist es bei ihm gewissermaßen noch erst ein Ideal und Zukunfts­

programm, welchem er in den einzelnen Lagen der Praxis

nicht durchaus treu blieb.

Er war von der mittelalterlichen

Vorstellung, daß in einem Lande Glaubenseinheit herrschen und daß die Obrigkeit dem richtigen Glauben ihren Schutz

gegen Ketzerei und Unglauben gewähren müsse, doch noch zu

sehr durchdrungen, als daß er mit jenem Princip der Dul-

19 düng überall und also auch da hätte vollen Ernst machen

können, wo die Obrigkeit der protestantischen Lehre anhing.

Allein wenn er es auch für ein Recht und sogar für eine

Pflicht evangelischer Fürsten und Magistrale hielt, auf ihrem Gebiet die Reformation mit bürgerlichem Zwang durchzu­

führen und Anhänger des alten oder gar eines ketzerischen Glaubens (z. B. Wiedertäufer oder Antitrinitarier) nicht zu

dulden, so hat er doch nur die Ausweisung der Andersgläu­ bigen aus dem Landesgebiet, nicht die criminelle Verfolgung derselben

gefordert.

War das auch

allerdings schon ein

Widerspruch mit dem reinen Princip der Toleranz, so lag demselben doch nur das Interesse an der Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens und der Einigkeit in der Bürger­

schaft zu Grunde, nicht aber die Meinung, daß Ketzerei an und für sich schon ein strafbares Verbrechen sei.

Von diesem

unevangelischen Wahn, wie er der katholischen und — leider —

auch der calvinischen Theokratie eigen war, ist Luther's große Seele stets frei geblieben, und es ist gewiß nicht das ge­

ringste Blatt in seinem Ehrenkranz, daß an seinen reinen

Händen kein Tropfen Blut haftet, daß er Niemanden zum Märtyrer gemacht hat. Eher, als Versolgungssucht, könnte man ihm vielleicht

vorwerfen, daß er das passive Erdulden von Verfolgung zu

einseitig gefordert und das Recht der Notwehr gegen Glaubensunterdrückung lange Zeit gar nicht und auch in äußer­

ster Not nur zögernd den protestantischen Ständen zugestanden Es ist ja nicht zu leugnen, daß dieser Mangel an

hat.

realpolitischem Sinn und Weltklugheit für die äußere Be­ festigung des Protestantismus sehr

ungünstig war.

Aber

verdient er nicht gleichwol unsere höchste Achtung und Sym­

pathie, jener hohe patriotische Idealismus, welchem die Ma­ jestät der Kaiserkrone selbst auf dem Haupte des spanischen

Karl als so heilig galt, daß ihm jede Auflehnung wider dieselbe, und wäre es auch um des Evangelii willen, zuwider war? 2*

20 Die Einheit der Nation, die er im Kaiser verkörpert sah, um jeden Preis — ausgenommen allein die Glaubensver-

leugnung — zu erhallen: das war der leitende Gesichts­ punkt in Luther's politischem Verhalten. War es etwa seine Schuld, daß dieser echtdeutschen Treue mit welscher Tücke

gelohnt wurde, weil damals zu unserem Unheil auf dem deut­

schen Kaisertron der Fremdling saß, der für den stärksten

Herzschlag der deutschen

Nation kein

Verständnis hatte?

Luther ist's fürwahr nicht gewesen, der unsere Nation zer­

rissen und für Jahrhunderte machtlos gemacht hat: das waren die schwarzen Scharen von jenseits der Berge, welche der

edlen Frau Germania die Lösen liefen Wunden geschlagen

haben, an denen sie Jahrhunderte lang blutete, von denen sie erst in unseren Tagen genesen ist.

Luthers politisches

Ideal war das freie nationale Kaisertum, unabhängig von Roms geistlicher und weltlicher Tyrannei,

stark durch die

Eintracht der Fürsten und Stände, ein Schutz und Schirm der Ehre und Freiheit der deutschen Nation nach außen gegen die Welschen und ihrer inneren friedlichen Ordnung

und Selbstregierung

nach

vernünftigen Gesetzen — kurz,

sein Ideal war das, was endlich nach langen Jahrhunderten schweren Leidens und Ringens unsere Zeit hat zur Wirk­

lichkeit werden sehen.

So ist denn Luther in der Tat auch

der Prophet und Wegbahner des protestantisch-deutschen Kaisertums gewesen, welches, der deutschen Eiche ähnlich,

seine unerschütterlichen Wurzeln in den tiefen Grund der deutschen Natur gesenkt hat.

Auch noch ein anderes Gut, das den Deutschen nicht weniger als

das Vaterland ans Herz gewachsen

ist, hat

Luther seinem Volke zurückerobert: die Würde und Schönheit des Familienlebens. Ich sage, er hat sie zurückerobert;

denn die mittelalterliche Kirche hatte auch dieses natürlich­

sittliche Gut erniedrigt und entwertet.

Auch hier hatte sie,

wie überall, das Natürliche zu einem Sündigen gemacht und

21 dann durch die Kraft des Sacraments ihm den Stempel der übernatürlichen Weihe aufgedrückt, die aber zu der voraus­

gesetzten Sündhaftigkeit der Naturgrundlage der Ehe übel

genug paßte; daher blieb auch trotz

seines

sacramentalen

Charakters dennoch der eheliche Stand-immer mit

einem

Makel in den Augen der Kirche behaftet; er galt wol als

erlaubt, aber nicht eigentlich als positiv gottgefällig; dies ist nach katholischer Lehre eben doch nur der ehe lose Stand der Geistlichen und Mönche.

Von dieser Unnatur, deren

erträumte himmlische Höhe so hart neben höllischen Tiefen

liegt, hat Luther uns zur gesunden Natur zurückgeführt. dem

In

natürlichen Zug der Herzen, der Mann und Weib

zusammenführt, hat

er den heiligen Gotteswillen erkannt,

der in der Schöpfung schon die ewige Ordnung festgesetzt hat, nach welcher es dem Menschen nicht gut ist, allein zu sein.

Ebendarum ist ihm aber auch schon die Grundlage

der Ehe, die bräutliche Liebe, nicht ein bloser Naturtrieb von

sinnlicher unreiner Art, sondern eine heilige Flamme, welche die Rinde der Selbstsucht sprengt, welche in der vollen Hin­

gabe des Einen ans Andere und in der Treue bis zum Tod, im wechselseitigen Sichtragen und Sichfördern und im ge­ meinsamen Tragen des Kreuzes ihren göttlichen Ursprung verrät.

Und wie die Ehe auf Gottes Ordnung beruht, so

ist sie nach Luther ein köstliches Mittel für Gottes höchste

Zwecke, eine heilsame Schule

Geduld und Demut,

der Erziehung in Glauben,

ein Uebungsfeld des Gehorsams

im

Erfüllen der täglichen Pflichten, „deren Werk zwar gering erscheint und ohne Ansehen ist, aber doch Gott zu Ehren

geschieht und darum für einen großen und rechten Gottes­ dienst zu halten ist".

Wenn Luther nun dieses gottselige

Leben im Ehestand mit seiner Fülle von Gaben und Auf­

gaben, Kräften und Tugenden vergleicht mit dem leeren Schein und Formenwesen des Klosterlebens, so ergibt sich

ihm der sehr richtige Schluß: „daß der Ehestand hundertmal

22 billiger sollte geistlich genannt werden, denn der klösterliche Stand." — So hat Luther die ebenso gesunde wie ideal-sittliche

Auffassung der Ehe begründet, welche

ebensoweit entfernt

ist von naturalistischer Roheit, wie von sentimentaler Tän­

delei und romantischem Raffinement.

Er hat das deutsche

Haus zu dem Heiligtum geweiht, in dessen edler Sitte sich

die Würde der Pflicht mit der Anmut der Liebe, der Ernst der Arbeit mit

dem

heiteren Genießen zum Bilde voller

schöner Menschlichkeit verbindet. — Und wie viel Jammer und Elend hat Luther aus der Welt geschafft durch die Auf­ hebung der bindenden Klostergelübde, durch die Abschaffung

des erzwungenen Cölibats der Geistlichen! Welch" eine reiche Quelle des Segens für Kirche und Gemeinde, Staat und

Gesellschaft hat er gestiftet im protestantischen Pfarrhaus!

Und wie hat er dessen Borbild in

seinem eigenen Haus­

wesen so rein und schön dargestellt, daß alles Schmähen und

Lästern böswilliger Gegner nicht das geringste an dem Zauber zu mindern vermag, welchen immer wieder der Blick auf das Lutherhaus auf uns alle ausübt!

Das Einzelne seines häuslichen Lebens darf ich hier als

bekannt voraussetzen.

Doch möchte ich Ihre Aufmerksamkeit

noch einen Augenblick auf einen Punkt zu lenken mir erlauben.

Betrachten wir die heitere Geselligkeit, wie sie an Luther's Ta­ felrunde herrschte, wo nach altdeutscher Art dem Becher herzhaft zugesprochen, aber auch das Gelage durch die edle Musika und

durch sinnreiche, geistsprühende Gespräche gewürzt wurde: wie woltuend berührt uns auch in diesem kleinen Zuge wieder die

schöne Verbindung von Natur und Geist, im Gegensatz zu

der mittelalterlichen Scheidung und damit Verzerrung beider, wobei auf der einen Seite das Natürliche zum wüsten tierisch rohen Sinnentaumel

erniedrigt wurde, und demgegenüber

auf der andern Seite der Geist sich in engelhafter Natur­ verachtung, in mönchischer Askese und Leibeskasteiung spreizte; das übermenschliche Verdienst dieser forcirten Heiligkeit soll

23 dann die Blöse jener unter menschlichen Gemeinheit decken

und die Sünden des Sinnenrausches gutmachen. Was aber

bei diesem wunderlichen Rechenexempel überall in die Brüche

geht, ist eben der wahre Mensch selbst in seiner Einheit von

Natur und Geist.

Au die Stelle dieser doppelten Unnatur*

hat nun Luther die eine gesunde und wahre Menschlichkeit

gesetzt, die auch dem sinnlichen Bedürfen und Genießen ihr

Recht läßt,

aber so,

daß sie zugleich das Sinnliche zur

Grundlage, zum Belebungs- und

Darstellungsmittel des

Geistigen macht, und die den Geist nicht feindlich gegenüber­ stellt der Natur, sondern ihn in sie eingehen, sie durchdringen,

veredlen und

vergeistigen

läßt.

Sollten wir hierin nicht

vielleicht einen Zug griechischen Geistes finden dürfen? Ja und doch auch wieder nein!

Die schöne Menschlichkeit der

griechischen Welt hatte den Zwiespalt, den Kampf von Natur

und Geist noch nicht überwunden, weil sie ihn noch gar nicht

ernsthaft kannte, weil sie ihn noch erst vor sich hatte, sowie die Unschuld des Kindes den Kämpfen des Lebens noch erst

entgegengeht.

In Luther hingegen ist der heiße Kampf, der

die mittelalterliche Welt erfüllt hatte, durchgekämpft, der Geist

ist seiner freien Herrschaft über die Natur gewiß geworden und reicht nun der überwundenen die Hand der Versöhnung

zum

schönen

Bunde

harmonischer Menschlichkeit.

Soviel

also die selbstbewußte, in sich gefestete Sittlichkeit des Mannes

höher steht als die naive Unschuld des Kindes, soviel steht

der protestantische Geist, der in Luther sich aus dem Zwie­ spalt des Mittelalters zur Einheit emporgerungen hat, an Tiefe und Reichtum, an Reinheit und Kraft höher als der alte griechische Geist. Aber freilich, wo ein Kampf stattgefunden, da geht es

auch ohne Wunden nicht ab, und die Wundenmale vernarben auch beim siegreichen Kämpfer nicht so leicht. Die Wunden­

male seines Riesenkampfes hat auch Luther immer an sich getragen.

Zu

fest war die mittelalterliche Glaubenswelt

24 von seinen Jugenderinnerungen her mit seiner eigenen Seele

verwachsen, als daß er den Bruch mit ihr nicht auch als

schmerzlichen Schnitt im eigenen Inneren hatte empfinden

müssen.

Daher jene tieftragische Wehmut, die so oft auf

seine Seele drückte, jene Zweifel und Anfechtungen, die auch in späteren Jahren noch manchmal mit solcher Macht auf

ihn einstürmten, daß er nur mit Aufbietung seiner ganzen

Heldenkraft sich ihrer zu erwehren vermochte.

Es war ganz

natürlich, daß diese düsteren Stimmungen sich ihm in die herkömmliche Vorstellung dämonischer Wesen und Wirkungen

kleideten, an deren Ausmalung die mittelalterliche Phantasie

so geschäftig gearbeitet hatte.

Es hieße ein sehr ungenaues

Bild von Luthers Weltanschauung zeichnen, wollte man ver­ schweigen, daß die Schreckgestalt des mittelalterlichen Welt­ herrschers, des Teufels, auch noch in seine religiöse Welt

ihre

mächtigen Schlagschatten geworfen

hat.

Mag

auch

der Wurf des Tintenfasses auf der Wartburg mythisch sein, sicher ist jedenfalls, daß Luther allenthalben in Natur- und

Menschenwelt die Nähe der bösen Geister witterte, daß er

sowol natürliche Uebel, wie Feuer- und Wassersnot, Stürme, Pestilenz und Miswachs auf ihr Anstiften zurückführte, als auch menschliche Sünde und Irrtum, insbesondere die den

Glauben hielt.

anfechtenden Zweifel

für

Eingebungen

Satans

Nun läßt sich ja gewiß hierin ein Nachdunkeln des

mittelalterlichen Untergrundes in Luther's Weltbild nicht ver­

kennen; aber nur um so bemerkenswerter ist's, wie in seinem practischen

Verhalten zu jenen Spukgestalten sich doch

auch wieder der heitere und tatenfreudige Charakter seiner Frömmigkeit

verrät.

Denn

während

die

mittelalterliche

Frömmigkeit sich in bebender Scheu duckte vor den finsteren

Höllenmächten und sie durch Amulete, Kreuze, Weihwasser und andere derartige Zaubermittel abzuwehren sich bemühte,

konnte

dagegen Luther „unter des Glaubens und Vater­

unsers Schatten sitzen und des Teufels und seiner Schuppen

25 Mit der Waffenrüstuug deS Geistes

lachen", wie er sagt.

trotzt Luther dem bösen Feind, ja er spielt mit ihm in dem

behaglichen Humor des

überlegenen Kraftgefühls.

Wenn

der Teufel ihm's manchmal zu arg trieb mit dem Einflüstern

von Zweifelsgedanken,

namentlich in einsamer Stille der

Nacht, da konnte es geschehen, daß Luther ihm mit jener bekannten volkstümlich-derben Energie eines Götz von Ber-

lichingen den Marsch machte.

Besonders aber diente ihm

die Musik als wirksames Mittel, um den finstern sauren

Geist zu verscheuchen, der nach Luther's Ansicht nichts mehr

haßt als edle menschliche Freude. — So diente also auch der Schatten, welchen die alte Teufelsfurcht noch in Luther's

Weltbild warf, im Grunde doch nur als dunkle Folie, von welcher sich um so Heller leuchtend das Bild einer in Gott freien und frohen Persönlichkeit, eines echt protestantischen

Charakters abhebt.

Unter dem Schattendach des Glaubens sitzend, hat unser Reformator auch zur Natur ein ganz anderes Verhältnis gewonnen, als wie es im Mittelalter üblich gewesen.

Zwar

seine Natur lehre war noch gar nicht aufgeklärt, sondern

steckte

noch ganz in scholastischen oder

Vorstellungen.

Aber

sein Naturgefühl

populär-kindlichen

war

von einer

Feinheit, Innigkeit und Sinnigkeit, wie sie nur den echten

Dichternaturen eigen zu sein pflegt.

Während die mönchische

Weltansicht die Natur als das unheimliche Gebiet der dä­ monischen Mächte scheute, hat Luther in ihr überall die

Wunderwerke Gottes geschaut, ja Gottes Gegenwart selbst in ihr empfunden:

„Gott ist, sagt er, in der geringsten

Creatur, in einem Baumblatt oder Gräslein"; in allem

Leben der Natur sieht er die „Larve oder Mummerei Gottes"

d. h.

seine Erscheinungsform,

Allgegenwart.

Und

Luther's

die Hülle seiner wirksamen liebendem

Auge

bleibt

die

Natur nicht verschlossen noch stumm, ihm erschließt sich der liefere Sinn, die Bedeutung ihrer Zeichensprache, im Kleinsten

26 und Gewöhnlichsten sieht er das Sinnbild und Gleichnis des

Menschenlebens und der ewigen Wahrheiten, die es bewegen und leiten.

In dieser sinnigen Betrachtung und sympathischen

Beseelung der Natur steht Niemand Luther näher als Goethe.

Daß der Naturfreund auch Freund der Kunst war,

versteht sich

von selbst.

Musik und Poesie, diese beiden

geistigsten Künste, die am unmittelbarsten zur Seele sprechen, waren Luther'n ans Herz gewachsen. Die Musik ist ihm nicht

ein angenehmer Zeitvertreib blos, sie gilt ihm als die kostbarste Gottesgabe nächst der Theologie.

Er hat es aber auch wie

Keiner vorher verstanden, die Musik in den Dienst des Höch­ sten, der religiösen Ideen zu stellen.

sein, wenn gesagt wurde:

Darum wird es wahr

„Daß es einen Bach oder einen

Händel gegeben hat, verdankt die Welt oder das deutsche

Volk, dem sie allein wirklich gehören, nur seinem Luther" (H. Rückert).

Und welche unschätzbare Gabe hat der Dichter

Luther seinem Volke geschenkt in dem deutschen Kirchenlied, dessen Stifter er gewesen ist; denn was vor ihm derartiges epftirte,

ist nicht der Rede wert. Die ungeheure Wirkung von Luther's

Liedern auf die Zeitgenossen mußten selbst die Gegner aner­ kennen.

Ein Jesuit klagte: „Luther's Lieder haben mehr Seelen

getötet als alle Bücher und Predigten."

Und vergessen wir es

nicht, daß eben dieses von Luther ausgegangene und in seiner Kirche weiter gepflegte deutsche Kirchenlied für beinahe zwei

Jahrhunderte die lebendige Seele und daö eigentliche Mark der deutschen Poesie überhaupt gewesen ist, die sonst in Roh­

heit oder Künstelei und Nachäffung des Fremden verfiel, während allein im Kirchenlied damals das echte deutsche Herz

warm

und kräftig schlug. — Den andern Künsten stand

Luther zwar persönlich ferner, doch hat er auch sie zu schätzen gewußt.

Sogar dem Schauspiel, auf so elementarer Stufe

es damals noch stand, wollte er sein Recht gewahrt wissen,

weil es ein nützlicher Spiegel sei, Welt und Menschen daraus kennen zu lernen.

27 Die S chule endlich, die Bildungsstätte der Jugend und

Pflegestätte der Wissenschaft, welche

tiefgehenden Impulse

nach jeder Hinsicht hat sie Luther'n zu verdanken!

Vor ihm

gab es wol schon Lateinschulen, wo viel geprügelt und wenig gelernt wurde. Aber die eigentliche Volksschule für alle Alters­ stufen und für beide Geschlechter hat erst Luther itt’6 Leben

gerufen.

Schon in der Schrift an den christlichen Adel und

später in einer besonderen Schrift an die Ratsherren aller

Städte deutschen Landes forderte er dazu auf, überall christ­

liche ^Schulen aufzurichten und zu halten, wo jedes Kind, Knaben

und Mädchen, das Evangelium hören und lesen

lernen solle.

Er hat auch die allgemeine Schulpflicht bereits

als das natürliche Seilenstück der allgemeinen Wehrpflicht erkannt: „Kann die Obrigkeit, sagt er, die Untertanen zwin­

gen, daß sie müssen Spieß und Büchse tragen zum Krieg­ führen, wie viel mehr kann und soll sie die Eltern zwingen,

daß sie ihre Kinder zur Schule halten, weil hier ein ärgerer Krieg vorhanden ist mit dem Teufel, der damit umgeht, das Land von tüchtigen Personen arm zu machen."

In einem

Briefe an seinen Kurfürsten bezeichnet er das junge Volk als das schönste Paradies und den edelsten Schatz, welchen

Gott einem Fürsten anbefehle, daß er dessen Gärtner und

Pfleger sein solle. — Doch nicht blos der Volksschule, sondern auch der Hochschule hat Luther seine Aufmerksamkeit zugewandt und hat Reformvorschläge gemacht, die von tiefer Einsicht zeugen und seine Zeit weit überragten, später auch teilweise

durchgeführt wurden, z. B. wenn er fordert, daß die jungen Leute ordentlich vorbereitet auf die Universität kommen und nur die „Wolgeschickten", die wirklich Tüchtigen zum Studium zugelassen werden sollten. — Wie hoch Luther auch die weltlichen

Wissenschaften schätzte, wie treffend er über Wert und Aufgabe

z. B. der humanistischen Studien, auch der Historie urteilte, will ich übergehen, um nur noch einen Blick auf seine Bedeu­

tung für die protestantische Wissenschaft überhaupt zu werfen.

28 Die Behauptung,

daß auch die Wissenschaft des

deutschen Protestantismus in Luther ihren Vater anzuer­ kennen habe, könnte übertrieben erscheinen,

insofern als

Luther selber sich ja nicht eingehender mit den andern Wissen­

schaften außer Theologie

beschäftigt hat.

Und doch wird

man jener Behauptung nicht alles Recht absprechen, wenn man bedenkt, daß in der Tat die

deutsche

Wissenschaft

Luthern nichts geringeres zu verdanken hat als Leib und Seele.

Denn der Leib der Wissenschaft ist die Sprache

und ihre Seele ist der gewissenhafte Wahrheitssinn und freie

Forschungstrieb. nur von ihm.

Dieses Beides aber hat sie von Luther, Er hat dem deutschen Volk die einheitliche

Sprache geschaffen, die für Jahrhunderte hinaus das ein­ zige Einheitsband der politisch zerrissenen Stämme gewesen

ist.

Und welch' eine Sprache!

Welch' eine Fülle der For­

men, welch' eine Geschmeidigkeit des

Baues, welch'

eine

Kraft des Ausdrucks gewann sie unter seiner Meisterhand! Lessing'sche Klarheit, Schiller'sche Kraft und Goethe'scher Wol-

laut verbinden sich in Luther's Sprachweise. Darum ist und

bleibt sie das Urbild für Alle, die deutsch sprechen und schrei­

ben, ein Urbild, das anregt und leitet, ohne doch zu fesseln und zu hemmen; denn dazu ist Luther's Sprache viel zu

eigentümlich und originell, als daß sie zur sclavischen Nach­

ahmung verleiten könnte. Aber die „freiheitatmende Natur" von Luther's Sprache,

wie Jakob Grimm sie treffend bezeichnet, steht im engsten Zusammenhang mit der freiheitatmenden Natur seines Den­

kens, mit jenem Geiste des freien Prüfens und Forschens, welcher von Luther aus das Erbe des Protestantismus und

die lebendige Seele der modernen Wissenschaft geworden ist. Als Luther in den Erklärungen zur Leipziger Disputation

das gewaltige Wort gesprochen hat: „Ich glaube ein christ­ licher Theologe zu sein und im Reiche der Wahrheit zu leben:

deswegen will ich frei sein und mich keiner Autorität, sei es

29 eines Concils oder des Kaisers oder der Universitäten oder des Papstes, gefangen geben, um vertrauensvoll zu bekennen

alles, was ich als Wahrheit erkenne!" — da war der Bann der Autorität, der auf dem Denken des Mittel­ alters gelastet hatte, gebrochen, da schlug die Geburtsstunde

der neuen Zeit und der freien Wissenschaft, deren Princip ja eben dieses eigene Prüfen und selbständige Denken ist,

das von keiner Ueberlieferung, keiner Autorität, keinem Vor­ urteil sich binden und gefangen nehmen läßt, sondern sich

nur der klar erkannten Wahrheit hingibt und nur bei der selbstgewonnenen Ueberzeugung sich beruhigt.

Und nun, da

der so lange angestaute Strom freien Denkens einmal ent-

fesielt war, nun ergoß er sich auch mit der unwiderstehlichen

Wucht des reißenden Gebirgsstroms, grub sein Bett immer

tiefer, machte seine Ufer immer weiter und nahm alle die verwandten Strömungen der Zeit als seine Zuflüsse in sich auf: so ward

er zu dem mächtigen und prächtigen Strom

moderner Wissenschaft.

Wol versuchten es bald wieder die

kleineren und ängstlichen Geister, den natürlichen Lauf dieses

Stroms aufzuhalten, einzudämmen, abzulenken, indem sie die

neuen Schutzwehren, Dämme und Deiche kirchlicher Satzun­ gen aufrichteten, wobei sie sich sogar auf den Buchstaben ein­

zelner Sätze Luther's selber beriefen. Aber auch hier wieder bewährte es sich, daß der Geist stärker ist als der Buchstabe.

Denn Luther's Geist war es ja, der in Lessing sich sieg­ reich erhob, um uns von dem unerträglichen Joche des Buch­ In Luthers Geist und in den Fuß­ stapfen seiner Kritik des Dogmas ging ein Kant an die

stabens zu befreien.

Kritik der Vernunft, suchte mit der Fackel der Selbsterkennt­ nis hinabzuleuchten in die dunklen Tiefen unserer Brust, und

fand im Gesetz des Gewissens den ruhenden Pol in der Er­

scheinungen Flucht.

Hinwiederum wenn ein Schiller die

herbe Würde des Kant'schen Gesetzes zu mildern suchte durch

die heilere Anmut der „schönen Seele", in welcher der Zwie-

30 spalt von Natur und Geist zur freien edlen Menschlichkeit

versöhnt ist: was ist dies anders als Luther's Kerngedanke von der Freiheit eines Christenmenschen, der ohne Gesetzes­

zwang das Gute von selbst tut, getrieben vom eigenen Drang

heiliger Liebe?

Oder wenn ein Schleiermacher uns von

allen äußeren Formen der Religion in Cultus oder Dogma

zurückgeführt hat zu ihrem geheimnisvollen Quell in der Tiefe der Herzen, wo die Seele vom unendlichen Geist sich

berührt und in der Abhängigkeit von ihm über der Sinne Schranken sich emporgehoben fühlt: was ist dies anders als Luther's Cardinallehre vom alleinseligmachenden

Glauben,

der ja eben jenes Leben der Seele in Gott ist? Ja wol, meine Freunde,

es ist nicht anders: unsere

größten Geister, die Dolmetscher unseres protestantisch-deut­

schen Denkens und Fühlens — sie stehen alle, alle.auf Luther's

Schultern, sie zehren alle von seinem Erbe, sie sind alle be­

herrscht von seinem gewaltigen Geiste, und sie sind es nur um so völliger, je weniger sie von seinem Buchstaben ge­

Daß also Luther der Begründer der protestan­

fesselt sind.

tischen Gesittung ist, in welcher wir Alle leben und weben,

in welcher wir immer weiter fortschreiten sollen und wollen und zu welcher wir auch unsere katholischen Brüder wie schon

bisher, so noch künftig immermehr nachzuziehen hoffen: das ist's, was ich nachzuweisen versuchte und was ich schließlich nur

noch

bestätigen

möchte durch das gewichtige Zeugnis

eines ebenso competenten wie unbefangenen Beurteilers; es

ist kein Geringerer als Goethe, der das schöne Wort ge­ sprochen hat:

„Wir wissen gar nicht, was wir Luthern und der Re­ formation alles zu danken haben.

Wir sind frei geworden

von den Fesseln geistiger Bornirtheit, wir sind infolge un­

serer fortwachsenden Cultur fähig geworden, zur Quelle zu­

rückzukehren und das Christentum fassen.

in seiner Reinheit zu

Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf

31 Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen. Mag die geistige Cultur nun im­

mer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen und der mensch­ liche Geist sich erweitern, wie er will, über die Hoheit und

sittliche Cultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht herauskommen!

Je

tüchtiger aber wir Protestanten in edler Entwicklung voran­ schreiten, desto schneller werden die Katholiken folgen.

So­

bald sie sich von der immer Weiler um sich greifenden großen

Aufklärung der Zeit ergriffen fühlen, müssen sie nach, sie

mögen sich stellen, wie sie wollen, und es wird dahin kom­ men, daß endlich Alles nur eines ist. Auch das leidige pro­ testantische Sectenwesen wird aufhören und mit ihm Haß und feindliches Ansehn zwischen Vater und Sohn, zwischen

Bruder und Schwester.

Denn sobald man die reine Lehre

und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen haben und in sich eingelebt, so wird man sich als Mensch groß und frei fühlen und

auf

ein bischen So und So im äußerlichen

Cultus nicht mehr sonderlichen Wert legen.

Auch werden wir

Alle nach und nach aus einem Christentum des Wortes im­

mer mehr zu einem Christentum der Gesinnung und der Tat kommen." Auf dem Wege zu diesem Ziele möge uns leuchtendes und

stärkendes Vorbild sein die Heldengestalt Lnther's, wie sie

in diesen festlichen Tagen in Millionen dankbarer Herzen mit neuem unvergänglichem Glanze sich erhebt! Gott!

Das gebe

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