Eine provozierende These: Die deutsche Literatur hat vor dem Grauen des Luftkriegs versagt. Mit analytischer Schärfe und
176 58
German Pages [172] Year 1999
Table of contents :
Umschlag
Klappentext
Titel
Impressum
Vorbemerkung
Luftkrieg und Literatur
I
II
III
Der Schriftsteller Alfred Andersch
Anmerkungen
Luftkrieg und Literatur
Der Schriftsteller Alfred Andersch
Inhalt
W.G.SEBALD Luftkrieg und Liter at u Hans er
r
»Trotz der angestrengten Bemühung um die sogenannte Bewältigung der Vergan
genheit scheint es mir, als seien wir Deut sche heute ein auffallend geschichtsblin des und traditionsloses Volk.«
Als W.G. Sebald im I [erbst 1997 seine The
sen zu Luftkrieg und Literatur an der Zü richer Universität zum ersten Mal vortrug, war das Echo unerhört. Sebald sprach über »die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen
hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis«, und es scheint, daß
er die Nachkriegsliteratur damit in einer
Wunde getroffen hat, die auch ein halbes Jahrhundert später nicht verheilt ist.
Und seine mit analytischer Schärfe und großem Materialreichtum vorgetragene These lautet, daß die deutsche Literatur
vor diesem Grauen, aus dem die heutige Bundesrepublik entstand, versagt hat.
Wichtiger als die Schilderung der realen Verhältnisse sei den Autoren allemal die
Wiederherstellung ihres eigenen Selbst
verständnisses gewesen.
WG. Sebalds provozierender Angriff auf dieses Selbstverständnis erscheint hier zum ersten Mal, ergänzt durch einen Essay mit
dem der Autor auf die erregten Diskussio nen antwortet.
W.G. Sebald
Luftkrieg und Literatur Mit einem Essay
zu Alfred Andersch
Carl Hanser Verlag
1 2 3 4 5
03 02 01 00 99
ISBN 3-446-19661-7
© 1999 Carl Hanser Verlag München Wien Satz: Libro, Kriftel
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany
Vorbemerkung Die in diesem Band vorgelegten Züricher Vorlesungen über das Thema Luftkrieg und Literatur erscheinen nicht
ganz in der Form, in der sie im Spätherbst 1997 gehalten wurden. Die erste der Vorlesungen war ausgegangen von
Carl Seeligs Schilderung eines Ausflugs, den er im Hoch
sommer 1943 mit dem Anstaltspatienten Robert Walser gemacht hatte genau an dem Tag, auf den dann die Nacht folgte, in der die Stadt Hamburg im Feuer zugrunde ging.
Seeligs Reminiszenzen, die keinen Bezug nehmen auf die ses zufällige Zusammentreffen, verdeutlichten mir, unter welcher Perspektive ich selbst auf die grauenvollen Ereig
nisse jener Jahre zurückblicke. Im Mai 1944 in einem Dorf in den Allgäuer Alpen geboren, gehöre ich zu denen, die so
gut wie unberührt geblieben sind von der damals im Deut schen Reich sich vollziehenden Katastrophe. Daß diese
Katastrophe dennoch Spuren in meinem Gedächtnis hin
terlassen hat, das versuchte ich dann anhand längerer Passagen aus meinen eigenen literarischen Arbeiten zu zei
5
gen, was in Zürich insofern gerechtfertigt war, als es sich
dort eigentlich um Poetikvorlesungen hätte handeln sol len. In der hier präsentierten Version freilich wären exten sive Selbstzitate fehl am Platz gewesen. Ich habe darum
nur einiges aus der ersten Vorlesung für eine Nachschrift
übernommen, in der es ansonsten um die von den Zü richer Vorlesungen ausgelösten Reaktionen und um die
Einsendungen geht, die mich in der Folge erreichten. Vie les davon hatte einen etwas bizarren Charakter. Gerade aber an der Unzulänglichkeit und Verkrampftheit der mir
ins Haus geschickten, unterschiedlichen Schriftstücke und Briefe konnte man ablesen, daß die in den letzten Kriegsjahren von Millionen gemachte Erfahrung einer
nationalen Erniedrigung sondergleichen nie wirklich in Worte gefaßt und von den unmittelbar Betroffenen weder
untereinander geteilt noch an die später Geborenen wei
tergegeben worden ist. Die immer wieder geführte Klage darüber, daß das große deutsche Kriegs- und Nachkriegs epos bis heute ausgeblieben ist, hat etwas mit diesem (in
einer Hinsicht durchaus verständlichen) Versagen vor der
Gewalt der aus unseren ordnungswütigen Köpfen ent
standenen absoluten Kontingenz zu tun. Trotz der ange strengten Bemühung um die sogenannte Bewältigung der
Vergangenheit scheint es mir, als seien wir Deutsche heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk.
Ein passioniertes Interesse an unseren früheren Lebens
formen und den Spezifika der eigenen Zivilisation, wie es 6
etwa in der Kultur Großbritanniens überall spürbar ist, kennen wir nicht. Und wenn wir unseren Blick zurück
wenden, insbesondere auf die Jahre 1930 bis 1950, so ist es
immer ein Hinsehen und Wegschauen zugleich. Die Her
vorbringungen der deutschen Autoren nach dem Krieg sind darum vielfach bestimmt von einem halben oder fal
schen Bewußtsein, das ausgebildet wurde zur Festigung
der äußerst prekären Position der Schreibenden in einer
moralisch so gut wie restlos diskreditierten Gesellschaft. Für die überwiegende Mehrzahl der während des Dritten
Reichs in Deutschland gebliebenen Literaten war die Redefinition ihres Selbstverständnisses nach 1945 ein dring
licheres Geschäft als die Darstellung der realen Verhält nisse, die sie umgaben. Beispielhaft für die unguten
Folgen, die der literarischen Praxis daraus erwuchsen, war der Fall Alfred Anderschs. Deshalb wird hier, im An
schluß an die Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur,
nochmals der Aufsatz abgedruckt, den ich über diesen Schriftsteller vor einigen Jahren in Lettre publizierte. Er
hat mir damals einige scharfe Rügen eingebracht von Leu
ten, die es nicht wahrhaben wollten, daß eine oppositio nelle Grundhaltung und eine wache Intelligenz, wie sie
Andersch zweifellos auszeichneten, während der anschei
nend unaufhaltsam fortschreitenden Machtentfaltung des faschistischen Regimes sehr wohl übergehen konnte in mehr oder weniger bewußte Versuche der Anpassung und
daß sich daraus später für eine öffentliche Person wie An7
dersch die Notwendigkeit der Adjustierung des Lebens
laufs durch diskrete Auslassungen und andere Korrektu
ren ergab. In solcher Präokkupation mit der Nachbesse rung des Bildes, das man von sich überliefern wollte, lag, meines Erachtens, einer der wichtigsten Gründe für die
Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubrin
gen in unser Gedächtnis.
8
Luftkrieg und Literatur Züricher Vorlesungen
Der Kunstgriff der Elimination ist der Abwehrreflex eines jeden Experten. Stanislaw Lern, »Imaginäre Größe«
I Es ist schwer, sich heute eine auch nur halbwegs zurei chende Vorstellung zu machen von dem Ausmaß der
während der letzten Jahre des zweiten Weltkriegs erfolgten
Verheerung der deutschen Städte und schwerer noch,
nachzudenken über das mit dieser Verheerung verbun dene Grauen. Zwar geht aus den Strategie Bombing Surveys
der Alliierten, aus den Erhebungen des Bundesamts für Statistik und anderen offiziellen Quellen hervor, daß allein die Royal Air Force in 400 000 Flügen eine Million Tonnen Bomben über dem gegnerischen Gebiet abgeworfen hat,
daß von den 131 teils nur einmal, teils wiederholt ange
griffenen Städten manche nahezu gänzlich niedergelegt
wurden, daß an die 600 000 Zivilpersonen in Deutschland dem Luftkrieg zum Opfer fielen, daß dreieinhalb Millio
nen Wohnungen zerstört wurden, daß bei Kriegsende siebeneinhalb Millionen obdachlos waren, daß auf jeden
Einwohner Kölns 31,4, auf jeden Dresdens 42,8 Kubik meter Bauschutt kamen, doch was all das in Wahrheit
11
bedeutete, das wissen wir nicht.1 Die in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion ist in die Annalen
der neu sich konstituierenden Nation nur in Form vager Verallgemeinerungen eingegangen, scheint kaum eine
Schmerzensspur hinterlassen zu haben im kollektiven Be wußtsein, ist aus der retrospektiven Selbsterfahrung der
Betroffenen weitgehend ausgeschlossen geblieben, hat in den sich entwickelnden Diskussionen um die innere Ver fassung unseres Landes nie eine nennenswerte Rolle ge spielt, ist nie, wie Alexander Kluge später konstatierte, zu
einer öffentlich lesbaren Chiffre2 geworden - ein durchaus paradoxer Sachverhalt, wenn man bedenkt, wie viele Men
schen dieser Kampagne Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr ausgesetzt waren und wie lange sie, bis weit in
die Nachkriegszeit hinein, konfrontiert geblieben sind mit
ihren realen, jedes positive Lebensgefühl (wie man hätte
meinen müssen) erstickenden Folgen. Trotz der schier un glaublichen Energie, mit der man sich nach jedem Angriff
sogleich an die Wiederherstellung einigermaßen prakti
kabler Verhältnisse machte, standen in Städten wie Pforz heim, das in einem einzigen Angriff in der Nacht auf den 23. Februar 1945 beinahe ein Drittel seiner 60 000 Einwoh
ner verlor, selbst nach 1950 noch Lattenkreuze auf den
Schutthalden, und gewiß haben die entsetzlichen Gerü
che, die, wie Janet Flanner im März 1947 berichtet, von der ersten Frühjahrswärme in den gähnenden Kellern War
schaus geweckt wurden3, in der Zeit unmittelbar nach dem 12
Krieg auch die deutschen Städte durchweht. Eingedrun gen in das Sensorium der Überlebenden, die am Ort der Katastrophe ausharrten, sind sie aber offenbar nicht. Die
Menschen bewegten sich »auf der Straße zwischen den fürchterlichen Ruinen«, so eine Ende 1945 datierte Notiz Alfred Döblins aus Südwestdeutschland, »wahrhaftig, als wenn nichts geschehen wäre und . . . die Stadt immer so
aussah«.4 Die Kehrseite solcher Apathie war die Deklara
tion des Neubeginns, der fraglose Heroismus, mit dem man sich ohne Verzug an die Reorganisations- und Räu
mungsarbeiten machte. In einer der Stadt Worms 19451955 gewidmeten Broschüre heißt es: »Die Stunde ver langt aufrechte Männer, sauber in Haltung und Zielset zung. Fast alle stehen dann auch in Zukunft jahrelang an
der vordersten Front des Wiederaufbaues.«'’ Eingerückt 13
Kämmerei si> «ße: Kein Haus übt:stand das In'e'no
in den von einem gewissen Willi Ruppert, im Auftrag der
Stadtverwaltung verfaßten Text sind zahlreiche Fotogra fien, darunter auch die hier abgedruckten beiden Bilder
der Kämmererstraße. Nicht als das grauenvolle Ende einer kollektiven Aberration erscheint also diese totale Zerstö rung, sondern, sozusagen, als die erste Stufe des erfolgrei
chen Wiederaufbaus. Im Anschluß an ein im April 1945
mit den leitenden Herren der IG-Farben in Frankfurt ge
führtes Gespräch gibt Robert Thomas Pell sein Erstaunen zu Protokoll über die mit Selbstmitleid, kriecherischer Selbstrechtfcrtigung, gekränkten Lnschuldsgefühlen und
Trotz seltsam gemischten'Willensbekundungen der Deut schen, ihr Fand »größer und mächtiger wiederaufzubauen,
als es in der Vergangenheit war«'1 -- ein Vorsatz, hinter dem sie in der Folge nicht zurückblieben, wie leicht abzulesen
14
'irfuinei und breiter erstand sie wieder
ist an den Postkarten, die der Deutschlandreisende heute an den Frankfurter Zeitungskiosken kaufen und von der
Metropole am Main in alle Welt schicken kann. Der in zwischen bereits legendäre und, in einer Hinsicht, tatsäch
lich bewundernswerte deutsche Wiederaufbau, der, nach
den von den Kriegsgegnern angerichteten Verwüstungen, einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten
Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam, unter
band durch die geforderte Arbeitsleistung sowohl als durch die Schaffung einer neuen, gesichtslosen Wirklich
keit von vornherein jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und ver
pflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfah
ren war. So spärlich und so versprengt sind die deutschen
Zeugnisse aus jener kaum ein Menschenalter zurücklie15
*
FRANKFURT - GESTERN + HEUTE
genden Zeit, daß in Hans Magnus Enzensbergers 1990
erschienener Reportagesammlung Europa in Trümmern nur ausländische Journalisten und Schriftsteller zu Wort kom men konnten mit Arbeiten, die, bezeichnenderweise, bis
16
dahin in Deutschland so gut wie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden waren. Die wenigen in deut scher Sprache verfaßten Berichte stammen von ehemali
gen Exilierten oder anderen Randständigen wie Max
Frisch. Die Daheimgebliebenen, die, wie beispielsweise Walter von Molo und Frank Thiess in der unseligen Tho
mas Mann-Kontroverse, gern von sich sagten, daß sie in
der Stunde der Not in der Heimat ausgehalten hatten,
während andere auf ihren Logenplätzen in Amerika saßen,
enthielten sich gänzlich des Kommentars über den Vollzug und das Ende der Zerstörung, nicht zuletzt wohl aus Furcht, sie könnten durch wirklichkeitsnahe Schilderun
gen bei den Besatzungsbehörden in Mißkredit geraten.
Entgegen der allgemeinen Annahme wurde das zeitgenös sische Überlieferungsdefizit auch von der seit 1947 bewußt sich rekonstituierenden Nachkriegsliteratur, von der man einigen Aufschluß über die wahre Lage hätte erwarten dürfen, nicht ausgeglichen. War die ältere Garde der so
genannten inneren Emigranten vornehmlich damit be schäftigt, sich ein neues Ansehen zu geben und, wie
Enzensberger anmerkt, den Freiheitsgedanken und das humanistisch-abendländische Erbe in endlosen verqua sten Abstraktionen zu beschwören7, so war die jüngere
Generation der gerade heimgekehrten Autoren dermaßen fixiert auf ihre eigenen, immer wieder in Sentimentalität
und Larmoyanz abgleitenden Erlebnisberichte aus dem
Krieg, daß sie kaum ein Auge zu haben schien für die 17
allerorten sichtbaren Schrecken der Zeit. Selbst die viel berufene, programmatisch einen unbestechlichen Wirk lichkeitssinn sich vorsetzende Trümmerliteratur, in der es nach Heinrich Bölls Bekenntnis hauptsächlich um das
ging, »was wir ... bei der Heimkehr vorfanden« \ erweist sich bei näherer Betrachtung als ein auf die individuelle
und kollektive Amnesie bereits eingestimmtes, wahr scheinlich von vorbewußten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf kei
nen Begriff mehr zu bringenden Welt. Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer still schweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden. Die fin
stersten Aspekte des von der weitaus überwiegenden
Mehrheit der deutschen Bevölkerung miterlebten Schluß akts der Zerstörung blieben so ein schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis, das man vielleicht
nicht einmal sich selber eingestehen konnte. Von sämtli chen Ende der vierziger Jahre entstandenen literarischen Werken ist es eigentlich nur Heinrich Bölls Roman Der
Engel schwieg'1, der eine annähernde Vorstellung vermittelt von der Tiefe des Entsetzens, das damals jeden zu erfassen
drohte, der wirklich sich omsah in den Ruinen. Es leuchtet einem bei der Lektüre sogleich ein, daß gerade diese an scheinend von unheilbarer Schwermut geprägte Erzäh
lung der zeitgenössischen Leserschaft, wie der Verlag und
18
wohl auch Böll selbst glaubte, nicht zugemutet werden konnte und daß sie darum erst 1992, mit beinah fünfzig
jähriger Verspätung, veröffentlicht worden ist. Tatsächlich
ist das siebzehnte, den Todeskampf der Frau Gompertz schildernde Kapitel von einem derart radikalen Agnosti
zismus, daß man selbst heute nicht ohne weiteres darüber hinwegkommt. Das dunkle, klebrig verklumpende Blut, das auf diesen Seiten in Schwällen und Stößen aus dem
Mund der Sterbenden sich ergießt, auf ihrer Brust sich ausbreitet, das Laken verfärbt, über die Bettkante zu Bo den klatscht und dort eine schnell sich ausbreitende Lache
bildet, dieses tintige und, wie Böll eigens hervorhebt, sehr schwarze Blut ist das Sinnbild der gegen den Überlebens
willen gerichteten acedia cordis, jener fahlen, nicht mehr zu behebenden Depression, in die die Deutschen ange
sichts eines solchen Endes eigentlich hätten verfallen müs sen. Außer Heinrich Böll haben nur wenige andere
Autoren wie Hermann Kasack, Hans Erich Nossack, Arno
Schmidt und Peter de Mendelssohn es gewagt, an das über die äußere und innere Zerstörung verhängte Tabu zu rüh
ren, zumeist freilich, wie noch zu zeigen sein wird, auf eine eher fragwürdige Weise. Und auch als in späteren Jahren
Kriegs- und Heimathistoriker den Untergang der deut
schen Städte zu dokumentieren begannen, änderte das nichts an der Tatsache, daß die Bilder dieses grauenvollen
Kapitels unserer Geschichte nie richtig über die Schwelle des nationalen Bewußtseins getreten sind. In der Regel
19
erschienen an mehr oder weniger abgelegenen Stellen Hans Brunswigs Feuersturm über Hamburg beispielsweise
kam 1978 beim Stuttgarter Motorbuch Verlag heraus dienten diese von ihrem Forschungsgegenstand oft eigen
artig unberührten Kompilationen in erster Linie der As sanierung oder Beseitigung eines dem Normalverstand
inkommensurablen Wissens und nicht dem Versuch, die erstaunliche Fähigkeit der Selbstanästhetisierung eines
aus dem Vernichtungskrieg anscheinend ohne nennens werten psychischen Schaden hervorgegangenen Gemein
wesens genauer verstehen zu lernen. Das nahezu gänzliche Fehlen von tieferen Verstörungen im Seelenleben der
deutschen Nation läßt darauf schließen, daß die neue bun desrepublikanische Gesellschaft die in der Zeit ihrer Vor geschichte gemachten Erfahrungen einem perfekt funktio
nierenden Mechanismus der Verdrängung überantwortet hat, der es ihr erlaubt, ihre eigene Entstehung aus der
absoluten Degradation zwar faktisch anzuerkennen, zu gleich aber aus ihrem Gefühlshaushalt völlig auszuschal ten, wenn nicht gar zu einem weiteren Ruhmesblatt im
Register dessen zu machen, was man erfolgreich und ohne ein Anzeichen innerer Schwäche alles überstanden hat.
Enzensberger verweist darauf, daß man »die rätselhafte Energie der Deutschen«'nicht begreift, »wenn man sich gegen die Einsicht sträubt, daß sie ihren Defekt zur Tu
gend erhoben haben. Die Bewußtlosigkeit«, so schreibt er, »war die Bedingung ihres Erfolgs.«10 Zu den Voraussetzun 20
gen des deutschen Wirtschaftswunders gehörten ja nicht
nur die enormen Investitionssummen des Marshall-Plans,
der Ausbruch des kalten Kriegs und die von den Bomber geschwadern mit brachialer Effizienz besorgte Verschrot
tung veralteter Industrieanlagen, es gehörten zu ihnen auch das in der totalitären Gesellschaft erlernte fraglose
Arbeitsethos, die logistische Improvisationsfähigkeit einer von allen Seiten bedrängten Wirtschaft, die Erfahrung im Einsatz von sogenannter Fremdarbeit und der letzten En
des nur von wenigen bedauerte Verlust der schweren historischen Fracht, die zwischen 1942 und 1945 mit den
jahrhundertealten Wohn- und Geschäftshäusern in Nürn berg und Köln, in Frankfurt, Aachen, Braunschweig und
Würzburg in Flammen aufging. In der Genese des Wirt
schaftswunders sind dies die einigermaßen identifizierba ren Faktoren gewesen. Der Katalysator aber war eine rein immaterielle Dimension: der bis heute nicht zum Versie gen gekommene Strom psychischer Energie, dessen Quel
le das von allen gehütete Geheimnis der in die Grund festen unseres Staatswesens eingemauerten Leichen ist, ein Geheimnis, das die Deutschen in den Jahren nach dem
Krieg fester aneinander band und heute noch bindet, als jede positive Zielsetzung, im Sinne etwa der Verwirk
lichung von Demokratie, es jemals vermochte. Vielleicht ist es nicht verkehrt, an diese Zusammenhänge gerade jetzt
zu erinnern, da das zweimal bereits gescheiterte groß europäische Projekt in eine neue Phase eintritt und der
21
Einflußbereich der D-Mark - die Geschichte hat eine Art, sich zu wiederholen ziemlich genau so weit sich ausdehnt wie im Jahr 1941 das von der Wehrmacht besetzte Gebiet.
Die Frage, ob und wie der von Gruppierungen innerhalb
der Royal Air Force seit 1940 befürwortete und ab Februar 1942 unter Aufbietung eines ungeheuren Volumens perso neller und wehrwirtschaftlicher Ressourcen in die Praxis umgesetzte Plan eines uneingeschränkten Bombenkriegs
strategisch oder moralisch zu rechtfertigen war, ist in den
Jahrzehnten nach 1945 in Deutschland, soviel ich weiß, nie Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden, vor al lem wohl deshalb nicht, weil ein Volk, das Millionen von
Menschen in Lagern ermordet und zu Tode geschunden hatte, von den Siegermächten unmöglich Auskunft verlan
gen konnte über die militärpolitische Logik, die die Zer störung der deutschen Städte diktierte. Zudem ist nicht
auszuschließen, daß nicht wenige der von den Luftangrif
fen in Mitleidenschaft gezogenen, wie beispielsweise in
Hans Erich Nossacks Bericht über den Untergang Ham
burgs angedeutet wird, die riesigen Feuerbrände, trotz allen ohnmächtig verbissenen Zorns über den offenbaren Wahnsinn, als eine gerechte Strafe, wo nicht gar als Ver
geltungsakt einer höheren Instanz empfanden, mit der nicht zu rechten war. Abgesehen von den Verlautbarungen
der NS-Presse und des Reichssenders, in denen stets im selben Tenor von sadistischen Terrorangriffen und barba
22
rischen Luftgangstern die Rede war, soll es sehr selten nur vorgekommen sein, daß jemand Klage führte über die jah
relange Destruktionskampagne der Alliierten. Mit stum mer Faszination, so wird verschiedentlich berichtet, seien die Deutschen der sich vollziehenden Katastrophe gegen
übergestanden. »Nun war nicht mehr die Zeit«, schrieb Nossack, »wo man mit so kleinlichen Unterschieden rech
nete wie dem zwischen Freund und Feind.«11 Im Gegen satz zu der größtenteils passiven Reaktion der Deutschen
auf die von ihnen als unabwendbares Verhängnis empfun dene Niederlegung ihrer Städte war das Zerstörungspro
gramm in Großbritannien von Anfang an Grund scharfer
Auseinandersetzungen gewesen. Nicht nur wurde von
Lord Salisbury und von George Bell, dem Bischof von Chichester, im Oberhaus sowohl als in der weiteren Öf fentlichkeit wiederholt und aufs eindringlichste der Vor wurf erhoben, daß die Strategie der in erster Linie gegen die zivile Bevölkerung sich richtenden Angriffe weder
kriegsrechtlich noch moralisch vertretbar sei, auch das verantwortliche militärische Establishment war in seiner
Einschätzung dieser neuen Art der Kriegsführung gespal
ten. Die durchgehende Ambivalenz in der Bewertung der Vernichtungsschlacht wurde prononcierter noch nach der bedingungslosen Kapitulation. In dem Maße, in dem Be
richte und Bilder von den Auswirkungen der Flächenan
griffe in England zu erscheinen begannen, wuchs der Widerwille vor dem, was man, sozusagen blindlings, ange 23
richtet hatte. »In the safety of peace«, schreibt Max Ha
stings, »the bombers’ part in the war was one that many
politicians and civilians would prefer to forget.«12 Auch der historische Rückblick brachte keine Klärung des ethischen Dilemmas. In der Memoirenliteratur wurden weiterhin
die Fehden der verschiedenen Fraktionen ausgetragen,
und das auf sachliche Abgewogenheit bedachte Urteil der Geschichtsschreiber schwankt zwischen Bewunderung
für die Organisation eines so gewaltigen Unternehmens und Kritik an der Vergeblichkeit und Verwerflichkeit einer
gegen jede bessere Vernunft bis zu Ende gnadenlos durch
geführten Aktion. Der Ursprung der Strategie des soge nannten area bombmg lag in der extrem marginalen Posi tion, in der Großbritannien sich 1941 befand. Deutschland
war auf dem Höhepunkt seiner Macht, seine Heere hatten
den ganzen Kontinent erobert, standen im Begriff, in Afrika und Asien weiter vorzudringen und die Briten, ohne
jede reale Möglichkeit der Intervention, einfach ihrem in sularen Schicksal zu überlassen. Mit diesem Prospekt vor Augen schrieb Churchill an Lord Beaverbrook, daß es nur
einen einzigen Weg gebe, Hitler in die Konfrontation zu rückzuzwingen, »and that is an absolutely devastating
exterminating attack by verv heavy bombers from this
country upon the Nazi homeland«.11 Freilich waren die Voraussetzungen für eine derartige Operation damals alles
andere als gegeben. Es mangelte an der Produktionsbasis, an Flugfeldern, an Ausbildungsprogrammen für die Bom 24
berbesatzungen, an effektiven Sprengsätzen, an neuen Navigationssystemen sowie an fast jeder Form verwertba rer Erfahrung. Wie desperat die Lage insgesamt gewesen
ist, läßt sich ablesen an den bizarren Plänen, die zu Beginn der vierziger Jahre ernsthaft verfolgt wurden. So erwog
man beispielsweise, eiserne Pfahlspitzen über den Feldern abzuwerfen, um das Einbringen der Ernte zu verhindern, und ein exilierter Glaziologe namens Max Perutz war be
schäftigt mit Experimenten zu dem Projekt Habbakuk, aus dem ein riesiger unversenkbarer Flugzeugträger aus Pyk-
rete, einer Art von künstlich verstärktem Eis, hervorgehen
sollte. Kaum weniger phantastisch waren zum damaligen Zeitpunkt die Versuche, ein Abwehrnetz aus unsichtbaren
Strahlen zu schaffen, oder die komplizierten, von Rudolph Peierls und Otto Frisch an der Universität Birmingham
angestellten Berechnungen, denen zufolge der Bau einer
Atombombe in den Bereich des Möglichen gerückt wurde.
Es ist nicht verwunderlich, wenn vor dem Hintergrund solcher ans Unwahrscheinliche grenzenden Ideen die viel leichter verständliche Strategie des area bombing, die es
trotz der geringen Zielgenauigkeit erlaubte, eine gewisser maßen springende Front kreuz und quer durch das Fein
desland zu ziehen, schließlich sich durchsetzte und sank tioniert wurde durch den Regierungsbeschluß vom
Februar 1942 »to destroy the morale of the enemy civilian
population and, in particular, of the industrial workers«.14 Diese Direktive war nicht etwa, wie immer wieder be
25
hauptet wird, entstanden aus dem Wunsch, den Krieg durch einen massiven Einsatz von Bombern schnell zu
Ende zu bringen; sie war vielmehr die einzige Möglichkeit zu einem Eingreifen in den Krieg überhaupt. Die Kritik, die später (auch im Hinblick auf die eigenen Opfer) an dem
rücksichtslos vorangetriebenen Zerstörungsprogramm ge
übt wurde, richtete sich hauptsächlich darauf, daß es selbst dann noch aufrechterhalten wurde, als bereits ungleich präzisere, selektive Angriffe, beispielsweise auf Kugel lagerfabriken, Öl- und Treibstoffinstallationen, Verkehrs
knotenpunkte und Hauptarterien geflogen werden konn ten, durch die in kürzester Zeit, wie Albert Speer in seinen
Erinnerungen vermerkte15, eine Querschnittslähmung des gesamten Produktionssystems hätte herbeigeführt werden können. In der Kritik an der Bomberoffensive wird auch
darauf verwiesen, daß es schon im Frühjahr 1944 sich ab
zeichnete, daß trotz der unausgesetzten Angriffe die Moral der deutschen Bevölkerung offenbar ungebrochen, die In
dustrieproduktion allenfalls marginal beeinträchtigt und das Ende des Kriegs um keinen Tag nähergerückt war.
Wenn dessenungeachtet die strategischen Ziele der Offen sive nicht modifiziert und die oft kaum schulentlassenen Bomberbesatzungen weiterhin einem Roulette ausgesetzt
wurden, das sechzig von hundert das Leben kostete, dann hatte das meines Erachtens Gründe, die in der offiziellen
Geschichtsschreibung nur wenig Beachtung finden. Zum einen hatte ein Unternehmen von den materialen und or
26
ganisatorischen Dimensionen der Bomberoffensive, die nach Schätzungen A.J.P. Taylors ein Drittel der britischen
Kriegsproduktion verschlang16, ein derart hohes Maß an
Eigendynamik, daß kurzfristige Kurskorrekturen und
Einschränkungen so gut wie ausgeschlossen waren, zumal zu einem Zeitpunkt, da dieses Unternehmen, nach drei jährigem intensiven Ausbau der Fabrikations- und Basis anlagen, seinen höchsten Entwicklungsstand, das heißt
seine größte Zerstörungskapazität erreicht hatte. Das ein
mal hergestellte Material, die Maschinen und ihre wert volle Fracht, einfach ungenutzt auf den ostenglischen Flugfeldern liegen zu lassen, dagegen sträubte sich der gesunde Wirtschaftsinstinkt. Entscheidend für die Fort
setzung der Offensive war außerdem wahrscheinlich der zur Stützung der britischen Moral geradezu unabdingbare Propagandawert, den die Tag für Tag in den englischen
Zeitungen erscheinenden Meldungen über die systemati sche Zerstörungsarbeit in einer Zeit besaßen, in der es sonst keinerlei Berührung gab mit dem Feind auf dem
europäischen Kontinent. Aus diesen Gründen wohl kam es nicht in Frage, Sir Arthur Harris (Commander in Chief of Bomber Command), der seine Strategie noch unbeug sam weitervertrat, als deren Scheitern schon auf der Hand
lag, seiner Stellung zu entheben. Einige Kommentatoren behaupten auch »that >Bomber< Harris had managed to
secure a peculiar hold over the otherwise domineering, intrusive Churchill«1', denn obgleich der Premier ver 27
schiedentlich gewisse Skrupel über die furchtbaren Bom
bardierungen offener Städte geäußert hatte, beruhigte er
sich, offenbar unter dem Einfluß des über jedes Gegenar gument sich hinwegsetzenden Harris, bei dem Gedanken, daß nun eine, wie er sagte, höhere poetische Gerechtigkeit am Werk sei, »that those who have loosed these horrors upon mankind will now in their homes and persons feel the shattering strokes of just retribution«.18 Vieles spricht in
der Tat dafür, daß mit Harris ein Mann an die Spitze des Bomber Command gelangt war, der, so Solly Zuckerman,
an Zerstörung qua Zerstörung glaubte19 und der damit
dem innersten Prinzip eines jeden Kriegs, der möglichst vollständigen Annihilierung des Feindes samt seinen
Wohnstätten, seiner Geschichte und seinem natürlichen
Umfeld, am besten entsprach. Elias Canetti hat das Faszi nosum der Macht in ihrer reinsten Ausprägung in Verbin
dung gebracht mit der steigenden Zahl der von ihr
aufgehäuften Opfer. Ganz in diesem Sinne ergab sich die Unangreifbarkeit der Stellung von Sir Arthur Harris
gerade aus seinem uneingeschränkten Interesse an der
Zerstörung. Sein kompromißlos bis ans Ende eingehalte
ner Plan sukzessiver Vernichtungsschläge war von einer überwältigend einfachen Logik, dergegenüber alle realen strategischen Alternativen, wie beispielsweise die Aus
schaltung der Treibstoffversorgung, als bloße Ablen kungsmanöver erscheinen mußten. Der Bombenkrieg war
Krieg in purer, unverhohlener Form. An seiner jeglicher 28
Vernunft widersprechenden Entwicklung läßt sich ablesen, daß Kriegsopfer, wie Elaine Scarry in ihrem ungemein
scharfsichtigen Buch The Body in Pain schreibt, nicht etwa Opfer sind, die gebracht werden auf der Straße zu einem wie immer gearteten Ziel, sondern sie sind, im genauen
Wortsinn, diese Straße und dieses Ziel selbst.20
Die Mehrzahl der auf verschiedenen Ebenen weit ausein anderliegenden und in der Regel fragmentarischen Quel len zur Zerstörung der deutschen Städte sind von einer
sonderbaren, aus extrem eingeengter, einseitiger oder ex zentrischer Perspektive sich ergebenden Erfahrungsblind
heit. Die erste Live-Reportage von einem Angriff auf Berlin zum Beispiel, die der Home Service der BBC aus strahlte, ist für jeden, der sich von ihr einen Einblick in das
Geschehen aus übergeordneter Sicht erhofft, eher enttäu
schend. Da trotz der ständig gegenwärtigen Gefahr kaum etwas irgendwie beschreibbares passierte auf diesen nächt
lichen Exkursionen, muß der Berichterstatter (Wilfred
Vaughn Thomas) auskommen mit einem Minimum an
Realitätsgehalt. Einzig dem Pathos, das er hin und wieder in seine Stimme legt, ist es zu verdanken, daß kein Ein
druck von Langeweile entsteht. Wir hören, wie die schwe ren Lancaster-Bomber bei Einbruch der Dunkelheit abheben und bald darauf, den weißen Küstensaum unter
sich, hinausfliegen über die Nordsee. »Now, right before us«, kommentiert Vaughn Thomas mit spürbarem Tre 29
molo, »lies darkness and Germany.« Während des in der Wiedergabe natürlich stark verkürzten Flugs bis zu den
ersten Lichtbatterien der Kammhuber-Linie wird den Hörern die Besatzung vorgestellt: Scottie, der Flug
ingenieur, der vor dem Krieg Kinovorführer in Glasgow
war; Sparky, der Bombardier; Connolly, »the navigator, an Aussie from Brisbane«; »the mid-upper gunner who was in advertizing before the war and the rear gunner, a Sussex
farmer«. Der Skipper bleibt anonym. »We are now well out
over the sea and looking out all the time towards the enemv coast.« Verschiedene Beobachtungen und technische An weisungen werden ausgetauscht. Bisweilen hört man auch
nur das Dröhnen der großen Motoren..Im Anflug auf die Stadt überschlagen sich die Ereignisse. Scheinwerfer
kegel, durchpulst von den Lichtsalven der Flak, biegen sich auf die Maschinen zu, ein Nachtjäger wird abgeschos sen. Vaughn Thomas versucht, den dramatischen Höhe punkt angemessen hervorzuheben, spricht von einer »wall
of search lights, in hundreds, in cones and clusters. It’s a wall of light with very few breaks and behind that wall is a
pool of fiercer light, glowing red and green and blue, and
over that pool mvriads of flares hanging in the sky. That’s the citv itself! . . . It’s going to be quite soundless«, fährt
Vaughn Thomas fort, »thö roar of our aircraft is drowning everything eise. We are running Straight into the most
gigantic display of soundless fireworks in the world and
here we go to drop our bombs on Berlin.« Aber nach die30
sem Vorspiel kommt eigentlich nichts mehr. Es geschieht
alles viel zu geschwind. Die Maschine bewegt sich bereits
aus dem Zielbereich hinaus. Die Anspannung der Besat
zung löst sich in plötzlich ausbrechender Gesprächigkeit. »Not too much nattering«, mahnt der Skipper. »By (rod, that looks like a bloody good show«, sagt einer noch. »Best I’ve ever seen«, ein anderer. Und dann, nach einer gewis
sen Zeit, ein dritter, ein wenig leiser, fast mit einer Art Ehrfurcht: »Eook at that f'ire! Oh bov!«’1 Wie viele dieser
großen Brände gab es nicht damals. Ich habe einmal einen ehemaligen Bordkanonier erzählen hören, daß das bren nende Köln von seinem Platz in der rückwärtigen Glas
kanzel aus noch zu sehen gewesen sei, als sie schon wieder
hinaus w aren über die holländische Küste, ein Fcuerfleck in der Finsternis gleich dem Schweif eines reglosen Ko
31
meten. Gewiß sah man auch von Erlangen oder Forchheim aus, wie Nürnberg in Flammen stand, sah von den Höhen
um Heidelberg den Feuerschein über Mannheim und Ludwigshafen. Der Prinz von Hessen stand in der Nacht
des 11. September 1944 am Rand seines Parks und schaute
auf das 15 Kilometer entfernte Darmstadt hinüber. »Der Lichtschein wuchs und wuchs, bis der ganze südliche
Himmel rot und gelb durchblitzt erglühte.«22 Ein in der Kleinen Festung in Theresienstadt Inhaftierter erinnert
sich, vom Fenster seiner Zelle aus sei der glutrote Wider schein über dem brennenden Dresden deutlich zu erken
nen gewesen über eine Distanz von 70 Kilometern hinweg,
und man habe die dumpfen Einschläge der Bomben ge hört, so als werfe jemand ganz in der Nähe Zentnersäcke in
einen Keller.21 Friedrich Reck, den die Faschisten noch kurz vor Kriegsende wegen subversiver Äußerungen nach
Dachau brachten und der dort an Typhus zugrunde ge gangen ist, notierte in seinem als wahres Zeitzeugnis kaum zu überschätzenden Tagebuch, daß bei dem Luftangriff
auf München im Juli 1944 bis ins Chiemgau hinunter der Boden bebte und vor den Druckwellen die Fenster auf sprangen.24 Waren dies die unmißverständlichen Zeichen einer das ganze Land überziehenden Katastrophe, so war
es doch nicht immer einfach, genaueres über die Art und das Ausmaß der Zerstörung in Erfahrung zu bringen.
Dem Bedürfnis nach Wissen widersprach die Neigung, die Sinne zu verschließen. Zum einen kursierten Unmengen
32
von Desinformation, zum anderen wahre Geschichten, die
jedes Fassungsvermögen überstiegen. In Hamburg, hieß
es, lägen 200 000 Tote. Reck schreibt, er könne nicht alles
glauben, denn er habe viel gehört »von der durchaus ver wirrten Geistesverfassung dieser Hamburger Flüchtlin
ge .. . von ihrer Amnesie und der Art, wie sie, bekleidet
nur mit Pyjamas, in dem Zustand herumirren, in dem sie
dem Zusammensturz ihrer Häuser entrannen«.25 Auch Nossack berichtet ähnliches. »Man konnte in den ersten
Tagen keine genaue Auskunft erhalten. Was erzählt wurde,
stimmte in den Einzelheiten nie.«26 Offenbar hatte unter dem Schock des Erlebten die Erinnerungsfähigkeit teil weise ausgesetzt oder arbeitete kompensatorisch nach einem willkürlichen Raster. Die der Katastrophe Entgan genen waren unzuverlässige, mit halber Blindheit geschla
gene Zeugen. Alexander Kluges erst um 1970 geschriebe
ner Text >Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945Operation Gomorrha< genann ten Unternehmens war die möglichst vollständige Ver
nichtung und Einäscherung der Stadt. Bei dem Angriff in der Nacht auf den 28. Juli, der um 1 Uhr morgens begann, wurden zehntausend Tonnen Spreng- und Brandbomben
35
ausgeladen über dem dichtbesiedelten Wohngebiet östlich
der Elbe, das die Viertel Hammerbrook, Hamm-Nord und -Süd, Billwerder Ausschlag sowie Teile von St. Georg,
Eilbek, Barmbek und Wandsbek umfaßte. Nach einem be reits bewährten Verfahren wurden zunächst durch viertausendpfündige Sprengbomben sämtliche Fenster und Tü
ren zerschlagen und aus den Rahmen gerissen, dann mit
leichten Brandsätzen die Dachböden angesteckt, während Brandbomben mit einem Gewicht bis zu 15 Kilo zugleich
bis in die tieferen Geschosse durchschlugen. Binnen we niger Minuten brannten überall auf dem zirka zwanzig
Quadratkilometer großen Angriffsareal riesige Feuer, die so schnell zusammenwuchsen, daß bereits eine Viertel stunde nach dem Niedergehen der ersten Bomben der
gesamte Luftraum, so weit man sah, ein einziges Flam menmeer war. Und nach weiteren fünf Minuten, um ein
Uhr zwanzig, erhob sich ein Feuersturm von einer Inten sität, wie sie kein Mensch für möglich gehalten hätte bis
dahin. Mit solcher Gewalt riß das jetzt zweitausend Meter in den Himmel hinauflodernde Feuer den Sauerstoff an
sich, daß die Luftströme Orkanstärke erreichten und dröhnten wie mächtige Orgeln, an denen alle Register ge zogen wurden zugleich. Drei Stunden lang brannte es so.
Auf seinem Höhepunkt hob der Sturm Giebel und Haus
dächer ab, wirbelte Balken und ganze Plakatwände durch die Luft, drehte Bäume aus ihrem Grund und trieb Men schen als lebendige Fackeln vor sich her. Hinter einstür
36
zenden Fassaden schossen haushoch die Flammen hervor, rollten gleich einer Flutwelle mit einer Geschwindigkeit
von über 150 Stundenkilometern durch die Straßen, krei selten als Feuerwalzen in seltsamen Rhythmen über die
offenen Plätze. In einigen Kanälen brannte das Wasser. In
den Straßenbahnwaggons schmolzen die Glasscheiben, der Zuckervorrat kochte in den Kellern der Bäckereien.
Die aus ihren Unterständen Geflohenen sanken unter gro tesken Verrenkungen in den aufgelösten, dicke Blasen
werfenden Asphalt. Niemand weiß wirklich, wie viele ums Leben gekommen sind in dieser Nacht oder wie viele
wahnsinnig wurden, ehe der Tod sie ereilte. Als der Mor gen anbrach, durchdrang das Sommerlicht nicht die bleierne Düsternis über der Stadt. Bis in eine Höhe von achttausend Metern war der Rauch aufgestiegen und hatte sich dort ausgebreitet als eine riesige amboßförmige Ku-
mulonimbuswolke. Eine wabernde Hitze, von der die Bomberpiloten berichteten, daß sie sie gespürt hätten
durch die Wandungen ihrer Maschinen, ging lange noch von den qualmenden, glosenden Steinbergen aus. Wohn siedlungen mit einer Straßenfront von insgesamt zwei
hundert Kilometern waren restlos zerstört. Überall lagen grauenvoll entstellte Leiber. Auf manchen flackerten noch die bläulichen Phosphorflämmchen, andere waren braun
oder purpurfarben gebraten und zusammengeschnurrt auf ein Drittel ihrer natürlichen Größe. Gekrümmt lagen sie
in den Lachen ihres eigenen, teilweise schon erkalteten 37
Fetts. In der schon in den nächsten Tagen zum Sperrgebiet erklärten inneren Todeszone wurden, als Strafbrigaden und Lagerhäftlinge nach dem Abkühlen der Trümmer im
August mit der Räumung beginnen konnten, Menschen gefunden, die, überwältigt von Monoxydgas, noch an
Tischen oder gegen die Wand gelehnt saßen, anderwärts
klumpenweise Fleisch und Knochen oder ganze Körper berge gesotten von dem siedenden Wasser, das aus gebor
stenen Heizkesseln geschossen war. Wieder andere waren
in der bis auf tausend Grad und mehr angestiegenen Glut
so verkohlt und zu Asche geworden, daß man die Über
reste mehrköpfiger Familien in einem einzigen Waschkorb davontragen konnte.
Der Exodus der Überlebenden aus Hamburg hatte noch
in der Nacht des Angriffs eingesetzt. Es begann, so
schreibt Nossack, »ein pausenloses Fahren auf allen Stra ßen der Umgegend . . . ohne zu wissen wohin«.111 Bis in die 38
äußersten Gebiete des Reichs wurden die eineinviertel
Millionen zählenden Flüchtlinge verschlagen. Unter dem Datum des 20. August 1943, an der zuvor schon zitierten
Stelle, berichtet Friedrich Reck von einer Gruppe von vierzig bis fünfzig solcher Flüchtlinge, die versuchen, auf
einem oberbayrischen Bahnhof einen Zug zu stürmen. Da bei fällt ein Pappkoffer »auf den Perron, zerschellt und
entleert seinen Inhalt. Spielzeug, ein Nagelnecessaire, an gesengte Wäsche. Zum Schluß ein gebratener, zur Mumie
geschrumpfter Kinderleichnam, den das halbirre Weib mit
sich geschleppt hat als Überbleibsel einer vor wenigen Tagen noch intakten Vergangenheit.«31 Es läßt sich kaum
denken, daß Reck diese entsetzliche Szene erfunden hätte. Überall in Deutschland muß, so oder so, von den zutiefst
verstörten, zwischen hysterischem Überlebenswillen und schwerer Apathie schwankenden Flüchtlingen die Kunde
von den Schrecknissen des Untergangs von Hamburg ver breitet worden sein. Recks Tagebuch zumindest ist ein
Beleg dafür, daß es trotz der jede genauere Information
unterdrückenden Nachrichtensperre nicht unmöglich war zu wissen, auf welch grauenvolle Weise die deutschen
Städte zugrunde gingen. Reck berichtet ein Jahr später auch von Zehntausenden, die nach dem letzten Groß
angriff auf München in den Anlagen des Maximiliansplatzes kampierten. Und weiter schreibt er: »Auf der nahen Reichsautobahn (bewegt sich) ein endloser Strom von Flüchtlingen, zerbrochene alte Weiblein, die mit sich an
39
der auf dem Rücken getragenen langen Stange ein Bündel mit ihrer letzten Habe schleppen. Arme Heimatlose mit
verbrannten Kleidern, mit Augen, in denen noch das Ent
setzen des Feuerstrudels, der alles zerreißenden Explosio nen, der Verschüttung oder des schmählichen Erstickens in einem Keller liegt.«32 Das Bemerkenswerte an solchen
Notizen ist ihre Seltenheit. Tatsächlich scheint es, als sei keiner unter den deutschen Schriftstellern, mit der ein zigen Ausnahme Nossacks, in jenen Jahren bereit oder imstande gewesen, etwas Konkretes zu Papier zu bringen über den Fortgang und die Auswirkungen der so lange
anhaltenden, gigantischen Zerstörungskampagne. Daran änderte sich auch nichts, als der Krieg zu Ende war. Der
quasi-natürliche Reflex, bedingt von Gefühlen der Schan de und von Trotz gegen die Sieger, war es, zu schweigen
und sich abzu wenden. Stig Dagerman, der im Herbst 1946
für die Zeitung Expressen aus Deutschland berichtete,
schreibt aus Hamburg, daß er mit der Bahn bei normaler Geschwindigkeit eine Viertelstunde lang durch die Mond
landschaft zwischen Hasseibrook und Landwehr gefahren
sei und nicht einen einzigen Menschen in dieser ungeheu
ren Wildmark, dem vielleicht schauerlichsten Ruinenfeld in ganz Europa, gesehen habe. Der Zug, schreibt Dager man, sei, wie alle Züge in-Deutschland, sehr voll gewesen,
doch habe keiner hinausgeschaut. Und ihn selber habe man, weil er hinausschaute, als einen Fremden erkannt.31
Janet Flanner, die für den New Yorker schrieb, machte 40
ähnliche Beobachtungen in Köln, das, so heißt es in einer
ihrer Reportagen, »im Schutt und in der Einsamkeit völ liger physischer Zerstörung . . . bar jeder Gestalt... an
seinem Flußufer [lehnt]. Was von seinem Leben übrigge blieben ist«, lesen wir weiter, »das kämpft sich mühsam einen Weg durch die zugeschütteten Seitenstraßen: eine geschrumpfte Bevölkerung, schwarz gekleidet - stumm
wie die Stadt.«’4 Diese Stummheit, dieses Verschlossenund Abgewandtsein ist der Grund, weshalb wir so wenig
wissen von dem, was die Deutschen gedacht und gesehen haben in dem halben Jahrzehnt zwischen 1942 und 1947.
Die Trümmer, unter denen sie lebten, blieben die terra incognita des Krieges. Solly Zuckerman mag dieses Defi zit vorausgeahnt haben. Wie alle, die an den Auseinander setzungen um die effizienteste Angriffsstrategie direkt
beteiligt waren und also ein gewisses professionelles Inter esse an den Auswirkungen des area bombing hatten, nahm
auch er das zerstörte Köln zum frühestmöglichen Zeit punkt in Augenschein. Noch bei seiner Rückkehr nach London war er überwältigt von dem, was er gesehen hatte,
und verabredete mit Cyril Connolly, dem damaligen Her ausgeber der Zeitschrift Horizon, einen Bericht, wie er es nannte, »Über die Naturgeschichte der Zerstörung< zu
schreiben. In seiner Jahrzehnte später verfaßten Autobio graphie gibt Lord Zuckerman zu Protokoll, daß dieses
Vorhaben gescheitert sei. »My first view of Cologne«, so sagt er, »cried out for a more eloquent piece than I could 41
ever have written.«35 Als ich Lord Zuckerman in den acht ziger Jahren einmal zu diesem Thema befragte, entsann er sich nicht mehr, worüber er seinerzeit im einzelnen hatte
schreiben wollen. Er hatte nur noch das Bild des schwar
zen, inmitten der Steinwüste aufragenden Doms im Kopf
und das eines abgetrennten Fingers, den er auf einer
Schutthalde gefunden hatte.
42
II Womit hätte eine Naturgeschichte der Zerstörung einset
zen müssen? Mit einer Übersicht über die technischen, organisatorischen und politischen Voraussetzungen für die
Durchführung von Großangriffen aus der Luft, mit einer
wissenschaftlichen Beschreibung des bis dahin unbekann ten Phänomens der Feuerstürme, mit einem pathographi-
schen Register der charakteristischen Todesarten oder mit verhaltenspsychologischen Studien über den Flucht- und
Heimkehrinstinkt? Nossack schreibt, daß es kein Bett gab für den Bevölkerungsstrom, der nach den Angriffen auf Hamburg »lautlos und unaufhaltsam alles überschwemm te« und durch kleine Rinnsale die Unruhe bis in die
entlegensten Dörfer trug. Kaum seien die Flüchtlinge ir gendwo untergekommen, fährt Nossack fort, hätten sie sich schon wieder aufgemacht, seien weitergezogen oder
versuchten, nach Hamburg zurückzukehren, »sei es, um noch etwas zu retten oder nach Angehörigen Ausschau zu
halten«, sei es aus den dunklen Gründen, die einen Mörder 43
zwingen, den Ort der Tat wieder aufzusuchen.36 Jedenfalls
sei täglich eine unzählbare Menschenmenge unterwegs ge
wesen. Böll hat später vermutet, daß in solchen Erfahrun
gen kollektiver Entwurzelung die bundesrepublikanische Reisesucht ihren Ursprung hat, dieses Gefühl, daß man
nirgends mehr bleiben kann und immer schon woanders sein müßte.37 Die Flucht- und Rückflutbewegungen der
ausgebombten Bevölkerung wären also, behavioristisch gesehen, durchaus so etwas wie Vorübungen zur Initiation
in die in den Jahrzehnten nach der Katastrophe sich kon stituierende mobile Gesellschaft, unter deren Auspizien die chronische Rastlosigkeit sich in eine Kardinaltugend
verwandelte. Abgesehen von dem verstörten Verhalten der Menschen selber war die augenfälligste Veränderung in der natür lichen Ordnung der Städte während der Wochen nach
einem Vernichtungsangriff zweifellos das schlagartige Überhandnehmen der an den ungeborgenen Leichen ge
deihenden parasitären Kreatur. Die auffallende Spärlich
keit diesbezüglicher Beobachtungen und Kommentare
erklärt sich aus einer unausgesprochenen Tabuisierung, die um so verständlicher ist, wenn man bedenkt, daß die
Deutschen, die doch die vollständige Säuberung und Hygienisierung Europas sich vorgesetzt hatten, sich wehren
mußten gegen die jetzt in ihnen aufkommende Angst, sie
seien in Wahrheit selber das Rattenvolk. Es gibt in dem seinerzeit unveröffentlicht gebliebenen Roman von Böll
44
eine Stelle, an der eine Trümmerratte beschrieben wird,
wie sie sich witternd von einem Schuttberg zur Straße
vorantastet, und Wolfgang Borchert hat bekanntlich die
schöne Geschichte geschrieben von dem bei seinem ver schütteten Bruder zur Totenwacht sitzenden Knaben, in der das Unwesen der Ratten gebannt wird durch die Ver
sicherung, daß sie schlafen während der Nacht. Sonst findet sich in der Literatur jener Zeit, soweit ich sehe, zu
diesem Thema bloß ein einziger Abschnitt bei Nossack, wo es heißt, daß die Zuchthäusler, die in ihren gestreiften Anzügen zur Beseitigung »der Reste ehemaliger Men
schen« eingesetzt wurden, sich in der Todeszone nur mit
dem Flammenwerfer den Weg zu den in den Luftschutz
räumen liegenden Leichen bahnen konnten, so dicht brau sten die Fliegen um sie her und waren die Kellerstiegen und Fußböden bedeckt mit glitschigen, fingerlangen Ma den. »Ratten und Fliegen beherrschten die Stadt. Frech
und fett tummelten sich die Ratten auf den Straßen. Aber noch ekelerregender waren die Fliegen. Große, grünschil
lernde, wie man sie nie gesehen hatte. Klumpenweise
wälzten sie sich auf dem Pflaster, saßen an den Mauerre sten sich begattend übereinander und wärmten sich müde
und satt an den Splittern der Fensterscheiben. Als sie
schon nicht mehr fliegen konnten, krochen sie durch die kleinsten Ritzen hinter uns her, besudelten alles, und ihr Rascheln und Brummen war das erste, was wir beim Auf
wachen hörten. Dies hörte erst später im Oktober auf.« ’* 45
Dieses Bild von der Vermehrung der sonst auf jede Weise
unterdrückten Arten ist ein seltenes Dokument des Le bens in einer Ruinenstadt. Mag die direkte Konfrontation mit den widerwärtigsten Ausformungen der Trümmerfau-
na der Mehrheit der Überlebenden auch erspart geblieben
sein, die Fliegen wenigstens verfolgten sie überall hin, ganz zu schweigen von dem »Geruch . . . von Fäulnis und
Verwesung«, der, wie Nossack schreibt, »über der Stadt lag«. ’9 Es ist uns fast nichts überliefert von denen, die in
den Wochen und Monaten nach der Zerstörung dem Da seinsekel erlagen, doch zumindest Hans, der zentralen Erzählfigur in Der Engel schmieg, graust es vor dem Ge
danken, das Leben wiederaufnehmen zu müssen, und
nichts scheint ihm naheliegender, als einfach aufzugeben,
»die Treppe hinunterzusteigen und in die Nacht zu ge hen«.40 Bezeichnenderweise fehlt es vielen der Böllschen
Helden Jahrzehnte später noch am rechten Lebenswillen.
Dieser Mangel, der ihnen in der neuen Erfolgswelt wie ein Stigma anhaftet, ist das Erbteil des als schandbar empfun
denen Daseins unter den Trümmern. Wie nahe dem Er löschen viele in den zerstörten Großstädten bei Kriegs
ende wirklich gewesen sind, darüber gibt eine Notiz von E. Kingston-McCloughry Auskunft, in der es heißt, daß
das anscheinend ziellose' Herumstreichen von Millionen obdachloser Menschen inmitten dieser ungeheuren Ver wüstung ein schrecklicher, zutiefst beunruhigender An
blick gewesen sei. Man wußte nicht, wo diese Leute
46
unterkamen, wenn auch nach Einbruch der Dunkelheit
Lichter in den Ruinen zeigten, wo sie sich eingerichtet hatten.41 Wir befinden uns in der Nekropole eines frem
den, unbegreiflichen Volks, herausgerissen aus seiner zivi len Existenz und Geschichte, zurückgeworfen auf die
Entwicklungsstufe unbehauster Sammler. Stellen wir uns also vor »fern, hinter den Schrebergärten, über den Bahn
damm hinausragend ... die verkohlten Ruinen der Stadt, eine zerrissene finstere Silhouette«42, davor eine Land
schaft aus niederen, zementfarbenen Schuttbergen, trokkener, roter Ziegelstaub, der in großen Wolken quer über die ausgestorbene Gegend treibt, einen einzelnen Men
schen, der im Geröll herumstochert4-1, die Haltestelle einer Bahn, mitten im Nirgendwo, Leute, die sich dort einfin-
den und von denen man, wie Böll schreibt, nicht wußte, woher sie auf einmal kamen, die aus den Hügeln gewach
sen schienen, »unsichtbar, unhörbar . . . aus dieser Ebene des Nichts . . . Gespenster, deren Weg und Ziel nicht zu erkennen war: Gestalten mit Paketen und Säcken, Kartons
und Kisten«.44 Fahren wir mit ihnen zurück in die Stadt, in der sie leben, durch Straßenzüge, in denen die Schutthal
den bis zum ersten Stockwerk der leergebrannten Fassa den sich türmen. Wir sehen Menschen, die sich im Freien kleine Feuerstellen gebaut haben (als seien sie im Urwald, schreibt Nossack45), auf denen sie ihr Essen oder ihre Wä
sche kochen. Ofenrohre, die zwischen Mauerresten her
vorragen, Qualm, der sich schleichend verteilt, eine alte 47
Frau mit Kopftuch und mit einer Kohlenschaufel in der Hand.46 So ungefähr muß es ausgesehen haben, das Vater land, im Jahr 1945. Stig Dagerman beschreibt das Leben
der Kellerbewohner in einer Stadt im Ruhrgebiet: das
scheußliche Essen, das sie aus dreckigem Schrumpelgemüse und zweifelhaften Fleischstücken zusammenkochen,
und er beschreibt den Rauch, die Kälte und den Hunger,
der herrscht in den unterirdischen Höhlen, die hustenden
Kinder, denen das Wasser, das immer auf dem F'ußboden
steht, in die zerschlissenen Schuhe schwappt. Dagerman beschreibt Schulzimmer, in denen die zerbrochenen Fen sterscheiben mit Schiefertafeln vernagelt sind und wo es so
finster ist, daß die Kinder ihre Vorlage nicht lesen können. In Hamburg, sagt Dagerman, habe er mit einem Herrn Schumann gesprochen, einem Bankangestellten, der das dritte Jahr schon unter der Erde wohnte. Die weißen Ge
sichter dieser Leute, so Dagerman, schauen genau aus wie die von Fischen, wenn sie zum Luftschnappen nach oben
kommen.47 Victor Gollancz, der im Herbst 1946 einein halb Monate lang in der englisch besetzten Zone, vor allem
in Hamburg, in Düsseldorf und im Ruhrgebiet, unter wegs war und eine Reihe von Berichten für die englische
Presse geschrieben hat, macht detaillierte Angaben über Ernährungsdefizienz, Mangelerscheinungen, Hungeröde
me, Auszehrung, Hautinfektionen und das rapide Anstei gen der Zahl der Tuberkulosekranken. Auch er spricht von
der tiefen Lethargie und bezeichnet sie als das damals 48
hervorstechendste Merkmal der großstädtischen Bevölke rung. »People drift about with such lassitude«, schreibt er,
»that you are always in danger of running them down when you happen to bc in a car.«4S Der erstaunlichste unter
Gollancz’ Berichten aus dem geschlagenen Land ist viel
leicht die dem kaputten Schuhwerk der Deutschen gewid
mete knappe Glosse >This Misere of BootsDie schwere Leidenszeit beginnt nun abermalsc Schlicht und
sicher stand sie ans Cembalo gelehnt, und ihre toten Augen blickten über die Nichtigkeiten, um die wir damals
schon zitterten, hinweg, vielleicht dahin, wo wir jetzt wa ren. Und nun umgab uns nur noch ein steinernes Meer.«55
Die hier durch ein Musikerlebnis evozierte Verbindung der äußersten Profanität mit dem Sakralen ist ein Kunst griff, der sich bewährt bis über das Ende hinaus. »Ein Hügelland von Backsteinen, darunter die Verschütteten,
darüber die Sterne; das Letzte, was sich da rührt, sind die Ratten. Abends in die Iphigenie«, notierte Max Frisch in Berlin.56 Ein englischer Beobachter erinnert sich an eine
Opernaufführung unmittelbar nach dem Waffenstillstand in derselben Stadt. »In the midst of such shambles only the
Germans«, so sagt er mit etwas zweischneidiger Bewunde rung, »could produce a magnificent full orchestra and a
crowded house of music lovers.«57 Wer dürfte den Zu hörern, die damals landauf und landab mit glänzenden
Augen der neu sich aufschwingenden Musik lauschten,
absprechen, daß sie bewegt waren von Gefühlen des Danks für ihre Errettung? Und doch muß auch die Frage
erlaubt sein, ob ihnen die Brust nicht schwoll vor perver sem Stolz darüber, daß niemand in der Menschheitsge schichte der Welt noch so aufgespielt und niemand so viel
durchgestanden hatte wie die Deutschen. Die Chronik da von ist die Lebensgeschichte des deutschen Tonsetzers
54
Adrian Leverkühn, die der Freisinger Schulmeister Zeit-
blom, inspiriert von seinem ghost-writer in Santa Barbara, zu Papier bringt, als die Stadt Dürers und Pirckheimers in
Asche gelegt und auch das nahe München getroffen wird vom Gericht. »Meine teilnehmenden Leser und Freunde«,
schreibt er, »ich fahre fort. Über Deutschland schlägt das 55
Verderben zusammen, im Schutt unserer Städte hausen,
von Leichen fett, die Ratten . . ,«58 Thomas Mann hat mit dem Doktor Faustus eine umfassende historische Kritik
geliefert von einer mehr und mehr dem apokalyptischen Weltverständnis zuneigenden Kunst und zugleich das Ge
ständnis seiner eigenen Verstricktheit. Von dem Publikum, für das dieser Roman gedacht war, haben ihn damals wohl nur wenige verstanden, zu sehr war man beschäftigt mit
dem Abhalten von Feierstunden auf der kaum noch erkal
teten Lava, zu sehr auch damit, sich selber von jedem Anruch zu befreien. Auf die komplizierte Frage des Ver
hältnisses von Ethik und Ästhetik, mit der Thomas Mann sich plagte, ließ man sich nicht ein. Und doch wäre sie von
zentraler Bedeutung gewesen, wie sich an den Mängeln der wenigen literarischen Transpositionen der Vernich tung der deutschen Städte ablesen läßt.
Neben Heinrich Böll, dessen schwermütiger Trümmerro-
man Der Engel schmieg der literarischen Öffentlichkeit über vierzig Jahre vorenthalten blieb, waren es eigentlich nur
Hermann Kasack, Hans Erich Nossack und Peter de Men
delssohn, die bei Ausgang des Krieges über das Thema der Zerstörung der Städte und das Überleben in einem Rui
nenland schrieben. Die drei Autoren waren damals mit
einander verbunden durch dieses gemeinsame Interesse. Kasack und Nossack standen etwa ab 1942, während der Arbeit an Die Stadt hinter dem Strom beziehungsweise an
56
Nekyia, regelmäßig in Kontakt; der im englischen Exil lebende Mendelssohn wiederum, der bei seiner ersten
Rückkehr nach Deutschland im Mai 1945 das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung kaum hatte fassen können, emp
fand gewiß aufgrund dieses Eindrucks das dann im Früh jahr 1947 erschienene Kasacksche Werk als ein Zeitzeugnis
von höchster Aktualität. Noch im Sommer schreibt er eine begeisterte Rezension, sucht nach einem englischen Verlag
für das Buch, macht sich selber sogleich an die Überset
zung und beginnt, aus dieser Beschäftigung mit Kasack heraus, 1948 mit der Niederschrift des Romans Die Ka
thedrale, der sich, wie die Arbeiten Kasacks und Nossacks, als literarischer Versuch im Umfeld der totalen Zerstörung versteht. Überholt von den zahlreichen Aufgaben, die
Mendelssohn zufielen, während er im Dienst der Militär
regierung befaßt war mit dem Wiederaufbau der deut schen Presse, ist die in englischer Sprache verfaßte
Erzählung Fragment geblieben und als solches erst 1983, in Mendelssohns eigener Übertragung, vorgelegt worden.
Der Schlüsseltext dieser Gruppe ist zweifellos Die Stadl hinter dem Strom, ein Werk, dem damals allgemein epocha le Bedeutung zugesprochen wurde und das lange als die endgültige Abrechnung mit dem Wahnsinn des national sozialistischen Regimes galt. »Durch ein einziges Buch«,
schrieb Nossack, »gab es wieder eine deutsche Literatur
von Rang, eine Literatur, die hier entstanden und auf un
seren Trümmern gewachsen war.«59 Es ist freilich eine 57
andere Frage, in welchem Sinn genau Kasacks Fiktion den
damaligen deutschen Verhältnissen entsprach und was es
etwa auf sich hatte mit der von ihm aus diesen Verhältnis sen extrapolierten Philosophie. Das Erscheinungsbild der Stadt hinter dem Strom, in der sich »das Leben sozusagen unterirdisch abspielt«60, ist in all seinen Merkmalen
durchaus das eines zerschlagenen Gemeinwesens. »Von
den Häusern der umliegenden Straßenzeilen ragten nur die Fassaden auf, so daß man im schrägen Aufblick durch die kahlen Fensterreihen die Fläche des Himmels sehen
konnte.«61 Und es ließe sich argumentieren, daß auch die
Darstellung des »lebenlosen Lebens«62, das die Bevölke
rung in diesem Zwischenreich fristet, ihre Anregungen bezog aus der realen wirtschaftlichen, und gesellschaftli
chen Lage in der Zeit zwischen 1943 und 1947. Nirgends gibt es ein Fahrzeug, und die Fußgänger streichen teil
nahmslos durch die Trümmerstraßen, »als spürten sie das Trostlose der Umgebung nicht mehr . . . Andere konnte man in den zusammengestürzten Wohnstätten, die ihres
Zweckes entkleidet waren, dabei beobachten, wie sie nach Resten von verschüttetem Hausrat suchten, dort ein
Stückchen Blech oder Draht aus den Scherben aufklaub ten, hier etwas Splitterholz in die umgehängten Taschen
sammelten, die wie Botanisierbüchsen aussahen.«6’ In den
dachlosen Kaufhallen wird diverser Kram in spärlicher Auswahl angeboten: »Hier waren ein paar Jacken und Ho
sen ausgebreitet, Gürtel mit silbernen Schließen, Krawat
58
ten und bunte Tüchter, dort hatten sich Schuhe und Stiefel aller Art angesammelt, die sich häufig in einem
recht fragwürdigen Zustand befanden. An anderen Stellen
hingen faltige Anzüge in verschiedenen Größen an Bü geln, Trachtenkittel und bäuerliche Wämse vergangener Moden, dazwischen lagen gestopfte Strümpfe, Socken
und Hemden, Hüte und Netze in krauser Willkür feil.«64
Die reduzierten Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse, die in solchen Passagen als die empirischen Grundlagen der Erzählung greifbar werden, fügen sich jedoch nicht zu sammen zu einem umfassenden Bild der Trümmerwelt,
sondern sind vielmehr bloße Versatzstücke für den über geordneten Plan der Mythisierung einer in ihrer Rohform
der Beschreibung sich verweigernden Wirklichkeit. Dem entsprechend erscheinen auch die Bomberflotten als
transreale Gegebenheiten. »Als habe Indra, dessen Grau samkeit im Zerstören die dämonischen Kräfte übertrifft,
es ihnen eingegeben, stiegen sie auf, die Schwarmboten
des Todes, um in hundertfach stärkerem Ausmaß als je zuvor in männermordenden Kriegen die Hallen und Häu ser der großen Städte niederzulegen, mit Wurf und Hieb
der Apokalypse.«65 Grünmaskierte Gestalten, Angehörige einer geheimen Sekte, die einen faden Gasgeruch ausströ
men und vielleicht die in den Lagern Ermordeten versinn
bildlichen sollen, werden in allegorischer Überzeichnung
vorgeführt im Disput mit den Popanzen der Macht, die,
überlebensgroß aufgeblasen, eine blasphemische Herr59
schäft verkünden, bis sie als leere Uniformhüllen in sich
zusammensacken unter Hinterlassung eines teuflischen Gestanks. Dieser fast schon Syberbergschen Inszenie rung, die sich den zweifelhaftesten Aspekten expressio nistischer Phantasie verdankt, wird im Schlußteil des Romans der Versuch einer Sinngebung des Sinnlosen auf gesetzt, bei welcher Gelegenheit der dienstälteste Denker
des Kasackschen Totenreichs darauf hinweist, »daß die
dreiunddreißig Eingeweihten seit längerem ihre Kräfte darauf konzentrierten, für den Gang der Wiedergeburten die lange abgeschirmte Region des asiatischen Feldes zu
öffnen und zu erweitern, und daß sich ihre Anstrengungen
zu verstärken schienen, damit sie für die Erstehung in Geist und Leib auch den Kreis des Abendlandes einbezö
gen. Dieser bisher nur allmählich und vereinzelt sich vollziehende Austausch zwischen asiatischem und euro päischem Daseinsgut ist in einer Reihe von Erscheinungen
wohl erkennbar.«66 Aus weiteren Erklärungen des Meister
Magus, der in Kasacks Roman die höchste Weisheitsin stanz repräsentiert, geht dann hervor, daß der millionen
fache Tod in dieser Maßlosigkeit geschehen mußte, »damit
für die andrängenden Wiedergeburten Platz geschaffen wurde. Eine Unzahl von Menschen wurde vorzeitig abge
rufen, damit sie rechtzeitig als Saat, als apokryphe Neu geburt in einem bisher verschlossenen Lebensraum aufer stehen konnte«.66 Die Wort- und Begriffswahl solcher in
dem Kasackschen Epos nicht seltenen Passagen zeigt mit 60
erschreckender Deutlichkeit, daß die von der inneren
Emigration angeblich kultivierte Geheimsprache'’7 weit gehend identisch war mit dem Code der faschistischen
Gedankenwelt. Es ist für den heutigen Leser schwer mit anzusehen, wie sich Kasack, ganz im Stil seiner Zeit, mit pseudohumanistischen und fernöstlichen Philosophismen
und unter Aufbietung von viel symbolistischem Brimbo rium hinwegsetzt über die unerhörte Realität der kollekti
ven Katastrophe und wie er sich selber, vermittels der gesamten Veranstaltung seines Romans, einreiht in die hö
here Gemeinschaft der rein Geistigen, die in der Stadt hinter dem Strom als Archivare das Gedächtnis der
Menschheit bewahren. Auch Nossack verfällt in Nekyia
der Versuchung, die realen Schrecken der Zeit durch Ab straktionskunst und metaphysischen Schwindel zum Ver schwinden zu bringen. Nekyia ist, genau wie Die Stadt
hinter dem Strom, der Bericht von einer Reise ins Toten
reich, und wie bei Kasack, so gibt es auch hier Lehrer, Mentoren, Meister, Urahnen und Urmütter, sehr viel pa triarchalische Disziplin und sehr viel pränatales Dunkel.
Wir sind also mitten in der pädagogischen deutschen Pro vinz, die von Goethes idealischer Vision über den Stern
des Bundes bis zu Stauffenberg reicht und zu Himmler. Wenn dieses Modell einer vor und über dem Staat wirk
samen, ein geheimes Wissen hütenden Elite trotz seiner restlosen Kompromittierung in der gesellschaftlichen Pra
xis nun noch einmal herangezogen wird, um den aus der
61
totalen Zerstörung mit dem blanken Leben Davongekom menen ein Licht aufzustecken über den präsumptiven
metaphysischen Sinn ihrer Erfahrung, dann zeugt das von einer tiefen, weit über das Bewußtsein des einzelnen
Autors hinausreichenden ideologischen Verbohrtheit, die
auszugleichen war nur durch einen unverwandten Blick auf die Wirklichkeit.
Es ist das unabweisbare Verdienst Nossacks, daß er, trotz seiner fatalen Neigung zur philosophischen Überhö
hung und falschen Transzendenz, als einziger Schriftstel
ler damals den Versuch unternahm, das, was er tatsächlich
gesehen hatte, in möglichst unverbrämter Form niederzu schreiben. Zwar bricht auch in seinem Rechenschafts bericht über den Untergang von Hamburg bisweilen die
Rhetorik der Schicksalshaftigkeit durch, ist die Rede da von, daß das Antlitz des .Menschen geheiligt worden sei zum Durchgang für Ewiges68 und nehmen die Dinge zu letzt eine märchenhaft-allegorische Wendung, aber insge
samt geht es ihm hier doch in erster Linie um die schiere Faktizität, um die Jahreszeit und das Wetter, den Stand punkt des Beobachters, das mahlende Geräusch der sich nähernden Geschwader, den roten Feuerschein am Hori
zont, um den körperlichen und seelischen Zustand der aus der Stadt Geflohenen, um die ausgebrannten Kulissen, die
Schornsteine, die seltsamerweise stehen geblieben sind, die Wäsche, die auf dem Gestell vor dem Küchenfenster
trocknet, um eine zerrissene Gardine, die aus einer leeren 62
Veranda weht, um ein Wohnzimmersofa mit gehäkelter Decke und die ungezählten anderen, für immer verlorenen Sachen und um den Schutt, unter dem sie begraben sind,
um das grauenhafte neue Leben, das sich darunter regt, und die plötzliche Gier der Menschen nach Parfüm. Der moralische Imperativ, daß einer zumindest aufschreiben
muß, was in jener Julinacht in Hamburg geschah, führt zu einem weitgehenden Verzicht auf Kunstübung. In einer leidenschaftslosen Art der Rede wird Bericht erstattet wie »von einem furchtbaren Begebnis aus vorgeschichtlicher Zeit.«69 In diesem bombensicheren Keller ist eine Gruppe von Menschen verschmort, weil die Türen sich verklemmt
hatten und der Kohlenvorrat in den anliegenden Räumen brannte. So ist das gewesen. »Sie waren alle von den heißen
Wänden in die Mitte des Kellers geflohen. Dort fand man sie zusammengedrängt. Sie waren aufgequollen von Hit ze.«7" Der Ton, in dem hier berichtet wird, ist der des
Boten in der Tragödie. Nossack weiß, daß man solche Boten oft hängt. Eingebaut in sein Memorandum zum
Untergang Hamburgs ist die Parabel von einem Men schen, der behauptet, erzählen zu müssen, wie es war, und
der von seinen Zuhörern erschlagen wird, weil er eine tödliche Kälte verbreitet. Ein solch schändliches Schicksal bleibt denen, die einen metaphysischen Sinn aus der Zer
störung retten, in der Regel erspart. Ihr Geschäft ist weniger gefährlich als das der konkreten Erinnerung. In einem Aufsatz, den Elias Canetti dem Tagebuch des
63
Dr. Hachiya aus Hiroshima gewidmet hat, wird auf die
Frage, was das Überleben einer Katastrophe solchen Aus maßes bedeute, zur Antwort gegeben, daß sich das einzig
ablesen lasse an einem Text, der wie die Notate Hachiyas gekennzeichnet sei von Präzision und Verantwortung. »Wenn es einen Sinn hätte, darüber nachzudenken«,
schreibt Canetti, »welche Form von Literatur heute unent
behrlich ist, einem wissenden und sehenden Menschen unentbehrlich ist, so ist es diese.«71 Dasselbe ließe sich
sagen über Nossacks auch innerhalb seines eigenen Werks
singulären Bericht über den Untergang der Stadt Ham burg. Das Ideal des Wahren, das in seiner, über weite Strecken zumindest, gänzlich unprätentiösen Sachlichkeit beschlossen ist, erweist sich angesichts der totalen Zerstö
rung als der einzige legitime Grund für die Fortsetzung der literarischen Arbeit. Umgekehrt ist die Herstellung von ästhetischen oder pseudoästhetischen Effekten aus
den Trümmern einer vernichteten Welt ein Verfahren, mit dem die Literatur sich ihrer Berechtigung entzieht.
Ein schwerlich zu überbietendes Beispiel dafür sind die Seite um Seite sich fortsetzenden Peinlichkeiten in Peter
de Mendelssohns (dankenswerterweise, wie man sagen
möchte) lange unveröffentlicht gebliebenem und auch
nach seinem Erscheinen kaum beachteten Erzählfragment Die Kathedrale. Es beginnt damit, daß Torstenson, der
Held der Geschichte, am Morgen nach einem schweren Luftangriff aus einem verschütteten Keller hervorkommt. 64
»Er schwitzte, der Puls hämmerte gegen seine Schläfen.
Himmelherrgott, dachte er, das ist ja schauderhaft; ich bin kein junger Mann mehr; vor zehn, vor fünf Jahren hätte
mir so etwas nicht das geringste ausgemacht; aber jetzt bin ich einundvierzig, gesund, gut imstande und nahezu un
verletzt, während alle Welt rings um mich tot zu sein scheint, und die Hände zittern mir und die Knie wackeln,
und ich brauche meine ganze Kraft, um mich aus diesem Trümmerhaufen herauszuarbeiten. In der Tat schien je dermann rings um ihn herum tot zu sein; die Stille war
vollständig; er rief ein paar Mal, ob jemand da sei, erhielt
aber keine Antwort aus der Dunkelheit.«72 In diesem zwi
schen grammatischen Entgleisungen und schlechtem Ab
klatsch schlingernden Stil geht es dahin, nicht ohne daß allerlei Schreckliches zitiert wird, gewissermaßen zum Be
weis, daß der Autor nicht zögert, die Wirklichkeit der
Zerstörung in ihren drastischsten Aspekten abzubilden. Freilich bleibt auch dabei eine fatale Neigung zum Melo
dramatischen dominant. Torstenson sieht »den Kopf einer
alten Frau, der schief und verzerrt in einen gebrochenen
Fensterrahmen gezwängt war«73, und fürchtet, seine gena gelten Stiefel könnten im Dunkeln »auf der schwindenden Wärme einer zerquetschten Frauenbrust ausgleiten«73.
Torstenson fürchtet, Torstenson sieht, Torstenson dachte,
hatte das Gefühl, war sich im Zweifel, schätzte, zankte mit sich selbst, war nicht gesonnen - aus dieser egomanischen
Perspektive, die von dem vor sich hin ratternden Roman 65
mechanismus notdürftig aufrechterhalten wird, müssen
wir eine Handlung mitverfolgen, die ihren grandios trivia len Zuschnitt offenbar den Drehbüchern entlehnte, die
Thea von Harbou für Fritz Lang geschrieben hat, genauer gesagt dem Skript für die Megaproduktion Metropolis. Die Überheblichkeit des technischen Menschen ist denn auch eines der Hauptthemen von Mendelssohns Roman. Torstenson hat als junger Architekt
Anklänge an Heinrich
Tessenow und seinen Starschüler Albert Speer sind trotz
des Dementis des Autors nicht von ungefähr - die gigan tische Kathedrale errichtet, die als einziges Bauwerk auf
dem Trümmerfeld noch steht. Die zweite Dimension der
Erzählung ist das Erotische. Torstenson sucht nach Karena, seiner ersten Liebe, der wunderschönen Tochter des
Totengräbers, die nun wahrscheinlich verschüttet liegt un ter den Trümmern. Karena ist, wie Maria in Metropolis,
eine von der herrschenden Macht pervertierte Heilige. Torstenson erinnert sich an die erste Begegnung mit ihr bei dem Buchhändler Kafka, der gerade wie der Schwarz künstler Rotwang in Langs Film seine Wohnung hat in
einem krummen, mit Büchern vollgestopften und mit Falltüren versehenen Haus. An jenem Winterabend, so
entsinnt Torstenson sich, trug Karena eine Kapuze, die von innen zu brennen schien. »Der rote Futterstoff und die
goldenen Haarsträhnen über ihren Wangen hatten sich zu einem Flammenkranz verschmolzen, er rahmte ihr Ge
sicht ein, das still und unberührt blieb und sogar schüch 66
tern zu lächeln schien«74 - eine Art Nachbild zweifellos der heiligen Maria der Katakomben, die später, mutiert zur
Roboterfrau, in den Dienst Fredersens, des Herrn von Metropolis, tritt. Karena begeht einen ähnlichen Verrat,
indem sie sich, als Torstenson ins Exil geht, auf die Seite
des neuen Machthabers Gossensass schlägt. Das Buch sollte, Mendelssohn zufolge, damit enden, daß Torstenson mit einem der zur Beseitigung der Trümmer eingesetzten
Lastkähne auf die See hinausfährt und dort, während das
Geröll in der Tiefe versinkt, die ganze Stadt auf dem Mee resboden sieht, heil und unversehrt, als ein anderes Atlan
tis. »Alles, was oben zerstört ist, steht hier unten unbe schädigt, und alles, was oben noch steht, vor allem die
Kathedrale, fehlt hier unten.«'3 Torstenson steigt über eine
Wassertreppe in die versunkene Stadt hinunter, wird dort
verhaftet und muß sich vor einem Gericht für sein Leben verantworten - auch dies eine phantastische Vision ganz nach dem Geschmack der Thea von Harbou. Die Choreo
graphie der Massen, der Aufmarsch der siegreichen
Heere in der zerstörten Stadt, der Einzug der überleben
den Bevölkerung in die Kathedrale, all dies trägt ebenso das Markenzeichen Lang/Harbou wie die wiederholte Verdichtung der Handlung zu einem gegen jeden litera rischen Anstand verstoßenden Kitsch. Torstenson, dem gleich zu Beginn des Romans ein elternloser Knabe zu
läuft, stößt bald darauf auf ein aus einem Straflager ent
kommenes siebzehnjähriges Mädchen. Wie sie einander 67
auf der Treppe der Kathedrale »im grellen Sonnenlicht«76 zum erstenmal gegenüberstehen, gleiten ihr die Fetzen ihres Kittels von der Schulter, und Torstenson betrachtet
sie, wie es heißt, »mit gelassener Gründlichkeit«. »Sie war ein schmutziges, schmuddeliges, grün und blau geschlage
nes Mädchen mit schwarzem, zottigen Haar, aber in ihrer jungen Schlankheit und Schmiegsamkeit schön wie eine
Göttin aus den Hainen des Altertums.«76 Passenderweise stellt es sich dann heraus, daß das Mädchen Aphrodite Homeriades heißt und (zusätzlicher Frisson) eine griechi sche Jüdin aus Saloniki ist. Torstenson, der sich zunächst selbst mit dem Gedanken trägt, mit dieser seltenen Schön
heit zu schlafen, führt sie schließlich in einer Art Versöh
nungsszene dem deutschen Knaben zu, damit dieser an ihr das Geheimnis des Lebens erlerne, auch das, könnte man meinen, ein Reflex der vor dem Tor einer mächtigen Ka thedrale gedrehten Schlußeinstellungen von Metropolis.
Es ist nicht leicht zusammenzufassen, was alles an Laszi
vität und erzdeutschem Rassenkitsch Mendelssohn (in bester Absicht, wie man annehmen muß) vor dem Leser hier ausbreitet. Jedenfalls markiert die rückhaltlose Fiktionalisierung des Themas der zerstörten Stadt durch Men
delssohn den Gegenpol zu der prosaischen Nüchternheit, um die Nossack in den besten Passagen seines Protokolls Der Untergang sich bemüht. Wo es Nossack gelingt, den von der Operation Gomorrha ausgelösten Schrecknissen mit vorsätzlicher Zurückhaltung sich anzunähern, da
68
überantwortet sich Mendelssohn über mehr als zweihun dert Seiten hinweg blindlings der Kolportage.
Eine ganz anders geartete und doch ähnlich bedenkliche
literarische Verarbeitung der Wirklichkeit der Zerstörung findet sich gegen Ende von Arno Schmidts 1953 erschie nenem Kurzroman Aus dem Leben eines Fauns. Wenn es
schon etwas unfein ist, mit dem Finger auf die Verfehlun gen von Schriftstellern zu verweisen, die später hochver
diente Akademiepräsidenten geworden sind, so scheut
man sich beinahe noch mehr, den Ruf des kompromiß losen Bargfelder Wortkünstlers anzutasten. Nichtsdesto
weniger glaube ich ein Fragezeichen setzen zu dürfen hinter den dynamischen Sprachaktionismus, mit dem
Schmidt hier das Schauspiel eines Luftangriffs inszeniert. Gewiß ist es die Intention des Autors, den Strudel der Zerstörung in der aus den Angeln gehobenen Sprache ir gendwie sinnfällig werden zu lassen, doch sehe zumindest
ich, wenn ich einen Abschnitt wie den folgenden lese, nir
gends das, worum es angeblich geht: das Leben in dem
furchtbaren Augenblick seiner Desintegration. »Ein ver grabener Spiritustank rüttelte sich frei, rollte sich auf wie
Marienglas auf heißer Hand, und zerging in einen Halemaumau (aus dem Feuerbäche gossen: ein Polizist gebot
bestürzt dem rechten davon Einhalt und verdampfte im Dienst). Eine fette Wolkige richtete sich am Magazin auf,
blähte den Kugelbauch und rülpste einen Tortenkopf hoch,
lachte kehlig: o wat!, und knotete kollernd Arme und Beine 69
durcheinander, wandte sich steatopyg her, und fortzte
ganze Garben von heißen Eisenrohren aus, endlos, die Könnerin, daß die Sträucher dabei knixten und plapper
ten.«77 Ich sehe nichts von dem, was da beschrieben wird, sondern sehe immer nur den Autor, eifrig und verbissen
zugleich, über seiner linguistischen Laubsägearbeit. Es ist
bezeichnend für den Hobbybastler, daß er nach einem ein mal entwickelten Verfahren immer wieder das gleiche produziert, und so bleibt auch Schmidt, selbst in diesem
äußersten Fall, unbeirrt bei seinen Leisten: kaleidoskopar tige Auflösung der Konturen, anthropomorphe Vision der Natur, das Marienglas aus dem Zettelkasten, die eine oder
andere lexikalische Rarität, Groteskerien und Metaphori sches, Humoristisches und Lautmalerei, Ordinäres und
Erlesenes, Brachiales, Brisantes und Bruitistisches. Ich
glaube nicht, daß meine Abneigung gegen den demonstra tiven Avantgardismus der Schmidtschen Etüde über die
Stunde der Zerstörung einer grundsätzlich form- und
sprachkonservativen Einstellung entstammt, denn im Ge gensatz zu dieser Fingerübung leuchten mir die diskon
tinuierlichen Notizen, die sich Jäcki in Hubert Fichtes Roman Detlevs Imitationen >Grünspan< im Verlauf seiner
Recherchen über den Angriff auf Hamburg macht, als
literarische Methode durchaus ein, wahrscheinlich vor
allem deshalb, weil sie keinen abstrakt-imaginären, son dern einen konkret-dokumentarischen Charakter haben. Im Dokumentarischen, das in Nossacks Der Untergang
70
einen frühen Vorläufer hat, kommt die deutsche Nach kriegsliteratur eigentlich erst zu sich und beginnt mit ihren
ernsthaften Studien zu einem der tradierten Ästhetik in
kommensurablen Material. Man schreibt 1968, das Jahr, in dem sich der Angriff auf Hamburg zum 25. Mal jährt.
Jäcki findet in der medizinischen Bibliothek Eppendorf ein
1948 erschienenes Bändchen aus dicken, quittengelben
Vorwährungsreformblättern. Der Titel: Ergebnisse patholo gisch-anatomischer Untersuchungen anläßlich der Angriffe
auf Hamburg in den Jahren 1943-1945. Mit dreißig Abbil dungen und elf Tafeln. Im Park - »Kühler Wind um Flieder. Im Hintergrund die Klappe, Tasse, Pißbude, um die nachts Alstertunten schwärmen« - blättert Jäcki in dem
Leihbuch: »b. Die Autopsie der Schrumpfleiche. Zur Ver arbeitung lagen somit Hitzeschrumpfleichen mit den Be
gleiterscheinungen mehr oder weniger fortgeschrittener Fäulnis vor. Bei diesen Schrumpfleichen konnte von einer
Sektion mit Messer und Schere keine Rede sein. Als erstes waren die Kleider zu entfernen, was bei der außergewöhn
lichen Starre der Körper in der Regel nur durch Zer schneiden oder Zerfetzen und unter Beschädigung einzel
ner Körperteile zu bewerkstelligen war. Köpfe oder
Extremitäten konnten je nach der Trockenheit der Ge lenkverbindungen vielfach mühelos abgebrochen werden,
wofern sie überhaupt noch im Laufe der Bergung und des Transportes den Zusammenhang mit dem Körper bewahrt
hatten. Insoweit die Körperhöhlen nicht schon durch Zer
71
Störung der Decken frei vorlagen, bedurfte es der Kno chenschere oder der Säge, um die erhärtete Haut zu
durchtrennen. Verfestigung und Schrumpfung der inne ren Organe verhinderten Messerschnitte; vielfach konnten die einzelnen Organe, besonders die Brustorgane auch mit
anhängender Trachea, Aorta und Karotiden, mit Zwerch fell, Leber und Nieren als Ganzes herausgebrochen wer den. Organe, die sich in fortgeschrittener Autolyse befan
den oder durch die Hitzewirkung vollkommen durch
härtet waren, waren mit dem Messer meist schwer zu durchtrennen; faulende, weich-feste, lehmartige, schmie rige oder zundrig-bröckelige Gewebsmassen oder Organ
rückstände wurden zerbrochen, zerrissen, zerkrümelt oder
zerpflückt.«7’1 Hier, in der fachmännischen Beschreibung der nochmaligen Zerstörung eines durch den Feuersturm
mumifizierten Leibes, wird eine Wirklichkeit sichtbar, von der Schmidts linguistischer Radikalismus nichts weiß.
Was seine Kunstsprache verbirgt, das starrt uns entgegen
aus der Sprache der Verwalter des Grauens, die unbeirrt und ohne viel Skrupel bei ihrer Sache sind, vielleicht weil sie, wie Jäcki vermutet, ein paar Blumentöpfe gewinnen
wollen am Rande der Katastrophe. Das von einem gewis
sen Dr. Siegfried Gräff im Dienst der Wissenschaft er stellte Dokument eröffnet die Aussicht in den Abgrund
der gegen alles gewappneten Seele. Der Aufklärungswert
solcher authentischen Fundstücke, vor denen jede Fiktion verblaßt, bestimmt auch die archäologische Arbeit Alex
72
ander Kluges auf den Abraumhalden unserer kollektiven
Existenz. Sein Text über den Luftangriff auf Halberstadt setzt ein an dem Punkt, da der seit Jahren bewährte Pro grammablauf des »Capitols«, in dem an diesem 8. April der F ilm Heimkehr mit Paula Wessely und Attila Hörbiger ge-
,ULA WESSELY . PETER PETERSEN . ATT1I A HÖRBIGER
Ruth Hellberg, Berta Drews, Elsa Wagner, Gerhild Weber Carl Raddatz, Werner Fütterer, Otto Wernicke «adTOnfryflE
Drchbud»; Gerhard Menzel • Musik: Willy Schmidt-Gentner
Herstellungsgruppe: Erich von Neusser /rw SPIELLEITUNG: GUSTAV UCICKY V E(n Gustav Ucicky-Film der Wien-Film im Verleih der Ufa '''''
73
zeigt werden soll, durchbrochen wird von dem übergeord
neten Programm der Zerstörung, und Frau Schrader, die erfahrene Kino-Fachkraft, versucht, die Trümmer bis zum
Beginn der 14-Uhr-Vorstellung beiseite zu räumen. Das Quasi-Humoristische dieser Passage, auf die ich vorher
schon einmal verwies, ergibt sich aus der extremen Dis
krepanz zwischen den aktiven und passiven Aktionsfel
dern der Katastrophe beziehungsweise aus der Unange messenheit der reflexartigen Reaktionen Frau Schraders,
für die »die Verwüstung der rechten Seite des Theaters . . . in keinem sinnvollen oder dramaturgischen Zusammen
hang mit dem vorgeführten Film«79 stand. Ähnlich irra
tional scheint der Einsatz einer Kompanie Soldaten, die
angewiesen sind, »100 zum Teil übel zugerichtete Leichen, teils aus dem Erdreich, teils aus erkennbaren Vertiefun gen«80 auszugraben und zu sortieren, ohne daß ihnen klar wäre, welchen Zweck »dieser Arbeitsgang« unter den herr
schenden Verhältnissen verfolgt. Der unbekannte Foto graf, der von einer Militärstreife gestellt wird und behaup tet, »er habe die brennende Stadt, seine Heimatstadt in
ihrem Unglück, festhalten wollen«81, orientiert sich wie
Frau Schrader an dem, was sein beruflicher Instinkt ihm eingibt, und seine Intention, auch das Ende noch zu do
kumentieren, wirkt nur deshalb nicht absurd, weil seine Bilder, die Kluge dem Text beigegeben hat, auf uns ge
kommen sind, was nach der ihm damals möglichen Vor aussicht kaum zu erwarten war. Die Turmbeobachterin74
ncn, Frau Arnold und Frau Zacke, mit Klappstühlen,
Taschenlampen, Thermosflaschen, Brotpaketen, Fernglä sern und Sprechfunkgeräten versehen, machen schulmä
ßig noch ihre Meldung, selbst als der Turm unter ihnen sich schon zu bewegen scheint und die Holzverschalung zu
brennen beginnt. Frau Arnold beendet ihr Leben unter einem Schuttberg, auf dem eine Glocke steht, während Frau Zacke mit gebrochenem Oberschenkel stundenlang
liegt, bis sie von Fliehenden aus den Häusern am Martini plan gerettet wird. Eine Hochzeitsgesellschaft in der Gast
wirtschaft >Zum Roß< ist schon zwölf Minuten nach Vollalarm mitsamt ihren sozialen Differenzen und Animo sitäten - der Bräutigam stammte aus besitzender Familie
in Köln, die Braut, Halberstädterin, aus den niedrigeren
Schichten - begraben. Diese und zahlreiche andere den
Text konstituierende Geschichten zeigen, wie die betrof
fenen Individuen und Gruppen mitten in der Katastrophe noch außerstande sind, den tatsächlichen Grad der Bedro
hung zu taxieren und von dem ihnen vorgeschriebenen
Rollenverhalten abzuweichen. Da in der sich beschleuni
genden Entwicklung der Katastrophe, wie Kluge betont, die Normalzeit und »die sinnliche Verarbeitung der Zeit«*2
auseinanderstreben, wäre es den Halberstädtern, so Klu ge, erst »mit den Gehirnen von morgen« möglich gewesen,
»praktikable Notmaßnahmen zu ersinnen«.*2 Dies jedoch
heißt für Kluge nicht, daß, umgekehrt, auch jede retro spektive Untersuchung der Geschichte solcher Katastro
75
phen vergebens wäre. Der Lernprozeß, der sich im nachhinein vollzieht, ist vielmehr
und das ist die raison
d’etre von Kluges dreißig Jahre nach dem Ereignis zusam
mengesetztem Text
die einzige Möglichkeit, die in den
Menschen sich regenden Wunschvorstellungen umzubie gen auf die Antizipation einer Zukunft, die nicht schon
von der aus verdrängter Erfahrung resultierenden Angst besetzt wäre. Dergleichen schwebt der Volksschullehrerin
Gerda Baethe vor, die in Kluges Text auftritt. Freilich hätten, so merkt der Autor an, zur Realisierung einer »Strategie von unten«, wie sie Gerda im Sinn hat, »seit 1918
siebzigtausend entschlossene Lehrer, alle wie sie, in jedem
der am Krieg beteiligten Länder, je zwanzig Jahre, hart unterrichten müssen«/3 Die Perspektive, die sich hier für einen unter Umständen möglichen, anderen Ablauf der
Geschichte auftut, versteht sich, ihrer ironischen Einfär bung zum Trotz, als ernstgemeinter Appell für eine, gegen
alle Wahrscheinlichkeitsrechnung, zu erarbeitende Zu
kunft. Gerade Kluges detaillierte Beschreibung der gesell schaftlichen Organisation des Unglücks, die programmiert
wird von den beständig mitgeschleppten und beständig sich potenzierenden Fehlleistungen der Geschichte, bein
haltet die Konjektur, daß ein richtiges Verständnis der von uns in einem fort inszenierten Katastrophen die erste Vor aussetzung darstellt für dje gesellschaftliche Organisation
des Glücks. Kaum von der Hand zu weisen ist anderer
seits, daß die planmäßige Form der Zerstörung, die Kluge 76
herleitet aus der Entwicklung der industriellen Produk
tionsverhältnisse, das Prinzip Hoffnung kaum mehr zu
rechtfertigen scheint. Die Herausbildung der Strategie des Luftkriegs in ihrer ungeheuren Komplexität,die Professio
nalisierung der Bomberbesatzungen »in geschulte Beamte des Luftkriegs«84, die Bewältigung des psychologischen Problems, wie das Interesse der Besatzungen an ihrer Auf gabe trotz der Abstraktheit ihrer Funktion wachzuhalten sei, die Frage, wie der ordentliche Ablauf eines Opera
tionszyklus, in dem »200 mittlere Industrieanlagen«85 auf eine Stadt zufliegen, gewährleistet werden kann, wie es technisch zu machen ist, daß die Wirkung der Bomben zu
Flächenbränden und Feuerstürmen sich auswächst, all
diese Aspekte, die Kluge vom Standpunkt der Organi
satoren her anvisiert, lassen erkennen, daß ein derartiges Quantum an Intelligenz, Kapital und Arbeitskraft in die Planung der Zerstörung eingebracht wurde, daß diese sich unter dem Druck des akkumulierten Potentials schließlich
vollziehen mußte. Ein Beleg für die Irreversibilität solcher
Entwicklung findet sich in einem auf das Jahr 1952 datier ten Interview zwischen dem Halberstädter Reporter Kun-
zert und Brigadier Frederick L. Anderson von der achten
US-Luftflotte, das Kluge in seinen Text interpoliert hat und in dem Anderson vom militärischen Standpunkt aus
auf die Frage eingeht, ob nicht das rechtzeitige Hissen einer aus sechs Bettlaken gefertigten weißen Fahne über
den Martinitürmen den Angriff auf die Stadt hätte abwen
77
den können. Andersons Erklärungen gipfeln in einer Aus
sage, in der die notorische irrationale Spitze aller ratio
nalistischen Argumentation sichtbar wird. Er verweist darauf, daß es sich bei den mitgeführten Bomben letztlich um »teure Ware« handelt. »Man kann das praktisch auch nicht auf die Berge oder das freie Feld hinschmeißen, nachdem es mit viel Arbeitskraft zu Hause hergestellt
ist.«X(’ Die Konsequenz der übergeordneten Produktions zwänge, denen sich - selbst bei bestem Willen - weder verantwortliche einzelne noch Gruppen zu entziehen ver mögen, ist die ruinierte Stadt, wie sie auf einem von Kluge
dem Text beigegebenen Foto vor uns sich ausbreitet. Un
terschrieben ist das Bild mit folgendem Marx-Zitat: »Man sieht, wie die Geschichtexler Industrie und das gewordene gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen BemußtseinskräJ'te, die sinnlich vor
78
liegende menschliche Psychologie ist. . .«(Kluges Hervor hebungen),87 Die Geschichte der Industrie als das offene
Buch des menschlichen Denkens und Fühlens - läßt die materialistische Erkenntnistheorie oder irgendeine Er
kenntnistheorie überhaupt sich aufrechterhalten ange
sichts solcher Zerstörung, oder ist nicht diese vielmehr das unwiderlegbare Exempel dafür, daß die gewissermaßen unter unserer Hand sich entwickelnden und dann anschei
nend unvermittelt ausbrechenden Katastrophen in einer
Art Experiment den Punkt vorwegnehmen, an dem wir aus unserer, wie wir so lange meinten, autonomen Geschichte zurücksinken in die Geschichte der Natur? »(Die Sonne
>lastet< über der »Stadt«, da ja kaum Schatten ist.) Über den zugeschütteten Grundstücken und den durch die Trüm-
merwelt verwischten Straßenzügen ziehen sich nach eini gen Tagen Trampelpfade, die auf legere Weise an frühere Wegverbindungen anknüpfen. Auffällig ist die Stille, die
über der Trümmerstätte liegt. Die Ereignislosigkeit trügt insofern, als in den Kellern Brände noch leben, die sich von Kohlenkeller zu Kohlenkeller unterirdisch dahinzie hen. Viel Krabbelgetier. Einige Zonen der Stadt stinken.
Es sind Leichensucher-Gruppen tätig. Ein strenger, >stil-
ler< Geruch nach Verbranntem liegt über der Stadt, der nach einigen Tagen »vertraut« empfunden wird.«87 Kluge blickt hier im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn von
einer übergeordneten Warte hinab auf das Feld der Zer störung. Die ironische Verwunderung, mit der er die
79
Tatsachen registriert, erlaubt ihm die Einhaltung der für
jede Erkenntnis unabdingbaren Distanz. Und doch rührt sich sogar in ihm, diesem aufgeklärtesten aller Schriftstel
ler, der Verdacht, daß wir aus dem von uns angerichteten
Unglück nichts zu lernen vermögen, sondern, unbelehr bar, immer nur fortmachen auf Trampelpfaden, die auf
legere Weise an die alten Wegverbindungen anknüpfen.
Kluges Blick auf seine zerstörte Heimatstadt ist darum, aller intellektuellen Unentwegtheit zum Trotz, auch der
entsetzensstarre des Engels der Geschichte, von dem Wal ter Benjamin gesagt hat, daß er mit seinen aufgerissenen
Augen »eine einzige Katastrophe [sieht], die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße
schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln ver fangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr
schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in
die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trüm merhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den
Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«88
80
III Die von den Züricher Vorlesungen ausgelösten Reaktionen
verlangen noch nach einer Nachschrift. Was ich in Zürich vortrug, war von mir selber nur gedacht gewesen als eine
unfertige Sammlung diverser Beobachtungen, Materialien
und Thesen, von der ich vermutete, daß sie in vielem der Ergänzung und Korrektur bedürfte. Insbesondere glaubte
ich, daß meine Behauptung, die Zerstörung der deutschen
Städte in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs habe im Bewußtsein der neu sich formierenden Nation keinen Platz gefunden, widerlegt werden würde durch Verweise auf
Exempel, die mir entgangen waren. Nun ist es aber so nicht gekommen. Vielmehr hat alles, was mir in Dutzenden von Zuschriften übermittelt wurde, mich in meiner Auffassung
bestätigt, daß sich die Nachgeborenen, wenn sie sich einzig
auf die Zeugenschaft der Schriftsteller verlassen wollten, kaum ein Bild machen könnten vom Verlauf, von den Aus maßen, von der Natur und den Folgen der durch den
Bombenkrieg über Deutschland gebrachten Katastrophe. 81
Gewiß gibt es den einen oder anderen einschlägigen Text, doch steht das wenige uns in der Literatur Überlieferte
sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in
keinem Verhältnis zu den extremen kollektiven Erfahrun gen jener Zeit. Die damals, wie man meinen müßte, wahr
haftig nicht zu übersehende und die Physiognomie Deutschlands bis heute bestimmende Tatsache der Zerstö
rung fast all seiner größeren und zahlreicher kleineren
Städte konstituierte sich in den nach 1945 entstandenen Werken als ein Sich-Ausschweigen, als eine Absenz, die
auch für andere Diskursbereiche vom Familiengespräch bis hin zur Geschichtsschreibung bezeichnend ist. Es er scheint mir bemerkenswert, daß die Zunft der deutschen
Historiker, die ja bekanntlich zu den fleißigsten gehört, zu
diesem Thema, soweit ich sehe, bisher keine umfassende oder auch nur grundlegende Studie hervorgebracht hat. Einzig der Militärhistoriker Jörg Friedrich hat sich im 8.
Kapitel seiner Arbeit Das Gesetz des Krieges™ genauer mit
der Evolution und den Konsequenzen der Zerstörungs strategie der Alliierten befaßt. Bezeichnenderweise jedoch
ist diesen Ausführungen bei weitem nicht das Interesse zuteil geworden, das sie verdient hätten. Das für mich im
Laufe der Jahre stets deutlicher werdende, skandalöse De fizit erinnerte mich daran, daß ich aufgewachsen war mit
dem Gefühl, es würde mir etwas vorenthalten, zu Hause, in der Schule und auch von den deutschen Schriftstellern, deren Bücher ich in der Hoffnung las, mehr über die ün-
82
geheuerlichkeiten im Hintergrund meines eigenen Lebens erfahren zu können.
Ich habe meine Kindheit und Jugend in einer von den unmittelbaren Auswirkungen der sogenannten Kampf
handlungen weitgehend verschonten Gegend am Nord
rand der Alpen verbracht. Bei Kriegsende war ich gerade ein Jahr alt und kann also schwerlich auf realen Ereignis
sen beruhende Eindrücke aus jener Zeit der Zerstörung bewahrt haben. Dennoch ist es mir bis heute, wenn ich
Photographien oder dokumentarische Filme aus dem Krieg sehe, als stammte ich, sozusagen, von ihm ab und als
fiele von dorther, von diesen von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herauskommen werde. In einem Festbuch über die
Geschichte des Marktfleckens Sonthofen, das 1963 aus Anlaß der Stadterhebung vorgelegt wurde, heißt es: »Viel hat uns der Krieg genommen, doch uns blieb, unberührt
und blühend wie eh und je, unsere herrliche Heimatland schaft.«90 Lese ich diesen Satz, so verschwimmen vor
meinen Augen Bilder von Feldwegen, Flußauen und
Bergwiesen mit den Bildern der Zerstörung, und es sind die letzteren, perverserweise, und nicht die ganz irreal
gewordenen frühkindlichen Idyllen, die so etwas wie ein
Heimatgefühl in mir heraufrufen, vielleicht weil sie die mächtigere, übergeordnete Wirklichkeit meiner ersten Le bensjahre repräsentieren. Heute weiß ich, daß damals, als
ich auf dem Altan des Seefelderhauses in dem sogenannten
83
Stubenwagen lag und hinaufblinzelte in den weißblauen
Himmel, überall in Europa Rauchschwaden in der Luft hingen, über den Rückzugsschlachten im Osten und im
Westen, über den Ruinen der deutschen Städte und über
den Lagern, in denen man die Ungezählten verbrannte aus
Berlin und aus Frankfurt, aus Wuppertal und aus Wien, 84
aus Würzburg und Kissingen, aus Hilversum und Den
Haag, Naumur und Thionville, Lyon und Bordeaux, Kra
kau und Lodz, Szeged und Sarajevo, Saloniki und Rhodos,
Ferrara und Venedig - kaum ein Ort in Europa, aus dem in diesen Jahren niemand deportiert worden wäre in denTod.
Sogar in den entlegensten Dörfern auf der Insel Korsika habe ich Gedenktafeln gesehen, auf denen zu lesen steht
>morte ä Auschwitz« oder >tue par les Allemands, Flossen
burg 1944«. Was ich übrigens in Korsika, in der mit verstaubtem Pseudobarock überladenen Kirche von Morosaglia, auch noch gesehen habe - diese Abschweifung sei
erlaubt -, war das Schlafzimmerbild meiner Eltern, einen
Öldruck, Christus darstellend in nazarenerhafter Schön heit, wie er vor Antritt seiner Passion im nachtblauen, vom
Mond beschienenen Garten von Gethsemane sitzt in tiefer
85
Versonnenheit. Viele Jahre hindurch war dieses Bild über dem Ehebett der Eltern gehangen, und irgendwann war es
dann abhanden gekommen, wahrscheinlich als eine neue Schlafzimmergarnitur angeschafft wurde. Und jetzt stand es, oder zumindest genau das gleiche, hier in der Dorfkir che von Morosaglia, dem Heimatort des Generals Paoli, in
einer finsteren Ecke an den Sockel eines Seitenaltars ge lehnt. Meine Eltern erzählten mir, sie hätten es 1936, kurz
vor ihrer Hochzeit, gekauft in Bamberg, wo der Vater Schirrmeister im selben Kavallerieregiment war, in dem
zehn Jahre zuvor der junge Stauffenberg seine militärische
Laufbahn angetreten hatte. Solcher Art sind die Abgründe der Geschichte. Alles liegt in ihnen durcheinander, und
wenn man in sie hinabschaut, so graust und schwindelt es einen.
Ich habe in einer meiner Erzählungen beschrieben, daß mir, als ich mit meinen Eltern und Geschwistern 1952 von
meinem Geburtsort Wertach in das 19 Kilometer entfernte
Sonthofen umgezogen bin, nichts so vielversprechend schien wie die Tatsache, daß dort die Häuserzeilen hier
und da von Ruinengrundstücken unterbrochen waren, denn kaum etwas, so heißt es an der fraglichen Stelle, war
für mich, seit ich einmal in München gewesen war, so eindeutig mit dem Wort Stadt verbunden wie Schutthal
den, Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man die leere Luft sehen konnte. Daß auf den an sich vollkommen unbedeutenden Marktflecken Sonthofen am 22. Februar
86
und am 29. April 1945 noch Bomben geworfen wurden,
halte seinen Grund wahrscheinlich darin, daß es dort zwei große Kasernen für die Gebirgsjäger und die Artillerie gab
und außerdem die sogenannte Ordensburg, eine der drei Eliteschulen für die Heranziehung der Führungskader,
die gleich nach der Machtübernahme eingerichtet worden waren. Was den Luftangriff auf Sonthofen betrifft, so ent
sinne ich mich, im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren den Benefiziaten, der auf dem Oberstdorfer Gym nasium Religionsunterricht erteilte, gefragt zu haben, w ie
87
es sich mit unseren Vorstellungen von der göttlichen Vor
sehung vereinbaren lasse, daß bei diesem Angriff weder die Kasernen noch die Hitler-Burg, sondern, sozusagen an
ihrer statt, die Pfarrkirche und die Spitalskirche zerstört worden sind, kann mich jedoch nicht mehr an die Antwort
erinnern, die ich damals erhielt. Fest stand nur, daß durch die Angriffe auf Sonthofen zu den zirka fünfhundert im
Krieg Gefallenen und Vermißten noch an die hundert Zi
vilopfer hinzugekommen waren, unter ihnen, so habe ich mir einmal notiert, Elisabeth Zobel, Regina Salvermooser,
Carlo Moltrasia, Konstantin Sohnczak, Seraphine Bu chenberger, Cäzilie Fügenschuh und Viktoria Stürmer,
eine Klosterfrau im Altenspital, die mit ihrem Ordensna men Mater Sebalda hieß. Von den in Sonthofen zerstörten
und bis in die frühen sechzigerJahre nicht wieder instand
gesetzten Gebäuden sind mir vor allem zwei erinnerlich. Das eine war der bis 1945 mitten im Ort gelegene Sack
bahnhof, dessen Haupttrakt das Allgäuer Elektrizitäts
werk als Lagerhalle für Kabelrollen, Telegraphenstangen
und ähnliches benutzte, während in dem weitgehend un beschädigten Anbau der Musiklehrer Gogl allabendlich
einigen seiner Schüler Stunden gab. Besonders im Winter war es seltsam zu sehen, wie da in dem einzigen erleuch teten Raum dieses ruinierten Hauses die Schüler mit den
Bögen über ihre Bratschen und Celli scharrten, als säßen
sie auf einem in die Finsternis davontreibenden Floß. Die
andere mir gegenwärtig gebliebene Ruine war das soge 88
nannte Herzschloß bei der protestantischen Kirche, eine Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende, von der nichts
mehr übrig war als der gußeiserne Gartenzaun und das Kellergeschoß. Das Grundstück, auf dem ein paar schöne Bäume die Katastrophe überstanden hatten, war in den
fünfziger Jahren bereits völlig zugewachsen, und wir sind
als Kinder oft nachmittagelang in dieser durch den Krieg mitten im Ort entstandenen Wildnis gewesen. Ich entsinne
mich, daß es mir nie recht geheuer war, über die Treppe in die Kellerräume hinabzusteigen. Es roch dort faulig und
feucht, und ich fürchtete immer, auf einen Tierkadaver zu
stoßen oder auf eine Menschenleiche. Ein paar Jahre spä ter ist auf dem Grundstück des Herz-Schlosses dann ein Selbstbedienungsladen eröffnet worden, in einem eben
erdigen, fensterlosen, scheußlichen Bau, und der einst
mals schöne Garten der Villa verschwand endgültig unter einem geteerten Parkplatz. Das ist, auf den niedrigsten
Nenner gebracht, das Hauptkapitel in der Geschichte der deutschen Nachkriegszeit. Als ich Ende der sechziger Jahre zum erstenmal von England aus nach Sonthofen ge fahren bin, sah ich dort mit Schaudern das auf die Außen
wand des Selbstbedienungsladens (zu Reklamezwecken, anscheinend) gemalte Viktualienfresko. Es maß ungefähr
sechs mal zwei Meter und stellte in blutigen bis rosaroten Farben eine enorme Aufschnittplatte dar, wie sie damals
auf jeden ordentlichen Abendbrottisch gehörte. Doch muß ich nicht unbedingt nach Deutschland, an
89
den Ort meiner Herkunft zurück, wenn ich mir die Zeit der Zerstörung vergegenwärtigen will. Sie wird mir auch da, wo ich heute lebe, oft in Erinnerung gerufen. Ein
Großteil der mehr als siebzig Flugfelder, von denen aus die Vernichtungskampagne nach Deutschland getragen
wurde, befand sich in der Grafschaft Norfolk. Etwa zehn
davon sind nach wie vor militärische Installationen. Ein paar weitere sind in der Hand von Flugvereinen. Die
allermeisten jedoch sind nach dem Krieg aufgelassen
worden. Über die Rollbahnen ist Gras gewachsen, die Kontrolltürme, Bunker und Wellblechhütten stehen halb verfallen in der oft etwas gespenstisch wirkenden Land
schaft. Man spürt dort die toten Seelen derer, die von ihrer Mission nicht zurückkehrten oder in den riesigen Feuern zugrunde gegangen sind. Unmittelbar in meiner Nachbar
schaft liegt das Flugfeld von Seething. Ich gehe dort manchmal mit meinem Hund spazieren und denke dar
über nach, wie es war, als in den Jahren 1944 und 1945 die Maschinen mit ihrer schweren Fracht hier abhoben und
hinausflogen über das Meer mit Kurs auf Deutschland. Bereits zwei Jahre vor diesen Exkursionen ist bei einem Angriff auf Norwich eine Dornier der Luftwaffe ab gestürzt auf einen Acker unweit von meinem Haus. Eines
der vier Besatzungsmitglieder, die dabei ums Leben kamen, ein Oberleutnant Bollert, hatte denselben Ge
burtstag wie ich und war vom gleichen Jahrgang wie mein Vater. 90
>3>rVJ vöLTT
x^ fr
flA" -AUA'
^£12
Soweit die wenigen Punkte, an denen sich mein Lebens lauf mit der Geschichte des Luftkriegs überschneidet. An
sich völlig bedeutungslos, sind sie mir dennoch nicht aus dem Kopf gegangen und haben mich schließlich veranlaßt,
der Frage, weshalb die deutschen Schriftsteller die von Millionen erlebte Zerstörung der deutschen Städte nicht beschreiben wollten oder konnten, wenigstens ein Stück
weit nachzugehen. Ich bin mir durchaus bewußt, daß meine unsystematischen Notizen der Komplexität des Ge
genstands nicht gerecht werden, glaube aber, daß sie selbst in ihrer mangelhaften Form gewisse Einblicke in die Art eröffnen, in welcher das individuelle, das kollektive und
das kulturelle Gedächtnis mit Erfahrungen umgehen, die 91
die Belastungsgrenze durchbrechen. Auch scheint es mir
aufgrund der mir inzwischen zugegangenen Post, als hät ten meine versuchsweisen Ausführungen im seelischen
Haushalt der deutschen Nation eine empfindliche Stelle getroffen. Gleich nachdem die Schweizer Zeitungen über
die Züricher Vorlesungen berichtet hatten, kamen zahlrei che Anfragen von Presse-, Radio- und Fernsehredaktionen
in Deutschland. Man wollte wissen, ob man das, was ich vorgetragen hatte, auszugsweise abdrucken könne bezie
hungsweise ob ich bereit wäre, mich in Interviews weiter
zu dieser Sache zu äußern. Auch Privatpersonen schrieben
an mich mit der Bitte, in den Züricher Text Einblick neh
men zu dürfen. Einige dieser Ansuchen waren von dem
Bedürfnis motiviert, die Deutschen endlich einmal als Op fer dargestellt zu sehen. In anderen Zuschriften hieß es,
mit Hinweisen etwa auf Erich Kästners Dresden-Repor
tage aus dem Jahr 1946, auf lokalhistorische Material
sammlungen oder akademische Recherchen, meine These beruhe auf mangelnder Informiertheit. Eine emeritierte
Professorin aus Greifswald, die den Bericht in der Neuen Zürcher Zeitung gelesen hatte, führte Klage darüber, daß Deutschland nach wie vor zweigeteilt sei. Meine Behaup tungen, so schrieb sie, seien ein Beleg mehr dafür, daß man im Westen von der anderen deutschen Kultur nichts wisse
und nichts wissen wolle. Tn der ehemaligen DDR nämlich
sei das Thema des Luftkriegs durchaus nicht umgangen
worden und habe man alljährlich des Angriffs auf Dresden 92
gedacht. Von der Instrumentalisierung des Untergangs die ser Stadt in der offiziellen Rhetorik des ostdeutschen Staats, von der Günter Jäckel in seinem in den Dresdner Heften
erschienenen Aufsatz über den 13. Februar 1945 spricht91, schien die Dame in Greifswald keine Vorstellung zu haben.
Aus Hamburg schrieb mir Dr. Hans Joachim Schröder und schickte mir von seiner 1992 bei Niemeyer verlegten tausendseitigen Studie Die gestohlenen Jahre - Erzählge
schichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschafissoldaten das
dem Untergang Hamburgs gewidmete siebte Kapitel, aus dem, so Dr. Schröder, hervorgehe, daß die kollektive Er
innerung der Deutschen an den Luftkrieg nicht ganz so tot sei, wie ich annähme. Es liegt mir fern zu bezweifeln,
daß in den Köpfen der Zeitzeugen vieles aufbewahrt ist, was sich in Interviews zutage fördern läßt. Andererseits
aber bleibt es erstaunlich, in welch stereotypen Bahnen das, was zu Protokoll gegeben wird, zumeist verläuft.
Eines der zentralen Probleme sogenannter Erlebnisberich te ist das ihres inhärenten Ungenügens, ihrer notorischen
Unzuverlässigkeit und eigenartigen Leere, ihrer Neigung
zum Vorgeprägten, zur Wiederholung des Immergleichen. Dr. Schröders Untersuchungen lassen die Psychologie der
Erinnerung traumatischer Erlebnisse weitgehend außer
acht. Er kann darum auch das äußerst sinistre Memoran dum des (realen) Schrumpfleichenanatomen Dr. Siegfried Gräff, das in Hubert Fichtes Roman Detlevs Imitationen
93
>Grünspan< eine wichtige Rolle spielt, als ein Dokument unter andern behandeln, immun, wie es scheint, gegen den
in diesem Schriftstück geradezu exemplarisch sich verkör pernden Zynismus der Fachleute des Schreckens. Wie
gesagt, ich bezweifle nicht, daß es Erinnerungen an die
Nächte der Zerstörung gab und gibt; ich traue nur nicht
der Form, in der sie sich, auch literarisch, artikulierten,
und ich glaube nicht, daß sie in dem sich konstituierenden öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik in irgend einem anderen Sinn als dem des Wiederaufbaus ein nen nenswerter Faktor gewesen sind.
In einem Leserbrief zu dem im Spiegel erschienenen Artikel Volker Hages über die Züricher Vorlesungen macht Dr. Joachim Schultz von der Universität Bayreuth darauf
aufmerksam, daß er in den zwischen 1945 und 1960 ge schriebenen Jugendbüchern, die er mit seinen Studenten
untersucht habe, auf mehr oder weniger ausführliche Er
innerungen an die Bombennächte gestoßen sei und daß darum meine Diagnose allenfalls für die >Höhengratlitera-
tur< stimme. Ich habe diese Bücher nicht gelesen, kann mir
aber kaum denken, daß in einem eigens ad usurn delphini angelegten Genre das rechte Maß für die Beschreibung
der deutschen Katastrophe gefunden wurde. In den mei sten Zuschriften, die ich erhielt, ging es um die Beförde rung irgendeines partikularen Interesses. Selten freilich
geschah das in so unumwundener Manier wie im Fall eines
Oberstudienrats aus einer westdeutschen Stadt, der meine 94
in der Frankfurter Rundschau abgedruckte Kölner Rede zum Anlaß nahm, mir eine lange Epistel zu schreiben. Das
Thema des Luftkriegs, zu dem ich auch in Köln einiges sagte, interessierte Herrn K., der namenlos bleiben soll,
nur wenig. Statt dessen nutzte er die Gelegenheit, nicht
ohne mir zunächst mit kaum verhohlener rancune ein paar Komplimente zu machen, meine schlechten syntaktischen
Gewohnheiten mir vorzuhalten. Insbesondere irritierte Herrn K. das vorgezogene Prädikat, das er für das Haupt-
svmptom des immer mehr grassierenden Simpeldeutsch hält. Diese von ihm Asthmasyntax genannte Unart ent
decke er auch bei mir, schreibt Herr K., beinah auf jeder
dritten Seite und verlangt Rechenschaft über den Zweck und Sinn meiner kontinuierlichen Verstöße gegen den richtigen Sprachgebrauch. Herr K. führt auch noch einige
andere seiner linguistischen Steckenpferde vor und be zeichnet sich ausdrücklich als »Feind aller Anglizismen«, wobei er jedoch konzediert, daß es solche bei mir »zum
Glück« nur wenig gäbe. Dem Brief Herrn K.s beigelegt waren einige sehr eigentümliche Gedichte und Notizen mit Überschriften wie »Neues von Herrn K.< und »Weiteres
von Herrn K.Neubeginn< überbrückten.1'4 Dieser
Aufsatz ist, trotz seines vergleichsweise knappen Formats,
eine der wichtigsten Arbeiten zur deutschen Nachkriegs literatur und hätte gleich nach seinem Erscheinen die
Literaturwissenschaft zu einem Überdenken ihrer Position
vis-ä-vis den vorgeblichen Wahrheitsgehalten nicht weni ger zwischen 1945 und 1960 entstandener Werke veranlas
sen müssen. Doch sind Schäfers Anregungen von der etablierten Germanistik, die ja selber genug zu verhehlen hatte und lange auf einem fahlen Pferd ritt, kaum aufge
nommen worden, und wer es wagt, am Bild eines akkre ditierten Autors zu kratzen, der muß bis heute mit bösen Briefen rechnen. Schäfer also plante die Exhumierung sei
ner Kindheitsschrecken, saß in Bibliotheken und Archi ven, füllte viele Mappen mit Material, topographierte anhand eines Grieben-Reiseführers von 1933 die Orte der
Handlung, flog immer wieder nach Berlin. »Das Flug zeug«, so notiert er in seinem Bericht über das Scheitern
des Projekts,, »schwebte über die Stadt herein, es war an 104
einem Augustabend, und so kam es, daß der Müggelsee
purpurrot vor sich hinglühte, während die Spree schon dunkel dalag; ich erinnere mich an den Engel der Sieges
säule, der seine schweren, gußeisernen Flügel zu bewegen schien und zu mir hochblickte, voll bösartiger Neugier; es
wurde schummrig unter dem Fernsehturm am Alexander-
platz, die Schaufenster atmeten dichte Dämmerung; und die Düsternis senkte sich langsam über den Westen bis
weit nach Charlottenburg hinunter, das Wasser der Seen brannte mild in den Augen; je näher wir der Erde kamen, desto toller sausten endlose Kolonnen herum; ich wandte
mich zur anderen Seite und sah, daß Enten über dem Zoo
eine Art Pflug bildeten. Wie verloren stand ich etwas spä ter vorm Eingang. Unter dunklen Bäumen zogen Elefan ten an ihren Eisenketten, und drüben in der Schwärze
waren Ohren versteckt, die mich kommen hörten.«95
Der Zoo - er hätte eines der Hauptstücke werden sollen in der Darstellung der vielen Schreckensmomente, -stun den und -jahre. Doch nie, sagt Schäfer, gelang es mir beim
Schreiben, »die furchtbaren Ereignisse in all ihrer Gewalt zurückzurufen«.96 »Je entschlossener ich mich auf die
Suche . . . begebe, desto stärker muß ich begreifen, wie
schwer die Erinnerung vorankommt.«96 Was den Zoo be trifft, so gibt ein von Schäfer edierter Materialienband über Berlin im Zweiten Weltkrieg Aufschluß über das, was
ihm vorschweben mochte. Das Kapitel »Flächenbombar dierungen 22. 26. November 1943< enthält Auszüge aus
105
zwei Büchern (Katharina Heinroth, Mit Faltern begann ’s Mein Lehen mit Tieren in Breslau, München und Berlin, München 1979, und Lutz Heck, Tiere - Mein Abenteuer.
Erlebnisse in Wildnis und Zoo, Wien 1952), in denen ein Bild von der Verheerung des Tiergartens durch diese Angriffe gegeben wird. Stabbrandbomben und Phosphorkanister hatten fünfzehn der Zoohäuser in Brand gesetzt. Das An
tilopen- und das Raubtierhaus, das Verwaltungsgebäude
und die Villa des Direktors waren völlig ausgebrannt, das
Affenhaus, das Quarantänehaus, das Hauptrestaurant und das indische Tempelhaus der Elefanten schwer zertrüm mert oder beschädigt. Ein Drittel des nach der Auslage
rung immer noch zweitausend Tiere umfassenden Be
stands fand den Tod. Hirsche und Affen waren freigekom men, Vögel durch die zerschlagenen Glasdächer entflogen. »Es entstanden Gerüchte«, schreibt Heinroth, »daß entflo
hene Löwen um die nahe Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gerast seien; aber tatsächlich lagen sie erstickt und
verkohlt in ihren Käfigen.«98 Am nächsten Tag werden
auch der dreistöckige Schmuckbau des Aquariums und die
dreißig Meter lange Krokodilhalle durch eine Luftmine zerstört, mitsamt der künstlichen Urw'aldlandschaft. Dort
lagen nun, schreibt Heck, unter Zementbrocken, Erd
reich, Glasscherben, umgestürzten Palmen und Baum stämmen die vor Schmerz sich windenden Riesenechsen
im fußtiefen Wasser oder wälzten sich die Besuchertreppe herab, während durch ein aufgesprengtes Tor im Hinter
106
gründ der Feuerschein des untergehenden Berlin rot her einleuchtete. Grauenvoll auch die Aufräumarbeiten. Die
in den Trümmern ihrer Schlafställe umgekommenen Ele fanten mußten in den nachfolgenden Tagen an Ort und
Stelle zerlegt werden, wobei, wie Heck berichtet, Männer in den Brustkörben der Dickhäuter herumkrochen und
in Bergen von Gedärmen wühlten. Diese Horrorbilder
erfüllen uns deshalb mit besonderem Entsetzen, weil sie die gewissermaßen vorzensierten, stereotypen Erlebnisbe
richte über das von Menschen ausgestandene Leid durch brechen. Und es mag sein, daß der uns beim Lesen solcher
Passagen überkommende Schrecken auch ausgelöst wird von der Erinnerung daran, daß der Zoo, der ja seine Ent stehung überall in Europa dem Demonstrationsbedürfnis
fürstlicher und imperialer Macht verdankte, zugleich so
etwas wie ein Abbild des Paradiesgartens sein sollte. Fest zuhalten aber ist vor allem, daß die das Sensorium des Durchschnittslesers eigentlich überfordernden Beschrei
bungen der Zerstörung des Berliner Zoos wahrscheinlich nur deshalb keinerlei Anstoß erregten, weil sie aus der Feder von Fachleuten stammten, die, wie man sehen kann,
sogar in der äußersten Lage ihren Verstand nicht verlie ren, ja nicht einmal ihren Appetit, denn, so berichtet Heck,
»die Krokodilschwänze, in großen Behältern gekocht,
schmeckten wie fettes Hühnerfleisch«, und später, so fährt er fort, »waren dann Bärenschinken und Bärenwurst für
uns eine Delikatesse.«99 107
Das in den vorstehenden Exkursen ausgebreitete Mate
rial ist ein Indiz dafür, daß unser Umgang mit den Realien
einer Zeit, in der das städtische Leben in Deutschland fast gänzlich zerschlagen wurde, sehr erratisch gewesen ist. Wenn man Familienreminiszenzen, episodische Literari sierungsversuche und das, was in solchen Erinnerungs büchern wie denen von Heck und Fleinroth abgelagert ist,
einmal beiseite läßt, so kann man nur von einer durch
gehenden Vermeidung oder Verhinderung sprechen.
Schäfers Kommentar zu seinem aufgegebenen Projekt deutet in diese Richtung ebenso wie die von Hage erwähn
te Äußerung Wolf Biermanns, daß er einen Roman schrei
ben könne über den Hamburger Feuersturm, in dem seine Lebensuhr bei sechseinhalb Jahren stehengeblieben sei. Weder Schäfer noch Biermann, noch, wie man annehmen
muß, einige andere, deren Lebensuhren damals gleichfalls stehengeblieben sind, haben die Rekapitulierung der trau matischen Erfahrungen über sich gebracht, aus Gründen, die teils wohl in der Sache, teils in der psychosozialen
Konstitution der Betroffenen liegen. Jedenfalls ist dieThe-
se, daß es uns bisher nicht gelungen ist, die Schrecken des
Luftkriegs durch historische oder literarische Darstellun gen ins öffentliche Bewußtsein zu heben, nicht leicht zu
entkräften. Was mir an Literatur, die sich ausführlich mit der Bombardierung der deutschen Städte befaßt, im An
schluß an die Züricher Vorlesungen zur Kenntnis gebracht wurde, gehört bezeichnenderweise zur Kategorie der ver
108
schollenen Werke. Der 1949 erschienene, später nie wieder aufgelegte Roman Die unverzagte Stadt von Otto Erich
Kiesel, dessen Titel bereits einige Zweifel erweckt, kommt, wie Volker Hage in seinem Spiegel-Artikel
schreibt, über ein lokalhistorisches Interesse nicht hinaus
und bleibt in seiner ganzen Anlage und Durchführung unter dem Niveau, auf dem das in den letzten Kriegs
jahren sich vollendende Debakel der Deutschen sich be handeln ließe. Schwieriger zu beurteilen ist der Fall des, wie Hage ohne genauere Erklärung schreibt, zu Unrecht
vergessenen Gert Ledig, der nach seinem viel Aufsehen erregenden Roman Die Stalinorgel (1955) ein Jahr später
bereits mit dem etwa zweihundert Seiten umfassenden Roman Die Vergeltung einen Text vorlegte, der über die Grenzen dessen hinausging, was die Deutschen über ihre jüngste Vergangenheit zu lesen bereit waren. Steht schon Die Stalinorgel im Zeichen der radikalen Antikriegslitera tur der ausgehenden Weimarer Zeit, dann ist vollends Die
Vergeltung, wo Ledig in gehetztem Stakkato verschiedene
während eines einstündigen Angriffs sich ereignende Vor fälle in einer namenlosen Stadt verfolgt, ein gegen die letzten Illusionen gerichtetes Buch, mit dem Ledig sich ins literarische Abseits manövrieren mußte. Erzählt wird von
dem furchtbaren Ende einer kaum erst dem Kindesalter entwachsenen Gruppe von Flakhelfern, von einem gottlos
gewordenen Priester, von den Exzessen eines schwer alko holisierten Soldatentrupps, von Vergewaltigung, Mord
109
und Selbstmord und, immer wieder, von der Peinigung
des menschlichen Körpers, von zerschlagenen Zähnen und Kiefern, zerfetzten Lungen, aufgerissenen Brustkör
ben, zersprungenen Gehirnschalen, sickerndem Blut, gro tesk verrenkten und zerquetschten Gliedern, zersplitter
ten Becken, von Verschütteten, die sich unter Bergen von
Betonplatten noch zu rühren versuchen, von Detona tionswellen, Trümmerlawinen, Staubwolken, Feuer und
Rauch. Zwischendurch gibt es, kursiv gedruckt, stillere
Passagen über Einzelpersonen, Nachrufe auf solche, deren
Leben in dieser Stunde des Todes abgeschnitten wurde, jeweils mit einigen spärlichen Angaben zu ihren Gewohn heiten, Vorlieben und Wünschen. Es ist nicht einfach, etwas zu sagen über die Qualität dieses Romans. Manches
in ihm ist aufgefaßt mit erstaunlicher Präzision, manches
wirkt unbeholfen und überdreht. Doch waren es sicher
nicht in erster Linie die ästhetischen Schwächen, die dazu führten, daß Die Vergeltung und der Autor Gert Ledig in der Vergessenheit verschwanden. Ledig selbst muß eine Art maverick gewesen sein. In einem der wenigen Nach
schlagewerke, die ihn noch aufführen, heißt es: »In Leipzig in ärmlichen Verhältnissen nach dem Selbstmord der
Mutter bei Verwandten aufgewachsen, besuchte er die
Versuchsklasse einer pädagogischen Lehranstalt und an schließend eine Fachschule für Elektrotechnik. Er meldete sich achtzehnjährig freiwillig zum Kriegsdienst, wurde Offiziersanwärter, kam aber während des Rußlandfeldzu
110
ges wegen >Hetzreden< in eine Strafeinheit. Nach der
zweiten Verwundung als nicht mehr frontverwendungsfä hig zu einem Studienurlaub geschickt, wurde er Schiffs bauingenieur und von 1944 an innerhalb der Kriegsmarine
Sachbearbeiter für die Industrie. Nach dem Krieg nach
Leipzig unterwegs, wurde er von den Russen . . . wegen Spionageverdachts festgenommen. Er entkam aber aus
dem Deportationszug. Zunächst mittellos in München,
war er Gerüstarbeiter, Kaufmann, Kunstgewerbler und von 1950 an drei Jahre lang Dolmetscher beim amerikani schen Hauptquartier in Österreich, dann Ingenieur bei
einer Firma in Salzburg. Seit 1957 lebt er als freier Schrift
steller in München/,100 Schon aus diesen wenigen Anga ben ist ersichtlich, daß Ledig aufgrund seines Herkom mens und seiner Entwicklung dem nach dem Krieg sich herausbildenden Verhaltensmuster für Schriftsteller nicht entsprechen konnte. In der Gruppe 47 kann man ihn sich
kaum vorstellen. Seine bewußt forcierte, auf die Erzeu gung von Abscheu und Ekel gerichtete Kompromißlosig-
keit rief in der sich bereits anbahnenden Zeit des Wirt
schaftswunders noch einmal das Gespenst der Anarchie herauf, die Angst vor der mit dem Zusammenbruch der
totalen Ordnung drohenden allgemeinen Dissolution, vor
der Verwilderung und Verbiesterung der Menschen, vor
Gesetzlosigkeit und irreversiblem Ruin. Die Romane Ledigs, die in nichts den Arbeiten anderer Autoren der
fünfziger Jahre, die heute noch genannt und gehandelt 111
werden, nachstehen, wurden aus dem kulturellen Ge dächtnis ausgeschlossen, weil sie den cordon sanitaire zu
durchbrechen drohten, mit dem die Gesellschaft die To
deszonen tatsächlich entstandener dystopischer Einbrü che umgibt. Diese Einbrüche waren übrigens nicht allein
das Produkt, in dem von Alexander Kluge gemeinten Sinn, einer Destruktionsmaschinerie industriellen Aus
maßes, sondern auch das Ergebnis der seit dem Aufwallen
des Expressionismus immer rückhaltloser werdenden Pro pagierung eines Mythos des Untergangs und der Zerstö
rung. Fritz Langs Film Kriemhilds Rache aus dem Jahr 1924, in dem sich die gesamte bewaffnete Macht eines
Volkes halb wissentlich in den Schlund des Verderbens
begibt, um zuletzt in einem stupenden pyromanischen Schauspiel in F'lammen aufzugehen, ist davon, in deutli
cher Vorwegnahme der faschistischen Endkampfrhetorik, das genaueste Paradigma. Und während Lang in Babels berg die Visionen der Thea von Harbou für das deutsche
Kinopublikum in reproduzierbare Bilder umsetzte, arbei teten auch die Logistiker der Wehrmacht bereits, ein Jahrzehnt vor der Machtergreifung Hitlers, an ihrer eige
nen Cheruskerphantasie, einem wahrhaft schreckenerre
genden Skript, das die Vernichtung der französischen Armee auf deutschem Boden, die Verwüstung ganzer Lan desteile und hohe Verlus'te unter der zivilen Bevölkerung
vorsah.1111 Den tatsächlichen Ausgang dieser neuen Her
mannsschlacht, die deutschen Ruinenfelder an ihrem 112
Ende, hätte sich wohl auch der Urheber und Hauptadvo kat des strategischen Extremismus, der Obrist von Stülp nagel, so nicht ausmalen können, und niemand, auch die
mit der Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses der Na tion betrauten Schriftsteller nicht, durfte uns später, ge rade weil wir unsere Mitschuld erahnten, so schmachvolle
Bilder in Erinnerung rufen wie jenes vom Dresdner Alt markt zum Beispiel, auf dem im Februar 1945 6865 Lei chen auf Scheiterhaufen verbrannt wurden von einem
SS-Kommando mit Erfahrung in Treblinka.102 Jede Be schäftigung mit den wahren Schreckensszenen des Unter
gangs hat bis heute etwas Illegitimes, beinahe Voyeuristi sches, dem auch diese Notizen nicht ganz entgehen konnten. Darum wunderte es mich auch nicht, als mir ein Lehrer in Detmold vor einiger Zeit erzählte, er habe als
Junge in den Jahren gleich nach dem Krieg des öfteren mitangesehen, wie unter dem Ladentisch eines Hambur
ger Buchgeschäfts Fotografien von den nach dem Feuer
sturm auf den Straßen herumliegenden Leichen befingert
und gehandelt wurden wie sonst nur die Erzeugnisse der Pornografie. Bleibt mir zum Schluß noch ein Brief zu kommentieren,
der mich, über die Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung,
Mitte Juni vergangenen Jahres aus Darmstadt erreichte als bislang letzte Zuschrift zum Thema Luftkrieg und den ich
mehrmals durchlesen mußte, weil ich zuerst meinen Au
gen nicht traute, enthält er doch die These, die Alliierten
113
hätten mit dem Luftkrieg das Ziel verfolgt, die Deutschen durch die Zerstörung ihrer Stadt von ihrem Erbe und
Herkommen abzuschneiden und so die dann in der Nach
kriegszeit tatsächlich erfolgte Kulturinvasion und allge meine Amerikanisierung vorzubereiten. Diese bewußte Strategie, so heißt es in dem Brief aus Darmstadt weiter,
sei ersonnen worden von den im Ausland lebenden Juden
und zwar aus dem speziellen Wissen heraus, das sie sich
bekanntermaßen auf ihren Wanderungen angeeignet hät ten von der menschlichen Psyche, von fremden Kulturen
und Mentalitäten. Das in einem ebenso forschen wie ge
schäftsmäßigen Ton abgefaßte Schriftstück schließt mit
dem Ausdruck der Hoffnung, daß ich meine fachkompe tente Einschätzung der in dem Brief vorgebrachten The
sen nach Darmstadt rückübermitteln werde. Um wen es sich bei dem Schreiber, einem gewissen Dr. H., handelt, welche berufliche Tätigkeit er ausübt und ob er etwa mit
rechtsradikalen Gruppierungen oder Parteien in Verbin
dung steht, weiß ich nicht, und auch zu dem Kreuzchen, das er hinter seine Signatur setzt, handschriftlich und in
PC-Version, kann ich nichts sagen, außer daß Leute vom Schlag Dr. H.s, die überall geheime, gegen die vitalen
Interessen des Deutschtums gerichtete Machenschaften vermuten, selber mit Vorliebe irgendwelchen Ordensver einigungen angehören. Können sie aufgrund ihrer bürger lichen oder kleinbürgerlichen Herkunft nicht wie der Adel
von Haus aus den Anspruch erheben, sie repräsentierten 114
die konservative Elite der Nation, dann reihen sie sich
unter die geistigen und zumeist selbsternannten Verteidi
ger des christlichen Abendlands oder des völkischen Erbes ein. Das Bedürfnis, in einer Körperschaft aufzugehen, die
sich legitimiert durch Berufung auf ein höheres Gesetz, hatte bekanntlich in den zwanziger und dreißiger Jahren
unter den Rechtskonservativen und Rechtsrevolutionären
Konjunktur. Von Georges Stern des Bundes führt eine ge rade Linie zu der Idee vom kommenden Reich als der Schöpfung eines Männerbundes, die Rosenberg in seinem
1933, im Jahre des Heils, erschienenen Mythus des XX.
Jahrhunderts propagierte; und die Formierung der SA und
der SS sollte ja von Anfang an nicht nur der unmittelbaren
Ausübung von Gewalt, sondern der Heranziehung einer neuen Elite dienen, deren bedingungslose Loyalität auch
und insbesondere für den Erbadel fortan maßgeblich war.
Der Konkurrenzkampf zwischen den Aristokraten der Wehrmacht und den kleinbürgerlichen Parvenüs und Kar
rieristen, die, wie der Hühnerzüchter Himmler, nun zu
Protektoren des Vaterlands sich aufwarfen, ist zweifellos eines der Hauptkapitel in der zum größten Teil noch un
geschriebenen Sozialgeschichte der Korrumpierung der Deutschen. An welcher Stelle genau Dr. H. mit seinem geheimnisvollen Kreuzchen in diesen Zusammenhang
einzupassen wäre, muß dahingestellt bleiben. Am ehesten wird man ihn wohl bezeichnen können als einen Wieder gänger aus jener unseligen Zeit. Soviel ich herausfinden
115
konnte, ist er ungefähr meines Alters und gehört also nicht
zur Generation derer, die noch unter dem direkten Einfluß
des Nationalsozialismus gestanden sind. Auch ist er in Darmstadt, wie ich mir habe sagen lassen, nicht als unzu
rechnungsfähig notorisch (womit allein man seine bizarren Thesen hätte entschuldigen können); vielmehr scheint er
durchaus bei gesundem Verstand und lebt offenbar in ge ordneten Verhältnissen. Freilich markiert gerade die Ko
inzidenz von phantastischen Wahnideen einerseits und von Lebenstüchtigkeit andererseits die besondere Verwer fung, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den
Köpfen der Deutschen entstand. Nirgends läßt diese Ver werfung genauer sich ablesen als am Duktus des Schrift
verkehrs, den die NS-Chargen untereinander pflogen und der in seiner sonderbaren Verquickung von vorgeblichem Sachinteresse und Irrwitz gespenstischerweise auch die
von Dr. H. zu Papier gebrachten Vorstellungen noch be
stimmt. Was nun die >Thesen< selber angeht, die Dr. H.
nicht ohne Stolz auf seine Scharfsinnigkeit offeriert, so sind sie nichts anderes als ein Derivat der sogenannten
Protokolle des Weisen von Zion«, jener im zaristischen
Rußland in Umlauf gebrachten pseudodokumentarischen Fälschung, derzufolge eine jüdische Internationale die
Weltherrschaft anstrebt und durch ihre konspirative Drahtzieherei ganze Völker ins Verderben stürzt. Die vi
rulenteste Variante dieses Ideologems war die in Deutsch land nach dem ersten Weltkrieg vom Biertisch über die
116
Presse und die Kulturindustrie bis in die Staatsorgane und zuletzt in die Legislative hineinreichende Legende von
einem ebenso unsichtbaren wie allgegenwärtigen, den
Volkskörper von innen heraus zersetzenden Feind. Ob in offener oder verdeckter Form, gemeint war damit jeden
falls die jüdische Minderheit. Es versteht sich, daß Dr. H. diese Schuldzuweisung nicht unverändert übernehmen konnte, nachdem die denunziatorische Rhetorik lang vor
dem Anlaufen der Luftkriegskampagne der Alliierten im gesamten Machtbereich der Deutschen zur Entrechtung,
Enteignung, Exilierung und systematischen Vernichtung
der Juden geführt hatte. Umsichtigerweise beschränkt er darum seine Vermutung auf die im Ausland lebenden Ju
den. Und wenn er, in einem eigenartigen Zusatz, denen, die er für die Zerstörung Deutschands verantwortlich ma
chen möchte, attestiert, sie hätten weniger aus Gefühlen des Hasses als aus ihrer besonderen Kenntnis fremder Kulturen und deren Mentalitäten gehandelt, dann werden
ihnen damit Motive unterschoben, wie sie etwa das sub versive Verwandlungsgenie Dr. Mabuse in Fritz Langs gleichnamigem Film bewegen. Selber von ungewisser Pro
venienz, weiß Mabuse sich an jedes Milieu anzupassen.
Wir sehen ihn in der ersten Sequenz in der Rolle des Spe kulanten Sternberg, der vermittels krimineller Manipula
tion einen Börsenkrach auslöst. Im weiteren Verlauf tritt er
auf als Spieler in illegalen Kasinos, als Chef einer Verbre
cherbande, als Betreiber einer Falschgeldmanufaktur, als 117
Volksverhetzer und Revoluzzer sowie, unter dem ominö sen Namen Sandor Weltmann, als Hypnotiseur, der Ge walt sogar über diejenigen hat, die sich ihm mit allen
Kräften widersetzen. In einer bezeichnenderweise nur Se
kunden währenden Einstellung zeigt uns die Kamera am
Haustor dieses Experten der Willenslähmung und Seelen zerstörung ein Schild mit der Aufschrift >Dr. Mabuse -
Psychoanalyse*. Wie die von Dr. H. imaginierten auslän
dischen Juden kennt auch Mabuse keine Haßgefühle. Ihm geht es einzig um die Macht und um die Lust an ihrem Gewinn. Mit seiner besonderen Kenntnis der menschli chen Psyche vermag er in die Köpfe seiner Opfer einzu dringen. Er ruiniert die, die sich mit ihm an den Spieltisch
setzen, richtet den Grafen Told zugrunde,.raubt ihm seine
Ehefrau und bringt seinen Gegenspieler, den Staatsanwalt von Wenk, bis an den Rand des Todes. Von Wenk, der in
dem von Thea von Harbou ersonnenen Handlungsschema
den Typus des preußischen Adeligen repräsentiert, den das Bürgertum in der Krise mit der Aufrechterhaltung der
Ordnung betraut, gelingt es zuletzt mit Hilfe eines Armee
kontingents (die Polizeikräfte allein reichen nicht aus!),
den Widerstand Mabuses zu brechen und die Gräfin und mit ihr Deutschland zu retten. Der Film Fritz Langs lie fert das Paradigma der unter den Deutschen seit dem Ende
des 19. Jahrhunderts um sich greifenden Xenophobie. Was Dr. H. schreibt über die jüdischen Seelenspezialisten, die angeblich die Strategien der Zerstörung der deutschen
118
Städte entwickelten, geht auf diese Hysterisierung unserer kollektiven Verfassung zurück. Man mag, vom heutigen Standpunkt aus, geneigt sein, die Auslassungen Dr. H.s
abzutun als die Absurditäten eines Unverbesserlichen. Und absurd sind sie gewiß, doch deswegen nicht weniger
schrecklich. Denn wenn irgend etwas am Anfang des un ermeßlichen Leidens stand, das durch uns Deutsche über die Welt gekommen ist, so war es solches, aus Ignoranz und
Ressentiment heraus kolportiertes Gerede. Die Mehrzahl der Deutschen weiß heute, so hofft man zumindest, daß
wir die Vernichtung der Städte, in denen wir einst lebten, geradezu provozierten. Kaum jemand wird heute bezwei feln, daß der Luftmarschall Göring London ausradiert haben würde, wenn seine technischen Ressourcen es ihm erlaubt hätten. Speer berichtet, wie Hitler im Jahr 1940 bei
einem Abendessen in der Reichskanzlei von der totalen
Zerstörung der Hauptstadt des britischen Imperiums phantasierte: »Haben Sie einmal eine Karte von London
angesehen? Es ist so eng gebaut, daß ein Brandherd allein ausreichen würde, die ganze Stadt zu zerstören, wie schon
einmal vor über zweihundert Jahren. Göring will durch zahllose Brandbomben mit einer ganz neuen Wirkung in
den verschiedensten Stadtteilen von London Brandherde schaffen, überall Brandherde. Tausende davon. Die wer
den sich dann zu einem riesigen Flächenbrand vereinigen.
Göring hat dazu die einzig richtige Idee: die Sprengbom
ben wirken nicht, aber mit den Brandbomben kann man 119
das machen: London total zerstören! Was wollen die noch
mit ihrer Feuerwehr, wenn das erst einmal losgeht?«103 Die rauschhafte Zerstörungsvision geht in eins damit, daß auch die tatsächlichen Pionierleistungen im Bombenkrieg
- Guernica, Warschau, Belgrad, Rotterdam - von den Deutschen vollbracht wurden. Und wenn wir an die
Brandnächte von Köln und Hamburg und Dresden den ken, dann sollten wir uns auch in Erinnerung rufen, daß
bereits im August 1942, als die Spitzen der sechsten Armee die Wolga erreicht hatten und als nicht wenige davon
träumten, wie sie nach dem Krieg in den Kirschgärten am stillen Don auf einem Landgut sich niederlassen woll ten, die Stadt Stalingrad, die zu jenem Zeitpunkt wie
später Dresden von Flüchtlingsströmen, angeschwollen
war, bombardiert wurde von zwölfhundert Fliegern, und
daß dort während dieses Angriffs, der Hochgefühle aus
löste unter den am anderen Ufer stehenden deutschen Truppen, vierzigtausend Menschen ihr Leben ließen.104
120
Der Schriftsteller Alfred Andersch
Die deutsche Literatur besitzt in Alfred Andersch eines ihrer gesündesten und selbständigsten Talente. Alfred Andersch, Selbstverfasster Klappentext
Dem Litterateur Alfred Andersch hat es zeit seines Lebens
weder an Erfolg noch an Mißerfolg gemangelt. Bis 1958,
dem Jahr seiner >Emigration< in die Schweiz, nahm er als Leiter von Radioredaktionen, als Herausgeber der Zeit schrift >Texte & Zeichen* und als Deutschlands führender
Feature-Mann (so er selbst an seine Mutter') eine Schlüs selstellung ein in dem sich entfaltenden literarischen
Betrieb der Bundesrepublik. Später rückte er, teils in pro
grammatischer Absicht, teils unfreiwilligerweise immer
mehr gegen den Rand. Zum einen bestimmten Begriffe wie Peripherie, Absonderung, Degagement und Flucht
weitgehend das Bild, das Andersch von sich selbst entwor fen und in Umlauf gebracht hatte, zum anderen änderte
das kaum etwas an der Tatsache, daß er, wie das jetzt
vorliegende biographische Material zeigt, in Wahrheit er folgsbedürftiger und erfolgsabhängiger war als die meisten
seiner schreibenden Zeitgenossen. Aus den Briefen an die Mutter geht hervor, daß Andersch, was die Bedeutung der 123
eigenen Arbeit betraf, alles andere als eine geringe Mei nung hatte. »Die Jünger-Sendung wird eine kleine Sensa
tion«; das Zeitstück gegen den Antisemitismus, an dem er 1950 schreibt, ist »das Beste, was ich je angegangen habe . . . weit besser als der Prof. Mamlock von Friedrich
Wolf«; in München sieht Andersch sich »mächtig im Kom
men«; der Verlag wird während der Frankfurter Buchmes
se »einen großen Empfang veranstalten« zum Erscheinen
seines Romans Sansibar, zu dem übrigens, wie im selben Brief der Mama mitgeteilt wird, Professor Muschg, »der
größte Literaturhistoriker, den wir derzeit haben, . . . ein wunderbares Urteil geschrieben« hat. Dann steckt An
dersch wieder »mitten in einem großen Hörspiel«, schreibt
eine »große neue Erzählung« oder hat »eine große RadioSendung fertiggemacht«. Und als Ein Liebhaber des Halb
schattens in der Neuen Zürcher Zeitung in Fortsetzungen
erscheint, wird die Mama darauf hingewiesen, daß »dieses exklusive Blatt. . . nur das Allerbeste«2 nimmt. Derglei
chen Aussagen sind bezeichnend nicht nur für den Legi
timationszwang, der Anderschs Verhältnis zu seiner Mut ter bestimmt, sondern auch für die eigene Sehnsucht nach
Erfolg und Öffentlichkeit, die in auffälligem Widerspruch steht zur Idee des privaten und anonymen Heroismus, den er als innerer Emigrant mit Vorliebe in seinen Büchern
propagiert. >Groß< ist m der Selbsteinschätzung und Selbstpräsentation Anderschs jedenfalls das operative Wort. Ein großer Schriftsteller wollte er werden, der große
124
Werke schreibt und auf große Empfänge geht und nach
Möglichkeit bei solchen Gelegenheiten alle Konkurrenz in
den Schatten stellt, wie beispielsweise in Mailand, »wo Mondadori«, so Andersch in seinem Erfolgsbericht, »mir [man beachte die Reihenfolge] und dem französischen
Schriftsteller Michel Butor einen Empfang gab«, auf dem
er, Andersch, »zwanzig Minuten lang auf Italienisch« sprach und »brausenden Beifall« erntete, wohingegen Bu
tor, der anschließend »auf Französisch redete«, anschei
nend auf Applaus ganz verzichten mußte.3 Das Leitbild des großen Schriftstellers, an dem An
dersch von Anfang an sich orientierte, war bekanntlich, was innere Führung und Ausrichtung betraf, das des Ernst Jünger, der aus der Hitlerzeit, die er hatte einläuten helfen,
als vornehmer Isolationist und Verteidiger des Abendlands
hervorgegangen war. Was schriftstellerischen Erfolg und
Ruhm betraf, so ist Thomas Mann die maßgebliche In stanz gewesen. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind die Reminiszenzen Hans Werner Richters, in denen es
von Andersch heißt: »Er war ehrgeizig. Nicht ehrgeizig wie andere, nein, sein Ehrgeiz reichte weit darüber hinaus. Kleine Erfolge nahm er wie selbstverständlich hin, er be
achtete sie nicht sonderlich, sein Ziel war der Ruhm, nicht
der alltägliche Ruhm. Den hielt er für gegeben. Sein Ziel
war der Ruhm, der über Zeit und Raum und Tod hinaus ging, weit hinaus. Er sprach ungehemmt darüber, ohne
jede Selbstironie. Einmal, gleich zu Beginn, wir gaben bei 125
de noch den >Ruf< heraus, sagte er in einem größeren Kreis
von Mitarbeitern und Freunden, er würde Thomas Mann
nicht nur erreichen, sondern auch überflügeln. Jene, die
damals um ihn herumsaßen, schwiegen verblüfft. Keiner sagte ein Wort, nur Fred spürte von diesem betretenen Schweigen nichts, er hielt es wohl für Zustimmung.«4 Tat
sächlich schien Anderschs Kalkül zunächst aufzugehen. Kirschen der Freiheit löste eine beträchtliche Kontroverse
aus und wurde, nicht zuletzt dadurch, zu einem großen
Erfolg. »Binnen kürzester Zeit«, schreibt Stephan Rein hardt, »war Anderschs Name ... in der Bundesrepublik in
aller Munde.«5 Auch erhielt Andersch, wie er selbst sei
nem vorgesetzten Intendanten Beckmann mitteilte, zu
stimmende Briefe der »bedeutendsten Geister des Lan
des«.6 Die Erfolgslinie wird mit Sansibar fortgesetzt. Das
Echo ist groß, das Lob so gut wie einhellig. Zweifel werden allenfalls bedingt angemeldet, die neuralgischen Punkte
des Textes nirgends berührt. Schon wähnt man das Dritte Reich »dichterisch bewältigt«.7 Erst als die konzeptionellen
und stilistischen Schwächen Anderschs mit der Veröffent
lichung des Romans Die Role unübersehbar werden, spal tet sich die Kritik in zwei Lager. Koeppen rühmt das Buch
als einen »der lesenswertesten Romane dieses Jahrhunderts«s, Reich-Ranicki hingegen beschreibt es als ein
ungustiöses Gemisch von Lüge und Kitsch.9 Der kom merzielle Erfolg - Vorabdruck in der FAZ, hohe Verkaufs zahlen, vielversprechende Pläne für eine Verfilmung -
126
erlaubten es Andersch zunächst, die Verrisse zu ignorieren
als Produkte neidischer Zeitungsschreiber, zumal Reich-
Ranicki damals noch nicht über den Einfluß verfügte wie ein paar Jahre später. Weitgehend unbeirrt, wenn auch in
zunehmendem Maße bemüht um Sachlichkeit, arbeitet
Andersch an der Befestigung seines Anrechts auf Ruhm. Die kleineren Schriften aus der ersten Hälfte der sechziger
Jahre - Hörspiele, Erzählungen, Essays, Reiseberichte stehen dafür ein. Als 1967 schließlich Efraim erscheint, wiederholt sich die Polarisierung der Kritik. Einerseits wird das Buch hyperbolisch als ein Werk von »höchster
künstlerischer Klugheit« und »als Roman des Jahres« ge
priesen10, andererseits nehmen tonangebende Kritiker jetzt kein Blatt mehr vor den Mund. Rolf Becker, Joachim Kaiser und Reich-Ranicki bemängeln unter anderem den prätentiösen Stuvvesant-Stil des Romans, sprechen von
Kitsch und Kolportage. Andersch ist über diese ungute Aufnahme derart gekränkt gewesen, daß er, wie sein Bio graph mitteilt, noch zwei Jahre später untersagt hat, »daß sein Name mit einer von Marcel Reich-Ranicki gestalteten
Ausstellung des »Kuratoriums Unteilbares Deutschland
Ein Bericht« angekündigten Sachlichkeit. Eigenartig leer und kursorisch wirken die knappen drei Seiten, in denen Andersch sein Vierteljahr Haft (bis zum
Mai 1933) im Dachauer Lager zusammenfaßt. Die Ord nung des Texts rechtfertigt dies, indem sie die fraglichen
Seiten an die Stelle rückt, an der Andersch zum zweiten
mal verhaftet in einer Zelle der Münchner Polizeidirektion liegt und in panischer Angst zurückdenkt an die Monate, die er in Dachau verbracht hat. Fast ist es, als durfte er sich
weder damals noch später wirklich ins Gedächtnis rufen,
was er ohne Zweifel dort mitangesehen hat. Die Episode, wenn man so sagen kann, von den beiden »auf der Flucht
erschossenen« Juden Goldstein und Binswanger (»Der
peitschende Knall überfiel uns, als wir zwischen den Ba racken auf den Brettern saßen und unsere Abendsuppe
löffelten«14) hat irgendwie den Charakter einer Deckerin nerung, die es erlaubte, die entsetzlichen Einzelheiten des
Lagerbetriebs zu relegieren. Das Eingeständnis der Angst, die ihm an jenem Nachmittag auf der Münchner Polizei direktion im Nacken saß und aufgrund derer er »zu jeder
Aussage bereit (war), die man von mir«, wie er schreibt,
»verlangt hätte«15, trägt hingegen die Anzeichen der Au
thentizität und gehört zu den eindrucksvollen Momenten
des Buchs, da Andersch auf jede Selbststilisierung ver zichtet. Wie immer man die Gewichtung verteilt, deutlich
130
wird in den hier in Rede stehenden Passagen jedenfalls, daß sich Andersch, im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl seiner Zeitgenossen, schon im Herbst 1933 kei
nerlei Illusionen mehr machen konnte über die wahre Natur des faschistischen Regimes. Allein dieses »Privileg« wiederum rückt seine »innere Emigration« während der
nachfolgenden Jahre in ein überaus fragwürdiges Licht.
Akzeptiert man Anderschs Aussage, daß »der Gedanke an eine Flucht ins Ausland«16 in der Zeit vor seiner Ver haftung aufgrund seiner Jugendlichkeit und Unerfahren heit keinen Augenblick in seinem Kopf aufgetaucht ist,
und akzeptiert man ferner, daß er in der Zeit unmittelbar nach seiner Haftentlassung in einem Zustand innerer Läh
mung sich befand, in dem er außerstande war, die Emi
gration zu erwägen, so bleibt dennoch ungeklärt, weshalb
er zu einem späteren Zeitpunkt, zwischen 1935 und 1939, die ihm verschiedentlich sich bietende Möglichkeit, in die
Schweiz zu gehen beziehungsweise dort zu bleiben, nicht
wahrgenommen hat. In einem Interview zwei Jahre vor
seinem Tod konstatiert er zum erstenmal unumwunden, daß er damals falsch gehandelt habe. »Was ich hätte tun können, und was ich nicht getan habe: ich hätte emigrieren
können. In einer Diktatur in die innere Emigration zu gehen, ist die schlechteste aller Möglichkeiten.«17 Was das Bekenntnis nach wie vor verschweigt, das sind die Grün de, die ihn zum Daheimbleiben bewogen. F'raglich ist
außerdem, ob Andersch in irgendeinem Sinne der inneren 131
Emigration zugerechnet werden kann, selbst wenn man in
Rechnung stellt, daß die Mitgliedschaft in diesem Verein allzu schwer nicht zu erwerben war. Vieles spricht dafür, daß die innere Emigration Anderschs in Wahrheit ein ihn
zutiefst kompromittierender Prozeß der Angleichung an die herrschenden Verhältnisse gewesen ist. In Kirschen der
Freiheit ist die Rede von der sonn- und festtäglichen
Flucht ins Ästhetische, die es ihm erlaubte, »im Schmelz der Lasuren Tiepolos die Wiederentdeckung der eigenen verlorenen Seele zu feiern«.18 Werktags arbeitete der emp
findsame junge Mann »vor dem Kontenrahmen einer
Verlagsbuchhandlung« und ignoriert ansonsten die Gesell schaft, die, wie er sich ausdrückt, »rings um mich die
Organisationsform des totalen Staates errichtete«.19 In An
betracht der Tatsache, daß die Verlagsbuchhandlung Leh
mann in der Paul-Heyse-Straße, in der Andersch tätig war, in vorderster Linie völkische Politik, Rassenkunde
und Rassenhygiene vertrat, dürfte es nicht ganz einfach gewesen sein, die weiter stets um sich greifende totalitäre
Praxis zu ignorieren. Stephan Reinhardt bezeichnet den Lehmannschen Betrieb zu Recht als die »verlegerische Keimzelle und Brutstätte des Rassismus«2", unterläßt es aber nachzufragen, wie sich die Arbeit in einem solchen
Verlag vereinbaren ließ mit dem Selbstverständnis eines inneren Emigranten, der ja schließlich auch in einer Han delsgärtnerei eine Anstellung hätte finden können, die
seinem vom Biographen ohne Ironie vermerkten zuneh
132
menden Bedürfnis nach »Naturversenkung, Beseelung
und Neuschöpfung«21 vielleicht besser angestanden wäre.
Die gewichtigste Auslassung in dem von Andersch in Kirschen der Freiheit rekapitulierten Bildungsroman ist die Geschichte seiner Ehe mit Angelika Albert. Reinhardt be
richtet, Andersch habe die einer deutsch-jüdischen Fami lie entstammende Angelika im Mai 1935 geheiratet, um sie vor den Folgen der Nürnberger Gesetze zu schützen, die
im September dieses Jahres in Kraft traten, räumt aller
dings auch ein, daß »die erotische Ausstrahlung« Angelikas und die Umgebung, in der sie lebte
die Alberts waren
eine großbürgerliche Familie von einigem Renommee Andersch zu dieser Eheschließung verleitet haben mö gen.22 Das Argument, Andersch habe Angelika Albert in seinen Schutz nehmen wollen, ist vor allem deshalb nicht
aufrechtzuerhalten, weil er ab Februar 1942, nachdem er
sich von ihr und der inzwischen auf die Welt gekommenen
Tochter getrennt hatte, sogleich auch auf Scheidung
drängte, die dann ein Jahr später, am 6. März 1943, voll zogen wurde. Es bedarf kaum der näheren Erläuterung, welcher Gefahr Angelika Albert damit ausgesetzt war in
einer Zeit, da es weniger um das Inkrafttreten der Rassen gesetze als um die möglichst zügige Durchführung der Endlösung ging. Idl Hamburger, die Mutter Angelikas,
war bereits im Juni 1942 aus dem Münchnerjudenlager in
der Knorrstraße 148 nach Theresienstadt »überstellt« wor den, von wo sie nicht mehr zurückkehren sollte. Stephan 133
Reinhardt vermerkt treuherzig, daß Andersch die Um
stände, unter denen er seine Scheidung einleiten mußte,
zutiefst bedrückt hätten, gibt aber keine Auskunft darüber, wie diese Bedrückung auf ihn sich auswirkte. Dem unbe fangenen Leser der Reinhardtschen Biographie will es im
Gegenteil scheinen, als sei Andersch in diesem Jahr haupt sächlich mit der Neuausrichtung seines Lebens beschäf
tigt gewesen. Er wollte nun unbedingt als Schriftsteller hervortreten und betrieb zu diesem Zweck angelegentlich
seine Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, die die Voraussetzung war für jedwede literarische Publikation.
Zu den erforderlichen Unterlagen gehörte unter anderem
ein Abstammungsnachweis des Ehepartners. Andersch stellt seinen Antrag am 16. Februar 1943 beim Landeskul
turverwalter Gau Hessen-Nassau und schreibt, drei Wo
chen vor dem tatsächlichen Zeitpunkt der Scheidung, unter der Rubrik Familienstand >geschiedenV-
Aüf/itrrifitr pf Hte
io
/fa-t.
_________________________________ ._________ /. io. /fVV
D&v f»r$r__________________________ ____________________
7
H tyod -fUe. /ottoa-h^ e*drcaJy:
&•
"Upei*
Hu sfeAontr “Jau^bI
AmZur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930< in: Litera turmagazin Nr. 7, hg. von N. Born und J. Manthey, Reinbek 1977 Mein Roman über Berlin, op. cit., S. 29 Ibid. München 1991 Ibid., S. 161 Ibid., S. 164 Franz Lennartz, Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Sflie get der Kritik, Bd. 2, Stuttgart 1984, S. 1164 Cf. Karl Heinz Janßen, >Der große Plant, ZEIT-Dossier, 7. 3. 1997 Cf. Günter Jäckel, >Der 13. Februar 1945 - Erfahrungen und Re flexionen!, Dresdner Hefte Nr. 41, S. 6 Zitiert nach Elias Canetti, Die gespaltene Zukunft, München 1972, S. 31 f. Cf. Antony Beevor, Stalingrad, London 1998, S. 102 ff.
93 94
95 96 97 98 99 100
101 102
103
104
Der Schriftsteller Alfred Andersch 1 Cf. ». . . einmal wirklich leben« - Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 19-13-1979, hg. v. W. Stephan, Zürich 1986, S. 70 f. In spä teren Briefen adressiert Andersch die lb. Mama gern als Dear Mom oder Ma chere Maman. Was für einen Reim die doch ziemlich biedere Frau Andersch sich darauf gemacht hat, wissen wir nicht. 2 Cf. ibid., S. 50, S. 57, S. 59, S. 111, S. 116, S. 126, S. 144 3 Ibid., S. 123
164
4 Im Etablissement der Schmetterlinge - Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47, München 1988, S. 24 5 Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich 1990, S. 208 6 Ibid. 7 Cf. hierzu E. Schütz, Alfred Andersch, München 1980, S. 44 f., wo die wichtigsten Rezensionen zitiert sind.
8 Börsenblatt des deutschen Buchhandels, Nr. 14, 1966 9 Sonntagsblatt, Nr. 12, 1961 10 H. Salzinger, Stuttgarter Zeitung, 11.10.1967; J. Günther, Neue Deutsche Hefte, Jg. 14, 1967, H. 3, S. 133 f. 11 Reinhardt, op. cit., S. 438 12 Ibid. 13 Ibid., S. 534 14 Kirschen der Freiheit, Zürich 1971, S. 42 15 Ibid., S. 43 16 Ibid., S. 39 17 Zitiert nach Reinhardt, op. cit., S. 580 18 Kirschen der Freiheit, S. 46 19 Ibid., S. 45 20 Op. cit., S. 58 21 22 23 24 25 26 27
28 29 30
31 32 33
Ibid. Cf. ibid., S. 55 ff. Cf. ibid., S. 84 Ibid., S. 82 Cf. Erinnerte Gestalten, Zürich 1986, S. 99, S. 157, S. 160 Reinhardt, op. cit., S. 74 Kriegsgefangenenakte (8. 10. 19+4), Archiv der Deutschen Dienst stelle, Berlin Kirschen der Freiheit, S. 90. Und wer - so die Implikation der hier zitierten Stelle - will schon zu den Verlierern überlaufen? Reinhardt, op. cit., S. 647 Cf. hierzu Reinhardt, op. cit. S. 73. Andersch berief sich gegenüber seinem Kompaniechef auf eine Verfügung Hitlers, abgedruckt in den Mitteilungsblättern an die Wehrmacht, wonach ehemalige KZ-lnsassen aus der Wehrmacht zu entlassen waren. Cf. ». . . einmal wirklich leben.« S. 20 Cf. ibid. Ibid., S. 47
165
34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50
51 52 53 54 55 56 57 58 59
Ibid. Pädagog. Verlag Schwann, Düsseldorf Der Ruf, hg. v. H. A. Neunzig, München 1971, S. 21 Cf. M. Overesch, Chronik deutscher Zeitgeschichte, Bd. 2/III, Düssel dorf 1983, S. 439 f. Cf. Der Ruf, S. 26 Sansibar oder der letzte Grund, Zürich 1970, S. 101 Ibid., S. 55 Ibid., S. 59 Ibid., S. 106 Ibid. Ibid., S. 22 ». . . einmal wirklich leben.« S. 13 Kirschen der Freiheit, S. 86 Ibid., S. 87 Die Rote, Zürich 1972, S. 152 f. Ibid., S. 68 Cf. z. B Th. Koebner, Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. v. H. Kunisch und H. Wiesner, München 1981, S. 26; \. Wehdeking, Alfred Andersch, Stuttgart 1983, S. 91 Cf. Efraim, Zürich o. J., S. 61, S. 204, S. 70, S. 64, S. 134 Cf. ibid., S. 56 Cf. ibid., S. 152 f. Reinhardt, op. cit., S. 423 Winterspelt, Zürich o. J., S. 39 Ibid., S. 41 Ibid., S. 443 Zitiert nach Reinhardt, op. cit., S. 327 Cf. Reinhardt, op. cit., S. 500 und S. 508
Inhalt Vorbemerkung
5
Luftkrieg und Literatur 9 Der Schriftsteller Alfred Andersch
121 Anmerkungen
161
WG. Sebald, geboren 1944 in Wertach,
ging nach dem Studium in die französische Schweiz und dann nach England. Seit 1970
lebt er als Dozent in Norwich. Zu seinen berühmtesten Büchern zählen: Schwindel,
Gefühle (1990), Die Ausgewanderten (1992) und Die Ringe des Saturn (1995). Zuletzt erschien
bei Hanser Logis in einem Landhaus (1998).
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, Mün
chen, unter Verwendung der Fotografie Ruhe Berlin.
Berlin, 30. April
von Jewgeni Ananewitsch Chaldej
© KPK Collection, Berlin Moskau
http://www.hanser.de
»Es ist schwer, sich heute eine auch nur halbwegs zurei chende Vorstellung zu machen von dem Ausmaß der wäh rend der letzten Jahre des zweiten Weltkriegs erfolgten Verheerung der deutschen Städte, und schwerer noch, nachzudenken über das mit dieser Verheerung verbundene Grauen. Zwar geht aus den Strategie Bombing Surveys der Alliierten, aus den Erhebungen des Bundesamts für Stati stik und anderen offiziellen Quellen hervor, daß allein die Royal Air Force in 400000 Flügen eine Million Tonnen
Bomben über dem gegnerischen Gebiet abgeworfen hat, daß von den 131 teils nur einmal, teils wiederholt angegriffenen Städten manche nahezu gänzlich niedergelegt wurden, daß an die 600 000 Zivilpersonen in Deutschland dem Luftkrieg zum Opfer fielen, daß dreieinhalb Millionen Wohnungen zerstört wurden,’ daß bei Kriegsende siebeneinhalb Millio nen obdachlos waren, daß auf jeden Einwohner Kölns 31,4, auf jeden Dresdens 42,8 Kubikmeter Bauschutt kamen, doch was all das in Wahrheit bedeutete, das wissen wir nicht.«