Luftkrieg und Literatur : Mit einem Essay zu Alfred Andersch 3446196617

Eine provozierende These: Die deutsche Literatur hat vor dem Grauen des Luftkriegs versagt. Mit analytischer Schärfe und

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Luftkrieg und Literatur : Mit einem Essay zu Alfred Andersch
 3446196617

Table of contents :
Umschlag
Klappentext
Titel
Impressum
Vorbemerkung
Luftkrieg und Literatur
I
II
III
Der Schriftsteller Alfred Andersch
Anmerkungen
Luftkrieg und Literatur
Der Schriftsteller Alfred Andersch
Inhalt

Citation preview

W.G.SEBALD Luftkrieg und Liter at u Hans er

r

»Trotz der angestrengten Bemühung um die sogenannte Bewältigung der Vergan­

genheit scheint es mir, als seien wir Deut­ sche heute ein auffallend geschichtsblin­ des und traditionsloses Volk.«

Als W.G. Sebald im I [erbst 1997 seine The­

sen zu Luftkrieg und Literatur an der Zü­ richer Universität zum ersten Mal vortrug, war das Echo unerhört. Sebald sprach über »die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen

hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis«, und es scheint, daß

er die Nachkriegsliteratur damit in einer

Wunde getroffen hat, die auch ein halbes Jahrhundert später nicht verheilt ist.

Und seine mit analytischer Schärfe und großem Materialreichtum vorgetragene These lautet, daß die deutsche Literatur

vor diesem Grauen, aus dem die heutige Bundesrepublik entstand, versagt hat.

Wichtiger als die Schilderung der realen Verhältnisse sei den Autoren allemal die

Wiederherstellung ihres eigenen Selbst­

verständnisses gewesen.

WG. Sebalds provozierender Angriff auf dieses Selbstverständnis erscheint hier zum ersten Mal, ergänzt durch einen Essay mit

dem der Autor auf die erregten Diskussio­ nen antwortet.

W.G. Sebald

Luftkrieg und Literatur Mit einem Essay

zu Alfred Andersch

Carl Hanser Verlag

1 2 3 4 5

03 02 01 00 99

ISBN 3-446-19661-7

© 1999 Carl Hanser Verlag München Wien Satz: Libro, Kriftel

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany

Vorbemerkung Die in diesem Band vorgelegten Züricher Vorlesungen über das Thema Luftkrieg und Literatur erscheinen nicht

ganz in der Form, in der sie im Spätherbst 1997 gehalten wurden. Die erste der Vorlesungen war ausgegangen von

Carl Seeligs Schilderung eines Ausflugs, den er im Hoch­

sommer 1943 mit dem Anstaltspatienten Robert Walser gemacht hatte genau an dem Tag, auf den dann die Nacht folgte, in der die Stadt Hamburg im Feuer zugrunde ging.

Seeligs Reminiszenzen, die keinen Bezug nehmen auf die­ ses zufällige Zusammentreffen, verdeutlichten mir, unter welcher Perspektive ich selbst auf die grauenvollen Ereig­

nisse jener Jahre zurückblicke. Im Mai 1944 in einem Dorf in den Allgäuer Alpen geboren, gehöre ich zu denen, die so

gut wie unberührt geblieben sind von der damals im Deut­ schen Reich sich vollziehenden Katastrophe. Daß diese

Katastrophe dennoch Spuren in meinem Gedächtnis hin­

terlassen hat, das versuchte ich dann anhand längerer Passagen aus meinen eigenen literarischen Arbeiten zu zei­

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gen, was in Zürich insofern gerechtfertigt war, als es sich

dort eigentlich um Poetikvorlesungen hätte handeln sol­ len. In der hier präsentierten Version freilich wären exten­ sive Selbstzitate fehl am Platz gewesen. Ich habe darum

nur einiges aus der ersten Vorlesung für eine Nachschrift

übernommen, in der es ansonsten um die von den Zü­ richer Vorlesungen ausgelösten Reaktionen und um die

Einsendungen geht, die mich in der Folge erreichten. Vie­ les davon hatte einen etwas bizarren Charakter. Gerade aber an der Unzulänglichkeit und Verkrampftheit der mir

ins Haus geschickten, unterschiedlichen Schriftstücke und Briefe konnte man ablesen, daß die in den letzten Kriegsjahren von Millionen gemachte Erfahrung einer

nationalen Erniedrigung sondergleichen nie wirklich in Worte gefaßt und von den unmittelbar Betroffenen weder

untereinander geteilt noch an die später Geborenen wei­

tergegeben worden ist. Die immer wieder geführte Klage darüber, daß das große deutsche Kriegs- und Nachkriegs­ epos bis heute ausgeblieben ist, hat etwas mit diesem (in

einer Hinsicht durchaus verständlichen) Versagen vor der

Gewalt der aus unseren ordnungswütigen Köpfen ent­

standenen absoluten Kontingenz zu tun. Trotz der ange­ strengten Bemühung um die sogenannte Bewältigung der

Vergangenheit scheint es mir, als seien wir Deutsche heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk.

Ein passioniertes Interesse an unseren früheren Lebens­

formen und den Spezifika der eigenen Zivilisation, wie es 6

etwa in der Kultur Großbritanniens überall spürbar ist, kennen wir nicht. Und wenn wir unseren Blick zurück­

wenden, insbesondere auf die Jahre 1930 bis 1950, so ist es

immer ein Hinsehen und Wegschauen zugleich. Die Her­

vorbringungen der deutschen Autoren nach dem Krieg sind darum vielfach bestimmt von einem halben oder fal­

schen Bewußtsein, das ausgebildet wurde zur Festigung

der äußerst prekären Position der Schreibenden in einer

moralisch so gut wie restlos diskreditierten Gesellschaft. Für die überwiegende Mehrzahl der während des Dritten

Reichs in Deutschland gebliebenen Literaten war die Redefinition ihres Selbstverständnisses nach 1945 ein dring­

licheres Geschäft als die Darstellung der realen Verhält­ nisse, die sie umgaben. Beispielhaft für die unguten

Folgen, die der literarischen Praxis daraus erwuchsen, war der Fall Alfred Anderschs. Deshalb wird hier, im An­

schluß an die Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur,

nochmals der Aufsatz abgedruckt, den ich über diesen Schriftsteller vor einigen Jahren in Lettre publizierte. Er

hat mir damals einige scharfe Rügen eingebracht von Leu­

ten, die es nicht wahrhaben wollten, daß eine oppositio­ nelle Grundhaltung und eine wache Intelligenz, wie sie

Andersch zweifellos auszeichneten, während der anschei­

nend unaufhaltsam fortschreitenden Machtentfaltung des faschistischen Regimes sehr wohl übergehen konnte in mehr oder weniger bewußte Versuche der Anpassung und

daß sich daraus später für eine öffentliche Person wie An7

dersch die Notwendigkeit der Adjustierung des Lebens­

laufs durch diskrete Auslassungen und andere Korrektu­

ren ergab. In solcher Präokkupation mit der Nachbesse­ rung des Bildes, das man von sich überliefern wollte, lag, meines Erachtens, einer der wichtigsten Gründe für die

Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubrin­

gen in unser Gedächtnis.

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Luftkrieg und Literatur Züricher Vorlesungen

Der Kunstgriff der Elimination ist der Abwehrreflex eines jeden Experten. Stanislaw Lern, »Imaginäre Größe«

I Es ist schwer, sich heute eine auch nur halbwegs zurei­ chende Vorstellung zu machen von dem Ausmaß der

während der letzten Jahre des zweiten Weltkriegs erfolgten

Verheerung der deutschen Städte und schwerer noch,

nachzudenken über das mit dieser Verheerung verbun­ dene Grauen. Zwar geht aus den Strategie Bombing Surveys

der Alliierten, aus den Erhebungen des Bundesamts für Statistik und anderen offiziellen Quellen hervor, daß allein die Royal Air Force in 400 000 Flügen eine Million Tonnen Bomben über dem gegnerischen Gebiet abgeworfen hat,

daß von den 131 teils nur einmal, teils wiederholt ange­

griffenen Städten manche nahezu gänzlich niedergelegt

wurden, daß an die 600 000 Zivilpersonen in Deutschland dem Luftkrieg zum Opfer fielen, daß dreieinhalb Millio­

nen Wohnungen zerstört wurden, daß bei Kriegsende siebeneinhalb Millionen obdachlos waren, daß auf jeden

Einwohner Kölns 31,4, auf jeden Dresdens 42,8 Kubik­ meter Bauschutt kamen, doch was all das in Wahrheit

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bedeutete, das wissen wir nicht.1 Die in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion ist in die Annalen

der neu sich konstituierenden Nation nur in Form vager Verallgemeinerungen eingegangen, scheint kaum eine

Schmerzensspur hinterlassen zu haben im kollektiven Be­ wußtsein, ist aus der retrospektiven Selbsterfahrung der

Betroffenen weitgehend ausgeschlossen geblieben, hat in den sich entwickelnden Diskussionen um die innere Ver­ fassung unseres Landes nie eine nennenswerte Rolle ge­ spielt, ist nie, wie Alexander Kluge später konstatierte, zu

einer öffentlich lesbaren Chiffre2 geworden - ein durchaus paradoxer Sachverhalt, wenn man bedenkt, wie viele Men­

schen dieser Kampagne Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr ausgesetzt waren und wie lange sie, bis weit in

die Nachkriegszeit hinein, konfrontiert geblieben sind mit

ihren realen, jedes positive Lebensgefühl (wie man hätte

meinen müssen) erstickenden Folgen. Trotz der schier un­ glaublichen Energie, mit der man sich nach jedem Angriff

sogleich an die Wiederherstellung einigermaßen prakti­

kabler Verhältnisse machte, standen in Städten wie Pforz­ heim, das in einem einzigen Angriff in der Nacht auf den 23. Februar 1945 beinahe ein Drittel seiner 60 000 Einwoh­

ner verlor, selbst nach 1950 noch Lattenkreuze auf den

Schutthalden, und gewiß haben die entsetzlichen Gerü­

che, die, wie Janet Flanner im März 1947 berichtet, von der ersten Frühjahrswärme in den gähnenden Kellern War­

schaus geweckt wurden3, in der Zeit unmittelbar nach dem 12

Krieg auch die deutschen Städte durchweht. Eingedrun­ gen in das Sensorium der Überlebenden, die am Ort der Katastrophe ausharrten, sind sie aber offenbar nicht. Die

Menschen bewegten sich »auf der Straße zwischen den fürchterlichen Ruinen«, so eine Ende 1945 datierte Notiz Alfred Döblins aus Südwestdeutschland, »wahrhaftig, als wenn nichts geschehen wäre und . . . die Stadt immer so

aussah«.4 Die Kehrseite solcher Apathie war die Deklara­

tion des Neubeginns, der fraglose Heroismus, mit dem man sich ohne Verzug an die Reorganisations- und Räu­

mungsarbeiten machte. In einer der Stadt Worms 19451955 gewidmeten Broschüre heißt es: »Die Stunde ver­ langt aufrechte Männer, sauber in Haltung und Zielset­ zung. Fast alle stehen dann auch in Zukunft jahrelang an

der vordersten Front des Wiederaufbaues.«'’ Eingerückt 13

Kämmerei si> «ße: Kein Haus übt:stand das In'e'no

in den von einem gewissen Willi Ruppert, im Auftrag der

Stadtverwaltung verfaßten Text sind zahlreiche Fotogra­ fien, darunter auch die hier abgedruckten beiden Bilder

der Kämmererstraße. Nicht als das grauenvolle Ende einer kollektiven Aberration erscheint also diese totale Zerstö­ rung, sondern, sozusagen, als die erste Stufe des erfolgrei­

chen Wiederaufbaus. Im Anschluß an ein im April 1945

mit den leitenden Herren der IG-Farben in Frankfurt ge­

führtes Gespräch gibt Robert Thomas Pell sein Erstaunen zu Protokoll über die mit Selbstmitleid, kriecherischer Selbstrechtfcrtigung, gekränkten Lnschuldsgefühlen und

Trotz seltsam gemischten'Willensbekundungen der Deut­ schen, ihr Fand »größer und mächtiger wiederaufzubauen,

als es in der Vergangenheit war«'1 -- ein Vorsatz, hinter dem sie in der Folge nicht zurückblieben, wie leicht abzulesen

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'irfuinei und breiter erstand sie wieder

ist an den Postkarten, die der Deutschlandreisende heute an den Frankfurter Zeitungskiosken kaufen und von der

Metropole am Main in alle Welt schicken kann. Der in­ zwischen bereits legendäre und, in einer Hinsicht, tatsäch­

lich bewundernswerte deutsche Wiederaufbau, der, nach

den von den Kriegsgegnern angerichteten Verwüstungen, einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten

Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam, unter­

band durch die geforderte Arbeitsleistung sowohl als durch die Schaffung einer neuen, gesichtslosen Wirklich­

keit von vornherein jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und ver­

pflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfah­

ren war. So spärlich und so versprengt sind die deutschen

Zeugnisse aus jener kaum ein Menschenalter zurücklie15

*

FRANKFURT - GESTERN + HEUTE

genden Zeit, daß in Hans Magnus Enzensbergers 1990

erschienener Reportagesammlung Europa in Trümmern nur ausländische Journalisten und Schriftsteller zu Wort kom­ men konnten mit Arbeiten, die, bezeichnenderweise, bis

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dahin in Deutschland so gut wie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden waren. Die wenigen in deut­ scher Sprache verfaßten Berichte stammen von ehemali­

gen Exilierten oder anderen Randständigen wie Max

Frisch. Die Daheimgebliebenen, die, wie beispielsweise Walter von Molo und Frank Thiess in der unseligen Tho­

mas Mann-Kontroverse, gern von sich sagten, daß sie in

der Stunde der Not in der Heimat ausgehalten hatten,

während andere auf ihren Logenplätzen in Amerika saßen,

enthielten sich gänzlich des Kommentars über den Vollzug und das Ende der Zerstörung, nicht zuletzt wohl aus Furcht, sie könnten durch wirklichkeitsnahe Schilderun­

gen bei den Besatzungsbehörden in Mißkredit geraten.

Entgegen der allgemeinen Annahme wurde das zeitgenös­ sische Überlieferungsdefizit auch von der seit 1947 bewußt sich rekonstituierenden Nachkriegsliteratur, von der man einigen Aufschluß über die wahre Lage hätte erwarten dürfen, nicht ausgeglichen. War die ältere Garde der so­

genannten inneren Emigranten vornehmlich damit be­ schäftigt, sich ein neues Ansehen zu geben und, wie

Enzensberger anmerkt, den Freiheitsgedanken und das humanistisch-abendländische Erbe in endlosen verqua­ sten Abstraktionen zu beschwören7, so war die jüngere

Generation der gerade heimgekehrten Autoren dermaßen fixiert auf ihre eigenen, immer wieder in Sentimentalität

und Larmoyanz abgleitenden Erlebnisberichte aus dem

Krieg, daß sie kaum ein Auge zu haben schien für die 17

allerorten sichtbaren Schrecken der Zeit. Selbst die viel­ berufene, programmatisch einen unbestechlichen Wirk­ lichkeitssinn sich vorsetzende Trümmerliteratur, in der es nach Heinrich Bölls Bekenntnis hauptsächlich um das

ging, »was wir ... bei der Heimkehr vorfanden« \ erweist sich bei näherer Betrachtung als ein auf die individuelle

und kollektive Amnesie bereits eingestimmtes, wahr­ scheinlich von vorbewußten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf kei­

nen Begriff mehr zu bringenden Welt. Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer still­ schweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden. Die fin­

stersten Aspekte des von der weitaus überwiegenden

Mehrheit der deutschen Bevölkerung miterlebten Schluß­ akts der Zerstörung blieben so ein schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis, das man vielleicht

nicht einmal sich selber eingestehen konnte. Von sämtli­ chen Ende der vierziger Jahre entstandenen literarischen Werken ist es eigentlich nur Heinrich Bölls Roman Der

Engel schwieg'1, der eine annähernde Vorstellung vermittelt von der Tiefe des Entsetzens, das damals jeden zu erfassen

drohte, der wirklich sich omsah in den Ruinen. Es leuchtet einem bei der Lektüre sogleich ein, daß gerade diese an­ scheinend von unheilbarer Schwermut geprägte Erzäh­

lung der zeitgenössischen Leserschaft, wie der Verlag und

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wohl auch Böll selbst glaubte, nicht zugemutet werden konnte und daß sie darum erst 1992, mit beinah fünfzig­

jähriger Verspätung, veröffentlicht worden ist. Tatsächlich

ist das siebzehnte, den Todeskampf der Frau Gompertz schildernde Kapitel von einem derart radikalen Agnosti­

zismus, daß man selbst heute nicht ohne weiteres darüber hinwegkommt. Das dunkle, klebrig verklumpende Blut, das auf diesen Seiten in Schwällen und Stößen aus dem

Mund der Sterbenden sich ergießt, auf ihrer Brust sich ausbreitet, das Laken verfärbt, über die Bettkante zu Bo­ den klatscht und dort eine schnell sich ausbreitende Lache

bildet, dieses tintige und, wie Böll eigens hervorhebt, sehr schwarze Blut ist das Sinnbild der gegen den Überlebens­

willen gerichteten acedia cordis, jener fahlen, nicht mehr zu behebenden Depression, in die die Deutschen ange­

sichts eines solchen Endes eigentlich hätten verfallen müs­ sen. Außer Heinrich Böll haben nur wenige andere

Autoren wie Hermann Kasack, Hans Erich Nossack, Arno

Schmidt und Peter de Mendelssohn es gewagt, an das über die äußere und innere Zerstörung verhängte Tabu zu rüh­

ren, zumeist freilich, wie noch zu zeigen sein wird, auf eine eher fragwürdige Weise. Und auch als in späteren Jahren

Kriegs- und Heimathistoriker den Untergang der deut­

schen Städte zu dokumentieren begannen, änderte das nichts an der Tatsache, daß die Bilder dieses grauenvollen

Kapitels unserer Geschichte nie richtig über die Schwelle des nationalen Bewußtseins getreten sind. In der Regel

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erschienen an mehr oder weniger abgelegenen Stellen Hans Brunswigs Feuersturm über Hamburg beispielsweise

kam 1978 beim Stuttgarter Motorbuch Verlag heraus dienten diese von ihrem Forschungsgegenstand oft eigen­

artig unberührten Kompilationen in erster Linie der As­ sanierung oder Beseitigung eines dem Normalverstand

inkommensurablen Wissens und nicht dem Versuch, die erstaunliche Fähigkeit der Selbstanästhetisierung eines

aus dem Vernichtungskrieg anscheinend ohne nennens­ werten psychischen Schaden hervorgegangenen Gemein­

wesens genauer verstehen zu lernen. Das nahezu gänzliche Fehlen von tieferen Verstörungen im Seelenleben der

deutschen Nation läßt darauf schließen, daß die neue bun­ desrepublikanische Gesellschaft die in der Zeit ihrer Vor­ geschichte gemachten Erfahrungen einem perfekt funktio­

nierenden Mechanismus der Verdrängung überantwortet hat, der es ihr erlaubt, ihre eigene Entstehung aus der

absoluten Degradation zwar faktisch anzuerkennen, zu­ gleich aber aus ihrem Gefühlshaushalt völlig auszuschal­ ten, wenn nicht gar zu einem weiteren Ruhmesblatt im

Register dessen zu machen, was man erfolgreich und ohne ein Anzeichen innerer Schwäche alles überstanden hat.

Enzensberger verweist darauf, daß man »die rätselhafte Energie der Deutschen«'nicht begreift, »wenn man sich gegen die Einsicht sträubt, daß sie ihren Defekt zur Tu­

gend erhoben haben. Die Bewußtlosigkeit«, so schreibt er, »war die Bedingung ihres Erfolgs.«10 Zu den Voraussetzun­ 20

gen des deutschen Wirtschaftswunders gehörten ja nicht

nur die enormen Investitionssummen des Marshall-Plans,

der Ausbruch des kalten Kriegs und die von den Bomber­ geschwadern mit brachialer Effizienz besorgte Verschrot­

tung veralteter Industrieanlagen, es gehörten zu ihnen auch das in der totalitären Gesellschaft erlernte fraglose

Arbeitsethos, die logistische Improvisationsfähigkeit einer von allen Seiten bedrängten Wirtschaft, die Erfahrung im Einsatz von sogenannter Fremdarbeit und der letzten En­

des nur von wenigen bedauerte Verlust der schweren historischen Fracht, die zwischen 1942 und 1945 mit den

jahrhundertealten Wohn- und Geschäftshäusern in Nürn­ berg und Köln, in Frankfurt, Aachen, Braunschweig und

Würzburg in Flammen aufging. In der Genese des Wirt­

schaftswunders sind dies die einigermaßen identifizierba­ ren Faktoren gewesen. Der Katalysator aber war eine rein immaterielle Dimension: der bis heute nicht zum Versie­ gen gekommene Strom psychischer Energie, dessen Quel­

le das von allen gehütete Geheimnis der in die Grund­ festen unseres Staatswesens eingemauerten Leichen ist, ein Geheimnis, das die Deutschen in den Jahren nach dem

Krieg fester aneinander band und heute noch bindet, als jede positive Zielsetzung, im Sinne etwa der Verwirk­

lichung von Demokratie, es jemals vermochte. Vielleicht ist es nicht verkehrt, an diese Zusammenhänge gerade jetzt

zu erinnern, da das zweimal bereits gescheiterte groß­ europäische Projekt in eine neue Phase eintritt und der

21

Einflußbereich der D-Mark - die Geschichte hat eine Art, sich zu wiederholen ziemlich genau so weit sich ausdehnt wie im Jahr 1941 das von der Wehrmacht besetzte Gebiet.

Die Frage, ob und wie der von Gruppierungen innerhalb

der Royal Air Force seit 1940 befürwortete und ab Februar 1942 unter Aufbietung eines ungeheuren Volumens perso­ neller und wehrwirtschaftlicher Ressourcen in die Praxis umgesetzte Plan eines uneingeschränkten Bombenkriegs

strategisch oder moralisch zu rechtfertigen war, ist in den

Jahrzehnten nach 1945 in Deutschland, soviel ich weiß, nie Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden, vor al­ lem wohl deshalb nicht, weil ein Volk, das Millionen von

Menschen in Lagern ermordet und zu Tode geschunden hatte, von den Siegermächten unmöglich Auskunft verlan­

gen konnte über die militärpolitische Logik, die die Zer­ störung der deutschen Städte diktierte. Zudem ist nicht

auszuschließen, daß nicht wenige der von den Luftangrif­

fen in Mitleidenschaft gezogenen, wie beispielsweise in

Hans Erich Nossacks Bericht über den Untergang Ham­

burgs angedeutet wird, die riesigen Feuerbrände, trotz allen ohnmächtig verbissenen Zorns über den offenbaren Wahnsinn, als eine gerechte Strafe, wo nicht gar als Ver­

geltungsakt einer höheren Instanz empfanden, mit der nicht zu rechten war. Abgesehen von den Verlautbarungen

der NS-Presse und des Reichssenders, in denen stets im selben Tenor von sadistischen Terrorangriffen und barba­

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rischen Luftgangstern die Rede war, soll es sehr selten nur vorgekommen sein, daß jemand Klage führte über die jah­

relange Destruktionskampagne der Alliierten. Mit stum­ mer Faszination, so wird verschiedentlich berichtet, seien die Deutschen der sich vollziehenden Katastrophe gegen­

übergestanden. »Nun war nicht mehr die Zeit«, schrieb Nossack, »wo man mit so kleinlichen Unterschieden rech­

nete wie dem zwischen Freund und Feind.«11 Im Gegen­ satz zu der größtenteils passiven Reaktion der Deutschen

auf die von ihnen als unabwendbares Verhängnis empfun­ dene Niederlegung ihrer Städte war das Zerstörungspro­

gramm in Großbritannien von Anfang an Grund scharfer

Auseinandersetzungen gewesen. Nicht nur wurde von

Lord Salisbury und von George Bell, dem Bischof von Chichester, im Oberhaus sowohl als in der weiteren Öf­ fentlichkeit wiederholt und aufs eindringlichste der Vor­ wurf erhoben, daß die Strategie der in erster Linie gegen die zivile Bevölkerung sich richtenden Angriffe weder

kriegsrechtlich noch moralisch vertretbar sei, auch das verantwortliche militärische Establishment war in seiner

Einschätzung dieser neuen Art der Kriegsführung gespal­

ten. Die durchgehende Ambivalenz in der Bewertung der Vernichtungsschlacht wurde prononcierter noch nach der bedingungslosen Kapitulation. In dem Maße, in dem Be­

richte und Bilder von den Auswirkungen der Flächenan­

griffe in England zu erscheinen begannen, wuchs der Widerwille vor dem, was man, sozusagen blindlings, ange­ 23

richtet hatte. »In the safety of peace«, schreibt Max Ha­

stings, »the bombers’ part in the war was one that many

politicians and civilians would prefer to forget.«12 Auch der historische Rückblick brachte keine Klärung des ethischen Dilemmas. In der Memoirenliteratur wurden weiterhin

die Fehden der verschiedenen Fraktionen ausgetragen,

und das auf sachliche Abgewogenheit bedachte Urteil der Geschichtsschreiber schwankt zwischen Bewunderung

für die Organisation eines so gewaltigen Unternehmens und Kritik an der Vergeblichkeit und Verwerflichkeit einer

gegen jede bessere Vernunft bis zu Ende gnadenlos durch­

geführten Aktion. Der Ursprung der Strategie des soge­ nannten area bombmg lag in der extrem marginalen Posi­ tion, in der Großbritannien sich 1941 befand. Deutschland

war auf dem Höhepunkt seiner Macht, seine Heere hatten

den ganzen Kontinent erobert, standen im Begriff, in Afrika und Asien weiter vorzudringen und die Briten, ohne

jede reale Möglichkeit der Intervention, einfach ihrem in­ sularen Schicksal zu überlassen. Mit diesem Prospekt vor Augen schrieb Churchill an Lord Beaverbrook, daß es nur

einen einzigen Weg gebe, Hitler in die Konfrontation zu­ rückzuzwingen, »and that is an absolutely devastating

exterminating attack by verv heavy bombers from this

country upon the Nazi homeland«.11 Freilich waren die Voraussetzungen für eine derartige Operation damals alles

andere als gegeben. Es mangelte an der Produktionsbasis, an Flugfeldern, an Ausbildungsprogrammen für die Bom­ 24

berbesatzungen, an effektiven Sprengsätzen, an neuen Navigationssystemen sowie an fast jeder Form verwertba­ rer Erfahrung. Wie desperat die Lage insgesamt gewesen

ist, läßt sich ablesen an den bizarren Plänen, die zu Beginn der vierziger Jahre ernsthaft verfolgt wurden. So erwog

man beispielsweise, eiserne Pfahlspitzen über den Feldern abzuwerfen, um das Einbringen der Ernte zu verhindern, und ein exilierter Glaziologe namens Max Perutz war be­

schäftigt mit Experimenten zu dem Projekt Habbakuk, aus dem ein riesiger unversenkbarer Flugzeugträger aus Pyk-

rete, einer Art von künstlich verstärktem Eis, hervorgehen

sollte. Kaum weniger phantastisch waren zum damaligen Zeitpunkt die Versuche, ein Abwehrnetz aus unsichtbaren

Strahlen zu schaffen, oder die komplizierten, von Rudolph Peierls und Otto Frisch an der Universität Birmingham

angestellten Berechnungen, denen zufolge der Bau einer

Atombombe in den Bereich des Möglichen gerückt wurde.

Es ist nicht verwunderlich, wenn vor dem Hintergrund solcher ans Unwahrscheinliche grenzenden Ideen die viel leichter verständliche Strategie des area bombing, die es

trotz der geringen Zielgenauigkeit erlaubte, eine gewisser­ maßen springende Front kreuz und quer durch das Fein­

desland zu ziehen, schließlich sich durchsetzte und sank­ tioniert wurde durch den Regierungsbeschluß vom

Februar 1942 »to destroy the morale of the enemy civilian

population and, in particular, of the industrial workers«.14 Diese Direktive war nicht etwa, wie immer wieder be­

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hauptet wird, entstanden aus dem Wunsch, den Krieg durch einen massiven Einsatz von Bombern schnell zu

Ende zu bringen; sie war vielmehr die einzige Möglichkeit zu einem Eingreifen in den Krieg überhaupt. Die Kritik, die später (auch im Hinblick auf die eigenen Opfer) an dem

rücksichtslos vorangetriebenen Zerstörungsprogramm ge­

übt wurde, richtete sich hauptsächlich darauf, daß es selbst dann noch aufrechterhalten wurde, als bereits ungleich präzisere, selektive Angriffe, beispielsweise auf Kugel­ lagerfabriken, Öl- und Treibstoffinstallationen, Verkehrs­

knotenpunkte und Hauptarterien geflogen werden konn­ ten, durch die in kürzester Zeit, wie Albert Speer in seinen

Erinnerungen vermerkte15, eine Querschnittslähmung des gesamten Produktionssystems hätte herbeigeführt werden können. In der Kritik an der Bomberoffensive wird auch

darauf verwiesen, daß es schon im Frühjahr 1944 sich ab­

zeichnete, daß trotz der unausgesetzten Angriffe die Moral der deutschen Bevölkerung offenbar ungebrochen, die In­

dustrieproduktion allenfalls marginal beeinträchtigt und das Ende des Kriegs um keinen Tag nähergerückt war.

Wenn dessenungeachtet die strategischen Ziele der Offen­ sive nicht modifiziert und die oft kaum schulentlassenen Bomberbesatzungen weiterhin einem Roulette ausgesetzt

wurden, das sechzig von hundert das Leben kostete, dann hatte das meines Erachtens Gründe, die in der offiziellen

Geschichtsschreibung nur wenig Beachtung finden. Zum einen hatte ein Unternehmen von den materialen und or­

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ganisatorischen Dimensionen der Bomberoffensive, die nach Schätzungen A.J.P. Taylors ein Drittel der britischen

Kriegsproduktion verschlang16, ein derart hohes Maß an

Eigendynamik, daß kurzfristige Kurskorrekturen und

Einschränkungen so gut wie ausgeschlossen waren, zumal zu einem Zeitpunkt, da dieses Unternehmen, nach drei­ jährigem intensiven Ausbau der Fabrikations- und Basis­ anlagen, seinen höchsten Entwicklungsstand, das heißt

seine größte Zerstörungskapazität erreicht hatte. Das ein­

mal hergestellte Material, die Maschinen und ihre wert­ volle Fracht, einfach ungenutzt auf den ostenglischen Flugfeldern liegen zu lassen, dagegen sträubte sich der gesunde Wirtschaftsinstinkt. Entscheidend für die Fort­

setzung der Offensive war außerdem wahrscheinlich der zur Stützung der britischen Moral geradezu unabdingbare Propagandawert, den die Tag für Tag in den englischen

Zeitungen erscheinenden Meldungen über die systemati­ sche Zerstörungsarbeit in einer Zeit besaßen, in der es sonst keinerlei Berührung gab mit dem Feind auf dem

europäischen Kontinent. Aus diesen Gründen wohl kam es nicht in Frage, Sir Arthur Harris (Commander in Chief of Bomber Command), der seine Strategie noch unbeug­ sam weitervertrat, als deren Scheitern schon auf der Hand

lag, seiner Stellung zu entheben. Einige Kommentatoren behaupten auch »that >Bomber< Harris had managed to

secure a peculiar hold over the otherwise domineering, intrusive Churchill«1', denn obgleich der Premier ver­ 27

schiedentlich gewisse Skrupel über die furchtbaren Bom­

bardierungen offener Städte geäußert hatte, beruhigte er

sich, offenbar unter dem Einfluß des über jedes Gegenar­ gument sich hinwegsetzenden Harris, bei dem Gedanken, daß nun eine, wie er sagte, höhere poetische Gerechtigkeit am Werk sei, »that those who have loosed these horrors upon mankind will now in their homes and persons feel the shattering strokes of just retribution«.18 Vieles spricht in

der Tat dafür, daß mit Harris ein Mann an die Spitze des Bomber Command gelangt war, der, so Solly Zuckerman,

an Zerstörung qua Zerstörung glaubte19 und der damit

dem innersten Prinzip eines jeden Kriegs, der möglichst vollständigen Annihilierung des Feindes samt seinen

Wohnstätten, seiner Geschichte und seinem natürlichen

Umfeld, am besten entsprach. Elias Canetti hat das Faszi­ nosum der Macht in ihrer reinsten Ausprägung in Verbin­

dung gebracht mit der steigenden Zahl der von ihr

aufgehäuften Opfer. Ganz in diesem Sinne ergab sich die Unangreifbarkeit der Stellung von Sir Arthur Harris

gerade aus seinem uneingeschränkten Interesse an der

Zerstörung. Sein kompromißlos bis ans Ende eingehalte­

ner Plan sukzessiver Vernichtungsschläge war von einer überwältigend einfachen Logik, dergegenüber alle realen strategischen Alternativen, wie beispielsweise die Aus­

schaltung der Treibstoffversorgung, als bloße Ablen­ kungsmanöver erscheinen mußten. Der Bombenkrieg war

Krieg in purer, unverhohlener Form. An seiner jeglicher 28

Vernunft widersprechenden Entwicklung läßt sich ablesen, daß Kriegsopfer, wie Elaine Scarry in ihrem ungemein

scharfsichtigen Buch The Body in Pain schreibt, nicht etwa Opfer sind, die gebracht werden auf der Straße zu einem wie immer gearteten Ziel, sondern sie sind, im genauen

Wortsinn, diese Straße und dieses Ziel selbst.20

Die Mehrzahl der auf verschiedenen Ebenen weit ausein­ anderliegenden und in der Regel fragmentarischen Quel­ len zur Zerstörung der deutschen Städte sind von einer

sonderbaren, aus extrem eingeengter, einseitiger oder ex­ zentrischer Perspektive sich ergebenden Erfahrungsblind­

heit. Die erste Live-Reportage von einem Angriff auf Berlin zum Beispiel, die der Home Service der BBC aus­ strahlte, ist für jeden, der sich von ihr einen Einblick in das

Geschehen aus übergeordneter Sicht erhofft, eher enttäu­

schend. Da trotz der ständig gegenwärtigen Gefahr kaum etwas irgendwie beschreibbares passierte auf diesen nächt­

lichen Exkursionen, muß der Berichterstatter (Wilfred

Vaughn Thomas) auskommen mit einem Minimum an

Realitätsgehalt. Einzig dem Pathos, das er hin und wieder in seine Stimme legt, ist es zu verdanken, daß kein Ein­

druck von Langeweile entsteht. Wir hören, wie die schwe­ ren Lancaster-Bomber bei Einbruch der Dunkelheit abheben und bald darauf, den weißen Küstensaum unter

sich, hinausfliegen über die Nordsee. »Now, right before us«, kommentiert Vaughn Thomas mit spürbarem Tre­ 29

molo, »lies darkness and Germany.« Während des in der Wiedergabe natürlich stark verkürzten Flugs bis zu den

ersten Lichtbatterien der Kammhuber-Linie wird den Hörern die Besatzung vorgestellt: Scottie, der Flug­

ingenieur, der vor dem Krieg Kinovorführer in Glasgow

war; Sparky, der Bombardier; Connolly, »the navigator, an Aussie from Brisbane«; »the mid-upper gunner who was in advertizing before the war and the rear gunner, a Sussex

farmer«. Der Skipper bleibt anonym. »We are now well out

over the sea and looking out all the time towards the enemv coast.« Verschiedene Beobachtungen und technische An­ weisungen werden ausgetauscht. Bisweilen hört man auch

nur das Dröhnen der großen Motoren..Im Anflug auf die Stadt überschlagen sich die Ereignisse. Scheinwerfer­

kegel, durchpulst von den Lichtsalven der Flak, biegen sich auf die Maschinen zu, ein Nachtjäger wird abgeschos­ sen. Vaughn Thomas versucht, den dramatischen Höhe­ punkt angemessen hervorzuheben, spricht von einer »wall

of search lights, in hundreds, in cones and clusters. It’s a wall of light with very few breaks and behind that wall is a

pool of fiercer light, glowing red and green and blue, and

over that pool mvriads of flares hanging in the sky. That’s the citv itself! . . . It’s going to be quite soundless«, fährt

Vaughn Thomas fort, »thö roar of our aircraft is drowning everything eise. We are running Straight into the most

gigantic display of soundless fireworks in the world and

here we go to drop our bombs on Berlin.« Aber nach die30

sem Vorspiel kommt eigentlich nichts mehr. Es geschieht

alles viel zu geschwind. Die Maschine bewegt sich bereits

aus dem Zielbereich hinaus. Die Anspannung der Besat­

zung löst sich in plötzlich ausbrechender Gesprächigkeit. »Not too much nattering«, mahnt der Skipper. »By (rod, that looks like a bloody good show«, sagt einer noch. »Best I’ve ever seen«, ein anderer. Und dann, nach einer gewis­

sen Zeit, ein dritter, ein wenig leiser, fast mit einer Art Ehrfurcht: »Eook at that f'ire! Oh bov!«’1 Wie viele dieser

großen Brände gab es nicht damals. Ich habe einmal einen ehemaligen Bordkanonier erzählen hören, daß das bren­ nende Köln von seinem Platz in der rückwärtigen Glas­

kanzel aus noch zu sehen gewesen sei, als sie schon wieder

hinaus w aren über die holländische Küste, ein Fcuerfleck in der Finsternis gleich dem Schweif eines reglosen Ko­

31

meten. Gewiß sah man auch von Erlangen oder Forchheim aus, wie Nürnberg in Flammen stand, sah von den Höhen

um Heidelberg den Feuerschein über Mannheim und Ludwigshafen. Der Prinz von Hessen stand in der Nacht

des 11. September 1944 am Rand seines Parks und schaute

auf das 15 Kilometer entfernte Darmstadt hinüber. »Der Lichtschein wuchs und wuchs, bis der ganze südliche

Himmel rot und gelb durchblitzt erglühte.«22 Ein in der Kleinen Festung in Theresienstadt Inhaftierter erinnert

sich, vom Fenster seiner Zelle aus sei der glutrote Wider­ schein über dem brennenden Dresden deutlich zu erken­

nen gewesen über eine Distanz von 70 Kilometern hinweg,

und man habe die dumpfen Einschläge der Bomben ge­ hört, so als werfe jemand ganz in der Nähe Zentnersäcke in

einen Keller.21 Friedrich Reck, den die Faschisten noch kurz vor Kriegsende wegen subversiver Äußerungen nach

Dachau brachten und der dort an Typhus zugrunde ge­ gangen ist, notierte in seinem als wahres Zeitzeugnis kaum zu überschätzenden Tagebuch, daß bei dem Luftangriff

auf München im Juli 1944 bis ins Chiemgau hinunter der Boden bebte und vor den Druckwellen die Fenster auf­ sprangen.24 Waren dies die unmißverständlichen Zeichen einer das ganze Land überziehenden Katastrophe, so war

es doch nicht immer einfach, genaueres über die Art und das Ausmaß der Zerstörung in Erfahrung zu bringen.

Dem Bedürfnis nach Wissen widersprach die Neigung, die Sinne zu verschließen. Zum einen kursierten Unmengen

32

von Desinformation, zum anderen wahre Geschichten, die

jedes Fassungsvermögen überstiegen. In Hamburg, hieß

es, lägen 200 000 Tote. Reck schreibt, er könne nicht alles

glauben, denn er habe viel gehört »von der durchaus ver­ wirrten Geistesverfassung dieser Hamburger Flüchtlin­

ge .. . von ihrer Amnesie und der Art, wie sie, bekleidet

nur mit Pyjamas, in dem Zustand herumirren, in dem sie

dem Zusammensturz ihrer Häuser entrannen«.25 Auch Nossack berichtet ähnliches. »Man konnte in den ersten

Tagen keine genaue Auskunft erhalten. Was erzählt wurde,

stimmte in den Einzelheiten nie.«26 Offenbar hatte unter dem Schock des Erlebten die Erinnerungsfähigkeit teil­ weise ausgesetzt oder arbeitete kompensatorisch nach einem willkürlichen Raster. Die der Katastrophe Entgan­ genen waren unzuverlässige, mit halber Blindheit geschla­

gene Zeugen. Alexander Kluges erst um 1970 geschriebe­

ner Text >Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945Operation Gomorrha< genann­ ten Unternehmens war die möglichst vollständige Ver­

nichtung und Einäscherung der Stadt. Bei dem Angriff in der Nacht auf den 28. Juli, der um 1 Uhr morgens begann, wurden zehntausend Tonnen Spreng- und Brandbomben

35

ausgeladen über dem dichtbesiedelten Wohngebiet östlich

der Elbe, das die Viertel Hammerbrook, Hamm-Nord und -Süd, Billwerder Ausschlag sowie Teile von St. Georg,

Eilbek, Barmbek und Wandsbek umfaßte. Nach einem be­ reits bewährten Verfahren wurden zunächst durch viertausendpfündige Sprengbomben sämtliche Fenster und Tü­

ren zerschlagen und aus den Rahmen gerissen, dann mit

leichten Brandsätzen die Dachböden angesteckt, während Brandbomben mit einem Gewicht bis zu 15 Kilo zugleich

bis in die tieferen Geschosse durchschlugen. Binnen we­ niger Minuten brannten überall auf dem zirka zwanzig

Quadratkilometer großen Angriffsareal riesige Feuer, die so schnell zusammenwuchsen, daß bereits eine Viertel­ stunde nach dem Niedergehen der ersten Bomben der

gesamte Luftraum, so weit man sah, ein einziges Flam­ menmeer war. Und nach weiteren fünf Minuten, um ein

Uhr zwanzig, erhob sich ein Feuersturm von einer Inten­ sität, wie sie kein Mensch für möglich gehalten hätte bis

dahin. Mit solcher Gewalt riß das jetzt zweitausend Meter in den Himmel hinauflodernde Feuer den Sauerstoff an

sich, daß die Luftströme Orkanstärke erreichten und dröhnten wie mächtige Orgeln, an denen alle Register ge­ zogen wurden zugleich. Drei Stunden lang brannte es so.

Auf seinem Höhepunkt hob der Sturm Giebel und Haus­

dächer ab, wirbelte Balken und ganze Plakatwände durch die Luft, drehte Bäume aus ihrem Grund und trieb Men­ schen als lebendige Fackeln vor sich her. Hinter einstür­

36

zenden Fassaden schossen haushoch die Flammen hervor, rollten gleich einer Flutwelle mit einer Geschwindigkeit

von über 150 Stundenkilometern durch die Straßen, krei­ selten als Feuerwalzen in seltsamen Rhythmen über die

offenen Plätze. In einigen Kanälen brannte das Wasser. In

den Straßenbahnwaggons schmolzen die Glasscheiben, der Zuckervorrat kochte in den Kellern der Bäckereien.

Die aus ihren Unterständen Geflohenen sanken unter gro­ tesken Verrenkungen in den aufgelösten, dicke Blasen

werfenden Asphalt. Niemand weiß wirklich, wie viele ums Leben gekommen sind in dieser Nacht oder wie viele

wahnsinnig wurden, ehe der Tod sie ereilte. Als der Mor­ gen anbrach, durchdrang das Sommerlicht nicht die bleierne Düsternis über der Stadt. Bis in eine Höhe von achttausend Metern war der Rauch aufgestiegen und hatte sich dort ausgebreitet als eine riesige amboßförmige Ku-

mulonimbuswolke. Eine wabernde Hitze, von der die Bomberpiloten berichteten, daß sie sie gespürt hätten

durch die Wandungen ihrer Maschinen, ging lange noch von den qualmenden, glosenden Steinbergen aus. Wohn­ siedlungen mit einer Straßenfront von insgesamt zwei­

hundert Kilometern waren restlos zerstört. Überall lagen grauenvoll entstellte Leiber. Auf manchen flackerten noch die bläulichen Phosphorflämmchen, andere waren braun

oder purpurfarben gebraten und zusammengeschnurrt auf ein Drittel ihrer natürlichen Größe. Gekrümmt lagen sie

in den Lachen ihres eigenen, teilweise schon erkalteten 37

Fetts. In der schon in den nächsten Tagen zum Sperrgebiet erklärten inneren Todeszone wurden, als Strafbrigaden und Lagerhäftlinge nach dem Abkühlen der Trümmer im

August mit der Räumung beginnen konnten, Menschen gefunden, die, überwältigt von Monoxydgas, noch an

Tischen oder gegen die Wand gelehnt saßen, anderwärts

klumpenweise Fleisch und Knochen oder ganze Körper­ berge gesotten von dem siedenden Wasser, das aus gebor­

stenen Heizkesseln geschossen war. Wieder andere waren

in der bis auf tausend Grad und mehr angestiegenen Glut

so verkohlt und zu Asche geworden, daß man die Über­

reste mehrköpfiger Familien in einem einzigen Waschkorb davontragen konnte.

Der Exodus der Überlebenden aus Hamburg hatte noch

in der Nacht des Angriffs eingesetzt. Es begann, so

schreibt Nossack, »ein pausenloses Fahren auf allen Stra­ ßen der Umgegend . . . ohne zu wissen wohin«.111 Bis in die 38

äußersten Gebiete des Reichs wurden die eineinviertel

Millionen zählenden Flüchtlinge verschlagen. Unter dem Datum des 20. August 1943, an der zuvor schon zitierten

Stelle, berichtet Friedrich Reck von einer Gruppe von vierzig bis fünfzig solcher Flüchtlinge, die versuchen, auf

einem oberbayrischen Bahnhof einen Zug zu stürmen. Da­ bei fällt ein Pappkoffer »auf den Perron, zerschellt und

entleert seinen Inhalt. Spielzeug, ein Nagelnecessaire, an­ gesengte Wäsche. Zum Schluß ein gebratener, zur Mumie

geschrumpfter Kinderleichnam, den das halbirre Weib mit

sich geschleppt hat als Überbleibsel einer vor wenigen Tagen noch intakten Vergangenheit.«31 Es läßt sich kaum

denken, daß Reck diese entsetzliche Szene erfunden hätte. Überall in Deutschland muß, so oder so, von den zutiefst

verstörten, zwischen hysterischem Überlebenswillen und schwerer Apathie schwankenden Flüchtlingen die Kunde

von den Schrecknissen des Untergangs von Hamburg ver­ breitet worden sein. Recks Tagebuch zumindest ist ein

Beleg dafür, daß es trotz der jede genauere Information

unterdrückenden Nachrichtensperre nicht unmöglich war zu wissen, auf welch grauenvolle Weise die deutschen

Städte zugrunde gingen. Reck berichtet ein Jahr später auch von Zehntausenden, die nach dem letzten Groß­

angriff auf München in den Anlagen des Maximiliansplatzes kampierten. Und weiter schreibt er: »Auf der nahen Reichsautobahn (bewegt sich) ein endloser Strom von Flüchtlingen, zerbrochene alte Weiblein, die mit sich an

39

der auf dem Rücken getragenen langen Stange ein Bündel mit ihrer letzten Habe schleppen. Arme Heimatlose mit

verbrannten Kleidern, mit Augen, in denen noch das Ent­

setzen des Feuerstrudels, der alles zerreißenden Explosio­ nen, der Verschüttung oder des schmählichen Erstickens in einem Keller liegt.«32 Das Bemerkenswerte an solchen

Notizen ist ihre Seltenheit. Tatsächlich scheint es, als sei keiner unter den deutschen Schriftstellern, mit der ein­ zigen Ausnahme Nossacks, in jenen Jahren bereit oder imstande gewesen, etwas Konkretes zu Papier zu bringen über den Fortgang und die Auswirkungen der so lange

anhaltenden, gigantischen Zerstörungskampagne. Daran änderte sich auch nichts, als der Krieg zu Ende war. Der

quasi-natürliche Reflex, bedingt von Gefühlen der Schan­ de und von Trotz gegen die Sieger, war es, zu schweigen

und sich abzu wenden. Stig Dagerman, der im Herbst 1946

für die Zeitung Expressen aus Deutschland berichtete,

schreibt aus Hamburg, daß er mit der Bahn bei normaler Geschwindigkeit eine Viertelstunde lang durch die Mond­

landschaft zwischen Hasseibrook und Landwehr gefahren

sei und nicht einen einzigen Menschen in dieser ungeheu­

ren Wildmark, dem vielleicht schauerlichsten Ruinenfeld in ganz Europa, gesehen habe. Der Zug, schreibt Dager­ man, sei, wie alle Züge in-Deutschland, sehr voll gewesen,

doch habe keiner hinausgeschaut. Und ihn selber habe man, weil er hinausschaute, als einen Fremden erkannt.31

Janet Flanner, die für den New Yorker schrieb, machte 40

ähnliche Beobachtungen in Köln, das, so heißt es in einer

ihrer Reportagen, »im Schutt und in der Einsamkeit völ­ liger physischer Zerstörung . . . bar jeder Gestalt... an

seinem Flußufer [lehnt]. Was von seinem Leben übrigge­ blieben ist«, lesen wir weiter, »das kämpft sich mühsam einen Weg durch die zugeschütteten Seitenstraßen: eine geschrumpfte Bevölkerung, schwarz gekleidet - stumm

wie die Stadt.«’4 Diese Stummheit, dieses Verschlossenund Abgewandtsein ist der Grund, weshalb wir so wenig

wissen von dem, was die Deutschen gedacht und gesehen haben in dem halben Jahrzehnt zwischen 1942 und 1947.

Die Trümmer, unter denen sie lebten, blieben die terra incognita des Krieges. Solly Zuckerman mag dieses Defi­ zit vorausgeahnt haben. Wie alle, die an den Auseinander­ setzungen um die effizienteste Angriffsstrategie direkt

beteiligt waren und also ein gewisses professionelles Inter­ esse an den Auswirkungen des area bombing hatten, nahm

auch er das zerstörte Köln zum frühestmöglichen Zeit­ punkt in Augenschein. Noch bei seiner Rückkehr nach London war er überwältigt von dem, was er gesehen hatte,

und verabredete mit Cyril Connolly, dem damaligen Her­ ausgeber der Zeitschrift Horizon, einen Bericht, wie er es nannte, »Über die Naturgeschichte der Zerstörung< zu

schreiben. In seiner Jahrzehnte später verfaßten Autobio­ graphie gibt Lord Zuckerman zu Protokoll, daß dieses

Vorhaben gescheitert sei. »My first view of Cologne«, so sagt er, »cried out for a more eloquent piece than I could 41

ever have written.«35 Als ich Lord Zuckerman in den acht­ ziger Jahren einmal zu diesem Thema befragte, entsann er sich nicht mehr, worüber er seinerzeit im einzelnen hatte

schreiben wollen. Er hatte nur noch das Bild des schwar­

zen, inmitten der Steinwüste aufragenden Doms im Kopf

und das eines abgetrennten Fingers, den er auf einer

Schutthalde gefunden hatte.

42

II Womit hätte eine Naturgeschichte der Zerstörung einset­

zen müssen? Mit einer Übersicht über die technischen, organisatorischen und politischen Voraussetzungen für die

Durchführung von Großangriffen aus der Luft, mit einer

wissenschaftlichen Beschreibung des bis dahin unbekann­ ten Phänomens der Feuerstürme, mit einem pathographi-

schen Register der charakteristischen Todesarten oder mit verhaltenspsychologischen Studien über den Flucht- und

Heimkehrinstinkt? Nossack schreibt, daß es kein Bett gab für den Bevölkerungsstrom, der nach den Angriffen auf Hamburg »lautlos und unaufhaltsam alles überschwemm­ te« und durch kleine Rinnsale die Unruhe bis in die

entlegensten Dörfer trug. Kaum seien die Flüchtlinge ir­ gendwo untergekommen, fährt Nossack fort, hätten sie sich schon wieder aufgemacht, seien weitergezogen oder

versuchten, nach Hamburg zurückzukehren, »sei es, um noch etwas zu retten oder nach Angehörigen Ausschau zu

halten«, sei es aus den dunklen Gründen, die einen Mörder 43

zwingen, den Ort der Tat wieder aufzusuchen.36 Jedenfalls

sei täglich eine unzählbare Menschenmenge unterwegs ge­

wesen. Böll hat später vermutet, daß in solchen Erfahrun­

gen kollektiver Entwurzelung die bundesrepublikanische Reisesucht ihren Ursprung hat, dieses Gefühl, daß man

nirgends mehr bleiben kann und immer schon woanders sein müßte.37 Die Flucht- und Rückflutbewegungen der

ausgebombten Bevölkerung wären also, behavioristisch gesehen, durchaus so etwas wie Vorübungen zur Initiation

in die in den Jahrzehnten nach der Katastrophe sich kon­ stituierende mobile Gesellschaft, unter deren Auspizien die chronische Rastlosigkeit sich in eine Kardinaltugend

verwandelte. Abgesehen von dem verstörten Verhalten der Menschen selber war die augenfälligste Veränderung in der natür­ lichen Ordnung der Städte während der Wochen nach

einem Vernichtungsangriff zweifellos das schlagartige Überhandnehmen der an den ungeborgenen Leichen ge­

deihenden parasitären Kreatur. Die auffallende Spärlich­

keit diesbezüglicher Beobachtungen und Kommentare

erklärt sich aus einer unausgesprochenen Tabuisierung, die um so verständlicher ist, wenn man bedenkt, daß die

Deutschen, die doch die vollständige Säuberung und Hygienisierung Europas sich vorgesetzt hatten, sich wehren

mußten gegen die jetzt in ihnen aufkommende Angst, sie

seien in Wahrheit selber das Rattenvolk. Es gibt in dem seinerzeit unveröffentlicht gebliebenen Roman von Böll

44

eine Stelle, an der eine Trümmerratte beschrieben wird,

wie sie sich witternd von einem Schuttberg zur Straße

vorantastet, und Wolfgang Borchert hat bekanntlich die

schöne Geschichte geschrieben von dem bei seinem ver­ schütteten Bruder zur Totenwacht sitzenden Knaben, in der das Unwesen der Ratten gebannt wird durch die Ver­

sicherung, daß sie schlafen während der Nacht. Sonst findet sich in der Literatur jener Zeit, soweit ich sehe, zu

diesem Thema bloß ein einziger Abschnitt bei Nossack, wo es heißt, daß die Zuchthäusler, die in ihren gestreiften Anzügen zur Beseitigung »der Reste ehemaliger Men­

schen« eingesetzt wurden, sich in der Todeszone nur mit

dem Flammenwerfer den Weg zu den in den Luftschutz­

räumen liegenden Leichen bahnen konnten, so dicht brau­ sten die Fliegen um sie her und waren die Kellerstiegen und Fußböden bedeckt mit glitschigen, fingerlangen Ma­ den. »Ratten und Fliegen beherrschten die Stadt. Frech

und fett tummelten sich die Ratten auf den Straßen. Aber noch ekelerregender waren die Fliegen. Große, grünschil­

lernde, wie man sie nie gesehen hatte. Klumpenweise

wälzten sie sich auf dem Pflaster, saßen an den Mauerre­ sten sich begattend übereinander und wärmten sich müde

und satt an den Splittern der Fensterscheiben. Als sie

schon nicht mehr fliegen konnten, krochen sie durch die kleinsten Ritzen hinter uns her, besudelten alles, und ihr Rascheln und Brummen war das erste, was wir beim Auf­

wachen hörten. Dies hörte erst später im Oktober auf.« ’* 45

Dieses Bild von der Vermehrung der sonst auf jede Weise

unterdrückten Arten ist ein seltenes Dokument des Le­ bens in einer Ruinenstadt. Mag die direkte Konfrontation mit den widerwärtigsten Ausformungen der Trümmerfau-

na der Mehrheit der Überlebenden auch erspart geblieben

sein, die Fliegen wenigstens verfolgten sie überall hin, ganz zu schweigen von dem »Geruch . . . von Fäulnis und

Verwesung«, der, wie Nossack schreibt, »über der Stadt lag«. ’9 Es ist uns fast nichts überliefert von denen, die in

den Wochen und Monaten nach der Zerstörung dem Da­ seinsekel erlagen, doch zumindest Hans, der zentralen Erzählfigur in Der Engel schmieg, graust es vor dem Ge­

danken, das Leben wiederaufnehmen zu müssen, und

nichts scheint ihm naheliegender, als einfach aufzugeben,

»die Treppe hinunterzusteigen und in die Nacht zu ge­ hen«.40 Bezeichnenderweise fehlt es vielen der Böllschen

Helden Jahrzehnte später noch am rechten Lebenswillen.

Dieser Mangel, der ihnen in der neuen Erfolgswelt wie ein Stigma anhaftet, ist das Erbteil des als schandbar empfun­

denen Daseins unter den Trümmern. Wie nahe dem Er­ löschen viele in den zerstörten Großstädten bei Kriegs­

ende wirklich gewesen sind, darüber gibt eine Notiz von E. Kingston-McCloughry Auskunft, in der es heißt, daß

das anscheinend ziellose' Herumstreichen von Millionen obdachloser Menschen inmitten dieser ungeheuren Ver­ wüstung ein schrecklicher, zutiefst beunruhigender An­

blick gewesen sei. Man wußte nicht, wo diese Leute

46

unterkamen, wenn auch nach Einbruch der Dunkelheit

Lichter in den Ruinen zeigten, wo sie sich eingerichtet hatten.41 Wir befinden uns in der Nekropole eines frem­

den, unbegreiflichen Volks, herausgerissen aus seiner zivi­ len Existenz und Geschichte, zurückgeworfen auf die

Entwicklungsstufe unbehauster Sammler. Stellen wir uns also vor »fern, hinter den Schrebergärten, über den Bahn­

damm hinausragend ... die verkohlten Ruinen der Stadt, eine zerrissene finstere Silhouette«42, davor eine Land­

schaft aus niederen, zementfarbenen Schuttbergen, trokkener, roter Ziegelstaub, der in großen Wolken quer über die ausgestorbene Gegend treibt, einen einzelnen Men­

schen, der im Geröll herumstochert4-1, die Haltestelle einer Bahn, mitten im Nirgendwo, Leute, die sich dort einfin-

den und von denen man, wie Böll schreibt, nicht wußte, woher sie auf einmal kamen, die aus den Hügeln gewach­

sen schienen, »unsichtbar, unhörbar . . . aus dieser Ebene des Nichts . . . Gespenster, deren Weg und Ziel nicht zu erkennen war: Gestalten mit Paketen und Säcken, Kartons

und Kisten«.44 Fahren wir mit ihnen zurück in die Stadt, in der sie leben, durch Straßenzüge, in denen die Schutthal­

den bis zum ersten Stockwerk der leergebrannten Fassa­ den sich türmen. Wir sehen Menschen, die sich im Freien kleine Feuerstellen gebaut haben (als seien sie im Urwald, schreibt Nossack45), auf denen sie ihr Essen oder ihre Wä­

sche kochen. Ofenrohre, die zwischen Mauerresten her­

vorragen, Qualm, der sich schleichend verteilt, eine alte 47

Frau mit Kopftuch und mit einer Kohlenschaufel in der Hand.46 So ungefähr muß es ausgesehen haben, das Vater­ land, im Jahr 1945. Stig Dagerman beschreibt das Leben

der Kellerbewohner in einer Stadt im Ruhrgebiet: das

scheußliche Essen, das sie aus dreckigem Schrumpelgemüse und zweifelhaften Fleischstücken zusammenkochen,

und er beschreibt den Rauch, die Kälte und den Hunger,

der herrscht in den unterirdischen Höhlen, die hustenden

Kinder, denen das Wasser, das immer auf dem F'ußboden

steht, in die zerschlissenen Schuhe schwappt. Dagerman beschreibt Schulzimmer, in denen die zerbrochenen Fen­ sterscheiben mit Schiefertafeln vernagelt sind und wo es so

finster ist, daß die Kinder ihre Vorlage nicht lesen können. In Hamburg, sagt Dagerman, habe er mit einem Herrn Schumann gesprochen, einem Bankangestellten, der das dritte Jahr schon unter der Erde wohnte. Die weißen Ge­

sichter dieser Leute, so Dagerman, schauen genau aus wie die von Fischen, wenn sie zum Luftschnappen nach oben

kommen.47 Victor Gollancz, der im Herbst 1946 einein­ halb Monate lang in der englisch besetzten Zone, vor allem

in Hamburg, in Düsseldorf und im Ruhrgebiet, unter­ wegs war und eine Reihe von Berichten für die englische

Presse geschrieben hat, macht detaillierte Angaben über Ernährungsdefizienz, Mangelerscheinungen, Hungeröde­

me, Auszehrung, Hautinfektionen und das rapide Anstei­ gen der Zahl der Tuberkulosekranken. Auch er spricht von

der tiefen Lethargie und bezeichnet sie als das damals 48

hervorstechendste Merkmal der großstädtischen Bevölke­ rung. »People drift about with such lassitude«, schreibt er,

»that you are always in danger of running them down when you happen to bc in a car.«4S Der erstaunlichste unter

Gollancz’ Berichten aus dem geschlagenen Land ist viel­

leicht die dem kaputten Schuhwerk der Deutschen gewid­

mete knappe Glosse >This Misere of BootsDie schwere Leidenszeit beginnt nun abermalsc Schlicht und

sicher stand sie ans Cembalo gelehnt, und ihre toten Augen blickten über die Nichtigkeiten, um die wir damals

schon zitterten, hinweg, vielleicht dahin, wo wir jetzt wa­ ren. Und nun umgab uns nur noch ein steinernes Meer.«55

Die hier durch ein Musikerlebnis evozierte Verbindung der äußersten Profanität mit dem Sakralen ist ein Kunst­ griff, der sich bewährt bis über das Ende hinaus. »Ein Hügelland von Backsteinen, darunter die Verschütteten,

darüber die Sterne; das Letzte, was sich da rührt, sind die Ratten. Abends in die Iphigenie«, notierte Max Frisch in Berlin.56 Ein englischer Beobachter erinnert sich an eine

Opernaufführung unmittelbar nach dem Waffenstillstand in derselben Stadt. »In the midst of such shambles only the

Germans«, so sagt er mit etwas zweischneidiger Bewunde­ rung, »could produce a magnificent full orchestra and a

crowded house of music lovers.«57 Wer dürfte den Zu­ hörern, die damals landauf und landab mit glänzenden

Augen der neu sich aufschwingenden Musik lauschten,

absprechen, daß sie bewegt waren von Gefühlen des Danks für ihre Errettung? Und doch muß auch die Frage

erlaubt sein, ob ihnen die Brust nicht schwoll vor perver­ sem Stolz darüber, daß niemand in der Menschheitsge­ schichte der Welt noch so aufgespielt und niemand so viel

durchgestanden hatte wie die Deutschen. Die Chronik da­ von ist die Lebensgeschichte des deutschen Tonsetzers

54

Adrian Leverkühn, die der Freisinger Schulmeister Zeit-

blom, inspiriert von seinem ghost-writer in Santa Barbara, zu Papier bringt, als die Stadt Dürers und Pirckheimers in

Asche gelegt und auch das nahe München getroffen wird vom Gericht. »Meine teilnehmenden Leser und Freunde«,

schreibt er, »ich fahre fort. Über Deutschland schlägt das 55

Verderben zusammen, im Schutt unserer Städte hausen,

von Leichen fett, die Ratten . . ,«58 Thomas Mann hat mit dem Doktor Faustus eine umfassende historische Kritik

geliefert von einer mehr und mehr dem apokalyptischen Weltverständnis zuneigenden Kunst und zugleich das Ge­

ständnis seiner eigenen Verstricktheit. Von dem Publikum, für das dieser Roman gedacht war, haben ihn damals wohl nur wenige verstanden, zu sehr war man beschäftigt mit

dem Abhalten von Feierstunden auf der kaum noch erkal­

teten Lava, zu sehr auch damit, sich selber von jedem Anruch zu befreien. Auf die komplizierte Frage des Ver­

hältnisses von Ethik und Ästhetik, mit der Thomas Mann sich plagte, ließ man sich nicht ein. Und doch wäre sie von

zentraler Bedeutung gewesen, wie sich an den Mängeln der wenigen literarischen Transpositionen der Vernich­ tung der deutschen Städte ablesen läßt.

Neben Heinrich Böll, dessen schwermütiger Trümmerro-

man Der Engel schmieg der literarischen Öffentlichkeit über vierzig Jahre vorenthalten blieb, waren es eigentlich nur

Hermann Kasack, Hans Erich Nossack und Peter de Men­

delssohn, die bei Ausgang des Krieges über das Thema der Zerstörung der Städte und das Überleben in einem Rui­

nenland schrieben. Die drei Autoren waren damals mit­

einander verbunden durch dieses gemeinsame Interesse. Kasack und Nossack standen etwa ab 1942, während der Arbeit an Die Stadt hinter dem Strom beziehungsweise an

56

Nekyia, regelmäßig in Kontakt; der im englischen Exil lebende Mendelssohn wiederum, der bei seiner ersten

Rückkehr nach Deutschland im Mai 1945 das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung kaum hatte fassen können, emp­

fand gewiß aufgrund dieses Eindrucks das dann im Früh­ jahr 1947 erschienene Kasacksche Werk als ein Zeitzeugnis

von höchster Aktualität. Noch im Sommer schreibt er eine begeisterte Rezension, sucht nach einem englischen Verlag

für das Buch, macht sich selber sogleich an die Überset­

zung und beginnt, aus dieser Beschäftigung mit Kasack heraus, 1948 mit der Niederschrift des Romans Die Ka­

thedrale, der sich, wie die Arbeiten Kasacks und Nossacks, als literarischer Versuch im Umfeld der totalen Zerstörung versteht. Überholt von den zahlreichen Aufgaben, die

Mendelssohn zufielen, während er im Dienst der Militär­

regierung befaßt war mit dem Wiederaufbau der deut­ schen Presse, ist die in englischer Sprache verfaßte

Erzählung Fragment geblieben und als solches erst 1983, in Mendelssohns eigener Übertragung, vorgelegt worden.

Der Schlüsseltext dieser Gruppe ist zweifellos Die Stadl hinter dem Strom, ein Werk, dem damals allgemein epocha­ le Bedeutung zugesprochen wurde und das lange als die endgültige Abrechnung mit dem Wahnsinn des national­ sozialistischen Regimes galt. »Durch ein einziges Buch«,

schrieb Nossack, »gab es wieder eine deutsche Literatur

von Rang, eine Literatur, die hier entstanden und auf un­

seren Trümmern gewachsen war.«59 Es ist freilich eine 57

andere Frage, in welchem Sinn genau Kasacks Fiktion den

damaligen deutschen Verhältnissen entsprach und was es

etwa auf sich hatte mit der von ihm aus diesen Verhältnis­ sen extrapolierten Philosophie. Das Erscheinungsbild der Stadt hinter dem Strom, in der sich »das Leben sozusagen unterirdisch abspielt«60, ist in all seinen Merkmalen

durchaus das eines zerschlagenen Gemeinwesens. »Von

den Häusern der umliegenden Straßenzeilen ragten nur die Fassaden auf, so daß man im schrägen Aufblick durch die kahlen Fensterreihen die Fläche des Himmels sehen

konnte.«61 Und es ließe sich argumentieren, daß auch die

Darstellung des »lebenlosen Lebens«62, das die Bevölke­

rung in diesem Zwischenreich fristet, ihre Anregungen bezog aus der realen wirtschaftlichen, und gesellschaftli­

chen Lage in der Zeit zwischen 1943 und 1947. Nirgends gibt es ein Fahrzeug, und die Fußgänger streichen teil­

nahmslos durch die Trümmerstraßen, »als spürten sie das Trostlose der Umgebung nicht mehr . . . Andere konnte man in den zusammengestürzten Wohnstätten, die ihres

Zweckes entkleidet waren, dabei beobachten, wie sie nach Resten von verschüttetem Hausrat suchten, dort ein

Stückchen Blech oder Draht aus den Scherben aufklaub­ ten, hier etwas Splitterholz in die umgehängten Taschen

sammelten, die wie Botanisierbüchsen aussahen.«6’ In den

dachlosen Kaufhallen wird diverser Kram in spärlicher Auswahl angeboten: »Hier waren ein paar Jacken und Ho­

sen ausgebreitet, Gürtel mit silbernen Schließen, Krawat­

58

ten und bunte Tüchter, dort hatten sich Schuhe und Stiefel aller Art angesammelt, die sich häufig in einem

recht fragwürdigen Zustand befanden. An anderen Stellen

hingen faltige Anzüge in verschiedenen Größen an Bü­ geln, Trachtenkittel und bäuerliche Wämse vergangener Moden, dazwischen lagen gestopfte Strümpfe, Socken

und Hemden, Hüte und Netze in krauser Willkür feil.«64

Die reduzierten Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse, die in solchen Passagen als die empirischen Grundlagen der Erzählung greifbar werden, fügen sich jedoch nicht zu­ sammen zu einem umfassenden Bild der Trümmerwelt,

sondern sind vielmehr bloße Versatzstücke für den über­ geordneten Plan der Mythisierung einer in ihrer Rohform

der Beschreibung sich verweigernden Wirklichkeit. Dem­ entsprechend erscheinen auch die Bomberflotten als

transreale Gegebenheiten. »Als habe Indra, dessen Grau­ samkeit im Zerstören die dämonischen Kräfte übertrifft,

es ihnen eingegeben, stiegen sie auf, die Schwarmboten

des Todes, um in hundertfach stärkerem Ausmaß als je zuvor in männermordenden Kriegen die Hallen und Häu­ ser der großen Städte niederzulegen, mit Wurf und Hieb

der Apokalypse.«65 Grünmaskierte Gestalten, Angehörige einer geheimen Sekte, die einen faden Gasgeruch ausströ­

men und vielleicht die in den Lagern Ermordeten versinn­

bildlichen sollen, werden in allegorischer Überzeichnung

vorgeführt im Disput mit den Popanzen der Macht, die,

überlebensgroß aufgeblasen, eine blasphemische Herr59

schäft verkünden, bis sie als leere Uniformhüllen in sich

zusammensacken unter Hinterlassung eines teuflischen Gestanks. Dieser fast schon Syberbergschen Inszenie­ rung, die sich den zweifelhaftesten Aspekten expressio­ nistischer Phantasie verdankt, wird im Schlußteil des Romans der Versuch einer Sinngebung des Sinnlosen auf­ gesetzt, bei welcher Gelegenheit der dienstälteste Denker

des Kasackschen Totenreichs darauf hinweist, »daß die

dreiunddreißig Eingeweihten seit längerem ihre Kräfte darauf konzentrierten, für den Gang der Wiedergeburten die lange abgeschirmte Region des asiatischen Feldes zu

öffnen und zu erweitern, und daß sich ihre Anstrengungen

zu verstärken schienen, damit sie für die Erstehung in Geist und Leib auch den Kreis des Abendlandes einbezö­

gen. Dieser bisher nur allmählich und vereinzelt sich vollziehende Austausch zwischen asiatischem und euro­ päischem Daseinsgut ist in einer Reihe von Erscheinungen

wohl erkennbar.«66 Aus weiteren Erklärungen des Meister

Magus, der in Kasacks Roman die höchste Weisheitsin­ stanz repräsentiert, geht dann hervor, daß der millionen­

fache Tod in dieser Maßlosigkeit geschehen mußte, »damit

für die andrängenden Wiedergeburten Platz geschaffen wurde. Eine Unzahl von Menschen wurde vorzeitig abge­

rufen, damit sie rechtzeitig als Saat, als apokryphe Neu­ geburt in einem bisher verschlossenen Lebensraum aufer­ stehen konnte«.66 Die Wort- und Begriffswahl solcher in

dem Kasackschen Epos nicht seltenen Passagen zeigt mit 60

erschreckender Deutlichkeit, daß die von der inneren

Emigration angeblich kultivierte Geheimsprache'’7 weit­ gehend identisch war mit dem Code der faschistischen

Gedankenwelt. Es ist für den heutigen Leser schwer mit­ anzusehen, wie sich Kasack, ganz im Stil seiner Zeit, mit pseudohumanistischen und fernöstlichen Philosophismen

und unter Aufbietung von viel symbolistischem Brimbo­ rium hinwegsetzt über die unerhörte Realität der kollekti­

ven Katastrophe und wie er sich selber, vermittels der gesamten Veranstaltung seines Romans, einreiht in die hö­

here Gemeinschaft der rein Geistigen, die in der Stadt hinter dem Strom als Archivare das Gedächtnis der

Menschheit bewahren. Auch Nossack verfällt in Nekyia

der Versuchung, die realen Schrecken der Zeit durch Ab­ straktionskunst und metaphysischen Schwindel zum Ver­ schwinden zu bringen. Nekyia ist, genau wie Die Stadt

hinter dem Strom, der Bericht von einer Reise ins Toten­

reich, und wie bei Kasack, so gibt es auch hier Lehrer, Mentoren, Meister, Urahnen und Urmütter, sehr viel pa­ triarchalische Disziplin und sehr viel pränatales Dunkel.

Wir sind also mitten in der pädagogischen deutschen Pro­ vinz, die von Goethes idealischer Vision über den Stern

des Bundes bis zu Stauffenberg reicht und zu Himmler. Wenn dieses Modell einer vor und über dem Staat wirk­

samen, ein geheimes Wissen hütenden Elite trotz seiner restlosen Kompromittierung in der gesellschaftlichen Pra­

xis nun noch einmal herangezogen wird, um den aus der

61

totalen Zerstörung mit dem blanken Leben Davongekom­ menen ein Licht aufzustecken über den präsumptiven

metaphysischen Sinn ihrer Erfahrung, dann zeugt das von einer tiefen, weit über das Bewußtsein des einzelnen

Autors hinausreichenden ideologischen Verbohrtheit, die

auszugleichen war nur durch einen unverwandten Blick auf die Wirklichkeit.

Es ist das unabweisbare Verdienst Nossacks, daß er, trotz seiner fatalen Neigung zur philosophischen Überhö­

hung und falschen Transzendenz, als einziger Schriftstel­

ler damals den Versuch unternahm, das, was er tatsächlich

gesehen hatte, in möglichst unverbrämter Form niederzu­ schreiben. Zwar bricht auch in seinem Rechenschafts­ bericht über den Untergang von Hamburg bisweilen die

Rhetorik der Schicksalshaftigkeit durch, ist die Rede da­ von, daß das Antlitz des .Menschen geheiligt worden sei zum Durchgang für Ewiges68 und nehmen die Dinge zu­ letzt eine märchenhaft-allegorische Wendung, aber insge­

samt geht es ihm hier doch in erster Linie um die schiere Faktizität, um die Jahreszeit und das Wetter, den Stand­ punkt des Beobachters, das mahlende Geräusch der sich nähernden Geschwader, den roten Feuerschein am Hori­

zont, um den körperlichen und seelischen Zustand der aus der Stadt Geflohenen, um die ausgebrannten Kulissen, die

Schornsteine, die seltsamerweise stehen geblieben sind, die Wäsche, die auf dem Gestell vor dem Küchenfenster

trocknet, um eine zerrissene Gardine, die aus einer leeren 62

Veranda weht, um ein Wohnzimmersofa mit gehäkelter Decke und die ungezählten anderen, für immer verlorenen Sachen und um den Schutt, unter dem sie begraben sind,

um das grauenhafte neue Leben, das sich darunter regt, und die plötzliche Gier der Menschen nach Parfüm. Der moralische Imperativ, daß einer zumindest aufschreiben

muß, was in jener Julinacht in Hamburg geschah, führt zu einem weitgehenden Verzicht auf Kunstübung. In einer leidenschaftslosen Art der Rede wird Bericht erstattet wie »von einem furchtbaren Begebnis aus vorgeschichtlicher Zeit.«69 In diesem bombensicheren Keller ist eine Gruppe von Menschen verschmort, weil die Türen sich verklemmt

hatten und der Kohlenvorrat in den anliegenden Räumen brannte. So ist das gewesen. »Sie waren alle von den heißen

Wänden in die Mitte des Kellers geflohen. Dort fand man sie zusammengedrängt. Sie waren aufgequollen von Hit­ ze.«7" Der Ton, in dem hier berichtet wird, ist der des

Boten in der Tragödie. Nossack weiß, daß man solche Boten oft hängt. Eingebaut in sein Memorandum zum

Untergang Hamburgs ist die Parabel von einem Men­ schen, der behauptet, erzählen zu müssen, wie es war, und

der von seinen Zuhörern erschlagen wird, weil er eine tödliche Kälte verbreitet. Ein solch schändliches Schicksal bleibt denen, die einen metaphysischen Sinn aus der Zer­

störung retten, in der Regel erspart. Ihr Geschäft ist weniger gefährlich als das der konkreten Erinnerung. In einem Aufsatz, den Elias Canetti dem Tagebuch des

63

Dr. Hachiya aus Hiroshima gewidmet hat, wird auf die

Frage, was das Überleben einer Katastrophe solchen Aus­ maßes bedeute, zur Antwort gegeben, daß sich das einzig

ablesen lasse an einem Text, der wie die Notate Hachiyas gekennzeichnet sei von Präzision und Verantwortung. »Wenn es einen Sinn hätte, darüber nachzudenken«,

schreibt Canetti, »welche Form von Literatur heute unent­

behrlich ist, einem wissenden und sehenden Menschen unentbehrlich ist, so ist es diese.«71 Dasselbe ließe sich

sagen über Nossacks auch innerhalb seines eigenen Werks

singulären Bericht über den Untergang der Stadt Ham­ burg. Das Ideal des Wahren, das in seiner, über weite Strecken zumindest, gänzlich unprätentiösen Sachlichkeit beschlossen ist, erweist sich angesichts der totalen Zerstö­

rung als der einzige legitime Grund für die Fortsetzung der literarischen Arbeit. Umgekehrt ist die Herstellung von ästhetischen oder pseudoästhetischen Effekten aus

den Trümmern einer vernichteten Welt ein Verfahren, mit dem die Literatur sich ihrer Berechtigung entzieht.

Ein schwerlich zu überbietendes Beispiel dafür sind die Seite um Seite sich fortsetzenden Peinlichkeiten in Peter

de Mendelssohns (dankenswerterweise, wie man sagen

möchte) lange unveröffentlicht gebliebenem und auch

nach seinem Erscheinen kaum beachteten Erzählfragment Die Kathedrale. Es beginnt damit, daß Torstenson, der

Held der Geschichte, am Morgen nach einem schweren Luftangriff aus einem verschütteten Keller hervorkommt. 64

»Er schwitzte, der Puls hämmerte gegen seine Schläfen.

Himmelherrgott, dachte er, das ist ja schauderhaft; ich bin kein junger Mann mehr; vor zehn, vor fünf Jahren hätte

mir so etwas nicht das geringste ausgemacht; aber jetzt bin ich einundvierzig, gesund, gut imstande und nahezu un­

verletzt, während alle Welt rings um mich tot zu sein scheint, und die Hände zittern mir und die Knie wackeln,

und ich brauche meine ganze Kraft, um mich aus diesem Trümmerhaufen herauszuarbeiten. In der Tat schien je­ dermann rings um ihn herum tot zu sein; die Stille war

vollständig; er rief ein paar Mal, ob jemand da sei, erhielt

aber keine Antwort aus der Dunkelheit.«72 In diesem zwi­

schen grammatischen Entgleisungen und schlechtem Ab­

klatsch schlingernden Stil geht es dahin, nicht ohne daß allerlei Schreckliches zitiert wird, gewissermaßen zum Be­

weis, daß der Autor nicht zögert, die Wirklichkeit der

Zerstörung in ihren drastischsten Aspekten abzubilden. Freilich bleibt auch dabei eine fatale Neigung zum Melo­

dramatischen dominant. Torstenson sieht »den Kopf einer

alten Frau, der schief und verzerrt in einen gebrochenen

Fensterrahmen gezwängt war«73, und fürchtet, seine gena­ gelten Stiefel könnten im Dunkeln »auf der schwindenden Wärme einer zerquetschten Frauenbrust ausgleiten«73.

Torstenson fürchtet, Torstenson sieht, Torstenson dachte,

hatte das Gefühl, war sich im Zweifel, schätzte, zankte mit sich selbst, war nicht gesonnen - aus dieser egomanischen

Perspektive, die von dem vor sich hin ratternden Roman­ 65

mechanismus notdürftig aufrechterhalten wird, müssen

wir eine Handlung mitverfolgen, die ihren grandios trivia­ len Zuschnitt offenbar den Drehbüchern entlehnte, die

Thea von Harbou für Fritz Lang geschrieben hat, genauer gesagt dem Skript für die Megaproduktion Metropolis. Die Überheblichkeit des technischen Menschen ist denn auch eines der Hauptthemen von Mendelssohns Roman. Torstenson hat als junger Architekt

Anklänge an Heinrich

Tessenow und seinen Starschüler Albert Speer sind trotz

des Dementis des Autors nicht von ungefähr - die gigan­ tische Kathedrale errichtet, die als einziges Bauwerk auf

dem Trümmerfeld noch steht. Die zweite Dimension der

Erzählung ist das Erotische. Torstenson sucht nach Karena, seiner ersten Liebe, der wunderschönen Tochter des

Totengräbers, die nun wahrscheinlich verschüttet liegt un­ ter den Trümmern. Karena ist, wie Maria in Metropolis,

eine von der herrschenden Macht pervertierte Heilige. Torstenson erinnert sich an die erste Begegnung mit ihr bei dem Buchhändler Kafka, der gerade wie der Schwarz­ künstler Rotwang in Langs Film seine Wohnung hat in

einem krummen, mit Büchern vollgestopften und mit Falltüren versehenen Haus. An jenem Winterabend, so

entsinnt Torstenson sich, trug Karena eine Kapuze, die von innen zu brennen schien. »Der rote Futterstoff und die

goldenen Haarsträhnen über ihren Wangen hatten sich zu einem Flammenkranz verschmolzen, er rahmte ihr Ge­

sicht ein, das still und unberührt blieb und sogar schüch­ 66

tern zu lächeln schien«74 - eine Art Nachbild zweifellos der heiligen Maria der Katakomben, die später, mutiert zur

Roboterfrau, in den Dienst Fredersens, des Herrn von Metropolis, tritt. Karena begeht einen ähnlichen Verrat,

indem sie sich, als Torstenson ins Exil geht, auf die Seite

des neuen Machthabers Gossensass schlägt. Das Buch sollte, Mendelssohn zufolge, damit enden, daß Torstenson mit einem der zur Beseitigung der Trümmer eingesetzten

Lastkähne auf die See hinausfährt und dort, während das

Geröll in der Tiefe versinkt, die ganze Stadt auf dem Mee­ resboden sieht, heil und unversehrt, als ein anderes Atlan­

tis. »Alles, was oben zerstört ist, steht hier unten unbe­ schädigt, und alles, was oben noch steht, vor allem die

Kathedrale, fehlt hier unten.«'3 Torstenson steigt über eine

Wassertreppe in die versunkene Stadt hinunter, wird dort

verhaftet und muß sich vor einem Gericht für sein Leben verantworten - auch dies eine phantastische Vision ganz nach dem Geschmack der Thea von Harbou. Die Choreo­

graphie der Massen, der Aufmarsch der siegreichen

Heere in der zerstörten Stadt, der Einzug der überleben­

den Bevölkerung in die Kathedrale, all dies trägt ebenso das Markenzeichen Lang/Harbou wie die wiederholte Verdichtung der Handlung zu einem gegen jeden litera­ rischen Anstand verstoßenden Kitsch. Torstenson, dem gleich zu Beginn des Romans ein elternloser Knabe zu­

läuft, stößt bald darauf auf ein aus einem Straflager ent­

kommenes siebzehnjähriges Mädchen. Wie sie einander 67

auf der Treppe der Kathedrale »im grellen Sonnenlicht«76 zum erstenmal gegenüberstehen, gleiten ihr die Fetzen ihres Kittels von der Schulter, und Torstenson betrachtet

sie, wie es heißt, »mit gelassener Gründlichkeit«. »Sie war ein schmutziges, schmuddeliges, grün und blau geschlage­

nes Mädchen mit schwarzem, zottigen Haar, aber in ihrer jungen Schlankheit und Schmiegsamkeit schön wie eine

Göttin aus den Hainen des Altertums.«76 Passenderweise stellt es sich dann heraus, daß das Mädchen Aphrodite Homeriades heißt und (zusätzlicher Frisson) eine griechi­ sche Jüdin aus Saloniki ist. Torstenson, der sich zunächst selbst mit dem Gedanken trägt, mit dieser seltenen Schön­

heit zu schlafen, führt sie schließlich in einer Art Versöh­

nungsszene dem deutschen Knaben zu, damit dieser an ihr das Geheimnis des Lebens erlerne, auch das, könnte man meinen, ein Reflex der vor dem Tor einer mächtigen Ka­ thedrale gedrehten Schlußeinstellungen von Metropolis.

Es ist nicht leicht zusammenzufassen, was alles an Laszi­

vität und erzdeutschem Rassenkitsch Mendelssohn (in bester Absicht, wie man annehmen muß) vor dem Leser hier ausbreitet. Jedenfalls markiert die rückhaltlose Fiktionalisierung des Themas der zerstörten Stadt durch Men­

delssohn den Gegenpol zu der prosaischen Nüchternheit, um die Nossack in den besten Passagen seines Protokolls Der Untergang sich bemüht. Wo es Nossack gelingt, den von der Operation Gomorrha ausgelösten Schrecknissen mit vorsätzlicher Zurückhaltung sich anzunähern, da

68

überantwortet sich Mendelssohn über mehr als zweihun­ dert Seiten hinweg blindlings der Kolportage.

Eine ganz anders geartete und doch ähnlich bedenkliche

literarische Verarbeitung der Wirklichkeit der Zerstörung findet sich gegen Ende von Arno Schmidts 1953 erschie­ nenem Kurzroman Aus dem Leben eines Fauns. Wenn es

schon etwas unfein ist, mit dem Finger auf die Verfehlun­ gen von Schriftstellern zu verweisen, die später hochver­

diente Akademiepräsidenten geworden sind, so scheut

man sich beinahe noch mehr, den Ruf des kompromiß­ losen Bargfelder Wortkünstlers anzutasten. Nichtsdesto­

weniger glaube ich ein Fragezeichen setzen zu dürfen hinter den dynamischen Sprachaktionismus, mit dem

Schmidt hier das Schauspiel eines Luftangriffs inszeniert. Gewiß ist es die Intention des Autors, den Strudel der Zerstörung in der aus den Angeln gehobenen Sprache ir­ gendwie sinnfällig werden zu lassen, doch sehe zumindest

ich, wenn ich einen Abschnitt wie den folgenden lese, nir­

gends das, worum es angeblich geht: das Leben in dem

furchtbaren Augenblick seiner Desintegration. »Ein ver­ grabener Spiritustank rüttelte sich frei, rollte sich auf wie

Marienglas auf heißer Hand, und zerging in einen Halemaumau (aus dem Feuerbäche gossen: ein Polizist gebot

bestürzt dem rechten davon Einhalt und verdampfte im Dienst). Eine fette Wolkige richtete sich am Magazin auf,

blähte den Kugelbauch und rülpste einen Tortenkopf hoch,

lachte kehlig: o wat!, und knotete kollernd Arme und Beine 69

durcheinander, wandte sich steatopyg her, und fortzte

ganze Garben von heißen Eisenrohren aus, endlos, die Könnerin, daß die Sträucher dabei knixten und plapper­

ten.«77 Ich sehe nichts von dem, was da beschrieben wird, sondern sehe immer nur den Autor, eifrig und verbissen

zugleich, über seiner linguistischen Laubsägearbeit. Es ist

bezeichnend für den Hobbybastler, daß er nach einem ein­ mal entwickelten Verfahren immer wieder das gleiche produziert, und so bleibt auch Schmidt, selbst in diesem

äußersten Fall, unbeirrt bei seinen Leisten: kaleidoskopar­ tige Auflösung der Konturen, anthropomorphe Vision der Natur, das Marienglas aus dem Zettelkasten, die eine oder

andere lexikalische Rarität, Groteskerien und Metaphori­ sches, Humoristisches und Lautmalerei, Ordinäres und

Erlesenes, Brachiales, Brisantes und Bruitistisches. Ich

glaube nicht, daß meine Abneigung gegen den demonstra­ tiven Avantgardismus der Schmidtschen Etüde über die

Stunde der Zerstörung einer grundsätzlich form- und

sprachkonservativen Einstellung entstammt, denn im Ge­ gensatz zu dieser Fingerübung leuchten mir die diskon­

tinuierlichen Notizen, die sich Jäcki in Hubert Fichtes Roman Detlevs Imitationen >Grünspan< im Verlauf seiner

Recherchen über den Angriff auf Hamburg macht, als

literarische Methode durchaus ein, wahrscheinlich vor

allem deshalb, weil sie keinen abstrakt-imaginären, son­ dern einen konkret-dokumentarischen Charakter haben. Im Dokumentarischen, das in Nossacks Der Untergang

70

einen frühen Vorläufer hat, kommt die deutsche Nach­ kriegsliteratur eigentlich erst zu sich und beginnt mit ihren

ernsthaften Studien zu einem der tradierten Ästhetik in­

kommensurablen Material. Man schreibt 1968, das Jahr, in dem sich der Angriff auf Hamburg zum 25. Mal jährt.

Jäcki findet in der medizinischen Bibliothek Eppendorf ein

1948 erschienenes Bändchen aus dicken, quittengelben

Vorwährungsreformblättern. Der Titel: Ergebnisse patholo­ gisch-anatomischer Untersuchungen anläßlich der Angriffe

auf Hamburg in den Jahren 1943-1945. Mit dreißig Abbil­ dungen und elf Tafeln. Im Park - »Kühler Wind um Flieder. Im Hintergrund die Klappe, Tasse, Pißbude, um die nachts Alstertunten schwärmen« - blättert Jäcki in dem

Leihbuch: »b. Die Autopsie der Schrumpfleiche. Zur Ver­ arbeitung lagen somit Hitzeschrumpfleichen mit den Be­

gleiterscheinungen mehr oder weniger fortgeschrittener Fäulnis vor. Bei diesen Schrumpfleichen konnte von einer

Sektion mit Messer und Schere keine Rede sein. Als erstes waren die Kleider zu entfernen, was bei der außergewöhn­

lichen Starre der Körper in der Regel nur durch Zer­ schneiden oder Zerfetzen und unter Beschädigung einzel­

ner Körperteile zu bewerkstelligen war. Köpfe oder

Extremitäten konnten je nach der Trockenheit der Ge­ lenkverbindungen vielfach mühelos abgebrochen werden,

wofern sie überhaupt noch im Laufe der Bergung und des Transportes den Zusammenhang mit dem Körper bewahrt

hatten. Insoweit die Körperhöhlen nicht schon durch Zer­

71

Störung der Decken frei vorlagen, bedurfte es der Kno­ chenschere oder der Säge, um die erhärtete Haut zu

durchtrennen. Verfestigung und Schrumpfung der inne­ ren Organe verhinderten Messerschnitte; vielfach konnten die einzelnen Organe, besonders die Brustorgane auch mit

anhängender Trachea, Aorta und Karotiden, mit Zwerch­ fell, Leber und Nieren als Ganzes herausgebrochen wer­ den. Organe, die sich in fortgeschrittener Autolyse befan­

den oder durch die Hitzewirkung vollkommen durch­

härtet waren, waren mit dem Messer meist schwer zu durchtrennen; faulende, weich-feste, lehmartige, schmie­ rige oder zundrig-bröckelige Gewebsmassen oder Organ­

rückstände wurden zerbrochen, zerrissen, zerkrümelt oder

zerpflückt.«7’1 Hier, in der fachmännischen Beschreibung der nochmaligen Zerstörung eines durch den Feuersturm

mumifizierten Leibes, wird eine Wirklichkeit sichtbar, von der Schmidts linguistischer Radikalismus nichts weiß.

Was seine Kunstsprache verbirgt, das starrt uns entgegen

aus der Sprache der Verwalter des Grauens, die unbeirrt und ohne viel Skrupel bei ihrer Sache sind, vielleicht weil sie, wie Jäcki vermutet, ein paar Blumentöpfe gewinnen

wollen am Rande der Katastrophe. Das von einem gewis­

sen Dr. Siegfried Gräff im Dienst der Wissenschaft er­ stellte Dokument eröffnet die Aussicht in den Abgrund

der gegen alles gewappneten Seele. Der Aufklärungswert

solcher authentischen Fundstücke, vor denen jede Fiktion verblaßt, bestimmt auch die archäologische Arbeit Alex­

72

ander Kluges auf den Abraumhalden unserer kollektiven

Existenz. Sein Text über den Luftangriff auf Halberstadt setzt ein an dem Punkt, da der seit Jahren bewährte Pro­ grammablauf des »Capitols«, in dem an diesem 8. April der F ilm Heimkehr mit Paula Wessely und Attila Hörbiger ge-

,ULA WESSELY . PETER PETERSEN . ATT1I A HÖRBIGER

Ruth Hellberg, Berta Drews, Elsa Wagner, Gerhild Weber Carl Raddatz, Werner Fütterer, Otto Wernicke «adTOnfryflE

Drchbud»; Gerhard Menzel • Musik: Willy Schmidt-Gentner

Herstellungsgruppe: Erich von Neusser /rw SPIELLEITUNG: GUSTAV UCICKY V E(n Gustav Ucicky-Film der Wien-Film im Verleih der Ufa '''''

73

zeigt werden soll, durchbrochen wird von dem übergeord­

neten Programm der Zerstörung, und Frau Schrader, die erfahrene Kino-Fachkraft, versucht, die Trümmer bis zum

Beginn der 14-Uhr-Vorstellung beiseite zu räumen. Das Quasi-Humoristische dieser Passage, auf die ich vorher

schon einmal verwies, ergibt sich aus der extremen Dis­

krepanz zwischen den aktiven und passiven Aktionsfel­

dern der Katastrophe beziehungsweise aus der Unange­ messenheit der reflexartigen Reaktionen Frau Schraders,

für die »die Verwüstung der rechten Seite des Theaters . . . in keinem sinnvollen oder dramaturgischen Zusammen­

hang mit dem vorgeführten Film«79 stand. Ähnlich irra­

tional scheint der Einsatz einer Kompanie Soldaten, die

angewiesen sind, »100 zum Teil übel zugerichtete Leichen, teils aus dem Erdreich, teils aus erkennbaren Vertiefun­ gen«80 auszugraben und zu sortieren, ohne daß ihnen klar wäre, welchen Zweck »dieser Arbeitsgang« unter den herr­

schenden Verhältnissen verfolgt. Der unbekannte Foto­ graf, der von einer Militärstreife gestellt wird und behaup­ tet, »er habe die brennende Stadt, seine Heimatstadt in

ihrem Unglück, festhalten wollen«81, orientiert sich wie

Frau Schrader an dem, was sein beruflicher Instinkt ihm eingibt, und seine Intention, auch das Ende noch zu do­

kumentieren, wirkt nur deshalb nicht absurd, weil seine Bilder, die Kluge dem Text beigegeben hat, auf uns ge­

kommen sind, was nach der ihm damals möglichen Vor­ aussicht kaum zu erwarten war. Die Turmbeobachterin74

ncn, Frau Arnold und Frau Zacke, mit Klappstühlen,

Taschenlampen, Thermosflaschen, Brotpaketen, Fernglä­ sern und Sprechfunkgeräten versehen, machen schulmä­

ßig noch ihre Meldung, selbst als der Turm unter ihnen sich schon zu bewegen scheint und die Holzverschalung zu

brennen beginnt. Frau Arnold beendet ihr Leben unter einem Schuttberg, auf dem eine Glocke steht, während Frau Zacke mit gebrochenem Oberschenkel stundenlang

liegt, bis sie von Fliehenden aus den Häusern am Martini­ plan gerettet wird. Eine Hochzeitsgesellschaft in der Gast­

wirtschaft >Zum Roß< ist schon zwölf Minuten nach Vollalarm mitsamt ihren sozialen Differenzen und Animo­ sitäten - der Bräutigam stammte aus besitzender Familie

in Köln, die Braut, Halberstädterin, aus den niedrigeren

Schichten - begraben. Diese und zahlreiche andere den

Text konstituierende Geschichten zeigen, wie die betrof­

fenen Individuen und Gruppen mitten in der Katastrophe noch außerstande sind, den tatsächlichen Grad der Bedro­

hung zu taxieren und von dem ihnen vorgeschriebenen

Rollenverhalten abzuweichen. Da in der sich beschleuni­

genden Entwicklung der Katastrophe, wie Kluge betont, die Normalzeit und »die sinnliche Verarbeitung der Zeit«*2

auseinanderstreben, wäre es den Halberstädtern, so Klu­ ge, erst »mit den Gehirnen von morgen« möglich gewesen,

»praktikable Notmaßnahmen zu ersinnen«.*2 Dies jedoch

heißt für Kluge nicht, daß, umgekehrt, auch jede retro­ spektive Untersuchung der Geschichte solcher Katastro­

75

phen vergebens wäre. Der Lernprozeß, der sich im nachhinein vollzieht, ist vielmehr

und das ist die raison

d’etre von Kluges dreißig Jahre nach dem Ereignis zusam­

mengesetztem Text

die einzige Möglichkeit, die in den

Menschen sich regenden Wunschvorstellungen umzubie­ gen auf die Antizipation einer Zukunft, die nicht schon

von der aus verdrängter Erfahrung resultierenden Angst besetzt wäre. Dergleichen schwebt der Volksschullehrerin

Gerda Baethe vor, die in Kluges Text auftritt. Freilich hätten, so merkt der Autor an, zur Realisierung einer »Strategie von unten«, wie sie Gerda im Sinn hat, »seit 1918

siebzigtausend entschlossene Lehrer, alle wie sie, in jedem

der am Krieg beteiligten Länder, je zwanzig Jahre, hart unterrichten müssen«/3 Die Perspektive, die sich hier für einen unter Umständen möglichen, anderen Ablauf der

Geschichte auftut, versteht sich, ihrer ironischen Einfär­ bung zum Trotz, als ernstgemeinter Appell für eine, gegen

alle Wahrscheinlichkeitsrechnung, zu erarbeitende Zu­

kunft. Gerade Kluges detaillierte Beschreibung der gesell­ schaftlichen Organisation des Unglücks, die programmiert

wird von den beständig mitgeschleppten und beständig sich potenzierenden Fehlleistungen der Geschichte, bein­

haltet die Konjektur, daß ein richtiges Verständnis der von uns in einem fort inszenierten Katastrophen die erste Vor­ aussetzung darstellt für dje gesellschaftliche Organisation

des Glücks. Kaum von der Hand zu weisen ist anderer­

seits, daß die planmäßige Form der Zerstörung, die Kluge 76

herleitet aus der Entwicklung der industriellen Produk­

tionsverhältnisse, das Prinzip Hoffnung kaum mehr zu

rechtfertigen scheint. Die Herausbildung der Strategie des Luftkriegs in ihrer ungeheuren Komplexität,die Professio­

nalisierung der Bomberbesatzungen »in geschulte Beamte des Luftkriegs«84, die Bewältigung des psychologischen Problems, wie das Interesse der Besatzungen an ihrer Auf­ gabe trotz der Abstraktheit ihrer Funktion wachzuhalten sei, die Frage, wie der ordentliche Ablauf eines Opera­

tionszyklus, in dem »200 mittlere Industrieanlagen«85 auf eine Stadt zufliegen, gewährleistet werden kann, wie es technisch zu machen ist, daß die Wirkung der Bomben zu

Flächenbränden und Feuerstürmen sich auswächst, all

diese Aspekte, die Kluge vom Standpunkt der Organi­

satoren her anvisiert, lassen erkennen, daß ein derartiges Quantum an Intelligenz, Kapital und Arbeitskraft in die Planung der Zerstörung eingebracht wurde, daß diese sich unter dem Druck des akkumulierten Potentials schließlich

vollziehen mußte. Ein Beleg für die Irreversibilität solcher

Entwicklung findet sich in einem auf das Jahr 1952 datier­ ten Interview zwischen dem Halberstädter Reporter Kun-

zert und Brigadier Frederick L. Anderson von der achten

US-Luftflotte, das Kluge in seinen Text interpoliert hat und in dem Anderson vom militärischen Standpunkt aus

auf die Frage eingeht, ob nicht das rechtzeitige Hissen einer aus sechs Bettlaken gefertigten weißen Fahne über

den Martinitürmen den Angriff auf die Stadt hätte abwen­

77

den können. Andersons Erklärungen gipfeln in einer Aus­

sage, in der die notorische irrationale Spitze aller ratio­

nalistischen Argumentation sichtbar wird. Er verweist darauf, daß es sich bei den mitgeführten Bomben letztlich um »teure Ware« handelt. »Man kann das praktisch auch nicht auf die Berge oder das freie Feld hinschmeißen, nachdem es mit viel Arbeitskraft zu Hause hergestellt

ist.«X(’ Die Konsequenz der übergeordneten Produktions­ zwänge, denen sich - selbst bei bestem Willen - weder verantwortliche einzelne noch Gruppen zu entziehen ver­ mögen, ist die ruinierte Stadt, wie sie auf einem von Kluge

dem Text beigegebenen Foto vor uns sich ausbreitet. Un­

terschrieben ist das Bild mit folgendem Marx-Zitat: »Man sieht, wie die Geschichtexler Industrie und das gewordene gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen BemußtseinskräJ'te, die sinnlich vor­

78

liegende menschliche Psychologie ist. . .«(Kluges Hervor­ hebungen),87 Die Geschichte der Industrie als das offene

Buch des menschlichen Denkens und Fühlens - läßt die materialistische Erkenntnistheorie oder irgendeine Er­

kenntnistheorie überhaupt sich aufrechterhalten ange­

sichts solcher Zerstörung, oder ist nicht diese vielmehr das unwiderlegbare Exempel dafür, daß die gewissermaßen unter unserer Hand sich entwickelnden und dann anschei­

nend unvermittelt ausbrechenden Katastrophen in einer

Art Experiment den Punkt vorwegnehmen, an dem wir aus unserer, wie wir so lange meinten, autonomen Geschichte zurücksinken in die Geschichte der Natur? »(Die Sonne

>lastet< über der »Stadt«, da ja kaum Schatten ist.) Über den zugeschütteten Grundstücken und den durch die Trüm-

merwelt verwischten Straßenzügen ziehen sich nach eini­ gen Tagen Trampelpfade, die auf legere Weise an frühere Wegverbindungen anknüpfen. Auffällig ist die Stille, die

über der Trümmerstätte liegt. Die Ereignislosigkeit trügt insofern, als in den Kellern Brände noch leben, die sich von Kohlenkeller zu Kohlenkeller unterirdisch dahinzie­ hen. Viel Krabbelgetier. Einige Zonen der Stadt stinken.

Es sind Leichensucher-Gruppen tätig. Ein strenger, >stil-

ler< Geruch nach Verbranntem liegt über der Stadt, der nach einigen Tagen »vertraut« empfunden wird.«87 Kluge blickt hier im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn von

einer übergeordneten Warte hinab auf das Feld der Zer­ störung. Die ironische Verwunderung, mit der er die

79

Tatsachen registriert, erlaubt ihm die Einhaltung der für

jede Erkenntnis unabdingbaren Distanz. Und doch rührt sich sogar in ihm, diesem aufgeklärtesten aller Schriftstel­

ler, der Verdacht, daß wir aus dem von uns angerichteten

Unglück nichts zu lernen vermögen, sondern, unbelehr­ bar, immer nur fortmachen auf Trampelpfaden, die auf

legere Weise an die alten Wegverbindungen anknüpfen.

Kluges Blick auf seine zerstörte Heimatstadt ist darum, aller intellektuellen Unentwegtheit zum Trotz, auch der

entsetzensstarre des Engels der Geschichte, von dem Wal­ ter Benjamin gesagt hat, daß er mit seinen aufgerissenen

Augen »eine einzige Katastrophe [sieht], die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße

schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln ver­ fangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr

schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in

die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trüm­ merhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den

Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«88

80

III Die von den Züricher Vorlesungen ausgelösten Reaktionen

verlangen noch nach einer Nachschrift. Was ich in Zürich vortrug, war von mir selber nur gedacht gewesen als eine

unfertige Sammlung diverser Beobachtungen, Materialien

und Thesen, von der ich vermutete, daß sie in vielem der Ergänzung und Korrektur bedürfte. Insbesondere glaubte

ich, daß meine Behauptung, die Zerstörung der deutschen

Städte in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs habe im Bewußtsein der neu sich formierenden Nation keinen Platz gefunden, widerlegt werden würde durch Verweise auf

Exempel, die mir entgangen waren. Nun ist es aber so nicht gekommen. Vielmehr hat alles, was mir in Dutzenden von Zuschriften übermittelt wurde, mich in meiner Auffassung

bestätigt, daß sich die Nachgeborenen, wenn sie sich einzig

auf die Zeugenschaft der Schriftsteller verlassen wollten, kaum ein Bild machen könnten vom Verlauf, von den Aus­ maßen, von der Natur und den Folgen der durch den

Bombenkrieg über Deutschland gebrachten Katastrophe. 81

Gewiß gibt es den einen oder anderen einschlägigen Text, doch steht das wenige uns in der Literatur Überlieferte

sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in

keinem Verhältnis zu den extremen kollektiven Erfahrun­ gen jener Zeit. Die damals, wie man meinen müßte, wahr­

haftig nicht zu übersehende und die Physiognomie Deutschlands bis heute bestimmende Tatsache der Zerstö­

rung fast all seiner größeren und zahlreicher kleineren

Städte konstituierte sich in den nach 1945 entstandenen Werken als ein Sich-Ausschweigen, als eine Absenz, die

auch für andere Diskursbereiche vom Familiengespräch bis hin zur Geschichtsschreibung bezeichnend ist. Es er­ scheint mir bemerkenswert, daß die Zunft der deutschen

Historiker, die ja bekanntlich zu den fleißigsten gehört, zu

diesem Thema, soweit ich sehe, bisher keine umfassende oder auch nur grundlegende Studie hervorgebracht hat. Einzig der Militärhistoriker Jörg Friedrich hat sich im 8.

Kapitel seiner Arbeit Das Gesetz des Krieges™ genauer mit

der Evolution und den Konsequenzen der Zerstörungs­ strategie der Alliierten befaßt. Bezeichnenderweise jedoch

ist diesen Ausführungen bei weitem nicht das Interesse zuteil geworden, das sie verdient hätten. Das für mich im

Laufe der Jahre stets deutlicher werdende, skandalöse De­ fizit erinnerte mich daran, daß ich aufgewachsen war mit

dem Gefühl, es würde mir etwas vorenthalten, zu Hause, in der Schule und auch von den deutschen Schriftstellern, deren Bücher ich in der Hoffnung las, mehr über die ün-

82

geheuerlichkeiten im Hintergrund meines eigenen Lebens erfahren zu können.

Ich habe meine Kindheit und Jugend in einer von den unmittelbaren Auswirkungen der sogenannten Kampf­

handlungen weitgehend verschonten Gegend am Nord­

rand der Alpen verbracht. Bei Kriegsende war ich gerade ein Jahr alt und kann also schwerlich auf realen Ereignis­

sen beruhende Eindrücke aus jener Zeit der Zerstörung bewahrt haben. Dennoch ist es mir bis heute, wenn ich

Photographien oder dokumentarische Filme aus dem Krieg sehe, als stammte ich, sozusagen, von ihm ab und als

fiele von dorther, von diesen von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herauskommen werde. In einem Festbuch über die

Geschichte des Marktfleckens Sonthofen, das 1963 aus Anlaß der Stadterhebung vorgelegt wurde, heißt es: »Viel hat uns der Krieg genommen, doch uns blieb, unberührt

und blühend wie eh und je, unsere herrliche Heimatland­ schaft.«90 Lese ich diesen Satz, so verschwimmen vor

meinen Augen Bilder von Feldwegen, Flußauen und

Bergwiesen mit den Bildern der Zerstörung, und es sind die letzteren, perverserweise, und nicht die ganz irreal

gewordenen frühkindlichen Idyllen, die so etwas wie ein

Heimatgefühl in mir heraufrufen, vielleicht weil sie die mächtigere, übergeordnete Wirklichkeit meiner ersten Le­ bensjahre repräsentieren. Heute weiß ich, daß damals, als

ich auf dem Altan des Seefelderhauses in dem sogenannten

83

Stubenwagen lag und hinaufblinzelte in den weißblauen

Himmel, überall in Europa Rauchschwaden in der Luft hingen, über den Rückzugsschlachten im Osten und im

Westen, über den Ruinen der deutschen Städte und über

den Lagern, in denen man die Ungezählten verbrannte aus

Berlin und aus Frankfurt, aus Wuppertal und aus Wien, 84

aus Würzburg und Kissingen, aus Hilversum und Den

Haag, Naumur und Thionville, Lyon und Bordeaux, Kra­

kau und Lodz, Szeged und Sarajevo, Saloniki und Rhodos,

Ferrara und Venedig - kaum ein Ort in Europa, aus dem in diesen Jahren niemand deportiert worden wäre in denTod.

Sogar in den entlegensten Dörfern auf der Insel Korsika habe ich Gedenktafeln gesehen, auf denen zu lesen steht

>morte ä Auschwitz« oder >tue par les Allemands, Flossen­

burg 1944«. Was ich übrigens in Korsika, in der mit verstaubtem Pseudobarock überladenen Kirche von Morosaglia, auch noch gesehen habe - diese Abschweifung sei

erlaubt -, war das Schlafzimmerbild meiner Eltern, einen

Öldruck, Christus darstellend in nazarenerhafter Schön­ heit, wie er vor Antritt seiner Passion im nachtblauen, vom

Mond beschienenen Garten von Gethsemane sitzt in tiefer

85

Versonnenheit. Viele Jahre hindurch war dieses Bild über dem Ehebett der Eltern gehangen, und irgendwann war es

dann abhanden gekommen, wahrscheinlich als eine neue Schlafzimmergarnitur angeschafft wurde. Und jetzt stand es, oder zumindest genau das gleiche, hier in der Dorfkir­ che von Morosaglia, dem Heimatort des Generals Paoli, in

einer finsteren Ecke an den Sockel eines Seitenaltars ge­ lehnt. Meine Eltern erzählten mir, sie hätten es 1936, kurz

vor ihrer Hochzeit, gekauft in Bamberg, wo der Vater Schirrmeister im selben Kavallerieregiment war, in dem

zehn Jahre zuvor der junge Stauffenberg seine militärische

Laufbahn angetreten hatte. Solcher Art sind die Abgründe der Geschichte. Alles liegt in ihnen durcheinander, und

wenn man in sie hinabschaut, so graust und schwindelt es einen.

Ich habe in einer meiner Erzählungen beschrieben, daß mir, als ich mit meinen Eltern und Geschwistern 1952 von

meinem Geburtsort Wertach in das 19 Kilometer entfernte

Sonthofen umgezogen bin, nichts so vielversprechend schien wie die Tatsache, daß dort die Häuserzeilen hier

und da von Ruinengrundstücken unterbrochen waren, denn kaum etwas, so heißt es an der fraglichen Stelle, war

für mich, seit ich einmal in München gewesen war, so eindeutig mit dem Wort Stadt verbunden wie Schutthal­

den, Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man die leere Luft sehen konnte. Daß auf den an sich vollkommen unbedeutenden Marktflecken Sonthofen am 22. Februar

86

und am 29. April 1945 noch Bomben geworfen wurden,

halte seinen Grund wahrscheinlich darin, daß es dort zwei große Kasernen für die Gebirgsjäger und die Artillerie gab

und außerdem die sogenannte Ordensburg, eine der drei Eliteschulen für die Heranziehung der Führungskader,

die gleich nach der Machtübernahme eingerichtet worden waren. Was den Luftangriff auf Sonthofen betrifft, so ent­

sinne ich mich, im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren den Benefiziaten, der auf dem Oberstdorfer Gym­ nasium Religionsunterricht erteilte, gefragt zu haben, w ie

87

es sich mit unseren Vorstellungen von der göttlichen Vor­

sehung vereinbaren lasse, daß bei diesem Angriff weder die Kasernen noch die Hitler-Burg, sondern, sozusagen an

ihrer statt, die Pfarrkirche und die Spitalskirche zerstört worden sind, kann mich jedoch nicht mehr an die Antwort

erinnern, die ich damals erhielt. Fest stand nur, daß durch die Angriffe auf Sonthofen zu den zirka fünfhundert im

Krieg Gefallenen und Vermißten noch an die hundert Zi­

vilopfer hinzugekommen waren, unter ihnen, so habe ich mir einmal notiert, Elisabeth Zobel, Regina Salvermooser,

Carlo Moltrasia, Konstantin Sohnczak, Seraphine Bu­ chenberger, Cäzilie Fügenschuh und Viktoria Stürmer,

eine Klosterfrau im Altenspital, die mit ihrem Ordensna­ men Mater Sebalda hieß. Von den in Sonthofen zerstörten

und bis in die frühen sechzigerJahre nicht wieder instand

gesetzten Gebäuden sind mir vor allem zwei erinnerlich. Das eine war der bis 1945 mitten im Ort gelegene Sack­

bahnhof, dessen Haupttrakt das Allgäuer Elektrizitäts­

werk als Lagerhalle für Kabelrollen, Telegraphenstangen

und ähnliches benutzte, während in dem weitgehend un­ beschädigten Anbau der Musiklehrer Gogl allabendlich

einigen seiner Schüler Stunden gab. Besonders im Winter war es seltsam zu sehen, wie da in dem einzigen erleuch­ teten Raum dieses ruinierten Hauses die Schüler mit den

Bögen über ihre Bratschen und Celli scharrten, als säßen

sie auf einem in die Finsternis davontreibenden Floß. Die

andere mir gegenwärtig gebliebene Ruine war das soge­ 88

nannte Herzschloß bei der protestantischen Kirche, eine Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende, von der nichts

mehr übrig war als der gußeiserne Gartenzaun und das Kellergeschoß. Das Grundstück, auf dem ein paar schöne Bäume die Katastrophe überstanden hatten, war in den

fünfziger Jahren bereits völlig zugewachsen, und wir sind

als Kinder oft nachmittagelang in dieser durch den Krieg mitten im Ort entstandenen Wildnis gewesen. Ich entsinne

mich, daß es mir nie recht geheuer war, über die Treppe in die Kellerräume hinabzusteigen. Es roch dort faulig und

feucht, und ich fürchtete immer, auf einen Tierkadaver zu

stoßen oder auf eine Menschenleiche. Ein paar Jahre spä­ ter ist auf dem Grundstück des Herz-Schlosses dann ein Selbstbedienungsladen eröffnet worden, in einem eben­

erdigen, fensterlosen, scheußlichen Bau, und der einst­

mals schöne Garten der Villa verschwand endgültig unter einem geteerten Parkplatz. Das ist, auf den niedrigsten

Nenner gebracht, das Hauptkapitel in der Geschichte der deutschen Nachkriegszeit. Als ich Ende der sechziger Jahre zum erstenmal von England aus nach Sonthofen ge­ fahren bin, sah ich dort mit Schaudern das auf die Außen­

wand des Selbstbedienungsladens (zu Reklamezwecken, anscheinend) gemalte Viktualienfresko. Es maß ungefähr

sechs mal zwei Meter und stellte in blutigen bis rosaroten Farben eine enorme Aufschnittplatte dar, wie sie damals

auf jeden ordentlichen Abendbrottisch gehörte. Doch muß ich nicht unbedingt nach Deutschland, an

89

den Ort meiner Herkunft zurück, wenn ich mir die Zeit der Zerstörung vergegenwärtigen will. Sie wird mir auch da, wo ich heute lebe, oft in Erinnerung gerufen. Ein

Großteil der mehr als siebzig Flugfelder, von denen aus die Vernichtungskampagne nach Deutschland getragen

wurde, befand sich in der Grafschaft Norfolk. Etwa zehn

davon sind nach wie vor militärische Installationen. Ein paar weitere sind in der Hand von Flugvereinen. Die

allermeisten jedoch sind nach dem Krieg aufgelassen

worden. Über die Rollbahnen ist Gras gewachsen, die Kontrolltürme, Bunker und Wellblechhütten stehen halb verfallen in der oft etwas gespenstisch wirkenden Land­

schaft. Man spürt dort die toten Seelen derer, die von ihrer Mission nicht zurückkehrten oder in den riesigen Feuern zugrunde gegangen sind. Unmittelbar in meiner Nachbar­

schaft liegt das Flugfeld von Seething. Ich gehe dort manchmal mit meinem Hund spazieren und denke dar­

über nach, wie es war, als in den Jahren 1944 und 1945 die Maschinen mit ihrer schweren Fracht hier abhoben und

hinausflogen über das Meer mit Kurs auf Deutschland. Bereits zwei Jahre vor diesen Exkursionen ist bei einem Angriff auf Norwich eine Dornier der Luftwaffe ab­ gestürzt auf einen Acker unweit von meinem Haus. Eines

der vier Besatzungsmitglieder, die dabei ums Leben kamen, ein Oberleutnant Bollert, hatte denselben Ge­

burtstag wie ich und war vom gleichen Jahrgang wie mein Vater. 90

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Soweit die wenigen Punkte, an denen sich mein Lebens­ lauf mit der Geschichte des Luftkriegs überschneidet. An

sich völlig bedeutungslos, sind sie mir dennoch nicht aus dem Kopf gegangen und haben mich schließlich veranlaßt,

der Frage, weshalb die deutschen Schriftsteller die von Millionen erlebte Zerstörung der deutschen Städte nicht beschreiben wollten oder konnten, wenigstens ein Stück­

weit nachzugehen. Ich bin mir durchaus bewußt, daß meine unsystematischen Notizen der Komplexität des Ge­

genstands nicht gerecht werden, glaube aber, daß sie selbst in ihrer mangelhaften Form gewisse Einblicke in die Art eröffnen, in welcher das individuelle, das kollektive und

das kulturelle Gedächtnis mit Erfahrungen umgehen, die 91

die Belastungsgrenze durchbrechen. Auch scheint es mir

aufgrund der mir inzwischen zugegangenen Post, als hät­ ten meine versuchsweisen Ausführungen im seelischen

Haushalt der deutschen Nation eine empfindliche Stelle getroffen. Gleich nachdem die Schweizer Zeitungen über

die Züricher Vorlesungen berichtet hatten, kamen zahlrei­ che Anfragen von Presse-, Radio- und Fernsehredaktionen

in Deutschland. Man wollte wissen, ob man das, was ich vorgetragen hatte, auszugsweise abdrucken könne bezie­

hungsweise ob ich bereit wäre, mich in Interviews weiter

zu dieser Sache zu äußern. Auch Privatpersonen schrieben

an mich mit der Bitte, in den Züricher Text Einblick neh­

men zu dürfen. Einige dieser Ansuchen waren von dem

Bedürfnis motiviert, die Deutschen endlich einmal als Op­ fer dargestellt zu sehen. In anderen Zuschriften hieß es,

mit Hinweisen etwa auf Erich Kästners Dresden-Repor­

tage aus dem Jahr 1946, auf lokalhistorische Material­

sammlungen oder akademische Recherchen, meine These beruhe auf mangelnder Informiertheit. Eine emeritierte

Professorin aus Greifswald, die den Bericht in der Neuen Zürcher Zeitung gelesen hatte, führte Klage darüber, daß Deutschland nach wie vor zweigeteilt sei. Meine Behaup­ tungen, so schrieb sie, seien ein Beleg mehr dafür, daß man im Westen von der anderen deutschen Kultur nichts wisse

und nichts wissen wolle. Tn der ehemaligen DDR nämlich

sei das Thema des Luftkriegs durchaus nicht umgangen

worden und habe man alljährlich des Angriffs auf Dresden 92

gedacht. Von der Instrumentalisierung des Untergangs die­ ser Stadt in der offiziellen Rhetorik des ostdeutschen Staats, von der Günter Jäckel in seinem in den Dresdner Heften

erschienenen Aufsatz über den 13. Februar 1945 spricht91, schien die Dame in Greifswald keine Vorstellung zu haben.

Aus Hamburg schrieb mir Dr. Hans Joachim Schröder und schickte mir von seiner 1992 bei Niemeyer verlegten tausendseitigen Studie Die gestohlenen Jahre - Erzählge­

schichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschafissoldaten das

dem Untergang Hamburgs gewidmete siebte Kapitel, aus dem, so Dr. Schröder, hervorgehe, daß die kollektive Er­

innerung der Deutschen an den Luftkrieg nicht ganz so tot sei, wie ich annähme. Es liegt mir fern zu bezweifeln,

daß in den Köpfen der Zeitzeugen vieles aufbewahrt ist, was sich in Interviews zutage fördern läßt. Andererseits

aber bleibt es erstaunlich, in welch stereotypen Bahnen das, was zu Protokoll gegeben wird, zumeist verläuft.

Eines der zentralen Probleme sogenannter Erlebnisberich­ te ist das ihres inhärenten Ungenügens, ihrer notorischen

Unzuverlässigkeit und eigenartigen Leere, ihrer Neigung

zum Vorgeprägten, zur Wiederholung des Immergleichen. Dr. Schröders Untersuchungen lassen die Psychologie der

Erinnerung traumatischer Erlebnisse weitgehend außer

acht. Er kann darum auch das äußerst sinistre Memoran­ dum des (realen) Schrumpfleichenanatomen Dr. Siegfried Gräff, das in Hubert Fichtes Roman Detlevs Imitationen

93

>Grünspan< eine wichtige Rolle spielt, als ein Dokument unter andern behandeln, immun, wie es scheint, gegen den

in diesem Schriftstück geradezu exemplarisch sich verkör­ pernden Zynismus der Fachleute des Schreckens. Wie

gesagt, ich bezweifle nicht, daß es Erinnerungen an die

Nächte der Zerstörung gab und gibt; ich traue nur nicht

der Form, in der sie sich, auch literarisch, artikulierten,

und ich glaube nicht, daß sie in dem sich konstituierenden öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik in irgend­ einem anderen Sinn als dem des Wiederaufbaus ein nen­ nenswerter Faktor gewesen sind.

In einem Leserbrief zu dem im Spiegel erschienenen Artikel Volker Hages über die Züricher Vorlesungen macht Dr. Joachim Schultz von der Universität Bayreuth darauf

aufmerksam, daß er in den zwischen 1945 und 1960 ge­ schriebenen Jugendbüchern, die er mit seinen Studenten

untersucht habe, auf mehr oder weniger ausführliche Er­

innerungen an die Bombennächte gestoßen sei und daß darum meine Diagnose allenfalls für die >Höhengratlitera-

tur< stimme. Ich habe diese Bücher nicht gelesen, kann mir

aber kaum denken, daß in einem eigens ad usurn delphini angelegten Genre das rechte Maß für die Beschreibung

der deutschen Katastrophe gefunden wurde. In den mei­ sten Zuschriften, die ich erhielt, ging es um die Beförde­ rung irgendeines partikularen Interesses. Selten freilich

geschah das in so unumwundener Manier wie im Fall eines

Oberstudienrats aus einer westdeutschen Stadt, der meine 94

in der Frankfurter Rundschau abgedruckte Kölner Rede zum Anlaß nahm, mir eine lange Epistel zu schreiben. Das

Thema des Luftkriegs, zu dem ich auch in Köln einiges sagte, interessierte Herrn K., der namenlos bleiben soll,

nur wenig. Statt dessen nutzte er die Gelegenheit, nicht

ohne mir zunächst mit kaum verhohlener rancune ein paar Komplimente zu machen, meine schlechten syntaktischen

Gewohnheiten mir vorzuhalten. Insbesondere irritierte Herrn K. das vorgezogene Prädikat, das er für das Haupt-

svmptom des immer mehr grassierenden Simpeldeutsch hält. Diese von ihm Asthmasyntax genannte Unart ent­

decke er auch bei mir, schreibt Herr K., beinah auf jeder

dritten Seite und verlangt Rechenschaft über den Zweck und Sinn meiner kontinuierlichen Verstöße gegen den richtigen Sprachgebrauch. Herr K. führt auch noch einige

andere seiner linguistischen Steckenpferde vor und be­ zeichnet sich ausdrücklich als »Feind aller Anglizismen«, wobei er jedoch konzediert, daß es solche bei mir »zum

Glück« nur wenig gäbe. Dem Brief Herrn K.s beigelegt waren einige sehr eigentümliche Gedichte und Notizen mit Überschriften wie »Neues von Herrn K.< und »Weiteres

von Herrn K.Neubeginn< überbrückten.1'4 Dieser

Aufsatz ist, trotz seines vergleichsweise knappen Formats,

eine der wichtigsten Arbeiten zur deutschen Nachkriegs­ literatur und hätte gleich nach seinem Erscheinen die

Literaturwissenschaft zu einem Überdenken ihrer Position

vis-ä-vis den vorgeblichen Wahrheitsgehalten nicht weni­ ger zwischen 1945 und 1960 entstandener Werke veranlas­

sen müssen. Doch sind Schäfers Anregungen von der etablierten Germanistik, die ja selber genug zu verhehlen hatte und lange auf einem fahlen Pferd ritt, kaum aufge­

nommen worden, und wer es wagt, am Bild eines akkre­ ditierten Autors zu kratzen, der muß bis heute mit bösen Briefen rechnen. Schäfer also plante die Exhumierung sei­

ner Kindheitsschrecken, saß in Bibliotheken und Archi­ ven, füllte viele Mappen mit Material, topographierte anhand eines Grieben-Reiseführers von 1933 die Orte der

Handlung, flog immer wieder nach Berlin. »Das Flug­ zeug«, so notiert er in seinem Bericht über das Scheitern

des Projekts,, »schwebte über die Stadt herein, es war an 104

einem Augustabend, und so kam es, daß der Müggelsee

purpurrot vor sich hinglühte, während die Spree schon dunkel dalag; ich erinnere mich an den Engel der Sieges­

säule, der seine schweren, gußeisernen Flügel zu bewegen schien und zu mir hochblickte, voll bösartiger Neugier; es

wurde schummrig unter dem Fernsehturm am Alexander-

platz, die Schaufenster atmeten dichte Dämmerung; und die Düsternis senkte sich langsam über den Westen bis

weit nach Charlottenburg hinunter, das Wasser der Seen brannte mild in den Augen; je näher wir der Erde kamen, desto toller sausten endlose Kolonnen herum; ich wandte

mich zur anderen Seite und sah, daß Enten über dem Zoo

eine Art Pflug bildeten. Wie verloren stand ich etwas spä­ ter vorm Eingang. Unter dunklen Bäumen zogen Elefan­ ten an ihren Eisenketten, und drüben in der Schwärze

waren Ohren versteckt, die mich kommen hörten.«95

Der Zoo - er hätte eines der Hauptstücke werden sollen in der Darstellung der vielen Schreckensmomente, -stun­ den und -jahre. Doch nie, sagt Schäfer, gelang es mir beim

Schreiben, »die furchtbaren Ereignisse in all ihrer Gewalt zurückzurufen«.96 »Je entschlossener ich mich auf die

Suche . . . begebe, desto stärker muß ich begreifen, wie

schwer die Erinnerung vorankommt.«96 Was den Zoo be­ trifft, so gibt ein von Schäfer edierter Materialienband über Berlin im Zweiten Weltkrieg Aufschluß über das, was

ihm vorschweben mochte. Das Kapitel »Flächenbombar­ dierungen 22. 26. November 1943< enthält Auszüge aus

105

zwei Büchern (Katharina Heinroth, Mit Faltern begann ’s Mein Lehen mit Tieren in Breslau, München und Berlin, München 1979, und Lutz Heck, Tiere - Mein Abenteuer.

Erlebnisse in Wildnis und Zoo, Wien 1952), in denen ein Bild von der Verheerung des Tiergartens durch diese Angriffe gegeben wird. Stabbrandbomben und Phosphorkanister hatten fünfzehn der Zoohäuser in Brand gesetzt. Das An­

tilopen- und das Raubtierhaus, das Verwaltungsgebäude

und die Villa des Direktors waren völlig ausgebrannt, das

Affenhaus, das Quarantänehaus, das Hauptrestaurant und das indische Tempelhaus der Elefanten schwer zertrüm­ mert oder beschädigt. Ein Drittel des nach der Auslage­

rung immer noch zweitausend Tiere umfassenden Be­

stands fand den Tod. Hirsche und Affen waren freigekom­ men, Vögel durch die zerschlagenen Glasdächer entflogen. »Es entstanden Gerüchte«, schreibt Heinroth, »daß entflo­

hene Löwen um die nahe Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gerast seien; aber tatsächlich lagen sie erstickt und

verkohlt in ihren Käfigen.«98 Am nächsten Tag werden

auch der dreistöckige Schmuckbau des Aquariums und die

dreißig Meter lange Krokodilhalle durch eine Luftmine zerstört, mitsamt der künstlichen Urw'aldlandschaft. Dort

lagen nun, schreibt Heck, unter Zementbrocken, Erd­

reich, Glasscherben, umgestürzten Palmen und Baum­ stämmen die vor Schmerz sich windenden Riesenechsen

im fußtiefen Wasser oder wälzten sich die Besuchertreppe herab, während durch ein aufgesprengtes Tor im Hinter­

106

gründ der Feuerschein des untergehenden Berlin rot her­ einleuchtete. Grauenvoll auch die Aufräumarbeiten. Die

in den Trümmern ihrer Schlafställe umgekommenen Ele­ fanten mußten in den nachfolgenden Tagen an Ort und

Stelle zerlegt werden, wobei, wie Heck berichtet, Männer in den Brustkörben der Dickhäuter herumkrochen und

in Bergen von Gedärmen wühlten. Diese Horrorbilder

erfüllen uns deshalb mit besonderem Entsetzen, weil sie die gewissermaßen vorzensierten, stereotypen Erlebnisbe­

richte über das von Menschen ausgestandene Leid durch­ brechen. Und es mag sein, daß der uns beim Lesen solcher

Passagen überkommende Schrecken auch ausgelöst wird von der Erinnerung daran, daß der Zoo, der ja seine Ent­ stehung überall in Europa dem Demonstrationsbedürfnis

fürstlicher und imperialer Macht verdankte, zugleich so

etwas wie ein Abbild des Paradiesgartens sein sollte. Fest­ zuhalten aber ist vor allem, daß die das Sensorium des Durchschnittslesers eigentlich überfordernden Beschrei­

bungen der Zerstörung des Berliner Zoos wahrscheinlich nur deshalb keinerlei Anstoß erregten, weil sie aus der Feder von Fachleuten stammten, die, wie man sehen kann,

sogar in der äußersten Lage ihren Verstand nicht verlie­ ren, ja nicht einmal ihren Appetit, denn, so berichtet Heck,

»die Krokodilschwänze, in großen Behältern gekocht,

schmeckten wie fettes Hühnerfleisch«, und später, so fährt er fort, »waren dann Bärenschinken und Bärenwurst für

uns eine Delikatesse.«99 107

Das in den vorstehenden Exkursen ausgebreitete Mate­

rial ist ein Indiz dafür, daß unser Umgang mit den Realien

einer Zeit, in der das städtische Leben in Deutschland fast gänzlich zerschlagen wurde, sehr erratisch gewesen ist. Wenn man Familienreminiszenzen, episodische Literari­ sierungsversuche und das, was in solchen Erinnerungs­ büchern wie denen von Heck und Fleinroth abgelagert ist,

einmal beiseite läßt, so kann man nur von einer durch­

gehenden Vermeidung oder Verhinderung sprechen.

Schäfers Kommentar zu seinem aufgegebenen Projekt deutet in diese Richtung ebenso wie die von Hage erwähn­

te Äußerung Wolf Biermanns, daß er einen Roman schrei­

ben könne über den Hamburger Feuersturm, in dem seine Lebensuhr bei sechseinhalb Jahren stehengeblieben sei. Weder Schäfer noch Biermann, noch, wie man annehmen

muß, einige andere, deren Lebensuhren damals gleichfalls stehengeblieben sind, haben die Rekapitulierung der trau­ matischen Erfahrungen über sich gebracht, aus Gründen, die teils wohl in der Sache, teils in der psychosozialen

Konstitution der Betroffenen liegen. Jedenfalls ist dieThe-

se, daß es uns bisher nicht gelungen ist, die Schrecken des

Luftkriegs durch historische oder literarische Darstellun­ gen ins öffentliche Bewußtsein zu heben, nicht leicht zu

entkräften. Was mir an Literatur, die sich ausführlich mit der Bombardierung der deutschen Städte befaßt, im An­

schluß an die Züricher Vorlesungen zur Kenntnis gebracht wurde, gehört bezeichnenderweise zur Kategorie der ver­

108

schollenen Werke. Der 1949 erschienene, später nie wieder aufgelegte Roman Die unverzagte Stadt von Otto Erich

Kiesel, dessen Titel bereits einige Zweifel erweckt, kommt, wie Volker Hage in seinem Spiegel-Artikel

schreibt, über ein lokalhistorisches Interesse nicht hinaus

und bleibt in seiner ganzen Anlage und Durchführung unter dem Niveau, auf dem das in den letzten Kriegs­

jahren sich vollendende Debakel der Deutschen sich be­ handeln ließe. Schwieriger zu beurteilen ist der Fall des, wie Hage ohne genauere Erklärung schreibt, zu Unrecht

vergessenen Gert Ledig, der nach seinem viel Aufsehen erregenden Roman Die Stalinorgel (1955) ein Jahr später

bereits mit dem etwa zweihundert Seiten umfassenden Roman Die Vergeltung einen Text vorlegte, der über die Grenzen dessen hinausging, was die Deutschen über ihre jüngste Vergangenheit zu lesen bereit waren. Steht schon Die Stalinorgel im Zeichen der radikalen Antikriegslitera­ tur der ausgehenden Weimarer Zeit, dann ist vollends Die

Vergeltung, wo Ledig in gehetztem Stakkato verschiedene

während eines einstündigen Angriffs sich ereignende Vor­ fälle in einer namenlosen Stadt verfolgt, ein gegen die letzten Illusionen gerichtetes Buch, mit dem Ledig sich ins literarische Abseits manövrieren mußte. Erzählt wird von

dem furchtbaren Ende einer kaum erst dem Kindesalter entwachsenen Gruppe von Flakhelfern, von einem gottlos

gewordenen Priester, von den Exzessen eines schwer alko­ holisierten Soldatentrupps, von Vergewaltigung, Mord

109

und Selbstmord und, immer wieder, von der Peinigung

des menschlichen Körpers, von zerschlagenen Zähnen und Kiefern, zerfetzten Lungen, aufgerissenen Brustkör­

ben, zersprungenen Gehirnschalen, sickerndem Blut, gro­ tesk verrenkten und zerquetschten Gliedern, zersplitter­

ten Becken, von Verschütteten, die sich unter Bergen von

Betonplatten noch zu rühren versuchen, von Detona­ tionswellen, Trümmerlawinen, Staubwolken, Feuer und

Rauch. Zwischendurch gibt es, kursiv gedruckt, stillere

Passagen über Einzelpersonen, Nachrufe auf solche, deren

Leben in dieser Stunde des Todes abgeschnitten wurde, jeweils mit einigen spärlichen Angaben zu ihren Gewohn­ heiten, Vorlieben und Wünschen. Es ist nicht einfach, etwas zu sagen über die Qualität dieses Romans. Manches

in ihm ist aufgefaßt mit erstaunlicher Präzision, manches

wirkt unbeholfen und überdreht. Doch waren es sicher

nicht in erster Linie die ästhetischen Schwächen, die dazu führten, daß Die Vergeltung und der Autor Gert Ledig in der Vergessenheit verschwanden. Ledig selbst muß eine Art maverick gewesen sein. In einem der wenigen Nach­

schlagewerke, die ihn noch aufführen, heißt es: »In Leipzig in ärmlichen Verhältnissen nach dem Selbstmord der

Mutter bei Verwandten aufgewachsen, besuchte er die

Versuchsklasse einer pädagogischen Lehranstalt und an­ schließend eine Fachschule für Elektrotechnik. Er meldete sich achtzehnjährig freiwillig zum Kriegsdienst, wurde Offiziersanwärter, kam aber während des Rußlandfeldzu­

110

ges wegen >Hetzreden< in eine Strafeinheit. Nach der

zweiten Verwundung als nicht mehr frontverwendungsfä ­ hig zu einem Studienurlaub geschickt, wurde er Schiffs­ bauingenieur und von 1944 an innerhalb der Kriegsmarine

Sachbearbeiter für die Industrie. Nach dem Krieg nach

Leipzig unterwegs, wurde er von den Russen . . . wegen Spionageverdachts festgenommen. Er entkam aber aus

dem Deportationszug. Zunächst mittellos in München,

war er Gerüstarbeiter, Kaufmann, Kunstgewerbler und von 1950 an drei Jahre lang Dolmetscher beim amerikani­ schen Hauptquartier in Österreich, dann Ingenieur bei

einer Firma in Salzburg. Seit 1957 lebt er als freier Schrift­

steller in München/,100 Schon aus diesen wenigen Anga­ ben ist ersichtlich, daß Ledig aufgrund seines Herkom­ mens und seiner Entwicklung dem nach dem Krieg sich herausbildenden Verhaltensmuster für Schriftsteller nicht entsprechen konnte. In der Gruppe 47 kann man ihn sich

kaum vorstellen. Seine bewußt forcierte, auf die Erzeu­ gung von Abscheu und Ekel gerichtete Kompromißlosig-

keit rief in der sich bereits anbahnenden Zeit des Wirt­

schaftswunders noch einmal das Gespenst der Anarchie herauf, die Angst vor der mit dem Zusammenbruch der

totalen Ordnung drohenden allgemeinen Dissolution, vor

der Verwilderung und Verbiesterung der Menschen, vor

Gesetzlosigkeit und irreversiblem Ruin. Die Romane Ledigs, die in nichts den Arbeiten anderer Autoren der

fünfziger Jahre, die heute noch genannt und gehandelt 111

werden, nachstehen, wurden aus dem kulturellen Ge­ dächtnis ausgeschlossen, weil sie den cordon sanitaire zu

durchbrechen drohten, mit dem die Gesellschaft die To­

deszonen tatsächlich entstandener dystopischer Einbrü­ che umgibt. Diese Einbrüche waren übrigens nicht allein

das Produkt, in dem von Alexander Kluge gemeinten Sinn, einer Destruktionsmaschinerie industriellen Aus­

maßes, sondern auch das Ergebnis der seit dem Aufwallen

des Expressionismus immer rückhaltloser werdenden Pro­ pagierung eines Mythos des Untergangs und der Zerstö­

rung. Fritz Langs Film Kriemhilds Rache aus dem Jahr 1924, in dem sich die gesamte bewaffnete Macht eines

Volkes halb wissentlich in den Schlund des Verderbens

begibt, um zuletzt in einem stupenden pyromanischen Schauspiel in F'lammen aufzugehen, ist davon, in deutli­

cher Vorwegnahme der faschistischen Endkampfrhetorik, das genaueste Paradigma. Und während Lang in Babels­ berg die Visionen der Thea von Harbou für das deutsche

Kinopublikum in reproduzierbare Bilder umsetzte, arbei­ teten auch die Logistiker der Wehrmacht bereits, ein Jahrzehnt vor der Machtergreifung Hitlers, an ihrer eige­

nen Cheruskerphantasie, einem wahrhaft schreckenerre­

genden Skript, das die Vernichtung der französischen Armee auf deutschem Boden, die Verwüstung ganzer Lan­ desteile und hohe Verlus'te unter der zivilen Bevölkerung

vorsah.1111 Den tatsächlichen Ausgang dieser neuen Her­

mannsschlacht, die deutschen Ruinenfelder an ihrem 112

Ende, hätte sich wohl auch der Urheber und Hauptadvo­ kat des strategischen Extremismus, der Obrist von Stülp­ nagel, so nicht ausmalen können, und niemand, auch die

mit der Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses der Na­ tion betrauten Schriftsteller nicht, durfte uns später, ge­ rade weil wir unsere Mitschuld erahnten, so schmachvolle

Bilder in Erinnerung rufen wie jenes vom Dresdner Alt­ markt zum Beispiel, auf dem im Februar 1945 6865 Lei­ chen auf Scheiterhaufen verbrannt wurden von einem

SS-Kommando mit Erfahrung in Treblinka.102 Jede Be­ schäftigung mit den wahren Schreckensszenen des Unter­

gangs hat bis heute etwas Illegitimes, beinahe Voyeuristi­ sches, dem auch diese Notizen nicht ganz entgehen konnten. Darum wunderte es mich auch nicht, als mir ein Lehrer in Detmold vor einiger Zeit erzählte, er habe als

Junge in den Jahren gleich nach dem Krieg des öfteren mitangesehen, wie unter dem Ladentisch eines Hambur­

ger Buchgeschäfts Fotografien von den nach dem Feuer­

sturm auf den Straßen herumliegenden Leichen befingert

und gehandelt wurden wie sonst nur die Erzeugnisse der Pornografie. Bleibt mir zum Schluß noch ein Brief zu kommentieren,

der mich, über die Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung,

Mitte Juni vergangenen Jahres aus Darmstadt erreichte als bislang letzte Zuschrift zum Thema Luftkrieg und den ich

mehrmals durchlesen mußte, weil ich zuerst meinen Au­

gen nicht traute, enthält er doch die These, die Alliierten

113

hätten mit dem Luftkrieg das Ziel verfolgt, die Deutschen durch die Zerstörung ihrer Stadt von ihrem Erbe und

Herkommen abzuschneiden und so die dann in der Nach­

kriegszeit tatsächlich erfolgte Kulturinvasion und allge­ meine Amerikanisierung vorzubereiten. Diese bewußte Strategie, so heißt es in dem Brief aus Darmstadt weiter,

sei ersonnen worden von den im Ausland lebenden Juden

und zwar aus dem speziellen Wissen heraus, das sie sich

bekanntermaßen auf ihren Wanderungen angeeignet hät­ ten von der menschlichen Psyche, von fremden Kulturen

und Mentalitäten. Das in einem ebenso forschen wie ge­

schäftsmäßigen Ton abgefaßte Schriftstück schließt mit

dem Ausdruck der Hoffnung, daß ich meine fachkompe­ tente Einschätzung der in dem Brief vorgebrachten The­

sen nach Darmstadt rückübermitteln werde. Um wen es sich bei dem Schreiber, einem gewissen Dr. H., handelt, welche berufliche Tätigkeit er ausübt und ob er etwa mit

rechtsradikalen Gruppierungen oder Parteien in Verbin­

dung steht, weiß ich nicht, und auch zu dem Kreuzchen, das er hinter seine Signatur setzt, handschriftlich und in

PC-Version, kann ich nichts sagen, außer daß Leute vom Schlag Dr. H.s, die überall geheime, gegen die vitalen

Interessen des Deutschtums gerichtete Machenschaften vermuten, selber mit Vorliebe irgendwelchen Ordensver­ einigungen angehören. Können sie aufgrund ihrer bürger­ lichen oder kleinbürgerlichen Herkunft nicht wie der Adel

von Haus aus den Anspruch erheben, sie repräsentierten 114

die konservative Elite der Nation, dann reihen sie sich

unter die geistigen und zumeist selbsternannten Verteidi­

ger des christlichen Abendlands oder des völkischen Erbes ein. Das Bedürfnis, in einer Körperschaft aufzugehen, die

sich legitimiert durch Berufung auf ein höheres Gesetz, hatte bekanntlich in den zwanziger und dreißiger Jahren

unter den Rechtskonservativen und Rechtsrevolutionären

Konjunktur. Von Georges Stern des Bundes führt eine ge­ rade Linie zu der Idee vom kommenden Reich als der Schöpfung eines Männerbundes, die Rosenberg in seinem

1933, im Jahre des Heils, erschienenen Mythus des XX.

Jahrhunderts propagierte; und die Formierung der SA und

der SS sollte ja von Anfang an nicht nur der unmittelbaren

Ausübung von Gewalt, sondern der Heranziehung einer neuen Elite dienen, deren bedingungslose Loyalität auch

und insbesondere für den Erbadel fortan maßgeblich war.

Der Konkurrenzkampf zwischen den Aristokraten der Wehrmacht und den kleinbürgerlichen Parvenüs und Kar­

rieristen, die, wie der Hühnerzüchter Himmler, nun zu

Protektoren des Vaterlands sich aufwarfen, ist zweifellos eines der Hauptkapitel in der zum größten Teil noch un­

geschriebenen Sozialgeschichte der Korrumpierung der Deutschen. An welcher Stelle genau Dr. H. mit seinem geheimnisvollen Kreuzchen in diesen Zusammenhang

einzupassen wäre, muß dahingestellt bleiben. Am ehesten wird man ihn wohl bezeichnen können als einen Wieder­ gänger aus jener unseligen Zeit. Soviel ich herausfinden

115

konnte, ist er ungefähr meines Alters und gehört also nicht

zur Generation derer, die noch unter dem direkten Einfluß

des Nationalsozialismus gestanden sind. Auch ist er in Darmstadt, wie ich mir habe sagen lassen, nicht als unzu­

rechnungsfähig notorisch (womit allein man seine bizarren Thesen hätte entschuldigen können); vielmehr scheint er

durchaus bei gesundem Verstand und lebt offenbar in ge­ ordneten Verhältnissen. Freilich markiert gerade die Ko­

inzidenz von phantastischen Wahnideen einerseits und von Lebenstüchtigkeit andererseits die besondere Verwer­ fung, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den

Köpfen der Deutschen entstand. Nirgends läßt diese Ver­ werfung genauer sich ablesen als am Duktus des Schrift­

verkehrs, den die NS-Chargen untereinander pflogen und der in seiner sonderbaren Verquickung von vorgeblichem Sachinteresse und Irrwitz gespenstischerweise auch die

von Dr. H. zu Papier gebrachten Vorstellungen noch be­

stimmt. Was nun die >Thesen< selber angeht, die Dr. H.

nicht ohne Stolz auf seine Scharfsinnigkeit offeriert, so sind sie nichts anderes als ein Derivat der sogenannten

Protokolle des Weisen von Zion«, jener im zaristischen

Rußland in Umlauf gebrachten pseudodokumentarischen Fälschung, derzufolge eine jüdische Internationale die

Weltherrschaft anstrebt und durch ihre konspirative Drahtzieherei ganze Völker ins Verderben stürzt. Die vi­

rulenteste Variante dieses Ideologems war die in Deutsch­ land nach dem ersten Weltkrieg vom Biertisch über die

116

Presse und die Kulturindustrie bis in die Staatsorgane und zuletzt in die Legislative hineinreichende Legende von

einem ebenso unsichtbaren wie allgegenwärtigen, den

Volkskörper von innen heraus zersetzenden Feind. Ob in offener oder verdeckter Form, gemeint war damit jeden­

falls die jüdische Minderheit. Es versteht sich, daß Dr. H. diese Schuldzuweisung nicht unverändert übernehmen konnte, nachdem die denunziatorische Rhetorik lang vor

dem Anlaufen der Luftkriegskampagne der Alliierten im gesamten Machtbereich der Deutschen zur Entrechtung,

Enteignung, Exilierung und systematischen Vernichtung

der Juden geführt hatte. Umsichtigerweise beschränkt er darum seine Vermutung auf die im Ausland lebenden Ju­

den. Und wenn er, in einem eigenartigen Zusatz, denen, die er für die Zerstörung Deutschands verantwortlich ma­

chen möchte, attestiert, sie hätten weniger aus Gefühlen des Hasses als aus ihrer besonderen Kenntnis fremder Kulturen und deren Mentalitäten gehandelt, dann werden

ihnen damit Motive unterschoben, wie sie etwa das sub­ versive Verwandlungsgenie Dr. Mabuse in Fritz Langs gleichnamigem Film bewegen. Selber von ungewisser Pro­

venienz, weiß Mabuse sich an jedes Milieu anzupassen.

Wir sehen ihn in der ersten Sequenz in der Rolle des Spe­ kulanten Sternberg, der vermittels krimineller Manipula­

tion einen Börsenkrach auslöst. Im weiteren Verlauf tritt er

auf als Spieler in illegalen Kasinos, als Chef einer Verbre­

cherbande, als Betreiber einer Falschgeldmanufaktur, als 117

Volksverhetzer und Revoluzzer sowie, unter dem ominö­ sen Namen Sandor Weltmann, als Hypnotiseur, der Ge­ walt sogar über diejenigen hat, die sich ihm mit allen

Kräften widersetzen. In einer bezeichnenderweise nur Se­

kunden währenden Einstellung zeigt uns die Kamera am

Haustor dieses Experten der Willenslähmung und Seelen­ zerstörung ein Schild mit der Aufschrift >Dr. Mabuse -

Psychoanalyse*. Wie die von Dr. H. imaginierten auslän­

dischen Juden kennt auch Mabuse keine Haßgefühle. Ihm geht es einzig um die Macht und um die Lust an ihrem Gewinn. Mit seiner besonderen Kenntnis der menschli­ chen Psyche vermag er in die Köpfe seiner Opfer einzu­ dringen. Er ruiniert die, die sich mit ihm an den Spieltisch

setzen, richtet den Grafen Told zugrunde,.raubt ihm seine

Ehefrau und bringt seinen Gegenspieler, den Staatsanwalt von Wenk, bis an den Rand des Todes. Von Wenk, der in

dem von Thea von Harbou ersonnenen Handlungsschema

den Typus des preußischen Adeligen repräsentiert, den das Bürgertum in der Krise mit der Aufrechterhaltung der

Ordnung betraut, gelingt es zuletzt mit Hilfe eines Armee­

kontingents (die Polizeikräfte allein reichen nicht aus!),

den Widerstand Mabuses zu brechen und die Gräfin und mit ihr Deutschland zu retten. Der Film Fritz Langs lie­ fert das Paradigma der unter den Deutschen seit dem Ende

des 19. Jahrhunderts um sich greifenden Xenophobie. Was Dr. H. schreibt über die jüdischen Seelenspezialisten, die angeblich die Strategien der Zerstörung der deutschen

118

Städte entwickelten, geht auf diese Hysterisierung unserer kollektiven Verfassung zurück. Man mag, vom heutigen Standpunkt aus, geneigt sein, die Auslassungen Dr. H.s

abzutun als die Absurditäten eines Unverbesserlichen. Und absurd sind sie gewiß, doch deswegen nicht weniger

schrecklich. Denn wenn irgend etwas am Anfang des un­ ermeßlichen Leidens stand, das durch uns Deutsche über die Welt gekommen ist, so war es solches, aus Ignoranz und

Ressentiment heraus kolportiertes Gerede. Die Mehrzahl der Deutschen weiß heute, so hofft man zumindest, daß

wir die Vernichtung der Städte, in denen wir einst lebten, geradezu provozierten. Kaum jemand wird heute bezwei­ feln, daß der Luftmarschall Göring London ausradiert haben würde, wenn seine technischen Ressourcen es ihm erlaubt hätten. Speer berichtet, wie Hitler im Jahr 1940 bei

einem Abendessen in der Reichskanzlei von der totalen

Zerstörung der Hauptstadt des britischen Imperiums phantasierte: »Haben Sie einmal eine Karte von London

angesehen? Es ist so eng gebaut, daß ein Brandherd allein ausreichen würde, die ganze Stadt zu zerstören, wie schon

einmal vor über zweihundert Jahren. Göring will durch zahllose Brandbomben mit einer ganz neuen Wirkung in

den verschiedensten Stadtteilen von London Brandherde schaffen, überall Brandherde. Tausende davon. Die wer­

den sich dann zu einem riesigen Flächenbrand vereinigen.

Göring hat dazu die einzig richtige Idee: die Sprengbom­

ben wirken nicht, aber mit den Brandbomben kann man 119

das machen: London total zerstören! Was wollen die noch

mit ihrer Feuerwehr, wenn das erst einmal losgeht?«103 Die rauschhafte Zerstörungsvision geht in eins damit, daß auch die tatsächlichen Pionierleistungen im Bombenkrieg

- Guernica, Warschau, Belgrad, Rotterdam - von den Deutschen vollbracht wurden. Und wenn wir an die

Brandnächte von Köln und Hamburg und Dresden den­ ken, dann sollten wir uns auch in Erinnerung rufen, daß

bereits im August 1942, als die Spitzen der sechsten Armee die Wolga erreicht hatten und als nicht wenige davon

träumten, wie sie nach dem Krieg in den Kirschgärten am stillen Don auf einem Landgut sich niederlassen woll­ ten, die Stadt Stalingrad, die zu jenem Zeitpunkt wie

später Dresden von Flüchtlingsströmen, angeschwollen

war, bombardiert wurde von zwölfhundert Fliegern, und

daß dort während dieses Angriffs, der Hochgefühle aus­

löste unter den am anderen Ufer stehenden deutschen Truppen, vierzigtausend Menschen ihr Leben ließen.104

120

Der Schriftsteller Alfred Andersch

Die deutsche Literatur besitzt in Alfred Andersch eines ihrer gesündesten und selbständigsten Talente. Alfred Andersch, Selbstverfasster Klappentext

Dem Litterateur Alfred Andersch hat es zeit seines Lebens

weder an Erfolg noch an Mißerfolg gemangelt. Bis 1958,

dem Jahr seiner >Emigration< in die Schweiz, nahm er als Leiter von Radioredaktionen, als Herausgeber der Zeit­ schrift >Texte & Zeichen* und als Deutschlands führender

Feature-Mann (so er selbst an seine Mutter') eine Schlüs­ selstellung ein in dem sich entfaltenden literarischen

Betrieb der Bundesrepublik. Später rückte er, teils in pro­

grammatischer Absicht, teils unfreiwilligerweise immer

mehr gegen den Rand. Zum einen bestimmten Begriffe wie Peripherie, Absonderung, Degagement und Flucht

weitgehend das Bild, das Andersch von sich selbst entwor­ fen und in Umlauf gebracht hatte, zum anderen änderte

das kaum etwas an der Tatsache, daß er, wie das jetzt

vorliegende biographische Material zeigt, in Wahrheit er­ folgsbedürftiger und erfolgsabhängiger war als die meisten

seiner schreibenden Zeitgenossen. Aus den Briefen an die Mutter geht hervor, daß Andersch, was die Bedeutung der 123

eigenen Arbeit betraf, alles andere als eine geringe Mei­ nung hatte. »Die Jünger-Sendung wird eine kleine Sensa­

tion«; das Zeitstück gegen den Antisemitismus, an dem er 1950 schreibt, ist »das Beste, was ich je angegangen habe . . . weit besser als der Prof. Mamlock von Friedrich

Wolf«; in München sieht Andersch sich »mächtig im Kom­

men«; der Verlag wird während der Frankfurter Buchmes­

se »einen großen Empfang veranstalten« zum Erscheinen

seines Romans Sansibar, zu dem übrigens, wie im selben Brief der Mama mitgeteilt wird, Professor Muschg, »der

größte Literaturhistoriker, den wir derzeit haben, . . . ein wunderbares Urteil geschrieben« hat. Dann steckt An­

dersch wieder »mitten in einem großen Hörspiel«, schreibt

eine »große neue Erzählung« oder hat »eine große RadioSendung fertiggemacht«. Und als Ein Liebhaber des Halb­

schattens in der Neuen Zürcher Zeitung in Fortsetzungen

erscheint, wird die Mama darauf hingewiesen, daß »dieses exklusive Blatt. . . nur das Allerbeste«2 nimmt. Derglei­

chen Aussagen sind bezeichnend nicht nur für den Legi­

timationszwang, der Anderschs Verhältnis zu seiner Mut­ ter bestimmt, sondern auch für die eigene Sehnsucht nach

Erfolg und Öffentlichkeit, die in auffälligem Widerspruch steht zur Idee des privaten und anonymen Heroismus, den er als innerer Emigrant mit Vorliebe in seinen Büchern

propagiert. >Groß< ist m der Selbsteinschätzung und Selbstpräsentation Anderschs jedenfalls das operative Wort. Ein großer Schriftsteller wollte er werden, der große

124

Werke schreibt und auf große Empfänge geht und nach

Möglichkeit bei solchen Gelegenheiten alle Konkurrenz in

den Schatten stellt, wie beispielsweise in Mailand, »wo Mondadori«, so Andersch in seinem Erfolgsbericht, »mir [man beachte die Reihenfolge] und dem französischen

Schriftsteller Michel Butor einen Empfang gab«, auf dem

er, Andersch, »zwanzig Minuten lang auf Italienisch« sprach und »brausenden Beifall« erntete, wohingegen Bu­

tor, der anschließend »auf Französisch redete«, anschei­

nend auf Applaus ganz verzichten mußte.3 Das Leitbild des großen Schriftstellers, an dem An­

dersch von Anfang an sich orientierte, war bekanntlich, was innere Führung und Ausrichtung betraf, das des Ernst Jünger, der aus der Hitlerzeit, die er hatte einläuten helfen,

als vornehmer Isolationist und Verteidiger des Abendlands

hervorgegangen war. Was schriftstellerischen Erfolg und

Ruhm betraf, so ist Thomas Mann die maßgebliche In­ stanz gewesen. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind die Reminiszenzen Hans Werner Richters, in denen es

von Andersch heißt: »Er war ehrgeizig. Nicht ehrgeizig wie andere, nein, sein Ehrgeiz reichte weit darüber hinaus. Kleine Erfolge nahm er wie selbstverständlich hin, er be­

achtete sie nicht sonderlich, sein Ziel war der Ruhm, nicht

der alltägliche Ruhm. Den hielt er für gegeben. Sein Ziel

war der Ruhm, der über Zeit und Raum und Tod hinaus­ ging, weit hinaus. Er sprach ungehemmt darüber, ohne

jede Selbstironie. Einmal, gleich zu Beginn, wir gaben bei­ 125

de noch den >Ruf< heraus, sagte er in einem größeren Kreis

von Mitarbeitern und Freunden, er würde Thomas Mann

nicht nur erreichen, sondern auch überflügeln. Jene, die

damals um ihn herumsaßen, schwiegen verblüfft. Keiner sagte ein Wort, nur Fred spürte von diesem betretenen Schweigen nichts, er hielt es wohl für Zustimmung.«4 Tat­

sächlich schien Anderschs Kalkül zunächst aufzugehen. Kirschen der Freiheit löste eine beträchtliche Kontroverse

aus und wurde, nicht zuletzt dadurch, zu einem großen

Erfolg. »Binnen kürzester Zeit«, schreibt Stephan Rein­ hardt, »war Anderschs Name ... in der Bundesrepublik in

aller Munde.«5 Auch erhielt Andersch, wie er selbst sei­

nem vorgesetzten Intendanten Beckmann mitteilte, zu­

stimmende Briefe der »bedeutendsten Geister des Lan­

des«.6 Die Erfolgslinie wird mit Sansibar fortgesetzt. Das

Echo ist groß, das Lob so gut wie einhellig. Zweifel werden allenfalls bedingt angemeldet, die neuralgischen Punkte

des Textes nirgends berührt. Schon wähnt man das Dritte Reich »dichterisch bewältigt«.7 Erst als die konzeptionellen

und stilistischen Schwächen Anderschs mit der Veröffent­

lichung des Romans Die Role unübersehbar werden, spal­ tet sich die Kritik in zwei Lager. Koeppen rühmt das Buch

als einen »der lesenswertesten Romane dieses Jahrhunderts«s, Reich-Ranicki hingegen beschreibt es als ein

ungustiöses Gemisch von Lüge und Kitsch.9 Der kom­ merzielle Erfolg - Vorabdruck in der FAZ, hohe Verkaufs­ zahlen, vielversprechende Pläne für eine Verfilmung -

126

erlaubten es Andersch zunächst, die Verrisse zu ignorieren

als Produkte neidischer Zeitungsschreiber, zumal Reich-

Ranicki damals noch nicht über den Einfluß verfügte wie ein paar Jahre später. Weitgehend unbeirrt, wenn auch in

zunehmendem Maße bemüht um Sachlichkeit, arbeitet

Andersch an der Befestigung seines Anrechts auf Ruhm. Die kleineren Schriften aus der ersten Hälfte der sechziger

Jahre - Hörspiele, Erzählungen, Essays, Reiseberichte stehen dafür ein. Als 1967 schließlich Efraim erscheint, wiederholt sich die Polarisierung der Kritik. Einerseits wird das Buch hyperbolisch als ein Werk von »höchster

künstlerischer Klugheit« und »als Roman des Jahres« ge­

priesen10, andererseits nehmen tonangebende Kritiker jetzt kein Blatt mehr vor den Mund. Rolf Becker, Joachim Kaiser und Reich-Ranicki bemängeln unter anderem den prätentiösen Stuvvesant-Stil des Romans, sprechen von

Kitsch und Kolportage. Andersch ist über diese ungute Aufnahme derart gekränkt gewesen, daß er, wie sein Bio­ graph mitteilt, noch zwei Jahre später untersagt hat, »daß sein Name mit einer von Marcel Reich-Ranicki gestalteten

Ausstellung des »Kuratoriums Unteilbares Deutschland
Ein Bericht« angekündigten Sachlichkeit. Eigenartig leer und kursorisch wirken die knappen drei Seiten, in denen Andersch sein Vierteljahr Haft (bis zum

Mai 1933) im Dachauer Lager zusammenfaßt. Die Ord­ nung des Texts rechtfertigt dies, indem sie die fraglichen

Seiten an die Stelle rückt, an der Andersch zum zweiten­

mal verhaftet in einer Zelle der Münchner Polizeidirektion liegt und in panischer Angst zurückdenkt an die Monate, die er in Dachau verbracht hat. Fast ist es, als durfte er sich

weder damals noch später wirklich ins Gedächtnis rufen,

was er ohne Zweifel dort mitangesehen hat. Die Episode, wenn man so sagen kann, von den beiden »auf der Flucht

erschossenen« Juden Goldstein und Binswanger (»Der

peitschende Knall überfiel uns, als wir zwischen den Ba­ racken auf den Brettern saßen und unsere Abendsuppe

löffelten«14) hat irgendwie den Charakter einer Deckerin­ nerung, die es erlaubte, die entsetzlichen Einzelheiten des

Lagerbetriebs zu relegieren. Das Eingeständnis der Angst, die ihm an jenem Nachmittag auf der Münchner Polizei­ direktion im Nacken saß und aufgrund derer er »zu jeder

Aussage bereit (war), die man von mir«, wie er schreibt,

»verlangt hätte«15, trägt hingegen die Anzeichen der Au­

thentizität und gehört zu den eindrucksvollen Momenten

des Buchs, da Andersch auf jede Selbststilisierung ver­ zichtet. Wie immer man die Gewichtung verteilt, deutlich

130

wird in den hier in Rede stehenden Passagen jedenfalls, daß sich Andersch, im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl seiner Zeitgenossen, schon im Herbst 1933 kei­

nerlei Illusionen mehr machen konnte über die wahre Natur des faschistischen Regimes. Allein dieses »Privileg« wiederum rückt seine »innere Emigration« während der

nachfolgenden Jahre in ein überaus fragwürdiges Licht.

Akzeptiert man Anderschs Aussage, daß »der Gedanke an eine Flucht ins Ausland«16 in der Zeit vor seiner Ver­ haftung aufgrund seiner Jugendlichkeit und Unerfahren­ heit keinen Augenblick in seinem Kopf aufgetaucht ist,

und akzeptiert man ferner, daß er in der Zeit unmittelbar nach seiner Haftentlassung in einem Zustand innerer Läh­

mung sich befand, in dem er außerstande war, die Emi­

gration zu erwägen, so bleibt dennoch ungeklärt, weshalb

er zu einem späteren Zeitpunkt, zwischen 1935 und 1939, die ihm verschiedentlich sich bietende Möglichkeit, in die

Schweiz zu gehen beziehungsweise dort zu bleiben, nicht

wahrgenommen hat. In einem Interview zwei Jahre vor

seinem Tod konstatiert er zum erstenmal unumwunden, daß er damals falsch gehandelt habe. »Was ich hätte tun können, und was ich nicht getan habe: ich hätte emigrieren

können. In einer Diktatur in die innere Emigration zu gehen, ist die schlechteste aller Möglichkeiten.«17 Was das Bekenntnis nach wie vor verschweigt, das sind die Grün­ de, die ihn zum Daheimbleiben bewogen. F'raglich ist

außerdem, ob Andersch in irgendeinem Sinne der inneren 131

Emigration zugerechnet werden kann, selbst wenn man in

Rechnung stellt, daß die Mitgliedschaft in diesem Verein allzu schwer nicht zu erwerben war. Vieles spricht dafür, daß die innere Emigration Anderschs in Wahrheit ein ihn

zutiefst kompromittierender Prozeß der Angleichung an die herrschenden Verhältnisse gewesen ist. In Kirschen der

Freiheit ist die Rede von der sonn- und festtäglichen

Flucht ins Ästhetische, die es ihm erlaubte, »im Schmelz der Lasuren Tiepolos die Wiederentdeckung der eigenen verlorenen Seele zu feiern«.18 Werktags arbeitete der emp­

findsame junge Mann »vor dem Kontenrahmen einer

Verlagsbuchhandlung« und ignoriert ansonsten die Gesell­ schaft, die, wie er sich ausdrückt, »rings um mich die

Organisationsform des totalen Staates errichtete«.19 In An­

betracht der Tatsache, daß die Verlagsbuchhandlung Leh­

mann in der Paul-Heyse-Straße, in der Andersch tätig war, in vorderster Linie völkische Politik, Rassenkunde

und Rassenhygiene vertrat, dürfte es nicht ganz einfach gewesen sein, die weiter stets um sich greifende totalitäre

Praxis zu ignorieren. Stephan Reinhardt bezeichnet den Lehmannschen Betrieb zu Recht als die »verlegerische Keimzelle und Brutstätte des Rassismus«2", unterläßt es aber nachzufragen, wie sich die Arbeit in einem solchen

Verlag vereinbaren ließ mit dem Selbstverständnis eines inneren Emigranten, der ja schließlich auch in einer Han­ delsgärtnerei eine Anstellung hätte finden können, die

seinem vom Biographen ohne Ironie vermerkten zuneh­

132

menden Bedürfnis nach »Naturversenkung, Beseelung

und Neuschöpfung«21 vielleicht besser angestanden wäre.

Die gewichtigste Auslassung in dem von Andersch in Kirschen der Freiheit rekapitulierten Bildungsroman ist die Geschichte seiner Ehe mit Angelika Albert. Reinhardt be­

richtet, Andersch habe die einer deutsch-jüdischen Fami­ lie entstammende Angelika im Mai 1935 geheiratet, um sie vor den Folgen der Nürnberger Gesetze zu schützen, die

im September dieses Jahres in Kraft traten, räumt aller­

dings auch ein, daß »die erotische Ausstrahlung« Angelikas und die Umgebung, in der sie lebte

die Alberts waren

eine großbürgerliche Familie von einigem Renommee Andersch zu dieser Eheschließung verleitet haben mö­ gen.22 Das Argument, Andersch habe Angelika Albert in seinen Schutz nehmen wollen, ist vor allem deshalb nicht

aufrechtzuerhalten, weil er ab Februar 1942, nachdem er

sich von ihr und der inzwischen auf die Welt gekommenen

Tochter getrennt hatte, sogleich auch auf Scheidung

drängte, die dann ein Jahr später, am 6. März 1943, voll­ zogen wurde. Es bedarf kaum der näheren Erläuterung, welcher Gefahr Angelika Albert damit ausgesetzt war in

einer Zeit, da es weniger um das Inkrafttreten der Rassen­ gesetze als um die möglichst zügige Durchführung der Endlösung ging. Idl Hamburger, die Mutter Angelikas,

war bereits im Juni 1942 aus dem Münchnerjudenlager in

der Knorrstraße 148 nach Theresienstadt »überstellt« wor­ den, von wo sie nicht mehr zurückkehren sollte. Stephan 133

Reinhardt vermerkt treuherzig, daß Andersch die Um­

stände, unter denen er seine Scheidung einleiten mußte,

zutiefst bedrückt hätten, gibt aber keine Auskunft darüber, wie diese Bedrückung auf ihn sich auswirkte. Dem unbe­ fangenen Leser der Reinhardtschen Biographie will es im

Gegenteil scheinen, als sei Andersch in diesem Jahr haupt­ sächlich mit der Neuausrichtung seines Lebens beschäf­

tigt gewesen. Er wollte nun unbedingt als Schriftsteller hervortreten und betrieb zu diesem Zweck angelegentlich

seine Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, die die Voraussetzung war für jedwede literarische Publikation.

Zu den erforderlichen Unterlagen gehörte unter anderem

ein Abstammungsnachweis des Ehepartners. Andersch stellt seinen Antrag am 16. Februar 1943 beim Landeskul­

turverwalter Gau Hessen-Nassau und schreibt, drei Wo­

chen vor dem tatsächlichen Zeitpunkt der Scheidung, unter der Rubrik Familienstand >geschiedenV-

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AmZur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930< in: Litera­ turmagazin Nr. 7, hg. von N. Born und J. Manthey, Reinbek 1977 Mein Roman über Berlin, op. cit., S. 29 Ibid. München 1991 Ibid., S. 161 Ibid., S. 164 Franz Lennartz, Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Sflie­ get der Kritik, Bd. 2, Stuttgart 1984, S. 1164 Cf. Karl Heinz Janßen, >Der große Plant, ZEIT-Dossier, 7. 3. 1997 Cf. Günter Jäckel, >Der 13. Februar 1945 - Erfahrungen und Re­ flexionen!, Dresdner Hefte Nr. 41, S. 6 Zitiert nach Elias Canetti, Die gespaltene Zukunft, München 1972, S. 31 f. Cf. Antony Beevor, Stalingrad, London 1998, S. 102 ff.

93 94

95 96 97 98 99 100

101 102

103

104

Der Schriftsteller Alfred Andersch 1 Cf. ». . . einmal wirklich leben« - Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 19-13-1979, hg. v. W. Stephan, Zürich 1986, S. 70 f. In spä­ teren Briefen adressiert Andersch die lb. Mama gern als Dear Mom oder Ma chere Maman. Was für einen Reim die doch ziemlich biedere Frau Andersch sich darauf gemacht hat, wissen wir nicht. 2 Cf. ibid., S. 50, S. 57, S. 59, S. 111, S. 116, S. 126, S. 144 3 Ibid., S. 123

164

4 Im Etablissement der Schmetterlinge - Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47, München 1988, S. 24 5 Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich 1990, S. 208 6 Ibid. 7 Cf. hierzu E. Schütz, Alfred Andersch, München 1980, S. 44 f., wo die wichtigsten Rezensionen zitiert sind.

8 Börsenblatt des deutschen Buchhandels, Nr. 14, 1966 9 Sonntagsblatt, Nr. 12, 1961 10 H. Salzinger, Stuttgarter Zeitung, 11.10.1967; J. Günther, Neue Deutsche Hefte, Jg. 14, 1967, H. 3, S. 133 f. 11 Reinhardt, op. cit., S. 438 12 Ibid. 13 Ibid., S. 534 14 Kirschen der Freiheit, Zürich 1971, S. 42 15 Ibid., S. 43 16 Ibid., S. 39 17 Zitiert nach Reinhardt, op. cit., S. 580 18 Kirschen der Freiheit, S. 46 19 Ibid., S. 45 20 Op. cit., S. 58 21 22 23 24 25 26 27

28 29 30

31 32 33

Ibid. Cf. ibid., S. 55 ff. Cf. ibid., S. 84 Ibid., S. 82 Cf. Erinnerte Gestalten, Zürich 1986, S. 99, S. 157, S. 160 Reinhardt, op. cit., S. 74 Kriegsgefangenenakte (8. 10. 19+4), Archiv der Deutschen Dienst­ stelle, Berlin Kirschen der Freiheit, S. 90. Und wer - so die Implikation der hier zitierten Stelle - will schon zu den Verlierern überlaufen? Reinhardt, op. cit., S. 647 Cf. hierzu Reinhardt, op. cit. S. 73. Andersch berief sich gegenüber seinem Kompaniechef auf eine Verfügung Hitlers, abgedruckt in den Mitteilungsblättern an die Wehrmacht, wonach ehemalige KZ-lnsassen aus der Wehrmacht zu entlassen waren. Cf. ». . . einmal wirklich leben.« S. 20 Cf. ibid. Ibid., S. 47

165

34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

51 52 53 54 55 56 57 58 59

Ibid. Pädagog. Verlag Schwann, Düsseldorf Der Ruf, hg. v. H. A. Neunzig, München 1971, S. 21 Cf. M. Overesch, Chronik deutscher Zeitgeschichte, Bd. 2/III, Düssel­ dorf 1983, S. 439 f. Cf. Der Ruf, S. 26 Sansibar oder der letzte Grund, Zürich 1970, S. 101 Ibid., S. 55 Ibid., S. 59 Ibid., S. 106 Ibid. Ibid., S. 22 ». . . einmal wirklich leben.« S. 13 Kirschen der Freiheit, S. 86 Ibid., S. 87 Die Rote, Zürich 1972, S. 152 f. Ibid., S. 68 Cf. z. B Th. Koebner, Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. v. H. Kunisch und H. Wiesner, München 1981, S. 26; \. Wehdeking, Alfred Andersch, Stuttgart 1983, S. 91 Cf. Efraim, Zürich o. J., S. 61, S. 204, S. 70, S. 64, S. 134 Cf. ibid., S. 56 Cf. ibid., S. 152 f. Reinhardt, op. cit., S. 423 Winterspelt, Zürich o. J., S. 39 Ibid., S. 41 Ibid., S. 443 Zitiert nach Reinhardt, op. cit., S. 327 Cf. Reinhardt, op. cit., S. 500 und S. 508

Inhalt Vorbemerkung

5

Luftkrieg und Literatur 9 Der Schriftsteller Alfred Andersch

121 Anmerkungen

161

WG. Sebald, geboren 1944 in Wertach,

ging nach dem Studium in die französische Schweiz und dann nach England. Seit 1970

lebt er als Dozent in Norwich. Zu seinen berühmtesten Büchern zählen: Schwindel,

Gefühle (1990), Die Ausgewanderten (1992) und Die Ringe des Saturn (1995). Zuletzt erschien

bei Hanser Logis in einem Landhaus (1998).

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, Mün­

chen, unter Verwendung der Fotografie Ruhe Berlin.

Berlin, 30. April

von Jewgeni Ananewitsch Chaldej

© KPK Collection, Berlin Moskau

http://www.hanser.de

»Es ist schwer, sich heute eine auch nur halbwegs zurei­ chende Vorstellung zu machen von dem Ausmaß der wäh­ rend der letzten Jahre des zweiten Weltkriegs erfolgten Verheerung der deutschen Städte, und schwerer noch, nachzudenken über das mit dieser Verheerung verbundene Grauen. Zwar geht aus den Strategie Bombing Surveys der Alliierten, aus den Erhebungen des Bundesamts für Stati­ stik und anderen offiziellen Quellen hervor, daß allein die Royal Air Force in 400000 Flügen eine Million Tonnen

Bomben über dem gegnerischen Gebiet abgeworfen hat, daß von den 131 teils nur einmal, teils wiederholt angegriffenen Städten manche nahezu gänzlich niedergelegt wurden, daß an die 600 000 Zivilpersonen in Deutschland dem Luftkrieg zum Opfer fielen, daß dreieinhalb Millionen Wohnungen zerstört wurden,’ daß bei Kriegsende siebeneinhalb Millio­ nen obdachlos waren, daß auf jeden Einwohner Kölns 31,4, auf jeden Dresdens 42,8 Kubikmeter Bauschutt kamen, doch was all das in Wahrheit bedeutete, das wissen wir nicht.«