Lucas van Leyden [Reprint 2021 ed.]
 9783112415207, 9783112415191

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MAX J. F R I E D L Ä N D E R • LUCAS VAN LEYDEN

MAX J. FRIEDLÄNDER

LUCAS V A N LEYDEN

H E R A U S G E G E B E N VON F . W I N K L E R

1 9 6 3

WALTER

DE G R U Y T E R & CO • B E R L I N

VORMALS G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D LUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG R E I M E R — K A R L J. TRÜBNER — VEIT & COMP.

M I T 77 A B B I L D U N G E N A U F 70 TAFELN

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by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30

vorm. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. (Printed in Germany) Archiv Nr. 3$ 33 631 Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, diesen Band oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. — Druck der Bildtafeln: Ganymed, Graphische Kunstanstalt, Berlin 30.

VORWORT Jahrzehnte hindurch hat mich Lucas van Leyden beschäftigt, gereizt wie ein Geheimnis, gelockt wie ein Rätsel, dessen Lösung sich verlohnte. Mehr als einmal habe ich mich daran gemacht, Beobachtungen in Worte zu fassen, die ich aus seinem „Werke" gewonnen hatte, so in einem Band, in dem ich seinen Bilddruck publiziert und erläutert habe — „Meister der Graphik, X I I I " (Leipzig; Klinkhardt & Biermann 1924) — , dann im Band X meiner „Altniederländischen Malerei" (1932), wo ich auf die Verpflichtung stieß, mein Urteil über seine Gemälde festzulegen. Befriedigt haben mich jene Bemühungen nicht; abschließend kamen sie mir keineswegs vor. Wenn ich es nun versuche, die Ergebnisse oft kontrollierter und revidierter Betrachtungen zu veröffentlichen, so ermutigt mich dazu die Überzeugung, daß Lucas über eine kritische Periode des niederländischen Kunstschaffens beispielhaft belehrend aussagt, daß ich hoffen kann, selbst denjenigen Fachgenossen etwas zu bieten, die sich nach einer „Kunstgeschichte ohne Namen" sehnen. Die Hinterlassenschaft des Meisters in ihrer Besonderheit bestimmt den Weg meiner Darstellung. Da signierte und in großer Zahl auch datierte Kupferstiche die Grundlage der Erkenntnis bilden, verweile ich auf diesem festen Boden, mache mich hier heimisch, bevor ich mich an die Gemälde, Holzschnitte und Zeichnungen wage, die anzuerkennen und zeitlich zu ordnen, eine Aufgabe der fehlbaren Stilkritik wird. Unter den Gemälden gibt es Fragwürdiges genug, sowohl was die Autorschaft, wie, was die Entstehungszeit betrifft. Etwa von Gemälden her eindringende Irrtümer können die Anschauung nicht erheblich verwirren, die, aus den Stichen gewonnen, vorangestellt und ausführlich dargelegt wird. A m eifrigsten haben sich Fr. D ü l b e r g und N. B e e t s mit dem Leben und den Werken des Leidener Meisters beschäftigt. Das Ergebnis ihrer Ermittlungen findet man am bequemsten beieinander in dem französischen Bande von B e e t s in der „collection des grands artistes des Pays-Bas" (Bruxelles/Paris; van Oest 1913). Eingehendes Studium hat R o s y K a h n den Stichen und Holzschnitten des Meisters gewidmet und 1918 veröffentlicht in dem Buche „Die Graphik des Lucas van Leyden" (Straßburg). Vollständig verbucht ist die Literatur von v a n H a l l im „Repertorium voor de geschiedenis d. nederl. schilderkunst . . . " (1936). A m längsten halte ich mich bei des Meisters Frühzeit auf, da sich mir der Eindruck vertieft hat, daß der Kern seines Wesens vornehmlich in seinen ersten Äußerungen faßbar werde, was freilich um so seltsamer anmutet, wie es sich hier um Jugend im engsten Sinne handelt. Auf das „glückliche Ende", mit dem die Biographen von den Lesern Abschied zu nehmen lieben, muß ich freilich verzichten. MAX J. FRIEDLÄNDER

LEBENSDATEN

Was wir von den Lebensumständen des Leideners Lucas wissen, haben wir von van Mander erfahren, dessen Bericht zuverlässig klingt und Vertrauen erweckt. Die Angaben scheinen aus reinen Quellen geschöpft zu sein. Der Biograph erfreute sich einer ungewöhnlich glücklichen Lage, als er es unternahm, seine wortreiche „vita" zu verfassen, da er die Kupferstiche, die signierten, dabei viele datierte, vor Augen hatte, die ihn, wie in keinem anderen Falle, so bestimmt und deutlich belehrten. Er lebte zu Haarlem in freundschaftlichem Umgange mit Hendrick Goltzius, dem kaum jemand um 1600 gleichkam an Verständnis für die Kunst des Leidener Meisters. Goltzius hatte, wie van Mander erzählt, den Flügelaltar mit der Blindenheilung, der sich jetzt in Leningrad befindet, „zu seiner großen Freude, um einen hohen Preis" erworben und besaß auch eine Glasmalerei von Lucas. Von den drei Vorgängern, den hohen Ahnen, die er verehrte und studierte, Dürer, Marcanton und Lucas, mag der Landsmann seine Teilnahme besonders gefesselt haben. Anzunehmen ist, daß er das „Werk", die Kupferstiche, einigermaßen vollständig besaß, so daß van Mander sie im Hause des Freundes bewundern konnte, wenn anders er sich nicht selbst diesen Schatz gesichert hatte. Kopfschmerzen und Kopfschütteln hat das Geburtsdatum verursacht. Van Mander berichtet: Lucas ist gegen den letzten Mai oder Anfang Juni 1494 zur Welt gekommen. Da es nun einen Kupferstich mit der Jahreszahl 1508 gibt, „Mahomet und der ermordete Mönch" (B. 126), dies wäre die Leistung eines 14- oder 15-Jährigen und als solche erstaunlich, ist die Angabe des Geburtsdatums in Zweifel gezogen worden. Manches spricht dafür, daß sie, wie unwahrscheinlich immer, richtig sei. Van Mander war sich der Anstößigkeit seiner Mitteilung wohl bewußt und hat sie nicht ohne Bedenken niedergeschrieben. Er sagt: wir haben an so wunderhafte Frühreife zu glauben, da mir das Datum übermittelt worden ist von denjenigen, die darüber Bescheid wissen müssen. Seine Gewährsmänner waren ohne Zweifel Nachkommen des Meisters. Zwei Enkelsöhne lebten um 1600 als Maler, nämlich Lucas Dammesz, — gest. 1604, 71 Jahre alt, in Utrecht — und J a n de Hoey, — gest. 1615. — Übrigens besaß die einzige Tochter, die Lucas hinterlassen hatte, noch zwei Söhne. Van Mander konnte sich bei Familienmitgliedern seines Helden um zuverlässige Kunde bemühen: Und so pflegte er zu verfahren. In einem anderen Falle beschwert er sich bitter darüber, daß Nachkommen ihm Auskunft über ihren Ahnherrn verweigert hätten, nämlich als er von A. Mors Kindern abgewiesen wurde. Würde van Mander den Geburtstag genau angeben, so wäre daraus etwa zu schließen, daß er eine Urkunde, eine schriftliche Aufzeich7

nung einzusehen, Gelegenheit erhalten hätte. D a er vorsichtig die halb genaue Zeitangabe übermittelt, spüren wir, wie dringlich er dort gefragt hat, wo richtige Antwort am ehesten zu erwarten war. Daß die Enkel das Tagesdatum vergessen hatten, ist begreiflich; daß sie sich bemühten möglichst richtige Auskunft zu geben über den Jahrestag, steigert das Vertrauen zu der Jahreszahl. M a n hat dagegen in Erwägung gezogen, ob sich nicht etwa die Jahreszeit der Y&raiMcntradition fester eingeprägt hätte als die Jahreszahl, und aus dieser Überlegung heraus an dem bedenklichen Jahresdatum gerüttelt. Es gibt Mittel, das immer wieder bezweifelte Geburtsdatum einigermaßen zu kontrollieren. W i r besitzen ein datierbares Bildnis des Meisters in der Stift-Zeichnung, die Dürer im J u n i 1 5 2 1 aufgenommen hat. Diese in Lille bewahrte Zeichnung ist abgebildet in Friedrich Winklers „Dürer-Zeichnungen" (Nr. 8 1 6 ) . N a c h ihr ist der Portraitstich in der Folge der Maler-Portraits von 1 5 7 2 ausgeführt. N u n ist es j a denkbar, daß die Dürer-Zeichnung irrtümlich für das Bildnis des Leideners gehalten und als solches gestochen und veröffentlicht worden sei. Es gibt aber auch ein Mittel, dieses Bedenken zu beheben: Unzweifelhaft denselben 47 K o p f finden wir in dem Gemälde des Rijksmuseums zu Amsterdam, der Predigtszene. Das Antlitz gut abgebildet in „Fünfhundert Selbstportraits . . . x " . D a diese Tafel, wenn nicht von Lucas ausgeführt — darüber wird zu reden sein — so jedenfalls in seiner Nähe zu Leiden entstanden ist, bestätigt das Portrait hier, daß die Zeichnung in Lille den Meister darstellt. Nebenbei gewinnen wir einen willkommenen Anhaltspunkt zur Datierung des problematischen Amsterdamer Bildes. L u cas sieht hier jünger aus, als in der Zeichnung von 1 5 2 1 . W i r kommen, was die Entstehungszeit des Gemäldes betrifft, etwa auf das Datum 1 5 1 8 . M i t dem Datum 1 5 3 0 , das man auf der Tafel zu finden glaubt, ist es nichts. In Dürers Zeichnung von 1 5 2 1 sieht Lucas abgemagert und leidend aus, durch Krankheit vergeistigt. Das Lebensalter scheint zwischen 25 und 30 J a h r e n zu liegen. Dieser, natürlich unsichere, Eindruck steht im Einklänge mit dem überlieferten Geburtsdatum. Urkundlich ermittelt ist das J a h r , in dem Lucas zum ersten M a l e als Mitglied einer Schützengilde eingetragen wurde — 1 5 1 4 . E r wäre im 20. oder 2 1 . Lebensjahr wehrpflichtig geworden, was einleuchtet. Auffällig bleibt freilich, daß er 1 5 1 4 gleichzeitig mit dem viel älteren Cornelis Engelbrechtsen bei den „handboogenschutters" eingereiht wird. Möglicherweise ist aber nicht der alte Cornelis sondern sein gleichnamiger 1493 geborener Sohn gemeint. In den J a h r e n 1 5 1 5 und 1 5 1 9 ist Lucas bei den „Voetboogenschutters" verzeichnet. Selbst wenn wir die Angabe des Geburtsdatums für unzuverlässig halten, die außerordentliche Frühreife des Ahnherrn kann nicht ursachlos im Gedächtnisse der Nachkommen gelebt haben. Erheblich vor 1494 kann Lucas in keinem Falle zur Welt gekommen sein. Eine Disharmonie im geistigen Organismus ist bei vorzeitigem Wachstum einer Fähigkeit zu erwarten. Selbstkritik, Weltkenntnis, Besonnenheit, wählender G e 1

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Wien, Phaidon-Verlag 1936 — Nr. 99.

schmack erwachen später als Instinkt, Gefühlsleben und — beim Wunderkinde — Geschicklichkeit der Hand. Die Empfänglichkeit der Sinne nimmt mit Reifung des Verstandes ab. Das Kind wahrt den kostbaren Schatz der Naivität leichter als der Erwachsene, der Rücksicht nimmt auf den Zeitgeist und dem „tödlichen Wissen" ausgesetzt ist. Das Wunderkind ist nicht in jedem Sinne ein Kind, wird dessen ungeachtet von Eltern und Lehrern wie ein Kind behandelt und gemeistert. Seelische Einsamkeit, das Gefühl, nicht verstanden zu werden, bemächtigen sich des vorzeitig produktiven, des unkindlichen Kindes. Ich entsinne mich, wie mir Herr v. Tschudi in der Münchener Pinakothek vor Jahren Zeichnungen vorwies von 8 und 10 Jahre alten Knaben und dabei sarkastisch bemerkte: hier in München kann niemand mehr zeichnen, wann er das 18. J a h r überschritten hat. In diesem Scherze verbarg sich als ernster Kern ein Vorwurf gegen akademische Schulung. Nun drohte dem Leidener Lucas zu Beginn des 16. Jahrhunderts keine akademische Zwangsjacke, aber auch durch handwerkliche Gepflogenheit konnte produktive Ursprünglichkeit gehemmt werden, zumal in einer Zeit, in der sich der „Künstler" aus zunftmäßiger Gebundenheit zu lösen begann. V a n Manders Bericht enthält, außer der Aufzählung von Stichen und Gemälden, die Lucas geschaffen habe, einige Aussagen, die, in Verbindung mit stilkritischen Beobachtungen, die erstaunliche Frühreife bestätigen. Lucas, so erzählt der Biograph, lernte zuerst bei seinem Vater, der ein ausgezeichneter Maler war. Nach dem Ableben des Vaters trat er in die Lehre des uns wohlbekannten Meisters Cornelis Engelbrechtsen. Ein Irrtum liegt insofern vor, wie der Vater den Sohn überlebt hat. Da der Kupferstich von 1508 nach Auffassung, Komposition und Formensprache mit der Schaffensweise Engelbrechtsens weniger zusammengeht als die 1509 datierte „Runde Passion", sieht es so aus, als ob Lucas gerade 1509 mit der erfolgreichen Leidener Werkstätte in Verbindung getreten sei, und dies wäre 15jährig, im normalen Lehrlingsalter. Zu dieser Annahme stimmt auch van Manders Satz, Lucas sei während seiner Lehrzeit befreundet gewesen mit dem um 1492 geborenen ältesten Sohne seines Lehrers, mit Pieter Cornelisz. Erheblich vor 1494 geboren, wäre Lucas beträchtlich älter als Pieter Cornelisz gewesen. Und Gleichaltrigkeit der Freunde ist wahrscheinlich. Allerdings, wenn Lucas 1509 in die Werkstätte Engelbrechtsens eintrat, nachdem er selbständige Tätigkeit hinter sich hatte, muß er als ein Unruhe stiftender Geist in den gefestigten Betrieb eingebrochen sein. Im stilkritisch greifbaren Verhältnis des seltsamen Lehrlings zu Engelbrechtsen liegt ein Argument mehr dafür, daß Lucas 1494 zur Welt gekommen sei. Nehmen wir nämlich an, er habe, etwa 1484 geboren, den Mahomet-Stich im Alter von 25 Jahren, also im üblichen Alter beginnender Meisterschaft, ausgeführt, wie wäre es dann zu erklären, daß er sich noch 1509 dem älteren Meister, dem er sich überlegen fühlen mußte, genähert habe? W a r er dagegen 1508 erst 14 oder 15 Jahre alt, so werden Unterwerfung, Umschwung und Anpassung an den herkömmlichen Betrieb eher begreiflich. 9

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In der Galerie zu Braunschweig gibt es ein Bildnis, das Andreas Stock um 1620 als ein Selbstbildnis des Leidener Meisters gestochen hat — mit der Unterschrift, Lucas habe sich im 15. Lebensjahr so gemalt. Verträgt sich dieses Portrait mit dem von Dürer aufgenommenen? — Leicht wird es nicht, die Bildaussagen miteinander in Einklang zu bringen. Der Mund mit der dicken Unterlippe im Braunschweiger Bild ist größer als in Dürers Zeichnung. Objektivität ist von Selbstbildnissen nicht zu erwarten. Lucas sah sich so. Es gibt ein Pathos des Selbstportraits. Anstrengung bei scharfer Visierung, Geltungsbedürfnis, Schwermut unverstandener Jugend prägen die Züge des nichts weniger als gefalligen Antlitzes. Das Kinn niedrig und zurückweichend, der Mund groß, eine kurze, etwas gestülpte Nase, die breit in die Stirne mündet, offene, dunkle Augen. Da das Gemälde dem Stile nach ein Werk des Meisters und der Blickrichtung nach ein Selbstportrait zu sein scheint, müssen wir der Aussage des Stechers glauben, wenn auch seine Altersangabe keineswegs verbindlich ist. Kann der 15jährige so ausgesehen haben? Daran möchte man zweifeln. Ein etwas höheres Lebensalter ist wahrscheinlich. Rein stilkritisch beurteilt, in die Reihe der Gemälde gestellt, scheint das spontan aufgenommene Werk eher um 1 5 1 1 als 1509 entstanden zu sein, wie wir bei Betrachtung des Malwerkes beobachten werden. Die Angabe in dem Stiche Stocks, Lucas sei 1533 im Alter von 39 Jahren gestorben, stammt vermutlich aus der Lektüre van Manders, ist also schwerlich als Bestätigung des Geburtsdatums zu verwerten. Van Mander spricht von schmächtiger Leiblichkeit des Meisters, von langwährender Krankheit, die dem frühen Tode vorangegangen sei. Wir dürfen Lungenleiden vermuten. In Dürers Zeichnung sieht Lucas schwindsüchtig aus. Physische Schwäche, zeitweiliges Leiden sind als Ursachen, als mitwirkende Kräfte von dem Stilkritiker im Auge zu behalten. Lucas starb, wie van Mander berichtet, im Jahre 1533 im Hochsommer. Er erlebte noch, fügt der Biograph hinzu, den Tag der heißen Prozession von Leiden, an den sich alte Leute noch wohl erinnern. Bei dieser Prozession starben viele Menschen am Hitzschlag. Aus dieser Angabe merkt man, daß der Biograph gewissenhaft die Lebensumstände erforscht hat. Und die Kunde, die er übermittelt, daß des Meisters Tochter neun Tage vor seinem Tode einem Sohne das Leben geschenkt habe, kann auch nur aus Familientradition stammen.

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DIE K U P F E R S T I C H E A U S D E R Z E I T U M 1508

Wir gehen daran, eine Anschauung zu gewinnen von der Kunst des Leideners, etwa auch von dem Ursprünge seiner Kunst, aus Kupferstichen, die er im Lehrlingsalter geschaffen, was merkwürdig, und mit seiner Initiale bezeichnet hat, was noch seltsamer erscheint. Lucas hat zwischen 1508 und 1530 in jedem Jahr einen Stich oder mehrere Stiche mit der Jahreszahl herausgegeben, mit Ausnahme der Jahre 1511, 1522 und 1526. Er hat in der späteren Zeit regelmäßiger datiert als in der frühen und mittleren Die meisten seiner undatierten Arbeiten sind vor 1515 entstanden, dem Stile nach beurteilt. Er hat vor 1522 fleißiger gestochen als danach. In der Zeit zwischen 1510 und 1522 mögen auf jedes Jahr etwa 6—10 Stiche fallen, nach 1522 nicht so viele, während zu Beginn, um 1508, die Blätter sich in Fülle zu drängen scheinen. Von den 175 Stichen 2 die Lucas in etwa 25 Jahren ausgeführt hat, zeigt das Blatt mit Mahomet und dem ermordeten Mönche (B. 126) die früheste Jahreszahl, nämlich 1508. Schon A. Bartsch3 und nach ihm alle sachkundigen Autoren haben undatierte Stiche in größerer Zahl nach stilkritischer Vergleichung dem Blatte von 1508 zugeordnet, j a zu erkennen geglaubt, daß einige noch vor dem „Mahomet" entstanden wären. V a n Mander vertrauend, dürften wir bei zeitlichem Ordnen weit hinter 1508 zurückgehen, da der Biograph uns erzählt, Lucas habe als Kind von g Jahren — also um 1503 — „hübsche und feine Stiche nach eigener Erfindung" geschaffen. Mißtrauisch gegen die Möglichkeit einer Frühreife so hohen Grades, ziehen wir es vor, die ganze Gruppe der Erstlinge an das Jahr 1508 heranzurücken, trotz erheblicher Verschiedenheit innerhalb der Reihe. Nicht nur mit Jahren, auch mit Monaten rechnen wir, da wir ein Schaffen verfolgen, das sich in der Krisis befand. Die Gruppe der Stiche, die nach dem Urteile scharfsichtiger Kenner kaum nach 1508 entstanden sein können, umfaßt etwa 25 Nummern. Rosy Kahn 4 hat sich am eifrigsten an die Aufgabe gewagt, zeitliche Abfolge innerhalb dieser Gruppe zu begründen, durch Analyse der Komposition, der Formensprache und der Grabstichelführung. Sie kommt zu einer Spaltung in zwei Untergruppen, indem sie die 2

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Zu den in der katalogisierenden Literatur beschriebenen Blättern ist in neuester Zeit ein einziger Stich hinzugetreten, der segnende Christus — mit der Signatur — , dessen Abdruck, wohl ein Unicum, bei Boerner in Leipzig am 11. Mai 1929 versteigert worden ist. Das Blatt ist nach Amerika in die Sammlung Lessing Rosenwald gelangt. Catalogue raisonné de toutes les estampes de Lucas de Leyde . . . Vienne 1798. Rosy Kahn. Die Graphik des Lucas van Leyden. Straßburg, Heitz 1918.

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bescheidenen Erfindungen, namentlich die mit Einzelfiguren, für die früheren, figurenreiche und anspruchsvolle Kompositionen dagegen für spätere Leistungen erklärt. Der 1508 datierte „ M a h o m e t " erhält seinen Platz am Ende der zweiten Reihe. Im großen und ganzen mag damit das Richtige getroffen sein. Nur setzt, wie es zu gehen pflegt, der vernünftige Historiker eine Folgerichtigkeit voraus, an die sich der unvernünftige Künstler schwerlich gehalten hat, und Lucas war 1508 sicherlich nicht „vernünftig". Davon abgesehen, liegen die Gesichtspunkte, von denen aus R . Kahn entscheidet, miteinander im Streite, da einige der Erfindung nach simple Darstellungen subtil durchgebildet erscheinen, mehrere kühne und reiche dagegen vergleichsweise unbeholfen. Denken wir an Fortschritt und fassen die Studienergebnisse in bezug auf die Form ins Auge, so gelangen wir zu einer Reihung, die uns befriedigt, beobachten wir die Wandlung der Grabstichelführung, so ergibt sich eine andere Reihung als die wahrscheinliche. Gegen die Aufstellung, die R . Kahn vorschlägt, fällt ins Gewicht, daß die Stiche, die sie an das Ende der ersten Periode setzt, keineswegs, wie doch zu erwarten wäre, den datierten Stichen von 1509 besonders nahe stehen. Ich glaube nicht, daß rein stilkritisch in diesem Fall eine zweifelsfreie Chronologie gewonnen werden könne. Die folgende Reihung mag immerhin einigermaßen richtig sein: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Adam und E v a (B. 7) Magdalena (B. 123) Christoph (B. 108) Der Knabe mit der Trompete (B. 152) Die Pilger (B. 149) Die Soldaten (B. 1 4 1 ) Die Erweckung des Lazarus (B. 42) Abigail (B. 24) Der betende David (B. 28) Der Abschiedskuß (P. 177) Die Ruhe auf der Flucht (B. 38) Die Ruhe auf der Flucht (B. 39)

13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.

Der hl. Georg (B. 1 2 1 ) Samson und Dalila (B. 25) Mahomet (B. 126, datiert 1508) Der hl. Lucas (B. 104) Susanne im Bade (B. 33) Die hl. Familie (B. 85) Die „große" Hagar (B. 17) David vor Saul (B. 27) Der Fackelträger (B. 147) Die Bettler (B. 143) Herr und Dame (B. 145) Die Dame im Walde (B. 146) Der hl. Sebastian (B. 1 1 5 )

Die kleinen, anspruchslosen Blätter, die ich an das Ende der Liste gestellt habe, mögen später entstanden sein als der 1508 datierte Mahomet-Stich. In ihnen regt sich eine Beweglichkeit, die den Erstlingen fremd ist. Der Kopf des Herrn in dem Blatte mit dem spazierenden vornehmen Paare (B. 145) kommt in ähnlicher Bildung und mit derselben Kopfbedeckung in einem Stiche der runden Passion (B. 59) vor und könnte recht wohl erst gleichzeitig mit der 1509 datierten Folge entstanden sein. V o n den figurenreichen Kompositionen halte ich zumal die „Auferweckung Lazari" für früher geschaffen, als R . Kahn annimmt. Viel weiter als der alte Bartsch gelangen wir schließlich nicht bei zeitlicher Reihung der undatierten Stiche. 12

U m mit dem Beginne zu beginnen, wende ich mich zu dem Stiche des „Sündenfalles" (B. 7), der mit Recht für besonders anfängerhaft und unreif gehalten wird. A n Dürers glorreiche Lösung derselben Aufgabe wird unausweichlich gedacht. Die Bildidee: das nackte Paar hell vor dunkler Laubwand, der Baum zwischen Adam und E v a als Achse. Lucas könnte den 1504 entstandenen Stich des Deutschen gekannt haben. Wenn er schon bei den ersten Schritten Weisung von Dürer empfangen hat, etwa beim Anblick Dürerscher Stiche zu Versuchen mit dem Grabstichel angeregt worden ist, käme diesem Umstand einschneidende Bedeutung zu. Nach van Mander soll Lucas von einem Waffenschmiede, der Harnische ätzte, gelernt, auch von einem Goldschmiede Unterricht empfangen haben. In Kupfer geätzt hat aber Lucas, soweit wir sehen, nicht vor 1520. Das Verhältnis des Leideners zu Dürer, ein von Historikern mit natürlicher Vorliebe behandeltes Thema, wird uns reichlich beschäftigen. Schon Vasari hat die beiden Meister miteinander verglichen. Julius Held hat in seinem Buche 5 die Beziehungen des Holländers zu dem Deutschen gründlich geprüft. Lucas sah zu dem Zeichner und Kupferstecher Dürer auf, strebte ihm nach, stand ihm in jedem Abschnitte seiner Laufbahn anders gegenüber. Nutzen und Schaden, Gewinn und Opfer ergaben sich ihm aus der Hingebung an das für ihn in seiner Tiefe unzugängliche Vorbild. Sehr früh, schon um 1508, muß er etwas von Dürers „ W e r k " zu Gesicht bekommen haben. Die Figur Sauls in seinem Stiche „David und Saul" erscheint abhängig von dem thronenden Tyrannen in Dürers Holzschnitt aus der Apokalypse (B. 61), wie Beets beobachtet hat. Falls dem Leidener Dürers Kupferstich „ A d a m und E v a " bekannt war, als er dasselbe Thema aufgriff, war ihm das Wesentliche in der Errungenschaft des Deutschen nicht faßbar. Die Vergleichung bleibt aufschlußreich auch für den Fall, daß er Dürers Stich nicht gekannt hat. Des Deutschen Leistung: ein nach langem Kampf erstrittener Sieg, die Eroberung der kanonischen Schönheit des männlichen und weiblichen Leibes. Die seelische Kühle, die mit der so bewußt und dringlich auf das Körperliche gerichteten Bestrebung verbunden war, bleibt zu spüren. Der Gefühlsgehalt des Sündenfalls ist Dürer entglitten. Lucas, obwohl jünger als der Deutsche, steht um 1508 dem Renaissancegeiste fern und weiß nichts von kanonischer „Schönheit". Entschieden ausgedrückt hat auch er in seinem Stiche das Schuldbewußtsein nicht. Immerhin steht nichts im Wege, es hineinzufühlen. Das Nackte ist für ihn Mangel, Dürftigkeit, Blöße. Dürers Adam und Eva, aufrecht, durchaus nicht als die Ursünder, die des Holländers sitzen und zwar so, wie wenn sie sich nicht erheben könnten. Dürer erscheint als ein Meister der Renaissance, so lange wir ihn mit dem jungen Holländer konfrontieren. Hier, wie in mehreren anderen Erstlingen des Leideners, werden wir an die Schwachheit des Menschengeschlechtes, an die Not der Kreatur erinnert. Seine Geschöpfe stehen und sitzen unsicher, suchen Halt, bedürfen der Stütze. Die Hand kurz, zuweilen wie verkrüppelt. Die Leiber geknickt, zusammengeklappt, wobei 6

Julius Held. Dürers Wirkung auf die niederländische Kunst. Den Haag, Nijhoff 1931. — Auch R. Kahn hat den Beziehungen zwischen Lucas und Dürer viel Aufmerksamkeit gewidmet.

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Überschneidungen und Verkürzungen zeichnerisch nicht bewältigt werden. Mängel der Formenkenntnis haben dazu beigetragen, die Erdenschwere, die gebresthafte Hilflosigkeit der Gestalten zu veranschaulichen. 3 Magdalena (B. 123) sitzt auf der Erde, nackt, den Rumpf an einen Felsen lehnend, die dicken Schenkel steif abstreckend in unwürdiger Lage, in derber Fleischigkeit. Bei aller Fehlerhaftigkeit berühren uns diese Leistungen mit herbem Reize, durch persönliche, wenn auch stammelnde Rede, durch die Eintracht von landschaftlicher Umwelt und menschlicher Figur, sowie durch die aufleuchtenden Affekte der Inbrunst, der Sehnsucht und des Leidens, durch die stumme Sprache der Seelen. Lucas bietet die Illusion eines Naturausschnittes mit Luft und Licht. Da die Konzeption von der Örtlichkeit ausgeht, die Körper sich in die Raumtiefe strecken, sieht sich der Zeichner gezwungen zu Überquerungen der Glieder und Verkürzungen der Köpfe. Wie unbeholfen die Gestalten konstruiert sind, so fein, eingehend und scharf ist die Beobachtung der Textur, der Oberfläche, des stachligen Haares, der rissigen Baumrinde, des mürben Fleisches, des kantigen Gesteins, des wolligen Gewandstoffes. Mit lockerer, unsystematischer Strichführung wird eine Wirkung des Bildgesamts erzielt, die Schwächen der Teile übersehen läßt. Die Wirkung geht mehr von der Binnenform und der Tonstufung aus als von der Kontur. Weit entfernt von kirchlicher Repräsentation, sind die Striche religiös, insofern wie die Abhängigkeit und Unterworfenheit des Menschengeschlechtes zur Anschauung gelangt. Der Heilige duldet, von seiner Mission bedrückt, er scheint ihr nicht gewachsen zu sein. Die Madonna unköniglich, nichts als sorgende Mutter. An die Innigkeit des Familienverbandes wird gedacht, und in der Figuration werden Vater, Mutter und Kind aufs engste zusammengedrängt. Das Pathos, das dumpf und unrein aus den Köpfen ertönt, strömt voll aus in 4 stoffreichen Gewändern. Der rauhbärtige Christoph (B. 108) hockt unbequem am Boden, während der aus weiter Ferne schallende Ruf des Christkindes ihn aufschreckt. Sein weiter Mantel, ausgebreitet nach beiden Seiten mit eckigen Zipfeln, scheint ihn in die Erde zu verwurzeln. Der knieend betende David (B. 28) mit grobem Kopf hat nichts Fürstliches an sich außer seiner üppigen Gewandung. Der hl. Christoph ist auf der einen Seite in einen halben Kreisbogen eingespannt, und die Linien der Felskanten, der Bäume, der Vegetation, annähernd parallel verlaufend mit der Kontur seiner Gestalt, verbinden ihn mit der landschaftlichen Natur. Die Geschöpfe sind mimikrihaft der Natur angenähert. Hier, wie in anderen Stücken dieser Gruppe, ist die Bildfläche geteilt in eine dunkle Kulisse, an der die Figur oder die Figurengruppe klebt, die diagonal von rechts unten nach links oben ansteigt, und in die lichte Ferne. Häufig der Vordergrund: Berg, Hügel, Hochebene, der Hintergrund: Niederung, Tal, Mulde. Man blickt über die Schwelle, den unteren Bildrand, abwärts. Wie die einzelne Gestalt sitzend oder knieend in weiter Gewandung der Dreiecksform gefügt erscheint, so werden auch Paare, Gruppen eingezeltet. Der nieder14

geduckte Komplex der Glieder scheint mit Gefühl geladen zu sein. Die S-förmige Schwingung des Frauenkörpers drückt sorgenvolle Liebe aus, wie in dem Stiche mit der hl. Familie (B. 38). Der ehrgeizige Anfänger greift zu Aufgaben, die ihm Schwierigkeiten bereiten, oder — eher — er weiß nichts von den Gefahren, in die er sich stürzt. Er wagt sich an perspektivische Verkürzungen und scheut nicht verwegene Kombinationen, so in dem Abschiedskuß (P. 177). In diesem überaus selten gewordenen, ausnahmsweise nicht signierten Blatte, wendet die Frau ihren Kopf gewaltsam in zärtlicher Hingabe dem hinter ihr schreitenden Manne zu. Baumstämme, gerad aufwachsend, dienen zur Verfestigung der Kompositionen. Rahmend oder als senkrechte Achsen oder dunklen Grund bietend, gleichen sie Säulen im Bildbaue. Die Menschen schmiegen sich ihnen an, wie Unterholz. Äste und Laub, am oberen Rand gebreitet, bilden ein Dach. Das Übergewicht des Örtlichen offenbart Liebe zur landschaftlichen Natur, mag auch gedeutet werden als Flucht von der unverstandenen Gesetzlichkeit des Menschenleibes zu der zufallshaften Unregelmäßigkeit der Erdformation und der Vegetation. Das Pathos geht oft von dem drohend gefährlichen, unwegsamen Gelände aus. Stets möchte Lucas in jugendlichem Eifer es anders machen, anders als andere, und anders, wie er selbst es gemacht hat. Die Betrachtung einer so anspruchsvollen Darstellung wie die Auferweckung Lazari (B. 42) soll das Gesagte vervollständigen. Der Wille stößt in diesem Wagnisse 6 weit über das Vermögen hinaus. Abwendung von der ikonographischen Tradition wird hier deutlich erkennbar, weil wir sowohl von Ouwater wie von Geertgen tot St. Jans, also von zwei führenden holländischen Meistern des 15. Jahrhunderts, Lösungen derselben Aufgabe vergleichen können. Lucas geht aus von dem Wo des Geschehnisses. Er bildet aber nicht wie Ouwater einen Kirchenchor — in dem Berliner Bilde — nicht wie Geertgen einen planen Hof — in der Pariser Tafel —, er sorgt nicht dafür, den Akteuren einen bequemen Bühnenboden zu bereiten, er verlegt den dramatischen Vorgang in gebirgiges, hart gestuftes Gelände. Die Menschen müssen sich mit dem schwierigen Schauplatz abfinden, dienstbar den räumlichen Umständen. Ein Hügel, abschüssig nach vorne, darauf eine Felswand mit der Grabkammer, der Lazarus, nach Lösung der steinernen Platte, entstiegen ist. Oben eine mit Bäumen bestandene Ebene. Rechts und links Bäume, die, vom oberen Bildrand überschnitten, das Kompositum lotrecht gliedern. Die Menschen halten sich an die Stämme. Die Figurengruppen, links eine knieende Frau, zwei stehende Männer, rechts eine stehende Frau mit zwei Männern, in der Mitte der knieende Lazarus, dem Petrus die Hände entfesselt, und der Heiland, der sich nur wenig abhebt von der Gruppe zur Rechten. Nahe dem Rande fällt der Blick auf die tief liegende Ferne. Auf der Ebene über der Grabkammer drei Neugierige, von denen der eine, von unten gesehen, beschattet, in verwegener Verkürzung, seinen Fuß auf einen Baumast gestellt hat. StofFreiche Gewandung breitet sich am Boden aus, mit zackigen Rändern. Das dichte Vor- und Hintereinander der Ge15

stalten ergibt ein kontrastreiches Gesamt, ein unklares, zumal da fast keine Gestalt, nicht einmal der Heiland, sich mit Umrissen deutlich aus dem zusammengewachsenen Verbände löst. Die Menschen sind beieinander wie Bäume im Urwalde. Die drei Gestalten, in denen das Wunder und seine Wirkung am stärksten zum Ausdrucke gelangen, nämlich Christus, Lazarus und die knieende Frau, zeigen die Köpfe in starker Verkürzung. Extase, leidenschaftliche Erregung und Staunen werden durch krampfhafte Wendung der auf kurzen, aber breiten Hälsen sitzenden Köpfe verbildlicht. Die anormale Ansicht wird für den außerordentlichen Gemütszustand eingesetzt. Das unverkürzte Antlitz wirkt dagegen nichtssagend, mit leerer oder weinerlichen Miene. Die Höhepunkte der Erzählung in perspektivische Verkürzung zu verlegen, ohne Mißbildung zu scheuen, wagt Lucas in diesem Abschnitte seines Weges mehr als einmal, so in dem Stiche des betenden Davids (B. 28), in dem mit Simson und Dalila (B. 25) und in dem Mahomet-Stiche (B. 126), wo der Kopf des getöteten Mönches hintüber gefallen, fast unsichtbar erscheint. Einheitlichkeit der Beleuchtung wird im Lazarus-Stiche zwar nicht folgerichtig durchgeführt, wohl aber angestrebt. Die erhobene Hand des Heilands wirft einen Schlagschatten auf seine Brust. Der Männerkopf links neben dem Haupte Christi ist mit einer Schraifenlage zu einem dunklen Felde herabgesetzt und nur als solches noch im Kompositum wirksam. Der Zuschauer, der in der Gabelung von Baumstamm und Ast in dunkler Fläche mit der Silhouette sichtbar wird, mag als die kühnste von all den Waghalsigkeiten dieser Figuration bewundert werden. Im ganzen komponiert der Meister mit dem Wechsel von hell und dunkel, abgesehen davon, daß hier, wie auch sonst oft, durchlaufende Diagonalen das Gerüst bilden. In dem Stiche mit David und Abigail (B. 24) bewegen sich die Akteure so, wie sie sich auf dem zerklüfteten Terrain bewegen müssen. Das Gelände, primär, herrschend und beschwerlich, wird Träger der Wirkung, als Symbol des dramatischen Geschehnisses. In dem Stiche mit dem zur Nachtzeit wandelnden Paare (B. 147) geht der 5 Effekt vom Lichte, von der Fackel aus. Ein niemals vorher, auch kein zweites Mal von Lucas, im Bilddruck unternommener Vorstoß zum „Helldunkel". Einige Blätter, wie der „Mahomet", wie Simson und Dalila (B. 26), Saul und David (B. 27), die nicht beträchtlich später als die Auferweckung Lazari entstanden sind, zeichnen sich aus durch verfeinerte Strichführung. Mit Vorliebe für das dunkle und ferne Alte Testament umkreist jugendliche Neugier das Verhältnis zwischen Mann und Weib, Erotisches und Kriminelles. Der Bibeltext, wie sonstiges Schriftwesen, wird eine Quelle fesselnder Anekdoten. Nicht zum dramatischen Höhepunkte zielend, eher das Begebnis episch ausspinnend, beobachtet Lucas. Dalila beraubt den Helden des Haares nicht mit bösartiger Heftigkeit und spontaner Hast vielmehr wie im Trancezustande. Die lüsternen Greise bedrohen die badende Susanne (B. 33) keineswegs, sie können sie nur mit 7 Mühe erblicken. Der Meister begnügt sich damit, vertieft sich darein, versteift 16

sich darauf, in der Haltung und dem Gesichtsausdrucke Belauern, Heimlichkeit und Lüsternheit auszuprägen. Die Männer sind noch mehr darauf bedacht, nicht gesehen zu werden, als zu sehen. Wieder bergiges Gelände, nach vorne abschüssig, wo die Greise unsicher auf schmalem Felsvorsprunge sich mit dem Rücken an die Steinwand klemmen. Wieder diagonale Teilung der Bildfläche in eine dunkle Kulisse auf der einen, tief liegende, helle Ferne auf der anderen Seite. Der ganz in Weiß gekleidete Mann, an sich haltend, bleich nervös, nicht ohne Feinheit, steht im Kontraste gegen den vulgären Begleiter, der zu ihm aufschaut, ihm die Badende zu zeigen scheint. Man denkt an Faust, Mephisto und Gretchen. Überrascht in mehr als einem Falle die psychologische Feinheit, die Diskretion der andeutenden Erzählung, so wirkt der Vorgang in dem Stiche mit Saul und David (B. 27) durch schlagende Bestimmtheit. Eine Gruppe relativ großer Figuren, 8 uns drastisch nahe gerückt, im geschlossenen Räume. Als Gegenspieler: der ungeschlachte Bursche, unschuldig und etwas töricht, unbeweglich auf beiden Füßen stehend, mit dem Saitenspiel in den Händen, ihm gegenüber, gefahrlich nahe, auf dem Thronsessel, wie zum Sprunge bereit, mit schwer hangendem Haupte Saul, ähnlich einem kranken Löwen. Hinter der Thronwange der Chor der Höflinge, deren Köpfe zum Teil helldunkelhaft beschattet sind. Lucas denkt an die Wirkung der Begebenheit, denkt an neugierige Zuschauer. Aufrecht, nicht mehr in gotischer Biegung, noch nicht im Kontrapost, ein würdiger Patriarch, steht Abraham neben Hagar, die er verabschiedet (B. 17). g Ein Paar, in dem die Beziehungen zwischen Mann und Weib zart angedeutet sind, erblicken wir in dem Stiche „der hl. Georg" (B. 121). Das Blatt „Saul und 10 David" wie geladen mit Sprengstoff, drohende Katastrophe, hier dagegen idyllischer Ausklang, entspannter Zustand nach der heroischen Tat. Der Kampf mit dem Drachen, klein, in der Ferne. Vorne tröstet Georg die Prinzessin, in dem er zaghaft, mit ritterlichem Anstand an ihre Arme tastet. Lucas liebt das Wetterleuchten mehr als Donner und Blitz, er wendet sich von der Tat zu der Folge, dem Nachhall oder verweilt bei der spannenden Erwartung. Christoph trägt das Christkind nicht, er wird es tragen; St. Georg tötet den Drachen nicht, er hat ihn getötet. Mit Beflissenheit biegt Lucas der Überlieferung aus, kehrt das Kirchliche in das Menschliche, das Handgreifliche in das Seelenkundliche und scheut sich nicht, Rätsel aufzugeben. Wie entschieden er der ikonographischen Konvention in jugendlichem Trotz ausweicht, wird schlagend offenbart in dem Stiche (B. 39), der 11 als ein Unikum in der Albertina erhalten ist. Die hl. Familie zeigt sich hier so wunderlich, daß uns Zweifel beschleichen, ob sie dargestellt sei. Eine Erdstufe, zu hoch, als daß sie als Bank dienen könnte. Davor Joseph unsicher stehend, Maria am Boden hockend, den Kopf aufwärts streckend, in die Seitenansicht drehend, dem Kinde zu, das selbständig auf der Felsmauer kniet, eine Blume gepflückt hat, die es der Mutter an die Nase hält. Joseph und Maria reich gekleidet. Der Esel nicht anwesend. Alles widerspricht der ikonographischen Tradition. Ich zweifle stark daran, daß die Zeitgenossen des Leideners die entlegene Anekdote von Mahomet, dem ermordeten Mönch und dem Weinverbote gekannt haben (B. 126). l 17

Lucas wagt sich hier an eine Darstellung, die nur als Illustration neben erzählendem Texte verständlich gemacht werden konnte. U m so erstaunlicher, bis zu welchem Grade er ohne aufklärendes Wort sich dem Ziel genähert hat. Der Prophet, kriegerisch gerüstet, durch den Turban bezeichnet, schlummert in unbequemem Sitz, an einen Baumstumpf gelehnt, in dessen Astgablung er den einen Arm und auf den Arm das bärtige H a u p t gelagert hat. Die Schale und der Trinkbecher am Boden deuten darauf hin, daß er nach schwerem Trunk eingeschlafen ist. Auf der anderen Seite der ermordete Mönch, mit einer Wunde am Halse, rücklings auf dem Boden liegend, eine aufs kühnste verkürzte Gestalt. Zwischen Mönch und Prophet, vorsichtig schleichend, um den Schlafenden nicht aufzuwecken, der Landsknecht, der Mörder, der das blutige Schwert auf das Knie Mahomets legt, damit der Erwachende glaube, in der Trunkenheit die Untat begangen zu haben. Niemand außer dem jugendlichen Lucas wäre zu Beginne des 16. Jahrhunderts auf ein so unhandliches, der Verbildlichung widerstrebendes Thema verfallen, oder, wenn er dazu gekommen wäre, hätte wohl jeder andere die Bluttat selbst dargestellt, statt das Nachher, das geheim Kriminelle, diese bange Stille zwischen Schlummer und Tod, zwischen dem Mord und dem schreckhaften Erwachen. Die Gestalten sind in ein liegendes Oval gefügt. Dahinter sommerliches Land mit mächtig ragenden Bäumen. I m Hintergrunde Begleiter des Propheten versammelt. Mit dem Kitzel des Rätselhaften kam der Meister einem Bedürfnis entgegen. Seine Zeitgenossen werden angezogen durch Dunkelheiten, die aufzuhellen, Scharfsinn und Kenntnis erforderten, geistige Beschäftigung boten und das stolze Bewußtsein überlegener Einsicht. Das Deuten der Scharade steigerte das Interesse, das als rein ästhetische Lust sich vorzustellen, durchaus irrtümlich wäre. In dem Stiche mit Saul und David finden wir ein wenig Ornament am Thronsitze, vegetabilische und figürliche Reliefplastik. Der Meister ist — und bleibt — zurückhaltend im Schmuckwerke. Seine Bauten ermangeln reicher Zier. Wie die Holländer fast alle, unterscheidet er sich von den südniederländischen Zeitgenossen durch Sachlichkeit der Architektur gegenüber, mehr Beobachter als phantasiereicher Konstrukteur. Das Urteil über des Meisters Grabstichelarbeit wird dadurch erschwert, daß sich das „Werk" nirgends, nicht einmal in der Albertina, in gleichmäßig guten Abdrücken der vergleichenden Beobachtung darbietet. Namentlich von den Stichen aus der Frühzeit sind vollwertige Exemplare nur in kleiner Zahl erhalten. Die Arbeitsweise brachte es mit sich, daß nach wenigen Abzügen die Druckqualität nachließ, und die Wirkung verblaßte. Lucas begann damit, gefühlsmäßig die Platte zu bearbeiten. Nicht wie Dürer stammte er von Goldschmieden ab, nicht wie Dürer schloß er sich einem Meister an, der ebenfalls von einem Goldschmied abstammte. Dürer führt den Stichel, namentlich in seiner Jugend, u m die Illusion des Kubischen zu erzielen und um die bewegte Kontur, das Profil, aussagen zu lassen. Lucas dagegen spricht sich zu Beginn wenig mit dem Umriß aus. I n ungemein reichem Wechsel von kurzen, punktartigen, langen, zarten, kräftigen, geraden und geschwungenen Zügen veranschaulicht er das stoffliche Wesen von Erdboden, 18

Graswuchs, Baumrinde, wolligem Gewand und Haar in Rauheit, Stachlichkeit und Glanz. Er ist mehr auf die Füllung der Flächen bedacht als auf ihre Begrenzung. Seine Sprache hat mehr Klang als Artikulation. Er erzielt mit ungemein dichten Schraffen eine sammetartige Wirkung, so etwa in dem Stiche mit dem hl. Lucas (B. 104), eine Wirkung, die freilich nur in den ersten Drucken recht zu genießen ist. Aus mehr als einem Grund ändert Lucas sein Verfahren bald. Mit der Formensprache wandelt sich die stecherische Interpretation. Überdies mußte der Meister bei steigendem Erfolge, bei wachsender Nachfrage nach seinen Stichen dafür sorgen, eine größere Anzahl befriedigender Drucke zu erzielen, als die subtile Technik hergegeben hatte. In der glücklichen Lage, aus weitem Abstände das Wesentliche wahrzunehmen, hat Vasari dem Leidener nachgerühmt, daß er, darin Dürer überlegen, Luftperspektive mit dem Grabstichel ausgedrückt, die Gründe der Tiefe zu durch Stufung der Strichstärke voneinander unterschieden hätte — „che col colore non si farebbe altrimente: le quali awertenze hanno aperto gli occhi a molti pittori" damit hat der Italiener schärfer und jedenfalls kürzer als alle Nachfolger Entscheidendes formuliert. Wirklich sind des Leideners frühe Stiche farbig — in gewissem Sinne. Der Kupferstecher ist darauf angewiesen, darauf beschränkt, die Tonwerte der Farbflächen zu wägen. Wie viel mehr gilt dies für den Maler, wenn er in Kupfer sticht und dabei seine farbige Vision nicht anders wie durch Übersetzung in die Tonstufung zu realisieren vermag. Und in dieser Lage befand sich Lucas in seiner Jugend. Ich habe auf der Zunge, von Atmosphäre zu sprechen, fürchte aber, mich damit vag und unbestimmt auszudrücken. Die Illusion des Tiefenraumes bringt Illusion der Luft mit sich. Die Luft wird als das Gemeinsame, das Verbindende zwischen den Figuren empfunden. Die Raumillusion weckt auch die Vorstellung von dem tragenden Erdboden, und die Menschen bewegen sich so, daß die Macht der Gravitation spürbar wird. Die Abhängigkeit der Kreatur von der irdischen Örtlichkeit und der sie umgebenden Luftschicht beherrscht die Phantasie des jugendlichen Meisters. Ungefähr auf dasselbe kommt es heraus, wenn ich sage, der weiße Papiergrund ist ganz und gar überwunden und ausgetilgt, ist nicht mehr Reliefgrund. Die Lichtführung Dürers gliedert, trennt, löst die Körper plastisch heraus, die Lichtführung des Holländers verbindet die Figuren miteinander und mit der räumlichen Umgebung. Der Schlagschatten ist als Merkmal zu beachten, er ist die vom Lichte geschaffene Brücke zwischen dem Körper und dem Räume. Bleiben wir der Annahme treu, daß die umfangreiche Gruppe der Stiche, die sich dem „Mahomet" anschließen, in der knappen Zeitspanne von einem Jahr, höchstens von zwei Jahren entstanden seien — und wer an dem überlieferten Geburtsjahre festhält, muß dies glauben — so steigert sich unser Staunen über die Fruchtbarkeit, die nach vielen Seiten ungeduldig schweifende Einbildungskraft. Wer sich frei gemacht hat von dem Glauben an das Geburtsdatum, wird leicht und mit Befriedigung die Gruppe der frühen Stiche auf mehrere Jahre verteilen. 19

Die Mannigfaltigkeit der Bildgedanken, der Formmotive bleibt dennoch bewunderungswert, namentlich wenn wir vergleichend auf das genügsame Auf-der-StelleTreten blicken, das allgemein der niederländischen Produktion in jener Zeit eigen war. In seinen Absichten, Zugriffen und Unternehmungen ist der jugendliche Lucas unermüdlich und geistig beweglich. Die frühzeitige Hellsichtigkeit für seelische Regungen ist am schwersten zu erklären; sie mag auf krankhafte Sensibilität deuten. Selten in der Periode der Gärung ein heller, lebensfroher Ton, überwiegend Versonnenheit, Sorge, Sehnsucht, Bangigkeit. Die durch St. Georg befreite Prinzessin hat allen Anlaß dankbar beglückt zu sein, sie weint. Unendlich oft und von allen Meistern in jenen Tagen ist die Madonna, die hl. Familie gebildet worden, aber nie so bar der Hoheit, Verklärtheit, ohne mütterlichen Stolz, wie in des Leideners frühen Stichen, wo die auf sich angewiesene, eng aneinander gefügte Gemeinschaft Anteilnahme an schwerem, menschlichem Schicksal erregt. Waren wir die Eigenart kenntlich zu machen bemüht, so fühlen wir die Verpflichtung, die Quellen aufzusuchen, um abzugrenzen, was denn nun wirklich persönlich an dieser Art sei. Im Besonderen wüßten wir gern, in welchem Sinne der Vater seine Kunst ausgeübt habe, der, wie van Mander versichert, der erste Lehrer des Sohnes und ein „uytnemender" Maler gewesen sei. Dieser Wunsch bleibt völlig unbefriedigt. Des Biographen Angabe erscheint um so weniger verbindlich, wie er irrtümlich aussagt, Huygh Jacobsz, der Vater, sei früh, als Lucas noch im Knabenalter stand gestorben. Fest steht, daß er den Sohn überlebt hat. Gut unterrichtet war van Mander nicht, was den Vater betrifft, und so wird auch das rühmende Epitheton, das er dem alten Meister zuerkennt, kaum auf Anschauung oder zuverlässiger Nachrede beruhen. Da der Vater schon 1480 wie urkundlich ermittelt ist, in Leiden ansässig war, muß er spätestens 1455 zur Welt gekommen sein, also früher als Engelbrechtsen. Von der Frage nach dem Vater als dem ersten Lehrer, die unbeantwortet bleibt, gehen wir über zu der mehr allgemeinen Frage, was etwa Lucas der heimatlichen Überlieferung verdanke. Nun wissen und sehen wir so gut wie nichts von Leidener Produktion aus der kritischen Periode, abgesehen davon, daß Cornelis Engelbrechtsen, der nach van Manders Bericht der zweite Lehrer gewesen sei, als eine Persönlichkeit in deutlichen Umrissen uns vor Augen tritt. Über das Verhältnis, in dem Lucas zu Engelbrechtsen stand, wird erst zu sprechen sein, wenn wir die Wegstelle erreichen, wo ein Anschluß des jungen an den älteren Meister bemerkbar wird. In den Erstlingen, die wir kennengelernt haben, sind uns Beziehungen zu dem in Leiden herrschenden Maler nicht aufgefallen. Wir müssen Verschollenes uns vorzustellen suchen, um etwas von dem nährenden Boden zu erspüren, in dem Lucas wurzelt. Der Eindruck herrscht vor, daß der frühreife Knabe die ersten Schritte selbstständig getan habe, daß Kraft und Schwäche aus „Eigensinnigkeit" — das Wort im Ursinn, aber auch in alltäglicher Bedeutung — zu erklären seien. Schon der 20

Umstand, daß er so früh und so entschieden zum Ausdrucksmittel des Grabstichels griff, zu einem Mittel, das, soweit wir sehen, keiner seiner holländischen Zeitgenossen beherrschte, bestätigt die Vorstellung, daß er, auf sich selbst angewiesen, begonnen habe. Die von R . Kahn und Julius Held unternommenen Versuche, in Kupferstichen des 15. Jahrhunderts Zusammenhänge mit des Leideners Jugendkunst aufzufinden, haben keineswegs zu einleuchtenden Ergebnissen geführt. R . Kahn zieht den sog. Frans von Bocholt und den Meister von Zwolle in Betracht, Held Schongauer und Israel von Meckenem. Das spitzzackige vegetabilische Ornament in wenigen frühen Stichen des Leideners schließt sich eng den Ornamentstichen vom Ende des 15. Jahrhunderts wie etwa denen des Meisters W mit dem Schlüssel an. Wenn ich des Leideners Vortrag „malerisch" nenne und daran erinnere, daß sein Vater ein Maler war, Schongauer dagegen, der den graphischen Stil des Kupferstichs am reinsten ausgebildet hat, wie Dürer, von Goldschmieden abstammte, so könnte daraus die Theorie hergeleitet werden, die von Goldschmieden im 15.Jahrhundert geübte Stecherkunst sei allgemein und entschieden und von Haus aus graphisch im engeren Sinn. Diese Theorie wäre aber durch das Studium der ältesten deutschen und niederländischen Kupferstiche zu widerlegen. Es zeigt sich, daß die Goldschmiede, gravierend, mit ungemein dichten, zumeist geraden Schraffen eine tonige, flächige Wirkung anstrebten. Übrigens sind auch die Zeichnungen der niederländischen Meister des 15. Jahrhunderts „malerisch", in dem Sinne, in dem dieser Begriff für jene Zeitstufe gebraucht werden darf. Der graphische Stil im engeren Sinne des Begriffes entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Oberdeutschland. Es wäre vorstellbar, wenn auch nicht nachzuweisen, daß der jugendliche Lucas seinen „malerischen" Vortrag in irgendwelcher Beziehung zu dem älteren niederländischen Kupferstich entwickelt habe. Einen bestimmten Kupferstecher des 15. Jahrhunderts als einen Lehrer oder Anreger unsers Meisters nachzuweisen, scheint unmöglich zu sein. Was das Ikonographische betrifft, ist mehr Widerspruch gegen als Anknüpfung an die Überlieferung zu spüren. Denken wir vor dem Stiche mit der hl. Magdalena, der sicherlich zu den frühesten gehört, daran, wie im 15. und noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Heiligkeit durch statuarische Hoheit, durch Anmut und Wohlgestalt, etwa auch durch reiches Kostüm sichtbar gemacht wurde, so staunen wir, über einen wie geringen ikonographischen Erbanteil die Phantasie des jugendlichen Leideners verfügte. Kaum noch ein Abglanz von dem Adel der Glaubensstreiter, von der gemessenen Würde der heiligen Greise, von der lieblichen Unschuld der heiligen Frauen, kaum noch von dem Kultbilde, dem aufblickende Verehrung zugewendet war. Das religiöse Empfinden geht auf in der mitleidigen Betrachtung des unseligen, mit der Erbsünde belasteten Menschenwesens. Auch für die Form gab es eine aus dem Mittelalter stammende Konvention, die freilich im 15. Jahrhundert aufgelockert, national differenzierten und individuellen Regungen Freiheit gewährte. Sie wurde entthront und abgelöst im 16. Jahrhundert durch die aus dem Süden andringende Heilslehre. Lucas — um 1508 — 21

scheint ebenso nicht mehr wie noch nicht unter dem Stilzwange der Periode zu stehen. Seine Sprache ist zu Beginn in geringem Grade die Sprache der Zeit, eher die Sprache des Ortes und des Blutes. Die Wohlgestalt der Gotik ist überwunden, die Wohlgestalt der Renaissance wird noch nicht geahnt. Zeitgemäß sind freilich Originalitätssucht und Gefühlszartheit. Die frühesten Regungen sagen über die individuelle Begabung aus, verraten aber auch, was Lucas der heimatlichen Erde verdankt. Der Sinn für Raum, Licht und Luft, für landschaftliche Natur, die geringe Neigung für Repräsentation, die Schwerblütigkeit und Innerlichkeit: etwas von bodenständiger Art gibt sich darin kund. Der bewegte Bühnenboden, der Episoden Platz gewährt, wobei das Früher und Später, durch Hüben und Drüben ersetzt wird, ist der holländischen Erzählung willkommen. Der Ausdruck „Raumepik" könnte eingeführt werden. Die unendlich oft dargestellte Anbetung der Könige wird im Süden der Niederlande vornehmlich aufgefaßt als eine höfische Zeremonie, ein Versammelt-Sein, während die Holländer an die Reise der Könige denken, an das Herbeieilen und Anlangen. Und Abrahams Opfer: Der Holländer begleitet den Patriarchen auf seinem schweren Gang. Oft weist die gegenwärtige Situation auf ein Vorher oder Nachher. Das Ärgste droht oder zittert nach. Der Meister wählt eine Station im Verlaufe des Geschehnisses. Die selbständige Deutung der Bibel und der Legenden drängte zum Bilddrucke, zum Buchholzschnitte, der in Holland früh erblühte, und wurde für Lucas Hinlenkung zum Kupferstiche. Seine Kunst ist mehr illustrativ als repräsentativ oder monumental, mehr episch als dramatisch. Der noch immer lesenswerte Aufsatz, den Alois Riegl 1902 im österreichischen Jahrbuche dem holländischen Gruppenportrait gewidmet hat, läuft aus in den Satz: „der holländischen Auffassung ist es eigen, Handlung in Gefühl und Aufmerksamkeit umzusetzen". Von Lucas ist dort nicht die Rede, weil j a keine Gruppenportraits von ihm bekannt sind, nichts desto weniger kann Riegls These erfolgreich vor den frühen Stichen gerade dieses Holländers kontrolliert werden, dessen Geschöpfe nicht so sehr sich selbst genug und mit sich beschäftigt sind, wie vielmehr aufmerkend Anteil nehmend, sich mimisch äußernd, in seelischem Kontakte mit anderen Geschöpfen.

DIE STICHE — 1509/1510

Drei Kupferstiche besitzen wir mit dem Datum 1509, abgesehen von der aus 9 Blättern bestehenden „runden Passion", deren auf eigener Platte gestochene Rahmung eben diese Jahreszahl aufweist. Es sind dies: Die Frau mit der Hindin (B. 153) Die Versuchung des hl. Antonius (B. 117) Die Bekehrung Pauli (B. 107). Die Frau mit der Hindin, eine weit ausschreitende, wenig bekleidete Gestalt; sie füttert ein seltsames Tier. Ihr Leib, mit bewegter, einkerbender, zerlegender Kontur, ist erfüllt von einer Lebenskraft, die uns überrascht nach all der Schwerfälligkeit, der dumpfen Müdigkeit, die wir gefühlt haben. Des Meisters Geschöpfe sind gleichsam auferstanden und bewegen sich mit gelösten Gliedern. Lucas muß der „Schönheit" des nackten Frauenkörpers getraut haben, wenn er daraus vollgültigen Bildgehalt zu gewinnen hoffte. Der nackte Körper in Bewegung als ästhetischer Wert: ein Renaissancegedanke, der aufdämmert. Das Motiv der Fütterung sagt wenig. Kein Zweifel, wie der Wunsch entstand, die Herrschaft über den bewegten Leib zu erringen. Die Überlegenheit Dürers begann den Leidener zu reizen und zu locken. Vergleichen wir die „Frau mit der Hindin" mit Dürers „Fortuna" (B. 78), so wird offenbar, wie sich der des Anatomischen unkundige Holländer mit halbem Erfolg an das Vorbild des Deutschen gehalten hat. Neben Dürers statuarischer Gestalt erscheint die seine labil, durch Bewegung Raum suggerierend, so daß Besonderes und Positives aus individueller Begabung bei Anpassung an das fremde Muster bewahrt bleiben. Dürers Holzschnitte waren dem Holländer nicht unbekannt geblieben. Das Bauornament der dünnen, gebogenen, sich kreuzenden Stäbe, das Lucas gelegentlich, so schon 1509 in der Runden Passion, verwendet, stammt aus Dürers „Marienleben" (B. 82). Die Versuchung des hl. Antonius (B. 117) beschwört die Erinnerung an Hiero- 12 nymus Bosch, der 1509 noch am Leben und nicht allzu ferne von Leiden tätig war. Lucas beschränkt sich darauf, den würdigen Einsiedler in Gesellschaft einer reich gekleideten Frau zu zeigen, unter Verzicht auf den Spuk, das Teufelswesen, mit dem Bosch den Heiligen bedrängt und peinigt. Phlegma und Decenz verraten, daß er in der Hölle nicht zu Hause war, wie auch nicht im Himmel. Sein Wirklichkeitssinn, nun verbunden mit dem Trachten nach Einfachheit und Übersichtlichkeit, führt in diesem Falle zu einer dem Thema wenig gemäßen zeremoniellen Nüchternheit. Nichts als einen Besuch, statt einer Heimsuchung oder Versuchung. 23

Mit klarem Umriß, in Seitenansicht, hebt sich die mehr damenhafte, als teuflisch verführerische Frau vom Grund ab. Der unter der modischen Kleidung wirkende Leib mit den starken Wölbungen der Brüste und des Bauches erinnert an das Schönheitsideal Dürers, der zu dieser Zeit für Lucas der Vermittler der ersehnten und nebelhaft fernen Renaissance war, wie übrigens etwa zur selben Zeit auch für J a n Gossart. Das Italienische war den Niederländern in Dürers Übersetzung leichter lesbar als im Originale. Der ausdruckslose Kopf des hl. Antonius besteht im Wesentlichen aus Stirn und Bart. Die stecherische Arbeit hat an Sauberkeit, Besonnenheit und Geschmeidigkeit gewonnen, dabei an Tonreichtum eingebüßt. Indem Lucas Profil und Silhouette betont, hier, wie auch in der „Frau mit der Hindin", wendet er sich vom Malerischen zum Graphischen. Ganz oder teilweise heben sich die Figuren reliefartig vom weißen Papiergrund ab. Das Örtliche wird nun nicht mehr ausführlich dargestellt, vielmehr ökonomisch angedeutet und untergeordnet. 13 Die Bekehrung Pauli (B. 107), als der Zug eines Heeres mit reichem Personale, bot eine neue und schwere Aufgabe, die den Gestaltungswillen des Meisters antrieb. Breit ausgemalte Nachwirkung des dramatischen Vorfalls, der in der Ferne beiläufig mit schwachem Effekte dargestellt ist. Paulus, erschöpft und geblendet, wird von den Genossen an der Spitze des Heerbannes geführt, der, aus der Tiefe um eine Felsmasse biegend, nach rechts zieht. Die Bemühung richtet sich vorwiegend auf die trubelige Mannigfaltigkeit riesiger Bewegung und ist angeregt durch Engelbrechtsen, der um 1509 stärker als früher und als später auf Lucas eingewirkt hat, was die „Runde Passion" schlagend bestätigt. Engelbrechtsen war, nach van Manders Aussage, der zweite Lehrer des jungen Lucas. Der Biograph sagt dies minder bestimmt in der vita des Lehrers als in der des Schülers. Ob wir nun dieser Angabe Glauben schenken und annehmen, daß Lucas um 1509, also in normalem Lehrlingsalter, in Engelbrechtsens Werkstätte tätig gewesen sei, oder andersartiges, mehr lockeres Verhältnis für wahrscheinlich halten, jedenfalls liegt die episodische Annäherung des jungen an den älteren Meister für die Stilkritiker zu Tage. Mit der Vorstellung von Ateliergemeinschaft verträgt sich freilich schlecht der Umstand, daß Lucas zur selben Zeit Kupferstiche ausgab mit seiner Signatur, die doch so etwas wie ein Meisterzeichen, wie eine Handelsmarke war. Lucas hatte in den Anfängen das Thema der Passion gemieden, wie denn die Bibel ihm mehr Historie als Erbauung bot. Engelbrechtsens „Werk" belehrt uns, daß gerade dieses Thema der Gemeinde in Leiden am Herzen lag und für Altare und Andachtstafeln bevorzugt wurde. In der „Runden Passion" (B. 57/65) wagt sich Lucas an die hohe, mit ikonographischer Tradition belastete Aufgabe, wobei er sich den Vorstellungen näherte, an die seine Landsleute gewohnt waren. Es galt hier, gegebene Motive mit geistiger Durchdringung und seelischer Anteilnahme zu beleben, zu erneuern. Dies war nicht seine Sache. Vorzugsweise ist es ein selten oder nie verbildlichter Vorgang, der seine Phantasie anregte, seine Begier reizte, Persönliches zu leisten. Ihm entsteht die eigene Bildform jeweils aus dem eigenen Bildgedanken. 24

Die „Runde Passion" hängt der Form, den Dimensionen und der Rahmung 15 nach mit der in Leiden eifrig gepflegten Glasmalerei zusammen. Lucas wird von van Mander in der Überschrift der vita nicht nur als „Schilder" und „plaet-snijder", sondern auch als „glaes-schrijver" betitelt. Ob er mit eigener Hand auf Glas gemalt habe, bleibt zweifelhaft. Sicherlich hat er Vorlagen für Glasmalerei geschaffen. Wenn nicht Engelbrechtsen selbst, so war sein Sohn Pieter Cornelisz, wie viele erhaltene Visierungen bezeugen, als Spezialist auf diesem Felde tätig, und er war, wieder nach van Manders Aussage, mit Lucas befreundet und regte den Genossen an, auf Glas zu malen. Mit der „Runden Passion" verfolgt der Stecher die ungewöhnliche, aber sinnvolle Absicht, den Glasmalern, nicht einem Glasmaler, Vorlagen zu bieten. Daß er gerade 1509, weder früher noch später, derartiges unternommen hat, spricht dafür, daß er damals mit Engelbrechtsens Werkstätte in Verbindung stand. Unter den Entwürfen für Rundscheiben, die von Pieter Cornelisz bekannt geworden sind, gibt es freilich keine datierte mit einer früheren Jahreszahl als 1517. Durch Engelbrechtsen war die Gemeinde daran gewöhnt worden, die Passion Christi als eine kriegerische Exekution zu erleben, im Besonderen körperliche Pein, Gewaltanwendung, großmächtige Befehlshaber, rohe Schergen zu erblicken, sowie die sich im Schmerze windenden Frauen und die Schächer an Kreuzen mit verrenkten Gliedmaßen. Was dem alten Meister Lebenswerk war, wurde für Lucas Episode. Der lernbegierige Schüler sucht es dem erfolgreichen Meister gleich zu tun an männlicher Aktivität. Immerhin bleibt seine Erzählung dem Drum und Dran zugewendet. Wo sich Gelegenheit dazu bietet, bereichert er die Gruppen durch mehr oder weniger aufmerksame Zuschauer, fügt der Brutalität und dem Leiden Neugier und Schadenfreude hinzu. Er zerlegt den Strahl des Geschehnisses und der tiefste Punkt in der gestuften Teilnahme liegt in der unwissenden Gleichgültigkeit der Kinder. In Dürers „Passion" fehlt dieser Einschlag des Zufälligen, des Genrehaften, des Spielerischen, während unter den Holländern auch der Meister von Delft dem Kinde reichlichen Platz einräumt auf der Passionsbühne. Das Kompositum ist jedesmal der Rundform glücklich eingepaßt. Sind die Bewegungen lebhafter geworden, so haben die Köpfe an Ausdruck eingebüßt. Lucas gewinnt nie etwas, ohne zu opfern, er bezahlt Erkenntnisse mit Instinktverlust. Im Trachten nach Würde gibt er dem an der Säule stehenden Heiland (B. 61) eine gefallsüchtige Pose. Kalkulierende Absichtlichkeit wird hie und da spürbar. Künstlich und übernommen wirkt der Kontrapost. Indem wir uns das Verhältnis, das zwischen Lucas und Engelbrechtsen bestand, klar zu machen suchen, überzeugt davon, daß es nie so eng war, wie in der Zeit um 1509, wünschen wir lebhaft, zu wissen, welche Werke gerade damals in der fruchtbaren Werkstätte ausgeführt wurden. Dank stilkritischer Bemühungen ist Engelbrechtsens „Werk" angewachsen, erscheint sogar erstaunlich umfangreich bei Berücksichtigung des durch die Bilderstürme in Holland vernichteten Bestandes. Die zeitliche Reihung der erhalten gebliebenen und bekannt gewordenen Bilder, ist aber noch keineswegs gelungen und wird verwirrt durch Irrtümer, die im Schrift25

wesen unkritisch weitergegeben worden sind. Man hat mit schwachen Argumenten feststellen zu können geglaubt, daß der eine der großen Leidener Altäre, nämlich der mit der Kreuzigung Christi um 1506, der andere beträchtlich später, etwa um 1526, entstanden wäre. Von diesen Daten aus wurde jedoch keinerlei Einsicht in den Weg des Meisters gewonnen. Stilkritisch betrachtet, stehen die beiden Triptychen auf ein und derselben Stufe. Anhaltspunkte für eine zuverlässige Chronologie finden wir, indem wir die, freilich spärlichen, Formen des Ornaments und des Bauwerks ins Auge fassen, da zu erwarten steht, daß ein zwischen 1490 und 1533 in Holland tätiger Meister sich allmählich, oder etwa auch stoßweise, von der spätgotischen Überlieferung gelöst und etwas vom südlichen Schmuckwerk aufgenommen habe. In der Tat ist dieser Prozeß zu verfolgen. Ein inschriftlich 1 5 1 8 datiertes Werk, das Portraitpaar im Museum zu Brüssel6, bietet sich als ein sicherer Ausgangspunkt. Selbst wenn ich diese Tafeln irrtümlich dem Meister gegeben hätte: in Leiden sind sie entstanden7. Sie zeigen mit willkommener Deutlichkeit, wie weit man dort um 1518 in der Aufnahme renaissancehafter Bauformen vorgeschritten war. Eine runde Nische, oben muschelförmig abgeschlossen, eine kanellierte Halbsäule mit antikischem Kapital. Auf dem Kapitäle sitzt eine nackte monströse Gestalt. Und dieses Motiv, ein unbekleideter Putto, oder ein tierisches Wesen, hockend auf einer Säule oder einem Pfeiler, wird viermal wieder angetroffen, nämlich in dem Berliner Gemälde, der Berufung des Apostels Matthäus, in dem Amsterdamer Bilde Christus mit Maria und Martha, dann in den Stifter-Flügeln im Besitz des Grafen Limburg-Stirum, endlich in dem Brotwunder-Altare, der in die Berliner Galerie gelangt ist (1945 verbrannt). Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß beide Leidener Hauptwerke, die in der gemalten Rahmung rein gotischen, gut verstandenen Steinschnitt, reich ausgebildetes Maßwerk aufweisen, vor 1518 entstanden sind. Beide Altäre sind Stiftungen Jacobs Martenszoon, der 1526 im Alter von 50 Jahren starb, der seit 1508 Kaplan, seit 1 5 1 2 Regent des Klosters Marienpoel war. Kontrollieren kann ich diese Angaben nicht. Da er doch wohl erst als Regent in den Altären an erster Stelle abgebildet werden konnte, mögen die Stiftungen in die Periode zwischen 1 5 1 2 und 1518 fallen, wahrscheinlich in die Zeit bald nach 1512. Eine Schöpfung der Spätzeit, die sich scharf absetzt von den Leidener Altären, ist der Brotwunder-Altar 8 , und zwar nicht allein mit seinem Bauornament, auf dessen Bedeutung als das eines Kriteriums ich Nachdruck lege, sondern auch mit der relativ freien Gruppierung und der kräftigen Bewegung der menschlichen Gestalten. Nach den Altären in Leiden, aber vor dem Brotwunder-Triptychon scheint dem Stile nach der Altar entstanden zu sein, von dem Flügel in der Sammlung Graf Limburg-Stirum erhalten sind. Abgesehen von Stilkritik hat die Familiengeschichte der Stifterinnen Indizien hergegeben zur zeitlichen Fixierung des Werkes, wie Em. Gavelle in seinem rührend und selbst komisch gelehrten Buche über 6 7 8

Max J . Friedländer, Altniederländische Malerei Bd. X , Tafel 57. E. Pelinck, Oud Holland 1949. Max J . Friedländer, Altniederländische Malerei Bd. X , Nr. 69, Tafel 39 u. 40.

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Engelbrechtsen9 begründet. Der Altar, eine Stiftung von drei Töchtern Willems van der Does, als den Witwen von drei verstorbenen Gatten. Da die Eheherrn 1494, 1518, und 1520 gestorben waren, die eine Witwe aber 1521 eine neue Ehe einging, muß die Stiftung 1520 erfolgt sein. Unbedingt zwingend ist die Argumentation nicht, da der Witwenstand der Damen nicht unzweifelhaft sichtbar wird. Eine etwas frühere Datierung— um 1516 — wäre mir lieber, da die Kenntnis der Renaissanceformen 1518 — in dem Brüsseler Portraitpaar — um einen Grad weiter vorgeschritten erscheint. Architektur und Ornament der Flügel beim Grafen Limburg-Stirum, in eigentümlicher Mischung gotischer und renaissancehafter Formen, ähnlich wie in dem Amsterdamer Bilde mit Christus bei Maria und Martha, sowie in der Berliner Tafel der Berufung des Apostels Matthäus, die danach auch zwischen 1516 und 1520 anzusetzen möglich wird. Auf eine offenkundige Beziehung zwischen Lucas und Engelbrechtsen hat R . Kahn aufmerksam gemacht. In seinem Stiche mit der Verspottung Christi (B. 60), also 1509, habe Lucas eine Figurengruppe entlehnt aus des älteren Meisters Kreuzigungsaltar, aus der Tafel mit der Entkleidung des Heilands. Zumal da das Kompositionsmotiv in dem Stiche gegenseitig verwendet erscheint, wird zunächst angenommen, daß Engelbrechtsen der Gebende gewesen sei, und weiter gefolgert, der Altar müsse vor 1509 entstanden sein. Diese einfache Deutung des Zusammenhangs, ist aber nicht die allein mögliche. Wenn wir uns ausmalen, daß Lucas 1509 als er die „Runde Passion" ausführte, in Engelbrechtsens Atelier heimisch war, kann er eine Zeichnung benutzt haben, die erst einige Jahre später in dem Altarwerke verwendet wurde. Selbst eine Zeichnung von seiner Hand könnte in der Werkstätte bewahrt und verwendet worden sein. Ein vergleichsweise früh, jedenfalls vor den Leidener Altären entstandenes Werk Engelbrechtsens, glauben wir zu besitzen in dem Triptychon der Wiener Galerie, wo die Taufe des syrischen Hauptmannes Naaman dargestellt ist. Hier beobachten wir eine altertümliche Mühe, die der Meister um 1 5 1 2 völlig überwunden hat. Eben den strengen Stil zeigen zwei Zeichnungen, tondi, in der Albertina (Nr. 58, 59a), die von Benesch in seinem Katalog der Albertina-Zeichnungen ganz richtig beurteilt worden sind. Sehr hoher Horizont in dem Flügelaltare, Landschaft überfüllt mit festungsartigen Bauten, die eingehend, hell und scharf zeichnerisch interpretiert sind, phantastisch geformte, überhangende Felsen. Raumtiefe entschieden angestrebt durch Stufung des Figurenmaßstabs. Vorne rechts im Mittelfeld, eine übermäßig große und hohe Gestalt, im Mittelgrunde links beträchtlich kleinere Figuren, im Hintergrund rechts noch kleinere. Also Stufung im Zickzack von vorn nach hinten. Schwere, teils steile, teils knollige Köpfe, von grober Natur, mit mißmutigem Ausdruck. Die Pferde steif, mit steil aufgerichteten Hälsen — nicht so beweglich, elastisch, wie die Rosse in dem Leidener Kreuzigungsaltar und anderen Tafeln aus der reifen Zeit des Meisters. Scharfe Naturbeobachtung in der leicht gekräuselten Wasserfläche. Im ganzen eine handfeste und unbedenkliche Drastik. 9

Em. Gavelle, l'école peinture de Leyde . . . Cornelis Engelbrechtsz. . . . Lille 1929.

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Kürzlich ist ein Triptychon mit der Georgslegende aufgetaucht und in deutschen Privatbesitz übergegangen, das dem Wiener Altare stilistisch verwandt, etwa in derselben Zeit entstanden sein dürfte. Des Meisters Bahn ist danach einigermaßen zu übersehen. Die beiden Leidener Altäre in der Mitte des Weges — etwa 1 5 1 3 —, der Brotwunder-Altar dem Ende nahe, das Wiener Triptychon, wenn kein eigentliches Jugendwerk, so doch im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts entstanden. Engelbrechtsen war 1500 bereits 32 Jahre alt. Aus trüber und schwermütiger Gefühlsweise gelangt der Meister allmählich zu einer freieren und leichteren Auffassung. Sein Frauentyp wird gefalliger und nimmt einen offeneren Ausdruck an, die Bewegung wird fließender. Übrigens ist diese Wegrichtung als zeitgemäß zu erwarten. Die jüngere Generation, in seiner Werkstätte mittätig, mag dazu beigetragen haben, freierem Geiste Eingang zu verschaffen. Auch von Lucas dürften nach 1509 Anregungen ausgegangen sein. Lucas schuf im Jahre 1510 vier datierte Stiche, und zwar: Adam und Eva im Elende (B. 1 1 ) Die nackte Frau mit dem Hund (B. 154) Das Milchmädchen (B. 158) Den großen Ecce Homo (B. 71) Von den undatierten mögen in eben dem J a h r entstanden sein: Der verlorene Sohn (B. 78) Die Taufe Christi (B. 40) Der Fahnenträger (B. 140) In dem Blatte mit Adam und Eva sind Örtlichkeit und Umwelt nur angedeutet. Der Mann und die Frau heben sich vom Knie aufwärts mit markantem, stark bewegtem Umrisse vom Papiergrund ab. Nicht der entscheidende Vorgang der Austreibung, vielmehr die Folge davon, ein Mittleres zwischen Aktion und Zustand. Die unstet und flüchtig mit bloßen Füßen auf steinigem Boden wandernde unheilige Familie. Das flatternde Haar, die nackten, vom Sturme gebogenen Zweige des Weidenbaumes, die wüste Kleidung Adams: alles vereinigt sich zum Bilde der Ausgestoßenheit und Unbehaustheit. An das Glück des verlorenen Paradieses wird erinnert, indem als Kontrast ein öder Erdenbaum und rauhes Wetter sinnfällig gemacht sind. Der erste Mensch, animalisch, mit plumpen Gliedern, einem kleinen Kopfe, dessen Bartwuchs kaum mehr als die Nase unbedeckt läßt, reckt den Arm mit täppischer Zärtlichkeit nach dem Kinde, das von Eva getragen wird. Für Dürer ist Adam der aus Gottes „erster Hand" geschaffene Mann, das Urbild, für Lucas, auf dieser Stufe seiner Bahn, der Urmensch, der Barbar, der in ein hartes Leben gejagt wird, mit der Erbsünde belastet. Mit keiner Leistung hat Lucas, wie ich mir vorstelle, seinen Zeitgenossen so 14 imponiert wie mit dem großen Ecce Homo. Vermutlich nach diesem Erfolge wurden seine Stücke begehrt und erbrachten beträchtliche Einnahmen. Mehr und 16

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mehr — nach 1510 — wurde er zum Eingehen auf Bedürfnisse und Wünsche der Käufer gelockt. Nun wurde von ihm etwas erwartet, und er suchte, der Erwartung zu entsprechen. Wenn wir in den folgenden Jahren ein Nachlassen der Gestaltungslust wahrnehmen, wie etwa in der Apostelfolge (B. 86—99), so erscheint um 1510 noch jeder Stich als eine Errungenschaft nach Inhalt und Form, und von Fall zu Fall schlägt die Bestrebung eine andere Richtung ein. Der holländische Raumdurst hatte sich zuerst an Tonstufung, Luftperspektive und Verjüngung der Figuren gesättigt. Nun, im Ecce Homo, entscheidet die linienperspektivische Konstruktion. Der unermüdlich Lernbegierige bemächtigt sich des mathematischen Mittels, um Raumillusion zu erzaubern, und wendet sich plötzlich, sogleich mit vollem Erfolg, der architektonisch umschlossenen Bühne zu. Überraschend bewährt sich das Vermögen, feste glaubhafte Gebäude zu errichten. Rampe, Treppe, Fassade des Stadthauses, parallel zur Bildebene, begrenzen einen geräumigen Schauplatz für die dichtgedrängte, gestikulierend das Urteil fordernde Menge. Christus, Pilatus und die Schergen klein, in der Ferne. Kinder fehlen nicht, wie wenn des Heilands Wort bestätigt werden sollte: Sie wissen j a nicht, was sie tun. Nicht wie sonst wohl, durch einige Vertreter der Volksstimmung, sondern durch die in ansehnlicher Menge gegenwärtige Gemeinde wird die Pöbelherrschaft veranschaulicht. Wie bereits in dem Blatte des Paulus-Sturzes, Figuren in großer Zahl, in kleinem Maßstab, viele hier uns den Rücken zukehrend, im klar entwickelten Raum agierend. Die Regieleistung wurde bewundert. Diese demokratische Fassung der EcceHomo-Szene blieb vorbildlich für den Braunschweiger Monogrammisten, für Pieter Aertsen und noch für — Rembrandt. Mit anderen Vorzügen wie dieses Schaustück gewinnt die gleichfalls 1510 entstandene „Milchmagd" unsere Gunst. Dieser einzigartige Stich erscheint als ein 17 bemerkenswertes Glied im historischen Zusammenhang, als eine Inkunabel der Genre-Darstellung, ohne die Würze der Kuriosität, schlichte Werktätigkeit. Kühe in Seitenansicht, deren Rücken gebreitet und wie die architektonischen Hauptlinien im Ecce Homo, rechts die Magd, links der Knecht. Die Bildwürdigkeit ausschließlich und schlechthin aus der alltäglichen Wirklichkeit zu gewinnen, war um 1510 eine Leistung, die wir, denen die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts vertraut ist, leicht unterschätzen. Triebkräfte aus der Tiefe, Erdgebundenheit und Freude an der nahen Umwelt, am greifbaren Besitz, haben vorzeitig und in diesem Kupferstiche das Schaffen des Leideners bestimmt. Nie wieder ist ihm eine von Gedanklichkeit, Komik, Moral oder Spottlust so freie Genreszene zu verwirklichen gelungen. Den Fahnenträger vergleichen wir mit Dürers Flaggenschwinger (B. 87), der offenbar des Leideners Vorbild war. Die klare Plastik der sich vom hellen Grund abhebenden Gestalt, den festen Stand im Kontraposte hat Lucas nicht erreicht. Er denkt an die Wetterumstände, die das Fahnentuch mehr als die Muskelkraft des Kriegers in Bewegung setzen. Der Himmel ist wolkig bezogen, während Dürer den weißen Papiergrund bewahrt. Immerhin trachtet 29

Lucas auf dieser Stufe danach, sich die graphische Prägnanz, die Dürer um 1500 erlangt hat, anzueignen. Das J a h r 1510 bedeutet einen Höhepunkt, den Lucas als Graphiker erreicht hat. Die Grabstichelführung hat an Klarheit und Sicherheit gewonnen. Härten, Stokkungen sind überwunden, wie auch anstößige Verkürzungen. Statt der Schräglagerung wählt Lucas nun horizontale und vertikale Züge. Den Menschen wird das Dasein erleichtert, da sie sich auf planem Boden sicherer bewegen. Innenraum wird jetzt häufiger gestaltet als in der ersten Zeit, in der Lucas den unbegrenzten landschaftlichen Raum bevorzugte. Schon das Format, das epische Breitformat, ist als Merkmal der Wandlung zu beachten, sowie die nahezu militärische Ordnung.

ZWISCHENSTÜCK

Bevor ich den Weg des Meisters weiter verfolge, bitte ich um Gehör für eine grundsätzliche Erwägung. Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein, daß ich den Terminus „Entwicklung" gemieden und das Wort „Fortschritt" nur mit Vorbehalt und Einschränkung gebraucht habe. Ich sehe ein weit verbreitetes Übel darin, daß gewisse Fachworte im kunsthistorischen Schriftwesen auch dort eingesetzt werden, wo sie, anstatt aufzuklären, Vorurteile und falsche Anschauungen einschmuggeln. Gefahren dieser Art drohen von dem Begriff „Entwicklung", der unbedacht auf Bahn und Wandlung eines jeden Meisters angewendet wird. Streng genommen, ist dieser Begriff in vielen Fällen ganz und gar nicht am Platze. Das Bild von Entfesselung, Befreiung und Entfaltung ist dem Werden, Gedeihen, Reifen und Wachsen vegetabilischer Organismen entnommen. Entwickeln, Entbinden, Herauslösen bedeutet, was versteckt, verborgen da war, ans Licht bringen. Die aufeinander folgenden Phasen des Stilwandels müßten sich verhalten wie Samen, Keim, Knospe, Blüte und Frucht, wenn der bildliche Ausdruck am Platze wäre. Nun entwickelt die Pflanze die im Keime vorgebildeten Formen freilich nicht, ohne daß Boden, Klima, Wetter, Luft und Licht eingreifen. Deshalb mag das Bild noch allenfalls zutreffen auf den Künstler, dessen eingeborene Gaben durch Umwelt, Zeitgeist und Anregung von fremder Kunst gefördert werden. J e weniger sich aber die ursprüngliche Anlage mit ihren Möglichkeiten als treibend und entscheidend durchsetzt, je mehr willentliche Züchtung statt organischen Wachstums zu beobachten ist, um so unzulässiger wird der Begriff Entwicklung. Ein wenig paradox, mit einiger Übertreibung, die des Lehrwertes wegen entschuldigt werden mag, wage ich auszusprechen: des Leideners Weg ist das Gegenteil einer Entwicklung, insofern wie Versprechungen nicht gehalten werden und wahrgenommene Keime verdorren. Wandlungen sind freilich zu beobachten, aber nicht als Folgen vorangegangenen Tuns, vielmehr eher als Abkehrungen oder Ausbiegungen. Zeitgeschmack, fremde Vorbilder locken den weiblich empfanglichen, neubegierig ausschauenden Meister von seiner in der Anlage vorgezeichneten Richtung hinweg. Kontinuierliche Bewegung nach einem Ziel und in einigermaßen gleichmäßigem Tempo ist der gesunden Entwicklung eigen. Die Bahn aber, die wir verfolgt haben und verfolgen werden, mit Hast, Wechsel der Richtung, mit Fallen-Lassen des Ergriffenen gleicht der Fahrt eines Schiffes, das sich nicht aus eigener Kraft bewegt. 31

Als treibende Mächte sind in Betracht zu ziehen: die allgemeine Stilkrisis, das hohe, für den Stecher unausweichliche Vorbild der auf fremdem Boden gewachsenen Kunst Dürers und das aus der Ferne lockende Ideal der italienischen Renaissance. Des Leideners Verhalten, seine Haltlosigkeit, mag zum Teil erklärt werden aus der unnatürlichen Frühreife, aus dem Beieinander von visueller Begabung einerseits, labilem Charakter andererseits. Lucas: in den Anfangen ein Vorbote Rembrandts, am Ende der Schwelle nahe, die zu Goltzius führt. Darf solcher Ablauf, diese Kette von Episoden, „Entwicklung" genannt werden? Der Meister besaß die Fähigkeit, eigene Mängel zu überwinden, nicht aber das Vermögen, eigene Vorzüge zu pflegen und reifen zu lassen. Das Gesetz, nach dem er angetreten, das ich ein wenig kenntlich gemacht habe, verliert mehr und mehr Geltung und Macht. Wir wohnen eher einer Verkleidung als einer Enthüllung bei. Daß der Begriff" „Entwicklung" als leitender Gedanke Vorurteile mit sich bringt, ist bei Axel Sjöblom zu beobachten 10 . Der Autor, für den der Weg von Jan van Eyck zu Manet der Weg des Heils ist, sieht Manches und übersieht Vieles, er konstatiert mit Bewunderung Fortschritt, nichts als Fortschritt. Immer ist von Gewinn, nie von Verlust die Rede, auch dort, wo er von Lucas spricht. Die Warnung, die ich hier einzuschalten für nützlich hielt, mag vor dem „Werk" eines anderen Meisters, nämlich Cranachs, der auch Lucas hieß, gute Dienste leisten. Man lese das Buch von Hedwig Michaelson 11 , die sich eifrig an die Aufgabe gemacht hat, die „stilistische Entwicklung" Cranachs darzustellen. Mit optimistischem Vorurteil in jedem Werden ein Wachsen erblickend, ein Klüger-Werden, ein Zulernen, kritisiert sie die Ruhe auf der Flucht, das beglückende Jugendwerk von 1504, das übrigens nicht eigentlich ein Jugendwerk ist, da der Meister schon 32 Jahre alt war, scheidet Cranachs mächtigste Leistung aus, die Passionstafel von 1503, die in München, und konstatiert Wertzuwachs in den fabrikmäßigen Erzeugnissen aus der Periode zwischen 1520 und 1530. Nirgends ist deutlicher zu beobachten, wie krasse Fehlurteile der Begriff „Entwicklung" zu erzeugen vermag. Aus diesem Begriffe wird ein Schema hergeleitet, und wie C. Justi einmal formuliert hat: „wenn das Schema dasteht, schließen sich die Fenster der Beobachtung". Übrigens kann jeder ästhetische Terminus dem Unvorsichtigen zum Fallstricke werden. Im Wahne, die Entwicklungslinie eines Meisters zu kennen, sagt der Stilkritiker Ja zu einem Werke, das auf dieser Bahn zu liegen scheint, Nein, wenn dem nicht so ist, und er irrt oft in beiden Fällen.

10 11

Axel Sjöblom, Die koloristische Entwicklung in der niederländischen Malerei. Berlin ig28. Hedwig Michaelson, Lucas C r a n a c h der ältere. Leipzig, Seemann 1902.

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D I E S T I C H E AUS D E R Z E I T ZWISCHEN 1512 UND 1520

Dürer schreibt am 26. August 1509 an Jacob Heller, klagend über die zeitraubende Mühseligkeit und den geringen Ertrag des Malwerkes ,,. . . das fleißig Kleibeln gehet nit von Statten . . . " — nämlich bei Ausführung der Altartafel — „Darum will ich meines Stechens auswarten. Und hätte ichs bishero gethan, so wollte ich auf den heutigen Tag 1000 fl reicher sein". Sicherlich war Lucas in ähnlicher Lage, hätte sich vielleicht sogar mit mehr Berechtigung also äußern können. Die Stadt Leiden war ärmer als Nürnberg. Aufträge für Portraitgemälde traten selten an den jungen Meister heran; Aufträge für Altäre und Andachtstafeln fielen zumeist an Engelbrechtsen. Im Bilddrucke dagegen hatte Lucas keinen Rivalen, weder in seiner Stadt, noch irgendwo in Holland. Der wirtschaftliche Ertrag aus dem Vertrieb der Kupferstiche war beträchtlich. Van Mander nennt ansehnliche Preise, die schon zu Lebzeiten des Stechers gezahlt worden seien. Zwischen 1512 und 1520 hat sich Lucas vornehmlich als Kupferstecher und Zeichner für den Holzschnitt betätigt und anscheinend nur gelegentlich Gemälde, und zumeist solche bescheidenen Formates ausgeführt. Sein sonderlinghaftes Tun weicht berufsmäßiger Wirksamkeit. Rücksichtnahme auf Bedürfnisse seiner Zeitgenossen ist in der wachsenden Verständlichkeit, Übersichtlichkeit und Gefälligkeit der Darbietungen zu spüren. Im Thematischen wird die Wendung zum gangbaren Andachtsbild offenbar. Das Genre tritt zurück, die Madonna und Heilige — in purem Dasein —, die Passion Christi beschäftigen nun den Stecher, der sich der ikonographischen Konvention fügend, an Eigenart einbüßt. Die trübe Tiefe weicht einer leeren Klarheit, die holprige Straße verwandelt sich in eine glatte Bahn. Einige um 1515 ausgegebene Stiche wirken zahm und farblos, ohne innere Anteilnahme geschaffen. Fassen wir das Formale ins Auge, so ist „Fortschritt" zu konstatieren. Des Meisters Heirat mit einem Mädchen aus dem angesehenen Geschlechte van Boschhuysen mag auf Schaffensweise und Berufsauffassung eine zähmende Wirkung ausgeübt haben. Das Datum dieser Verbindung ist leider unbekannt. Van Mander malt sich aus, daß Lucas bei gesellschaftlichem Aufstiege zu seinem Leidwesen viel verloren habe durch Gastereien und Lustbarkeiten. Aus jedem Jahre zwischen 1512 und 1520 besitzen wir datierte Stiche: undatierte werden verhältnismäßig leicht zeitlich eingeordnet. Absehend von Devotionsblättern, hebe ich solche Leistungen hervor, aus denen der persönliche Ton, wenn auch minder klangstark als aus den früheren Stichen, vernommen wird. Die Folge, in der Josephs Geschichte erzählt wird (B. 19—23, 1512) kam dem 18 Thema nach der Begabung des Meisters insofern entgegen, wie er mit Vorliebe 33

wechselreiches Geschehen, zumal erotische Abenteuer schildert. Das Ganze wirkt wie ein Roman. Die Kompositionen übersichtlich und bequem in den Bildflächen. Der Hintergrund Zimmerwand, Mauerwerk mit rechtwinklig gekreuzten Schraffen, von mittlerer Helligkeit, wobei sich die Figuren teils dunkel, teils licht herausheben. Joseph ein hübscher, harmloser Bursche. Auch die anderen Typen zumeist gefällig. Die Erzählung hat an Fluß gewonnen, an Gefühlstiefe eingebüßt. Einige Profile fallen auf durch anormale Bildung. Das Kinn stößt weit vor wie die steile Stirn. Die Liebhaberei für konvexes Profil, die sich vereinzelt schon früh bemerkbar gemacht hat, bleibt charakteristisch, sie offenbart sich deutlich in der großen Anbetung der Könige (B. 37, 1513) und in Salomons Götzendienst (B. 30, I5r4)-

Die Strichführung in der Zeit zwischen 1 5 1 2 und 1520 folgt schmiegsam der plastischen Form. Mit wachsender Leichtigkeit der Handschrift wird die geistige Luft leichter und dünner. Mit Herrschaft über den Menschenleib verringert sich die Teilnahme an der Örtlichkeit und Umwelt. Zum mindesten steigert der Meister nicht seine Beobachtungen des Landschaftlichen, und Nicht-Bereichern bedeutet Verarmung. Auch Dürer lebt, was die Landschaft betrifft, von Erinnerungen an frühe Blickerlebnisse. Oft wird in des Leideners Stichen, die nach 1 5 1 2 entstanden sind, der Tiefenraum im Mittelgrunde durch eine der Bildfläche parallele Mauer abgeschlossen. Dem Wunderkinde, das sich dem 20. Jahre näherte, drohte die Gefahr des 21 Virtuosentums. Vor dem Blatte der Anbetung der Könige (B. 37, 1513) bestaunt man zunächst die stecherische Leistung, wird dann irritiert durch das dichte Beieinander wallender Gewänder und physiognomischer Kuriositäten. Der Ausdruck andächtiger Hingebung, der Sinn, der seelische Gehalt des Vorgangs mangelt dem pomphaften Aufzuge, der überlasteten Komposition. Eine unvorbereitete Wendung zu Straffheit und Größe scheint vorübergehend einzutreten, besonders deutlich be23 merkbar in dem Blatte „Abraham und die Engel" (B. 15, undatiert). Schwere Gestalten, dicht zusammengeschlossen, füllen fast die ganze Bildfläche. Fliegen können diese erdhaften Engel schwerlich. Der Kopf Abrahams, dessen Ausdruck uns zumeist interessiert, im Profil, überschattet, beinah ausgeschaltet. Diese wuchtige Körperlichkeit wird aber sehr bald überwunden, ist schon 1 5 1 4 einer welligen 19 Beweglichkeit gewichen, wie in dem aus diesem Jahre datierten Stiche, dem „Opfer Salomos" (B. 30), offenbar wird. Die Gewänder breiten sich am Boden aus mit geschlängelten, nicht mit zackigen Rändern. Mehr und mehr greift eine eintönige Biegsamkeit ein in die Formensprache. Tendenz und Vermögen, mit nobler Haltung, körperlicher Schmiegsamkeit den Preis davonzutragen, erreichen 1518 einen Höhepunkt in der „Versuchung 20 Christi" (B. 41). Der Teufel, ein bärtiger Greis, gebückt, das eine Bein vorstellend, trägt ein weites Gewand. Der schwanzartig von seiner Schulter hängende Stoffzipfel bildet eine Kurve, die sich fortsetzend in seiner vorwärts fallenden Kapuze, zum Haupte des Heilands hinleitet, und die beiden Figuren zu einer Gruppe fügt. Der Heiland weist den Versucher mit milder Würde, mit matter Gebärde zurück, 34

er stützt sich in Kontrapoststellung auf einen Felsblock. Lucas hat sich mit dieser glatten und geschmeidigen Komposition dem Ideale der italienischen Renaissance genähert. Nicht allein von Dürer, auch von Marcanton hat Lucas um diese Zeit Bewegungsmotive übernommen, wie in dem Stiche der sich tötenden Lucretia. Beets hat darauf aufmerksam gemacht 12 . Die Lucretia mag um 1515 entstanden sein. Bildmäßige Geschlossenheit wird dadurch gesichert, daß Mauerwerk hinter den Figuren als dichtes Schraffengitter von mittlerer Helligkeit den Grund bildet, wenn nicht verdunkelter Himmel. Auf das Leiden Christi blickt der Meister mit Dürers Augen, was sich besonders deutlich offenbart in dem „Schmerzensmanne" (B. 76—1517). Der Kalvarienberg (B. 74—1517), ein Kompositum ohne geistiges, auch ohne formales Zentrum, zeigt, wie wenig Lucas im Stande war, aus Eigenem der Tragik der Passion gerecht zu werden. Themen, wie „Esther vor Ahasver" (B. 31, 1518), wie der „Magdalenentanz" (B. 122, 1519) kamen seiner Lust an unterhaltender Novelle entgegen. Ahasver 24 beugt sich vom Thronsitz und begrüßt die kniende Esther, indem er sie mit dem Szepter berührt und ihre Hand ergreift. Die Mächtigkeit seiner Gestalt läßt die Frauen, Esther und ihre Mägde, um so zierlicher erscheinen. Mit puppenhaften Köpfen, in blödem Staunen und rührender Bangigkeit nahen sie sich dem gnädigen Herrn. Höfische Üppigkeit kommt in der unmäßig weiten Schleppe des Frauenkleides zum Ausdruck, wie denn der Meister im Spiele der Falten ein Mittel findet, die Erzählung zu poetisieren. In den Kadenzen der rieselnden Stoffe lebt sich sein Dekorationssinn aus. Durchlaufend über Schleppe, Rücken und Kopf der knienden Frau steigt eine Linie auf zum Haupte des Herrn, der stattlich dem Throne zunächst steht, und sie kehrt abwärts am vorgeneigten Rücken des Fürsten entlang, so daß die drei Hauptgestalten in ein steiles Dreieck gebannt sind, dessen einer Schenkel in der Diagonale der Bildfläche liegt. Zugeordnet die isokephale Gruppe der Höflinge, die einander auf die Bedeutung des Hergangs hinweisen. Der „Magdalenentanz" (B. 122) von 1519 erfreut sich besonderer Beliebtheit. 22 Wenn nicht der Nimbus auffällig das Haupt der Frau umstrahlte, würde niemand auf eine Legendenszene raten, vielmehr so etwas wie einen „Liebesgarten" erblicken. Der heilige Gegenstand ist nichts als Vorwand oder Anlaß. Jagdvergnügung im Grund und vorne zärtlich gesellte Paare. Festlichkeit mit Musik und Tanz in freier Luft, Genuß der Sommerzeit, verbunden mit gesitteter Erotik. Die Köpfe fügen sich durchlaufenden Parallelen, die schräg zu den Bildgrenzen eine kunsthafte Ordnung schaffen. Das ganze durchwaltet eine Melodie, die vornehmlich aus den rollenden und wallenden Gewändern ertönt. Die Figuren sicher in den Tiefenraum zu fügen, ist nicht durchaus gelungen, ihre Verjüngung, die Stufung des Maßstabes, keineswegs erfolgreich durchgeführt. Der K o p f des Pfeifers, der in beträchtlicher Ferne neben dem Baume steht, erscheint 12

N. Beets, O u d H o l l a n d L I (1931) S. 151 ff.

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ebenso groß wie die Köpfe der vorne sitzenden Männer. Die Tendenz zielt auf Mannigfaltigkeit der Physiognomien. Neben würdigen Herren einige Gesellen von karikaturhafter Gesichtsbildung. Die Weiblichkeit, die anmutig und liebenswert zu bilden, sicherlich in der Absicht lag, hat eine spröde Verdrießlichkeit nicht überwunden. Die Augen, auch die einiger Männer, erscheinen wie verquollen und schmalschlitzig. Die ungewöhnlich großen Dimensionen dieser Platte und mehrerer anderer, der Figurenreichtum, mögen nicht wenig dazu beigetragen haben, das Ansehen des Meisters zu steigern. Nicht allein, um die Ausdauer der stecherischen Leistung bravourös ans Licht zu stellen, weitete Lucas das Format: seine aussäende, streuende Komposition bedurfte des weiten Rahmens.

D I E S T I C H E AUS D E R Z E I T Z W I S C H E N 1520 U N D 1530

Aus keinem J a h r e kennen wir so viele inschriftlich datierte Kupferstiche wie aus dem J a h r e 1520; es sind zehn, freilich zumeist kleine, dabei geätzte. Beschränkung im Formate tritt ein. Lucas mag eingesehen haben, daß Dürer in dimensional bescheidenen Stichen, große Wirkung zu erzielen vermochte. Wir wissen aus Dürers Tagebuch, daß Lucas sich im Sommer 1521 in Antwerpen aufgehalten hat. Am 17. Mai 1519 war er nachweislich noch in Leiden; man meint, er sei bereits am 28. J u n i 1521 wieder dort gewesen, weil er nach einer Urkunde an diesem Tage Bürgschaft für seinen Bruder geleistet hat. So frühe Heimkehr erscheint jedoch auffällig, da ihn Dürer kurz nach dem 8. J u n i 1521 in Antwerpen zeichnet und einige Tage später noch Kupferstiche mit ihm austauscht. Er müßte in großer Eile die Heimreise angetreten haben. I m J a h r e 1522 wird ein „Lucas de Hollandere" in die Antwerpener Gildenliste eingetragen. Daß dies der Leidener sei, steht keineswegs fest. Schon 1520 mag Lucas van Leyden in dem kosmokulturlichen Antwerpen, inmitten einer reichen und mannigfaltigen Produktion Anregungen empfangen haben. Dürer überschattete ihm aber die vlämischen Zeitgenossen. In der Radierung hat er sich versucht, kurz bevor er persönlich mit Dürer zusammentraf. Dennoch kann das Experiment mit des Deutschen Vorgang erklärt werden, der j a schon seit 1515 einige Male Ätzung angewandt hatte, allerdings auf Eisen, nicht auf Kupfer, wie der Holländer. Vier relativ kleine Radierungen tragen das Datum 1520, nämlich „ K a i n den Bruder erschlagend" (B. 12), „David im Gebet" (B. 29), „Die hl. Katharina in Halbfigur" (B. 125) „Der Narr mit dem Mädchen" (B. 150). Die Ätzung bestimmt hier Strichführung und Stil in geringem Grade. Lucas dachte wohl nur an Beschleunigung und Erleichterung der Arbeit. U m 1528 hat er das Verfahren wieder aufgenommen, in der aus diesem J a h r e datierten Madonna in Halbfigur, mit der Birne, sowie in ungefähr zur selben Zeit entstandenen Radierungen, dem Verlobungsring und dem Blatte mit Christus und Maria, den Brustbildern in ornamentaler Rahmung. Diese späten Blätter sind wenig beachtet — trotz der Signatur — sogar bezweifelt worden, wie ich glaube, mit Unrecht. In unverschleierter Abhängigkeit von Dürer, steht des Leideners Kupferstich, das 1520 datierte Maximilian- 25 Portrait, der einzige Stich, zu dem wir eine sorgfältig gearbeitete Vorarbeit besitzen, die sich jetzt in der Sammlung Frits Lugt im H a a g befindet. Mit sicherem 69 Instinkte für technische Feinheiten hat der Meister Grabstichelarbeit mit Ätzung kombiniert. Das Antlitz ist gestochen, das übrige geätzt, und zwar ohne daß im 37

Ergebnissse die Diskrepanz störend auffiele. Die Harmonie beruht zum Teile darauf, daß Lucas ein wenig wie ein Radierer gestochen und wie ein Stecher radiert hat. Die Verbindung von Grabstichelarbeit und Ätzung bleibt folgenlos sowohl in seinem Schaffen, wie in der allgemeinen Entwicklung des Bilddruckes. Lucas hat sich nach 1520 nur noch selten auf Ätzung eingelassen, wie j a auch Dürer diese in die Zukunft weisende Regung bald unterdrückt hat. Der Verzicht des Deutschen, dem die Klarheit des Plastischen über alles ging, ist leichter zu verstehen als der des Holländers, dessen Sehweise so gerichtet war, daß ihm die Ätzung willkommen sein mußte. Wie wenn er seinen Instinkten nicht getraut hätte, ließ er das neue Ausdrucksmittel fahren. Statt den Weg einzuschlagen, der zu Rembrandt geführt hätte, schlug er den Weg zu Goltzius hin ein. Den Kaiser hatte der Leidener kaum jemals erblickt. Als nach dem Ableben Maximilians das Portrait auch in den Niederlanden begehrt wurde, bildete er seinen stattlichen und repräsentativen Stich nach Dürers Holzschnitt, der authentisch erschien wie eine Totenmaske. Vor 1520 gab es in den Niederlanden keine gestochenen Bildnisse. Die Anregung zu solcher Unternehmung kam dem Holländer vermutlich beim Anblicke des Portraitstiches Albrechts von Brandenburg, mit dem Dürer 1519 seine Reihe der Portraitstiche begonnen hatte. Im „Werke" des Leideners blieb der „Maximilian" ein einmaliger Fall. „Der Jüngling mit dem Totenschädel" (B. 174) ist durchaus kein Portrait, obwohl er oft in der Literatur dafür gehalten wurde, am allerwenigsten ein Selbstportrait, und das geätzte vermeintliche Selbstbildnis (B. 173) ist mit Recht aus seinem „Werk" gestrichen worden. Dürers Tagebuch entnehmen wir die Eintragung vom Juni 1521, „Mich hat zu Gast geladen Meister Lucas, der in Kupfer sticht, ist ein klein Männlein und bürtig von Leyden aus Holland, der was zu Antorff". Gleich danach: „ich hab Meister Lucas von Leyden mit dem Stift konterfet" wenige Tage später „Item hab fürs Lucasen ganzen Druck gestochen meiner Kunst für 8 fl. [gegeben]". Viel höher als 8 fl. hat Dürer in den Niederlanden den ganzen eigenen Druck nicht geschätzt, so daß wir glauben dürfen, Lucas habe im Tausche so ziemlich das ganze Kupferstichwerk des Deutschen empfangen. Die Begegnung hat Phantasie und Federn in Bewegung gesetzt. Schon van Mander fühlte sich verpflichtet, dieses Zusammentreffens mit Emphase zu gedenken, indem er erzählt, Dürern habe die Stimme versagt und der Atem gestockt, als er den berühmten Kunstgenossen erblickte. Der hart geprüfte Kunsthistoriker, dem so selten nahrhafte biographische Kost vorgesetzt wird, preßt möglichst viel heraus aus spärlichen Daten. Nicht ausbleiben kann es, daß Reisen, Ortsveränderungen, persönliche Begegnungen, Ereignisse, von denen sich Kunde zufällig erhalten hat, über Gebühr als Ursachen seelischer Wandlung und Stilveränderung gedeutet werden, indes andere, vielleicht tiefer wirkende Erlebnisse, verborgen und unberücksichtigt bleiben. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Wirkung der persönlichen Begegnung des Holländers mit dem Deutschen überwertet wurde, und daß man übersah, wie Lucas vor 1521 und eigentlich immer geistig mit Dürer verkehrt hatte. Immerhin ist Erinne38

rung an das persönliche Zusammentreffen im Bilddrucke bewahrt. Um 1 5 2 1 , in Antwerpen, fühlte sich Lucas als der Rivale des in den Niederlanden gefeierten Nürnbergers; in früherer Zeit war für ihn Dürers „Werk" eine reiche Vorratskammer geworden, der er hin und wieder etwas entnahm, halb verstandenes Muster, das ihn auf diesen oder jenen Weg wies und zuweilen auf einen Irrweg. Zu Antwerpen, namentlich in seiner 1521 datierten Passionsfolge, lebt er sich ein in die fremde Welt und trachtet danach, in Auffassung, Komposition und Ausführung Gleichartiges und Gleichwertiges zustande zu bringen. Er hält sich sogar an die Masse der Dürerschen Kupferstich-Passion. Wenngleich die Anspannung das Äußerste leistet, bleiben Unterschiede fühlbar, die bei so bequemer Vergleichung herauszuheben, lehrreich genug ist. Dürer gehört einer anderen Generation an als Lucas. Er stammt von Goldschmieden ab, Lucas war der Sohn eines Malers und, obgleich er viel gestochen hat, den Stichel sogar leichter führte als der Deutsche, war er seiner Sehweise nach mehr Maler als Dürer. In des Deutschen Rede entscheiden die begrenzenden Konsonanten, in der des Holländers die flächig füllenden Vokale. Von dem Abstand in geistiger Energie und seelischer Tiefe zu schweigen, war Dürer der Überlegene an Formenkenntnis und hatte sich in Italien unmittelbar dem Ideale der Renaissance genähert. Lucas opferte von seinem Erbgute, seinem persönlichem Vermögen in Beobachtung des Lichtes, der Tonstufung, der Materie, des Raumes, sowie von seiner individuellen Gefühlsweise, als er mit dem Deutschen in Wettbewerb trat. Blicken wir zurück, um sammelnd zu formulieren, worin Dürers Wirkung auf den Holländer bestanden habe, so sehen wir, daß Lucas sich dem Deutschen genähert hatte, bevor der Deutsche in Person ihm nahekam. Der bewegte Menschenleib als die bevorzugte Aufgabe, die dramatische Aktion, der graphische Vortrag, die Illusion des Plastischen, das Pathos der christlichen Lehre, von all dem suchte Lucas sich bald dies, bald jenes anzueignen. Wenn Dürer definiert: „Dann durch Malen mag angezeigt werden das Leiden Christi und wird gebraucht im Dienst der Kirchen. Auch behält das Gemäl die Gestalt der Menschen nach ihrem Sterben," so mag diese Zweckbestimmung seines Berufes dem Holländer zunächst fremd geklungen sein, dann aber als mahnender Aufruf. In den Jahren 1520 und 1521, als er Dürer persönlich begegnete, ehrte er des Kaisers Andenken mit dem denkmalshaften Portraitstiche, wagte er sich an Bildnisaufnahmen und stach die Passion Christi, wie wenn Dürer ihm vorgeschrieben hätte, was zu unternehmen, würdig und ehrenvoll wäre. Er unterdrückt in diesen Jahren die Neigung für erotisches Genre. Bei Vergleichung seiner Passionsfolge mit der 1512 entstandenen des Deutschen, welche Vergleichung man nicht anstellt, ohne Furcht, gegen Lucas ungerecht zu werden, enthüllen sich Lässigkeit und Schlaffheit in dem „Werke" des Leideners, der auf einem ihm ungünstigen Felde zum Wettstreit angetreten ist. Der entscheidende Gegensatz, auf der einen Seite die Gefaßtheit und seelische Hoheit des Dulders, auf der anderen die Brutalität der geschäftigen Bedränger, der von Dürer ausgeprägte dramatische Gehalt der Passion, lebt in des Leideners Folge abge39

schwächt und verwässert. Dem metallischen Glanz und der markanten Plastik, die Dürer durch scharfe Bestrahlung erzielt, setzt er eine mildere, eher diffuse Beleuchtung entgegen. Im einzelnen der Motive, in der Typik und im Faltenwurf hält es sich an das Vorbild, ohne sich bei eigentlichen Entlehnungen ertappen zu lassen. Auch die Andachtsblätter mit einzelnen Gestalten, namentlich mit Madonnen, die Lucas 1520 und 1523 herausgab, stehen offensichtlich unter dem Drucke, der von dem Deutschen ausging. Wahrscheinlich besaß Lucas unter den Stichen, die er 1521 von Dürer im Tausch empfangen hatte, auch die kürzlich, 1519 und 1520, entstandenen Madonnen. Er setzte der prallen Körperlichkeit, die jenen Stücken eigen ist, eine mehr bildflächig geschlossene, wärmere und mehr weiträumige Gestaltung entgegen, dabei glücklicher rivalisierend als mit der „Passion". Was ihm zu Vorteil und Nachteil mangelt, ist die Anlage zum Skulptor, welche Anlage in Dürers Schaffen zu den aufbauenden Kräften gehört. 27 Die im Freien mit zwei Engeln sitzende Gottesmutter (B. 84, 1523) mag als eine Leistung angesehen werden, in der das Eigene mit dem Fremden am ehesten in glückliches Gleichgewicht gebracht ist. Ausgewogene Komposition, mütterliche Sorge, einladende, sommerliche Stimmung, feste Verbindung von Landschaft und Figuren. Maria auf niedrigem Sitze, mit hochgezogenen Knien, von vorne gesehen, beugt den schweren Kopf dem Kinde zu. Die stoffreiche Gewandung mit geschwungenen Falten ist von einer kurvigen Kontur umschlossen. Im Rücken der Madonna starke, aufragende Baumstämme, über ihr schirmendes Laub und im Hintergrunde lichte Halde. Dürers 1519 und 1520 entstandene Madonnen sind ausgezeichnet durch überirdisches Leuchten aus einer in der Bildfläche liegenden Lichtquelle, dem Strahlennimbus, der das Haupt der Mutter umgibt. Das normale Tageslicht, in dem des Leideners Madonna lebt, gibt ihrer Erscheinung anheimelnde Menschlichkeit und hält sie am Erdboden fest, von dem sich seine Geschöpfe j a nie ohne Gefahr erheben. Seiner Gottesmutter mangelt das Bewußtsein ihrer Sendung, das Dürers Madonnen eine heitere Hoheit verleiht. 26 Im Jahre 1520 entstand das drollige Blatt, das sich unter dem Titel „der Eulenspiegel" (B. 159) hoher Wertschätzung erfreut. Wieder erwies sich ein unverbrauchtes Thema dem Meister gnädig. Der Erfindung ist ein Humor eigen, der durch Unverständlichkeit eher gesteigert als gemindert wird, wie denn Rätselhaftigkeit mehr als einmal den Reiz seiner Invention ausmacht. Ein Dudelsackpfeifer auf dem Marsche mit dem zigeunerhaften Weib und sieben Kindern, von denen eines auf den Schultern der Mutter sitzt, zwei aus seiner Kiepe herausschauen, drei von einem Eselchen getragen werden, während der größte Bube mit einer Eule auf der Schulter, keck voranschreitet. Die Komik beruht hauptsächlich darauf, daß der schwer belastete und überreich mit Nachkommenschaft gesegnete, sich mühsam vorwärts schiebende Musikant nicht davon abläßt, sein Instrument zu bearbeiten unter so schwierigen Umständen. Lucas traf um 1525 mit Gossart zusammen, der sein Landsmann war im weiteren Sinne, mit dem es sich leichter leben ließ als mit dem älteren Deutschen. Gossart 40

war in Italien gewesen und galt als der Herold und Prophet der Renaissance, als der Lichtbringer. Seine verstandesmäßige, seelisch kalte Kunst war faßlich. Er leitete den Holländer, dem er mit überlegener Formenkenntnis imponierte, in dieselbe Richtung wie Dürer, aber zu näheren Zielen. Mit ihm konnte Lucas Schritt halten. Hier gab es keine Tiefe, in die er nicht einzudringen vermochte. Mit der Sehweise des Plastikers versteifte sich Gossart darauf, den bewegten Menschenleib — weniger den sich bewegenden — zur Illusion des Kubischen auszubilden. Van Mander erzählt, anekdotisch ausschmückend, Lucas sei, ungefähr 33 Jahre alt — dies wäre 1526 oder 1527 — aufgebrochen, um die Maler in Zeeland, Brabant und Flandern zu besuchen. In Middelburg stieß er auf J a n Gossart, der sich ihm anschloß, mit dem er dann nach Gent, Mecheln und Antwerpen fuhr. Der Biograph spricht von dieser Reise wie von einer Vergnügungsfahrt, auf der Lucas und Gossart die Kunstgenossen allenthalben reichlich bewirtet hätten. Vermutlich ging es nicht gar so üppig zu. Der Holländer mag den reichen Westen hauptsächlich besucht haben mit der Absicht, seinen Bilddruck abzusetzen. Er teilte mit Gossart neuzeitlichen Artistenstolz, der sich in van Manders Bericht ankündigt in herrschaftlichem Auftreten und kostbarer Kleidung. Nach diesem Ausflug erkrankte Lucas und wurde bis zu seinem Ableben nie mehr recht gesund. Wenigstens sagt dies der Biograph. Der Zeitpunkt, in dem sich der Weg des Leideners mit demjenigen Gossarts kreuzte, läßt sich stilkritisch einigermaßen bestimmen. Der Kupferstich mit Virgil im Korbe (B. 136), der das Datum 1525 zeigt, offenbart das erfolgreiche Bemühen, es in Überschneidungen, Verdeckungen und Verkürzungen der Körper, an Illusion des Kubischen, mit dem Virtuosen aus Maubeuge aufzunehmen. Das Datum stimmt zu van Manders Angabe, daß Lucas ungefähr 33 Jahre alt die Reise in Gesellschaft Gossarts angetreten habe. Die Anekdote von „Virgil im Korbe", von dem schimpflichen und lächerlichen Abenteuer des Dichters, gefiel dem Meister. Der Sieg des Weibes über den verliebten Mann, hier als Schwank. Lucas hatte die Szene schon einmal, etwa 12 Jahre früher dargestellt, im Holzschnitte. Dort steif aufrecht stehende Männer und Frauen, die empor schauen, ohne daß sich das Geschehnis in ihren Mienen oder Gesten deutlich spiegelte. Im Kupferstiche saftiger Komödienton. Die Sensation symbolisiert im Knäuel der Leiber, in Gestalten, die aneinandergeschmiegt, geneigt und gebückt, sich am Anblicke des zwischen Himmel und Erde schwebenden, arg bloßgestellten Dichters weiden. Man sagt: sich vor lachen wälzen. Wenn Gossarts Körper im Räume sich kugelig wölben, so erzielt Lucas hier, von Gossart angeregt, die Illusion kontinuierlich rollender Bewegung. Als man die Kugelgestalt der Erde erkannt hatte, fühlte man zugleich, daß sie sich bewege, und — umgekehrt — als man wußte, sie bewege sich, mußte man ihr Kugelgestalt zuerkennen. Die Analyse des Kupferstichs „Virgil im Korbe" ergibt, daß gerade Linien streng vermieden sind. Bogig geschwungene Schraffen bilden die hoch gewölbte Leiblichkeit aus. Mit mehr oder weniger dichten Strichlagen, mit vielfach variierter 41

Kreuzlagerung wird Tonstufung erzielt. Die ununterbrochen sich rundenden Umrisse erzeugen den Anschein drängender Vitalität und aggressiver Neugier. Das Auge findet keinen Ruhepunkt in dem kreisenden Geschlängel, dessen Unruhe durch den Kontrast des geradlinigen, festen Bauwerks gesteigert wird. Der stattliche Herr in der Mitte des Kompositums scheint die Züge J a n Gossarts zu zeigen. Wir erleben das Abenteuer mittelbar, indem wir seine belustigende Wirkung erleben. Die Jahre um 1525 mögen die glücklichsten in des Meisters Lebenszeit gewesen sein. Ruhm, wirtschaftlicher Erfolg, Reisefreiheit kommen zusammen und verscheuchen Mißtrauen und Schwermut. In dem Stiche mit den beiden Buben, die 30 Helm und Fahne tragen (B. 165, 1527), herrscht ein Fanfarenklang, die helle Lust der gesunden, prallen, mühelos schreitenden Körper. Im Marschrhythmus äußert sich eine Lebensfreude, die im schärfsten Widerspruch steht zur dumpfen Gefühlsweise der Jugend. In den Jahren 1523 und 1524 hat Lucas mehrere Genreszenen gestochen, und zwar in anderem Geist als 13 Jahre früher „das Milchmädchen". Der objektive Beobachter hat sich in einen Komödiendichter verwandelt, der mit kuriosen Typen und peniblen Situationen Belustigung bietet. Neutralität und Sachlichkeit sind der Spottlust gewichen. Der Meister kommt dem Zeitgeschmack entgegen. Die Karrikatur diente als Würze, durch die das Niedrige im Bilde genießbar gemacht wurde. Eine schmerzhafte Operation, ein Besuch beim Zahnbrecher: der Anblick verschafft das wohlige Gefühl, nichts als Betrachter zu sein. Der Hang zu satirischer Zuspitzung blieb der Genremalerei noch lange Zeit eigen. Der Lust, die sie spendete, war nicht selten Schadenfreude beigemischt. Lucas erscheint hier als ein Vorbote J a n Steens, wie — in der „Milchmagd" — ein Vorbote Paul Potters. Des Meisters Betrachtung verläuft vom Sachlichen — über das Humoristische — der Eulenspiegel, 1520 — zu pointierender Drastik. 31 Wie um kein Feld unbebaut zu lassen, hat der Meister um 1528 einige Ornamentfüllungen gestochen, obwohl seine Phantasie, wie die der Holländer im Allgemeinen, im geometrischen Zierwerke wenig fruchtbar war. Zu Anfang fanden wir bescheidenes vegetabilisches, schilfartiges Ornament, später gelegentlich Voluten, Spiralen, jetzt plötzlich und ohne Zweifel nach fremden Vorbildern, namentlich italienischen Niellen phantastisch komponierte Schmuckfelder mit dunkelm Grund, in symmetrischer Ordnung, mit tierischen und menschlichen Motiven. Lucas nähert sich den deutschen Kleinmeistern, indem er aus eben der Quelle wie sie schöpft. Mit der Überheblichkeit des Begnadeten, der in Italien geweilt hatte, wird Gossart dem Holländer antike Statuen gerühmt, ihn auf italienische Kupferstiche hingewiesen haben, auf den hohen Kunstwert, der dem Nackten abzugewinnen wäre. 28 Wenn Lucas im Jahre 1529 das Thema des Sündenfalles wieder vornahm und in sechs Blättern (B. 1—6), von der Geburt Evas bis zum Tode Abels, mit Ausführlichkeit gestaltete, so wünschte er dabei, mit der Herrschaft über den bewegten Menschenleib zu glänzen. Die Körper sind nicht mehr massig und breit, wie in den Stichen aus der Zeit um 1525, sie haben an Stattlichkeit gewonnen. Hier, 42

wie auch in dem Stiche von 1527, dem mit Petrus und Paulus (B. 106) begegnet Lucas der Gefahr der Nüchternheit durch das Pathos des Lichtes. Dürer hatte gerade 1520 und 1521, während seines Aufenthaltes in den Niederlanden, in seinen Madonnenstichen und den beiden Blättern mit dem hl. Christoph (1521) durch gewittrige Lichtphänomene die heiligen Gestalten über die profane Alltäglichkeit erhoben. Den Christoph-Stich (B. 51) hat Lucas gekannt. Sein hl. Petrus in dem Stiche von 1527 (B. 106) mit den beiden Aposteln erinnert im Typus an den Heiligen des Deutschen. Der Faltenwurf nähert sich dem Dürers, und Lucas verdunkelt den Himmel, wetteifert in Lichtmagie mit Dürer. Die bereits in der ersten Jugend bevorzugte Komposition wird jetzt systematisch und gewohnheitsmäßig verwendet: vorn, unten eine dunkle Erdwelle, hinten in mittlerer Höhe, lichtes Gelände mit Hügeln und Vegetation, darüber wolkiger Himmel, und die Gestalten heben sich hier hell, dort dunkel vom Grunde. In den letzten Lebensjahren war Lucas krank, wie van Mander berichtet, ließ aber nicht davon ab, über Dürer und Gossart hinaus dem Ideale der italienischen Renaissance zuzustreben. Er bildete in relativ großem Maßstabe nackte Figuren, biblische und mythologische und sinnbildliche, nackte selbst dann, wenn der Vorwurf Nacktheit gar nicht erforderte. Einst hatte Marcanton ihn kopiert, nun hat sich das Verhältnis umgekehrt. Bewegungsmotive aus des Italieners Stichen hat er schon früh übernommen, in der stecherischen Arbeitsweise aber und in der Formensprache schließt er sich in der Spätzeit enger an Marcanton an als irgend ein deutscher oder niederländischer Zeitgenosse13. Im Ergebnis ist die Widernatürlichkeit der Bemühung zu spüren. Des Meisters Ende entbehrt nicht der Tragik. Mit seiner „ G r ö ß e " sind Leere und Kahlheit verbunden. Gewohnheiten der Sehweise widerstreiten den neuen Absichten. Die monumentalen Verhältnisse vertragen sich schlecht mit des Meisters Grabstichelführung, die jetzt im offenen Netze schematischer Schraffen ihre Feinheit und damit ihre höchste Tugend fahren läßt. Lucas gesellt sich zu den Bildhauern, begibt sich damit auf ein Feld, das zu bestellen, ihm alle Fähigkeit abgeht. Der Stich mit Mars und Venus mag als lehrreiches Beispiel beschrieben werden 29 (B. 137, 1530). Rechts sitzend auf niedriger Steinbank der Kriegsgott, ein Bramarbas mit mächtigem Schnurrbart, unmotiviert den Kopf drohend dem Beschauer zuwendend, wie ein Haremswächter ohne seelische Beziehung zu der Göttin, die links auf einer Steinbank gemächlich, gefallsüchtig, wie ein gedungenes Modell, posiert. Amor wendet sich ihr lebhaft zu. Mars hat mit weit ausladender Geste sein übermächtiges Schwert genau in die Mitte der Bildfläche lotrecht aufgepflanzt. Sowohl er, wie Venus, strecken das eine Bein steil von sich ab, während sie das andere emporziehen. Den Gestalten ist durch äußerliche Mittel, exzentrische Haltung und flatternde Bänder heroische Bedeutsamkeit verliehen. Wenigstens geht die Tendenz aufdringlich darauf hin. Die natürliche Anmut, die Eurhythmie, durch die ein Raphael solche Aktkompositionen veredelte, ja eigentlich legitimierte, ver13

Vergleiche die genauen Hinweise von Albert Oberheide in der Dissertation „ D e r Einfluß Marcantonio Raimondis". H a m b u r g 1933.

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sagt in dem Grade, daß die Grenze gestreift wird, wo das Erhabene ins Lächerliche umschlägt. Gebärden, die der bekleideten Figur allenfalls anstehen würden, wirken nach Entblößung vulgär und flegelhaft. Die Bemühung, den massigen Leibern, der prahlerischen Muskelfülle noble Haltung und Idealität zu verleihen, wirkt in den Stichen von 1530 als verstimmende Absichtlichkeit, so in „Adam und E v a " (B. 10), den „Tugenden" (B. 127—133). Im Angesichte der grellen Dreistigkeit, mit der in dem Stiche „Loth und seine Töchter" (B. 16) bei kahlem Tageslichte die bedenkliche Gemeinschaft geschildert ist, fällt uns ein, wie dezent Lucas in seiner Jugend das sündige Wesen verschleiert hat, nämlich in dem Gemälde, das sich im Louvre befindet, wo blitzartige Beleuchtung etwas von dem heimlichen Treiben enthüllt. In späteren Jahren behilft sich der Meister nicht selten mit dem Wirkungsmittel der aufflatternden Gewandstücke, einem Mittel, das die Antwerpener Manieristen bevorzugten. Die willkürliche, unmotivierte Bewegung klingt wie eine Phrase. Der Gewandstoff, zuerst den Leib verdeckend, dann ihn hindurchwirken lassend, endlich wie eine Flagge am Fahnenstocke des Körpers. Der Kupferstecher Lucas ist in den Niederlanden ein Mehrer des Reiches. Er hat hier zur Ausbildung dieses Ausdrucksmittels Beträchtliches beigesteuert. Zu Beginn — um 1508 — experimentiert er selbständiger und unabhängiger als irgendein Zeitgenosse und nähert sich Wirkungen, die im 17. Jahrhundert mit anderen Mitteln, nämlich mit der „kalten Nadel", erreicht werden. Vor einem frühen Abdrucke etwa der „Großen Hagar" staunt man über den Tonreichtum, über die gemäldehafte Geschlossenheit, die dem Schwarz-Weiß abgewonnen ist. Durch unregelmäßige, bald dichte, bald lockere, bald rauhe, bald zarte, gefühlsmäßige, mehr ritzende als gravierende Strichführung erzielt der Meister saftige Fülle und weiche Bettung. Bald aber wandelt sich der Vortrag zu einer mehr methodischen Arbeitsweise, die dem Grabstichel gemäß, minder malerisch und weniger persönlich ist. Der Blick auf Dürers Meisterschaft hat dazu beigetragen, diese Wendung herbeizuführen. Unstatthaft wäre es, das Urteil über die Grabstichelarbeit zu trennen von der Betrachtung des Weges, den Auffassung, Gefühlsweise und Formensprache einschlugen. Mehr und mehr mit gesteigertem Streben nach einem Schönheitsideale nimmt die Teilnahme an Vegetation, Raumtiefe und Umwelt ab, wird die Strichführung planmäßig bedacht. Die neuen Visionen stecherisch zu verwirklichen, bedurfte es der geschmeidig gleitenden, gleißenden, schwellenden Linie. Lucas vermittelt zwischen den Schraffen und dem Weiß des Papiers durch Punkte, die Mittel des Stechers bereichernd. Er erlernt den Kontrapunkt des Grabstichels von Dürer und Marcanton. Unebener Erdboden, Wildwuchs, Tierfell, Baumrinde, Felsgestein, Erscheinungen, deren Stoffcharakter den Zug des Stichels geleitet hatten, treten zurück; das glatt gewölbte Fleisch, das tote Mauerwerk, der plane Boden, der wellige Gewandstoff in den späteren Stichen, verlangten die Wandlung der stecherischen Interpretation. In demselben Grad, in dem die Stichelführung an systematischer Regelmäßigkeit, Offenheit und bewußter Meisterschaft gewann, verlor sie an Farbigkeit. Mehr 44

und mehr tritt an die Stelle dringlicher Bemühtheit eine bedenkliche Fingerfertigkeit. Der Meister gewöhnt sich daran, den Stichel in Kurven zu führen. Die Scheu vor geraden Zügen bringt Monotonie mit sich. Nur das Mauerwerk wird mit rechtwinkligen Schraffen interpretiert. Um 1520 versucht sich Lucas mit der Ätzung, einmal, in dem MaximilianPortrait, mit Kombination von Ätzung und Grabstichelarbeit. Irrtümlich hat man öfter zu beobachten geglaubt, er hätte auch in anderen Fällen sich dieser Kombination bedient. Dieses Mißverständnis erklärt sich daraus, daß er ein wenig wie ein Radierer sticht und wie ein Stecher radiert. Das Hindrängen zu der mürben, malerischen, geätzten Linie, kann als Anbruch, als in die Zukunft weisend, betrachtet werden, blieb aber zunächst ohne Folgen. Die spätesten Stiche sind glatte, klare, metallische Produkte. Zu Beginn Mittel zum Zwecke, wird die stecherische Arbeit schließlich gefallsüchtig als die Kunstleistung präsentiert. Die persönliche Handschrift verwandelt sich in Kalligraphie und wurde so vorbildlich für die späteren Stecher, wie für Hendrick Goltzius.

DIE GEMÄLDE

Nun da wir uns bemühen, eine Übersicht über die Gemälde zu gewinnen, müssen wir den Weg, den wir gegangen sind, noch einmal beschreiten. Wer da meint, dies sei leicht, weil j a Richtung und Ablauf festständen, wird bald bemerken, daß sich arge Schwierigkeiten auftürmen. Abgesehen von drei Werken, die durch van Manders Bericht „beglaubigt" sind, nämlich den Flügelaltären in Leiden und Leningrad, sowie dem Münchener Diptychon, handelt es sich um mehr oder weniger problematische Bilder, von denen die Autorschaft erwogen und begründet werden muß, während wir im Angesichte der Kupferstiche von Verpflichtung dieser Art befreit waren. Signaturen in Gemälden helfen wenig, da das berühmte Zeichen oft mißbraucht worden ist. Wir sind auf Stilkritik angewiesen und müssen stets auf die Kupferstiche zurückblicken, um von dorther Sicherheit zu gewinnen. Die erwartete Parallelität wird nicht immer offenbar. Aus den Erfahrungen, die bei Betrachtung der Stiche gewonnen sind, leiten wir Grundsätze ab, die bei Prüfung der Gemälde zu berücksichtigen, sich als nützlich erweisen mag. Ich stelle die folgenden Thesen auf: 1. Wer den jähen Stilwandel in den zeitlich gereihten Kupferstichen nicht ohne Erstaunen wahrgenommen hat, wird einen noch höheren Schwankungsgrad in Gemälden erwarten, da der vom Handwerklichen ausgehende Zwang auf Stiche mehr als auf Gemälde eine gleichmachende Wirkung auszuüben pflegt. 2. Lucas war seiner Anlage nach ein Maler. Seine frühen Stiche verraten die Sehweise des Malers. Danach wäre vorauszusehen, daß er aufatmend den Pinsel mit dem Stichel vertauscht und gerade im Malwerke persönliches Wesen frei entfaltet habe. 3. Lucas hat sich ununterbrochen, emsig und erfolgreich als Stecher betätigt, wurde vornehmlich als Stecher anerkannt und gerühmt. Danach stünde zu erwarten, daß sein Malwerk von der schwarzweißen Linienkunst her entscheidend bestimmt worden wäre. 4. Der zweite und dritte Satz widersprechen sich, scheinen einander aufzuheben. Gerade dieser Widerstreit ist als ein hin- und herzerrender Motor im Auge zu behalten und mag schroffe Wendungen in der Bahn des Malers erklären. Alles ist zu erwarten, außer ein folgerichtiger und logischer Verlauf. 5. Bei zeitlicher Ordnung der Gemälde müssen wir schon deshalb mit Skepsis verfahren, weil wir nicht, wie von dem „Werke" des Stechers, alles besitzen. Das zufällig Erhaltene fügt sich schon aus Mangel an Zwischengliedern nicht zu einer 46

Kette. Man male sich aus, wie unsicher unser Urteil wäre, wenn statt 175 etwa nur 50 Stiche erhalten sein würden. Dem Lexikographen Wurzbach — man lese seinen seltsamen Artikel über Lucas — ist sogar das gestochene „Werk" trotz den Signaturen auseinandergebrochen. Nach diesem warnenden und Unsicherheit ankündigenden Vorspruch wende ich mich den Gemälden zu, die in dem aufgeklärten Schriftwesen der jüngsten Zeit als Schöpfungen des Meisters aufgeführt werden und die ich in meine Vorstellung — nicht alle ohne Zögern und Besorgtheit — eingegliedert habe. Van Mander versichert, daß Lucas im Alter von 12 Jahren — dies wäre 1506 — mit Wasserfarben auf Leinwand für einen Herrn van Lockhorst die Legende des hl. Hubertus gemalt und dafür so viele Goldgulden empfangen habe, wie er Jahre zählte. Ohne diese Kunde allzu ernst zu nehmen, dürfen wir daraus schließen, daß der Knabe sich als Maler ebenso früh versucht habe wie als Kupferstecher. Da sein Vater Maler war, ist dies ohnehin zu erwarten. DIE SCHACHPARTIE Berlin, Gemäldegalerie Nr. 574a, Eichenholz, 27 X 35 cm. Aus den Sammlungen Baron Werther und Suermondt.

Mit der mißmutigen und bittern Stimmung, die dem Thema widerspricht, kann dieses Werk nur in der Frühzeit entstanden sein. Die Frauenköpfe erinnern im Typus und mit dem Ausdrucke der Verschlafenheit an die Dalila in dem um 1508 gestochenen Blatte (B. 25). Die uns den Rücken zukehrende Figur, die hier steif aufrecht, links vom Bildrand überschritten wird, begegnet uns in wenig später entstandenen Kupferstichen. Obwohl die Pinselführung am Einzelnen haftend, den Eindruck des Ungeübten und Anfängerhaften hervorruft, und man meinen möchte, daß sich ein Kupferstecher hier zum ersten Male an Malwerk gewagt habe, glaube ich nicht, daß diese Tafel vor 1508 entstanden sein könne, es sei denn, daß wir ein früheres Geburtsjahr als das überlieferte annehmen. Der Raum ist nicht einmal angedeutet, die Bildfläche mit Köpfen besetzt wie ein Schachbrett mit Figuren. Da, wie die Kupferstiche erweisen, des Leideners Raumsinn früh erwacht war, bleibt der Verzicht auf Ausbildung der örtlichkeit auffallend und muß wohl damit erklärt werden, daß der Gestaltungswille hier durch das Thema einseitig auf Drastik und Mannigfaltigkeit der Physiognomien gerichtet wurde. Geglückt ist es keineswegs, das harmlose Beieinander und die Spiellust zu veranschaulichen. Die Gäste scheinen sich eher zu belästigen und bedrängen als miteinander zu vergnügen. Man meint Taubstumme zu beobachten, wie sie sich zu verständigen bemühen. Einigermaßen deutlich wird, daß der schläfrigen Dame unter Anleitung des alten Herren ein Zug auf dem Schachbrette gelingt, der den jugendlichen Gegner veranlaßt, sich in die Haare zu fahren. Die Absicht ist auf reines Genre gerichtet und im historischen Zusammenhange bemerkenswert. Im Umkreise der gleichzeitigen niederländischen Malerei ist kaum etwas in diesem Grade der Tendenz nach Genrehaftes zu entdecken. Nichts von 47

dem Lehrhaften, Moralisierenden, das aus der Erbschaft des Kirchenbildes dem Genrebild in seiner Tugend eigen ist. Die vorzeitig aufgegriffene Bildidee ist gleichsam mit zusammengebissenen Zähnen verwirklicht, wobei aus der Anstrengung des Malers ein stechender, krampfiger Ausdruck in einige Köpfe eingezogen ist. Strichelnd und punktend sind die Kleiderstoffe, der Pelz, das Haar auch mit peinlicher Zähigkeit ausgebildet. „Malerisch" kann das Bild höchstens insofern genannt werden, wie einige Köpfe ins Dunkle getaucht sind; im übrigen nimmt der mühsame und trockene Vortrag, zumeist hell auf dunklem Grunde wenig Rücksicht auf Gesamtwirkung, umgrenzt und moduliert Stück für Stück nachsichtig und hart zeichnerisch. Niemand wird sich vor dieser Tafel zu der Behauptung versteigen, eine bei der Grabstichelarbeit gefesselte Begabung äußere sich befreit auf dem ihr von der Natur angewiesenen Feld. Im Gegenteil: eher wäre mit Recht zu bemerken, daß sich ein Zeichner, ein Stecher, auf fremdem Boden bewege. Es gibt ein ebenso komponiertes Gemälde, das in zwei Repliken bekannt geworden ist, nämlich im Museum zu Nantes und in der Sammlung Luzarche d'Azay auf Schloß d'Azay le Ferron. L. Demonts14 hat das zweite Exemplar publiziert 16 , ohne das andere zu erwähnen. Beide Bilder messen 2 4 x 3 0 cm, sind also etwa ebenso groß wie die Berliner Schachpartie. Soweit ich nach Abbildungen urteilen kann, ist das Gemälde zu Nantes das bessere, aber doch wohl kein Original. Zwei Frauen und neun Männer, dicht beieinander, unbeholfen geordnet, mit anfängerhaftem Sich-nicht-genug-tun-können. Der Sinn bleibt rätselhaft 16 . Der steifen Zeremonie mag symbolische Bedeutung innewohnen. In der Mitte eine junge Frau beim Kartenlegen, in Halbfigur, hinter einem Tische. Sie reicht einem Jüngling eine Blume, wohl als Zeichen ihrer Neigung und im glücklichen Einklänge mit der Verkündigung, die von den Karten ausgeht. Alle anderen Gestalten, eine Frau im Profil und die Männer, dabei einer mit der Narrenkappe, füllen die Bildfläche, ohne daß ihre Beziehung zu dem Vorgange offenkundig würde. Komposition und Typen wie in der Berliner Schachpartie. Das vermutlich diesen Bildern zugrunde liegende Original muß etwa gleichzeitig mit jener Tafel entstanden sein. Ein Bild, das nicht beträchtlich später entstanden sein kann, bietet einen ganz anderen Eindruck: 35 L O T H U N D S E I N E T Ö C H T E R Paris, Louvre Nr. 2640 a, Eichenholz, 58 x 34 cm.

Die zeitliche Einordnung dieses Werkes wird dadurch erleichtert, daß Ton der Erzählung, Figurenmaßstab und Verhältnis der Figuren zum landschaftlichen Räume dem Kenner der um 1508 entstandenen Stiche vertraut vorkommen, während 14 16 16

L. Demonts, Burlington Mag. Vol. 43 (1923) S. 124. Abbildung auch bei JV. Beets, Oud Holland 1935, S. 49. — Anm. d. Hrsg.: wohl eigenhändige Arbeit des Lucas. Anm. d. Hrsg.: die Darstellung ist wohl die einer Kartenlegerin.

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eine der Berliner Schachpartie ähnliche Komposition in keinem Stiche zu finden ist. Das gar zu wenig beachtete, seiner Bedeutung nach keineswegs gewürdigte Gemälde zeigt die uns aus mehr als einem Stiche bekannte Ordnung: steil, vorn in der hohen Bildfläche das dunkle Dreieck von Fels und Laubwerk, als Folie für die Figurengruppe, auf der anderen Seite heller Hintergrund. Ein einzelner Baum als Achse. Lcth mit der einen Tochter eng verbunden, in eine Pyramide gezwängt. Am Boden sich ausbreitend die Gewandung mit kurvigen und eckigen Zipfeln. Folgerichtig durchgeführtes nächtliches Dunkel, aufblitzende Belichtung aus zwei Quellen, nämlich dem Feuer, das, vom Himmel regnend, die Stadt im Hintergrunde vernichtet, und der Fackel an Loths Zelt, die flackrigen Schein auf die Sünder wirft. Der Bildeinfall eines Malers, der das lichtscheue Treiben in verheimlichende Finsternis verlegt. In der zweiten Tochter, die Wein einschenkt, ist weibliche Anmut in teils eckiger, teils schwingender Bewegung ausgedrückt. Der Figurenmaßstab stellt bescheidenere Ansprüche als derjenige in der Berliner Schachpartie. Bei scharfer Prüfung ist nicht zu verkennen, daß auch hier eine spitzige Pinselführung punktend und strichelnd, Einzelheiten umreißend, am Werke war. Doch sorgt der überwiegende Helldunkeleffekt für Einheitlichkeit der Gesamtwirkung. Der Farbenkörper ist an Glanz und emailartiger Geschlossenheit dem der Berliner Tafel überlegen. Das Gemälde mag um 1509, nicht viel später als der Mahomet-Stich, entstanden sein. Ich kenne drei Repliken, die für den Eindruck zeugen, den die kühne und erregende Erfindung hervorgerufen hat. 1. Rotterdam, Sammlung van Beuningen (32,5x45 cm), 2. Amsterdam, Sammlung Kleiweg de Zwaan ( 3 0 x 4 1 cm), 3. Wien, Kunsthandel, 1937 ( 1 8 x 2 3 cm). Schon das Breitformat, diesen Bildern im Gegensatze zu der Pariser Tafel gemeinsam, bringt eine Abschwächung der dramatischen Wirkung mit sich. Wir haben vor den Stichen beobachtet, daß Hochformat in der Frühzeit bevorzugt wurde. In dem Pariser Bilde schmiegt Loth den verdunkelten Kopf an das Antlitz der Tochter, auf deren Stirn ein Lichtfleck fällt, deren Brüste bestrahlt werden wie die Hände des Vaters, deren eine plump auf der Frauenschulter lastet. Das Licht verrät, bringt es an den Tag, verleiht der Erzählung Pathos und Akzente. In den Repliken erscheint das Gefüge gelockert, das entscheidende Mittel, das der Beleuchtung minder konsequent eingesetzt. Ein vergleichender Blick auf den ungefähr gleichzeitig entstandenen Stich der hl. Familie (B. 85) macht es besonders deutlich, wie durchaus im Geiste des Meisters das Louvre-Bild komponiert ist. Die Beste der Wiederholungen, diejenige in der Sammlung van Beuningen, kommt als eine zweite Fassung, eine Variante von der Hand des Meisters in Betracht, zumal da der Feuerregen, der die Stadt vernichtet, hier anders, aber nicht weniger Verständnis- und wirkungsvoll als im Pariser Bild ausgeführt ist 17 . Die beiden 17

N. Beets, Oud Holland 1935 Abb. S. 52. — Ausstellung H. Bosch etc. Rotterdam 1936, Nr. 78.

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übrigen Repliken schließen sich eng dem Bild in Rotterdam an, nicht dem Pariser und sind als Kopien zu betrachten. 33 D I E A N B E T U N G D E R K Ö N I G E Chicago, Art Institute (Ryerson-Stiftung), 2 7 x 3 3 , 5 cm.

Die Gruppierung der Halbfiguren zwanglos, mit Zäsur in der Mitte. Links die Madonna, Joseph und der knieende älteste König in ein Dreieck gefügt, dessen längster Schenkel am Rücken des Königs aufwärts stößt zum Kopfe Josephs. Rechts in dichter Menge, isokephal, die beiden jüngeren Könige und ihre Begleiter. Die Ausführung teilweise mit linienhaften, zackigen Lichtern in den seidigen Gewandstoffen von miniaturartiger Feinheit. Die Typik gemäßigt, anmutig und milde. Oberhalb der Mauer Landschaft im Hintergrunde mit dem Reiterzuge, die sich fremdartig absetzt von der Figurengruppe des Vordergrundes. Phantastisch steile Felstürme, hell, leuchtend, zeichnerisch interpretiert; kurze Figuren auf schweren, stark bewegten Pferden. Diese Landschaft mit der Staffage erinnert an den kleinen Altar der Wiener Galerie, dem mit dem Propheten Elisa und der Taufe des syrischen Hauptmannes, also an ein Werk, das unter Engelbrechtsens Namen katalogisiert ist. Wir haben jenes Triptychon hingenommen als ein Werk Engelbrechtsens unter der Voraussetzung relativ früher Entstehung. Lucas scheint, als er den Hintergrund der Anbetung ausbildete, sich an das Vorbild Engelbrechtsens gehalten zu haben. Diese Erklärung des Zusammenhanges befriedigt aber nicht durchaus. Eine neue Schwierigkeit entsteht dadurch, daß die Komposition der Anbetung mit geringen Abweichungen außerhalb Leidens auftaucht, nämlich in einer Miniatur, die 1902 in Brügge (Nr. 246 [33 x 2 5 cm]) aus der Sammlung de Somzee ausgestellt war. Der Stil dieser Replik weist auf Brügge, in die Zeit um I5i5 1 7 a . Und eine zweite Wiederholung, die ich mehrmals im Kunsthandel gesehen habe, zeigt den Stil Bensons, scheint also ebenfalls in Brügge entstanden zu sein. Wir könnten aus diesen Beziehungen schließen, daß die Tafel, die Lucas um 1509, teilweise angeregt durch Engelbrechtsen geschaffen habe, nach Brügge gelangt und dort kopiert worden sei, wenn anders etwa nicht gewagt wird, den Maler Cornelis Cornelisz Kunst für das Bild verantwortlich zu machen. Dieser 1493 geborene Sohn Engelbrechtsens, ein von van Mander gerühmter Meister, siedelte, wie der Biograph erzählt, öfter für 3 oder 4 Jahre nach Brügge über und malte dort viele schöne Bilder. Vielleicht, daß soweit gegangen werden kann, auch das Wiener Triptychon dem Vater zu nehmen und dem Sohne zu geben. S A L O M E DAS H A U P T D E S T Ä U F E R S V O N D E M H E N K E R Philadelphia, Sammlung Johnson, 30 X 22 cm

EMPFANGEND

Mit dieser Tafel, die aus der de Somzee-Sammlung stammt, stehen wir wieder auf festem Boden. Sie wird vergleichsweise leicht eingeordnet, weil sie mit zwei 17a

Anm. d. Hrsg.: Die Miniatur, die sich vor einigen Jahren im Pariser Kunsthandel (Leegenhoek) befand, ist eine Arbeit des Simon Bening, der hier Lucas van Leyden kopiert hat.

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Kupferstichen übereinstimmt, in Erfindung und Formensprache, nämlich mit der Versuchung des hl. Antonius (B. 117, 1509) und mit der undatierten, ungefähr gleichzeitig entstandenen Enthauptung des Täufers (B. 111). Der Henker mit großem, wüsten Kopfe, mit steifen, langen Beinen, legt des Täufers Haupt auf die Schüssel, die von der aufrecht stehenden Frau gehalten wird. A m Boden liegt der enthauptete Leib mit gekreuzten Armen. Alles — gegenseitig — wie im Stiche (B. 111). Das gut erhaltene Malwerk hat noch viel von der Schärfe und Zähigkeit der Berliner Schachpartie. SUSANNA V O R D E M R I C H T E R Bremen, Kunsthalle Nr. 62, 46 X 54 cm

Diese Komposition mit Halbfiguren offenbart beträchtlichen Fortschritt, verglichen mit der Berliner Schachpartie. Mehr Luft, mehr Raum und staffelnde, lockernde Gruppierung. An die Stelle des grämlichen, scharf gespannten Ausdruckes ist eine bonzenhafte Würde getreten. Das Motiv der uns den Rücken zukehrenden Gestalt wird hier mit Beflissenheit verwendet, da rechts und links j e eine solche Figur die Hauptgruppe einrahmt und den Raum vertiefen hilft. Der Kavalier auf der linken Seite nicht mehr steif, kerzengrade, wie in der Schachpartie, sondern gebeugt. Mauerwerk, parallel der Bildfläche, wie häufig in den um 1510 entstandenen Stichen als Grund für die Figurengruppe. Die Dekoration der Mauer mit dünnen, gebogenen Stäben wie in Dürers Holzschnitt der Beschneidung Christi (B. 86, 1505?).

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POTIPHARS F R A U V E R K L A G T JOSEPH Rotterdam, Sammlung van Beuningen. 26,5 X 36 cm

Der Gruppierung, Auffassung und den Typen nach ähnlich wie die Tafel in Bremen. Potiphar erregt und bewegt, etwas theaterhaft. Ohne Figuren, die uns den Rücken zuwenden. Dieses Bild ist ungefähr gleichzeitig mit dem in Bremen entstanden, und zwar, wie ich glaube, unmittelbar vorher. Der Mann, der Potiphars Frau zunächst steht, erinnert an einen der Gäste in der Berliner Schachpartie. Joseph versteckt und überschattet rechts unten am Rande. Die Tafel ist oben beschnitten. Die glücklichere Lösung der Aufgabe, die in Bremen, muß wohl die spätere sein. In die Zeit um 1510 sind beide Bilder anzusetzen. Die Gemälde, die ich nun einzureihen versuche als Werke aus der Zeit um 1510, haben gemeinsam eine unerwartete Armut der Erfindung, eine ökonomische Selbstbeschränkung in Reaktion auf das jugendliche Zuviel, ein pedantisch symetrisches Beieinander von drei Figuren. Die Übereinstimmung erscheint um so auffälliger, wie die Themen weit voneinander abweichen. In beiden Fällen können wir Lösungen derselben Aufgaben, solche aus früherer und solche aus späterer Zeit, zur Vergleichung heranziehen. 51

DIE KARTENPARTIE London, Privatbesitz. 5 1 , 5 x 4 2 , 5 cm

Halbfiguren am Spieltische, wie in dem Jugendwerke, der Berliner Schachpartie, jetzt aber, mit bewußter Vereinfachung statt der gedrängten Fülle ein dürftiges Terzett in starrer Würde, in der Mitte eine junge Frau, links ein junger Mann, rechts ein alter. Landschaftlicher Grund. Der feiste Herr, mit törichtem Ernste bei der Sache, wie wenn es um Tod und Leben ginge, wirkt ein wenig komisch. Das Genre — dem Thema nach harmlose Geselligkeit — hat auf dieser Zeitstufe Befangenheit und unmotivierte Feierlichkeit noch nicht überwunden. Replik in der Sammlung Philips zu Eindhoven 18 . LOTH UND SEINE TÖCHTER London, National Gallery Nr. 3459, 33 X 25 cm

Ganz so geordnet wie die Kartenpartie. Drei Figuren, Loth in der Mitte, von vorne gesehen, rechts und links in Seitenansicht, symmetrisch die Töchter. Dahinter tief gestimmtes Land, Baumstümpfe. Mit der simplen Starrheit steht dieses Bild schroff im Gegensatze zu der älteren Darstellung des selben Vorwurfes, der im Louvre, wie auch zu der späten, stark bewegten Komposition in dem Kupferstiche von 1530. Loth ist nicht viel anders bekleidet wie in dem Pariser Bilde. Die in London wenig beachtete Tafel ist schon von Beets19 als ein Werk des Meisters vorgestellt worden. Das Jahr 1 5 1 1 wird dadurch bemerkenswert, daß wir zwei mit dieser Zahl datierte Gemälde kennen lernen, zugleich die ältesten mit der bekannten Signatur. Man wird versucht, daraus zu schließen, 1 5 1 1 habe sich Lucas selbständig gemacht. Gegen diese Annahme spricht aber der Umstand, daß er schon seit 1508, wenn nicht noch früher, Stiche mit seiner Initiale ausgegeben hat. Stilkritisch geprüft, scheiden sich die 1 5 1 1 datierten Bilder von den bisher betrachteten. Eine Epoche zeichnet sich ab. Freilich sind die inschriftlichen Daten nicht unbedingt vertrauenswürdig. 37 B R U S T B I L D E I N E S M A N N E S Sammlung Baron Thyssen-Bornemisza, Lugano, ehemals in der Sammlung Zeiss, Berlin. 2 6 x 22 cm, Signiert L 1 5 1 1

Die Zahl ist nicht deutlich, wurde gelegentlich 1517 gelesen. Schwach lokalfarbig, fast monochrom, fahl gefärbt, wirkt dieses Portrait durch den seelischen Ausdruck, der von scharfer Beleuchtung geweckt erscheint. Die abgewandte Seite des 18 19

JV. Beets, Lucas van Leyden. 1940 S. 45. — Ausstellung Amsterdam 1958 (Middeleeuwse Kunst) Nr. 130 (Dumsany Castle). N. Beets, Oud Holland 1934, Abb. 1 1 S. 57.

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halbseitlich gewandten Kopfes liegt im Schatten. Bestrahlung accentuiert die Züge des leidenden, durch Leid vergeistigten Antlitzes, vertieft die senkrechte Stirnfalte, trennt die dunkle Unterlippe von der hellen Oberlippe und läßt den Kopf sich milde leuchtend abheben von dem Dunkel des Grundes und der schlichten Kleidung. Den Zeitpunkt in Betracht gezogen, erscheint dieses Portrait unkonventionell und original. Wir legen auf dieses Urteil um so mehr Gewicht, wie Lucas den hier eingeschlagenen Weg keineswegs zielbewußt verfolgt, wie zu beobachten sein wird. Unsre Erwartung, die aus den Kupferstichen erfühlte Sehweise auf dem Felde der Malkunst frei entfaltet zu sehen, scheint sich um 1 5 1 1 zu erfüllen. Gleichzeitig tritt das Interesse an der Lokalfarbe zurück zu Gunsten koloristischer Harmonie. Im Museum zu Groningen wird das oben im Halbrund abgeschlossene Portrait eines jungen Mannes bewahrt, das in Auffassung und Malweise dem Bildnisse der Thyssen-Sammlung nahe steht. Der fragwürdige Zustand dieser Tafel erschwert die Entscheidung über die Autorschaft. DAS SELBSTBILDNIS Braunschweig, Museum Nr. 160; 29 X 22 cm

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Uber dieses Gemälde habe ich schon gesprochen, als ich es als ein Dokument heranzog bei Diskussion des Geburtsdatums. Ich erinnere an die dort geäußerten Skrupel. Ein Selbstportrait offenbar, wie die aufgerissenen Augen, die Intensität des gespannten Blickes bezeugen, und einen anderen Autor als Lucas ausfindig zu machen, dürfte schwerlich glücken. A. Stock hat dieses Portrait um 1620 gestochen mit der Angabe: Selbstbildnis des 15-jährigen. Danach wäre das Bild 1509 entstanden. Bei stilkritischer Einreihung neige ich zu einer etwas anderen Datierung. Der Malweise nach, mit dem flackrig belebten Fleische, dem ausdrucksstarken Mund steht die Braunschweiger Tafel dem 1 5 1 1 datierten Bildnis in der Sammlung Thyssen nahe, wenngleich es mit den besonderen Eigenschaften des Selbstportraits für sich bleibt und die Aufgabe den Autor von mancher Rücksichtnahme befreite. Viel später als 1 5 1 1 kann das Gemälde nicht entstanden sein, weil, wie wir sehen werden, der Maler sehr bald nach 1 5 1 1 vor seinem eigenen Mut erschrickt. Wenn wir Anlaß haben, dies Portrait in die Zeit um 1 5 1 1 anzusetzen, der Dargestellte wie etwa 18jährig aussieht, gewinnen wir ein Argument zu Gunsten des überlieferten Geburtsdatums. DER HL. ANTONIUS Brüssel, Museum Nr. 780; 66,5x71 cm, Signiert: 1511 L

Der Heilige kniet, halb seitlich nach links gewendet, vor einem Kruzifix, das auf einem Tische steht, mit erhobenen Händen betend. Von ihm unbemerkt, rücken monströse Teufel heran. Der greise Asket, mit steilem Kopf, hoher Stirne, dessen Körper in weiter Kurve durch das Gewand verdeckt ist, wird vom Lichte getroffen, das Einzelformen verzehrt. Der kursorische Vortrag ist wenig besorgt 53

um Plastik, Binnenzeichnung oder Lokalfarbe. Eine bleiche, grünliche Harmonie liegt über dem Gesamten. Sjöblom 20 begeistert sich vor diesem Bilde, nennt es ein Wunderwerk. Dem optimistischen Historiker erscheint des Leideners Verzicht auf Schönfarbigkeit zu Gunsten koloristischer Harmonie als eine historisch bemerkenswerte Errungenschaft. Schwer fällt es, Stilverwandtes in den um 1511 entstandenen Kupferstichen nachzuweisen. Sieht man von dem nicht unbedingt verbindlichen inschriftlichen Datum ab, so wird es leichter, dies fragmentarisch erhaltene Bild mit etwas späterer Ansetzung in des Malers „Werk" einzureihen. Übrigens haben erfahrene Kenner sich geweigert, die Autorschaft anzuerkennen. 38 F L Ü G E L A L T A R , D I E A N B E T U N G D E R K Ö N I G E Meryon, Philadelphia, Barnes Foundation; 7 6 , 5 X 4 5 — 1 8 cm

Dieses Werk ist von der Gelehrsamkeit noch kaum beachtet worden, weil es gleich nach seinem Auftauchen im Berliner Kunsthandel von der amerikanischen Sammlung verschluckt wurde. Es bietet Überraschungen, wie fast jedes Gemälde des Meisters. Die Epiphanie ist in den Niederlanden zu Beginne des 16. Jahrhunderts so häufig dargestellt worden, daß Vergleichungen in großer Zahl das Besondere und Persönliche der Leistung deutlich hervortreten lassen. Der Ort, von dem die Konzeption ausgeht, ist nicht begrenzte Bühne, auf der Figuren versammelt sind, vielmehr allseitig offener Raum, in den die Menge eindringt, aus dem sie herausquillt. Mit ähnlicher Disposition, freilich bescheidener und primitiver, hat ein anderer Holländer, um dieselbe Zeit, das Getümmel der Anbetung geschildert, nämlich der Meister von Alkmaar in dem kleinen Flügelaltare, der sich im Haag im Mauritshuis befindet. Im Triptychon zu Philadelphia: Der hohe Flügel links mit dem eindringenden, der rechte mit dem abziehenden Gefolge der Könige. In der relativ leeren Mitteltafel, die oben im Halbkreise geschlossen ist, sitzt vorne die Madonna, knien in Seitenansicht der ältere König und einige Begleiter. Heller Boden, hohes Gemäuer, Vegetation und Aussicht in die Ferne. Ein Blick auf die von Grund aus anders gestaltete Epiphanie in dem Stiche, der 1513 datiert, nicht erheblich später als der Flügelaltar entstanden ist, belehrt uns, daß Lucas um diese Zeit mit sicherem Instinkte die besonderen Möglichkeiten der Pinselkunst verwirklicht. Die Ausdrucksmittel des Malwerks und des Kupferstichs haben sich gegabelt. Im Malwerk wird dem räumlichen Zusammenhange, der Übersicht, der Weitsicht vieles geopfert, so Durchbildung der Einzelheiten, Mannigfaltigkeit der Typen und seelischer Ausdruck. Im Stiche die Figuren aufdringlich nah, im Gemälde fern und verschleiert. Die Gestalten im Vordergrunde gestreckt, in die Länge gezogen, dagegen die im Hintergrunde auffällig niedrig. Die Datierung macht mir Sorge. In den Typen sowie in der mangelhaften Zeichnung der Pferde fallt Ähnlichkeit auf mit Engelbrechtsens Wiener Triptychon. Danach wäre 20

Axel Sjöblom, Die koloristische Entwicklung in der niederländischen Malerei. Berlin 1928.

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Entstehungszeit um 1509 wahrscheinlich. Hingegen spricht die lockere Komposition, die sorglos fleckige Malweise, die visionäre Fernsichtigkeit für spätere Entstehung. Freilich mag der Zustand des Malwerks ein wenig täuschen. DER F L Ü G E L A L T A R MIT DER SPEISUNG DER ZEHNTAUSEND Paris, Privatbesitz, ehemals Koblenz, Schloßmuseum; 76x44,5—18,5 cm

Dieser wenig beachtete Altar war 1936 in Rotterdam ausgestellt (Nr. 89 im Katalog dieser Veranstaltung). Damals habe ich das Werk kennengelernt, nicht aber eine scharfe Prüfung durchführen können. Ich urteile mit Vorbehalt. Die Tafeln scheinen teilweise schlecht erhalten zu sein. Mit dem Triptychon in der Barnes-Sammlung stimmt das aus Koblenz so überein, daß über Identität der Autoren und gleichzeitige Entstehung hinaus ein Zusammenhang anzunehmen ist. Dieselben Maße, dasselbe, ungewöhnliche Format, dieselbe Kompositionsweise, dieselben Typen, lassen vermuten, daß die beiden Triptychen etwa für zwei Altäre ein- und derselben Kirche bestimmt waren. Dicht gedrängte Figuren-Menge, Füllung der hohen Bildflächen durch dunkle Laubmassen, die flächig wirken. Malerisch lockerer Vortrag. Ein 1 5 1 5 zu Leiden bei J a n Severtse erschienenes Buch, Thomas Comtipratensis — hier beghint der bijen boeck — enthält einen kleinen figurenreichen Holzschnitt, offenbar von Lucas gezeichnet, der in der Komposition mit dem Koblenzer Altar Verwandtschaft zeigt 21 . Die Außenseiten des Altares mit dem Stifter und Christus als Schmerzensmann rühren von anderer Hand her. F L Ü G E L A L T A R , DAS L E T Z T E ABENDMAHL, RECHTS: DIE FUSSWASCHUNG, LINKS: DER GANG NACH GETHSEMANE, AUSSEN AUF DEN FLÜGELN: GRISAILLEN Aachen, Suermondt-Museum (Stiftung Dr. Bock) Nr. 273; 57x44—18 cm.

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In Gruppierung und Typik dem Altar in der Barnes-Foundation und dem aus Koblenz verwandt, aber etwas schwächer, mag dieser Altar um 1512 in des Meisters Werkstätte entstanden sein. HIOB MIT DEN MUSIKANTEN Richmond, Sammlung Viscount Lee of Fareham; 40 X 31 cm

Der leidende Hiob sitzt nackt auf einem Steinblocke, einem ebenfalls sitzenden, reich gekleideten Manne zugewendet, der seine Posaune abgesetzt hat und dem Dulder etwas darzureichen scheint. Links am Rande zwei jugendliche Männer, die, auf Blasinstrumenten spielend, den Unglücklichen verhöhnen. Die seltsam vom Bibeltext abweichende Darstellung, die mehrfach im 16. Jahrhundert, so auch in Dürers Jabach-Altar, angetroffen wird, mag auf volkstümliche Poesie oder auf die 21

Vgl. „Het Boek" X I I I (1924) S. 1—38, 142. 55

Schaubühne zurückgehen. Die Komposition mit den drei Baumstämmen, von denen der mittlere, wie ein Accent das Haupt Hiobs betont, ist ebenso charakteristisch für Lucas und für die Zeit um 1 5 1 2 , wie die dunkle, detailarme, stimmungsstarke Flächigkeit der Laubmassen. Auch die stelzigen und steifen Bewegungen der mageren Gestalten sowie die zackigen Motive in den Gewändern, entscheiden für diese Zeit. D I E M A D O N N A M I T E N G E L N U N D D E M HL. L U C A S De Hartekamp bei Haarlem, Sammlung v. Pannwitz, Rund, Dm. 20,8 cm, mit der Signatur des Meisters

Die Datierung dieser Tafel wird dadurch erschwert, daß die einem Holzschnitte von Burgkmair entlehnte Komposition als Zeugnis ausfällt, und wir ausschließlich auf Prüfung der Malweise, des Kolorits und der Gefühlsweise angewiesen sind. Selbst die Typik hat sich derjenigen des Augsburgers einigermaßen angepaßt. Die Komposition des viereckigen, 1507 datierten Holzschnittes ist glücklich in die Rundform gefügt. Die gespannte Energie der süddeutschen Zeichnung erscheint gelöst in lasche und weiche Harmonie. Als Jahr der Entstehung möchte ich 1 5 1 2 annehmen. Der Umstand, daß Lucas sich nicht gescheut hat, eine fremde Erfindung zu benutzen, bleibt bemerkenswert. 40 D I E K A R T E N P A R T I E Wilton House, Sammlung Earl of Pembroke; 3 6 x 4 6 cm.

Das Thema behaglicher, durch Schach- oder Kartenspiel konzentrierter Geselligkeit wurde von Lucas bevorzugt. Vier Lösungen der Aufgabe sind uns bekannt, die wir mit Nutzen vergleichen, die als Meilensteine seinen Weg markieren. Gegen den krampfigen Erstling in der Berliner Galerie, gegen das steife Terzett im Londoner Handel nimmt diese Tafel für sich ein durch glückliche Gruppierung von gelockerter Symmetrie. Das vierte Bild, das der Typik nach um 1525 entstanden ist, werden wir noch kennenlernen. Die Hauptzüge unsrer Komposition kreuzen sich schräg in der Bildfläche. In der Mitte eine Zäsur, links die dichte Gruppe von vier, rechts von fünf Figuren. Zwei junge Männer, ein alter und eine Frau sind am Spiele beteiligt, drei Männer und zwei Frauen mehr oder weniger bei der Sache, schauen ihnen zu. Die Illusion der Raumtiefe wird gefördert durch die uns den Rücken zukehrenden Spieler sowie durch die im verlorenen Profile vorn auf der anderen Seite sitzende Partnerin. Die Stimmung, wenn nicht gerade heiter, so doch ungezwungen und der Situation einigermaßen angemessen. Die Frauen im Ausdrucke müde und bekümmert, wie denn des Leideners Frauen später als die Männer mißmutige Verschlossenheit überwinden. Durch geschmeidige Zeichnung, subtile und doch flüssige Malerei zeichnet sich diese Tafel aus. Die Männerköpfe, namentlich 56

der des älteren spielenden Herrn und mehr noch der des rechts stehenden portraithaft, ferne von karikaturhafter Schärfe. Um 1 5 1 5 mag dieses guterhaltene Werk entstanden sein. DER HL. A N D R E A S Karlsruhe, Kunsthalle Nr. 1406; 22 X 17 cm

Der Heilige in Halbfigur, wohl Fragment. Links im Vordergrund ein belaubter Baum, rechts im Grunde lichte, steile Felsen. Um 1516 2 2 . D I E P R E D I G T IN D E R K I R C H E Amsterdam, Rijksmuseum Nr. 1453; 1 3 3 x 9 7 cm, Signiert

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Mehr Kopfzerbrechen und Meinungsstreit als irgendein anderes Werk des Meisters hat diese Tafel verursacht, die an keiner Stelle zu voller Zufriedenheit eingereiht werden konnte, überdies an sich uneinheitlich wirkt. Eine Legendenszene, in der die Deutlichkeit des Berichtes der Lust an genrehaften und episodischen Motiven geopfert ist. Ein nach vorne offener Kirchenraum, vor dem, nicht in dem, eine zusammengewürfelte Menge sitzender Männer und Frauen der Predigt lauscht. Übrigens lassen die meisten in der Gemeinde Andacht vermissen. Eine Alte ist eingeschlummert, ein Kind wird ungeduldig. Rechts, isoliert, stehend ein stattlicher Herr, der Einzige, der ehrfürchtig die Kopfbedeckung abgenommen hat. Sein Antlitz portraitmäßig, vielleicht das des Donators. Derselbe vornehme Mann, klein, rechts, draußen, im Hintergrunde, spendet Bettlern Brot. Der Sinn der Darstellung muß doch wohl darin gesucht werden, daß ein Weltmann, ergriffen durch die Predigt, zu Menschenliebe und Wohltuen bekehrt wird. Vermutlich derselbe Heilige — Franziscus? — dieselbe Szene in dem Bilde von der Hand des Pseudo-Blesius, das jetzt im Metropolitan Museum zu New York bewahrt wird 23 . Im Bildgesamte, das aus heterogenen Teilen besteht, drängt sich auf die wunderlich gemischte Gruppe von Männern und Frauen, deren Unruhe, deren Gleichgültigkeit und Stumpfheit im Kontraste die andächtige, aufrechte Haltung und gesammelte Würde des abseits stehenden Herrn und der hinter ihm sichtbaren, offenbar, portraitierten Männer hervorhebt. Mitten im nestartigen Beieinander der Gemeinde eine fremdartig noble Dame, die ihre Hände im Gebete aneinanderlegt. Vielleicht wünschte der Meister italienische Lokalität anzudeuten, indem er diesen Kopf südlichem Vorbilde, wohl einem Kupferstiche, entnahm. Die isokephale Portraitreihe rechts, zwei ältere, drei jüngere Männer, ein Fremdkörper im Bilde, mit besonderer Sorgfalt ausgeführt, fesselt unsere Aufmerksamkeit und mag uns helfen, das Rätsel zu lösen, das dieses Gemälde aufgibt. Die zweite Person links ist, wie ich nicht zweifle, richtig als Lucas van Leyden er22 23

Anm. d. Hrsg.: abgebildet im Katalog der Ausstellung H. Bosch etc. Rotterdam 1936, Nr. 85. Max J . Friedländer, Altniederländische Malerei Bd. X I , Tafel 4.

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kannt worden, und zwar als Selbstbildnis, der Blickrichtung nach. Die Ähnlichkeit mit dem von Dürer gezeichneten Kopf überzeugt. Bestätigt wird durch dieses Selbstportrait, daß Lucas der Autor der Tafel, oder doch an der Ausführung beteiligt ist, auch für die Entstehungszeit gewinnen wir einen willkommenen Anhaltspunkt. Das Antlitz sieht jünger aus als in der Zeichnung von 1521. Wir kommen damit etwa auf das Datum 1518. Das architektonische Schmuckwerk, die den flachen Bogen des Kirchengewölbes eingesetzten metallischen S-förmigen Voluten, die zisellierten Kapitelle mit den nackten Figuren darauf, erinnern an Engelbrechtsens Brotwunder-Altar, der sich jetzt in der Berliner Gemäldegalerie befindet 24 . U m 1509, zur Zeit, als Lucas dem älteren Leidener Meister am nächsten stand hat Engelbrechtsen schwerlich solches renaissancehafte Ornament gekannt, wohl aber später. Jedenfalls ist diese Architektur, dieses Ornament 1518 in Leiden nachweisbar, da das Portraitpaar in der Brüssler Galerie, das 1518 datiert ist, von mir dem C. Engelbrechtsen zugeschrieben wird, ähnliches Schmuckwerk enthält 25 . Versuchen wir das Gemälde nun als ein um 1518 entstandenes Werk einzureihen, so stoßen wir auf Schwierigkeiten. Ein vergleichender Blick auf die damals ausgeführten Kupferstiche führt keineswegs zu beruhigendem Ergebnis. Einige Partien, wie besonders das weiße, stark beleuchtete Gewand der vorne sitzenden Frau, erinnert in der Malweise an den Brüsseler Antonius von 1511. Andere Teile, namentlich im Mittel- und Hintergrund offenbaren eine dreist kursorische Manier. Groteske Köpfe mit gebogenen Nasen, die fast an die Münder reichen, tauchen auf, wie sie im „Werke" des Leideners nirgends zu entdecken sind. Mit Recht ist beobachtet worden, daß drei Tafeln in Hampton Court (Nr. 455, 596, 602 — je etwa 50X37 cm — ) , v o n denen zwei die Legende des hl. Sebastian erzählen, die dritte dem Vorwurfe nach nicht zweifelsfrei gedeutet ist, dem Stile nach dem Amsterdamer Gemälde nahe stünden. Diese kleinen, mit Fahrigkeit improvisierten Bilder mit blitzenden Randlichtern, sind zwar schon in allen Inventaren als Werke von Lucas van Leyden angeführt, gehen aber gerade mit den Teilen der Predigttafel zusammen, die am schwersten im „Werke" des Meisters unterzubringen sind. Sie zeichnen sich wie die Amsterdamer Tafel durch feucht glänzenden Farbenkörper aus. Mit einer Hypothese habe ich gewagt, den irritierenden Tatbestand zu erklären. Von dem Zeichner PC, der mit Pieter Cornelisz., dem ältesten Sohne Engelbrechtsens, identifiziert wird, gibt es eine Reihe von Entwürfen, zumeist für Glasmalerei, in denen wir ähnliche Typen, ähnliche Handformen, leichtfertig hingeschrieben wiederfinden wie in den drei Tafeln zu Hampton Court. Die ältesten und zugleich die besten und am wenigsten manierierten Zeichnungen Pieter Kunsts sind 1517 datierte runde Entwürfe für Glasmalerei, die eine Serie bilden. Sie sind zu finden in den Kupferstichkabinetten zu Berlin (Nr. 4055) und Amsterdam, sowie im Ashmolean Museum zu Oxford 26 . Mit diesen Blättern, die ungefähr gleichzeitig 24 25

26

A n m . d. Hrsg.: 1945 verbrannt. D e n Nachweis, d a ß dieses Portraitpaar in Leiden entstanden ist, bringt Pelinck in J a a r b o e k j e " 1940, S. 178fr. Vgl. Parker im K a t a l o g dieser S a m m l u n g S. 16.

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„Leidsch

mit der Predigttafel entstanden sind, ist Vergleichung zu empfehlen. Danach wird die Vermutung annehmbar, daß Pieter gemeinsam mit Lucas das Amsterdamer Bild, selbständig dagegen die Tafeln ausgeführt habe, die sich in Hampton Court befinden. Anscheinend hat der Maler der Tafeln in Hampton Court, ob nun Pieter Cornelisz. oder nicht, in beträchtlichem Umfang an der Amsterdamer Tafel mitgearbeitet. Die Hypothese ausbauend, mag man in dem jungen Mann, der neben Lucas steht und die Hand vertraulich auf die Schulter des Genossen legt, Pieter Cornelisz. erblicken, der um 1493 zur Welt gekommen, um 1516 etwa 23 Jahre alt war. Der dritte junge Mann in der Portraitgruppe, könnte ein anderer Sohn Engelbrechtsens sein, der selbst mit dem älteren, stattlichen, an erster Stelle stehenden Mann zu identifizieren wäre. Engelbrechtsens war um 1518 etwa 50 Jahre alt. Durch Annahme von Kollaboration wird der unausgeglichene Stil des Gemäldes erklärt, das übrigens die anscheinend echte Signatur — L — rechts unten beim Rand enthält27. D E R HL. H I E R O N Y M U S

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Berlin, Gemäldegalerie Nr. 5 8 4 a ; 2 7 x 3 1 cm

Diese blonde, präzise gezeichnete, gut erhaltene Tafel mit dem gemessenen Ausdrucke der Andacht, mag um 1520 entstanden sein. Die Malweise zeichnet sich aus durch ein glasiges Email und reine Lokalfarbigkeit. Die Komposition wirkt ruhig und harmonisch. Das Laub detailliert. Leuchtend die Wolken und der Nimbus des Heiligen im Kontraste gegen die dunklen Baumstämme, mit denen der Meister seiner Gewohnheit nach, die Bildfläche gliedert. Die Rückenlinie des Heiligen liegt in der Diagonale der Bildfläche. Der Maler hat sich dem Stile seiner Kupferstiche genähert und bemüht sich erfolgreich um gepflegtes, sauberes Malwerk. Wieder gelangen wir, indem wir uns an die Stiche halten, auf festeren Boden. Wie unvollständig immer sich der Bilderbestand erhalten hat, wir dürfen aus dem Reste schließen, daß der Madonnenkultus im Norden der Niederlande nicht so stark verbreitet war wie im Süden. In Holland gab es nicht jene namentlich in Antwerpen heimische Produktion für Markt und Export, die Werkstattbetrieb erforderte und im erhaltenen Bilderbestande kenntlich wird aus der großen Anzahl gleichwertiger Repliken, besonders von Madonnen-Tafeln. Verglichen mit Joos van Cleve, Gossart und van Orley, haben J a n Mostaert, Engelbrechtsen und Jacob Cornelisz. Marien-Bilder in geringer Anzahl geschaffen. Der Maler Lucas hat, soweit wir sehen, nicht mehr als viermal die Gottesmutter dargestellt und dies erst in ziemlich später Zeit. Auch das „Werk" des Stechers enthält die Madonna als 27

Anm. d. Hrsg.: Die Predigt wird wohl meist als Arbeit des Lucas van Leyden abgelehnt (vgl. J. Bruijn, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 1961). Außer den obengenannten drei Bildchen in Hampton Court ist eine mittelgroße Anbetung der Könige in Kremsier bei Olmütz vom gleichen Maler (abgebildet von P. Wescher in Oud Holland 1935, S. 60).

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eine in purem Dasein den Andächtigen präsentierte Gestalt erst um 1520, als Lucas mit Dürer in Wettbewerb trat. Die Marienbilder, zeitlich geordnet, sind: 44 1. D I E M A D O N N A M I T E N G E L N Berlin, Gemäldegalerie Nr. 584B ( 7 4 x 4 4 cm, oben rund)

Die Datierung wird dadurch erleichtert, daß der Brokatbehang im Rücken der Madonna an den Stoffstreifen im Stiche des Maximilian-Portraits von 1520 erinnert, und daß Ornament dieser Art sonst nirgends im „Werke" des Meisters nachweisbar ist. Der Madonnentypus erinnert an den Stich Christus und Magdalena (B. 77, 1519), wo die Heilige nach Kopfform und Ausdruck ähnlich erscheint. Zum Preise der Gottesmutter setzt der Meister hier zierliches Ornament ein, Steinschnitt, Gewebe und dünngliedriges Metallwerk, sowie Blattgirlanden. 42 2. D I E M A D O N N A I N H A L B F I G U R Paris, Sammlung Ad. Schloß, jetzt Amsterdam, Rijksmuseum; 33 x 26 cm.

Wenig später entstanden als die sorgfältiger durchgebildete Berliner Tafel. 45, 46 3- D A S D I P T Y C H O N M I T DER M A D O N N A , D E M STIFTER U N D D E R HL. M A G D A L E N A AUSSEN — JETZT ABGETRENNT —DIE V E R K Ü N D I G U N G MARIAE München, Pinakothek, Nr. 148, 149; 50 x 6 8 cm, Signiert 1522 datiert 43 4. D I E M A D O N N A I N H A L B F I G U R Oslo, Museum (Sammlung Langaard); 24 X 21 cm

Dem Stile nach etwa in das Jahr 1528 anzusetzen. Eine Vergleichung dieser vier Tafeln belehrt über die Wendung der Formensprache und des Madonnenideals im Zeitabschnitte zwischen 1518 und 1528. In der Berliner Tafel ist die Zeichnung knittrig, kleingliedrig, schnörklich bewegt, die Madonna müde und sorgenvoll, das Christkind und die fünf Engel-Buben unhübsch, mit dicken Lippen, schwach ausgebildetem Kinne. Die Madonna in der Sammlung Schloß ein wenig offener und aufgeweckter, die Form etwas breiter, fließender und voller. Das Münchner Diptychon schmuckhaft und aufs Schärfste durchgebildet wie die Berliner Tafel, aber gefälliger in der Typik und leerer im Ausdruck, im Kolorite kühl und fahl. Es hat allerlei durchgemacht. Die beiden, oben im Halbrund geschlossenen Hälften sind zu einer rechteckigen Tafel vereinigt. Die Außenseite, die Verkündigung, ist abgetrennt. Der Stifter erscheint mit den Attributen Josefs, des Zimmermanns, die schwerlich dem ursprünglichen Bestand angehörten. Die Madonna in Oslo, stolz, rund, mit abflatterndem Kopftuch, entspricht dem Schönheitsideale, das uns aus späten Stichen vertraut ist. 60

Die Bilderstürme werden oft beklagt, und diese Katastrophe wird dafür verantwortlich gemacht, daß von holländischer Malkunst des 15. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gar so wenig erhalten ist. Die kirchlichen Werke wurden systematisch vernichtet. Daß wir so wenige Bildnisse von Engelbrechtsen, Lucas van Leyden und Jacob Cornelisz. besitzen, muß andere Ursachen haben. Sicherlich ist viel Kunstgut durch Brand in Privathäusern zu Grunde gegangen. Aber auch soziale Umstände sind zu bedenken. Von dem Haarlemer J a n Mostaert sind relativ viele Bildnisse, zumeist vornehmer Personen bekannt. Er war — wohl dank seiner Beziehungen zum Brüsseler Hofe — der vom Adel bevorzugte Portraitist. Daß Lucas als Bildnismaler wenig beschäftigt worden ist, mag mit ökonomischen Verhältnissen zusammenhängen. Das Bedürfnis nach Portraits war stets und überall ein Merkmal wirtschaftlichen Aufschwunges. Für Hollands gesellschaftliche Verhältnisse und die seelische Verfassung seiner Bewohner ist es bezeichnend, daß früh, bald nach 1520, das Gruppenbild aufkam, daß Männer sich zusammentaten, als Gemeinschaft, in demokratischer Gesinnung, Bildwürdigkeit beanspruchten. Unter den Zeichnungen, die wir von Lucas besitzen, gibt es wenige Bildnisse, und diese wenigen sind fast alle um 1520, wahrscheinlich in Antwerpen entstanden. Wie Dürer und angeregt durch ihn fand Lucas in der Fremde, in der bewegten Luft Antwerpens, Lust, Mut und Gelegenheit, zu Bildnis-Aufnahmen. Eine Anzahl von Kreidezeichnungen, annähernd in halber Lebensgröße, ist erhalten, 4 Männer, davon 2 im Louvre, je einer in Stockholm und in Leiden, 3 Frauen, davon 2 im Louvre, 1 in Weimar. Von diesen Blättern sind 2 datiert 1 5 2 1 , die übrigen stilistisch mit den datierten verwandt, sind zur selben Zeit entstanden. Über diese Zeichnungen, über ihr Verhältnis zu denen Dürers, spreche ich an anderer Stelle. Hier dienen sie als Maßstab bei der Bemühung, Bildnisgemälde dem Meister zu geben oder zu nehmen. Nicht mehr als ein Männerportrait, nämlich das in der National Gallery zu London, und ein Frauenportrait, das vor wenigen Jahren in die Rotterdamer Sammlung van Beuningen gelangt ist, halten bei strenger Prüfung und Vergleichung mit den Zeichnungen Stand, abgesehen von den Bildern aus früherer Zeit, dem Braunschweiger Selbstbildnis und dem Männerportrait in der Sammlung Baron Thyssen zu Lugano. Als hervorstechende Besonderheiten der Zeichnungen notiere ich: Schultern und Kopfbedeckung breit entwickelt, zum Ausdrucke selbstbewußter Stattlichkeit. Die Nase bei halber Seitenansicht zu stark ins Profil gestellt. Die Augen mit unsicherem Blick, ein wenig schielend. Die Lippenlinie reich bewegt. Die Männer lebhaft, temperamentvoll, die Frauen ernst und etwas besorgt. BILDNIS E I N E S M A N N E S London, National Gallery, 38 X 35 cm

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In der annähernd quadratischen Tafel wird über dem unteren Rand eine Hand sichtbar, die ein Papierblatt hält, mit der Zahl 38, das Lebensalter des Dargestellten 61

verratend. Der Kopf wirft seinen Schatten auf den Grund, von dem sich das scharf beleuchtete Fleisch hell, das schwarze Gewand, sowie die Kopfbedeckung dunkel abheben. Dies eine in Antwerpen beliebte Bildform, die namentlich Joos van Cleve verwendet hat. Ein Argument dafür, daß dieses Bildnis 1520 oder 1 5 2 1 in Antwerpen entstanden sei. Die Augen blicken ein wenig aufwärts. Die Pupillen werden oben von den Lidern überschnitten, während sie unten in ihrer Kreisrundung sichtbar bleiben. Das Fleisch elfenbeinartig glatt. Die Zeichnung des Antlitzes, die reine Grenze auf der beleuchteten Seite, sowie die reich bewegte Lippenlinie von subtiler Feinheit. Der steile Kopf ist beseelt mit gesammeltem Ernste. Verglichen mit dem malerisch mürben Vortrag, der dem 1 5 1 1 entstandenen Bildnisse, dem in der Thyssen-Sammlung, eigen ist, zeigt dieses um 1520 ausgeführte Portrait eine dringliche, Einzelheiten der Form aufspürende Schärfe, eine vertriebene, geglättete Farbe. 49 BILDNIS E I N E R F R A U Rotterdam, Sammlung van Beuningen; 26 X 24 cm

Erwünschte Sicherheit vor diesem einzigen bekannten gemalten Frauenportrait des Meisters gewinnen wir, indem wir vergleichende Blicke auf die im Louvre und in Weimar erhaltenen Zeichnungen werfen. Die annähernd quadratische Bildfläche, die weit voneinander abstehenden Augen, die etwas zu stark profilierte Nase, die Zeichnung des Mundes mit der linienhaft betonten Grenze zwischen Ober- und Unterlippe, endlich der seelische Ausdruck, der zwischen Versonnenheit und bekümmerter Strenge zu pendeln scheint: alles aussagend, die Antorschaft bekräftigend. Das Licht spielt auf dem Antlitze, dient nicht ausschließlich der Modellierung. DIE K A R T E N P A R T I E London, Kunsthandel (1936); 5 5 x 6 1 cm

Diese jüngste unter den vier Szenen gesellschaftlichen Treibens war erst im Münchener, dann im englischen Handel. Der gegenwärtige Eigentümer des Bildes ist mir unbekannt 28 . Fünf Männer und drei Frauen, versammelt um einen Tisch, auf dem Münzen liegen, Halbfiguren. Kräftige Staffelung der Gestalten im durchgebildeten Stubenraume. Zudringliche Vertraulichkeit der am Spiele beteiligten Gäste. Die Gruppierung mit Vor- und Hintereinander sowie die Männertypen mit mächtigen Hakennasen und vorspringenden Kinnknochen, erinnern an den Kupferstich „Virgil im Korbe". Auch dort die agressiven Profile der Köpfe. Da jener Stich 1 5 2 5 datiert ist, mag das Gemälde ungefähr in diesem Jahre entstanden sein. Ein Rückblick auf die älteren Bemühungen, die Stimmung geselliger Unterhaltung und des Spieleifers zu treffen, läßt das Vordringen erkennen in Richtung 28

Anm. d. Hrsg.: Kress Collection, Washington, Nat. Gallery. Als eigenhändige Arbeit zweifelhaft, vermutlich Kopie eines verschollenen Werkes Lucas'.

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auf das holländische Genrebild des 17. Jahrhunderts. Genrethemen kamen schon im 1 5 . Jahrhundert auf, es dauerte aber geraume Zeit, bis daß Geist und Stimmung im Tafelbilde profaniert wurden. Die Gemälde, die wir von Lucas besitzen, gestatten lehrreich diesem Prozeß der Verweltlichung zu folgen. In seinem letzten Genrebilde sind Gier und Willensdrang beim Spiele im Physiognomischen kräftig zum Ausdruck gebracht. Unzweifelhaft, daß die gefährliche Lehre, die vom Süden eindrang, den Bruch mit der heimischen Vergangenheit erleichterte und wenigstens dem niederländischen Portrait, der Landschaft, dem Stilleben und Genre zu Freiheit und Größe verhalf. Der erste Blick eines Niederländers auf italienische Kunst lehrte: man kann es anders machen, als bisher — und daraus ergab sich der Mut, Vätern und Ahnen zu widersprechen. DER HL.

PAULUS

Amsterdamer Kunsthandel (de Boer); 3 1 , 3 X 23 cm

Fragmentarisch erhalten, der Apostel in Halbfigur, stehend mit dem Schwert in seiner Rechten, dem Buch in der Linken, in weißer Gewandung. Die Figur ist halbseitlich gewendet, das Antlitz aber nach vorn gedreht. Hohe, viereckige Stirn, finster verkniffene Augen, ein mächtiger, lockiger Vollbart, der den M u n d fast völlig bedeckt, geben dem Apostel ein mißtrauisches und leidenschaftliches Aussehen. Die lasierende Malweise läßt vielfach Vorzeichnung durchscheinen. U m 1 5 2 6 mag dieses Bild entstanden sein 29 . F L Ü G E L A L T A R , DAS J Ü N G S T E G E R I C H T

50-53

Leiden, Museum Lakenhai; 2 7 1 X 1 8 5 — 7 6 cm

Der Auftrag, diesen für holländische Verhältnisse mächtigen Altar auszuführen, beweist, welches Ansehen sich Lucas als Maler in seiner Stadt erworben hatte. W i e Dülberg 30 wahrscheinlich gemacht hat, ist das seit 1 5 7 7 im Stadthause, jetzt im städtischen Museum aufgestellte Triptychon identisch mit dem 1 5 2 6 für eine Kapelle der Peterskirche von dem Schöffen Claes Diericksz. gestifteten Altarbilde. Jedenfalls bestätigt der stilkritische Befund den Zeitpunkt. Engelbrechtsen war damals erst 5 8 J a h r e alt, aber, wie ein Blick auf seine in demselben R a u m aufgestellten Altäre erkennen läßt, in jener schnellebigen Zeit veraltet. Deutlich merkt man, wie bewußt Lucas Abstand genommen hat von dem Vorgänger, stolz darauf, sich von der Überlieferung gelöst zu haben. V o n Engelbrechtsen kommend, treten wir aus dunkler Stube ins Freie. 29

30

Anm. d. Hrsg.: abgebildet im Katalog der Ausstellung J . Bosch etc. Rotterdam 1936, Nr. 84. — Eine weitere Darstellung des hl. Paulus in ganzer Figur von vorn, wohl von Lucas van Leyden, befand sich nach dem zweiten Weltkrieg in amerikanischem Privatbesitz (Mitteilung von W. R. Valentiner). Unter Benutzung des Holzschnittes von Hans Baidung Grien (Geisberg 93, hl. Philippus) im Gegensinn. Dülberg, Repertorium für Kunstwissenschaft X X I I (1899) S. 30 ff.

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Das Thema, soweit es kirchliche Gesinnung erforderte, lag dem Meister nicht recht. Das „Jüngste Gericht", das die Niederländer gewohnt waren, in ihren Rathäusern zu erblicken, als warnendes Symbol und Vorbild weltlicher Rechtspflege und irdischer Gerechtigkeit, hatte schon ein wenig eingebüßt an religiösem Gehalte. Für Lucas ergab sich Anlaß und Gelegenheit, mit Herrschaft über den nackten, bewegten Menschenleib zu imponieren und sich dabei an der nach Meinung der Aufgeklärten und Vorgeschrittenen höchsten Aufgabe zu bewähren. Wie so oft, ging des Meisters Konzeption vom Örtlichen aus, wobei sich einige Verlegenheit ergab, da nicht ein begrenzter Raum, vielmehr das All, der Erdball zu veranschaulichen war. Die Komposition, der vielfach gestufte Maßstab der Figuren, die Kahlheit und Leere der hohen Bildflächen, das kühle, lichte, schillernde Kolorit, sowie die leicht gebogene Horizontlinie, die Kugelform der Erde andeutend, alles trägt dazu bei, den Eindruck grenzenloser Weite hervorzurufen. Die Auferstandenen sind locker über die kahle Ebene verteilt. Die weißliche Himmelsfläche wird unterbrochen durch die dunklen Flecke der relativ klein, hoch oben auf Wolken erscheinenden Apostel, des in der Mitte thronenden Heilands und der fliegenden, Posaunen blasenden Engel. Groß, nahe, vorne Frauen und Männer, die von Engeln geleitet oder von Teufeln gepackt und dem Höllenrachen übergeben werden. Die Komposition geht nahtlos vom Mittelbild auf die Flügel über. Das im Schriftwesen spukende Urteil über den Zustand des Triptychons, das „verdorben", gelegentlich „ g a n z " übermalt genannt wird, hat den Ursprung in der Schwierigkeit, sich mit dem Eindrucke abzufinden. Das Hauptwerk des berühmten Meisters ließ obligatorische Preisung schwer über die Lippen kommen. Man fühlte die Verpflichtung für den Meister einzutreten, ihn zu entschuldigen und half sich mit dem Gerede von schlechter Erhaltung. Auch die ungewohnte Malweise, die Lucas wählte, um die weiten Flächen zu bewältigen, dieser lasierende Auftrag, der vielfach die Aufzeichnung durchscheinen läßt, mag die falsche Meinung gefördert haben. In Wahrheit ist nichts übermalt, war auch nichts übermalt mit Ausnahme des Gottvaters ganz oben, der vor kurzem wiederaufgedeckt worden ist. Wir versagen dem strebenden Meister unsere Anerkennung nicht. Der erkältende Hauch aber, der von dem ambitiösen Werk ausgeht, sollte nicht verheimlicht werden. Der schreckende und erlösende Ruf des jüngsten Gerichtes bleibt aus. Wir erblicken Posen, akrobatisch agierende Leiber, die Verzweiflung und Seeligkeit zeigen. Gefallsüchtig wenden mehrere Gestalten den Blick auf den Beschauer. Befremdend, wie die Seeligen und Verdammten in ihrer Lage daran denken, uns mit weisenden Fingern etwas mitzuteilen. U m die großen Figuren in Bewegung zu setzen, hatte Lucas Erdenschwere zu bekämpfen, was ihm einigermaßen gelungen ist, wenngleich der Fluß der Aktion hier und dort stockt, und die Erinnerung an einzelne Aktstudien nicht getilgt ist. Der Entstehungszeit gedenkend, staunen wir, wie weit sich der Meister vorgewagt hat. Das Pathos des Jüngsten Gerichtes aus dem Gedränge nackter Leiber zu gewinnen, lag in der Absicht. Stürmische Gewalt freilich im Steigen und Fallen 64

der Auferstandenen wird nicht fühlbar. Wie beflissen Schrecken und Höllenpein in den Köpfen ausgeprägt erscheinen, wie heftig die tierisch gebildeten, giftig gefärbten Teufel zupacken, die Wirkung, die Hieronymus Bosch erreicht, bleibt dem nach den höchsten Kränzen langenden Leidener Meister versagt, vermutlich auch deshalb, weil seine Gläubigkeit durch neuzeitlichen Rationalismus geschwächt war. Der Renaissance-Geist mit dem Kultus des Leibes war im Irrtum, als er im Jüngsten Gericht ein ihm gemäßes Thema zu ergreifen wähnte. Selbst einem Michelangelo geht die Rechnung nicht auf. Die ungewohnten Dimensionen, sowie das Befürfnis, mit strahlender Helligkeit im dunklen Kirchenraume sich zu behaupten, haben die Malweise bestimmt. Die Farbe ist weitflächig, flüssig, und dünn aufgetragen, wenn auch einige Teile, wie das Zierwerk der Kleider präzis und subtil ausgeführt sind. Außen auf den Flügeln die Apostel Petrus und Paulus. Stärkere Farbigkeit in den Gewändern, begrenzter landschaftlicher Raum und zuständliches Sitzen: hier vermochte Lucas leichter als auf der Innenseite seine Fähigkeiten mit der erstrebten Monumentalität in Einklang zu bringen. Ein Typenschöpfer war er nicht. Die Glaubensstreiter, die sich wild gebärden, deren Aufregung aber nicht recht motiviert erscheint, sind hauptsächlich durch Bartwuchs charakterisiert. Die groß gesehene, stimmungsstarke Landschaft überrascht. Des Meisters Sinn für den landschaftlichen Raum, in den Stichen der Frühzeit produktiv, später verdrängt, hier wieder spontan am Werke. DIE K R E U Z I G U N G

CHRISTI

Verona, Museo Civico; 5 0 x 4 5 cm

Diese originell komponierte, ungewöhnlich dramatische Tafel ist des Zustandes wegen schwer zu beurteilen. Die Männertypen mit den steilen Profilen, dem harten Kinn, die weisende Hand des den Rücken zeigenden Befehlshabers, die erregende Bestrahlung zeugen, wie ich glaube, für ein Original, das um 1527 entstanden sein müßte. Lucas hat die Passion sonst nie mit so gesammelter Energie dargestellt — zu erregender Wirkung 31 . CHRISTUS AM

ÖLBERG

Schloß Wissowitz in M ä h r e n ; 48 x 38 cm

Das Bild, auf das Frimmel 32 die Aufmerksamkeit gelenkt hat, soll echt signiert und 1517 datiert sein. Ich urteile aber über Autorschaft und Entstehungszeit ohne jede Sicherheit, da ich das Origenal nie gesehen habe und auf mäßige Abbildungen angewiesen bin 33 . 31 32 33

A n m . d. Hrsg.: doch wohl von anderer Hand. Frimmel, Blätter für Gemäldekunde Heft 2 (1907) S. 34. A n m . d. Hrsg.: Zuschreibung fraglich.

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MOSES SCHLÄGT WASSER AUS DEM FELSEN Nürnberg, Germanische Museum Nr. 8o 34 ; 195X 240 cm

Dieses einzige erhaltene, mit Wasserfarbe auf Leinwand gemalte Bild des Meisters, das sich bis 1891 in der Borghese-Galerie zu Rom befand, ist signiert und 1527 datiert. Der Zustand relativ, nämlich für ein Gemälde dieser Technik, günstig. Die auf lebhafte Bewegung gerichtete Tendenz hat zu krampfigen Drehungen der Leiber, Verkürzungen und Überschneidungen der Glieder, geführt. Nur Moses und seine Begleiter, reich und fremdartig gekleidet, stehen aufrecht in fest geschlossener Gruppe. Die entscheidende Tat, die Wundertat, ist nicht recht verbildlicht, mehr ihr Erfolg, ihre Wirkung, Gier und Eifer, mit der die durstigen Männer Frauen und Kinder das Labsal in Krügen, Kannen, Flaschen und Fässern bergen oder genießen. Den Instinkten und Trieben der Menge wird die Teilnahme zugewendet. Namentlich an die Kinder, wie so oft, hat der Meister gedacht. Bei genauer Prüfung des düsteren und fleckigen Bildgesamts wird genaue Durchbildung aller Einzelheiten erkennbar. Das Kompositum, mit einer Zäsur in der Mitte, ist namentlich durch Kontraste von Hell und Dunkel gegliedert. Etwas barbarischer Aufputz gehört in des Meisters Vorstellungen zu den Begebenheiten, von denen das alte Testament berichtet. Die irritierende Unausgeglichenheit beruht auf dem Kampfe des Malers mit dem Kupferstecher, auf jenem inneren Streite, der im Schaffen des Meisters nie zum Ausgleiche gekommen ist und sich, bald in dieser, bald in jener Weise äußert. Mit der „malerischen" Konzeption verträgt sich schlecht die kleingliederige Ausarbeitung der Einzelheiten. DER BAGCHUSKNABE M I T ZWEI GESPIELEN Luzern, Kunsthandel36; 1 8 x 2 6 cm

Dies dem Thema nach im Malwerke des Meisters einzigartige Bild, das mir vor wenigen Jahren im Kunsthandel gezeigt wurde, ist ein verwegener Schritt zum mythologischen Genre. Drei nackte Buben von kindlicher, aber massiger Leiblichkeit, im Freien. Die Körper hell auf dunklem landschaftlichen Grunde. Bacchus trunken, gelagert, an eine große, runde Flasche gelehnt. Zu ihm beugt sich ein gleichaltriger Bacchant und drückt ihm Weinlaub aufs Haupt. Links steht ein dritter Knabe, der den Arm in die Tiefe streckt, um Laub zu pflücken. Die Gruppe in ein Dreieck gefügt, dessen längster Schenkel in der Diagonale der Bildfläche liegt. Die Körper, kuglig im Raum, erinnern an den Kupferstich (B. 165 von 1527), den mit den kriegerischen Knaben; die Form und das spiralig kreisende Ornament der Flaschen wie in dem Helme, den jene Buben tragen. Die Möglichkeiten der Pinselkunst ausnutzend, accentuiert der Meister mit den Gegensätzen von Hell und Dunkel. So liegt der Kopf des stehenden Bacchanten im Schatten, während sein 34 36

Anm. d. Hrsg.: jetzt im Museum Boston/Mass. Anm. d. Hrsg.: Paris: Leegenhoek 1961. — Zuschreibung wohl fraglich.

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Körper mit bewegten Umrissen kräftig herausgerundet ist. Die Hauptfigur wird partiell vom Lichte getroffen, zumal der kugelige Kopf mit offenem Mund und winziger Nase, auch der eine Arm, der eine Oberschenkel, indessen die Füße im Dunkel verschwinden. Die schwellenden Leiber, mit Verdeckungen und Überschneidungen, in Gossarts gereiftem Stil, aber helldunkelhaft in höherem Grade. Zum Teile mag der Erhaltungszustand für die ungewöhnliche Verschummerung der Farbfläche verantwortlich sein. 55

DIE H E I L U N G DES BLINDEN V O N J E R I C H O Leningrad, Ermitage; 1 1 7 X 149 cm (von Holz auf Leinwand übertragen) Die abgetrennten und beschnittenen Außenflügel 89 X 34 cm

Ursprünglich ein Triptychon. Die Innenseiten der Flügel wurden mit dem Mittelbilde, bei der Übertragung der Tafeln auf Leinwand, vereinigt, die Außenseiten erheblich verkleinert, wobei das Datum 1531, das van Mander dort gelesen hat, verlorenging. Die Geschichte dieses Werkes ist aufgeklärt worden 36 . Den Wappen nach, die auf den Außenseiten sichtbar sind, ist es im Auftrage von Jacob Florisz. van Montfoort und seiner Gattin Dirckgen van Lindenburgh geschaffen. U m 1600 erwarb es Hendrick Goltzius zu einem hohen Preise. Bei ihm bewunderte es van Mander und beschreibt es mit ungewöhnlicher Ausführlichkeit. Im 18. Jahrhundert kam der Altar in den Besitz Crozats nach Paris, von dem ihn die Kaiserin Katharina II. erwarb. In Rußland hatte er allerlei zu erdulden. Die Außenflügel wurden der kaiserlichen Galerie entfremdet, 1886 wieder aufgefunden und zurückgekauft. Eine gute, alte Kopie im Suermondt-Museum zu Aachen — mit Unrecht „Jan van Scorel" genannt — hilft uns kontrollieren, wieweit der ursprüngliche Zustand in Leningrad erhalten ist: Die figurenreiche Komposition erstreckte sich schon vor der Übertragung auf Leinwand ohne Unterbrechung über die Mitteltafel und die Flügel. Die überlieferte Triptychon-Gliederung war für das neuzeitliche Raumgefühl eine zu überwindende Schranke. Vor dunkler Waldwand ein Gedränge von Männern, Frauen und Kindern, mit gelockerter Symmetrie gegliedert, eine dichtverflochtene Figurenhecke in Erregung, die sich in heftigen Gesten äußert. Einige Gestalten, mehrere Köpfe und weisende Hände werden blitzartig herausgehoben, andere in Dunkel getaucht. Mit dem Lichte komponierend und accentuierend, schlägt Lucas die Bahn zum Helldunkel ein. Im Zentrum lockert sich die Figurenmasse, macht ehrfürchtig der Hauptgruppe Platz, dem Heilande, der dem Blinden das Augenlicht zurückgibt. Der Blinde wird von einem Knaben geleitet. Der Zusammenhang zwischen den mannigfaltig bewegten Männern, Frauen und Kindern ist dadurch gesichert, daß ein Eindruck, ein Gefühl alle beherrscht, daß sie, einander auf das Geschehnis aufmerksam machend, die breite Bühne in ein und derselben Tiefenschicht lückenlos füllen. Wir erleben das Wunder, indem wir das Staunen wahrnehmen, das durch das Wunder geweckt wird. 36

Vgl. jV. Beets, Oud Holland X X V I I I (1910) S. 1 5 5 f r .

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Das Kostüm zum Teil fremdartig, mit Turbanen, deutet den Orient und zeitliche Ferne an. In der tief gestimmten, sonor mitklingenden Landschaft ragen Laubmassen mit stark bewegten, zackigen Umrissen empor. Dahinter lichtes Hochgebirge. Zu denken gibt, daß sachkundige Beobachter die alte, vortreffliche und ziemlich getreue Kopie, in der nur die Landschaft etwas verändert ist, die im Museum zu Aachen bewahrt wird, (Nr. 472) für J a n van Scorel in Anspruch nehmen konnten. Der Gedanke, daß dieser selbständige Meister nach 1 5 3 1 , dies wäre in voller Reife, des Leideners Altar kopiert habe, paßt ganz und gar nicht zu unserer Vorstellung von seiner Schaifensweise. Was an J a n van Scorel in der Kopie erinnert, ist im Originale zu Leningrad nicht weniger wirksam. Wir rechnen mit der Möglichkeit, daß der wandlungsbereite und neubegierige Lucas, wie von Dürer, von Gossart, von Marcanton, so auch von Scorel Anregungen empfangen habe, zumal der aus dem Süden heimgekehrte Utrechter sich hohen Ansehens erfreute und, was monumentale Altarmalerei betrifft, um 1530 als der Erste, der Zeitgemäße und Maßgebende galt. Rivalen mit ihren Waffen zu bekämpfen, ihnen die Mittel der Wirkung abzusehen: diese Neigung war dem Leidener in hohem Grad eigen. Im Gegensatz zu J a n van Scorel, der zur selben Zeit Ähnliches anstrebte, war Lucas in diesem Werke, das als sein letztes Wort zu uns dringt, darauf bedacht, die Einzelheiten der Form eingehend durchzubilden. Er ist reicher in der Typik als van Scorel, er kann sich nicht genugtun im Zerspalten und Verschnörkeln, wodurch eine erregende Mannigfaltigkeit entsteht, die der im Sinne der Zeitstufe angestrebten Monumentalität widerstreitet. Der Kupferstecher greift immer wieder ein. Außen auf den Flügeln, jetzt auf abgetrennten, einzelnen Tafeln, ein Landsknecht und eine reich gekleidete Frau, je ein Wappen an langen Bändern haltend. In Nischen stehend, in dekorativ flächenfüllender Anordnung, verraten diese festlichen Herolde, unmotiviert bewegt, mit dem Übermaße flatternder Gewandzipfel eine späte Neigung zu effektstarker Dekoration. Ein Rückblick auf die, so gut es gehen wollte, zeitlich gereihten Gemälde hinterläßt, wie zu erwarten stand, einen unbefriedigenden Eindruck. Das Ganze zeigt nicht die Geschlossenheit, die Logik des Ablaufs, die den Stilkritiker für seine Mühe belohnt und Bedenken verscheucht in bezug auf einige Glieder der Kette. Abgesehen von den drei durch van Manders Text beglaubigten Werken, fehlt es nicht an Bildern, die nach Vergleichung mit Kupferstichen ohne Sorge aufgenommen und auch datiert werden konnten. Dies sind namentlich die folgenden: 1. Die Enthauptung des Täufers — Philadelphia, Sammlung Johnson — um 1509 2. Die Kartenpartie — Wilton House, Sammlung Earl of Pembroke — um 1515 3. Hl. Hieronymus — Berlin, Gemäldegalerie — um 1520 4. Die Madonna mit Engeln — Berlin, Gemäldegalerie — um 1520

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5. Die Madonna in Halbfigur — Amsterdam, Rijksmuseum (aus Samml. 42 Schloß, Paris) — um 1521 6. Moses Wasser aus dem Felsen schlagend — Boston, Museum — datiert 1527 43 7. Die Madonna in Halbfigur — Oslo, Museum — um 1528 Das Männerportrait in der National Gallery zu London ist mit Hilfe der Por- 48 traitzeichnungen von 1521 jedem Zweifel zu entheben 37 . Alle übrigen Bilder, die ich eingeordnet habe, bleiben mehr oder weniger problematisch, bedürfen einer Verteidigung, die unvermeidlich advokatisch ausfallt, mit Hinweis auf den erstaunlichen, sprunghaften Wandel der Auffassung und der Formensprache, der in der Reihe der gesicherten Kupferstiche beobachtet wird. Wir sind um den Nachweis bemüht, daß sich Lucas, der mit der Sehweise des Malers zu stechen begann, zeitweilig, episodisch im Malwerke von der Gewohnheit des graphischen Vortrages löste, so in hohem Grad in der Zeit um 1511, in der die folgenden Bilder entstanden: 36 1. Das Selbstportrait in der Galerie zu Braunschweig 1511 (?) 2. Das Männerportrait in Lugano, Sammlung Baron Thyssen-Bornemisza — 37 datiert 1511 3. Das Triptychon mit der Anbetung der Könige in Philadelphia, Dr. Barnes- 38 Sammlung, 1512 (?)

Der Rest der Bilder wird, nicht ohne Bedenken, dem Gerüst eingefügt, das durch die gesicherten und zeitlich fixierten Monumente aufgerichtet ist. Einige der am Baume des Grabstichelwerkes locker sitzenden Gemälde mögen bei stilkritischem Schütteln zum Abfallen gebracht werden können. Der Umstand, daß wir von zwei Söhnen Engelbrechtsens, die mit Lucas van Leiden etwa gleichaltrig waren, wissen aber nichts sehen, trägt dazu bei, unsere Skepsis zu steigern. Sorge macht der hl. Antonius in Brüssel, namentlich so lange man an dem inschriftlich gegebenen Datum 1511 festhält. Nicht nur daß die Bosch'artigen Monstergeschöpfe fremdartig wirken, dem Bewegungsmotiv der massigen Gestalt des Heiligen sowie der Freiheit des malerischen Vortrags nach, mag dieses Bild eher um 1518 als um 1511 entstanden sein. Es gibt kaum zwei Bilder des Meisters, die in der Malweise völlig übereinstimmen. Pinselführung und Kolorit, verwirrend wandelbar, und von einer Verschiedenartigkeit, die nicht ausreichend durch das Anders-Sein des Formates, des Maßstabes oder der Zeitstufe erklärt werden kann. Die spitzpinselige Schärfe und Härte, die primitive Lokalfarbigkeit weichen um 1511 einem weitflächigen Vortrage. Dann wieder Bilder von glasig leuchtendem Kolorit, präziser Zeichnung und kühler Buntheit. Schließlich dünnflüssige, transparente Farbschichten, eine Malweise, die sich großen Dimensionen anzupassen 37

Anm. d. Hrsg.: Nach Abfassung seines Textes hat Max J . Friedländer noch das von van Mander erwähnte Triptychon mit dem Tanz um das goldene Kalb identifiziert, das vom Rijksmuseum in 54, 58 Amsterdam erworben worden ist. Außerdem sind hier noch zwei stattliche Schreiben mit dem Urteil Salomos und Esther vor Ahas- 56, 57 ver abgebildet, die, jüngst aufgetaucht, von Friedländer als Arbeiten des Lucas van Leyden von besonderer Wichtigkeit bezeichnet worden sind.

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trachtet, sowie ungemein dichte Figurengruppen mit schroffen Kontrasten von Hell und Dunkel. Konsequenz ist dem Hin und Her nicht nachzusagen. Lucas scheint als Maler keiner Methode vertraut und nicht aufgehört zu haben, zu experimentieren. Genügsame, handwerkliche Gleichmäßigkeit stellt sich nicht ein. Auffällig zumal, daß Lucas sich nicht einmal in der Jugend, in welcher Zeit es zu erwarten ist, nach der Malweise und dem Kolorit Engelbrechtsens richtet, dessen schlagkräftige und schleunige Malweise mit hellen und dunklen Druckern, Tupfen und Flecken, dessen harmonisch warme Farbe ihn nicht zur Nachahmung angeregt zu haben scheint. Die strähnigen, blitzenden Züge, mit denen Engelbrechsen eine dekorativ reiche Wirkung erzielt, haben ihn nicht verlockt. Anregungen, die er von fremder Kunst empfangen hat, wurden ihm überwiegend durch das Schwarz-weiß vermittelt. Bereit zu lernen war Lucas, was Formensprache, Grabstichelführung und im Besonderen die Bewegungsmotive betrifft; in seiner Malweise dagegen schloß er sich nirgends an fremde Vorbilder an, auch nicht an das J a n Gossarts. Höchstens, daß der aus Italien heimgekehrte J a n van Scorel ihm den Mut gestärkt hat zu breitem und freiem Pinselzuge. Wer sich die Entwicklungstheorie zu eigen macht, die Sjöblom in seinem oben zitierten Buche mit dringlicher Einseitigkeit vorträgt, muß feststellen, daß Lucas zwischen 1 5 1 1 und 1516 auf dem Wege des Heils kräftig voranschreitet, danach rückwärts geht, um am Ende auf anderer Ebene, sich wiederum als Kolorist — im Sinne der neuen Zeit — auszuzeichnen.

ZWEIFELHAFTES

Die folgenden Bilder kommen kaum als Originale in Betracht. DAVID UND ABIGAIL New York, Kunsthandel (?)

Ein Gemälde, das wenigstens in der Erfindung von Lucas herrührt, sogar besonders lehrreich aussagt, ist mir in Photographie 1913 aus New York bekannt gemacht worden. Das Bild selbst habe ich nie gesehen und vermag über die Qualität nicht zu urteilen. Die um 1522 entstandene Komposition mit derjenigen, des um 1508 entstandenen Stiches (B. 24), wo derselbe Vorgang dargestellt ist, zu vergleichen, erscheint aufschlußreich. Viel Beobachtetes wird dabei bestätigt. Dort Hochformat, steil gestaffelte Figurengruppe, hier renaissancehaft Breitformat, glücklich fließende Reihung der Gestalten. Dort, undeutlich, Abigail in der Ferne und Tiefe, David mit seinem Begleiter auf unwegsamem, steinigem Terrain, hier die Frauen, wie der König auf planem Boden vorn, in ein und derselben Bildschicht. Dort gehemmte, gehinderte Bewegung, hier lebhafte Aktion auf der einen, Ruhe auf der anderen Seite. Dort schreitet der Page mit dem Schwert, hier läuft er. In der Jugend komponiert der Meister in der Richtung nach oben und in die Tiefe, später in die Breite. Das von Franz Wolter38 publizierte Gemälde, der Sieger David von Frauen begrüßt, das sich gegenseitig verhält zu dem bekannten, mehrfach kopierten Stich von Saenredam, mag das Original sein. Ich kenne das Bild nicht, weiß auch nicht, wie ich es kennenlernen könnte, da der Publikator nur verrät, es befinde sich „in einer märchenhaften Einsamkeit des stillen Landlebens in Privatbesitz". Ein leistungsfähiger Werkstattbetrieb vertrug sich schwerlich mit dem eigenwilligen Ehrgeize des Meisters. Das professionelle Kopierwesen war in Leiden nicht so ausgebildet, wie etwa in Antwerpen. Repliken seiner Kompositionen sind nur in geringer Anzahl erhalten. Die Bemühung nach Art der Archäologen aus erhaltenen Kopien auf verlorene Originale zu schließen, dürfte in unserem Falle wenig durch Erfolg belohnt werden. Eine Anbetung der Könige, die deutlich die Herkunft von Lucas verrät, scheint sich besonderer Beliebtheit erfreut zu haben. Sie kommt in vielen Kopien vor, so in den Museen zu Karlsruhe, Mainz, und Schieissheim. Eine befand sich in der 38

Franz Wolter, Oud Holland X L I I I (1926) S. 228 ff. 71

Galerie zu Sigmaringen, eine andere in der Sammlung des Königs Wilhelm von Holland (jetzt in einer Privatsammlung zu Stockholm). Auch bei der Auktion der Sammlung de la Faille (Amsterdam 1903) und 1938 im Berliner Kunsthandel sind Exemplare dieser Komposition aufgetaucht. Breitformat. Die Madonna in der Mitte, auseinandergezogene Gruppierung der in einer Bildschicht geordneten Figuren. Der älteste König, uns den Rücken zukehrend, kniend, der zweite unbequem mit einem Beine kniend, das andere seitlich abstreckend, der Neger links stehend, je ein Diener rechts und links am Rande, Joseph im Hintergrunde. Das Original mag um 1522 entstanden sein. Von Gemälden, die an die Gestaltungsart des Meisters erinnern, möchte ich noch auf die Folgenden aufmerksam machen: 1. Die Madonna in Halbfigur auf dunklem, neutralem Grunde — Köln, Kunstgewerbemuseum (Sammlung Clemens). Stil von 1528 etwa. Genau wiederholt, mit hinzugefügtem Josef und landschaftlichem Hintergrund im Privatbesitze zu Zürich. Die Komposition geht offenbar auf Lucas zurück. 2. Salome mit dem Kopf des Täufers auf der Schüssel in Halbfigur— London, Kunsthandel (Agnew). Stil von 1520 etwa. Vielleicht Original. 3. Christus und die Ehebrecherin — Berlin, Sammlung Gräfin Redern. Komposition durchaus im Geiste des Meisters. Vielleicht beschädigtes Original. 4. Christus mit den Jüngern, Fragment — London, Sammlung Sir Alee Martin. Stil von 1530 etwa. 5. Flügelaltar, die hl. Familie, links Stifter (?) mit einer weiblichen Heiligen, rechts der Evangelist Johannes — Antwerpen, Museum (neuere Erwerbung). Wohl von einem Nachahmer des Meisters. Der Vanitas-Gedanke bot Gelegenheit oder Vorwand, wie zu Stilleben, so zu genrehaften Gesellschaftsszenen. Stilleben mit Totenschädeln und anderen Symbolen des Todes waren noch im 17. Jahrhundert begehrt. Lucas hat das moralisierende Genre gepflegt, an die Unsicherheit, Fragwürdigkeit und Vergänglichkeit des Lebens erinnert, indem er den überall lauernden Knochenmann auftauchen ließ und den Narren, der die Unbeständigkeit des Erdenglückes verkündet. Mindestens sind uns in Nachbildern solche Erfindungen von ihm erhalten. 6. Vanitas-Allegorie. Ein Jüngling am Speisetisch in Gesellschaft junger Frauen, dabei ein Narr, der Tod hinter einem Baum, eine Frau mit dem Totenschädel auf einer Schüssel. Bildidee und Typik ganz in des Meisters Manier — Amsterdam, Kunsthandel (Paech)39. 7. Vanitas-Allegorie. Ein Jüngling mit den Personifikationen des Teufels und des Todes. Dabei ein Narr und eine junge Frau — Paris, Kunsthandel (Kleinberger 1906). Wohl Kopie von Nr. 6.

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Anm. d. Hrsg.: Nachzeichnung im Kupferstichkabinett, Berlin.

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DIE ZEICHNUNGEN Wir glauben, etwa 35 Zeichnungen von des Meisters Hand zu besitzen, und schmeicheln uns mit der Hoffnung, aus ihnen, wie aus einem Tagebuche, Persönliches und Intimes zu erfahren. Nun sind uns aus dem „Tagebuche" nur wenige Seiten erhalten. Immerhin, wenn wir mit Vorsicht die Zeugen befragen, mag es gelingen, etwas über die Arbeitsweise des Meisters festzustellen und die bei Betrachtung der Stiche und der Gemälde gewonnene Einsicht zu ergänzen. Die Zeichnungen sind verschieden voneinander, in Anbetracht der technischen Mittel — Feder, Metallstift, Kreide — , ferner weil sie keineswegs gleichzeitig entstanden sind, endlich, was jeweils die Absicht des Zeichners betrifft. Wir finden Naturstudien, Kompositionsentwürfe, Portraitaufnahmen, sowie Visierungen, also genau anweisende Vorlagen, etwa für Glasmalerei. Anzunehmen ist, daß Lucas in seiner Jugend eifrig nach der Natur gezeichnet hat, Landschaftliches und Figürliches. Der Fortschritt, der in den Stichen zu Tage tritt, wäre ohne vorbereitende Übung schwer zu erklären. Wenn Naturstudien, namentlich aus der Jugendzeit, fast völlig verloren gegangen sind, so ist die Ursache davon leicht zu erkennen. Äußerungen eines Meisters, der sich Ansehen erworben hatte, wurden in Ehren gehalten, Kompositionsideen wanderten als hilfreiche Werte von einer Werkstatt in die andere. Indem ich die Zeichnungen, die ich als eigenhändige Arbeiten anerkenne, in der Folge der Entstehung aufzähle, ziehe ich Nutzen aus der meisterhaften Katalogisierung, die Popham 40 den relativ vielen im British Museum bewahrten Blättern gewidmet hat. 1. Kopf eines aufwärts blickenden Burschen — Silberstift (190 X 151) — Berlin, 59 Kupferstichkabinett Nr. 4321. Der kropfartig geschwollene Hals, die gewaltsame Verkürzung, der mürrische Ausdruck lassen diese Zeichnung erkennen als eine um 1508 entstandene Naturaufnahme, die einzige aus so früher Zeit, die mir bekannt ist. 2. Jasons Genossen, als Frauen verkleidet, das Gefängnis verlassend — London, 60 British Museum, Popham Nr. 1, Feder, schwarze und braune Tinte, (282x202). Das entlegene Motiv aus Boccaccios „ D e claris mulieribus" cap. X X I X , novellistisch, abenteuerlich. Nach Pophams Beobachtung liegt der Komposition ein Holzschnitt in Johann Zainers Ulmer Ausgabe des Boccaccio (1473) zu Grunde. Sorgfältige Vorarbeit für einen Kupferstich (?). Zu vergleichen der Kupferstich mit dem hl. Georg. Pophams D a t i e r u n g — 1508 oder 1509 — unbestreitbar. 40

Popham, Catalogue of drawings by Dutch and Flemish artists . . . vol. V (1932) S. 26 ff.

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3. Schreitender Knabe, mit dem Schwert. — Amsterdam, Rijksmuseum, schwarze Kreide, Unterschrift aus späterer Zeit: A° 1510 was Lucas i6Jaren out en maakte de Ecce homo. Diese Mitteilung, an sich von zweifelhaftem Werte, scheint zu sagen: dies ist ein Selbstportrait, so sah Lucas aus 1510, als er den großen Ecce Homo-Stich ausführte. Der Vortrag, spontan, in einem Zuge. Der ritterlich ausgestattete, wie auf der Bühne auftretende Bube: wir können uns sehr gut vorstellen, daß Lucas 1510 so aussah, daß er sich so sah, auch, daß er 1510 so gezeichnet hat. Das Antlitz, flüchtig skizziert, ist mit den bekannten Bildnissen schwer zu vereinigen. Namentlich stimmt der kleine Mund bedenklich. Vielleicht wollte Lucas seine Gestalt, sein Auftreten, sein stattliches Kleid festhalten, ohne Portraitähnlichkeit anzustreben. So mag das einzigartige Blatt zu erklären sein, das so persönlich und zweckfrei erscheint. 4oa

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4. Kopf eines jungen Mannes — London, British Museum, Popham Nr. 2, schwarze Kreide (205 X 164), mit anscheinend echter Signatur. Voll Leben, mit Bravour entworfen, aber unsicher konstruiert. Die Nase zu stark in Seitenansicht, das Auge auf der abgewandten Gesichtshälfte fehlerhaft eingesetzt. Popham denkt an die Zeit um 1508. Angesichts des freien Vortrags und des offenen, seelisch gesunden Ausdrucks neige ich zu Ansetzung in etwas spätere Zeit. Die Sehweise des Malers führt zur Wahl der weichen Kreide. 5. Daniel in der Löwengrube, London, British Museum, Popham Nr. 3, (Rund 227), Feder, braune Farbe, Entwurf für eine Glasscheibe. Mit Unrecht bezweifelt, teilsweise etwas ungeduldig und derb im Vortrag. U m 1512 entstanden. Ähnlich in der Strichführung wie das unter Nr. 6 aufgeführte Blatt. 6. David, den besiegten Goliath enthauptend, London, British Museum, Popham Nr. 4, Pinselzeichnung in brauner Farbe, (272 X 194). Diese Zeichnung, wohl der Entwurf für einen Holzschnitt, erinnert an den Holzschnitt B. 6, mit Simson und Dalila und mag um 1512 entstanden sein. J. Held 41 hat die Beobachtung veröffentlicht, das Motiv des auf der Erde liegenden Riesen stimmte überein mit dem niedergeworfenen Krieger in Burgkmairs Holzschnitt, dem „Liebespaar und der T o d " (B. 40) und daraus den Schluß gezogen, der Augsburger hätte die Zeichnung des Holländers gekannt und das Bewegungsmotiv entlehnt. Weiter ergäbe sich der terminus ante quem für die Zeichnung, da der Holzschnitt 1510 datiert ist. Von vornherein fällt es schwer, zu glauben, daß sich eine holländische Zeichnung in das Augsburger Atelier verirrt habe. Gegen die näher liegende Deutung des Zusammenhanges, daß Lucas den Holzschnitt benutzt habe, spricht die gegenseitige Verwendung des Motivs; dafür aber, daß Lucas etwa zur selben Zeit einen 40a

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Eine ebenfalls frühe Zeichnung Lucas', eine Art Gegenstück zu dem Amsterdamer Blatt, ist jüngst aufgefunden worden und Friedländer unbekannt geblieben: R u g b y (Warwickshire), Rugby School. Ausstellung Amsterdam 1958 „MiddeleeuwseKunst der noordelijke Nederlanden" Nr. 199 Abb. 103. J.Held. Burlington Mag. 1932.

anderen Holzschnitt Burgkmairs benutzt hat — in dem Gemälde bei Frau v. Pannwitz (s. S. 56) — auch sonst gibt es Beispiele dieser Beziehung, schwerlich für die umgekehrte. Eine dritte Erklärung wäre zu erwägen: gemeinsame italienische Quelle. Burgkmairs Blick war eher nach Venedig als nach Leiden gerichtet, und für Lucas erscheint das drastisch dramatische Motiv ungewöhnlich. Für so schlagkräftige Aktion ist fremdes Vorbild zu erwarten. Die hiebartig senkrechten, gleichsam regnenden Züge sind charakteristisch für die Zeitstufe um 1512. 7. Die Beschneidung Christi, London, British Museum, Popham Nr. 5, Pinselzeichnung in dunkelbrauner Farbe ( 1 9 8 x 1 3 9 ) , Anscheinend echt signiert. Vielleicht Entwurf für einen Kupferstich, routiniert, in monotonem Duktus gezeichnet; aus der Zeit um 1 5 1 1 . 8. Allegorie, zwei auf einer Kugel sitzenden Männer, London, British Museum, Popham Nr. 6, Silberstift, (276x203), echt signiert. Diese inhaltlich noch nicht gedeutete Zeichnung ragt hervor durch angespannte Bemühung, durch scharfe Beobachtung der Oberfläche. Der Eifer, alle Bewegungen der Kontur, jede Überschneidung der Hautfalten festzuhalten, führt bei geringer Kenntnis des Knochengerüstes zu einer naturhaft fleischigen, aber der Straffheit entbehrenden Erscheinung. Der Kopf des vorn sitzenden Mannes mit dem wehenden Haar, mit weit voneinander abstehenden Augen, wild erregtem Ausdrucke, verrät die Absicht, ein bedeutsames Symbol aufzurichten. Im Einklänge mit Popham stelle ich diese einzigartige Zeichnung in die Zeit um 1516. 9. Kopf eines älteren Mannes, fragmentarisch erhalten, London, British Museum, Popham Nr. 7, Silberstift, (94x81). Typischer Charakterkopf, mit vorspringendem Kinn und großer, gebogener Nase. Solche Männer mit dem Ausdruck harter Energie sind aus Stichen, die Lucas um 1516 schuf, wohl bekannt. 10. Kopf eines alten Mannes mit juwelenbesetztem Turban, London, British Museum, nicht bei Popham. Schwarze Kreide (260x195). Um 1516. 1 1 . Fahnenträger, Pfeifer und Trommler, Berlin, Kupferstichkabinett Nr. 4021, 65 Feder in schwarzer Farbe, ( 1 4 0 x 1 2 5 ) , auf der Rückseite die Halbfigur eines schreibenden Mannes. Die flüchtig und lebendig entworfene Gruppe auf der Vorderseite, erinnert ein wenig an die Musikanten im Stiche des Magdalenentanzes (1519), die kursorisch skizzierte Figur des Schreibenden an die Stiche der Evangelisten (1518). An der Entstehung der Zeichnung um diese Zeit kann nicht gezweifelt werden. 12. Halbfigur eines schreibenden, von vorn gesehenen Mannes, London, British Museum, Popham Nr. 8, Schwarze Kreide (272x272). Wohl im Zusammenhange mit den Stichen der Evangelisten, also um 1518 entstanden. 13. Esau und Jacob, Paris, Louvre, Inv. 22679; 66 Auf die bisher kaum beachtete Zeichnung hat Frits Lugt meine Aufmerksamkeit gelenkt. Anscheinend einen Kupferstich vorbereitend, ist der Zeichner hier 75

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verblüffend weitsichtig und mit souveräner Vernachlässigung der Einzelheiten verfahren, Raum, Licht, Tonstufung, Geamtwirkung im Auge, mit den Mitteln einer derben Strichführung. Hier ebenso weitsichtig, wie etwa in der ungefähr zur selben Zeit entstandenen, unter Nr. 8 erwähnten Zeichnung nahsichtig, fällt Lucas von einem Extrem ins andere. 14. Brustbilder einer Frau und eines Mannes, London, British Museum, Popham Nr. 9, schwarze Kreide, ein wenig mit weiß gehöht (245x198), anscheinend echt signiert und 1519 datiert. Der Stil ist mit dieser Jahreszahl wohl vereinbar. Der Frauenkopf portraithaft, unsichern Blicks, nach dem Leben, nicht dagegen der hinzugefugte Männerkopf.

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15. Bildnis Kaiser Maximilians, den Haag, Sammlung Frits Lugt, Feder (255 X 182). Uberaus genaue Vorzeichnung für den 1520 datierten Kupferstich. Die einzige, wenigstens einzige erhaltene Zeichnung dieser Art. 68 16. Männerportrait, Leiden, Museum Lakenhai, Schwarze Kreide (260 X 350), Signiert und 1521 datiert. Diese Zeichnung wie die folgenden 6 bilden eine fest geschlossene Gruppe. Alle sind wahrscheinlich 1521 in Antwerpen entstanden. In Rivalität mit Dürer ging Lucas an diese Portraitaufnahmen. Der Deutsche geht von Fall zu Fall von der Individualität aus, während der Leidener einer graphischen Manier verfällt, die den Köpfen einige Familienähnlichkeit verleiht. 17. Männerportrait, Stockholm, Nationalmuseum, Schwarze Kreide (261X 311). Signiert und 1521 datiert. 18. Männerportrait, Paris, Louvre, Schwarze Kreide (265x325). 19. Männerportrait, Paris, Louvre, Schwarze Kreide (330X333). Danach alte Kopie in den Uffizien zu Florenz. 20. Männerportrait, Haarlem, Teyler-Stiftung, Schwarze Kreide, signiert und 1521 datiert; durch Überarbeitung mit der Feder entstellt. 21. Frauenportrait, Paris, Louvre, Auf der Rückseite ein zweites Frauenportrait, Schwarze Kreide, (327x364). 64 22. Frauenportrait, Weimar, staatl. Museum, Schwarze Kreide (364x330), signiert und datiert 1521. (letzte Ziffer ?) 23. Brustbild einer Frau, Berlin, Kupferstichkabinett Nr. 5242, Schwarze Kreide und Rötel, (252x225), stark überarbeitet. Die Kreuzschraffen im Fond und einige Züge im Gewand sprechen für die Autorschaft. 24. Lesende Frau in Halbfigur, Wien, Albertina (Kat. Nr. 60). Schwarze Kreide (303x192), anscheinend echt signiert. U m 1522 entstanden. 25. Die Kreuztragung Christi, London, Sammlung Earl of Leicester (Vasari Soc., Serie 2. pt. V . Nr. 8), Feder. Dem Kupferstich B. 51 gleichseitig entsprechend, vielfach abweichend von dem Stich, derb und formlos. Schwer zu verstehen als Vorarbeit und ebenso schwer als Nachzeichnung.

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26. Der sitzende Hieronymus, Florenz, Uffizien, Metallstift. Studie nach der Natur, Teilweise benutzt (gegenseitig) für den Kupferstich, den hl. Hieronymus (B. 1 1 4 , 1521). 27. Gruppe von Männern und Kindern, Lille, Museum, Feder und Kreide (215X 165), signiert. Teilweise, frei, gegenseitig verwendet im Hintergrunde des Kupferstiches „Virgil im Korbe" (B. 136, 1525). 28. Maria in Halbfigur, am Lesepult, mit Ornamentrahmung, Berlin, Kupfer- 71 Stichkabinett Nr. 4020, Feder (249x180), signiert. Sorgfältige, schmuckhafte Visierung, wahrscheinlich für Glasmalerei, um 1526 entstanden. 29. Die Taufe Christi, Paris, Louvre, Feder in brauner Farbe (250 X 194). In Typik und Bewegungsmotiven an die spätesten Gemälde, namentlich an das Triptychon in Leningrad erinnernd. 30. Madonna in Halbfigur, London, British Museum, Popham Nr. 10, Schwarze Kreide ( 2 1 0 X 1 7 1 ) , signiert. Studie für das Gemälde im Museum zu Oslo (Langaard-Sammlung). Um 1528. 3 1 . Nackter Mann, stehend an einen Stab gelehnt, Berlin, Kupferstichkabinett Nr. 11850, Schwarze Kreide (426x206), signiert. Naturstudie, etwas ungefüge, mächtige Leiblichkeit wie in den spätesten Kupferstichen42. 32. Adam und Eva, der Sündenfall, Hamburg, Kunsthalle, Schwarze Kreide 72 (282X 195), in späterer Schrift: Lucas van Leyden eegen handt. Um 1528. 33. J a e l und Sisera, Rotterdam, Boymans Museum, Sammlung Koenigs, Feder (271 X203). Sorgfältige Visierung für einen Kupferstich (?), aber erst spät von Saenredam gestochen (B. 107). Eine Nachzeichnung im Rijksprentenkabinet zu Amsterdam. Um 1526. 34. Judith mit dem Haupte des Holofernes, London, British Museum, Popham Nr. 1 1 , Feder in brauner Farbe (248x205). In jeder Beziehung ähnlich wie das unter 33 genannte Blatt, und auch von Saenredam gestochen (B. 108), Gegenstück dazu. Eine Nachzeichnung im Museum zu Braunschweig43. Von den mit Unrecht dem Meister zugedachten Zeichnungen, zumeist Nachzeichnungen nach seinen Stichen, sind beachtenswert die aus Gouda stammenden Vorlagen für Glasmalerei, die eine Zeit lang im Rijksmuseum zu Amsterdam ausgestellt waren und leider fragmentarisch erhalten sind. Diese Kartons sind von sachkundiger Seite für Lucas in Anspruch genommen worden. Ich habe mich ohne Erfolg bemüht, sie in sein „Werk" einzuordnen. 42

43

Anm. d. Hrsg.: das Blatt hat ein Gegenstück, das sich gleichfalls in Berlin befindet (Le Brun). Es beweist, daß die Zeichnung nicht von Lucas sein kann. (Winkler in Berliner Museen Heft 2, 1961). Anm. d. Hrsg.: unter den neuerdings aufgetauchten Zeichnungen ist besonders der neuerworbene 70 hl. Hieronymus in Oxford zu erwähnen.

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Den Portraitkopf eines jungen Mannes im British Museum, der signiert und 1 5 1 2 datiert ist, möchte ich nicht so bestimmt wie Popham ausscheiden (Nr. 88 auf S. 88 im Katalog). Die durch Zufall auf uns gekommenen Zeichnungen fügen sich nicht zu einer „ K e t t e " . Wie vor den Gemälden und den Stichen empfangen wir den Eindruck von Ungleichartigkeit und Ungleichwertigkeit. Zeitlose Genialität meint man zuweilen zu spüren, nie ein entwicklungsfähiges, zielbewußtes Vorwärtsdringen.

DIE

HOLZSCHNITTE

Z u Beginn des 16. Jahrhunderts hatte der holländische Holzschnitt schon eine bedeutsame Vergangenheit hinter sich, eine selbständige Produktion, eine der südniederländischen überlegene. Ich erinnere an die „Blockbücher", an die Illustrationen des „Chevalier délivré" und glaube auch den Zeichner der „Lübecker Bibel" die 1494 erschien, für einen Holländer halten zu dürfen, wobei ich mich freilich allein auf stilkritische Beobachtungen stützen kann. In diesem Meister scheint sich holländischer Wirklichkeitssinn mit wagemutigem Seefahrergeist vereinigt zu haben. Tüchtigkeit erhebt sich hier zum Heroischen, und die stilgerechte Schnitt-Zeichnung steht auf der Höhe. A n diese Tradition knüpft im 16. Jahrhundert eher Jacob Cornelisz als Lucas van Leyden an. V a n Mander rühmt es, daß Lucas keinen Abdruck eines Stiches aus der Hand gegeben habe, an dem er den kleinsten Flecken, den geringsten Fehl bemerkt hätte. Nach Aussage seiner Tochter soll er ganze Haufen mißlungener Drucke verbrannt haben. Dies klingt glaubhaft und paßt zu der Vorstellung, daß er in stolzem Bewußtsein überlegenen Könnens auf die Feinheit seiner Grabstichelarbeit großen Wert gelegt habe. Dem Holzschnitte wandte er weniger Gewissenhaftigkeit und ernste Mühe zu. Teils im Dienste der Buchdrucker unfrei, teils volkstümliche Schnitte von plakatartiger Wirkung entwerfend, erwartete er nicht, daß Feinheiten der Zeichnung ohne Einbuße von dem Holzschneider übertragen werden könnten, nicht einmal von ihm selbst, falls er sich an der Schnittausführung beteiligte. Wenn wir übrigens van Manders Aussage wörtlich nehmen, Lucas habe „verschijden Hout-printen ghesneden", müssen wir annehmen, er habe mit eigener Hand in Holz geschnitten. A n der Frage, ob dies glaubhaft sei, will ich mir nicht die Finger verbrennen. Die Holzschnitte, die dem Meister mit Recht gegeben worden sind — signiert ist kein einziger — unterscheiden sich voneinander, und nicht etwa nur, weil der eine zu dieser, der andere zu jener Zeit entstanden ist, sondern auch weil gleichzeitig geschaffene größere oder geringere Sorgsamkeit erkennen lassen. Auch mögen Verdienst und Schuld der Holzschneider für manche Unterschiede verantwortlich sein. Einen spezifischen Holzschnittstil hat Lucas nicht ausgebildet, am wenigsten daran festgehalten. Ein Purist könnte mit einiger Berechtigung urteilen, der Kupferstecher habe den Holzschnitt vergewaltigt. Der Leidener Meister steht dem Amsterdamer J a c o b Cornelisz. ähnlich gegenüber wie Dürer dem Augsburger Burgkmair. J a c o b und Burgkmair haben nicht in Kupfer gestochen und konnten deshalb ihre Handschrift den Stilbedingungen des Holzschnittes leichter anpassen als Dürer 79

und Lucas. Die Kreuzschraffierung ist ein dem Holzschnitte ungemäßes Mittel. Der autonome Holzschnitt im 15. Jahrhundert vermeidet Kreuzlagen. Der Zeichner, der selbst den Schnitt ausführte, wußte, weshalb er Kreuzlagen vermied. Zumal die rechtwinklig sich kreuzenden Züge in des Leideners Schnitten erscheinen stilwidrig. Original im engsten und strengsten Sinn ist der Holzschnitt nur im 15. Jahrhundert, und das Vermeiden oder sparsame Verwenden der Kreuzlagen etwa in Dürers Baseler Illustrationen läßt die Nachwirkung der gesunden Tradition erkennen. Während Jacob Cornelisz. zufrieden beharrt bei seiner rauhen Formensprache, wandelt sich Lucas mit der ihm eigenen Unbeständigkeit. Von dem kernigen, knorrigen Vortrage wendet er sich früh zu einer wellig gleitenden Manier und läßt, getragen von der Zeitströmung, den Amsterdamer Rivalen hinter sich. Freilich bei gleichzeitigem Schaffen war der Leidener beträchtlich jünger als der Amsterdamer und gehörte zu einer anderen Generation. Der älteste Holzschnitt, der dem „Werk" des Meisters angefügt worden ist, 73 ohne daß Widerspruch dagegen laut wurde, der hl. Martin in dem am 3 1 . März 1508 erschienenen Breviarium Traiectense, steht für sich. Lucas war 14 oder 15 Jahre alt, wenn anders das Geburtsdatum richtig überliefert ist. Nicht leicht machen wir uns mit dem Gedanken vertraut, daß der Drucker den Auftrag einem Knaben zugewendet habe. In quadratischem Felde die gedrungene Gestalt des Ritters, breit, auf einem schweren Rosse, dessen Beine in den nach vorn abschüssigen Erdboden wie gerammt erscheinen, das schräg, verkürzt in den Raum gestellt ist, einen von Baulichkeiten umgebenen Platze. Links ein Tor, in das ein Mann einreitet, so daß nur der hintere Teil des Pferdes sichtbar bleibt. Der hl. Martin neigt sich dem Bettler zu, der von rechts hastig heranhinkt und das Mantelstück ergreift, das der Heilige abtrennt. Die Zeichnung arbeitet straff das Wesentliche heraus. Wir haben Mühe, den Meister wiederzuerkennen, der zur selben Zeit den Mahomet-Stich geschaffen hat. Nichts von der aufspürenden, seelenkundlichen Beobachtung, die wir in den frühen Kupferstichen bewundert haben. Damit will ich aber durchaus nicht die Autorschaft, was den Holzschnitt betrifft, in Frage stellen, vielmehr nur darauf hinweisen, wie das biegsame Talent jeweils durch die Aufgabe — hier ein schlichtes, volkstümliches, in der Tradition geprägtes Thema — und durch das handwerkliche Verfahren in diese oder jene Richtung gedrängt wurde. Mit Stämmigkeit und unschmiegsamer Derbheit ist dieser sein erster Holzschnitt der am meisten holzschnittmäßige unter allen, die Lucas geschaffen hat. Im Jahre 1 5 1 4 erschien wieder ein Breviarium Traiectense, reicher illustriert von Lucas als das von 1508. Hier finden wir außer einem stattlichen Blatte mit dem Gekreuzigten mehrere Schnitte von mittlerem Formate, dann in größerer Zahl kleine mit den Evangelisten und Heiligen in ganzer Figur und noch kleinere mit Halbfiguren. Das Datum 1 5 1 4 darf keineswegs als gesichert gelten für alle diese Schnitte. Manche von ihnen sind für andere, früher erschienene Bücher gezeichnet. 80

Die holländischen Drucker ließen nicht ab von der fatalen Gewohnheit, ihren Bestand an Holzstöcken wieder und wieder zu verwenden, und die Ausgaben sind so selten geworden, daß das erste Auftreten einer Illustration nicht mit Gewißheit festgestellt werden kann. W i r sind nicht sicher, die lückenlose Reihe der Bücher zu überblicken. Lucas macht es sich leicht, im Gefühle, daß die dienstbare Illustration mit der linken Hand zu erledigen sei. Kirchenkunst und Andacht heischende Idole lagen ihm nicht am Herzen. Für den rührigen Leidener Drucker J a n Seversz. hat Lucas ziemlich viel gearbeitet. Ein genaues Verzeichnis der Illustrationen stammt von C . Dodgson 44 . Nachdem dieser Verleger um 1 5 2 0 die Stadt verlassen hatte, ließ Lucas sich nur noch selten und dann für Amsterdamer Drucker auf den Buchholzschnitt ein. Mehr Anspannung und persönlichen Charakter als die Buchholzschnitte zeigen die Einzelblätter, die beiden Folgen der „Weibermacht", die Helden der Vorzeit sowie mehrere andere Darstellungen. Eine lärmende Drastik ist der Erzählung eigen. Alle diese Schnitte scheinen zwischen 1 5 1 2 und 1 5 2 0 entstanden zu sein. D a Lucas die Themata wählte, was ihm im Dienste des Buchdruckers nicht vergönnt war, griff er zu den aus der Bibel und sonstigem Schriftwesen gerafften Anekdoten von der Übermacht des Weibes, von der Frau als Verführerin, Heroine und Siegerin. Diese Vorstellung beschäftigte im 1 5 . und 16. Jahrhundert die Phantasie des Volkes. Niemand aber hat sie mit soviel Begier wie er wieder und wieder verbildlicht und sich dabei bis an die Grenzen des Grausamen, Skurrilen und selbst Lüsternen locken lassen. Tief eingehend und scharfsichtig hat sich R . K a h n 4 5 mit der stilkritischen Datierung dieser Folgen und Einzelblätter beschäftigt. Ihren Ergebnissen schließe ich mich im großen und ganzen an. I m Wesen der Sache, das will sagen: im Charakter des Holzschnittes — liegt es, daß Analyse der Linienführung minder sichere Ergebnisse liefert als Prüfung der Komposition, der Körperformen und der Bewegungsmotive. Wenn ich, in Übereinstimmung mit R . K a h n , die eine Weibermacht-Folge, nämlich die im kleineren Formate, für einige J a h r e später entstanden halte als diejenige im größeren Formate, so werde ich dabei namentlich geleitet durch die Wandlung von steifer und stockender zu fließender und welliger Bewegung. W i r vergleichen die Blätter mit dem Sündenfall in dieser und jener Serie. In dem großen Holzschnitte: Der Baum- 76 stamm als senkrechte Achse, strack, säulenhaft, im kleineren: schraubenförmig gewunden. E v a hier isoliert, aufrecht, schreitend, dort in verwickelter Haltung, die 75 A r m e kreuzend, sich an den Baum lehnend, dessen schlangenhafte Windungen sie mitzumachen scheint. A d a m hier sitzend mit parallel gestreckten Beinen, dort mit gekreuzten. Der Zusammenschluß von Baum, M a n n und Frau ist fester, die Herrschaft über den nackten Menschenleib sicherer geworden im kleineren Holzschnitte. Die Strichführung in der späteren Serie mehr bogig, der plastischen Form 44 45

C. Dogdson, Repertorium für Kunstwissenschaft XXIII (igoo) S. 143fr. R. Kahn, Die Graphik des Lucas van Leyden. Straßburg: Heitz 1918.

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folgend, gerade, senkrechte Züge vermeidend. Diese Wandlung war j a vor datierten Stichen Schritt für Schritt zu verfolgen. Die Folge im größeren Format (B. 6, 8, 12, 16, P. 23) ist um 1 5 1 2 entstanden, die andere Folge einige Jahre später. Den Mut, sich an so ungewöhnlich großes Format und so anspruchsvollen Maßstab zu wagen, faßte Lucas vermutlich beim Anblicke der Dürer'sehen HolzschnittFolgen. Er wählte fast genau die Maße der „Apokalypse". Die Komposition seines Blattes mit Salomons Götzendienst ist offenbar inspiriert durch Dürers Martyrium des Evangelisten, das Titelblatt der Apokalypse. Die Helden der Vorzeit (B. 15) und die Helden Israels (B. 14) mögen um 1523 entstanden sein. Mit triumphalem Aufzuge, heldischem Gepränge, üppigen Schabracken, mächtigem Federschmuck und flatternden Bändern scheint Lucas die 1 5 1 8 erschienenen holländischen Grafen von Jacob von Amsterdam übertreffen zu wollen. Wir vergleichen den Holzschnitt Simson und Dalila, den in großem Formate, 74 mit dem wenige Jahre früher geschaffenen Kupferstiche desselben Vorwurfes. Im Holzschnitte: die riesenhaften Gestalten der sitzenden Frau und des schlafenden Helden, dessen wüst behaartes Haupt auf ihrem Schöße ruht, heben und strecken sich in der ersten Bildschicht, nicht zusammengeballt und verkürzt wie in dem Kupferstiche. Dahinter breite Baumstämme und Felsgestein. Der Held, der Starke in hilfloser Lage, eine Vorstellung, bei der Lucas gerne verweilte. Wie so oft, ist die Gruppe in ein Dreieck gefügt, und die Hauptlinien der Komposition verlaufen diagonal zu den Bildrändern. Gewählt ist die gemächliche Aktion, die der gewaltsamen Fesselung, der Überwältigung vorangeht. Die Gefangennahme Simsons im Hintergrunde. Die anderen Holzschnitte dieser Serie sind eher maßvoll gestaltet. Steife Parallelität stehender Figuren und Isokephalie herrschen vor, wie auch in den etwa gleichzeitigen Stichen. Wir brauchen nicht anzunehmen, daß Lucas die Blätter, die eine Serie bilden, unmittelbar hintereinander geschaffen habe. Auch innerhalb der zweiten Folge der Weibermacht, der in kleinerem Formate, die zwischen 1516 und 1520 entstanden sein dürfte, sind Stilunterschiede zu beobachten. Namentlich die Darstellung des Sündenfalles hebt sich heraus und scheint nicht erheblich vor 1520 gezeichnet zu sein. In der Strichführung der großen Holzschnitte entscheiden resolute, zumeist annähernd senkrechte, gleichsam regnende Züge, während das Mauerwerk durch gekreuzte Schraffen gittrig interpretiert ist. Die wenigen, dem Stile nach später als 1520 entstandenen Schnitte, tauchen in Amsterdamer, nicht in Leidener Büchern auf. Die Amsterdamer Illustration, die von Jacob Cornelisz. beherrscht wurde, scheute nicht davor zurück, heterogene Holzschnitte zu vereinigen, und Lucas wurde gelegentlich veranlaßt, Lücken auszufüllen, die Jacob gelassen hatte. So stoßen wir in der langen Reihe der kleinen Passionsschnitte des Amsterdamers auf mehrere Blätter, die von dem Leidener herrühren, allerdings erst in der zweiten Ausgabe, die unter dem Titel „stamme passio" erschienen ist46. 46

V g l . K . Steinbart, Das Holzschnittwerk des J a c o b Cornelisz von Amsterdam. Burg, Hopfer

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1937.

Zwei einzelne Holzschnitte, weibliche Heilige, die C. Dodgson in der mir gewidmeten Festschrift 1927 S. 109 publiziert hat, können dem Stile nach kaum vor 1525 entstanden sein. Eine Reihe von Sibyllen in Halbfigur, die Lucas gegen 1530 gezeichnet hat, ist stilwidrig mit Holzschnitten Jacobs gekoppelt worden. Die so spät entstandenen Schnitte sind hell gehalten, detailarm, mit sparsamer Binnenzeichnung. Der üppig schwellende Umriß gibt das Wesentliche. Die Einzelholzschnitte von Lucas sind überaus selten geworden. Aufgetaucht sind noch die folgenden: Aristoteles und Phyllis — Paris, Bibl. Nat. im Stile der 77 größeren Folge der „Weibermacht" — um 1512 4 7 . Abraham mit Isaac zur Opferung wandelnd — um 1514 (B. 3). Eine Frau am Spinnrad—Paris, Sammlung Edm. de Rothschild— um 1514 4 8 . Der Verlorene Sohn beim Gastmahl — Paris, Bibliothèque Nat. Besonders sorgfältig geschnitten — um 1520. Der hl. Rochus, mit ornamentaler Rahmung — Undeutliche Jahreszahl in der R a h m u n g — 1520 (?). Halbfigur des hl. Petrus49 — um 1523. Der blutige Rock — um 1512. Anbetung der Könige, in Halbfiguren — um 1515. Recht roh50. Christus von der Mutter Abschied nehmend. Unicum in Wien. Von besonderer Feinheit — um 151 j 5 1 . Viel tragen die Holzschnitte nicht dazu bei, unsere Anschauung aufzufüllen. Immerhin: die mühsame Grabstichelarbeit bringt eine verzögernde, hemmende aber auch die Kräfte sammelnde Wirkung mit sich. Wer auf dem Holzstocke zeichnet, fühlt sich vergleichsweise frei. Wenn auch der handschriftliche Duktus in der Schnittausführung erstarrt, j a schon mit Rücksicht auf den Schnitt schematisiert wird, bleibt dem Holzschnitte gegenüber dem Kupferstiche eine offene Entschlossenheit eigen, was offenkundig wird, wenn wir Dürers Apokalypse mit seinen zur selben Zeit geschaffenen Stichen vergleichen. Im Werke des Leideners erscheint der von den handwerklichen Mitteln ausgehende Stilzwang in geringerem Grade wirksam, wenn auch beachtlich genug. Etwas wie Schaubuden-Sensation wird in den Holzschnitten fühlbar. Der Meister spricht anders zum Volk im Holzschnitt als zu dem engeren Kreise der Aufgeklärten im Kupferstiche.

47 48 49 60 61

Abgebildet im Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen 1897. Abgebildet bei Dalberg, Revue de Part ancien et mod. Tafel 18. Steinbart, a. a. O. Abb. S. 1 1 7 . Rosy Kahn, Die Graphik des Lucas van Leiden, Tafel X . Straßburg, Heitz 1918. Rosy Kahn, Die Graphik des Lucas van Leiden, Tafel X V . Straßburg, Heitz 1918.

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DIE PERSÖNLICHKEIT UND IHR WEG Ein weiter Weg — in 25 Jahren —, radikale Wandlung, folgenlose Vorstöße. Konstant: rastloses, ehrgeiziges Streben. Die Weglinie im Formwesen kann als Spirale gezeichnet werden, da sich der Meister, bei stetiger Fortbewegung vom Ausgangspunkt, auf anderen Stufen — ich sage nicht: auf höheren — dem Ursprünge wieder nähert. Neigungen, die unterdrückt worden sind, brechen aufs Neue hervor. So war zu beobachten, wie Lucas in seiner Frühzeit die Glieder des Leibes sich überschneiden, queren und verdecken ließ und Pathos gewann aus perspektivischer Verkürzung der Köpfe. Danach, bald, richtete er die Körper und die Köpfe steil auf, mit der Tendenz auf stattliche und würdige Haltung. Um 1525 kehrt er mit gesteigerter Formenkenntnis zu der Jugendneigung zurück und übt virtuos, was er ehemals gefühlsmäßig getrieben hat. Das Bedürfnis, Gestalten eng aneinander zu schließen, sie etwa in eine Pyramide zu sperren, regt sich wieder. Das Motiv der senkrecht ragenden Baumstämme, die dem Bildbaue Festigkeit verleihen, zugleich als Repoussoir wirken für die lichte Ferne, wird, wie in der Frühzeit, so in der Spätzeit mit einiger Regelmäßigkeit verwendet. Die Geschöpfe stehen, schreiten oder sitzen, sitzen aber lieber als daß sie stehen. Wahl und Bevorzugung dieser oder jener körperlichen Lage verraten etwas von dem Temperamente, von der Lebenskraft des Bildners. Wenn Dürers „Apostel" Standbildern gleichen, in des Leideners Vorstellung sitzen Petrus und Paulus, sowohl in dem Altargemälde, dem in Leiden, wie in dem Kupferstiche (B. 106), wo sie in einen kerkerhaft niedrigen Bildraum gesperrt erscheinen. Dürers Vorliebe für standfest aufgerichtete Gestalten ist Ausfluß männlicher Tatkraft. Da er nach der meßbaren Schönheit des Menschenleibes trachtete, beeinträchtigten überdies Verkürzungen und Überschneidungen der Glieder sein Ideal. Eine sitzende Figur läßt sich nicht messen, nicht konstruieren. Lucas hat sich bemüht, von Dürer zu lernen, wie er höchst lernbegierig war, wenn auch nicht stets zu seinem Heile. Wesentliches in Dürers Schöpfung blieb ihm unzugänglich als seiner Natur fremd und unfaßbar. In unbelehrter Jugend hat er Eigenes stammelnd ausgesprochen, später lernte er laut und deutlich sprechen, aber in einem der eigenen Gefühlsweise ungemäßen Idiome. In des Leideners Phantasie überwiegt die Vorstellung von dem, was immer und überall, der unveränderlichen menschlichen Natur nach, geschieht. Das Genre regt sich zunächst im Negativen, in Blindheit für das Heroische, religiös Erhabene, kirchlich Geheiligte. Indem Lucas, statt in das Zentrum zu zielen, Begleiterscheinungen ins Auge fast, stößt er auf Zustände und Vorkommnisse des Alltags. Bei 84

Mangel an Konzentration schießt er eher mit Schrot als mit der Kugel. Er bevorzugt Seitenpfade. Seine Rede ist reich an Relativsätzen. Bedacht, selbst das außerordentliche Geschehnis als ein natürliches zu veranschaulichen, malt er den Ort und die Umstände aus, fügt Figuren ein, die zufällig gegenwärtig sind, und bietet ein kontrastreiches Beieinander, einen Text, aus dem wir manchmal nicht ohne Mühe den Sinn herauslesen. Wie er stets an die Wirkung des Geschehens denkt, fügt er öfters eine Reihe, eine Galerie aufmerksamer Köpfe dem Kompositum ein, eine Gesellschaft, die an den Chor des antiken Theaters erinnert. Als Beobachter neigt er zum Beharrenden, als Erzähler zum Abenteuer. Dieser Widerstreit führt dazu, daß die Tat, die Aktion weniger im dramatischen Höhepunkte sichtbar wird als mittelbar im Vorspiel oder Nachspiele. Zuweilen, so in dem Stiche mit dem Kalvarienberge, wo es um das ernste und hohe Thema geht, wird die auflockernde, dem Episodischen verhaftete Erzählung als unpassend empfunden. Oft wirbt der Ehrgeiz um Schreckhaftes und Gefährliches. Wie aber den Erzähler weniger leidenschaftliche Anteilnahme als Sensationslust lenkt, wirkt das Geschehnis mehr kurios als ergreifend oder erschütternd. Mit Gelassenheit werden arge Taten vollbracht. Lucas liebt die Novelle, die fesselnde Neuigkeit, die in der Bildform nicht selten als Rätsel oder Scharade auftritt. Das Spiel der Gewandfalten, in dem sich der Charakter graphologisch enthüllt, ist zu Anfang reich an geraden, knitterigen und kurvigen Motiven, unruhig und mannigfaltig, jeweils aus Beobachtung, wandelt sich aber allmählich zu System und Konvention, zu einem fließenden Rhythmus, der von den Kunstfreunden um 1600 bewundert wurde, wie van Manders Lobpreisung — in dem Lehrgedichte — erkennen läßt. Das zu Beginn den Leib wie ein faltenreicher Vorhang verdeckende Kleid schmiegt sich mehr und mehr dienend dem siegreich hervortretenden Körper an, über den es, wie Wasser über Gestein, rollt und plätschert. Die Formensprache wandelt sich wie die Gemütsstimmung, die, bald schwer grüblerisch und trübe, bald gleichgültig, bald von forcierter Heiterkeit, Schicksalswendungen spiegeln mag. In der Jugend wird sich Lucas als unverstanden empfunden haben, später hoben Erfolge sein Selbstbewußtsein und machten ihn umgänglich. Wir wissen von seiner Heirat mit einem Mädchen aus reichem und angesehenem Geschlechte. Vier Perioden setzen sich einigermaßen deutlich gegeneinander ab: um 1508 unbefriedigtes Sehnen, dumpfer Gefühlsdrang, um 1512 sachliche, um 1525 humoristische Betrachtung des Lebens, endlich um 1530 kaltherzig der „schönen" Form zugewandter Blick. Wenn sich das seelische Leben aus Verschlossenheit zu prahlerischer Offenheit löst, so ist diese Wendung nicht nur individuell, sondern auch zeitgemäß. Im Formwesen nach Unbeholfenheit und Plumpheit, Breite, Rundung und Fülle, in der Weltanschauung nach religiöser Beängstigung Hochgefühl und optimistischer Stolz auf Erkenntnis. Schwermut als ein Merkmal der Zeit ist an der Jahrhundertwende an Stellen zu spüren, die weit voneinander entfernt liegen. Die Vogelfreiheit nach Auflockerung der gildenhaft sozialen und der kirchlichen Ordnung trieb in jugend85

liehen Geistern eine leidenschaftliche Gefühlsweise empor, wie im Schaffen Dürers, Cranachs und Altdorfers — als Gewitterstimmung vor Ausbruch der Reformation — zu beobachten ist. Diese Seelenfarbe weicht bald. Altdorfer wird gefällig und liebenswürdig, Cranach landet bei bürgerlicher Selbstzufriedenheit, und in Dürer stürmte, als er die Apokalypse schuf, ein kämpferisches Pathos, das bald darauf geklärt und gesänftigt wurde. Von den Niederländern vollzieht niemand die Wandlung in so raschem Tempo wie Lucas. Unnatürliche Frühreife, weibliche Empfänglichkeit mögen den Ablauf beschleunigt haben. Wie wenn er den frühen Tod geahnt habe, scheint er zu eilen und zu hasten. In seinem Schaffen äußert sich die Bedrücktheit in den Anfängen original, indessen die Freiheit, die Kühnheit der späteren Jahre, angemaßt wirkt. Man glaubt wahrzunehmen, daß er sein Antlitz mit wechselnden Masken verdeckt. Dürer wurde ihm ein gefährliches, Marc Anton ein verderbliches Vorbild. Im Angesichte der späteren Werke kommt uns das herabsetzende Urteil „Manier" auf die Zunge. Der Begriff „Manier" ist jedoch im Gebrauch so verschlissen geworden, daß ich präzisieren möchte, was in diesem Falle darunter zu verstehen ist. Der Bildner schöpft aus zwei Quellen, aus der unmittelbaren Naturbeobachtung einerseits und andererseits aus Kenntnis von Formidealen, die gültig sind, die er für gültig hält. Dieses Begriffspaar deckt sich einigermaßen mit dem von einem geistvollen Literaturhistoriker aufgestellten, der antithetisch „Urerlebnis" von „Bildungserlebnis" unterscheidet. Bei gesteigerter Übung und Bereicherung seines Wissens macht sich der Meister mehr und mehr frei von der Beobachtung. Die eine Quelle versiegt in dem Grad, indem die andere reichlicher quillt. Vorurteile in bezug auf den Kunstwert des Sichtbaren schränken die Beobachtung ein. Die Natur in ihrer unerschöpflichen Vielfältigkeit ist als die Quelle des Reichtums durch nichts zu ersetzen. Der Bildner gleitet in die Manier hinein, deren eines Merkmal Monotonie ist. Wohl gilt der Satz: je mehr jemand weiß, um so mehr sieht er. Aber auch das Gegenteil trifft zu. Eckermann sagt einmal zu Goethe: Sie scheinen andeuten zu wollen, daß man um so schlechter beobachte, je mehr man weiß. Und Goethe bestätigt dies mit den Worten: allerdings, wenn das überlieferte Wissen mit Irrtümern verbunden. Nun: das dem Holländer aus der Fremde, im Besonderen von Dürer und Marcanton, überlieferte Wissen war sicherlich mit Irrtümern verbunden. Die Erinnerung an eigene Blickerlebnisse wurde durch erlernte Formideale verdrängt. Marcantons Interpretation der Raphael-Kunst war schon deshalb ein bedenkliches Muster für den Holländer, weil ihm die Kunst Raphaels in originaler Erscheinung unbekannt war, unerreichbar ferne lag. Was aber die von Dürer ausgehende Lehre angeht, bemächtigte Lucas sich der Ergebnisse einer geistigen Arbeit, an der er nicht teilgenommen hatte. Als Lucas vom Baume der Erkenntnis genossen hatte, wähnte er, zu wissen, wie Dieses, wie Jenes zu bilden wäre, fühlte er sich gesichert im Besitze der Regel, des Schemas. Damit war die Pforte zur Manier geöffnet, und zum Wesen der Manier gehört es, daß sie nicht aufhört, ihre Herrschaft zu steigern — nach dem 86

Gesetz der Trägheit. Bequemer ist es sicherlich, Geprägtes abzuformen, als zu prägen. Nicht unter allen Umständen entsteht Manier aus Anlehnung an fremde Kunst. Auch aus der eigenen, originalen Form kann ein Meister die Formel herleiten. Cranach mag dafür ein Beispiel bieten. Was aber in des Leideners „Werk" uns als manieristisch berührt, entstammt seinem wechselnden Glauben an Ideale, die mit seinen eigenen visuellen Erfahrungen unvereinbar waren. Sein Blick, der einer sinnlich empfänglichen, nicht einer geistig forschenden Natur, drang nicht in die Tiefe, nicht zum Gerüste, nicht zum Skelett. Eben weil er nicht analysierte, nicht anatomisierte, konnte er leichter Eigenes fallen lassen, Äußerliches, Oberflächliches aus der Ferne aufnehmen. In seinen späten Kupferstichen verstimmt die Manier mehr als in seinen späten Gemälden. Mit dem Grabstichel in der Hand seiner Sache sicherer als mit dem Pinsel, kam er in müheloser Gewohnheit zu konventioneller Formung. Die farbige Vision des Malers ist in hohem Grad auf Naturbeobachtung angewiesen, während die schwarz-weiße Graphik ihrem Wesen nach leichter der Routine verfällt. Schließlich waren es j a Kupferstiche, nicht Gemälde, von denen sein Blick auf die allgemein gültige „Schönheit" gefallen war. Van Heemskerck, auch ein Holländer, entging nicht dem Vorwurfe, wie van Mander erzählt, er hätte in seiner Jugend Besseres geschaffen als später. Und er gab darauf die überhebliche Antwort: damals wußte ich nicht, was ich machte. So hätte auch Lucas sich äußern können. Dürern wurde alles schwer, er machte es sich schwer und kämpfte siegreich. Nun will ich nicht sagen, dem Holländer sei alles leicht geworden. Auch er hat sich gemüht. Aber sein Streben war nicht zielsicher gerichtet. Das Beste ist ihm zugefallen eher als Geschenk denn als Beute. Er ist am stärksten dort, wo er sich nicht bemüht. Der erste Versuch auf neuem Felde fiel ihm oft als ein Treffer aus. Eine Errungenschaft auszunutzen zu ferneren Erfolgen gelang selten. So hat er nie wieder einen unheimlichen Vorgang so erregend geschildert wie in dem Pariser Gemälde mit Loth und seinen Töchtern, nie wieder den Seelenzustand so entschieden ausgedrückt wie um 1508 in dem Stiche mit Saul und David, nie das Natürliche so ehrlich und schlicht aufgenommen wie 1509 in dem „Milchmädchen", nie den Raum mit den Figuren darin so klar entwickelt wie 1 5 1 0 im „Großen Ecce Homo".

LUCAS DER HOLLÄNDER Vor dem Kunstfreunde, der den Blick auf Holland richtet, steigt Rembrandt auf in ragender, alles Andere verdeckender Gestalt, und unvermeidlich wird aus dieser Erscheinung ein Vorurteil geschöpft in bezug auf das holländische Wesen, uneingedenk der Erfahrung, daß das Genie eine Ausnahme ist und sich über den Wurzelboden erhebt. Lucas war Rembrandts Landsmann im engsten Sinne. Rembrandt mag ihn mit lokalpatriotischem Stolz als einen der Verehrung würdigen Ahnherrn betrachtet haben. Verbindungsfäden lassen sich anspinnen. Nachweisen läßt sich, daß Rembrandt des Stadtgenossen „Werk" gekannt hat. Nach Berichten, die freilich nicht ganz zuverlässig sein mögen, hat Rembrandt zuweilen Kupferstiche von Lucas zu Preisen gekauft, die den Zeitgenossen erstaunlich hoch vorkamen. Das „Werk" des Vorgängers, das Rembrandt besessen hat, war, wie mit guten Gründen angenommen wird, erhalten in dem Klebebande, der 1930 in Berlin aus dem Besitze des Freiherrn von Grote versteigert worden ist. Auf die Herkunft der 250 Stiche machte Herr Hollstein mich aufmerksam, der jene Auktion geleitet hat. Der Historiker mag es als eine Aufgabe betrachten, das Gemeinsame im Schaffen der beiden Meister als Quintessenz des holländischen Wesens zu destillieren. Er findet Gemeinsames in der Tiefe, Unterschiede an der Oberfläche. Im 17. Jahrhundert, als Holland ein selbstständiges und selbstbewußtes Gemeinwesen geworden war, schlugen Lust und Begabung zur Malkunst gewaltig aus, und zwar nicht allein in einzelnen bedeutenden Persönlichkeiten, sondern auch in einer erstaunlich großen Zahl von Talenten mittleren Ranges. Der Hochstand der Malkultur überrascht. Und im Negativen, nämlich in der beschränkten Selbständigkeit auf dem Gebiete der Baukunst und der Skulptur, werden Sonderart und Richtung der nationalen Begabung bestätigt. Malerisch — im Gegensatze zu zeichnerisch — bedeutet: das Ding gesehen, anstatt in seinen signifikanten Grenzen, in seiner flächigen Farbigkeit, der Tonstufung und seinem Verhältnisse zum Lichteinfalle. Im Malwerke verhalten sich die Teile zum Ganzen wie Wellen zum Gewässer, in der Zeichnung dagegen wie Latten zum Zaune. Malerisch — im Gegensatze zu plastisch — bedeutet, das Ding, die Gestalt, statt herausgelöst, isoliert, vielmehr im räumlichen Zusammenhang erblickt. Malerisch — im Gegensatz zu architektonisch — ist das organisch Gewachsene, Zufallshafte, Willkürliche im Kontraste zum Gemessenen, Gebauten, Errechneten. Der Skulptor, in seiner Weise auch der Graphiker, — im Gegensatze zum Maler — zeichnet den Helden, den Heiligen, den Herrscher dadurch aus, daß er ihn ins Leere stellt und alle Aufmerksamkeit auf ihn sammelt. Der Polytheismus 88

der Antike wie der anthropomorphe Theismus führt zur Skulptur. Auch Heroenverehrung drängt zur Skulptur. Die Gesinnung der Holländer war nicht zu Heroenverehrung geneigt. Der einzelne Mensch wird erblickt als ein Glied der Gemeinschaft, in Eintracht mit der räumlichen Natur. Diese nordische, zumal holländische Anschauung leitete in der Philosophie zum Pantheismus, in der Politik zur Demokratie, in der bildenden Kunst zur Malerei. Die Bildgattungen Landschaft und Stilleben blühten in Hollands „goldenem Zeitalter" unvergleichlich üppig. Auch anderswo wurden Landschaften und Stilleben gemalt, aber nirgends mit so viel visueller Andacht wie in Holland, zumeist nur als dienende Zutat, Dekoration, Prospekt oder Kulisse. Dem Skulptor liegt nichts ferner als Landschaft und als Stilleben. Den Zeichner drängt die Landschaft zur Malerei. Dürer ist zu Beginn ein Zeichner, und dennoch wie malerisch sind seine frühen landschaftlichen Aufnahmen. Die Holländer Kalf und van Beijeren waren verliebt in den Stoffcharakter, in die Textur, den Schimmer, das Gefunkel, in den farbigen Abglanz, der nicht anders wie mit dem Pinsel wiederzugeben ist. Vom eigentlichen Stilleben abgesehen, niemand hat der Seide so passionierte Aufmerksamkeit gewidmet wie Terborch, und stilles Leben herrscht in den Meisterwerken Pieter de Hooghs und Vermeers. Lucas lebte in einer Zeit, in der sich die holländische Volksart keimhaft zu regen begann. Es bedarf achtsamer Durchprüfung seiner Hinterlassenschaft, um dort die Sehweise des Malers zu entdecken, zumal da er sich vornehmlich als Graphiker ausgesprochen hat, und hauptsächlich als Kupferstecher vertraut ist. Aber gerade indem er trotz dem Mittel, das der Sehweise des Malers widerstreitet, in erster Jugend das kontinuierliche Gesamt aus menschlicher Figur, landschaftlichem Raum und Licht zu umgreifen unternimmt, verrät sich spezifisch holländischer Urtrieb. Ihn beschäftigt vorzugsweise das Beieinander, das Paar, ihn beschäftigen seelische Beziehungen zwischen den Menschen, erotische, freundliche und feindliche, oft über örtliche Weite hinweg. Der Mensch ist für ihn Bewohner des Erdenraumes und eher als Knecht, denn als Herr. Man meint in seinen frühen Werken Wetter und Luftdruck zu spüren. Sein geringes Vermögen, den Helden, die Gottheit auszuzeichnen, aus stolzem Für-sich-sein Monumentalität zu gewinnen, bestätigt im Negativen, daß seine Kunst malerisch, weil antiplastisch, ist. Graphiker im engeren Sinne wurde Lucas lernend von Dürer. Zu Anfang in seinem „Werke" sagt die Binnenform aus, später die Kontur. Dürers, des Kupferstechers, Weg verläuft in andere Richtung. Er gelangt vom Graphischen zu geschlossener Bildhaftigkeit, in einer Entwicklung, die durch seine Neigung zur Plastik wieder gehemmt wird. Mehr als einmal, vor Kupferstichen und Gemälden und zwar solchen, die Lucas keineswegs zu ein und derselben Zeit geschaffen hat, sprach ich vom „Pathos des Lichtes". Eine an sich prosaische Bildaussage erschien durch Beleuchtung rhythmisiert und poetisiert. Dies der frühe Einsatz einer holländischen Kraft, die in Rembrandts Schöpfungen die Höhe erreicht. Lucas verfügt über kein anderes Mittel zum Ausdrucke des Überirdischen als das Licht. 89

Ich habe sagen hören, die Kraft der Holländer läge in ihrer Ruhe. Wenn sich dieser Seelenzustand nicht überall nachweisen läßt: wo und wann sich die Kunst Hollands aus Eigenem überlegen zeigt, herrscht Ruhe — von dieser oder jener Art, sei es Gelassenheit, Beharrlichkeit, Behagen in friedlicher Enge oder feierliche Regungslosigkeit. Die Flucht zum Stilleben bedeutet Abkehr von der Unrast des menschlichen Treibens. Kein Holländer hätte den Terminus „nature morte" gebildet und das stille Leben mit dem Tode verwechselt. Schopenhauer rühmt den Holländern — er sagt Niederländern — nach, daß sie sich im Stilleben ein dauerndes Denkmal ihrer Objektivität und Geistesruhe gesetzt haben. Geistesruhe ist eine Voraussetzung für die ausdauernde Geduld, die sich in der Feinmalerei bewährt. Heftige Bewegung wird in Holland häufig als eine willentlich angestrebte, aus dem Westen oder dem Süden eingedrungene Tendenz enthüllt. Frans Hals und Adriaen Brouwer stammen aus dem Süden der Niederlande. Rembrandt ringt eine Zeitlang nach körperlicher Aktion, überwindet aber diese Bestrebung wie eine Krankheit. Riegl — in dem Aufsatz über die Gildenstücke — bemerkt, die Holländer haben alle äußere Handlung unterdrückt oder wenigstens die physischen Bewegungen zurückgedrängt durch gewisse psychische Begleiterscheinungen der Handlung. Im 15. Jahrhundert hat niemand seelisches Leben bei körperlicher Bewegungslosigkeit so eindringlich geschildert wie Geertgen tot St. Jans, der Haarlemer, in dem Bilde des Täufers, das sich in der Berliner Galerie befindet. Johannes sitzt, schweren Gedanken hingegeben, regungslos, einsam, in heiterem Gefilde. Und Dierick Bouts, der aus Haarlem stammt, Gerard David, der aus der Gegend von Gouda kommt: sobald sie sich um dramatische Aktion bemühen, suchen sie Hülfe, namentlich bei Roger van der Weyden. Rembrandts reifstes und letztes Wort, ist es nicht wiederum seelisches Leben bei körperlicher Bewegungslosigkeit? In der Periode, in der Lucas lebte, war das Streben allgemein auf laute Instrumentation, auf muskelstarke Tat gerichtet. Die Holländer vermochten sich den Anforderungen des Zeitgeschmacks nicht zu entziehen. Um auf der Höhe zu bleiben, reckten sie sich und spreizten sich, schritten sie auf ellenhohen Socken. Ihre Gestikulation wirkt forciert, ihr Pathos klingt hohl, die dramatische Energie artet in Tumult aus. Um 1540 ist der führende Meister in Antwerpen Pieter Coeck, in Haarlem Martin van Heemskerck. Der Vlame findet im Schwung und Flusse bewegter Massen dekorativ glückliche Lösungen, während der Holländer zur Karikatur des Michelangelo-Stils gelangt. An ursprünglicher Begabung war der Meister von Alost dem Holländer keineswegs überlegen, er war nur fähiger, sich das Südliche zu assimilieren. Lucas gehört derselben Generation an, wie J a n van Scorel und van Heemskerck, nur daß seine Wirksamkeit früher einsetzt und früher endet als die jener Landsleute. Nicht wie sie hat er im Süden geweilt und hat die zeitgemäße Lehre nur aus zweiter Hand empfangen. Fester gebunden an die Heimat, aber hellhörig und wandlungsbereit in hohem Grad, hat er — vielmehr seine Kunst — besonders schwer gelitten unter dem Widerstreite zwischen der natürlichen Anlage und den 90

Ansprüchen der Zeit. Lucas bemühte sich um die Illusion der Bewegung, und Fortschritt ist zu verfolgen. Mehr und mehr stößt und drängt er die schweren Körper in Aktionsfluß, gelangt aber kaum zum Springen, Tanzen oder Fliegen. Das Ruhen seiner Geschöpfe ist ein Sich-Ausruhen, ein Haltmachen auf dem Wege. Die Explosion der Glieder — in den späten Werken — wirkt beflissen, wie Ausschreitung. Als Erzähler denkt Lucas mehr an das Geschehen als an das Sein, denkt am wenigsten an repräsentatives Dasein. Seine Menschen beschäftigen uns weniger mit ihrer Wesenheit als mit dem Zustand, in dem sie sich befinden. Wie gleichgültig sind die Einzelgestalten, die Apostel. Die Bildgedanken des Meisters, wenigstens die originalen, sind mehr episch als dramatisch und lyrisch insofern, wie Gemütsbewegungen in Haltung und Gestus zum Ausdruck gelangen. Der Holländer ist kein Dramatiker. Er verweilt mit Nachdenklichkeit und Voraussicht bei den Ursachen und den Folgen der Katastrophen. Er fragt, wie konnte dies geschehen und wie wirkte sich dies Geschehen aus. Obwohl Lucas als der Sohn seiner Zeit der alten Kirche angehört, regt sich in ihm protestierende Zukunft. Er liest die heilige Schrift mit selbständiger Ausdeutung. Die Frömmigkeit der Holländer äußert sich zumal in Menschenliebe, in sorgendem Mitgefühle mit den Bedürftigen und Leidenden. Anteilnahme an dem schweren Schicksale des Menschengeschlechtes beseelt frühe Schöpfungen des Meisters. Unstet und flüchtig das erste Menschenpaar: wie eindringlich ist dies in dem Kupferstiche von 1509 veranschaulicht. Rembrandts Gläubigkeit, innig zur Aussprache gelangt zumal im „Hundertguldenblatte", meldet sich in einigen Äußerungen des Ahnherrn, dessen Blick mehr der duldenden Kreatur als der erlösenden Gottheit zugewendet ist. Des Meisters Neigung zum Genre wird nicht nur offenbar in den Gemälden, den Karten- und Schachpartien, vielmehr auch — und sogar entschiedener dort, wo das Thema Genrehaftes nicht erforderte. Indem Lucas fortstrebte von der professionellen Gewohnheit, der ikonographischen Überlieferung, war er für seine Blicknahrung angewiesen auf die nahe und vertraute Wirklichkeit. Und das Leben bot Menschliches, nicht Heroisches, Irdisches, nicht Überirdisches. Nur auf diesem Boden war er stark und hat ihn nicht ungestraft verlassen. Man mag einen Mangel an Einbildungskraft beklagen oder treue Redlichkeit rühmen. Für das Erhabene, Übermenschliche war er auf fremde Kunst angewiesen, so daß er sich nicht aufwärts zu schwingen, vielmehr eine Leiter zu besteigen scheint. Was immer geschehen ist, mußte geschehen. Diesen Satz bedenkend, bezieht der Historiker den bequemen Standpunkt, von dem aus jegliche Kunstäußerung berechtigt erscheint. Im Schriftwesen unsrer Tage werden „Romanismus" und „Manier" mit Wohlwollen und Neutralität betrachtet. Der Kunstfreund, mit freilich zeitgebundenem und subjektivem Urteile, kommt jedoch nicht darüber hinweg, nur von den Jugendwerken des Leidener Meisters überzeugende, als echt und ehrlich anmutende Eindrücke zu empfangen. 91

Wenden wir uns zu Rembrandt, so fällt eine Abirrung von ähnlicher Art auf, wie die seines Ahnherrn, nur mit dem, allerdings wesentlichen, Unterschiede, daß Lucas in die Manier hineingleitet, während Rembrandt sich aus der Manier befreit. Die Renaissance wie das Barock waren landfremde, verführerische Mächte. Kein Volksstamm war so wenig wie der holländische dazu veranlagt, sich die Tendenzen, Theorien und Formideale des Südens mit Gewinn anzueignen, keiner hat dem internationalen Geiste, der die Kulturwelt überflutete, so harten Widerstand entgegengesetzt und ist zweitweilig so tragisch unterlegen. In der holländischen Malerei wirken die treibenden Kräfte der Renaissance und des Barocks mehr zerstörend als fördernd. Der Holländer ist nichts weniger als ein Enthusiast für die Form. Sein Sinn für Wohlgestalt, für Dekoration, für Ornament ist schwach entwickelt. Dekoration nehme ich als den weiteren, Ornament als den engeren Begriff, da Dekoration nicht durchaus des Ornamentes bedarf, das Ornament aber, unter allen Umständen dekorativ ist. Das Ornament als das absolut und pur Dekorative sagt aus, daß dem Bildner das Formenspiel, unabhängig von dem Naturhaften und Menschlichen, genug und alles ist. Wer die Geschichte des Ornaments durch die Jahrhunderte verfolgt, findet kaum Veranlassung, bei Holland einzukehren oder sich dort aufzuhalten. Sogar im Kunstgewerbe, das auf schmückende Erfindung angewiesen ist, erscheint das Schalten der Holländer mit einer von der gegebenen Sichtbarkeit unabhängigen Form in geringem Grade produktiv. Die erfolgreiche Keramik im „goldenen Zeitalter" lebt im Wesentlichen von Nach- und Umbildung fremder Motive. Und die Goldschmiede derselben Periode kommen nicht aus ohne den Einsatz vegetabilischer und animalischer Formelemente, sie vermeiden geometrisches Zierwerk. Ihr Stil ist atektonisch. Der Dekorationssinn der Holländer bleibt dem Naturhaften zugewendet, dem organisch Zufallshaften. In ihrre Leidenschaft für Blumen haben sie schmuckhafte Formen und Farben gezüchtet, nicht erfunden, sich mit der Natur beholfen, ihr nachgeholfen. Was die kritische Zeit angeht, in der Lucas lebte, vergleichen wir die Bauwerke, die im Süden der Niederlande errichtet wurden oder in südniederländischen Gemälden aufragen, mit gleichzeitigen holländischen Gebäuden und kommen zu dem Ergebnis, daß Klarheit, sachliche Schlichtheit der holländischen Gesinnung offenbar wird. Ein Bauwerk ist für Lucas weniger ein Kunstgebilde, das durch Pracht oder Besonderheit den Beschauer fesselt, als eine solide Behausung zu Nutz und Schutz. Den Vlamen ist der Turm ein willkommenerDekorations wert in landschaftlichem Grunde, so besonders für Jan Gossart und Jan Provost. Lucas läßt Bäume — nicht Türme — in den Himmel ragen. Der Turm ist das am wenigsten sachliche Glied des Baukörpers. Mit dem Sinn fiir das Gewachsene verbindet sich Blindheit für das von Menschen Hergestellte. Der reife Rembrandt vermeidet architektonische Begrenzung des durch Licht und Farbe geschaffenen Innenraumes: „Die rationale Logik strenger 92

Architekturgesetzlichkeit war ihm zeitlebens unbehaglich". So drückt sich Fraenger aus62. Rembrandts Verhältnis zum Ornament ist schlechthin Abstandnahme. Ein Holländer war es, nämlich Heemskerck, der, wie V a n Mander erzählt, das Wort oft im Munde führte: ein Maler der gedeihen will, vermeide „cieraten en metselrijen". Der Biograph fügt freilich hinzu, Heemskerck selbst habe sich an diesen Rat nicht gehalten, er sei ein guter Architekt gewesen. Heemskerck dachte aber mit seiner Warnung weniger an Bauwerk, als an architektonisches Zier- und Schmuckwerk. Derjenige Nordniederländer, der die Zeit- und Landsgenossen an erfinderischer Phantasie überragt, Hieronymus Bosch, denaturiert Fauna und Flora, spielt mit den Naturgebilden, züchtet Mischgeschöpfe. Seine Bauten gleichen Gewächsen. Das Ornament, das Jacob Cornelisz. bevorzugt, ist vegetabilisch. Das Zierwerk, das Lucas verwendet, ist pflanzenhaft, stachlich, spitz ausladend in der Frühzeit, später entlehnt — von Dürer gelegentlich, direkt oder mittelbar von italienischen Niellen. Er bildet um 1528 Ornamentfelder im Geschmacke der deutschen Kleinmeister, nimmt dabei aber relativ viel Figürliches, Animalisches auf, wie er in der Jugend gerne bewegte Kinderkörper dem Blattwerk einfügt. Dekorativ und zugleich manieristisch wird des Leideners Gestaltung insofern, wie das Faltengeriesel, das namentlich zwischen 1512 und 1519 den Gesamteindruck vordringlich bestimmt, weniger der Sache, der Erzählung, dient als der Unterhaltung des Auges, eher Melodie als Text. Spezifisch holländisch ist die Lust am absoluten Formenspiele keineswegs. Die zeitgemäße Freude an Bewegung äußert sich im „Werke" des Leideners früher im Faltenwurf als im naturhaft organischen Menschenleibe. Das feste, glatte, tote Mauerwerk, das in der mittleren und späten Zeit den Tiefenraum begrenzt, trägt kontrastierend dazu bei, das Leben lebendiger erscheinen zu lassen. Das Organische rührt und regt sich auf dem Reliefgrunde des Unorganischen. Der Holländer ist kein Enthusiast für die Form. Sobald und soweit Lucas ein Formalist wird, verliert er den Boden unter den Füßen, und dies Verhängnis bestätigt, wie durchaus er ein Holländer war. Der Lerneifer der Holländer ist dem Tatsächlichen zugewendet. Aus Wissensdurst erwächst der Sinn für die Historie. Mit Turbanen und sonstiger fremdartiger Ausstattung wird die biblische Vorwelt geschildert. Rembrandt schenkt seine Aufmerksamkeit den Juden, die in seinem Gesichtsfelde wohnten, um zeitliche und örtliche Ferne zu veranschaulichen. Die biblische Erzählung selbständig durchdenkend, und dabei darüber nachsinnend, eindringend in die Zustände des Inneren kann Lucas, als ein Vorgänger Rembrandts geehrt werden. Rembrandts „Saul und David", das Gemälde im Haag, in dem die Macht der Töne auf das menschliche Gemüt ergreifend ausgedrückt ist, stellen wir neben den Kupferstich, in dem Lucas, um 1508, denselben Vorgang, 52

Fraenger, Der junge Rembrandt, S. 8.

93

minder human, aber kaum weniger eindringlich, dargestellt hat. Die Holländer waren grübelnde Leser der heiligen Schrift. Mit zaghafter Keuschheit ist das Verhältnis zwischen M a n n und Weib aufgefaßt — von Lucas in seiner Jugend, von Rembrandt im Alter, indessen Rembrandt in früherer Zeit und Lucas gegen Ende seiner Bahn gelegentlich das Erotische dreist genug entschleiern. Springen wir von der Jugendkunst des Ahnherrn zu der reifen Schöpfung des Enkels, dabei hinweg über Renaissance und Barock, so bleiben wir auf holländischem Boden, freilich auf ansteigendem. Wer sich vorstellt, daß Rembrandt fremde Tracht abgestreift habe, darf nicht übersehen, daß er von südlicher Größe und Formkultur das für seine Entwicklung förderliche eingesogen und dabei einen Erdenrest von bürgerlicher, ortsgebundener Enge getilgt hat. Wenn Rembrandt das Zeitgemäße zu seinem Heile verarbeitete und überwand, war Lucas nicht ebenso begünstigt in seinem Verhältnisse zur Renaissance. I h m wurde das „Urerlebnis" verdrängt durch das „Bildungserlebnis". Erweitert hat er den Rahmen, beim Weckrufe vom Süden her, vermochte aber nicht, den Rahmen zu füllen. Die Bedrücktheit der Jugend wurde durch den Luftstrom der Renaissance vertrieben, der dabei ausgetriebene seelische Gehalt aber nicht ersetzt. Das 17. Jahrhundert, das Goldene Zeitalter der holländischen Kultur, hat nach Inhalt, Auffassung und Sehweise, in der biblischen Erzählung, wie auch in den Bildgattungen des Portraits, des Genres, der Landschaft kaum etwas ans Licht gebracht, wofür nicht Ansätze, Versprechungen im „Werke" des Leideners Lucas aufgewiesen werden könnten. Wenn jene Keime abstarben, so waren es Zeitumstände in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die der Entfaltung holländischer Sonderart entgegenwirkten, war es persönlicher Mangel an kämpferischer Energie gegen die Zeitumstände. J e älter Lucas wurde, umso aufmerksamer lauschte er auf die Stimme der Zeit, u m so weniger hörte er auf die Stimme des Blutes. Indem er sich ehrgeizig auf die Ebene, die für die Höhe galt, heraufarbeitete, löste er sich vom nährenden Heimatboden. Wer sich auf eine modern gewordene Terminologie einstellt, mag sein Schicksal bezeichnen als den Sieg des „Geistes" über die „Seele" oder, weniger modern formuliert, als den Sieg des Intellekts über den Instinkt.

FINIS

NACHWORT

Im Nachlaß Max Friedländers fand sich das Manuskript über Lucas van Leyden, das hier im Druck vorgelegt wird. Der Gelehrte hat es im hohen Alter verfaßt, in dankbarer Erinnerung an die künstlerischen Eindrücke und wissenschaftlichen Anregungen, die ihm das ungemein schaffensfreudige Wunderkind Lucas gespendet hatte. Dieses empfängliche Genie war so recht nach Friedländers Herzen. Das hochbegabte Kind war erstaunlich selbständig und trotzdem bis zu seinem frühen Ende der Kunst seiner Zeit — und welch gewaltiger Kunst — aufgeschlossen wie wenige. Nicht nur künstlerisch und psychologisch ein Phänomen, das sich in seiner gewaltigen Produktion von Stichen von seinen inneren Gesichten befreite, sondern einer der ersten echten Maler, der Hollands weltgeschichtlichen Leistungen in der Kunst den Weg bereitete. Seine Gemälde, die Friedländer selbst nicht selten als Erster erkannt hat, fesselten ihn zumindest ebensosehr wie das früh zu Weltberühmtheit aufgestiegene graphische Werk. Ihre Vielfalt wirft ästhetische und psychologische Probleme auf, die den Gelehrten von jeher zur Auseinandersetzung aufgerufen haben. Es geschieht im Rückblick des Alterswerks mit einer Fühlsamkeit und Überzeugungskraft, behutsam und mit scharfem Blick für das Neue, mit einer Wertung aus der Distanz, die, wie wir meinen, das Buch zu einem besinnlichen und lebendigen Werk machen. Friedländer geht der Wertung des einzelnen Kunstwerkes nirgends aus dem Wege, wie es zunehmend in der Kunstgeschichte geschieht. Alles in allem ist Lucas van Leyden eine schillernde Persönlichkeit, in dessen reichhaltigem Werk — Stiche, Gemälde, Zeichnungen, Holzschnitte, Radierungen und Glasmalereien — Vollendetes neben Schwachem und Gekünsteltem steht. Friedländer hat dem überall Ausdruck gegeben und so ein farbiges glänzendes Bild von dem holländischen Künstler geschaffen. Er interpretiert die unaufhörlichen Wandlungen desselben in seinem gestochenen Werk mit Meisterschaft und gewinnt damit die feste Grundlage für seine Überlegungen. Die geschliffene Sprache des Autors verfügt über die Hilfsmittel eines wendig und präzis analysierenden Geistes und bewirkt, daß sich das schillernde Gesamtbild der höchst geistvollen Gemälde überzeugend dem bunten Wechsel des gesicherten Stichwerkes einfügt. Über manches zweifelhafte Werk, z. B. den Brüsseler Antonius, die Amsterdamer Predigt, deren Problematik Friedländer nicht verkennt, wird schwerlich in Bälde Übereinstimmung erzielt werden. Das Malwerk Lucas' in vielen Teilen neu und dauernd aufgerichtet zu haben, ist ohne Zweifel Friedländers Verdienst. 95

Die zuweilen ein wenig altfränkische Ausdrucksweise im Altersstil des Gelehrten ist beibehalten worden, auch seine häufigen Trennungszeichen. Sie tragen zu der Einprägsamkeit seiner Diktion bei. Die Würdigung holländischer Eigenart am Schluß des Buches ist eine Huldigung an das Land, in dem Friedländer in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens eine neue Heimstätte gefunden hatte. Seine Asche ruht in seinem Familiengrab in Berlin. Herr Dr. H. Oelze in Amsterdam hat sich um das Zustandekommen des Buches besondere Verdienste erworben. Ihm sei ausdrücklich Dank gesagt. Das Rijksbureau voor kunsthistorische documentatie im Haag, der Erbe des photographischen Materials Friedländers, hat die Publikation mit einer Reihe von Photographien unterstützt, wofür Herrn Dr. Gerson zu danken ist. Ebenso gebührt Dank dem Verlag, der, in langjähriger Verbundenheit zu den Berliner Museen und zu Max J. Friedländer stehend, es übernommen hat, das nachgelassene Werk herauszubringen. F. W .

Die Aufsätze von A . v a n Schendel im Bulletin v a n het Rijksmuseum 1953 und N . Beets in O u d Holland 1952 über das T r i p t y c h o n mit dem T a n z u m das goldene K a l b , von J . v a n Gelder über verschollene Arbeiten des Künstlers in der Festschrift für D . R o g g e n sind von Friedländer nicht mehr benutzt worden.

96

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

5

LEBENSDATEN

7

DIE KUPFERSTICHE AUS DER ZEIT UM 1508

11

DIE STICHE — 1509 / 1510

23

ZWISCHENSTÜCK

31

DIE STICHE AUS DER ZEIT ZWISCHEN 1512 UND 1520

33

DIE STICHE AUS DER ZEIT ZWISCHEN 1520 UND 1530

37

DIE GEMÄLDE

46

ZWEIFELHAFTES

71

DIE ZEICHNUNGEN

73

DIE HOLZSCHNITTE

79

DIE PERSÖNLICHKEIT UND IHR WEG

84

LUCAS DER HOLLÄNDER

88

NACHWORT DES HERAUSGEBERS

95

BILD ANHANG

BILDANHANG

i Mahomet 1508

B. 126

4 H . Christoph

B. 108

5 P a a r bei Nacht

B. 147

6 Auferweckung Lazaii

7 S u s a n n a und d i e beiden

Alten

8 David und Saul

9 Hagar

io Hl. Georg

B. 121

11 H l . F a m i l i e

B.39

12 Versuchung des hl. Antonius 1509

B. ny

1 5 Christus am Ölberg 1509

B . 57

16 Adam und Eva im Elend 15io

B.

¡i

17 Milchmädchen

15io

18 Joseph Träume deutend 1 5 1 2

B. 22

23 Abraham und die Engel

ß ¡^

84 Esther vor Ahasver 1 5 1 8

25 Kaiser Maximilian 1520

B. 17s

27 Maria mit Kind 1523

B. 84

28 Erschaffung Evas 1529

Loth

Paris

36 Selbstbildnis

Briiiinsrliweig

Bildnis

Lugano,

Thyssen

38 Anbetung der Könige

Philadelphia, Barnes

39

Abcndnialil

.lachen

4 i Hl. Hieronymus

lier!i H

42 M a r i a m i l K i n d

. I iiulertlnm

43 Maria mit Kind

Oslo

44 M a r i a mit K i n d

Berlin

45 Diptychon (oben verändert)

München

46 Verkündigung

München

47

Dit- P i e d igt

Amsterdam

Bildnis

1

•"'"'""

49 Bildnis

Rotterdam

50 Jiingstcs

Gentili

Leiden

f)2 A u ß e n s e i t e des vorigen

5 3 Ausschnitt aus 5 0

56 Urteil Salomos (Glasgemälde)

Ktmsthandel

-)7 Esther vor Ahasvcr (Glasgrmiilde)

huitslhaiidel

-,ö A u s s c h n i t t a u s 5 4

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