Logik der Prosa: Zur Poetizität ungebundener Rede 9783737097956, 9783899719611, 9783862349616

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Logik der Prosa: Zur Poetizität ungebundener Rede
 9783737097956, 9783899719611, 9783862349616

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Astrid Arndt / Christoph Deupmann / Lars Korten (Hg.)

Logik der Prosa Zur Poetizität ungebundener Rede

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-961-1 ISBN 978-3-86234-961-6 (E-Book) Ó 2012, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Sir Lawrence Alma-Tadema, Prose, 1879 (oil on panel), 35.5x23 cm (Amgueddfa Cymru, National Museum Wales) Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Albert Meier zum sechzigsten Geburtstag

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Poetik Astrid Arndt / Christoph Deupmann Poetik der Prosa. Zur Reflexionsgeschichte und Topik des Prosa-Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Günter Arnold Edition und Kommentar : Johann Gottfried Herders Exzerpt von Pierre Daniel Huets Trait¦ de l’origine des romans . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Lars Korten Ist der Roman das moderne Epos? Zur Theorie epischen Erzählens um 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Maurer Poetik des Tagebuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Claudia Stockinger Die Logik seriellen Erzählens. Der Groschenroman

91

. . . . . . . . . . . .

II. Formbeziehungen G¦rard Laudin Geschichtsbuch oder Roman? Voltaires Umgang mit historischen Quellen in seinen Beiträgen zur Reichshistorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Claus-Michael Ort »Ich muß doch schreiben –«. Funktionen dramatisierter Schriftlichkeit bei Lessing, Schiller, Iffland und Kleist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

8

Inhalt

Marianne Wünsch Grabbes Napoleon oder die hundert Tage. Eine neue Geschichtskonzeption und das Ende des klassizistischen Dramas . . . . . 155 Jochen Golz Lyrik oder Prosa? Einige Bemerkungen zu den Streckversen Jean Pauls

. 167

III. Interpretationen Maike Schmidt »wenn man nur darnach Augen hat.« Zur romantischen Poetizität in E.T.A. Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig . . . . . . . . . . . . . . 185 Jurij Murasˇov Musengeschäfte und Kuppelei. Zur literarischen Autorschaft in Dostoevskijs Bednye ljudi (Arme Leute) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Heinrich Detering Das prosaische Lied von der Glocke: Andersens »Schiller-Märchen« und die postromantische Kunstreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Margherita Cottone Der Begriff der »poetischen Prosa« in Thomas Manns literarästhetischer Essayistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Steffen Martus »Es gibt allerdings keine Krise der Literatur, […] sehr wohl aber eine Krise des Publikums, des Lesens«. Bodo Kirchhoffs Logik der Prosa in Parlando und Schundroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Dirk Niefanger La Trippa in bianco. Zur Logik sinnlichen Erzählens in Hanns-Josef Ortheils Italien-Roman Die große Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Christoph Jürgensen »Auf den ersten Blick denkt man, genauso sieht es aus in der Natur!« – Zur Logik jugendliterarischer Doppelcodierung am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Tschick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Inhalt

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Alessandro Costazza Benjamin Steins Die Leinwand oder über die (Un-)Möglichkeit (auto-) biographischen Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

Vorwort

Die Prosa ist im Unterschied zum Vers eine ästhetisch unauffällige Darstellungsform, die der Aufmerksamkeit, die das Dichten in Versen mühelos auf sich zieht, allzu schnell entgeht. Darauf weist jedenfalls die Entdeckung des Monsieur Jourdain in MoliÀres Prosa-Komödie Le bourgeois gentilhomme (UA 1670) hin, vierzig Jahre lang in Prosa gesprochen zu haben, ohne davon zu wissen: »Par ma foi! il y a plus de quarante ans que je dis de la prose sans que j’en susse rien […].« Jourdins überraschter Einsicht geht ein systematischer Disput über Vers und Prosa voraus: Weil Jourdain einen Brief schreiben möchte, dabei aber weder Verse noch Prosa gebrauchen will, weist ihn sein Gesprächspartner, ein Philosoph, auf die Unhintergehbarkeit der Alternative hin: »Par la raison, Monsieur, qu’il n’y a pour s’exprimer, que la prose, ou les vers.«1 Wenn also Jourdain sein Hausmädchen Nicole anweist, ihm Pantoffel und Nachtmütze zu bringen, spricht er (zweckmäßigerweise) in Prosa. Jourdains Erstaunen läuft bei aller Lächerlichkeit doch auf eine sprachphilosophische Entdeckung hinaus, die auch poetologische Relevanz beanspruchen kann: Während das Verfertigen von Versen erlernt und geschult werden muss, reicht für die Prosarede schon ein unoder ›meta-‹bewusstes Regelverständnis aus, so dass – wie im Falle Monsieur Jourdains, aber auch des die Prosa ihres Dienstherrn stumm verstehenden Hausmädchens Nicole – das praktische ›Wie‹ dieses Wissens nicht von einer Kenntnis des ›Was‹ begleitet sein muss.2 Dass die künstlerisch unambitionierte Alltags-Prosa, die MoliÀres bildungsferne Bühnenfigur spricht, bereits eine allgemein gestaltgebende (vom Vers unterschiedene) Möglichkeit ästhetischer Rede darstellt, weist darüber hinaus auf ›poetogene Strukturen‹ des vor- oder außerliterarischen Sprechens hin: Ob Erzählen, monologisches Reflektieren, szenisches Vorspielen oder witzige Wortspielerei, alle literarischen Darstellungsweisen sind in den kommunikativen Formen alltäglichen Sprachverhaltens schon zu finden, so dass sie zu konventionellen, historisch-sozialen Dichtweisen 1 MoliÀre, Le Bourgeois gentilhomme, 730. 2 Vgl. dazu Watkins (1978), 3 f.

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Vorwort

oder Gattungen ausgebildet werden konnten.3 – Gleichwohl enthält die Alternative von Prosa und Vers offenbar eine Asymmetrie. Denn während über die Kunstförmigkeit versifizierter Rede kein Zweifel besteht, ist die ästhetische Qualität der Prosa keineswegs von vornherein ausgemacht – eher scheint das Gegenteil evident. In Prosa spricht man mit dem Hausmädchen oder schreibt »petits billets« an die Geliebte (womit freilich auch schon der Gegenstand der literaturgeschichtlich erfolgreichsten Prosagattung, des Romans, angegeben ist); die formale Nähe zur alltagssprachlichen Kommunikation (einschließlich des Erzählens) legt die Prosa auch material auf den ›niederen‹ Stoffbezirk des Profanen oder – in metonymischer Bezeichnung – Prosaischen fest. Man muss nicht mit Georg Philipp Harsdörffer zwischen der »Poesie« und der »gemeinen red-art« eine Todfeindschaft annehmen, um die Schwierigkeit der Aufgabe zu ermessen, der Prosa zum Ansehen der Dichtkunst zu verhelfen: »Wie nun das Gold / welches künstlich gearbeitet ist / viel höher gehalten wird / als das jenige / so von den Schlacken noch nicht gereiniget worden«, argumentiert er im Poetischen Trichter (1648 – 53), »also ist auch die gebundene Rede viel werther zu achten / als alle Tagswort aus eines groben Pflügersrülpen Mund.«4 Wie indes das Gold der ›poetischen‹ Sprache letztlich nur aus dem Strom der Alltagsrede geschürft werden kann, lässt sich auch das »Tagswort« der Prosa von den ›Schlacken‹ des gewöhnlichen, kunstlosen Sprachgebrauchs reinigen, rhetorisch aufpolieren und in ästhetische Ordnungen transformieren: bis hin zu den Kunstwerken einer lauteren »Prosa-Goldschmiederei«, wie Walter Benjamin sie in Johann Peter Hebels Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds gefunden hat.5 Damit ist das Thema der Beiträge des vorliegenden Bandes bezeichnet: Es geht um die ästhetischen Verfahren und historisch ausdifferenzierten Formen, durch die oder in denen Prosa ›Kunst‹ bzw. ›Dichtung‹ wird. Das Stichwort dazu liefert eine Idee und eine Formulierung Albert Meiers, der mit diesem Band zu seinem sechzigsten Geburtstag von seinen Freunden und Schülern geehrt werden soll. Die ästhetische Qualität literarischer Prosa ist – ohne metrisch-formale Abgrenzung von der ›Normalsprache‹ – vorderhand nicht evident; literarische Prosa bildet deshalb spezifische Ästhetisierungsstrategien aus, um die entsprechende Differenz zu markieren. In erzählender Prosa kommt daher der Selbstreflexion des Erzählens ebenso wie der Herstellung künstlicher Ordnung besondere Bedeutung zu: als Mittel der Entglaubigung bzw. Verkünstlichung der unter außerliterarischen Bedingungen fraglose Glaubwürdigkeit beanspruchenden Rede.6 3 4 5 6

Vgl. Zymner (2003), 168 u. ö. Harsdörffer, Poetischer Trichter, 4. Benjamin, Johann Peter Hebel, 277. Vgl. dazu die Einführung in Meier (2005).

Vorwort

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Die Idee, dass literarische Prosa – ausgespannt zwischen Alltagsrede und ›Kunstprosa‹ –7 demzufolge eine spezifische ›Logik‹ entwickelt, um jenseits der »kunstlosen ›Flucht nach vorne‹«8 ästhetische Qualität zu gewinnen, lässt sich sowohl systematisch erläutern (in Hinsicht auf literarische Gattungen wie Epos, Roman, Tagebuch) als auch historisch entfalten. Den Einstieg dazu bilden die Überlegungen zur »Poetik der Prosa« von Astrid Arndt (Berlin) und Christoph Deupmann (Karlsruhe), in denen die in der Antike beginnende, topische Muster poetologischer Verständigung ausbildende Reflexionsgeschichte der ungebundenen Rede zu rekonstruieren versucht wird. Die spezifische Gattungspoetik der Prosa steht im Fokus der folgenden Beiträge. Mit der hier erstmalig vorgelegten Edition von Johann Gottfried Herders Exzerpt aus Pierre Daniel Huets De l’origine des romans erschließt Günter Arnold (Weimar) ein rezeptionsgeschichtliches Dokument zur Poetik des Romans. Edition und Erläuterungen ermöglichen es, sowohl den Kontext der Abhandlung Huets besser zu begreifen, als auch die mehrfach nachweisbare Huet-Beschäftigung Herders mit seinen literarhistorischen Darstellungen zu verknüpfen. – Der literarhistorisch häufig auf das 19. Jahrhundert fixierten Konkurrenz von Roman und Epos widmet sich Lars Korten (Berlin). Ausgehend von Quellentexten zur Theorie des Epos geht der Beitrag der Frage nach, welche Möglichkeiten dem modernen Epos um 1850 eingeräumt werden und welche Rolle der Vers dabei spielt. Somit wird Aufschluss gegeben über die Veränderung der ›Systemstelle‹ von Epos und Roman im Gattungssystem und über den fragilen poetischen Stellenwert der ›großen‹ Prosa-Erzählung. – Michael Maurer (Jena) entwirft eine Phänomenologie des Tagebuchschreibens, die nicht von einem definitorischen Minimalkonsens ausgeht, sondern die je konkrete Praxis des Schreibenden reflektiert. Dieses diaristische Panorama wird poetologisch ausgewertet, etwa anhand der Kategorien ›Zeit‹ (Tag / Nacht, Augenblick / Dauer) und ›Dialogizität‹ (Ich-Verdoppelung oder Adressierung ans Medium), so dass nicht zuletzt die Tauglichkeit von Dichtungstheorie für eine allzu häufig als ›formlos‹ geltende Prosagattung unter Beweis gestellt ist. – Dass auch das serielle Format des Groschenromans eine häufig unterschätzte, hinsichtlich Plotstrukturen und Darstellungsweisen mitunter keineswegs unkomplexe Logik (des Erzählens) entwickelt, so schematisch Figurenkonstellationen und Konflikte auch angelegt sein mögen, belegt Claudia Stockinger (Göttingen) an Beispielen aus Frauen-Heftroman-Reihen. Sie richtet damit den Blick auf populäre Lesestoffe abseits der (entsprechend zu hinterfragenden) Trivialliteraturforschung, indem sie Arzt- und Heimatromane zum Gegenstand narratologischer Nachforschung macht und weiterführende Untersuchungen anregt. 7 Kleinschmidt (2003), 168. 8 Lausberg (1990), 789.

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Vorwort

Mit dem Verhältnis der Prosa zu den traditionellen Gattungen Lyrik, Drama und Epos beschäftigen sich die Aufsätze des zweiten Teils. Die Transformationen des historiografischen Quellenmaterials in der Essayistik Voltaires untersucht der Beitrag von G¦rard Laudin (Paris). Im genauen Nachvollzug ihrer Erarbeitungsweise wird deutlich, dass Voltaires von der Kritik gerügte ›fabulierende‹, ›romanhafte‹ historiografische Prosa eine unterhaltsame, ästhetische Darstellungsweise anstrebt, die die Funktion der Geschichte als magistra vitae durch historische Bildung des bürgerlichen Publikums umzusetzen sucht. – Welche Rolle schriftliche Prosa in Form von gelesenen oder verlesenen Briefen auf der Bühne spielen kann, untersucht Claus-Michael Ort (Kiel) an Schauspielen von Lessing (Miß Sara Sampson, Emilia Galotti), Schiller (Kabale und Liebe, Die Räuber), Iffland (Albert von Thurneisen) und Kleist (Prinz Friedrich von Homburg). Der Wechsel zwischen mündlicher Präsenz und schriftlicher Distanz, den die Prosa des Briefes bewirkt, übernimmt nicht nur komplexe Funktionen für die konkrete Dramenhandlung, sondern lässt Schriftkommunikation überhaupt auf der Bühne beobachtbar werden. – Marianne Wünsch (Kiel) erörtert am Beispiel von Christian Dietrich Grabbes Napoleon oder die hundert Tage und mit einem Seitenblick auf Georg Büchners Dantons Tod, mit welcher Berechtigung sich Anfang der 1830er Jahre vom Ende des klassizistischen Dramas sprechen lässt. Der Beitrag macht ersichtlich, mit welch vielfältigen strukturellen Neuerungen die beiden ›modernen‹ Prosa-Dramen einen Formwandel begründen (etwa durch die Episodenhaftigkeit der Handlung, mangelnde Identifikationsangebote mit dem Protagonisten und mangelnde Funktionalität der Szenenabfolge), mit dem ganz wesentlich auch die Umwandlung des klassizistischen Geschichtsmodells einhergeht. – Welche konkreten Formen die Gratwanderung von Poesie und Prosa hervorzubringen vermag, illustriert Jochen Golz (Weimar) am Beispiel der lyrischen Kurzprosa von Jean Paul. Anknüpfend an Herders Paramythien arbeitet Golz heraus, welche Rolle die ›Streckverse‹ oder ›Polymeter‹ in Jean Pauls Roman Flegeljahre spielen. Die Einzelinterpretationen im dritten Teil des Bandes geben Aufschluss über die verschiedenartigen Ästhetisierungsstrategien, mit denen sich Prosa als literarische Kunst definiert. Maike Schmidt (Kiel) zeigt an Clemens Brentanos Nußknacker und Mausekönig, wie ein als Kindermärchen rezipierbarer Text literarisch hochgradig anspruchsvolle Qualitäten entwickeln kann, die zur Poetisierung und ästhetischen Kohärenz beitragen – bis hin zur Ununterscheidbarkeit von ›Realität‹ und ›Dichtung‹. –Eines der zentralen Ästhetisierungsverfahren literarischer Prosa untersucht Jurij Murasˇov (Konstanz) mit Dostoevskijs Briefroman Bednye ljudi (Arme Leute): Ausgehend von Pusˇkins Rollengedicht Das Gespräch des Buchhändlers mit dem Dichter untersucht er eine Selbstentfremdung literarischer Autorschaft im Zeichen des literarischen Marktes, auf die die russische Prosa im 19. Jahrhundert mit einer zunehmenden

Vorwort

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Selbstreflexion des Erzählens reagiert. Die (systemtheoretisch gedachte) Unwahrscheinlichkeit literarischer Kommunikation unter modernen ökonomisierten Bedingungen lässt freilich jeden Versuch scheitern, ›Authentizität‹ im Medium der Schrift zu behaupten. – Wie Hans Christian Andersen das populärste Gedicht Friedrich Schillers, Die Glocke, in die Prosa einer genrebildhaften ›Märchen‹-Erzählung auflöst, die Schillers Leben in diskreter Engführung mit der Geschichte des eigenen Lebens darstellt, zeigt Heinrich Detering (Göttingen) an dem 1860 verfassten ›Gedenkalbumblatt‹ Die alte Kirchenglocke auf. Der Genrewechsel hin zur narrativen Kleinform lässt an die Stelle der moralischphilosophischen Gedankenlyrik eine postromantische, mit religiöser Aura und Autorität versehene Künstler-Legende treten. Der literarischen Form des Essays als Kunstprosa geht Margherita Cottone (Palermo) in ihrer Analyse des essayistischen Werks Thomas Manns nach. Sie zeigt auf, dass bei Mann der Essay Ausdruck ›poetischer Prosa‹ ist, in der die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verwischen. – Steffen Martus (Berlin) spürt Bodo Kirchhoffs Anliegen nach, sich mittels seiner Romane gegen den Aufmerksamkeitsverlust der literarischen Prosa in der Gegenwartskultur zu sperren, der zu (postmodernen) Zeiten verschobener kultureller Wertesysteme, veränderter Autorrolle und Lesegewohnheiten zu konstatieren ist. Am Beispiel der Romane Parlando und Schundroman zeigt Martus, wie Kirchhoff seine Leser zur genauen Lektüre bewegen und damit eine Aufmerksamkeit für die Logik der Prosa (wieder)gewinnen will. – Dirk Niefanger (Erlangen) untersucht die ›Logik sinnlichen Erzählens‹ in Hanns-Josef Ortheils Roman Die große Liebe. Unter Einbeziehung weiterer literarischer sowie poetologischer Texte Ortheils arbeitet Niefanger heraus, wie durch die Verschränkung von (vorgeblicher) Faktizität und fiktionaler Konstruktion ein sinnliches Erzählen gelingt. Am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Tschick geht Christoph Jürgensen (Wuppertal) der Frage nach, welche ästhetischen Strategien Prosa entwickeln muss, die sich an jugendliche und erwachsene Leser zugleich wenden will. Sie steht vor der Herausforderung, eine ›Doppelcodierung‹ leisten zu müssen: den Eindruck von Authentizität zu schaffen (Voraussetzung für die identifikatorische Lektüre jugendlicher Leser), ohne ihren Kunstanspruch aufzugeben. – Schließlich widmet sich Alessandro Costazza (Mailand) der Frage nach der »(Un-)Möglichkeit (auto)biographischen Schreibens« am Beispiel von Benjamin Steins Die Leinwand. Damit wird noch einmal die Möglichkeit der Prosa bedacht, als Narration sowohl Realität als auch Fiktion darstellen zu können, die freilich dann problematisch wird, wenn der Anspruch auf Fiktion angesichts der Faktizität des Dargestellten wie eine Schutzbehauptung für eine ›bequemere‹ Lektüre erscheint. Die Herausgeber danken den Autoren, die das Zustandekommen dieses Bandes allererst ermöglicht haben. Dank gebührt ferner Ulrike Schermuly und

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Vorwort

Liane Reichl vom Verlag V&R unipress, die das Vorhaben von Beginn an unterstützt und den Herstellungsprozess unkompliziert begleitet haben. Albert Meier verdanken wir mehr, als sich in einer Festschrift mitteilen ließe; es war uns eine große Freude, an seiner bestechenden Idee gemeinsam weiterarbeiten zu können. Berlin und Karlsruhe, im Januar 2012 Astrid Arndt / Christoph Deupmann / Lars Korten

Literatur Benjamin, Walter, Johann Peter Hebel [1]. Zu seinem 100. Todestage, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II / 1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 2. Auflage Frankfurt am Main 1989, 77 – 280. Harsdörffer, Georg Philipp, Poetischer Trichter / Die teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugießen, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1648 – 1653, Darmstadt 1969. Kleinschmidt, Erich, »Prosa«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 3: P–Z, Berlin / New York 2003, 168 – 172. Lausberg, Heinrich, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, mit einem Vorwort v. Arnold Arens, 3. Auflage Stuttgart 1990. Meier, Albert, Logik der Prosa [Vorlesung im Sommersemester 2005], aufgezeichnet unter : http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/vorlesungen/logik.asp. MoliÀre, Le Bourgeois gentilhomme, in: ders., Œuvres complÀtes, Bd. II, textes ¦tablis, pr¦sent¦s et annot¦s par Georges Couton, Paris 1971, 709 – 787. Watkins, John W. N., Freiheit und Entscheidung, Tübingen 1978. Zymner, Rüdiger, Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003.

I. Poetik

Astrid Arndt / Christoph Deupmann

Poetik der Prosa. Zur Reflexionsgeschichte und Topik des Prosa-Diskurses

In Alfred Döblins ›chinesischem‹ Roman Die drei Sprünge des Wang-lun (1915) führt Kien-lung, Kaiser der noch bis 1912 regierenden Qing-Dynastie, mit seinen hohen Beamten ein Literaturgespräch, in dem er auch auf die europäische Dichtung zu sprechen kommt. »Die rothaarigen Völker sind barbarischer, als man bei uns weiß«, meint der selbst als Dichter hervorgetretene Kaiser im Hinblick auf den – gemessen am eigenen Dichtungsideal – merkwürdig indifferenten Literaturbegriff der »Langnasen«: »Diese Herren schreiben, wie es ihnen gefällt. Die Handschrift ist für die Dichtung belanglos.« Für das ästhetisch hochentwickelte Verständnis des Kaisers bilden dagegen Dichtung und Kalligrafie, ja sogar die Erlesenheit des Papiers und der Tusche eine Einheit. Denn die Dichtung gehe eine »Verpflichtung« ein, wenn sie sich selbst dem gewöhnlichsten »Anblick« der Welt mit der größtmöglichen Schonung anzunähern sucht. Als Dichter ist auch der Kaiser nur das »kleine Menschenkind«, das dem an sich unbedürftigen »Geist einer verehrungswürdigen Minute« opfert. Dichtung manifestiert sich deshalb auch nicht in beliebig, maschinell reproduzierbaren Zeichen, sondern in gemalten Charakteren, »runde[n] beziehungsvolle[n] Bilder[n]«, »schön in sich und schön gegeneinander«. Wie gleichgültig gegenüber solchen Anforderungen an Medium, Stil und Gegenstände sich die europäischen Dichter verhalten, macht der greise Direktor des Ritenministeriums, Song, mit der gebotenen Devotion noch einmal deutlich: »[I]ch Dummkopf habe mir von unserem Astronomen, dem Portugiesen, gleichfalls sagen lassen, daß man im Westen schreibt wie man spricht. Was natürlich ebenso bequem wie einfältig ist.«1 Was der chinesische Kaiser im Roman, für dessen historisches Vorbild sich die Zeit seiner Regentschaft (1736 – 96) bereits zum Ende hin neigt, von einem »Missionär der Jesusreligion« erfährt, spiegelt die Aufwertung der Prosa in der europäischen Dichtung und Poetik wider. Es ist eine Karriere, in der die wichtigste Prosa-Gattung, der Roman, bald zur weit über europäische Grenzen 1 Döblin, Die drei Sprünge des Wang-lun, 287 f.

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Astrid Arndt / Christoph Deupmann

ausstrahlenden Leitgattung wird. Denn der Roman, den die literaturbeflissenen ›Barbaren‹ dem Kaiser »in ihrer aufdringlichen Händlerart« nahezubringen versuchen,2 übt spätestens im 19. Jahrhundert die »Expansionskraft« eines globalen Exportartikels aus: »Man kann dreist behaupten, dass heutzutage kein guter Roman geschrieben wird, der nicht für die ganze Welt geschrieben würde; und dürfte man das doch nur von den guten Romanen behaupten!« – begründet 1883 Friedrich Spielhagen die Relevanz seiner Überlegungen zur Theorie und Technik des Romans. »Hat doch bereits im vorigen Jahrhundert selbst der Chinese den Werther, wenn nicht gelesen, so doch auf Glas gemalt«.3 Die anekdotische Bemerkung verdankt sich einer Stelle in Goethes Venezianischen Epigrammen. Venedig 1790.4 Tatsächlich konnten chinesische Leser Goethes Werther erst 1922 in einer vollständigen Übersetzung lesen; dann aber wurde Goethes Roman von den Anhängern der antikonfuzianischen 4. Mai-Bewegung ähnlich euphorisch aufgenommen wie in Deutschland und ganz Europa 150 Jahre zuvor. Denn auch ästhetisch entsprach Goethes Roman einer an der Umgangssprache (baihua) orientierten Literatur, mit der sich China kulturell und politisch endgültig am Westen auszurichten begann.5 An der »internationalen Wichtigkeit des Romans« besteht für Spielhagen jedenfalls Ende des 19. Jahrhunderts kein Zweifel mehr. Sein Jahrhundert rechnet bereits zur »Epoche der Prosa«, nicht mehr zu einem zurückliegenden »poetischen Zeitalter der Sprache«, wie Theodor Mundt schon knapp 50 Jahre zuvor (1836) definiert hat.6 Mit der Prosa verbindet sich offenbar ein (Selbst-) Bewusstsein der Modernität: eingetragen in ein universelles Fortschrittsmodell, markieren Gattungsgrenzen (Prosa / Poesie) zugleich irrevozierbare Epochengrenzen, die selbst Ungleichzeitigkeiten zwischen entferntesten kulturellen Räumen auszugleichen vermögen. Besonders die Unterhaltungsromane haben 2 Ebd., 287. 3 Spielhagen, Theorie und Technik, 37. 4 »Doch was hilft es mir dass auch sogar der Chinese / malt mit geschäftiger Hand Werthern und Lotten auf Glas.« (Goethe, Venezianische Epigramme, 93). – Woher Goethe Kenntnis von solchen Malereien hatte, die allerdings vermutlich im Auftrag europäischer Reisender angefertigt wurden, ist unklar. Dass »1779 schon […] in Deutschland chinesische Glasmalereien mit Werther-Motiven bekannt« wurden, wie der Kommentar der Münchner Ausgabe festhält (ebd., 500), beruht offenbar auf einem Druckfehler in Fr[iedrich] Strehlkes Ausgabe von Goethe’s Werken (Berlin o. J.): Der dort nach Karl Heinrich Jördens Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten (Bd. 3, Vorrede, XXX, Fußnote) zitierte Brief des kurhessischen Gesandten Friedrich Jacob von Leonhardi vermerkt »1799«. Leonhardi hatte in der Kapitänskajüte eines in Glückstadt angelandeten Ostindien-Handelsschiffes chinesische Glasmalereien mit Werther-Motiven entdeckt und Jördens davon Mitteilung gemacht. Die Venezianischen Epigramme. Venedig 1790 wurden jedoch bereits im Juli 1790 fertiggestellt und 1795 gedruckt. Vgl. dazu Schwarz (2004), 143. 5 Vgl. dazu Ascher (1985), 139 – 153; vgl. auch Tse-Tsung (1960). 6 Mundt, Kunst der deutschen Prosa, 40.

Poetik der Prosa

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bereits zu Spielhagens Zeit »Freibillets für Erderundreisen«7 wie heutzutage die Weltbestseller von Joanne K. Rowling oder Dan Brown.8 Die folgenden Überlegungen wollen anhand der Reflexionsgeschichte literarischer Prosa nachvollziehen, wie es dazu kommen konnte. Es geht dabei um die Spezifität oder ›Logik‹ der Prosa ebenso wie um Wertungen und Perspektiven im Verhältnis zur Dichtung oder Poesie. Denn wenn man in der Prosa »schreibt wie man spricht«, mag das nur auf den ersten Blick »ebenso bequem wie einfältig« erscheinen: Umso schwieriger ist es dann freilich, Prosa als literarische Kunstform zu begreifen oder plausibel zu machen.

1.

Ordnung erfinden

Dass man in der Prosa – um Döblins Wendung gleich noch einmal zu zitieren – »schreibt wie man spricht«, expliziert zunächst nichts anderes als die Etymologie des Romans: Als Dichtung in der Volkssprache (›lingua romana‹) ist er dem gelehrten Latein entgegengesetzt. Neben dem Prosa- existiert zwar noch der Versroman, aber : »Was man […] heut zu Tage Romans heißet«, heißt es bereits in Pierre Daniel Huets Trait¦ de l’origine des Romans (1670), hier in der Übersetzung durch Eberhard Happel (1682), sind »auß Kunst gezierte und beschriebene Liebes Geschichten in ungebundener Rede zu unterrichtung und Lust des Lesers.«9 In Prosa, aber »auß Kunst geziert[]« (»[e]n Prose avec art«): Diese Bestimmung ist offenbar wichtig, weil sie distinktiv ist im Hinblick auf die Alltagsrede, von der den Roman formal sonst nichts unterscheidet. Weil sich der Roman in »ungebundener Rede« (»Prose«) artikuliert, »umb sich […] nach der Gewohnheit zurichten« (»pour estre conformes — l’usage de ce siecle«), muss er »mit Kunst / und nach gewissen Regeln geschrieben sein / sonsten wurde es ein verwirretes Misch-Masch ohne Ordnung und annehmlichkeit sein.«10 Dass die »verworne Erzehlungen« der Romane sich nicht chronologisch entwickeln, sondern »der Leser bey dem Anfang mitten in die Geschicht hinein geführt werde«, gehört auch für den geistlichen Romankritiker Gotthard Heidegger zu den »sonderbahre[n] Regeln« der Gattung.11 Dass »die meisten Roman-Schrei7 Spielhagen, Theorie und Technik, 37. 8 Vgl. dazu Meier (2010). 9 Happel, Der Insulanische Mandorell, 574; vgl. Huet, Trait¦ de l’origine des Romans, 4: »Mais aujourd’huy l’usage contraire — pr¦valu, & ce que l’on appelle proprement Romans sont des fictions d’aventures amoureuses, ¦crites en Prose avec art, pour le plaisir & l’instruction des Lecteurs.« 10 Ebd. 11 Heidegger, Mythoscopia romantica, 59.

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Astrid Arndt / Christoph Deupmann

ber ex abrupto anfangen«, beobachtet ebenso Albrecht Christian Rotth.12 Mit dem Einstieg »medias in res« entwickelt schon der antike Roman13 eine eigene, künstliche Ordnung (ordo artificialis), die der ›natürlichen‹ chronologischen Ordnung entgegengesetzt ist. Weil für die Prosa keine metrische Ordnung konstitutiv ist, muss sie ihre eigene Ordnung erfinden. Dieser Ausgangspunkt jeder ›Logik der Prosa‹ wurde nicht erst in der Theoriegeschichte des Romans, sondern bereits in der antiken Rhetorik reflektiert: Wenn die Prosarede – im Unterschied zum Gedicht – ohne festgelegtes Metrum auskommt, soll sie nach Aristoteles doch »rhythmisch wohlgeordnet und nicht unrhythmisch« sein; dadurch soll sie »sich [von der gewöhnlichen Redeweise] entfernen.«14 Dass die Prosa trotz ihrer Ungebundenheit (»liberior est oratio [quam poesis] et plane«, so Cicero15) nicht planoder regellos sei, gehört zu den ersten Forderungen der Rhetoriker : Ohne ›Fesseln‹ des Metrums, allein an die Regeln der Grammatik und Syntax16 gebunden, ist ihr die ästhetische Selbststeuerung anheim gestellt (»sine vinculis sibi ipsa moderetur«).17 Denn die ›Logik‹ der ungebundenen Rede ist linear, ›geradeaus‹, ›nach vorn‹ (pro(r)sus, aus pro + versus) gekehrt und nicht rekursiv, durch metrische Wiederholungen organisiert; ihre ›Schlichtheit‹ drängt in gerader Richtung vor (»[i]st iz prûsun slihti, thaz dr¦nkit thih in r†hti«, wie Otfrid von Weißenburg meint).18 Die Textur muss daher (vergleichbar dem ›offenen‹ Drama)19 Ordnungsfunktionen der (metrischen) Struktur übernehmen – wozu die vielfältigen Verfahren motivischer und thematisch-rhematischer Verkettung aufgeboten werden. Der Prosaist ist der ›Fußgänger‹ unter den Dichtern: Strabon (Geographika) bezeichnet die ungebundene Rede als »zu Fuß gehend« (»to pezûn«), nachdem die Poesie durch die Aufgabe des Metrums von der ›Höhe‹ auf den ›Boden‹ gesetzt worden ist.20 Noch Jean Paul beschreibt ganz ähnlich die Schwierigkeiten der Prose: »Besonders die Franzosen fliegen nur gefesselt, gehen aber ungebunden zu Fuß«.21 Vor allem der Essayist (wie etwa Montaigne) mache sich die peripatetische Ungebundenheit des Spaziergängers zu eigen. Der Prosa gebührt daher der Vorzug größerer Individualität: »die großen Prosaisten sind einander 12 Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, 2. Teilbd., 349 [1107] (Cap. VII: Von den Romainen oder Liebes-Gedichten, § 4). 13 Vgl. Heliodor, Aithiopika. 14 Aristoteles, Rhetorik, 184 f. 15 Cicero, De oratore (III, 184), 562. 16 Vgl. Ruprecht (1993). 17 Cicero, De oratore (III, 184), 562. 18 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch (I, 1), 19. 19 Vgl. Klotz (1985), 106. 20 Zit. nach Schadewaldt (1982), 31. 21 Jean Paul, Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, 486.

Poetik der Prosa

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unähnlicher als die großen Lyriker«.22 Dass der Stil den Menschen selbst zur Geltung bringt (»Le style c’est l’homme mÞme«, Buffon), geht eigentlich nur in der Prosa. Die »Kunstprose« erfordert daher jedoch Anstrengungen »anderer Art, als die Verskunst«: Der prosaische Rhythmus wechselt unaufhörlich, das poetische Metrum dauert das Gedicht hindurch, und die Perioden bilden einander nicht, wie die Verse den vorhergehenden, nach. Den unaufhörlichen Wechsel ihrer Länge und ihrer Wortstellungen bestimmen die zahllosen Gesetze des Augenblicks, d. h. des Stoffs. Die Prose wiederholet nichts, das Gedicht so viel.23

Gerade weil die Prosa nach Jean Paul also ein Primat des Stofflichen oder des Inhalts gegenüber der Form kennzeichnet, bedarf sie der Verfahren ästhetischer Selbstbindung. Goethe hat diesen prosaspezifischen Vorrang des gedanklichen Gehalts in einem bekannten Diktum gegenüber Eckermann im Januar 1827 auf den Punkt gebracht, das (mit Bezug auf Goethes eigene Novelle) zugleich die Nichtigkeit einer selbstgenügsamen Form (in schlechten Gedichten) zurückweist: Die Sache ist sehr einfach. Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere gibt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch so aussieht, als wäre es was.24

Der Primat des Inhaltlichen gegenüber der Form macht die Prosa versatiler, offener, aber auch unvorhersehbarer; daher die häufige Behauptung der größeren Schwierigkeit einer ›reinen‹ Prosa gegenüber der Verse schmiedenden Poesie.25 Fortführungen und Differenzierungen eines Gedankens sind durch die parataktischen und hypotaktischen Angebote der Grammatik jederzeit möglich. Jeder Satz eröffnet an seinem Ende eine unbegrenzte Zahl an Anknüpfungsmöglichkeiten, von denen jede gleich unwahrscheinlich ist: kein ›Anfang‹ determiniert das ›Ende‹, kein Satz seinen Folgesatz; die Kontinuität der Prosa ist 22 23 24 25

Ebd. Ebd. Eckermann, Gespräche mit Goethe, 205 (29. 1. 1827). Vgl. Sulzer, Allgemeine Theorie, Bd. 3, 741 (s. v. »Prosa; Prosaisch«): »Verschiedene Kunstrichter haben angemerkt, dass es schwerer sey, in einer durchgehends reinen und den Charakter ihrer Art überall behauptenden Prosa, als in einer durchaus guten poetischen Sprache zu schreiben. Dieses scheint dadurch bestätiget zu werden, daß bey mehrern Völkern, so wie bey den Griechen, die Sprache der Dichtkunst weit früher eine gewisse Vollkommenheit erreicht hat, als die Prosa. Der Grund hievon liegt ohne Zweifel darin, daß die eine ein Werk der schnellwürkenden Einbildungskraft, die andere aber ein Werk des Verstandes ist, dessen Würkungen langsamer und bedächtlicher sind. Es ist eben der Fall, der zwischen den schönen Künsten und den Wissenschaften den sehr merklichen Unterschied hervorbringt, daß jene oft sehr schnell, diese durch ein ungemein langsames Wachstum zur Vollkommenheit empor steigen.«

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daher stets bedroht. Der Satz ist deshalb für FranÅois Lyotard ein »Grenzland« – »pagus« –, »in dem die Diskursarten um den Verkettungsmodus kämpfen«.26 Für die Prosa ergeben sich daraus zwei gleich schlechte Alternativen: entweder die despotische Dominanz einer einzigen ›Diskursart‹ über alle anderen – oder die Anarchie eines »regellose[n] Konglomerat[s] aller Sätze«, die schon die frühe rhetorische Reflexion der Prosa zu vermeiden sucht. »Vielleicht«, meint Lyotard, »ist Prosa unmöglich«.27 Allein die Erzählung vermag diesen Widerstreit aufzuheben, indem sie die Mannigfaltigkeit nicht unterdrückt, sondern im »›freien Leben‹ der Sätze und Diskursarten« zur Geltung kommen lässt. Anstelle der großen ideologischen Erzählungen (grands r¦cits) bringt sie eine »kleine, entritualisierte Geschichte hervor«; darin besteht ihre Volkstümlichkeit, wie sie auch Bachtin mit der These von der Karnevalisierung des Romans behauptet hat:28 »Die Prosa ist das Volk der Geschichtchen.«29

2.

Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Die Prosa bewahrt sich eine Nähe zur Mündlichkeit, die Luther im Sendbrief vom Dolmetschen (1539) im Sinne gehabt haben mag, wenn er fordert, dass man den einfachen Leuten »auf das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen« müsse.30 So wird die Prosa, in der Luther den griechischen Text überträgt, zugleich zur Dolmetscherin zwischen dem Heiligen und dem profanen (volkssprachlichen) Leben. Daraus hat noch Nietzsche den Vorzug der Mündlichkeit angesichts der »Uebergewalt des Schreibestils über die Rede«31 abgeleitet, so dass sich die übliche Hierarchie von anspruchsvoller ›Literatur‹ und Oralität in stupender Weise umkehrt: »Gegen Luther’s Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur ›Litteratur‹«.32 Um das Erbe dieser Prosa, die ihren Stil dem ›Volksmund‹ abhorcht, ist es nach Nietzsches Urteil freilich schlecht bestellt. »Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun hat«, macht Nietzsche durch den Kontrast mit der griechisch-römischen Antike deutlich: Für den ›antiken Menschen‹ »waren die Gesetze des Schrift-Stils die selben, wie die des Rede-Stils«.33 Allenfalls der Prediger habe noch ein »Gewissen in seinen Ohren« und daher die Mündlichkeit in der Schrift bewahrt: »Das Meisterstück in der 26 27 28 29 30 31 32 33

Lyotard, Der Widerstreit, 251. Ebd., 262. Vgl. Bachtin (1990), bes. 47 – 60 (»Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur«). Lyotard, Der Widerstreit, 263. Luther, Sendbrief, 637. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 137. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 199. Ebd., 198.

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deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück ihres grössten Predigers: Die B i b e l war bisher das beste deutsche Buch.«34 Es passt zu diesem Urteil, dass das erste einer ganzen Reihe didaktischer Lehr- und Musterbücher zur Prosa (von Gustav Schwab, Theodor Mundt, Wilhelm Wackernagel), Friedrich August Pischons Handbuch der deutschen Prosa, in Beispielen von der frühesten bis zur jetzigen Zeit (1818) einen evangelischen Prediger zum Verfasser hat.35 Gegen den von Nietzsche abhorreszierten Kanzleistil hat bereits die Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Mündlichkeit als Norm der Prosa in Stellung gebracht: ›Schreibe, wie du sprichst‹.36 Daran zeigt sich das Paradox, dass gerade die vom Buchdruck vervielfältigte Schrift offenbar die Mündlichkeit wieder in ihre maßstabgebenden Rechte einsetzt. Die aufklärerische Philosophie – von Shaftesbury über Diderot bis Lessing – präferiert daher die dialogische, sokratische Form des Denkens und der Vermittlung. Die Ungezwungenheit der Prosa soll auch den Stil des Denkens prägen, wofür die (simulierte) mündliche Kommunikation unter vertrauten Partnern die besten Bedingungen stellt. Die konzeptionelle Mündlichkeit, die der Prosa eigen ist, begünstigt damit auch eine Intimisierung der Literatur – in Tagebüchern, Briefen, Reiseberichten und Autobiografien,37 aber nicht zuletzt auch im Roman, dessen »Schreibart« Friedrich von Blanckenburg mit einem Gespräch über »Privatangelegenheiten« vergleicht: »Wer spricht unter Freunden, so wie er in einer öffentlichen Rede, vor einer öffentlichen Versammlung spricht?«38 Die literarische Kommunikation intimisiert sich zum vertrauten Gespräch unter Freunden, das die Situationsabstraktheit der Schrift zurücknimmt und in der dialogischen Struktur des Romans vorgebildet ist. Nirgendwo deutlicher als auf dem Schauplatz des Romans zeigt sich die konzeptionelle Mündlichkeit in der Schrift; für Blanckenburg wie schon für Albrecht Christian Rotth besteht der Roman idealerweise hauptsächlich aus Dialogen (was ihn tendenziell zum Prosa-Lesedrama macht): »daß nemlich der Poete wenig redt / das meiste aber die auffgeführten Personen / iede nach ihrem Stande.«39 Damit ist allerdings das Problem aufgerufen, wie sich literarische Prosa zur Prosa der Alltagsrede verhält. »Es ist für die Dichtkunst sehr wichtig, dass sie eine ihr allein zukommende Sprache behalte«, betont Sulzer, für den die »prosaische Rede« nicht nur durch »äußerlichen oder mechanischen […] Mangel des

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Ebd., 199. Pischon, Handbuch der deutschen Prosa. Vgl. Weissenberger (2005), 342. Vgl. auch ebd., 344. – Zum Tagebuch vgl. den Beitrag von Michael Maurer in diesem Band. Blanckenburg, Versuch über den Roman, 21. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, 2. Teilbd., 350 [1108].

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nach einer bestimten Regel abgemessenen Ganges«, sondern auch durch »einen innerlichen Charakter« definiert ist: Denn gar oft hat sie kein anderes Mittel, sich über die gemeine Prose zu erheben, und die Aufmerksamkeit der Leser in der gehörigen Spannung zu erhalten, als eben den ihr eigenen Ton im Vortrage; und oft blos den Gebrauch gewisser Worte, die eben deswegen, weil sie in der gemeinen Sprache unerhört sind, einen poetischen Charakter haben.40

Dass man in Romanen »schreibt wie man spricht«,41 wird demnach eingeschränkt durch die Abgrenzungsnotwendigkeit der Prosa auf der Ebene der Elokution: Auch die »ungebundenen Reden« der Prosa-»Romaine« müssen (Rotth zufolge) »auff Poetische Manier« abgefasst sein.42 Selbst wo moderne Prosa dezidiert die Nähe zur Alltagsrede, zum Jargon, zum Substandard sucht, muss sie ihren ästhetischen Abstand dazu gegen die Gefahr der Verwechselbarkeit markieren.43 Aber die Nähe der Prosa zur Mündlichkeit betrifft nicht zuletzt die Ebene der Invention, also der (rhetorischen) ›Findung‹ oder ›Erfindung‹: In der formalen Ungebundenheit der Prosa besteht für Kleist geradezu der Motor des Gedankens. Die Prosa ist nämlich nicht nur eine Form, Gedanken zum Ausdruck zu bringen, sondern zu ordnen (also der Disposition), zu klären, ja »überhaupt erst einmal auf Gedanken zu kommen.«44 Bei der allmähligen Verfertigung der Gedanken beim Reden fungiert die Prosa als Katalysator des ›Neuen‹. Was sich in dieser Dynamik des sprachlichen Denkens abspielt, wirkt sich im Erzählen mit kaum minderer Stärke aus: Das ›epische Gesetz‹, meint Spielhagen, bringt sich »mit der Gewalt einer Naturkraft« zur Geltung, wenn der Stoff unter den Händen des Erzählers »anschwillt« und den vorausbedachten Plan über den Haufen wirft.45

3.

Poesie und Prosa

Die Maßgeblichkeit der mündlichen Rede vermittelt sich über die Prosa auch der Poesie. Denn die ›natürliche‹ Wortstellung der Prosa definiert schon in der barocken Dichtung die Norm der Poesie, also auch der metrisch gebundenen 40 41 42 43

Sulzer, Allgemeine Theorie, 741. Döblin, Die drei Sprünge des Wang-lun, 288. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, 2. Teilbd., 349 und 351 [1107 und 1109]. »Was für kluge Dinge. Schieb sie dir in den Arsch! / Für einen Moment bleibt mir die Sprache weg. Ich weiß nicht, wer ihr beigebracht hat, so zu reden. Es paßt nicht zu ihr, es beschädigt meine Prosa. Nimm dich bitte zusammen!« (Kehlmann, Ruhm, 72). 44 Ludwig (1994), 62. 45 Spielhagen, Theorie und Technik, 46 f.

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Rede: »Welche Construction in pros– nicht gelitten wird / die sol man auch in Versen darvon lassen«, lautet die Regel (»mein Verisimile«) bei Christian Weise.46 Er will sich auch im hohen Stil »nach dem usu familiari« richten, um die »simplicität im Reden« zu bewahren.47 Die Normierung der Poesie durch die Prosa ist eine grammatische Erweiterung der opitzschen Versreform, der zufolge metrischer und natürlicher Wortakzent zusammenfallen sollen, auf den Satzbau. Die Differenz von Poesie und Prosa wird gleichwohl bewahrt durch den rhetorischen Aufwand (ornatus), mit dem die Poesie »sich in die Höhe schwingt / die gemeine Art zu reden unter sich trit / und alles höher / kühner / verblümter und fröhlicher setzt«, während die Prosa »vulgär ist und neben dem Volck allzeit hergehe«,48 also in seit der Antike gewohnter Weise auf dem Boden bleibt. Dass freilich die metrisch ungebundene Prosa – in der Nähe zur mündlichen, volkstümlichen Rede – ›ursprünglicher‹ sei als die formal gebundene Poesie, ist damit keineswegs ausgemacht. Eine Linie dichtungstheoretischen Denkens, die von Hamann und Herder bis Hegel und Mundt reicht, hat das Verhältnis vielmehr umgekehrt bestimmt: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker : Malerey, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation: Gleichnisse, – als Schlüsse: Tausch, – als Handel«, heißt es in Johann Georg Hamanns Aesthetica in nuce (1762).49 »Die Poesie ist älter als das kunstreich ausgebildete prosaische Sprechen«, behauptet auch Hegel in seinen Vorlesungen über die Aesthetik.50 Die »ursprüngliche Poesie« liege noch »vo r der Ausbildung der gewöhnlichen und kunstreichen Prosa«; erst die »dichterische[] Auffassung und Sprache« stelle sich auf den »freien Boden der Kunst«, wo sie die Differenz vom »gewöhnlichen Sprechen« und vom »Prosaischen« auszubilden suche.51 Hegels Interesse an Poesie und Prosa gilt allerdings ästhetischen Formen vor allem als »Ausdrucksweisen« unterschiedlicher geschichtlicher »Sphären« des Bewusstseins: Während die Poesie die Artikulationsform einer »substantiellen Einheit« sei, beschränke sich das » gewöhnliche« »p ro s a i s c h e Bewußtseyn« auf das Partikulare, die »bedeutungslose[] Zufälligkeit« ohne ›inneren‹ Zusammenhang.52 Was den Stoff der Prosa ausmacht, bleibe für den »tieferen Sinn« der Poesie und der philosophischen Erkenntnis bedeutungslos und »todt«.53 Aus dem nüchternen Charakter einer 46 Weise, Curiöse Gedancken, 228. 47 Ebd., 225 und 228. – Vgl. auch Buchner, Anleitung, 22, demzufolge »die natürliche Ordnung und der gemeine Brauch« die Wortstellung in Prosarede und Vers bestimmen soll. 48 Buchner, Kurzer Weg-Weiser, 42. 49 Hamann, Aesthetica, 197. 50 Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, 239. 51 Ebd., 240. 52 Ebd., 241. 53 Ebd., 242. – Teilt man Hegels Denkvoraussetzungen, den philosophischen Glauben an die »Vernünftigkeit und Bedeutung der Dinge« (ebd.) nicht, lässt sich aus seinen Gründen für die

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rational entzauberten Welt, die selbst zur Prosa geworden sei, ergibt sich für Hegel freilich auch die Erfolgsbedingung des Romans. In Hegels Begriffswerkstatt erhält die Prosa den Sinn einer Existenzialmetapher, ausgestattet mit den abwertenden Qualifikationen »Sprödigkeit«,54 Gewöhnlichkeit und »Partikularisation«.55 In diesem Sinn wird das Adjektiv ›prosaisch‹ vor allem von den Romantikern als topischer Gegensatz zu jeglicher gedanklicher oder ästhetischer Sensitivität und Transzendenz gebraucht: »Prosaisch und gemein« sind für Eichendorff Synonyme,56 »kalt, gefühllos, prosaisch« für Hoffmann.57 Ganz allgemein ist die »Sprache der Phantasie […] die geheimnisvolle Musik des Verses, die Sprache des Verstandes die Prosa«.58 Der romantische Gegensatz von Poesie und Prosa ist noch in gleichzeitiger Radikalisierung und Trivialisierung, gleichsam auf Küchenhandtuch-Format gebracht, bei Friederike Kempner in Kraft: »Poesie ist Leben, / Prosa ist der Tod, / Engelein umschweben / Unser täglich Brot.«59 In dieser pejorativen Bedeutung zieht das ›Prosaische‹ eben auch die Prosa herab. Für Heine sind die »kurznasigen, halbstirnigen und hinterkopflosen« Engländer das »auserwählte[] Volk[] der Prosa«.60 Offensichtlich steckt im pejorativen Prädikat ›prosaisch‹ eine Metonymie; sie überträgt die Gattungsbezeichnung ›Prosa‹ auf die profane, kunstferne Wirklichkeit, auf die sie stofflich festgelegt wird, und transformiert so den formalen in einen materialen Begriff. Umgekehrt muss die Prosa als literarische Form wieder von der Konnotation des ›Prosaischen‹ freigemacht werden, wenn für sie Partei ergriffen werden soll. Theodor Mundt hat erst noch »die alten Vorurtheile gegen das Prosaische der Prosa« zu widerlegen, bevor er für ihre »Emancipation« eine Lanze brechen kann.61 Auch für ihn ist die Prosa jünger als die Poesie: »ein Kind künstlicherer

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Abwertung der Prosa ein Argument für sie machen: Dann würde die Prosa zur Kritikerin der ›Eigentlichkeit‹ (oder ihres von Adorno kritisierten »Jargons«) und zur Advokatin eines undogmatischen, ideologiefreien Wirklichkeitssinns. Für Adorno allerdings besteht zwischen ›Dichtung‹ und Prosa – anders als für Hegel – eben keine essenzielle Differenz; beide werden »gleich unwahr vom Gleichen«, wenn Worte mit religiösen Ornamenten ausgestattet werden oder gegenwärtige Wahrheit behaupten. Vgl. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, 469. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3, 243. Ebd., 244. Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, 204. – ›Prosa‹ / ›prosaisch‹ wird daher auch als Kennzeichnung antiromantisch-›nüchternen‹ Denkens gebraucht, z. B. von Figuren Fontanes: »das Vernünftige ist meist prosaisch.« (Baron Instetten; Fontane, Effi Briest, 380). »Der Prosa gehört die Welt.« (Lieutnant Vogelsang; Fontane, Frau Jenny Treibel, 27). Hoffmann, Der Sandmann, 28. Eichendorff, Geschichte, 892. – Vgl. auch Eichendorffs Definition des Romans, ebd., 902: »Der Roman ist daher die Poesie des Verstandes in ungebundener Rede.« Zum Verhältnis von Poesie und Prosa im 19. Jahrhundert vgl. auch Frank (2005). Kempner, »Kennst Du das Land«, 64. Heine, Lutetia, 325 (»Paris, 29. Juli 1840«). Mundt, Kunst der deutschen Prosa, 47 bzw. 49.

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Sitten verständigen und praktischen Lebensformen sich anschließend.«62 Die Poesie gehöre dagegen einem oralen »Naturzustand« an, in der sie »von Mund zu Mund« ging63 – was ihre Ausdrucksmittel beschränkt: Zum komplexen Ausdruck der Gedanken im Satzbau sei nur die Prosa disponiert. Während die Poesie auf den historischen Formenkatalog festgelegt ist, der daher auch »veralten und aussterben« kann, gibt die Prosa dem Gedanken den »allerweitesten und willkürlichsten Spielraum«: Sie schwebt ohne die Fesseln des Metrums »in den Gesetzen des Rhythmus«64 (wie schon Aristoteles meint). Damit spricht Mundt der Prosa eine strukturelle Geistigkeit zu: Denn »der Accent ist der lautwerdende Verstand des Wortes«.65 Mit ihrer Ablösung der quantifizierenden durch die akzentuierende Ordnung – für Mundt das ›geistige‹ gegenüber dem ›sinnlichen‹ Prinzip – seien die ›neuern Sprachen‹ generell auf die Prosa ausgelegt. Daraus folgt – ganz im Gegensatz zu Hegel – eine Aufwertung der Prosa gegenüber der Poesie: Während die quantifizierende, lyrische Sprache der ›Alten‹ nur der »Sinnenwelt« assoziiert ist, ist die moderne, akzentuierende Sprache der Prosa für Mundt Ausdruck der »Tiefe des Gemüths« und das »Gebiet des Geistigern« ihr Teil.66 Dass sich die Prosa demnach »keine Poesie des Inhalts mehr versagt«,67 setzt sich innerhalb der Gattung weiter fort: Auch von der Novelle, der herkömmlich niedersten unter den epischen Formen, hat Theodor Storm ausgesagt, dass sie sich des »bedeutendsten Inhalts« annehmen könne.68 Für Mundt ist daher »die Schranke zwischen Poesie und Prosa […] im G e d a n ke n « – das meint: theoretisch – schon »durchbrochen«, auch wenn die schreibpraktische »Verschmelzung von Poesie und Prosa« noch einer zukünftigen Literatur aufgegeben sei.69 Die gegenseitige »Durchdringung«, die für den Romantiker Novalis noch auf Überwindung der »sogenannte[n] Prosa« hinauslief, der er nur eine »subalterne, temporelle Rolle« zugestand,70 wertet nun die Prosa selber auf. Dass die Poesie dabei gerade der prosaischen Wirklichkeit abgewonnen werden soll durch Konzentration »auf einzelne Momente von poÚtischem Interesse, die sich auch im dürftigsten Alltagsleben finden«, formuliert (in den Worten Storms) den ästhetischen Kerngedanken des poetischen Realismus.71 Die literarische Moderne (um 1900) nimmt das Stichwort ›poeti62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Ebd., 40. Ebd., 41. Ebd., 43 bzw. 42. Ebd., 43. Ebd., 44. Ebd., 46. Storm, Eine zurückgezogene Vorrede, 408. – Zur Novelle vgl. Schlaffer (1993), bes. 3 – 19. Mundt, Kunst der deutschen Prosa, 47 bzw. 45. Novalis, Logologische Fragmente, 325 (Fragment 51). Storm, Autobiographische Schriften, 462 (Brief an Hartmut Brinkmann v. 22. 11. 1850).

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sche Prosa‹ auf doppelte Weise auf: durch Lyrisierung der Prosa (etwa beim jungen Hofmannsthal) einerseits, durch Prosaisierung der Lyrik (etwa bei Detlev von Liliencron) andererseits. Im Sinne dieser Engführung ist der Titel von Cäsar Flaischlens überaus populären Prosagedichten programmatisch: Von Alltag und Sonne. Gedichte in Prosa.

4.

Modernität der Prosa

Die dichtungsgenetische Rekonstruktion, welche die Prosa gegenüber der Poesie verjüngt, versieht sie darüber hinaus potenziell mit dem Charakter der Modernität – und mit ihrem Pathos, jedenfalls für das Selbst- und Zeitverständnis eines dezidiert ›Modernen‹ wie Friedrich Spielhagen, dem sich die Zeitgemäßheit der Prosa auf dem Gebiet des Romans besonders deutlich zeigt. Wie die Lokomotive und der »Telegraphenapparat« ist auch die »Technik« des Romans für den Theoretiker ein Zeugnis weltzugewandter Fortschrittlichkeit; der Prosaist (als Romancier) wird geradezu zum ›modernen Prometheus‹ –72 dessen Gestalt Mary Shelleys Roman 1818 im grenzenlosen Ehrgeiz der modernen Wissenschaft ausgemacht hat. Gegen die »furchtbare Konkurrenz der Wissenschaft« zu bestehen, dafür ist freilich, Spielhagen zufolge, die »epische Kunst« am besten gerüstet: weil sie zum gemeinsamen Interesse am Menschen, an seinen natürlichen und kulturellen Bedingungen und Abhängigkeiten, auch über die ästhetischen Mittel verfügt, die umfassende »Objektivierung, Darstellung des Menschen« zu leisten (und unter Umständen, wie Shelleys Frankenstein zeigt, sogar ihre Gefahrenpotenziale wissenschaftskritisch auszudenken).73 Zur ›Modernität‹ der Prosa gehört auch die Beschleunigung der literarischen Kommunikation: Ist die Zeit der Poesie gedehnte Zeit, so die der Prosa geraffte – auch wenn Literatur generell, nicht nur die anspruchsvollen Formen der Lyrik, sondern auch eine stilisierte, lyrisierte, experimentierende, ›gefeilte‹ oder zuweilen ›gedrechselte‹ Prosa, immer wieder als Medium der Entschleunigung ins Spiel gebracht worden ist. In der Tendenz kennzeichnet Prosa dennoch eine Art intendierte Selbstvergessenheit der Form: Während die gebundene Rede ihre sprachliche Form (auch im kulturellen Sinn) in Erinnerung bringt, in jedem Fall aber auffällig macht, neigt die Sprache der Prosa dazu, sich selbst vergessen zu machen. Heinz Schlaffer hat daraus eine Geschichtsvergessenheit des (modernen) Romans abgeleitet: Weil das metrische Schema älter ist als jeder einzelne 72 »Es ist das trotzige Glaubensbekenntniß des Prometheus, es ist sein demütig stolzes Wort: ›Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz!‹ was wir sichtbar-unsichtbar auf die Stirn jeder Lokomotive geschrieben sehen […].« Spielhagen, Theorie und Technik, 39. 73 Ebd., 41.

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Text, ist der Vers das elementare literarische Gedächtnis. Dagegen ist jeder Satz in Prosa neuartig, vom »Zufall des Satzbaus« erzeugt.74 Den Preis für diese Geschichts- qua Formvergessenheit müsse am Ende der Roman selber zahlen: Hat er »das Publikum daran gewöhnt, ebensogut auch ohne Dichtung auszukommen«, so vergilt das Publikum es ihm mit der »noch glücklicheren Einsicht, daß es auch gut ohne den Roman auskommen kann« – um stattdessen (noch) leichter konsumierbare Medien zu präferieren.75 *

In Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2005) trägt Alexander von Humboldt den Einwohnern am Amazonas »das schönste deutsche Gedicht« vor, »frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.«76 Dass es nur Ratlosigkeit hervorruft, liegt weniger am Mangel an den Ingredienzien spannender »Geschichten« – »Blut, Krieg und Verwandlungen« oder »Zauberei«,77 wie sie etwa ein Roman aufzubieten gehabt hätte –, sondern am Formwechsel vom Vers zur Prosa: Ohne die ästhetische Form, reduziert auf denkbar ›prosaische‹ Propositionen, bleibt von Goethes Gedicht kaum etwas übrig. Noch einmal (wie im Roman der Antike und der Frühen Neuzeit)78 ist hier die Prosa parodistisch auf den Vers bezogen; aus dem ästhetischen Kontrast der beiden ergibt sich der komische Effekt. Zugleich zeigt Kehlmanns Prosa damit eine Fähigkeit und Bereitschaft zur ironischen Selbstreflexion, die in Döblins Figurenrede im Roman (»ebenso einfältig wie bequem«) ebenfalls anklingt. Sie führt damit den überaus erfolgreichen Beweis, dass sie es an Komplexität nicht nur mit Versen aufnehmen kann, sondern allemal auch mit ›bequemeren‹ Medien unserer Gegenwart.

Literatur Adorno, Theodor W., Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Bd. 6, Darmstadt 1998, 413 – 524. Aristoteles, Rhetorik, übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort v. Franz G. Sieveke, 5. Auflage, München 1995. Ascher, Barbara, »Aspekte der Werther-Rezeption in China. (Die ersten Jahrzehnte des 20. 74 75 76 77 78

Vgl. Schlaffer (2002), 795. Ebd. Kehlmann, Die Vermessung der Welt, 128. Ebd. Vgl. Schlaffer (2002), 793.

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Jahrhunderts)«, in: Goethe und China – China und Goethe. Bericht des Heidelberger Symposions, hg. v. Günther Debon und Adrian Hsia, Bern / Frankfurt am Main / New York 1985, 139 – 153. Bachtin, Michail M., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt am Main 1990. Blanckenburg, Friedrich von, Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort v. Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965. Buchner, August, Anleitung zur deutschen Poeterey. Poet, hg. v. Marian Szyrocki, Tübingen 1966. Buchner, August, Kurzer Weg-Weiser zur Deutschen Tichtkunst, fotomechanischer Nachdruck der Originalausgabe 1663, Leipzig 1977. Cicero, Marcus Tullius, De oratore / Über den Redner, Lateinisch / Deutsch, übersetzt und hg. v. Harald Merklin, 2., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage, Stuttgart 1991. Döblin, Alfred, Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman, hg. v. Gabriele Sander und Andreas Solbach, München 2007 [EA 1915]. Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 19, hg. v. Heinz Schlaffer, München / Wien 1986. Eichendorff, Joseph von, Ahnung und Gegenwart, in: ders., Werke in fünf [sechs] Bdn., hg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach, Frankfurt am Main 1985, 53 – 382. Eichendorff, Joseph von, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, in: ders., Werke in sechs Bdn., hg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz, Bd. 6, hg. v. Hartwig Schultz, Frankfurt am Main 1990, 805 – 1074. Fontane, Theodor, Frau Jenny Treibel, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Edgar Groß, Bd. 7, München 1959, 5 – 167. Fontane, Theodor, Effi Briest, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Edgar Groß, Bd. 7, München 1959, 169 – 427. Frank, Gustav, »Dichtung in Prosa(ischen Zeiten). Lyrik zwischen Goethezeit und Vormärz in Erzähltexten«, in: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, hg. v. Steffen Martus, Stefan Scherer und Claudia Stockinger, Bern 2005, 237 – 270. Goethe, Johann Wolfgang, Goethe’s Werke, hg. v. Fr[iedrich] Strehlke, 2. Theil: Gedichte, Berlin o. J. Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke. Nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, Bd. 3.2: Italien und Weimar 1986 – 1790, hg. v. Hans J. Becker, Hans-Georg Dewitz, Norbert Miller, Gerhard H. Müller, John Neubauer, Hartmut Reinhardt und Irmtraut Schmidt, München 2006. Hamann, Johann Georg, Aesthetica in nuce, in: ders., Sämtliche Werke, historisch-kritische Ausgabe hg. v. Josef Nadler, Bd. 2, Wien 1950, 195 – 217. Happel, Eberhard Werner, Der Insulanische Mandorell, in: Huet, Pierre Daniel, Trait¦ de l’origine des Romans, Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Uebersetzung von 1682, Stuttgart 1966.

Poetik der Prosa

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Astrid Arndt / Christoph Deupmann

Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, hg. v. Oskar Erdmann, 6. Auflage, Tübingen 1973. Pischon, Friedrich August, Handbuch der deutschen Prosa, in Beispielen von der frühesten bis zur jetzigen Zeit, 1. Theil [mehr nicht erschienen], Berlin 1818. Rotth, Albrecht Christian, Vollständige Deutsche Poesie, Nachdruck der Ausgabe 1688, hg. v. Rosemarie Zeller, 2. Teilbd., Tübingen 2000. Ruprecht, Robert, Die Syntax als Metrik der Prosa. Zur Rolle der Syntax für die Textinterpretation, Bern u. a. 1993. Schadewaldt, Wolfgang, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen: Herodot, Thukydides, Frankfurt am Main 1982. Schlaffer, Hannelore, Poetik der Novelle, Stuttgart / Weimar 1993. Schlaffer, Heinz, »Der Roman, das letzte Stadium der Literatur«, in: Sinn und Form 6 (2002), 789 – 797. Schwarz, Rainer, »Werther und Lotte auf Glas. Goethes ›chinesischer Ruhm‹«, in: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (2004), H. 175 – 176, 139 – 144. Spielhagen, Friedrich, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Faksimiledruck nach der 1. Auflage von 1883, mit einem Nachwort von Hellmuth Himmel, Göttingen 1967. Storm, Theodor, »›Eine zurückgezogene Vorrede‹ (1881)«, in: ders., Sämtliche Werke in vier Bänden, hg. v. Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Bd. 4: Märchen / Kleine Prosa, hg. v. Dieter Lohmeier, Frankfurt am Main 1988, 408 – 410. Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt, Bd. 3, 2., unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1793, Hildesheim / Zürich / New York 1994. Tse-Tsung, Chow, The May Fourth Movement, Cambridge, Mass., 1960. Weise, Christian, Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen, in: Poetik des Barock, hg. v. Marian Szyrocki, Stuttgart 1982, 224 – 238. Weissenberger, Klaus, »Prosa«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gerd Ueding, Bd. 7, Tübingen 2005, Sp. 321 – 348.

Günter Arnold

Edition und Kommentar: Johann Gottfried Herders Exzerpt von Pierre Daniel Huets Traité de l’origine des romans

Das nachfolgende Exzerpt von Pierre Daniel Huets Abhandlung Trait¦ de l’origine des romans aus Johann Gottfried Herders Studienbuch O (StB-PK, HerderNachlaß XXVIII 2, 44r, 45r, 46r ¢ 50v)1 erfasst diese in ihrem ganzen Umfang, wie ein genauer Textvergleich sowohl mit dem Erstdruck in Zayde. Histoire Espagnole, par Monsieur de Segrais. Avec un Trait¦ de l’Origine des Romans, par Monsieur Huet. A Paris M.DC.LXX.2 als auch mit der ersten deutschen Übersetzung in Eberhard Werner Happels (laut Untertitel) »Liebes- und HeldenGeschichte« Der Insulanische Mandorell, Ist eine Geographische Historische und Politische Beschreibung Aller und jeder Insulen Auff dem gantzen Erd-Boden, Hamburg 1682, gezeigt hat. Das Studienbuch von insgesamt 164 Blatt ist zum größten Teil in der Rigaer Zeit benutzt worden, aber die frei gelassenen Seiten hat Herder später in Weimar gefüllt. Das vollständige Huet-Exzerpt gehört zu den späten Eintragungen. Vor inhaltlichen Kriterien der zeitlichen Bestimmung, die oft nicht weiterhelfen, da der Polyhistor Herder sich im Grunde zu jeder Zeit mit allen Themen beschäftigt hat (die ja in seinem Denken ein Ganzes ausmachen) ¢ vor inhaltlichen Bestimmungsversuchen ermöglicht mitunter der Schriftvergleich zwar keine genaue Zeitbestimmung, aber wenigstens die Ein1 Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin ¢ Stiftung Preußischer Kulturbesitz herzlich für die Veröffentlichungserlaubnis. Ich habe das Autograph buchstabengetreu transkribiert und die abgekürzten Wörter sowie die Zeichen für ›nicht‹, ›mehr‹, ›über‹, ›Gott‹ kursiv ergänzt. Fehlende Umlaute wurden nicht ergänzt. Winkelklammern < > bedeuten Sofortkorrekturen Herders, // zeigt das Ende der Seiten an. 2 Jean Regnault de Segrais (1624¢1701, Erzähler, Dramatiker, Lyriker), unter dessen Namen Marie Madeleine comtesse de La Fayette (1634¢1693) ihre Romane veröffentlichte, hat wahrscheinlich an Zayde mitgearbeitet. Madame de La Fayette zog, wohl aus Standesrücksichten, als Schriftstellerin die Anonymität vor. Pierre Daniel Huet (1630¢1721, Lehrer des Dauphin, später Abt von Aulnay, Bischof von Soissons und Avranches), der wie Segrais zu ihrem Freundeskreis gehörte, schrieb die Abhandlung über die Geschichte des Romans 1666 auf Wunsch Segrais’, als Lettre de Monsieur Huet — Monsieur de Segrais, zur historischen, ästhetischen und moralischen Rechtfertigung der von der klassizistischen Poetik verachteten literarischen Gattung.

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ordnung in eine der in Herders Biographie mit Ortsnamen bezeichneten Lebensperioden: 1. die Jugend in Königsberg und Riga, 2. die mittlere Phase von der Frankreich-Reise über Bückeburg und die ersten zwölf Weimarer Jahre, 3. die Spätphase in Weimar nach der Italienreise. In 1. ist die Schrift zierlich klein und rund verschnörkelt, jeder Buchstabe sorgfältig ausgeführt; in 2. eine mittelgroße, sehr exakte Schreibschrift ohne Schnörkel; in 3. fallen große Buchstaben auf, flüchtig geschrieben (wegen der zunehmenden Augenschwäche), eher eckig als rund, und die Wörter werden immer mehr abgekürzt. Dadurch lassen sich die späten Einträge des Studienbuches gut von den früheren unterscheiden. Huet gehört zu den späten wie auch das unmittelbar vorausgehende Exzerpt aus Christian Gottlob Heynes Edition der Eclogae Virgils. Beide sind im Studienbuch umrahmt von früherer Schrift: Es folgen Auszüge aus Lessings Literaturbriefen, eine Disposition zur Geschichte des Liedes und Übersetzungen pseudoanakreontischer Lieder. Voraus gehen umfangreiche Aufzeichnungen in der kleinen runden Schrift der sechziger Jahre aus Thomas Blackwells Enquiry into the Life and Writings of Homer, nicht nach Voß’ Übersetzung 1776, wie im Katalog angegeben, sondern nach dem Hamburgischen Magazin von 1753 bis 1755 in der Verdeutschung des Mansfelder Pfarrers Christian Wilhelm Agricola (1725¢1769) der Inhalt des 2. bis 9. Kapitels der Enquiry. Soweit nur zum unmittelbaren Umfeld unseres edierten Textes in diesem überaus reichhaltigen Studienbuch. Das Titelregister des Nachlasskatalogs weist noch einen zweiten, nur eine Seite umfassenden Huet-Auszug nach in dem großformatigen Studienheft M, das aber nur aus 50 Blatt besteht (Herder-Nachlaß XXXI 22): [Bl. 17 v] Huetius von Romanen de l’origine des Romans Weder in Provenze, noch Spanien sondern weiter her Sonst nicht blos in Prose sondern auch Versen u. Giraldi u. le Pigna (de Romanzi, erkennen Bojardo u. Ariost für Muster jezt des fictions) Unterscheidung von histoires d’avantures amoureuses) denn Liebe Hauptsujet ecrites en Prose) Mode des Jahrhunderts avec art) sonst Gemisch ohne Ordnung u. Schönheit pour le plaisir et l’instruction des Lecteurs) also Laster gedemütigt Tugend gekrönt p aber Lehre unter Blumen etc. Nun unterscheidet er sie von Poems Epiques: wo zwar Dichtung nach Aristoteles auch Hauptsache p aber Verse p3 u. nach Petron gar fast Orakel p4 da sind Romane simpler

3 Peqi poigtijgr (Poetica), 1451 b (Kap. 9): »Es ergibt sich also, daß einer dadurch zum Dichter wird, daß er sich die Fabeln seiner Dichtungen selber ausdenkt; viel weniger ist er dadurch Dichter, daß er sich der metrischen Formen bedient. Er ist Dichter durch seine nachahmende Darstellung« (Aristoteles, Poetik, 20 f.).

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weniger erhaben, weniger figurirt Poeme mehr Wunderbares, doch Wahrscheinlich Romane mehr Wahrscheinlich obgleich auch Wunderbar Poeme mehr Regelmäßig

Dieses Exzerpt bringt nur einen sehr textnahen Auszug des Anfangs der Abhandlung, im Erstdruck die Seiten 4 bis 7. Die französischen Wörter vor der schließenden Klammer in der 5. bis 9. Zeile des edierten Textes (»des fictions … des Lecteurs«) sind fortlaufend zu lesen. Dahinter stehen jeweils die erklärenden Begründungen Huets für diese seine Bezeichnungen. Auf Herders Schriftzüge trifft die Beschreibung seiner Schrift in der 2., mittleren Phase zu. Beide Huet-Exzerpte sind übrigens nach dem französischen Original angefertigt worden, wie die französischen Zitate und die Übereinstimmung mit dem französischen Text bei Stellen beweisen, die in Happels Übersetzung fehlen oder vom Original abweichen. Das Studienheft M enthält Brouillons und Exzerpte aus den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts, hauptsächlich aus Herders Bückeburger Zeit: Entwürfe zu den Preisschriften für 1774 Wie die Deutschen Bischöfe Landstände wurden (R, S.19) und Caroli Magni progenies… (R, S. 7); Notizen der beiden Preisfragen der Berliner Akademie der Wissenschaften für 1775 (R, S. 690); einen fragmentarischen Katechismusentwurf und folgende Auszüge: 4 Seiten aus John Tolands Schriften A Collection of several Pieces of Mr. Toland, now first published from his original manuscripts, with some Memoirs of his Life and Writings (2 Bde., London 1726), woraus Herder in der Münchner Preisschrift Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten 1778 »the history of Druids or a Specimen of the Critical history of the Celtic religion and learning« anführt (SWS VIII, S. 391; FHA 4, S. 186 f., 961 zu 186, A 46); 24 Seiten aus den M¦moires pour la vie de FranÅois P¦trarque tir¦s de ses oeuvres et des auteurs contemporaines von Abb¦ de Sade (3 Bde., Amsterdam 1764¢1767), über die Herder sich gleich nach Empfang im Oktober 1771 begeistert an Karoline Flachsland äußerte (DA 2, S. 87 f.); 13 Seiten aus Carsten Niebuhrs Beschreibung von Arabien aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammleten Nachrichten (Kopenhagen 1772), im Nachlasskatalog mit desselben Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern (2 Bde., Kopenhagen 1774, 1778) verwechselt; ferner Exzerpte aus Johann Georg Wachters Glossarium Germanicum (Leipzig 1737) und aus älteren Jahrgängen verschiedener theologischer und allgemeinwissenschaftlicher Zeitschriften. Für das voranstehende kurze Huet-Exzerpt aus den 1770er Jahren ist kein unmittelbarer Bezug zu Herders in dieser Zeit entstehenden Werken festzustellen, dagegen durchaus bei dem vollständigen Konspekt aus den 1790er 4 »[…] die Phantasie des Dichters muß sich durch dunkle Orakel, göttliche Fügung und mythische Überlieferungen ihren Weg bahnen« (Petronius, Satyricon, 233).

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Jahren. Das Exzerpieren der ganzen Schrift im Zusammenhang sollte ihre Hauptgedanken dem Gedächtnis einprägen. Huet selbst wird zwar in allen Werken und Briefen Herders nur als Autor apologetischer theologischer Schriften wie der Demonstratio evangelica (Paris 1679) oder der Quaestiones Alnetanae de concordia rationis et fidei (Caen 1690) angeführt, aber die im Trait¦ de l’origine des romans zusammengetragenen reichhaltigen Details veranlassten dessen Rezeption als einen ungenannten grundierenden Text eigener literarhistorischer Darstellungen, wie der Literaturgeschichte Europas in der 7. und 8. Sammlung der Briefe zu Beförderung der Humanität (Riga 1796) und explizit wie des Kapitels »Mährchen und Romane« im 3. Stück der Zeitschrift Adrastea (1802; SWS XXIII, S. 273¢297; FHA 10, S. 255¢276), worauf die vorliegende Edition, den Kommentar in FHA 10 ergänzend, hinweisen sollte.

Siglen Huet SWS FHA

Huet, Trait¦ de l’ origine des romans Herders Sämmtliche Werke Frankfurter Herder-Ausgabe (Herder, Werke in zehn [elf] Bänden) DA Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763¢1803 R DA, Bd. 10: Register Nachlaßkatalog Herder, Der handschriftliche Nachlaß

Literatur Aristoteles, Poetik, übersetzt v. Walter Schönherr, Leipzig 1961. Herder, Johann Gottfried, Briefe. Gesamtausgabe 1763¢1803, hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar/Klassik Stiftung Weimar, bearbeitet von Wilhelm Dobbek † und Günter Arnold, 14 Bde., Weimar 1977¢2009. Herder, Johann Gottfried, Der handschriftliche Nachlaß. Katalog im Auftrag und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen bearbeitet von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler, Wiesbaden 1979. Herder, Johann Gottfried, Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877¢1913. Herder, Johann Gottfried, Werke in zehn [elf] Bänden, hg. von Günter Arnold u. a., Frankfurt am Main 1985¢2000. Huet, Pierre Daniel, Trait¦ de l’ origine des romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682, mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser, Stuttgart 1966. Petronius, Satyricon, übersetzt v. Fritz Tech, Berlin 1965.

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[Bl. 44r]

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Huet de l’ Origine des Romans. ______________

weder in Provence noch Frankreich Ursprung sondern weiter. Vormals auch die in Versen Romane u. Giraldi u. le Pigna sein Schüler erkennen fast keine andre für Romane in ihren Abhandlungen de Romanzi5 u. machen Boiardo6 u. Ariost7 zu Vorbildern. Jetzt anders, in Prose u. meist Liebe. Huet unterscheidet sie von Versromanen u. Epischen Gedichten, uber die Aristotelischen Regeln. Roman mehr Natur als Heldengedicht Heldengedicht geordneter, weniger Episoden, hat eine Schlacht oder Politische Handlung zum Gegenstand, Roman Liebe. Auch nicht fabelhafte Historien wie Herodot8, Hanno Reisen9, Apollonius Leben10 : diese Werke wahr im Ganzen falsch in Theilen; Roman vice versa. Alle alte Ursprünge der Nationen sind dunkel. Annius11 erdichtet u. die Verachtung von allen Gelehrten. Erfindung des Romans ist orientalisch, komt den Egyptern Arabern, Persern u. Syrern zu; die ersten Romanschreiber waren daher. Clearch aus Cilicien12 Jamblich, der die Begebenheiten des Rodanes u. Sinonis geschrieben aus Cilicien u. zu Babel erzogen.13 Heliodor aus Emesus in Phönicien14 Lucian, der die Verwandlungen Lucius in Esel, aus Samosata in Syrien15 Achilles Tatius aus Alexandrien in Aegypten16 ¢ Die Geschichte von Barlaam u. Josaphat ist von Saint Johann von Damas in Syrien. 17 // [Bl. 45r] Damascius, der nach Photius18 4. Bücher von Dichtungen p aus Damaskus.19 5 Giovanni Battista Giraldi, genannt Cinthio (1504¢1573, Arzt, Philosophieprofessor, Dramatiker), Discorsi intorno al componere de’ romanzi, Venedig 1548, 1554; Giovanni Battista Pigna (1529¢1575, Philologe, Staatstheoretiker), I romanzi, ne’ quali della poesia ¦ della vita dell’ Ariosto, Venedig 1554. 6 Matteo Maria Boiardo (1441¢1494, Dichter und Humanist), Orlando innamorato (Versepos), 1483. 7 Ludovico Ariosto (1474¢1533, Dichter), Orlando furioso (Versepos), 1516. 8 Herodotos (485¢425 v. Chr.), Historiarum libri IX (Darlegung der Erkundung). 9 Hanno (um 500 v. Chr., Suffet von Karthago), Periplus (Umseglung); Seeexpedition an die Westküste Afrikas. 10 Apollonius von Thyana (1. Jh. n. Chr., neupythagoreischer Wundertäter), Vita Apollonii von Flavius Philostratus (um 200 n. Chr.). 11 Annius von Viterbo (1432¢1502, Dominikanermönch), Fälscher »antiker« Schriften. 12 Klearchos aus Soloi auf Zypern (4. Jh. v. Chr., Schüler Aristoteles’), Lebensbeschreibungen (Fragmente). 13 Jamblichos aus Syrien (2. Jh. n. Chr.), Babylonische Geschichten (Rhodanes und Sinonis). 14 Heliodoros aus Emesa (3. / 4. Jh. n. Chr., war kein Bischof), Äthiopische Geschichten von Theagenes und Charikleia. 15 Pseudo-Lukianos (2. Jh. n. Chr.), Lukios oder der Esel (nach Lukios aus Patrai), nicht Lukianos aus Samosata (um 120¢180 n. Chr.). 16 Achilleus Tatios (um 200 n. Chr.), Die Geschichte von Leukippe und Kleitophon. 17 Der heilige Johannes Damascenus (Johannes Chrysorrhoas, um 700¢um 753, Mönch bei Jerusalem, Dogmatiker der griechisch-orthodoxen Kirche), Barlaam und Josaphat, Heiligenlegende (ursprünglich Buddha-Legende), im Mittelalter Volksbuch. 18 Photios aus Konstantinopel (geb. um 810 n. Chr.), Bibliothek (Exzerptensammlung). 19 Damaskios aus Damaskus (geb. um 462 n. Chr., Neuplatoniker, Leiter der Platonischen Akademie in Athen vor ihrer Schließung durch Justinian I. 529 n. Chr.), Paradoxa (Wundergeschichten), nur bei Photios erwähnt.

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Die 3. Romanschreiber Xenophons, von denen Svidas20, einer aus Antiochia in Syrien21, der andre aus Cypern22 p also Alle aus Asiatischen Gegenden ¢ Auch alles Asiatisch ihre Theologie Philosophie Politik Moral in Fabeln, Allegorien u. Parabeln verhullt. Die Aegypter alles Hieroglyphen u. von ihnen die Griechen nach Herodot ihre Mythologie.23 Die Araber voll Metaphern. So auch ihr Koran, den Mahomet so gemacht »daß man ihn schnell faße nicht schnell vergesse.«24 Ihr Locman ist nur ubersetzter Aesopus indeß berühmt, siehe in Koran das Kapitel Locman.25 Ihre Leben der Patriarchen Propheten Apostel fabelhaft, indeß die Lust ihrer Poesie. Erpenius26 sagt, daß ganze Welt nicht so viel Poeten als Araber. 60 die Prinzen ihrer Poesie. Vor Mahomet viele: Kalifen selbst: Abdalla27 machte ein Buch der Gleichnisse. Von Arabern haben wir vielleicht unsere Reime denn vor Ankunft Tarics u. Muza in Spanien28 diese nicht in Europa. Den alten Römern nicht bekannt. Die Perser große Lügner : siehe Strabo von Persern Medern p29 den Locman eignen sie sich gar zu das er ein schwarzer Araber gewesen, der in Cassuvin in Arsacien30 gelebt u. Araber halten ihn wieder für Ebräischen Sklaven. Indeß sein Leben von Mirkond geschrieben31 viel Ahnliches mit dem was wir von Aesop durch Maximus Planudes32 haben u. was Philostratus33 von ihm. Auch bei ihm der Weise, wie bei Griechen; Engel geben ihm das Wissen wie bei Philostratus Merkur. So Andenken bis Nubien u. jetzt Türken, daß er zu Davids Zeit34 aus Mirkond also 450. Jahr gefehlt. Hesiod35 lebte zu Salomons Zeiten36 u. nach 20 »Suda« (bis 20. Jh. als byzantin. Lexikograph gedeutet), Name eines enzyklopädischen Lexikons (um 1000). 21 Xenophon aus Antiochia (2. oder 3. Jh. n. Chr.), Babylonische Geschichten (nur Suda-Erwähnung). 22 Xenophon aus Zypern (2. oder 3. Jh. n. Chr.), Cyprische Geschichten von Cinyras, Myrrha und Adonis (wie Anm. 107); Xenophon aus Ephesos (2. oder 3. Jh. n. Chr.), Ephesische Geschichten von Antheia und Habrokomas. 23 Herodot, 2. Buch, Kapitel 50: »Fast alle Götternamen sind ja aus Ägypten nach Griechenland gekommen«. 24 Zitat nicht ermittelt. Der Koran, in einprägsamer Reimprosa verfasst, wird noch heute in Koranschulen auswendig gelernt. 25 31. Sure, »Loqman. Geoffenbart zu Mekka«. Der weise Lokman ist eine Sagengestalt nach dem Vorbild Äsops (vor 6. Jh. n. Chr.). 26 Thomas Erpenius (1584¢1624, holländ. Arabist), Locmani sapientis fabulae et selecta quaedam Arabum adagia, Leiden 1615. 27 Der 47. Kalif Abdallah Abulcasim Muctudis Billa (regierte 1075¢1094) war selbst Dichter. 28 Die arabischen Feldherren Tarik und Mußa besiegten 711 die Westgoten und eroberten 712 fast ganz Spanien. 29 Strabon aus Amaseia (um 63 v. Chr.¢19. n. Chr.), Geographische Forschungen, 11. Buch, Kapitel 6: »Die alten Geschichten der Perser, Meder und Syrer haben keine große Glaubwürdigkeit erlangt, wegen der Einfalt und Fabelsucht der Geschichtsschreiber.« 30 Kaswin und Arsakia waren Städte in der persischen Provinz Medien. 31 Mohammed ibn Chawendschah Mirkhond (1433¢1498, persischer Geschichtsschreiber), Lustgarten der Lauterkeit (Universalgeschichte von Persien). 32 Maximos Planudes (um 1255¢1305, byzantin. Mönch), Anthologia Graeca. 33 Flavius Philostratos (um 200 n. Chr., griech. Sophist, Rhetoriklehrer), Eikones (Bildbeschreibungen); vgl. Goethes Aufsatz Philostrats Gemählde in Ueber Kunst und Alterthum (1818). 34 David (um 1000 v. Chr.), König von Juda und Israel. 35 Hesiodos (8. / 7. Jh. v. Chr.), griech. Dichter.

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Quintilian der Erfinder der Aesopschen Fabeln37; Perser lieben die Poesie zum Erstaunen. Inder eben so: der Indianer Sandaber38 hatte Parabeln gemacht, die durch die Ebräer ubersetzt sind: der Jesuit Poußin hat hinter seinem Pachymere39, Gespräch zwischen König Absalom von Indien40 u. einem Gymnosophisten41 uber verschiedene Fragen der Moral, wo er in Parabeln u. Fabeln antwortet wie Aesop: wenig unterschieden vom Indischen Pilpai42. Dieser Bilpai ins // [Bl. 46r] Persische von da ins Arabische von da ins Persische, von allen ins Französische ¢ Die Fabeln von den Patriarchen der Inder Brammon u. Bremar43 p eben : Horaz sagt fabulosus Hydaspes44 Alle diese Fabeln nun in Syrien geheiligt. Heilige Verfasser bequemten sich dem Geiste der Juden u. sprachen ihre Inspiration auch in Parabeln aus. Die ganze Heilige Schrift Mystisch Allegorisch Aenigmatisch45, Hiob eine Parabel: Psalmen, Sprichwörter Hohelied p Poesien Die Sprichwörter sind nur Fabeln oder Paraboles en racourcy46. Das Hohelied ist dramatisch: Xstus Parabeln: Talmud47 Fabeln Die Einwohner in Cypern u. Cilicien zum Sprichwort daruber, insonderheit Cilicier48. Das also Quelle. Fortgang also. Ionien kam unter Cyrus49, ward Persisch an Sitten, unterschieden sich durch ihre Weichlichkeit u. da lernten sie von den Persern Milesische Fabeln das ist Romane p Ihr Aristides50 ist untergegangen wie Dionysius Milesianus51 ebenfalls. Da bekam nun Grie-

36 Salomon (10. Jh. v. Chr.), Sohn und Nachfolger König Davids. 37 Marcus Fabius Quintilianus (um 35¢um 100 n. Chr., röm. Rhetor), Institutio oratoria (Einführung in die Rhetorik). 38 Fiktiver indischer Philosoph, identisch mit Bidpai. »Indianer« wurde im 17. / 18. Jh. für die einheimische Bevölkerung Ost- und Westindiens gebraucht. Der heutigen Bedeutung von »Indianer« entsprach »Amerikaner«. 39 Peter Possinus (1609¢1686, franz. Jesuit), Georgii Pachymeris Michael Palaeologus, 6 Bde., Rom 1666; Georgii Pachymeris Andronicus Palaeologus, 7 Bde., Rom 1669. Georgios Pachymeres (1242¢um 1310) schrieb über die byzantin. Geschichte seiner Zeit 1255¢1308. 40 Legendärer indischer König, nicht nachweisbar. 41 Einer der indischen Asketen, die nackt in Wäldern lebten. 42 Pilpai, richtiger Bidpai, legendärer indischer Philosoph, schrieb angeblich um 300 v. Chr. die Sammlung Tierfabeln Kalila und Dimna (das sind zwei Schakale) zur Fürstenerziehung; um 570 n. Chr. ins Persische übersetzt, danach ins Syrische, Arabische, im Mittelalter ins Griechische, Lateinische und 1480 ins Französische. Die wahre indische Quelle ist das Hitopadesa, eine jüngere bengalische Bearbeitung der Fabelsammlung Pantschatantra (4. / 5. Jh.) 43 Legendäre heilige indische Urväter, nicht nachweisbar. 44 Carmina I,22 »Integer vitae scelerisque purus«, V. 7 f. »quae loca fabulosus / lambit Hydaspes« (welche Orte der sagenreiche Hydaspes bespült); ein Nebenfluß des Indus. 45 Rätselhaft. 46 Gleichnisse auf die kürzeste Weise. 47 Enzyklopädische rabbinische Gesetzessammlung aus den ersten fünf Jahrhunderten n. Chr. 48 Kilikien, Küstenlandschaft im Süden Kleinasiens; Schlupfwinkel für Seeräuber. Den Bewohnern wurden Verlogenheit und Grausamkeit nachgesagt. Sprichwörtlich für Lügen »Cilicii sermones«. 49 Kyros (regierte 559¢529 v. Chr.), Gründer des Perserreiches. 50 Aristeides von Milet (um 100 v. Chr.), Fabulae Milesiae (Milesische Geschichten), verlorene Sammlung erotischer Novellen; wurde Gattungsbegriff: »Milesische Märchen, welches un-

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chenland durch die Ionier den Romangeschmack. Vor Alexander dem Großen keine Romane also nicht viel Fortgang: Clearch von Soli in Cilicien Schüler Aristoteles hat Liebesbücher geschrieben man weiß aber nicht, worüber? u. wie? Antonius Diogenes lebt gleich nach Alexander u. schrieb zu Nachahmung der Odyssee den Roman Die Reise des Dinias u. der Dercyllis52. Photius davon Auszug in seiner Bibliothek u. sagt es sei Quelle von dem was Lucian53, Lucius54 Iamblichus, Achilles Tatius Heliodor u. Damascius in diesem Fach geschrieben Indessen denkt er (Photius) noch an einen altern Romanschreiber Antonius Diogenes, u. Huet vermuthet, daß es der Comiker Antiphanes sei, der ein Buch unglaublicher Reisen p u. aus Thracien war.55 Man weiß nicht wann Aristides von Milet gelebt, indessen vor den Kriegen mit Marius u. Sylla.56 Denn der Romer Sisena hatte sie ubersetzt57 u. der Parther Surenas der Krassus schlug u. sie erbeutete, macht Romern daraus uber Weichheit Vorwurf.58 // [Bl. 46v] Lucius von Patras, Lucian von Samosata u. Iamblichus waren Zeitgenossen unter Antoninus u. Mark Aurel.59 Der erste nur Metamorphosen, davon Lucian einige anfuhrt p Lucian seinen Esel ¢ Der Italienische Brancaleone60 ist ohne Zweifel Nachahmung vom Esel Lucius oder Apuleius61. ¢ Lucian schrieb seinen Incredibilis62 um uber

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gereimte Erzählungen sind, die nur ergötzen und nicht belehren wollen« (Cervantes, Don Quixote, 1. Teil, Kapitel 47). Dionysios von Milet (nach 500 v. Chr.), Persica (Persergeschichte), nicht überliefert. Antonius Diogenes (1. oder 2. Jh. n. Chr.), Wunderdinge jenseits von Thule (Phantastische Reisen und Liebesgeschichte von Deinias und Dercyllis). Lukianos von Samosata (um 120¢180 n. Chr.), Verae historiae (Die wahren Geschichten), Reisebericht über erfundene Abenteuer, Lügengeschichte, u. a. Reise zum Mond und zur Insel der Seligen. Lukios aus Patrai (2. Jh. n. Chr.), Metamorphosen, verlorene Quelle für Pseudo-Lukianos und Apuleius. Antiphanes von Berge (4. Jh. v. Chr.), Apista (Unglaubliche Geschichten), verlorene Sammlung von Lügengeschichten; nicht der Dichter der neueren attischen Komödie Antiphanes aus Rhodos (4. Jh. v. Chr.). Gaius Marius (156¢86 v. Chr.) und Lucius Cornelius Sulla (138¢78 v. Chr.) und ihre Anhänger kämpften 88¢83 v. Chr. um die Herrschaft in Rom. Sulla war 87¢85 v. Chr. Oberbefehlshaber im 1. Mithridatischen Krieg in Griechenland und Kleinasien. Lucius Cornelius Sisenna (um 119¢67 v. Chr., röm. Geschichtsschreiber) übersetzte die Milesischen Geschichten. Surenas (Surena), kein Eigenname, sondern persischer Titel (Großwesir); pers. Feldherr, der die Römer unter Marcus Crassus (114¢53 v. Chr.) bei Carrhä schlug, spottete über diese, weil man im Gepäck eines Gefangenen »die unzüchtigen Schriften des Aristeides, welche Milesiaka heißen« vorfand (Plutarchos aus Charoneia, um 46¢um 120 n. Chr., Vitae parallelae: Marcus Crassus, Kapitel 32). Antoninus Pius (86¢161), röm. Kaiser seit 138; Marcus Aurelius Antoninus (121¢180), sein Nachfolger. Giovanni Pietro Giussano (1545¢1615, Geistlicher, Arzt, Philosoph), Il Brancaleone, storia piacevole e morale (Die Löwenklaue, eine anmutige und moralische Geschichte), Mailand 1610. Lucius Apuleius aus Madaura in Numidien (um 125¢180 n. Chr., röm. Rhetor, Philosoph), Metamorphoses (Der goldene Esel). Lukianos aus Samosata in Syrien (um 120¢um 180 n. Chr.), Philopseudes he apiston (Der

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den Roman des Antonius Diogenes u. uber die Fabelgeschichten des Ktesias63 u. Iambulus64 zu spotten. Iamblich seine Babylonica sind ein wahrer Roman: in Photius Auszug u. das Original in Escurial65 ganz. Heliodor ihn noch ubertroffen, aber seine Absetzung deßwegen gründet sich nur auf den ungewissen Nicephorus.66 Er war Zeitgenoß Arcadius u. Honorius.67 Den Achilles Tatius halten einige alter andre junger : natürlicher als Heliodor u. soll hernach Xst u. Bischof trotz seiner Unreinheit im Roman. Athenagoras Du vrai et parfait amour68 ist nur Französisch bekannt, der Ubersetzer Fum¦e bezieht sich auf ein Griechisches Original des Monsieur de Laman¦69 was aber sonst keiner gesehen. Es soll der Athenagoras sein, der für die Xsten geschrieben70 u. die Geschichte wahr, das aber Huet stark anzweifelt, wenn das Buch gar Griechisch ist. Photius der doch die Romanschreiber gnugsam anfuhrt nichts hievon p beschreibt die Priester Hammons71 gerade wie unsere Mönche p indeß ists gut u. sinnreich. Die Griechen in ihrem Roman noch immer Haupthandlung das die Franzosen nicht u. die Italiener ihnen gefolgt. Auf Ovid muß man sich nicht beziehen, der wollte Metamorphosen das ist einzelne Stücke, Cyklische Gedichte, in ein Buch bringen.72 Dieser Athenagoras hat Heliodor sehr nachgeahmt, bis auf Worte p u. Namen u. Personen. Damascius unter Iustinian ein heidnischer Philosoph kein Roman sondern Gespenstergeschichten. Barlaam u. Iosaphat ist ein geistlicher Roman von Saint Iohannes Damascenus unter Leo aus Isaurien73, ist als Geschichte geschrieben von Liebe Gottes, Blut der Märtrer, voll Parabeln p Der Roman von Theodorus Prodromus Die Liebe des Dosicles u. der Rodante74 u. Eustathius Bischof von Theßalonike75 unter Manuel76 in Mitte vom 12. Seculum von Ismenias

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Freund der Lüge oder der Ungläubige), satirischer Dialog: Wunder- und Schauergeschichten, erzählt von Vertretern verschiedener Philosophenschulen. Ktesias aus Knidos (um 400 v. Chr., griech. Geschichtsschreiber), Persische Geschichte. Iambulos (2. Jh. v. Chr., arab. Kaufmann), phantastischer utopischer Reiseroman über urkommunist. Verhältnisse auf einer Südseeinsel; nur Inhaltsangabe in: Diodoros Siculus (um 80¢um 29 v. Chr., griech. Geschichtsschreiber), Bibliotheca historica (Weltgeschichte), 2. Buch, Kapitel 55¢60. Königl. spanische Residenz und Kloster nordwestl. Madrids, Handschriftensammlung der Klosterbibliothek. Nikephoros Constantinopolitanus (758¢829, Patriarch in Konstantinopel, griech. Geschichtsschreiber), Ecclesiasticae historiae (Kirchengeschichte), Paris 1630. Arcadius (377¢408), ab 395 oström. Kaiser ; Honorius (384¢423), ab 395 weström. Kaiser. Von der wahren und vollkommenen Liebe, franz. Fälschung (1599), der angebliche Übersetzer Fum¦e (Fumeus), Martin Fum¦a (um 1540¢um 1600, Parlamentsrat, Übersetzer), war der Verfasser. Monsieur de Laman¦, Protonotar des Kardinals d’Armagnac (Huet, 37). Athenagoras aus Athen (2. Jh. n. Chr., christl.-platon. Philosoph), Offener Brief über die Christen an die Kaiser Marcus Aurelius und Commodus; apologetische Schrift, verteidigt die Christen gegen ungerechtfertigte Vorwürfe. Ammon, ägyptischer Hauptgott, griechisch Zeus-Ammon, römisch Jupiter-Ammon. Ovidius Naso (43 v. Chr. ¢17 n. Chr.), Metamorphoses, Verwandlungssagen. Leo III., der Isaurier, aus Syrien (um 675¢741), ab 717 oström. Kaiser. Theodorus Prodromus (um 1100, byzantin. Gelehrter und Schriftsteller), Rodanthe und Dosikles, griech. Versroman in Jamben in neun Büchern nach Heliodor. Eustathios (12. Jh., Erzbischof von Thessalonike), byzantin. Homer-Kommentator ; ihm

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u. Ismene ¢ beide hat Gaulmin ubersetzt u. mit Noten p77 // [Bl. 47r] Der letzte ist gar nicht der Commentator Homers, dazu dies Werk zu elend; einige Manuscripte nennen ihn auch Eumathius ein elendes Werk u. Theodorus Prodromus nicht beßer, ein Russe von Nation Priester Poet, Philosoph Arzt, in Jamben.¢ Longus ist so gelobt, aber Huet schlecht von ihm p weder an Stil noch Inhalt: man weiß nicht wann er gelebt hat.78 Von den 3. Xenophons weiß man nichts, als was Svidas p Parthenius von Nicee, eine Samlung Liebesgeschichten79, dem Dichter Cornelius Gallus80 zugeeignet, unter Augustus. Samlung aus der alten Fabel: einige sind Romantisch u. scheinen Milesische Fabeln als Kapitel 8. 9. 10. 18. 11. wo die Geschichte von Caunus u. Biblis, Kindern des Gründers von Milet.81 Die Griechen brachten alles in Regeln, auch Roman p Die Milesischen Fabeln bei den Sybariten in Italien sehr angenehm. Aesop Thiere, Sybaritische Fabeln Menschen, zu lachen p eine Probe davon in Aelian.82 Ovid fuhrt eine Sybaritis als lasciv an,83 die aber vermuthlich von Romer denn Sybaris über 500 Jahre zerstort p84 Römer damals weich, wie auch aus Ovid erhellt // [Bl. 47v] Unter Kaisern noch mehr. Siehe Virgils Naiaden, die sich von der Liebe der Götter erzahlen85 u. Ovids Verwandlungen von Pyramus u. Thisbe, Mars u. Venus, Salmacis u. Hermaphrodit p ¢86 Petron eine Art von Roman, Verse u. Prose p fein Urtheil p sein Styl etwas zu gemahlt u.

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wurde der folgende Roman fälschlich zugeschrieben, wie Huet richtig erkannte. Verfasser war Eustathius Makrembolites (12. Jh.). Manuel I. Komnenos (1120¢1180), ab 1143 oström. Kaiser. Gilbert Gaulmin (1588¢1667, Staatsrat in Paris) übersetzte die Romane ins Lateinische und versah sie mit Anmerkungen; Rhodanthes et Dosiclis amores, Paris 1625; Ismenias et Ismene, Paris 1617. Longos aus Lesbos (2. oder 3. Jh. n. Chr., griech. Sophist), Hirtengeschichten von Daphnis und Chloe, idyllisch-bukolischer erotischer Roman. Huets vernichtendes Urteil (schlecht komponiert, zu einfältig, ohne Erfindungsgabe und Lebensart, obszön, zu viele Metaphern) wird von der Rezeptionsgeschichte widerlegt. Parthenios aus Nikäa (1. Jh. v. Chr.), Erotica (Leiden der Liebe), 36 unglückliche Liebesgeschichten. Cornelius Gallus (69¢26 v. Chr., röm. Statthalter Ägyptens) verfasste vier Bücher Elegien. Kaunus und Byblis, Kinder des Kreters Miletos, des sagenhaften Gründers von Milet in Kleinasien. Ihre Geschichte handelt von Geschwisterliebe und dem Selbstmord von Byblis (Parthenios, Kapitel 11). Claudius Aelianus aus Praeneste (um 170¢um 240 n. Chr., Sophist, Rhetoriklehrer), Varia historia (Bunte Geschichten), 14. Buch, Nr. 20: Lächerliche Geschichte von einem Pädagogen aus Sybaris, der einem Jungen eine gefundene Feige wegnimmt und selber isst. »Sybaritida« (Ovid, Tristia, 2. Buch, Vers 417); Huet bezweifelt, dass es sich um erotische Erzählungen von Hemitheon aus Sybaris handle. Die griech. Kolonie Sybaris in Unteritalien, durch Handel zu Reichtum und Macht gelangt, wurde 510 v. Chr. im Krieg mit der Nachbarstadt Kroton völlig zerstört. Publius Vergilius Maro (70¢19 v. Chr.), Georgica (Vom Landbau), 4. Buch, Vers 333¢349: Die Nymphen des Peneios spinnen grüngefärbte Wolle, und Klymene erzählt ihnen von den Liebeshändeln der Götter. Metamorphoses, 4. Buch, Vers 1¢415: Die Töchter des Neptun-Enkels Minyas ignorieren das Bacchusfest, spinnen, weben, erzählen sich diese Geschichten und werden zur Strafe von Bacchus in Fledermäuse verwandelt.

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studiert p87 Lucan soll Fables Saltiques nachgelassen haben p Liebe der Satyrn u. Nymphen88 Apuleius, goldner Esel unter Antoninus, ist aus den 2. ersten Buchern des Lucius von Patras gezogen, nur von Apuleius erweitert p eine Probe der Milesischen Fabel p Sein Styl Sophistisch p Martianus Capella hat auch Satire genant seine nuptias Philologiae, ist durchaus Allegorie u. eher Fabel, als Roman, Allegorie nicht fein, Styl barbarisch, hart dunkel p89 // [Bl. 48r] Nordliche Zeit: Thelesin90, der in Mitte des 6. Jahrhunderts unter König Artus u. Melkin,91 etwas jünger p schrieben die Geschichte von England ihrem Vaterland von König Artus u. der runden Tafel.92 Fabelhaft wie Hunibaldus Francus,93 der unter Clodowig soll gelebt haben Nun Fabelhaft Turpin von Karl Magnus,94 obgleich 200 Jahre jünger : Pigna p haben geglaubt, das Romane von Rheims, weil die andern Romanciers aus ihm geschopft ¢ aber falsch. Die Geschichten die man Hanco u. Solco Forteman dem Weisen Sivard u. Adel Adeling, Johann Sohn des Königs von Friesland (alle 5. Friesen zur Zeit Karls Magnus) zuschreibt, eben so fabelhaft95 ¢ So auch die Geschichte, die man dem Occo zuschreibt unter Otto Magnus, Urenkel des Solco96 Geschichte Gottfrieds von Monmouth,97 der die Thaten König Artus u. Merlin.98 Die Geschichte selbst ward jetzt 87 Titus Petronius Arbiter († 66 n. Chr., Prätor, Prokonsul, »Schiedsrichter des Geschmacks« am Hof Neros), Saturae (Satyricon), gesellschaftskritischer Sittenroman, parodiert die Odyssee und Lucans Pharsalia. 88 Marcus Annaeus Lucanus aus Corduba (39¢65 n. Chr.), Pharsalia (Bellum civile), unvollendetes Epos in zehn Büchern über den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius 49¢46 v. Chr.; Saltische [Springende] Geschichten sind nicht überliefert. Nach Pauly-Wissowa waren es Textbücher für Pantomimen. 89 Martianus Capella aus Karthago (um 400 n. Chr., Rechtsanwalt, Neuplatoniker), De nuptiis Philologiae et Mercurii (Die Hochzeit der Philologie und des Merkur), allegorische Enzyklopädie der sieben freien Künste, dargestellt im Wechsel von Versen und Prosa, im Mittelalter als Schulbuch sehr verbreitet. 90 Taliesin, legendärer walisischer Barde in Cornwall (6. Jh.). 91 Melkin, Melchinus oder Melvinus Avalonius, britann. Geschichtsschreiber über den ArtusSagenkreis (6.Jh.). 92 Legendärer keltisch-breton. Herrscher, Nationalheld gegen die Sachsen, Mittelpunkt des Sagenkreises von den Rittern seiner Tafelrunde (franz. und mhd. Epen des 13. Jh. von Chr¦tien de Troyes, Hartmann v. Aue, Wolfram v. Eschenbach, Gottfried v. Straßburg). 93 Fiktiver Geschichtsschreiber aus der Zeit Chlodwigs I. (465¢511), des Begründers des Frankenreichs, eine Erfindung des Abts des Schottenklosters in Würzburg Johannes Trithemius (1462¢1516, Geschichtsschreiber). 94 Turpin (†800), seit 753 Erzbischof von Reims, nach der Sage ein Freund Karls des Großen (Pseudo-Turpin). 95 Alle diese friesischen Geschichtsschreiber des 8. Jahrhunderts werden nur bei Huet und in Gerhard Johannes Vossius’ (1577¢1649) Schrift De historicis latinis (Leiden 1627) genannt. 96 Occo (10. Jh., fries. Geschichtsschreiber), Origines Frisiae bzw. Historia rerum Frisia (um 970), unter Kaiser (seit 962) Otto I. (912¢973). 97 Geoffrey of Monmouth (um 1100¢1154, engl. Bischof , Geschichtsschreiber), Historia regum Britanniae (um 1136), sagenhafte Geschichte Britanniens, u. a. Quelle der Artus-Sage. 98 Merlin, sagenhafter Zauberer, Erzieher und Helfer des Königs Artus (von Geoffrey of Monmouth erfunden); anonymer franz. Prosaroman Merlin (13. Jh.).

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Roman, das Lateinische verdorben ¢ Die Troubadours, les Chanterres, Conteurs, Iongleurs,99 u. endlich die die Science guaye100 liebten fingen von Zeiten Hugo Capets101 an, alles zu romanisiren, liefen durch Frankreich sangen ihre Lieder, erzahlten ihre Fabliaux102, in Römischer Sprache das ist die die Romer in Gallien eingefuhrt u. jetzt Gemisch von Lateinisch Gallisch Fränkisch: sie nanten sie Romansprache, um sie von der Sprache jedes einzelnen Landes, Fränkisch, gallisch, Aquitanisch Belgisch zu unterscheiden (denn nach Cäsar die 3 Sprachen verschieden)103 Die Spanier nennen ihre ordentliche Sprache auch Romance104, daher Roman. Die Provencaux damals plus d’usage des lettres et de la Poesie que tout le reste des Francois105 uberall wohlgelitten an den Hofen der Herren. Alle Provinzen ahmten ihnen nach bis zur Picardie wo man des Servantois machte, pieces amoureuses et quelquefois satyriques.106 // [Bl. 48v] Daher so eine Menge alter Romane in Bibliotheken p u. meiste untergegangen. Spanier u. Italiener haben aus Frankreich die Kunst gelernt, sie zu machen. Giraldi bekennts. Saumaise107 will, daß Spanier von den Arabern, u. die Roman-Kunst dem übrigen Europa gelehrt: denn müsten aber Thelesin u. Melkin u. Hunibaldus Francus 200 Jahre jünger sein denn 712. erst die Araber in Spanien u. doch erst auch Zeit, eh sich das verbreitete. Freilich waren die Araber sehr Fabeln, Romanen Poesie ergeben: In Afrika lebte die Romankunst vorher. Aristoteles u. Priscianus108 denken an Lybische Fabeln:109 Apuleius u. Martianus Capella waren Afrikaner. Leo der Africaner110 u. Marmol111 sagen,

99 Südfranzösische (provenzalische) fahrende Dichter, Sänger, Erzähler, Spielleute (Gaukler) im 12. und 13. Jahrhundert. 100 Gaya sciencia (Fröhliche Wissenschaft), altprovenzal. Bezeichnung der Poesie der Minnesängerschule von Toulouse. Vgl. darüber Herders 84. Humanitätsbrief. 101 Hugo Capet (um 940¢996), Herzog von Francien, 987 Wahlkönig von Frankreich. 102 Fabliaux: schwankhafte Verserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. 103 Commentarii de bello Gallico, 1. Buch, Kapitel 1: »Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aquitani, tertiam, qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur. Hi omnes lingua, institutis, legibus inter se differunt.« 104 »Romance, die spanische Sprache […] weil sie von der römischen abstammt« (Schmid, E. A., Diccionario Esp¼nol y Aleman, Leipzig 1795). Herder: »El Romance hieß also im Spanischen die Muttersprache« (SWS, Bd. 24, 249). Die romanischen Sprachen sind aus Vulgärlatein und indigenen Idiomen der Völker entstanden. 105 Die Provenzalen machten mehr Gebrauch von Schrift und Dichtung als alle übrigen Franzosen. 106 Servantois (provenzal. »sirventÀs«), »Dienstlied« der nordfranz. TrouvÀres, »Liebesgedichte und manchmal satirische Lieder« (Rüge- und Schmählied). 107 Claude de Saumaise (Salmasius, 1588¢1653), franz. Philologe, Polyhistor. 108 Priscianus aus Mauretanien (um 500 n. Chr., röm. Grammatiker), »Institutiones grammaticae« in 18 Büchern. 109 Aristoteles, Rhetorik, 3. Buch, Kapitel 20: Fabeln »wie die äsopischen und die libyschen« (zitiert in Lessings Abhandlungen über die Fabel, I, 1759). 110 Leo Africanus aus Cordoba (Alhassan ibn Mohammed Alwazzan, † um 1526, maurischer Geograph), De totius Africae descriptione (aus Arab. ins Latein. übersetzt von Johannes Florianus), Antwerpen 1556. 111 Luis de Marmolius (2. Hälfte 16. Jh., span. Geograph), Description general de Affrica, 3 Bde., Granada, Malaga 1573, 1600 (auf der Grundlage der Beschreibung von Leo Africanus).

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daß so noch jetzt in Africa die Araber die Thaten ihres Buhaluls112 singen, der ihnen ist, was uns der große Roland113 // [Bl. 49r] Daß in Fez114 am Geburtstage Mahomets115 die Poeten Zusammenkünfte p wo ein König der Gesänge Spanien nahm von ihnen Sitten an ¢ aber das waren Romanzen, nicht Romane. Man hat so alte, daß man sie kaum versteht, u. dienen zur altesten Spanischen Geschichte. Die Spanischen Romane sind jünger als die Französischen Tristans u. Lancelots.116 Don Quixote ist gute Critik daruber117 u. Amadis de Gaule da der erste, der in Spanien gedruckt, auch der beste.118 Don Belianis119 pp sind alle neu gegen die altesten Franzosen. // [Bl. 49v] Aber so wie wir von den Arabern den Reim p120 nicht auch so den Roman? Huet sagt nein: Franzosen schon ohne sie, aber durch ihr Exempel gestärkt p u. den Arabischen Reim nachher in die Romane: sagt, die Ahnlichkeit daß so wie in Fez dem Sanger Könige das Kleid geben p u. die Französischen Herren es eben so gethan nichts beweise (doch Ahnlichkeit). Und die Italiener in den Geschmack der Romane durch die Franzosen, da Pabste zu Avignon,121 u. als Carl, Graf von Anjou Bruder des Heiligen Ludwig in Italien Krieg fuhrte: der war Liebhaber der Poesie u. selbst Poet.122 // [Bl. 50 r] Denn auch Normänner sangen Thaten des Rolands vor Schlacht, als Wilhelm der Eroberer England einnahm.123 Damals Dunkelheit in ganz Europa. Doch in Italien mehr als in Frankreich England Deutschland, in Italien wenige Buchschreiber u. 112 Buhalul, arabischer (Sagen)Held, nicht ermittelt (Huet, 74). 113 Markgraf der Bretagne (8. Jh.), nach der Sage Neffe Karls des Großen (742¢814, fränk. König und röm. Kaiser), fiel 778 mit der Nachhut des Frankenheeres in der Schlacht von Roncevalles (Pyrenäen); vgl. Chanson de Roland, älteste chanson de geste (Heldenepos, um 1100). 114 Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Marokko. 115 Geburtstag Mohammeds (569¢632): der 12. Tag des Monats Rabı¯ al-anwal (März), eine willkürliche Festsetzung wie das Geburtsjahr (Tilman Nagel, Mohammed. Leben und Legende, München 2008, 99). 116 Der altfranz. Roman de Tristan (12. Jh.) und der Prosaroman Lancelot du lac (Anfang 13. Jh.). 117 Miguel Cervantes Saavedra (1547¢1616), El ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha, 1. Teil, Madrid 1605. Kritik an den Ritterromanen besonders in Kapitel 6 (Sichtung der Bibliothek Don Quijotes durch Dorfpfarrer und Barbier vor der Bücherverbrennung) und Kapitel 47 (Ausführungen des Domherrn von Toledo über Ritterromane). 118 Älteste überlieferte Fassung von Ordûnez de Montalvo, Saragossa 1508. Von 4 Büchern bis 1615 von franz. Autoren auf 24 Bücher erweitert. 119 Jerûnimo Fernandez, Historia de Belianis de Grecia, Burgos 1547. 120 Auch Herder vertrat die Auffassung von der Erfindung der Reime durch die Araber und von deren Einfluss auf die Provenzalen (84. und 85. Humanitätsbrief; Aufsatz Romanze im 10. Stück der Adrastea). 121 Avignon war 1309¢1376 Residenz der Päpste im Exil und danach bis 1417 Sitz der Gegenpäpste. 122 Karl I. von Anjou (1226¢1285), ab 1265 König von Neapel und Sizilien. Sein Bruder Ludwig IX. der Heilige (1214¢1270) war seit 1226 König von Frankreich. 123 Wilhelm I. der Eroberer (1027¢1087), Herzog der Normandie, wurde nach der Schlacht bei Hastings 1066 König von England. Die Legende vom Gesang des Rolandslieds vor der Schlacht hat der normannische Dichter Robert Wace (um 1100¢nach 1174) in der Reimchronik Le Roman de Rou, der Geschichte der normannischen Dynastie Englands, begründet (»Rou« ist der Wikinger Rollo, 911 Markgraf der Normandie).

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Romanmacher Die studiren wollten, kamen nach Paris, Paris die Mutter der Wißenschaft in Europa z. E. Thomas Aquino124, Saint Bonaventura.125 Dante126, Bocaz127 u. der President Fauchet128 hat gezeigt, daß Bocaz die meisten seiner Novellen aus französischen Romanen so wie Petrarch129 die besten Gesänge Thibaud Königs von Navarra,130 Gaces Brussez,131 du Chatelain de Coucy132 geplündert. Also haben Spanier u. Italiener selbst das von den Franzosen was die Frucht ihrer Unwißenheit war, wie es die Frucht der Politesse133 unter Persern, Ioniern Griechen gewesen. Wenn dem Menschen Wahrheit fehlt, nahrt er sich mit Lügen. Man verlaßt Brot u. ißt aus Satte134 Ragouts // [Bl. 50 v] Alle Nationen haben ihren Ursprung daher in Fabeln. Wilde in Amerika. Peruaner wie Gothen p Die Neigung ist allen Menschen natürlich wo sie nicht Wahrheit da Wißbegierde Fabel p Jene kostet Mühe. Diese leicht p ferner so diese fur die Einbildungskraft bereitet, frappiert sie stärker als Wahrheit. Unwißenheit u. Grobheit also Ursprung der Lüge wie bei Barbarn also Roman in Europa, so Französische Fabeln, Nordische Fabeln pp in jedem Lande Landgewächs, wie die Fabeln in Persien Medien Syrien. Troubadours in Frankreich vom Ende des 10. Seculums die Prinzen der Romancerie135 im 11. u. 12. sehr viele Romane als le Loheran,136 Tristan, Lancelot du Lac, Bertain,137 Saint Greal,138 Merlin,139 Artus, Perceval,140 Perceforest141 u. die meisten der 127. Poeten die nach 124 Thomas von Aquino (1225¢1274), ital. Kirchenlehrer, Scholastiker, lehrte in Paris 1248¢1261. 125 Saint Bonaventura (Johann von Fidanza, 1221¢1274), ital. Kirchenlehrer, Mystiker, studierte und lehrte in Paris, wurde Kardinal und Bischof von Albano. 126 Dante Alighieri (1265¢1321) studierte in Paris Theologie. 127 Giovanni Boccaccio (1313¢1375), bedeutendster Novellist der ital. Renaissance, ausgezeichneter Kenner der lat. und altfranz. Literatur. 128 Claude Fauchet (1530¢1602, franz. Gerichtspräsident, Philologe), Recueil de l’ origine de la langue et po¦sie franÅoise, ryme et romans: plus le noms et oeuvres de 127 poetes franÅois vivans avant l’ an 1300, Paris 1581. 129 Francesco Petrarca (1304¢1374, größter ital. Lyriker der Renaissance, Humanist), seine poetischen Vorbilder waren Virgil und die provenzalischen Troubadours. 130 Thibaut de Champagne (1201¢1253), Graf der Champagne, seit 1234 König von Navarra, Troubadour, Chansonnier. 131 Gace Brul¦ (um 1160¢nach 1213), nordfranz. Troubadour (TrouvÀre), höfische Liebesdichtung. 132 Le Ch–telain de Coucy (Der Kastellan von Coucy), Versroman von Jakemes (um 1300), der Titelheld ein um 1203 gestorbener Troubadour. 133 Feine Lebensart, Höflichkeit (höfische Art). 134 Mhd. und frühnhd. Form von »Sattheit«. 135 Fürsten der Romanschreiberei. 136 Garin le Loherain (Garin der Lothringer), chanson de geste (Heldenepos, 12. Jh.) über die Fehde zwischen zwei Adelsfamilien. 137 Le roman de Berthe aux grands pieds (1272 – 1274), Versepos von Adenet le Roi (um 1240–um 1305), TrouvÀre. 138 L’estoire del Saint Graal (Die Geschichte des heiligen Grals), Queste del Saint Graal (Suche nach dem heiligen Gral), anonyme Prosaromane des Artus-Zyklus (1215¢1230). 139 Merlin, Zauberer des Artus-Sagenkreises, Prosaroman über ihn. 140 Le roman de Perceval ou le conte du Graal (Der Roman von Parzifal oder die Erzählung vom Gral, um 1180, unvollendet) von Chr¦tien de Troyes, dem bedeutendsten franz. Epiker des Mittelalters.

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President Fauchet vor 1300. lebten. Huet will nicht untersuchen, ob Amadis in Spanien Flandern oder Frankreich gewachsen, ob Eulenspiegel142 Deutsch: in welcher Sprache zuerst der Roman der 7. Weisen Roms143 oder Dolopathos,144 der aus den Parabeln des Indianer Sandabers u. in einigen Bibliotheken Griechisch sein soll. Bocaz hat diesen Roman oft gebraucht. Der Monch Johann de l’Abbaye de Hauteselve145 hat ihn lateinisch geschrieben u. der Clerc Hebert146 zu Ende des 12. Jahrhunderts Französisch ubersetzt Die Galanterie der Romane ist Französisch, denn in Italien u. Spanien Manner u. Weiber gesondert: das zeichnet auch Französische Romane vor andern aus. Urfe war 1te der sie aus Barbarei zog u. in Regeln brachte, in seiner unvergleichlichen Asträa,147 dem sinnreichsten u. feinsten Werk in seiner Art, deßgleichen Griechenland Italien u. Spanien nichts hat. Scudery den Bassa, Cyrus, Clelie ¢148 Romane hat gelobt der Patriarch Photius Romane haben geschrieben Philosophen, Apuleius u. Athenagoras Praetores Romani Sisenna Consuls Petronius Prinzen Clodius Albinus149 Priester Theodorus Prodromus Bischöfe Heliodor u. Achilles Tatius Pabste Pius II (Liebe des Euryalus u. Lucretia)150 Heilige Johannes Damascenus.

141 Anonymer franz. Roman (1340), Nachahmung der Prosaromane des Artus-Zyklus. 142 Nach 1450 entstandenes niederdt. Volksbuch, Schwanksammlung plebeischer Provenienz, anonym; hochdt. Druck Ein kurzweilig Lesen von Dyl Ulenspiegel, Straßburg 1515. 143 Roman de sept sages (Von den sieben weisen Meistern), Erzählungszyklus, Versroman (2. Hälfte 12. Jh.). 144 Dolopathos ou Le sept sages de Rome (franz. Übersetzung Ende 12. Jh.). 145 Johannes von Alta Silva (Zisterziensermönch, Ende 12. Jh.) übersetzte aus dem Griech. Dolopathos sive De rege et septem sapientibus. 146 Hebert (Herbert) le Clerc (Angaben nur bei Huet: ein Geistlicher, Ende 12. Jh.) übersetzte Dolopathos aus dem Latein. ins Französische. 147 Honor¦ d’Urf¦ (1557¢1625), Hauptvertreter des franz. aristokratischen »Roman pastoral«; Astr¦e, 5 Bde., 1607¢1627; Romanzyklus: Liebesgeschichte von Personen des Hochadels in Schäferkleidung, die in idyllischer südfranz. Landschaft höfische Unterhaltungen führen. 148 Madeleine de Scud¦ry (1607¢1701), »Ibrahim, ou l’ illustre Bassa«, 4 Bde., 1641; ArtamÀne, ou le grand Cyrus, 10 Bde., 1649¢1653; Cl¦lie, histoire romaine, 10 Bde., 1654¢1660; heroisch-galante Romane, empfindsame Personen des 17. Jahrhunderts in antiker Maske. 149 Statthalter Britanniens, 196 / 197 n. Chr. Gegenkaiser gegen Septimius Severus (146¢211), † 197 im Kampf gegen Septimius Severus’ Truppen bei Lugdunum (Lyon) in Gallien. 150 Pius II., Enea Silvio Piccolomini (1405¢1464), ital. Humanist und Diplomat, seit 1458 Papst; Novelle Historia de duobus amantibus, 1444.

Lars Korten

Ist der Roman das moderne Epos? Zur Theorie epischen Erzählens um 1850

1.

Einleitung

Einige der prominentesten Zitate aus der Geschichte der Romantheorie finden sich in Heinrich Gustav Hothos Edition der Vorlesungen über die Ästhetik Georg Friedrich Wilhelm Hegels (erschienen 1835 – 1838).1 Die dort vorgenommene Einschätzung des Romans als »der modernen bürgerlichen Epopöe«2 und die Behauptung, der moderne Roman erringe »der Poesie […] ihr verlorenes Recht wieder«,3 sollen im Folgenden mit zeitnahen Äußerungen zur Theorie des Epos konfrontiert werden. Anlass für ein solches Vorgehen sind Überlegungen, inwiefern (1) die behauptete Ersetzung des Epos durch den Roman in Literaturtheorie und Literaturkritik um 1850 konsensfähig ist und ob in diesen Zusammenhängen (2) die nicht-versifizierte erzählende Literatur tatsächlich als ›poetisch‹ aufgefasst wird.4 Damit soll kein Beitrag zum besseren Verständnis der Hegelschen Position bzw. zu deren Rezeption geleistet werden. Vielmehr wird angestrebt, mit einer konzentrierten Materialsammlung einen Einblick in eine spezifische historische Konstellation der Vers- / Prosa-Konkurrenz zu geben.5

1 Zum mutmaßlichen Anteil Hothos an der Theoriebildung der Hegelschen Ästhetik vgl. die Einleitung von Annemarie Gethmann-Siefert, in: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, XV – CCXXIV. 2 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 392; Hervorhebung im Original. 3 Ebd., 393. 4 Für eine erste Orientierung wurden insbesondere die Textsammlungen von Bucher (1975), Steinecke (1984) und Plumpe (2001) herangezogen. Zur Literaturprogrammatik und Romantheorie des Realismus, insbesondere mit Berücksichtigung der Hegelschen Ästhetik, vgl. Steinecke (1975/76), Plumpe (1996[a]) und Plumpe (1996[b]). 5 Eine umfassende Geschichte des deutschsprachigen Epos entwirft Christians (2004); dort finden sich sowohl Erläuterungen zur Epos- / Roman-Kontroverse vor Hegel als auch zur Rezeption der Hegelschen Epos-Konzeption insbesondere des 20. Jahrhunderts (bspw. Luk‚cs, Benjamin, Adorno, Jauß). Der Epik Paul Heyses und einigen Theoriekonzepten des Epos im Realismus widmet sich Nelhiebel (2000). Zum Epos vgl. ferner Fromm (1997).

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2.

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Die enzyklopädische Bestimmung des Epos (1842)

Der Eintrag »Epos, Epische Poesie, Epopöie« (1842) in der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste unterscheidet zwei Begriffsverwendungen: Im engeren Sinne bedeute ›Epos‹ »vorzugsweise nur Epos und Epopöie, als reine Epik«,6 deren Charakterisierung der Hauptteil des Artikels gewidmet ist. Anhand der Homerischen Epen werden die Grundgesetze des ernsten7 »Heldenepos« (so der synonyme Gebrauch im Artikel) dargelegt: es sei gegründet auf Heldentaten, eingebettet in zurückliegende welthistorische Begebenheiten, bestimmt von Schicksalsmächten, erzählt in Hexametern. Im weiteren Sinne bezeichne ›Epos‹ hingegen alles, »was mittels der Erzählung poetisch dargestellt wird« wie in »Epos, Epopöie, Ballade, Romanze, Märchen, Roman, Novelle, poetische[r] Erzählung im engeren Sinne, Schwank, Legende«.8 Solche ›Epen‹ umfassen also sowohl Versdichtung (Epos i. e. S., Ballade, Romanze) als auch Prosa-Dichtung (Märchen, Roman, Novelle), wenngleich für beide in Anspruch genommen wird, dass die Darstellung des Erzählten »poetisch« sein müsse. Poetizität lasse sich erstens durch die Stoffwahl erzeugen, nämlich »Begebenheiten aus der Menschenwelt«, »welche begreiflicher Weise merkwürdig und interessant sein müssen, weil es sonst nicht der Mühe werth wäre, sie zu erzählen.« Zweitens sei formal »die Gestaltung zu einem in sich abgeschlossenem Ganzen mittels geschichtlicher Entfaltung und psychologischer Entwicklung« notwendig. Drittens komme der Darstellung die Aufgabe zu, »durch Anschaulichkeit und charakteristischen Ton den ästhetischen Eindruck« zu erzeugen. Eine historische Vermittlerposition zwischen antikem Epos – in dessen Tradition etwa Milton, Klopstock und Goethe stehen – und den modernen Formen epischen Erzählens nehmen die mittelalterlich-romantisch-orientalischen »Rittergedichte« ein, vertreten beispielsweise durch Ariost, Tasso, Wieland und Fouqu¦. Beim »Rittergedicht« trete das Moment des »Wunderbaren« so deutlich wie im antiken Epos hervor, jedoch nun nicht mehr psychologisiert und am sinnlich Erfahrbaren festhaltend, sondern als fester Bestandteil einer Welt des Magisch-Mystischen. Solche epische Dichtung, in der nicht mehr Götter und andere Schicksalsmächte die Handlung mitbestimmen, sei einerseits in den Roman übergegangen und andererseits dort, »wo man das Schicksal nach dem orientalischen [d. h.: geheimnisvoll-mysteriösen] Gesichtspunkte waltend einführte, in das Märchen über[gegangen], und dieses mischte sich häufig mit dem 6 H., Epos, 65; die nachfolgenden Zitate (im Original mit kursiv ausgezeichneten Gattungsbezeichnungen) ebd. 7 Das »scherzhafte Heldengedicht« wird als contradictio in adjecto verstanden bzw. als ironische Behandlung des ernsten; ebd., 72. 8 Dieses und alle weiteren Zitate ebd., 71.

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Roman in dem Rittergedicht.«9 Die behauptete Transformation des Epos zum Märchen, mit Beimischung des Romans zum (als »episch« geltenden) Rittergedicht macht deutlich, dass ›Märchen‹ und ›Roman‹ nicht als Stellvertreter einer Prosagattung aufgefasst werden, sondern vielmehr Gattungskonventionen jenseits der Frage nach Vers oder Prosa folgen (etwa hinsichtlich Stoffwahl, Stoffgliederung, sprachlichem Ausdruck u. a.). Die hier nur verkürzt und in Auswahl wiedergegebenen Anhaltspunkte zur Bestimmung von ›Epos, Epischer Poesie, Epopöie‹ nach Maßgabe der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste offenbaren, dass die Gattung ›Epos‹ literarhistorisch differenziert betrachtet worden ist, zugleich aber die Wesenszüge des ›Epos‹ (i. e. S.) von der antiken Epopöe abgeleitet werden, die damit das Muster der Gattung ist. Die Öffnung des Epischen zur »poetischen Erzählung« wäre als Hinwendung zur Prosa wohl missverstanden: Der Roman wird zwar in seiner Verwandtschaft zum Epos angeführt, jedoch scheint außer Frage zu stehen, dass Epos und epische Poesie auf den Vers angewiesen sind. Allenfalls wird diskutiert, ob der Hexameter (wie bei der antiken Epopöe) oder die Stanze (wie in den romanischen Heldengedichten) das geeignetere Ausdrucksmittel wären.10 Mit dem hier konturierten Wissen um die zeitgenössische enzyklopädische Bestimmung des Epos können im Folgenden die Gemeinplätze und die innovativen Leistungen der ausgewählten Diskussionsbeiträge aus dem Zeitraum 1846 bis 1859 erhellt werden. Die Materialsammlung wird geordnet nach unselbständig erschienenen Journal-Beiträgen, vornehmlich literaturkritischer Art (Kapitel 3) und Beiträgen in Gesamtdarstellungen zur Dichtungsgeschichte und Kunsttheorie (Kapitel 4). Eine Zusammenfassung (Kapitel 5) wird auf die eingangs zitierte Lehrmeinung Hegels zurückkommen.

3.

Das Epos in Literaturkritik und Einzeldarstellungen (1846 – 1859)

Grundsätzliche Bemerkungen über Gegenwart und Zukunft des Epos in Deutschland (1846) ergeben sich für einen anonymen Autor anlässlich der Rezension aktueller Neuerscheinungen. Die in den Literaturangaben mitgeführten Untertitel dieser rezensierten Werke lassen die oben skizzierte terminologische Vielfalt in Ansätzen erkennen: Ludwig Ettmühler, Kaiser Karl der Große und das fränkische Jungfrauenheer. Ein Beitrag zum unvergänglichen Ruhme der Frauen in drei und zwanzig Liedern von Frauenlob dem Jüngeren, Zürich 1846; Abra9 Ebd., 72. 10 Ebd., 70 f.

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ham Emanuel Fröhlich, Ulrich von Hutten. Siebzehn Gesänge, Zürich 1845; Ludwig August Frankl, Don Juan d’Austria. Heldenlied, Leipzig 1846; Salomon Tobler, Columbus. Epische Dichtung, Zürich 1846. Mit Ausnahme der ›Lieder‹ Kaiser Karl der Große und das fränkische Jungfrauenheer, die dem Rezensenten als »sagenhaftes Epos«11 gelten, werden die Texten entsprechend ihrer Ausrichtung auf eine bedeutende Persönlichkeit der Geschichte als »historische Epen«12 bezeichnet. Sie erhalten gegenüber dem sagenhaften Epos den Vorzug, denn »der Stoff zu einer Epopee, die uns ergreifen und erfüllen soll, wie die großen Dichtungen früherer Zeiten die Völker erfüllt haben, wird aber freilich nicht in der Sage, sondern in der Geschichte zu suchen sein.«13 Gelobt wird diesbezüglich die ›Epische Dichtung‹ Columbus, die einen gelungenen Ausschnitt aus dem Leben des Helden wiedergebe, nicht biographisch, sondern handlungszentriert erzähle und dabei die Erhabenheit und die »welthistorische Größe« ihres Gegenstandes adäquat transportiere.14 Dieser Typus des »heroisch historische[n] Epos«15 entspreche den Anforderungen der Zeit an die Dichtung: »Die Wissenschaften, welche Natur und Geschichte nach allen Richtungen durchforschen und darlegen, bieten eben diesem Epos die reichsten Schätze.« Die Fortschritte des Zeitalters werden also als Fundament angesehen, das zu einer neuen epischen Dichtung führ[t], in welcher das Leben bestimmter, umfassender und im Ganzen auch treuer geschildert, in welcher der Zusammenhang des geschilderten historischen Lebens mit der Vergangenheit und Zukunft und sein Verhältnis zu dem letzten Ziel der Menschheit tiefer erkennbar gemacht sein wird, als in den frühern!

Eine treue Schilderung des Lebens, durch die tiefere Erkenntnis erlangt werden kann, ist eine mögliche Umschreibung bekannter Literaturprogrammatik, nämlich der Aufwertung eines literarischen Realismus durch poetische Idealisierung.16 Dem faktischen Wissenszuwachs des Jahrhunderts entspreche nun die epische Dichtung ganz besonders, denn auch sie sei auf »objective[] Weltbetrachtung«17 verpflichtet und wirke ihrerseits positiv auf die Menschheit.18 Auch Theodor Fontane ist in seinem 1853 erschienenen Beitrag Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 der literaturkritischen Wertung und zugleich 11 12 13 14 15 16

Anonym, Gegenwart und Zukunft des Epos, 1621. Ebd., 1621 – 1624. Ebd., 1621. Ebd., 1623. Dieses und die folgenden Zitate ebd., 1625. Vgl. auch ebd., 1619: »[…] so wird der deutsche Genius doch mit erhöhter Kraft denjenigen Dichtungsarten sich zuwenden, in denen er die wirkliche Welt – Natur und Geschichte spiegeln und die reichen Schätze der Wissenschaft zu Poesie verklären kann: […].« 17 Ebd., 1618. 18 Ebd., 1619.

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einem dichtungstheoretischen Programm verpflichtet. In wenigen Abschnitten zu Beginn seiner Ausführungen umreißt er das Wesen der Gegenwart: »Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus.«19 Dies gelte insbesondere für die bildende Kunst, doch auch die Literatur habe die Richtung eingeschlagen, wenngleich ein »Meister [Christian Daniel] Rauch unter den Poeten« noch fehle.20 In Christian Friedrich Scherenbergs Epen Ligny (1849), Waterloo (1849) und Leuthen (1852) erkennt Fontane »ein neues Epos, welches das historische zu nennen ist«, vergleichbar mit der Erneuerung der historischen Malerei durch Horace Vernet.21 Bei Scherenberg werde »das große geschichtliche Ereigniß in seiner vollen Breite aufgerollt und doch dichterisch gefaßt«,22 es sei also keine bloß »versificirte und bebilderte Historie«, sondern »poetische Historie – Historie, die uns der Dichtergeist verkündigt.«23 Auf diese Weise habe sich das Epos erneuert, was Anlass für die »Aesthetiker« sein möge, sich »zu neuen Principien zu bequemen.«24 Anschluss an die Tradition halte das Epos hingegen durch den Verzicht auf – Otte Roquettes Waldmeisters Brautfahrt (1851) vorgeworfenen – »Verzwicktheiten« zugunsten des epischen Stils: »Alles muß plan und einfach sein, und statt des Spannenden in Situation und Charakteren ist es lediglich der poetischen Darstellung vorbehalten, dem Ganzen Reiz und Zauber zu leihen.«25 Fontanes Überblick Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 scheint unter ›epischer Poesie‹ ausschließlich Versdichtung zu verstehen: Am Ende seines Beitrages entschuldigt sich Fontane »unsere neueste Roman- und Bühnenliteratur« nicht auch besprochen zu haben.26 ›Epische Poesie‹ umfasst demnach keine Prosa, sondern bezeichnet Erzählungen in Versform, die zum einen dichtungspraktisch an der Tagesordnung seien, also nicht mehr eingefordert werden müssen, die zum anderen hinsichtlich ihrer Bemühungen um GattungsModernisierung ausdrücklich belobigt werden. Seine Rezension zu Rudolph Gottschalls Carlo Zeno. Eine Dichtung (1854) überschreibt Julian Schmidt mit Das romantische Epos (1854), das er als »eine Erzählung in Versen« charakterisiert, die sich »erst in unserm Jahrhundert, namentlich durch die Engländer entwickelt [hat].«27 Er grenzt es vom Roman und vom Drama ab: 19 20 21 22 23 24

Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, 353; Hervorhebung im Original. Ebd., 354. Ebd., 367. Ebd. Ebd., 368. Ebd. – Die Feststellung der Gattungserneuerung hindert Fontane nicht daran, die Epen Scherenbergs insbesondere hinsichtlich ihres laxen Aufbaus zu kritisieren. 25 Ebd., 370. 26 Ebd., 377; Hervorhebung im Original. 27 Schmidt, Das romantische Epos, 11.

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Das Drama soll uns eine Handlung gegenwärtig machen und uns die handelnden Personen wirklich vor Augen führen, das Epos dagegen stellt sie uns als Vergangenheit dar. Der Roman gibt sich durch seine Form als Nachahmung der Wirklichkeit zu erkennen, das Epos versetzt uns durch den Rhythmus in eine freie, ideale, wenn man will, romantische Welt, es schließt also das Alltägliche und die gemeine Naturnachahmung aus.28

Das Ziel romantischer Darstellung vergangener Handlung29 konkretisiert Schmidt, indem er »ein genaues Eingehen auf das Aeußere, auf Schilderungen u. dgl.« fordert, ferner eine sinnlich-konkrete Erzählweise und Zurückhaltung hinsichtlich der Beschreibung von »Seelenbewegungen«.30 Im Gegensatz zum Roman dürfe sich das Epos nicht der »Darstellung conventioneller [nichtidealer] Zeitalter« widmen, sondern halte sich im besten Fall an eine Darstellung von »nationalem Gehalt«.31 Während das Epos in der Komposition den Gesetzen des Dramas folge,32 seien die Überzeugungsstrategien vollkommen verschieden: »Was der Dramatiker in voller physischer Wirklichkeit vor unsern Augen entfaltet, muß der epische Dichter durch den Zauber der Sprache erreichen.« Der »Zauber der Sprache« entfalte sich durch den Vers, mithin durch ein konstantes Metrum, in dem sich »die ideale Haltung« spiegele und das »die bewegte Welt der Thatsachen zur poetischen Harmonie« erhebe.33 Der Wechsel des Metrums und ein Übermaß poetischen Zierrats seien jedoch schädlich, vielmehr wird die ›Ent-Poetisierung der Poesie‹ angemahnt: »Heutzutage haben unsere Dichter die Pflicht, mit der größten Strenge und Energie auch in der Sprache ihre schwächlichen subjectiven Gelüste zu bekämpfen, wie es unsere guten Dichter eigentlich immer gethan haben.« Epos und Drama in der deutschen Literatur der Gegenwart widmet sich Robert Prutz in seinen Neuen Schriften (1854). Prutz beklagt, die deutsche Dichtung habe »in der Poesie der Empfindung, der Reflexion, der Innerlichkeit« 28 Ebd. 29 Schmidt bezieht diese Charakterisierung explizit nur auf das romantische Epos, das er vom »naiven Epos« unterscheidet: ebd., 12. 30 Ebd. 31 Ebd., 13. Schmidt konkretisiert: »Wir müssen noch hinzufügen, daß der nationale Gehalt eines Epos zwar der zweckmäßigste, aber für unsere Zeit nicht der natürlichste ist. Der Dichter kommt viel eher darauf, uns in recht fremdartige, wo möglich tropische Zustände zu führen, um für seine Phantasie freien Spielraum zu haben und uns durch den Reiz des Contrastes zu fesseln. […] Nur muß man dabei bedenken, daß für die Zukunft des Gedichts, für seine literarhistorische Stellung durch eine solche Wahl schlecht gesorgt wird; denn die Nachwelt wird immer die Ansicht haben, daß solche Producte nicht aus dem Organismus der schöpferischen Volkskraft entsprungen sind, sondern augenblicklichen, künstlich hervorgegangenen Neigungen ihren Ursprung verdanken.« (Ebd., 13 f.) 32 Ebd., 15. 33 Ebd., 18.

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große Erfolge erzielt, während ihr »der höhere Preis, die Palme des Epos, der Kranz des Dramas« bislang versagt geblieben sei.34 Dies sei insofern auffällig, als die entsprechenden Publikationen keineswegs ausblieben; es sei bemerkenswert, dass »seit langem nicht so viel Romane und vielleicht noch niemals so viel erzählende Gedichte gedruckt worden sind, wie in diesem Augenblick.«35 »Roman« und »erzählendes Gedicht« seien einerseits »Zwittergattungen«, andererseits »vollkommen berechtigt« und »wesentlich moderne Gattungen«. Die Entwicklung der epischen Gattung skizziert Prutz wie folgt: Das Alterthum kennt in der erzählenden Gattung nur das wirkliche epische Gedicht; erst wie die Selbstauflösung der klassischen Welt beginnt, löst sich aus dem epischen Gedicht, vermuthlich unter Zuthun orientalischer oder sonstiger fremdartiger Elemente, einerseits Roman und Märchen, andererseits das erzählende Gedicht ab, für welche letztere Gattung (die Anfänge des griechischen Romans bei Heliodor, Achilles Tatius etc. sind hinlänglich bekannt) wir nur an das Gedicht des angeblichen Musäus von Hero und Leander, als ein berühmtes und weitverbreitetes Beispiel, erinnern wollen.36

Die modernen Gattungen Roman und erzählendes Gedicht werden als in sich vielseitige Dichtungsarten beschrieben: sie seien episodisch, realistisch und phantastisch, ernst und ironisch, es mischten sich schließlich in ihnen »alle möglichen Zeiten, Völker, Umgebungen – und sogar noch einige unmöglich dazu.«37 Diese Bestandsaufnahme korrespondiert mit der Geschichtsauffassung des Autors,38 so dass es nicht als Mangel dargestellt wird, wenn die neuen Gattungen »vom Zügel der Kunst noch eben genug gehalten [werden], um uns den Eindruck des Kunstwerks zu machen«.39 Die Ausdifferenzierung des antiken Epos habe bereits im Mittelalter stattgefunden, das allerdings hinsichtlich der Vers- / Prosa-, wie überhaupt hinsichtlich der Gattungsdifferenzen wenig trennscharf gewesen sei: »der Roman wird so gut in Versen geschrieben wie das erzählende Gedicht, das seinerseits wiederum nur ein Schwank, eine Novelle oder auch wohl ein ganzer Novellencyclus in Versen ist.« »Kunstmäßige Prosa« hingegen habe sich erst mit der Reformation herausgebildet. Die Pointe in Prutz’ Ausführungen besteht nun darin, dass er Roman und poetischer Erzählung zunächst noch anempfiehlt, ihr prosaisches und poetisches Wesen auf die Spitze zu treiben, um dann erheblich gemäßigter zu wahrer Größe zu finden. Der 34 35 36 37 38

Prutz, Epos und Drama in der deutschen Literatur der Gegenwart, 175 f. Ebd., 184 f. Vgl. auch Anm. 111. Ebd., 185. Ebd., 186. »Sowie dagegen jener schon erwähnte Uebergang in die moderne Zeit beginnt, wie die alten Götterbilder zusammenstürzen, die alten Sagen verhallen, die alten Sitten in Vergessenheit gerathen, erlischt sofort auch die Kraft der epischen Dichtung; […].« Ebd., 187. 39 Dieses und die nachfolgenden Zitate ebd., 188.

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Roman möge also inskünftig phantasiereicher und heiterer werden (als Beispiel wird Cervantes’ Don Quijote angeführt), für das Epos aber würde es ein namhafter Gewinn sein, wenn dasselbe sich allmählig entschließen könnte, die phantastische Welt, in der es sich bis jetzt noch vorzugsweise tummelt, zu verlassen und sich gleich dem Roman in die Wirklichkeit der nationalen Zustände einzugewöhnen. Es wäre dies ein Weg, wie das erzählende Gedicht sich vielleicht sogar mit der Zeit zum wirklichen epischen Gedichte fortentwickeln könnte, […].40

Max Waldaus Aufsatz Neuere epische Dichtung und Rudolf Gottschall (1854) setzt zunächst mit einer Kritik an der lange Zeit vorherrschenden Tendenz- und Empfindungslyrik ein. Erst mit dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse seien auch poetische Innovationen einhergegangen: »Man betrat den Boden der Thatsachen, und damit gab es wieder etwas zu erzählen, die objective Welt kam als solche zu ihrem Rechte. Das konnte den Dichtern nicht entgehen; […].«41 Die Hinwendung zur weltumfassenden Epik (»Kunst«) und die Abwendung von der kleinteilig-subjektiven Lyrik (»Handwerk«)42 ist Waldau zufolge Gebot der Stunde, sowohl für die Dichter als auch für die Kunst- und Literaturtheoretiker. Zunächst erläutert Waldau die Gesetze der »großen Epopöe«, nämlich die Helden- und Handlungsdarstellung einer heroischen Zeit, in der der Dichter »eben nur noch Dichter zu sein [hatte], um die Epopöe zur Erscheinung zu bringen.«43 Die angemessene Epen-Rezeption sei »epische Ruhe«: »das objective Sichgeben«, das nicht auf vorzeitige Kenntnis von Peripetie und Katastrophe aus sei, sondern die Konzentration auf die Einheit richte. Wer nun annähme, derartige Dichtung und Rezeptionshaltung seien obsolet, habe Unrecht, »denn er stützt sich auf ein einseitiges, nicht bis zum letzten Verständniß durchgedrungenes Erfassen der im classischen Epos geltenden Gesetze.« Diese Gesetze bestehen nun darin, dass die alte wie auch die mögliche moderne Epopöe »objectiv erfaßte, eigenartige und lebensfähige Charaktere das bestimmte Stück Leben vollenden läßt, sowie auch, daß sie die Gestalten plastisch entwickelt«, also den »Charakter der Persönlichkeiten […] durch Situationen und handelndes Eingreifen, die äußere Erscheinung durch den Eindruck, den sie auf andere Persönlichkeiten des Gedichts macht, zu voller lebenswahrer Rundung herauszuarbeiten.« Dies erfordere weiträumige Schilderungen, und so sollten auch Motivierung und Reflexion gerade im modernen Epos sorgfältig ausgestaltet werden: »Wir haben uns, und das ist echt modern, auf uns selbst zu stützen, während den Alten ihr Cultus eine jederzeit bereite Stütze bot.«44 40 41 42 43 44

Ebd., 191. Waldau, Neuere epische Dichtung und Rudolf Gottschall, 722. Beide Zitate ebd., 723. Dieses und die folgenden Zitate ebd., 724. Dieses und die folgenden Zitate ebd., 727.

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Weniger den »poetischen Erzählungen« Ballade und Romanze mögen sich die Dichter zuwenden, sondern vornehmlich dem Epos, dem unter den Dichtungsarten der erste Rang gebühre. Waldau räumt zwar durchaus Schwierigkeiten ein, in diesen Zeitumständen episch zu dichten, verharrt aber nicht beim Diktum: »Wir passen für den Vers nicht, unsere Epopöe bleibt der Roman.« Er sieht vielmehr eine spätere epische Dichtungsart dem Stoff der Dorfgeschichte verpflichtet: Nur der Bauer bildet durch die Starrheit, die der Mangel an universeller Bildung erzeugt, noch ein Ganzes, das sich zum festen Bilde raffen läßt. Freund Prutz hatte daher Unrecht, wenn er bei Gelegenheit von W. Müller’s »Maikönigin« principiell die versificirte Dorfgeschichte verwarf. Jeder Bauer ist gerade durch Das, wodurch er sich von unserm Freunde unterscheidet, eine poetisch mögliche Figur, während der vielseitige Professor nimmermehr als krystallisirte Ganzheit dargestellt werden kann. Dem Bauer ein auch in seinem Kreise unschwer zu findendes poetisches Motiv untergeschoben, ihn in einen poetischen, d. h. menschlich bedeutenden Conflict gebracht, und er hat mehr vom Homerischen Helden, er ist wahrer und plastischer poetisch als Jeder von uns. Daß er ein Bauer ist, thut nicht das Geringste zur Sache und zwingt den Dichter ganz und gar nicht, Niedriges in seinen Vers aufzunehmen, denn – es gab und gibt ja wol keinen Fürsten und keine Prinzessin, überhaupt keinen lebenden Menschen, den der Dichter nicht erst darstellungsfähig dichten müßte, damit er künstlerisch wahr werde.45

Dieser Stoff bleibe allerdings späteren Generationen vorbehalten, denn: »Wir selbst können uns nicht singen.«46 Die Dichter der Gegenwart mögen sich lieber der nahen Vergangenheit zuwenden, also »den Geist der zu schildernden Epoche noch warm und lebendig verstehen«, der ihnen gleichzeitig »doch fremd genug sein [muss], um ihn von oben herab zu beurtheilen und mit objectiver Ruhe in seinen Gestalten wirken zu lassen.«47 Diese Vergangenheit stehe dem Vers-Epos48 offen, wie Waldau an Rudolph Gottschalls Carlo Zeno hervorhebt. In der Deutschen Vierteljahrs Schrift erscheint 1855 der Beitrag Das moderne Epos von J. F. Faber. Faber behauptet die Unmöglichkeit epischer Dichtung für die vergangenen Jahrzehnte, stellt nun aber fest, »daß sich gerade in der neuesten Zeit ein nicht zu verkennender Zug zum Epischen kund gebe«, da diese Zeit »überall von den exclusiven, aristokratischen Spitzen zu dem Allgemeinen und Wirklichen herabzusteigen sucht; es ist eine Zeit der Centralisation, der 45 46 47 48

Ebd., 728. Ebd., 729. Ebd. Waldau empfiehlt die Nibelungenstrophe als das dem Epos und der deutschen Sprache angemessene Vers- bzw. Strophenmaß. Seine Abwertung des Hexameters veranlasst die Redaktion der Blätter für literarische Unterhaltung zu einer Fußnote, in der sie sich »schon aus Pietät gegen unsere Classiker, die sich des Hexameters vielfach und zwar mit großem Glück bedient haben«, gegen diese Kritik verwehrt; ebd., 735.

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Verallgemeinerung und Ausgleichung.«49 Das Allgemeine und Wirkliche sei vorbildhaft in der Dorfgeschichte dargestellt worden, doch selbst »eine ganz von Poesie gesättigte Erzählung [ist] deßwegen doch noch keineswegs ein Gedicht«.50 Hinsichtlich der angemessenen Poetisierung des Erzählten sei es allerdings verfehlt, Anleihen bei der Theorie des antiken Heldengedichts bzw. des mittelalterlichen Epos zu nehmen.51 Auch gelte es, nicht bloß den Fehler unzureichender Poetisierung des Prosaischen (bloße Versifizierung der anspruchslosen Erzählung), sondern auch einen zu stark ausgeprägten lyrischen Gestus in der Darstellung zu vermeiden.52 Faber konkretisiert die Vorbildfunktion der Dorfgeschichte und lobt insbesondere deren »Form, die durchaus objektive Behandlung, bei welcher dann freilich auch der Inhalt allein in seiner ungeschminkten Größe und Wahrheit sich herausstellt.« Die »Substanz des Volksgeistes und Volkslebens« werde so endlich wieder sichtbar, und wenn man von den so unscheinbaren, in Wahrheit aber so bedeutungsvollen und tiefpoetischen Verhältnissen und Begebenheiten eines unmittelbaren Volkslebens aus eine Perspektive zu dem Höchsten und Individuellesten zu eröffnen wüßte, dann blieb doch gewiß nicht viel mehr zu wünschen übrig […].53

Als vorbildlich werden in dieser Hinsicht Eduard Mörikes Idylle vom Bodensee (1846) und Joseph Victor von Scheffels Der Trompeter von Säckingen (1853) gelobt, doch stehe diejenige epische Leistung noch aus, »welche das Leben der Gegenwart mit seinen bewegenden Mächten, insbesondere mit seinen sittlichen Ideen, zum Gegenstand haben soll.«54 Gustav Freytag registriert in seiner Sammelrezension Neue epische Poesie (1856) »eine Zunahme kleiner epischer Dichtungen«, die um so kritischer bewertet werden müsse, als die »plastischen Bildungen« des Epos größere dichterische Begabung erfordern als der bloß subjektive Gefühlsausdruck des lyrischen Verses.55 Als Epen-Vers empfiehlt Freytag den fünfhebigen Jambus, der sich »zu ruhiger Erzählung und feiner Malerei« besonders eigne.56 Die erzählende Großform ist Freytag zufolge allerdings der Roman, der das Recht besitze, überall einzutreten, wo eine längere reichgegliederte Erzählung mit detaillirter Ausführung verschiedener sich durchkreuzender menschlicher Interessen und eine specielle Schilderung des menschlichen Herzens, seiner Leidenschaften und Verirrungen wirksam werden soll, d. h. fast überall, wo ein Stück unsers modernen Lebens aus dem 49 50 51 52 53 54 55 56

Faber, Das moderne Epos, 113. Ebd., 115. Ebd., 116. Ebd., 137 f. Alle Zitate ebd., 143. Ebd., 156. Freytag, Neue epische Poesie, 281. Ebd., 283.

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großen Zusammenhange von Ursachen und Wirkungen herausgehoben und für die Kunst verwerthet wird.57

Für das Epos bleibe demnach die Aufgabe, »kleinere Stoffe« zu verarbeiten, »die Motive zu vereinfachen, den Fluß der Charaktere in ein geradliniges Bett zu leiten und der Sprache gesteigerten Ausdruck, Schwung und Klang des Verses zu geben.«58 Die Versifizierung folge in diesen Fällen allerdings allzu selten einer inneren Notwendigkeit, sondern es sei »Trägheit der Phantasie, oder gar absoluter Mangel an Talent, was zum Verse treibt.«59

4.

Das Epos in Literaturtheorie und Gesamtdarstellungen (1854 – 1859)

Moriz Carriere widmet sich in seiner Abhandlung Das Wesen und die Formen der Poesie (1854) dem Unterschied von Poesie und Prosa:60 Poesie gehe einher mit Innerlichkeit, Individualität und Phantasie, Prosa hingegen mit Äußerlichkeit, Allgemeinheit, Wissenschaftlichkeit.61 Im Kapitel ›Über die Bildlichkeit der Rede und der Vers‹ unterscheidet Carriere hingegen die beiden genuinen poetischen Mittel »Bildlichkeit der Rede«, die sich auf das »Objectivität und Anschauung« verlangende Epos berufen könne (Verwandtschaft von Poesie und bildender Kunst), und »Wohlklang des Verses«, mit dem in der Lyrik das »Innenleben der Subjectivität enthüllt« werde (Verwandtschaft von Poesie und Musik).62 Folgerichtig kann denjenigen Werken eine hohe Poetizität zugesprochen werden, in denen beide Prinzipien in gelungener Weise zum Ausdruck kommen. Den spezifischen Gesetzmäßigkeiten des Epos widmet sich Carriere in den beiden Kapiteln ›Die epische Darstellungsweise‹ und ›Die Gliederung der epischen Poesie‹. Die dem Epos zugeschriebene Objektivität bezeichne »einmal das Gegenständliche, das äußere Wirkliche, dann das in sich Begründete, für sich selbst Geltende«.63 Aufgabe des epischen Kunstwerks sei es, »das Abbild dieses 57 58 59 60

Ebd., 284. Ebd. Ebd. Carrieres 1859 erscheinende Aesthetik bietet im Wesentlichen einen Wiederabdruck der hier mitgeteilten Ausführungen. 61 Carriere, Das Wesen und die Formen der Poesie, 31 f. Carriere beruft sich bei seinen Erläuterungen auf Wilhelm von Humboldts Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java (1836 – 1839). 62 Carriere, Das Wesen und die Formen der Poesie, 79 f. 63 Ebd., 146.

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[in sich freien, selbständigen und großen] Lebens ebenso frei und selbständig«64 erscheinen zu lassen, weshalb der Künstler sich ganz zurücknehmen müsse – jedoch nicht »kalt« darstellen, sondern die »Beseelung« des Epos durch ein sich »völlig in den Gegenstand ergossen« habendes subjektives Gefühl anstreben soll.65 Die Darstellung im Epos zeichne sich durch »Stetigkeit« und einer auch in ihren Teilen abgeschlossenen »Vollständigkeit« aus: »Die epische Einheit erscheint in der Totalität der einzelnen Bilder und in deren Zusammenhange«, die Gestalten des Epos seien so angelegt, dass jede »für sich etwas Ganzes sein könnte.«66 Als Ausdrucksmittel epischer Poesie gilt ganz selbstverständlich der Vers, bevorzugt der Hexameter, aber auch reimlose Verse, Stanzen, Terzinen, Nibelungenstrophe und andere Vers- bzw. Strophenmaße werden von Carriere in dieser Hinsicht erläutert. Unterschiedliche Ausprägung erfahre die epische Poesie im »Volksepos« (auch: »das Heldengedicht«) und in der »poetischen Erzählung«. Das Volksepos beruhe auf der Heldensage, in der sich »das Leben selbst in naturwüchsiger Harmonie« spiegele, weshalb auch »der heroische Weltzustand der eigentlich epische« sei.67 Die »poetische Erzählung« hingegen behandle »Einzelsagen für sich«, »ohne als Glieder eines großen epischen Organismus aufgenommen zu sein« und sei unlängst »durch Scott, Byron, Mickiewicz und Kinkel zur Blüte [gekommen].«68 Gilt nun das »Heldengedicht als das entsprechende Idealbild der heroischen Jugendzeit der Völker«, so sei für die Gegenwart festzustellen, dass einerseits »begabte Individualitäten von der Substanz des Ganzen sich mehr und mehr lösen«, andererseits diese Ganzheit aber schon für sich gefährdet oder gar verloren ist, da etwa »Geschichte, Philosophie und Religion die gemeinsame Wiege der Poesie verlassen« haben.69 Für den Dichter sei es dann notwendig, sich eine eigene Weltsicht anzueignen, »die er den Stoff der Wirklichkeit mit frei erfindender Kraft organisiren läßt«; er müsse »mehr das Reich des Herzens mit seiner Innerlichkeit oder die Kreise des privaten Daseins zum Gegenstande der Darstellung machen«.70 Die Konsequenz daraus wird wie folgt benannt: dann muß der Prosa der Welt auch die Prosa der Sprache sich entsprechend anschmiegen, zumal der Dichter, der die Geschöpfe seiner eigenen Phantasie gestaltet, dem poetischen Leben derselben nothwendig den ganz realen Boden der Weltwirk64 65 66 67 68

Ebd., 146 f. Ebd., 148. Ebd., 160. Ebd., 172. Ebd., 179; daran anschließend folgen kurze Charakterisierungen von Romanze, Ballade, Idylle und Satire. 69 Alle Zitate ebd., 180. 70 Ebd., 180 f.

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lichkeit zur Grundlage geben wird, um darin die Wahrheit seiner Idealgebilde zu bewähren. Die Poesie hat sich ins Gemüth geflüchtet, die Entwickelung der Individualität in einer vielfach widersprechenden prosaischen Welt verlangt nun ihre künstlerische Wiedergeburt, und diese ist der Roman.71

Carriere folgt damit Hegel nicht bloß in geschichtsphilosophisch-literarhistorischer Hinsicht, sondern auch in der spezifischen Aufgabenzuschreibung für den Roman, der den »Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse« behandle.72 ›Poesie‹ wird in diesem Fall auf die immer noch lyrisch anmutende Innerlichkeit projiziert (Herz, Gemüt, Individualität), während das Äußere, die »Prosa der Verhältnisse« bzw. der »ganz reale[] Boden der Weltwirklichkeit« nun ganz auf ungebundene Rede fixiert wird. Dieser Schritt ist nur auf Grundlage der geschichtsphilosophischen Bewertung der Gegenwart als nicht-ganzheitlich nachvollziehbar, zumal in der Verbindung von ganzheitlicher Weltsicht als notwendiger Voraussetzung für episch-totale Dichtung. Der Opponent des Romans ist in diesem Fall allerdings doch nicht das Epos allgemein, sondern nur das mythisch-antike »Volksepos«, so dass Carriere Roman, Novelle und Märchen mit in diejenige Gruppe einreiht, die er »Epos der That oder des Ereignisses« nennt.73 Rudolph Gottschall stellt in seiner zweibändigen Abhandlung Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (1854) fest, dass die literaturtheoretische Anbindung der Epopöe an die antike Welt und die erfolglose Wiederbelebung des Hexameters-Epos74 dazu geführt hätten, dass »die epische Dichtung überhaupt in Mißcredit gekommen« und »jede streng epische Form aufgegeben« sei.75 Gottschall verwehrt sich gegen die Annahme, das Epos der Neuzeit sei der Roman. Vielmehr werde eine poetisch günstigere Zeit für eine Wiedereinrichtung der Gattungskonventionen sorgen, zumal Schillers Wort vom »Romanschreiber [als] Halbbruder des Dichters« gelte und aus der Befähigung zur Romandichtung »keineswegs [folge], daß der Roman das Epos ersetzen könne«:76 Was sich für den Roman eignet, eignet sich nicht für das Epos; ein großartiger, echt nationaler Stoff, der würdigste Fund eines epischen Dichters, würde sich in keiner Romanform angemessen behandeln lassen. Wenn auch der neue epische Dichter vom 71 Ebd., 181. 72 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 393. 73 Carriere, Das Wesen und die Formen der Poesie, 183. Von den genuin poetischen Gattungen Epos, Lyrik und Drama trennt Carriere dann die »objective Gedankendichtung« (Epigramm, Lehrgedicht, Allegorie, Fabel und Parabel; ebd., 183 – 188). 74 Gottschall bezieht sich auf die Dichtungen Ladislav Pyrkers (1772 – 1847). 75 Gottschall, Die deutsche Nationalliteratur, Bd. 2, 293. 76 Ebd., 293 f.

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Romanschreiber lernen wird, nicht in die altberühmte epische Langeweile zu verfallen, so wird er doch nie in Spannung und Verwicklung ihm in jene Geheimnisse des prickelnden Reizes und des echauffirten Effectes folgen, die nur in eine Aesthetik für Leihbibliotheken gehören.77

Die Aufwertung des Epos geht also bei Gottschall mit einer Polemik gegen den Roman einher, und er zweifelt schließlich, »inwieweit seine Form eine Kunstform ist und eine Beurtheilung nach bestimmten ästhetischen Maßstäben zuläßt.« Die Prosa-Form habe sich trotz der Bemühungen der Jungdeutschen »nicht auf die Dauer als Trägerin der Dichtung behaupten« können, so dass der Roman »daher wohl die Culturhöhe einer bestimmten Zeit und Nation, niemals aber ihre Kunsthöhe repräsentieren könne[].«78 Es ist demnach nur konsequent, dass Gottschall seine Abhandlung in Kapitel über die Lyrik, das Drama und den Roman unterteilt und die epische Dichtung der Lyrik zurechnet. Vers und Prosa bestimmen den Charakter von Epos und Roman und nicht zuletzt die ihnen zugeschriebene »Kunsthöhe«. Im zweiten Band von Carl Leo Cholevius’ Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen (1856) wird das romantische Zeitalter für die Ausdifferenzierung des Epos mitverantwortlich gemacht. Der Dichter selbst, »das Selbstbekenntniß des Verfassers« sei dort in den Vordergrund getreten und habe den »objective[n] Gehalt der Dichtung« zurückgedrängt: »mit einem Worte, es geht das Epos in den Roman über.«79 Cholevius unterscheidet nichtsdestotrotz zwischen einem klassischen und einem romantischen Epos, dem antiken Heldengedicht einerseits und dem romantischen Epos mit Bezug auf »Ritter- und Minnewesen« andererseits.80 Für die besten Werke beider Ausprägung, Ernst Schulzes Cäcilie (1818) und Ladislav Pyrkers Tunisias (1819), ließen sich Anleihen bei Homer feststellen,81 vor allem hinsichtlich der als überzeitlich geltenden epischen Charakteristika: »einen großen Gegenstand, die Magie der Vergangenheit, die Verknüpfung des Sichtbaren und des Unsichtbaren durch mythologische Wesen.«82 Besonders hervorgehoben wird schließlich der (metrische) Formenreichtum moderner epischer Dichtung.83 Friedrich Theodor Vischer gibt im dritten Teil seiner Aesthetik Aufschluss über Die Dichtkunst (1857), insbesondere über deren ›Wesen‹ und ›Zweige‹ (Kapiteleinteilung). Er unterscheidet »jene Arten der Phantasie, worauf die 77 Ebd., 294 f. 78 Alle Zitate ebd., 514. 79 Alle Zitate, Cholevius, Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen, Bd. 2, 444. 80 Ebd., 445. 81 Ebd., 450 – 455. 82 Ebd., 455. 83 Ebd., 461.

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Theilung der Kunst in die Künste beruht: die bildende, die empfindende, die dichtende Phantasie«, mithin die epische, lyrische und dramatische Poesie.84 Die epische Poesie zeichne sich aus durch den »Charakter der Objectivität, der vollen und scharfen Absonderung vom Subjecte, wie sie dem Werke der bildenden Kunst eigen ist«.85 Er komme nur dann angemessen zur Geltung, wenn der Dichter von vergangenen Ereignissen berichtet. Die epische Darstellung stelle die Handlung in den Vordergrund, der sich auch der epische Held unterzuordnen habe, welcher Teil einer größeren Gemeinschaft und dessen Handeln eher schicksals- als selbstbestimmt sei.86 Durch diese Fülle des Inhalts gibt die epische Poesie ein ganzes Weltbild: ein Nationalleben, ein Zeitalter in der Gesammtheit seiner Zustände, und darin ausdrücklicher, als es andere Kunstformen vermögen, einen Spiegel des Menschenlebens überhaupt, also eine Totalität.87

Der epische Stil entfalte sich durch eine ruhige Erzählweise, in der »Eines aus dem Andern entwickelnd fortschreiten soll.«88 Diese könne verstärkt werden durch die Wahl eines Versmaßes mit »feierlich gemessene[m] Gang«, das am besten durch den Hexameter repräsentiert werde.89 Die Komposition des Epos richte sich an der durch die Folge von Anfang, Mitte und Ende auszeichnenden Einheit aus, jedoch wird zugleich eine »relative[] Selbständigkeit der Theile« und die Möglichkeit eines »bedeutenden Spielraums für die Episode« behauptet.90 Historisch sieht Vischer allein zwei Ausprägungen des Epos: In der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen auf, welch in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirklicher Typus eines der Style erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte aller Kunst beherrscht: das griechische Heldengedicht und der moderne Roman. Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt, trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und selbständiger Ausdruck eine Styls.91

Das mittelalterlich-romantische Ritterepos scheidet Vischer also aus den epischen Dichtungsarten aus, da es weder durch seine Inhalte noch aufgrund seines primär subjektiv-lyrischen Stils den Gattungskonventionen entspreche.92 Die auf diese Weise mögliche Opposition von griechischem Heldengedicht und 84 85 86 87 88 89 90 91 92

Vischer, Die Dichtkunst, 1259; Hervorhebungen im Original. Ebd., 1265. Ebd., 1268 f. Ebd., 1272. Ebd., 1275. Ebd., 1278. Ebd. Ebd., 1285. Ebd., 1296.

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modernem Roman entlehnt Vischer explizit bei Hegel,93 ebenso die Behauptung einer Poetisierung der Prosa durch den modernen Roman, die er wie folgt konkretisiert: Poetisierung (1) durch die Darstellung vergangener Zeiten (»wo die Prosa noch nicht oder nur wenig Meisterinn der Zustände war«), (2) durch die »Aufsuchung der grünen Stellen« (gemeint sind Revolutionszustände und Ständeunterschiede), (3) durch die »Reservirung gewisser offener Stellen« (gemeint sind überraschende oder ungewöhnliche Begebenheiten).94 Im Gegensatz zu allen vorigen Bestimmungen des Epischen erklärt Vischer daraufhin als Roman-typisch: die Konzentration auf die Individualität (insbesondere auch auf Liebeskonflikte), die Betonung des Zufalls und die Offenkundigkeit des Erfundenen. Diese Paradoxien werden freilich bemerkt und entsprechend bewertet, es drängten sich nämlich hinsichtlich des Romans Bedenken auf, wenn man seine Stellung ganz allgemein vom Standpuncte der reinen, selbständigen Kunstschönheit betrachtet: hier bricht über eine kaum merkliche Schwelle der Charakter des Zwitterhaften in anderer, weiterer Bedeutung herein: der Roman hat zu viel Prosa des Lebens zugestanden, um einen sichern Halt für ihre Idealisirung zu haben; daher schwankt er so leicht nach zwei Extremen hin aus dem Gebiete des rein Aesthetischen weg: er wirkt sinnlich stoffartig, sei es in der gemeinen Bedeutung des Worts oder überhaupt im Sinne pathologischer Aufregung, und sinkt zur breiten, leichten oder wilden Unterhaltungsliteratur herunter ; oder er wirkt didaktisch, tendenziös, nimmt jeden Streit der moralischen, socialen, politischen, religiösen Theorieen und Ideen unter dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals, daß das wahrhaft Schöne zwecklos ist. Die Literatur hat Romane erlebt, deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen.95

»Idealisierung«, »das Gebiet des rein Ästhetischen« und die »selbständige Kunstschönheit«: die genuinen Bereiche der Poesie bleiben dem Roman also doch verwehrt. Vischer verfällt damit in die bekannten Muster der Prosa-Abwertung, demnach die Form das poetische Potential bestimme. Wie konsequent es ist, in der nachfolgenden Auflistung von Prosa-Gattungen der Dorfgeschichte als »realistischer Idylle« dann doch einen »idealen Styl« zuzuschreiben, mit dem sie »das bescheidene Bild des Landlebens zur monumentalen Höhe des Epos« steigere, sei dahingestellt.96 In Rudolph Gottschalls Poetik (1858) wird unterschieden zwischen der Poesie und solchen »Dichtwerke[n], welche den Standpunkt des gewöhnlichen Lebens zu dem ihrigen machen« und daher aus der Poesie »herausfallen«.97 Bei solchen Dichtwerken, der »beschreibenden Poesie«, der Dorfgeschichte, dem histori93 94 95 96 97

Ebd., 1305. Alle Zitate ebd. Ebd., 1309 f. Alle Zitate ebd., 1318. Gottschall, Poetik, 58.

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schen Roman und dem »praktischen Bühnenstück«, sagt Gottschall, »befind’ ich mich mitten in der Prosa«.98 Dies wiederum provoziert die Frage, »inwieweit der prosaische, unrhythmische und reimlose Styl selbst zum Träger des dichterischen Ausdruckes und der dichterischen Darstellung werden kann.«99 Wie Vischer gesteht Gottschall dem Roman ein eigenes Recht zu, insbesondere dank dessen Fähigkeit, die gegenwärtigen Zustände »realistisch« widerspiegeln zu können.100 In die erste Reihe der poetischen Gattungen könne der Roman jedoch nicht aufgenommen werden, da er insofern die »reine Linie der Schönheit« überschreite, als »das unästhetisch sinnliche, materiell prickelnde, und das tendenziös didaktische Element« die »künstlerische Reinheit des Romans« trüben.101 Auch Gottschall sieht zwar kaum eine Möglichkeit, das Volksepos wiederzubeleben, spricht sich aber entschieden für das »Kunstepos«102 aus: ein modernes rhythmisches, kunstgeadeltes Epos im strengeren Styl […], in welchem zwar unsere Kultur nicht erschöpfend bis in ihre Einzelheiten, aber doch in ihren Höhenpunkten, in ihren wesentlichen Zügen genugsam dargestellt wird, um der Nachwelt ein dichterisch markirtes Gemälde unseres Jahrhunderts zu hinterlassen.103

Die entsprechenden epischen Charakteristika, die Gottschall vor diesem Resümee dargestellt hat, entsprechen den Konventionen der Zeit: Darstellungen einer vergangenen Begebenheit, von Weltlauf und Weltganzem; Held als Teil des Volkes; Objektivität, Zurücktreten des Dichters hinter das Objekt, ruhige Diktion und majestätisches Versmaß (Hexameter und viele andere); Wahrung der Einheit, Verkettung von Ursache und Wirkung, stetig fortlaufende Handlung.104 Robert Prutz lobt in seiner 1859 erschienenen Studie Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848 – 1858 die seit einem Jahrzehnt unternommenen Anstrengungen, »die Kluft von der bloß subjectiven zur objectiven Dichtung, von der Lyrik zum Epos, zu überschreiten.«105 Seine Tadel gegenüber dem Fehlen echter epischer Handlung und der selten gewahrten Einheit der Form, bei immer noch vorherrschenden unnatürlichen Schilderungen und geschwätzigen Selbstbespiegelungen, sind jedoch derart massiv,106 dass das später folgende Lob des Romans nicht verwundert. Der Roman biete als »Unterhaltungsliteratur die eigentliche Glanzseite unserer gegenwärtigen literarischen Production«,107 was 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

Alle Zitate ebd., 58. Ebd., 67. Ebd., 378 f. Ebd., 385. Als Terminus ebd., 371. Ebd., 379. Ebd., 327 – 344. Prutz, Die deutsche Literatur der Gegenwart, Bd. 1, 167. Ebd., 169 f. Prutz, Die deutsche Literatur der Gegenwart, Bd. 2, 84.

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keineswegs abwertend gemeint ist. Vielmehr werden die zeitgenössischen Roman-Autoren gefeiert, denn sie suchen den Roman auch bei uns zu dem zu erheben, wozu er seiner Natur nach bestimmt ist und was überhaupt jede ächte Poesie sein soll und muß: ein Spiegelbild des Lebens, ein poetisch verklärtes, künstlerisch gereinigtes, aber doch immerhin ein Bild des Lebens!108

5.

Zusammenfassung

Die hier mitgeteilten Positionen lassen sich nur unter Vorbehalt systematisch auswerten. Sie sind isoliert von anderen Kontexten dargestellt worden: So ist etwa anzunehmen, dass die in der Zeit häufig auftretende Doppelfunktion von Dichter und Kritiker auch die Äußerungen zur zeitgenössischen Epik beeinflusst hat. Verwunderlich ist die Aufwertung des Romans durch den Romancier Gustav Freytag jedenfalls nicht, genauso wenig die Aufwertung des Epos durch den Epiker Rudolph Gottschall. Auch die Unterteilung von Einzelschriften und Gesamtdarstellungen ist eher künstlich, sind doch viele Gesamtdarstellungen das Produkt zuvor einzeln publizierter Stellungnahmen. Im Folgenden wird dennoch der Versuch einer vorläufigen, gleichsam thesenhaften Bilanz unternommen.109 Geschichte des Epos: Viele der hier vorgestellten Positionen unterteilen die Geschichte des Epos in zwei Stadien. Während die antike (griechische) »Epopöe«, das »Heldengedicht« bzw. »Volksepos« ohne Ausnahme als Muster der Gattung gilt, fällt die Bewertung mittelalterlicher Versepik unterschiedlich aus. Die »Rittergedichte« werden anhand ihrer romanischen Tradition dargestellt, die bis in die unmittelbar zurückliegende romantische Epoche wirke; diese Tradition wird mal als fruchtbar, mal als Irrweg abgehandelt. Ausdifferenzierung des Epischen: Auf der Grundlage des romanisch-romantischen Traditionsstranges werden auch diejenigen narrativen Formen als »episch« akzeptiert, die nicht dem Vorbild der hexametrischen Homerischen Epen entsprechen. Es gibt Diskussionen über den adäquaten Epenvers (Stanze, Nibelungenstrophe und andere), aber auch über andere formale Bestimmungen, wie etwa die »epische Einheit« oder die Welthaltigkeit und damit die Länge des Epos. Auf Grundlage der romantischen Epen werden auch Texte mit eher bal108 Ebd., 83. 109 Wünschenswert wäre die Zusammenführung von Epos-Theorie und Romantheorie, aber auch die Berücksichtigung der literarischen Praxis. So ließen sich auch Fragen nach beiderlei Wechselwirkung beantworten (zum Beispiel: ob der enorme Erfolg von Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855) zu einer Abwertung des – damit entbehrlich scheinenden – Epos beigetragen hat).

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ladeskem und romanzenhaftem Charakter zur Gattung »Epos« gezählt. Formen der Erzählprosa gelten für gewöhnlich nicht als »episch«; die unter dem Begriff »poetische Erzählung« gefassten Texte sind in der Regel Verstexte. Kernbestand des Epischen: Als charakteristisch für das Epos (zu allen Zeiten) werden sehr häufig genannt: die Erzählung vergangener Heldentaten in objektiver, ruhiger Erzählweise, bei Wahrung einer sich stetig fortentwickelnden, in der Summe abgeschlossenen Handlungseinheit. Programm des modernen Epos: Für das Epos der Gegenwart oder gar der Zukunft fallen die Appelle höchst unterschiedlich aus. Die Tendenzen lassen sich im Wesentlichen zwei Richtungen zuordnen: Einerseits wird empfohlen, auf Grundlage der neuen »realistischen« Literaturprogrammatik eine neue »realidealistische« epische Tradition zu begründen, die sich deutlich von den als allzu ›lyrisch‹ empfundenen Epen der Romanik unterscheiden möge. Andererseits wird die Romanprosa als spezifisch zeitgemäß bewertet und die eigene Gegenwart als (noch) nicht geeignet für (vers-)episches Erzählen dargestellt. Roman als epische Gattung: Literaturkritische Beiträge zum Epos schließen den Roman nicht selten von ihrer Diskussion aus, wobei nicht immer erläutert wird, ob das an seiner Prosaform oder an der Summe unterschiedlicher Gattungsmerkmale liegt. In poetologischen Gesamtdarstellungen der Zeit wird der Roman häufig zu den epischen Dichtungsarten gezählt.110 Die Akzeptanz des Romans gründet sich auf seine Qualitäten als Unterhaltungsliteratur, aber auch auf die Bewertung als angemessener literarischer Ausdrucksform der Gegenwart, gerade angesichts der »Prosa der Verhältnisse« (Hegel). Das dem Epos und dem Roman gemeinsame Moment der Narration spielt in den Diskussionen kaum eine Rolle. Möglichkeiten des modernen Epos: Während literaturkritische Beiträge dazu neigen, das moderne Epos für möglich zu halten und es ausdrücklich einfordern, sind die zeitgenössischen Überblicksdarstellungen zur Dichtungstheorie und Literaturgeschichte eher verhalten: sie tendieren dazu, einen Ablösungsprozess vom Epos zum Roman anzunehmen. Epische Produktion: Viele der Diskussionsbeiträge zum Epos weisen nachdrücklich auf die große epische Produktion in der Gegenwart hin. Dies ist auch dann der Fall, wenn die Verserzählungen nicht dem strengen epischen Ideal der Kritiker entsprechen. Tatsächlich lässt sich sowohl für die erste als auch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die große Popularität des Epos nachweisen.111 Ist der Roman das moderne Epos? Diejenigen Positionen, die Epos- und Romantheorie zugleich diskutieren, neigen zu der – sich nicht selten explizit auf 110 Vgl. den Beitrag von Arndt / Deupmann im vorliegenden Band. 111 Zur Epen-Produktion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Jäger (1998) und Ott (2008); für die zweite Hälfte Jäger (1976).

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Hegel berufenden – Annahme, der Roman sei im Begriff das Epos (vorläufig) zu ersetzen, mithin die »Systemstelle«112 des Epos im Gattungssystem einzunehmen. Erringt der Roman der Poesie ihr verlorenes Recht wieder? Es ist nicht erkennbar, dass die Epostheorie um 1850 den Roman als ›poetisch‹ gelten lässt. Selbst diejenigen Diskussionsbeiträge, die dem Roman Berechtigung zusprechen, werten ihn gegenüber dem Epos (und Lyrik und Drama) ab. Der Vers scheint konstitutiv für ›Poesie‹ zu sein – und selbst wenn ›Prosa‹ das Gebot der Stunde ist, so wird doch häufig der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass dereinst bessere, ›poetischere‹ Zeiten anbrechen werden.

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Michael Maurer

Poetik des Tagebuches

1.

Eine formlose Form?

Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil berichtet als Lebenserfahrung: Seit Lo und Lu auf der Welt sind, notiere ich ununterbrochen, ich notiere ihr Leben, ich notiere meines, ich notiere, was La Mamma sagt und was sie denkt, mein ganzes Arbeiten ist zu einem Notieren geworden. Notieren aber reicht nicht, sage ich mir, notieren kann schließlich jeder, notieren ist noch nicht Literatur.1

Seine Müdigkeit hindert ihn am Schreiben; es fehlt die Konzentration für wirkliche Literatur, beispielsweise einen Roman: Anderthalb bis zwei Stunden habe ich also Zeit, mich einer Art Schreibarbeit zu widmen, ich führe Tagebuch, das ist so etwas wie die Schwundstufe von Arbeit, aber immerhin, ich schreibe, ich bäume mich auf und lasse nicht zu, daß mein Körper im Meer des Schlafes willenlos dumpf einfach versinkt.

Er realisiert allmählich, er habe sich »von der eigentlichen Arbeit endgültig verabschiedet«. Tagebuch als eine mindere Form des Schreibens, als eine Tätigkeit, die jeder verrichten kann – sofern er nur schreiben kann. Das Tagebuchschreiben erscheint als besonders leicht, weil es keiner Kunstfertigkeit bedarf. Das Genre ist so weit, so allgemein, so bequem, dass es als literarische Kunstform nicht mehr in Betracht kommt. Ein Blick in einschlägige literaturwissenschaftliche Nachschlagewerke scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Gero von Wilpert nennt das Tagebuch eine »lineare, offene Form der nicht kunstmäßigen Prosa von monolog. Charakter«.2 Sibylle Schönborn wagt im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft die Kurzdefinition: »Durch die Abfolge von Tagen strukturierte schriftliche Aufzeichnungen.«3 Und Hermann Pongs erläutert: »Buch der täg1 Ortheil, Lo und Lu, 230; die folgenden Zitate 33 und 35. 2 Wilpert (2001), 808. 3 Schönborn (2003), 574.

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Michael Maurer

lichen Notizen, als literarische Gattung erst durch den Impuls, der von der Innerlichkeit des Pietismus ausging, aufgestiegen.«4 Das Tagebuch – eine formlose Form? Eine literarische Gattung, deren Minimalbestimmung beinahe inhaltslos wirkt und die eigentlich nur durch ihre historische Entwicklung unter den besonderen Bedingungen der europäischen Neuzeit überhaupt im Konzert der Gattungen eine Erwähnung verdient? Wenn wir die einschlägigen Untersuchungen zur Theorie und Geschichte des Tagebuches heranziehen, verstärkt sich dieser Eindruck noch. Peter Boerner gesteht: »Für die einzelne Eintragung eines Tagebuchs gibt es keinerlei Maß und Regel, weder in bezug auf den Inhalt noch auf den Umfang oder die äußere Form.« Und: »Die Skala der stilistischen Möglichkeiten des Tagebuchs reicht von der anspruchslosesten Alltagsprosa bis zur Höhe des sprachlichen Kunstwerks.«5 Das Tagebuch sei »weder von der Form noch vom Inhalt her zu greifen«, es bleibe »amorph«, besteche andererseits aber durch seine »Vielverwendbarkeit«.6 Rüdiger Görner verbindet diese Offenheit mit einer spezifischen Eigenart: »Wer Tagebuch führt, wählt eine bestimmte Form der Zeit- und Selbsterfahrung. Er erkennt den unlösbaren Zusammenhang von Zeit- und Selbstverwirklichung und das Ineinanderübergehen des subjektiven und objektiven (sozialen) Geschehens.«7 Ralph-Rainer Wuthenow hält zunächst fest, das Tagebuch sei »als eigene, wiewohl oft rudimentäre, legitime, autobiographisch geprägte literarische Gattung zu verstehen«;8 um sogleich hinzuzufügen, dass diese zu entwickeln schwieriger [sei] als bei anderen Genera, zumal den ›klassischen‹. Das Subjekt hat hier, im Journal, keinen zusammenhängenden Erzählstoff anzubieten, sondern nur zusammenhangloses Beobachtungs- und Reflexionsmaterial. Diskontinuität ist die quasi natürliche Folge davon, ein Reagieren in Momenten, und zwar auf Außenwelt, auf sich selbst und seine Empfindungen, Stimmungen, Einsichten und Formen der Selbsterfahrung.

Aus der Not der amorphen Erscheinung macht er gewissermaßen eine Tugend: »Eben der Verzicht auf die zusammenfassende Perspektive, das immer Unabgeschlossene, ist das entscheidende Merkmal des Tagebuchs.« Eine Gattungsbestimmung lasse sich nur historisch entwickeln; das Genre sei an eine spezifische geistesgeschichtliche Entwicklung gebunden, die neuzeitliche Reflexion auf das Ich:

4 5 6 7 8

Pongs (1967), 1753. Boerner (1969), 11 f. Ebd. 34. Görner (1986), 22. Wuthenow (1990), [IX]; die folgenden Zitate X, X, 1, 2.

Poetik des Tagebuches

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Der eine hält das tägliche Leben, die gelebten Augenblicke nicht nur in ihrer kruden Alltäglichkeit fest, der andere fixiert sein Leben in Gedanken, hält die Wirkung von Lektüre, Bildern, Landschaften fest oder auch die Eigenart seiner religiösen oder seiner erotischen Aufschwünge oder Verzweiflungen; er beichtet sozusagen, aber er beichtet, sofern er es nicht für einen ihm vertrauten Menschen aufzeichnet, nur sich.

An formalen Kennzeichen bleibt wenig übrig: »Das Tagebuch als Niederschrift von Datum zu Datum, Station zu Station, Punkt zu Punkt, und dabei stets sozusagen noch fast im Angesicht des Erlebten und Erfahrenen, kennt nicht in dieser Weise Zusammenhang und Folge […] Das Tagebuch ist eben nicht kontinuierliche Darstellung, sondern stets neuer Einsatz.« Während auf der einen Seite immer wieder hervorgehoben wird, dass sich das Tagebuch aufgrund seiner Offenheit und seines fragmentarischen Charakters besonders für den Gestaltungswillen des modernen Schriftstellers anbiete,9 finden sich auf der anderen Seite gerade aus dem Munde moderner Autoren besonders vernichtende Urteile über das amorphe Tagebuch als literarische Gattung. Arno Schmidt rechnet es zu den »Primitiv-Formen der Prosa« und zu den »Unformen«; es sei »die beliebte Äußerungsform des lebenslänglichen Dilettanten«; einem Klassiker der Diaristik wie Gerhart Hauptmann attestiert er respektlos »Selbstverehrung plus Formschlamperei«.10 Günther Anders rechnet mit dem Journal intime ab und weigert sich, »den Strindberg-Enkel zu spielen und in den Kavitäten [s]eines Egos herumzustochern«.11 Hans-Werner Richter nennt das Tagebuch eine »veraltete Form, Geschehnisse darzustellen, und dies aus mangelhafter Beherrschung anderer Darstellungsmittel und damit aus Mangel an Darstellungskraft.«12 Richter wirft Max Frisch, ebenfalls einem Klassiker der Diaristik, vor : »Er schreibt einen Roman und gibt ihn für ein Tagebuch aus.«13 Wie es scheint, steht das Tagebuch in Gefahr, gerade dann, wenn ein Form- und Gestaltungswille erkennbar wird, seine Gattungseigenschaften zu verlieren. Was soll unter diesen Umständen eine ›Poetik des Tagebuches‹? Nicht mehr und nicht weniger, als die Minimalbestimmungen des Genres aus der Praxis des Tagebuchschreibens selber herausdestillieren, um in der Reflexion dieser Minima literaria die Möglichkeiten der Gattung auszuloten.

9 Beispielsweise Schönborn (2003), 576. Vgl. auch Vogelgesang (1985), vor allem 187; und Knapp (1997). 10 Schmidt, Eines Hähers: ›TUÊ!‹, Zitate: 119, 122, 112, 117. 11 Anders, Warnbilder, 71. 12 Richter, Warum ich kein Tagebuch schreibe, 107. 13 Ebd., 104.

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2.

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Datierung, Aktualität, Zeitkultur

Auch wo man wenig Gemeinsames zur Formbestimmung des Genres Tagebuch feststellen konnte, bleibt immer noch als kleinster gemeinsamer Nenner, dass Tagebucheinträge entweder täglich oder in größeren Abständen schubweise produziert werden. Die Datumsangabe (bei Reisetagebüchern meist mit einer Ortsangabe kombiniert) gehört zu den unverzichtbaren Elementen der Diaristik. Wo diese fehlt (etwa bei den ohne Zweifel doch tagebuchartigen Sudelbüchern Georg Christoph Lichtenbergs) zögert man mit einer Zuordnung zur Gattung Tagebuch.14 Und wo Datierungen nachträglich getilgt wurden und bloße Jahresangaben übrigblieben (wie bei den Gedankenbüchern Elias Canettis15), nimmt die Tendenz zur Aphoristik überhand. Überhaupt tendieren Auswahlausgaben aus Tagebüchern dazu, die Eigenheiten des Genres zu verwischen und in einem ›Best of…‹ den gedanklichen, wissenschaftlichen, moralistischen und aphoristischen Charakter von ursprünglich diaristischen Notaten in den Vordergrund zu stellen. Einen Grenzfall bildet hier die Auswahlausgabe aus seinen Tagebüchern, die Helmut Krausser selbst aus umfangreicheren, ebenfalls zuvor publizierten Tagebüchern destilliert hat.16 Die Datierung als Minimalbestimmung hat verschiedene Konsequenzen. Kann man bei einem Buch, das aus Tagebuchnotizen zusammengestellt wurde, die aber umgestellt und umdatiert wurden, noch von einem ›Tagebuch‹ sprechen? Marie Luise Kaschnitz ist in mehreren ihrer Publikationen so verfahren. Offenkundig wird durch eine solche Bearbeitung das ursprüngliche Tagebuch einer Literarisierung unterzogen. Das Tagebuch-Ich der Marie Luise Kaschnitz wird in Wohin denn ich (1963) zu einer literarischen Kunstfigur, welche die Trauer um den verstorbenen Ehemann verarbeitet, wie aus einer Selbstauskunft der Autorin unzweifelhaft hervorgeht: »Die Daten in diesem Buch sind willkürlich eingesetzt, so, wie es der inneren Entwicklung meiner Ich-Figur entsprach.«17 Das bedeutet aber auch, dass hier nicht nur ein echtes Tagebuch die Quelle für ein literarisiertes Tagebuch (ein literarisches Werk!) darstellt; es bedeutet auch, dass die Datierungsfiktion, die den Anschein eines Tagebuches verstärken soll, zu den unverzichtbaren Elementen des Genres Tagebuch gehört. Die Datierung belegt im Falle des echten Tagebuches außerdem die Aktualität, das »immer neu erschaffene Heute« (Marie Luise Kaschnitz).18 Peter Boerner spricht vom »schubweisen Wachsen« eines Tagebuches – ohne Zweifel ein ent14 Vgl. Wuthenow (1990), 5. 15 Vgl. etwa Canetti, Die Provinz des Menschen; Canetti, Das Geheimherz der Uhr ; Canetti, Nachträge aus Hampstead. 16 Krausser, Substanz. 17 Kaschnitz, Gedächtnis, Zuchtrute, Kunstform, 32. 18 Ebd., 33.

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scheidendes Konstituens.19 Da aber auch Romane oder Dramen »schubweise« entstehen, sollte man vielleicht noch deutlicher sagen, dass im Tagebuch eine Ostentation mit dem immer neu einsetzenden Schreiben getrieben wird. Es ist nicht nur so, dass der Diarist seine Notate an den Zeitpunkt der Notation gebunden wissen will, sondern er weist zugleich mit dem Finger darauf, dass eine bestimmte Aussage zu einem bestimmten Tag (eventuell sogar zu einer bestimmten Stunde) gehört. Damit soll einerseits (quasi notariell) beglaubigt werden, dass er sie wirklich zum behaupteten Zeitpunkt getroffen hat; andererseits wird jede Aussage durch dieses Insistieren auf einem Notierungszeitpunkt gewissermaßen von vornherein relativiert: Es wird erst noch zu prüfen sein, ob sie der Zeit standhält, ob sie morgen noch gilt. Tagebücher sind deshalb notorisch für ihre Widersprüche, Korrekturen, Neuansätze. Im Element der Datierung verbirgt sich die Lizenz zum Verzicht auf Widerspruchsfreiheit. Es gilt nicht nur allgemein: »errare humanum est«, sondern jeweils immer neu ganz prononciert: »Dies habe ich heute unter den gegebenen Umständen für richtig gehalten.« Oder, mit den Worten Andr¦ Gides: »Braucht nur ein gesunder Tag kommen, und ich werde erröten, das geschrieben zu haben.«20 Diese Charakteristik des Tagebuches wird freilich nur dann wirklich deutlich, wenn es sich um ein nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Tagebuch handelt. Im Falle einer Überarbeitung für den Druck besteht immer die Versuchung, dass ein Autor wiederum Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit herzustellen versucht durch Finalisierung auf den Horizont der Überarbeitungszeit. Bei der Analyse der Zeitstrukturen, die sich aus dem Element der Datierung ergeben, ist außerdem zu beachten, dass die meisten Diaristen dazu neigen, periodisch Summen zu ziehen. Häufig spielt der Jahreswechsel eine Rolle: Der Systemzwang des objektiven Kalenders wird von Tagebuchschreibern als Aufforderung aufgefasst, die Bilanz einer längeren Spanne Zeit zu ziehen. Der Zwang zur Datierung nach einem vorliegenden Kalender gibt dem Jahreswechsel ein ganz besonderes Gewicht und stellt eine Beziehung her zwischen dem bürgerlichen Jahr und dem privaten Leben.21 Regelmäßiges Bilanzieren zum Jahresende gehört zu beinahe jedem Tagebuch. Friedrich Hebbel spricht vom nötigen »geistigen Abschluß« – selbst dann, wenn er konstatieren muss (wie am Ende des Jahres 1842): »Weil ich es jedes Jahr getan habe, will ich auch heute einen geistigen Abschluß machen, obgleich es nichts abzuschließen gibt. Gearbeitet hab ich das ganze Jahr nichts […].«22 Eine Steigerungsform des »geistigen Abschlusses« zum Jahresende ist die 19 20 21 22

Boerner (1969), 11. Gide, Aus den Tagebüchern 1889 – 1939, 86 (ähnlich 100). Vgl. Schmidt (2000a) und Schmidt (2000b). Hebbel, Tagebücher, 161.

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Beachtung der kalendarischen Zufälle eines Zehnerjahres. Der Dramatiker Hebbel dramatisiert den Jahresbeginn 1840 zum Beginn eines neuen Jahrzehnts, zum Beginn einer neuen Epoche für sein eigenes Leben: »Nächstes Jahrzehnt, voll Entscheidung bist du für mich; was wirst du mir bringen? Den Ruhm oder das Grab?«23 Die besondere Beachtung der Jahrhundertwenden als symbolische Daten spielt, wie man bemerkt hat, erst seit 1800 wirklich eine Rolle, seit der Entstehung eines neuzeitlichen historischen Bewusstseins im 18. Jahrhundert.24 Zwischen Kalender und Tagebuch besteht über die obligatorische Datierung eine unaufhebbare Verknüpfung. Elias Canetti hat diesen Zusammenhang besonders eindrücklich reflektiert: Jede Person, nach dem Vorbild der ganzen Menschheit, möchte sich ihren eigenen Kalender schaffen. Die Hauptanziehung des Kalenders besteht darin, daß er immer weitergeht. So viele Tage waren da, es werden andere folgen. Die Namen der Monate kehren wieder, noch öfter die der Tage. Aber die Zahl, die die Jahre bezeichnet, ist immer wieder eine andere. Sie wächst, sie kann nie wieder abnehmen, es ist jedesmal ein Jahr mehr. Sie wächst stetig, kein Jahr wird übersprungen, es ist genau wie beim Zählen, es kommt immer nur eins dazu. Die Zeitrechnung drückt präzis aus, was der Mensch sich am meisten wünscht. Die Wiederkehr der Tage, deren Namen er sich bewußt gibt, gibt ihm Sicherheit. […] Doch der leere Kalender ist jedermanns Kalender, jetzt will er ihn noch zu seinem eigenen machen, und dazu muß er ihn erfüllen. Es gibt die guten und die schlechten, die offenen und die bedrängten Tage. Wenn er diese verzeichnet, mit wenig Worten oder Buchstaben, wird der Kalender unverwechselbar sein eigener. Die wichtigsten Ereignisse stiften Gedenktage. In seiner Jugend sind’s noch wenige, das Jahr bewahrt sich eine Art von Unschuld, die meisten Tage sind noch frei und ungenützt für die Zukunft. Aber allmählich füllen sich die Jahre an, mehr und mehr kehrt wieder, was entscheidend war, und schließlich ist kaum ein Tag seines Kalenders ungenützt: er hat eine eigene Geschichte.25

Zum Jahreswechsel als dem kalendarisch obligatorischen Grenzdatum kommen also im Laufe eines Lebens immer mehr symbolische Daten hinzu: Daten, die mit Bedeutung aufgeladen sind, öffentlich oder privat. Die implizite Aufforderung zur Bilanzierung und Summenbildung kann sich auch vom Jahreswechsel auf andere symbolische Daten verschieben, beispielsweise auf den Geburtstag, also das vollendete Lebensjahr im persönlich-biographischen Sinne, wie es sich unter anderem in Goethes Tagebüchern deutlich ausgeprägt hat.26 Nicht alle Verfasser von Tagebüchern verfahren so akribisch und zwanghaft wie Henri-Fr¦d¦ric Amiel, der im Laufe der Jahrzehnte 16.000 Tagebuchseiten vollschrieb und sich früh schon vorgenommen hatte, sich immer sonntags 23 24 25 26

Ebd., 106. Vgl. dazu Gall (1999). Canetti, Dialog mit dem grausamen Partner, 52 f. Vgl. Redslob (1956).

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hinzusetzen, um eine Summe der Woche zu ziehen, am Monatsende eine Summe des Monats und am Jahresende eine Summe des Jahres.27 Amiel treibt nur auf die Spitze, was ein Kennzeichen aller echten Diaristik ist: Ob bloßes Notat des Geschehens, Beobachtung der Umwelt, Reflexion des Lebens oder Ich-Analyse: Die Temporalstruktur des Tagebuches tendiert zur Bilanz nach gegebenen zeitlichen Einschnitten. Die Nennung von Daten hängt mit der Wort- und Begriffsgeschichte der Gattung auch innerlich zusammen. ›Tagebuch‹ als Lehnübersetzung von ›Diarium‹ bzw. ›Journal‹ verweist in jedem Falle auf die Wurzel des Tages.28 In erster Linie ist damit die Zeiteinheit von 24 Stunden gemeint, doch haben Diaristen auch immer wieder Licht zu gewinnen versucht aus der Tatsache, dass Tagebuchschreiben eigentlich erst nach vollbrachtem Tag, am Abend also oder in der Nacht, seinen richtigen Ort hat. Günther Anders fragt rhetorisch: »denn wer käme schon tagsüber dazu, abzurechnen?« Er schreibt Berthold Viertel den Ausdruck ›Nächtebuch‹ zu.29 Auch Robert Musil sprach schon von einem ›Nachtbuch‹.30 Heimito von Doderer ist der Ausdruck ebenfalls geläufig.31 Theodor Haecker schließlich veröffentlichte 1947 explizit Tag- und Nachtbücher.32 Aber schon in der Spätantike hatte der Neuplatoniker Synesius von Kyrene neben Tagebüchern (Ephemeriden) auch ›Nachtbücher‹ (Epinyktiden) gefordert.33 Sein Gesichtspunkt war dabei die ›Traumkultur‹, die in der Tat für viele Tagebuchschreiber wie Franz Kafka von ausschlaggebender Bedeutung war. Wie sich ein Tagebuch in seinem Verhältnis zu Tag und Nacht entfaltet, schreibt es sich auch durch die Datierung in einen Jahreslauf ein. Dieser Jahreslauf weckt in jedem Falle Naturassoziationen, nicht nur dort, wo Diaristen (wie gewöhnlich) das Wetter erwähnen,34 sondern schon durch die bloße Bezeichnung von Monaten, die ja auch Assoziationen an Jahreszeiten mit sich führen. Rüdiger Görner hat an einem herausgehobenen Beispiel beobachtet, wie Wilhelm Lehmann in seinem Bukolischen Tagebuch (1927 – 1932)

27 28 29 30 31 32 33 34

Amiel, Intimes Tagebuch, 29 (Berlin, Januar 1847). Genaueres zur Wort- und Begriffsgeschichte bei Schönborn (2003), 574 f. Anders, »Warnbilder«, 72. Musil, Aus den Tagebüchern, 1 – 3. Doderer, Comentarii 1951 bis 1956, 254. Haecker, Tag- und Nachtbücher 1939 – 1945. Nach Misch (1949), 559. Eine ausdrückliche Rechtfertigung der Wetterberichte im Tagebuch gibt Kaschnitz, Gedächtnis, Zuchtrute, Kunstform, 22. Vgl. zum Wetter im Tagebuch auch Hausenstein, Licht unter dem Horizont, 317.

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den Leser in den Jahreszeitenzyklus ein[bindet], wobei das Gefühl der Teilhabe an den Naturbeobachtungen sich verstärkt. Die zwei vollständigen Zyklen, die wir im Tagebuch erleben, lassen das Individuum schließlich ganz in der Natur aufgehen.35

Als Grundbestimmung einer Poetik des Tagebuches lässt sich herausheben, dass das Tagebuch als solches eine bestimmte Beziehung zur ablaufenden Zeit, wie sie im Kalender ihren Ausdruck findet, und zur Zeitlichkeit des Menschenlebens kultiviert. Die datierte Notiz hält fest, sie hebt aber damit auch etwas Spezifisches aus dem Kontinuum der Zeit heraus. Dass der zeitliche Ablauf als solcher und die In-Beziehung-Setzung eines Individuums zu diesem für das Tagebuch entscheidend ist, hat schon Richard M. Meyer in einer der frühesten wissenschaftlichen Arbeiten zur Gattung Tagebuch klar erkannt: Ein unsichtbarer Kalender schwebt vor dem Gedächtnis selbst des Ungebildetsten und rettet das einzelne Erlebnis, das er bewahren will, vor der Isolierung in dem ungeheuren Meer der Zeit, sichert ihm einen chronologischen Platz und hebt aus der unendlichen Flucht der Sonnenauf- und -untergänge einzelne Momente wie mit leuchtender Farbe heraus. So selbstverständlich, wie uns das scheint, ist es aber gar nicht. Es könnte ganz gut Menschen geben, denen jedes Gefühl zeitlicher Perspektive fehlt, und für die sich alle Tage wie eine unterschiedslose breite Masse nebeneinander schieben […].36

Die datierte Notiz im Tagebuch dient also der Ordnungsstiftung im persönlichen Leben und der Herstellung einer Beziehung zum allgemeinen Kalender. Darüber hinaus weist sie jedoch auch noch eine weitere Tendenz auf, nämlich die der Isolierung des Augenblicks im Kontinuum der Zeit. Hebbel ist entsetzt über sich selbst, als er bemerken muss, dass das seit langem wichtigste Erlebnis in seinem sorgenvollen Leben, die Zuerkennung eines Reisestipendiums durch den dänischen König, ihm beinahe entwischt wäre beim Notieren: »– sollte man’s begreifen? – ich wäre fast zu Bett gegangen, ohne diesen großen, entscheidenden Tag auch nur mit einer Silbe in meinem Tagebuch anzuzeichnen.«37 Umgekehrt kann es vorkommen, dass ihn das Unglück so niederdrückt, dass er sich scheut, das Tagebuch fortzuführen, weil dies bedeuten würde, die Wunde erneut aufzureißen. So ergeht es ihm nach dem Tod seines Jugendfreundes Emil Rousseau.38 Zwischen Leben und Schreiben entsteht ein komplexes Spannungsfeld, das konstitutiv wird für die Poetik des Tagebuches. Gide hat dieser Dialektik vielleicht am prononciertesten Ausdruck verliehen, wo er eine gelegentliche Bemerkung der Tagebuchedition schließlich vorangestellt hat: Wenn man später einmal mein Tagebuch veröffentlicht, wird es, wie ich fürchte, eine ziemlich falsche Vorstellung von mir vermitteln. Während langer Perioden des 35 36 37 38

Görner (1986), 54. Meyer (1905), 281 f. Hebbel, Tagebücher, 177. Ebd., 64.

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Gleichgewichts, des Wohlbefindens, des Glücks habe ich es nicht geführt; wohl aber während jener Zeiten der Depression, als ich seiner bedurfte, um mich wieder zu fangen. Sobald die Sonne wieder scheint, verliere ich mich aus den Augen und bin ganz mit der Arbeit und dem Leben beschäftigt.39

Anas Nin bekennt sich zu dieser Komplementär- und Auslesefunktion des Tagebuches, zu ihrem Hang zum Beschönigen, Zurechtbiegen und Stilisieren: »Was im Tagebuch ausgelassen wird, wird auch in meinem Gedächtnis ausgelassen. Im Augenblick des Schreibens strebe ich nach Schönheit. Den Rest tilge ich – aus meinem Tagebuch, aus meinem Körper«. Daraus folgt aber auch ihre klare Einsicht: »Also ist dieses Tagebuch eine Lüge.«40 Versteht sich, dass diese Einsicht im Widerspruch steht zur gattungsüblichen Behauptung von Aufrichtigkeit und Authentizität. Aber es ist eine Einsicht von grundlegender Bedeutung, dass die Spaltung von Erleben und Beschreiben eine Einbruchstelle schafft für die Lizenz des Augenblicks. Das Tagebuch befreit gewissermaßen von der Verpflichtung zu einer übergreifenden, dauerhaft gültigen Wahrheit, indem es den Moment in sein Recht setzt. Hebbel formulierte die Sentenz: »Der Schmerz liegt überhaupt in der Dauer, die Freude im Augenblick.«41 Und es klingt wie ein Echo, wenn Gide bestätigt: »…ich erlebe die Wahrheit des Wortes, daß das Glück im Augenblick wohnt.«42 Dies ist eine allgemeine Einsicht, die sich aber dem Diaristen in seiner Arbeit an der Zeit unabweislich präsentiert. Autoren der Moderne finden sich zuweilen gerade deshalb von der bindungslosen Form des Tagebuches affiziert, weil im Tagebuch der Augenblick herrschen darf – ohne Rechenschaft über sein Verhältnis zum Allgemeinen und zu einem spezifischen Geschichtsbewusstsein. Peter Boerner schreibt: Das Gewicht der Darstellung verlagert sich vom Zeitzusammenhang auf den Augenblick, die in den traditionellen literarischen Ausdrucksmitteln erstrebte Synopsis des Geschehens löst sich in eine Unzahl von Teilansichten auf. Das Tagebuch wird Symbol eines metaphysischen Tappens von Tag zu Tag […].43

Die diaristische Gleichzeitigkeit und Gleichordnung, das Nebeneinanderstellen von Öffentlichem und Privatem, von Wichtigem und Unwichtigem, entlastet von einer finalisierenden Sinnzuschreibung, wie sie Autobiographien und Memoiren kennzeichnet. »Das Wichtige wird hier vom weniger Wichtigen (weil Fol-

39 Gide, Aus den Tagebüchern 1889 – 1939, [5]. (In leichter Variation im Tagebuch am 13. Februar 1924.) 40 Nin, Intimes Tagebuch, 122 f. 41 Hebbel, Tagebücher, 10. 42 Gide, Aus den Tagebüchern 1889 – 1939, 245 f. 43 Boerner (1969), 66.

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genlosen) nicht gesondert: alles ist, wie es gleichzeitig ist, auch beinahe schon (noch) gleichwertig.«44 Zur Poetik des Tagebuches ist festzuhalten, dass sich in jedem Falle ein bestimmtes Verhältnis des Autors zur Zeit zu erkennen gibt. Im Tagebuch verschreibt sich das Ich der Zeit. Aber der tägliche Eintrag ins Tagebuch übt den Menschen auch im elementaren Umgang mit ihr. Dieser eine didaktische Wert des Diariums hat den Vorzug, daß dem Tagebuchschreiber die Zeit als Element bewußt wird.45

Tagebuchschreiben braucht Zeit – schon rein als Vorgang im Vollzug des Schreibens.46 Jeder wahre Diarist artikuliert das Problem der Spannung zwischen dem gefühlten Verrinnen der Lebenszeit und dem Luxus der Zeitverschwendung im Vollzug des Tagebuchschreibens. Friedrich Hebbel formuliert zu Beginn seines ersten Tagebuches eine Rechtfertigung für sein Tagebuchschreiben, um explizit hinzuzufügen: »Darum kann ich es immer entschuldigen, wenn ich täglich einige Minuten auf dieses Heft verwende.«47 Das Zeitausgeben oder die Zeitverschwendung dieser kulturellen Praxis lässt sich allgemein rechtfertigen über die Ordnungsleistung, über den Wunsch, eine Art ›Dauer im Wechsel‹ der Tagesgeschäfte schriftlich zu fixieren. – Wer Tagebuch schreibt, möchte dem Flugsand der Zeit etwas Greifbares abgewinnen. Und mehr noch: ein Tagebuch führt, wer sich dereinst erinnern will. Eintragungen ins Tagebuch schaffen Anhaltspunkte für ein künftiges Sich-Erinnern.48

3.

Speichern, Wiederlesen, Extrapolation, Ich-Spaltung, Dialogizität

Damit sind wir einen Schritt weiter vorgedrungen: Dass Tagebuchführen der Erinnerung dienen soll, ist selbstverständlich; strittig ist nur, welchen Anteil man dieser Basisfunktion zugestehen soll.49 Die Funktion des Tagebuches als Erinnerungsstütze setzt voraus, dass man später erneut liest, was man früher geschrieben hat. Dies können wir getrost als Selbstverständlichkeit nehmen, zumal es zahlreiche Belege aus der Diaristik selbst gibt, welche dieses Wieder44 Wuthenow (1990), 50. 45 Görner (1986), 9. 46 Wuthenow (1990), 199, charakterisiert etwa Andr¦ Gide als einen »Menschen, der sehr viel Zeit hat, an sich zu denken«, weil er nicht gezwungen ist, einen bürgerlichen Beruf auszuüben. 47 Hebbel, Tagebücher, 6. 48 Görner (1986), 12. 49 Boerner (1969) hatte 90 % des Tagebuches in der Funktion des Erinnerns bestimmt gesehen; Wuthenow (1990) widerspricht.

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lesen früherer Notate belegen. Nur ein einziges sei hier angeführt, Thomas Mann: Ich liebe es, den fliegenden Tag nach seinem sinnlichen und andeutungsweise auch nach seinem geistigen Leben und Inhalt fest zu halten, weniger zur Erinnerung und zum Wiederlesen als im Sinn der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewußthaltung und bindenden Überwachung […].50

Hebbel spricht vom »Pflügen im Tagebuch«,51 das ihm auch deshalb nötig war, weil er in jungen Jahren wenig Zugang zu Büchern hatte. Nicht selten spiegelt sich in solchen Selbstzeugnissen eine gewisse Ich-Verliebtheit, eine genussvolle Beschäftigung mit dem eigenen Leben. Häufig löst das Wiederlesen Sehnsucht aus oder Heimweh; häufig auch Befremdung. Denn zur Aktualität und Spontaneität, die zunächst als positive Charakteristika des Tagebuches zu zählen schienen, gehören ja auch die Augenblicksverhaftetheit und die Verantwortungslosigkeit des isolierten Notats. Diaristik beruht nicht eigentlich, wie man zunächst vermuten könnte, auf dem Notieren als Festhalten, sondern auf einer spezifischen Kultivierung des Sich-Erinnerns als Beschäftigung mit dem eigenen Ich, wie sie Wuthenow am Beispiel von Benjamin Constant besonders eindringlich beschrieben hat, der sehr bewußt oder auch bloß aus Versehen auf die Tagebuchnotizen selbst wieder reflektiert, auf die Situation, in der er schreibt, auf die Bedeutung, die sie für ihn gewinnen. Das Tagebuch wird schließlich für den Alternden, von unglücklichen Liebesverhältnissen, die er nicht aufzulösen vermag, Geplagten, zu einer intellektuellen wie moralischen Notwendigkeit: der, sich seiner selbst zu vergewissern im Angesicht eines Zuhörers, der keine Antwort gibt. Seiner Reizbarkeit und raschen Aufnahmefähigkeit, der vieles rasch wieder zu entgleiten droht, wird das Journal intime zur beruhigenden Stütze: nicht die eigentlich vergangenen Erlebnisse sollen darin aufbewahrt werden, sondern die Empfindungen soll es wiederzuerwecken in der Lage sein, die mit diesen Erlebnissen verbunden gewesen. Constant will sich nicht nur nicht vergessen, er will sich in früheren Stimmungen und Empfindungen auch genießen dürfen. Wiedervergegenwärtigung vergangener Seelenzustände, Kristallisationspunkt künftigen Erinnerns, das also verspricht das Tagebuch zu werden, nicht als Ballast des Abgelebten, sondern eher als ein Stimulans, für einen Menschen freilich, dem Erinnerungen überaus wichtig sind – sei es auch nur, um sich selbst darin wiederzufinden.52

Das Wiederlesen von Tagebüchern kann freilich aufgrund der Inkonsistenz des neuzeitlichen Ichs auch gemischte Gefühle hervorrufen. Besonders stark ist das Selbstquälerische der Vergegenwärtigung früherer Tagebuchnotate von Franz Kafka ausgedrückt worden: »Alte Tagebücher wieder gelesen, statt diese Dinge 50 Mann, Tagebücher 1933 – 1934, 319; Eintrag vom 11. Februar 1934. 51 Hebbel, Tagebücher, 140. 52 Wuthenow (1990), 71.

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von mir abzuhalten. Ich lebe so unvernünftig wie nur möglich.«53 Die Konfrontation mit dem eigenen Ich von Gestern, dem Ich vergangener Jahre, dem Ich überwunden geglaubter Lebensphasen kann peinlich sein. Drastisch hat das Fritz J. Raddatz ausgedrückt: »Das hat etwas Unhygienisches, in seinen eigenen alten Häufchen zu stochern.«54 Kafka bietet aber auch ein Beispiel dafür, wie Tagebücher Tagebücher zeugen: »Neues Tagebuch, eigentlich nur, weil ich im alten gelesen habe.«55 Da wir denselben Zug auch bei Virginia Woolf56 und anderen Journalverfallenen wiederfinden, liegt hier offensichtlich ein mehr als nur zufälliger Befund vor: Es ergibt sich aus dem lebensweltlichen Gebrauch, aus der Praxis des Tagebuchschreibens und -wiederlesens, ein Anreiz zur Fortführung oder Wiederaufnahme. Im Prozess des Schreibens entwickelt sich ein besonderes Verhältnis des schreibenden Ichs zum beschriebenen Ich. Auch bei psychisch stabilen, nicht zur Schizophrenie neigenden Diaristen zeigt sich immer aufs Neue die Erfahrung, dass beim Wiederlesen von Tagebuchnotaten der Beschriebene dem Schreibenden fern gerückt, ja: fremd geworden ist. Die Erfahrung dieses Verhältnisses stellt sich als eine Subjekt-Objekt-Spaltung dar, welche sowohl erlitten als auch genossen werden kann. Eine solche Extrapolation ergibt sich im Schreibakt unvermeidlicher Weise, indem das Ich zum Gegenstand des Schreibens wird. Selbst dort, wo sich das Tagebuch auf die Wiedergabe äußeren Geschehens richtet und nur eine Chronik der laufenden Ereignisse intendiert wird, kann es nicht subjektfrei sein. Dies nicht nur in dem trivialen Sinne, dass objektive Ereignisse nicht existieren oder durch die Auffassung im Spiegel eines Beschreibenden subjektive Färbung annehmen, sondern vor allem auch in dem gattungsrelevanten Sinne, dass man von Tagebüchern eigentlich nur dort sprechen kann, wo sich das Ich auch als solches thematisiert. In diesem Sinne gehört die Extrapolation des Ichs zum Genre Tagebuch – und in der Konsequenz dann auch eine Subjekt-Objekt-Spaltung zwischen dem schreibenden Ich und dem beschriebenen Ich. Zahlreiche Zeugnisse berühmter und unberühmter Menschen liegen dazu vor. Die Isolierung eines Schreibenden in seiner Lebenswelt, eine Distanzierung von der Umwelt, ein Fremdwerden, das zugleich ein Selbstwerden darstellen kann, gehört offenkundig zu den Entstehungsbedingungen von Tagebüchern.57 Benjamin Constant registriert – Tagebuch schreibend –, dass er gewissermaßen

53 54 55 56 57

Kafka, Tagebücher 1910 – 1923, 207; Eintrag vom 15. August 1912. Raddatz, Tagebücher. Jahre 1982 – 2001, 383. Kafka, Tagebücher, 394; Eintrag vom 27. Juni 1919. Woolf, The Diary. 1931 – 1935, 253 f.; Eintrag vom 17. Oktober 1934. Dies noch als Frage formuliert von Görner (1986), 58.

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doppelt existiere.58 Marie Bashkirtseff hat dieselbe Erfahrung provozierend ausgestellt: »Das Weib, welches schreibt, und das, welches ich beschreibe, sind eben zwei«.59 Robert Musil legte sich einen besonderen Tagebuchnamen zu (»monsieur le vivisecteur«) und zögerte nicht, sich als andere Person eigens anzusprechen: »Unterhalten wir uns ein wenig mit uns selbst, Herr Musil.«60 Es liegt offenbar eine spezifische Möglichkeit gerade des Tagebuches darin, solche Ich-Spaltungen durchzuspielen. Gewiss liegt hier ein Übergang zur fiktionalen Literatur vor. Und trotzdem muss man festhalten, dass die tagebuchübliche Erkenntnis der Subjekt-Objekt-Spaltung noch keine Fiktionalisierung darstellt. (Im Übrigen lässt das Tagebuch natürlich gesteigerte Möglichkeiten der Fiktionalisierung zu, etwa, wenn Max Frisch zwischen einem diaristischen und einem erzählenden Ich zu unterscheiden versucht.61) Während man in einem ersten Ansatz vielleicht versuchen würde, das Tagebuch vom Brief abzuheben durch Monologizität (vs. Dialogizität), stößt diese Bestimmung doch schnell an ihre Grenzen, wenn man erkennt, dass die Tendenz zur Ich-Verdoppelung im Tagebuch das beschriebene Ich leicht zum Du machen kann. Aus Einsamkeit und Isolation schafft sich der Tagebuchautor ein Du. Das bekannteste Beispiel ist wohl Anne Frank, die in ihrem Tagebuch Briefe an eine (erfundene) Freundin Kitty schreibt.62 Aber auch sonst zeigt sich oft die Tendenz, mit echten oder erfundenen Personen im Tagebuch ins Gespräch zu kommen, sich selber in der zweiten Person anzusprechen oder das Tagebuch selbst, den Gegenstand, zu personifizieren. »Ich danke Dir, Tagebuch«, kann Amiel schreiben.63 Elias Canetti erklärt das Tagebuch schlechterdings zum alter ego: »ein Tagebuch, das nicht diesen konsequent dialogischen Charakter hat, scheint mir wertlos, ich könnte meines gar nicht anders als in Form eines solchen Selbstgespräches führen.«64 Für Rilkes Tagebücher ist solche Dialogizität ebenfalls höchst charakteristisch.65 Hier muss jedoch unterschieden werden: Wer das Tagebuch zum Du erklärt, steht in einer bestimmten Relation zu den Menschen seiner Umgebung. Vielleicht ist er einsam, vielleicht isoliert, vielleicht im Exil. Die Möglichkeit der Erschaffung eines Du im Tagebuch gehört zu den grundlegenden Gattungsbestimmungen auch dann, wenn sie nicht von allen Diaristen genutzt wird. Und sie

58 59 60 61 62 63 64 65

Nach Wuthenow (1990), 94 f. Bashkirtseff, Tagebuch, 193; Eintrag vom 30 Mai 1877. Vgl. Görner (1986), 48. Frisch, Tagebuch 1946 – 1949. Frank, Tagebuch. Amiel, Intimes Tagebuch, 48. Canetti, Dialog mit dem grausamen Partner, 60. Vgl. Görner (1986), 107 – 110.

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ist klar zu unterscheiden von der wirklichen Fiktion, die sich anderer Gattungen bedient. In der Öffentlichkeit stehende Personen suchen bisweilen das Tagebuch als Refugium, als letzten Ort der Privatheit, der es ihnen erlaubt, auch anders sein zu dürfen, als es dem Bild entspricht, das sich die Öffentlichkeit von ihnen gemacht hat. Das Tagebuch entlastet auch vom Zwang zur Selbststilisierung, zum Rollenspiel. Es eröffnet neue Möglichkeiten des Selbstentwurfs, wenn man zu sich selbst kommen darf. Fritz J. Raddatz hat das – unter Bezug auf einen berühmteren Diaristen – so ausgedrückt: Es muß – nicht, um mich, Gott behüte, zu vergleichen – Camus ähnlich gegangen sein, wie seine Tagebücher ausweisen: Während alle Welt den Erfolgreich-Beneidenswerten sah (noch dazu den Nobelpreis), war er eine verschattete Existenz, von Ängsten, Nöten und Sorgen gejagt, zutiefst an sich zweifelnd, privat unglücklich (der schöne Mann!) und umgetrieben von Vergeblichkeits-Gedanken.66

Die Möglichkeit zum Dialog bietet sich dem Tagebuchautor jedoch noch in anderer Weise: Er kann in differenzierter Form sein Tagebuch zur Mitteilung einsetzen, gewissermaßen als Brief verwenden. Fast alle Fürsprecher des Tagebuches gehen von einem ›geheimen‹ oder ›echten‹ Tagebuch aus; Canetti hat sich dazu besonders dezidiert geäußert: »Im Tagebuch spricht man zu sich selbst. Wer das nicht kann, wer eine Zuhörerschaft vor sich sieht, sei es auch eine späte, sei es eine nach seinem Tod, der fälscht.«67 Es ist konsequent, sich dann über Schloss und Riegel, Verstecke und Geheimschriften Gedanken zu machen. Andr¦ Gide ist unglücklich, weil er den Kofferschlüssel verloren hat zu jenem Koffer, in dem er sein Tagebuch verborgen hat.68 Brigitte Reimann versteckt (vergeblich) ihre Tagebücher, welche ihr Ehemann »mit wahrhaft kriminalistischem Scharfsinn« immer wieder aufspürt; sie weiß, dass er sie mit dem Notierten bei der anstehenden Scheidung erpressen will.69 Hier stehen wir aber auch auf einer Schwelle: Wenn Brigitte Reimann nämlich weiß, dass ihr Mann die Tagebücher finden wird, schreibt sie nicht mehr nur für sich selbst; sie spricht gewissermaßen indirekt auch zu ihm. Die Voraussetzung des geheimen Tagebuches eröffnet differenzierte Möglichkeiten der Mitteilung. Ein besonders lehrreiches Beispiel stellt Anas Nin dar, eine der großen Tagebuchschreiberinnen des 20. Jahrhunderts, die es im Laufe von mehr als sechs Jahrzehnten auf etwa 35.000 Tagebuchseiten gebracht hat. »Ich führe mein Tagebuch sehr heimlich, doch wie oft habe ich schon hineingeschrieben, während ich ihm [ihrem damaligen Ehemann Hugh Guiler] zu Füßen vor dem Kamin saß, 66 67 68 69

Raddatz, Tagebücher. Jahre 1982 – 2001, 419 f. Canetti, Dialog mit dem grausamen Partner, 55. Gide, Aus den Tagebüchern 1889 – 1939, 81. Reimann, Ich bedaure nichts, 5, 10, 13, 15, 63 (u. ö.).

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und nie hat er versucht, über meine Schulter hinweg mitzulesen«.70 »Später, im Bett. Hugo liest. Während ich praktisch vor seinen Augen schreibe, hat er keine Ahnung, daß das, was ich schreibe, so treulos ist«. Nicht nur die Tagebuchschreiberin, auch das Tagebuch selbst ist in solchen häuslichen Situationen anwesend. Es bestimmt die Kommunikation wie eine vorhandene Person. Es bietet ein Ersatzleben mitten im wirklichen Leben. Es kann vorkommen, dass das wirkliche Leben das Tagebuchleben verdrängt, so im Kontakt mit Henry Miller : »Meine Tagebuchschreiberei versiegt, weil es sich um eine Intimität mit mir selbst handelte. Jetzt wird sie ständig von Henrys Stimme, von seiner Hand auf meinem Knie gestört«. Auch das Tagebuch wird mit Henry gefüllt sein. – Doch ich habe ihm erklärt, er habe das Tagebuch getötet. Er hat mich damit geneckt […]. Das Tagebuch war eine Krankheit. Ich war geheilt. Drei Tage lang hatte ich nichts geschrieben. […] Aber es war mir gleichgültig, solange ich dort neben Henry liegen konnte. Keine Tagebuchschreiberei mehr. Da hörte er auf, mich zu necken. O nein, das wäre doch ein Jammer, erklärte er. Das Tagebuch dürfe nicht sterben. Es werde ihm fehlen. – Es starb nicht. Wenn er nicht da ist, um sich liebkosen und beißen zu lassen, finde ich keine andere Möglichkeit, meinen Henry zu lieben, als ganze Seiten mit ihm zu füllen.

Während das Tagebuch dem wirklichen Leben im Weg zu stehen scheint, vervielfacht es doch die Möglichkeiten des Lebens wie ein Spiegel: Zwar pflegt Anas Nin ihre Tagebücher zu verstecken, doch weiß sie oft genug, dass ihre Freunde mitlesen. Auch zeigt sie bestimmten Personen ihrer Umgebung immer wieder einzelne Tagebücher. Es entfaltet sich ein vielfältiges Spiel mit Andeutungen und Brechungen. Zumal dann, wenn man mit berücksichtigt, dass sie gleichzeitig in psychoanalytischer Behandlung ist, dass auch ihr Analytiker Teile ihrer Tagebücher liest, dass die Erfahrung der Psychotherapie in ihrem Tagebuch verarbeitet wird, dass diese Tagebücher wiederum von den Menschen ihrer Umgebung gelesen werden: entweder weil sie ihnen diese anvertraut oder weil sie die versteckten Tagebücher aufgefunden haben: »Das Tagebuch ist ein Produkt meiner Krankheit, vielleicht eine Akzentuierung und Übertreibung dieser Krankheit. Ich spreche von Erleichterung, wenn ich schreibe; mag sein, aber es ist ebenso ein Eingravieren des Schmerzes, ein Tätowieren meines Ichs«. Das Tagebuch, das Erinnerungen speichert und als solche abrufbar macht, stiftet durch die Datierung der Notizen eine Temporalstruktur, die zu Rückgriffen und Bilanzen einlädt, das Individuum außer sich setzt und sich selbst historisch werden lässt. Es generiert eine diaristische Subjekt-Objekt-Spaltung und eröffnet, monologisch, eine Palette an Kommunikationsmöglichkeiten mit anderen. Soweit sind wir auf der Ebene der Beschreibung einer Form, die noch weit70 Nin, Intimes Tagebuch, 123. Die folgenden Zitate ebd. 153 f., 159, 160, 219.

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gehend von inhaltlichen Bestimmungen absieht und die Möglichkeiten der Gattung außer Acht lässt, die ihr im Verlauf ihrer neuzeitlichen Geschichte zugewachsen sind. Chronik, Beichte, Individuation, Bildung, Experiment: Tagebücher werden überwiegend aus psychologischen Motiven verfasst und größtenteils aus biographischem und historischem Interesse gelesen. Aber solche inhaltlichen Aspekte liegen auf einer anderen Ebene. Zu zeigen war, dass das Tagebuch, eine Form, die prima vista als geradezu formlos erscheint, als »Schwundstufe«, als »Primitiv-Form der Prosa«, als »beliebte Äußerungsform des lebenslänglichen Dilettanten« aus »Mangel an Darstellungskraft«, eine eigene Poetik enthält.

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Die Logik seriellen Erzählens. Der Groschenroman

Der Groschenroman hatte von Beginn seiner Entstehung im 19. Jahrhundert an einen schweren Stand. Viel gelesen und ebenso viel geschmäht, hat man ihm eine ›Logik der Prosa‹ lange Zeit gar nicht zugetraut. Wer Ende des 19. Jahrhunderts einen Groschenroman erwarb, las diesen heimlich – das galt für Leser und Leserinnen allen Alters und aller Schichten. Über das Leserverhalten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist überliefert, unmittelbar nach dem Kauf seien die Umschläge entfernt worden, um etwa in der Straßenbahn die fragwürdige Lektüre der öffentlichen Beobachtung zu entziehen; Kioskbesitzer sollen eigens zu diesem Zweck Papierkörbe in ihren Läden deponiert haben.1 Schon bald ließ sich vor Gericht der Groschenromankonsum als wirksame Verteidigungsstrategie funktionalisieren (»Du sagst, du hast soville sonne Lektiere jelesen, dass du janz demlich davon jeworden bist im Kopp«2), und in den Schulen gab es noch nach dem Zweiten Weltkrieg systematische »Tornister-Razzien«. Für die konfiszierten Hefte wurden auf den Schulhöfen – als hätte man von Bücherverbrennungen aller Art nicht inzwischen genug – große Scheiterhaufen errichtet.3 Kurz: Insbesondere die Obrigkeiten lehnten den Groschenroman ab. Man attestierte ihm subversives Potential, werden doch nicht selten gerade staatliche Autoritäten in ihren Schwächen und Unzulänglichkeiten darin vorgeführt. Außerdem fürchtete man seinen Vorbildcharakter, drohte doch der zumeist sehr realistisch dargestellte american way of life ebenso zur Nachahmung anzuregen wie die (vermeintlich) pornographischen Tendenzen des Mediums oder seine Gewaltdarstellungen. Bezogen auf das literaturwissenschaftliche Interesse am Groschenroman änderte sich dies spätestens in den 1970er Jahren. Zwar konnte man auch in diesen Jahren die kleinen Hefte nicht so richtig leiden, die Maßstäbe der Wertung und Beurteilung aber hatten sich verschoben. Der Groschenroman wurde – 1 Galle (1988), 49, 87. 2 Zitiert nach ebd., 86. 3 Ebd., 8.

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wissenschaftsgeschichtlich nachvollziehbar aus der Absage an einen werkimmanent verengten Textbegriff und aus dem methodischen Interesse an einer Sozialgeschichte der Literatur – zu einem forschungswürdigen Gegenstand aufgewertet, zugleich aber aus ideologiekritischer Perspektive erledigt. Dass die Kolportageindustrie den Heftroman schon im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Argument verteidigt hatte, die Lektüre ermögliche es, den mühsamen Alltag zu ertragen, und stabilisiere auf diese Weise die gesellschaftliche Ordnung,4 war Wasser auf die Mühlen der Populärkulturforschung. Man lehnte die in den Romanen erzeugten ›Gesamtvorstellungen‹5 als »Mythen aus zweiter Hand« ab, deren ›promiske Überhelden‹ die Errungenschaften der Emanzipation ebenso mit Füßen traten6 wie alle zeitgenössischen Bestrebungen nach gesellschaftspolitischen Veränderungen: »Gerade dort, wo anscheinend alles möglich ist, darf sich nichts ändern«,7 der Heftroman sei deshalb ein »Herrschaftsinstrument«, das gezielt zur Entpolitisierung bzw. politischen Entmündigung der »Unterschicht« eingesetzt werde.8 Man unterstellte damit der Groschenliteratur, ihre Leser zu manipulieren. Aufgrund ihrer Herstellungsbedingungen galt sie als am Fließband produzierte Strickmusterware,9 die ihren Lesern gegenüber so tut, als seien ganz persönlich sie mit dem erworbenen Produkt angesprochen: »Als Massenware sind die Texte untereinander austauschbar, als Markenartikel halten sie den Schein der Individualität aufrecht«.10 In dieser ersten Phase verstand sich die Groschenromanforschung nicht selten als Teil der Trivialliteraturforschung,11 die das sogenannte Triviale von bildungskulturellen Missverständnissen und Vorbehalten zu befreien suchte. Sie beschrieb die Mechanismen der Massenproduktion und abstrahierte deren grundlegende Merkmale, die als Ergebnisse der »Standardisierung der Texte« beschrieben wurden, als »Vereinheitlichung nach vorgegebenen Mustern«.12 Mit dem Hinweis auf die ›Bipolarität‹ des für das sogenannte Triviale typischen

4 »Wenn eine arme Näherin in ihrer Kammer in einem Roman liest, daß ein armes Mädchen trotz aller Nachstellungen, die man ihm bereitet hat, sich zu einem zufriedenen Loose durchgearbeitet hat, so wird ihr ein solcher Roman Kraft geben, ihre Leiden zu ertragen« (aus der Fach-Zeitung für den Colportage-Buchhandel, 1891; zitiert nach Nagl [1972], 145). 5 Nach Hickethier zeichnet sich die Serie durch eine »doppelte Formstruktur« aus: »Zum einen gibt es einen die Serie als Ganzes übergreifenden dramaturgischen und inszenatorischen Zusammenhang, zum anderen eine nur die einzelne Folge betreffende Einheit von Dramaturgie, Figurengestaltung und Handlungsführung« (Hickethier [2003], 398). 6 Nagl (1972), 134 – 136. 7 Ebd., 137. 8 Nusser (1973). 9 Zu den Bedingungen der Fabrikautorschaft vgl. anschaulich Sproat (1984). 10 Wernsing / Wucherpfennig (1976), 3. 11 Schlaglichter zur Geschichte der Trivialliteratur bietet Nusser (1991), 21 – 118. 12 Nusser (1991), 37.

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Figurenarsenals oder auf die ›formelhafte Erstarrung‹ seiner Sprache13 gelingt es letztlich aber auch dieser Forschungsrichtung nicht, den Gegenstand wertungsfrei zu behandeln. Dafür bedurfte es eines weiteren Schritts: Das Triviale musste als Populäres zur Leitvorstellung der Philologie erklärt werden. 2004 entdeckte Thomas Steinfeld die »Philologie« als »Lebensform«. Er knüpfte dabei durchaus an frühe Idealvorstellungen an, denn so asketisch und detailgenau, so aufmerksam und historisch präzise, so auf Vollständigkeit bedacht und leidenschaftlich wie der Philologe des 19. Jahrhunderts14 agiert nach Steinfeld auch der ›Fan‹ des 21.: »[I]m Herzen eines jeden ›Fans‹ wohnt ein Philologe […] – und zwar kein moderner, sondern einer noch im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts, ein bescheidener Diener am höheren Wesen, einer, der suchen und sammeln, unterscheiden, sortieren und bewahren will. Und auch einer, der liebt«.15 Wenn aber die Philologie ein ›volkstümlicher Beruf‹16 ist, dann ist die Ausweitung ihres Gegenstandes schlechthin systemisch im Fach selbst angelegt, und die Grenzen zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Wissen lösen sich endgültig auf. Mit dem Philologie-Verweis wird auch das Fanverhalten an sich entpathologisiert17 – ein Verhalten, das in Überlieferungszusammenhängen denkt, kritische Textvergleiche anstellt, Archive anlegt oder auf Neu- und Gesamtausgaben drängt. Seitdem liegt es nahe, sich aller Vorbehalte zu entledigen und sich der Groschenliteratur interesselos zu nähern, wobei dies naturgemäß eine grundsätzlich positive Haltung dem Gegenstand gegenüber nicht ausschließt. Wenn Hans-Otto Hügel 2007 den Heftroman als »Produkt kollektiver Kreativität«18 bezeichnet, wertet er jenen Gegenstand auf, den er doch vor Wertungen (insbesondere vor den üblichen Abwertungen) zu bewahren versucht. Dagegen ist schon deshalb wenig zu sagen, weil es Hügel zugleich gelingt, die Ästhetik des Groschenhefts in den Blick zu rücken, um dem Grund des ›Vergnügens‹19 an populären Gegenständen auf die Spur zu kommen, genauer nimmt er sich die Folge Das Glück

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Ebd., 127. Vgl. dazu Stockinger ([2012]). Steinfeld (2004), 12. Ebd., 7. Ganz-Blättler (2000), 200: »Ersetzt man den Begriff der Devianz [des Fanverhaltens, C. S.] durch jenen der Expertise und den Begriff der Isolation durch jenen der Konzentration, so ergibt sich ein etwas anderes Bild: Wir haben es dann […] zu tun mit Fachpersonengruppen, die sich konzentriert mit einem bestimmten Gegenstand beschäftigen und diesen in mehr oder weniger kollegialer Atmosphäre sowie in mehr oder weniger komplexer Weise gemeinsam ausloten«. 18 Hügel (2007), 246. 19 Verantwortlich für das »Vergnügen« am populären Text sei dessen »Durchsichtigkeit« (ebd., 271).

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kam auf vier Pfoten der Bastei-Reihe Sylvia-Krönung dafür vor, die er einer mikrophilologischen Detailanalyse unterzieht. Ob sich auf diese Weise erklären lässt, wie es sein kann, dass eine unbestreitbar große Leserschaft über viele Generationen hinweg unterschiedlichen Heftromanreihen die Treue hält, ist fraglich; hierfür mögen empirische Leserstudien geeigneter sein. Wird aber, wie Hügel das zu Recht vorschlägt, die »erzählte Geschichte als Literatur« gewürdigt,20 so lässt sich damit zum einen plausibilisieren, dass die Begründung für ihren Erfolg in den Gegenständen selbst liegt. Zum anderen lässt sich nur so zeigen, wie sich das Verhältnis von ›Schema‹ und ›Variation‹ in Texten gestaltet, die bislang in erster Linie für plan schematisiert gehalten wurden.21 Die feinen Unterschiede in Figurenkonstellationen, Plotstrukturen und Darstellungstechniken lassen sich nur so beobachten, Differenzierungen und Veränderungen im Verlauf einer Serie oder im Vergleich unterschiedlicher Serien nur so dingfest machen. Auch dafür bedürfte es wieder eines Untersuchungsdesigns, das nicht nur Detailstudien und Einzeltextanalysen erlaubt, sondern das große Mengen in den Blick nimmt.22 Dennoch erlaubt die genauere Betrachtung einzelner Folgen Aufschlüsse darüber, wie ertragreich eine systematische inhaltsanalytische Untersuchung größerer Textmengen im historischen Verlauf sein könnte. Das gilt etwa für einen Vergleich unterschiedlicher Genres, die ähnliche Zielpublika ansprechen, oder für einen Vergleich zweier Folgen desselben Genres, die verschiedenen Serien angehören. Im Verlag Martin Kelter Hamburg erscheinen Serien zu den unterschiedlichen Genres, darunter auch mehrere Arztserien, die nach dem Prinzip der Reihung abgeschlossener Folgehandlungen bei gleichbleibendem Stammpersonal organisiert sind. Bei zweien davon bildet der Name des Arztes den Serientitel, beide gehen auf die Serienautorin Patricia Vandenberg (i. e. Gerty Schiede) zurück: Dr. Laurin und Dr. Norden, letztere nach dem Tod Schiedes (2007) unter demselben Pseudonym von deren Schwiegertochter Elke fortgesetzt.23 Zielgruppe dieser Romane sind ältere Frauen. Darauf verweist in einem Heft etwa eine Werbeanzeige auf der Cover-Innenseite, die mit dem Bild zweier älterer Damen für ein Medikament gegen das »dementielle[ ] Syndrom[ ]« wirbt (»Gedächtnisprobleme? Dafür gibt’s doch ratiopharm«). Bei der Kelter-Serie Dr. Laurin handelt es sich um eine Wiederauflage; die Zeitlosigkeit der verhandelten Fälle rückt historische Differenzen, so scheint es, in den Hintergrund. Zugleich 20 Ebd., 255. 21 Die Frage nach dem Verhältnis von »Schema und Variation in Erzählung und Dramaturgie« gehört zu den grundlegenden Fragestellungen der Serienforschung; Hickethier (2003), 402. 22 Zu einem solchen Konzept genauer vgl. Hißnauer / Scherer / Stockinger (2012), hier am Beispiel der ARD-Reihe Tatort. 23 http://www.doktor-norden.de/ueber-die-autorin.html.

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wird deutlich, dass neuere Folgen die grundlegend ähnlich angelegte Plotstruktur durchaus variieren. Eine Ehe voller Zweifel aus der Laurin-Serie orientiert sich an der »Sinuskurven-Struktur« des frühen Feuilletonromans, wenn hier in einer Art »Montagekette«24 eine Konfliktsituation und deren Auflösung an die nächste gereiht werden. Die Konflikte werden als Bewährungsprobe einer jungen Ehe gestaltet, deren grundlegendes Problem darin besteht, dass die Mutter des Ehemanns – dem Typus ›böse Schwiegermutter‹ entsprechend – die Ehe zwar aus finanziellen Gründen arrangiert hat, das Eheglück aber verhindern möchte, weil sie ihrem Sohn mit »Affenliebe«25 zugetan ist und an sich ohnehin eine hochgradig selbstbezogene Ich-Konstitution aufweist. Die zunächst von Hause aus sehr unsichere junge Ehefrau Jana wächst, schwanger geworden, über sich hinaus26 und beginnt, insbesondere mit der Hilfe des Frauenarztes Dr. Laurin,27 um ihr Kind ebenso zu kämpfen wie um die Liebe ihres Mannes Axel. Auch dieser, Typus Muttersohn, macht einen entscheidenden Entwicklungsschub durch. Schließlich emanzipiert sich das Paar, und die Schwiegermutter muss das Feld räumen, erst dann ist eine Versöhnung möglich: Die Geburt des zweiten Kindes, eines Sohnes, im Ausblick des Romans schlägt »eine Brücke« zwischen den Parteien.28 Mehrere kleinere Konflikte spielen sich vor diesem Hintergrund ab: Es droht eine Fehlgeburt; ein zweiter Mann in Janas Leben gefährdet das labile Ehebündnis (scheinbar) zusätzlich; Einblicke in die rechtliche Situation ihrer Ehe machen es zeitweise wahrscheinlich, Axel habe seine Frau nicht aus Zuneigung, sondern nur des Geldes wegen geheiratet. Dass es überhaupt Probleme gibt, legt allein die beschränkte Perspektive der Figuren nahe. Ihnen gegenüber hat die Leserin einen entscheidenden Wissensvorsprung, den ihr zum Teil der Erzählerkommentar verschafft, zum Teil die Erzählung, deren unterschiedliche Handlungsstränge vor ihren Augen aufgefächert werden. So weiß die Leserin vor Axel, dass Jana ihrem zukünftigen Mann schon vor der arrangierten Ehe liebend zugetan war, und sie weiß vor Jana, dass Axel dem Arrangement nur deshalb zugestimmt hat, weil er seine zukünftige Frau, die sich seiner Meinung nach von ihren Altersgenossinnen deutlich unterschied, von vornherein schätzte. Dass sich Jana im Verlauf der Folge zudem von einem Mauerblümchen in eine »damenhafte« Erscheinung wandelt,29 mag nicht nur ihren Ehemann Axel erfreuen; 24 25 26 27

Eco (1976), 63, 65. Vandenberg, Ehe, 9. Explizit Vandenberg, Ehe, 54. Mit der Formulierung »Ihr Vertrauen zu Dr. Laurin war stärker als zu jedem anderen Menschen« (Vandenberg, Ehe, 31) wird in der Folge selbst das Leitmotiv der Serie explizit. 28 Vandenberg, Ehe, 61. 29 Ebd., 43.

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auch manchen Leserinnen wird dies eine gewisse Genugtuung verschaffen, weil es ihrem eigenen Erwartungshorizont entspricht. Allerdings erhalten selbst Leserinnen, die dem vorgeführten Handlungszusammenhang skeptisch gegenüberstehen und ggf. dessen Aktualität in Frage stellen, ein Sprachrohr, und zwar in Dr. Laurins idealer Ehefrau Antonia: »Gibt es heutzutage so was auch noch, dachte Antonia.«30 ›Kaum zu glauben‹ also, ›aber wahr‹. Implizite und explizite Solidarisierungen mit der Leserschaft erfolgen somit auf unterschiedlichen Ebenen. Das allgemeine Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit wird frühzeitig befriedigt, wenn die unterdrückte Schwiegertochter der Haustyrannin ordentlich die Meinung geigen darf: »Ich lasse mich nicht in diesem Haus, das mit meiner Mitgift erhalten geblieben ist, von einer fremden Person beleidigen.«31 Konfrontiert mit den Erlebnissen Janas im Frauenhaus, in das sie zeitweilig flüchtete, mögen sich einige Leserinnen darüber freuen, dass auch die Welt der Reichen und Schönen einmal mit den Schattenseiten des Lebens konfrontiert wird. Die aufklärerische Absicht der auktorial erzählten Passage jedenfalls ist offensichtlich: »Zum ersten Mal wurde Jana mit Frauenschicksalen konfrontiert, von denen in ihren Kreisen, wenn überhaupt, nur mit Herablassung und Verachtung gesprochen wurde. Sie lernte jetzt kennen, daß es mutige Frauen waren, die die Verantwortung für ihre Kinder, die sie geboren hatten, allein tragen wollten.«32 Nicht wenigen Leserinnen der Serie aber wird es wie Jana gehen. Es gehört zu den frühen Leserbindungsstrategien seriellen Erzählens, soziale Distinktionen auszustellen, die den Leser / die Leserin immer wieder auch auf durchaus wohltuende Distanz zu weniger privilegierten Schichten der Gesellschaft halten – eine Form der Solidarisierung, die bereits zum Programm eines der ersten und zugleich erfolgreichsten Feuilletonromane des 19. Jahrhunderts gehörte: zu EugÀne Sues Les mystÀres de Paris (1842 / 43). Im »Vorwort« des Romans wendet sich der Autor direkt an seine Leser,33 um sowohl sein Vorhaben als auch seinen Gegenstand zu legitimieren. Er geht damit offensiv Vorbehalte an, die er gegen seinen Roman erwarten muss, etwa den Vorbehalt, er bediene rein voyeuristische Interessen am Hässlichen, Gewalttätigen, Grässlichen oder er verhandle letztendlich irrelevante Zusammenhänge. Diesen Vorbehalten begegnet Sue, indem er seinen Roman als gleichsam ethnographische Studie ›verkauft‹, die, den Interessen James Fenimore Coopers am Leben der nordamerikanischen Indianer vergleichbar, die untersten Schichten der Pariser Stadtgesellschaft beleuchtet, um so das Fremde im Ver30 31 32 33

Ebd., 10. Ebd., 31. Ebd., 35. Auf die »herausragende Bedeutung« von Initiationstexten »für den kommerziellen Erfolg« serieller Literatur macht Walter (1986), 87, aufmerksam. Vgl. dazu auch Türschmann (2008).

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trauten, das Exotische vor der eigenen Haustür, die unbekannten Seiten der eigenen Nation vorzuführen. In direkter Anrede solidarisiert sich der Autor (der die Vorrede namentlich unterzeichnet) mit seinen Lesern, indem er eine klare Trennlinie zwischen Autor / Lesern und dem Objekt der folgenden ›Studien‹ zieht und dadurch die soziale Distinktion regelrecht ausstellt: »Nur daß die Barbaren, von denen wir sprechen, mitten unter uns hausen […]. Diese Menschen haben ihre eigenen Sitten, ihre eigenen Weiber, eine eigene Sprache, eine geheimnisvolle Sprache voll schauriger Bilder, voll abschreckend blutiger Gleichnisse«.34 Explizit setzt er auf die »mächtige[ ] Wirkung des Kontrastes«35 – auf einen Kontrast, den, wie angedeutet, auch die zitierte Folge der Dr. LaurinSerie bemüht und der, so meine These, zu den genrekonstituierenden Merkmalen des Arztromans gehört. Ein willkürlich gewähltes zweites Beispiel dieses Genres, Eine Familie vor dem Aus? der Kelter-Serie Dr. Norden, beharrt ebenfalls auf dergleichen Differenzen, ohne innere Notwendigkeit für den Handlungsfortgang. Krankenschwester Caroline kann es gar nicht glauben, dass Dr. Marcus Nolte mit jener kranken und unansehnlichen obdachlosen Frau etwas zu tun haben soll, die eines Morgens in die Klinik eingeliefert wird: »›Sie kennen jemanden von der Straße?‹, fragte sie ebenso leise wie ungläubig. ›Schwer vorstellbar‹«.36 Verstärkt wird die Distanz zwischen der sogenannten gesellschaftlichen Normalität und sozialen Randgruppen zum einen dadurch, dass Dr. Marcus Nolte den ›Irrtum‹ (!) der Schwester sogleich aufklären kann: In der Tat hat er eigentlich keine Bekannten im Obdachlosenmilieu. In diesem Fall aber handelt sich um seine Frau, die nach dem Verlust des gemeinsamen Kindes ins psychische Ungleichgewicht und dann aus der Bahn geraten war. Zum anderen insistiert Caroline, die mit der Leserin Einzelheiten aus der früheren Beziehung des Ehepaars erfährt: »›Diese Frau hat Ihr Studium finanziert?‹, fragte Caroline staunend. ›Schwer zu glauben, dass dieses Wrack solche Taten vollbracht haben soll‹.«37 Die Plotführung dieser Folge ist vergleichsweise unübersichtlich: Harte Schnitte in der Szenenreihung fordern einen aufmerksamen Leser. Allerdings erleichtert die repetitive Anlage des Romans das Verständnis und erlaubt den Wiedereinstieg ins Geschehen.38 Im Überblick: Das Verschwinden eines Kindes droht eine Familie zu zerstören (es handelt sich um den bereits erwähnten Dr. Marcus Nolte, dessen Ehefrau Nikoline sowie den gemeinsamen Sohn David). Die Ehefrau geht auf die Straße, keiner weiß, wo sie ist, bis sie als Obdachlose vor der Praxis Dr. Nordens auftaucht und zu jener Klinik gebracht wird, in der ihr 34 35 36 37 38

Sue, Geheimnisse, 5. Ebd., 6. Vandenberg, Familie, 5. Ebd., 7. Ebd., 17, 30, 36, 45 u. ö.

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Mann arbeitet. Am Ende stellt sich heraus, dass Nikoline selbst für Davids Verschwinden verantwortlich ist, ohne ihrem Ehemann etwas davon mitgeteilt zu haben. David ist nämlich der Sohn eines anderen Mannes, der darauf bestanden hat, das Kind zu sich zu nehmen. Marcus Nolte musste nun annehmen, David sei nicht mehr am Leben. Schließlich aber stirbt der leibliche Vater, und der Junge kehrt in die Familie zurück (Deus-ex-machina-Lösung).39 Verkompliziert wird die Handlung noch durch die Figur eines zweiten Jungen, der von einem betrunkenen Autofahrer, Leopold Miller, angefahren worden war. Leopolds Mutter, ein (Muster!) ›affenliebender‹ Mutterdrachen namens Adriana, hatte das verunfallte Kind in einer Schweizer Spezialklinik versorgen lassen und es danach auf ihrem Landhaus untergebracht. Dort wird es u. a. von der Geliebten Leopolds, der Krankenschwester Caroline (die zeitweise glaubt, es handle sich um Dr. Noltes Kind, und die Verwicklungen noch steigert), mit Medikamenten versorgt. Leopold selbst geht davon aus, den Jungen totgefahren zu haben; weil er nicht zu seiner Tat steht, wird er für seine Mutter erpressbar. Die Leserin aber weiß frühzeitig, dass Adriana lügt.40 Die doppelte Lösung greift zum einen ein aus dem Dr. Laurin-Beispiel bekanntes Muster auf: Der Sohn emanzipiert sich von der Mutter ; er bekennt sich zur Fahrerflucht und zu seiner Geliebten. Zum anderen wird auch der zweite Junge (der keine Eltern mehr hat) in die wieder zusammengeführte Familie Nolte integriert. Zugleich erwartet David ein Millionenerbe seines verstorbenen Vaters, wird also zusätzlich das finanzielle Glück der Familie begründen – so zentral finanzielle Vermögen für die Happy endings von Frauenromanen (Adels-, Arzt-, Liebesromanen) sind, eine so nachrangige Position nehmen diese in der romaninternen Werteskala ein: »Geld war nicht wichtig. Wichtig war allein die Liebe« (behauptet in erlebter Rede Dr. Nolte).41 Insgesamt entspricht das Finale jenem Muster, das Umberto Eco mit Bezug auf Les mystÀres de Paris die »Struktur der Vertröstung« nennt.42 Einer ›realistischen‹ Ausgangslage (Familie in Not) folgt eine ›phantastische‹ Lösung (der eigene Sohn lebt und kehrt reich zurück, ein Adoptivkind ergänzt die Gemeinschaft). Der Roman macht explizit auf diese Koppelung von ›Realistik‹ und ›Phantastik‹ aufmerksam. Über Dr. Nolte heißt es abschließend: »Nie war er

39 40 41 42

Vgl. dazu auch Wernsing / Wucherpfennig (1976), 29 (dort als »Salto Mortale« bezeichnet). Vandenberg, Familie, 12. Ebd., 65. Eco (1976), 61: »Man nehme eine existente alltägliche, aber ungenügend reflektierte Realität, in der man Elemente ungelöster Spannungen finden muß (Paris und sein Elend); man nehme ein Lösungselement, das im Gegensatz zur Ausgangsrealität steht […]. Wenn die Ausgangswirklichkeit tatsächlich ist […], dann muß das Lösungselement phantastisch sein. […] Dieses Element ist Rudolph von Gerolstein. Er besitzt alle Märcheneigenschaften […]«.

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glücklicher gewesen, als nach diesem Tag, nach dieser Geschichte, die so fürchterlich begonnen hatte und so märchenhaft endete.«43 Überhaupt ist in dieser Folge wie in vielen neueren Groschenromanen auffällig, dass selbstreferentielle Hinweise auf die mediale Spezifik der Lektüre aufmerksam machen. Stört dies das Vergnügen des ›naiven Lesers‹ nicht, weil er solche doppelten Böden ggf. gar nicht bemerkt, so ist der ›professionelle Leser‹ dafür umso empfänglicher :44 »So was liest man normalerweise nur in der Zeitung. Oder sieht es im Fernsehen«45 – oder wird damit eben in einem Groschenheft konfrontiert.46 Gerade die professionelle Leserin wird die Mechanismen der Serie zur Kenntnis nehmen, den Massenartikel Dr. Norden zu einem Markenartikel zu formen:47 zum Beispiel die Angebote des Textes, das Besondere im Allgemeinen herauszuarbeiten, indem die Beschreibungen eine superlativische Welt erzeugen – in dieser wird nicht einfach nur geliebt, sondern »abgöttisch geliebt«, unentwegt ›zerreißen‹ Herzen etc.48 Auch der Nebentext auf der Cover-Innenseite, der in Eigenwerbung feststellt, die Serie Dr. Norden sei »Mehr als ein Arztroman«, und auf die Homepage www.doktor-norden.de hinweist, ist als Individualisierungsstrategie erkennbar. Die eine Leserin möchte analysieren, was die andere ggf. für den eigenen Lebenszusammenhang produktiv machen kann: Das Groschenheft übernimmt – gerade in der Figur des Dr. Norden – die Funktion von Ratgeberliteratur, die in vielen Lebenslagen weiterzuhelfen weiß, zum Beispiel: »Wenn wir nicht manche Dinge ausblendeten, könnten wir keine Nacht mehr schlafen. Ich finde, die Natur hat das schon gnädig eingerichtet.«49 Ein verbindendes Element aller dieser Romane ist außerdem die Vermittlung einer bestimmten Grundeinstellung, die sich unter den Arbeitsbegriff ›Philosophie der Resignation‹ subsumieren lässt: »Es gilt, das Beste aus dem zu machen, was das Schicksal uns abverlangt.«50 Der Größe ›Schicksal‹ wird in den Romanen alles überantwortet, nicht selten über43 Vandenberg, Familie, 65. 44 Eine Zweiteilung, auf die Umberto Eco hinweist, sich darin implizit an Schillers Unterscheidung des ›großen Haufens‹ und der ›gebildeten Klasse‹ in der Bürger-Polemik anschließend; vgl. Eco (1990), 167 f.: »Serie: Jeder Text verlangt und erschafft sich stets zwei Arten von Modell-Leser. Der erste nimmt das Werk als rein semantisches Gebilde und wird zum Opfer der Strategien des Autors, der ihn Schritt für Schritt durch eine Reihe von Voraussagen und Erwartungen führt; der zweite bewertet das Werk als ästhetisches Produkt und beurteilt die Strategien, die der Text anwendet, um ihn zum Modell-Leser der ersten Art zu machen«. 45 Vandenberg, Familie, 8. 46 Ein weiteres Beispiel: »In welcher Klatschspalte haben Sie das denn gelesen?« (Vandenberg, Familie, 52). 47 Nach Wernsing / Wucherpfennig (1976), 3. 48 Vandenberg, Familie, 18, 19, 20 u. ö. 49 Ebd., 16. 50 Ebd., 32.

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tragen auf die Figur des die Serie betitelnden Arztes: »Keine Angst, mir wird schon was einfallen«, versichert Dr. Norden wiederholt.51 Wie die Arztromane gelten auch Adelsromane und Heimatromane in erster Linie als Subgenres des Frauen- als eines Liebesromans. Dass aber die »Handlungsabläufe« stets ›überschaubar‹ und ›eindimensional‹ seien und der Roman in erster Linie etwas biete, was »das Leben nicht zu bieten hat«, nämlich »eine simple Struktur«, »schicksalhafte Problemlösung« und »klare Tugendverteilung«, wie es in einer kulturanthropologisch-ethnologischen Arbeit aus den 1990er Jahren zum Heimatroman heißt,52 können schon die beiden bisher betrachteten Beispiele nicht bestätigen. Das alle diese Genres bestimmende handlungstragende Element ist ›die Liebe‹ – das gilt ganz besonders für Groschenromane wie Das stolze Schweigen, die bereits im Serientitel als »Liebesromane« im engeren Sinne ausgezeichnet sind; in diesem Fall handelt es sich um eine der Erfolgsautorin Hedwig CourthsMahler zugeschriebene Serie des Bastei-Verlags. Deren Serienuntertitel lautet bezeichnenderweise »Königin der Liebesromane«; der Untertitel der Folge selbst verweist auf einen Adelsroman: »Mitreißender Roman um die bezaubernde Ruth von Goseck«. Der Werbehinweis auf dem Cover »Neuauflage! Große Schrift!« grenzt nicht nur das Zielpublikum altersmäßig ein (›Große Schrift‹); auch auf die Erfolgsgeschichte und die Historizität des Gegenstandes wird damit angespielt (›Neuauflage‹). Letztere wird bereits zu Beginn der Folge konkretisiert: »Es war in der Vorkriegszeit, im Winter 1910«.53 Der auf diese Weise als Realfiktion eingeführte Plot lässt sich in der Tat als Strickmusterware beschreiben, wie diese von kommerziellen Adelsromanen erwartet werden kann. Der Plot selbst wird allerdings auch in kanonisierten Texten der (Welt-)Literatur gestaltet; einigermaßen zeitnah ist hier etwa an Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen von 1887 / 1888 zu denken. Die verarmte Adelstochter Ruth soll eine gute Partie machen und nicht etwa ihrer eigentlichen Liebe folgen; in einem längeren Monolog zu Beginn der Folge insistiert die Stiefmutter (Dina) des Mädchens auf dieser Lösung des finanziellen Problems der Familie. Die Figur der Dina hat dabei eine Doppelfunktion inne: Sie ist einerseits Handlungsträgerin, andererseits interpretiert bzw. motiviert sie das eigene Verhalten und deutet so auch einen möglichen weiteren Handlungsverlauf an: »Wir sind doch beide keine Kampfnaturen«.54 Mit dieser Diagnose unterschätzt sie allerdings ihre Stieftochter Ruth, die sehr genau weiß, was sie will: Sie möchte nicht den reichen 51 52 53 54

Ebd., 34. Present (1993), 143. Courths-Mahler, Schweigen, 1. Ebd., 2.

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Majoratsherr Heinz von Rainsberg heiraten, sondern dessen weitgehend mittellosen Neffen Hans, der auch sie liebt. Dass sich insgesamt drei Männer für sie interessieren, neben Hans und Heinz noch dessen zweiter Neffe Walter, der die Rolle des Intriganten im Stück übernimmt, ficht das junge charakterstarke Mädchen zu keiner Zeit an. Eine Entwicklung der Figur ist so weder vorgesehen noch notwendig. Das erste Hindernis der späteren Ehe wird schnell beseitigt: Heinz akzeptiert den Korb und nähert sich stattdessen Ruths Stiefmutter Dina an;55 als hartnäckigeres zweites Hindernis erweist sich Walter, der zum einen seinen Onkel tötet56 – damit durchkreuzt er nebenbei zudem die Heiratspläne Dinas –57, um dann die Erbfolge anzufechten und sich erfolgreich an die Stelle seines Vetters Hans zu setzen.58 Zum anderen hintertreibt er aus Eifersucht die Verbindung zwischen Hans und Ruth, womit er vor allem deshalb Erfolg hat, weil Hans zeitweilig dem etablierten Muster ›Ferdinand von Walter‹ (Schiller, Kabale und Liebe) folgt. Er fällt auf Walters Intrige herein und traut jener überaus geliebten, integren und charakterlich gefestigten Frau, die eigentlich über jeden Verdacht erhaben und zudem mit ihm selbst so gut wie verlobt ist, einiges zu. Insbesondere verdächtigt er sie, sich dem jeweils Erstbesten (erst Heinz, dann Walter) an den Hals zu werfen: »Wie konnte Ruth sich an diesen Menschen verkaufen? […] Wie eine Ware lässt sie sich verkaufen, von Hand zu Hand«59. Weil sich Vetter Walter, vom schlechten Gewissen gepackt, schließlich selbst entleibt (Deus-ex-Machina-Lösung) und Stiefmutter Dina die Situation zwischen den Liebenden klärt, steht dem Happy End erwartungsgemäß dann doch nichts mehr entgegen. In diesem Roman werden die üblichen Schemata strikt durchgeführt, Abweichungen oder Variationen lassen sich kaum beobachten. Im Mittelpunkt steht das Motiv ›Liebesheirat‹, die einer ›Konvenienzehe‹ vorzuziehen sei, wie dies gerade in den Redepassagen der jungen Frau Ruth auf jeder zweiten Seite des Textes betont wird.60 Überhaupt gehört die Redundanz zu den herausragenden Strukturmerkmalen dieses Romans. Sehr häufig betont der Erzähler Walters Hass und rasende Eifersucht (die stereotypische Beschreibung dafür lautet: seine Augen ›glühen auf‹);61 in Kontrast dazu steht – ebenso häufig – der 55 56 57 58 59 60

Ebd., 28 und 35 f. Ebd., 38. Ebd., 36. Ebd., 43. Ebd., 63. »Mama – du könntest mir wirklich raten, einem Mann die Hand zu geben, den ich nicht liebe […]?« (ebd., 3). – Dieses Grundmotiv wird in der Rede des Mädchens fortan permanent wiederholt (ebd., nochmals 3, 4, redundant vor allem 9 f., wiederholt in der rückblickende Rede an Hans, 13, etc.). 61 Ebd., 7, 11, 14 f., 21, 23, 29 u. ö.

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Hinweis auf die charakterliche Stärke des Mädchens, die auf einer Art ›natürlichen Unschuld‹ zu beruhen scheint. Jedenfalls ist sie aufgrund ihrer Naivität zugleich nicht in der Lage, Walters Intrigen auch nur zu erahnen, geschweige denn zu durchschauen: Da glühten sie seine dunklen Augen an, so dass sie erschrak. »Jung gehört zu jung – alt zu alt, sonst gibt es einen Missklang«, sagte er heiser. Ehe sie etwas erwidern konnte, trat er von ihr fort. Sie hatte ein unangenehmes Empfinden. Was hatte er mit seinen Worten sagen wollen, und was glühten seine Augen so unheimlich in die ihren?62

Nur die Figur wundert sich an dieser Stelle noch; die Leserin ist von Beginn an hinreichend auf das Bedrohungsszenario vorbereitet worden. Auch in diesem Text finden die Konflikte damit allein auf der Ebene der Figuren statt. Sie werden vor allem möglich, weil die Figuren nicht miteinander sprechen. Durch auktoriale Lenkung des Erzählers ist dabei die Leserin stets in die Geheimnisse der jeweiligen Partei eingeweiht – dieser Liebesroman setzt in erster Linie auf die Spannungsform des Suspense: Die Leserin muss es aushalten, wenn Sympathieträger des Textes ihrem (zeitweiligen) Unglück nicht auszuweichen in der Lage sind, weil sie die Voraussetzungen nicht kennen. Leitende Instanz ist auch hier wieder ›das Schicksal‹, das allerdings nicht (wie im oben genannten Arztroman) auf das Handeln fiktionsintern-irdischer Instanzen transformiert wird. Den Deus-ex-Machina-Mechanismus löst der Erzähler aus; letztendlich ist es die Autorin, die als altera Dea agiert (und sich, vom Textbefund her gesehen, auch so versteht). In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass aus heutiger Sicht die zur Jahrhundertwende ›um 1900‹ angesiedelte und auch zu dieser Zeit entstandene Handlung dieses Hefts jene »Literatur der sozialen und weltanschaulichen Verspätungen«63 archiviert, die dem Groschenroman in den 1970er Jahren flächendeckend unterstellt wird. Schon eher eine »Welt von heute«64 schildert dagegen, bezogen auf das Zielpublikum, Toni Waidachers Keine Angst vor der Liebe! der Kelter-Serie Der Bergpfarrer. Die Leserin wird auch in dieser Serie vielfach angeschlossen – auffällig ist etwa, dass dafür selbst die Fiktionsgrenzen zwischen Text und Nebentext aufgebrochen werden. Auf der Innenseite des Covers bietet die Folge ein Kochrezept »aus der Pfarrhausküche«, unterzeichnet von Sophie Tappert, die zugleich eine Figur des Textes ist. Auf den ersten Blick bleibt, wie es sich für die ›Logik des Groschenromans‹ gehört, die grundsätzliche Anlage des Frauenromans erhalten: Bereits der Untertitel antizipiert den positiven Ausgang der Verwicklungen (»Es wird sich alles fügen…«). Die Haupthandlung ist typisch für einen Heimatroman, wenn hier ein skrupelloses Bauvorhaben auf den Wi62 Ebd., 23. 63 Zitiert nach Hügel (2007), 265. 64 Hügel (2007), 265.

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derstand von einheimischen Umweltschützern und Grundbesitzern trifft. Die gesellschaftlichen Spitzenpositionen im Dorf besetzen der Bürgermeister, Markus Bruckner, und der Pfarrer, Sebastian Trenker – dem Subgenre »Bergroman« entsprechend steht (wie das Redeverhalten nahelegt) der Pfarrer über dem Bürgermeister, jedenfalls duzt er diesen, während er selbst gesiezt wird (Modell ›Don Camillo und Peppone‹).65 Auch in diesem Roman wird ›verlässlich‹ erzählt, wiederholende, vorausdeutende oder rückblickende Passagen erzeugen unterschiedliche »Aufmerksamkeits-Anlässe«, die es erlauben, immer wieder neu »in die Lektüre einzusteigen«.66 Darüber hinaus kann die Leserin darauf vertrauen, dass sich der Intrigant (der Bürgermeister) gegen den Helden (den Pfarrer) keinesfalls wird durchsetzen können. Auch unabhängig vom Genrewissen wird dies immer wieder explizit deutlich gemacht, etwa in der Rede des Pfarrers: »[E]ines versprech’ ich dir – diese Gletscherbahn wird niemals gebaut werden!«67 Den Groschenroman durchzieht ein Sicherheitsnetz. Dies gilt nicht nur für diese Folge oder allein für den in meinem Beitrag ausschließlich betrachteten Frauenroman, sondern für alle Groschenheft-Genres, insbesondere für diejenigen mit gleichbleibenden Helden. An die Stelle des Modells ›Schiffbruch mit Zuschauer‹ (nach Hans Blumenberg) tritt hier das Modell ›Zuschauer ohne Schiffbruch‹. Die Leserin beobachtet nur scheinbar existenziell bedrohliche Situationen, und sie weiß dies. Auch der Bergpfarrer in vorliegender Folge hat stets alles im Griff. So stabil das Schema, so interessant die Abweichungen: Die Handlungsführung beschränkt sich nicht auf einen – den zentralen Konflikt behandelnden – Strang, der sich, wie im oben genannten ›Sinuskurven-Modell‹ beschrieben, aus aneinander gereihten Konflikten zusammensetzte. Vielmehr ist sie episodisch strukturiert, wobei einzelne Episoden eigene, für die Haupthandlung völlig dysfunktionale Nebenlinien bilden. Der Beginn des Textes etwa verhandelt einen vermeintlichen Anschlag auf ein Madonnenbild, das die Kirche von Sebastian Trenkers Amtsbruder Blasius Eggensteiner schmückt. Das ›Verbrechen‹ wird rasch aufgeklärt, um, wie nebenbei, den seriengebenden Protagonisten Sebastian Trenker einzuführen. Die charakterlichen Qualitäten des ›guten Hirten von St. Johann‹, wie er im Text wiederholt heißt, zeigen sich nicht zuletzt im Kontrast zu seinem unsympathischen Amtsbruder Eggensteiner. In diese (um weitere Episoden ergänzte) Nebenhandlung eingeschoben sind Episoden, die Figuren vorstellen, die sich schließlich als wichtige Nebenfiguren des Textes erweisen werden: die Bäuerin und Witwe Christel Hochtaler, cha-

65 Waidacher, Keine Angst, 60. 66 Hügel (2007), 268 f. 67 Waidacher, Keine Angst, 21; vgl. auch 44, 46, 51.

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rakterfest, treu und so schön, dass sie den Männern den Verstand rauben kann,68 sowie Bürgermeister Bruckner und Ingenieur Hartmut Lederach, die ein Bauvorhaben unter anderem auf dem Grundstück Christels realisieren möchten.69 Ein weiterer Handlungsstrang entwickelt die sich anbahnende Liebe zwischen der Bäuerin und dem Ingenieur, die allen künftigen Intrigen des Bürgermeisters von vornherein die giftige Spitze nimmt.70 Dabei werden die Verwicklungen nicht nur – wie bei Courths-Mahler etwa in den Dialogen – benannt, sondern erzählt. Der durchweg dialogisch-dramatische Modus dieses Erzählens fügt explizite Erzählerkommentare sehr behutsam ein. Das Schreiben in Schemata setzt jetzt eher darauf, dass die Leserin nur wenige Verständnis- und Deutungsschwierigkeiten hat. Eines auktorialen Kommentars bedarf es also kaum mehr. Der ›hermeneutische Holzhammer‹, der die CourthsMahler-Folge dominierte, kommt hier nicht zum Einsatz. Auch die deskriptiven Passagen des Textes bedienen sowohl Erwartungen ans Klischee als auch an variierende Abweichungen davon, Wiederholungen derselben Phrasen werden weitgehend vermieden. Die Figuren dürfen – bei aller Charakterstärke – inkonsequent handeln, was ihnen eine vergleichsweise neue Vielschichtigkeit verleiht. Die Witwe Christel Hochtaler, die dem typischen Figurenarsenal des Frauenromans zufolge die Rolle der von Gefahren bedrohten, dennoch unangefochtenen Heldin einnimmt, wird ihren Prinzipien untreu. Während CourthsMahlers Ruth im oben gegebenen Beispiel den anfänglich formulierten Grundsätzen konsequent folgt (›Ich heirate nur aus Liebe oder gar nicht‹), ist Christel schließlich bereit, das ›unmoralische‹ finanzielle Angebot des Bürgermeisters anzunehmen, den Hof zu verkaufen und mit ihrem Geliebten, dem leitenden Ingenieur, in die Stadt zu ziehen.71 Allein dessen Intervention verhindert den Ausverkauf der bäuerlichen Ideale. Zu Beginn hatte es aus ihrem Mund noch geheißen: »[B]evor ich den Hof hier verkauf ’, da werden die Berge abgetragen!«72 Typische Merkmale des Heimatromans konstituieren den Text,73 werden aber in eine vergleichsweise komplexe Erzählstruktur eingebunden und variiert. Dass einem Großteil der Groschenheftreihen mit abgeschlossenen Folgehandlungen und gleichbleibenden Helden jener dreigliedrige Aufbau zugrunde liegt, der massenproduzierter Literatur insgesamt zu eigen ist – die Abweichung von einer weltanschaulich stabilen Ausgangslage führt zu einer Restabilisierung

68 69 70 71 72 73

Ebd., 8 – 10. Ebd., 13 – 16. Vgl. explizit ebd., 38. Ebd., 63. Ebd., 36. Vgl. dazu Present (1993).

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dieser Lage –,74 gibt über die Eigenheiten dieses Erzählens selbst keinerlei ertragreiche Auskünfte. Soll die ›Logik‹ des Groschenromans in seiner gesamten Bandbreite systematisiert werden, müssten die unterschiedlichen Genres mit ihren je eigenen ›Logiken‹ ebenso in den Blick genommen werden wie die Geschichte der Gattung an sich. Western-Romane der Bastei-Serie G. F. Unger. Seine grössten Western-Erfolge unterscheiden sich erzählerisch von den Folgen der ebenfalls bei Bastei erscheinenden Lassiter-Serie (Lassiter. Der härteste Mann seiner Zeit); die »Classic-Ausgabe« der Bastei-Serie G-man Jerry Cotton von den neueren Romanen unter dem Serien-Titel G-man Jerry Cotton. Der Kriminalroman, von dem die Welt spricht; und Science-Fiction-Klassiker wie die Pabel-Moewig-Reihe Perry Rhodan bilden ohnehin eigene Erzähl-Universen aus etc. Die Überlegungen zu Beispielen aus einigen erfolgreichen Frauen-Serien sollten zu weiterführenden Untersuchungen erste Anregungen geben.

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II. Formbeziehungen

G¦rard Laudin

Geschichtsbuch oder Roman? Voltaires Umgang mit historischen Quellen in seinen Beiträgen zur Reichshistorie

»Fabeln, Romane und Voltaires«1: das lapidare, stilistisch beinah ›voltairsche‹ Urteil des Göttinger Historikers August Ludwig Schlözer rezipiert einen Topos der deutschen Aufklärungshistorie, der Voltaire als fabulierenden Historiker, als »angenehmen Lügner«2 sieht. Zur Formierung dieses Bildes haben unter anderem die Göttingischen Gelehrten Anzeigen nicht wenig beigetragen: Voltaires erste historische Schriften – Histoire de Charles XII (1730), Le SiÀcle de Louis XIV (1751) später auch seine Annales de l’Empire (1753 – 54) – wurden äußerst kritisch besprochen,3 ihm wurde ein fahrlässiger Umgang mit den Quellen in einem scharfen Ton vorgeworfen, der Nonnottes Les erreurs de Voltaire vorwegnimmt.4 Doch fallen Rezensionen anderer Schriften gemäßigter, ja sogar widersprüchlich aus: Werden erhebliche Mängel an seiner Histoire de l’empire de Russie sous Pierre le Grand (1759) kritisiert, so sind doch deren Passagen zum Haus Romanow »bis auf einige kleine Fehler nach, richtig, und angenehm zu lesen« und würden es sogar »verdien[en], in die deutsche Sprache übersetzt zu werden«.5 Und selbst wenn »das viele fehlerhafte« in Voltaires Annales de l’Empire seine »vermeintliche Teutsche Reichs-Historie« verunstaltet, muss der Rezensent doch einräumen, dass »einige sinnreiche Einfälle und politische Anmerkungen das beste in diesem Buch« sind.6 Alles in allem und trotz einiger 1 Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 221 (Kap. I: »Begriff der systematischen Weltgeschichte«). 2 So Friedrich Nicolai. Die umfangreichste Materialsammlung zur Rezeption Voltaires in Deutschland bleibt Korff (1917); zu Voltaire als Historiker vgl. 341 – 373. Nicolais Zitat befindet sich ebd., 351. Vgl. auch die Beiträge von Otto Dann, Henri Duranton, Dieter Gembicki, Notker Hammerstein und Sven Stilling-Michaud in Brockmeier / Desn¦ / Voß (1979). Diaz (1958) hat die erste wichtige Untersuchung zu Voltaire als Historiker verfasst. 3 Anonym, [Rez.] Le SiÀcle de Louis XIV, 331; Anonym, [Rez.] Annales de l’Empire, 1754, 539, und 1756, 320. Zu den Rezensionen Voltaires in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen vgl. Knabe (1978), 79 – 95. 4 Nonnotte, Les erreurs de Voltaire. 5 GGA 1761, 135. 6 GGA 1754, 549 – 550.

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Einschränkungen kann behauptet werden, dass gerade gegen Voltaires »vermeintlich unernste, weil leichthändige Behandlung der Geschichte sich die eigene (›deutsche‹) Gründlichkeit profilieren sollte«: Der Vorwurf der um Quellentreue unbekümmerten Geschichtsschreibung »indiziert die mentale Kluft zwischen französischer und deutscher Aufklärungshistorie«.7 Erst Historiker der späteren Generation wie Spittler, Planck oder von Müller erkennen die Übereinstimmungen zwischen Voltaires historiographischen Perspektiven und ihren eigenen (in erster Linie gesamtkulturgeschichtlichen).8 Es werden aber nicht nur Fehler getadelt, sondern zudem politische, antiparlamentarische (i. e. absolutistische) Gesinnungen angeprangert. So etwa in der Besprechung seiner ansonsten in vielen Punkten gelobten Histoire du Parlement de Paris (1769).9 Voltaires absolutistische Ausrichtung hat ihm die Sympathie in Deutschland schwer verscherzt.10 Neben Fehlern und politischen Ansichten werden auch epistemologische Defizite bedauert. Die erste Ausgabe des Essai sur les moeurs11 wird von den Göttingischen Gelehrten Anzeigen als bloße »Sammlung von Gemählden« kritisiert.12 Und in einer von Schlözers Göttinger Kollegen Johann Christoph Gatterer herausgegeben Zeitschrift wird die Philosophie de l’histoire de feu l’abb¦ Bazin (1765), die später als umfangreiche Einleitung zum Essai fungiert, ebenfalls als »nur abgesonderte Stücken [sic], einzelne Brocken« betrachtet, »die der Verfasser, so wie es ihm gut dauchte, hingeworfen hat«.13 Gatterer vermisst in dieser Schrift, von der er sich so viel versprach,14 einen »zusammenhängenden Plan«. Allerdings formuliert er eben denselben Vorwurf gegen die universalhistorischen Bücher seiner Vorgänger im Fach: »Die Geschichte, die ganz Zusammenhang seyn soll, ist hier in lauter kleine abgesonderte Stückchen zerschnitten«.15 Deswegen wäre »ein Buch über die Philosophie der Historie« ein besonders »schätzbares Buch für Europa, und zumal für Teutschland in unsern Tagen!« gewesen. 7 8 9 10 11

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Fulda (1996), 118 – 119. Dann (1979). Auch Fueter (1936), 377 – 380. GGA 1770, 153 ff. und 1773, 682 ff. Vgl. hierzu Hammerstein (1979). Dieses Werk, an dem Voltaire episodisch seit den 1740er Jahren, regelmäßig seit seinem Potsdamer Aufenthalt ab 1750 arbeitete, wurde mehrfach überarbeitet und erschien zuerst 1753 als Abr¦g¦ de l’histoire universelle depuis Charlemagne jusqu’— Charles Quint, dann 1756 als Essai sur l’histoire g¦n¦rale, et sur les moeurs et l’esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’— nos jours. Die Ausgabe von 1769 trägt den endgültigen Titel Essai sur les moeurs et l’esprit des nations. GGA 1754, 101. Allgemeine historische Bibliothek, Bd. 1 (1767), 219. »Ein Buch über die Philosophie der Historie – welch ein schätzbares Buch für Europa, und zumal für Teutschland in unsern Tagen!« Ebd., 215. Ebd., 219.

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Sowohl bei Voltaire als auch bei den deutschen Historikern verstößt das Fragmentarische in der Darstellung gegen die Erwartung einer Geschichtsschreibung, die nach dem Modell der connexio rerum universalis leibnizscher Provenienz die Zusammenhänge und die Kausalitätsverhältnisse in der Menschheitsgeschichte aufweist.16 Wohl deswegen kann Herder im Journal meiner Reise im Jahr 1769 über Voltaire schreiben: »mit ihm wird die Historie verunstaltet; ohne ihn noch mehr verunstaltet«.17 Voltaires teilweise ›Rettung‹ erfolgt hier als Angriff gegen die deutsche Geschichtsschreibung. Ebenso bereits 1764 beim Theologen Thomas Abbt, der auch der Verfasser einer Geschichte des Menschlichen Geschlechts so weit selbige in Europa bekant worden vom Anfange der Welt bis auf unsere Zeiten (1766) ist: »Ich betrachte ihn [Voltaire] immer als meinen Lehrer, nicht in der Geschichte, sondern in der Kunst dabei zu denken. Er hat mir die Logik der Geschichte beigebracht.«18 Neben der Notwendigkeit eines epistemologisch und politisch akzeptablen historischen Diskurses beginnen viele deutsche Historiker zu erkennen, dass die Geschichtsschreibung erst dann ihre traditionelle Funktion einer magistra vitae erfüllen kann, wenn die Lektüre historiographischer Prosa imstande ist, einen plaisir du texte hervorzurufen. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird zudem ihre Wichtigkeit in der Ausbildung des cives immer häufiger betont. Deswegen empfiehlt Gatterer seinen »historischen Landsleuten«, die sich zu häufig als »geschmacklose Kompilatoren«19 profiliert haben, in den programmatischen Editorialen seiner beiden Zeitschriften – Allgemeine historische Bibliothek und Historisches Journal – »den guten Geschmack der Alten«, etwa eines Livius, oder die den französischen Historikern eigene »Anmuth der Schreibart und Unterhaltung des Lesers«20 nachzuahmen, damit sie »nicht nur unterrichtend, sondern auch unterhaltend«21 schreiben, somit dem delectare gerecht werden – natürlich unter der Voraussetzung, dass dies nicht zu Lasten der historischen Wahrheit geht.22 In verschiedenen Aufsätzen geht Gatterer wiederholt auf diese Thematiken ein, etwa mit der Empfehlung, »Scharfsinn und Wahrheitsliebe der Teutschen mit der Anmuth der französischen Leichtigkeit« oder »ächte Teutsche Gründlichkeit mit Französischer Anmuth« zu verbinden.23 Indem Gatterer von »Zusammenfügung der Erzählungen« (bereits im Titel 16 17 18 19 20 21 22

Siehe hierzu Laudin (1997a). Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, 417. Briefe, die neueste Literatur betreffend, 296. Brief, Bd. 20 (1764), 3 ff. Historisches Journal, Bd. 1 (1772), 48. Ebd., 47. Allgemeine historische Bibliothek, Bd. 1 (1767), 168. Ebd.: »Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen«; Historisches Journal, Bd. 1 (1772), »Vorrede«, und 47 – 48. Siehe hierzu Laudin (1997b). 23 Respektiv Allgemeine historische Bibliothek, Bd. 3, 213, und Historisches Journal, Bd. 1, 56.

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des Aufsatzes »Vom historischen Plan«) und von »Geschichtkunst« spricht, lässt er deutlich erkennen, dass er die gängige, an Aristoteles (Poetik, Kap. 9) oder an Cicero (De Oratore, II, 9, 36) angelehnte Terminologie der Theoretiker der Rhetorik wie etwa Gerhard Johann Voß [Vossius]24 übernehmen und mit neuem Inhalt füllen will. Schlözers »Fabeln, Romane und Voltaires« knüpft ebenso an die in der traditionellen Rhetorik vorgenommene Unterscheidung zwischen historia (wahre Erzählung), argumentum (nicht wahre, aber wahrscheinliche Erzählung) und fabula (weder wahre noch wahrscheinliche Erzählung) an. Im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Mablys La maniÀre d’¦crire l’histoire unterscheidet Schlözer zwischen »GeschichtMaler«, »GeschichtSammler«, »GeschichtForscher«, »GeschichtSchreiber«, »GeschichtMagazinist«.25 In der Hierarchie oben steht der Geschichtsmaler, er ist aber völlig abhängig von allen anderen, deren Forschungsergebnisse er in Personalunion von Forscher und Künstler synthetisiert und literarisch gestaltet: Ich stelle mir nämlich die ganze Geschichtschreiberei als eine große unendlich zusammengesetzte Fabrike vor, wo hundert Meister von ganz verschiedenen Metiers, und tausend Handlanger, einander in die Hände arbeiten müssen.26

Schlözers Lob auf Mably, der dem Historiker eine Nachahmung der von den antiken Historikern praktizierten fiktiven Reden empfiehlt, heißt nolens volens der belletristischen Geschichtsschreibung eine gewisse Pertinenz zuzugestehen. Dass Voltaire in solchen Zusammenhängen nie erwähnt wird, lässt sich als absichtliche Ablehnung deuten. Bei Schlözer wird gleichsam Mably gegen Voltaire ausgespielt. Auch Voltaire und vor ihm Le Moyne oder Saint-R¦al gehören dieser rhetorischen Tradition historiografischer Prosa an. Mit Bezug auf Vossius schreibt der Jesuit Le Moyne: L’Histoire est une narration continuÚ de choses vrayes, grandes & publiques, ¦crite avec esprit, avec ¦loquence & avec jugement, pour l’instruction des particuliers & des Princes, & pour le bien de la Soci¦t¦ civile.27

Die Geschichtsschreibung erfüllt die doppelte Funktion von prodesse et delectare: »l’Histoire & la PoÚsie sont alli¦es«28 und »[l’histoire est] un Theatre pour les bons Princes & un Echaffaud pour les mauvais«. Allerdings fragt sich Le Moyne, ob »il est n¦cessaire que l’Historien soit homme d’Estat & homme de 24 Voss, Ars historica. 25 Vorwort zur Übersetzung von Mably, De la maniÀre d’¦crire l’histoire / Von der Art die Geschichte zu schreiben. 26 Ebd., 13 – 14. 27 Le Moyne, De l’Histoire, 321. Vgl. hier 76 – 77. 28 Ebd., Artikel 1, 1.

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guerre«,29 ohne jedoch die wenig späteren, kritischen Überlegungen der Vertreter des historischen Pyrrhonismus zu antizipieren. Voltaires erste, von den Göttingischen Gelehrten Anzeigen am meisten kritisierten historischen Werke – Histoire de Charles XII und Le SiÀcle de Louis XIV – wimmeln von Anekdoten und Erzählungen militärischer Kampagnen und bleiben somit dieser Narrativik weitgehend verpflichtet. Die Annales de l’Empire sind hingegen beinahe gänzlich frei von diesen Berichten. Der Essai entspricht insofern einer moderneren Form der Geschichtsschreibung, als Voltaire auf den annalistischen Duktus gänzlich verzichtet und in jedem Kapitel ein bestimmtes Thema (häufig in Verbindung mit einem Herrscher) behandelt: so etwa das Feudalsystem am Beispiel der Nachfolger Karls des Großen (Kap. 33) oder den Investiturstreit am Beispiel des Machtkampfes zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. (Kap. 46). Analogien oder Differenzen werden zwischen Ereignissen und Situationen betont, somit Regelmäßigkeiten im Geschichtsablauf. Die am häufigsten benutzten Quellen sind die zehn Bände der Histoire de l’Empire von Johann Heiss von Kogenheim (1684, neue, ergänzte Ausgabe 1731) und die elf Bände der Histoire g¦n¦rale d’Allemagne vom Pater Joseph Barre (1748). Herangezogen werden auch die Histoire eccl¦siastique des Abbts Claude Fleury (1691 ff.) und des Jesuiten Gabriel Daniel Histoire de France depuis l’¦tablissement de la monarchie franÅoise dans les Gaules (1729), sowie sporadisch viele weitere Quellen wie die Introduction — l’histoire g¦n¦rale de l’univers von Samuel Pufendorf (den Voltaire in der Übersetzung von Bruzen de la MartiniÀre [1722] gelesen hat). Alle diese Werke, meistens chronologisch-annalistisch aufgebaut, beruhen auf zitierten Quellen aus erster Hand, die zum Beispiel den Werken prominenter antiquarii wie Goldast, Baluze, Muratori, Conring oder anderer angehören. Zudem recherchierten für ihn – mehr oder weniger freiwillig – ›echte‹ Gelehrte zum Teil ersten Ranges: in Gotha der Bibliothekar des Herzogs, im Elsass Dom Calmet, Johann Michael Lorenz, Christian Friedrich Pfeffel und Johann Daniel Schöpflin. Tatsächlich lassen sich bei der bereits fortgeschrittenen Arbeit an der kritischen Edition sowohl des Essai als auch der Annales beinahe alle Aussagen an diesen Quellen belegen, die nicht selten miteinander von Voltaire kombiniert oder konfrontiert werden. Die kritische Methode von Bayles Dictionnaire historique et critique (1697) blieb bei ihm nicht ohne Spur. Meistens werden die Stich- oder Schlüsselwörter von Fleury, Barre oder Heiss wörtlich und miteinander verflochten übernommen.30 In anderen Fällen paraphrasiert er Elemente. Um nur ein Beispiel zu zitieren: Der Bericht von Jan Hus’ Verbrennung (»il loua 29 Ebd., 27. 30 Vgl. hierzu Laudin (2007).

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Dieu jusqu’— ce que la flamme ¦touff–t sa voix«31) leitet sich her aus Barre (»br˜l¦ vif, sans avoir jamais voulu se r¦tracter«32) und Fleury : »On alluma le feu, & un gros tourbillon de flammes, pouss¦ par le vent contre son visage, entra dans sa bouche, & lui úta la vie«.33 Sind die ›Kritiken — la Nonnotte‹ somit unbegründet? Nach Schlözers Typologie der Produzenten eines geschichtlichen Diskurses steht Voltaire auf der Stufe des Geschichtsmalers. Aber spätestens seit den Arbeiten von Hayden White (Metahistory, 1973, deutsche Übersetzung: Auch Klio dichtet, 1986) und Paul Ricœur (Temps et r¦cit, 1983) haben zahlreiche Forschungsarbeiten untersucht, was schon Johann Martin Chladni [Chladenius] Allgemeine Geschichtswissenschaft (Leipzig 1752) andeutete: das Ineinanderübergehen von Faktizität und Fiktionalität auch im die strengsten Kriterien der Wissenschaftlichkeit erfüllenden, d. h. auf ›belegtem‹ Material beruhenden historischen Diskurs – und dies aufgrund der Diskursivität oder der Logik der Prosa selbst. Die Art der »Zusammenfügung der Erzählungen« (mit Gatterer gesprochen) kann Falsches mit restlos authentischem Material entstehen lassen. Der Umgang von Voltaire mit seinen Quellen soll nachfolgend an einigen Beispielen dokumentiert werden. Gegenstand der kritischen Überprüfung werden in erster Linie ironisch wirkende Passagen sein. Im Kontext des mittelalterlichen Investiturstreits zur Zeit Kaiser Heinrichs V. schreibt Voltaire: [Henri V] descend donc des Alpes avec une arm¦e, et Rome fut encore teinte de sang pour cette querelle de la crosse et de l’anneau. […] Il fut donc d¦cid¦ dans un concile tenu — Rome, que les rois ne donneraient plus aux b¦n¦ficiers canoniquement ¦lus les investitures par un b–ton recourb¦, mais par une baguette. L’empereur ratifia en Allemagne les d¦crets de ce concile: ainsi finit cette guerre sanglante et absurde.34

Einem blutigen Krieg setzt eine auf einem Konzil getroffene Entscheidung ein Ende, die darin besteht, als Insignien der Macht einen krummen (b–ton recourb¦) durch einen geraden Stab (baguette) zu ersetzen. Hier werden Ausdrücke und Formulierungen aus zwei Textstellen von Heiss übernommen: »l’Empereur investissoit par la Crosse & l’Anneau, ceux qu’on auroit ¦l˜s canoniquement, & de son consentement«.35 Da dadurch eine Verwechslung mit den päpstlichen Insignien (Bischofsstab und Ring) möglich ist, 31 32 33 34

Voltaire, Annales de l’Empire, Kap. 37 (»Sigismond«). Barre, Histoire g¦n¦rale d’Allemagne, Bd. 7, Jahr 1414 – 15, 185. Fleury, Histoire eccl¦siastique, Buch 103, § 110, 352. Zitiert werden die Kapitel 1 – 102 des Essai sur les moeurs et l’esprit des nations nach der neuen und zur Zeit noch nicht vollständigen kritischen Ausgabe Oeuvres complÀtes, Bd. 22, 23 und 24 (OCV); die weiteren Kapitel nach der Ausgabe von Ren¦ Pomeau (Voltaire, Essai sur les moeurs). Hier: OCV, Bd. 23, 158 – 160. 35 Heiss Histoire de l’Empire, Buch II, Kap. 10, ann¦e 1111, 396.

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wurde entschieden, »que l’Elu recevrait de l’Empereur l’Investiture des Fiefs et droits Seigneuriaux, non avec une Crosse, mais par le Sceptre, ou par quelque baguette«.36 Das Humoristische in Voltaires Satz entsteht durch die Symmetrie von baton recourb¦ (statt crosse und sceptre) und baguette. So wird nahegelegt, dass die Form des Stabs entscheidend sei, und dies umso mehr, als er einen anderen Satz Heiss’ weglässt (»on s’imaginait que la crosse et l’anneau ¦taient quelque chose de sacr¦«). Wenn Voltaire an anderer Stelle schreibt: »Le pape s’enfuit d¦guis¦ en postillon sur les terres de Jean d’Autriche, comte du Tyrol«,37 übernimmt er einen Ausdruck aus seinen ohnehin übereinstimmenden Quellen: Der Papst ergreife die Flucht »en palefrenier sur un mauvais cheval«,38 »en habit d¦guis¦«,39 »en palefrenier ou en postillon«.40 Die halbherzige Bekehrung der Dänen wird folgendermaßen erwähnt: »Othon le Grand ¦tablit des ¦vÞques en Dannemark […]. Tout ce christianisme consistait — faire le signe de la croix«.41 Genau denselben ironisch klingenden Ausdruck benutzt auch der katholische Kirchenhistoriker Fleury : »La joie ¦toit grande […]. Mais la pl˜part de ces nouveaux chr¦tiens se contentaient de recevoir le signe de la croix […] & diff¦roient le baptÞme jusqu’— la fin de leur vie«.42 Viele Textstellen lesen sich als Umschreibungen der Quellen. Papst Gregor VII. soll durch »la voix publique« gewählt worden sein.43 Fleury schreibt, er wurde gewählt »du consentement des abb¦s, des moines et du peuple, qui le t¦moigna par de fr¦quentes acclamations«.44 Falls in den Berichten der Historiker Divergenzen auftreten, auf die er nicht eingehen will, äußert sich Voltaire meist sehr vorsichtig. Er schreibt zum Beispiel, dass die Schweizer in der Schlacht bei Marignan die Flucht ergriffen hätten, »laissant sur le champ de bataille plus de dix mille de leurs compagnons«.45 Bei Daniel heißt es: »il y p¦rit, selon nos Historiens, quinze mille Suisses, et leurs meilleurs Capitaines: les autres n’en mettent que dix mille«; und bei Barre: »Comme les historiens, mÞme contemporains, ne conviennent pas du 36 37 38 39 40 41 42 43

Heiss, Buch II, Kap. 10, Jahr 1122, 410. Voltaire, Annales de l’Empire, Kap. 7 »Sigismond«. Barre, Histoire g¦n¦rale d’Allemagne, Bd. 7, Jahr 1415, 163. Heiss, Buch 2, Kap. 30, Jahr 1415, 294. Fleury, Histoire eccl¦siastique, Buch 102, § 161, 247. Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 34 »D’Othon le Grand au Xe siÀcle«, OCV, Bd. 22, 478. Fleury, Histoire eccl¦siastique, Buch 49, Jahr 854, § 20. Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 46 »De l’empire, de l’Italie, de l’empereur Henri IV«, OCV, Bd. 23, 126. 44 Fleury, Histoire eccl¦siastique, Buch 62, Jahr 1073, § 1. 45 Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 122 »De Charles Quint et de FranÅois Ier«, Pomeau, Bd. 2, 177.

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nombre des morts tant du cút¦ des FranÅais et des Allemands, que de la part des Suisses, il serait inutile de le d¦terminer«.46 Vereinzelt lassen sich Ungenauigkeiten feststellen. Im Bericht über die von Maximilian gewonnene Schlacht bei Guinegastre schreibt Voltaire: Maximilien I n’¦tant encore que roi des Romains, commenÅa la carriÀre la plus glorieuse par la victoire de Guinegastre en Flandre qu’il remporta contre les FranÅais en 1479, et par le trait¦ de 1492, qui lui assura la Franche-comt¦, l’Artois, et le Charolais.47

In der Tat gewann Maximilian zwar 1479 die Schlacht, das heißt jedoch sieben Jahre vor seiner Wahl zum »Roi des Romains« im Februar 1486.48 Die häufigste Form von Ungenauigkeiten besteht darin, dass Voltaire mehrere Ereignisse ähnlicher Art zusammenrafft: Fakten können umgestellt oder verschwiegen werden, aber es sind nur geringfügige Abweichungen, die den Gesamtverlauf der Ereignisse kaum deformieren. So zum Beispiel in seinem Bericht über die 1547 von Karl V. gewonnene Schlacht bei Mühlberg: »Rien ne fut plus ¦clatant que sa victoire de Mulberg. Un ¦lecteur de Saxe, un landgrave de Hesse, prisonniers — sa suite«.49 In der Tat wurde nur der Kurfürst von Sachsen in der Schlacht gefangen genommen; der Landgraf von Hessen musste sich aber im Nachhinein stellen und wurde alsdann tatsächlich gefangen gehalten.50 Ein anderes Beispiel dieser Art bildet eine Episode des Krieges zwischen Kaiser Maximilian und dem französischen König Franz I.: […] les Suisses, ayant su que la caisse militaire de France ¦tait arriv¦e, crurent pouvoir enlever cet argent, et le roi mÞme; ils attaquÀrent comme on attaque un convoi sur un grand chemin.51

Damit werden Söldner (die Schweizer Soldaten) mit Straßenräubern verglichen. Voltaires Quellen lassen nicht erkennen, dass die Kasse der französischen Armee gestohlen wurde. Barre erwähnt, dass die Schweizer die Kasse des päpstlichen Legaten ausgeraubt haben, da sie nicht bezahlt worden waren.52 Fleury erwähnt diesen Angriff gegen die Franzosen, aber nicht den Raub einer Kasse.53 Daniel berichtet, dass die Schweizer den französischen Geldtransport angriffen, ohne ihn wirklich entwenden zu können.54 Die Absicht, Franz I. gefangen zu nehmen, 46 Daniel, Histoire de France, Bd. 7, Jahr 1515, 364; Barre, Histoire g¦n¦rale d’Allemagne, Bd. 8, Jahr 1515, 1046. 47 Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 120, Pomeau, Bd. 2, 160. 48 Heiss, Buch 3, Kap. 2, Jahr 1486, 342. 49 Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 126 »Troubles d’Allemagne. Bataille de Mulberg. Grandeur et disgr–ce de Charles Quint. Son abdication«, Pomeau, Bd. 2, 204. 50 Barre, Histoire g¦n¦rale d’Allemagne, Bd. 9, Jahr 1547, 753. 51 Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 122, Pomeau, Bd. 2, 176. 52 Barre, Histoire g¦n¦rale d’Allemagne, Bd. 8, Jg. 1515, 1040. 53 Fleury, Histoire eccl¦siastique, Buch 124, 1515, § 53. 54 Daniel, Histoire de France, Bd. 7, Jg. 1515, 357.

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wird von Daniel auch nicht erwähnt, wohl aber dass der König sich in der Gegend aufhielt, in der der Angriff stattfand. Schon bedenklicher ist die Verwechslung von Roger I. (1031 – 1101) mit Roger II. (1095 – 1154), wobei Voltaire Episoden aus der Regierungszeit dieser zwei normannischen Könige verschmilzt.55 Zwar werden die Fakten deformiert, aber die Quintessenz der Aussage keineswegs: die Darstellung einer allmählichen Entwicklung der Machtlage in Sizilien zugunsten der normannischen Dynastie und zum Nachteil des Papsttums bildet eine Art Krase. Oft wird dem Politischen ein wichtigerer Platz eingeräumt als bei den Quellen. Über eine recht anstößige Episode, in der die verwitwete Mutter von König Franz I. den »conn¦table de Bourbon« mit ihrem Hass verfolgt, weil er sich weigerte, sie zu heiraten, schreibt Daniel, dass diese Frau, die »fourbe, vindicative, violente, avare« war, sich nur noch rächen wollte: »[elle] concerta les moyens de sa vengeance« und zog bei dem Prozess, den sie anstrengte, einen Vorteil aus dem Hass des Kanzlers gegen den conn¦table.56 Statt der Hervorhebung der individuell-psychologischen Motivationen werden bei Voltaire das Politische und das Machtspiel betont: »il n’y avait que la mÀre toute-puissante d’un roi qui p˜t le gagner [ce procÀs]«.57 Die stärkere Betonung des Politischen gegenüber den Quellen darf schon als eine wichtige These des Essai gelten. Abweichungen und Deformierungen dienen dazu, wichtige politische Grundpositionen Voltaires zu betonen: Kritik an den Macht- und Ränkespielen zwischen den Großen im Reich, zwischen den Päpsten und den Kaisern bzw. den Königen, an den Usurpationen im Feudalsystem (ein Gemeinplatz der aufklärerischen Historiographie!), an Machtbesessenheit und Anmaßungen aller Arten, an Ausbeutung der Bevölkerungen, aber auch Lob der Freiheit, die gemäß einer gängigen Einstellung der politischen Theorien des 18. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation besser gewährleistet wird als in Frankreich.58 Wohl lässt sich zudem in einigen Kontexten eine unterschwellige Kritik am Haus Habsburg erkennen: Maximilians Reichsreformen (Erhöhung der Anzahl der Reichskreise und Wiederherstellung der Reichskammer) werden gelobt, weil sie die Freiheit der Städte und das Gleichgewicht der Mächte innerhalb des Reiches befördern, aber so vorgestellt, als ob Maximilian an diesen Reformen keinen Anteil hätte: L’Allemagne ¦tait devenue v¦ritablement une r¦publique de princes et de villes, quoique le chef s’expliqu–t dans ses ¦dits en ma„tre absolu de l’univers. Elle ¦tait dÀs l’an 55 OCV, Bd. 23, Kap. 48, 175 und Kap. 49, 188. 56 Daniel, Histoire de France, Bd. 7, Jahr 1523, 501 und 504. 57 Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 123 »De Charles Quint et de FranÅois Ier. Malheurs de la France«, Pomeau, Bd. 2, 182. 58 Laudin (2011).

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1500 divis¦e en dix cercles; et les directeurs de ces cercles ¦taient des princes souverains […], cet ¦tablissement, qui liait toutes les parties de l’Allemagne ensemble, en assurait la libert¦. La chambre imp¦riale, qui jugeait en dernier ressort, pay¦e par les princes et les villes, et ne r¦sidant point dans les domaines particuliers du monarque, ¦tait encore un appui des libert¦s publique.59

Aber auch da könnte man sagen, dass Voltaire den Ausführungen Heiss’ von Kogenheim quellentreu folgt, da dieser in zwei unterschiedlichen Kapiteln die Herrschaftszeit Maximilians, ohne seine Reichsreformen zu erwähnen, und die Reichseinrichtungen, ohne Maximilian zu nennen, behandelt. Trotz klarer politischer Positionen ist Parteilichkeit aber nicht Hauptmerkmal in Voltaires historischem Werk. Viel charakteristischer ist die Gerafftheit seiner Erzählungen, vermieden werden Wiederholungen rein anekdotischer Fakten, die etwa bei Barre und Daniel die Berichte über Schlachten und Verhandlungen auszeichnen. Als Beispiel kann der Passus über die Schlacht, bei der die Söldner von Kaiser Maximilian und der jüngst gekrönte französische König Franz I. sich 1515 gegenüberstanden und deren Nacherzählung sich bei Barre über viele Seiten hinzieht, angeführt werden: Vingt-cinq mille Suisses, portant sur l’¦paule et sur la poitrine la clef de saint Pierre, les uns arm¦s de ces longues piques de dix-huit pieds que plusieurs soldats poussaient ensemble en bataillons serr¦s, les autres tenant leur grands espadons — deux mains, vinrent fondre — grands cris dans le camp du roi, prÀs de Marignan, vers Milan: ce fut de toutes les batailles donn¦es en Italie la plus sanglante et la plus longue. Le jeune roi, pour son coup d’essai, s’avanÅa — pied contre l’infanterie suisse, une pique — la main, combattit une heure entiÀre, accompagn¦ d’une partie de sa noblesse. Les FranÅais et les Suisses, mÞl¦s ensemble dans l’obscurit¦ de la nuit attendirent le jour pour recommencer. On sait que le roi dormit sur l’aff˜t d’un canon, — cinquante pas d’un bataillon suisse. Ces peuples, dans cette bataille, attaquÀrent toujours, et les FranÅais furent toujours sur la d¦fensive: c’est, me semble, une preuve assez forte que les FranÅais, quand ils sont bien conduits, peuvent avoir ce courage patient qui est quelquefois aussi n¦cessaire que l’ardeur imp¦tueuse qu’on leur accorde. Il ¦tait beau, surtout — un prince de vingt-et-un ans, de ne perdre point le sang froid dans une action si vive et si longue. Il ¦tait difficile, puisqu’elle durait, que les Suisses fussent vainqueur, parce que les bandes noires d’Allemagne qui ¦taient avec le roi [de France] faisaient une infanterie aussi ferme que la leur, et qu’ils n’avaient point de gendarmerie: tout ce qui surprend, c’est qu’ils purent r¦sister prÀs de deux jours aux efforts de ces grands chevaux de bataille qui tombaient — tout moment sur leurs bataillons rompus. Le vieux mar¦chal de Trivulce appelait cette journ¦e une bataille de g¦ants.60

Es folgt noch eine Stelle, die ungefähr ein Drittel des hier zitierten Passus umfasst und über die Gefangennahme mehrerer Feinde des französischen Königs 59 Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 120, Pomeau, Bd. 2, 161. 60 Ebd., Kap. 122, Pomeau, Bd. 2, 176 – 177.

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berichtet. Während Barre und Daniel die wiederholten Angriffsversuche aufzählen, haben hier alle Satzglieder einen eigenen funktionellen informativen Wert und dienen zugleich zur plastischen Darstellung der Schlacht: die Ausrüstung der Schweizer, den Mut und die Gefasstheit des jungen Königs, die Anwesenheit von deutschen Söldnern im französischen Heer, das Fazit des alten Generals, der diese Schlacht als Gigantomachie abstempelt. Durch die Gerafftheit wird dem Unpoetischen der Faktizitäten eine Poetik des »Tableaus« abgewonnen, die um die Jahrhundertmitte mit Diderot auch zur Grundlage theatralischer Darstellungsformen geworden ist.61 Auf einer anderen Logik der Erzählung beruht der Bericht über die CanossaEpisode, der einen hilflosen Kaiser auftreten lässt: Kaiser Heinrich IV. ist nämlich von den deutschen Fürsten gedrängt worden, auf das Urteil zu warten, mit dem der Papst in Augsburg ihn zwingen wird, ihn als »juge naturel de l’empereur et de l’empire‹ zu betrachten: Il voulut pr¦venir ce jugement fatal d’Augsbourg et par une r¦solution inoue, passant les Alpes du Tyrol avec peu de domestiques, il alla demander au pape son absolution. Gr¦goire VII ¦tait alors avec la comtesse Mathilde dans la ville de Canosse, l’ancien Canusium, sur l’Apennin prÀs de Reggio, forteresse qui passait alors pour imprenable. Cet empereur, d¦j— c¦lÀbre par des batailles gagn¦es, se pr¦sente — la porte de la forteresse, sans gardes, sans suite. On l’arrÞte dans la seconde enceinte. On le d¦pouille de ses habits. On ne revÞt d’un cilice. Il reste pieds nus dans la cour: c’¦tait au mois de janvier 1077. On le fit je˜ner trois jours, sans l’admettre — baiser les pieds du pape, qui pendant ce temps ¦tait enferm¦ avec la comtesse Mathilde, dont il ¦tait depuis longtemps le directeur. Il n’est pas surprenant que les ennemis de ce pape lui aient reproch¦ sa conduite avec Mathilde. Il est vrai qu’il avait soixante-deux ans; mais il ¦tait directeur, Mathilde ¦tait femme, jeune et faible. Le langage de la d¦votion, qu’on trouve dans les lettres du pape — la princesse, compar¦ avec les emportements de son ambition, pouvait faire soupÅonner que la religion servait de masque — toutes ses passions. Mais aucun fait, aucun indice n’a jamais fait tourner ces soupÅons en certitude. Les hypocrites voluptueux n’ont ni un enthousiasme si permanent, ni un zÀle si intr¦pide. Gr¦goire passait pour austÀre, et c’¦tait par l— qu’il ¦tait dangereux. Enfin l’empereur eut la permission de se prosterner aux pieds du pontife, qui voulut bien l’absoudre.62

Voltaire hat schon mehrfach mit kritischer Absicht über jene Machtkämpfe zwischen Kaiser und Papst berichtet, »la confusion des deux puissances« durch Päpste getadelt, die sich zu »juges des rois« (so Fleury) emporschwingen wollen.63 Es genügt ihm also, hier diese Thematik zu variieren, indem er den Kon61 Vgl. hierzu Frantz (1998). 62 Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 46, OCV, Bd. 23, 137 – 139. 63 Zu Voltaires Quellen für diesen Passus, vgl. Voltaire, Essai sur les moeurs, Kap. 46, OCV, Bd. 23, 117 – 118 und 139.

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trast zwischen dem jungen siegumkrönten Kaiser und seinem demütigenden Gang nach Canossa in äußerst knapper Form evoziert. Statt einer nochmaligen Wiederholung der sacerdotium-imperium-Thematik schiebt Voltaire in seine Erzählung einen Bericht über einen mutmaßlichen sündhaften Verkehr zwischen der Gräfin Mathilde (die dem Papsttum ihre ganzen Besitztümer vermacht hat) und ihrem päpstlichen Beichtvater (directeur de conscience) ein. Dadurch wird der Kontrast tableaumäßig noch erhöht: Während der halbnackte Kaiser auf dem Hof wartet, tändelt der Papst mit der Gräfin. Voltaires Perfidie besteht darin, dass er – in Übereinstimmung mit allen seriösen Quellen und wie auch Bayle und Jurieu, die Gregor VII. am feindlichsten gegenüberstehen – die Wahrheit dieser Gerüchte gleich eingangs verneint, auf sie jedoch ausführlich eingeht, dabei Argumente (»il ¦tait directeur«, »langage de la d¦votion«, »son ambition«, »masque — toutes ses passions« etc.) liefert und zugleich wegen ihres Mangels an Plausibilität verwirft. Dabei zeigt sich Voltaire aber dem Papst gegenüber weniger kritisch als seine (sogar katholischen) Quellen, die Gregor als heuchlerischen, machtbesessenen Despoten porträtieren. Nicht seine Psychologie interessiert ihn, sondern die Machtmechanismen, die sich aus dem Selbstverständnis der katholischen Kirche im Mittelalter ergeben, denen Gregor dient und die Voltaire im weiteren Verlauf des Kapitels aufweist. In den Questions sur l’Encyclop¦die kommt er auf diesen Papst plakativ wieder zu sprechen: hätte Gregor aus der für die Kirche günstigen Lage (Heinrich ist nämlich innenpolitisch sehr geschwächt) keinen Vorteil zu ziehen gesucht, dann »wäre er ein Trottel gewesen« (»Gr¦goire VII aurait ¦t¦ un imb¦cile«), und sein angebliches Liebesverhältnis mit Mathilde wird als Belanglosigkeit weggefegt: »Je n’examine pas s’il fut en effet son amant, car seul compte qu’il ait ¦t¦ son h¦ritier«.64 Anekdotisches ist nur als Politikum relevant. In den Questions sur l’Encyclop¦die gehorcht die diskursive Strategie einer anderen argumentativen Logik als im Essai-Kapitel über Heinrich und Gregor : Schreibt tatsächlich Voltaire ›historische Romane‹, wie es Schlözer will, dann selten wegen fahrlässigen Umgangs mit den Quellen, sondern im Sinne einer strikten, von seiner Aussageabsicht abhängenden Auswahl der Fakten, während der wissenschaftliche Diskurs der Zeit, wie ihn Schlözer und seine Historikerkollegen verstehen, die Vollständigkeit in der faktuellen Wiedergabe anstreben soll.

64 Questions sur l’Encyclop¦die, Art. »Gr¦goire VII«, Oeuvres complÀtes, hg. von Moland, Bd.19, 314 – 317.

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Siglen GGA Göttingische Gelehrte Anzeigen von gelehrten Sachen OCV Les Oeuvres complÀtes de Voltaire Pomeau Voltaire, Essai sur les moeurs, hg. v. Ren¦ Pomeau

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Claus-Michael Ort

»Ich muß doch schreiben –«. Funktionen dramatisierter Schriftlichkeit bei Lessing, Schiller, Iffland und Kleist

1.

Lesen und Schreiben als Kommunikationsunterbrechung: Der ›empfindsame‹ Bühnen-Brief und die Konkurrenz der Affektmedien

Wer sich mit der Funktion dargestellter Schriftlichkeit im Drama beschäftigt, sieht sich mit der anhaltenden literaturwissenschaftlichen Konjunktur und theoretischen Emphase des Themas ›Selbstreferentialität‹ einerseits und mit dem motivgeschichtlichen Schattendasein andererseits konfrontiert, das die Bühnen-Briefe auch nach Volker Klotz’ Abhandlung über Briefszenen in Schauspiel und Oper aus dem Jahre 1972 noch immer fristen.1 Dass sich Selbstbezüglichkeit nicht nur in der Zuspitzung auf Künstlerdramen oder gar auf das »Künstlerdrama als Dichterdrama«2 manifestiert, liegt nahe. Semantische Potenzierung ist abgeschwächt auch schon dann zu beobachten, wenn das Kriterium für Autoreflexivität von der Kunst- und Künstlerthematik entkoppelt und semiotisch ›tiefer gelegt‹ wird. Dies bestätigen Bühnentexte insbesondere seit dem 18. Jahrhundert, die die Differenz von Hören und Sehen, von Rede, Schrift und Bild mittels dargestellter Lese- und Schreibakte oder durch die mise en scÀne von Bild-Produktion und -Rezeption, mindestens aber durch die Verbalisierung von Bildern, explizit thematisieren. Verweisen die ›Bilder im Spiel‹, seien sie künstlerische oder nicht, auf das 1 Klotz (1972), 1 – 87; siehe darüber hinaus schon Seidlin (1963), später auch Anderegg (2001) und Doering (2003) sowie aus anglistischer Perspektive Peters (2003), 42 – 44 zu Klotz; Peters (2003), 111, gruppiert die »vielfältigen dramentechnischen Möglichkeiten der Verwendung schriftlicher Kommunikationsformen […] nach einem Schema […], das von schwacher Präsenz der Schrift […] und der spezifischen Ausblendung schriftlicher Aufzeichnungen über die monologische oder dialogische Interpretation einer Mitteilung durch die beteiligten Figuren, dem Lesen und Schreiben auf der Bühne bis zur – bereits strukturbildenden – medialen Umsetzung in Handlung und Bildhaftigkeit reicht.« 2 Japp (2004), 4; Japp datiert die Entstehung des deutschen ›Künstlerdramas‹ auf die Mitte des 18. Jahrhunderts und sieht seinen quantitativen Höhepunkt im 19. Jahrhundert (ebd., 13 f.).

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nonverbale visuelle Konkurrenzmedium – erinnert sei an die drei Auftritte mit dem Prinzen und dem Maler Conti im ersten Aufzug von Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel Emilia Galotti (1772)3 –, so ermöglichen es ›Briefe im Spiel‹, das Verhältnis von Rede und Schrift und damit auch von Theater und Text, von Präsenz- und Distanzmedium zu reflektieren. In exemplarischer Zuspitzung gilt es im Folgenden, die ambivalenten Funktionsvarianten in Szene gesetzten Schreibens und Lesen zu beleuchten. Dass sich die dramaturgische Funktion eines Großteils der Bühnen-Briefe in Trauerspiel und Komödie in ihrer Rolle als Vehikel von Intrigen, ›Lug und Trug‹, als Medien überraschender Information oder Desinformation, ja tödlicher Botschaften erschöpft, ist evident – ein Hinweis auf Friedrich Schillers Die Räuber (1781) mag genügen, wo in der zweiten Szene des ersten Aktes Franz von Moor in die Brief-Kommunikation zwischen seinem Vater und Bruder Karl eingreift und damit den allseitigen Untergang befördert, der sich insofern auch dem »tintenklecksenden Sekulum« (Karl von Moor) verdankt, das zwar keinen »Plutarch« oder Flavius »Josephus« mehr kennt, aber erhöhten Kommunikationsrisiken unterliegt.4 Volker Klotz erblickt eine der Urszenen verhängnisvoller Fernkommunikation in der biblischen Geschichte von Bathsebas Gatten Uria, der als Überbringer einer schriftlichen Botschaft König Davids unwissentlich sein eigenes Todesurteil befördert.5 Sabine Doering konstatiert 2003 zu Recht: »Spione und Spitzel lesen [und schreiben, wäre zu ergänzen; C.-M.O.] am sorgfältigsten«,6 und Oskar Seidlin tendiert schon 1963 zu einer poetologischen Interpretation der ›trügerischen‹ Briefe in Schillers frühen Dramen. In der »Kritik des Briefwesens in den Dramen Lessings und Schillers«7 jedoch lediglich eine Warnung vor den destruktiven Folgen der raumzeitlichen Distanz zu folgern, die mit schriftlicher Kommunikation – sei sie auto- oder typographisch – einherzugehen pflegt, greift zu kurz. Es mag naheliegen, der moraldidaktisch überforderten und wirkungspoetisch auf Mündlichkeit und unmittelbare Affektwirkung auf anwesende Zuschauer vertrauenden ›Schaubühne‹ in Zeiten massiver Alphabetisierung und einsetzender Leserevolution die implizite Abwertung von ausschließlich schriftgestützten Konkurrenzgattungen zu unterstellen, um sich als 3 Lessing, Emilia, I / 2, 294 f., und I / 4, 295 – 299. 4 Schiller, Räuber, 30 – 31; zur Funktion der Briefe in Die Räuber siehe Seidlin (1963), 95 – 102. 5 Klotz (1972), 3 – 5; vgl. den doppelt todbringenden Brief an Hofmarschall von Kalb in Schillers ›bürgerlichem Trauerpiel‹ Kabale und Liebe (1784, III / 6), den Luise nach dem Diktat von Wurm zu schreiben und zu unterschreiben gezwungen wird (Schiller, Kabale, 630) und der Ferdinand nach der Lektüre (IV / 2, 632) zum Mörder Luises und zum Selbstmörder werden lässt (V / 2: »Schriebst du diesen Brief ?«, 660); vgl. Seidlin (1963), 105 – 110. 6 Doering (2003), 183. 7 Anderegg (2001), 23 – 43 (II. »›Je, der verfluchte Brief‹. Zur Kritik des Briefwesens in den Dramen Lessings und Schillers«).

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das erfolgreiche öffentliche Medium zu positionieren, dem allein eine Kompensation der Defizite verinnerlichender Schriftlichkeit in Tagebuch, Brief und v. a. Roman zuzutrauen ist.8 Angesichts der im Drama des Zeitraums mit Vorliebe beschworenen Gefahren, denen sich mündlich distanzlose Interaktion durch diabolische Verstellungskünste, also z. B. durch Marwoods »Zwang der Verstellung« in Lessings Miß Sara Sampson (1755, MSM, IV / 5, 496), aussetzt, erscheint die These jedoch weniger plausibel. Die zeitgleiche literarische Nobilitierung des Briefes vom rhetorisch musterhaft geregelten Gesprächssurrogat zum individuellen Ausdrucksmedium von Subjektivität, also zum ›empfindsamen‹ Brief, dessen Produktion und Rezeption von der Beobachtung durch den körperlich präsenten Autor bzw. Adressaten entlastet wird und der diese nur als abwesende zu imaginieren erlaubt, scheint allerdings sozial- und mediengeschichtlich durchaus für eine solche Deutung zu sprechen. Die spätestens in der Mitte des Jahrhunderts einsetzende Konjunktur von Brieftheorien und praktischen Anleitungen zu einem natürlichen Briefstil als »freye Nachahmung des guten Gesprächs«9 unterstreicht die unzweifelhafte Bedeutung von Schriftlichkeit für die Entstehung ›empfindsamer‹ Gefühlskultur und für eine erfolgreiche »Medialisierung von Unmittelbarkeit« und Intimität, wie Albrecht Koschorke das kompensatorische Verhältnis von versiegenden ›Körperströmen‹ und zunehmendem ›Schriftverkehr‹ charakterisiert.10 Geselliges lautes Lesen wird marginal und das autonome ›Selbst‹ konstituiert sich eher im stummen und einsamen Lesen, das allerdings Gefahr läuft, in ›Lesewut‹ und ›Lesesucht‹ zu münden.11 Vor allem Briefromane tragen zur »Ko-Evolution von ›Liebe‹ und ›Roman‹«12 bei, zu einer Entwicklung also, die nicht zuletzt an Goethes Leiden des jungen 8 Vgl. Schiller, Schaubühne, 191: »So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und daurender [sic] als Moral und Gesetze.« – Gumbrecht (2001) weist dagegen darauf hin, dass sich Präsenz- und Absenzmedien bei der ›Produktion von Präsenz‹ ergänzen. 9 Gellert, Briefe, 3; zum ›empfindsamen‹ Brief als Medium von »Individualisierung und Interpersonalität« s. Wegmann (1988), 73 – 80, zu Gellert insbesondere Arto-Haumacher (1995); Theorie und Praxis der Briefkultur im 18. Jahrhundert rekonstruieren im Einzelnen Ebrecht / Nörtemann / Schwarz (Hg.) (1990), Anton (1995), darin zum Werther 58 f., sowie Vellusig (2000) u. a. zur »Logik der Rede und Logik der Schrift«, 15 f., Dörr (2000) und Reinlein (2003). 10 Koschorke (1999), 169 – 321, zur »simulierten Mündlichkeit« 190 – 196; zum Zusammenhang von ›Alphabetisierung‹ und ›Empfindsamkeit‹ vgl. auch schon Koschorke (1994). 11 Vgl. dazu Schön (1993), 99 – 122 und 223 – 232. Die Sozial- und Mediengeschichte des ›Lesens‹ und ›Schreibens‹ im 18. und 19. Jahrhundert kann hier nicht vertieft werden, verwiesen sei neben Schön (1993) auf Bickenbach (1999), u. a. zu Wielands ›Lesepoetologie‹ (174 – 247), sowie auf Mergenthaler (2002) und Stingelin (Hg.) (2004). 12 So der Untertitel von Werber (2003). Zum Briefroman siehe auch schon Voßkamp (1971) und Honnefelder (1975).

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Werthers (1774) ablesbar wird – ›Leiden‹ nämlich, deren briefliche Ausdrucksmedien im zweiten Teil des Textes von einer aktiv eingreifenden, Deutungshoheit beanspruchenden Herausgeber-Instanz als Versatzstücke einer Fallgeschichte des »armen Werthers« ›gesammelt‹ werden.13 Abgeschlossen wird die Serie der im Werther zitierten – einsam oder gesellig gelesenen und vorgelesenen – Literatur von Lessings Trauerspiel Emilia Galotti, das »auf dem Pulte aufgeschlagen«14 als ›stummes‹ Buch-Relikt in Werthers Sterbezimmer auf einsame und todesnahe Lektüre hindeutet.15 Das ›letzte Wort‹ vor dem abschließenden Erzähler- und rahmenden Herausgeberkommentar hat als literarischer Sterbebegleiter also ein Trauerspiel, das unter Rekurs auf das antike stoizistische Ideal der Verginia-Geschichte des Titus Livius die vorauseilende letale Affekt- und Triebunterdrückung Emilias in Szene setzt.16 Weder die Kommunikation mit Hilfe von Briefen, die »die Stelle eines Gesprächs [vertreten]«17 und dennoch einem hohen Missverstehensrisiko unterliegen, noch die heroische Dramenlektüre des literarisch reflektierten Melancholikers, so der affekt- und medientherapeutische Ratschlag des Herausgebers an die »gute Seele«18 eines trostbedürftigen Lesers, kompensiert den Verlust freundschaftlicher Interaktion, sondern vielmehr erst die zum gedruckten Roman verarbeitete Geschichte Werthers selbst: »laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.«19 Das Medium vermag zwar einen ›näheren Freund‹ oder fernen BriefPartner nur unvollkommen zu ersetzen, erweist sich aber zugleich als der zuverlässigere, weil von jeder kontingenten Präsenz- oder asynchronen Distanzkommunikation entbundene ›Begleiter‹, der aufgrund seiner Situationsabstraktheit permanent und überall für wiederholte Lektüre zur Verfügung steht. Unter den thematisierten Alternativen geselligen, affektsteigernden Lesens, einsamer Trauerspiel-Lektüre und brieflicher Distanz-Kommunikation, die im Werther zudem als nur einseitige präsentiert wird, favorisiert die Herausgeber-

13 Goethe, Werther, 10. 14 Ebd., 264. 15 Graevenitz (1975), 77 – 80, deutet die Emilia Galotti im Werther als »Todesrequisit« und als Hinweis auf den »›theatralischen‹ Öffentlichkeitstyp« (80*, Fußnote 279), der auch im fünften Buch von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 / 96) anlässlich einer Aufführung von Emilia Galotti verhandelt werde (ebd.). Zu Emilia Galotti als Medium und Katalysator von Werthers suizidalem Heroismus und seiner Christus-Stilisierung siehe Leibfried (1977), Meyer-Kalkus (1977), Duncan (1982), Bohrer (1989), 225, und Marx (1995), 139, sowie Nelles (2002), 181, der auf die Neigung Werthers hinweist, Bücher und Textstellen gelegenheitsbezogen und situationsadäquat auszuwählen (177 – 195). 16 Vgl. dazu Meier (2011), 63 – 75, insbesondere 66. 17 Gellert, Briefe, 3. 18 Goethe, Werther, 10. 19 Ebd., 10. – Zur Pathologie Werthers als ›Melancholiker‹ siehe v. a. Valk (2002).

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Instanz also das ›Büchlein‹ der Werther-Geschichte selbst und preist den Roman als heilsames Reflexionsmedium.20 Der – hier nur anzudeutende – komplexe Deutungshorizont für die Funktionen thematisierter Schriftlichkeit in der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts provoziert einmal mehr das Missbehagen daran, die Vorliebe der Dramenliteratur für die destruktiven Folgen von Briefkommunikation ausschließlich als warnende Gegenreaktion der ›Schaubühne‹, als Versuch ihrer Selbstbehauptung unter Bedingungen verschärfter Gattungskonkurrenz zu deuten. Dieses Missbehagen steigert sich bei näherer Betrachtung von Briefszenen, die eine derart argumentierende Motivgeschichte bislang in auffälliger Weise vernachlässigt hat und die die Probleme empfindsamen und selbstreflexiven Lesens und Schreibens thematisieren und wirkungspoetisch entfalten. Das explizit problematisierte Lesen und Schreiben im Drama markiert, so ist ferner zu vermuten, eine Übergangsphase in der Geschichte literarischer Selbstreferentialität zwischen Aufklärung und Romantik, in der das Distanzmedium ›Roman‹ mit Macht auf den Plan tritt und sich zusehends mittels schriftlicher Affektrepräsentationen mise-en-abyme selbst thematisiert – vom Brief zum ›Büchlein‹ als ›Freund‹, von Christian Fürchtegott Gellerts Briefroman Leben der Schwedischen Gräfinn von G*** (1747 / 48) zu Goethes Werther –,21 während die ›Schaubühne‹ zugleich die Schriftlichkeit von Briefen und Briefäquivalenten inszeniert, welche als Medien der Selbstbeobachtung und Affektunterbrechung zwischen kommunikativer Einbettung und selbstreflexiver Autonomisierung oszillieren und das Funktionsspektrum dargestellter Literalität erweitern. Damit manifestiert sich zugleich ein langfristiges »Folgeproblem von Schrift«22 gerade in derjenigen Literatur, die für szenische Performanz vorgesehen ist und die zeitliche Distanz zwischen Information, Mitteilung und Verstehen sowohl in der Figurenkommunikation als auch wirkungspoetisch zu minimieren bestrebt ist. Niklas Luhmann betont, dass sich der kulturgeschichtliche Effekt [der] Distanz, die sich […] zwischen Mitteilung, Verstehen, Annehmen / Ablehnen [auftut], […] kaum überschätzen [lasse]. Im Verstehen vermehren sich die Wahlmöglichkeiten, es kommt zu einer gewaltigen Ausdehnung von Möglichkeiten, die nicht sofort engagieren.23 20 Zur Funktion dargestellten Lesens und Schreibens im Werther siehe Waniek (1982), Forget (1984) und zur Fiktion des ›rekonstruierenden‹ Herausgebers Nelles (1996); vgl. vor diesem Hintergrund auch Friedrich (2000) zu Johann Martin Millers Siegwart (1776) als Reaktion auf den Werther. 21 Siehe exemplarisch Scheffel (1997), 94 – 120 zu Wieland oder Michel (2006) zu Wieland, Jean Paul und Brentano. 22 Luhmann (1990), 179. 23 Ebd.

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Die Erfindung der Schrift, insbesondere aber die Entwicklung und massive Verbreitung des Buchdrucks in der Frühen Neuzeit erweitern die Informationsmenge und »das Kommunikationspotential der Gesellschaft über die Interaktion unter Anwesenden hinaus immens« und entziehen »es damit der Kontrolle durch konkrete Interaktionssysteme«.24 Da aber »Sprache allein […] noch nicht fest[legt], ob auf eine Kommunikation mit Annahme oder mit Ablehnung reagiert wird«,25 bedarf es, so Luhmann weiter, »Zusatzeinrichtungen zur Sprache«,26 die den langsamen Funktionsverlust der Motivationsmittel ›Religion‹ und ›Moral‹ kompensieren.27 Eine konsequente Interpretation der Konjunktur des ›empfindsamen‹ Briefes im 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund des von Luhmann entfalteten Deutungshorizontes steht noch aus und hätte jedenfalls das Problem der zeitgenössischen Brieftheorien aufzugreifen, wie gerade mit den Mitteln ubiquitärer schriftlicher Distanzkommunikation soziale und affektive Verbindlichkeit garantiert werden könne, ohne dass religiöse und moralische Kommunikationszwecke und eine funktionsspezifisch elaborierte Rhetorik dies schon von vornherein abzusichern in der Lage sind.28 Je mehr sich privat und unbeobachtet bleibende Produktions- und Rezeptionsakte schriftlicher, mithin asymmetrischer Kommunikation – sei sie literarisch oder nicht – der paradoxen Verbalisierung und Lektüre nicht-kommunizierbarer »Innerlichkeit«, »Naturalisierung« und »Individualisierung«29 widmen, desto mehr manifestiert sich der Selbstwiderspruch einer Subjektivitätsund Unmittelbarkeitsrhetorik, deren Aufgabe gerade darin besteht, sich zu verleugnen und ›unsichtbar‹ zu werden. Und wenn das kommunikative Scheitern ›empfindsamer‹ Sprache deshalb, wie in Lessings Miß Sara Sampson, primär den spezifischen Problemen schriftlicher Kommunikation angelastet und als Problem des Lesens und Schreibens thematisiert wird, dann bleiben die dabei zutage tretenden rhetorischen Defizite allerdings nicht auf Schriftlichkeit be24 25 26 27

Luhmann (1988), 6. Luhmann (1997), 204. Luhmann (1988), 7. Zum theoretischen und historischen Problemhorizont der Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien siehe Luhmann (1997), 190 – 412, zur ›Schrift‹ insbesondere 249 – 290. 28 Johann Christoph Stockhausen fordert deshalb 1751 in seinen Grundsätze[n] wohleingerichteter Briefe nach wie vor die Kenntnis der »allgemeinen Regeln der Redekunst« (Stockhausen, Grundsätze, Z3 [Inhaltsverzeichnis] und 69 f.), aber auch »eine gute Einsicht in die Sittenlehre und Bewegungen des menschlichen Herzens« (ebd. und 70 f.), um »schriftliche Unterredungen […] mit abwesenden Personen« (ebd., 9) erfolgreich zu führen und empfiehlt sogar »Exempel von der alten Einrichtung nach den Weisianischen Chrien« (ebd., Z3 und 76 f.). Weise selbst reflektiert anlässlich seiner Schuldramen explizit die Probleme der Wirkungssicherung, die sich einer dramatisierten Präsenzrhetorik bei der Umstellung auf Lesedramen stellen. 29 Vedder (2002), 7.

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grenzt, sondern betreffen auch die im Drama festgeschriebene Mündlichkeit selbst.30 Als signifikant erweist sich vor diesem Hintergrund auch der medienspezifische Zusammenhang von Tragik und Zeit: »Daß wir in Briefen sorgfältiger, zierlicher, einnehmender reden können, und sollen, machet, weil wir mehr Zeit zum Nachsinnen und zur Wahl unserer Gedanken und Worte haben.«31 Dass man »mehr Zeit [hat], wenn man schreibt, als wenn man spricht,«32 also durch situationsabstrakt asymmetrische Schriftlichkeit Zeit gewinnen, aber auch verschwenden kann, funktionalisieren Dramen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts dramaturgisch auf unterschiedliche Weise, wird selbst zum Gegenstand mündlicher Kommunikation, dient der affektiven Selbst- und Fremdexploration und zeitigt, wie exemplarisch zu zeigen sein wird, potentiell tragische Folgen:33 Aufgelöst, oder besser : aufgeteilt wird das zeiteinheitliche Ereignis der mündlichen Kommunikation mit gleichzeitigem Verstehen und unmittelbarem Zwang zur Entscheidung zwischen Annahme oder offenem Widerspruch. […]. Anders als in der mündlichen Kommunikation können bei schriftlicher Kommunikation Mitteilung, Verstehen und Akzeptanz weit auseinanderfallen. Texte werden mit Rücksicht auf situationsunabhängige Verständlichkeit produziert. […]. Verstehen und Akzeptieren / Ablehnen treten auseinander.34

30 Zum Wandel der literarischen Affekt-Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert siehe Campe (1990), zur ›Rhetoriktilgung‹ ebd., 489 – 554. Ein sich autonomisierendes Sozialsystem ›Literatur‹ versucht den kontingenten Kommunikationserfolg des zusehends situationsabstrakten Massenmediums ›Literatur‹ zu sichern und den Selbstwiderspruch des ›empfindsamen‹ Diskurses als Reflexionsgewinn dauerhaft und kommunikativ anschlussfähig zu institutionalisieren; vgl. dazu schon Schmidt (1989), Jäger (1990), Jäger (1991) oder Englert (1993). 31 Gellert, Gedanken, 179. 32 Gellert, Briefe, 7. 33 Zur »Problematik des Verzugs« und des »doppelten Zeitverlaufs« siehe schon Klotz (1972), 9 – 11, sowie Koschorke (1999) über »Aufschub als Bedingung der Produktion von Präsenz«, 247 – 259. 34 Luhmann (1990), 178; während bei »mündlicher Kommunikation […] Sozialität gleichsam automatisch gesichert [ist]« (Luhmann [1997], 250), »[erzeugt] Schrift […] eine neuartige Präsenz von Zeit, nämlich die Illusion der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (ebd., 265).

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2.

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Distanzkommunikation als Wirkungsexperiment und die ›Erhabenheit‹ der Selbstbeobachtung in G. E. Lessings Miß Sara Sampson

Die misslingende Briefkommunikation zwischen William Sampson und seiner Tochter Sara, deren Thematisierung Lessing in Miß Sara Sampson vom dritten bis fünften Aufzug auf sieben Auftritte verteilt, markiert eine Schnittstelle zwischen schriftlicher Distanz- und mündlicher Präsenzkommunikation, an der der ›empfindsame‹ Brief selbst als Instrument eines wirkungsästhetischen Experiments fungiert und seine Ausdrucksfunktion in den Dienst psychodiagnostischer Deutung gestellt wird – was die zeitgenössische Briefpoetik übrigens von Anfang an nahelegt; Johann Christoph Stockhausens Grundsätze wohleingerichteter Briefe, Nach den neuesten und bewährtesten Mustern der Deutschen und Ausländer postuliert 1751: Kann man vieles von den Gemüthsumständen der Menschen aus ihren Reden schließen: so ist dieses noch vielmehr bey Briefen möglich, woran die Seelenkräfte besonders gearbeitet und sich kenntlich gemacht haben. Eine mündliche Rede verschwindet mit der Aussprache, und läßt nur noch einige Fusstapfen [sic] in der Einbildungskraft zurück, uns ihrer zuweilen zu erinnern. Hingegen ein Brief kann die Empfindung länger unterhalten. Wir können die Fügung der Gedanken besser untersuchen, da uns nichts entgehet, wenn wir unsre Aufmerksamkeit gleichsam Schritt vor Schritt fortsetzen. Die Sittenlehrer glauben daher, dass sich aus einem Briefe vieles von dem Temperament und von dem Charakter seines Urhebers entdecken lasse.35

Als aristotelisch gemischter Charakter, der »nicht trotz seiner sittlichen Größe […], aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit […] einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers«36 – hamart†a –, gesteht William Sampson im Rückblick auf den Fehltritt der Tochter Sara und ihre Flucht mit Mellefont zwei Fehler ein, während ihm sein dritter gerade unterläuft – eine Fehleinschätzung von Mittel und Zweck nämlich, die indirekt den Erfolg von Marwoods tödlichem Anschlag gegen Sara begünstigt: Nennt er im ersten Auftritt des Trauerspiels seine Nachlässigkeit und »Zärtlichkeit« noch hyperbolisch ein »Verbrechen« (MSS, I / 1, 434) und entschuldigt Saras Verfehlung vor diesem Hintergrund als zu vergebenden »Fehler eines zärtlichen Mädchens« (MSM, I / 1, 434),der Folge seines eigenen »größten Fehler[s]« sei (MSS, III / 1, 467), so vermutet er später, dass gerade seine nicht sofort erfolgte Vergebung gegenüber Mellefont und Sara die Flucht beider bewirkt habe –

35 Stockhausen, Grundsätze, 19 – 20, vgl. auch 70, 342. 36 Aristoteles, Poetik, 39.

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Das Unglück war geschehen, und ich hätte wohlgetan, wenn ich ihnen nur gleich alles vergeben hätte. Ich wollte unerbittlich gegen ihn sein, und überlegte nicht, daß ich es gegen ihn nicht allein sein könnte. Wenn ich meine zu späte Strenge erspart hätte, so würde ich wenigstens ihre Flucht verhindert haben (MSS, III / 1, 468)

– und wiederholt, bei dem Versuch, die Folgen dieses Fehlers zu kompensieren und Sara und Mellefont endlich seine Vergebung mitzuteilen, den gleichen Fehler noch einmal. Im Gasthof »nur eine Wand […] von dem Frauenzimmer [getrennt]« (MSS, I / 2, 435) schiebt er die mündliche Aussprache erneut auf und kündigt seine Verzeihung nicht nur brieflich an, sondern erwartet zuvor Saras schriftliche Antwort. Die »Zusammenkunft auf diese [also schriftliche, C.-M.O.] Art vor[zu]bereiten« (MSS, III / 1, 467) und sie an dilatorische Bedingungen zu knüpfen, erweist sich als höchst destruktiv, da sie den Akt der väterlichen Vergebung zu lange hinauszögert, um noch vor der im fünften Auftritt des dritten Aufzuges beginnenden Intrige Marwoods wirksam werden zu können. Der »Brief eines zärtlichen Vaters, der sich über nichts als über ihre [Saras] Abwesenheit beklagt« (MSS, III / 1, 467), den Sampsons alter Diener mit dem sprechenden Namen Waitwell überbringt, ist überdies nicht nur ein ›empfindsamer‹ Brief im Rahmen intimer Kommunikation, wie es zunächst den Anschein hat: Ich werde ihrer Gesinnungen dadurch gewiß und mache ihr Gelegenheit, alles was ihr die Reue klägliches und errötendes eingeben könnte, schon ausgeschüttet zu haben, ehe sie mündlich mit mir spricht. Es wird ihr in einem Briefe weniger Verwirrung, und mir vielleicht weniger Tränen kosten. (MSS, III / 1, 467; Hervorh. C.-M.O.)

Die Lektüre zärtlicher Briefe befreie darüber hinaus die Leserin von der Präsenz des Kommunikationspartners als Beobachter, stimuliere physiologische Reaktionen, entlaste das ›Gefäß‹ von Körper und Seele durch vorzeitige ›Ausschüttung‹ von Tränen (»klägliches«) und Blut (»errötendes«), mindere somit die Verwirrung der Tochter und dämpfe die Rührung des Vaters im späteren mündlichen Gespräch. Die zu erwartende Theatralik eines rührend tränenreichen Auftritts wird also schriftlich abzufangen versucht. Temporaler Aufschub reduziert die äußerlich wahrnehmbaren Gefühlsbewegungen sukzessive und verlagert sie gleichsam in das ›innere Theater‹ des Gemüts des lesenden und schreibenden Subjekts, das zunächst von den ablenkenden Randbedingungen der Mündlichkeit und der Präsenz des Kommunikationspartners befreit ist. Zugleich wird die spätere Kommunikation von Angesicht zu Angesicht damit auf einen schriftlich abgesicherten Kommunikationshorizont verpflichtet. Übrigens praktiziert Lessing auch in Emilia Galotti (1772) eine Strategie der – dort allerdings finalen – Entheroisierung durch Verzeitlichung: Odoardo unterstellt dem Prinzen Hettore Gonzaga die Erwartung, »dass ich den Stahl wider mich selbst kehren werde, um meine Tat wie ein schale Tragödie zu beschlie-

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ßen«,37 und enttäuscht diese Erwartung. Wie Karl von Moor in Schillers Räubern (1781) unterstellt sich der mörderische Vater zukünftiger weltlicher Gerichtsbarkeit jenseits der dargestellten Handlung und verweist darüber hinaus auf den »Richter unser aller«,38 vor dem sich auch der Prinz als schuldiger Richter zu verantworten haben wird.39 Sir Sampson verbindet mit der aufschiebenden Wirkung vorgeschalteter Schriftlichkeit, die Saras Affekte katalysieren und sodann langfristig temperieren solle, jedoch noch eine weitere Funktion, die die situationsabstrakte Qualität schriftlicher Distanzkommunikation wieder einschränkt, den gestisch-mimischen Informationsüberschuss des Mündlichen abzuschöpfen versucht und die zeitverschobene und räumlich distanzierte Kommunikationssituation zur diagnostischen Versuchsanordnung des Vaters macht. Nun wird möglich, was ansonsten ausgeschlossen scheint, nämlich die zeitgleiche Beobachtung einer eigentlich dyadisch intimen, aber zeitversetzt asymmetrischen Briefkommunikation zwischen Vater und Tochter durch einen Dritten, der den Vater vertritt und nicht nur beobachtet, sondern zugleich strategisch und taktisch kommuniziert. Schriftliche, situationsabstrakte Kommunikation mit einem Abwesenden wird also wie mündliche Präsenzkommunikation behandelt: Gieb auf alle ihre Mienen acht, wenn sie meinen Brief lesen wird. In der kurzen Entfernung von der Tugend kann sie die Verstellung noch nicht gelernt haben, […]. Du wirst ihre ganze Seele in ihrem Gesichte lesen. Laß dir ja keinen Zug entgehen, der etwa eine Gleichgültigkeit gegen mich, eine Verschmähung ihres Vaters, anzeigen könnte. (MSS, III / 1, 468; Hervorh. C.-M.O.)

Nicht nur Sara, sondern auch Waitwell soll also ›lesen‹: Sara wird das Ergebnis ihrer Lektüre zum Antwortbrief zu verschriften, letzterer die wiederum aus Saras Leseverhalten zu erschließenden Befunde einer physiognomisch ganzheitlichen Seelen-Lektüre in einen mündlichen Botenbericht zu übersetzen haben. Mündlicher Bericht über beobachtete non-verbale Reaktionen und die schriftliche Antwort Saras sollen Sir William also Aufschluss über das Ausmaß von Saras Liebe und Reue geben und verstellen doch gerade dadurch den Blick auf Saras Inneres – beeinflusste Waitwells Bericht doch zweifellos die väterliche Lektüre des Antwortbriefs, der sich wiederum Saras Lektüre von Williams Brief verdankt, zu dessen Annahme und Lektüre sich Sara von Waitwell erst widerwillig und unter der Bedingung überreden lässt, dass er ihr dessen Inhalt zuvor ›ungefähr‹ ankündige. Schriftlichkeit schiebt sich zwar vor Mündlichkeit, aber letztere verzögert – und ermöglicht – wiederum Saras Lektüre: Eine Serie von 37 Lessing, Emilia, 371. 38 Ebd., 371. 39 Siehe Eibl (1995), 97 – 111, zu Emilia Galotti als »Gesellschaftsanalyse« und zum Schluss des Trauerspiels insbesondere 106 f.

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Repräsentationen tritt zwischen Saras ›Seele‹ und ihre Interpreten, und nicht zuletzt sind es Waitwells unbeholfene, aber erfolgreiche rhetorische Interventionen und eine taktische Irreführung, die Sara zu zunächst stummer Lektüre bewegen – »Sei still! sie fängt an vor sich zu lesen.« (MSS, III / 3, 477; kursiv im Orig.) und die zu beobachtenden Reaktionen erst eigentlich herbeiführen: »Waitwell bei Seite: Oh! Wenn er sie selbst sehen sollte!« (ebd.). Die Affektblockade Saras angesichts des väterlichen ›ersten Schritts‹ beginnt sich in einer immer wieder unterbrochenen, stellenweise laut zitierenden Brieflektüre aufzulösen und bereitet Saras schriftliche Antwort vor : »Geh, Waitwell, laß mich allein! Er verlangt eine Antwort, und ich will sie sogleich machen« (MSS, III / 3, 478). Sampson wird sich also seiner väterlichen Rührung weiterhin überlassen können, er wird sich von seinem Mitleid nicht, wie befürchtet, stoisch distanzieren, es nicht ›überwinden‹ müssen: »wenn sie mich nicht mehr liebt: so hoffe ich, daß ich mich endlich werde überwinden können, sie ihrem Schicksale zu überlassen« (MSS, III / 1, 468). Stattdessen hat schon Waitwells »Erzehlung« von Saras Reaktion auf den Brief des Vaters »Balsam« in sein »verwundetes Herz gegossen« (MSS, III / 7, 484), so dass er nun einerseits »den Augenblick« des Wiedersehens »nicht erwarten [kann]« (ebd.) und andererseits darüber vergisst, dass die anfänglich drohende ›Überwindung‹ seiner Gefühle und seine Absicht, die Rührungs-Intensität direkter Interaktion zu mindern, die quälende Verzögerung überhaupt erst verursacht hat und die Gefühle Saras und die zu Gebote stehenden Mittel mündlichen wie schriftlichen Gefühlsausdrucks auf zeitraubende Weise verunsichert. So unterstellt Sara ihrem offenkundig ›gerührten‹ Vater im Konjunktiv sowohl affektive ›Schwäche‹ als auch die Fähigkeit zur distanzierten Selbstreflexion und zur Selbstverleugnung, die sie nun auch selbst als Gegenleistung zu erbringen beabsichtigt: Sein sehnliches Verlangen nach mir, verführt ihn vielleicht, […]. Kaum aber würde dieses Verlangen ein wenig beruhiget sein, so würde er sich, seiner Schwäche wegen, vor sich selbst schämen. Ein finstrer Unwille würde sich seiner bemeistern, und er würde mich nie ansehen können, ohne mich heimlich anzuklagen, […]; wenn in dem Augenblicke, da er mir alles erlauben wollte, ich ihm alles aufopfern könnte: so wäre es ganz etwas anders. Ich wollte den Brief mit Vergnügen von deinen Händen nehmen, die Stärke der väterlichen Liebe darinne bewundern, und ohne sie zu mißbrauchen […] mich als eine reuende und gehorsame Tochter zu seinen Füßen werfen. Aber kann ich das? […]. […] [es würde] mir plötzlich einfallen, daß er mein Vergnügen äußerlich nur zu teilen scheine und in sich selbst vielleicht seufze; kurz, daß er mich mit Entsagung seiner eigenen Glückseligkeit glücklich gemacht habe – (MSS, III / 3, 473 f.; Hervorh. C.-M.O.).

Es hätte des poetologisch belasteten Terminus ›bewundern‹ kaum bedurft, um auf den affektiven Zirkel der admiratio hinzuweisen, in dem sich Sara hier

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verfängt: Des Vaters vermeintliche Selbstverleugnung in »Liebe und Vergebung« (Waitwell; MSS, III / 3, 472), seinen von Sara unterstellten altruistischen und demütigenden Glückseligkeitsverzicht vermag diese nur unter der Bedingung zu ›bewundern‹, dass sie potentiell auch selbst von ihm ›bewundert‹ werden könnte, also ihrerseits zu einer gefühlsverleugnenden ›Aufopferung‹ und heroischen Selbstbestrafung im Stande wäre. Saras affektpsychologisch spekulative Interpretation des »grausamen« (MSS, III / 3, 472) weil verzeihenden statt anklagenden oder strafenden Briefes noch vor seiner Lektüre motiviert ihre beabsichtigte Rezeptionsverweigerung und Rührungsvermeidung und lässt diese zugleich schon als Vorstufen solchen Liebesverzichts und Selbstopfers erscheinen. Erst als Waitwell seine Zusammenfassung des Briefinhalts taktisch relativiert und ›Härte‹ verspricht, erbricht Sara Williams Brief in der Erwartung väterlicher Bekundungen von »Zorn« und im Vorgefühl eigenen starken Empfindens: »Ich werde ihn nach aller seiner Stärke empfinden. Du siehst, ich zittre schon – Aber ich soll auch zittern; und ich will lieber zittern als weinen« (MSS, III / 3, 475; Hervorh. C.-M.O.).40 Die verweigerte ›Bewunderung‹ der bedingungslosen Vaterliebe geht unmerklich in ›heroische‹ Selbstbeobachtung als Vorstufe von ›Selbstbewunderung‹ über, die zukünftige Affekte im Modus des Sollens und Wollens distanziert benennt und zugleich stimuliert.41 Was Johann Georg Sulzer rund fünfzehn Jahre später in seiner Allgemeine Theorie der Schönen Künste 1771 unter dem Lemma ›Erhaben‹ über die »Bewunderung durch das Gefühl des Herzens«42 resümiert, scheint in selbstreflexiver Schließung auch für die Beobachtung je eigener, zukünftiger Gefühle zu gelten: Indem wir andrer Menschen Empfindungen, Leidenschaften, innerlich würkende Kräfte […] mit unserm Gefühl vergleichen und gegen das halten, was wir zu thun vermögend sind, so entsteht allemal Bewundrung, wenn wir Kräfte sehen, die weit über die Unsrigen gehen, oder deren Größe wir nicht anders, als durch eine ausserordentliche Anstrengung unsers eigenen, fassen können (Hervorh. C.-M.O.).43

40 Zu ›Härte‹ und ›Zorn‹ als erhofften väterlichen Gefühlen siehe auch MSS, III / 3, 473. Eibl (1977) weist zu Recht auf Saras »neues Rollenverständnis« (164) als »Verwünschte«, »Verstoßene« und »›gefallenes Mädchen‹« (ebd.) hin, an dem sie in III / 3 zunächst noch festhält, wenn sie die Verzeihung des Vaters zurückweist, vernachlässigt aber das Reflexivwerden der Affekte in Saras mündlicher, dann auch schriftlicher (III / 4) Selbstbeobachtung, die über bloße »Desorientierung« (165) durch sukzessiven Rollenwechsel hinausgeht. 41 Vgl. ähnlich in MSS, V / 4, 515 f., wo Mellefont als Adressat des Liebesgeständnisses der bereits tödlich vergifteten und fast ohnmächtigen Sara einen »plötzliche[n] Übergang von Bewunderung zum Schrecken« an sich beobachtet und Sara sodann ankündigt, ihn »nicht wieder erschrecken« zu wollen. 42 Sulzer, Schöne Künste, 343. 43 Ebd.

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Und schon im Briefwechsel über das Trauerspiel zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai beschreibt Lessing 1756 / 57, bei aller Präferenz für das ›Mitleid‹, die Funktion der ›Bewunderung‹ wie folgt: Die Bewunderung? O in der Tragödie […] ist das entbehrlich gewordene Mitleiden. Der Held ist unglücklich, aber er ist über sein Unglück so weit erhaben, er ist selbst so stolz darauf, […] daß ich ihn mehr beneiden, als bedauern möchte. […]. Die Bewunderung setzt dem Mitleiden Schranken. Das Schrecken braucht der Dichter zur Ankündigung des Mitleids, und Bewunderung gleichsam zum Ruhepunkte desselben. […], und das Mitleiden nützt sich ab, wenn es sich nicht in der Bewunderung erholen kann. (Kursivierungen im Orig.; Hervorh. C.-M.O.).44

Moses Mendelssohn, der noch stärker auf ›Bewunderung‹ als dramatischem Affekt beharrt, betont schließlich in §§. 8. und 9. der ersten Beilage zum Briefwechsel, dass sowohl Bewunderung als Mitleiden den moralischen Geschmack beschäftigen können, und ich wünsche […], daß man künftig statt Schrecken und Mitleiden, Bewunderung und Mitleiden setzen möchte, weil das Schrecken bloß eine besondre Modifikation des Mitleidens ist. Das Mitleiden rührt unser Herz, die Bewunderung erhebt unsre Seele. Jenes lehrt uns fühlen, diese erhaben denken. (Kursivierungen im Orig., Hervorh. C.-M.O.).45

Erst als Waitwell das väterliche Verzeihen, das Sara als demütigend und zugleich auch als eine Mitleid erregende menschliche Schwäche empfindet, auf die ›erhabene‹ »unüberschwengliche Seligkeit Gottes« bezieht und mit dessen »immerwährende[m] Vergeben« argumentiert (MSS, III / 3, 476),46 gibt Sara ihren Widerstand gegen die Brieflektüre auf und »glaubt«, vom abwesenden »alte[n] Vater […] überredet« (nicht gerührt!) worden zu sein, um ihm die ›göttliche‹ »große Wollust« des Vergebens zu ›gönnen‹, in der »die ganze Seele zerfließt« (MSS, III / 3, 477). Und zugleich haben Waitwells persuasive »Reden […] nichts getan, als dass sie Ihnen Zeit gelassen, selbst nachzudenken und sich von einer so fröhlichen Bestürzung zu erholen. – Nicht wahr, nun werden Sie den Brief lesen?« (MSS, III / 3, 477, Hervorh. C.-M.O.) Die ›Bewunderung‹ Saras für die aus ihrer Perspektive übermenschliche Liebes- und Verzeihungsbereitschaft des Vaters wird also erst dann möglich, als Sara in der Lage ist, sich sowohl vom eigenen Mitleidsaffekt und von eigener Rührungsemphase zu distanzieren als auch auf heroische Selbstbestrafung und bewundernswerte ›Aufopferung‹ zu verzichten und stattdessen lernt, ›erhaben‹ zu ›denken‹, also ihre Brieflektüre ebenso wie ihr eigenes Schreiben als Mittel der 44 Lessing, Briefwechsel, 670 f. 45 Ebd., 729 f. 46 vgl. darauf Waitwell: »Ach Gott, […], so muß mir ein guter Geist haben reden helfen.« (MSS, III / 3, 476).

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Selbstreflexion zu nutzen. Noch erweist sich das zu reflektierende ›Selbst‹ indessen weitgehend als Leerstelle, noch scheint temporärer Selbstbezug nur vor dem Hintergrund einer patriarchaler Hierarchie vom Vater bis zu ›Gott‹ möglich (MSS, V / 8, 519: »dass mein Vater versöhnt ist und mir vergeben hat. […], dass der ewige himmlische Vater nicht grausamer sein könne«; V / 10, 523: »Ich sterbe und vergeb es der Hand, durch die mich Gott heimsucht« und 524: »Sir William: […]. […] was vermag der Segen eines wimmernden Vaters […]. […]. Oder bitte Gott, […].«).47 ›Erhaben‹, also gefühlsdistanziert selbstreflexiv zu ›denken‹, lernt Sara vollends bei dem mehrfach unterbrochenen und am Ende vergeblichen Versuch, einen Antwortbrief zu schreiben. In der affektsemiotischen Lektion, die ihr im vierten Auftritt des dritten Aufzuges zu Teil wird, lernt sie nämlich nicht nur Zeichen und Bezeichnetes zu unterscheiden, sondern erfährt zugleich schmerzlich die Lücke zwischen beiden und das Ungenügen kontingenter sprachlicher Ausdrucksmittel für seelische Vorgänge. Die Reflexion des eigenen Gefühlszustandes ist von einer Reflexion der Probleme seiner sprachlichen Bezeichnung im Selbstgespräch nicht zu trennen: Ja, die Feder habe ich in der Hand. – Weiß ich aber auch schon, was ich schreiben soll? Was ich denke; was ich empfinde. – Und was denkt man denn, wenn sich in einem Augenblicke tausend Gedanken durchkreuzen? Und was empfindet man denn, wenn das Herz vor lauter Empfinden in einer tiefen Betäubung liegt? – Ich muß doch schreiben – Ich führe ja die Feder nicht das erstemal. Nachdem sie mir schon so manche kleine Dienste der Höflichkeit und Freundschaft abstatten helfen; […]. sie denkt ein wenig nach und schreibt darauf einige Zeilen: Das soll der Anfang sein? Ein sehr frostiger Anfang. Und werde ich denn bei seiner Liebe anfangen wollen? Ich muß bei meinem Verbrechen anfangen. sie streicht aus und schreibt anders (MSS, III / 4, 479; Kursivierungen im Orig.; Hervorh. C.-M.O.).48

Das ›Frostige‹ bezeichnet übrigens, worauf Sulzer in seiner Allgemeine Theorie der Schönen Künste im Anschluss an Plutarch und Longinus hinweist, ein »falsches« Erhabenes, welches »das, was man hat erheben wollen, durch die Mittel, die man dazu braucht, niedrig und platt«49 erscheinen lässt, also übertriebene »figürliche Redensarten, Tropen und Bilder« verwendet und »überhaupt dieses Leidenschaftliche blos aus Verstellung, und nicht aus würklicher 47 Die semantische Äquivalenz von ›Gott‹ und strengem oder zärtlichem ›Vater‹ stützt die obsolete These von der ›Empfindsamkeit‹ als säkularisiertem Pietismus nur vordergründig; problematisierend siehe u. a. Sauder (1974), 58 – 64, v. Graevenitz (1975) oder Bohrer (1989), 24 f. 48 Später wird sie nicht mehr von einem strafwürdigen ›Verbrechen‹ sprechen, sondern aristotelisch von einem verzeihlichen ›Fehler‹ (hamartia): »Mein Fehler, Ihre Vergebung – –« (MSS, V / 9, 521). 49 Sulzer, Schöne Künste, 406.

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Empfindung« schöpft.50 Aber auch die verlässlich geregelte Rhetorik und Topik des galanten und ›höflich‹ complimentierenden Briefs muss gerade da versagen, wo ein »zärtlicher Brief« (MSS, III / 6, 484) ›empfindsam‹ beantwortet werden will, also die Verschriftung von ›Gedanken‹ und ›Empfindungen‹ gefordert ist. Und Sara wird sich selbst genau dann zum Rätsel, als sie ihre Affekte zu reflektieren und zu verbalisieren versucht und sich ihre ›empfindsame‹ Selbstbeobachtung paradox potenziert: Was ›empfindet‹ man, wenn man nichts ›empfindet‹ (»Betäubung«), weil man zu viel und zu stark ›empfindet‹? Die gewonnene Zeit zur Selbstreflexion scheint außerdem jenen abstrakten Klugheits- und Tugenddiskurs zu begünstigen, mit dem Sara später gegenüber Marwood ihre »Sittenlehre« (MSS, IV / 8, 501) zu rechtfertigen versucht. Zugleich verzögern die im dritten Aufzug unmittelbar folgenden Störungen durch den Auftritt Marwoods und Mellefonts, die beide den Brief des Vaters lesen (MSS, III / 5, 479: »Ach! Warum muß ich nun gestört werden?«), sowie eine erneute Störung durch ihre Bediente Betty (MSS, III / 6, 483) und die sogar noch im vierten Aufzug mit Mellefont verabredete, vergleichende Korrekturlektüre ihrer zu vollendenden Briefe die Erfüllung des eigentlichen Zwecks der Briefkommunikation immer weiter : »Ich will gehen und meinen Brief vollenden. Ich darf doch auch den ihrigen lesen, wenn ich Ihnen den meinigen werde gezeigt haben?« (MSS, IV / 1, 488) Aber nicht nur wiederholter Zeitverlust wirkt sich ›tragisch‹ aus, sondern auch Saras nachträgliche Interpretation der »mördrischen Retterin« (MSS, IV / 8, 509) in ihrem Warn-Traum (erster Akt, siebte Szene), in der sie nun die als Marwood enttarnte Lady Solmes zu erkennen glaubt. Saras eigene Traumdeutung stigmatisiert Marwood vorauseilend überhaupt erst als ›Mörderin‹ und veranlasst damit deren spontanen Mordanschlag, der zu Saras schnellem Ende führen wird.51 Was ursprünglich dazu dienen sollte, mit den Worten Waitwells, der ›Gefährlichkeit‹ »plötzlicher Freude« und »plötzlichen Schreckens« (MSS, V / 8, 520) zu begegnen, verbraucht also, so ist festzuhalten, selbst wertvolle Zeit, die das Trauerspiel – und nicht erst nachdem Marwoods Gift in Sara zu wirken beginnt – schon längst nicht mehr hat. Kurz vor ihrem Tod scheint Saras Antwort »fertig, bis auf einige Zeilen« (MSS, V / 7, 518), und die bereits im vierten Aufzug – nachdem Marwood von Sara als die geträumte »mörderische Retterin« (MSS, IV / 8, 509) interpretiert worden ist – vergeblich herbeigerufene ›Stimme‹ des noch immer auf Antwort wartenden Vaters wird viel zu spät ›erschallen‹: »du 50 Ebd. 51 So schon Eibl (1977), 165 – 167, zur Deutung von Saras Traum und zum imaginierten Verhältnis von »Rettung und Tod« (167). Dass Lessings Trauerspiel außerdem das implizit inzestuöse Bedeutungspotential dieses Traumes bei weitem nicht ausschöpft, zeigt Wünsch (2008).

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süße Stimme meines geliebten Vaters, erschalle! Wo schallt sie?« (MSS, IV / 8, 509). Die schrift-induzierte Verzeitlichung der Kommunikation ist jedoch nicht mehr rückgängig zu machen: »Sie sind zu einer schrecklichen Scene gekommen. Warum kamen Sie nicht eher? Sie kommen zu spät, ihre Tochter zu retten« (MSS, V / 10, 522) – wird Sampson von Mellefont vorgeworfen, der indes durch sein Hinauszögern der Heirat mit Sara selbst zum tragischen Ende beigetragen hat; und Sampson bleibt nur, seinen Fehler, Verzeihung an ›eigennützige‹ Bedingungen und an aufschiebende Kommunikation geknüpft zu haben, zu bereuen: »Warum vergab ich Dir nicht gleich? […]. Und noch heute, da ich Dir schon vergeben hatte, was zwang mich, erst eine Antwort von Dir zu erwarten?« (MSS, V / 9, 521). Dass Mellefont den Geständnis-Brief der flüchtigen Marwood – gleichsam Saras nachträgliches Todesurteil – verliest und Sara das Schriftstück danach ›zerreißt‹, erweist sich vor diesem Hintergrund als zeichenhaft: Sie tilgt damit ein Beweismittel gegen die Mörderin, die die eigene Tochter als Geisel instrumentalisiert, verzeiht ihr ohne Aufschub und entkoppelt damit Vergebung und potentielle Bestrafung vom zeitenthobenen Schriftstück und seiner zukünftigen Wirkung. Gleichwohl traut sie dem Gehörten zunächst nicht, erliegt also auch jetzt noch der Versuchung des Selbst- und Gegen-Lesens, obwohl Marwoods Rache-Brief wie zuvor William Sampsons ›zärtliches‹ Gegenstück von jeglichem Verdacht der Verstellung befreit scheint: »Geben Sie mir dieses Papier, ich will mich mit meinen Augen überzeugen […] sie sieht es einen Augenblick an: Werde ich so viel Kräfte noch haben? sie zerreißt es.« (MSS, V / 10, 523; Kursivierungen im Orig.).52 ›Kräfte‹ und Zeit reichen nicht mehr zur vollständigen Lektüre – das Ende des Lesens wird durch Saras nahenden Tod mehr erzwungen als freiwillig vollzogen. Indem Sara jedoch ihre Lektüreunfähigkeit akzeptiert und die Nachricht der geflohenen Marwood tilgt, verzichtet sie nicht nur auf Rache an Marwood, sondern emanzipiert sich auch von den destruktiven Langzeitwirkungen schriftlicher Kommunikation, die Raum- und Zeitdistanz weniger überbrücken hilft als vielmehr Zeitabstand überhaupt erst produziert – und verdankt ihre finale Bewunderungswürdigkeit und moralische ›Erhabenheit‹ gerade deshalb umso mehr dem in strafvereitelnder Absicht zerrissenen Brief. Im Unterschied 52 Im fünften Auftritt des dritten Aufzugs (MSS, III / 5, 482) vermutet Marwood allerdings hinter William Sampsons Brief und seiner »unvermuteten Güte […] Verstellung« und »List«. – Zum schauspieltheoretischen Hintergrund von Marwoods Verstellungskünsten als ›Spiel im Spiel‹ und als das »negative Zerrbild des Schauspiels« vgl. Weiershausen (2011), 79 – 82, hier 79, sowie zum tragischen ›Helden‹ Mellefont, der ›Weinen‹ lernt und ›Verstellung‹ verlernt, ebd., 81 (MSS, I / 5, 439: »Wo ist die Gabe der Verstellung hin?«). – Zu ›Verstellung‹ und Affektausdruck von Weise und Thomasius bis zu Rousseau, Lavater und Schiller siehe grundlegend Geitner (1992).

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zu Sampsons bedingter Verzeihung gegenüber Sara manifestiert sich Saras bedingungslose Vergebung nicht in einem Affekte stimulierenden und zugleich prüfenden Brief, sondern vielmehr umgekehrt in der Tilgung eines belastenden Schriftstückes. Schriftlichkeit hat als potentiell gefährliches Medium der affektiven Selbstdistanzierung vorerst ausgedient und erweist sich dennoch als unverzichtbar für die (Selbst-)Verklärung einer sich selbst beobachtenden und reflektierenden Sara zum posthum und mündlich zu vermittelnden Lehr-›Exempel‹ für Marwoods Tochter Arabella (MSS, V / 10, 524). »Diese Heilige befahl mehr, als die menschliche Natur vermag!« (MSS, V / 10, 525)53 kommentiert Mellefont, der ihr im heroisch sühnenden Selbstmord nachzueifern versucht, William Sampsons »Wut« (MSS, V / 10, 525) über sich als den vermeintlich eigentlich Schuldigen an Saras Tod jedoch vergeblich zu erregen versucht. Der Status empfindsamer Schriftlichkeit im Trauerspiel erweist sich also als ambivalent: Gerade der scheiternde Versuch, die seelische Totalität Saras mit Hilfe von Lese- und Schreibakten zu explorieren und zu kommunizieren, ermöglicht die Distanzierung sowohl von unzureichenden sprachlichen Mitteln als auch vom eigenen Seelenzustand und setzt einen Reflexionsraum des nicht vollständig zu bezeichnenden ›Inneren‹ frei. Sprachskepsis und die ›Erhabenheit‹ des ›unendlichen‹ seelischen ›Innen‹ bedingen einander ; letzteres erweist sich auch mündlich als kaum verbalisierbar und Saras Sprechakt mündet in Gedankenstrichen: Zu glücklich, wenn ich noch einige Augenblicke gewinne, Ihnen die Empfindungen meines Herzens zu entdecken. Doch nicht Augenblicke, lange Tage, ein nochmaliges Leben würde erfordert, alles zu sagen, was eine schuldige, eine reuende, eine gestrafte Tochter einem beleidigten, einem großmütigen, einem zärtlichen Vater sagen kann. Mein Fehler, Ihre Vergebung – – (MSS, V / 9, 521; Hervorh. C.-M.O.).

Alles zu sagen benötigte so viel Zeit wie das ›Leben‹ selbst, und das eigene Fühlen erhält einen unaufhebbaren Vorsprung vor seiner notwendig synekdochischen sprachlichen Repräsentation, deren Reflexion zugleich auch vom eigenen Affekt distanziert.54 Lessings Trauerspiel inauguriert so anlässlich seiner nur vordergründigen Kritik am destruktiven Schriftverkehr eine poetologische Funktion von Schriftlichkeit auf dem Theater, die zu einem frühen Zeitpunkt – noch vor Edmund Burkes Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautyful (1757; dt. 1773) und Lessings Bemerkungen über Burkes philosophi53 Ähnlich auch MSS, V / 9, 523 und 524: »Engel«. 54 Wegmann (1988), 78, weist anlässlich des ›empfindsamen‹ Briefs auf den »Zwang zu endlosen selbstreferentiellen Beschreibungen« hin, »für die jeder ›vorzeitige‹ Abschluss ein Verlust am utopischen Ideal lückenloser privater Kommunikation sein muss«; vgl. auch Goethe, Werther, 22: »Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt!« – die niemals vollständig zu verbalisieren und über die niemals angemessen zu kommunizieren sein wird, wäre zu ergänzen.

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sche Untersuchungen (1759) – eine langfristige wirkungsästhetische Problemstellung literarisch modelliert. Diese wird sich u. a. von Lessings Laokoon-Studie (1766) und Friedrich Schillers Rezeption von Kants ›Analytik des Erhabenen‹ in der Kritik der Urteilskraft (1790) bis zu Schillers Konzeption vom »Pathetischerhabenen«55 entfalten (Vom Erhabenen [1793], Über das Pathetische [1793, Zweitdruck 1801], Über das Erhabene [1801]) und ist hier nicht im Einzelnen nachzuzeichnen.56 Mise-en-abyme verweist dargestellte schriftliche Kommunikation darüber hinaus aber auch auf die schriftgestützte Pseudo-Mündlichkeit der dramatischen Dichtung selbst, erinnert an die unvermeidliche sprachliche Kodierung der Affekte – auch der dramatischen wie ›Mitleid‹, ›Schrecken‹ und ›Bewunderung‹ – und durchkreuzt zugleich selbstreflexiv bereits deren Wirkung. Zwar wird Williams ›Fehler‹, der unvermittelten Interaktion – und damit auch der Performanz des Theaters selbst – zu misstrauen und diese durch beobachtete Schriftkommunikation in ihrer Affektwirkung zu mindern, durch den tragischen Ausgang ›bestraft‹, zugleich verdankt sich diese Tragik ebenso wie Saras Selbsterkenntnis und moralische Läuterung ganz wesentlich genau diesem väterlichen ›Fehler‹ – also der durch das zeitintensive, weil schriftgestützte Wirkungsexperiment Sir Williams verzögerten Verzeihung, die es Sara wiederum ermöglicht, am Ende der abwesenden Marwood – »der Hand, durch die mich Gott heimsucht« (MSS, V / 10, 523) – angesichts ihres Briefes ohne Aufschub zu vergeben. William scheitert zwar am Paradoxon ›empfindsamer‹ Kommunikationsmedien, wenn er die Subjektivität Saras und ihr seelisches Innenleben, also das eigentlich Unbeobachtbare beobachten und das Nicht-Verbalisierbare verbalisieren lassen will – mündlich durch Waitwell und schriftlich durch Sara selbst.57 Zugleich verdanken sich diesem kommunikativen Scheitern aber Akte der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion, die ex negativo einen affektreduzierten Diskurs über Gefühle ahnen lassen, der das Dilemma aus ›Empfindungen‹ und einer differenzierten Rede über ›Empfindungen‹ temporalisiert, selbstreflexive Affektunterbrechungen aber immer noch affektiv einbettet und mündlich kommuniziert.

55 Schiller, Vom Erhabenen, 421. 56 Zu Schillers Konzeption des ›Erhabenen‹ siehe Janz (1990) sowie eingehend Barone (2004), zu Maria Stuart ebd., 295 – 309; einen historischen und systematischen Überblick über die Kategorie des ›Erhabenen‹ gibt Heininger (2001). 57 Was der »späteren romantischen Selbstreferenz« des »fremden Ich« zu ähneln scheint (Bohrer [1989], 26), letztlich aber noch der aufklärerischen Konzeption eines exemplarischen und d. h. »anthropologisch generalisierbaren Ichs« (ebd.) verpflichtet bleibt; zur ›Anthropologie‹ der Goethezeit vgl. jüngst Ort / Lukas 2012.

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Tötende Texte: Zur Affektpsychologie des literarischen Todesurteils (Schiller, Iffland, Kleist)

Operieren ›empfindsame‹ Briefe als Medien von Reue, Selbstbezichtigung und Geständnis einerseits und von Anklage, Verurteilung oder Vergebung andererseits selbst schon metaphorisch an der Grenze von Psychologie und Recht, so psychologisiert die Dramenliteratur umgekehrt und wiederholt das schriftlich vorformulierte, vom fürstlich strengen oder väterlich milden Richter zu unterzeichnende oder aufzuhebende Todesurteil, das den Zusammenhang von situationsabstrakter Schriftlichkeit, verknappter oder verschwendeter Zeit und potentiell tragischer, weil tödlicher Performanz zu verhandeln erlaubt.58 Friedrich Schillers Trauerspiel Maria Stuart (1800) inszeniert demnach einen zu Miß Sara Sampson inversen Fall, in dem sich nicht die gewonnene und vergeudete Zeit des Lesens und Schreibens tödlich auswirkt, sondern es vielmehr umgekehrt misslingt, die distanzierende und reflexionsfördernde Funktion von Schriftlichkeit und einen mit ihr verbundenen Zeitgewinn, also die Zeitlücke zwischen Schreibakt, Lektüre- und Interpretationsakt und Realisierung des Geschriebenen, zu nutzen, um die tödlichen Folgen des Schreibaktes selbst zu vermeiden. Dabei wird einmal mehr deutlich, wie sehr sich der Umweg über die Lektüre des selbst Ge- und Unterschriebenen dazu eignet, als Medium der Selbst-Distanzierung durch entfremdende Selbstwahrnehmung zu fungieren. Dass nämlich die dauerhafte Qualität von Schrift nicht zurückzunehmen ist und nicht der Flüchtigkeit und dem Wandel ihrer affektiven Ursachen unterliegt, wird Elisabeth im vierten und fünften Aufzug schmerzlich bewusst, als sie das vorformulierte Todesurteil für die längst todgeweihte Maria Stuart unterschreibt: »Sie unterschreibt mit einem raschen festen Federzug, läßt dann die Feder fallen und tritt mit einem Ausdruck des Schreckens zurück« (Kursivierung im Orig.).59 In der folgenden Diskussion mit dem Staatssekretär Davison, der das Dokument als Gebrauchstext seiner Bestimmung zuführen und die Anweisung ohne »Aufschub« und »buchstäblich«60 befolgen möchte – »Dein Name unter dieser Schrift entscheidet alles, tötet« –,61 versucht Elisabeth dem Urteil – wie einem ›empfindsamen‹ Brief oder einem fiktionalen, poetischen Text – semiotischen Eigenwert und aufschiebende Auslegungszeit zuzuschreiben: »Unterschreiben sollt’ ich. Ich hab’s getan. Ein Blatt Papier entscheidet noch nicht, ein Name tötet nicht.«62 Elisabeth verweigert gegenüber Davison jedoch eine ein58 Zum Gerichtsverfahren als dramaturgisches Modell der ›Aufklärung‹ und zur ›Wirkungspoetik‹ von Tragödie und Hinrichtungstheater siehe Wirtz (1994) und Zelle (1984). 59 Schiller, Stuart, 118. 60 Ebd., 120. 61 Ebd., 119 (Hervorh. im Original). 62 Ebd., 119.

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deutige Interpretation des Geschriebenen, nutzt den selbst eröffneten Auslegungsspielraum also nicht: Davison: In klare Worte fasse Deine Meinung […]. Willst Du, dass er gleich vollzogen werde? Elisabeth (zögernd): Das sag ich nicht und zittre es zu denken. […]. Davison: Was willst Du? (Kursivierung im Orig.)63

Als wiederum gefälschte Briefe die Unschuld Maria Stuarts zu belegen scheinen und Elisabeth fälschlicherweise auf noch vorhandene Zeit vertraut – »Gut, dass es noch Zeit ist!«64 –, muss sie zur Kenntnis nehmen, dass ihre Höflinge den Deutungsspielraum bereits genutzt haben und Maria bereits hingerichtet worden ist (fünfter Aufzug, vorletzter Auftritt). Und nun leugnet die Königin, jemals diesen hermeneutischen Spielraum eingeräumt zu haben, und signalisiert ex post und paradox, dass sie gerade diese Deutungsunsicherheit selbst dauerhaft bewahrt wissen wollte: »Nichtswürdiger! Du wagst es, meine Worte zu deuten? Deinen eignen blut’gen Sinn hineinzulegen?«65 Den Deutungsspielraum gerade schriftlicher Äußerungen zu erweitern und deren Deutungszeitraum zu verlängern, erweist sich laut Elisabeth als sittliche Qualität, die verfehlt zu haben sie am Ende konzedieren muss: »Das Urteil war gerecht, die Welt kann uns nicht tadeln. Aber Euch gebührte nicht, der Milde unsres Herzens vorzugreifen.«66 Während Sir Sampson, um sich sein ›Urteil‹ über Saras Affekte zu bilden, eine sofortige Reaktion auf seinen empfindsamen Brief erwartet, rechnet Elisabeth umgekehrt – und ebenfalls vergeblich – mit einer verzögerten Wirkung ihres Todesurteils; beide Schriftstücke tragen somit auf unterschiedliche Weise zum Tod ihrer Empfänger bei. Um das Reflexionsmoment von Schriftlichkeit als moralisches auf nicht destruktive (›tragische‹) Weise nutzen zu können, bedarf es also einer Limitierung der dafür zweifellos benötigten Zeit, die den Gefahren potentiell unabschließbarer Selbstreflexion (Miß Sara Sampson) oder unbestimmter, im Falle von Maria Stuart faktisch zu restriktiver Interpretationsspielräume begegnet. Dass umgekehrt aber auch die tödlichen Folgen unreflektierten Unterschreibens ohne vorangehende Urteilslektüre zu vermeiden sind, demonstriert Camillo Rota in Lessings Emilia Galotti, wenn er dem zerstreuten Fürsten die auszufertigenden Todesurteile vorenthält (erster Akt, achte Szene: »Recht gern? – ein Todesurteil recht gern?«67). Einen ›idealen‹ Mittelwert realisiert dagegen August Wilhelm Ifflands ›bürgerliches Trauerspiel‹ Albert von Thurneisen (1781), wo General von Dolzig das kriegsrechtlich unvermeidliche Todesurteil für seinen potentiellen Schwieger63 64 65 66 67

Ebd., 120. Ebd., 145. Schiller, Stuart, 146 (Hervorh. im Original). Ebd., 147. Ebd., 307.

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sohn Baron von Thurneisen, der seinen Posten im Angesicht des Feindes verlassen hat, um des Generals Tochter Sophie heimlich zu treffen, erst nach einem Lektüre- und affektiven Selbstprüfungsprozess unterschreibt und den Konflikt zwischen fühlendem Vater und rationalem Richter als unlösbar akzeptiert. Als Vater verzeiht er, als Richter richtet er (dritter Akt, siebter Auftritt) und schafft erst dadurch die Voraussetzung für die finale allseitige Versöhnung – auch mit dem todgeweihten, sein Urteil akzeptierenden Thurneisen: Der General. (nimmt Verhör und Urtheil, sieht es flüchtig durch, setzt sich um es zu unterschreiben. Steht dann plötzlich auf.) Das war rasch – das war rasch! Ein Urtheil von der geringsten Bedeutung unterschrieb ich nie so schnell. Was war das? Doch nicht in Rücksicht auf meine Kränkung? Doch nicht aus Rache? Ich hoffe nicht – ich hoffe nicht! – Nein! ich hätte vergessen können, dass ein Zug mit der Feder den Tod gelte? Nein, gewiß nicht – Aber ich wollte doch schreiben? ich muß mißverstanden haben. Das muß ich – (wild) Das hab’ ich auch! – So weich sonst, und so rasch zum Verderben – […]. (nachdem er einigemal auf und nieder gegangen) Nun will ich lesen – was ich nun thue, Gott! Das verantwort’ ich vor deinem Gerichte. (nachdem er lange gelesen, wirft ers auf den Tisch) Ohne Rettung – (ergreift es wider [sic]) Oder wäre etwa – (nachdem ers nochmal durchgesehen, legt ers wieder hin) Unmöglich! Keine Rettung! […], ich verzeihe dir. Unglücklicher! […]. (Er unterschreibt langsam, und ohne Kampf) Geschehen ist’s, Gott gebe ihm Erkenntnis, daß ich nicht anders handeln durfte, konnte – und Muth zu sterben (Kursivierungen im Orig., Hervorh. C.-M.O.)68

In Heinrich von Kleists ›Schauspiel‹ Prinz Friedrich von Homburg (1811) dagegen handelt der väterliche Landesherr, Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, im Falle des siegreichen somnambulen Reitergenerals Prinz Friedrich Arthur von Homburg anders und prüft zunächst, wie Vater Sampson, mit Hilfe eines Briefes, ob Homburg seiner Vergebung – und das heißt hier : der Begnadigung vom kriegsrechtlich zwingenden, bereits verschrifteten Todesurteil (PFH, III / 1, 671) – würdig sei. Im Unterschied zu Sampsons tragisch misslingendem Experiment, Saras Affekte durch die Beobachtung ihrer Brieflektüre zu erregen, zu prüfen und die Beobachtungssituation in schriftliche Kommunikation zu überführen, scheint der Brief des Kurfürsten, der nach der Fürbitte seiner verliebten Nichte Natalie von Oranien bedingt begnadigungsbereit ist, eine schnelle und eindeutige Antwort des Inhaftierten nahezulegen: »Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Kassier ich die Artikel: er ist frei! –« (Kurfürst zu Natalie, vierter Akt, erster Auftritt; PFH 682). Wie der schlussendliche, ›traumhaft‹ überraschende Gnadenakt – »Kottwitz. Ein Traum, was sonst?« (PFH 709) – vor Augen führen wird, lassen sich vaterlän68 Iffland, Thurneisen, 68 f.; vgl. auch ebd., 82: »Sophie. […] bei dem theuren Vaternamen beschwör ich sie – Vater – Richter – Gnade!«; zum Thurneisen s. auch Kosˇenina (2008), 170 – 174, und zur ›Familienkommunikation‹ als »Kommunikation unter Anwesenden« bei Iffland: Niehaus (2007), 136 f., hier 137.

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disches ›Gesetz‹ und ›Gefühl‹ nach erfolgter heroisierender ›Abhärtung‹ und Affektdämpfung des vermeintlich hinzurichtenden Prinzen allemal versöhnen: »Natalie [zum Kurfürsten, C.-M.O.]. »Das Kriegsgesetz […] soll herrschen, / Jedoch die lieblichen Gefühle auch« (PFH 680). Zuvor erweist es sich als doppelt risikoreich und kontraproduktiv, dass Natalie als Liebende die Rezeption des fürstlichen Briefes an den Gefangenen zu manipulieren versucht, den Adressaten schon von Anfang an als ›begnadigt‹ bezeichnet und damit die Frage des Kurfürsten an den Prinzen marginalisiert, deren Beantwortung die paradoxe Voraussetzung für dessen Begnadigung schafft und ihm die rettende Selbst-Heroisierung und Affektdistanzierung überhaupt erst ermöglicht. So »[erblasst] Natalie« (kursiv im Orig.; PFH, IV / 4, 687), nachdem Friedrich den Brief vorgelesen hat und offenbar wird, dass die Entscheidung über Tod und Leben in der Hand des Prinzen selbst zu liegen scheint: ›[…] als ich Euch gefangen setzte, / […], / Da glaubt ich nichts, als meine Pflicht zu tun; / Auf Euren eignen Beifall rechnet ich. / Meint Ihr, ein Unrecht sei Euch widerfahren, / So bitt ich, sagts mir mit zwei Worten – / Und gleich den Degen schick ich Euch zurück.‹ (PFH, IV / 4, 687)

Dass die besorgte Natalie Friedrich in der Folge um so mehr zur schnellen, rettenden Antwort an den Fürsten in ›zwei Worten‹ zu verführen sucht – »[…] hier ist die Feder; nehmt, und schreibt!« (PFH, IV / 4, 687), »Ich will es Euch diktieren.« (ebd.) – und dessen »Milde« als »uferlos […] wie die See« bezeichnet (PFH, IV / 4, 687), setzt jedoch einen schriftgestützten Reflexionsprozess des auf Antwort sinnenden Friedrich in Gang (»Ich will den Brief noch einmal überlesen«, PFH, IV / 4, 687). Er verwirft sodann den ersten, unüberlegten Versuch einer Replik und verfasst sein Antwortschreiben erst nach einer erneuten, nun aber stummen Lektüre des Briefes: Der Prinz von Homburg indem er den Brief, den er angefangen hat, zerreißt und unter den Tisch wirft. Ein dummer Anfang. Er nimmt ein anderes Blatt. […] Eines Schuftes Fassung, keines Prinzen. – Ich denk mir eine andre Wendung aus. Pause. – Er greift nach des Kurfürsten Brief, den die Prinzessin in der Hand hält. Was sagt er eigentlich im Briefe denn? Natalie ihn verweigernd. Nichts, gar nichts! […] Ihr last ihn ja! Der Prinz von Homburg erhascht ihn. […] Er entfaltet und überliest ihn. Natalie für sich. O Gott der Welt! Jetzt ist’s um ihn geschehen! Der Prinz von Homburg betroffen. Sieh da! […] – Du übersahst die Stelle wohl? Natalie. Nein! – Welche? Der Prinz von Homburg. Mich selber ruft er zur Entscheidung auf! […] Recht, wie ein großes Herz sich fassen muß! […] Ich will die Sach bis morgen überlegen. Natalie. Du Unbegreiflicher! Welch eine Wendung? – […] Der Prinz von Homburg erhebt sich leidenschaftlich vom Stuhl. Ich bitte, frag mich nicht! Du hast des Briefes Inhalt nicht erwogen! […]

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Natalie bleich. Du Rasender! […] Sie beugt sich gerührt über ihn. Der Prinz von Homburg […] Lass, einen Augenblick! Mir scheint – Er sinnt. […] Gleich werd ich wissen, wie ich schreiben soll. Natalie schmerzvoll. Homburg! (PFH 688 – 689; Kursivierungen im Orig.; Hervorh. C.-M.O.).

Homburgs hermeneutische und moralische Reflexion erschwert, ja unterbricht die mündliche Kommunikation mit Natalie, die angesichts der heroischen Haltung des sorgfältigen Lesers Homburg aristotelischen ›Schrecken‹ (›bleich‹) und ›Rührung‹ (›gerührt‹, ›schmerzvoll‹) durchlebt. Der ›Unbegreifliche‹, ›Rasende‹ mit dem ›großen Herz‹, der für des Fürsten Gnade nicht ›streiten‹ will (»So mag ich nichts von seiner Gnade wissen«, PFH 690), bestätigt sein eigenes Todesurteil schriftlich und wird am Ende gerade wegen seiner moralischen ›Erhabenheit‹ von Natalie ›gelobt‹, ›bewundert‹ und ›geküsst‹: Natalie. […] Die Regung lob ich, die dein Herz ergriff. […] Kannst du dem Rechtsspruch, edel wie du bist, nicht widerstreben, […]: Nun so versichr’ ich dich, er [der Fürst, C.-M.O.] fasst sich dir / Erhaben, wie die Sache steht, und lässt / Den Spruch mitleidsvoll morgen dir vollstrecken! Der Prinz von Homburg schreibend. Gleichviel! […] Natalie tritt erschrocken näher. Du Ungeheuerster, ich glaub, du schriebst? (PFH 690; Kursivierungen im Orig.; Hervorh. C.-M.O.).69

Was Natalie dem Kurfürsten zuschreibt, nämlich ›Bewunderung‹ und ›Mitleid‹ mit dem ›Ungeheuersten‹, prognostiziert sie auch für sich selbst, nachdem der Brief Homburgs gesiegelt und expediert ist: Angesichts der affektdisziplinierenden Seelengröße Homburgs und der ›Erhabenheit‹ seines vermeintlich bevorstehenden Heldentodes,70 der demjenigen des versöhnt und gefasst in den Tod gehenden Offiziers Thurneisen gleichkommt, bleiben ihr nur widerstreitende Gefühle: »Nimm diesen Kuss! – Und bohrten gleich zwölf Kugeln / Dich jetzt in Staub, nicht halten könnt ich mich, / Und jauchzt und weint und spräche: du gefällst mir!« (PFH 690). Im Gegensatz zu Ifflands Thurneisen, dessen Fallhöhe geringer ist, dem direkte Briefkommunikation mit dem Souverän verwehrt bleibt und dessen Vergehen auch nicht mit dem des ohne fürstlichen Befehl glanzvoll siegenden Generals und Prinzen von Homburg zu vergleichen ist, kommt Homburg allerdings noch in den Genuss der Früchte seines pflichtethischen ›Heroismus‹ und erlebt seine imaginäre Wiedergeburt, nachdem ihn die ausbleibende Exekution hat in Ohnmacht fallen lassen (»Natalie. Himmel! 69 Grugger (2010) analysiert das »Spiel um das Erhabene« (194 – 196, hier 194), in das »sich mit der Verweigerung der erforderlichen ›Selbstbegnadigung‹ der Prinz begibt« (195); erst die »konkrete Todesdrohung als auch die Möglichkeit einer […] freien Handlung« transformieren Homburg »in das Erhabene« (ebd.); zum ›Erhabenen‹ des Todes siehe auch 200 – 202. 70 »Ruhig! Es ist mein unbeugsamer Wille! / Ich will das heilige Gesetz des Kriegs, / das ich verletzt, im Angesicht des Heers, / Durch einen freien Tod verherrlichen!« (PFH 704).

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Die Freude tötet ihn!« PFH 708) und erst Kanonenschüsse ihn wieder erwecken.71 Homburgs »Leiden« (PFH 708) und sein bewunderungswürdiger ›Heroismus‹ sowie das Mitleid und die Bewunderung seiner Umgebung unterliegen dabei strikter zeitlicher Begrenzung und münden in ein ›traumhaft‹ glückliches und untragisches Ende, das sich nicht nur einem verzeihensbereit milden Landesvater und der Fürsprache der liebenden Frau, sondern auch einer erfolgreichen Briefkommunikation ohne langwierigen Reflexionsprozess und der bewunderungswürdigen, deshalb zu belohnenden, pflichtethischen Entscheidung Friedrichs verdankt.72 Und insofern diese Entscheidung aus sorgfältiger Brief-Lektüre und einer ebensolchen schriftlichen Antwort hervorgeht, ist Homburgs Rettung zugleich ein Ergebnis seiner hinzugewonnenen Literalität und Schreibkompetenz. Hatte deren Mangel – sein Versäumnis als Offizier, empfangene Befehle zu verschriften (»Diktieren in die Feder macht mich irr«, PFH, II / 2, 650)73 – zu Homburgs spontaner militärischer Insubordination beigetragen, so ›therapiert‹ den träumerischen und somnambulen Prinzen nun (PFH, I / 1, 632: »Die Kurfürstin. Der junge Mann ist krank, […]. Prinzessin Natalie. Er braucht des Arztes –!«) offenkundig gerade schriftgestützte Selbstreflexion und Distanzkommunikation.74 Dreierlei ist abschließend und vorläufig festzuhalten: 1. Dass ein unvollständig ›beobachtbares‹ und ungenügend verbalisierbares seelisches ›Innen‹ der Figuren zum ›erhabenen Objekt‹ von Selbstreflexion wird, bei dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den Kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch d.i. durch Ideen erheben (Hervorh. im Orig.),75 71 Womit der imaginierte Opfertod Friedrichs das »immunologische Paradox« reproduziert, das Zumbusch (2012, hier 361) der ›Klassik‹ Goethes und Schillers zuschreibt (»Selbsterhaltung […] durch Selbstnegation«, ebd., 362); die ›klassische‹ »Dramaturgie der Impfung« (ebd., 12) folgt der »paradoxen Logik der Immunisierung […], nach der man sich selbst zuzufügen hat, was man eigentlich abwehren möchte« (363). 72 Deißner (2009), 105 – 151, rekonstruiert mit Blick auf Kant den »Weg zum Gesetz«, welchen der »Träumer« Homburg (119 f.) beschreite und auf dem er seinen »inneren Feind« (130) bezwinge, vor dem Hintergrund des inversen »Weg[es] zum Gefühl«, auf dem sich der Kurfürst als »Kantianer« befinde (131 f.); s. auch 144 – 151. 73 PFH, I / 5, 643, 644 und 646: »Er tut, als ob er schriebe.« (Hervorh. im Original); 646: »Feldmarschall. Ob Ihr geschrieben habt?«, 647: »Der Kurfürst […]. […]. Habt ihr geschrieben?« 74 Zu Friedrichs Krankheitsbild mit Blick auf den ›Magnetismus‹-Diskurs bei Schubert, Reil u. a. siehe Wilhelm (1994). 75 Schiller, Vom Erhabenen, 395; ähnlich schon Schillers Tragische Gegenstände, 239: »Das Gefühl des Erhabenen besteht einerseits aus dem Gefühl unsrer Ohnmacht und Begrenzung, einen Gegenstand zu umfassen, anderseits [sic] aber aus dem Gefühl unsrer Übermacht,

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und dies gerade zwischen 18. und frühem 19. Jahrhundert an dramatisierte Schriftlichkeit und insbesondere an theatralisch inszenierte Briefrede geknüpft ist, mag – so ist auf der schmalen Grundlage der hier unternommenen exemplarischen Stichprobe zu vermuten – auch als Indikator des Übergangs von einer Poetik der Affekterregung zu einer Poetik der Affektunterbrechung – von Lessing zu Schiller und Kleist – interpretiert werden.76 2. Darüber hinaus profiliert sich eine ›empfindsame‹ Affektpsychologie im Medium der Schrift auf der Bühne als Medium ›erhabener‹ und selbstreflexiver Affektdistanzierung, verzögert und unterbricht Kommunikation, fördert die Selbstwahrnehmung des Lesenden und Schreibenden und ermöglicht rettenden Zeit- als Reflexionsgewinn oder verursacht tödlichen Zeitverlust durch situationsabstrakt verzögerte Kommunikation.77 Thematisieren Dramen als Lesedramen und Präsenzmedien die Schwächen schriftlicher Repräsentationen des seelischen ›Innen‹, von deren Defiziten sich die ›vernünftige Natur‹ in der Tat als ›überlegen‹ zu emanzipieren vermag, dann erwächst solch indirekter Selbstreferentialität eine wirkungsästhetische Funktion, die aus dem ›Pathetischen‹ – dem Leiden am Affekt und an seiner sprachlichen Bezeichnung – das ›Erhabene‹ hervortreibt und die distanzierende Reflexion von Affekt und Affektrepräsentation als ›sittlich‹, ›vernünftig‹ und ›schön‹ einstuft – und zwar unabhängig davon, ob diese Reflexion als tragisierendes oder enttragisierendes Moment fungiert. Vorerst offenbleiben muss schließlich 3., inwieweit sich die Funktionen dargestellter – dramatisierter, erzählter – Mündlichkeit und Schriftlichkeit diachronisch extrapolieren und als Kriterium literarischen Wandels nutzen lassen.78 welche […] dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsre sinnlichen Kräfte unterliegen.« (Hervorh. im Original); vgl. Grugger (2010), 186 f., der anlässlich von Kleists Homburg darauf hinweist, dass »grundlegende Entscheidungen […] in das Innere der Figuren verlagert [werden], was enorme rezeptive Räume freisetzt, aber als polyseme Strukturierung interpretative Zugänge innerhalb enger Grenzen entlangführt.« 76 Inwieweit dies und zugleich die Lockerung der Bindung des ›Heroischen‹ an ›Bewunderung‹ (nicht erst bei Kleist) sowie deren Emotionalisierung den »Umschwung von einer Theorie der Tragödie in eine Philosophie des Tragischen« und die »Verselbständigung des Tragischen« um 1800 vorbereiten (Martinec [2005], 126), ist im gegebenen Rahmen nicht zu klären; zu Schillers später Aristoteles-Lektüre siehe aber Martinec (2005), 118 – 121, und zur ›Dramaturgie der Bewunderung‹ im 18. Jahrhundert grundlegend Meier (1993): zur Emilia Galotti ebd., 280 – 302, zur Transformation der ›aufklärerischen Bewunderungsdramaturgie‹ am Ende des Jahrhunderts und zur Funktion von ›Erhabenheit‹ ebd., 303 – 323. 77 »Schriftlichkeit ist ein kommunikationstechnisches Korrelat des diskursiven Phänomens ›Seele‹« (Koschorke [1999], 196), und: »[…] Lesen bedeutet zugleich Interpretieren. Jeder Lektüre-Akt […] ist auch ein hermeneutischer Prozess der Sinnkonstitution« (Doering [2003], 176). 78 Vgl. aber im Anschluss an Niklas Luhmanns ›Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien‹ Ort (2002), 108 – 122, zu »›falsche[n] Briefchen‹ und ›noch eigentlichere[r]

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Siglen MSS Lessing, Miß Sara Sampson PFH Kleist, Prinz Friedrich von Homburg

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Marianne Wünsch

Grabbes Napoleon oder die hundert Tage. Eine neue Geschichtskonzeption und das Ende des klassizistischen Dramas

Anfang der 1830er Jahre erscheinen zwei innovative Prosadramen, Christian Grabbes Napoleon oder die hundert Tage 1831 und Georg Büchners Dantons Tod 1835, die beide erhebliche Gemeinsamkeiten in ihrer formalen Struktur aufweisen, durch die sie sich vom klassizistischen Dramentyp absetzen, und die beide zudem auch thematisch verwandt sind, insofern sie als historische Dramen, genauer : geschichtstheoretische Dramen, zwei historisch korrelierte Episoden der neueren Geschichte behandeln: Büchners Drama eine Episode aus der Französischen Revolution, Grabbes Drama die Episode der kurzfristigen Wiederkehr Napoleons, der früher die Französische Revolution beendet hatte. Beide teilen auch, dass die Situation, mit der sie enden, nicht einmal ein vorläufig definitives Ende des historischen Prozesses markiert, in dem die Figuren agieren. Dantons Tod endet zwar, darin gewissermaßen klassizistisch, mit dem Tod des Protagonisten, aber aus dem kulturellen Wissen folgt, dass die politische Auseinandersetzung, um die es geht, noch nicht abgeschlossen ist; mit dem Tod des Protagonisten ist kein stabiler Zustand erreicht, den erst nach der Hinrichtung Robespierres und der Episode des »Directoire« die Machtergreifung Napoleons herstellen wird. Noch unklassizistischer ist das Ende von Grabbes Napoleon: denn der verlorenen Schlacht von Waterloo würde der weitere siegreiche Krieg der »Alliierten«, die erneute Absetzung Napoleons und seine Verbannung nach Sankt Helena, die erneute Restauration der Herrschaft der Bourbonen folgen. Napoleon hat also, deutlicher als Dantons Tod, einen »offenen Schluss«, den der Rezipient natürlich aus seinem kulturellen Wissen ergänzen kann. Dieser »offene Schluss« betont den schon angesprochenen episodischen Charakter des Dargestellten: weder ist ein stabiler Endzustand erreicht, noch ist der Geschichtsprozess abgeschlossen, was innerhalb des Textes auch von zentralen Figuren, Napoleon und Blücher, angedeutet wird. Diese Unabgeschlossenheit des historischen Prozesses ist von der Geschichte selbst bestätigt worden: Wenn der Text 1831 erscheint, hat die Revolution von 1830 schon die reaktionäre, absolutistisch-restaurative Monarchie hinweggefegt und durch den »Bürgerkönig« Louis-Philippe ersetzt – ein Ereignis, das in I,1 schon vorher-

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gesagt wird: »Volk: Hoch Orl¦ans, einst König.«1 Grabbe hat denn auch in seinem Vorwort festgehalten: Dieses Drama war vor den welthistorischen Ereignissen des Juli vorigen Jahres vollendet. Seitdem ist manches eingetroffen, was in ihm vorausgesagt ist, – ebensoviel aber auch nicht. Man halte also den Verfasser an keiner Stelle für einen Propheten ex post. (317)

Ich komme später darauf zurück. Die Tendenz zum antiklassizistischen Drama manifestiert sich in beiden Texten zusätzlich in weiteren Strukturen. Zum einen war der Protagonist des klassizistischen Dramas immer so konstruiert, dass er auch ein Identifikationsangebot an den Rezipienten darstellte, vgl. z. B. Schillers Wallenstein-Trilogie (1800), Jungfrau von Orl¦ans (1802), Wilhelm Tell (1804): auch wenn er »menschliche Schwächen« aufwies, konnte man mit ihm sympathisieren. Sowohl Büchner als auch Grabbe verweigern dem Rezipienten mit unterschiedlichen Mitteln eine solche einfache Identifikation. In Dantons Tod sind beide Opponenten, Danton und Robespierre, Revolutionäre, somit ideologisch in der Restaurationsphase völlig inakzeptabel; beide verantworten zudem Gewalttaten. Sie unterscheiden sich nur darin, dass Danton das Blutvergießen beenden will, während Robespierre es verschärft. Aber Danton erscheint als Materialist, Nihilist, Wüstling, und somit in der bürgerlichen Ideologie als inakzeptabel, während Robespierre sich als Vertreter einer asketischen »Tugend« präsentiert. Der Bürger des Biedermeier kann also nur wählen, wen der beiden er als das kleinere Übel erachtet, wobei er sich, wenn sein Normensystem eine halbwegs humane Hierarchie aufweist, zähneknirschend oder -klappernd für Danton entscheiden müsste. Ebenso gilt im Napoleon, dass weder Napoleon noch Blücher eindeutig als Identifikationsfiguren bzw. als Sympathieträger in Frage kommen (dazu später). Zum anderen weichen beide Texte insofern vom klassizistischen Modell ab, als sie eine Vielzahl von Szenen aufweisen, in denen Figuren reden bzw. agieren, die man traditionell unter die Rubrik »Volk« subsumieren würde: Figuren also, die keine Entscheidungsträger sind, nicht zur Gruppe der politischen oder militärischen Machthaber gehören und deren Einstellungen aber gleichwohl politisch signifikant sind und politisch relevant werden. Zum Vergleich etwa Wallensteins Lager : Schiller hat die Klasse »Volk« im Wesentlichen als Vorspiel der Trilogie ausgegliedert, während Entscheidungen tendenziell erst in den beiden folgenden Teilen der Trilogie, und dort innerhalb der Klasse der »Machthaber«, fallen. Zum dritten ist bei Grabbe und Büchner die Relation der sukzessiven Szenen 1 Grabbe, Napoleon oder die hundert Tage, 335. Zitiert im Folgenden mit bloßer Seitenangabe; Hervorhebungen in den Zitaten stammen von Grabbe.

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gegenüber dem klassizistischen Modell massiv transformiert. Es folgen oft Szenen aufeinander, bei denen nicht nur ein radikaler Wechsel des Personals stattfindet, sondern die zudem in dem Sinne »additiv« aneinandergefügt scheinen, dass zwischen ihnen keine logische oder kausale Verkettung zu bestehen scheint und dass sie bezogen auf die vom Drama erzählte »histoire« narrativ nicht funktional scheinen können. Es ist dies im Übrigen eine Annäherung des Dramas an das, was man spätestens seit Gutzkows Die Ritter vom Geiste (1850 / 51) als »Roman des Nebeneinander« kennt. Die Transformationen dieses Dramenmodells bei den beiden Autoren sind auch korreliert mit einer veränderten Konzeption von Geschichte.2 Denn das klassizistische Dramenmodell, für das hier Schiller stehen mag, entspricht einem Geschichtsmodell, demzufolge es bei jeder historischen Transformation einen personalen, individualisierten Urheber gäbe, dem die Verantwortung für die Veränderung angelastet werden kann. Diese Geschichtskonzeption ist nun schon vor der Weimarer Klassik dank der Erfahrung der Französischen Revolution in die Krise geraten; denn viele Teilprozesse dieser Revolution waren von einem Kollektiv ausgelöst und wurden nicht von einem identifizierbaren Individuum veranlasst. Schillers späte Dramen zeigen sehr schön, wie der Konflikt zwischen dem traditionellen ideologischen Geschichtsmodell und dem eigenen historischen Wissen über die Revolution zu einer latenten Krise auch des klassizistischen Modells des historischen Dramas führt; so gut er kann verweigert Schiller die Konsequenzen des historischen Wissens. Wo das »Volk« im Wallenstein noch in einen eigenen Dramenteil ausgegliedert wurde, wird es in der Jungfrau von Orl¦ans in der jungen Frau als Protagonistin quasi personifiziert und kann in dieser Form als Handlungsträger integriert werden; signifikant ist dabei, dass Johanna, als Repräsentantin des anonymen Kollektivs »Volk« denn auch prophezeien darf, es werde bei Fehlverhalten des Königshauses zu einer – eben der französischen – Revolution kommen. Drastisch bricht der Konflikt des tradierten Geschichtskonzepts und des neuen historischen Wissens dann in Wilhelm Tell aus: eine Revolution wird erzählt, die sich freilich als restaurative, als Wiederherstellung alter Rechte, legitimieren muss; diese Revolution ist ein Produkt kollektiven Handelns der Verschwörer und ihrer Anhänger, die die feindlichen Burgen der österreichischen Besatzer erstürmen und diese vertreiben. Der Protagonist, Tell, hingegen begeht nur einen individuellen Racheakt an einem der Häuptlinge der Besatzer : seine Handlung ist in keiner Weise geeignet, die Schweiz zu befreien; denn natürlich wäre dieser Landvogt beliebig ersetzbar. Gleichwohl wird am Textende nicht das Kollektiv, sondern Tell, »der Held und 2 Die Forschungslage zu Grabbes Napoleon sei durch die im Literaturverzeichnis genannten Arbeiten repräsentiert. Für weitere Antworten auf die Frage nach der ›Logik‹ dieses Prosadramas sei insbesondere verwiesen auf Raith (2005).

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der Erretter«, vom »Volke« gefeiert. Im Text selbst haben wir also unübersehbar den Konflikt zwischen dem ideologischen Modell, wie Geschichte verlaufen sollte, und dem historischen Wissen, wie Geschichte tatsächlich verlaufen ist: und es siegt die Ideologie über das Wissen. In Grabbes Napoleon und Büchners Dantons Tod hat sich nun eine neue, der Empirie nähere Geschichtskonzeption durchgesetzt, und daher wird eben auch das klassizistische Dramenmodell fundamental transformiert. Die Ausgangssituation von Grabbes Napoleon ist bekannt: Nachdem Napoleons Siegeszug in und Vorherrschaft über Europa 1813 gebrochen, er zur Abdankung gezwungen und ins Exil nach Elba verbannt worden war, wurde von den Alliierten des Wiener Kongresses die Restauration der Bourbonen-Herrschaft unter Louis XVIII. in Frankreich durchgesetzt. 1815 – und das ist nun der erzählte Zeitraum – landet Napoleon überraschend in Frankreich, das in einem schnellen Siegeszug an ihn zurückfällt; ohne nennenswerte Gegenwehr leisten zu können, müssen die Bourbonen ihr Heil in der Flucht suchen, bis Napoleon, eben nach jenen »hundert Tagen«, von den Alliierten bei Waterloo geschlagen und die Bourbonen-Herrschaft zum zweiten Male – bis zu ihrem Sturze 1830 – restauriert wird. Dargestellt wird – um es noch einmal zu sagen – eine historische Episode mit »offenem Schluss«, zu deren Verständnis im Übrigen eine umfängliche Vorgeschichte seit der Französischen Revolution erforderlich ist. In der dargestellten Welt des Textes koexistieren Repräsentanten unterschiedlicher und sukzessiver Phasen dieses historischen Prozesses: es gibt die vorrevolutionäre, reaktionäre, restaurative Clique der ehemaligen Emigranten um Louis XVIII., die offenkundig gegen den Willen des französischen Volkes die Situation des »Ancien R¦gime« vor 1789 wiederherstellen möchten. Ihre erste Restauration scheitert an Napoleons Wiederkehr, zu dem seine früheren Truppen und andere Repräsentanten seines »Empire« mit Begeisterung zu ihm überlaufen; die zweite Restauration der Bourbonen-Herrschaft, die der Text nicht mehr darstellt, wird dann durch den Angriffskrieg der Alliierten gegen Napoleon ermöglicht. Eine dritte Gruppe sind die Überlebenden aus der Jakobinerfraktion der Revolution, im Text repräsentiert durch Jouve und die Vorstädter von St. Antoine. Ideologisch am interessantesten ist die vierte Teilgruppe, die einen Durchschnitt aus der liberalen Fraktion der Revolutionäre (Carnot) und einem Teil der politischen (Fouchet) und militärischen (Lab¦doyÀre) Elite des Empire bildet: diese Gruppe drängt Napoleon nach seiner Wiederkehr erfolglos zu einer liberalen Reform und einer konstitutionellen Monarchie. Der Text macht nun deutlich, dass die Zeit für bestimmte ideologische Gruppen definitiv und unwiderruflich abgelaufen ist. Die Reste des Jakobinertums haben keine Zukunft, da sie keinen Rückhalt in der Bevölkerungsmehrheit haben. Auch die Restauration des »Ancien R¦gime« findet keine Zustimmung in der Bevölkerung: etabliert nur durch ausländische Waffenge-

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walt, kann sie sich nur solange halten, bis die innenpolitische Opposition durch die Wiederkehr Napoleons einen charismatischen Anführer findet. Die Restauration Napoleons findet sehr wohl innenpolitische Unterstützung, scheitert aber an der außenpolitischen Aggression der Siegermächte. Das von einer Minderheit vertretene innovative politische Programm einer Liberalisierung des politischen Systems in Gestalt einer konstitutionellen Monarchie ist das einzige, das nicht wie Ancien R¦gime, Revolution, Empire auf die Restauration eines früheren Zustands hinausläuft. Diesem Programm aber fehlt die politisch-militärische Machtbasis. Es widerspricht sowohl der jakobinischen Revolution als auch der bourbonischen Reaktion; der Einzige, der es verwirklichen könnte, wäre aber Napoleon, der sich jedoch – zumindest zunächst – nicht von diesem Programm überzeugen lässt. Soweit zunächst zu Frankreich; sehen wir uns nun die außenpolitischen Kontrahenten Napoleons an. Die Kontrahenten bestehen, soweit sie dargestellt werden, im Wesentlichen aus den englischen Truppen unter Wellington und den preußischen Truppen unter Blücher. Signifikant ist hier nun zunächst, dass die politischen Repräsentanten Englands und Preußens nicht im Text auftreten, wofür Grabbe weiß Gott gute Gründe hatte. Die Szenen aus den militärischen Feldlagern illustrieren auf französischer Seite, dass seine Truppen geschlossen hinter Napoleon stehen. Im preußischen Lager hingegen gibt es eine interne Differenzierung: auf der einen Seite die normalen Soldaten, die Produkte der »allgemeinen Wehrpflicht«, so »der Berliner«, »der Schlesier« usw. sind. Bei dieser Gruppe ist keine ideologische Begründung des Angriffskriegs zu erkennen. Spannend hingegen ist die zweite Teilgruppe, die in IV, 5 auftritt, das »Bataillon freiwilliger Jäger«. Diese Kriegsfreiwilligen werden explizit in Relation mit den »Freikorps« der sogenannten »Befreiungskriege« von 1813 gesetzt, wenn sie denn auch Körners Lied von Lützows wilder, verwegener Jagd singen. Nun gehört es natürlich zum historischen Wissen, dass solche Freikorps sich keineswegs zustimmender Absegnung durch den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. erfreuten. Denn sie gingen hervor aus einer neuen nationalistischen Ideologie, wie sie exemplarisch Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) artikuliert hatten. In diesen Reden wurde ja eine biologisch und / oder kulturell definierte Gruppe »Deutschtum« konstruiert, die zwei mit preußisch-absolutistischer Ideologie unvereinbare Implikationen hatte. Erstens erstrebte sie eine deutsche »nationale Einheit«, die mit der Aufsplitterung des deutschen Sprachgebiets in absolutistische Teilstaaten inkompatibel war ; und zweitens plädierte sie, kaum verhohlen, in französisch-revolutionärer Tradition, für die »Volkssouveränität«, die mit dem Konzept eines absoluten »Königtums von Gottes Gnaden« inkompatibel war. Das einzige Kriegsziel, in dem sich diese nationalistische Gruppe mit den preußischen Machthabern – samt dem sonstigen Geschwerl der »Heiligen Allianz« und ihres »Bündnisses von Thron- und

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Altar« – einig war, war die »Befreiung von Fremdherrschaft«, als die Napoleons Vorherrschaft bis 1813 erschien. Ausgerechnet diese den preußischen Machthabern nicht sympathische und als Freikorps von ihnen auch nur begrenzt kontrollierbare Gruppe ist es also, die auf preußischer Seite allein erkennbare Werte vertritt, die den Angriffskrieg gegen Frankreich legitimieren sollen. Innerhalb dieser Gruppe nun gibt es die weitgehend übereinstimmenden »Jäger« und ihren mit ihnen durchaus fraternisierenden Anführer, den »Major«. Wo Erstere fast schon explizit Kritik am preußischen König üben, stimmt Letzterer zwar ideologisch mit ihnen überein, versucht aber den König von dem zu exkulpieren, was die Jäger als ein von ihm verschuldetes Defizit empfinden. Die Jäger konstatieren zum Ersten eine Differenz zwischen einer kollektiven Kriegsbegeisterung von 1813 und dem Zustand von 1815: »Jetzt ists so ziemlich anders« (411). Dass die Kriegsbegeisterung massiv verringert ist, wird von ihnen durch die Enttäuschung der politischen Hoffnungen begründet, die sie mit dem Krieg von 1813 verbunden hatten. Gemäß unserem Text wäre es dabei zum einen um die Annexion bis dahin französischer Gebiete gegangen, zum anderen aber unverkennbar um eine politische Einheit Deutschlands unter einem neuen – preußischen – Kaisertum: Wünsche also, die natürlich mit dem restaurativen Impetus Preußens und seiner Verbündeten beim Wiener Kongress unvereinbar waren, wenngleich der Major so tun muss, als habe Preußen die Wünsche der Jäger geteilt: »Er wollte wie wir« (412). Die Jäger sind folglich in einer Art Erklärungsnotstand, was die Frage anlangt, wofür sie diesmal eigentlich kämpfen: Ja, Napoleon ist auch groß, ist riesengroß, – aber er ist es nur für sich, und ist darum der Feind des übrigen Menschengeschlechts, – unser König ist es für alle. (IV, 5; 412)

Gegenüber der dämonisierenden Abwertung Napoleons durch die »Heilige Allianz« als »unrechtmäßiger Usurpator« im Namen der sogenannten »Legitimität« der – wie Heine es später ausdrücken wird – »angestammelten Herrscher«, wird hier von den Repräsentanten der besseren Hälfte des preußischen Heeres Napoleon Größe zugeschrieben, womit implizit natürlich eine Rangdifferenz »Napoleon > Friedrich Wilhelm III« eingeführt wird. Napoleon zu bekämpfen legitimiert sich hier nur dadurch, dass dieser vor 1813 in Europa Eroberungskriege geführt und somit eine »Fremdherrschaft« etabliert hat. Napoleon sei »groß« »nur für sich«, »unser König ist es für alle« (412). Behauptet wird also, Napoleons einziger Antrieb sei egozentriert, womit freilich kollidiert, dass die französische Armee ihm, laut Text, mit Begeisterung folgt; sie müssen also in seinem Handeln etwas erkennen, mit dem auch sie sich identifizieren können. Diese Implikation unterstützt der Text dadurch, dass auch Louis XVIII. Napoleon nicht nur Größe zuspricht; er habe »mein Land mit einem Ruhmeskranze, wie er kein anderes Land dieser Erde ziert, [gekürt], und ich bin ihm dafür

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dankbar« (344). Demgemäß hätte Napoleon also etwas geleistet, was sehr wohl über bloße Selbstverwirklichung hinausgeht; das kann natürlich von Repräsentanten des Preußentums nicht zugestanden werden. Dass »unser König« »für uns alle« Leistungen erbringe, konnte sicherlich jeder zeitgenössische Liberale, der an der Repression der preußischen Restauration litt, nur mit Hohnlachen quittieren. Indem der Text hier also eine Figur sich scheinbar positiv über Preußen äußern lässt, animiert er gleichsam den Rezipienten zum Vergleich von Anspruch und Wirklichkeit, von Sollwert und Istwert. Natürlich musste Grabbe, um der politischen Repression zu entgehen, explizite Preußenkritik vermeiden und durfte sie nur als Implikation anbieten. Dazu missbraucht er am Textende sogar Blücher. Dieser hält am Textende eine Ansprache an seine siegreiche Truppe: Wird die Zukunft eurer würdig – Heil dann! – Wird sie es nicht, dann tröstet euch damit, daß eure Aufopferung eine bessere verdiente! (V, 7; 459)

Blücher darf hier also vorwegnehmen, was dem kulturellen Wissen des liberalen Bürgers von 1830 / 31 entspricht: keine liberale politische Hoffnung ist unter der Herrschaft Preußens und Österreichs in Erfüllung gegangen, während – und das ist eine Pointe, die Grabbe höchlichst erfreut haben dürfte – ausgerechnet in jenem Frankreich, wo Napoleons Verbannung eine zweite Restauration auslöste, durch die Revolution von 1830 eine erste liberal-konstitutionelle Phase beginnt. Der liberale Konstitutionalismus ist also, wie gesagt, die einzige innovative politische Ideologie. Sie ist das politische Konzept, auf das sich der revolutionäre Republikaner Carnot und der Empire-Vertreter Fouch¦ als zukunftsfähiges einigen können, und das zudem eine despotische Herrschaft Napoleons verhindern könnte (II, 5). Dass sich diese beiden trotz unterschiedlicher politischer Herkunft auf dieses Modell einigen können, illustriert zweierlei: erstens, dass in einer pluralistisch ausdifferenzierten Gesellschaft Kompromissbildungen nötig sind, bei denen auszuhandeln ist, was als gemeinsamer Durchschnitt, als größter gemeinsamer Nenner in Betracht kommt; zweitens, dass nur dieser liberale Konstitutionalismus die heterogenen Interessen der sich tendenziell formierenden politischen Fraktionen vereinbaren kann. Signifikant ist nun wiederum, dass gerade diese Position auf Seite der Preußen nicht vertreten ist, die also gewissermaßen ein – von ihnen nicht einmal erkanntes – ideologisches Defizit haben. Ein zeitgenössischer Text, Wilhelm Hauffs Das Bild des Kaisers (1828), im liberalen Südwesten entstanden, somit freier in der Artikulation als der arme Grabbe im preußischen Herrschaftsgebiet, spielt die im deutschen Sprachgebiet möglichen politischen Positionen sehr hübsch durch. Er konfrontiert vier Positionen: den alten, einst reichsunmittelbaren kleinen Adeligen, der sich das »Deutsche Reich« vor 1806 zurückersehnt; den jungen Preußen, der die nicht konsensfähige Position der preußischen absolutistischen Restauration vertritt;

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einen deutschen Ex-General Napoleons, der an der Größe seines Helden festhält; dessen Sohn, einen »linken«, tendenziell »sozialrevolutionären« »Demagogen«, wie die Restauration solche Abweichungen beschimpft. Das eigentliche ideologische Zentrum des Textes ist aber die in ihm absente, d. h. von keiner Figur vertretene Position des politischen Liberalismus. Am Textende gehen die Figuren mit Ausnahme des jungen preußischen Reaktionärs eine auch familiäre Verbindung ein, ohne ihre Meinungen aufzugeben: der einzig denkbare gemeinsame Nenner zwischen altem Reichsrittertum, Napoleonismus und Frühsozialismus ist aber genau dieses absente Zentrum des Liberalismus. Natürlich werden auch die sogenannten Befreiungskriege thematisiert, und der napoleonische General zieht deren politisches Resum¦e: »Und wofür denn dieses alles?« fragte der alte Soldat, »wozu so große Aufopferungen, was hat man damit erreicht und errungen? Ließ sich dies alles nicht voraussehen?«3

Für ein aufgeklärtes Bürgertum konnte es demnach keine andere politische Alternative geben. Der liberale Konstitutionalismus taucht denn auch im Napoleon immer wieder auf. In IV, 6 ist es der napoleonische Oberst Lab¦doyÀre, der dessen Realisierung ebenso wie Carnot und Fouchet erhofft: ich dachte, endlich die freisinnige Zeit, von den Umständen selbst bedungen, leuchten zu sehen, und es blinken schon wieder nichts als Bajonette, Säbel, Kürasse und Kanonen. (IV, 6; 418 f.)

Napoleons Generaladjutant Bertrand möchte ihn trösten: und ich versichere, er hat in seiner großen Brust auch einen Platz für Ihren Liberalismus, und schützt und fördert ihn da, wo er des Schutzes und der Förderung wert ist. (IV, 6; 419)

Und in der Tat scheint sich Grabbes Napoleon schon während der Schlacht (V, 5) zu diesem ideologischen Kompromiss zu bekehren. In der Druckfassung heißt es: Der Stern des illegitimen, geächteten Napoleon von 1815 soll den Völkern freundlicher leuchten als der Komet des Eroberers von 1811. (V, 5; 450)

Doch hat Grabbe hier schon die in der Handschrift deutlichere Aussage im Hinblick auf die Zensur notgedrungen verschleiert: Nicht der Napoleon, den die Revolution erhob, und der sie dann undankbar zurückdrängte, – nein der arme, für illegitim erklärte Bonaparte kämpft hier, und will den Völkern einen geordneten und wohlbefestigten Liberalismus als sein Erbteil zurücklassen. (Lesarten zu V, 5; 719) 3 Hauff, Das Bild des Kaisers, 54.

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Die explizite Aussage der Handschrift und die implizite des Druckes laufen jedenfalls darauf hinaus, dass die einzige exzeptionelle und charismatische Gestalt des Textes sich zu der einzigen – in der Handschrift explizierten –, im Druck nur erahnbaren innovativen und zukunftsfähigen Position bekehrt. In der letzten Szene (V, 7), als die Niederlage besiegelt ist, lässt Grabbe seinen Napoleon die politischen Folgen dieses Ereignisses kommentieren: Da stürzen die feindlichen Truppen siegjubelnd heran, wähnen die Tyrannei vertrieben, den ewigen Frieden erobert, die goldne Zeit rückgeführt zu haben – Die Armen! Statt eines großen Tyrannen, wie sie mich zu nennen belieben, werden sie bald tausende kleine besitzen, – statt ihnen ewigen Frieden zu geben, wird man sie in einen ewigen Geistesschlaf einzulullen versuchen, – statt der goldnen Zeit, wird eine sehr irdene, zerbröckliche kommen, voll Halbheit, albernen Lugs und Tandes – von gewaltigen Schlachttaten und Heroen wird man freilich nichts hören, desto mehr aber von diplomatischen Assembl¦en, Konvenienzbesuchen hoher Häupter, von Komödianten, Geigenspielern und Opernhuren – – bis der Weltgeist ersteht, an die Schleusen rührt, hinter denen die Wogen der Revolution und meines Kaisertums lauern, und sie von ihnen aufbrechen läßt, daß die Lücke gefüllt werde, welche nach meinem Austritt zurückbleibt. (V, 7; 457 f.)

Napoleon baut hier eine Serie von Oppositionen auf, deren erste und wichtigste wiederum die zwischen den illusionären Hoffnungen der siegreichen Truppen und der tatsächlichen politischen Realität ist. Wie die preußischen Jäger eine solche Differenz für 1813 konstatiert haben, so prognostiziert sie Napoleon als Folge für 1815. Wiederum werden Hoffnungen enttäuscht werden, und was ihm in den Mund gelegt wird, nimmt zweifellos die Erfahrung des liberalen Bürgertums zur Zeit Hauffs, Grabbes, Büchners, vorweg. Das, für das man zu kämpfen glaubte, erhält man nicht, sondern genau dessen Gegenteil: »Statt eines großen Tyrannen«, »lauter kleine«: alle jene deutschen Fürsten, die auch weiterhin auf »Legitimität«, »Absolutismus«, »Gottesgnadentum« setzen; statt der Rückkehr einer »goldenen Zeit« eine »sehr irdene, zerbröckliche«, also statt eines stabilen Zustands einen äußerst suboptimalen, instabilen; statt eines »ewigen Friedens«, wie ihn die Aufklärungsphilosophie etwa bei Kant erträumte, einen »ewigen Geistesschlaf«, wie im Folgenden ausgeführt also eine Phase ideologischer Manipulation und Kontrolle und theaterhafter Inszenierung. Es sind bei Grabbe die besiegten großen Einzelnen, die den ideologischen Durchblick haben. Der scheinbare Sieg der Alliierten kommt also einer ideologischen Niederlage gleich; zumindest andeutungsweise wird diese Möglichkeit in Blüchers Schlussansprache an seine Truppen erwogen – es könnte sein, meint er, dass die Zukunft nicht »eurer würdig« ausfällt. Laut Napoleon findet zudem eine Verabschiedung von einem heroischen Zeitalter statt: und das Ende der »großen Einzelnen« ist natürlich auch das Ende der klassizistischen Tragödie, von der sich unser Text formal und inhaltlich schon verabschiedet hat.

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Napoleon zufolge ist die jetzt erneut anbrechende Restauration aber ebenfalls nur eine temporäre: ein befristeter Zustand, der auf künstlicher Ausgrenzung (»Schleusen«) vorhandener Potentiale basiert, und diese Potentiale (»die Wogen«) werden irgendwann diese Grenze durchbrechen. Die Tilgung der Revolution und Napoleons hinterließe eine »Lücke«, d. h. es bliebe ein Defizit, das die restaurative politische Ordnung nicht beseitigen kann. Das wiederum impliziert, dass es ein ungelöstes und unerledigtes Problem gibt, das sozusagen dem System der dargestellten Welt inhärent ist und folglich irgendwann eine Lösung erfordert, die nur in einer Systemtransformation bestehen kann. Es gäbe demnach so etwas wie eine Systemlogik politisch-historischer Zustände, aus der heraus – wenn auch zu nicht vorhersehbaren Zeitpunkten – Transformationen des Systems unvermeidlich werden. Die kommende Transformation, die Napoleon zwar nicht präzisiert, aber prognostiziert, schreibt er einem »Weltgeist« als Urheber zu; dieser unzweideutige Hegelsche »Weltgeist« ist die Personifikation einer postulierten Systemrationalität, einer »Vernunft der Geschichte«. Für die Konzeption von Geschichte in unserem Text gilt nun offenbar erstens, dass Herrschaft nach der Revolution nicht mehr möglich ist ohne den Konsens der Beherrschten. Eine solche Zustimmung des »Volkes« fehlt den restaurierten Bourbonen, wohl aber haben sie in diesem Text sowohl Napoleon als auch Friedrich Wilhelm III. Die Bourbonen sind offenkundig am »Volk« und dessen Bedürfnissen gänzlich desinteressiert; man jubelt nicht ihnen zu, sondern dem später erfolgreichen Louis Philipp, mehr aber noch dem wiedergekehrten Napoleon. Napoleon seinerseits bietet dem »Volk« zunächst nur eins: militärischen Ruhm, worum ihn ja, wie oben erwähnt, Louis XVIII. beneidet. Erst im Verlauf gelangt Napoleon zu der Einsicht, dem »Volk« diesmal mehr und Besseres bieten zu müssen wie die oben genannten Stellen belegen; er entwirft jedenfalls die Idee politischer Reformen in Richtung Liberalismus. Interessant ist der Fall Preußens. Zumindest die Gruppe der »Jäger« identifiziert sich ja mit der Herrschaft, die deshalb, ohne in Frage gestellt zu werden, funktioniert. Aber sie identifiziert sich mit der Herrschaft unter der falschen und illusionären Prämisse, diese wolle dasselbe wie das »Volk«, nämlich eine deutsche nationale Einheit etc. Es liegt auf der Hand, dass diese Täuschung nicht anhalten kann: Napoleon darf denn auch die kommende Enttäuschung prognostizieren, die zur Zeit der Dramenabfassung längst eingetreten ist. Wenn aber Herrschaft legitimiert wird nicht durch jene verlogenen »Legitimitäts«-ansprüche der alliierten Herrscher, sondern durch die Zustimmung des »Volkes«, dann liegt in der Logik des Textes auf der Hand, dass die preußische Herrschaft diese Legitimierung verlieren wird und somit eines Tages vom »Volk« infrage gestellt werden wird. Der Wille des »Volkes« manifestiert sich im Text als die neue, seit der Revolution relevante Größe der »öffentlichen Meinung«, weshalb der Text dann eben auch alle jenen

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Gesprächsszenen auf öffentlichen Plätzen in Paris bzw. in der Heerlagern braucht, wo sich jeweils die Meinungen der Beherrschten artikulieren. Eng verknüpft damit ist ein weiteres, ebenfalls erstmals mit der Französischen Revolution relevantes Thema, das sowohl im Napoleon als auch in Dantons Tod, übrigens auch in Hauffs Das Bild des Kaisers, als zukunftsträchtiges, noch aber folgenlos bleibendes Potential aufgebaut wird. Es sind dies die sozialen und ökonomischen Probleme, insbesondere der Unterprivilegierten und der damit verknüpfte potentiell revolutionäre Impetus. Für die Konzeption von Geschichte gilt zweitens, dass folglich »Restaurationen« als letztlich unmöglich und nur scheinbar und temporär realisierbar erscheinen. Ein System, das aufgrund seiner Defizite, etwa eben des Verlustes der Zustimmung der Beherrschten, zusammengebrochen ist, kann in dieser Logik nicht unverändert wiederhergestellt werden. Wiederum ist Napoleon der einzige, der im Text die Lehre daraus zieht, die die Bourbonen nicht begriffen haben und die in der Logik unseres Textes dem scheinbar unangefochten siegreichen Preußen noch bevorsteht. Die Stoffwahl Grabbes, eben die Episode der »hundert Tage«, illustriert solche Nicht-Wiederherstellbarkeit des Vergangenen. Zwar wird die erneute Herrschaft Napoleons durch den gewaltsamen Eingriff von außen durch die reaktionären Mächte beendet, also nicht durch einen Dissens von Herrscher und Beherrschten: aber eben deshalb ist es gerade Napoleon selbst, der thematisieren muss, dass er in seiner erneuten Herrschaft, bliebe er denn an der Macht, relevante Transformationen vorzunehmen hat – dadurch erlöst der Text Napoleon vom Odium der bloßen Restauration. Da nun aber Napoleon die Absicht politischer Reformen zugeschrieben wird, sind es folglich seine Gegner, die hier historischen Fortschritt unterdrücken. In dieser neuen Geschichtskonzeption des Textes wird die Handlungsfähigkeit eines Herrschers oder einer sonstigen herausragenden Gestalt nicht mehr nur wie im klassizistischen Drama durch innenpolitische Opponenten innerhalb der Herrschaftselite oder durch Feinde von außen eingeschränkt, sondern zudem – und das scheint mir neu – durch seine Abhängigkeit vom ideologischen Konsens mit dem »Volke« – ganz anders als noch in, um bei meinen Beispielen zu bleiben, Wallenstein und Die Jungfrau von Orl¦ans; in letzterer ist es dann freilich schon der Konsens des »Volkes«, der die Handlungsfähigkeit des Herrschers – hier : noch! – erweitert, was natürlich, wenn auch nur implizit ebenfalls schon eine Beschränkung der Autonomie impliziert, verdeutlicht noch durch Johannas Revolutionsprognose für kommende Jahrhunderte. Es gibt jedenfalls in Grabbes Drama noch einmal den Bezug auf eine, wenn auch transformierte, Geschichtsphilosophie der »Aufklärung« und des »deutschen Idealismus«, der ja durch das Hegelsche Lexem des »Weltgeistes« deutlich genug abgerufen wird. Im Gegensatz zu Hegels Geschichtsmodell kennt unser Text allerdings kein Ende der Geschichte; der Text endet selbst mit dem Ausblick

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auf eine offene Zukunft. Es gibt aber noch eine Logik des Geschichtsprozesses: in einem gegebenen Zeitraum scheinen bestimmte politische Modelle nicht mehr wünschenswert, weil sie nicht mehr den Bedürfnissen der einzigen Instanz entsprechen, die hier noch Macht legitimieren kann, nämlich denen des »Volkes«; eine solche Rolle des »Volkes« steht nämlich in massiver Opposition zur offiziellen Ideologie der restaurativen »Heiligen Allianz« und impliziert revolutionäres Potential. Dem wünschenswerten Geschichtsverlauf kann in Grabbes Drama allerdings der faktische Geschichtsverlauf widersprechen. Aus dem Text folgt aber zugleich, dass eine faktische Restauration die wünschenswerte Transformation nur befristet aufhalten kann – Grabbe ahnte freilich noch nicht, wie lange das Wünschenswerte aufgehalten werden konnte.

Literatur Darras, Gilles (Hg.), ›Napol¦on ou les cent-jours‹ de Christian Dietrich Grabbe, Paris 2005. Fohrmann, Jürgen, »Die Ellipse des Helden (mit Bezug auf Christian Dietrich Grabbes Napoleon oder die hundert Tage)«, in: Grabbes Welttheater. Christian Dietrich Grabbe zum 200. Geburtstag, hg. v. Detlev Kopp / Michael Vogt, Bielefeld 2001, 119 – 135. Grabbe, Christian Dietrich, Napoleon oder die hundert Tage, in: ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in 6 Bänden, hg. v. Alfred Bergmann, Bd. 2, Emsdetten 1963, 315 – 459. Hauff, Wilhelm, Das Bild des Kaisers. Novelle, Stuttgart 1977. Kost, Jürgen, »›S ist ja alles Komödie‹. Zum Problematischwerden der Tragödiendramaturgie in Grabbes Napoleon«, in: Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun, hg. v. Wolfgang Düsing, Tübingen / Basel 1998, 95 – 110. Kraus, Dorothea, »›Statt an Taten zehrt man jetzt an Erinnerung‹. Genie und Historismus in Christian Dietrich Grabbes Napoleon oder die hundert Tage«, in: Sprache und Literatur 37 / 1 (2006), 59 – 81. Müller, Harro, »Idealismus und Realismus im historischen Drama. Schiller, Grabbe, Büchner«, in: Vormärz und Klassik, hg. v. Lothar Ehrlich, Bielefeld 1999, 235 – 247; auch in: Müller, Harro, Gegengifte. Essays zu Theorie und Literatur der Moderne, Bielefeld 2009, 122 – 135. Nickel, Gunther, »›Erkenne die Lage‹. Das Geschichtsdrama im frühen 19. Jahrhundert. Kleist – Grabbe – Büchner«, in: Amüsement und Schrecken. Studien zum Drama und Theater des 19. Jahrhunderts, hg. v. Franz Norbert Mennemeier / Bernhard Reitz, Tübingen 2006, 97 – 118. Raith, Markus, »Grabbes ›dramatisch-epische Revolution‹. Zum Verhältnis der Gattungen in Napoleon oder die hundert Tage«, in: Napol¦on ou les cent-jours de Christian Dietrich Grabbe, hg. v. Gilles Darras, Paris 2005, 63 – 82.

Jochen Golz

Lyrik oder Prosa? Einige Bemerkungen zu den Streckversen Jean Pauls

In einer Studie über »Jean Pauls Mysterien« analysiert Heinz Schlaffer einen Satz aus dem Siebenkäs nach den Regeln von Syntax und Phonetik als »sprachliches Ereignis«, das nur eintreten könne, »wenn die Erwartung einer Information und eines normalen syntaktischen Verlaufs gestört wird, Einschübe und Ellipsen den Satz aus seiner anfänglichen Richtung gebracht haben. Das bloße Nacheinander des Geschehens ist durch die verstörenden Eingriffe von Metaphern, Klängen und rätselhaften Andeutungen unterbrochen.« Jean Paul selbst gruppiere im Roman seine Leser, »nach Graden unterschieden, um sich: die Eingeweihten, die alle seine Werke kennen, die Novizen, die mit der Lektüre gerade beginnen, die Profanen, die vom Autor wissen, ohne sein Werk zu begreifen. Er selbst aber steht als Mystagoge in der Mitte, um sie in eine Welt einzuweihen, die sein Werk ist.«1 Einen »Mystiker«2 hatte bereits Schlaffers Lehrer Kurt Wölfel Jean Paul genannt. Schlaffers Beweisführung aber geht das Diktum voraus: Gemessen an den Ansprüchen von Poesie ist Prosa eine mangelhafte, vorläufige Sprache. Lyrische Prosa dagegen läßt eine zweite Sprache ahnen, deren unerreichbaren Ausdruck sich Gesten der Unsagbarkeit […] und des Schweigens […] noch weiter zu nähern versuchen.3

Das Verhältnis von Poesie und Prosa ist Thema der Literaturwissenschaft, solange es sie gibt, und es ist in besonderer Weise vertrackt bei einem Autor wie Jean Paul, der in den seine Romane begleitenden Vor- und Zwischenreden, in den in seine Texte eingewebten Digressionen und nicht zuletzt in der Vorschule der Ästhetik (dort in § 69) dem Roman – und natürlich vor allem dem seinigen – ästhetischen Rang als »einzige erlaubte poetische Prose«4 zuspricht. Eine vermittelnde Position zweifellos, denn aus dem Munde der diskursbestimmenden Klassiker in Weimar war anderes zu vernehmen. Hatte Schiller den Roman1 2 3 4

Schlaffer (1998), 44 f. Wölfel (1989), 297. Schlaffer (1998), 44. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, 249.

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schreiber nicht einen »Halbbruder« des Dichters genannt, weil er »die Erde noch so sehr berührt«,5 und hatte Goethe nicht, als Schiller ihn am 24. November 1797 davon in Kenntnis setzte, seinen Wallenstein aus dramatischer Prosa in Blankverse umzuformen, tags darauf brieflich entschieden: Alles poetische sollte rhytmisch behandelt werden! das ist meine Ueberzeugung, und daß man nach und nach eine poetische Prosa einführen konnte zeigt nur daß man den Unterschied zwischen Prosa und Poesie gänzlich aus den Augen verlohr.6

Goethe mag, als er diese Sätze schrieb, eigener künstlerischer Erfahrungen inne geworden sein. In Italien hatte er die rhythmische Prosa der Iphigenie in Blankverse verwandelt.7 Dass er sich dabei des Herderschen Sprachingeniums bediente, war alles andere als ein Zufall. Denn Herder war es gewesen, der – ganz im Sinne von Schlaffers These – Prosa hatte lyrisch nobilitieren wollen. Herder, aus der Perspektive Schlaffers betrachtet, hätte danach versucht, ein dreigestuftes Modell ästhetischer Sprachgebung zu etablieren. Als erste Schicht wäre ein Sprachduktus anzunehmen, der gleichermaßen in künstlerischer wie in nichtkünstlerischer (z. B. wissenschaftlicher) Prosa Anwendung finden kann. Davon abgehoben, existiert darüber die Sphäre der lyrischen Prosa, die teils in selbständigen Kleinformen, teils im Roman, teils in Mischformen auftreten kann. Als höchste Form künstlerischen Sprechens erscheint dann die Poesie als rhythmisierte, metaphorisierte Sprachgebung. Während Schiller dem Romanautor noch den Zutritt zum Reich der Dichtung verwehrt hatte, Goethe theoretisch diese Frage offen ließ, in seiner künstlerischen Praxis hingegen die Poesiewürdigkeit des Romans wie selbstverständlich unter Beweis stellte, hatte Herder sich als Theoretiker in dieser Frage entschiedener gezeigt. Für ihn war der Roman ein angemessenes ästhetisches Reagieren auf die Entwicklung der bürgerlichen Moderne. Im 99. der Briefe zu Beförderung der Humanität gab er eine Definition des Romans: Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig; denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessieret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder

5 Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, 462. 6 Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, Brief vom 24. und 25. November 1797: Schiller, Briefe an Schiller, 179. 7 Zum Kontext vgl. Meier (2011), vor allem 132 – 155.

Lyrik oder Prosa?

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unser Herz interessieret. Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu: denn sie ist Poesie in Prose.8

Als Jean Paul seine Vorschule schrieb, konnte er direkt an Herder anschließen. Lyrische Prosa also als ein Zwischenreich der Dichtung, mit »Fühlfäden«, wie Jean Paul sagen würde, nach unten ins Irdische wie nach oben in die ›GegenWelt‹ der Dichtung. Auch diese Prosa hat, bevor sie in Jean Pauls Romanen kulminierte, wie alle künstlerischen Formen ihre Vorgeschichte. In unserem Falle lässt sie sich in gewisser Weise auf den Tag genau datieren. Am 2. September 1781 kamen Herder und seine Frau Caroline bei einem Spaziergang im Tiefurter Park nahe Weimar auf den Einfall, »das Spiel eines Wettstreites«9 im Erfinden poetischer Texte zu veranstalten. Seit 1776 in Weimar ansässig, gehörte Herder als höchster Geistlicher im Herzogtum Sachsen-Weimar zu den engen Vertrauten der Herzoginmutter Anna Amalia, die wenige Tage zuvor gemeinsam mit ihrem kleinen Hofstaat die Idee geboren hatte, ein Tiefurter Journal ins Leben zu rufen. Für dieses handschriftlich verbreitete Periodikum, das bis 1784 in 47 Nummern herauskam, schrieben Herder und seine Frau Paramythien, die Herder größtenteils in seine zwischen 1785 und 1797 erscheinenden Zerstreuten Blätter aufnahm. Statt einer Vorrede, so überschrieb Herder einen einleitenden Text zu seiner Sammlung, in der er auch den (von ihm erfundenen) Titel Paramythien erläuterte: Paramythion heißt eine Erholung; und wie Guys erzählt, nennen noch die heutigen Griechinnen, die Erzählungen und Dichtungen, womit sie sich die Zeit kürzen, Paramythien. Ich konnte den Meinen noch aus einem dritten Grunde den Namen geben, weil sie auf die alte griechische Fabel, die Mythos heißt, gebauet sind und in den Gang dieser nur einen neuen Sinn legen.10

Paramythien sind also als freie Variationen tradierter mythologischer Sujets in der Form von Prosafabeln anzusehen. Die poetische Lizenz für eine solche Behandlung alter Themen leitete Herder schon von Homer her, der ebenfalls frei mit den überlieferten Mythen umgegangen sei. Ulrich Gaier spricht Herders Paramythien hohen poetischen Rang zu: Herder entwickelt die Tradition mythologischer Dichtung also in dem Sinne weiter, daß er sie einerseits mit der philosophisch-moralischen Bedeutung der Fabel oder des conte philosophique auflädt und so zum dreifachen Weltzugang aus Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft ausrundet, daß er sie andererseits den Alleinvertretungs- und den Zweckanspruch jedes dieser Weltzugänge ästhetisch in der Inszenierung ›kindlicher Einfalt‹ und ›naiver Gedanken‹ aufheben und depotenzieren läßt, ohne diese 8 Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität, 548 (99. Brief). 9 Herder, Paramythien, 697. 10 Ebd.

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Ansprüche jedoch zu dementieren. Wenn klassische Ästhetik genau dies heißt, dann sind Herders Paramythien schon in der kleinen Sammlung des Tiefurter Journals vielleicht die ersten ›klassischen‹ Texte der deutschen Literatur.11

Gaiers Urteil mag gutenteils einer ungetrübten Herder-Bewunderung zuzuschreiben sein; festzuhalten aber bleibt, dass Herders Texten auf dem Weg von der lehrhaften Prosafabel der Aufklärung hin zu einer lyrischen, rhythmischen Kurzprosa als freier Variation der vorgängigen Fabeldichtung eine Schlüsselrolle zukommt. Ein Beispiel aus dem Tiefurter Journal mag dies belegen: Der Schlaf, I. In jener Schaar unzählbarer Genien, die Jupiter für seine Menschen geschaffen hatte, um durch sie die kurze Zeit ihres mühseligen Lebens zu beglücken und zu vergnügen, war auch der dunkle Schlaf. »Was soll ich, sprach er, unter meinen glänzenden gefälligen Brüdern? welche Gestalt mache ich im Chor der Scherze, der Freuden und aller Gaukeleien des Amors? Mag es seyn, daß ich dem Armen und Unglücklichen erwünscht bin, dem ich die Last seiner Sorgen entnehme und ihn mit sanfter Vergessenheit tränke. Mag’s seyn, daß ich dem Müden gefällig komme, den ich, doch auch nur zu neuer Arbeit stärke! – Aber denen, die nie ermüden, die von keiner Unglückseligkeit, von keiner Sorge und Elend wissen, denen ich nur immer den Kreis der Freuden störe. –« »Du irrest, sagte der Vater der Menschen, in deiner dunkeln anmuthlosen Gestalt, wirst du aller Welt der liebste Genius werden. Glaubst du nicht, daß auch Scherze und Freuden ermüden? Wahrlich, sie ermüden früher, als Sorg und Elend; die satte Kraftlosigkeit, in die sie sinken, wird die eckelste Langeweile. – Aber auch du sollt nicht ohne Vergnügungen seyn, ja in ihnen das Heer aller deiner Brüder übertreffen – – « Mit diesen Worten reichte er ihm das silbergraue Horn anmuthiger Träume. »Aus ihm, sprach er, schütte deine Schlummerkörner, und die glückselige Welt, so wie die unglückselige wird dich über alle deine Brüder wünschen und lieben. Die Hofnungen, Scherze und Freuden, die in ihm liegen, sind mit zauberischer Hand von unsern seligsten Himmelsfluren gesammlet. Sie sind ätherischer Thau, der sich in jede Gestalt, nach dem Wunsche jedes, den du zu beglücken denkst, kleidet, und weil sie Venus mit unsern unsterblichen Nektar gemischt hat, so ist die Kraft ihrer Wohllust viel anmuthiger, stärker und feiner, als alles was die arme Wirklichkeit jener Erde zuläßt. Aus dem Chor der blühendsten Scherze und Taumelfreuden wird man frölich in deine Arme eilen: Die Dichter werden dich besingen und in ihren Gesängen den Wirkungen deiner Kunst nachbuhlen. Auch die unschuldigste Schöne wird dich wünschen und du wirst auf ihren Augenliedern hangen – ein süsser beseligender Gott, mächtiger, als ob ich selbst zu ihr hinabgestiegen wäre –« 11 Ebd., 1358.

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Die Klage des Schlafs verwandelte sich in Triumph; alle seine Brüder beneideten ihn, und er, ohngeachtet seiner anmuthlosen dunklen Gestalt, vergaß sie zu beneiden.12

Der zugrunde liegende Mythos ist rasch erzählt. Unter den »Genien«, die der Göttervater Zeus / Jupiter zum Wohl der Menschen geschaffen hat, ist der Schlaf, der Zeus gegenüber Klage führt über seine untergeordnete Bedeutung in der Hierarchie der Göttersöhne und -töchter und den Trost des Göttervaters entgegennimmt. Doch Herder berichtet nicht einfach von diesem Mythos, sondern löst ihn in fiktive Rede und Gegenrede auf und rhythmisiert überdies beide. Im Sinne der älteren Aufklärung wäre es gewesen, den Schlaf vernünftigerweise als verdienten Lohn für tägliche Mühsal zu preisen, als Kraftquell für das stets von neuem zu bestehende Tagewerk im Zeichen bürgerlicher Pflichterfüllung. Herder aber hat anderes im Sinne. In der griechischen Mythologie ist Hypnos der Gott des Schlafes; Herder indessen teilt ihm vor allem die Funktion zu, Träume zu schenken, wie sie eigentlich Morpheus, dem Sohn des Hypnos, zukommt, der die Körner des Schlafmohns aus einem Füllhorn über die Menschen ausschüttet. Die Überreichung des »silbergraue[n] Horn[s] anmuthiger Träume« an Hypnos begleitet Jupiter mit einer Rede, in der der Traum als allmächtiger Trost- und Freudenspender in der »arme[n] Wirklichkeit jener Erde« aufgerufen wird. Alle »Hofnungen, Scherze und Freuden« sind in ihm »gesammlet«. Nicht nur als Lebensmacht selbst kommt dem Traum Bedeutung zu. »Die Dichter«, so Herder, »werden dich besingen und in ihren Gesängen den Wirkungen deiner Kunst nachbuhlen.« Der Dichtung ist also aufgetragen, gleich dem Traum Trost und Verheißung zu spenden. Ob dies allein in der Form der Traumdichtung geschehen soll, lässt Herder offen; die Wahrscheinlichkeit dafür ist freilich groß. In den Zerstreuten Blättern erscheint dieser Text in veränderter Gestalt. Zum Vergleich sei die dort gedruckte Fassung wiedergegeben: Der Schlaf In jener Schar unzählbarer Genien, die Jupiter für seine Menschen erschaffen hatte, um durch sie die kurze Zeit ihres mühseligen Lebens zu beglücken und zu vergnügen, war auch der dunkle Schlaf. »Was soll ich, sprach er, da er seine Gestalt ansah, unter meinen glänzenden gefälligen Brüdern? welches traurige Ansehen habe ich im Chor der Scherze, der Freuden und aller Gaukeleien des Amors? Mag es sein, daß ich den Unglücklichen erwünscht bin, denen ich die Last ihrer Sorgen entnehme, und sie mit milder Vergessenheit tränke. Mag es sein, daß ich dem Müden gefällig komme, den ich doch auch nur zu mühseliger neuer Arbeit stärke. Aber denen, die nie ermüden, die von keiner Sorge des Elendes wissen, denen ich immer nur den Kreis ihrer Freuden störe« – »Du irrest, sprach der Vater der Genien und Menschen, in deiner dunklen Gestalt wirst du aller Welt der liebste Genius werden. Denn glaubst du nicht, daß auch Scherze und 12 Das Journal von Tiefurt, 74 f.

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Freuden ermüden? Wahrlich, sie ermüden früher als Sorg’ und Elend, und verwandeln sich dem satten Glücklichen in die langweiligste Trägheit. Aber auch du, fuhr er fort, sollt nicht ohne Vergnügungen sein; ja in ihnen oft das ganze Heer deiner Brüder übertreffen.« Mit diesen Worten reichte er ihm das Silbergraue Horn anmutiger Träume. Aus ihm, sprach er, schütte deine Schlummerkörner, und die glückliche Welt sowohl, als die unglückliche, wird dich über alle deine Brüder wünschen und lieben. Die Hoffnungen, Scherze und Freuden, die in ihm liegen, sind von deinen Schwestern, den Grazien, mit zauberischer Hand von unsern seligsten Fluren gesammlet. Der ätherische Tau, der auf ihnen glänzet, wird einen jeden, den du zu beglücken denkst, mit seinem Wunsch erquicken, und da sie die Göttin der Liebe mit unserm unsterblichen Nektar besprengt hat: so wird die Kraft ihrer Wollust viel anmutiger und feiner den Sterblichen sein, als alles, was ihnen die arme Wirklichkeit der Erde gewähret. Aus dem Chor der blühendsten Scherze und Freuden wird man fröhlich in deine Arme eilen: Dichter werden dich besingen, und in ihren Gesängen dem Zauber deiner Kunst nachbuhlen: selbst das unschuldige Mädchen wird dich wünschen und du wirst auf ihren Augen hangen, ein süßer beseligender Gott. – Die Klage des Schlafs verwandelte sich in triumphierenden Dank, und ihm ward die schönste der Grazien, Pasithea, vermählet.13

Auch für diese Umarbeitung gilt Gaiers Resümee: »Die stilistische Bearbeitung […] beseitigt nochmals Beiwörter und Verbindungswörter, rhythmisiert und dynamisiert die Sätze noch stärker […].«14 Über diese generelle Beobachtung hinaus ist festzuhalten, dass Herder in unserem konkreten Fall rhythmische Harmonie durch Weglassen von sperrigen Wendungen (»da er seine Gestalt ansah«, »von den Schwestern, den Grazien«) erreicht, Formulierungen kürzt oder austauscht (aus »welche Gestalt mache ich« wird »welches traurige Ansehen habe ich«, »dem Armen und Unglücklichen« wird ersetzt durch »den Unglücklichen«, »von keiner Unglückseligkeit, von keiner Sorge und Elend« durch »von keiner Sorge des Elends«). Zwei Sätze haben gänzlich neue Gestalt angenommen, und vor allem hat der Schlusssatz eine neue Fassung erhalten. Hatte im Journal der Schlaf nur seinen Neid ablegen können, so wird ihm jetzt durch die Vermählung mit der Grazie Pasithea ein wirklicher Lohn zuteil. Entsprechend verkehrt sich seine Klage nicht in (nicht recht einsehbaren) »Triumph«, sondern in »triumphierenden Dank«. Herders poetische Rede ist auch die eines Theologen. Jean Pauls Definition des Autors als »Stadtpfarrer des Universums« könnte ebenso gut auf Herder Anwendung finden.15 Herder hatte der Dichtung die Aufgabe zugewiesen, Trost und Freude zu spenden. In der Dichtung Jean Pauls gewinnt diese Aufgabe 13 Herder, Paramythien, 700 f. 14 Ebd., 1358. 15 Vgl. dazu Naumann (1976).

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zentrale Bedeutung. Blickt man auf die berühmt gewordene Vorrede zum Hesperus, so führt ein direkter Weg von Herders Paramythien zu diesem Text: Komm, liebe müde Seele, die du etwas zu vergessen hast, entweder einen trüben Tag oder ein überwölktes Jahr, oder einen Menschen, der dich kränkt, oder einen, der dich liebt, oder eine entlaubte Jugend, oder ein ganzes schweres Leben; und du, gedrückter Geist, für den die Gegenwart eine Wunde und die Vergangenheit eine Narbe ist, komm in meinen Abendstern und erquicke dich mit seinem kleinen Schimmer, aber schließe, wenn dir die poetische Täuschung flüchtige süße Schmerzen gibt, daraus: »Vielleicht ist das auch eine, was mir die längern tiefern macht.«16

Bei aller Nähe zu Herders Traumdeutung geben sich auch Unterschiede zu erkennen. Für Herder erweist sich der Traum als stärkende Macht im Leben selbst, das zwar aus christlicher Perspektive auch als »Jammertal« verstanden wird, gleichwohl in seiner irdischen Realität eigenes Gewicht, nicht zuletzt auch soziale Konkretheit besitzt. Die Funktion des Traums in der Kunst bleibt in der Schwebe. Jean Paul setzt andere Akzente. Aus seiner Sicht werden Traum und Dichtung nahezu identisch; beide erweisen sich für den Einzelnen als Trost und Stärkung, als Schutzwall, hinter den sich sein Inneres vor der ihn bedrückenden Welt zurückziehen, in sich getrost sein kann. Jean Pauls Blick auf die Wirklichkeit ist ein doppelter: Einerseits wird sie aus einer Haltung teils sozialer Empathie, teils satirischer Anklage ernsthaft wahrgenommen und abgebildet, andererseits sub specie aeternitatis aufgelöst in eine ›Gegen-Welt‹, als deren reinster Ausdruck der poetische, rhythmisierte Traum erscheint. Dieser doppelten Perspektive entspringt die Vielstimmigkeit seiner poetischen Sprache.17 Es hängt nun mit der vertrackten Struktur von Jean Pauls Romanen zusammen, dass seine lyrische Prosa nicht allein in den Traumsequenzen ›rein‹ zur Darstellung gelangt, sondern in seine Romanprosa kontrastiv zum vorher Gesagten, Gedanken und Metaphern fortspinnend, aber auch diese transzendierend hineingewoben ist. Die drei großen Romane Unsichtbare Loge, Hesperus und Siebenkäs legen davon unmittelbar Zeugnis ab. Im Gefüge von Jean Pauls Prosa, die einer glücklichen Formulierung von Kurt Wölfel zufolge »von dieser Welt sprechen, nicht von dieser Welt sein will«,18 lassen sich etwa seit 1800 Veränderungen beobachten. War bis dahin die Prosa der Innerlichkeit strukturbestimmend gewesen, hatte sich satirisches Erzählen eher davon separiert (in Gestalt von Extrablättern, satirischen Digressionen, Fußnoten etc.) entfalten können, so schwindet nunmehr Jean Pauls Vertrauen in die weltverwandelnde Kraft seines Erzählens. Hinfort führt es, zugespitzt formuliert, eine eher inselhafte Existenz, und zu seinen Erscheinungsformen zählt, 16 Jean Paul, Hesperus, 487 f. 17 Dazu Rasch (1961). 18 Wölfel (1989), 266.

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neben anderen, jene lyrische Kurzprosa, die der Autor als »Streckverse« oder »Polymeter« in seinen Roman Flegeljahre einführt. Bereits in den vor der Jahrhundertwende entstandenen Erzählungen hatten sich Vorformen solcher Prosa herausgebildet, und im Spätwerk Jean Pauls nimmt die Kurzprosa an Umfang und Bedeutung noch zu; sie findet sich im Roman Dr. Katzenbergers Badereise und wird einzeln auch in Zeitschriften publiziert. Bevor Jean Pauls »Streckverse« in den engeren Blick geraten, sei ein kursorischer auf die Erzählkonstruktion des Romans geworfen. Ihr liegt, sehr knapp formuliert, die Fiktion zugrunde, dass die Zwillingsbrüder Walt und Vult, bürgerlich-sesshafter Notar und empfindsamer Poet der eine, reisender Flötenvirtuose der andere, gemeinsam an einem Roman mit dem Titel Hoppelpoppel oder das Herz arbeiten. Für das satirisch-groteske Weltpanorama, das »Hoppelpoppel«, ist Vult zuständig, die Sprache des »Herzens« ist Walt vorbehalten. Überdies unternimmt Jean Paul in diesem Roman zumindest den Versuch, dem Erzählgeschehen eine Fabel zugrunde zu legen. Am Anfang fällt dem mittellosen Walt eine Erbschaft zu, doch um diese zu erlangen, muss er eine Folge von skurrilen Prüfungsstationen durchlaufen, wie sie als Anweisungen im Testament des Erblassers verzeichnet sind, um sich am Ende einer angemessenen Weltrolle – wozu auch ein gut gefüllter Beutel gehört – würdig zu erweisen – ein durch und durch ironischer Einfall Jean Pauls, der freilich – ebenfalls gut jean paulisch – ins Offene mündet. Auch dieser Roman entlässt seinen Helden ins Ungefähre. Die Sprache des Herzens also bildet Walts poetische Signatur, ihr formales Äquivalent sind seine »Streckverse«. Zwiespältig indes ist der Eindruck, den der Leser empfängt, als Walt im Roman seine poetische Initiation zuteil wird. Einen kleinen Kreis von Bewunderern besitzt er bereits, die eigene Mutter zunächst, ferner die Jüdin Goldine, enthusiasmierte Leserinnen beide, wie sie Jean Paul selbst lebenslang Entzücken und Plage bereiten sollten. Ein »dickes Manuskript« schleppt die Mutter heran – »Walt nahm es ihr blutrot weg« – und bittet ihn, aus dem »Liederbuch«19 zu lesen. Die männlichen Zuhörer, allesamt Herren aus gutem Hause von Schulgelehrsamkeit und beschränktem Verstand, sind skeptisch. Um seinem Schüler in diesem Kreis die rechte Reputation zu verschaffen, umgibt der Kandidat Schomaker die halböffentliche Lesung mit einem Kranz von Erläuterungen. Vorab deklariert er, sein Schüler mache »Gedichte nach einem freien Metrum, so nur einen einzigen, aber reimfreien Vers haben, den er nach Belieben verlängert, seiten-, bogenlang; was er den Streckvers nennt, ich einen Polymeter.« (622) Nach der Lesung gibt er kund, dass Walt »die Auktoren der Anthologie nicht ohne Nutz unter mir studieret« (624). Der öffentliche Vortrag von Poesie, wie ihn Jean Paul hier inszeniert, hat in Deutschland erst in jüngerer Zeit Anerkennung gefunden. Damals stellte er eher eine Ausnahme dar, 19 Jean Paul, Flegeljahre, 621.

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und auf den Kontrast einer überwiegend skeptischen, poesiefremden Zuhörerschar zur ausgestellten Innerlichkeit des Vortragenden, die nur bei der empfindsamen Leserin (und Zuhörerin), nicht aber beim Zuhörer ein Echo finden kann, hat es Jean Paul auch angelegt. Ironische Brechungen von Walts Innerlichkeit im Kontext des Erzählten sind des öfteren im Roman anzutreffen.20 Verstärkt wird der negative Effekt des Vortrags noch, wenn Jean Paul den Dichter »[s]totternd, aber mit schreiender ungebildeter Stimme« (622) reden lässt. Was hat es nun mit den »Streckversen« oder »Polymetern« auf sich?21 Schomakers Definition zufolge sind die Verse »reimfrei« und können »nach Belieben verlängert« werden. Reimfrei kann Lyrik sein, seit der Antike gibt es dafür Beispiele die Fülle. Was solche Lyrik indes stets besitzt, ist eine metrischrhythmische Struktur, mag sie etwa in antiken Odenmaßen Ausdruck finden, die Gestalt von Goethes freirhythmischen Jugendgedichten annehmen oder, mit Brecht zu reden, als »reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen« auftreten. Dass Jean Pauls Prosa eine musikalische Struktur aufweist, dem Vortragenden, wenn er sich ihr anvertraut, wenig Mühe bereitet, ist ein Gemeinplatz der Forschung, in der Kommerells Definition der »singenden Prosa« Jean Pauls obenan rangiert. Doch ist solche Musik der Sprache deckungsgleich mit lyrischer Poesie im Sinne der überlieferten Gattungen? Zweifel scheinen mir erlaubt. Auch der eingangs zitierte Schlaffer lässt diese Frage offen, wenn er davon spricht, dass lyrische Prosa »eine zweite Sprache ahnen« lasse. Stutzig macht überdies das Kriterium der beliebigen Verlängerbarkeit. Sehe ich es richtig, dann unterläuft Jean Paul hier ironisch seine eigene Definition und setzt unter dem Deckmantel vermeintlicher Gelehrsamkeit seine eigene lyrische Prosa wieder in ihre Rechte. Der spielerische Unernst, mit dem er Formfragen traktiert, gibt sich auch an anderer Stelle zu erkennen. Walt wagt den Schritt in die Öffentlichkeit und schickt zwei Publikationen denkbar verschiedener Art an den »Haßlauer Kriegsund Friedensboten«, ein Inserat, in dem er sich als Notar bekannt macht, und »einen kurzen anonymen Streckvers für den Poetenwinkel des Blattes – Poets corner« (667), »Der Fremde« überschrieben, dem er ein dreizeiliges metrisches Schema voransetzt:

20 Man vgl. z. B. 706 und 716 f. 21 Vgl. dazu Neumann (1967). Neumann sieht in den Streckversen Verdichtungen der »Begeisterungs-Stellen« in Jean Pauls Romanen, er arbeitet deren Traditionsbezüge heraus (antike Epigrammatik, Anthologia Graeca), weist auch bereits auf Herders Paramythien als Quelle hin, erklärt sich aber außerstande, ein Baugesetz für Jean Pauls Polymeter aufzustellen; er definiert sie als »Sprachgebilde von eigener Gesetzmäßigkeit« (15). Jean Paul habe die Problematik des Prosagedichts, das unter seinen Nachfolgern »zum ästhetischen Problemstück« avanciert sei, »erstmals in helles Licht« (36) gerückt. Aus neuerer Zeit wäre zu nennen: Nienhaus (1992). Nienhaus akzentuiert die Nähe der Streckverse zum Prosagedicht, vermeidet aber eine formale Bestimmung.

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[ – – – [ [ [ [ – [ [ –, – [ – [ – [ –, – – – [ – [ [ –, – [ – [ – [ – [ – [ – [ – [ [ –, – – – [ – [ [, – [ – [ – [ – [ –. Der Text selbst lautet: »Gemein und dunkel wird oft die Seele verhüllt, die so rein und offen ist; so deckt graue Rinde das Eis, das zerschlagen innen licht und hell und blau wie Äther erscheint. Bleib’ euch stets die Hülle fremd, bleib’ es nur der Verhüllte nicht.« (667 f.) Inhaltlich erschließt sich uns der Text als Bild der lauteren Innerlichkeit Walts, dessen äußere Eishülle leicht verkannt werden kann. Formal betrachtet ist es ein aussichtsloses Unterfangen, das metrische Schema auf den Text übertragen zu wollen. Doch damit nicht genug. Jean Paul leistet sich die ironische Kaprice, seine Prosa den Regeln gelehrter metrischer Kennerschaft zu unterwerfen: Schwerlich werden einem Haßlauer Ohre von einiger Zärte die Härten dieses Verses – z. B. der Proceleusmatikus: keˇl wıˇrd o˘ft dı˘e – der zweite Päon: die Hülle freˇmd – der Molossus: ble¯ib’ e¯uch ste¯ts – entwischen; durfte aber nicht der Dichter seine IdeenKürze durch einige metrische Rauheit erkaufen? (668)

Zusammenfassend gesagt: Aus meiner Sicht behandelt Jean Paul das gattungstradierte lyrische Sprechen nicht zuletzt darum so ironisch-spielerisch, weil metrisch disziplinierte Sprachgebung jenseits seines Ausdrucksvermögens lag. Sein Versuch, der preußischen Königin Luise mit ›richtigen‹ Versen aufzuwarten, mündete in ästhetische Hilflosigkeit.22 Letztlich sind Walts Polymeter ein Kondensat, ein Residuum der lyrischen Prosa Jean Pauls. Der erste von Walt vorgetragene Polymeter, »Der Widerschein des Vesuvs im Meer« betitelt, bewegt sich sprachlich auf der Höhe der Italien-Partien des Titan: »Seht, wie fliegen drunten die Flammen unter die Sterne, rote Ströme wälzen sich schwer um den Berg der Tiefe und fressen die schönen Gärten. Aber unversehrt gleiten wir über die kühlen Flammen, und unsere Bilder lächeln aus brennender Woge.« Das sagte der Schiffer erfreut und blickte besorgt nach dem donnernden Berg auf. Aber ich sagte: »Siehe, so trägt die Muse leicht im ewigen Spiegel den schweren Jammer der Welt, und die Unglücklichen blicken hinein, aber auch sie erfreuet der Schmerz.« (623)

Um die Substanz dieser Prosa ein wenig zu beschreiben, soll eine vergleichbare Passage aus Goethes Italienischer Reise herangezogen werden: Wir standen an einem Fenster des oberen Geschosses, der Vesuv gerade vor uns; die herabfließende Lava, deren Flamme bei längst niedergegangener Sonne schon deutlich glühte und ihren begleitenden Rauch schon zu vergolden anfing; der Berg gewaltsam tobend, über ihm eine ungeheure feststehende Dampfwolke, ihre verschiedenen Massen bei jedem Auswurf blitzartig gesondert und körperhaft erleuchtet. Von da 22 Dazu Pfotenhauer (2007).

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herab bis gegen das Meer ein Streif von Gluthen und glühenden Dünsten; übrigens Meer und Erde, Fels und Wachsthum deutlich in der Abenddämmerung, klar friedlich, in einer zauberhaften Ruhe. Dieß alles mit einem Blick zu übersehen und den hinter dem Bergrücken hervortretenden Vollmond als die Erfüllung des wunderbarsten Bildes zu schauen, mußte wohl Erstaunen erregen.23

Goethe gibt in klarer, gemessen-distanzierter Sprache eine Schilderung des tätigen Vulkans, wie er ihm direkt vor Augen steht, fasst dieses Naturphänomen in einzelne, sinnlich nachvollziehbare Bilder, deren Rahmen vom Blick des Betrachters gezogen wird. Erst der aufscheinende Vollmond ruft die »Erfüllung des wunderbarsten Bildes« hervor. Jean Pauls Perspektive ist eine gänzlich andere.24 Nicht vom sicheren Standort des Betrachters aus, der sich auf Augenhöhe mit dem Objekt der Betrachtung befindet, wird die Naturerscheinung wahrgenommen, sondern aus der unsicheren Position des Schiffers, der von unten aus sicherer Entfernung, gleichwohl »besorgt nach dem donnernden Berg« aufblickt. Die Sorge des Schiffers resultiert aus der realen Konfrontation mit dem Feuer speienden Berg, seine Freude hängt mit dem Umstand zusammen, dass er das bedrohliche Naturschauspiel nur als Spiegelphänomen im Blick von oben nach unten auf die Oberfläche des Meeres wahrnimmt. Während Goethe Beschreibung und Deutung des Naturbildes aus einer Perspektive vornimmt, löst Jean Paul beides in Rede und Gegenrede auf, denen indes kein Dialogcharakter zukommt, sondern eher als Aufeinanderfolge im Sinne von Predigtmärlein und auflösendem Kommentar erscheint. Darin stellt sich eine Nähe her auch zu den Paramythien Herders, der selbst als Romanfigur in die Flegeljahre einbezogen wird.25 Der deutende Kommentar des Dichters Walt korrespondiert inhaltlich mit jener Botschaft, wie sie in der Vorrede zum Hesperus formuliert worden war. Der Dichtung ist es aufgegeben, den »schweren Jammer der Welt« in ihrem »ewigen Spiegel« aufzufangen, ihn in der Kunst für die »Unglücklichen« ansichtig werden zu lassen und ihnen im distanzierten Aushalten des »Schmerzes« Freude zu bereiten. Es macht freilich die Ambiguität von Jean Pauls Prosa aus, dass seine Spiegelmetapher nur vordergründig so eindeutig aufzulösen ist. Sie gleicht eher einem Vexierbild, als dass sie für ein Verhältnis von Realität und Abbild stünde. Ein ›Vexierraum fremder Beizüge‹ gehört zum Inventar von Jean Pauls Prosa, und er bedient sich seiner, um einen in seinen Augen wesentlichen Zweck seiner Kunst zu erreichen, die Erregung von Affekten. Vom Vortrag seines Textes wird Walt selbst zu Tränen gerührt. Die ihn umstehenden Bürger nehmen es mit Verwunderung wahr, nur die mitfühlende Goldine schreibt es der »Seligkeit« des 23 Goethe, Italienische Reise, 274 f. 24 Vgl. die sehr detaillierte Interpretation dieses Textes bei Schlüer (1967). 25 Dazu Köpke (1990).

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Poeten zu; doch der Erzähler fällt ihr ins Wort: »es war bloß das Weinen der Bewegung, die weder eine entzückte noch betrübte, sondern nur eine Bewegung zu sein braucht.« (623) Zweckfreie Erregung der Affekte also, die nur um ihrer selbst willen inszeniert zu sein scheint. Jean Pauls letztes Wort indes ist dies nicht. Walts eigentlicher und wichtigster Zuhörer ist sein Zwillingsbruder Vult, der, verborgen im Blattwerk eines Baumes vor dem offenen Stubenfenster, zum Ohrenzeugen des Vortrags wird; »seine sonst leicht zufallende Seele«, so notiert der Erzähler, »stand weit den Musen offen« (624). Aus diesem Hörerlebnis erwächst Vults Plan, die eigene (satirische) und die brüderliche (lyrische) Stimme in einem eigenen Romanprojekt zusammenzuführen. Dies ist ein Aspekt der ästhetischen Nobilitierung von Walts lyrischer Prosa, ihre Legitimierung als künstlerisch gleichrangiges Verfahren im Verhältnis zum satirischen Erzählen. Ein anderer hat zu tun mit der Transformation einer vermeintlich zweckfreien Affekterregung in die innerliche Übereinkunft zweier gleich gestimmter Seelen, auf die Jean Pauls empfindsames Erzählen stets und ständig abzielt. In zweierlei Hinsicht findet solche Übereinkunft im Roman statt. Zunächst darin, dass die zwischen Vorleser Walt und Zuhörer Vult sich herstellende Empathie das zwiefache Erzählen selbst konstituieren und – für die Dauer des Romans – stabilisieren kann. Auf Walts Vortrag des Streckverses »Die Sonnenblume und die Nachtviole« erfolgt die Replik: »›Die Nachtviole bleibe die letzte Blume im heutigen Kranz!‹ sagte Vult gerührt, weil die Kunst geradeso leicht mit ihm spielen konnte als er mit der Natur, und er schied mit einer Umarmung.« (660) Vults Empathie reicht so weit, dass er sich selbst im Verfassen eines zugegeben »schwachen Streckvers[es] in Deiner Manier« versucht (»Bist du Philomele? Nein; denn du hast zwar ihre Stimme; aber du bist unvergleichlich schön!«), sogleich aber den Kommentar hinterherschickt: »So wirst Du schon früher nachgeahmt als gedruckt.« (776) Zuweilen auch werden die Erzählstimmen der beiden Brüder im brieflichen Austausch, musikalisch gefasst, gewissermaßen zur Engführung gebracht. Doch ihr brüderliches Verhältnis erfährt Irritationen, als Wina, die Tochter des Generals Zablocki, beider Lebensbahnen kreuzt und beide sich in sie verlieben, ohne dass der eine es dem anderen gesteht. Während Vult sich als der Aktivere erweist, genügen Walt die räumliche Nähe der Geliebten und der durch körperliche Nachbarschaft sich einstellende seelische Gleichklang, dem er selbst in einem Polymeter »singend« Ausdruck gibt: ›Liebst du mich?‹ fragte der Jüngling die Geliebte jeden Morgen; aber sie sah errötet nieder und schwieg. Sie wurde bleicher, und er fragte wieder, aber sie wurde rot und schwieg. Einst, als sie im Sterben war, kam er wieder und fragte, aber nur aus Schmerz: ›Liebst du mich nicht?‹ – und sie sagte ja und starb.

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Damit nicht genug, lässt sich der Erzähler zu einem Kommentar von Walts weltentrückter seliger Innerlichkeit herbei (»Er versang sich immer tiefer in sein Herz – Zeit und Welt verschwand – er spielte wie eine sterbende Ephemere süß in den hellern Strahlen des Mondes und unter Mondstäubchen«), bevor Vult hereinplatzt und Winas Ankunft meldet, jedoch den Wert dieser Nachricht »für ihn selber durch eine zweite lustige« zudeckt. Im Zeichen gegenseitigen Verdeckens und Verkennens steht auch ihr das Kapitel beschließender Dialog: ›Warum‹, fragte Vult bestürzt, ›siehst du so sonderbar aus? Warest du traurig?‹ – ›Ich war selig, und jetzt bin ichs noch mehr‹, versetzte Walt, ohne sich weiter zu erklären. Die höchste Entzückung macht ernst wie ein Schmerz, und der Mensch ist in ihr eine stille Scheinleiche mit blassem Gesicht, aber innen voll überirdischer Träume. (994 f.)

Am Ende geben sich die für einander Bestimmten wechselseitig zu erkennen. Walt wird zu Sekretärsdiensten bei Winas Vater herangezogen und kann so seine Geliebte öfter sehen. Diese wiederum hält Vult für den Verfasser der ZeitungsPolymeter, für »einen weichen Dichter des Herzens«. Als sie den Polymeter »Das Maiblümchen« vorträgt, der mit dem Satz endet: »O Schönste, du erste Liebe des Frühlings, hebe dein Herz!«, kommt es – natürlich unter Tränen – zur Erkennungsszene: Walten waren unter dem Zuhören vor Freude und Liebe und vor Dichtkunst die Augen übergegangen – und Wina hatte mit geweint, ohne es zu merken –; darauf sagt’ er : »Ich habe wohl den Vers gemacht.« – »Sie, Lieber?« fragte Wina und nahm seine Hand, »und alle Polymeter?« – »Alle«, lispelte er. Da blühte sie wie das Morgenrot, das die Sonne verspricht, und er wie die Rose, die schon von ihr erbrochen ist. Aber einander verborgen hinter den froher nachquellenden Tränen, glichen sie zwei Tönen, die unsichtbar zu einem Wohllaut zittern; sie waren zwei gesenkte Maienblümchen, einander durch fremdes Frühlingswehen mehr nachbewegt als angenähert. (1020)

Walt bekennt sich dazu, in seiner Dichtung Signale der Liebe ausgesendet zu haben, und Wina erweist sich als deren ideale Empfängerin. Mehr geschieht nicht. Über das seelische Einverständnis hinaus wird kein Weg in eine Liebesrealität gewiesen. Wichtiger ist in meinen Augen etwas anderes, das Hervorrufen gemeinsamer, bergender Innerlichkeit durch Walts Dichten selbst. In der Konstituierung von Innerlichkeit erfüllt sich für Jean Paul der Sinn seiner Poesie. Eine Prosa in »Streckversen«, die solchen Gleichklang herbeiführt, hat per se ihren ästhetischen Rang erwiesen. Von der »höchste[n] Entzückung« hatte Jean Paul gesagt, dass »der Mensch […] in ihr […] innen voll überirdischer Träume« sei. Noch einmal sei auf Herders »Paramythie« »Schlaf« zurückgeblickt; auch dort sollten sich Träumen und Schreiben vereint zu Dichtung kondensieren. Nicht wenige von Jean Pauls Streckversen lassen sich als Traumdichtung ansehen. Da der Kandidat Schomaker die poetische Lizenz erteilt hatte, einen Streckvers sogar »bogenweis«

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fortzuspinnen, so halte ich es für legitim, Walts Schlusstraum vom »rechten Land« (1061 – 1065) als überlangen Polymeter aufzufassen, als Kundgabe von Jean Pauls poetischem Grund- und Hauptverfahren, dem freilich in der Romanrealität kein Echo mehr beschieden ist. Walts Frage an Vult: »was sagst du, Bruder, zu diesem künstlich-fügenden Traume?« bleibt ohne Antwort: »Du sollst es sogleich hören in dein Bett hinein«, versetzte Vult, nahm die Flöte und ging, sie blasend, aus dem Zimmer – die Treppe hinab – aus dem Hause davon und dem Posthause zu. Noch aus der Gasse herauf hörte Walt entzückt die entfliehenden Töne reden, denn er merkte nicht, daß mit ihnen sein Bruder entfliehe. (1065)

Ein offener Ausgang gewiss, zugleich aber einer, der am Plädoyer für die ästhetische Relevanz der eigenen lyrischen Prosa festhält.

Literatur Das Journal von Tiefurt, hg. v. Jutta Heinz und Jochen Golz unter Mitarbeit von Cornelia Ilbrig, Nicole Kabisius und Matthias Löwe, Göttingen 2011. Goethe, Johann Wolfgang, Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, [Erste Abteilung], Bd. 31: Italienische Reise. II, Weimar 1904. Herder, Johann Gottfried, Paramythien, in: ders., Werke, Bd. 3: Volkslieder. Übertragungen. Dichtungen, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main 1990, 697 – 724. Herder, Johann Gottfried, Briefe zu Beförderung der Humanität, in: ders., Werke, Bd. 7, hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt am Main 1991. Jean Paul, Hesperus, in: ders., Werke, Bd. 1: Die unsichtbare Loge. Hesperus, hg. v. Norbert Miller, Nachwort v. Walter Höllerer, München 1960, 471 – 1236. Jean Paul, Flegeljahre, in: ders., Werke, Bd. 2: Siebenkäs. Flegeljahre, hg. v. Gustav Lohmann, München 1959, 567 – 1065. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: ders., Werke, Bd. 5: Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften, hg. v. Norbert Miller, München 1963, 7 – 514. Köpke, Wulf, »Abschied von der Poesie. ›Flegeljahre‹ und die Auseinandersetzung mit Herder«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 25 (1990), 43 – 60. Meier, Albert, Goethe. Dichtung – Kunst – Natur, Stuttgart 2011. Naumann, Ursula, Predigende Poesie. Zur Bedeutung von Predigt, geistlicher Rede und Predigertum für das Werk Jean Pauls, Nürnberg 1976. Neumann, Peter Horst, »Streckvers und poetische Enklave. Zu Entstehungsgeschichte und Form der Prosagedichte Jean Pauls«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 2 (1967), 13 – 36. Nienhaus, Stefan, »›Da ich ihn aus unserer Zeitung als einen weichen Dichter des Herzens kenne‹. Walts Lyrik«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 26 / 27 (1992), 120 – 131. Pfotenhauer, Helmut, »Jean Paul und Königin Luise. Oder weshalb singende Prosa keinen guten Vers erlaubt«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 42 (2007), 105 – 119. Rasch, Wolfdietrich, Die Erzählweise Jean Pauls, München 1961. Schiller, Friedrich, Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 37.1: Briefwechsel. Briefe an

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Schiller. 1.4.1797 – 31.10.1798 (Text), hg. v. Norbert Oellers und Frithjof Stock, Weimar 1981. Schiller, Friedrich, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, in: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, 413 – 503. Schlaffer, Heinz, »Jean Pauls Mysterien«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 32 / 33 (1998), 33 – 45. Schlüer, Klaus-Dieter, »Spiegel und Sprache. Zu zwei Streckversen Jean Pauls«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 2 (1967), 37 – 53. Wölfel, Kurt, »›Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt‹. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie«, in: ders., Jean Paul-Studien, Frankfurt am Main 1989, 259 – 300.

III. Interpretationen

Maike Schmidt

»wenn man nur darnach Augen hat.« Zur romantischen Poetizität in E.T.A. Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig

1.

Einleitung

Die von Karl Wilhelm Contessa, Friedrich de la Motte Fouqu¦ und Ernst Theodor Amadeus Hoffmann 1816 / 17 herausgegebene zweibändige Sammlung Kinder-Mährchen, in der Nußknacker und Mausekönig publiziert wird, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich – nicht nur, aber explizit auch – an ein kindliches Publikum richtet und dass in ihr kindliche Protagonisten auftreten. Sie gehört zu denjenigen Werken für Kinder, die zur Zeit der mittleren und späten Romantik, also in den Jahrzehnten nach 1800 entstehen und die die von den Frühromantikern wie Ludwig Tieck und Novalis formulierten Positionen der Pädagogik und Kinderliteratur umsetzen.1 Sie grenzen sich bewusst ab von den kindlich erzählten (Volks-)Märchen und orientieren sich an den französischen Feenmärchen.2 Beispielhaft hierfür ist neben Clemens Brentanos Gockel und Hinkel vor allem E. T. A. Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig.3 Obwohl der Verleger Reimer nach eigener Aussage nicht an den KinderMährchen verdient habe und sich die Auflagenstärke im 19. Jahrhundert in Grenzen hielt, lässt sich Nußknacker und Mausekönig als eines der bekanntesten und folgenreichsten deutschen Märchen bezeichnen:4 Verantwortlich dafür zeichnet zum einen Tschaikowskis Nußknacker-Ballett, zum anderen die zahlreichen illustrierten Kinderbuch-Ausgaben des Märchens sowie Hörspiel-, Hörbuch- und Filmbearbeitungen. Wahrscheinlich als Reaktion auf die Literaturkritik wird Nußknacker und Mausekönig wenige Jahre später, nämlich 1819, am Ende des ersten Bandes des Erzählzyklus Serapions-Brüder wiederabgedruckt und in der Rahmung der 1 Zu Ludwig Tiecks Aufklärungskritik vgl. Ewers (2010), 91 – 102. 2 Vgl. Zeller (1993), 70. In Nußknacker und Mausekönig sind es vor allem die Ausführungen zum Kampf zwischen Nussknacker und Mausekönig sowie die Beschreibungen des Puppenreiches, die an das französische Feenmärchen erinnern. 3 Hofmanns Nußknacker und Mausekönig wird im Folgenden mit bloßer Seitenangabe zitiert. 4 Vgl. Ewers (2010), 103 – 120.

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Gespräche von Lothar und seinen Freunden, die sich gegenseitig ihre poetischen Werke vorlesen, dichtungstheoretisch reflektiert. Als problematisch für die Kritiker stellte sich vor allem die Abweichung »in Erfindung und Ausführung von aller und jeder Mährchen-Dichtung«5 zugunsten einer größeren schöpferischen Freiheit dar, so dass ein Rezensent gar zu dem Schluss kommt, das Märchen Nußknacker und Mausekönig sei »vollends widerlich und verdorben durch die hier unpasslich eingestreuten Spässe«.6 Hoffmann wird vorgeworfen, »diesmal nicht bedacht zu haben […], für wen er eigentlich geschrieben.«7 Die Antworten, die Lothar auf diese und ähnliche Vorwürfe im Rahmen der Serapions-Brüder bereithält, fungieren nicht nur »als ein Medium der Selbstkritik früherer Arbeiten«,8 sondern entsprechen einer poetologischen Stellungnahme: Der Text ermögliche Erwachsenen wie Kindern eigene Lesarten, die entweder die Entwirrung des verschachtelten Aufbaus und der zahlreichen zeitgeschichtlichen und historischen Anspielungen9 oder aber die lebhafte Fantasie in den Vordergrund stellen (252 – 255). Der »ironische Ton« als »gefährlichste Klippe« werde bei den kindlichen Lesern keine Irritationen hervorgerufen haben (254). Ein weiterer Aspekt, den die Serapions-Brüder besprechen, thematisiert Hoffmanns Strategie, »das durchaus Fantastische ins gewöhnliche Leben hineinzuspielen« (254), mithin das Konzept des Wirklichkeitsmärchens.10 Die Skepsis, ob das erzählte Märchengeschehen tatsächlich Wirklichkeitscharakter beanspruchen kann, bleibt also bestehen, zumal Realitätszweifel bereits innerhalb der Erzählfiktion zutage treten, wie noch zu zeigen sein wird. Ausgehend von der zeitgenössischen Literaturkritik ist das vielschichtige Kindermärchen vom Nußknacker und Mausekönig bisher unter einer ganzen Reihe von Fragestellungen betrachtet worden, die im Wesentlichen vier zentralen Bereiche betreffen: Aus der kinderliterarischen Perspektive wurde gefragt, ob sich das Märchen überhaupt als Kindermärchen eigne.11 Daneben gilt der Text als beispielhaft für die Demonstration der kindlichen Erkenntnis von der eigenen Imaginationsfähigkeit.12 Einen anderen Ansatz verfolgen diejenigen, die die sexuelle weibliche Entwicklungsgeschichte der Protagonistin Marie in den Vordergrund stellen: Danach zeigt das Märchen die sehnsüchtige Erwartung

5 6 7 8 9 10 11

D-N., [Rezension] in: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, 47. Ebd. Ebd. Barth (1995), 7. Zu den Anspielungen auf Napoleon vgl. beispielsweise Segebrecht (2009), 62 – 87. Der Begriff ›Wirklichkeitsmärchen‹ stammt von Marianne Thalmann (1952), 473 – 491. Vgl. beispielsweise Ellinger (1894). Spätere Forschungsbeiträge thematisiseren stärker die vom Alter des Rezipienten abhängigen Lesarten des Märchens, zum Beispiel Grenz (1989), 81 – 89. 12 Vgl. von Matt (2002), 59 f.

»wenn man nur darnach Augen hat«

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des Traum- und Ehemannes auf bzw. den weiblichen Initiationsprozess selbst.13 Eine weitere Lesart betont die geglückte Umsetzung einer dem »romantische[n] Denken verpflichtete[n] paradiesische[n] Einheitsvorstellung«14 von Innen- und Außenwelt. In diesem Beitrag soll der Fokus stärker auf die Künstlichkeit dieses Kunstmärchens gelegt werden: Durch welche ästhetischen Strategien gelingt es selbst in einem Kindermärchen, das strukturelle Defizit einer vermeintlich unkünstlerischen Prosa zu überwinden? Welche Verfahren finden Anwendung zur Erzeugung von Poetizität und ästhetischer Kohärenz? Diese Fragestellung bietet sich nicht nur aufgrund der eingangs erwähnten Gespräche der SerapionsBrüder an, die bereits auf selbstreflexive Erzählverfahren verweisen, sondern vor allem, weil der Wirkungsästhetik der romantischen Prosa eine bedeutende Rolle zukommt. Denn vor allem in der Romantik gelingt es, die Prosa, die sich erst im 18. Jahrhundert in der Literatur etabliert und der bis weit in das Jahrhundert hinein der Ruf des Trivialen anhaftet, auf einen neuen Kunststatus zu heben und so von der Alltagssprache abzugrenzen.

2.

Die Poetisierung der Mechanik

Das Märchen vom Nußknacker und Mausekönig beginnt zunächst alltagsnah mit der Beschreibung des Weihnachtsabends in der Familie Stahlbaum. Das Künstlerische bzw. Künstliche tritt aber schon bald hervor, und zwar in der Figur des Paten Droßelmeier, der nicht nur recht Künstliches zu fabrizieren weiß, sondern auch als Erzähler fungiert und eine ›ordo artificialis‹, eine gegen die chronologische Abfolge gerichtete Erzählweise, in Gang setzt. Beide Aspekte – Künstlerfigur und verschachtelte Erzählung – erweisen sich als charakteristisch für romantische Kunstmärchen, zeigen dessen ästhetische Konstruktion auf und sollen daher in der Folge genauer in den Blick genommen werden. Droßelmeier erzählt den Kindern Fritz und Marie das Binnenmärchen Das Märchen von der harten Nuß, in dem es um die Vorgeschichte des Nussknackers geht, den Marie seit dem Weihnachtsabend pflegt. Eingeschoben in dieses Märchen ist wiederum die Geschichte von Prinzessin Pirlipats Eltern, die als Vorgeschichte der Vorgeschichte fungiert. Noch komplizierter gestaltet sich die Erzählsituation, zieht man die zusätzliche Rahmung hinzu, die sich durch die Publikation in Die Serapions-Brüder ergibt. Berücksichtigt man hingegen die biographischen Daten Hoffmanns, lässt sich eine andere Potenzierung der Erzählsituation ausmachen: Hoffmann erzählte Marie und Fritz Hitzig, den Kin13 Vgl. Neumann (1997), 135 – 160; Kremer (2003), 7 – 18, besonders 15 – 18. 14 Schikorsky (2005), 536.

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dern seines Freundes Julius Hitzig, ein Märchen, in dem Hoffmanns poetisches Alter Ego zwei Kindern namens Marie und Fritz das Märchen von der harten Nuß, erzählt.15 Betrachtet man den Vorgang des Erzählens nun genauer, fallen Gemeinsamkeiten auf den verschiedenen Ebenen auf: Droßelmeier erzählt Fritz und Marie das Binnenmärchen an drei aufeinander folgenden Abenden und in drei Teilen (219 – 232), so dass die Geschwister wie die Rezipienten immer wieder neu in die Welt des Märchens bzw. des Binnenmärchen eintauchen. Der Wechsel zwischen diesen Ebenen lässt den Rezipienten den künstlichen Aufbau von Nußknacker und Mausekönig reflektieren. Auch der Hofuhrmacher und Arkanist Droßelmeier benötigt – auf der Ebene des Binnenmärchens – drei Tage und drei Nächte, um die Lösung für die Rückverwandlung der Prinzessin Pirlipat zu finden, so dass sich eine Parallelität zwischen den Zeitverläufen beider Märchen ergibt (225). Angelehnt an die Unterbrechungen Droßelmeiers beim Erzählen des Märchens von der harten Nuß stoppt auch der Ich-Erzähler das Märchen Nußknacker und Mausekönig immer wieder, um den geneigten und hochverehrtesten Leser (201, 232) direkt anzusprechen: »Fritz – Theodor – Ernst – oder wie du sonst heißen magst« (201). Hier wird der Leser nicht nur selbst zur fiktionalen Figur, sondern auch das ironische Potential des Textes lässt sich bereits erkennen, da zwei der angeführten Vornamen mit denen Hoffmanns identisch sind. Gegenstand des Märchens ist damit nicht nur das Geschehen um Marie und den Nussknacker, sondern, mit Friedrich Schlegel gesprochen, das »sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein«16 – und damit das Erzählen und Erfinden von Märchen selbst. Die Betonung der Künstlichkeit manifestiert sich in dem Erzähler des Märchens von der harten Nuß, im Paten Droßelmeier, der sich zu Beginn des Kunstmärchens vor allem durch zwei Aspekte auszeichnet, nämlich durch seine Physiognomie und seine Tätigkeit: Der Obergerichtsrat Droßelmeier war gar kein hübscher Mann, nur klein und mager, hatte viele Runzeln im Gesicht, statt des rechten Auges ein großes schwarzes Pflaster und auch gar keine Haare, weshalb er eine sehr schöne weiße Perücke trug, die war aber von Glas und ein künstliches Stück Arbeit. Überhaupt war der Pate selbst auch ein sehr künstlicher Mann, der sich sogar auf Uhren verstand und selbst welche machen konnte. (199)

15 Hoffmann bastelte den Geschwistern Hitzig Spielzeug, u. a. ein Modell der Burg Ringstetten aus Fouqu¦s Undine, das an Droßelmeiers – ebenfalls zu Weihnachten beschertes – Schloss erinnert. Weiteren Parallelen zwischen Hoffmann und Droßelmeier geht Barth (1995), 8 f. nach. 16 Schlegel, 238. Athenäumsfragment, 204.

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Der Fokus auf sein künstliches Äußeres weist einerseits auf sein mechanisches Geschick hin, andererseits aber auch auf den Bereich der Ästhetik. Für die Kinder Fritz und Marie ist er nicht aufgrund seiner Arbeit als Obergerichtsrat, sondern vor allem deshalb von Interesse, weil sie von seinen künstlerischen Fertigkeiten profitieren können: Er bastelt ihnen Geschenke und ist bereits als guter Geschichtenerzähler in Erinnerung geblieben (199 f.). Damit kommt es in dem Märchen Nußknacker und Mausekönig in der Figur des Paten Droßelmeier zu einer Potenzierung des romantischen Prinzips, das Schicksal von Künstlern zu thematisieren, da er sowohl in der Rahmen- als auch in der Binnenhandlung als Künstler auftritt. Das Weihnachtsgeschenk, das der Pate Droßelmeier in diesem Jahr für die Kinder bereithält, »ein sehr herrliches Schloß mit vielen Spiegelfenstern und goldnen Türmen« (202) aus dem u. a. eine dem Droßelmeier nachempfundene Figur ein und aus geht, bleibt jedoch hinter den Erwartungen der Kinder zurück. Anklang findet es hingehen bei der Mutter, die »sich den innern Bau und das wunderbare, sehr künstliche Räderwerk zeigen [ließ], wodurch die kleinen Püppchen in Bewegung gesetzt wurden.« (203) Die Begründung der Geschwister für ihren schnellen Interessenverlust an dem Weihnachtspräsent erweist sich als äußerst aussagekräftig für das weitere Textverständnis: Hör mal Pate Droßelmeier, wenn deine kleinen geputzten Dinger in dem Schloße nicht mehr können als immer dasselbe, da taugen sie nicht viel, und ich frage nicht sonderlich nach ihnen. – Nein, da lob ich mir meine Husaren, die müssen manövrieren vorwärts, rückwärts, wie ich’s haben will […]. (203)

Es zeigt sich folglich durch die Reaktion der Kinder auf das Schloss ebenso wie auf das Drahtballett im Puppenreich (241), dass die Welt der mechanischen Miniaturen aufgrund ihrer Determiniertheit der Kraft der Imagination unterlegen ist. Denn während Fritz nicht in das Geschehen im Schloss eingreifen kann, gelingt Marie eine Integration in die Fantasiewelt, bei der ihr die Erzählungen des Droßelmeier ebenso helfen wie die Puppen- und Soldatenfiguren, die als Ausgangspunkt ein aktives Spiel ermöglichen. Schon auf diesen ersten Seiten des Märchens lassen sich damit für die Romantik charakteristische Ästhetisierungsverfahren erkennen: Thematisiert wird der Aspekt der Selbstreferenzialität u. a. durch die Technik der mise en abyme – indem Droßelmeier als Protagonist des Märchens gleichzeitig als Spielzeugfigur im Schloss auftritt. In der Beschreibung, wie Droßelmeier die missgestaltete Prinzessin Pirlipat in der Vorgeschichte zum Binnenmärchen zu heilen versucht, lassen sich erneut selbstreferenzielle und zugleich ironische Züge erkennen: Droßelmeier erschrak nicht wenig, indessen vertraute er bald seiner Kunst und seinem Glück und schritt sogleich zu der ersten Operation, die im nützlich schien. Er nahm Prinzeßchen Pirlipat sehr geschickt auseinander, schrob ihr Händchen und Füßchen

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ab, und besah sogleich die innere Struktur, aber da fand er leider, daß die Prinzessin je größer, desto unförmlicher werden würde […]. (224)

Kunst und Mechanik treten hier wie schon in der oben genannten Beschreibung des Paten Droßelmeier als miteinander verbundene Tätigkeitsfelder auf, es findet »eine Poetisierung der unter dem Schlagwort der Mechanik stehenden prosaischen Welt« statt.17 Setzt man die Automaten und mechanischen Puppen, die sich in zahlreichen romantischen Kunstmärchen finden lassen, mit der Epoche der Aufklärung gleich, ließe sich hier von einer Romantisierung sprechen. Indem der künstliche Aufbau der erfundenen Figuren in den Mittelpunkt rückt, wird das Erzählen selbst zum Gegenstand des Erzählens gemacht, der künstliche Aufbau eines künstlichen Werkes besprochen. Durch dieses selbstreflexive Erzählverfahren zeichnet sich die romantische Poetik aus, die damit in der Poesie die Bedingungen der Poesie reflektiert. Das poetische Werk realisiert sich also erst in der Kommunikation mit dem Rezipienten – und abhängig von dessen Hintergrundwissen immer auch auf unterschiedliche Weise.18 Gerade deshalb eignet sich das Kindermärchen vom Nußknacker und Mausekönig sowohl für Erwachsene als auch für Kinder, die den Text unterschiedlich decodieren.

3.

Die serapiontische Kraft

Stärker als bisher deutlich geworden ist, zeichnen sich die Figuren in Nußknacker und Mausekönig dadurch aus, dass sie auf den verschiedenen Ebenen, die allerdings nicht eindeutig voneinander zu trennen sind, unterschiedliche Daseinsformen annehmen. Denn zu differenzieren ist nicht nur zwischen dem Rahmenmärchen vom Nußknacker und Mausekönig und dem eingeschobenen Binnenmärchen von der harten Nuß, sondern auch zwischen den Textpassagen, die sich nicht zweifelsfrei in die Welt des Rahmenmärchens integrieren lassen wie die Schilderung der Schlacht vom Nussknacker und Mausekönig, die Reise ins Puppenreich und der Heiratsantrag des jungen Droßelmeier. Die titelgebende Schlacht zwischen Nussknacker und Mausekönig beginnt um Mitternacht, als Marie an der Stelle der hölzernen Eule ihren Paten Droßelmeier auf der Wanduhr sitzen sieht (209).19 Dabei bleibt offen, ob es sich um eine durch Maries subjektive Wahrnehmung verursachte Täuschung, um einen Traum, eine Krankheitsfantasie oder um die vom Text vorgegebene Realität 17 Heintz (1974), 9. 18 Vgl. Meier (2008), 36. 19 Zur Uhr als Symbol für die Zeit, aber auch für einen literarischen Text vgl. Neuhaus (2005), 165.

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handelt. Selbst Droßelmeier als vermeintlich vertrauenswürdige Erzählinstanz äußert sich nicht eindeutig über die Geschehnisse in dieser Nacht und bestätigt dadurch den Status der Verwirrung und Verunsicherung beim Leser, wenn er Marie erklärt: »Sei nur nicht böse, daß ich nicht gleich dem Mäusekönig alle vierzehn Augen ausgehackt, aber es konnte nicht sein […]« (217 f.). Die logischen Widersprüche werden nicht aufgelöst – und sollen dies auch gar nicht. Denn gerade im Versagen des logischen Bewusstseins lässt sich die Macht der Einbildungskraft beobachten, »was insofern ironisch bleibt, als sich der eigentliche Übertritt in die alternative Welt nicht faktisch vollziehen kann.«20 Im Unterschied zu den Rezipienten und anderen, erwachseneren Protagonisten in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen (wie etwa dem Studenten Anselmus im Goldnen Topf) zweifelt einzig Marie nicht an der Realität der wunderbaren Ereignisse im Haus ihrer Eltern. Nußknacker und Mausekönig lässt sich deshalb als gemäßigtes Wirklichkeitsmärchen bezeichnen. Beim Leser treten hingegen immer wieder Realitätszweifel auf, beispielsweise wenn Maries Süßigkeiten, die sie für den Mausekönig ausgelegt hat, tatsächlich – und von der Mutter bestätigt – von Mäusen angenagt vorgefunden werden: »Es muß durchaus eine große garstige Maus in dem Glasschrank hausen, denn alle schöne Zuckerpüppchen der armen Marie sind zernagt und zerbissen.« (236) Die Annahme eines aufgeklärten Lesers, der hinter der Erpressung durch den Mausekönig Maries Fantasie vermutet, geht deshalb nicht auf. Ausgerechnet die Mutter, die gemeinsam mit dem Arzt ganz im Sinne von August Wilhelm Schlegels Aufklärungskritik in Ueber Litteratur, Kunst und Geist des Zeitalters (1802) versucht, Marie von der Fantasie zu heilen, bestätigt hier den Leser in seiner Verwirrung. Gleiches gilt, wenn die sieben kleinen Krönchen des Mausekönigs, die Marie als Beweis für ihre »Einbildungen und Possen« (250) vorzeigen kann, die Erwachsenen in Erklärungsnot bringen und die Glaubwürdigkeit des Paten Droßelmeier in Frage stellen (249 f.). Das Misstrauen gegenüber dem Außergewöhnlichen teilen also nicht nur die Erwachsenen in der Rahmenhandlung des Märchens, sondern auch die erwachsenen Leser, denn eine eindeutig logische Klärung wird nicht geboten. Genau hierin, in der Nichtauflösung des Misstrauens über das, was man glauben darf, liegt die Kunst des romantischen Erzählens: Die Realität soll potenziert und die Menschen des Alltags dadurch für eine weitere, größere und verborgene Welt sensibilisiert werden. Die ›schöne Verwirrung‹ des Lesers ist also intendiert. Alle Erklärungsversuche, die die Erwachsenen im Märchen, aber möglicherweise auch die erwachsenen Leser des Kindermärchens unternehmen, um Maries Erlebnisse realitätskonform auflösen zu können, müssen als unromantisch zurückgewiesen werden:

20 Meier (1999), 18.

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Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.21

Hoffmann setzt also in seinem Kindermärchen die poetologischen Konzepte der Frühromantik um. Der Leser soll die Lektüre als logische Zumutung an den gesunden Menschenverstand erleben, wird in seinen Erfahrungsgewohnheiten gestört (›romantischer Zustand‹) und kann die »künstlich geordnete Verwirrung«22 als Alternative zur Rationalität ästhetisch genießen. Betrachtet man abschließend noch einmal die Figuren, so lässt sich zwar annehmen, dass der Neffe Droßelmeier mit dem Nussknacker und dem König des Puppenreichs identisch ist, und auch der Pate Droßelmeier tritt im Märchen von der harten Nuß auf. Etwas undurchsichtiger gestaltet sich hingegen das Verhältnis von Marie, der zukünftigen Königin, und Prinzessin Pirlipat: Marie selbst hält sich bei ihrer Reise durch das Puppenreich für die Prinzessin aus Droßelmeiers Märchen, wird aber vom Nussknacker korrigiert: »O beste Demoiselle Stahlbaum, das ist nicht die Prinzessin Pirlipat, das sind Sie und immer nur Sie selbst, immer nur Ihr eignes holdes Antlitz, das so lieb aus jeder Rosenwelle lächelt.« (244)23 Den Vergleich zwischen Marie und Prinzessin Pirlipat stellt aber ausgerechnet Droßelmeier selbst her, der hierfür bei Maries Eltern Verwunderung erntet: »du bist, wie Pirlipat eine geborene Prinzessin, denn du regierst in einem schönen blanken Reich« (234). Allerdings ist Marie nur wie Pirlipat und nicht Pirlipat selbst. An dieser Stelle lässt sich Maries eigene Imaginationsfähigkeit erkennen, indem sie in ihrem Inneren die von Droßelmeier angeregten Szenen erweitert und dessen Märchen und Erzählungen als Inspiration der Fantasie nutzt. Marie identifiziert sich nicht nur mit einer literarischen Figur, der Prinzessin Pirlipat, sondern erschafft sich als Protagonistin in ihrem eigenen Märchen, das sich wiederum als Parodie auf die Gattung Märchen lesen lässt. Der romantische Glaube an die besondere poetische Begabung des Kindes wird hier offensichtlich.24 Die Kindheit symbolisiert die Sehnsucht nach der verklärten Vergangenheit einerseits und die Vorstellung einer hoffnungsvollen Zukunft andererseits. Wie Marie zeigt, vertrauen Kinder auf das Wunderbare, Unwahrscheinliche, sind impulsiv und offen. Sie scheuen sich nicht, von ihrer Einbildungskraft Gebrauch zu machen. 21 Schlegel, Gespräch über die Poesie, 319. 22 Ebd. 23 Zuvor vergleicht Marie den Rosensee des Puppenreichs mit dem von Droßelmeier beschriebenen (243). 24 Vgl. dazu Alefeld (1996) und Baader (1996).

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Marie erweist sich darüber hinaus der Prinzessin Pirlipat als moralisch deutlich überlegen, weshalb sie letztlich für die Rettung des Nussknackers infrage kommt und so »mit Knall und Ruck« (251) und mit Erlaubnis von Droßelmeier25 das glückliche Ende des Märchens einläutet: Hierauf wurde Marie sogleich Droßelmeiers Braut. Nach Jahresfrist hat er sie, wie man sagt, auf einem goldnen von silbernen Pferden gezogenen Wagen abgeholt. Auf der Hochzeit tanzten zweiundzwanzigtausend der glänzendsten mit Perlen und Diamanten geschmückten Figuren, und Marie soll noch zur Stunde Königin des Landes sein, in dem man überall funkelnde Weihnachtswälder, durchsichtige Marzipanschlösser, kurz, die allerherrlichsten, wunderbarsten Dinge erblicken kann, wenn man nur darnach Augen hat.26

Verwirrung erzeugt das Kunstmärchen an dieser Stelle via Negation, und zwar durch das »wie man sagt« und »soll noch«. Dieses Sprechen im ›als ob‹ führt zur Desillusionierung der Märchenfiktion durch den unzuverlässigen Erzähler. Droßelmeier als eingeweihte Instanz kann als einziger dem Leser Gewissheit verschaffen, unterlässt dieses aber. Der Bruch mit der Erwartungshaltung verstört den Leser in seiner Realitätsgewissheit und schafft so bewusst Distanz zum Geschriebenen. Dieses Verfahren der romantischen Ironie nimmt dem Leser das Vertrauen auf die Gültigkeit des Erzählten. Mittels Ironie findet hier also eine Betonung der Künstlichkeit des Kunstmärchens statt. Das oben angeführte Zitat, mit dem das Märchen Nußknacker und Mausekönig endet, demonstriert, dass erst eine Verwandlung bzw. romantische Sensibilisierung des Sehvorgangs die Erweiterung des Auffassungsvermögens und damit das Zulassen verschiedener Dimensionen von Realität ermöglicht. Die »Kunstwirklichkeit«27 dient der Erweiterung des Alltäglichen und soll im Sinne der romantischen Poetik so nachhaltig wie möglich als real empfunden werden.28 Gleichzeitig lässt sich das Zitat als Appell an den Rezipienten verstehen, mit seinen Augen »darnach« zu schauen. Die serapiontische »Sehergabe«29 bildet also die Voraussetzung für die romantische Lesart des Kindermärchens. Marie zeigt dem Rezipienten, wie das innere Sehen mit dieser Gabe gelingen kann und damit auch, wie romantische Erzählungen grundsätzlich zu verstehen sind. Indem »ihr ganzes Gemüt erfüllt war« (250) von ihren inneren Bildern betont sie die Gültigkeit der von Novalis aufgestellten Formel »Po¦sie = Gemütherregungskunst«.30 Die Bereitschaft, sich begeistern zu lassen, wie man es 25 Vgl. 252: »Spielt nur hübsch miteinander, ihr Kinder, ich habe nun, da alle meine Uhren richtig gehen, nichts dagegen […].« 26 Hoffmann, Nußknacker und Mausekönig, 252. 27 Miller (2002), 89. 28 Vgl. Meier (1999), 17. 29 Hoffmann, Die Serapions-Brüder, 55. 30 Novalis, Aus den Fragmenten und Studien. 1799 / 1800, 801.

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an Kindern beobachten kann, stellt nicht nur für den Erzähler, sondern auch für den Rezipienten von romantischen Kunstmärchen eine entscheidende Eigenschaft dar. Nußknacker und Mausekönig demonstriert, wie »das durchaus Fantastische ins gewöhnliche Leben«31 hineinspielen kann, ohne für das Fantastische eine logische Erklärung zu bieten. Unter diesem Aspekt gewinnt die Bemerkung Droßelmeiers an Bedeutung, der Marie als Regentin »in einem schönen blanken Reich« bezeichnet und ihre Überlegenheit anerkennt: Das ›blanke Reich‹ symbolisiert nicht nur das Reich der Fantasie,32 sondern genauer das Reich der Poesie. Die Überlegenheit Maries zeigt sich nämlich nicht in ihrer Fantasie – schließlich tritt auch Droßelmeier als Künstler und Erzähler auf – sondern vielmehr in ihrer romantisch-serapiontischen Fähigkeit, die sie sowohl als Rezipientin von Droßelmeiers Erzählungen als auch in ihrer eigenen Dichtung an den Tag legt. Verantwortlich für Maries Fähigkeit zeichnet (anders als etwa im Goldnen Topf) nicht eine individuelle Veranlagung, sondern die schöpferische Kraft, die in der Natur des Kindes liegt. Dass ausgerechnet der biographisch an E. T. A. Hoffmann angelehnte Droßelmeier die dichterische Überlegenheit Maries erkennt, demonstriert erneut den ironischen Charakter des Kunstmärchens, wird doch auf diese Weise die poetische Fähigkeit der erfundenen Figur über die eigene Dichtkunst gestellt, und das auch noch vor dem geneigten Leser Ernst Theodor.

4.

Fazit

Die Analyse von Nußknacker und Mausekönig hat gezeigt, dass die Kunstlosigkeit der ungebundenen Sprache durch verschiedene Ästhetisierungsstrategien wettgemacht wird: Das In- und Nebeneinander von fantastischen Ebenen, die mit den Gesetzen der Logik nicht zu erfassen sind, führen intra- und extradiegetisch zu Verwirrungen und versetzen den Rezipienten in einen ›romantischen Zustand‹. Grenzen zwischen ›gut‹ und ›böse‹ oder ›Realität‹ und ›Traum‹ werden überschritten bzw. verwischt. Darin ist aber keine Schwäche der romantischen Literatur zu lesen, sondern ihre Intention. Kunstmärchen beanspruchen keinen Nutzen, sondern behaupten das Recht, »die Einbildungs-Kraft zu belustigen«.33 Dies führt Nußknacker und Mausekönig gleich in zweifacher Hinsicht vor, wenn nicht nur der extradiegetische Rezipient angesprochen wird, sondern das Märchen im Märchen ebenfalls der Unterhaltung dient. Es gilt dabei, nicht das Wahrscheinliche, sondern gerade das Un31 Hoffmann, Serapions-Brüder, 254. 32 Vgl. Schikorsky (1995), 530. 33 Wieland, Don Sylvio, 307.

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wahrscheinliche ästhetisch in den Vordergrund zu stellen. Als eigentliche romantische Figur des Kunstmärchens lässt sich Marie benennen, die dank ihrer serapiontischen Kraft wunderbare Dinge in ihrem Gemüt lebendig machen kann. Droßelmeier fungiert als Helfer, indem er durch Erzählungen und Spielzeuge ihre Fantasie anregt und auf vielen Ebenen zur Poetisierung beiträgt. Indem das Märchenerzählen selbst zum Thema des Märchens wird, lässt sich die selbstreflexive Funktion erkennen, die durch die Diskussion der SerapionsBrüder wiederum eine Potenzierung findet. Die Betonung der ›Textlichkeit‹ von Texten bzw. ihrer ›Gemachtheit‹ lässt sich besonders gut über das ironische Erzählprinzip nachweisen.

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Musengeschäfte und Kuppelei. Zur literarischen Autorschaft in Dostoevskijs Bednye ljudi (Arme Leute)

0.

Typographie, Ökonomisierung und das schreibende Ich: Aleksandr Pusˇkins Gedicht Das Gespräch des Buchhändlers mit dem Dichter (Razgovor knigoprodaveca s poe˙tom, 1824 / 25)

Schreiben stellt im Vergleich zur mündlichen Kommunikation eine mit Niklas Luhmann gesprochen »unwahrscheinliche Kommunikation« dar. Sie ist »unwahrscheinlich« in Hinblick auf die Erreichbarkeit, das Verstehen und den Erfolg von Kommunikation. Luhmann spricht hier von Entmutigungsschwellen, mit denen sich der Schreibende konfrontiert sieht und die im Akt des Schreibens und durch die Struktur des geschriebenen Textes bewältigt werden müssen.1 Schrifttexte, die sich dieser Herausforderung stellen, zeichnen sich durch eine Steigerung ihres Abstraktionsgrades und ihrer Grammatikalität, durch erhöhte Unterscheidungslust und semantische Risikobereitschaft aus.2 Diese allgemeine Bestimmung gilt zunächst für jeden Schrifttext, aber vor allem und erst recht für ästhetische Texte, die in dem Maße, wie sie selbstbezüglich das Erzählen vom Erzählen, das Formen von Sprachformen zum Thema werden lassen, die Unwahrscheinlichkeit der schriftlich-typographischen Kommunikation, die sich historisch immer wieder in neuer Weise gegenüber der primären sowie elektronisch sekundären Mündlichkeit einstellt, ins Zentrum ihrer poetischen Kalkulationen rücken. Brisanz bekommt diese recht allgemeine und inzwischen schon fast zum common sense gewordene medientheoretische Perspektivierung des literarischen Schreibens, wenn man sie auf konkrete Sachlagen und vor allem auf 1 Luhmann (1993). 2 Zum Problem der Grammatikalität des Poetischen vgl. grundlegend Jakobson (1979); die medienhistorisch relevanten Funktionsunterschiede des Grammatischen in der mündlichen Volksdichtung, der Poesie und schließlich im schriftlichen Erzählen kommen bei Jakobson allerdings nicht in den Blick.

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prekäre, durch beschleunigte medientechnologische Entwicklungs- und Umbruchsphasen geprägte kulturelle Situationen bezieht. Eine solche dramatische Umbruchsphase stellen die 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts in der russischen Literatur und Kultur dar.3 Nun expandiert die Typographie, und die Ökonomisierung der Literatur, die erst mit den 1770er Jahren eingesetzt hatte, erreicht erstmals jene signifikante Schwelle, auf der die Autoren beginnen, die spezifischen Unwahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten der schriftlich-typographischen und ökonomisierten künstlerischen Kommunikation als Sujet des Erzählens poetisch zu reflektieren; die Autoren müssen nun erfahren, dass jene Gewissheiten nicht mehr gelten, die das Schreiben im russischen 18. Jahrhundert noch an die Situation und das Ideal des mündlichen Vortrags rückgebunden haben oder die sogar (in der Tradition der orthodoxen Ikonen) die literarische Tätigkeit noch im Rahmen eines orthodoxen, liturgischen Schriftverständnisses verorten konnten.4 Es ist Pusˇkins so prominentes, aber nichtsdestoweniger von der Forschung bislang kaum angemessen gewürdigtes Rollengedicht Das Gespräch des Buchhändlers mit dem Dichter, das diese eigentümliche »Unwahrscheinlichkeit« auf prägnante Weise deutlich macht, der sich literarische Autorschaft unter den Bedingungen der Typographie und der Ökonomisierung der Literatur in den 1830er Jahren ausgesetzt sieht.5 In diesem Rollengedicht konfrontiert Pusˇkin das auf dem Prinzip der Exklusivität und Auserwähltheit beruhende und daraus energetisch gespeiste Selbstverständnis des Dichters mit der Argumentation des an Umsatz interessierten Buchhändlers. Als versierter Literaturkenner und -theoretiker bringt der Buchhändler den Dichter zu der entmutigenden Einsicht, dass eben jener exklusive Kontakt zu den Musen, auf dem der Dichter zunächst noch insistiert, indem er den Solipsismus der Schrift für sich in Anspruch nimmt,6 jetzt unter den Bedingungen von Typographie und Ökonomie nicht 3 Zur Ökonomisierung der literarischen Kommunikation ab den 1930er Jahren vgl. Guski (2004), 12 ff.; Günther (2004); Grob (2001). 4 Zur beginnenden Typographisierung der russischen Literatur in den 1770er Jahren vgl. Murasˇov (2004); zum Fortwirken des orthodoxen, liturgischen Schriftverständnisses noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Murasˇov (1993), 38 ff., 68 – 74; zur Schreibkultur des 17. Jahrhundert vgl. Strätling (2005). 5 Das geringe Interesse der Forschung an Das Gespräch des Buchhändlers mit dem Dichter ist umso bemerkenswerter, als dieser Text als Prolog zu dem prominenten Verspoem Evgenij Onegin figuriert; die zahllosen Evgenij-Onegin-Lektüren und -Interpretationen ignorieren diesen Prolog, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. Zu Der Buchhändler und der Dichter vgl. Bethea (1999); Strel’cova (1995); Tomasˇevskij (1990). 6 Als Beispiel für diesen selbstbewussten Solipsismus: »;_TUQ, ^QUVWUQ]Y R_TQclZ, / @_nc RVb`Vh^lZ, p `YbQ\ / 9X SU_f^_SV^mp, ^V YX `\Qcl. / P SYUV\ S^_Sm `aYocl b[Q\ / 9 cV]^lZ [a_S dVUY^V^mp, / 4UV p ^Q `Ya S__RaQWV^mp, / 2lSQ\_, ]dXd `aYXlSQ\. / CQ] b\QjV T_\_b ]_Z XSdhQ\ ; / CQ] U_\V pa[YV SYUV^mp, / B ^VYXkpb^Y]_o [aQb_Z, / 3Y\Ybm, \VcQ\Y ^QU_ ]^_Z / 3 hQbl ^_h^_T_ SU_f^_SV^mp !.. / 3bV S_\^_SQ\_ ^VW^lZ d] : / GSVcdjYZ \dT, \d^l R\YbcQ^mV, / 3

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mehr gilt. Der deutenden Beobachtung durch das lesende Publikum ausgesetzt, hat die exklusive, poetische Geheimniskrämerei ein Ende. Und weit schlimmer noch: Im Wissen um die Deutungsmacht des Publikums vermag dichterische Auserwähltheit gar nicht mehr so recht hergestellt zu werden. Die Poetik der exklusiven Sinngabe, die der Dichter noch selbstgewiss proklamiert hatte, bricht in sich zusammen und mündet in die Erfahrung der Selbstentfremdung im Medium der Schrift und der Entfremdung gegenüber dem eigenen künstlerischen Werk: Warum nur Versetzt ein schwerer Traum das Herz des Dichters in Unruhe? Fruchtlos quält er sein Gedächtnis. Was ist’s? Was kümmert’s die Welt? Allem bin ich fremd! … Meine Seele, birgt sie denn Ein unvergessnes Antlitz? Kannte ich je die Glückseligkeit der Liebe? Verbarg ich je in der Stille meine Tränen, Erschöpft von langer Sehnsucht? Wo war denn sie, deren Augen Mir lachten, wie der Himmel? Das ganze Leben, nur eine Nacht, oder zwei? .................... Was ist’s? Wie ein zudringlicher Liebesseufzer Erscheinen mir meine Worte, Wie eines Geisteskranken wildes Lallen.7

Die strukturelle Eigentümlichkeit dieses Rollengedichts besteht darin, dass in dem Maße, wie auf der narrativen, argumentativen Ebene die Position des Dichters zerlegt wird, der Text durch seine elaborierte, in der Übersetzung freilich nicht reproduzierbare, akustisch-klangliche Performanz diese Position der poetischen Exklusivität gegenüber der analytischen Argumentation des Buchhändlers wieder ins Recht setzt. Der Text als poetisches Klangereignis transzendiert alle diskursive Ungereimtheit, in die der kundige Buchhändler den Dichter gebracht hat. Wenn das Dichterwort auch diskursiv scheitert, so vermag es sich dennoch durch Pusˇkins sprachliche Klangzauberei zu behaupten. Und es hQb_S^V SVcf_Z RdaY id], / BcQadi[Y hdU^_V `aVUQ^mV.« (Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij,

30 f.); zum Solipsismus der Schrift vgl. Ong (2000), 101. 7 »8QhV] `_ncd / CaVS_WYcm bVaUgQ cpW[YZ b_^ ? / 2Vb`\_U^_ `Q]pcm ]dhYc _^. / 9 hc_ W? [Q[_V UV\_ bSVcd? / P SbV] hdW_Z!.. UdiQ ]_p / FaQ^Yc \Y _RaQX ^VXQRSV^^lZ ? / ýoRSY R\QWV^bcS_ X^Q\ \Y p? / C_b[_o \m U_\T_Z YX^daV^^lZ, / CQY\ p b\VXl S cYiY^V? / 4UV cQ Rl\Q, [_c_a_Z _hY, / ;Q[ ^VR_, d\lRQ\Ybm ]^V ? / 3bp WYX^m, _U^Q \Y, USV \Y ^_hY ? / . . . . . . / 9 hc_ W? 5_[dh^lZ bc_^ \oRSY, / B\_SQ `_[QWdcbp ]_Y / 2VXd]gQ UY[Y] \V`VcQ^mV].« (Pusˇkin, Polnoe sobranie socˇinenij, 33 f.)

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ist wohl gerade diese sprachklangliche Gestaltungssicherheit, die es Pusˇkin auch erlaubt, die Unwahrscheinlichkeiten und Aporien der literarischen Kommunikation unter den medialen und kulturellen Bedingungen der beginnenden 30er Jahre mit beispielloser Konsequenz ungefährdet zu beobachten. Ganz anders verhält es sich mit Prosatexten. Die bedrängende Unwahrscheinlichkeit von literarischer Kommunikation und die Selbstentfremdung des Dichters im Medium der Schrift, wovon Pusˇkins Text noch mit ironischer Distanz erzählen kann, steigert sich zu einer aporetischen Konstellation und zu einer letztlich tragischen, existenziellen Erfahrung, in die sich die Autoren in dem Maße hineinschreiben, in dem sie das Erzählen und damit das literarische Schreiben selbst zum Thema des Erzählens machen. Die nachstehenden Ausführungen verfolgen die These, dass literarische Autorschaft in der russischen Kultur des 19. Jahrhunderts von einer solchen tragischen und gleichwohl existenziellen Entfremdungserfahrung in der Schrift geprägt ist – einer Entfremdungserfahrung, die Pusˇkins fiktiver Dichter gegenüber dem Buchhändler artikuliert und die sich dann in den realen Werkbiographien Nikolaj Gogol’s, Lev Tolstojs oder auch Michail Dostoevskijs beobachten lässt, die alle von einer sich steigernden Infragestellung jener ästhetischen Prinzipien geprägt sind, durch die das jeweilige künstlerische Œuvre zunächst motiviert und hervorgebracht worden ist. Auf dieser aporetischen, fast ließe sich sogar sagen schizoiden Konstellation beruht das Konzept literarischer Autorschaft in der russischen Kultur des 19. Jahrhunderts.8 Auf besonders markante und für das russische 19. Jahrhundert höchst aufschlussreichen Weise lässt sich dies in den frühen Texten Dostoevskijs beobachten, der wie kein anderer russischer Autor des 19. Jahrhunderts das literarische Schreiben selbst zum Gegenstand des Erzählens macht und jene signifikante Poetologie von Schrift evident werden lässt, die nicht nur im 19., sondern weit in das 20. Jahrhundert hinein und vielleicht sogar noch in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts das literarische Schreiben in der russischen Kultur reguliert. (Eben darin mag auch jene aggressive Ablehnung begründet liegen, mit der Vladimir Nabokov Dostoevskijs Texten begegnet, von denen aus betrachtet der arrogante Exklusivitätsanspruch, den Nabokov mit seiner vertrackten schrift- und medienreflexiven Prosa in der russischen Literatur erhebt, nicht mehr haltbar erscheint.) Im Folgenden möchte ich am Beispiel von Dostoevskijs erster Romanpublikation, des Briefromans Bednye ljudi (Arme Leute), zeigen, auf welche Weise 8 Dies betrifft auch pragmatische Formen von Autorschaft entsprechend ihrem jeweiligen Grad an Selbstbezüglichkeit. Gerade die immer wieder hervorgehobene platonistische Eigentümˇ aadaev und lichkeit der russischen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, von Petr C Vladimir Solov’ev über Vladimir I. Lenin, Aleksej F. Losev bis hin zu Merab Mamardasˇvili, liegt wohl letztlich in dieser schizoiden Haltung gegenüber der Schrift und ihren Abstraktions- und Differenzierungseffekten begründet.

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hier literarische Autorschaft modelliert wird und wie sich dabei die bei Pusˇkin bereits ausgemachte Unwahrscheinlichkeit von literarischer Kommunikation unter den Bedingungen der Typographie und Ökonomie zu einer metaphysischen Erfahrung der Selbstentäußerung und Auflösung des schreibenden Ichs im Medium der Schrift auswächst.

1.

Die Tücken der Signifikation

In Dostoevskijs Briefroman Bednye ljudi geht es vordergründig um den Briefwechsel zwischen dem ältlichen Schreibbeamten Makar Alekseevicˇ Devusˇkin und der vermeintlich mit ihm verwandten, jungen Varvara Alekseevna, die ihr kärgliches Auskommen mit Näharbeiten bestreitet. Der Briefwechsel wird von zwei Themen dominiert: Einerseits geht es um finanzielle Nöte und Belange, um wechselseitige Gaben und Geschenke von Geld, Büchern, aber auch Topfpflanzen, Pralinen und Unterwäsche, andererseits um Literatur, um Lektüren von Pusˇkin, Gogol’ und russischer Trivialautoren der 1830er Jahre, um Fragen des literarischen Schreibens, des Stils und des literarischen Marktes. Im Hintergrund dieser dominanten Themen und der Aufmerksamkeit ebenso wie dem Einwirken beider Korrespondenten entzogen, entwickelt sich die Handlung des Romans als eine Verlustgeschichte, die davon erzählt, dass es Makar nicht gelingt, Varvara dem Einflussbereich der Kupplerin Anna Fedorovna zu entziehen und zu verhindern, dass sich Varvara schließlich bereit erklärt, dem Heiratsangebot des reichen Gutbesitzers Bykov zu entsprechen. Auf welche Weise in den Briefen Schrift und literarisches Schreiben konzeptualisiert werden, lässt sich anhand des ersten Briefes veranschaulichen, den Devusˇkin an Varvara richtet und mit dem der Roman einsetzt. Der Brief beginnt mit einer im höchsten Maße topischen Imaginations- und Schreibszene: Meine teure Varvara Alekseevna! Gestern war ich glücklich, über die Maßen glücklich, unglaublich glücklich! Wenigstens einmal im Leben haben Sie auf mich gehört, Sie Eigensinnige! Am Abend so um acht Uhr wachte ich auf (Sie wissen, liebes Kind, dass ich nach dem Dienste gern ein oder zwei Stündchen schlafe), stellte die Kerze auf den Tisch, legte meine Papiere zurecht, machte die Feder rein, hob auf einmal zufällig die Augen in die Höhe – wahrhaftig, das Herz fing mir ordentlich an zu hüpfen! Also haben Sie doch verstanden, was ich wünschte, was mein Herz begehrte! Ich sah ein Eckchen des Vorhangs an Ihrem Fenster zurückgeschlagen und an den Balsaminentopf gehängt, genauso wie ich es Ihnen damals andeutete; und zugleich schien es mir, dass auch Ihr Gesichtchen einen Augenblick am Fenster sichtbar würde, dass auch Sie aus Ihrem Zimmer nach mir hinblickten, dass Sie an mich dächten. Und wie bekümmert war ich darüber, mein Täubchen, dass ich Ihr hübsches Gesichtchen nicht ordentlich unterscheiden konnte!

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Es hat eine Zeit gegeben, wo auch ich gut sehen konnte, liebes Kind! Das Alter ist keine Freude, meine Teure! Jetzt flimmert es mir immer vor den Augen; wenn ich am Abend ein bisschen gearbeitet und etwas geschrieben habe, so sind mir am andern Morgen gleich die Augen gerötet, und die Tränen fließen mir, so dass ich mich vor Fremden geradezu geniere. Aber vor meinem geistigen Blicke leuchtete Ihr Lächeln auf, mein Engelchen, Ihr gutes, freundliches Lächeln, und in meinem Herzen hatte ich ein ganz ebensolches Gefühl wie damals, als ich Sie küsste, liebe Varvara, – erinnern Sie sich wohl, mein Engelchen? Wissen Sie, mein Täubchen, es schien mir gestern sogar, als drohten Sie mir mit dem Finger. Stimmt das, Sie Schelmin? Schreiben Sie mir das alles jedenfalls recht ausführlich in Ihrer Antwort! (11)9

Performativ führt Makars Brief den Bedingungszusammenhang von äußerer Technik des Schreibens einerseits und der erotischen Imagination andererseits vor. So ist es gerade nicht der innerliche Gedanke an Varvara, der Makar zur Feder greifen lässt, sondern es sind die technischen Äußerlichkeiten, das Bereitlegen und das Präparieren der Schreibutensilien, was plötzlich Makar das Bild der Varvara vor Augen stellt. Subtil, aber dennoch unmissverständlich wird deutlich, dass es sich bei dem Antlitz der Varvara, das Makar, aus seinem Zimmers blickend, im gegenüberliegenden Fenster entdeckt, um ein Produkt seiner Einbildung handelt. Das Motiv des Schlafs, die durch entsprechende Verben dokumentierte Vagheit der Wahrnehmung, die metonymische Konstitution des begehrten Objekts und letztlich Makars eigene Rede über die altersbedingte Sehschwäche und deren Kompensation durch eine gesteigerte »Einbildungskraft« (»voobrazˇenie«) – alle diese Elemente zeigen an, dass in der Art und Weise, wie Dostoevskij hier seine Figur ein beglückendes, vermeintlich reales Seherlebnis schildern lässt, die Struktur einer erotischen Schriftimagi9 Hier und im Weiteren mit Angabe der Seite zitiert nach Dostoevskij, Arme Leute. – »2VbgV^^Qp ]_p 3QaSQaQ 1\V[bVVS^Q ! 3hVaQ p Rl\ bhQbc\YS, haVX]Va^_ bhQbc\YS, U_^V\mXp bhQbc\YS ! 3l f_cm aQX S WYX^Y, d`ap]YgQ, ]V^p `_b\diQ\Ybm. 3VhVa_], hQb_S S S_bV]m, `a_bl`Qobm (Sl X^QVcV, ]Qc_h[Q, hc_ p hQb_hV[-UadT_Z \oR\o `_b`Qcm `_b\V U_\W^_bcY), bSVh[d U_bcQ\, `aYT_c_S\po Rd]QTY, hY^o `Va_, SUadT, ^VSX^QhQZ, `_Ul]Qo T\QXQ, – `aQS_, d ]V^p bVaUgV S_c cQ[ Y XQ`alTQ\_ ! CQ[ Sl-cQ[Y `_^p\Y, hVT_ ]^V f_cV\_bm, hVT_ bVaUhYi[d ]_V]d f_cV\_bm ! 3YWd, dT_\_hV[ XQ^QSVb[Y d _[^Q SQiVT_ XQT^dc Y `aYgV`\V^ [ T_ai[d b RQ\mXQ]Y^_], c_h^Vf_^m[_ cQ[, [Q[ p SQ] c_TUQ ^Q]V[Q\ ; cdc WV `_[QXQ\_bm ]^V, hc_ Y \YhY[_ SQiV ]V\m[^d\_ d _[^Q, hc_ Y Sl [_ ]^V YX [_]^Qc[Y SQiVZ b]_caV\Y, hc_ Y Sl _R_ ]^V Ud]Q\Y. 9 [Q[ WV ]^V U_bQU^_ Rl\_, T_\dRhY[ ]_Z, hc_ ]Y\_SYU^_T_ \YhY[Q-c_ SQiVT_ p ^V ]_T aQXT\pUVcm f_a_iV^m[_ ! 2l\_ SaV]p, [_TUQ Y ]l bSVc\_ SYUV\Y, ]Qc_h[Q. þV aQU_bcm bcQa_bcm, a_U^Qp ]_p! 3_c Y cV`Vam Sbr [Q[-c_ apRYc S T\QXQf ; hdcm `_aQR_cQVim SVhVa_], `_`YiVim hc_-^YRdUm, ^Qdca_ Y T\QXQ aQb[aQb^Vocbp, Y b\VXl cV[dc cQ[, hc_ UQWV b_SVbc^_ `VaVU hdWY]Y RlSQVc. ?U^Q[_ WV S S__RaQWV^YY ]_V] cQ[ Y XQbSVc\V\Q SQiQ d\lR_h[Q, Q^TV\mhY[, SQiQ U_RaV^m[Qp, `aYSVc\YSQp d\lR_h[Q ; Y ^Q bVaUgV ]_V] Rl\_ c_h^_ cQ[_V _jdjV^YV, [Q[ c_TUQ, [Q[ p `_gV\_SQ\ SQb, 3QaV^m[Q, – `_]^YcV \Y, Q^TV\mhY[ ? 8^QVcV \Y, T_\dRhY[ ]_Z, ]^V UQWV `_[QXQ\_bm, hc_ Sl cQ] ]^V `Q\mhY[_] `_Ta_XY\Y ? CQ[ \Y, iQ\d^mp ? þV`aV]V^^_ Sl nc_ Sbr _`YiYcV `_Ua_R^VV S SQiV] `Ybm]V.« (Dostoevskij, Bednye ljudi, 13 f. Alle weiteren russischen Zitate mit Angabe der Seite nach dieser Ausgabe.)

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nation freigelegt wird. Dass es sich hier um Einbildungen des Schreibenden handelt und vor allem, dass Makars Erfolgsannahme seiner kommunikativen Bemühungen eine Wunschprojektion darstellt, macht schließlich Varvaras Antwortbrief unmissverständlich klar : Das traditionelle voyeuristische Motiv des zurückgeschlagenen Vorhangs, das Makars erotische Phantasie gerade dadurch stimuliert, selbst Objekt des Begehrens der von ihm Begehrten zu sein, wird von Varvara lapidar kommentiert: »An den Vorhang habe ich überhaupt nicht gedacht; er ist gewiss von selbst hängengeblieben, als ich die Blumentöpfe umstellte; da haben Sie’s!« (17)10 Wenn hier auf der einen Seite die Textur des Briefes auf jenes erotische Phantasma hin transparent erscheint, das als Effekt von Schrift den Autor beherrscht und ihn zum Erzählen stimuliert, so wird dann auf der anderen Seite – als Gegenbewegung – die Figur wieder um diese im Medium der Schrift erfahrene, erotische (körperlich-geschlechtliche) Versicherung des Ichs gebracht.11 Dostoevskij enteignet Makar gleichsam dessen eigene Rede, indem er im weiteren Fortgang des Briefes Makar bekennen lässt, dass die Worte, mit denen über sie und über die sie betreffenden Gefühle gesprochen wird, fremder Rede entstammen; Makars eigener Text erweist sich als Abschrift einer literarischen Vorlage: Ich habe mich heute sogar recht angenehmen Träumereien überlassen, und diese meine Träumereien bezogen sich alle auf Sie, liebe Varvara. Ich verglich Sie mit einem Vögelchen unter dem Himmel, das zur Freude der Menschen und zur Verschönerung der Natur geschaffen ist. Und dann dachte ich noch, liebe Warwara, dass wir Menschen, die wir in Sorge und Unruhe leben, eigentlich die Vögel unter dem Himmel um ihr sorgloses, unschuldiges, glückliches Dasein beneiden müssten, – na, und dann dachte ich noch manches von derselben Art, dem Ähnliches; das heißt, ich stellte lauter solche kühnen Vergleiche an. Ich habe da ein Büchlein, liebe Varvara, in dem ist ganz dasselbe, genau dasselbe sehr ausführlich geschildert. Ich schreibe dies deswegen, weil es ja verschiedene Arten von träumerischen Gedanken gibt, liebes Kind. Jetzt ist nun Frühling; da sind auch die Gedanken alle so angenehm und klar und erfinderisch, und es kommen einem zärtliche Phantasien, und man sieht alles in rosigem Lichte. Deswegen habe ich dies alles niedergeschrieben; übrigens habe ich das alles aus einem Buch genommen. (12 f., Herv. Ju. M.)12 10 »@a_ XQ^QSVb[d Y ^V Ud]Q\Q ; _^Q, SVa^_, bQ]Q XQgV`Y\Qbm, [_TUQ p T_ai[Y `VaVbcQS\p\Q ; S_c SQ]!« (18) 11 Eine solche Disqualifizierung der Figur und ihrer seelischen Disposition erfolgt auch durch den quasi mündlichen Stil (»skaz«), in dem Dostoevskij Makar schreiben lässt und der gerade durch die Häufung der Diminutive in einem degressiv-komischen Missverhältnis zur Gefühlslage des Schreibenden steht. Das wiederum wird von Dostoevskij reflektiert, indem er Varvara in ihren Antwortbriefen wiederholt Makar auf solche sprachlichen »Unstetigkeiten« hinweisen lässt. 12 »P UQWV Y `_]VhcQ\ bVT_U^p U_S_\m^_ `aYpc^_, Y Sbr _R SQb Rl\Y ]VhcQ^Yp ]_Y, 3QaV^m[Q. BaQS^Y\ p SQb b `cYh[_Z ^VRVb^_Z, ^Q dcVfd \oUp] Y U\p d[aQiV^Yp `aYa_Ul b_XUQ^^_Z. Cdc

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Diese zitierte, fremde Rede als Ausdruck eigener Befindlichkeit zielt weniger darauf, Makars auf Varvara bezogenen Gefühlen eine Sprachgestalt zu geben; die fremde Rede fungiert nicht als Beobachtungs- und Erkenntnismedium der eigenen emotionalen Disposition, sondern läuft darauf hinaus, seltsam masochistisch die Figur ihre sprachliche Enteignung bekennen zu lassen.13 Dem ichbewussten Briefanfang mit seinen erotischen Imaginationen, die durch die Technik des Schreibens zunächst evoziert worden sind, steht nun eine in ihrer personalen Konsistenz durch fremde Texte zerrüttete Figur gegenüber, die in dem Maße, wie sie sich bemüht hatte, Worte für ihr erotisches Schreibglück zu finden, von der Verlusterfahrung der Vergegenständlichung von Sprache in der Schrift eingeholt wird. Hier wie in zahllosen anderen Passagen, in denen auf unterschiedlichste Weise, meist verbunden mit der Figur des Makar, Schriftmotive entwickelt werden, mündet das zunächst erotisch beglückende Schreiben konsequent und gnadenlos in Erfahrungen von Ich-Verlust und Leere. Dies verleiht der Figur zum einen eine komische und groteske Dimension, zum anderen aber auch eine tragische, über die Figur hinweg auf die Autorinstanz verweisende Dimension.14

2.

»Arme Leute« und schamhafte Dichter

In Makars Überlegungen zu den »armen Leuten« werden das Motiv des literarischen Schreibens bzw. der Schrift und das des Geldes zusammengeführt. In diesen Überlegungen gipfelt auch die Diskussion um Gogol’s Erzählung Sˇinel’ (Der Mantel), die Varvara ihrem Briefpartner als Lektüre zuschickt und die dessen entschiedenen Unwillen erregt; durch dieses Buchgeschenk fühlt sich Makar von Varvara enttäuscht und verraten: Ich beeile mich, Ihnen Ihr Büchelchen, das ich am sechsten dieses Monats erhalten habe, wieder zuzustellen, und beeile mich gleichzeitig, mich in diesem Briefe mit Ihnen WV `_Ud]Q\ p, 3QaV^m[Q, hc_ Y ]l, \oUY, WYSdjYV S XQR_cV Y caVS_\^V^YY, U_\W^l c_WV XQSYU_SQcm RVXXQR_c^_]d Y ^VSY^^_]d bhQbcYo ^VRVb^lf `cYg, – ^d, Y _bcQ\m^_V Sbr cQ[_V WV, bV]d WV `_U_R^_V ; c_ Vbcm p Sbr cQ[YV baQS^V^Yp _cUQ\V^^lV UV\Qo. D ]V^p cQ] [^YW[Q Vbcm _U^Q, 3QaV^m[Q, cQ[ S ^VZ c_ WV bQ]_V, Sbr cQ[_V WV SVbm]Q `_Ua_R^_ _`YbQ^_. P [ c_]d `Yid , hc_ SVUm aQX^lV RlSQoc ]VhcQ^Yp, ]Qc_h[Q. 1 S_c cV`Vam SVb^Q , cQ[ Y ]lb\Y Sbr cQ[YV `aYpc^lV, _bcalV, XQcVZ\YSlV, Y ]VhcQ^Yp `aYf_Upc ^VW^lV ; Sbr S a_X_S_] gSVcV. P [ c_]d Y ^Q`YbQ\ nc_ Sbr ; Q S`a_hV], p nc_ Sbr SXp\ YX [^YW[Y.« (14)

13 Zu masochistischen Schreibweisen in der russischen Literatur bzw. im sozialistischen Realismus grundlegend Smirnov (1994), 269 ff. 14 Im Hinblick auf die poetische Produktivität hat Bachtin diese Depersonalisierung personaler Textinstanzen bekanntlich als Polyphonie konzeptualisiert. Signifikanterweise wird dabei die polyphone Textstruktur nicht auf eine Erzählerinstanz hin reflektiert, sondern stets direkt auf den Autor Dostoevskij selbst bezogen, vgl. Bachtin (1985), bes. 53 ff.

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auseinanderzusetzen. Es ist nicht hübsch von Ihnen, liebes Kind, gar nicht hübsch von Ihnen, daß Sie mich zum Äußersten gedrängt haben. […] Nein, das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, liebes Kind, nein, liebe Warwara! Gerade von Ihnen hätte ich das nicht erwartet! (93 f.)15

Was Makars Unwillen an Gogol’s Erzählung vom armen Beamten erregt, ist die indiskrete, dreiste Enthüllung der intimen, privaten Lebenslage des Beamten Akakij Akakievicˇ. Diesen Befund verallgemeinert Makar schließlich zu einem Wesensmerkmal von Armut überhaupt; arme Leute sind solche, die hüllenlos und ungeschützt fremden Blicken und Worten ausgeliefert sind: Er, der Arme, hat an allem etwas auszusetzen; er sieht auch Gottes Werk anders an, wie es andere Menschen tun, und jedem Vorübergehenden wirft er einen schiefen Blick zu und schaut ängstlich und mißtrauisch um sich und horcht auf jedes Wort, ob da nicht etwa über ihn gesprochen wird, zum Beispiel daß er so schlecht gekleidet sei. Und jedermann weiß, liebe Warwara, daß ein armer Mensch wertloser ist als ein alter Lappen und von niemand geachtet wird, mögen die Leute darüber auch schreiben, was sie wollen. Was die Büchermacher auch schreiben mögen, es bleibt mit dem armen Menschen doch immer, wie es war. Und warum bleibt alles beim Alten? Weil nach der Ansicht der Leute bei einem armen Menschen alles anders sein muß als bei einem Wohlhabenden; er soll keine edlen Gefühle haben, kein Ehrgefühl besitzen, ja nicht, ja nicht! (105 f.)16

Makar geht es nicht um die Knappheit materieller Güter oder Werte, sondern der Akzent seiner ›Theorie‹ der Armut liegt auf einer kommunikativen Asymmetrie, auf Darstellungs- und Kommunikationsformen, in denen sich Deutungskompetenzen ungleich verteilen. Aber eben auf dieser Asymmetrie basiert auch wesentlich literarische Kommunikation, durch die sich der Autor mit seinen von ihm geschaffenen Figuren dem vielfältigen Deutungsvermögen des Publikums aussetzt. Bei der im Vergleich zur mündlichen Rede »unwahrscheinlichen« literarischen Kommunikation erweist sich der Autor mit seiner genealogischbiographischen Bindung an seinen Text gegenüber dem sich vervielfältigenden 15 »;^YW[d SQid, `_\dhV^^do ]^_o 6-T_ bVT_ ]VbpgQ b`Vid S_XSaQcYcm SQ] Y S]VbcV b cV] b`Vid S bV] `Ybm]V ]_V] _Rkpb^Ycmbp b SQ]Y. 5da^_ , ]Qc_h[Q, Uda^_ c_, hc_ Sl ]V^p S cQ[do [aQZ^_bcm `_bcQSY\Y. (…) þVc, p nc_T_ ^V _WYUQ\ _c SQb, ]Qc_h[Q; ^Vc, 3QaV^m[Q ! 3_c _c SQb-c_ Y]V^^_ cQ[_T_ Y ^V _WYUQ\.« (61 f.) 16 »?^, RVU^lZ-c_ hV\_SV[, _^ SXlb[QcV\V^ ; _^ Y ^Q bSVc-c_ R_WYZ Y^QhV b]_caYc, Y ^Q [QWU_T_ `a_f_WVT_ [_b_ T\pUYc, UQ S_[adT bVRp b]djV^^l] SX_a_] `_S_UYc, UQ `aYb\diYSQVcbp [ [QWU_]d b\_Sd, – UVb[Qcm, ^V `a_ ^VT_ \Y cQ] hc_ T_S_apc ? Hc_ S_c, UVb[Qcm, hc_ WV _^ cQ[_Z ^V[QXYbclZ ? hc_ Rl _^ cQ[_V Y]V^^_ hdSbcS_SQ\ ? hc_ S_c, ^Q`aY]Va, [Q[_S _^ RdUVc b nc_T_ R_[d, [Q[_S RdUVc b c_T_ R_[d ? 9 SVU_]_ [QWU_]d, 3QaV^m[Q, hc_ RVU^lZ hV\_SV[ fdWV SVc_i[Y Y ^Y[Q[_T_ ^Y _c [_T_ dSQWV^Yp `_\dhYcm ^V ]_WVc, hc_ dW cQ] ^Y `YiY ! _^Y-c_, `Qh[d^l-c_ ncY, hc_ dW cQ] ^Y `YiY ! – Sbr RdUVc S RVU^_] hV\_SV[V cQ[, [Q[ Y Rl\_. 1 _chVT_ WV cQ[ Y RdUVc `_-`aVW^V]d ? 1 _cc_T_, hc_ dW d RVU^_T_ hV\_SV[Q, `_-Yf^V]d, Sbr ^QYX^Q^[d U_\W^_ Rlcm; hc_ dW d ^VT_ ^YhVT_ ^V U_\W^_ Rlcm XQSVc^_T_, cQ] Q]RYgYY [Q[_Z-^YRdUm ^Y-^Y-^Y!« (68)

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Deutungsvermögen der Leserschaft auf notorische Weise als »arm« und unvermögend. So erfährt sich letztlich auch Makar, der in seinen Briefen seine tatsächliche Misere vor seiner scharfsinnigen Korrespondentin vergeblich schönzureden versucht, als einer jener »armen Leute«, deren Inneres sich in der literarischen Schrift vom Autor selbst unkontrollierbar »nach außen« (»naiznanku«) kehrt. Diese hintersinnige, ins Ökonomische gewendete Reflexion eines Strukturmerkmals ästhetisch-schriftlicher Kommunikation, die hier Makar und mit ihm zusammen durch die Titelgebung des Briefromans auch der Autor Dostoevskij selbst als eine letztlich moralische Theorie der »armen Leute« ausformulieren, stimuliert einen weiteren, dazu komplementären, für das Konzept literarischer Autorschaft in der russischen Kultur des 19. Jahrhundert wesentlichen Schreibgestus – den Gestus der Scham. Auf allen Ebenen des Textes, auf der Ebene der Personenrede, der Komposition und der Motive, zielt dieser Schreibgestus darauf, all jene erotisch-sexuellen Spannungen zu neutralisieren, die der Text ständig durch die beiden dominierenden Sujets von Schrift und Geld produziert. Dies beginnt bei der seltsam unklaren sozialen Beziehung zwischen den Korrespondenten Makar und Varvara. Das offensichtliche erotisch-sexuelle Begehren, das in Makars Briefen ebenso zum Ausdruck kommt wie in seinen Liebesgeschenken, Blumen, Pralinen und Unterwäsche, wird ständig durch die Makar eigene Rhetorik der pädagogischen und altruistischen Fürsorglichkeit gedämpft. Zudem begründet Makar seine Fürsorglichkeit durch eine von ihm behauptete entfernte Verwandtschaft mit Varvara, die allerdings von anderen Figuren bestritten wird. Auch wird auf diese Verwandtschaft durch die Namensgebung angespielt, indem Dostoevskij beide Protagonisten mit dem gleichen Vatersnamen, Alekseevicˇ bzw. Alekseevna, ausstattet. Letztlich lassen sich auch die Selbstentsagungsstrategien, in die Makars Umgang mit den heißen, erotisierenden Medien Schrift und Geld münden, auf diesen Gestus der Scham beziehen, wobei Makar selbst in seinen Briefen immer wieder den Begriff der Scham (»styd«) bemüht. So auch in seinem zornigen Ausbruch gegen Gogol’s Der Mantel und die dort vollzogene Verletzung der Scham: Ja, wenn Sie mir einen herben Ausdruck verzeihen wollen, liebe Warwara, so möchte ich Ihnen sagen, daß ein armer Mensch in dieser Hinsicht dieselbe Schamhaftigkeit besitzt wie Sie zum Beispiel Ihre mädchenhafte Schamhaftigkeit. Sie werden sich ja doch nicht vor aller Augen (verzeihen Sie mir den derben Ausdruck!) entkleiden wollen; sehen Sie, ganz ebenso kann es auch ein armer Mensch nicht leiden, daß ihm einer in sein Hundeställchen hineinsieht und seine Privatverhältnisse ausschnüffelt; ja, so ist das. (107)17 17 »5Q dW Vb\Y Sl ]^V `a_bcYcV, 3QaV^m[Q, TadR_V b\_S_, cQ[ p SQ] b[QWd, hc_ d RVU^_T_ hV\_SV[Q

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Wenn Makar seine Entrüstung über Gogol’s Schamlosigkeit, die Figur des Akakij den indiskreten Blicken des lesenden Publikums preisgegeben zu haben, mit einem Bild des Verlusts von Varvaras Jungfräulichkeit bekräftigt, dann spricht er letztlich nur das aus, auf was ihn sein eigener Name – Devusˇkin, von russ. devica = Jungfrau – von Beginn des Romans an verpflichtet hat, was aber in dem Moment zum Problem wird, in dem Makar jetzt über die Lektüre von Gogol’s Mantel die Aufmerksamkeit auf sich selbst als Objekt der Beobachtung und sprachlicher Darstellung gelenkt sieht. Schamhaftes Verhüllen und Verschweigen kennzeichnen auch die Briefe Varvaras, vor allem die Erzählung von ihrer Liebe mit dem Hauslehrer Pokrovskij; sie erzählt zwar emphatisch von den wechselseitigen Liebesgeständnissen, vermag sich an die Worte allerdings nicht mehr zu erinnern.18 Gleichzeitig thematisiert Varvara selbst die Mechanismen von Ent- und Verhüllung in ihrer Beziehung zu Pokrovskij, indem sie von der »zu großen Aufrichtigkeit« ihrer Worte spricht, wobei dann die im Russischen gebrauchte Wendung »slisˇkom otkrovenna« etymologisch mit dem Lexem krov und der figürlichen Bedeutung als Hülle, Schutz und Schirm im sprechenden Namen ihres Geliebten Pokrovskij korrespondiert.19

^Q nc_c bhVc c_c WV bQ]lZ bclU, [Q[ Y d SQb, `aY]Va_] b[QXQcm, UVSYhVb[YZ. 3VUm Sl `VaVU SbV]Y – TadR_V-c_ b\_Sg_ ]_V `a_bcYcV – aQX_R\QhQcmbp ^V bcQ^VcV ; S_c cQ[ c_h^_ Y RVU^lZ hV\_SV[ ^V \oRYc, hc_Rl S VT_ [_^dad XQT\pUlSQ\Y, hc_, UVb[Qcm, [Q[_Sl-c_ cQ] VT_ _c^_iV^Yp RdUdc bV]VZ^lV, – S_c.« Auch diese Passage weist eine double-bind-Struktur auf: Makar

plädiert für Scham mit einem eigentlich obszönen Bild, wobei dann die Obszönität seiner Rede ihrerseits wiederum durch eine beschwichtigende Rhetorik (»ich bitte Sie doch, dieses grobe Wörtchen zu entschuldigen«) zurückgenommen erscheint. (69) 18 »Er erinnere jetzt kein einziges Wort mehr von dem, was wir damals gesprochen haben.« (»P ^V `_]^o cV`Vam ^Y _U^_T_ b\_SQ YX c_T_, hc_ ]l b[QXQ\Y c_TUQ UadT UadTd […].«) (52 bzw. 38) 19 Dieser Schreibgestus der Scham, den Dostoevskij – freilich auf unterschiedliche Weise – beide Korrespondenten, Makar wie Varvara, praktizieren lässt, wird von Vladimir Solov’ev im Rahmen seiner (Rechts-)Ethik philosophisch ausformuliert. Für Solov’ev ist es nicht die Urszene einer (individualisierbaren) Schuld (Inzest und Vatermord des Ödipus bzw. der alttestamentarische Sündenfall), die den ultimativen Bezugspunkt für das Ethos der menschlichen Gemeinschaft darstellt, sondern die Scham: »Das Schamgefühl (in seinem ursprünglichen Sinne) ist schon faktisch das unbedingte Unterscheidungsmerkmal des Menschen von der niederen Natur, da keine anderen beseelten Lebewesen dieses Gefühl in irgendeinem Grade haben, während es beim Menschen seit undenklichen Zeiten auftritt und dann einer weiteren Entwicklung unterliegt. […] Das Schamgefühl ist nicht nur ein Unterscheidungsmerkmal, das den Menschen (rein äußerlich gesehen) aus der übrigen beseelten Welt heraushebt: hier hebt sich der Mensch selbst wirklich aus aller materiellen Natur, nicht nur der äußeren, sondern auch seiner eigenen, heraus. Indem er sich seiner Naturtriebe und der Funktionen seines eigenen Organismus schämt, zeigt der Mensch dadurch, das er nicht nur dieses natürliche materielle Wesen, sondern noch etwas anderes und Höheres ist.« (Solowjew [1976], 76.)

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3.

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So wie die Figur des Makar als Schreibbeamter und bemühter Literat agiert, so gewinnt seine Briefpartnerin, die sich fürsorglich um seine literarische, geschmackliche Bildung und seinen Briefstil kümmert, das Profil einer Muse. Die Komposition und die nachdrückliche Bezugnahme auf schreibtechnische Voraussetzungen und Imaginationsprozeduren legen es nahe, die oben zitierte Briefpassage, mit der der Briefroman in Gang gebracht wird, als eine Szene der Musenanrufung zu interpretieren. Mit einer Paraphrase eines Buchtitels von Eric Havelock ließe sich sagen, dass Varvara als Muse nicht des klingenden Wortes und der Stimme figuriert, was noch für Pusˇkin gilt, sondern als eine, die »schreiben gelernt hat«.20 Gerade dieser Aspekt der Schrift- und Literaturkundigkeit wird bei Varvara auch herausgestellt, wenn Dostoevskij sie von ihrer Ausbildung durch den Hauslehrer Pokrovskij erzählen lässt. Diese metapoetische Anlage der Figur lässt sich an folgenden zwei Momenten noch weiter verdeutlichen: Erstens erscheint Varvara Alekseevna gegenüber ihrem literarisch ambitionierten Briefpartner Makar, der offensichtlich einen schlechten Geschmack besitzt und in dubiosen Literatenkreisen verkehrt, als eine Instanz, die die literarischen Traditionen vertritt, wahrt und diese ihrem halbgebildeten Korrespondenten nahezubringen versucht. Darüber hinaus ist sie es auch, die die Authentizität der Briefaussagen ihres schriftstellerisch so bemühten Korrespondenten einschätzt und dessen Stil bewertet und interpretiert. Das zweite Moment betrifft die motivische Ausstattung der Figur. Denn die inspirierende und korrigierende Briefpartnerin Makars ist nicht nur eine vorzügliche Literaturkennerin, sondern tritt gleichzeitig als Fachfrau für Textiles auf, die mit Näharbeiten ihren Lebensunterhalt eigenständig zu verdienen im Stande ist. Sie kritisiert in einem sowohl Makars unsteten Schreibstil als auch seine verlotterte Kleidung und ermuntert ihn, sich endlich einen neuen Gehrock (»vicmundir«) schneidern zu lassen. Dass Dostoevskij hier offensichtlich die traditionsreiche metapoetische Reflexionsfigur von Text und Textur bemüht, findet seine Bekräftigung gerade auch mit Blick auf Gogol’s Erzählung Der Mantel, als deren unmittelbare Antwort der Text von Bednye ljudi konzipiert worden ist und in der eine ebenfalls von Gogol’ metapoetisch angelegte diabolische Schneiderfigur am Werk ist.21 Der konzeptuelle Clou von Dostoevskijs Briefroman und somit auch der darin 20 Havelock (1986). 21 Selbst die Namensgebung der Figur durch Dostoevskij als »Varvara« (»Barbara«) verweist auf Gogol’s Schneider Petrovicˇ, der den Nähfaden, mit dem er arbeitet und der sich nicht seinem Willen fügen will, als »varvarka« (»kleine Barbarin«) verflucht.

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modellierten Vorstellung von literarischer Autorschaft besteht nun in den Abhängigkeits- und Verpflichtungskonstellationen, in und aus denen heraus die Muse Varvara agiert und ihren angehenden Schriftsteller Makar inspiriert, motiviert und erzieht. Diese Machtkonstellationen werden nämlich dominiert durch Anna Fedorovna, die als Kupplerin die eigentliche Handlung des Romans sowie dessen Personenkonstellation bestimmt. Sie ist es, die durch wohl kalkulierte Machenschaften üppige Gewinne erzielt, die es ihr erlauben, eine luxuriöse sechs Zimmer umfassende Wohnung in Petersburg zu unterhalten. Alle Figuren, die mit Varvara in Beziehung stehen, sind auf irgendeine Weise Anna Fedorovna verpflichtet und ihrer Macht ausgeliefert. Da ist zunächst Varvaras Vater, der sich nach dem Tod des Gutsherren, bei dem er als Verwalter gedient hatte, in Petersburg ansiedelt, sich hier aber finanziell ruiniert. Er steht zu Anna Fedorovna in einem rätselhaften Schuldverhältnis. Nach dem Tod des Vaters zwingen die angehäuften Schulden Varvaras Mutter, das Petersburger Haus zu verkaufen. Anna Fedorovna nimmt sich der verarmten Familie an, überlässt Varvara und der Mutter in ihrer stattlichen Wohnung zwei Zimmer und ermöglicht es sogar, dass Varvara Unterricht durch den ebenfalls in Fedorovnas Wohnung lebenden Hauslehrer Pokrovskij bekommt. Aber auch der junge und arme Hauslehrer Pokrovskij, den Anna Fedorovna bei sich aufgenommen hat und dem sie Gelegenheit gibt, durch Unterricht ein bescheidenes Auskommen zu verdienen, erweist sich als ein Objekt in Anna Fedorovnas kalkulierten Ränken. Seine Mutter hatte Anna Fedorovna seiner Zeit an den reichen Gutsbesitzer Bykov verkuppelt. Aus dieser Beziehung ist Pokrovskij hervorgegangen, wurde dann aber durch eine ebenfalls von Anna Fedorovna arrangierte Verheiratung von Pokrovskijs Mutter mit dem niederen Schreibbeamten Pokrovskij legalisiert. Auch nachdem Varvara nach dem Tod ihrer Mutter Anna Fedorovnas Wohnung verlässt, gelingt es ihr nicht, sich dem Einfluss- und Machtbereich der Kupplerin zu entziehen. Anna Fedorovna macht Varvara abermals ausfindig und schickt ihr Freier ins Haus, bis schließlich auch der reiche Gutsbesitzer Bykov wieder auftaucht und Varvara, Makars Muse, dann nach reiflicher Überlegung sich den Plänen der Kupplerin fügt, um dem Heiratsangebot des reichen Gutsbesitzers Bykov zu entsprechen. Wenngleich Varvara, zusammen mit anderen Figuren, die Kupplerin Anna Fedorovna wiederholt als »böse Frau« qualifiziert, erweist sie sich dennoch durch ihre – wie sie selbst an Makar schreibt – »lang bedachte« Tat (»p U_\T_ Ud]Q\Q«, 137), das Heiratsangebot des Bykov anzunehmen, in letzter Konsequenz als eine Komplizin der Kupplerin. Auf der Ebene der Handlung erscheint somit die Muse des literarisch ambitionierten Makar nicht als Opfer der Machenschaften der Kupplerin, sondern als eine Akteurin, die sich schließlich kalkuliert dem von der Kupplerin zugeführten Meistbietenden prostituiert. Während sich der literarisch ambitionierte Makar gegenüber seiner Brief-

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partnerin versucht, von allen libidinösen Effekten von Schrift (und Geld) freizuschreiben, bestätigt Dostoevskijs Briefroman durch seine den Protagonisten selbst nicht einsehbare narrative Tiefenstruktur das unauflösliche Bedingungsverhältnis von Literatur, Geld und Eros. Die tragische Struktur der literarischen Autorschaft zeigt sich dabei nicht nur in der Figur Makars, dem es nicht gelingt, sich unter den Bedingungen von Typographie und Ökonomie schamhaft der Verführungskraft der Schriftzeichen (und auch des Geldes22) zu entziehen, sondern vor allem in der double-bind-Struktur des Textes selbst: Einerseits konstituiert sich der Text in seiner narrativen, syntagmatischen Tiefenstruktur durch die semiotischen Differenz- und Abstraktionsmechanismen von Schrift- und Geldzeichen, d. h. die Kupplerin Anna Fedorovna bringt durch ihr Agieren (zusammen mit dem Autor Dostoevskij) erst jene Geschichte hervor, in der die Figuren, von denen der Briefroman handelt, zusammengeführt und aufeinander bezogen werden. Andererseits aber haben die Figuren selbst, Makar und Varvara, an der Geschichte, an der sie partizipieren und in die sie involviert werden, keinerlei intellektuelles Interesse; jegliches kriminalistische Bedürfnis, die Machenschaften der Anna Fedorovna, deren Objekte sie selbst sind, aufzuklären, wird absorbiert durch das Bestreben des bemühten Schriftstellers Makar und auch seiner Muse Varvara, dem jeweils anderen gegenüber in bedingungsloser und selbstentsagender Authentizität zu begegnen – durch ein Bestreben allerdings, das unter den Bedingungen der »unwahrscheinlichen« Kommunikation durch Schrift (und Typographie) notorisch zum Scheitern verurteilt ist. Mit anderen Worten und etwas abstrakter : Bei Dostoevskijs Briefroman Arme Leute handelt es sich um einen Text mit einer eigentümlich gebrochenen, dissipativen Struktur, in der sich Syntagmatik und Paradigmatik im Sinne einer immanenten Zweckmäßigkeit nicht wechselseitig begründen, sondern aufheben. Die paradigmatische Anlage der Figuren unterläuft das Narrativ, in dem diese agieren, ebenso, wie umgekehrt das Narrativ die Konstitution von kompakten, mit sich selbst identischen personalen Instanzen blockiert. Dieses zersetzende, gleichzeitig aber gehörige Textkomplexität produzierende Wechselspiel zwischen Syntagmatik und Paradigmatik ist Resultat von Dostoevskijs letztlich selbst tragischem Unternehmen, den für die russische Kultur der 1830er und 1840er Jahre neuen medienhistorischen Bedingungen einer ökonomisierten Typographie mit der therapeutischen Absicht zu begegnen, sich von jenen semiotischen Effekten der Abstraktion und Differenz freizuschreiben, die das schriftliche Erzählen permanent hervorbringt – um dann 22 Parallel zu der Verführungsmacht der Schrift ringt Makar auch gegen die Verführungsmacht des Geldes; durch seine Geschenke versucht er seine Selbstlosigkeit und Entsagungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, um dann letztlich ebenfalls durch das Geld korrumpiert zu werden: Für seine Fürsorge und seine Aufwendungen für Varvara erhält er von Bykov 500 Rubel.

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aber mit jedem Schriftzug festzustellen, dass die diabolischen Signifikationsund Abstraktionseffekte mit dem Belzebub literarischer Immanenz nicht auszutreiben sind. Dies stellt auch jene Schreibkonstellation dar, die dann, in einer literaturhistorischen Perspektive betrachtet, bei Dostoevskij (und durchaus ähnlich bei Tolstoj) dazu führt, dass die im Gegeneinander von Syntagmatik und Paradigmatik sich zersetzenden Texte zunehmend auf einen Horizont transzendentaler Ungeschiedenheit hin durchlässig werden, vor dem sich die sinnentleerenden Signifikationsprozessen ständig und unaufhaltsam potenzieren. Die religiösen Motive, Sujets und vor allem entsprechend ideologisch präparierte Figuren wie Alesˇa in Die Brüder Karamazov, die bei Dostoevskij zunehmend poetologische Relevanz gewinnen, markieren den Versuch, dieser Dissipation im ästhetischen Schreiben einen transzendentalen Sinn im Diesseits der Schrift abzuringen – ein Problem übrigens, das zu regulieren und aus der Welt zu schaffen sich dann der sozialistische Realismus im 20. Jahrhundert nicht mehr im Diesseits der Schrift, sondern auf institutionelle Weise zur Aufgabe machen wird.

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Jurij Murasˇov

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Heinrich Detering

Das prosaische Lied von der Glocke: Andersens »Schiller-Märchen« und die postromantische Kunstreligion1

1.

Der Neckar mündet in die Donau: Andersens Schiller-Erzählung

Friedrich Schillers wegen wollte Hans Christian Andersen sogar den Lauf des Neckar ändern. Am 29. März 1860 berichtet sein Freund Adolph Drewsen: Vor ein paar Tagen fragte Andersen mich, wo Schillers Geburtsstadt, Marbach, wohl liege, namentlich ob es nicht vielleicht an der Donau wäre, und als er hörte, dass es sich um den Neckar handelte, wollte er wissen, in welchen Fluss der Neckar denn münde. Wir zogen die Landkarte hervor, und ich zeigte ihm dessen Verlauf bis zur Mündung in den Rhein. Das passte ihm nicht; er wollte partout, dass der Neckar in die Donau fließen sollte.

Warum das? Drewsen erläutert: Er hatte nämlich eine Aufforderung bekommen, etwas für das Schiller-Album zu schreiben, das anlässlich der im November abgehaltenen 100-Jahr-Feier seines Geburtstags herauskommen soll, und war nach langem Nachdenken darüber bei einer Idee stehengeblieben, die er aus Schillers Glocke entnommen hatte; er stellte sich nämlich vor, dass die Kirchenglocke in Marbach läuten sollte, während die Mutter Schiller gebar, – dass dieselbe Glocke im Laufe der Jahre herunterfallen und reißen und dann auf dem Kirchhof liegen sollte, bis sie zum Guss der besagten Statue verwendet werden sollte, wobei es sich ergeben würde, dass ihr Erz gerade Kopf und Brust ausmachte.2 1 Indem die folgende Untersuchung sich mit einem kleinen Text aus der Geschichte der »Kunstreligion« im 19. Jahrhundert beschäftigt, die es zugleich mit einem eigentümlichen Beispiel der imaginatio borealis zu tun hat, bezieht sie über die Frage nach der Motivation der Prosaform hinaus zwei Fragen ein, zu denen die Arbeiten Albert Meiers wesentliche Beiträge geleistet haben. Vgl. grundlegend Costazza / Laudin / Meier (2011) sowie die Bände der von Albert Meier mitbegründeten und -herausgegebenen Reihe Imaginatio borealis. Bilder des Nordens (2001 ff.). An die vielen Gespräche über beides erinnert sich der Verfasser nicht nur anlässlich einer Geburtstagsfeier mit Freude und Dankbarkeit. 2 Vom Vf. übersetzt nach der Wiedergabe im Kommentarband zur kritischen Gesamtausgabe: Andersen, Eventyr VII, 310 f.

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Nach Drewsens niederschmetternden geographischen Auskünften habe Andersen wohl oder übel von seinem Plan Abschied genommen, die alte Kirchenglocke auf dem Wasserwege von Marbach nach München transportieren zu lassen, wo sie eingeschmolzen werden sollte. Drewsen beschließt seinen Bericht: »Heute […] kam er und sagte, er hätte die Geschichte geschrieben, und natürlich musste ich auf seine Aufforderung hin meine Arbeit stehen- und liegenlassen und mit ihm in mein Zimmer gehen, damit er sie mir vorlesen konnte. Er wollte sie ›Die alte Kirchenglocke‹ nennen […].«3 Unter dem Eindruck der nationalen Schillerfeiern von 1859 hatte Major Friedrich Anton Serre auf Gut Maxen bei Dresden (1789 – 1863), einer der Freunde und Gönner Andersens, den Dichter gebeten, einen Beitrag zu einem Schiller-Album zu schreiben, das er im Zusammenhang mit einer von ihm ins Leben gerufenen Schiller-Lotterie herausgeben wollte.4 1860 erschien die kurze Erzählung in deutscher Sprache; Ende 1861 wurde sie dann, mit einem Bild des Stuttgarter Denkmals, im Dansk Folkekalender 1862 in dänischer Sprache veröffentlicht. 1868 nahm Andersen sie in den 26. Band seiner Samlede Skrifter auf. Als »mein Schiller-Märchen« hat Andersen sie selber bezeichnet.5 Schillers Lied von der Glocke als Modell für Schillers Lebens-Geschichte: Andersens Konzept zielt von Beginn an darauf, Schillers populärstes Gedicht zu transformieren in eine umdeutende Prosa-Auflösung. Dieser Genrewechsel hat etwas überaus Symptomatisches für den Wandel der literarischen Modelle von der Goethezeit zu jener Epoche, die in der deutschen Literatur auf so unterschiedliche Namen wie Biedermeier, Restauration oder Vormärz getauft wurde und in Dänemark das »Guldalder«, das goldene Zeitalter der nationalen Literatur genannt wurde. Aus dem großen, gleichermaßen erzählenden und lehrhaften Gedankengedicht, das geschichtsphilosophische, anthropologische und politisch-moralische Narrative und Reflexionen harmonisierend zusammenführt, wird bei Andersen die Kleinform eines »Märchens«, das nur im allerweitesten Sinne noch dem romantischen Gattungsbegriff entspricht und nicht viel mehr meint als eine offensichtlich von dichterischer Phantasie geleitete Reihe gefällig verschlungener Genrebilder. Und nicht mehr um Geschichtsmodelle und Morallehren geht es, um bürgerliche Konzepte von sittlicher Autonomie, Affektkontrolle, familialen Lebensformen und handwerklichen Arbeitsverhältnissen, sondern um die Verehrung des Künstlers, der dies alles mit einer nicht mehr reflektierten, sondern stillschweigend vorausgesetzten Autorität formuliert habe. 3 Ebd. 4 Biographische Daten hier und im Folgenden nach Mylius (1998). 5 So in seinen Tagesnotizen nach Abschluss der Arbeit am 23. April 1860: »Brief mit Schillers Märchen an Frau Serre in Dresden.« (Andersen, Almanakker, 286)

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Dieser an die Stelle der im Kunstwerk artikulierten und durch es vermittelten Gedankenwelt tretende Künstlerkult aber verfolgt seinerseits harmonisierende Absichten. Wie er in den deutschen Schillerfeiern die nationale Einheit als geistig schon vollzogen feiern und als politisch noch ausstehend markieren soll, so bestimmt er in der Perspektive des dänischen Dichters Andersen den Punkt, von dem aus sich die um dieselbe Zeit verlorengehende kulturelle Symbiose deutscher und dänischer Kultur regenerieren soll. Um aber diesen übernationalen Aspekt in einem Kontext zur Geltung zu bringen, der in Deutschland vom Pathos nationaler Sammlung, in Dänemark hingegen, ebenfalls in einem neuen nationalen Geist, von anti-deutschen Ressentiments bestimmt ist, muss dieser Schiller in demselben Maße danisiert erscheinen, in dem er auch als deutscher Dichter figuriert – ein überaus schwieriger Balanceakt, dessen Kalkül man dem so forciert harmlosen Text nicht leicht anmerkt. In jedem Fall ist für Andersens schwieriges Vorhaben die große, feierliche, weit ausgreifende Form des Schillerschen Gedichts untauglich. Nicht der regelhaft wechselnden Versformen und der komplexen Strophen bedarf es, im Blick weder auf das deutsche noch auf das dänische bürgerliche Zielpublikum, sondern der kleinen, ganz auf das Niedliche und Treuherzige ausgerichteten Form des betont harmlosen »Albumblatts«, das im Ton plaudernd-alltäglicher Prosa und in der Kohärenz einer schlichten und kontinuierlichen Narration auf ein einprägsames, vorlesbares und nacherzählbares Genrebild hinausläuft – ein Bild, das schließlich identisch ist mit dem Schiller-Denkmal, das der dänische Bildhauer Thorvaldsen im deutschen Stuttgart aufstellt. Wie das Denkmal, so tritt das »Schiller-Märchen« als dessen romantisierend fabulierte Ätiologie an die Stelle der Dichtung, deren Urheber es verklärt. Dieser Urheber aber, diese Verkörperung des autoritativen Verkünders einer menschheitsversöhnenden bürgerlichen Moral und Lebensauffassung, gewinnt im Laufe der Erzählung Züge auch des Autors selbst. – Was zu zeigen ist.

2.

»wenn ich einen ›Schiller‹ war«: Andersen in Weimar

Andersen war der einzige nicht-deutsche Künstler, der von Major Serre zur Mitwirkung am Schiller-Album aufgefordert wurde – mit gutem Grund. Das »Guldalder«, in dem Andersen aufgewachsen war und seine beispiellose literarische Karriere erlebt hatte, dieser teils noch spätromantische, teils schon frührealistische Verwandte des Biedermeier, war in vieler Hinsicht eine dänische Fortsetzung der Goethezeit; das Kopenhagen dieses ›Goldenen Zeitalters‹ der dänischen Kulturgeschichte war als eben dieses ein »kulturelles Zentrum der

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Goethezeit«.6 So bezieht sich selbst Andersens Autobiographie, zuerst für deutsche Leser geschrieben und in deutscher Sprache veröffentlicht, offensichtlich auf Goethes Dichtung und Wahrheit – sie heißt Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung und inszeniert sich entsprechend selbstbewusst als Balanceakt zwischen Dokumentation und stilisierender Selbst-Fiktionalisierung; darauf ist noch zurückzukommen. Für einen begabten und ehrgeizigen Außenseiter wie den jungen Andersen war die Orientierung an solchen Vorbildern nicht nur eine Frage der Neigung, sondern auch der Selbstdarstellung auf dem literarischen Markt. Am 18. Juli 1832 schrieb Andersen an seinen deutsch-französischen Dichterfreund Chamisso: »Dänemark liegt ein wenig im Winkel, darum müssen seine Dichter ganz unbekannt bleiben, sofern sie sich nicht im Stande sehen, einige geistige Auswanderungen nach den Nachbarländern zu machen.«7 Dieser Satz resümiert seine (und nicht nur seine) damalige Haltung gegenüber Deutschland. Tatsächlich hat Andersen, auch um seines Ruhms in der Heimat willen, seinen literarischen Erfolg in Deutschland schon früh und zielstrebig selbst in die Hand genommen. Mit der zweckmäßigen Drapierung und Präsentation seiner Texte für ein biedermeierliches deutsches Publikum suchte er dessen Bedürfnissen nach einer unpolitisch-behaglichen Literatur gegen den rebellischen Zeitgeist der Vormärz-Aktivisten raffiniert Rechnung zu tragen. Es gehörte zu dieser Marketing-Strategie, dass sie die Grenzen zwischen dem Dichter Andersen und den Protagonisten seiner Dichtungen verschwimmen ließ, dass sie die in den Romanen erzählten Geschichten um diejenige ihres Autors selbst erweiterte. Die Rechnung ging glänzend auf. Gerade die vermeintliche Beglaubigung des Romangeschehens durch die Lebensgeschichte seines Verfassers begründete den

6 Zum kulturgeschichtlichen Kontext Lohmeier (1996). – Nicht allein die dänische Lyrik dieser Epoche und die überaus produktive Mode der Entwicklungs- und Bildungsromane nach 1800 wären nicht denkbar gewesen ohne das fortwährende Weimarer Vorbild, auch die Begeisterung für den Faust war allgemein (dazu grundlegend Meier [2011]). Bei kaum einem Zeitgenossen aber lässt sich diese Goethe-Begeisterung so umfangreich ins eigene Werk hinein verfolgen wie bei Andersen. Immer wieder variieren seine damals in Dänemark wie in Deutschland vielgelesenen Romane das Modell des Wilhelm Meister. In seinem Gesellschaftsroman De to Baronesser (Die zwei Baronessen) wird das Goethe-Wort vom »roten Faden« einer organischen Entwicklung im scheinbar verwirrenden Gang der Welt zum Leitmotiv (dazu das Andersen-Kapitel in Rühling [2002]).). Noch in Andersens vorletztem Roman At være eller ikke være (Sein oder nicht sein) von 1857 drehen sich längere Erörterungen um die Frage, wie der Zweite Teil des Faust richtig zu verstehen sei; der weiblichen Heldin legt Andersen sogar eine ganze Nacherzählung der Dichtung in den Mund. 7 Vom Vf. übersetzt nach der vorzüglichen, vom Leiter des Andersen-Zentrums Odense, Johan de Mylius, in Zusammenarbeit mit Solveig Brunholm erstellten Datenbank der Andersenschen Briefe (Andersen, Breve).

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andauernden Erfolg des Dichters bei einem von Abstiegsfurcht und Revolutionsdrohungen verängstigten bürgerlichen Lesepublikum.8 Diese vom literarischen und sozialen Ehrgeiz des Außenseiters und vom ökonomischen Streben des Armeleutekindes motivierte Suche nach einer sicheren Marktposition trug allerdings in ihren produktivsten Auswirkungen zu einer wechselseitigen Befruchtung zweier Nationalliteraturen bei, die noch zu Andersens Lebzeiten weithin zu Werkzeugen widerstreitender Nationalismen werden sollten. Dabei erwies es sich als ein Glücksfall, dass Andersen bei seiner Suche nach deutschen Verbindungen schon früh an jenen Ort geriet, der das Zentrum der Goethezeit gewesen war und im Bewusstsein der Gebildeten auch in Dänemark eine fast mythische Rolle spielte. War Andersen noch während der ersten, romantischen Modellen folgenden Deutschlandreise9 dem naheliegenden Besuch bei Goethe scheu ausgewichen, so folgte er im Juni 1844 doch mit umso größerer Freude einer persönlichen Einladung des Erbgroßherzogs Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach. Der dank seiner verbreiteten Biographie verlässlich eingeführte und als Romancier allenthalben bewunderte Andersen bot sich, so schien es, für die erträumte Wiedererrichtung des Weimarer Musenhofes als ein geradezu idealer Kandidat an. Der umfangreiche Briefwechsel der beiden liest sich über weite Passagen als ein operettenhaftes Satyrspiel der Goethezeit: Zwei Männer, die ironischerweise beide der deutschen Sprache nicht völlig sicher sind (der eine als Däne, der andere als französisch erzogener Aristokrat), spielen noch einmal die Muster einer empfindsamen Freundschaft durch.10 Gerade inmitten der Beunruhigungen des Vormärz soll nun, gleichsam als lebensweltliche Erweiterung der gelesenen Texte, der Beweis erbracht werden, dass soziale und zunehmend auch nationale Gegensätze überwunden werden können durch Freundesliebe, Idealismus, Humanität. Für Andersen gewann diese Freundschaft sowohl in sozialer wie in menschlicher, wohl auch erotischer Hinsicht bald eine solche Bedeutung, dass er zeitweise nicht nur von künftigem Ruhm als deutsch-dänischer Dichter träumt, sondern sogar von einer dauerhaften Übersiedlung nach Weimar. (Schon Jens Baggesen und Adam Oehlenschläger hatten sich in größeren Zeiten, aber mit geringerem Erfolg um Einlass in die Weimarer r¦publique des lettres bemüht.) 8 Dass Andersen dafür die Biographie, die seinem Bestseller Nur ein Spielmann vorangestellt war, nicht nur lanciert, sondern im wesentlichen auch gleich selbst verfasst hatte, das zeigt die Zielstrebigkeit und Bedenkenlosigkeit seiner Selbstmythisierung. Dazu die grundlegende Studie von Möller-Christensen (1992, mit deutschsprachiger Zusammenfassung). 9 Die er dann in seinem Reisebuch Schattenbilder beschrieb; dazu Mylius’ kommentierte Neuausgabe. 10 Der Briefwechsel liegt in einer kommentierten Edition vor: Andersen, Briefwechsel. – Vgl. auch das Andersen-Kapitel in Steinfeld (1998).

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Ebenjene nationalen Spannungen jedoch, zu deren Überwindung die empfindsame Konstruktion einer neuen Freundschaft zwischen Fürst und Dichter ersonnen worden war, haben schließlich, mit dem Ausbruch der deutsch-dänischen Kriege, das kunstreiche Gebäude wieder zerstört. Im Juni 1844 liegt diese Katastrophe noch in einer ungewissen Zukunft. Kaum in Weimar angekommen, besucht Andersen die großen Toten in der Fürstengruft. Abends notiert er im Tagebuch: In der Kapelle sind die Särge nun vertauscht, Göthe und Schiller stehen nebeneinander, ich wollte zu Göthes Sarg, und es war Schillers, über den ich mich beugte. Ich stand zwischen den beiden, betete mein Vaterunser, bat Gott, er möge mich einen Dichter werden lassen, der ihrer würdig wäre und im übrigen solle sein Wille geschehen im Bösen und Guten

– und dann fügt er, in einer für ihn selbst wie für den zeitgenössischen Dichterkult sehr charakteristischen Wendung, hinzu: »auf den Särgen lagen Lorbeerblätter, ich nahm mir ein paar Blätter von beiden.«11 Auf dem Weg zur großherzoglichen Geburtstagsfeier im Weimarer Theater sieht er, auch das hält er im Tagebuch fest, »Schillers Haus«.12 Carl Alexander selbst schildert er von Beginn in hohen Tönen: als einen »jungen 26jährigen Mann von schöner Gestalt« und als seinen geborenen Freund: »er ist der erste von allen Prinzen, der mir so recht gefallen hat, der erste, von dem ich wünschte, dass er kein Prinz wäre oder dass ich auch einer wäre«.13 Im Verlauf der so beginnenden Freundschaft wird Andersen zum ständigen Gast in der Stadt, die er nun jahrelang (und mit dieser deutschen Wendung) »meine zweite Heimat« nennt. Nie ist er dem deutschen Parnass so nahe gekommen wie jetzt. Dem fürstlichen Erwartungsdruck jedoch versucht er sich nicht ohne Koketterie zu entziehen, so in einem Brief vom 14. Februar 1846 mit dem Stoßseufzer : »Ich werde, leider, kein Göthe.«14 Nein, das gewiss nicht. Aber war da nicht noch jemand gewesen, über dessen Sarg Andersen sich gebeugt und von dessen Lorbeeren er sich vorsorglich schon ein paar Blätter eingesteckt hatte? Zwar haben Schillers Person und Werk ihm lange Zeit weniger bedeutet und seinem eigenen Schreiben durchaus nicht so selbstverständlich nahe gestanden wie Goethe. Dennoch war er mit Schillers Werk schon seit seiner Schulzeit so vertraut, wie das von einem bildungsbeflissenen dänischen Leser des bürgerlichen »Guldalder« zu erwarten war.15 Schulaufsätze zu Schiller sind erhalten.16 11 Hier und im Folgenden werden Andersens Tagebuchaufzeichnungen vom Vf. mit Band- und Seitenzahl übersetzt nach der Ausgabe: Andersen, Dagbøger, hier : II, 402. 12 Ebd., II, 398. 13 Ebd., II, 400. 14 Andersen, Briefwechsel, 42. 15 Zu Andersens schwieriger Integration in die »Bildungskultur« (»Dannelseskultur«) des

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Wo immer sich Andersen auf seinen fast pausenlosen Reisen die Gelegenheit bot, eine Schiller-Aufführung zu erleben, nutzte er sie: 1834 erlebte er in Neapel Donizettis Opernbearbeitung von Maria Stuart, im selben Jahr in Prag den Wallenstein, 1843 in Paris wieder die Maria Stuart; 1852 in München Die Piccolomini, im Juli 1857 in Dresden die Räuber und im August Die Jungfrau von Orl¦ans (»ging im fünften Akt fort«).17 Im Januar 1846 begegnet Andersen in Weimar zum ersten Mal Caroline von Wolzogen – und findet in Schillers Schwägerin eine Bewunderin seiner Schriften; »sie war ganz angetan von meinem Bilderbuch«,18 bittet ihn, ihr drei seiner Märchen vorzulesen, und verspricht ihm zum Dank ein Stück aus Schillers Handschrift zum Wilhelm Tell. (Später wird Andersen in Weimar noch einmal, wie er im Tagebuch vermerken wird, »ein schönes Blatt von Schillers Hand« geschenkt bekommen, diesmal von Franz Liszt, im Juni 1852.)19 Diese kleine Geste zeigt – wie ansatzweise schon seine Mitnahme der Lorbeerblätter vom Grab – Andersens bewusste Teilhabe an jener Schillerverehrung, die Formen der katholischen Reliquienverehrung in einen säkularen Künstler-Kult transformiert: Die Handschrift wird nicht als philologisches Dokument gewürdigt, sondern als Berührungsreliquie.20 Im Rückblick ist es eigenartig zu sehen, wie sich bereits in Andersens Briefund Tagebuchnotizen dieser Tage allmählich die Motive zusammenschieben, aus denen sich dann, mit großem zeitlichen Abstand, seine Erzählung für das Schiller-Album konstituieren wird. Als er noch während desselben WeimarAufenthalts, am 27. Januar, abermals die Fürstengruft aufsucht, diesmal begleitet von dem Kanzler von Müller und der schwedischen Sopranistin Jenny Lind, kommt ihm unversehens zum ersten Mal ein geistesverwandter dänischer Landsmann in den Sinn: Hat er nicht ebenfalls in Jenny Linds Begleitung das Grab des Bildhauers Bertil Thorvaldsen besucht? Noch bleibt es bei der flüchtigen Assoziation; in der Schiller-Geschichte wird sie das gesamte Sujet bestimmen. Am 1. September 1846 verabschiedet sich Carl Alexander von Andersen mit

16 17 18 19 20

dänischen Beamtenstaates noch immer grundlegend Pulmer (1984) sowie Wullschlager (2001) und Andersen (2005). Vgl. Høeg (1934). Andersen, Dagbøger, I, 349; I, 491; II, 348; IV, 103; IV, 272, 277; IV, 277. Gemeint ist das Billedbog uden Billeder (Bilderbuch ohne Bilder); Andersen, Dagbøger, III, 58. Ebd., III, 60 und IV, 87. Dazu ausführlich Schöne (2005). Zum goethezeitlichen Umgang mit der Dichterhandschrift als einer Reliquie, oft auch unter Gebrauch dieser Bezeichnung, vgl. Kai Sinas derzeit entstehende Studie zur Geschichte des schriftstellerischen Nachlasses. – Die frühe Verehrung auch des Schillerschen Geburtshauses als einer Wallfahrtsstätte des Künstlerkults untersucht umfassend Kahl (2008 / 2009).

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einem Satz, der – jedenfalls zufolge Andersens Wiedergabe im Tagebuch – ganz auf den Ton von Nachfolge und Identifikation gestimmt ist: »Der Erbgroßherzog sehr gegen meine Abreise! wo Schiller und Göthe arbeiten konnten, meinte er, könnte ich es auch«.21 In einem Brief aus Den Haag nimmt Andersen das ein halbes Jahr später, im Juni 1847, ausdrücklich wieder auf. In einem Brief an Carl Alexander schildert er, in etwas wackligem Deutsch und mit gewachsenem Rollenbewusstsein, den Empfang, der ihm in den Niederlanden zuteil geworden ist, mit den Worten: »wenn ich einen ›Schiller‹ war, man konnte mir nicht ehrvoller empfangen als ich bin es! es ist wie ein Traum!«22 Von nun an wird der Wunschtraum, an der Seite eines neuen Musenfürsten den Platz wenn nicht Goethes, dann jedenfalls Schillers einnehmen zu können, zur beständig wiederkehrenden Assoziation; eine id¦e fixe. Und je mehr die nationalen Fronten zwischen Dänemark und Deutschland sich verhärten, desto fixer wird die Idee. Am deutlichsten artikuliert sie sich anlässlich der Einweihung des GoetheSchiller-Denkmals 1857, zu der Andersen zwar eingeladen ist, der er allerdings, was er schmerzlich notiert, nicht auf der großherzoglichen Ehrentribüne beiwohnen darf. Schon drei Tage zuvor streift er in unruhiger Erwartung durch die Stadt. Tagebuch, 1. September : »Sah auf dem Theaterplatz das Schiller-GoetheMonument aufgestellt, die beiden waren in dichte Draperien eingehüllt aber man sah doch die Form und die Füße. Die ganze Stadt in Geschäftigkeit«, und dann fügt er eine so beiläufige wie zweideutige Bemerkung hinzu: »Goethe hat mir ein Zimmer bestellt«; natürlich ist Walther von Goethe gemeint.23 Am 4. September, dem hundertsten Geburtstag von Goethes Großherzog Carl August (unter den Ehrengästen auf der Tribüne bemerkt Andersen »Frau Goethe mit ihren Söhnen« Wolfgang und Walther »und Schiller«, den Sohn Karl nämlich) wird Ernst Rietschels Denkmal enthüllt. »Es war«, schreibt Andersen, »ein großer Moment, als der Schleier von der Dichtergruppe Schiller und Goethe fiel«. Und dann die überraschte, beglückende Erkenntnis, in drei lapidaren Worten: »Schiller ähnelt mir.«24 Wohlgemerkt: es ist nicht Andersen, der Schiller ähnelt; sondern es ist Schiller, in dem Andersen sich wiedererkennt. Rietschels Doppel-Skulptur war nicht das erste Schiller-Denkmal, das Andersen zu sehen bekam. Schon am 9. August 1855 hatte er auf Reisen in Stuttgart vor jener Statue gestanden, die der in der Fürstengruft assoziierte Thorvaldsen 21 Andersen, Dagbøger, III, 175. 22 Andersen, Briefwechsel, 98. 23 Andersen wohnt im Hotel »Zum Elephant, das kostet 1 12 Taler täglich, Aussicht zum Markt. Goethes Haus wird geschmückt, Schillers auch, sprach mit dessen Besitzer er hielt mich für den jungen Wieland. […] Regenwetter. Auf dem Rathaus wehen Fahnen, die Leute laufen geschäftig mit Flaggen und Guirlanden herum. Heim und um 9 Uhr ins Bett.« Andersen, Dagbøger, IV, 283 f. 24 Ebd., IV, 286.

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geschaffen hatte; und er hatte auch das im Tagebuch festgehalten.25 (Am 25. September 1860 wird er, zum zweiten und letzten Mal in Stuttgart, noch einmal einen Blick auf »Thorvaldsens Statue von Schiller« werfen; da ist seine Schiller-Geschichte aber schon fertig.26) Dass Thorvaldsens Skulpturen den Ruhm Dänemarks ebenso weit in die Welt hinausgetragen hatten wie Andersens eigene Romane, Märchen und Gedichte, das hatte er schon in seinem ungemein populären Gedicht Dänemark, mein Vaterland 1850 zu verstehen gegeben: »Ein kleines Land – und doch, rings um die Erde / Erklingt dein Lied nun und dein Meißelschlag.«27 Lied, das meint auch Andersens eigene Dichtung; Meißelschlag, das ist Thorvaldsen. Dieser Thorvaldsen also hat in Stuttgart das Denkmal jenes Schiller geschaffen, in dem Andersen nun, beim Anblick von Rietschels Weimarer Skulpturengruppe, sich selbst wiedererkennt.

3.

Leiden, Streben und Verklärung: Künstlerlegende

Dies etwa war Andersens Reflexionsstand, als er 1860 Serres Angebot annahm, eine Geschichte für das geplante Schiller-Album zu verfassen, und sich angelegentlich nach dem Lauf des Neckar erkundigte. Ihr expliziter Grundeinfall besteht darin, das Andenken Schillers mit demjenigen Thorvaldsens zusammen zu bringen. Das lohnt nun einen genaueren Blick. Den Plan seiner Geschichte erläutert Andersen in einem Brief an Carl Alexander am 3. Mai 1860, in deutscher Sprache: Für Schillers Album habe ich ein neues Märchen geschrieben. Es heißt: ›die alte Kirchenglocke‹. Als Schiller geboren wird hört seine Mutter den Klang der alten Kirchenglocke in Marbach; am Ende wird aus diese[r] Glocke der Kopf und die Brust von Thorwaldsens Schiller-Statue in Stuttgart. Schillers Leben klingt hier im ›Lied von der Glocke‹, und vermittelst Thorwaldsen bringe ich ein Element aus meinem eigenen Vaterland hierein; ich hoffe, daß diese kleine Dichtung Ihnen, theurer Großherzog, gefallen werde. […] Bewahren Sie mich in huldreichem Andenken. / Ew koniglichen Hoheit treu ergebener / H.C. Andersen28

Schillers Leben und die Geschichte seiner Werke abzubilden im Lied von der Glocke, diese Idee lag umso näher, als Andersen auch diese Dichtung schon von Jugend an kannte; in verschiedenen Versionen war auch sie ihm in dieser schillerbegeisterten Epoche allenthalben wieder begegnet. Als Gedicht lernte er sie wohl schon während seiner Lateinschulzeit in Slagelse kennen, als Lied25 26 27 28

Ebd., IV, 175. Ebd., IV, 439. Andersen, Landschaft mit Poet, 65. Andersen, Briefwechsel, 241 f.

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Komposition hörte er sie dann als Zwanzigjähriger,29 und gleich zweimal sah er Bearbeitungen in Form von »Tableaux vivants«, zuerst im Juni 1834 im Wiener Burgtheater,30 dann genau zwanzig Jahre später noch einmal am selben Ort, im Mai 1854 während einer Art bunten Schiller-Abends: »Schillers Glocke mit lebenden Bildern und Wal[l]ensteins Lager«.31 Sowohl in dem etwas faden Grundeinfall selbst als auch in seiner Durchführung gibt Andersens Schiller-Geschichte wenig vom Erfindungsreichtum, geschweige denn vom satirischen Geist anderer Eventyr og Historier zu erkennen.32 Im Gegenteil meint man hier den biedermeierlichen Andersen par excellence vor sich zu haben. In geradezu erschütternder Konventionalität bestätigt und illustriert der Text ein Schiller-Bild, das demjenigen des deutschen wie des dänischen Bildungsbürgertums entspricht. Schillers Lebenslauf wird zur kleinbürgerlichen Aufstiegsgeschichte verklärt und versüßt, und keines der Klischees fehlt. In einer armen, aber idyllischen Kleinstadtszenerie kommt der kleine Friedrich zur Welt, in einer armen Familie, in der es aber doch vor allem immer »brav und fleißig« zugeht, »dazu mit Gottesfurcht in der Schatzkammer des Herzens«. Unter andächtigen Gebeten bringt Mutter Schiller ihr Kind zur Welt, während die alte Kirchenglocke festlich läutet. Die Geburt des Genies trägt – das auf bürgerliche Innigkeit reduzierte Grundmodell romantischer Kunstreligion33 gibt sich von Beginn an zu erkennen – unverkennbar weihnachtliche Züge; Schiller selbst erscheint nicht nur als ein Heiliger, sondern geradezu als das Christkind der Kunstreligion: Ein Kind wollte unser Herrgott ihnen bald schenken; es war die Stunde, da die Mutter in Schmerzen und Not lag, da ertönte vom Kirchturm Glockenklang zu ihr herein, so tief, so festlich, es war eine Feierstunde, und der Ton der Glocke erfüllte die Betende mit Andacht und Glauben; die Gedanken erhoben sich so innig zu Gott, und in derselben Stunde gebar sie ihren kleinen Sohn […]. […] Zwei helle Kinderaugen blickten sie an, und das Haar des Kleinen glänzte, als wäre es vergoldet; das Kind wurde mit Glockenklang in der Welt empfangen an jenem dunklen Novembertag […].

Fromm und gut ist das heranwachsende Kind, das beim Hören von Versen aus Klopstocks Messias »heiße Tränen« vergießt, das dann die herabgestürzte alte Kirchenglocke auf dem Marbacher Kirchhof »fast mit Andacht« ansieht und das sich daraufhin von der Mutter erzählen lässt, »wie diese Glocke jahrhunderte29 30 31 32

1825, Andersen, Dagbøger, I, 49. Ebd., I, 455. Ebd., IV, 138. Der Text wird im Folgenden vom Vf. ohne einzelne Stellennachweise übersetzt nach der kritischen Ausgabe: Andersen, Kirkeklokke. 33 Zu diesem Begriff vgl. jetzt neben dem in Anm. 1 genannten Band Costazza / Laudin / Meier (2011) auch den Versuch einer Begriffsbestimmung in Detering (2007) sowie den Forschungsüberblick von Sina (2011).

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lang ihren Dienst getan, zur Kindtaufe, zur Hochzeitsfreude und zum Begräbnis geläutet hatte; sie hatte von Festesfreude und dem Grauen der Feuersbrunst gekündet; ja, die Glocke sang von einem ganzen Menschenleben. Und nie vergaß das Kind, was die Mutter erzählte, es tönte in seiner Brust, bis er als Mann laut davon singen musste.« Der second maker: am Ende hat er alles von seiner Mutter. In der – so wörtlich – »militärischen Schule« leidet der Heranwachsende am Drill, und statt sich deformieren zu lassen zu einem »Zahn […] in dem großen Uhrwerk, zu dem wir alle gehören«, lässt er den Gesang »in seiner Brust« weit ins Land hinausschallen. Als »blasser Flüchtling« rettet er sich über die Landesgrenze und geht seinen – im Text nur noch knapp resümierten – Weg zum Ruhm. Dabei wird wie Schillers Leben so auch sein Werk weitgehend reduziert auf den Textkanon des gebildeten Bürgertums. Außer der titelgebenden Glocke werden der Fiesko und der Tell rasch erwähnt, die Jungfrau von Orl¦ans und notabene die schon von den Romantikern verspottete Ehre der Frauen. Genau parallel zu Schillers Lebensschicksal vollzieht sich dasjenige der alten Marbacher Kirchenglocke, die aus der Beschädigung, Erniedrigung und Vergessenheit heraus unversehens erhöht wird zum Material ebenjenes Denkmals, das dem Dichter endlich gesetzt wird: im Kult des Künstlers kommt die depravierte Religion wieder zu ihrem Recht und zu neuem Glanz. Unter der Meisterhand des dänischen Bildhauers, dessen Kunst alle Welt bewundert, verwandelt sich das eingeschmolzene Erz der Glocke in »Kopf und Brust der Statue, so wie sie heute in Stuttgart vor dem alten Schloss enthüllt steht, auf dem Platz, wo er, den sie darstellt, als lebendiger Mensch umherging«. Hat der Knabe Friedrich die Erinnerungen der Mutter mit soviel Ehrfurcht angehört, dass er die unbrauchbar gewordene Glocke küsst, so wird dann auch »die Glocke in seiner jungen Brust« erklingen, »es war ein Erz darinnen, das erdröhnte, das musste hinausklingen in die weite Welt«. Es sind dieselben Verben, die für die Kirchenglocke und für Schillers Dichtung gebraucht werden: hinaussingen, klingen und wiederklingen. An die Stelle der Glocke tritt Das Lied von der Glocke, wo Kirche war, wird Kunst – in ihr aber, beim Kunstmessias Schiller und bei seinem Evangelisten Thorvaldsen, erwacht die depravierte Religion zu neuartigem Leben. Spätestens hier erweist Andersens Erzählung sich als eine post-romantische Transformation jenes Typus einer romantischen Künstlerlegende, der in Ludwig Tiecks und Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders entwickelt worden war. (Dazu passt auch eine der einfachen Collagen, die Andersen in seinem Album sammelte und die ein Schiller-Portrait mit einem Bild der Grablegung Christi kombiniert.)34 An die

34 Wiedergegeben in Andersen, Mit Livs Eventyr, 163 (Joseph Stielers Kopie von Ludowike

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Stelle des geniepoetischen Inspirationsmodells sind die Bürgertugenden von Strebsamkeit und Fleiß, schlichter Frömmigkeit und Affektkontrolle getreten, die gerade als solche aber die Erhöhung des Künstlers zur vorbildlichen Heiligengestalt, ja hier geradewegs zum Heilsbringer bewirken (und in der Darstellung beglaubigen). Dabei ist der Gegenstand des vermittelten Heils nicht mehr eine göttliche Allnatur, sondern ein schon zum rhetorischen Schemen verblasstes ›Ideal‹, das in demselben Maße, in dem die katholisierenden Züge der Tieck / Wackenroder’schen Künstlerlegenden verschwinden, als Inbegriff protestantisch-bürgerlicher Tugenden, namentlich eines strikten Pflicht- und Leistungsethos erscheint. Ineins mit dieser Wandlung verändert sich schließlich auch die Mittelbarkeit des künstlerischen Heilsgeschehens: Im Mittelpunkt der Erzählung stehen nicht mehr der heilige Künstler und sein Kunstwerk selbst (hier : Schiller und seine Dichtungen) als Mittler zwischen einer Sphäre des Sakralen und den Rezipienten, sondern die Überhöhung dieses Künstlers zu einem Heiligen in einem Kunstwerk zweiten Grades (hier : der Skulptur Thorvaldsens), deren Legende (hier : Andersens Erzählung) ihrerseits ein Kunstwerk dritten Grades bildet. Denn die traditionelle kirchliche Religion, die in der alten Gestalt der Kirchenglocke verstummt und verschwunden ist, wird hier ja dadurch ganz physisch-buchstäblich transformiert, dass das alte Material in der neuen Gestalt der von Thorvaldsens genialer Künstlerhand geschaffenen Darstellung des genialen Künstlers Schiller gleichsam wieder aufersteht. Die christlich-kirchliche Botschaft der Kirchenglocke hat sich verwandelt ins Credo eines bürgerlich-kulturprotestantischen Künstlerkults. Der heiligmäßige Lebensweg, den das hier besungene Kunstwerk verklärt, ist ein Leidensweg, auf dem durch Selbstüberwindung auch äußere Bedrückung überwunden werden kann; »Kampf« und »Streben« in der Verkündigung »des Großen und Herrlichen«, als dessen Sänger »Johann Christoph Friedrich Schiller« im letzten Satz gewissermaßen mit vollem Orchester-Fortissimo gerühmt wird, führen zum Triumph auch des Künstlers selbst. In seinem Denkmal verschmelzen das Material der alten Religion und die Verehrung seiner neuen Kunst zu einer einzigen Gestalt – allerdings nicht in der planen historischen Tatsächlichkeit, sondern erst in der frommen Legende von Andersens Hand, dieser Herzensergießung eines Schiller liebenden Klosterbruders. Und dennoch gelingt es Andersen auf eine bemerkenswert indirekte Weise, sich doch wieder in die gleichsam erste Instanz der Kunstreligion hineinzuschmuggeln. Indem er sich implizit als einen Geistesbruder des Heiligen inszeniert, bringt der Legendenschreiber sich in größtmögliche Nähe zum GeSimanowics Schiller-Portrait und eine aquarellierte Bleistiftzeichnung der Grablegung Christi von Theodor Rehbenitz).

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genstand der Legende selbst. Nicht nur eine dänische Version des Goetheschen »Denn er war unser!«35 wird hier ins Gedenkbuch eingetragen, sondern auch ein diskretes ›und Andersen ist seinesgleichen‹. Im Subtext und zwischen den Zeilen formuliert der Text eine imitatio Schillers.

4.

Drei Lieder von der Glocke: romantische und post-romantische Kunstreligion

Das geschieht auf dem Weg über ein zunächst überraschendes Nebenmotiv, nämlich die nach den Maßstäben der Zeit hässliche äußere Gestalt des jungen Schiller. Fehlte dieser Zug – der Text böte so wenige Widerhaken, dass seine allgemeine Nichtbeachtung selbst bei Andersen-Kennern begreiflich wäre.36 Dieses eine Detail aber sticht nicht nur aus dem biedermeierlichen Rosenbildchen überraschend hervor, es findet sich in dieser Deutlichkeit auch, soweit ich sehe, in keinem anderen Zeugnis der frühen Schiller-Verehrung. Das fromme Kind in Andersens Erzählung nämlich ist »lang und mager, rötlich von Haar, sommersprossig im Angesicht, ja das war er«. Erfahren hatte Andersen das aus erster Hand, am 13. August 1855 in Stuttgart; das Tagebuch hält fest: »mittags Tafel beim Großherzog mit Schillers ältestem Sohn der Baron ist, er schenkte mir das am meisten ähnelnde Portrait des Vaters, erzählte daß er rote Haare gehabt habe.«37 Es ist bemerkenswert, wie die Schiller-Erzählung mit diesem Detail umgeht: Seine Verklärung zum – für die deutsche Künstlerlegende eigentlich obligatorischen – goldenen Blondschopf bleibt allein der Perspektive der liebenden Mutter überlassen. Allein in ihren Augen, aus denen der Text zunächst auf das Kind blickt, glänzt Schillers rotes Haar, »als wäre es vergoldet« – die Erzählstimme aber korrigiert diesen Blick. Und sie konstatiert, wie seinem Helden von dieser Kindheit an lebenslang der Makel seiner niedrigen Herkunft anhaftet, als deren sichtbare Chiffre das rote Haar erscheint. So reich an Ruhm und Ehre Andersens Schiller wird, er bleibt doch »der arme Junge aus dem winzigen Marbach«. Stigmata als heimliche Auszeichnungen: das ist eine der Grundfiguren in Andersens Dichtungen, den Romanen wie den Märchen, vom buchstäblich 35 Goethe, Epilog zu Schillers Glocke, 91. 36 In der dänischen Literaturkritik fand der Text zunächst Anklang als eine gerade in der »einfachen, naiven Darstellung […] besten Arbeiten« Andersens (so in der Kopenhagener Zeitschrift Flyveposten am 20. Dezember 1862; hier übersetzt nach Flemming Hovmanns rezeptionsgeschichtlicher Dokumentation in Andersen, Eventyr, VI, 210); in der weiteren Rezeption hat er nur eine marginale Rolle gespielt. 37 Andersen, Dagbøger, IV, 1777; gefolgt von der Bemerkung: »Ich war unleugbar der SalonLöwe.«

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durch eine Tätowierung stigmatisierten Helden des Romans O. T. bis zum einbeinigen Zinnsoldaten, der Seejungfrau im falschen Körper, dem hässlichen Entchen.38 Und es ist eine der Grundfiguren auch in Andersens Autobiographien, vom frühen und erst postum veröffentlichten Lebensbuch bis zum Märchen meines Lebens ohne Dichtung. Auch hier, gerade hier geben Andersens Autobiographien und semi-autobiographische Fiktionen durch alle Verklärungen hindurch gewissermaßen die Rückseite der eigenen märchenhaften Erfolgsgeschichte als die Geschichte einer letztlich nie überwundenen dreifachen Stigmatisierung zu verstehen – einer physischen Stigmatisierung durch die ungelenke Erscheinung des allzu großen und unproportionierten Körpers, eine erotische Stigmatisierung in der Unfähigkeit, den geforderten heterosexuellen Rollenschemata gerecht zu werden, eine soziale Stigmatisierung in der Herkunft aus einer Welt von Armut, Trunksucht und Prostitution. Von dem irritierenden Detail aus geht ein Riss durch den Text, der immer weiter reicht, je genauer man liest. Nicht nur als eine zur bürgerlichen success story gewordene Künstlerlegende gleicht Schillers Geschichte derjenigen, die sein Autor immer wieder von sich selbst erzählte, sondern auch als Ausstellung eines Stigmas, das der Erfolg zum Verschwinden bringen soll. In beiden Hinsichten unternimmt der Text eine erstaunlich weitgehende Angleichung auch dieses Helden an das autobiographische Narrativ seines Verfassers. Während auf der Textoberfläche nur das allseits bekannte Schiller-Bild abermals variiert wird, läuft der Subtext hinaus auf einen einfachen Satz: »Schiller ähnelt mir«. So können Liebe und Frömmigkeit von Schillers Eltern nur deshalb so mustergültig erscheinen, weil sie sich vom Hintergrund einer Armut abheben, die gleich im ersten Absatz dreifach gestaffelt wird: als Armut der Stadt, des Elternhauses und der Familie. Das Haus, in dem Schillers arme Eltern leben, ist unter »den alten, kleinen Häuschen« eins der ärmlichsten und finstersten: »mit niedrigen Fenstern, arm und gering von Aussehen«. Erst auf dem dunklen Grund dieses Marbacher Bethlehemsstalls leuchtet die Liebe dieser heiligen Familie so hell – und die Liebe des Vaters zur Literatur, zu »frommen Liedern«, zu Klopstock und Gellert. Genau so inszeniert Andersen (ein sehr viel drastischeres soziales Elend noch energischer verklärend) den berühmten Anfang seiner Autobiographie Mit Livs Eventyr (Mein Lebensmärchen): 1805 lebte in Odense in einer kleinen, armen Stube ein frisch verheiratetes Paar, das einander unendlich lieb hatte, ein junger Schuhmacher und seine Frau, er, kaum zweiundzwanzig Jahre, ein wunderlich begabter Mensch, eine echte poetische Natur, sie, ein paar Jahre älter, unwissend um Welt und Leben, aber mit einem warmen Herzen.39 38 Zum Begriff grundlegend Goffman (1967). 39 Vom Vf. übersetzt nach Andersen, Mit Livs Eventyr, 13.

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Manche Züge von Andersens Schiller-Bild treffen bei genauerem Hinsehen überhaupt nur auf Andersens, nicht aber auf Schillers Herkunft zu. Klein und eng war zwar bekanntlich dessen Geburtszimmer, nicht aber das Haus, in dem es lag; von niedrigen Fenstern, geringem Aussehen und überhaupt einem »Häuschen« kann hier eigentlich gar nicht die Rede sein. Wohl aber trifft das für Andersens eigenes »Barndoms-Hjem«, sein »Kindheitsheim« in der Munkemøllestræde in Odense zu. Auch Schillers Leiden auf der Karlsschule werden unauffällig in die Nähe jener Demütigungen gerückt, die der junge Andersen, seiner Erzählung im »Lebensmärchen« zufolge, unter dem pädagogischen Terror der Lateinschule in Slagelse erdulden musste. Schon die Redeweise rückt beide in Wahrheit doch ganz unterschiedlichen Ausbildungsorte aneinander, wenn statt von der Karlsschule zunächst nur von einer »militärischen Schule« die Rede ist, was sich sowohl buchstäblich als auch metaphorisch verstehen lässt. Beide jungen Dichter werden – wie es mit einem ganz auf die eigene Lebens-Geschichte gemünzten und erst vor deren Hintergrund ganz wahrnehmbaren Sarkasmus heißt – »durch höchste Gnade in die militärische Schule aufgenommen, in die Abteilung, wo die Kinder der feineren Leute gingen, und das war eine Ehre, ein Glück«.40 Derart verpflichtet, die Hand zu lecken, die sie so huldvoll füttert, sehen sich beide vor die Wahl gestellt, entweder Glocke zu werden oder Zahn im Getriebe der bürgerlichen Gesellschaft, entweder zu einem Heiligen bürgerlicher Kunstreligion oder (wie es hier ausdrücklich heißt) zur »Nummer«. Beide ergreifen folgerichtig die Flucht – in die Literatur, und über die Landesgrenzen. In Andersens Selbstdarstellung liest sich das so: Aus dem Ausland kam so unmittelbar und, wie gesagt, die Jahre hindurch die glücklichste Anerkennung, die mich geistig aufrechterhielt. Wenn Dänemark in mir einen Dichter besitzt, so hat man mich hierzulande nicht dazu verzärtelt. Während Eltern oft jeden kleinen, kaum wahrnehmbaren Keim einer möglicherweise sich entwickelnden Art von Talent hegen und pflegen und ins Treibhaus setzen, haben die meisten so gut wie alles getan, um es bei mir zu ersticken; so aber wollte es unser Herrgott für meine Entwicklung, und darum schickte er Sonnenstrahlen von außerhalb und ließ, was ich geschrieben hatte, sich seinen Weg bahnen.41

So Andersen über sich selbst. Und so nun über Schiller : »je enger es hinter den Mauern der Schule wurde, […] desto kräftiger klang es in der Brust des jungen Gesellen, und er sang es im Kreis der Kameraden, und der Klang tönte über die Landesgrenzen hinaus; aber dafür hatte er nicht Schule, Kleidung und Kost erhalten […] er musste aus dem Vaterland fort, von der Mutter, von allen seinen Lieben, oder in der Flut der Gewöhnlichen untergehen.« Nein, »zu den Gewöhnlichen« aber (eine Formel, die auch auf Andersens alter ego im Märchen 40 Andersen, Kirkeklokke. 41 Andersen, Mit Livs Eventyr, 175 f.

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Der Schatten gemünzt wiederkehrt) gehören beide gewiss nicht. Und so erleben sie beide als Lohn für alle Entbehrungen, dank der Überwindung ihrer Leidensgeschichte im Medium und mit den Mitteln der Kunst, einen Weltruhm, der – wie es in der Schiller-Geschichte heißt – weiter reicht, als ihr Fuß wandern kann. Wie Andersen als Held seines Lebensmärchens allein mit seinen Dichtungen überlebt, so sind in seiner Darstellung auch Schillers »ganzer Reichtum und Zukunftshoffnung […] nur die geschriebenen Blätter über den ›Fiesco‹«. Was also am Exempel des Marbachers statuiert wird, das variiert eine der Andersenschen Lebens-Maximen: »selbst muss das Herz erleiden und erproben, was es hinaussingen soll.« Zusammen mit dem Satz »das arme Kind war seines Landes Stolz geworden« bezeichnet es den Bauplan von Andersens eigenem Lebensmärchen. Schiller und Thorvaldsen: beide verkörpern in dieser Geschichte den Mythos vom Aufstieg des armen Jungen zum großen Künstler. Aber Andersen selbst ist, neben ihnen und zwischen den Zeilen, der (jedenfalls für den flüchtigen Blick) unsichtbare Dritte. Der kleine Thorvaldsen ist »ein ganz armer Junge, der in Holzschuhen gelaufen war« – und »Her løb jeg om med Træsko p” / Og gik i Fattigskole«, hat das Armeleutekind aus Odense über sich selbst gedichtet: »Hier lief in Holzschuh’n ich umher / Und ging zur Armenschule«.42 Aufgewachsen ist Thorvaldsen, dem Text zufolge, in einer idyllischen dänischen Landschaft, die Schillers Schwaben ähnelt – »auf einer der grünen Inseln, wo die Buche wächst und wo es viele Hünengräber gibt«. Mit fast genau denselben Worten aber hatte Andersen 1850 in seiner mittlerweile weitberühmten Hymne das »Dänemark, mein Vaterland« (Hervorh. H.D.) geschildert: »Wo mächt’ge Grabeshöhen / Inmitten kleiner Bauerngärten stehen […], im Buchen-Vaterland […] Ihr Inseln, meines Herzens Heim hienieden«.43 Andersen zeichnet also, im Vexierbild dieser Erzählung, gleich doppelt sein verklärtes Selbstporträt: in der Rolle Schillers und in derjenigen Thorvaldsens, als Nachfolger des Porträtierten und dessen Porträtisten – wie jene Maler, die aus einem Winkel des großen Bildes heraus den Betrachter anblicken. Den unauffälligsten und subtilsten Hinweis darauf, dass Andersen hier Schiller nach seinem eigenen Bilde gestaltet – oder : sein eigenes Leben und Werk in diesem Bild als imitatio des Kunstmessias stilisiert –, gibt eine winzige Unkorrektheit im Zitat. Von dem armen Knaben nämlich heißt es im dänischen Text signifikanterweise nicht: »er, der später das schönste ›Lied von der Glocke‹ singen sollte«, sondern: »er, der später das schönste Lied über ›Die Glocke‹ singen sollte«. Ein Lied dieses Titels aber hatte nicht Schiller gesungen, sondern Andersen selber, in seiner konsequentesten Formulierung einer post-romanti42 An deren einstigem Gebäude sind diese Verse heute auf einer Gedenktafel zu lesen. 43 Andersen, Landschaft mit Poet, 65, 67.

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schen Kunstreligion im Jahr 1845 – und schon hier war das Wort »Lied« nur noch als Metapher zu verstehen für eine Prosa-Erzählung, die das romantische Kunstmärchen als Spielform des Mythos inszeniert. Ein abschließender Blick auf dieses erste der beiden Andersenschen Glocken-Märchen soll zeigen, warum und mit welchen Folgen er es in der Transformation des Schillerschen Liedes von der Glocke noch einmal anklingen lässt. Klokken, Die Glocke, erschien im Mai 1845. Der Text ist bestimmt von jenem schlichten, nur gegen Ende rhetorisch gesteigerten Erzählton, der für Andersen – der seine literarische Laufbahn doch als erfolgreicher Lyriker in der Nachfolge Heines begonnen hatte44 – mit dem Märchen deshalb untrennbar verbunden war, weil nur die an der alltäglichen Umgangssprache orientierte Prosaform der angestrebten Volkstümlichkeit entsprechen, weil nur sie – im Gegensatz zur manchmal übermütigen Artistik der Andersenschen Verse – die Künstlichkeit des Kunstwerks vergessen machen konnte. Und um eben diese Volkstümlichkeit, die Arme und Reiche, Gebildete und Ungebildete im Geist romantischer Naturphilosophie zusammenführen sollte, geht es in Andersens prosaischem Lied von der »Glocke«. Der Text erzählt von zwei sehr unterschiedlichen Knaben, die beide zur gleichen Zeit einem geheimnisvollen Klang folgen, der eines Abends »in den engen Straßen der großen Stadt« zu hören ist. Es ist ein »seltsamer Ton, so ähnlich wie der Klang einer Kirchenglocke, aber er war nur einen Augenblick zu hören, denn es war ein solches Wagengeratter und solch ein Geschrei, und das stört.«45 Draußen vor der Stadt aber, in der freien Natur, hört man »den Klang der Glocke viel lauter ; es war, als käme der Ton aus einer Kirche tief drinnen in dem stillen, duftenden Wald«. Doch so weit die Neugierigen, ja schließlich sogar die kaiserlichen Späher ausschweifen – niemand vermag den Ursprungsort des geheimnisvollen Tons zu finden. Am weitesten gehen jene zwei Knaben, unabhängig voneinander und jeder für sich allein: »ein Königssohn« der eine, der andere »ein Junge in Holzschuhen und mit einem Wams, so kurz, dass man richtig sehen konnte, was für lange Handgelenke er hatte.« Sie kennen einander von zuhause, und nun begegnen sie sich in der weiten Natur, in die sie auf getrennten Wegen aufgebrochen sind, um die Quelle des Klanges zu suchen. Erst gewissermaßen am Ende der Welt, dort nämlich, wo die Sonne im unendlich weiten Meer versinkt und darüber der bestirnte Himmel sichtbar wird, treffen sie sich wieder.

44 Vgl. Texte und Nachwort in dem von mir herausgegebenen Auswahlband Andersen, Landschaft mit Poet. 45 Der Text wird im Folgenden vom Vf. ohne besondere Seitenangaben übersetzt nach der kritischen Ausgabe: Andersen, Klokken.

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Heinrich Detering

Das Meer […] dehnte sich vor ihm aus, und die Sonne stand wie ein schimmernder Altar dort draußen, wo Meer und Himmel sich begegnen, alles verschmolz in glühenden Farben, der Wald sang, und das Meer sang, und sein Herz sang mit; die ganze Natur war eine große heilige Kirche, in der Bäume und segelnde Wolken die Pfeiler waren, Blumen und Gras die gewebte Samtdecke und der Himmel selbst die große Kuppel […] und sie liefen aufeinander zu und hielten sich bei den Händen in der großen Kirche der Natur und der Poesie, und über ihnen tönte die unsichtbare, heilige Glocke, die selige Geister umschwebten, im Tanz zu einem jubelnden Halleluja.

Wie das Grundmotiv der Glocke, so hat Andersen auch dasjenige von der »Kirche der Natur« unterm Sternenhimmel von Schiller bezogen. »Werden wir Gott in keinem Tempel mehr dienen, so ziehet die Nacht mit begeisternden Schauern auf, der wechselnde Mond predigt uns Buße, und eine andächtige Kirche von Sternen betet mit uns.« In Kabale und Liebe ist das zu lesen; in der 4. Szene des 3. Aktes sagt es Ferdinand zu Luise.46 Dieses Bild hat schon der junge Andersen in einem Schulaufsatz folgendermaßen kommentiert: »Der Abend ergießt sich über die ganze Natur, die mir wie eine heilige Kirche erscheint, der Himmel ist ihr Gewölbe, und klar leuchten seine ewigen Lichter herab auf mich. Welch heiliges Schweigen! edle und hohe Gefühle werden in meiner Brust erweckt, nun da das geschäftige Leben des Tages ruht […].«47 Aus dieser Passage bezieht Andersens das Schlussbild des Märchens von der Glocke. Proklamierte Klokken noch einmal die romantisch verstandene Einheit von »Kirche«, »Natur« und »Poesie«, so formuliert Den gamle Kirkeklokke einen darauf bezogenen post-romantischen, in bildungsbürgerliche Kunstverehrung transformierten Künstlerkult. Standen dort der arme Junge und der Königssohn gemeinsam »in der großen Kirche der Natur und der Poesie«, so blickt hier die Kunst nur noch auf sich selbst: Andersen auf Thorvaldsen und Thorvaldsen auf Schiller. Umgekehrt ergibt sich aus dieser Selbstreflexion eine gestaffelte imitatio, die den Schreiber des Textes in die erzählte Geschichte einbezieht: von Schiller zu Thorvaldsen, von Thorvaldsen zu Andersen selbst. Im Tagebuch vom 15. Januar 1846 notiert Andersen in Weimar : »ich las 3 Märchen vor, von denen ›Die Glocke‹ die größte Wirkung machte, der Fürst darin, sagte ich zu ihm [Carl Alexander], sei eine Anspielung auf ihn. ›Ja, ich will dem edelsten und besten Ziele nachstreben‹, sagte er und drückte meine Hand. Wir saßen zusammen bei Tisch, und er brachte einen Toast auf mich aus […].«48 Kann es da ein Zufall sein, dass Vilhelm Pedersens zeitgenössische Illustration den armen Jungen und den Königssohn so darstellt, dass man beinahe ein bekanntes Weimarer Denkmal wiederzuerkennen glaubt? Nur dass es hier keine 46 Schiller, Kabale und Liebe, 808. 47 Andersens Aufsatz ist überschrieben: Betragtninger i en stjerneklar Nat (Betrachtungen in einer sternklaren Nacht), nachzulesen bei Høeg (1934), 92 ff. 48 Andersen, Dagbøger, III, 46.

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Dichterfreundschaft ist, die verklärt wird, sondern die Verbindung des Dichters mit dem kunstliebenden Fürsten. In der Schiller-Geschichte, die Andersen 1860 aus dem lyrischen Lied von der Glocke und aus dem prosaischen Märchen von der Glocke herausspinnt, kommen alle Fäden zusammen. Hier hat sich der arme Junge, der einmal sein Freund war, unauffällig mit Schiller identifiziert – der dänische Dichter, der »das schönste Lied von ›Der Glocke‹« gesungen hatte, mit dem Deutschen, von dem das schönste »Lied von der Glocke« stammt. Der Weimarer Prinz, den er schon damals vor Augen gehabt hatte, ist nun selbst einer der Leser, an die der Märchendichter seine Dichtung adressiert. Ihm und allen, die es wahrzunehmen vermögen, zeigt Andersen in Schillers Bild die Geschichte seines eigenen Lebens, Leidens und Triumphierens als die post-romantische Variante einer kunstreligiösen Künstlerlegende – in einer märchenschlichten Prosa, in der die Schillersche Gedankenlyrik nur noch als blasser, ferner Schatten erkennbar wird.

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Margherita Cottone

Der Begriff der »poetischen Prosa« in Thomas Manns literarästhetischer Essayistik

1.

Essay als Kunstprosa

Das essayistische Werk von Thomas Mann besteht bekanntlich aus zahlreichen Schriften verschiedener Art,1 die die starke »Neigung« des Schriftstellers zu einer literarischen Form verraten, in der sich laut Müller-Funk die »moderne Selbst- und Welterfahrung« thematisiert.2 Obwohl Mann bekennt, es wäre »viel klüger«, bei der »Musik« als »bei Schriftstellerei zu bleiben«,3 und sich noch 1910 als »kein[en] Essayist«4 bezeichnet, ist seine ununterbrochene Beschäftigung mit nichtfiktionalen Texten umfangreich, egal, ob es sich dabei um eine kurze Rezension oder einen großen Essay, einen offenen Brief oder eine Rede handelt, d. h. um all jene kritischen »Seitensprünge«, die er selber im Lebensabriss von 1930 als »prosaische Ableger« des erzählenden Werks bezeichnet: Ich werde meine dichterische Arbeit, soviel ›dankbarer‹ sie sei, wohl niemals vor argen Unterbrechungen und Verzögerungen durch eine essayistische, ja polemische Neigung schützen können, die weit zurückreicht, die offenbar ein unveräußerliches Ingrediens meines Wesens bildet und bei deren Erfüllung ich des Goethe’schen Selbstgefühls, ›recht zum Schriftsteller geboren zu sein‹, vielleicht erregender teilhaft werde als beim Fabulieren.5

Der Unterschied zwischen »Schriftstellerei« und »Fabulieren« (oder »Musizieren«) bleibt eine Konstante in Manns Poetik, auch wenn er, wie im Folgenden untersucht wird, eine theoretische und ästhetische Synthese finden wird, die den Stil und die Struktur seiner essayistischen Schriften betrifft. Die Beziehung seiner fiktionalen Prosa zu seiner nicht-fiktionalen, insbesondere zu seinen 1 Vgl. Detering, »Nachwort und Dank«, in: Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.1, 584. Über Thomas Manns Terminologie für seine kritischen Schriften vgl. Eder (1993), 59 f. 2 Müller-Funk (1995), 39. 3 Mann, Mitteilung an die literaturhistorische Gesellschaft in Bonn, 169. 4 Mann, Männerstimmen über Frauen, 231. 5 Mann, Lebensabriss, 129.

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Margherita Cottone

literarischen Essays, die laut Hollweck »eigentlich Erzählungen«6 sind, beweist die fließenden Grenzen beider Gattungen im 20. Jahrhundert, in dem Essayismus und Roman7 zum Ort der poetologischen Selbstreflexion werden.8 Obwohl ein Teil der Forschung Manns essayistische Schriften im Vergleich zu den literarischen oft unterschätzt hat,9 wird heute deren Wert sowie die »produktive Ergänzung« oder auch die »gegenseitige Bedingtheit«10 zwischen Roman und Essay zunehmend erkannt, die eine »zweite oft künstliche Totalität und sehr oft hoch künstlerische Totalität«11 bilden. Als Kunstform, die sich laut Bense wegen ihrer schöpferischen Natur und ethischen »Tendenz« »zwischen Poesie und Prosa«12 bewegt, besitzt der Essay einige sich wiederholende stilistische Elemente, die seine ›dichterische‹ und zugleich ›intellektuelle‹ Prosa schon seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnen. Gerade der romantische Anspruch auf »Original-Poesie« dieser Gattung hat den »Unbestimmtheitscharakter«13 bzw. seine »Inkommensurabilität«14 zwischen den Bereichen Kunst und Wissenschaft, Literatur als Dichtung und Publizistik hervorgehoben.15 Haben Bezeichnungen wie »Mischform« oder »Mischgenre«, »unselbstständige, unreine Gattung«, »zwitterhaft von Wesen«, »Chamäleon unter den Kunstformen« usw. »den Essay als literarische Gattung« diskreditiert,16 so beweisen sie auch seine problematische Stellung als »Kunstform«.17 Die Unmöglichkeit, eine einstimmige Definition des Essays zu geben,18 hängt von dem »experimentellen Gestus« dieses Schreibens und von der »subjektiven Perspektivität als Mittel der Erkenntnissuche«19 ab, worauf schon Montaigne 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

18 19

Hollweck (1975), 16; vgl. auch dazu Reich-Ranicki (2005), 710. Vgl. Renner (2005), 632 – 635. Vgl. Nübel (2006). Vgl. Luk‚cs, Thomas Mann. Auf der Suche nach dem Bürger ; Just (1960), 1938; Weissenberger (1985), 119. Gisselbrecht (1978), 92. Exner (1964), 252. Vgl. auch Haas (1960), 70 – 79; Schärf (1999), 226; Keller (1977), 115 – 141. Bense, Über den Essay und seine Prosa, 417. Zum Thema Essay und Dichtung vgl. Haas (1960), 33 – 35. Vgl. Schlaffer (1997), 523. Weissenberger (1985), 112. Auf diese Zwischenstellung zwischen Kunst und Wissenschaft weist auch Adorno in seinem Essay hin (Der Essay als Form). Rohner (1966), 619. Vgl. Luk‚cs, Die Seele und die Formen, 39: »der Essay ist eine Kunstart, eine eigene Testlose Gestaltung eines eigenen, vollständigen Lebens. Jetzt erst klänge es nicht widerspruchsvoll, doppelsinnig und wie eine Verlegenheit, ihn ein Kunstwerk zu nennen und doch fortwährend das ihn von der Kunst Unterscheidende hervorzuheben: er steht dem Leben mit der gleichen Gebärde gegenüber wie das Kunstwerk, doch nur die Gebärde, die Souveränität dieser Stellungnahme kann die gleiche sein, sonst gibt es zwischen ihnen keine Berührung«. So Haas (1960), 621. Ebd.

Der Begriff der »poetischen Prosa«

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hingewiesen hatte. Deshalb kann Bense vom Essayisten als einem »unermüdliche(n) Erzeuger von Konfigurationen«20 sprechen: »Es handelt sich bei ihm um das Ergebnis einer literarischen Ars combinatoria […], in der an die Stelle der reinen Erkenntnis die Einbildungskraft getreten ist«.21 Damit, könnte man hinzufügen, baut der Essayist eine fiktionale Realität auf, welche er später wieder kritisch abbauen kann. Das Spiel mit Ideen, die er wieder neu zusammenstellt, kennzeichnet einen Schreib- und Gedankenprozess, der keinen Anspruch hat, Wahrheit mitzuteilen.22 Deshalb ist der Essay laut Adorno mit seiner offenen, fragmentarischen Form »die kritische Form par excellence«23 oder laut Bense »die Form der kritischen Kategorie unseres Geistes«.24 Und trotzdem: Gerade »die Unwahrheit, in die wissend der Essay sich verstrickt, ist das Element seiner Wahrheit«25, schreibt noch Adorno, der durch seine negative Dialektik eine Form plötzlicher »Naivität« aus dem Geist des »Sentimentalischen« herausblicken lässt. Dass Kritik26 das konstitutive Prinzip des Essays ist, hat auch Mann in seinen theoretischen Reflexionen betont. Inwiefern sich aber diese Form der Prosa bei ihm auch als »Kunst« durchsetzen könnte, d. h. aus einer »sentimentalischen« Kunstform Dichtung entstehen könnte, wird im Folgenden durch die Analyse einiger seiner literarästhetischen Essays zuerst theoretisch untersucht. Das Paradox, das sich schon in Schillers Essay Über naive und sentimentalische Dichtung findet,27 hat Mann übrigens in der Novelle Schwere Stunde in Bezug auf Schillers essayistische Schriften wiederaufgenommen: »Es war schwerer« – sagt Schiller in seinem dramatischen Vergleich mit Goethe – »einen Brief des Julius zu schreiben, als die beste Szene zu machen, und war es nicht darum auch fast schon das Höhere?«28

2.

Der Essay als »poetische Prosa« und seine Vorbilder Wie der Roman die moderne Form der Dichtung wat’ ]nowµu ist, so die Prosa die Sprache der modernen Dichtung. Sie ist der natürliche Ausdruck des Bewußtseins, die Poesie des Unbewußten. Wenn nun das Ideal der Zukunft Einswerden von Instinkt und

20 21 22 23 24 25 26 27 28

Bense, Über den Essay und seine Prosa, 422. Ebd., 417. Adorno, Der Essay als Form, 28. Ebd., 33. Bense, Über den Essay und seine Prosa, 420. Adorno, Der Essay als Form, 28. Über die Beziehungen zwischen Essay und Kritik vgl. auch Haas (1960), 56. Szondi (1972). Mann, Schwere Stunde, 377.

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Geist, Trieb und Absicht ist, so muß die Sprache der Zukunft Prosa-Poesie, das heißt eine poetische Prosa oder prosaische Poesie sein.29

Durch dieses Zitat aus Ricarda Huchs Blütezeit der Romantik betont Thomas Mann in seinem der Schriftstellerin gewidmeten Essay nicht nur die rationalistische Kunstauffassung der Frühromantiker,30 sondern auch den eigenen ästhetischen Versuch, eine Synthese zwischen Dichten und Schriftstellerei oder Kunst und Geist, Plastik und Kritik, naiv und sentimentalisch zu finden, so wie er sie im Laufe der Jahre theoretisch thematisierte und die Suche nach einer neuen »Klassizität« bestärkt hatte.31 Laut Kurzke bleiben bis Geist und Kunst Manns Versuche, eine Synthese zu finden, nur »bloße Behauptungen«, denn er »experimentiert mit allen theoretisch denkbaren Lösungen, mit solchen, die einseitig auf ›Literatur‹ setzen (Der Künstler und der Literat), solchen, die einseitig auf ›Kunst ist Leben‹ setzen (Gedanken im Kriege)«, die aber nur »in den Betrachtungen eines Unpolitischen die erste gründlichere Antwort«32 finden sollen. Aber das Problem einer Prosa, die auch »Dichtung« ist, so wie Mann die Prosa-Dichtung einiger Autoren wie Toni Schwabe33 oder Friedrich Huch34 einschätzte, betrifft nicht nur seine Stellung als Dichter oder Literat, sondern auch das »Schreiben an sich«, sei es ein Roman oder ein Essay. Gerade durch die Gestaltung jener Essays, die schon die Würde dieser Gattung besitzen, hat Mann meines Erachtens versucht, dem Problem sofort eine literarische Lösung zu geben: Ich meine damit Schriften wie Bilse und ich, Versuch über das Theater oder auch Der alte Fontane, in dem sich stilistische Elemente der Dichtung im kritischen Essay einfügen, wie im dritten Teil dieses Aufsatzes aufgezeigt werden soll. Es gilt allerdings zunächst hervorzuheben, was Mann mit »poetische[r] Prosa« in Bezug auf den Essay meinte. Dass ein Essay, sein eigener Essay, keine wissenschaftliche Arbeit ist, dessen ist Mann sich sehr bewusst. Darauf spielt er nämlich schon in einem Vorwort zu einer selbständigen Publikation von Bilse und ich an, wenn er schreibt: Die kleine Abhandlung ist allerdings zuvörderst ein sehr persönliches Dokument und hat als solches zu wirken. Ihr lyrischer Charakter unterscheidet sie von einer unpersönlich-wissenschaftlichen Betrachtung, und während ich sie, erregt durch Gott weiß

29 Mann, Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs, 774. 30 Bezeichnet werden die Frühromantiker als Kämpfer gegen »die populäre Fehlidee, als ob Kunst und Dichtung, romantische Dichtung wenigstens, deutsche Kunst, lauter Traum, Einfalt, Gefühl oder, noch besser, ›Gemüt‹ seien und mit ›Intellekt‹ den Teufel etwas zu schaffen hätten«; ebd., 773. 31 Für eine eingehende Untersuchung dieser Problematik vgl. Di Maio (2008). 32 Kurzke (1991), 91. 33 Mann, Das Ewig-Weibliche, 55. 34 Mann, Friedrich Huch, 379.

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welche Erfahrungen, verfaßte, rechnete ich weit weniger auf die generelle Unangreifbarkeit ihrer Logik als auf spezielle Anständigkeit der Gesinnung.35

Schon in Geist und Kunst wird dieser »lyrische« Aspekt der Kritik evoziert, wenn Mann schreibt: »Aber der Kritiker hoher Art ist Lyriker und Bekenner«.36 Dass der Kritiker auch ein Schauspieler ist, der mit den Rollen spielt, ein »Verwandlungskünstler«, der »jeden Tag« eine neue Persönlichkeit ist, hat Mann in seiner früheren Schrift Kritik und Schaffen37 erklärt. Dieser Begriff des künstlerischen Charakters des Kritikers wird in den Notizen aus Geist und Kunst neu formuliert, denn Mann erkennt an, dass die Kritik, die »auch Bekenntnis« ist, eine höhere Form von Kritik ist: »Kritik, die nicht auch Bekenntnis ist, ist wertlos. Alle eigentlich tiefe und leidenschaftliche Kritik ist Dichtung im Sinne Ibsens: Gerichtstag über sich selbst«.38 So wie die Betrachtung seiner selbst im Zentrum von Montaignes Essais steht,39 betont Mann hiermit die subjektive, selbstreferentielle Natur der Kritik, indem Biographie und Reflexion40 oft eng verknüpft sind. Über die subjektive und private Natur der Kunst hatte er übrigens in Bilse und ich gesprochen: »Nicht von euch ist die Rede, gar niemals, seid des nun getröstet, sondern von mir, von mir…«41 In diesem Sinn entspringt auch seine Essayistik – wie die Kunst – »aus dem lebenslang virulenten Bedürfnis nach der Modellierung des eigenen Bildes«.42 Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind bestimmt der erste umfangreiche Essay, an welchem Mann, auch wenn er für den Künstler gegen den Zivilisationsliteraten Partei ergreift, erfährt, ein »Schriftsteller« zu sein. In der Vorrede denkt er nämlich über die zweideutige Natur seines Buches nach, denn er behauptet, er habe »kein Buch«, »kein Kunstwerk«43, aber auch keinen organischen Essay geschrieben: »Es ist ein Mittelding zwischen Werk und Erguß, Komposition und Schreiberei«, das doch »allzusehr Künstlerwerk«44 ist. Diese Oszillation zwischen den zwei Sphären ist das Ergebnis einer ironischen Haltung, die nicht nur sein Erzählwerk, sondern auch seine Essayistik kennzeichnet,45 eine »Prosakunst«, in der das Nietzschesche »tief erkennen« und »schön gestalten«46 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Mann, Vorwort [zur vierten Auflage der Buchausgabe von Bilse und Ich], 289. Mann, Geist und Kunst, hier : Nr. 11, 171. Mann, Kritik und Schaffen, 47 – 50. Mann, Notizen [II], 212. Montaigne schreibt in dem Vorwort zu seinen Essais: »Ainsi, lecteur, je suis moi-mesmes la matiere de mon livre«. Über Thomas Mann und Montaigne vgl. Eder (1993), 27 – 37. Vgl. Renner (2005); Keller (1977), 120 f. Mann, Bilse und ich, 110. Schärf (1999), 228. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 10. Ebd. Vgl. Les´niak (2004a), 303 f. Mann, Bilse und ich, 106; ein Zitat aus Mann, Gabriele Reuter, 65.

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als Begriffe des Schreibprozesses Manns erscheinen. Wenn er sich nämlich am Anfang seiner literarischen Karriere mit der Figur des Dichters identifiziert, der mit dem »Schreiben« nichts zu tun hatte,47 wird er sich der kritischen Dimension der Kunst immer bewusster. In der Nachfolge Nietzsches formuliert er schon 1905 die These, das Kritische sei mit dem modernen Künstler zu identifizieren: »Es gibt keinen wahren Künstler – heute gewiß nicht! –, der nicht zuletzt auch ein Kritiker wäre, und kein wahrhaft kritisches Talent ist denkbar ohne die Feinheiten und Kräfte der Seele, welche den Künstler machen«.48 Die Notwendigkeit, die Antithese von »Dichtertum und Schriftstellertum«, Künstler und Literat zu überwinden, die Mann schon in der geplanten »große[n] Abhandlung über Geist und Kunst«49 behandelt, aber laut Kurzke nicht löst,50 wurde in verschiedenen kritischen Schriften vor und nach dem Krieg erklärt.51 Wie Pütz schon in Bezug auf Manns Kunst bemerkt hat, ist »das Verhältnis des scheinbar Entgegengesetzten […] ungemein komplizierter«. Es handelt sich nämlich um eine »fruchtbare Polarität, in der das eine auf das andere notwendig bezogen bleibt«.52 So verweist Mann in Bilse und ich, wo er seine Poetik der subjektiven »Beseelung« der Wirklichkeit darlegt, auf »eine Schule von Geistern – der deutsche Erkenntnis-Lyriker Friedrich Nietzsche hat sie geschaffen –, in welcher man sich gewöhnt hat, den Begriff des Künstlers mit dem des Erkennenden zusammenfließen zu lassen«. »In dieser Schule«, fährt er fort, »ist die Grenze zwischen Kunst und Kritik viel unbestimmter, als sie ehemals war. Es finden sich in ihr Kritiker von durchaus dichterischem Temperament und Dichter von einer vollkommen kritischen Zucht des Geistes und des Stiles«.53 Wenn in diesem Essay einerseits das kritische Prinzip der Kunst, die »Beobachtung als Leidenschaft«54 hervorgehoben wird, wird auch andererseits ein »dichterischer Kritizismus«55 evoziert, den Mann später als das wichtigste Element einiger be47 48 49 50 51

52 53 54 55

Vgl. Mann, Erkenne dich selbst, 33. Mann, Über die Kritik, 87. Vgl. Mann, Der Literat, 354. Vgl. Kurzke (1991), 88 f. Der Begriff erscheint oft auch als Selbstzitat in anderen Schriften: Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland (227), Rede über Lessing (232), Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ (966) oder Goethe’s Laufbahn als Schriftsteller, in dem es heißt: »es ist, meine Damen und Herren, eine recht unfruchtbare kritische Manie, zwischen Dichtertum und Schriftstellertum lehrhaft zu unterscheiden – unfruchtbar und selbst undurchführbar, weil die Grenze zwischen beiden nicht außen, zwischen den Erscheinungen, sondern im Innern der Persönlichkeit selbst verläuft und auch hier noch bis zur Unbestimmbarkeit fließend ist.« (334) Laut Nündel sind »Dichter und Schrifsteller« im Laufe der Zeit »zwei verschiedene Namen für die gleiche Verfassung«: Nündel (1972), 54. Pütz (1963), 50. Mann, Bilse und ich, 105 f. Ebd., 106. Ebd.

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rühmter Essayisten erkennen wird: Von den Romantikern über Nietzsche bis zu den modernen Autoren wie Bertram, Keyserling, Gundolf, Spengler56 und vor allem Mereschkowskij, der »Kritik« den »Übergang vom unbewussten Schaffen zum schöpferischen Bewusstsein«57 nennt, ein von Mann oft zitierter Begriff, um die eigene Idee von »dichterischem Kritizismus« darzustellen. Dieser kehrt auch in anderen Schriften wieder, wie in Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland, in der sich Mann, nachdem er jeden Schreibprozess als eine »Verwandlung« »in Licht und Flamme« bezeichnete, fragt: »Gibt es nicht schriftstellerisches Dichtertum und dichterische Kritik?«58 Die Antwort ist theoretisch bekannt: »Das dritte Reich«, d. h. die utopische (wenn auch konservative) Idee einer zukünftigen Vereinigung jeder Antithese als Vorbild eines neuen Humanismus, so wie sie Mann in zahlreichen Schriften von Zu Fiorenza (1912) bis Deutsche Hörer (1941) dargestellt hat.59 »Von jeher«, schreibt Mann in Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, »war große Kunst die Künderin des dritten Reiches; Kunst ist das Vorbild der Menschheit; und der Dichter, im Bunde gleichermaßen mit beiden Mächten, Natur und Geist, ist wohl der Menschheit Meister zu nennen«.60 Wird Schillers Essay Über naive und sentimentalische Dichtung (laut Mann der »klassische[] und umfassende[] Essay[] der Deutschen, welcher eigentlich alle übrigen in sich enthält und überflüssig macht«61) als Vorbild dieser Synthese oder »scheinbaren Antithese« erkannt, so stellt auch Lessings Prosa ein glänzendes Beispiel dafür dar. Denn dieser ist ein »Schriftsteller«, der auch »ein Künstler« ist,62 wie Mann in Zu Lessings Gedächtnis (1929) schreibt; in seiner Rede über Lessing (ebenfalls 1929) wird der Autor des Laokoon, der Hamburgischen Dramaturgie und der theologischen Streitschriften als »der mythische Typus«, »der Klassiker des dichterischen Verstandes, der Erzvater alles klugen und wachen Dichtertums«63 dargestellt. Obwohl »Lessings klassische Individualität« laut Mann beweist, dass »impulshaftes und getriebenes Schriftstellertum« und »verstandeshelles und durchaus gefaßtes Dichtertum […] als persönliches Ineinander« vorkommen,64 56 Vgl. Mann, Briefe aus Deutschland [1], 568. 57 Mann, [Ein Brief von Thomas Mann] [Über Mereschkowskij], 496. Das Zitat kehrt auch wieder in: Mann, Russische Anthologie, 341; Mann, Die Kunst des Romans, 359; Mann, ›Anna Karenina‹, 625. 58 Mann, Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland, 228. 59 Vgl. Kommentar in: Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15.2: Essays II.1914 – 1926, 476. 60 Mann, Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, 977. 61 Mann, Goethe und Tolstoi, 61. Siehe auch Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, 968. 62 Mann, Zu Lessings Gedächtnis, 255. 63 Mann, Rede über Lessing, 232. 64 Ebd.

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wird im Essay die intellektuelle, kritische Seite von Lessings Dichtertum akzentuiert, das das natürliche Ergebnis der Sprache ist. Die Sprache und der Stil seiner Prosa sind nämlich die Mittel, die diese Synthese möglich machen: »eine Kunst, deren Mittel die Sprache ist, wird immer ein in hohem Grade kritisches Schöpfertum zeitigen, denn Sprache selbst ist Kritik des Lebens: sie nennt, sie trifft, sie bezeichnet und richtet, indem sie lebendig macht«.65 Lessings Sprache ist aber »freilich nicht, nicht dichterisch im orphisch geheimnisträchtigen oder schwunghaft hochherzigen Sinn«.66 Sie ist »gebildet, treffend und klug« und trotzdem »lebendig« dank der »Gabe der Mundgerechtheit und eines Sprechakzents, der sie diskursiv und dramatisch macht«.67 Das sind stilistische Begriffe, die sich im Lauf des Essays mit immer neuen antithetischen Formulierungen bereichern. »Musisch[e] Nüchternheit«, »reizend[e] Intelligenz«, »herzlich[e] Verständigkeit« sind die Qualitäten von Lessings Prosa, die Mann ohne Zweifel als ein »Dichterwerk« bezeichnet. Ebenfalls werden »graphisch[e] Andacht zum Kleinen«, »lyrische[r] Subjektivismus«68, »polemische Irritabilität«69 und »Skepsis als Leidenschaft« als »Merkmal reinsten Dichtertums«70 erkannt. Auch Lessings berühmte theologische Streitschrift gegen Pastor Goeze wird dank diesen Charakteristiken als »seine schönste Dichtung«71 genannt. Dass hinter dem »mythischen Typus« Lessing »Thomas Mann selbst deutlich zu erkennen«72 ist, ist von der Forschung schon unterstrichen worden. Die meisten dieser Definitionen finden sich nämlich schon in Manns Betrachtungen, wo er seine »Galeeren«-Arbeit als Frucht eigener »Irritabilität«, »Polemik«, »kritischer Erkenntnis«73 erkennt. In diesem Werk aber wird Nietzsches Prosa, die schon in Bilse und ich als Beispiel eines »dichterischen Kritizismus« erwähnt wurde, dank ihrer »Sensitivität, Kunstleichtigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität, Akzentuiertheit und Leidenschaft«74 gelobt und als unverzichtbar für die deutsche Kritikprosa angesehen. Musikalität wird vor allem als stilistischer Begriff einer »poetischen Prosa« erkannt.75 Deshalb wird Wagner »nicht als Musiker, nicht als Dramatiker, auch 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Ebd., 233. Ebd., 237. Ebd. Ebd., 236. Ebd., 239. Ebd., 236. Ebd., 241. Kommentar zu Rede über Lessing, in: Mann, Essays, 413. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 10 f. Ebd., 88. Michael Mann hat bei Mann zwischen dem »Musikalischen« als »der rein äußerlichen Annäherung der Dichtung an die Tonkunst durch die künstlerische Wirkung klanglicher Mittel« und »dem zeitlich gebundenen Begriff des ›Musikalischen‹ als geistigem Bezirk« unterschieden; M. Mann (1977), 12.

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nicht als ›Musikdramatiker‹ […], sondern als Künstler überhaupt, als der moderne Künstler par excellence, […] und im Besonderen als der große musikalisch-epische Prosaiker und Symboliker, der er ist«76 definiert. Über die Beziehung zwischen den Wagnerschen und der eigenen künstlerischen Technik hat Mann sich auch im Aufsatz Über die Kunst Richard Wagners (1922) ausgelassen, in dem er die Bedeutung von Leitmotiven und Selbstzitaten hervorhebt.77 Am Ende der Vorrede zu den Betrachtungen eines Unpolitischen wird sich Mann gerade über die musikalische Struktur78 des eigenen Werkes äußern: Mit dem, was ich da sagte, habe ich die Motive der folgenden Betrachtungen wie in einem musikalischen Vorspiel zusammengefaßt. Ich sagte zugleich, was sie sind. Sie sind das umständliche Erzeugnis einer Problematik, die Darstellung eines innerpersönlichen Zwiespaltes und Widerstreites. Daß sie es sind, das macht dies Buch, welches kein Buch und kein Kunstwerk ist, beinahe zu etwas anderem: beinahe zu einer Dichtung.79 (Hervorh. M. C.)

Für Mann gelten Musik, »Musizieren« als Metapher der Kunst im Gegensatz zum Schriftstellertum. Nach Nietzsche ist laut Mann dieses Element konstitutiv für die Kritik und deshalb wird dessen Prosa in Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs als »intellektuelle Musik«80 bezeichnet. Durch diese Synthese, die den Gegensatz zwischen Musik (»das Unbewusste«) und Poesie (»das Bewusste«) auflöst, werden Manns kritische Versuche, in einer »poetischen Prosa« zu schreiben oder »dichterischen Kritizismus« zu praktizieren, theoretisch weitergeführt. Aus diesem Blickwinkel heraus schätzt Mann auch die Prosa von Spengler. Obwohl Mann im Laufe der Zeit ein ablehnendes Urteil über dessen berühmten Essay Untergang des Abendlandes ausdrücken wird, zählt er Spenglers Werk zu jenem Buchtypus, in dem »die Grenzen von Wissenschaft und Kunst verwischt«81 sind und den er deshalb »intellektualen Roman«82 nennt. Die Anspielung auf Spenglers »musikalische Kompositionsart«, die an Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung83 erinnert, bestätigt die Wichtigkeit des »Musi76 Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 79. 77 Der zuerst in Rede und Antwort erschienene Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung der Auseinandersetzung mit Wagner (1911). Vgl. Kommentar in Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.2, 424 – 429, und Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10, 840. Vgl. auch die Einführung in den ›Zauberberg‹, 610, und Mann, Leiden und Größe Richard Wagners. 78 Dazu vgl. Kurzke (2005), 684 – 687. 79 Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 40 f. 80 Mann, Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs, 774. 81 Mann, Briefe aus Deutschland, 568. 82 Ebd.; über den »intellektualen Roman« bei Thomas Mann vgl. Koopmann (1980). 83 Mann, Von deutscher Republik, 546 f. Schopenhauers Werk ist laut Mann »ein Geistesroman«, eine »wunderbare gefügte, aus einem überall gegenwärtigen Gedankenkern entwickelte Ideensymphonie«; Mann, Schopenhauer, 528 – 530.

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kalischen« in Thomas Manns Auffassung der poetischen Prosa.84 Das wird den Rhythmus seiner Prosa, aber vor allem die Struktur seiner Essays kennzeichnen: Ein Werk mit einer musikalischen Struktur wird »beinahe zu etwas anderem: beinahe zu einer Dichtung«, hatte er übrigens schon in den Betrachtungen geschrieben. Musikalisch im Sinne Wagners ist bestimmt Manns fiktionales Werk, wie er selber oft behauptete, um seine eigene Kompositionsart zu erklären, wobei er die Technik »des Leitmotives« so »ausgebildet und verinnerlicht« hat, dass sie »als eine symbolische und stilbildende Macht in [seine] Produktion hineinwirkte«.85

3.

Stilistische Merkmale Manns poetischer Prosa: ein Interpretationsversuch

Beeinflusst von den Lektüren berühmter Essayisten aller Zeiten (von Montaigne über Sainte-Beuve, Taine bis Bahr, Brandes, Bourget, aber vor allem Nietzsche)86 hat Thomas Mann in seinen Essays Stile und Formen benutzt, die den Essayismus seit jeher kennzeichnen: von der Fragment-Sammlung über die fingierten Tagebücher bis zu den literarischen Porträts.87 In diesem Sinn sind sie eigentlich in der Tradition Michel de Montaignes »tastende Versuche«88, in denen sich Subjektivität und Induktivität verbinden und die »antisystematische« oder »methodisch unmethodische«89 Grundhaltung zum strukturierenden Prinzip des Schreibprozesses wird. Die Forschung ist sich aber darüber nicht einig: Entgeht laut Just Manns Kritik »nicht immer der Gefahr, ins bürgerlich Vernünftelnde abzugleiten«90, so beurteilt Weissenberger Manns Essayismus als »restaurativ« wegen seines »verbundene[n] Rückgriff[s] auf klassizistische Ordnungsprinzipien«.91 Deshalb wird »Definitorisch« sein Stil bezeichnet, ohne die Komplexität dessen Prosa und Werkstruktur zu vertiefen, wie es hingegen als erster Exner92 und später Les´niak93 getan haben. Hervorgehoben wird der un84 Auch in Bertrams Nietzsche wird Mann die »Mischung aus Philologie und Musik im Grundwesen des Buches« loben, vgl. Manns Brief an Bertram, 21.XI.18, in Mann, Briefe I, 151. 85 In Mitteilung an die literaturhistorische Gesellschaft in Bonn (1907) erwähnt Mann hiermit die Urteile zweier Kritiker : Alexander Pache und Oskar Bie, 171 f. 86 Vgl. Eder (1993), 106 – 177. 87 Vgl. M. Mann (1977), 8. 88 Montaigne, Essais, III, 11, vgl. Haas (1960), 12. 89 Adorno, Der Essay als Form, 29. 90 Just (1960), 1938. 91 Weissenberger (1985), 119. 92 Exner (1962a) und Exner (1962b). 93 Les´niak (2004b).

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terschiedliche Stilcharakter von Manns Definitionsformen, die Les´niak als »fragend«, »lyrisch« und »aufzählend« klassifiziert, um auf der einen Seite Manns ironische »Poetisierung des Intellekts«94 und auf der anderen Seite seine »Akzentuierung der Begriffe«95 zu betonen. Die polemisch-ironische Haltung, die »rhetorische Kapazität«96, mit Begriffen zu spielen, »kontrastierende, dadurch decouvrierende Parallelisierungen«97 zu benutzen, die schon in Heinrich Heine, der ›Gute‹ und anderen kleinen Schriften erscheinen, bleiben Konstituenten des Mannschen kritisch-essayistischen Stiles, so wie auch der »subjektive Zugang«98 und der Rückgriff auf versteckte und offene Zitate, Selbstzitate und Paraphrasen, die in fiktiven wie in nichtfiktiven Werken gleichermaßen konstitutiv sind.99 Es sind gerade die Zitate und die Technik der Leitmotive, auf die man sich beziehen muss, um die musikalische Struktur seiner Essays zu untersuchen, denn, wie Mann in der Vorrede zu den Betrachtungen schreibt, »das unendliche Zitieren und Anrufen starker Eideshelfer […] wurde als eine Kunst empfunden, ähnlich derjenigen, den Dialog in Erzählung zu spannen, und mit ähnlich rhythmischer Wirkung zu üben gesucht«.100 Hat das Zitat in diesem Fall die Funktion eines musikalischen Themas, wodurch der Schriftsteller-Dirigent wie in einem fiktionalen Werk »Menschen und Dinge« »reden ›läßt‹, auch da noch, wo er unmittelbar selber zu reden scheint und meint«101, so wird es zunehmend zum Konstruktionsprinzip eines Autors, der sich zu den »sentimentalen« Dichtern zählt, d. h. eines Autors, dessen Schreiben immer mühevolle Auseinandersetzung mit dem Stoff ist, so wie es in Schwere Stunde dargestellt und viel später in Doktor Faustus seinen tragischen Ausdruck finden wird. In diesem Roman treibt Mann die Montage-Technik auf die Spitze, um die Krise des modernen Romans und der deutschen Geschichte zu denunzieren.102 In dieser frühen Phase geht es mehr um einen Prozess der subjektiven »Aneignung« der Wirklichkeit durch Zitate und Nacherzählungen, hinter denen der Kritiker »verschwinden«103 muss, als um eine bewusste »Art von höherem Abschrei-

94 95 96 97 98 99 100 101 102 103

Ebd., 681. Ebd., 682. Eder (1993), 96. Ebd. Ebd., 101. Vgl. Kurzke (1991), 282. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 11. Ebd. Vgl. Bergsten (1974). Kritik und Schaffen, 47 – 50.

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ben«104, eine »Vergeistigung des mechanisch Angeeigneten«105, wie Mann selber während der Abfassung des Doktor Faustus in einem Brief an Adorno erklärte. Die dialektische Bewegung zwischen der Objektivität des zitierten Materials und der Subjektivität ihrer Integration zu einer künstlerischen Einheit findet sich auch in einem der früheren Essays Thomas Manns: Bilse und ich, den wir versuchen werden, als Vorbild Manns »poetischer Prosa« oder »dichterischen Kritizismus« zu analysieren. Der Essay besteht aus zwei Teilen, die wie die Themen einer Sonate wirken: die ironische Darstellung der öffentlichen Polemik über seinen Roman Buddenbrooks, der als ein Bilse-Roman, d. h. ein plumper Schlüsselroman verurteilt wurde, und die ästhetische Reflexion über Kunst (vor allem die eigene) als »subjektive Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit«. Mitten im Titel steht das »süße Wörtlein ›Und‹«106, wie Mann in einem kurzen Abschnitt zwischen den zwei Teilen schreibt, eine Konjunktion, die in zahlreichen Essays Manns wiederkehrt (Geist und Kunst, Goethe und Tolstoi, Kritik und Schaffen) und deren antithetische wie synthetische Qualitäten von ihm oft kommentiert wurden. So wird in Goethe und Tolstoi auch Schillers Begriffspaar »naiv und sentimentalisch« als Beispiel einer scheinbaren Antithese zitiert, weil die Kopula als Zeichen von »Wesensverwandtschaft«107 erkannt wird. Zwischen Bilse und Mann gibt es bestimmt keine »Wesensverwandtschaft«, trotzdem spielt Mann mit dem »süße[n] Wörtlein«, das er aus Wagners Tristan108 als symbolisches Wort eines »Liebe Bund(es)« zitiert. Das Spiel mit offenen und versteckten Zitaten kennzeichnet eine Schrift, die, wie bereits bemerkt wurde, wegen ihres »lyrische[en] Charakter[s]« keinen Anspruch hat, eine wissenschaftliche Behandlung zu sein. Deshalb wird »die generelle Unangreifbarkeit ihrer Logik«109 betont, die auch die offene Form des Essays bestätigt. Die im ersten Teil des Essays zu findenden und versteckten Anspielungen auf Goethes Prometheus (»Blütentraum«), auf Shakespeares Hamlet (»Bilsenkraut«), auf von Fallerslebens Lied der Deutschen (»von der Maas an die Memel«), und auf Heines Lorelei (»es will mir nicht aus dem Sinn«) scheinen musikalische Vorwegnahmen von Themen und Autoren, die im zweiten Teil als »Eideshelfer« wiederkehren, um Manns Kunstbegriff zu bestätigen. So werden Goethe, Shakespeare, Wagner und andere Autoren wie Turgenjew als Beispiele von »echten Dichtern« zitiert, 104 Brief an Adorno, 30. 12. 1945, in: Mann, Briefe II, 470. Über die Funktion des Zitats in den Essays vgl. Les´niak (2004a). 105 Brief an Adorno, 30. 12. 1945, in: Mann, Briefe II, 471. 106 Mann, Bilse und ich, 97. 107 Mann, Goethe und Tolstoi, 61. 108 Für diese und andere Bemerkungen vgl. den Kommentar in: Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.2, 148 – 155. 109 Vgl. Anm. 35.

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»welche, statt frei zu ›erfinden‹, sich lieber auf irgend etwas Gegebenes, am liebsten auf die Wirklichkeit stützten«.110 Zusammen mit »Dichtern« werden auch Philosophen / Schriftsteller zitiert: Verdeckte und offene Anspielungen auf Schopenhauer (»Wie aber kann ich mein Leben preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist«111), Nietzsche, Schlegel (»Der Künstler«, hat ein Dichter und Denker gesagt, »der nicht sein ganzes Selbst preisgibt, ist ein unnützer Knecht«112) belegen Manns Absicht, »Dichter und Denker« auf die gleiche Stufe zu stellen. Es gibt außerdem Selbstzitate aus Tonio Kröger, Fiorenza und Wälsungenblut, die als musikalische Leitmotive wieder aufkommen und die komplexe Intertextualität von Manns Essayismus zeigen. Der Stil ist ironisch, scheinbar schlicht und direkt, denn es herrscht ein Gesprächscharakter, der die dialogische Struktur des Essays bestätigt (»Will man mir noch ein Weilchen zuhören? Noch zehn Minuten?«113). Der Appell an den »immer geisterhaft gegenwärtige[n]«114 Leser verrät aber den dramatischen Charakter eines Monologs, der den Akzent einer Klage annimmt, denn »alles Gestalten, Schaffen, Hervorbringen« wird als »Schmerz […], Kampf und kreißende Qual«115 denunziert, ein Thema, das auch in Schwere Stunde anzutreffen ist. Damit verliert die »Klage« des Staatsanwalts von Brocken gegen Mann, wovon am Anfang des Essays die Rede ist, ihre ursprüngliche Bedeutung, indem der Angeklagte zum »Opfer« einer Gesellschaft wird, wogegen er sich verteidigen muss. Ähnlich wird das konkrete »Gericht«, in dem der Prozess stattfindet, in eine abstrakte Metapher verwandelt, die ein Zitat aus einem Gedicht Ibsens ist: »Dichten, das ist Gerichtstag über sich selbst halten«.116 Schon Detering hat auf die religiöse Bildlichkeit von Manns Essays hingewiesen,117 wo der Künstler als Schöpfer und leidender Heiliger biblische und christologische Züge annimmt, um die im Essay besprochene ästhetische Antithese zwischen »objektiver Lebenskritik und radikaler Subjektivität«118 aufzulösen. »Beseelung« des Stofflichen, »Identifikation« des Künstlers »mit seinen Geschöpfen«, »Schmerz«, »Leiden«, »Passion«, »Martyrium« und »Erlösung« sind alle Ausdrücke, die als rituelle Formel119 benutzt werden, um eine parodistische und kritische Dar110 Mann, Bilse und ich, 98 f. Das ist ein verstecktes Zitat aus Goethes Gespräch mit Eckermann vom 18. September 1823. Vgl. Heinrich Deterings Kommentar in Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.2, 150. 111 Mann, Bilse und ich, 110. 112 Ebd. 113 Ebd., 98. 114 Haas (1960), 50. 115 Mann, Bilse und ich, 106. 116 Ebd., 102. 117 Vgl. seinen Kommentar in Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.2, 143. 118 Ebd., 141. 119 »Eine Kunst der Sinnlichkeit und des symbolischen Formelwesens (denn das Leitmotiv ist

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stellung des Künstlers zu bieten, so wie in Tristan oder in Schwere Stunde. Es handelt sich immer noch um jene Form »tiefe[n] Amüsement[s]«120, das er dem Kritiker Alfred Kerr in Über die Kritik verdankte und das in Bilse und ich durch ein Spiel von Spiegeln wiederkehrt. Durch dieses komplexe Beziehungsnetz von Anspielungen und Zitaten, die sich laut Meyer »als ein bedeutsames Mittel zur symbolischen Steigerung über das Realistische hinaus«121 erweisen, wird die Prosa des Essays zum Feld eines kritischen Versuchs, wo sich die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Kunst und Leben verwischen. Deshalb könnte auch Mann in Bezug auf sein essayistisches Werk sagen, wie er Schiller sagen lässt: »…und war es nicht darum auch fast schon das Höhere?«122

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Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 225 – 230. Mann, Thomas, Die Kunst des Romans (1939), in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10: Reden und Aufsätze 2, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 348 – 362. Mann, Thomas, [Ein Brief von Thomas Mann] [Über Mereschkowskij], in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15.1: Essays II. 1914 – 1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von JoÚlle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 496 f. Mann, Thomas, Einführung in den ›Zauberberg‹, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 11: Reden und Aufsätze 3, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 602 – 617. Mann, Thomas, Erkenne dich selbst, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 33 f. Mann, Thomas, Essays, Bd. 3: Ein Appell an die Vernunft. 1926 – 1933, hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 1994. Mann, Thomas, Friedrich Huch, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 378 – 382. Mann, Thomas, Gabriele Reuter, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 61 – 72. Mann, Thomas, »Geist und Kunst. Thomas Manns Notizen zu einem ›Literatur-Essay‹«, ediert und kommentiert von Hans Wysling, in: Paul Scherrer / Hans Wysling, Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns, Bern / München 1967, 123 – 233. Mann, Thomas, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10: Reden und Aufsätze 2, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974. Mann, Thomas, Goethe und Tolstoi (1921), in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 9: Reden und Aufsätze 1, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 58 – 173. Mann, Thomas, Goethe’s Laufbahn als Schriftsteller (1932), in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 9: Reden und Aufsätze 1, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 333 – 362. Mann, Thomas, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002. Mann, Thomas, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.2: Essays I. 1893 – 1914, Kommentar, von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002. Mann, Thomas, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15.2: Essays II. 1914 – 1926, Kommentar, von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von JoÚlle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002. Mann, Thomas, Kritik und Schaffen, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe.

Der Begriff der »poetischen Prosa«

251

Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 47 – 50. Mann, Thomas, Lebensabriss, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 11: Reden und Aufsätze I, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 98 – 144. Mann, Thomas, Leiden und Größe Richard Wagners (1933), in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 9: Reden und Aufsätze 1, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 363 – 426. Mann, Thomas, [Männerstimmen über Frauen], in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 231. Mann, Thomas, Mitteilung an die literaturhistorische Gesellschaft in Bonn, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 169 – 173. Mann, Thomas, Notizen [II], in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 211 – 216. Mann, Thomas, Rede über Lessing (1929), in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 9: Reden und Aufsätze 1, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 229 – 245. Mann, Thomas, Russische Anthologie, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15.1: Essays II. 1914 – 1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von JoÚlle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 333 – 347. Mann, Thomas, Schopenhauer, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 9: Reden und Aufsätze 1, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 528 – 580. Mann, Thomas, Schwere Stunde, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 8: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 371 – 379. Mann, Thomas, Über die Kritik, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 86 f. Mann, Thomas, Über die Kunst Richard Wagners, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10: Reden und Aufsätze 2, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 840 – 842. Mann, Thomas, Von deutscher Republik, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15.1: Essays II. 1914 – 1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von JoÚlle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 514 – 559. Mann, Thomas, Vorwort [zur vierten Auflage der Buchausgabe von Bilse und ich], in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893 – 1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 288 – 291. Mann, Thomas, Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15.1: Essays II. 1914 – 1926, hg. und text-

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Margherita Cottone

kritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von JoÚlle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 964 – 977. Mann, Thomas, Zu Lessings Gedächtnis, in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10: Reden und Aufsätze 2, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, 250 – 256. Mann, Thomas, Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 15.1: Essays II. 1914 – 1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von JoÚlle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, 770 – 777. Meyer, Hermann, Das Zitat in der Erzählkunst (1961), Stuttgart 1967. Montaigne, Michel de, Essais, Livre premier & second, Bourdeaus 1580. Müller-Funk, Wolfgang, Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin 1995. Nübel, Birgit, Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Berlin 2006. Nündel, Ernst, Die Kunsttheorie Thomas Manns, Bonn 1972. Pütz, Peter, Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann, Bonn 1963. Reich-Ranicki, Marcel, »Thomas Mann als literarischer Kritiker«, in: Thomas-MannHandbuch, hg. v. Helmut Koopmann, Frankfurt am Main 2005, 707 – 720. Renner, Rolf G., »Literaturästhetische, kulturkritische und autobiographische Essayistik«, in: Thomas-Mann-Handbuch, hg. v. Helmut Koopmann, Frankfurt am Main 2005, 629 – 695. Rohner, Ludwig, Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer deutschen Gattung, Neuwied / Berlin 1966. Schärf, Christian, Geschichte des Essays: von Montaigne bis Adorno, Göttingen 1999. Schlaffer, Heinz, »Essay«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 1: A–G, Berlin / New York 1997, 522 – 525. Szondi, Peter, »Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung«, in: Euphorion 66 (1972), 174 – 206. Weissenberger, Klaus, »Essay«, in: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa, hg. v. Klaus Weissenberger, Tübingen 1985, 105 – 125.

Steffen Martus

»Es gibt allerdings keine Krise der Literatur, […] sehr wohl aber eine Krise des Publikums, des Lesens«. Bodo Kirchhoffs Logik der Prosa in Parlando und Schundroman

Seit Mitte der 1990er Jahre gewinnt die Literatur ›nach 1989‹ ihr eigenes Profil.1 In dieser Zeit publiziert Bodo Kirchhoff2 mit Parlando und Schundroman zwei Romane, die mit poetischen Mitteln auf die Diagnose reagieren, dass die ›Logik der Prosa‹, also die spezifischen Qualitäten und besonderen Herausforderungen literarischer Texte, unter einem Aufmerksamkeitsdefizit leidet. Es ist eine Sache, die ›Logik der Prosa‹ auszuformulieren, eine andere, dafür zu sorgen, dass sie auch beachtet wird und auf das Textumgangsverhalten Einfluss gewinnt. Genau diese Achtung vor der ›Logik der Prosa‹ aber und das wechselseitige Einverständnis in bestimmte Normen und Werte, die im Umgang mit Literatur Geltung erlangen, vermissen viele Beobachter. Kirchhoff, so lautet kurz gefasst meine These, versucht eine solche Achtung im Lesevollzug zu vermitteln, jene Aufmerksamkeitsleistung zu reklamieren und jene Ausdauerhaltung auszubilden, die Literatur zu mehr als einer beliebigen textuellen Erscheinung unter anderen macht. Ich möchte damit für den Fall Kirchhof die Frage beantworten, die Albert Meier seinem Forschungsprojekt zur »Logik der Prosa« vorangestellt hat: »Wieso machen es Autoren ihren Lesern schwer?«3

1.

Die Missachtung der Logik der Prosa

Kirchhoff steht exemplarisch für eine bestimmte Autorengeneration, die ›nach 68‹ zu publizieren beginnt, für eine Generation also, die sich selbst im literarischen Feld unter Bedingungen der Erlebnisgesellschaft positioniert.4 Dies bedeutet vor allem eines: Gegenwartsliteratur muss sich damit arrangieren, dass 1 Herrmann (2006). 2 Umfassende Informationen unter : http://www.bodokirchhoff.de/. 3 So am Anfang der Vorlesung zur »Logik der Prosa«, die Albert Meier im Sommersemester 2005 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gehalten hat: http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/vorlesungen/logik.asp/. 4 Weitere Forschungsliteratur zu diesem Thema bei Martus (2008).

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Steffen Martus

bestimmte hochkulturelle Werte – wenn man so will: die ethischen Imperative der Hochkultur – zwar nicht generell ihre Bedeutung und Relevanz verlieren, dass es aber immer leichter wird, sich gleichgültig dazu zu verhalten. Nie war es so einfach, den Anspruch des ›Guten, Wahren und Schönen‹ nicht etwa zu negieren, sondern vielmehr zu ignorieren, sich den eigentümlichen Qualitäten poetischer Prosa gegenüber gleichgültig zu verhalten und sich ihren Ansprüchen zu entziehen. Oder anders: Die kulturellen Schamgrenzen und Peinlichkeitsschwellen verschieben sich dergestalt, dass die Nicht-Erfüllung hochkultureller Standards gesellschaftlich kein Stigma mehr bedeutet, dass man die Imperative der Achtung kultureller Güter mit weniger Aufwand geringschätzen kann.5 Diese Verweigerung gegenüber der Ethik der Hochkultur wurde oftmals als Krisen- oder Niedergangsphänomen gedeutet, insbesondere als katastrophisches Szenario vom Ende des Gutenbergzeitalters. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass Bücher nach wie vor gekauft werden und dass Autoren nach wie vor schreiben, nur dass sich die Art und Weise des Buchkonsums und die Relevanz von Autoren verschoben hat. In einem Interview aus dem Jahr 2002 bemerkt Bodo Kirchhoff: »Es gibt allerdings keine Krise der Literatur, […] sehr wohl aber eine Krise des Publikums, des Lesens. Den Menschen fällt es immer schwerer, ein längeres Buch zu bewältigen«.6 Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen der Leseforschung. Seit den 1980er Jahren werden die Leseintervalle quantitativ kürzer. Qualitativ wird die Lektüre seltener und oberflächlicher, vor allem aber erlauben sich die Leser, die Lektüre sehr viel schneller als früher dann abzubrechen, wenn sie ihren Erwartungen nicht entspricht: Diese Veränderungen ergeben ein Muster : Fast alle Themen, die zum einen mit dem klassischen Bildungskanon und zum anderen mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden sind, finden heute weniger Aufmerksamkeit, während Informationen, die unmittelbar auf den eigenen Alltag übertragen werden können und zur Optimierung von Beruf, Kaufentscheidungen und Privatleben dienlich sind, stabiles oder sogar größeres Interesse finden.7

Mit anderen Worten: Die Domänen, auf denen Literatur traditionell symbolisches Kapital sammeln konnte, also: Bildung und Gesellschaft, verlieren an Aufmerksamkeit, die Themen, die eher in Sachbüchern abzuhandeln sind, gewinnen an Aufmerksamkeit. 5 Vgl. dazu auch meinen Beitrag über die ›neue Frauenliteratur‹, der auf eine Anregung Albert Meiers bzw. auf die von ihm veranstaltete Ringvorlesung über »Klassiker des 21. Jahrhunderts« im Wintersemester 2007 / 08 in Kiel zurückgeht: Martus (2012). 6 Grabovszki (2002), 25. 7 Köcher (2008), 5.

Bodo Kirchhoffs Logik der Prosa in Parlando und Schundroman

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Man könnte diese skizzierten Verschiebungen literaturhistorisch unter das überstrapazierte Rubrum »Postmoderne« fassen, weil die Hinwendung zur eigenen Erlebniswelt,8 die sich gegen die Einlösung überindividueller Kulturstandards ausspielen lässt, zunächst nichts anderes bezeichnet als den Übergang von der utopischen und kritischen Einstellung von Mangelgesellschaften hin zur weniger futurisch eingestellten Perspektive von Überfluss- und Wohlstandsgesellschaften. Zumindest findet sich ein entsprechender Text Kirchhoffs in Uwe Wittstocks Anthologie zur »Postmoderne in der deutschen Literatur« aus dem Jahr 1994, und darin verhandelt er als ein zentrales Problem die »Lage des Schriftstellers in glücklicher Zeit«: »Es lohnt nicht, über mein Leben zu schreiben. Die Bomben fallen woanders; es geht mir gut, da hilft alles nichts«.9 In einem Beitrag, der am 6. November 1992 zunächst in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschien, verhandelt Kirchhoff den Unterschied zwischen ›früher‹ und ›jetzt‹ als Unterschied in der Relevanz von Literatur. Die Geschichte von Autorschaft, die in solchen Zusammenhängen gern erzählt wird und die auch Bodo Kirchhoff wiederholt, lautet kurz gefasst folgendermaßen: Früher war der Autor eine Orientierungsfigur, deren Ansprüchen das Publikum gerecht zu werden versuchte; heute vermag der Autor seiner einstigen Funktion nur noch nachzutrauern. Früher, so Kirchhoff, hatten Autoren Einfluss auf die öffentliche Meinung, heute nicht mehr ; früher war man der moralischen Wichtigkeit seiner eigenen Position sicher, heute kämpft man um Marktanteile; früher leuchtete die Literatur aus sich selbst heraus, heute strahlt sie allenfalls im fremden Licht der Massenmedien. Früher, das waren die Zeiten von Bertolt Brecht, Thomas Mann, Günther Grass, Max Frisch, Uwe Johnson oder Peter Weiß; heute, das ist die Zeit der »jungen Autoren«, die sich in einer demokratisierten und eventisierten Kulturlandschaft zurechtfinden müssen, die sich in der Banalität einrichten – und: »die sich in schamloser Gesellschaft schamlos verhalten«.10 Als Agent dieser »schamlosen Gesellschaft« macht Kirchhoff den Literaturbetrieb aus, der Marktgängigkeit notfalls auch ohne literarische Qualität fördert und in dem die Kritik sich selbst auf Kosten der Literatur feiert. Ob diese Geschichte so stimmt, ist an dieser Stelle zweitrangig. Im Folgenden geht es vornehmlich darum, welchen symptomatischen Wert sie hat – bezeichnend ist ja, dass in solchen Erzählungen in der Regel immer auch eingeblendet wird: Man wisse, dass die Opferrolle des Autors nichts Neues ist; immer schon gab es den »Terror«, den der Literaturbetrieb gegen den Autor ausübe (so

8 Schulze (2005). 9 Kirchhoff, Das Schreiben, 216. 10 Ebd., 211 ff. (213 f.).

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Steffen Martus

Kirchhoff, Ingeborg Bachmann zitierend, in seiner Poetikvorlesung von 1995).11 Entscheidend ist mithin zweierlei: Erstens: Es gibt eine Art tief sitzender Unsicherheit von Autoren gegenüber professionellen und nicht-professionellen Lesern. Dieser prinzipielle Eindruck, bedroht zu werden, wird seit Jahrhunderten immer wieder artikuliert, lässt sich aber historisch genauer profilieren. Für die Gegenwartsliteratur bedeutet dies, Kirchhoff folgend: Der Autor ist keine selbstverständliche Autorität, die Leser nehmen sich das Recht, ihn nicht zu beachten; moralische und literarische Ansprüche werden zurückgestellt, ökonomische Interessen in den Vordergrund gerückt; Literatur steht in Konkurrenz mit ›neuen Medien‹ und deren Event- und Kultpotential. Unter diesen Bedingungen wird es immer weniger wahrscheinlich, für die ›Logik der Prosa‹ Aufmerksamkeit zu gewinnen, für die spezifische poetische Gemachtheit, das Umwegige, Doppelbödige, nicht einfach Konsumierbare. Zweitens: Kirchhoff versucht die Schieflage auszugleichen, die zu Ungunsten der Literatur besteht. Während im phantasmatischen ›Früher‹ der Autor in der Wertehierarchie oben rangierte, sackt er in dem nicht weniger phantasmatischen ›Jetzt‹ in der Werteskala nach unten. Dagegen steigen Rezensenten, Medienjongleure und unbedarft-unaufmerksame Leser nach oben. Kirchhoff will das nicht hinnehmen. Er plädiert für einen sorgsamen Umgang mit Autoren, die die »Selbstgewißheit« verloren haben und deren »Mißtrauen« sich selbst gegenüber »gewaltig« ist.12 Letztlich fordert er vom Leser eben dieses Misstrauen in sich selbst. Kirchhoff will die Rezipienten von ihrer Selbstsicherheit abbringen, mit der sie als Kritiker schnell ihre Urteile fällen und als Normalleser umstandslos auf Bedürfnisbefriedigung setzen, ohne sich von Literatur herausfordern zu lassen. Seine Texte stellen den Leser auf eine veränderte Aufmerksamkeitshaltung ein.

2.

Parlando

1995 hält Kirchhoff in Frankfurt eine Reihe von Vorlesungen zur Poetik, in der er von der Produktion eines neuen Romans berichtet; dieser Roman erscheint 2001 unter dem Titel Parlando. In den Vorlesungen illustriert Kirchhoff nicht zuletzt, dass literarische Kommunikation strukturell kränkend ist: Der Literaturbetrieb ist eine Instanz, die Idealbilder aufstellt, vergrößert, verbreitet und einfordert, und derselbe Betrieb ist zugleich die Instanz, die den Autor frustriert und seine autorschaftliche Identitätsbildung negiert. Diese Doppelfunktion ist m. E. ent11 Kirchhoff, Legenden um den eigenen Körper, 128. 12 Kirchhoff, Das Schreiben, 216.

Bodo Kirchhoffs Logik der Prosa in Parlando und Schundroman

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scheidend, weil sie auf den vexierbildartigen Zusammenhang von Erwartung und Enttäuschung, von Konstruktion und Destruktion der Position des Autors verweist. ›Geburt‹ und ›Tod‹ des Autors sind insofern gleichursprünglich. Die »Welt der Literatur«, so Kirchhoff, und insbesondere der »Kulturbetrieb« steigern narzisstische Haltungen und schaffen damit die Voraussetzung für die Kränkungen, die sie den hypertrophen Autorenegos beibringen. Im dritten Buch von Ovids Metamorphosen heißt es über den sich selbst im Wasser bespiegelnden Jüngling Narziss: »Was, Leichtgläubiger, fängst du umsonst ein entfliehendes Gleichnis? / Nirgends ist, was du begehrst …«.13 Kirchhoff greift dies auf und bezieht es prinzipiell auf die Situation des Autors: »Schreiben heißt immer : in jenes Wasser greifen, in welchem man sich zu sehen glaubt, und diesem ›nichtigen Trug‹, unter den gegebenen Umständen etwas Wahres entreißen«.14 Ein Scheitern, das sich selbst zum Weitermachen anregt – das also wäre, kurz gefasst, das Programm von Kirchhoff. Die programmatische Überschrift der letzten seiner Frankfurter Vorlesungen wundert daher nicht: »Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf« – dies sei »im Grunde« seine »Situation als Autor«.15 Dieser sucht nach dem »Frieden mit sich selbst«, einem »Frieden, der nie lange hält«. Als einen solchen »vorübergehenden Friedensschluß« versteht Kirchhoff auch seine Bücher.16 Der Autor jedenfalls wird in dieser Konzeption zur Stellvertreterfigur eines konstitutiv frustrierten Subjekts, und ebensowenig wie dieses ist er selbstständig, sondern gelangt immer auf Umwegen, nie allein durch sich selbst zur Sprache. Für das literarische Werk Kirchhoffs ist entscheidend: Er versucht nicht, Selbstmächtigkeit zu inszenieren und die Unabgeschlossenheit des Subjekts zu verschleiern, sondern er stellt im Gegenteil das Unfertige und die Abhängigkeit aus. Eine solche Abhängigkeit demonstriert Karl Faller, der Protagonist des Romans Parlando. Karl Fallers Leben ist geprägt von der Abwesenheit seines Erzeugers, Kristian Faller, der die 68er-Generation vertritt, seine Familie verlassen hat und in wechselnden Liebesbeziehungen das Glück sucht.17 So groß ist die Macht des Abwesenden, dass der Sohn seine Biographie daraufhin entwirft, die Geliebten seines Vaters zu seinen eigenen Geliebten zu machen. Er will sie eine nach der anderen verführen, dem Vater entwinden und sie ins eigene Bett lotsen, um den patriarchalen Zauber zu brechen. Bodo Kirchhoffs Roman Parlando spielt nach dem Tod von Fallers Eltern und variiert erzählerisch dieses ›Nachleben‹, das auf das eigene Leben zielt. Lebens13 14 15 16 17

Kirchhoff, Legenden um den eigenen Körper, 103. Ebd., 103. Ebd., 97. Ebd., 107. Zu Funktion und Darstellung von Sexualität vgl. Orths (2004).

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und Erzählplan haben dabei ein doppeltes Ziel: Zum einen die Geschichte, in der Vater und Mutter sterben; zum anderen fahndet der Sohn nach der einzigen Frau, mit deren Liebe sein Vater nicht fertig werden konnte: der »Stillsteherin«, einer Artistin also, die sich in Fußgängerzonen als lebendige Statue ihr Geld verdient. Durchbrochen von Zitaten aus Briefen und aus dem väterlichen Nachlass, vor allem aber aus den »Stadtführern für Alleinreisende«, die Kristian Faller verfasst hat, findet sich in Parlando Karl Fallers großer Lebensbericht, mit dem er zu sich selbst gelangen will. Zugleich firmiert Karl Faller als »Rezensent seines Vaters Kristian«, wie Kirchhoff es in seinen Frankfurter Vorlesungen formuliert,18 als ein Rezensent freilich, der sich in einem Höchstmaß engagiert und dadurch auf das Niveau literarischer Kraftinvestition gelangt. Der FallerVater steht dabei auch, so Kirchhoff in einem Interview, als »Metapher für das Medienzeitalter«.19 Der Roman hat drei Teile. Im ersten Teil befinden wir uns in Frankfurt am Main. Karl Faller sitzt in Untersuchungshaft. Man verdächtigt ihn des Mordes an einer Frau, neben deren Leiche er – niedergestreckt durch einen Schlag auf den Kopf – aufgefunden wurde. Beim Verhör zieht er durch seine Lebenserzählung die Staatsanwältin Suse Stein in den Bann. Dies geht so weit, dass Staatsanwältin Stein ihm auf seinen Reisen folgt, die er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis unternimmt. Im zweiten Teil geht es nach Marrakesch, wo Faller die Spur Hayat Feddoulis, der geheimnisvollen Geliebten seines Vaters, aufnimmt. Von dort fährt er nach Lissabon. Hier trifft er die gesuchte »Stillsteherin« ein erstes Mal, fliegt dann weiter nach Argentinien, wo sich die Bekanntschaft mit Staatsanwältin Suse Stein zur handfesten Affäre auswächst. Im dritten Teil schließlich landen wir in Mexiko City. Faller findet die »Stillsteherin«, löst sie jedoch nicht rechtzeitig bei ihrem Zuhälter aus. Die brutalen Folgen dieses Versäumnisses sind ebenso unappetitlich wie sensationell erzählt. Faller flieht und kehrt schließlich nach Frankfurt zurück, wo Suse Stein schon wartet – sie will ihm die gesuchte »Stillsteherin« präsentieren. Ist Faller also die ganze Zeit Phantomen hinterher gejagt? Fast bis zum Ende führen die Staatsanwältin und der Verdächtige den Kampf um die eigene Geschichte weiter. Suse Stein repräsentiert dabei gewissermaßen ein Erzählregime, eine staatliche Erzählordnung, in der eine klare Hierarchie bestimmt, was wichtig und was unwichtig ist, was zu einer Geschichte gehört und was nicht. Sie will, dass Faller sich kurz fasst. Der aber wehrt sich gegen diese erzählerische Ökonomie. Sein Bericht franst nach allen Seiten aus, und auch der chronologischen Reihung widersetzt er sich. Er will Suse Stein dazu bringen, sich die »ganze Geschichte« anzuhören, sie aber antwortet: »So kom18 Kirchhoff, Legenden um den eigenen Körper, 129. 19 So Kirchhoff im Interview: Schröder (2001).

Bodo Kirchhoffs Logik der Prosa in Parlando und Schundroman

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men wir nicht weiter. Aus ihrer Sicht hatte sie recht, doch interessierte mich allein meine Sicht […]«.20 Man darf hinzufügen: Ihn interessiert auch nicht der Wunsch des Lesers nach einem ›Weiter-Kommen‹. Durch das Beharren auf seiner Erzählweise verführt Faller Suse Stein nicht nur körperlich, er verführt sie auch dadurch, dass die Staatsanwältin sich seiner Art des Erzählens anpassen muss, um überhaupt etwas zu erfahren. Oder anders: Faller im Roman und Kirchhoff durch den Roman locken die Rezipienten mit Bedürfnisbefriedigung und führen sie nebenbei in eine andere, literarische Zeitordnung. In einem Interview bemerkt Kirchhoff, dass die »Mediengesellschaft« dem Autor »ihre kurzlebige Zeitvorstellung« aufzwinge, wohingegen die Literatur »ihre eigene Zeit« dagegen setze.21 Deswegen ist die beträchtliche Länge des Parlando-Romans mit seinen mehr als 500 Seiten für Kirchhoff auch keine Nebensächlichkeit. Das Buch – so erklärt er im Interview – musste »so lang« sein, um seine »eigene Zeitlichkeit gegen die Schnelllebigkeit der Welt [zu] behaupten«.22 Auf diese Weise vermittelt Kirchhoff die Haltung, ohne die seine Lesemoral nicht auskommt. Die Erzählung spielt mit Erwartungshaltungen und legt Köder aus, die die Leser auf der Suche nach einer ›ordentlichen‹ Geschichte in die Falle locken. Immerhin haben wir es bei Faller mit dem Drehbuchautor einer Kriminalserie zu tun. Vielleicht aber will er sich sogar in der staatsanwaltlichen Erzählordnung einrichten. Weil Faller für die Staatsanwältin zunächst nur als Täter Relevanz besitzt, präsentiert er sich offensiv als Verbrecher, der nicht nur die »Stillsteherin« in Frankfurt, sondern zudem seine Eltern und einen Lehrer ermordet haben will. Diese Täterschaft gehört zur Strategie der Aufmerksamkeitserregung und zur erzählerischen Selbsterfindung: »[…] ich sah sie da liegen«, berichtet Faller über die Frankfurter Tote, »und stellte mir auch schon vor, der Täter zu sein, Idee oder Wunsch, schwer zu sagen, blitzartig kam das, jeder andere löst etwas bei uns aus, auch ein toter anderer erweitert das eigene Leben um eine Geschichte […]«. Die Selbstbeschuldigung zielt darauf, dass Faller zum Verursacher wird und nicht mehr ein Leben aus zweiter Hand von Gnaden seines Vaters führt. In seinen Frankfurter Vorlesungen entwickelt Kirchhoff am Beispiel des Parlando-Projekts sein Verständnis vom Autor als Verbrecher.23 Er kriminalisiert den Autor, wenn er sagt: »[…] zu meiner Bildungsgeschichte in der Zeit nach 68 gehört, dass jedes Ich-Sagen und folglich jedes in der Ichform Schreiben bestimmte Konsequenzen hat: Wer Ich sagt, muss auch sagen, was mit diesem 20 21 22 23

Kirchhoff, Parlando, 13. Wittstock (1993). Schröder (2001). Martus (2002).

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Ich los ist; es genügt nicht, sich selber zu meinen, man muss sich auch selbst zur Anzeige bringen«.24 Und an späterer Stelle: »Unser aller Mitreden ist winzig geworden; was bleibt, ist, wie gesagt, Selbstanzeige zu erstatten – tun, was sich zuzumuten andere nicht in der Lage sind«.25 Eine umgekehrte Variante stellt der Autor als Opfer dar : »Wir leben in kleinen Zeiten voll großer Ereignisse, global übertragener Tennisendspiele und Pop-Konzerte, Umweltkatastrophen und Luftangriffe – und bloß als von Mordkommandos bedrohter rückt der Schriftsteller noch in die Nachrichten, als arme Figur« – das bezieht sich vermutlich auf den Fall Salman Rushdies, ist aber wiederum strukturell aufschlussreich. Die Pointe besteht nun darin: Faller ist kein Täter im Sinne eines schlichten Subjektmodells. Die Unglücke oder Verbrechen des Romans geschehen zwar unter seiner Beteiligung, aber nie aufgrund seiner willentlichen Entscheidung. Faller kann sein Leben nicht kontrollieren, wie es ihm gefällt, er muss es durchlaufen. Am Beginn der Mexiko-Episode steht die drastische Parabel dieser Selbstbefreiung von den fremden Stimmen: Bevor er die (vermeintliche) Geliebte seines Vaters findet, rebelliert seine Verdauung. Er entleert sich spontan, und die gleiche reinigende Funktion übernimmt für Faller das Erzählen – »erst der Papierverbrauch sagt einem, wie verletzt man ist […]«, heißt es an einer Stelle. Allerdings funktioniert die Toilettenspülung nicht richtig, das Klo verstopft, »alles drehte sich in der Schüssel, wie sich auch in mir alles drehte […]«.26 Die Verdauungsreste lassen sich nicht einfach beseitigen. Parlando ist offensichtlich auch ein poetologischer Roman, ein Erzählen über das Erzählen. Der Name des Protagonisten ist ein Echo vieler Rufe: Faller ist ein Fall für die Staatsanwaltschaft, er führt seine Eltern zum (Un-)Fall in eine Bergschlucht, und er kämpft mit den Folgen des Sündenfalls, dem Verlust des Paradieses, in dessen Nähe ihn nur kurzzeitig das Versinken in die Körperlichkeit der Liebe und das Verstummen der Sprache bringt. Die Sehnsucht nach der »Stillsteherin« hat auch diese metaphysische Dimension. Und wenn Faller auf die Frage: »Wer bist du«? erklärt: »Der Sohn des Autors«,27 dann befindet man sich augenblicklich inmitten jener literarischen Horizonte, die Kirchhoff in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen bestimmt. Dort hatte er Karl und Kristian Faller als zwei verschiedene Ausformungen seines Autor-Ichs vorgestellt, und entsprechend vernehmen die Leser nicht nur in Karl Fallers Aufzeichnungen die Stimme seines Vaters, sondern auch in Kirchhoffs Roman Parlando die Stimmen der vorangegangenen Werke des Autors. Diese Selbstbeziehung beginnt bei einer der kindlichen Urszenen aus Karl 24 25 26 27

Kirchhoff, Legenden um den eigenen Körper, 113. Ebd., 115. Kirchhoff, Parlando, 359 f. Ebd., 343. Vgl. auch 102 f.

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Fallers Leben, dem Beischlaf der Eltern während einer Sturmnacht am Gardasee, die beinahe wortwörtlich der Erzählung Aber daran erinnert er sich aus dem Band Katastrophen mit Seeblick entspricht. Kleinere Anleihen finden sich dann über das gesamte Werk Kirchhoffs verstreut. Die zufällige Bekanntschaft Branzger etwa, die bereits im Frühwerk auftaucht, spielt während des Mexikoaufenthalts für Faller eine ähnlich geheimnisvolle Rolle wie Dr. Branzger in Kirchhoffs Roman Der Sandmann. Aber hier geht es nicht nur um innerliterarische Reflexionen, denn eine Figur wie Branzger und verschiedene andere Szenen entstehen aus einem autobiographischen Kern heraus. In Parlando gilt das vor allem für den Internatsaufenthalt Karl Fallers mitsamt seiner pädagogischen Gewalt und Päderastie. Für die Erzählhaltung, die die Frankfurter Vorlesungen in die Kurzform »Dem Schmerz eine Welt geben« fassen, war dabei Kirchhoffs Somalia-Aufenthalt im Jahr 1993 wichtig, den er in dem Tagebuch Herrenmenschlichkeit verarbeitet. Auch Kristian Faller unternimmt eine Reise zu den UN-Truppen nach Somalia, und in seinen Aufzeichnungen finden sich Schreckensszenen, die Kirchhoff am eigenen Leib erfahren hat. Parlando ist ein Sprechgesang, komponiert aus vielen Anklängen, der die Übergänglichkeit der unterschiedlichen Stimmen schon in der sparsamen Verwendung der Satzgrenze signalisiert. Dabei gibt es vor allem ein Ziel: »Der Sinn ist, dass Sie mir zuhören«, sagt Faller zu Suse Stein. Kirchhoff versucht, Lesemoral durch eine Lesehaltung zu vermitteln, eine Haltung, die dem Gegenstand der Lektüre Achtung entgegenbringt, die symmetrische Aufmerksamkeitsinvestitionen leistet, und er benutzt als Vehikel zur Vermittlung dieser Lesemoral die Vorlieben seiner Rezipienten. Er bedient die Interessen, akzeptiert also zunächst einmal die normative Kraft des Faktischen, macht sie sich dann aber für ein Gegenprogramm zunutze. Nach fast acht Jahren Arbeit an diesem bislang größten und anspruchsvollsten Roman seines Werks erhält Kirchhoff in den Feuilletons viel Lob. Auch im »Literarischen Quartett« zeigt man sich mehr als freundlich, benutzt Parlando jedoch zugleich für eine alte Kritikerpointe. Das Urteil lautet: »grandioser Erzähler, missratenes Buch«. Die Folge: In Kirchhoff läuft »ein inneres Fass über«, wie er selbst berichtet. Er sagt sich: »jetzt, endlich, das Buch schreiben, das sich den Betrieb vorknöpft, statt ihn zu erdulden«. Darin, so Kirchhoff weiter, musste in letzter Konsequenz dieser Notwehrhandlung »die einzige und einsame Symbolfigur des Betriebs, sein unumschränkter Pate, mit Gewalt aus dem Leben scheide[n]«.28 Den »paar Schüssen aus der Hüfte«, mit denen der Fernsehkritiker ohne große Anstrengung und Leistung sehr viel mehr Auf28 Kirchhoff, Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. Von einer »Notwehrlage« spricht Kirchhoff im kurzen Vorwort zum Schundroman (5). Motivierend waren auch noch andere TV-Erlebnisse mit Kultursendungen, dazu Wittstock (2002).

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merksamkeit auf sich zieht als die jahrelange Arbeit des Romanciers,29 setzt Kirchhoff einen »Roman aus der Hüfte« entgegen: den Schundroman.30 So sehr dieser Roman eine situative Kränkung verarbeiten mag, verhandelt wird darin ein strukturelles Problem, und dabei sollte man sich von der spielerischen Anlage des Romans nicht täuschen lassen. Hier nämlich gilt: »Irony Is Over«.31

3.

Schundroman – mit einem Seitenblick auf Martin Walsers Tod eines Kritikers

Ein seltsamer Zufall: Im Herbst 2001 beginnt Bodo Kirchhoff seinen neuen Roman, in dem ein Großkritiker getötet wird – gleich am Anfang kommt Louis Freytag versehentlich und ganz nebenbei zu Tode, »Deutschlands berühmtester Kritiker«, der »Bücherpapst«.32 Um die Jahreswende erfährt Kirchhoff von Martin Walsers Kritikermord, den er augenblicklich verarbeitet: Im 45. Kapitel seines Schundromans zirkuliert das Manuskript Tod eines Kritikers in Autorenkreisen, ein »Krimi mit Ambition«, geschrieben von einem der »älteren Schriftsteller[ ]«, den man als Auftraggeber des Verbrechens verdächtigt.33 Nach der Skandalisierung von Walsers Roman sah Kirchhoff sich gleichwohl als Opfer der »Gütergemeinschaft von Falschem und Billigem mit Geschicktem oder Medienwirksamem« und litt unter dem »Bedeutungsraub«, unter der Monopolisierung von Aufmerksamkeit durch das narzisstische Wechselspiel von Journalismus und Literaturbetrieb in der Walser-Debatte.34 Sein Verlag, die von Joachim Unseld, dem Sohn des Walser-Verlegers Siegfried Unseld, geleitete »Frankfurter Verlagsanstalt«, reagierte schnell und zog den Erscheinungstermin vom Herbst auf Juli 2002 vor, um den Verdacht der Trittbrettfahrerei von vornherein zu entkräften. Immerhin ein Gutes hatte das Ganze für Kirchhoff: Nachdem Walser alle negativen Energien auf sich gezogen hatte, blieb für ihn, den nicht gerade Lobverwöhnten, Wohlwollen und Sympathie. Der Schundroman handelt in erster Linie von dem Auftragskiller Willem Hold, der sich in die Edelhure und Kunsträuberin Lou Schultz verliebt. Diese wird mit einem Besenstiel gepfählt. Der Mörder wiederum bekommt den Zorn des liebeswunden Willem Hold zu spüren. Es gibt viel blutige Gewalt. Einige Prominente wie Harald Schmidt, Johannes B. Kerner, Christa Wolf oder Dolly Buster tauchen unter echtem oder falschem Namen auf. Und in einer Parallel29 30 31 32 33 34

Kirchhoff, Legenden um den eigenen Körper, 111. Kirchhoff, Schundroman, 5. Meier (2002). Zu diesem Komplex insgesamt Bartl (2004). Kirchhoff, Schundroman, 218. Mit dem »Schund«-Begriff spielt Jungen (2003), 211 ff. Kirchhoff, Letzte Schlacht vor dem Nachruhm.

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handlung stiften die beiden Detektive Helene Stirius und Carl Feuerbach Verwirrung. Der Liebesroman dreht sich in zweiter Linie um Kirchhoff selbst, der am Ende als Signore Franz auftaucht. Dieser Selbstbezug verbindet den Schundroman wiederum mit dem Kirchhoff-Bücherkosmos durch typische Leitmotive wie den Gardasee als Handlungsort, Erlebnisfetzen des Somalia-Aufenthalts oder das ausgeprägte Fäkal- und Analinteresse.35 Der Titel des Vorgängerromans Parlando erscheint in Form eines T-Shirt-Aufdrucks im Schundroman, und dies mit gutem Grund: Wie Parlando reflektiert der Schundroman auf die Bedingungen und Möglichkeiten von Autorschaft und literarischer Wertung. So tötet der Auftragskiller Willem Hold den Großkritiker Louis Freytag alias Marcel Reich-Ranicki, und Dr. Kussler von der Süddeutschen Zeitung wird wegen einer despektierlichen Kritik der Gedichte von Lou Schultz niedergeschlagen. Das eigentliche Opfer ist jedoch nicht die Figur des Kritikers. Gejagt wird Ollenbeck, der auf der Frankfurter Buchmesse als neues »Männerwunder der deutschen Literatur« gefeierte Shootingstar des Betriebs mit hörbarer Anspielung auf Michel Houellebecq. Ollenbeck hat sich literarisch bei Dr. Branzger bedient, also jener geheimnisvollen Figur, die in den Romanen Kirchhoffs immer wieder auftaucht. Dieses Plagiat steht kurz vor der Entdeckung, und deswegen gibt es Tote. Hold muss die Dinge »wieder in Ordnung« bringen.36 Unter dem Pseudonym »Pallas« tritt er gewissermaßen als jungfräulicher Beschützer der Künste auf. Und dass er sich in besonderer Weise für wertvolle Uhren interessiert, ist dabei kein Zufall: Auf diese Weise lanciert Kirchhoff sein Konzept von der Eigenzeit der Dichtung, die sich gegen den Zeitverschleiß der Medienwelt wehrt.37 Walser und Kirchhoff verbindet somit nicht das Zentralmotiv des toten Kritikers, der hier zufällig und dort gar nicht stirbt, der hier einen Nebenschauplatz und dort das Zentrum des Geschehens bildet. Vielmehr verbindet die beiden das Motiv vom Autor als einem Verbrecher, auf den Jagd gemacht wird, denn der Verbrecher avanciert zum kulturellen Paradigma für Täterschaft überhaupt, so auch für den Dichter, der von genauer Lektüre ebenso bedroht wird, wie er sich diese erhofft – in Parlando hatte der ›Autor‹ daher »Selbstanzeige« erstattet.38 Walser reflektiert diese zwiegesichtige Position des Autors, wenn er in Tod eines Kritikers die Kriminalbeamten auf die Bücher des verdächtigen Hans Lach als Indizien ansetzt oder wenn das letzte Werk von Lach den Titel »Der Wunsch, 35 36 37 38

Dazu genauer Bartl (2004), 495; zu Fremdzitaten vgl. Jungen (2003), 223 ff. Kirchhoff, Schundroman, 173. Ebd., z. B. 65, 101, 127, 159. Das Thema der Identitätsstiftung stellt Bartl (2004) ins Zentrum ihrer Analyse; hier auch zu Narziss-Motiven im Schundroman: Bartl (2004), 496.

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Verbrecher zu sein« trägt. Und tatsächlich: Walser hat in einem Höchstmaß die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und eine Flut von Kritiken provoziert mit einem aufs Äußerste gereizten Gespür für Nuancen und Andeutungen, für verschiedene Textfassungen und für Motive, mögliche Ursachen und Beweggründe. Wenn der Autor sich in einen Verbrecher verwandelt, schlägt die Stunde der kritischen Philologen, die sich immer wieder gern als Detektive sehen. Die »Doktorarbeit über Identität bei Hans Lach«, auf die sich die Kriminalbeamten beziehen, ist also ein Teil des literarischen Verfolgungsspiels. Dass indes die meisten der Reaktionen auf Walsers Roman eher negativ ausfallen, gehört zum Risiko und zeigt nur, dass der Grad an Gefährdung mit dem Grad an Aufmerksamkeit wächst. Schreiben ist immer Selbstdenunziation. Wenn die Autoren die Täter sind, dann sind deren Verfolger die Leser, die mit kriminalistischem Spürsinn die Taten, also die Bücher, nach Spuren und Indizien durchforsten. Darin besteht in Kirchhoffs Schundroman die Aufgabe der beiden Detektive Helene Stirius und Carl Feuerbach, die Willem Hold überführen wollen, allmählich zu seinen Komplizen werden und erkennen, dass er aus »Notwehr« handelt und dass sich die Zusammenhänge der Tat nicht nach dem ersten Augenschein bewerten lassen. Aus demselben Grund nun hat Kirchhoff seinen Schundroman geschrieben. In einem kurzen Vorwort begründet er »die Notwehrlage für diesen Roman aus der Hüfte« mit dem »Sizilianischen unseres Literaturbetriebs«. Daher soll der Roman auch aus dem Werkzusammenhang heraus gelesen werden, nämlich als Antwort auf die zwar lobende, aber noch immer unangemessene Lektüre, unangemessen im Verhältnis von schriftstellerischer Anstrengung und schnell gefälltem Kritikerurteil. Der Schundroman versucht wie Parlando die Leser zur genauen Lektüre zu bewegen, nun eben auf Pulp-Fiction-Niveau – schnell geschrieben, klar konstruiert, auf Effekt berechnet und doch ein Buch von erstaunlichem Beziehungsreichtum. In beiden Werken geht es um Liebe und um die Verantwortung für den anderen; hier wie dort scheitern die Hauptfiguren und ihre Schützlinge sterben; und hier wie dort wird diese Konstellation zum Anlass, über Täterschaft und Handlungsmächtigkeit nachzudenken. In Parlando müssen eine Staatsanwältin und damit zugleich der Leser von der Beurteilungsroutine durch abschweifendes Erzählen abgebracht werden; im Schundroman blockieren die beiden Detektive als Vertreter der Leser den allzu raschen Fortgang der Handlung. Warum also – um noch einmal Albert Meiers zentrale Frage zu stellen – macht Kirchhoff es seinen Lesern so schwer? Wenngleich Kirchhoffs Pulp Fiction auf schnellen Verzehr angelegt zu sein scheint, in seiner ästhetischen Struktur dementiert er genau dies. Wie für den geheimnisvollen Autor Branzger

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ist für den Schundroman und seinen Autor Kirchhoff der »Skandal eine ernste Sache«.39 Auf dem Spiel steht die ›Logik‹ der Gegenwartsliteratur.

Literatur Bartl, Andrea, »Erstochen, erschlagen, verleumdet. Über den Umgang mit Rezensenten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – am Beispiel von Martin Walsers ›Tod eines Kritikers‹, Bodo Kirchhoffs ›Schundroman‹ und Franzobels ›Shooting Star‹«, in: Weimarer Beiträge 50 (2004), 485 – 514. Grabovszki, Ernst, »Vom Lieben und Töten. Bodo Kirchhoffs ›Schundroman‹ jongliert nicht nur mit einschlägigen Klischees dieser Gattung, sondern parodiert sie gekonnt. Ein Auftragskiller treibt sein Unwesen auf der Frankfurter Buchmesse, und ein Literaturkritiker verliert sein Leben. Der Autor im Gespräch über das Triviale, den Literaturbetrieb und seinen Verleger Joachim Unseld«, in: Anzeiger (Sept. 2002), 25 – 26. Herrmann, Meike, »Die Historisierung hat begonnen. Die Gegenwartsliteratur seit 1990 als Gegenstand der Lektüre und Forschung«, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 16 (2006), 109 – 118. Jungen, Oliver, »Mea maxima pulpa. Bodo Kirchhoffs ›Schundroman‹«, in: Das Schöne und das Triviale, hg. v. Gert Theile, München 2003, 211 – 232. Kirchhoff, Bodo, http://www.bodokirchhoff.de. Kirchhoff, Bodo, »Das Schreiben: ein Sturz. In der Wüste des Banalen – zur Lage des Schriftstellers in glücklicher Zeit«, in: Roman oder Leben, Postmoderne in der deutschen Literatur, hg. v. Uwe Wittstock, Leipzig 1994, 211 – 219. Kirchhoff, Bodo, Legenden um den eigenen Körper. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1995. Kirchhoff, Bodo, »Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. Der Schriftsteller Bodo Kirchhoff über sein Verhältnis zu Martin Walser und eine verblüffende Parallel-Aktion«, in: Spiegel-Online vom 10. Juli 2002, URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/ 0,1518,200113,00.html. Kirchhoff, Bodo, Parlando, Frankfurt am Main 2001. Kirchhoff, Bodo, Schundroman, Frankfurt am Main 2002. Köcher, Renate: »Schleichende Veränderung. Die Altersklasse bis 30 Jahre fügt sich nicht nahtlos in die Gesamtbevölkerung ein. Sie informiert sich anders und interessiert sich für anderes als die Generation davor«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 194 v. 20. August 2008, 5. Martus, Steffen: »Der Autor als Verbrecher«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen, DFG-Symposion 2001, hg. v. Heinrich Detering, Stuttgart / Weimar 2002, 406 – 425. Martus, Steffen, »›also man lacht sich wirklich tot‹. Teilnehmer- und Beobachterperspektiven auf Uwe Timms 68er-Romane ›Heißer Sommer‹ und ›Der Freund und der Fremde‹«, in: Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945, hg. v. Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig, Göttingen 2008, 192 – 215. Martus, Steffen: »›Für alle meine Freundinnen‹. Multimediales Marketing von Bestsellern 39 Kirchhoff, Schundroman, 71.

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am Beispiel von Literatur ›für Frauen‹«, in: Kanon, Wertung und Vermittlung, Literatur in der Wissensgesellschaft, hg. v. Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko, Berlin / Boston 2012, 261 – 278. Meier, Albert, »Irony is Over: Der Verzicht auf Selbstreferenzialität in der neuesten Prosa«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen, DFG-Symposion 2001, hg. v. Heinrich Detering, Stuttgart / Weimar 2002, 570 – 581. Meier, Albert, [Vorlesungsreihe zur »Logik der Prosa« aus dem Sommersemester 2005], aufgezeichnet unter : http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/vorlesungen/logik.asp. Orths, Markus, »Die Entdeckung der Sexualität in Bodo Kirchhoffs ›Parlando‹«, in: ndl 52 (2004), 67 – 75. Schröder, Christoph, »Acht Jahre in drei Sekunden den Bach ’runter«, in: Frankfurter Rundschau Nr. 253 v. 31. Oktober 2001, 30. Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, mit einem aktuellen Vorwort des Autors, um den Anhang gekürzte und mit einem neuen Vorwort versehene 2. Auflage, Frankfurt am Main / New York 2005. Wittstock, Uwe, »Der Autor hat nur eine Chance: Er muss den Kritiker überleben. Bodo Kirchhoff im Gespräch mit Uwe Wittstock über die Brauchbarkeit von Literatur und über Kopfgeldjägerei sowie das katastrophale deutsche Unterhaltungsverständnis«, in: Neue Rundschau (1993), H. 3, 69 – 81. Wittstock, Uwe, »Der unerträgliche Wahnsinn des Literaturbetriebs. Wie man ein Buch zu einer heißen Ware macht – Ein Gespräch mit Bodo Kirchhoff über den Literaturbetrieb der Gegenwart und seinen ›Schundroman‹«, in: Die Welt Nr. 133 – 24 v. 11. Juni 2002, 28.

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La Trippa in bianco. Zur Logik sinnlichen Erzählens in Hanns-Josef Ortheils Italien-Roman Die große Liebe

Offenbar gibt es – zumal für Deutsche – viele Gründe, nach Italien zu fahren: So hebt Albert Meier in seinem Nachwort zu Johann Caspar Goethes Viaggio per l’Italia die unübersehbaren Differenzen einer Bildungsreise, der sich etwa ein angehender Kaufmann im 18. Jahrhundert unterzieht, von einer »Kavalierstour des europäischen Adels« dieser Zeit hervor. Wesentlicher Unterschied sei das »Nützlichkeitspostulat«, mit dem der Kaufmann sein Unternehmen angehe.1 Auch heute wird man noch Geschäftsreisen und Bildungsurlaube unterscheiden, wobei seit Johann Wolfgang Goethes Italienischer Reise vermutlich kaum ein Italienbesuch ohne Wahrnehmung der touristischen oder kunsthistorischen Sehenswürdigkeiten zu machen ist – allenfalls mit schlechtem Gewissen. Als einer der großen Italienkenner der deutschen Gegenwartsliteratur gilt Hanns-Josef Ortheil. Goethes Italienische Reise variiert er in Faustinas Küsse (1998); Italienwahrnehmungen des 18. Jahrhunderts thematisiert er im VenedigRoman Im Licht der Lagune (1999), seinen eigenen Rom-Aufenthalt – auch voller Goethe-Anspielungen – im autobiographischen Roman Die Erfindung des Lebens (2009) und im Reiseführer Rom. Eine Ekstase mit dem bezeichnenden Untertitel Oasen für die Sinne (2009); selbst Die Moselreise, der autobiographische Roman eines Kindes (2010), endet mit einer Huldigung an Italiens Kapitale: »Dort habe ich mich seit meinem ersten Aufenthalt Ende der sechziger Jahre immer wieder geborgen und aufgehoben gefühlt.«2 In einem seiner literaturtheoretischen Werke reflektiert er über »Reiseliteratur, die einem die Reise vielleicht wirklich ersetzt«. Hier werde einem die Umgebung »im wahrsten Sinne des Wortes ›vor Augen geführt‹« – ein poetisches Ideal, das Ortheil offenbar in vielen seiner Werke erreichen möchte.3 Der Protagonist aus seinem erfolgreichen Italien-Roman Die große Liebe

1 Meier (1986), 489 f. 2 Ortheil, Die Moselreise, 210. 3 Ortheil, Lesehunger, 158.

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(2003)4 reist nicht nach Rom, sondern in die italienische Provinz, doch auch er verbindet, wie es sich für einen modernen Reisenden gehört, sein berufliches Interesse, Recherchen für einen Film, mit dem reflektierten Genuss der Kultur und Natur des ihm bestens bekannten Landes. Das Nützliche mit dem Erfreulichen zu verbinden erscheint bekanntlich schon seit Horaz dem Gebildeten ein Muss.5 Im Laufe seines Aufenthalts dominieren dann mehr und mehr die privaten Interessen: Indem sich der Ich-Erzähler in eine Italienerin verliebt, intensivieren sich die sinnlichen, insbesondere die kulinarischen Erfahrungen der Region. Sie werden zum Fokus der Erzählung, zum Zentrum der narrativen Erkundung des Landes. Der Autor selbst hat vor einiger Zeit seine »Logik« der Lektüre6 Lesehunger. Ein Bücher-Menu in 12 Gängen betitelt und bewirbt sie als »ein opulent angerichtetes Fest des Lesens«7. Man kann das Lesen sehr gut mit der Nahrungsaufnahme vergleichen, ja, man kann sagen: Das Lesen ist die Befriedigung einer bestimmten Form von elementarem Hunger. Und weiter : lesen heißt einen Appetit stillen. Ich meine das nicht in einem metaphorischen Sinn, sondern ich meine es konkret und wörtlich. Lesen ist die Zuführung einer bestimmten Speise, und diese Speise ist nicht nur ›geistiger Art‹, wie man oft sagt, sondern immer auch etwas Sinnliches.8

Die körperlich gedachte Verbindung von Lesen und Essen9 findet ihr methodisch reflektiertes Pendant in der konkreten Bezogenheit sinnlichen Erzählens auf die kulinarischen (manchmal auch sexuellen) Ekstasen des mehr oder weniger autobiographisch gefärbten Protagonisten des Romans.10 Dessen fiktio4 5 6 7 8 9 10

Vgl. Ortheil, Die große Liebe. Vgl. Horaz, Ars Poetica, V. 333 f. Nach: Hamburger (1957). Ortheil, Lesehunger, Zitat auf der Rückseite des Buchumschlags. Ebd., 31. In diesem Kontext immer noch einschlägig: Neumann / Teuteburg / Wierlacher (1993). Vgl. zur Alltagsreferenz neuester deutschsprachiger Prosa: Meier (2001), etwa 571: »Literarische Erfahrungen werden neuerlich möglich, die wieder in einer unkomplizierten Beziehung zur Alltagsrealität stehen oder sich zumindest mit Recht so behandeln lassen.« Zur Verwendung autobiographischer Anspielungen bei Ortheil vgl. Cattus (2009) und genereller demnächst meinen Beitrag »Biographeme im deutschsprachigen Gegenwartsroman (Herta Müller, Monika Maron, Uwe Timm)«. In Hanns-Josef Ortheils Romanen sind Autobiographeme schier unübersehbar. In frühen Romanen – wie etwa Hecke oder Abschied der Kriegsteilnehmer – kann man sehr gut über eine vergleichbare Raumgestaltung auf den (auto-)biographischen Kern der Texte schließen. So wird in beiden Romanen ein ähnlich aussehendes Haus »auf der kleinen Anhöhe« beschrieben (Ortheil, Hecke, 7, vgl. Ortheil, Abschied der Kriegsteilnehmer, 10), das vermutlich tatsächlich in Wissen an der Sieg zu finden ist: Ortheils Elternhaus. Den Einsatz von Autobiographemen diskutiert Ortheil in seiner Poetik-Vorlesung Wie Romane entstehen. Eine zunächst vage Geschichte verbinde sich mehr und mehr mit der Vorstellungswelt des Autors, bis er mit seiner Romanwelt »verwächst«: So gesehen, lebt der Autor in seiner Geschichte und wird gleichzeitig von ihr

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nales Italienerlebnis basiert – so die Suggestion der Ortheilschen Poetologie11 – auf der faktischen Erfahrung des Schreibers. Diese Verschränkung von vorgeblicher Faktizität und fiktionaler Konstruktion – so die These – garantiert das Gelingen sinnlichen Erzählens. Um diese »Logik« des sinnlichen Erzählens wird es im Folgenden anhand des genannten Romans und einiger weiterer Texte des Autors gehen. Zu fragen ist also, wie der Ich-Erzähler versucht, Erzählen sinnlich zu gestalten und wie er dieses Verfahren im Roman und seinen Paratexten reflektiert. Um die Mittagszeit bekommt der Protagonist von Ortheils erfolgreichem Italien-Roman Die große Liebe (2003) Appetit. In einem kleinen, eher einfachen Restaurant im Bergstädtchen Ascoli Piceno setzt sich der genussfreudige IchErzähler beim Mittagsimbiss mit seiner heiklen Liebe zu Franca12 auseinander, die sich zur gleichen Zeit mit ihrem Verlobten Gianni Alberti zur Aussprache trifft. Verunsichert über die möglichen Folgen dieses Gesprächs befasst er sich in unübersehbar kompensatorischer Absicht mit seinem leiblichen Wohl: Ich nahm Platz, ich studierte die Karte, ich wollte zur Ruhe kommen, indem ich eine Karte studierte, Studium war jetzt das richtige, beruhigende Wort, ich ignorierte die mir bekannten Speisen, ich erhöhte den Schwierigkeitsgrad und suchte nach etwas Rarem, la trippa in bianco, las ich, Kutteln in Weißwein, ich stellte mir lang eingekochte, in einer öligen Weinsauce schwimmende Kutteln vor, schon bestellt, dachte ich, aber wie weiter, una zuppa di porri, ja dachte ich, ganz genau, eine gute Lauchsuppe zu Beginn, dann ein kleines Bett tagliatelle mit einer Lage Steinpilzen darauf, endlich la trippa, dazu eine Flasche Falerio, gleich eine Flasche? Natürlich, eine Flasche, auch so etwas trug jetzt zur Beruhigung bei.13

Es bleibt nicht bei einer Flasche Wein und ein Nachtisch folgt auch noch. Ausgiebiges und literarisch ausgestelltes Speisen erscheint im Roman als Leitmotiv, das gleich einem Seismographen die Gefühlsregungen des Ich-Erzählers anzeigen soll. Das noch unausgegorene, ungesicherte Verhältnis zur schönen Franca schlägt in der zitierten Szene dem männlichen Helden ganz offensichtlich auf den Magen. Nicht dass er keinen Hunger hätte, vielmehr bestimmt dieses flaue Gefühl die spezifische Auswahl der Speisen. Denn die unübersichtliche, schwer beherrschbare Wartesituation motiviert ihn zu deutlich symbolischen erlebt, oder, anders gesagt: Die Geschichte stellt sich für ihn als eine Erzählung dar, die zwar von und mit ihm zusammen erzählt, als Ganzes aber keineswegs von ihm kontrolliert oder begriffen wird (Ortheil / Siblewski, Wie Romane entstehen, 89). 11 Vgl. besonders: Ortheil / Siblewski, Wie Romane entstehen, 111 – 148. Zu Ortheils Romanen vgl. u. a.: Durzak (1995), Schmitz (1997) und Catani / Marx / Schöll (2009). 12 Dass sich der Vorname von Francesca Rigotta ableiten könnte, deren Buch Philosophie in der Küche. Kleine Kritik der kulinarischen Vernunft Ortheil in Lesehunger (vgl. 75 f. u. 88) zur Lektüre empfiehlt, ist eine nahe liegende Vermutung. Ihr Buch erscheint dort als »Basis unserer Lesemahlzeit« (75). Gekocht wird natürlich ein italienisches Gericht. 13 Ortheil, Die große Liebe, 222 f.

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Genussmitteln, die schwer verdaulich sind, wie die Steinpilze auf Tagliatelle, beziehungsweise die Verdauung unkontrolliert anregen, wie die Lauchsuppe. Ganz deutlich thematisieren natürlich die trippa das vegetative Verarbeiten; Kutteln gehören ja zum komplexen Verdauungstrakt des Rindes, der verhindert, dass das Tier nach der Nahrungsaufnahme an Gärprozessen leidet. Die Zubereitung der trippa in bianco – sie werden weich gekocht – erleichtert zwar das Kauen; zusammen mit der öligen Weißweinsauce werden die Kutteln aber noch einige Zeit im Magen liegen. Als Wein wurde mit dem Falerio ein eher schlichter einheimischer Weißwein bestellt, der aus unterschiedlichen Trauben hergestellt wird; er passt gut zum ländlich orientierten Essen, dürfte aber wenig anregen. Auch dies weist darauf hin, dass das Menü, trotz seiner unübersehbaren Opulenz, nicht der Präsentation einer überfeinerten haute cuisine dient, sondern auf Stimmigkeit zielt.14 Zudem dürfte die für die Mittagszeit wohl allzu schwere Kost in Kombination mit dem Landwein zu wohliger Müdigkeit führen – eine Intention, die sicher mit der verzwickten Beziehungslage zusammenhängt. Kurzum: das Mittagessen soll unsern Helden vor Unruhe und Nachgrübeln schützen. Gefühlslage, Lokal und Genussmittel sollen also bis aufs Detail aufeinander abgestimmt sein. Dies nun führt unsere kleine Textstelle nicht nur vor, sondern thematisiert es auch; sie reflektiert Probleme der Verschriftlichung von Sinnlichkeit, denn die Zusammen- und Vorstellung des passenden Menüs basiert auf einem genauen Studium der Speisekarte. Die dort verzeichneten Gerichte setzt der Erzähler stets in Relation zu seiner Stimmungslage. Dabei ist es wichtig, dass – innerhalb der Diegese – die Schriftpräsentation die späteren Genüsse antizipiert. Für den Leser müssen die kursivierten Speisekartenzitate mit Leben gefüllt werden; deshalb werden sie übersetzt und Zubereitungsformen angedeutet. Dass es hierbei um hermeneutische Akte geht, vermittelt erstens die insistierende und den Entschlüsselungsvorgang gleichsam nachzeichnende Verdopplung von Karte und Studium im Zitat. Zweitens wird der Lesevorgang als eine meditative Versenkung in einen Text verstanden, die auf die Ruhigstellung störender Gefühle abzielt. Drittens zeigt auch das Ausgewählte eine hermeneutische Intention an, weil es Bekanntes, schon Entschlüsseltes ausgrenzt und sich ganz auf die noch zu erkundenden, man könnte sagen, neu zu verstehenden Speisen konzentriert. Schließlich wird sogar der Lesevorgang selbst, das Studium der Speisekarte, als Schrift reflektiert, die, wenn sie entziffert werden kann, die Gefühlslage des Helden erschließt. »Studium«, kursiv als Schrift ausgestellt, »war jetzt das richtige, beruhigende Wort«. Es trifft die Beschäftigungsform mit der zu Schrift 14 Ganz ähnlich lesen sich die Menü- und Kochvorschläge in Ortheils Lesehunger. Literarische Texte korrespondieren dort mit spezifischen Gerichten; ja, der »Küchenraum« erscheint Ortheil schließlich als »ein geradezu idealer Lese-Raum« (Lesehunger, 73).

Zur Logik sinnlichen Erzählens

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geronnenen und deshalb zu entziffernden Sinnlichkeit der Speisekarte. Das Studium der Schrift erschließt so den zu erwartenden Genuss. Dabei wird das Lesen selbst als ein sinnlicher Akt ausgestellt, da in der Performanz der Schrift deren kursiv gesetzte Materialität aufscheint. Der Protagonist bekommt über das Studium der Karte sinnliche Vorstellungen einer raren Speise, die er sich über das intensive Lesen schon vor dem eigentlichen Genuss einverleibt. Die Literaturwissenschaft kennt diesen Effekt etwa von Dramen, die während der Lektüre eine mögliche Theaterrealisierung antizipieren. Die Performanz der Schrift steht in Relation zur Aufführung, ohne mit ihr identisch zu sein. So verhält es sich in gewissem Sinn auch bei der Speisekarte. In unserer Restaurantszene wird der Genuss, als er endlich einsetzt, noch vor dem Höhepunkt – trippa in bianco – gestört, als sich der Nebenbuhler des Protagonisten, Gianni Alberti, zu einem heiklen Treffen ankündigt. Diesen drängt es zur Aussprache am Tisch unseres bis dahin einsamen und übrigens zwischen den einzelnen Gängen immer wieder Tagebuch schreibenden Helden. Die schriftliche Auseinandersetzung mit seiner Liebe verändert sich zu einer konkret dialogischen, bei der sein Kontrahent in Liebesdingen zum Partner der gemeinsamen Mahlzeit wird. Es gilt die eigene Liebe zu Franca gegenüber einem Widersacher zu verteidigen, der gute Gründe hat, an seiner Verlobten festzuhalten – eine Situation, in der sowohl taktisches Handeln als auch Sensibilität erforderlich sind. Der nun inszenierte kulinarisch-narrative Showdown in gleißender Sonne erinnert in mancher Hinsicht an einen Italowestern, bei dem sich in einem kleinen Innenhof die beiden Duellanten zum finalen Treffen gegenüberstehen. In einer solchen Situation kann nur einer gewinnen. Ich bin gefordert, dachte ich, ich, diesmal ich, und dann dachte ich wieder, iß, iß doch, so iß!, meine Koordination geriet völlig durcheinander, ich wusste nicht einmal mehr, was ich als nächstes tun sollte, essen, nachdenken, schreiben oder trinken.15

Vorgeführt wird eine Verschränkung sinnlicher und kognitiver Vorgänge. Der sinnliche Genuss überlagert sowohl die notwendige Auseinandersetzung mit sich selbst, die das Tagebuchschreiben und Nachdenken geboten hatte, als auch die Vorbereitung auf den Dialog mit seinem Kontrahenten. Auch an dieser Stelle wird durch das Ausstellen von Schriftlichkeit die Unsicherheit im Umgang mit dem eigenen Ich und seiner Gefühlswelt angedeutet. Das wiederholt und intensivierend kursiv gesetzte »ich« gestaltet zugleich den zweifelnden Akteur und seinen Reflexionsgegenstand, ein unsicher schreibendes und vage beschriebenes Ich, wobei die Referenz zwischen den beiden Ebenen durch die angezeigte 15 Ortheil, Die große Liebe, 229.

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Differenz deutlich als unsicher markiert wird. Zudem akzentuiert der Erzähler mit dem über sich selbst reflektierenden Ich einen autobiographischen Habitus, der sich durchaus auch auf das Verhältnis des Erzählers zum Autor beziehen lässt. Auch wenn der als »Roman«16 gekennzeichnete Text keinen solchen autobiographischen Pakt ausdrücklich vorschlägt,17 so suggeriert das insistierende Reflektieren und ausdrückliche Schreiben über das eigene Ich doch ein autobiographisches Erzählen. Ortheils als Paratext zum Roman zu lesende vierte Poetikvorlesung Eine Entstehungsgeschichte spielt jedenfalls ganz offen mit dieser Leseoption.18 Doch kommen wir zurück zum Restaurantabenteuer : Im Essen, im sinnlichen Genuss findet das Ich, wenigstens vorübergehend, zu sich selbst; es spürt sich und seinen Körper zumindest. Der dreimal wiederholte Befehl »Iß!« dient insofern der Festigung des eigenen Selbstbewusstseins als tief liegendes Körpergefühl. Deshalb ist es nur konsequent, wenn er das Kuttelgericht als seine Waffe im Liebeskampf entdeckt: Ich war nach der ersten Gabel entschlossen, jetzt diese Kutteln zu essen, ich würde sie vor Gianni Albertis Augen langsam verzehren, die Kutteln und ihr Genuß waren die richtige Provokation, damit würde ich Gianni Albertis Gerede glatt unterlaufen, durch den zelebrierten Genuß einer Handvoll von Kutteln würde ich die geheime Regie unseres Gesprächs übernehmen.19

Die Auseinandersetzung mit Gianni Alberti findet – wie sollte es anders sein – dann auch im Essen ihr eigenes Medium. Denn auch dieser bestellt »etwas lüstern«, wie es heißt, die »trippa in bianco«.20 Natürlich verwendet der Erzähler erneut die genaue Formulierung der Speisekarte, da es ihm ja wesentlich um sinnlichen Nachvollzug nach dem eben erläuterten hermeneutischen Rezept geht. Beide haben die trippa vor sich stehen, als sie sich in brennender Sonne in die Augen sehen. Während der enttäuschte Verlobte im Gespräch darauf beharrt, die unrechte Beziehung zu seiner Franca könne ja nur eine Episode sein, sucht der Protagonist naturgemäß die tiefe Ernsthaftigkeit ihrer Liebe herauszustellen. Seinem Liebesbekenntnis, Franca sei die »große Liebe«, haftet ein selbstreflexives Moment des Erzählens an, das die Begegnung zu einer Schlüsselszene des Romans 16 Ebd., Untertitel. 17 Im Sinne von: Lejeune (1994). 18 Vgl. Ortheil / Siblewski, Wie Romane entstehen, 117 – 148, vor allem 135: »Es handelt sich aber um einen vollkommen anderen Liebesroman als man erwarten könnte, denn ich befinde mich ja als Erzähler und Figur mitten in diesem Liebesroman.« Vgl. auch: Ortheil, Die Erfindung des Lebens, 584: »Ich bin eine Figur meiner Geschichte, ich lebe in ihr, alles was man jetzt sagen wird, wird mich treffen.« 19 Ortheil, Die große Liebe, 230 f. 20 Ebd., 231.

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macht. Immerhin wird mit dem kursiv gesetzten Titel ja der zentrale Paratext des Romans zitiert, übrigens nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal.21 Das Bekenntnis zur unhintergehbaren großen Liebe führt schließlich dazu, dass sein Kontrahent das Kuttelmahl abrupt unterbricht. Alberti: Signore, […] ich kenne Ihr Alter nicht, vielleicht sind Sie ein klein wenig älter als ich, jedenfalls sind Sie nicht im pubertierenden Alter und damit aus dem Alter heraus, in dem man so schwärmerische Begriffe wie Die große Liebe gebraucht und auch nicht daran glaubt, diese Begriffe sind etwas für Romane und poetische Abhandlungen, den Ernst des Lebens berühren sie nicht.22

Alberti (und nicht der Ich-Erzähler) argumentiert hier poetologisch. Die große Liebe beziehe sich stets auf Fiktionales, nie auf Faktisches. Anders hatten ja der Ich-Erzähler im Roman und der Autor in seiner Poetik-Vorlesung argumentiert: Beide behaupten die Faktizität der großen Liebe unabhängig ihrer diskursiven Verortung im Fiktionalen oder Faktualen. Im Restaurantgespräch des Romans nimmt der Ich-Erzähler die poetologische Vorlage Albertis auf und führt in seiner Entgegnung programmatisch Fiktionales und Faktuales zusammen: Wir befinden uns aber in einem Roman […], Franca und ich – wir schreiben gleichsam an einem Roman, es ist ein beinahe klassischer Liebesroman, ein Liebesroman in nuce, wenn Sie so wollen. […] Es ist ein Roman ohne wirkliche Hindernisse, ohne peinliche Irrtümer und Nebengedanken, es gibt auch keinerlei alberne Umwege und erst recht keine Skepsis. […] Es ist Die Liebe pur ; deshalb nenne ich diesen Roman ja auch Die große Liebe.23

Die Formulierung »Liebesroman in nuce« kehrt wörtlich in der Poetikvorlesung wieder, die Ortheil im Umfeld des Zitats listig mit der zwitterhaften Bezeichnung »poetologische Erzählung« zwischen fiktionaler und faktualer Textsorte verortet.24 Hier erfasst die Formulierung nichts Fiktionales, sondern bezieht sich auf den faktual behaupteten poetischen Prozess der Liebesroman-Produktion, der seinen Ausgangspunkt u. a. in der realen Begegnung des Autors mit einer Frau hat. Er räumt ein: »in der Tat, ja, es handelt sich um einen Liebesroman in nuce, in nuce, der Sud ist hoch konzentriert, ich kochte ihn nun schon etliche Tage.«25 Die poetologisch genutzte Speisemetaphorik erinnert an die Ausführungen zum Lesehunger und natürlich an die zitierte Restaurantszene: Tatsächlich befinden wir uns ja in einem Roman und der Roman heißt ja auch Die große Liebe; er ist so unkompliziert, so einsträngig und leicht erzählt, wie es der Erzähler seinem Kontrahenten gegenüber vorbringt. Und worum es dabei geht, ist nichts 21 22 23 24 25

Vgl. ebd., Titel, 118 f., 234 f., 247 passim. Ebd., 234 f. Ebd., 235. Ortheil / Siblewski, Wie Romane entstehen, 145. Ebd., 134 f.

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weniger, als vorzuführen, wie Sinnlichkeit erzählt und gerechtfertigt werden kann, auch wenn sie den Gegenüber schmerzt. Dass dieser mit den Erklärungen schließlich nichts anfangen kann oder will und mehr als unterkühlt die Tafel verlässt, überrascht deshalb schließlich wenig. Aber der Fortgang der Geschichte interessiert hier weniger. Vielmehr soll die anhand der Trippa-Mahlzeit herausgearbeitete Logik sinnlichen Erzählens nun durch weitere metapoetische Äußerungen Ortheils kontextualisiert und als Textkultur der Selbstsorge analysiert werden. Sie verstehe ich als Moment der Werkpolitik Ortheils. Dabei geht es keinesfalls um eine werkimmanente oder autorzentrierte Lektüre der Romane, sondern um die Analyse von Texten, die durch deutliche Signale (Autorname, Buchgestaltung, Paratexte, Stil usw.) in einen gemeinsamen Kontext, in eine gemeinsame Textkultur gestellt werden. Das Werk begreife ich so als interpretierbare Größe wie Einzeltext, Gedicht, Textensemble oder Zyklus; seine Grenzen folgen nur, wie die anderen Beispiele auch, spezifischen Regeln. Die Logik sinnlichen Erzählens erläutert Ortheil vor allem in seinen schon genannten Poetik-Vorlesungen von 2008. In ihrer Argumentationsweise machen sie nicht nur den Werkcharakter seines Romanschaffens deutlich, indem sie eine analoge Machart der Romane behaupten, sondern geben auch Auskunft über zentrale Punkte seiner Narrativik. So sei für den Romanautor die »Erotisierung einer sonst faden und beliebigen Geschichte« wesentlich,26 die in einer einzigen Szene ihren Ausgang nehme. Eine solche Erotisierung ereignet sich über lauter Konkreta […], die plötzlich zu einer imaginativen Szene (oder einem imaginativen Bild) zusammenschießen. In diesem Bild ist alles von Bedeutung, alles ›lebt‹, jedes Detail vermittelt eine bestimmte Erregung, es gibt nichts Flaches oder gar Kaltes mehr.27

Eine solche Szene liegt, auch wenn sie von Ortheil nicht als Beispiel herangezogen wird, wohl in der Trippa-Mahlzeit in Die große Liebe vor. Und auch die Details, etwa die Gerichte der Speisekarte, die Zubereitung der Speisen, das Verhalten der Kellner oder die entworfene Örtlichkeit, der Restaurant-Innenhof mit seinem Springbrunnen, prägen sich als lebendige, alle Sinne ansprechende Elemente einer imaginativen Szene ein. Ortheil behauptet – und ich habe das für eine vergleichbare Lokalszene28 in Ortheils Köln-Roman Die geheimen Stunden der Nacht einmal überprüfen können –, dass diese Details auf penibler Recherche beruhen. Ortheil nutzt dabei nicht nur Notizen, sondern auch mitgenommenes Material, Fotos und Videofilme als Gedächtnisstützen für die Be26 Ebd., 54. 27 Ebd. 28 Vgl. die Speisekarten im Restaurant der Brauereigaststätte Früh in Köln und in Ustinov’s Bar im Domhotel, Köln.

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schreibungen. Ein solches »Arrangement von Details«29 begreift er dann als Ausgangspunkt, von dem aus eine Romanwelt weiterentwickelt wird, oder besser : sich mehr oder weniger von selbst weiterentwickelt, wobei der Autor mehr und mehr in eine Geschichte involviert wird, die er sich im Anfangsstadium wie ein Historiker erarbeitet hat. Zu einem bestimmten Zeitpunkt dieses Prozesses zielt die Geschichte auf den Romanautor wie auf ein Medium, das ihre Materialien ansaugt, sammelt, weiterspinnt, mischt – und sich dabei so sehr in sie vertieft, dass es nicht mehr mit der Person des Autors identisch ist, sondern eine Art Romanleben führt.30

Unschwer sind in diesen Reflexionen Theoreme der poststrukturalistischen Autordiskussion erkennbar ; aber vom Verschwinden des Autors im Text, so wie man es von Roland Barthes kennt,31 kann bei Ortheil keine Rede sein. Hier geht es ja nicht um die Auflösung der Textgrenze im Universum von Intertexten, sondern um die Macht einer sich verselbständigenden Diegese, deren atmosphärische Einzigartigkeit als emotionaler Reiz erscheint. Denn: In diesem Stadium der Romanentstehung verwächst der Autor mit der Romanwelt, er geht Verbindungen zu Figuren und Räumen ein und wird dadurch allmählich zu einem lebendigen Teil des Romans […]. So gesehen, lebt der Autor in seiner Geschichte und wird gleichzeitig von ihr erlebt, oder, anders gesagt: Die Geschichte stellt sich für ihn als eine Erzählung dar, die zwar von und mit ihm zusammen erzählt, als Ganzes aber keineswegs von ihm kontrolliert oder begriffen wird.32

Ortheils Romanpoetik geht nicht von einem Autor-Gott aus, der alles beherrscht, sondern von einem Autor, der zur Funktion der Romanerzählung wird, der quasi in seiner Romanwelt weiterlebt, ohne dass diese ab einem bestimmten Zeitpunkt noch von ihm gesteuert wird. Insofern kann er im Roman erlesen, aber nicht vollständig begriffen werden. Die Romanwelt gibt Auskunft über den Autor, aber diese Informationen bleiben vager Endpunkt eines hermeneutischen Prozesses, den nicht mal der Autor selbst verifizieren kann. Dieser Effekt liegt wesentlich an der detailreichen Ausarbeitung der Diegese, die sich realistisch nah an eine recherchierte Örtlichkeit hält. Am Ende der Poetik-Vorlesung berichtet der Autor ein wenig anekdotisch von der Wirkung seines Romans Die große Liebe. Dieser scheint tatsächlich konkrete Verhaltensformen zu prägen. Ortheil erzählt von Literaturtouristen, die sein Buch an Ort und Stelle lesen, von Fans, die das gleiche Gericht kosten wie die Romanfigur, und von anderen, die sich sehnlichst wünschen, an der Adria-Küste den Autor selbst zu treffen. Die Leserpost dokumentiert eine gnadenlose, von 29 30 31 32

Ortheil / Siblewski, Wie Romane entstehen, 55. Ebd., 88. Vgl. Barthes (1968), 12 – 17; deutsche Übersetzung: Barthes (2000), 185 – 193. Ortheil / Siblewski, Wie Romane entstehen, 89.

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Ortheil literaturtheoretisch natürlich abgelehnte Identifizierung von Autor und Romanfigur : Haben gerade eine wunderbare Fischsuppe direkt am Meer gegessen …, gleich fahren wir in das hoch gelegene Örtchen, in dem Sie und die Direktorin sich geküsst haben …, wir sind auf der Suche nach der Strandkabine, in der Sie diesen tollen Sex auf S. 162 Ihres Romans erlebt haben, können Sie uns Angaben machen …?33

Als Höhepunkt solcher Leser-Nachrichten sieht Ortheil jenes Paar, das all sein Hab und Gut verkauft hat und in jenen italienischen Ort gezogen ist, wo der Roman spielt. Ob diese Leserbriefe fingiert sind, ist schwer zu entscheiden. Ortheil hat mir von solchen Leserreisen auch persönlich erzählt;34 die skurrilen Geschichten scheinen mehr als nur ein Argument innerhalb seiner Romanpoetik zu sein. Hier aber weisen sie auf die Plausibilität des Erzählten, die dem Autor offenbar wichtig ist; mit der poetologischen Behauptung der authentischen Details erhalten die beschriebenen Szenen eine prinzipiell verifizierbare Sinnlichkeit, die die hermeneutische Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem zwar nicht aufhebt, aber die Imagination erheblich erleichtert. Der Logik des sinnlichen Erzählens geht es also mehr um Antizipation, Imagination und Anschaulichkeit als um narrative Artistik und sprachliche Ästhetik. Ein wichtiges weiteres Moment dieser Erzählkunst scheint mir in einer Art Textkultur der Selbstsorge zu liegen, die sich mit komplexen Erzählverfahren weniger verträgt als mit eingängiger Narration: Das genussvolle Essen und die hemmungslose Leidenschaft für eine Frau im Roman Die große Liebe haben insofern auch eine ›ethische‹ Komponente; sie dienen dazu, die erzählte Sinnlichkeit zu einem einfachen Lesegenuss zu machen. Dieses Vergnügen des Lesers korrespondiert mit dem auf Selbstsorge gerichteten Handeln des Protagonisten. Lesen und Essen, so Ortheil ja in den Lesehunger-Essays, sind vergleichbare Bedürfnisse und sinnliche Erfahrungen. Die Befriedigung eigener Wünsche gilt gemeinhin als mögliche, wenn auch nicht alleinige Voraussetzung von Glück; setzt man voraus, dass der Mensch nach Glück strebt, kann die Selbstsorge als so etwas wie ein natürlicher Handlungsimpetus gelten, der komplementär zu Altruismus und sozialer Verantwortung steht. Unterscheiden müsste man längerfristige Strategien der Selbstsorge und ein unmittelbares Selbstinteresse. Ersteres dürfte soziale Aspekte stärker berücksichtigen und stabiler sein als Letzteres. Im Rahmen einer praktizierbaren Moral wird man die ethische Selbstsorge immer in Relation zur Umwelt denken; eine solche vernünftige Selbstsorge, die gleichermaßen auf kontrollierter Erfüllung eigener Bedürfnisse, auf die dadurch erbrachte Stärkung 33 Ebd., 147. 34 Das Gespräch fand im Anschluss an seine Bamberger Poetik-Vorlesung im Juni 2007 statt.

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des Individuellen und auf Rücksichtnahme aufgebaut ist, garantiert eine stabilere Glückserfahrung als kurzfristige und unreflektiert umgesetzte Bedürfnisbefriedigungen. Sie denkt das eigene – auch körperliche – Wohlbefinden und Wachsen als Voraussetzung sinnvoller sozialer Interaktion. Ortheils Moselreise und der autobiographische Roman Die Erfindung des Lebens zeigen vielleicht am deutlichsten, wie Selbstsorge und soziales Handeln zusammenhängen und zu poetischer Produktion führen können.35 Diese maßvolle und relationale Selbstsorge, die weniger an übergeordneten Maximen als an der optimalen Gestaltung eigener Freiheit und Möglichkeiten orientiert ist, könnte man mit Foucaults spätem Konzept der souci de soi denken.36 Als These bietet sich an, die Romane Ortheils strikt von einer solchen relationalen Selbstsorge als notwendiger Voraussetzung sozialer Interaktion her zu lesen. Und diese Selbstsorge, das wäre als zweiter Teil dieser These zu notieren, vermittelt sich über die Logik sinnlichen Erzählens. Sie führt möglichst realistisch und detailreich vor, wozu der Lebensentwurf der relationalen Selbstsorge taugt. Erinnern wir uns ein letztes Mal an die trippa in bianco. Im Dialog mit dem Verlobten Francas war ein prekäres ethisches Problem zu bewältigen. Aus Sicht Gianni Albertis hatte sich der deutsche Liebhaber rücksichtslos in eine stabile Beziehung gedrängt und mit oberflächlichen, vor allem sinnlichen Reizen die Verlobte verführt. Ja, er wirft ihm vor, nicht nur die gängige Moral verletzt zu haben, sondern auch die soziale Kultur des Landes durch sein Verhalten zu missachten. Der Ich-Erzähler leugnet die Macht dieses Diskurses, indem er sich auf seine ›große Liebe‹ beruft, die von Franca erwidert werde. Die Selbstsorge der Liebenden setzt der Protagonist also in ihrer Geltung höher ein als die Macht der Moraldiskurse. Die Schönheit und Vollkommenheit der Liebe steht über der normierten Ehe- und Sexualmoral. Zudem gilt natürlich in der modernen Welt das Primat der gegenseitigen Liebe vor jeglicher Form konventionalisierter Beziehung. Insofern kann sich der Ich-Erzähler sogar der Sympathie des Lesers sicher sein, auch wenn diese der an Foucault erinnernden Selbstsorge weniger folgen können. Er gewinnt sie aber umso besser, je deutlicher er die gemeinsamen anthropologischen und kulturellen Voraussetzungen beider Kontrahenten herausarbeiten kann, obwohl sie vom Dialogpartner bestritten werden. Das Gespräch mit Alberti wirkt insofern als sinnliche Vorführung impliziter Gemeinsamkeiten. Da es bei der Verbalisierung von Liebe nicht primär um rationale Entscheidungen gehen kann, sondern um sinnliche Erfahrungen und deren emotionale Modu35 Der Ausbruch aus dem fast psychopathologischen Solipsismus der Kindheit und das veränderte Verhältnis zu den Eltern führen in beiden Romanen über die Reflexion und Umsetzung eigener Bedürfnisse. Erst die Beachtung des Selbst eröffnet den Protagonisten interaktive und kreative Möglichkeiten. 36 Vgl. Foucault (1989).

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lation, erscheint es geboten, in der gemeinsamen Mahlzeit Momente der gleichen Gefühlskultur aufscheinen zu lassen. Beide essen mit Genuss die trippa und trinken vom gleichen Wein, beide lieben die gleiche Frau und verfolgen das gleiche Ziel. Sie bewohnen – zumindest für Momente – den nämlichen Kosmos: Wir schwiegen und dachten nach, wir saßen uns eine Weile stumm gegenüber und aßen beide mit großem Genuß Kutteln in bianco, wir aßen dasselbe, wir tranken denselben Wein, wahrscheinlich ergab unser Zusammensitzen aus einiger Entfernung erneut ein Bild der Vertrautheit. […] Wie wäre es, dachte ich plötzlich, wenn ich mich mit gerade diesem Mann besonders gut verstünde.37

Auch wenn sich am Ende naturgemäß nur einer durchsetzen kann, bemerkt Alberti die Gemeinsamkeit der Liebe und der Sinne. Trotz seiner Enttäuschung, ja Kränkung erkennt er die nämliche Gefühlskultur : Franca liebt Sie, ich habe nicht die Absicht, jemanden zu kränken, den Franca liebt, im Grunde sind Sie mir nicht einmal unsympathisch, aber das spielt keine Rolle, ich weiß jetzt woran ich mit Ihnen bin, Sie haben sich außer ein paar poetischen nicht die geringsten Gedanken gemacht.38

Auf der Handlungsebene zollt Alberti vor den Gefühlen des Gegenübers Respekt, kritisiert aber aus rationalem Kalkül dessen Weltfremdheit, dessen irrationale und rigorose Entscheidung für seine Verlobte. Was soll er auch anderes tun? Der rationale Moraldiskurs, den Alberti anschlägt, kaschiert nur oberflächlich, dass er vermutlich genauso gehandelt hätte wie sein Gegenüber. Auf der Ebene der narrativen Selbstreflexion markiert der Erzähler das Poetische, man könnte übersetzen ›Fiktionale‹, einer solchen Liebesgeschichte. Das bedingungslose Ausleben von Sinnlichkeit erscheint insofern natürlich nicht als moralisches Programm, allenfalls als Konzept der Selbstsorge, vor allem aber als zentrales Element eines sinnlichen Lesevergnügens, das mit der geradezu utopischen Möglichkeit, die Liebe frei ausleben zu können, hantiert. Die Rezeptionsweise der hier präsentierten Liebesgeschichte hat eben mehr mit dem Studium der Speisekarte zu tun als mit einem moralischen Brevier. Sie ist antizipatorisch, imaginativ und identifikatorisch, stellt aber einen realistischen Anspruch nur in der Ausgestaltung von Details, nicht aber für den Verlauf der Geschichte. Dass damit im Roman gespielt wird, zeigt etwa sein Schluss. Denn bis zur letzten Seite – der Ich-Erzähler wartet, die Speisekarte studierend, auf Franca – bleibt unklar, ob sich die Geliebte für ihn entschieden hat. Erst als er ihre Stimme hört, löst sich die narrative Spannung. Eine solche Lektüreweise dient auch dem Leser als Selbstsorge; sie soll ihn, so weit es geht, schlicht glücklich machen. Darüber hinaus vermittelt sie vielleicht, 37 Ortheil, Die große Liebe, 233. 38 Ebd., 239.

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dass ethisches Handeln auch die eigene Befindlichkeit mit im Auge haben muss. In Ortheils poetologischen Texten wird eine solche didaktische Intention aber keineswegs behauptet. Hier geht es ausschließlich darum, wie ein gutes Buch geschrieben werden kann. Wie sich die Verbindung von relationaler Selbstsorge und Sinnlichkeit in anderen Romanen Ortheils zeigt, sei zumindest kurz angedeutet. In den Nachkriegsromanen Hecke (1983) und Abschied der Kriegsteilnehmer (1992) reflektiert der Ich-Erzähler sein Verhältnis zum Vater beziehungsweise zur Mutter. In der Erinnerungsarbeit geht es wesentlich um ein selbstbestimmtes Weiterleben des Sohns, für den die Erwartungen, Leiden und Erlebnisse der Eltern eine große Hypothek bedeuten. In beiden Romanen zeigt sich die Selbstsorge in einer intensiv erlebten Trennungsphase von den Eltern, die zu Selbstbesinnung und zur sinnlichen Erfahrung genutzt wird. Die Erfahrungen mit den Eltern und die Herausbildung schöpferischer Sensibilität wird in den autobiographischen Werken Die Moselreise (2010) und Die Erfindung des Lebens (2009) thematisiert. Zentral hierbei erscheinen das genaue Hinschauen, ja, die sinnliche Wahrnehmung überhaupt. Die historischen Romane erzählen von der Qualität ästhetischer Obsessionen für die Kunst – Musik, Malerei, Poesie – und ihre Verbindung mit (wesentlich auch erotischer) Selbstverwirklichung. Im Venedig-Roman Im Licht der Lagune (1999) entwickelt sich ein spezielles Farbempfinden im Wechsel von Selbstsorge und erzwungener Entsagung. Faustinas Küsse (1998) beschreibt den Weg Giovanni Beris vom bloßen Beobachter Goethes zum selbstbewussten und sinnlich empfindenden Römer. Der zweite große Liebesroman Das Verlangen nach Liebe (2007) operiert ähnlich wie die analysierte Große Liebe (2003). Der Ich-Erzähler, ein Pianist, verwirklicht seine Liebe zur Kunsthistorikerin Judith über gemeinsame sinnlich-kulinarische Erfahrungen, die an Erinnerungen anknüpfen. Die gemeinsame Selbstsorge, die genügend Raum zur je unterschiedlichen ästhetischen Entfaltung lässt, bietet die Basis für eine neue, jetzt wohl dauerhafte Verbindung. Intensiver reflektiert wird das Konzept im erwähnten Kölner Roman Die geheimen Stunden der Nacht (2005), der einerseits von der Liebe des verheirateten Helden zu seiner Sekretärin, andererseits von der Nachfolge des schwer erkrankten Vaters, eines bekannten Verlegers, handelt. Hier werden etwa die aufgesetzten und künstlichen Vorlieben des Bruders mit den eher bodenständigen, aber tief empfundenen sinnlichen Genüssen des Protagonisten kontrastiert. Dieser erreicht am Ende durch eine sich selbst zugestandene einfache Sinnlichkeit eine neue »Vitalität«, ein »Gefühl, sich in den Zentren des Lebens zu bewegen« und »kein Zuschauer« mehr »zu sein«.39 Da der Roman im Verleger-Milieu spielt, werden eine ganze Reihe von Literaturkonzepten durchgespielt, die eher von falscher Egozentrik zeugen als 39 Ortheil, Die geheimen Stunden der Nacht, 202.

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von einer ernst gemeinten Auseinandersetzung mit sich selbst – einer Auseinandersetzung, an der der Held wirklich wachsen kann: »Für die jungen Autoren ist ihr erstes Nutella-Brot ein Erlebnis und deshalb allen Ernstes ein Thema.«40 Unschwer erkennt man das Feindbild; die Popliteratur – Nutella hat in Florian Illies’ Generation Golf insgesamt vier Nennungen41 – macht das Triviale zum großen Ereignis. Der Arbeit am Gegenwartsarchiv42 stellt nun Ortheil mit seinem Romanwerk ein detailreich abgesichertes sinnliches Erzählen entgegen, das über die Selbstsorge zur Öffnung hin zum Sozialen führt. Ausgehend von solchen Beobachtungen könnte man Ortheils gesamtem Romanwerk also eine Logik sinnlichen Erzählens zuordnen. Dabei gehe ich von der Überlegung aus, dass es möglich ist, eine Art Werkpolitik43 zumindest in Teilen literaturwissenschaftlich zu (re-)konstruieren. Die so ablesbaren ästhetischen Prinzipien und die damit verbundenen Verhaltensideale müssen aber nicht notwendig dem Autor unterstellt werden, sondern können als Teil einer längerfristigen Marktorientierung des über Jahre entstandenen Werks verstehbar sein. Dieser Werkpolitik sind in den einzelnen Romanen freilich weitere Ideen und Konzepte angegliedert, die auf kurzfristige Interessen und Moden reagieren. Dies liegt auch an dem Umstand, dass Ortheils Romane deutlich unterschiedliche Marktsegmente44 bedienen, eine Taktik, die übrigens im Verlegerroman Die geheimen Stunden der Nacht reflektiert wird. Und diese Einzelsegmente verlangen eigene poetologische Ausrichtungen. Auf das erwartbare – historisch und markttechnisch differenzierte – Lesepublikum abgestimmt wirken einzelne ethische Problemstellungen: etwa die Art und Weise, mit der den in Krieg und Nationalsozialismus verstrickten Eltern im Erinnerungsprozess zu begegnen ist, das Verhältnis von ästhetischem Radikalismus und sozialer Umwelt, das Berücksichtigen transpersonaler Bindungen bei sinnlicher Erfahrung oder Grenzen für das Ausleben erotischer Bedürfnisse. Solchen jeweils anders akzentuierten Fragen korrespondiert innerhalb des Werks die Dominanz bestimmter Schreibweisen, etwa die (pseudo-)dokumentarischen Erzählverfahren in den

40 Ebd., 193. 41 Vgl. Illies (2001), 9, erste Seite des Buchs: »Nach dem Bad, es geht auf acht Uhr zu, gibt es Schwarzbrot mit Nutella.« Vgl. auch 69, 157, 172. 42 Vgl. Baßler (2002). 43 Vgl. Martus (2007). 44 Deutlich unterscheidbar sind vier Gruppen von Romanen, denen jeweils unterschiedliche Verhaltensideale, aber auch übergreifende Ideen zugrunde liegen: 1. Autobiographische Romane (Abschied von den Kriegsteilnehmern, Hecke, Die Erfindung des Lebens, Die Moselreise), 2. Historische Romane (Don Juan, Faustina, Im Licht der Lagune), 3. Familienromane (Lo und Lu, Die geheimen Stunden der Nacht), 4. Liebesromane (Die große Liebe, Das Verlangen nach Liebe).

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autobiographischen Romanen oder – wie gezeigt – die auf anschauliche Sinnlichkeit zielende und selbstreflexiv ausgestellte Ekphrasis in den Liebesromanen. Modellhaft könnte bei der narrativen Realisierung anschaulicher Sinnlichkeit – um mit Goethe den Kreis zu schließen – dessen Wilhelm Meister und die sich darauf beziehende Romanästhetik von Georg Luk‚cs gewirkt haben. In seiner Theorie des Romans von 1920 hatte dieser dem modernen Roman eine »Ethik der schöpferischen Subjektivität«45 als Ersatz für den Zugriff aufs Totale zugesprochen. Im suchenden Helden, der sich an keine übergeordnete Instanz mehr klammern kann, zeige sich im Roman die säkularisierte Moderne. Auch Ortheils Helden sind Suchende, die ihre kreative Selbstsorge erst aus einer sinnlichen Wahrnehmung der Umwelt entwickeln müssen. Insofern haben sie allesamt etwas Wilhelm-Meisterliches, ohne freilich wie Goethes Figur unbedingt einem erhöhenden Bildungsziel nacheifern zu müssen. Wenn man so will, bietet Ortheil seinen Figuren (und Lesern) statt der Turmgesellschaft eine Schule der Sinnlichkeit.

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Christoph Jürgensen

»Auf den ersten Blick denkt man, genauso sieht es aus in der Natur!« – Zur Logik jugendliterarischer Doppelcodierung am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Tschick Die Logik des Lebens, die Logik der Bücher kann nicht nur aus ewigen Regeln bestehen, es muß auch solche geben, die im jeweiligen Leben, im jeweiligen Buch geboren sind. Ernst-Wilhelm Händler, Die Frau des Schriftstellers

I. Als Alexander Sowtschicks Frau über den Sommer alleine in die Ferien reist und ihn, den alternden Schriftsteller und Protagonisten von Walter Kempowskis Roman Hundstage (1988), der einsamen Arbeit auf dem öden Land überlasst, lädt er sich zwei junge Schwestern zur Haushaltsführung ein. Auf das Eintreffen dieser Mädchen bereitet sich Sowtschick, der leicht erkennbar als satirisch überzeichnetes alter ego seines Autors entworfen ist, akribisch vor, indem er sich ein »Handbuch der Jugendszene«1 besorgt: Der konservative, grundsätzlich um seinen Nachruhm und dabei besonders um Resonanz bei der Jugend besorgte Bildungsbürger will die Sprache der Jugend lernen, um ihr (wohl nicht zuletzt aus Gründen der erotischen Reizbarkeit) zu gefallen und überhaupt mit ihr kommunizieren zu können. Dem genannten Handbuch also entnimmt er hilfreiche Informationen wie diejenige, »daß er selbst ein ›Hirni‹ sei, möglicherweise ein ›Geili‹, was ihn erheiterte. Ein ›Geili‹? Aufsteigende Hitze bei sich selbst würde er zu ersticken wissen. Ein ›Geili‹ war er nicht, ein ›Hirni‹ schon eher, oder ein ›Softi‹. Hier fiel ihm sein Name ein: Soft-schick, so könnte man ihn lesen: Sanft und nicht ganz unflott.«2 Weder in dieser Passage noch an anderer Stelle lässt der Roman einen Zweifel daran aufkommen, dass Sowtschicks Versuch, den richtigen ›Ton‹ zu treffen, ›naturgemäß‹ nur scheitern, ja nur zur peinlichen Anbiederung geraten kann, auch wenn die Mädchen dann immerhin in »Maßen« so reden, »wie es im Handbuch der Jugendszene stand«3. Vom Text, so ließe sich 1 Kempowski, Hundstage, 13. 2 Ebd., 116. 3 Ebd., 122.

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in Anlehnung an ein berühmtes Diktum Hofmannsthals pointieren, führt eben »kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens.«4 Augenfällig wird diese Fremdheit in Hundstage daran, dass Sowtschick die Schwestern im Sinne der nur angelesenen Sprache vertraulich duzt, sie »blieben ihrerseits jedoch beim ›Sie‹«.5 *

Wenn man so will, figuriert Kempowskis Sowtschick hier als Allegorie sowohl des kommunikativen Handlungszusammenhangs ›Jugendliteratur‹6 im Besonderen als auch des Phänomens ›Jugendsprache in Literatur‹ im Allgemeinen: Wesentliches Merkmal dieser literarischen Kommunikationsakte ist, dass sie von erwachsenen Autoren aus der Perspektive jugendlicher Erzähler produziert werden. Nicht verwundern kann mit Blick auf die notwendig große Diskrepanz zwischen Produzenten und Rezipienten hinsichtlich etwa des kulturellen Wissens, des Lebensstils und des Selbstverhältnisses, dass die professionelle Literaturkritik – falls sie diese Texte überhaupt zur Kenntnis nimmt – ihr geradezu reflexhaft fehlende Authentizität und Anbiederung an das jugendliche Publikum attestiert; und auch in der Jugendliteraturwissenschaft findet sich dieser Vorwurf immer wieder.7 So topisch diese Kritik ist, so problematisch erscheint sie allerdings zugleich: Denn aufgrund der skizzierten Strukturbedingungen mögen die jugendliterarischen Vertextungsverfahren zwar gleichsam handwerklich graduell andere Herausforderungen bieten als erwachsenenliterarische Verfahren, in kategorialer Sicht hingegen unterscheidet Jugendliteratur bzw. jugendliche Erzählerfiguren und ihre Sprache nichts von erwachsenenliterarischen Erzählern, gleich ob es sich dabei um einen Handwerker, einen Büroangestellten oder einen Schriftsteller handelt. Genauer : Sprache und Ereignisse jugendliterarischer Texte bilden so wenig wie erwachsenenliterarische Werke die außertextuelle Wirklichkeit authentisch genau ab, schließlich handelt es sich in beiden Fällen um fiktionale Weltentwürfe, die ihren je eigenen internen Gesetzen folgen und Authentizität allenfalls fingieren können – auch wenn sich das theoretisch naive Widerspiegelungsdogma hartnäckig hält. Sowtschicks Leser etwa, um ein letztes 4 Hofmannsthal, Poesie und Leben, 16. 5 Kempowski, Hundstage, 122. 6 Unter ›Jugendliteratur‹ verstehe ich hier nicht die Gesamtheit der von Kindern und Jugendlichen rezipierten Literatur, sondern eine intentionale Jugendliteratur, die für Jugendliche ab ca. 12 Jahren produziert und empfohlen wird. Vgl. Kümmerling-Meibauer (2007), 254. 7 Vgl. hierzu Nave-Herz (1989), bes. 628 f.

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Mal auf Kempowskis ›Helden‹ zurückzukommen, »wollen ihr jetziges Leben beschrieben, eigenes Tun und Treiben gespiegelt, ja gedoppelt sehen«8. Nicht um Verismus und eine ›wahre‹ Schilderung der Welt, die auf ihre Richtigkeit befragt werden soll, kann es der Jugendliteratur zu tun sein, sondern auch für sie gilt, was sich mit Niklas Luhmann prinzipiell über die Leitopposition ›Wirklichkeit vs. Kunst‹ statuieren lässt: Die Differenzierung von Kunst gegen das Medium der Wahrheit kann nicht begriffen werden als Verzicht auf kognitive Prozesse bei der Produktion oder Rezeption von Kunstwerken, etwa auf der Basis von Intuition und Genuß. […] Sie besteht vielmehr in einer Spezifikation der Anforderungen an Kognition unter der Bedingung einer stilbedingten Absonderung, schließlich unter konsequentem Verzicht auf realitätsbezogene adaequatio. Dies gilt auch für eine in einem programmatischen Sinne ›realistische‹ Kunst […]. An die Stelle der adaequatio tritt so etwas wie immanente Stimmigkeit des Kunstwerks […].9

Folgt man Albert Meiers grundsätzlicher Annahme zur ›Logik der Prosa‹, so ist nun das Verhältnis zwischen dieser ›immanenten Stimmigkeit‹, d. h. den internen Gesetzmäßigkeiten des jeweiligen Erzähltextes auf der einen und der außertextlichen Realität auf der anderen Seite im Fall jeglichen realistischen Erzählens besonders intrikat: und zwar wegen des poetologischen double binds, einerseits ›kunstlos‹ erscheinen, andererseits aber durchaus als Kunst erkennbar sein zu wollen. Oder noch einmal mit Luhmann gesprochen: Das jeweilige Kunstwerk muß der Wirklichkeit so ähnlich wie möglich gemacht werden, d. h. es gilt, den Kunstcharakter zu kaschieren – zugleich aber muß das Werk doch die Möglichkeit retten, als Kunst bemerkt zu werden, also alles tun, um trotz des kunstlosen Kerns doch unmißverständlich in seiner Künstlichkeit aufzufallen.10

In den Zusammenhang einer solchen Erzählliteratur ist eine spezifische Spielart der Jugendliteratur als aufschlussreicher Sonderfall für die hier in Rede stehende Frage nach der Logik der Prosa einzuordnen: nämlich diejenige Spielart, die jugendliche ebenso wie erwachsene Leser adressiert und daher notwendig besonders stark durch das skizzierte double bind geprägt ist. Anders gesagt: Um beide Lesergruppen ansprechen zu können, müssen diese Texte einer Logik der ästhetischen Doppelcodierung folgen, indem sie einerseits für die auf identifikatorische Lektüre gerichtete jugendliche Leserschaft ›Authentizität‹ stimmig fingieren oder inszenieren und andererseits den erwachsenen Lesern ihre ästhetische Dignität demonstrieren.

8 Kempowski, Hundstage, 13. 9 Luhmann (2001), 163 f. 10 Ebd., 164.

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II. Die Geschichte dieser spezifischen Form der Jugendliteratur müsste in der ›Sattelzeit‹ (Reinhart Koselleck) einsetzen, in der sich ›Jugend‹ als sozial relevante Konstruktion allererst herausbildet;11 sie müsste eine Traditionslinie nachzeichnen, die von Texten wie Johann Heinrich Campes bezeichnenderweise Theophron oder der erfahrene Rathgeber für die unerfahrene Jugend (1783) betitelten Jugendbuchklassikern ausgeht, die ausschließlich die Rede eines Erziehers an seine Zöglinge präsentieren; und sie müsste schließlich den grundlegenden Wandel seit diesen Anfängen der Jugendliteratur im Zeichen der Erziehung rekonstruieren, an dessen Ende allein der Jugendliche das Wort hat – der auktoriale erwachsene Erzähler verschwindet also sukzessive aus dieser Literatur, und sein Platz wird von jugendlichen Erzählern und ihren Perspektiven eingenommen.12 Um nur drei Beispiele aus dieser Tradition herauszugreifen, die produktionsästhetisch wie wirkungsgeschichtlich besonders bedeutsam sind, d. h. erstens die besondere Form der Doppelcodierung innerhalb dieses Phänomenbereichs anschaulich illustrieren und zweitens die zentralen Überlieferungszusammenhänge zumindest andeuten: So hält Mark Twains Adventures of Huckleberry Finn (1884) zwar konsequent die Erzählperspektive des etwas kindlich-naiven 14-jährigen Erzählers durch, der seiner Sozialisation gemäß durch und durch idiomatisch spricht. Aber dennoch wird keineswegs ›kunstlos‹ erzählt, wie gleich der paratextuelle Rahmen in wünschenswerter Klarheit markiert: Ein ironischer Vorspruch, zugeschrieben einem von Twain ›autorisierten‹ G. G., Chief of Ordnance, erteilt jeder Suche nach einem Motiv oder einer Moral eine Absage und kündigt sprachverspielt an, dass »persons attempting to find a plot will be shot«; zudem erläutert eine »Explanatory« des Autors selbst den Grund für die »number of dialects are used«, »for the reason that without it many readers would suppose that all the characters were trying to talk alike and not succeeding.«13 Und der Auftakt des Romans knüpft dann sofort an diese Form der Selbstreflexivität an: »You don’t know about me, without you have read a book by the name of The Adventures of Tom Sawyer, but that ain’t no matter. That book was made by Mark Twain, and he told the truth, mainly. There was things which he stretched, but mainly he told the truth.«14 Offenkundig ist hier der Rekurs auf dasjenige metapoetische Spiel mit den Instanzen der literari-

11 12 13 14

Siehe hierzu umfassend: Oesterle (1997). Zu dieser Entwicklung siehe Ewers (2003), hier bes. 255 f. Twain, The Adventures of Huckleberry Finn. Ebd., 1.

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schen Kommunikation, das seit Cervantes und Sterne zum festen Repertoire der Höhenkammliteratur gehört. Ohne diesen Referenztext undenkbar sind Romane wie Jerome D. Salingers The Catcher in the Rye (1951), der ebenfalls schimpfwort- und phrasenlastig die gesprochene Umgangs- und Jugendsprache nachahmt; kaum zählbar ist etwa, wie häufig der 16-jährige Protagonist Holden Caulfield ›goddam‹ und ›fuck‹ sagt. Wesentlich für die hier verfolgte Argumentation ist, dass dieses Identifikationsangebot qua Sprache und Einfühlung in eine jugendliche Perspektive weltweit äußerst erfolgreich war, obwohl oder gerade weil auch dieser Roman gleich eingangs seine ästhetische Doppelcodierung demonstriert: Wie es sich für narrative Kunstprosa gehört, wird gegen die chronologische Ordnung der Ereignisse erzählt und der Erzählvorgang ausdrücklich thematisiert. »If you really want to hear about it, the first thing you’ll probably want to know is where I was born, and what my lousy childhood was like, and how my parents were occupied and all before they had me, and all that David Copperfield kind of crap, but I don’t feel like going into it.«15 Und ohne Salingers Catcher in the Rye wiederum ist Ulrich Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen W. (1973) undenkbar, um ein Beispiel aus dem deutschen Sprachraum anzuführen. Der Text nennt diesen Einfluss explizit: Meine zwei Lieblingsbücher waren: Robinson Crusoe. Jetzt wird vielleicht einer grinsen. […] Das andere war von diesem Salinger. Ich hatte es durch puren Zufall in die Klauen gekriegt. Kein Mensch kannte das. Ich meine: kein Mensch hatte es mir empfohlen oder so. Bloß gut. Ich hätte es dann nie angefaßt. Meine Erfahrungen mit empfohlenen Büchern waren hervorragend mies. Ich Idiot war so verrückt, daß ich ein empfohlenes Buch blöd fand, selbst wenn es gut war. Trotzdem werd ich jetzt noch blaß, wenn ich denke, ich hätte dieses Buch vielleicht nie in die Finger gekriegt. Dieser Salinger ist ein edler Kerl.16

Seinem Vorbild entsprechend erzählt Edgar Wibeau seinen Konflikt mit der DDR-Gesellschaft folglich in einer Sprache, die die Rede Jugendlicher imitiert, namentlich durch umgangssprachliche Wendungen, eine mündliches Sprechen nachbildende Syntax sowie eine Vielzahl von Anglizismen. Doch es bleibt nicht bei dieser ›Übersetzung‹ von Holdens jugendlichem Protest gegen die oberflächliche amerikanische Konsumgesellschaft in einen Protest gegen den sozialistischen Kollektivismus, denn gegenüber dem literaturgeschichtlichen Impulsgeber forciert Plenzdorfs Roman die ›Künstlichkeit‹ sogar noch einmal erheblich, indem er Edgar aus einer unmöglichen Erzählposition berichten lässt – bekanntlich ist der Werther redivivus tot, als der Diskurs der Erzählung einsetzt. Im Folgenden sollen diese produktionsästhetischen und rezeptionsge15 Salinger, The Catcher in the Rye, 5. 16 Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W., 26.

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schichtlichen Zusammenhänge an einem aktuellen Beispiel noch genauer evaluiert werden, an einem Text, der zum einen vom seriösen Feuilleton fast einstimmig gefeiert wurde, zum anderen nicht einmal ein Jahr nach seinem Erscheinen bereits zur Schullektüre avanciert ist und daher ein günstiges Explorationsfeld für die Frage nach der ästhetischen Doppelcodierung jugendliterarischer Werke anzubieten verspricht: an Tschick von Wolfgang Herrndorf.

III. Bevor es ›Tschick‹ machte, hatte der 1965 in Hamburg geborene Wolfgang Herrndorf – in diesem Fall ist der Jahrgang des Autors tatsächlich einmal bedeutsam für die Interpretation – als Illustrator u. a. für den Haffmans Verlag und die Satire-Zeitschrift Titanic gearbeitet. Dazu legte er mit In Plüschgewittern 2002 seinen von der Literaturkritik verhalten als Nachzügler der Popliteratur gelobten Debütroman17 und mit Diesseits des Van-Allen-Gürtels (2004) einen Erzählungsband vor, der ihm den Publikums-Preis beim Ingeborg-BachmannPreis 2004 sowie den Deutschen Erzählerpreis des Jahres 2008 einbrachte. Erst die Veröffentlichung von Tschick im Jahr 2010 aber rückte Herrndorf in den Fokus einer breiten (literarischen) Öffentlichkeit, ausgerechnet mit einem Jugendroman also konnte er erstmals eine enorme Menge der raren Ressource ›öffentliche Aufmerksamkeit‹ akkumulieren. Produktionsästhetisch aufschlussreiche Einblicke in die Entstehung dieses Romans konnten aufmerksame Beobachter bereits vor seiner Veröffentlichung nehmen, da Herrndorf seit September 2010 unter dem Titel Arbeit und Struktur ein Weblog oder Blog, d. h.: ein digitales Tagebuch ins Netz stellte.18 Initialereignis dieses Blogs war ein existentiell-biographisches Faktum: Bei Herrndorf wurde im Februar 2010 ein bösartiger, inoperabler Gehirntumor diagnostiziert. Kurz nach dieser Diagnose erlitt er einen Nervenzusammenbruch, wurde von einem Freund in die psychiatrische Abteilung der Berliner Charit¦ eingeliefert – und am Tag darauf, am 8. März 2010, setzt das Netztagebuch mit einem Eintrag ein, der den tragikomischen Grundton anschlägt, in dem die gesamten Aufzeichnungen erklingen: 17 Beispielhaft für die Bewertung der Literaturkritik formuliert Edo Reents durchaus wohlwollend: »Man ist ihm schon oft begegnet, diesem jungen Mann und namenlosen Icherzähler aus Wolfgang Herrndorfs Debütroman ›In Plüschgewittern‹: in den Büchern von Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht oder Marc Fischer.« Überdies erkennt Reents übrigens auch Anleihen bei Vorgängern wie Eichendorffs Taugenichts und Salingers Holden Caulfield. Siehe Reents (2002). 18 Zum Subgenre ›digitale Tagebücher‹ siehe Jürgensen (2011).

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Gestern haben sie mich eingeliefert. Ich trug ein Pinguinkostüm. Jetzt habe ich einen Panoramablick über ein Stück Spree, den Glaszylinder des Hauptbahnhofs, einen Kanal und klassizistische Gebäude. Auf dem Mäuerchen um die Neuropsychiatrie herum sitzt eine Schulklasse. Mein Bedürfnis, unter Zucken und Schreien einen Zettel durch das Fenster zu ihnen hinunterzuwerfen, wächst: ›Hilfe! Ich bin nicht verrückt! Werde gegen meinen Willen hier festgehalten. Das mit dem Pinguin war nur ein Scherz, ihr könnt Marek fragen oder Verboten Wolf!‹ Aber erstens kann man die Fenster nicht öffnen und zweitens, fürchte ich, würden sie den Witz nicht kapieren.19

Dieser Ausgangssituation gemäß widmet sich das digitale Diarium zunächst vor allem dem Versuch, die Verzweiflung zu bewältigen, und dem Arbeitseifer, in den diese Verzweiflung bald umschlägt; der Blog schildert Momente der völligen Resignation, berichtet von Alltäglichem wie Fußballgucken mit Freunden und Kneipenbesuchen. Und er liefert, für die hier verfolgte Argumentation interessanter, auch Werkstattnotizen und poetologische Kommentare; auf diese Dimension des Netztagebuchs möchte ich mich konzentrieren.20 So sieht der Leser gleichsam über die Schulter des Autors auf seinen Schreibtisch, als er am 24. März die Arbeit an dem »Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf Halde schrieb«21, wieder aufnimmt, und verfolgt die von der Zeitnot diktierten, raschen Fortschritte dieser Arbeit (»In spätestens 52 Tagen ist es fertig. Heute: Kapitel 1«22) bis zur Veröffentlichung des Romans. Darüber hinaus bekommt er durch die mitlaufende Lektüre Herrndorfs gleichsam einen Privat-Kanon des Autors präsentiert, der Höhenkammliteratur von (unter anderen) Proust, Dostojewski und Hamsun und Klassiker der Jugendliteratur von Twain und Salinger bis zu Felix Graf von Luckner gleichermaßen umfasst und dergestalt sowohl interpretationsrelevante Einzelbezüge nennt als auch auf die Doppelcodierung des Romans paratextuell hindeutet.23 Autorseitig abgesteckt ist damit der Referenzrahmen für Tschick, und die Rezensenten sind den Spuren 19 http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/04/eins/. Zumindest erwähnt sein soll in diesem Zusammenhang, dass der Rowohlt Verlag versuchte, das existentiell-biographische Faktum resonanzstrategisch auszunutzen, wie sich einem Eintrag vom 4. Oktober 2010 ablesen lässt: »Bekomme mit, daß der Verlag Bloglink mit Psychiatrisierungseintrag als Werbemittel rumschickt. Wahnsinn. Und nein, das ist nicht mit mir abgesprochen.« Die Frage, ob diese Strategie wie überhaupt das Wissen um die Krankheit des Autors Einfluss auf die Rezeption genommen haben, ist so spekulativ wie pietätlos und soll hier daher nicht weiter verfolgt werden. 20 Zur erheblichen Resonanz des Blogs in der literarischen Öffentlichkeit siehe exemplarisch den weit ausgreifenden Artikel von Höbel (2011). Höbel feiert den öffentlich ausgetragenen Kampf gegen den Krebs ausdrücklich als »Literaturereignis«, das zugleich »komisch, traurig und poetisch sei.« 21 http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/04/drei/ 22 Ebd. 23 Siehe vor allem die am 19. April 2010 gepostete »Liste der Bücher, die mich in verschiedenen Phasen meines Lebens aus unterschiedlichen Gründen am stärksten beeindruckt haben und die ich unbedingt noch einmal lesen will.« http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/04/vier/

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gefolgt, auf die sie hier gesetzt werden – aber dazu anlässlich einer kurzen Rezeptionsgeschichte gleich mehr. Vor allem artikuliert der Blog klar vernehmlich, dass Herrndorf mit seinem Text erstmals in seiner Schriftstellerkarriere zwar nicht ausschließlich, aber doch vorrangig jugendliche Leser adressiert: Denn er spricht nicht nur immer wieder allgemein von seinem »Jugendroman«, sondern späht darüber hinaus denjenigen Bereich des literarischen Feldes aus, den er mit seinem ›Jugendroman‹ betreten wird: C. hat mir einen Stapel Jugendliteratur hingestellt, damit ich sehe, was die Kollegen so treiben […]. Bis auf ein Buch unternimmt keins die Mühe, eine Geschichte erzählen zu wollen, sprachlich wirken sie, als wollte ein Kulturpessimist die Ansicht demonstrieren, Jugendliche könnten längere zusammenhängende Sätze oder Gedanken weder formulieren noch begreifen.

Selbst im gelungensten Konkurrenzprodukt, Heim von Mirijam Günter (2004), herrsche der »sprachliche Biedersinn« und es werde sofort »losgekumpelt«.24 An dieser Konkurrenz richtet er sein Schreibprogramm also aus, oder besser : Von dieser Konkurrenz will er sich durch eine kohärente Geschichte und eine in sich schlüssige, ästhetisch anspruchsvolle Sprache absetzen. Nur folgerichtig für Adressierung wie Poetik ist schließlich, dass Herrndorf nicht auf die Weihen der Konsekrationsinstanzen im erwachsenenliterarischen Feld abzielt, sondern vielmehr auf diejenigen im Subfeld der Jugendliteratur, konkret: auf den Kinderund Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg. »Das wollen wir doch erstmal sehen«, notiert er am 1. Juni 2010 ebenso trotzig wie selbstkritisch, »ob sie beim Deutschen Jugendbuchpreis ein rasend schnell zusammengeschissenes Manuskript von einem durchredigierten unterscheiden können.«25 Am 12. Juni 2010 ist der Roman tatsächlich bereits fertig und die Deadline für die Einreichung des Manuskripts somit eingehalten, »aber gestern Anruf in Oldenburg: die Ausschreibung für den Jugendbuchpreis ist ausgesetzt, keine Haushaltsmittel […].«26 Wirkungsgeschichtlich relevant ist dieses Faktum, da der Roman gegen die ursprüngliche Intention nun doch nicht in einem jugendliterarischen, sondern vielmehr dem erwachsenenliterarischen Kommunikationszusammenhang reüssierte und erst über einen Umweg, namentlich über die Institution Schule, zu den jugendlichen Adressaten gelangte.27 24 25 26 27

Ebd. http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/06/fuenf/ Ebd. Als Beleg für die schnelle Aufnahme von Tschick in den Kanon der Schullektüre mag ein unter dem Titel Lehrerzimmer. Herr Rau erzählt von sich und der Schule. Ein Lehrerblog geposteter Beitrag dienen, der von Lektüreerfahrungen mit einer 9. Klasse berichtet und eine lebhafte Diskussion im Forum der Seite nach sich zog. Siehe: http://www.herr-rau.de/wordpress/ 2011/02/wolfgang-herrndorf-tschick.htm.

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Der angestrebte Jugendbuchpreis konnte also nicht mehr gewonnen werden, und überhaupt blickte Herrndorf resigniert auf die Produktion des Textes zurück und skeptisch auf seine Rezeption voraus: Erinnere mich, wie ich im März in den ersten warmen Nächten am offenen Fenstern saß und arbeitete und dachte, es ist eine Sache auf Leben und Tod. Und das war es vielleicht auch. Aber es hat sich im Roman nicht abgebildet. Stilistisch fragwürdige Pennälerprosa mit Allerweltseinfällen, als Ganzes strukturlos. Auch die letzte Szene – wen interessiert’s?28

Diese Skepsis erwies sich freilich, wie bereits angedeutet, als unbegründet: Sowohl die Literaturkritik als auch die unprofessionellen Leser interessierten sich durchaus für Herrndorfs Jugendroman. Statt nur der erhofften »3.000er Auflage« waren schnell mehrere Auflagen verkauft, zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels im Oktober 2011 ist die 13. Auflage im Handel, und auch das Hörbuch hat bereits die dritte Auflage erreicht. Im Januar 2011 sollten dann sogar die Filmrechte verkauft werden, was Herrndorf gleichmütig zur Kenntnis nahm: »25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.«29 Grosso modo fällte die Literaturkritik ein einstimmiges Urteil über Tschick, und auch im Detail unterschieden sich die einzelnen Rezensionen nur wenig. So versäumte es kaum eine Besprechung, auf die »großen historischen Vorbilder«30 Huckleberry Finn und Der Fänger im Roggen hinzuweisen, auf die Entlehnung einzelner Motive, größerer Handlungslinien sowie Charakteristika der Figurenzeichnung. Daher konnte er am 13. Oktober 2010 als besonderes Ereignis mitteilen: »Die SZ (Seibt) kostet mich eine Runde Bier : erste Rezension ohne Salinger.«31 Allerdings ist wenig überraschend, dass die Nennung dieser Referenzgrößen wie ein basso continuo durch die Rezeption läuft: Denn einerseits hatte Herrndorf in seinem Blog ja selbst auf Twain und Salinger hingewiesen, und andererseits unterstützte der Verlag diese Form der autorseitigen Lektürelenkung, indem er den Roman in der Rowohlt Revue mit der aufmerksamkeitsökonomisch cleveren Bemerkung ankündigte: »Bei einer bestimmten Sorte Bücher schreiben Rezensenten so verlässlich wie einfallslos: Salinger, Fänger im Roggen, Holden Caulfield« – womit der Vergleich mit Salingers Erfolgsbuch zugleich ins Spiel gebracht und sich ironisch von ihm distanziert ist. Und der Klappentext sekundierte diesen Positionierungshandlungen durch den Hinweis, 28 29 30 31

http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/06/sechs/ http://www.wolfgang-herrndorf.de/2011/01/zwoelf/ So stellvertretend Schachinger (2010). http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/11/neun/

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die Reise von Herrndorfs Protagonisten sei so »unvergesslich wie die Flussfahrt von Tom Sawyer und Huck Finn«. Zudem thematisierten die Rezensenten unter der Leitdifferenz ›Glaubwürdigkeit vs. Anbiederung‹ mehrheitlich den Stil des Romans, wobei das Pendel eindeutig in Richtung Glaubwürdigkeit ausschlug. Marius Meller beispielsweise resümierte gleich zum Auftakt seiner Rezension im Deutschlandradio: »Wenn Erwachsene versuchen, in Jugendsprache zu schreiben, hört sich das oft peinlich bemüht an. Nicht aber in Wolfgang Herrndorfs ›Tschick‹. Der 45-jährige Autor jagt seinen 14-jährigen Erzähler durch seine Road-Novel ohne sich sprachlich anzubiedern.«32 Und Felicitas von Lovenberg lobte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um dem Kritiker-Chor nur noch eine zweite Stimme exemplarisch abzulauschen: »Wie Herrndorf diesen Vierzehnjährigen vom ersten Satz an heraufbeschwört, ohne einen einzigen Ausrutscher immer das richtige Maß findet zwischen altersgerechter Pose, Witz und Empfindsamkeit, das macht ihm keiner nach.«33 Weitgehend Einigkeit bestand schließlich darin, dass Tschick sowohl für jugendliche als auch erwachsene Leser empfehlenswert, oder im Sinne meiner Argumentation formuliert: dass seine ästhetische Doppelcodierung gelungen sei. Um auch hier nur zwei Belege für dieses Werturteil anzuführen, denen sich leicht weitere an die Seite stellen ließen: Als einen »herausragende[n] Jugendroman gerade auch für Erwachsene«34 hat Christian Schachinger Tschick gelesen, und der Stern freute sich über »ein hinreißend komisches Lektüre-Abenteuer […], an dem Erwachsene ebenso ihren Spaß haben können wie Achtklässler.«35 Maxim Biller schließlich nobilitierte Herrndorfs Roman kürzlich sogar, indem er ihn neben u. a. Rainald Goetz’ Irre, Jörg Fausers Rohstoff, Uwe Tellkamps Der Turm, Christian Krachts 1979 und seinen eigenen, Skandal gewordenen Roman Esra in den Kontext eines ›relevanten Ich-Realismus‹ einordnete, der die besten Romane der letzten 25 Jahre geliefert habe: Wolfgang Herrndorf schreibt einen der schönsten, menschlichsten und nur scheinbar konventionellsten deutschen Romane der letzten hundert Jahre – und beendet damit in einem einzigen herrlichen Meta-Vorbeigehen die längst hohle Herrschaft der literarischen Post- und Pseudo-Avantgardisten. Vielen Dank.36

32 33 34 35 36

Meller (2010). Von Lovenberg (2010). Schachinger (2010). So von der Gathen (2011). Biller (2011).

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IV. Aber nun, mit Husserl ausgerufen: Zu den Sachen selbst! Relevant für die Frage nach der Form der ästhetischen Doppelcodierung von Tschick ist zunächst der Plot, den der Roman kurz vor seinem Ende selbst unüberbietbar bündig zusammenfasst. Der 15-jährige Erzähler Maik Klingenberg ist gerade zurück von seiner abenteuerlichen Reise mit dem titelgebenden Freund Tschick, sitzt mit zerschrammtem Gesicht wieder in der Schule, die angebetete Tatjana interessiert sich endlich für ihn, fragt per Zettelchen danach, was ihm passiert sei – und die Antwort wird von Lehrer Wagenbach abgefangen und zur Erheiterung der Mitschüler vorgetragen: »Tschöck ond öch sönt möt döm Auto höromgöfohrön. Oigöntlöch wolltön wör ön dö Wolochai, obor donn hobön wör ons fönf Mol öborschlogön, nochdöm einör auf ons geschossön hottö.« Wagenbach stutzte und fuhr mit normaler Stimme fort: »Dann Verfolgungsjagd mit der Polizei, Krankenhaus. Ich bin später noch in einen Laster gekracht mit lauter Schweinen drin, und mir hat’s die Wade zerrissen, aber na ja – alles nicht so schlimm.«37

Angedeutet ist in dieser Handlungsskizze, dass Tschick auf das bewährte Muster des Reise- und Abenteuerromans zurückgreift, das in jugend- wie erwachsenenliterarischen Texten gleichermaßen dazu dient, zeichenhaft eine Entwicklung seiner Protagonisten abzubilden; je nach Perspektive könnte man hier also von einer Coming of Age-Story oder von einer Road-Novel sprechen. Und bezeichnend ist, dass die Protagonisten ausdrücklich nach Süden aufbrechen, mithin in Richtung auf den idealen Fluchtpunkt der deutschsprachigen Literatur, seitdem Goethe dort die Synthese von Bildungsglück und Sinnenfreuden verwirklicht fand. »Wer sich sehnt, so meine Überzeugung, der sehnt sich nach dem Süden«,38 hat Hans-Ulrich Treichel diese Tradition in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Der Entwurf des Autors auf den Punkt gebracht – eine Tradition, die hier offenkundig ironisch zitiert wird, fahren die bildungsfernen ›Helden‹ doch nicht nach Italien, sondern nach Rumänien, genauer : in die Walachei. Um Maiks Handlungsabriss noch einmal knapp zu reformulieren: Als literarische Nachfahren von Tom Sawyer und Huckleberry Finn brechen die Außenseiter Maik, wohlstandsverwahrlostes Kind eines gescheiterten Immobilienmaklers und einer Alkoholikerin aus dem bürgerlichen Osten Berlins, und Tschick, Russlanddeutscher aus der Plattenbausiedlung Marzahn, zu Beginn der Sommerferien in einem geklauten Lada aus ihrem Alltag aus. Initiation dieser 37 Herrndorf, Tschick, 242. Im Folgenden im Fließtext nachgewiesen unter Angabe der Seitenzahl. 38 Treichel (2000), 48.

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Flucht ins Blaue ist, dass der pubertierende angebliche Langweiler Maik und der merklich mit Alkoholproblemen kämpfende Tschick die einzigen sind, die von der schönen Tatjana nicht zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen sind – emphatisches Leben muss also anderswo gesucht werden. Im Zuge dieser Flucht aus deprimierenden Verhältnissen präsentiert sich eine rasant geschnittene Abfolge burlesker Episoden und ein Panoptikum schräger Gestalten, wie es charakteristisch für den Abenteuerroman gleich welcher Provenienz ist. Etwas summarisch zusammengefasst: Das ungleiche Duo muss vor der Polizei fliehen, klettert über Mülldeponien und lernt dabei ein so schmutziges wie verführerisches Mädchen kennen, wird von äußerst seltsamen Familien zum Essen eingeladen und einem wahnhaften ehemaligen Soldaten beschossen, baut einen Autounfall und wird von einer flusspferdartigen Sprachtherapeutin mit wahnwitziger Geschwindigkeit ins Krankenhaus gefahren, bricht von dort wieder aus und baut gleich den nächsten Unfall. Am Ende kehren die Abenteurer zwar nach Berlin zurück, aber gewandelt, wie es sich für einen Reiseroman gehört, mit einem gewachsenen Wissen über die Welt und mit neuem Selbstbewusstsein. Ignoranz der angebeteten Mädchen und überhaupt Ausgrenzung in der Schule, Nöte mit unsensiblen Lehrern und verständnislosen Eltern, Sehnsucht nach den Freiheiten der Erwachsenen: Augenscheinlich richtet sich der Roman mit der Thematisierung solcher pubertätstypischen Problemlagen vorrangig an der Erfahrungswelt jugendlicher Leser aus. Dieser thematischen Orientierung, wendet man sich nach der histoire-Ebene nun den discours-Phänomenen zu, korrespondiert eine Inszenierung mündlichen jugendsprachlichen Erzählens, die im Wesentlichen durch zwei Besonderheiten des sprachlichen Ausdrucks semantischer und syntaktischer Art bestimmt ist: Zum einen charakterisiert sich der Stil des Romans bzw. sein Erzähler durch die Verwendung eines Vokabulars, das kein ganzes ›Handbuch der Jugendszene‹ literarisiert, sondern lediglich ein überschaubares Set an vorgeblich jugendsprachlichen Ausdrücken zur Darstellung bringt. Zu nennen sind hier eine Reihe drastischer Formulierungen – so hat sich der Erzähler selbst gleich eingangs »in die Hose gepisst«, hat sich also »vollgeschifft« (7), will sich aber nicht in die »Hosen kacken« (10), und ein anderer, um auf dieser Isotopie-Ebene zu bleiben, hat später den »Arsch offen«, – sowie das Präfixes ›end‹ vor Adjektiven, besonders häufig im Fall von »endbescheuert« (21 u. ö.) verwendet. Zum anderen und stärker noch ist der Stil des jugendlichen Erzählers über die Syntax konzipiert, die prinzipiell mit nur einem ›Trick‹ auskommt: dem ›weil‹ mit folgendem Hauptsatz. Als beispielsweise gleich zum Auftakt Tschick verschwunden ist, will Maik die Polizisten lieber nicht nach dessen Verbleib fragen: »Weil, wenn sie ihn nicht gesehen haben, ist es logisch besser, gar nicht damit anzufangen.« (7) Auf diesen Erzählstil also lässt sich übertragen, was Herrndorf interviewweise als poetologisches Programm für die ›realistischen‹ literarischen Landschaften

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in Tschick reklamiert hat: »Ich habe versucht, Gegenden zu beschreiben, wie Michael Sowa sie malt: Auf den ersten Blick denkt man, genauso sieht es aus in der Natur! Und wenn man genauer hinschaut, sind es vollkommen durchkonstruierte Sachen […].«39 Anders gesagt: Eben nur auf den ersten Blick erscheint die Sprache des Erzählers als ›natürlich‹, auf den zweiten hingegen entpuppt sie sich als kohärente, sozusagen in sich ›logisch‹ konzipierte Inszenierung von Natürlichkeit – oder stärker noch, als eine Inszenierung, die in einer Weise selbstreflexiv verhandelt wird, dass sie unter der Hand zum eigentlichen Thema des Romans wird. Ist der Roman folglich auf der einen Seite thematisch und stilistisch für ein jugendliches Publikum codiert, so demonstriert er auf der anderen Seite massiv seine ›Künstlichkeit‹ und adressiert damit eine erwachsene Leserschaft. Dass in Tschick nicht naiv ›realistisch‹, sondern vielmehr kunstvoll erzählt wird, signalisiert gleich der Auftakt des Romans: Der Diskurs der Erzählung setzt nämlich gegen die natürliche chronologische Ordnung (ordo naturalis) kurz vor Ende der eigentlichen ›Geschichte‹ ein, es wird also nicht linear, sondern nach dem ordo artificialis erzählt; damit wird die vielleicht traditionsreichste Ästhetisierungsstrategie des neuzeitlichen Romans aktualisiert, deren Ursprünge sich in der griechischen Spätantike, in Heliodors Aithiopika identifizieren lassen. Zudem problematisiert Maik das Erzählen immer wieder explizit hinsichtlich der Frage, wie sich das Erlebte verschriften bzw. ökonomisch angemessen narrativieren lässt. So reagiert er beispielsweise mit dem oben zitierten Zettel auf Tatjanas Frage, was passiert sei, nicht mit einer unreflektierten Rekapitulation, sondern überlegt vielmehr wie ein ›echter‹ Autor : »Was sollte ich darauf antworten? Vorausgesetzt, ich antwortete? Weil, es war ja ziemlich viel passiert, und ich hätte hunderte Seiten vollschreiben müssen, um das alles zu erklären.« Daher geht ein erster Zettel mit dem Hinweis »Ach, nichts Besonderes« zurück an seine ›Leserin‹, was sich als nicht geplantes, aber wirkungsvolles Mittel der Spannungserzeugung erweist – denn schnell ist der nächste Zettel da mit der Aufforderung: »Jetzt sag schon! Es interessiert mich wirklich.« Aber auch auf diese drängende Nachfrage wird nicht unmittelbar, sondern planvoll geantwortet. »Für die nächste Antwort brauchte ich eine halbe Ewigkeit. Obwohl sie natürlich wieder nicht sehr ausführlich war. Insgeheim wollte ich natürlich immer noch meinen Roman loswerden, aber auf so einem Zettel ist ja nicht viel Platz […].« (239; Hervorhebungen im Original) Etwas zugespitzt könnte man

39 So Herrndorf im Gespräch mit Kathrin Passig (2011). Am Rande darauf hingewiesen sei, dass Herrndorf und Passig hier ein professionelles Gespräch inszenieren, als würden sie sich kaum kennen, u. a. indem sie sich siezen. Herrndorfs Blog wie die Homepage der ›Zentralen Intelligenz Agentur‹ verraten allerdings, dass sie langjährige Freunde bzw. literaturpolitische Verbündete sind.

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sagen, dass mit Tschick derjenige ›Roman‹ vorliegt, den Maik auf dem Zettelchen nicht ›loswerden‹ konnte. Überdies lassen sich diejenigen Passagen des Romans als selbstreflexive Thematisierung der eigenen Doppelcodierung lesen, in denen Maik und Tschick über Semantik bzw. die Referentialität von Wörtern streiten – auch wenn sie es sicher so nicht ausdrücken würden. Ganz sicher ist der Erzähler etwa: »Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder Jottwehdeh« (97), und findet dieses Reiseziel daher unplausibel, während Tschick derweilen dessen Ansicht widerspricht, dass die »ohne Wohnung […] zufällig Berber sind«, denn: »Berber sind Teppiche.« (99) Und auch in Sicht auf Literatur und Popkultur geht einiges durcheinander, wie der erwachsene Leser unschwer erkennen wird. Als Maik sich nämlich erinnern will, dass in dem Roman »Der Seebär. Oder Der Seewolf« ein Kreiselkompass beschrieben wird, korrigiert Tschick: »Du meinst Steppenwolf. Da geht es um Drogen. So was liest mein Bruder.« Aber der popgeschichtlich informierte Maik lässt sich nicht beirren und repliziert selbstsicher : »Steppenwolf ist zufällig eine Band.« (109)40 Augenscheinlich entwickelt sich auf diese Weise eine Variante unzuverlässigen Erzählens, insofern eine doppelte Kommunikation entsteht, zwischen dem Erzähler Maik und ›seinem‹ Leser einerseits und dem eigentlich Gemeinten andererseits, das sich gleichsam an Maik vorbei an den Leser erwachsenenliterarischer Werke vermittelt. Wenn man hier nicht auf das strittige Konzept des ›impliziten Autors‹ zurückgreifen möchte, ließe sich von einer unpersonalen höheren Erzählinstanz sprechen, die sich gewissermaßen hinter dem Rücken des ›eigentlichen‹ Erzählers etabliert. Aufgegriffen ist mit dieser Spielart unzuverlässigen Erzählens eine typische Ästhetisierungsstrategie der literarischen Moderne,41 und spielerisch markiert ist dergestalt die ästhetische Hochrangigkeit des Textes. Ist diese höhere narrative Instanz offenkundig besser über die Welt informiert als Maik, so soll dennoch nicht gesagt sein, dass der jugendliche Berichterstatter damit prinzipiell ins Unrecht gesetzt oder massiv ironisiert wird. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Denn bei der semantischen Bestimmung einzelner Wörter und der Referentialisierung von Details des erzählten Mikrokosmos mögen Maik und Tschick zwar im generationellen Hintertreffen gegenüber erwachsenen (textinternen wie textexternen) Interpreten sein, nicht 40 Als Ironisierung der neueren deutschen Popliteratur lässt sich dabei übrigens verstehen, dass Herrndorf seinen Helden identitätsstiftende Popmusik verweigert und sie mit nur einer Musik-Cassette auf die Reise schickt, die sie unter der Fußmatte des geklauten Ladas finden: die Solid Gold Collection von Richard Clayderman. »Fünfundvierzig Minuten. Alter Finne. […] Nachdem wir ausreichend gekotzt hatten über Rieschah und sein Klavier, hörten wir auch die andere Seite, wo genau das Gleiche drauf war, und es war immer noch besser als nichts.« (105; Hervorhebung im Original) 41 Siehe hierzu ausführlich Kindt (2008).

Zur Logik jugendliterarischer Doppelcodierung

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aber, was die Interpretation der erzählten Welt im Ganzen angeht. Im Rückblick auf den bunten Reigen an Ereignissen und Begegnungen kann Maik nämlich gegen die Erziehungs- und Informationsinstanzen rekapitulieren: Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. […] Das hatten mir meine Eltern erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch und der Mensch war zu 99 % schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. (209)

Im Wortsinn ausbuchstabiert wird dieser Zusammenhang dann in einer Reihe von Episoden, in denen jugendliche und erwachsene Erzählungen in Konkurrenz zueinander geraten. Als in der Schule beispielsweise Brechts unvermeidliche Herr Keuner-Geschichte Das Wiedersehen auf dem Plan steht, liest zunächst Tschick eine phantasievolle Interpretation vor, derzufolge Herr K. ein lichtscheuer Waffenschieber ist, der erbleicht, weil seine Gesichtsoperation offensichtlich nicht erfolgreich war und er unerfreulicher Weise immer noch zu identifizieren ist. »Es versteht sich von selbst, dass der Mann, der ihn auf der Straße erkannt hat, genauso wie der Gesichtschirurg wenig später mit einem Betonklotz an den Füßen in unheimlich tiefem Wasser stand.« Kommentarlos übergeht der Lehrer diese divinatorische Glanzleistung, und: »Anschließend las Anja die richtige Interpretation vor, wie sie auch bei Google steht […].« (55) Maik wiederum erfüllt die Aufgabe, eine ›Reizwortgeschichte‹ zu schreiben, indem er unter dem Titel Mutter und die Beautyfarm zugleich unverstellt und humorvoll vom Alkoholismus seiner Mutter berichtet und damit von seinem Autor eine veritable mise en abyme in die Feder diktiert bekommt. Die Klasse scheint begeistert von diesem ungewöhnlichen Aufsatz, und der Verfasser ist stolz: »Maik Klingenberg, der Schriftsteller. […] Wie kann ein Sechstklässler nur so endgeile Aufsätze schreiben?« (31) Der Lehrer hingegen reagiert mit heftiger Ablehnung auf die so ehrliche wie komische jugendliche Perspektive: Offensichtlich hatte ich einen riesigen Fehler gemacht. Ich wusste zwar nicht welchen. Aber es war Schürmann einfach anzusehen, dass ich mit dieser Geschichte einen absolut riesigen Fehler begangen hatte. Und dass er das für den peinlichsten Aufsatz der Weltgeschichte hielt, war auch irgendwie klar. […] Ich habe es bis heute nicht kapiert. Ich meine, ich hatte ja nichts erfunden oder so. (32)

Gibt Maik in dieser Situation vor Anbruch der ›Bildungsreise‹ gen Walachei zumindest äußerlich noch nach, so wehrt er sich nach seiner Rückkehr gegen die Übernahme erwachsener ›Erzählungen‹ – es gibt der Diagnose des Romans zufolge also durchaus ein richtiges Leben im Falschen. Denn der Vater fordert zwar vehement, Tschick in der anstehenden Gerichtsverhandlung die Schuld an

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allem geben: »Du bist da reingerissen worden von diesem russischen Assi. Und das erzählst du dem Richter, egal, was du der Polizei vorher erzählt hast, capisce?« (230) Maik hingegen beharrt auf seiner eigenen Geschichte: »Ich erzählte einfach immer mehr oder weniger die Wahrheit.« (233) Alles in allem erweist sich damit der Kampf des Erzählers um die Hoheit der eigenen, identitätsstiftenden Geschichte gegenüber den selbstentfremdenden ›Geschichten‹ der Erwachsenen als eine zentrale Dimension des Romans. Auf den Punkt gebracht: Er erzählt wesentlich vom Erzählen. Und so schimpft Maiks Vater zwar heftig, als sein Sohn sich nicht auf seine Interpretation für die Gerichtsverhandlung einlassen will: »Gar nichts hast du verstanden! Gar nichts ist dir klar! Er denkt, es geht um Worte. Ein Idiot!« (227) Aber deutlich geworden sein dürfte, dass im Sinnzusammenhang des Textes keineswegs Maik, sondern vielmehr sein Vater der ›Idiot‹ ist: Weil, logisch geht es um Worte.

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Zur Logik jugendliterarischer Doppelcodierung

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Alessandro Costazza

Benjamin Steins Die Leinwand oder über die (Un-)Möglichkeit (auto-)biographischen Schreibens

1.

Erinnerung, Identität und Fiktion in der modernen Autobiographietheorie

»Im Anfang war die Erzählung […], alles ist durch sie geworden und ohne sie ist nichts geworden, was geworden ist.« Diese neue, nur teilweise ironische1 Übersetzung vom Incipit des Johannesevangeliums fasst genau jenen sogenannten linguistic turn zusammen, der die Entwicklung der Geisteswissenschaften und insbesondere der Literaturtheorie ab den Sechziger Jahren gekennzeichnet hat. In der Literaturwissenschaft, wo der linguistic turn eher zum narrative turn geworden ist, besagt diese Theorie – grob zusammengefasst –, dass es keine außertextlich gegebene, ›historische‹ Wirklichkeit gibt,2 keine Referenz, keinen Autor und keinen Leser, weil sie alle Produkte bzw. Funktionen des Textes selbst sind. Diese linguistische oder narrative Wende hat vor allem für eine per definitionem referenzgebundene Gattung wie die Autobiographie und noch mehr für die Theorie dieser Gattung tiefe und weitreichende Folgen gehabt. Wie kann sich nämlich eine Gattung nicht-fiktionaler Kunstprosa,3 die als »Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch sich selbst (auto)« definiert wird,4 von anderen benachbarten Gattungen wie etwa der Biographie oder dem (auto)biographischen Roman unterscheiden, wenn jeder Bezug auf eine verbürgte außertextliche Wirklichkeit, sowohl auf die historischen Ereignisse als auch auf das sie erlebende Subjekt des Autors, hinfällig geworden ist? Macht

1 Der griechische Ausdruck k|cor hat bekanntlich mehrere Bedeutungen und meint u. a. »Vernunft«, »Rationalität«, aber auch »Rede«. Allgemein bekannt sind die Bemühungen von Goethes Faust, den k|cor des Johannesevangeliums als »Wort«, »Sinn«, »Kraft« und schließlich als »Tat« zu übersetzen. 2 »Ein Text-Äußeres gibt es nicht«, schreibt etwa Derrida (1996), 274. 3 Vgl. Tarot (1985), 27 – 43. 4 Misch (1955), 38.

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schon der proklamierte »Tod des Autors«5 einen der Kontrahenten des »autobiographischen Paktes«6 unverfügbar, so tragen auch weitere Entwicklungen der modernen Erkenntnistheorie und Psychologie zu einer Unterminierung der Möglichkeit der Autobiographie bei. Die bereits mit Nietzsche und Freud ansetzende Infragestellung der Einheitlichkeit des Subjekts und somit auch einer kontinuierlichen Identität wird zusätzlich von den kognitivistischen und psychologischen Erkenntnissen über die nicht linearen, verdrängenden und konstruktiv verändernden Mechanismen der Erinnerung verstärkt. Was bleibt nämlich von der rückblickenden Betrachtung eines Subjekts auf sein vergangenes Leben, wenn einerseits die Identität des erzählenden und des erzählten Ichs nicht mehr gewährleistet ist und der Blick auf die Vergangenheit sich als eine Re-Konstruktion aus der Perspektive der Schreibgegenwart entpuppt? Sowohl die Autobiographietheorie als auch die Autoren von Biographien haben sich von diesen Schwierigkeiten nicht abschrecken lassen und sie vielmehr als Anlass für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Gattung genommen. Dies erklärt etwa die enorme Zunahme der kaum noch übersehbaren theoretischen Publikationen über die Autobiographie in den letzten zwei Jahrzehnten.7 In diesen Arbeiten wird jeder starre Gattungsbegriff fallengelassen zugunsten einer Bestimmung, die den vielen formalen und inhaltlichen Innovationen der modernen Autobiographien offen sein soll. Alles, was gegen die Definition der Gattung zu sprechen schien, wird als mögliches oder sogar konstitutives Merkmal derselben aufgefasst. So wird etwa die scheinbare Alternative von Fiktion und Faktizität bzw. von »Dichtung und Wahrheit«, bei gleichzeitiger Erkenntnis einer zunehmenden Fiktionalisierung der modernen Autobiographien, in eine gattungsspezifische Spannung zwischen den zwei Termini uminterpretiert. Die Idee einer historisch verbürgten Wahrheit wird durch die Idee einer literarischen Wahrheit bzw. durch den Begriff der (subjektiven) Authentizität ersetzt. Nicht anders wird die Auflösung des einheitlichen Subjekts in die Gattung selbst als konstitutiv eingeführt. Die Distanz zwischen dem erzählenden und dem erzählten Ich entpuppt sich nämlich als immer schon vorhandene Diskontinuität, die die einheitliche Identität eines sich

5 Vgl. Barthes (2000); vgl. auch Barthes (1974), 43: »Als Institution ist der Autor tot: als juristische, leidenschaftliche, biographische Person ist er verschwunden; als ein Enteigneter übt er gegenüber seinem Werk nicht mehr die gewaltigen Vaterrechte aus, von denen die Literaturgeschichte, der akademische Unterricht und die öffentliche Meinung immer wieder zu berichten hatten.« 6 Vgl. Lejeune (1994). 7 Aus Platzgründen begnüge ich mich damit, auf die neueren Gesamtdarstellungen von Wagner-Egelhaaf (2000), Holdenried (2000) und Breuer u. a. (2006) hinzuweisen. Weiterführende Literatur findet man in den jeweiligen Bibliographien dieser Bände.

Benjamin Steins Die Leinwand

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entwickelnden Subjekts dermaßen in Frage stellt, dass jeder autobiographische Bericht vielmehr zur Erzählung von einem anderen wird.8 Der »Geist der Erzählung« lässt also nicht nur, wie in Thomas Manns Der Erwählte, die Glocken Roms spielen, sondern schafft zugleich die (gespaltene) Identität des autobiographisch Erzählenden zusammen mit seinen Erinnerungen, die ihrerseits keine Widerspiegelung vergangener Erfahrungen, sondern vielmehr eine Konstruktion im Medium des Schreibens sind. Indem jede grundsätzliche Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität verschwindet, werden auch die Grenzen zu anderen fiktionalen Gattungen durchlässiger, so dass die Entscheidung über den Wirklichkeitsbezug bzw. die Authentizität des Geschriebenen und somit auch über die Übereinstimmung von Autor, Erzähler und erzählter Figur letztendlich eine Frage der Rezeption wird, d. h. beim Leser bleibt.9 Was von der Definition der Autobiographie als »r¦cit r¦trospective en prose qu’une personne r¦elle fait de sa propre existence«10 übrig bleibt, scheint also nur die »rückblickende Prosaerzählung« zu sein.11 Eine solche Einschränkung auf die Prosa mag andererseits gerade heutzutage, wenn man den Begriff der Autobiographie multimedial immer mehr ausweitet, als unzeitgemäße Einschränkung erscheinen. »Prosa« soll hier aber im Sinne der Narrativität verstanden werden, d. h. als zeitliche Organisation und Verkettung einzelner Geschehenselemente und Zustandsveränderungen zu einer kohärenten Abfolge. Da sowohl der Dichtung als auch den dramatischen oder etwa filmischen Fiktionen – das mag aber auch für die Musik oder den Tanz gelten – ein mehr oder weniger starkes narratives Moment eigen sein kann, können sich auch diese Gattungen oder Medien der Autobiographie öffnen. Grundlegend bleibt dabei also nur die narrativ organisierte Darstellung eines erinnerten oder auch nur erfundenen Lebens bzw. eines Lebensausschnittes, die in den modernen Autobiographien immer mehr einen identitätsstiftenden bzw. identitätssuchenden Charakter annimmt. Im Kontext der modernen Erinnerungskultur hat auch die Zahl der autobiographischen Entwürfe in den letzten Jahrzehnten weltweit bedeutend zugenommen. In Deutschland ist dieser Zuwachs vor allem mit zwei historischen sowohl individuell als auch sozial in vieler Hinsicht traumatischen Ereignissen verbunden, d. h. einerseits mit der Bewältigung des Nationalsozialismus vor allem durch die zweite Generation,12 andererseits mit der Bewältigung der DDRWirklichkeit nach dem Fall der Berliner Mauer.13 Diese traumatischen Ereignisse 8 9 10 11 12 13

Vgl. Lejeune (1980). Vgl. de Man (1993), 134. Lejeune (1975), 14. Lejeune (1994), 14. Unter der schier unüberschaubaren Literatur verweise ich hier nur auf Düwell (2004). Auch hier begnüge ich mit einem Hinweis auf Nelva (2009).

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zwingen offensichtlich zu einem Nachdenken über die eigene, persönliche oder historische Geschichte, das nicht mehr in der Form einer kontinuierlichen Entwicklung stattfinden kann, sondern beim Bewusstsein der Lückenhaftigkeit und Diskontinuität jedes Erinnerungsprozesses vor allem die Brüche und Leerstellen der Entwicklung mitreflektieren muss. An die Stelle der Autobiographie tritt zusehends die zwischen autobiographischem und fiktionalem Schreiben changierende Mischgattung der Autofiktion,14 die oft auch Metaautobiographie ist,15 indem sie eine reflexive Auseinandersetzung mit den Konventionen und Traditionen, mit den Möglichkeiten und Grenzen der autobiographischen Gattung enthält. Diese Art von fiktionalen, selbstreflexiven Autobiographien weisen dann dementsprechend auch einen hohen Grad an intertextuellen Bezügen auf andere Werke und insbesondere auf andere Autobiographien auf. Einen besonderen Fall in dieser Entwicklung der modernen Autobiographik und der Autobiographietheorie bilden die Autobiographien der Shoah. Obwohl auch hier die strenge Opposition von Faktizität und Fiktionalität allgemein fallengelassen worden ist, stellen sich einer endgültigen Aufgabe jedes Referenzbezugs und insbesondere der Auflösung des »autobiographischen Paktes« größere Widerstände entgegen. Als Parallele zur Diskussion über die Grenzen angesichts der Shoah der postmodern behaupteten Referenzunabhängigkeit der Historiographie,16 werden auch hier Einschränkungen geltend gemacht, die insbesondere die Figur des Autors und nur sekundär die des Lesers betreffen. Während vom Autor verlangt wird, dass er diesmal mit dem Leser einen »referentiellen Pakt« eingeht, der »die persönliche Identität des Autors als die eines historischen Zeugen festlegt und damit auf einen außertextuell bekannten historischen Raum verweist«,17 erwartet man vom Leser eine zugleich aktive und tolerante Lesehaltung, die das eigene Wissen um die Shoah in die Lektüre einfließen lässt, indem sie jedoch auch perspektivische Verzerrungen und Ungenauigkeiten des Erinnerten gelten lässt.18

14 15 16 17 18

Vgl. Wagner-Egelhaaf (2006). Vgl. zur »Metaautobiographie« Nünning (2007). Vgl. die Diskussion in Friedländer (1992). Lezzi (2001), 148 f. Ebd., 149. Vgl. zu beiden Aspekten auch Düwell (2004), 10 f.; Holdenried (2007), hier 76. Vgl. weiter über die ›anti-moderne‹ Shoah-Autorschaft Kleinschmidt (2002).

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2.

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Die Leinwand. Die Freiheit des Lesers und die Wiedergeburt des Autors aus dem Geist des Internets

Ohne eigentlich eine Autofiktion oder eine Metaautobiographie im engeren Sinne zu sein, antwortet Benjamin Steins Die Leinwand auf die Entwicklung vor allem der deutschen Autobiographik und noch mehr auf die theoretischen Diskussionen über die Autobiographie:19 der Roman lässt nämlich nicht nur die Erinnerung an die DDR mit jener an die Shoah durch intertextuelle Bezüge auf eine ganz verwirrende Art und Weise sich kreuzen, sondern treibt alle aufgeworfenen Gattungsfragen über Identität, Erinnerung und Fiktionalität aufs Äußerste. Die Verwirrung fängt bereits mit dem Buchumschlag und allgemeiner mit der Aufmachung des Bandes an,20 weil der Leser vorne und hinten zwei Vorderseiten vorfindet, auf denen unter dem gleichbleibenden Namen »Benjamin Stein« und dem gleichen Titel »Die Leinwand« die zwei jeweils rot und blau gedruckten Namen »Jan Wechsler« und »Amnon Zichroni« stehen.21 Ein Sternchen am Ende eines jeden Namens weist auf einen in gleicher Farbe darunter gedruckten Text hin, der in der ersten Person Singular bzw. Plural mitten im Satz abbricht und durch einen Pfeil möglicherweise auf das Innere des Buchs verweist. Der Schutzumschlag und vor allem die doch unterschiedlichen Klappentexte bringen dann mehr Informationen. Unter den zwei farbigen abgebrochenen Texten steht nämlich auf beiden Seiten eine kleingeschriebene Anweisung für den Leser, dem es freigelassen wird, mit welcher der beiden hinter jedem Buchdeckel je beginnenden Geschichten er die Lektüre anfangen will.22 Die Gattungsbezeichnung »Roman« und der Name des Verlages schließen beide Seiten. Der Klappentext des Wechsler-Covers enthält alsdann was normalerweise auf der Rückseite steht, d. h. eine kurze Inhaltsinformation über die zwei Geschichten 19 Man könnte insofern mit Ansgar Nünning von einer »impliziten fiktionalen Metaautobiographie« reden, in der »Probleme der Autobiographie durch literarische Techniken formal reflektiert werden.« Nünning (2007), 281. 20 Vgl. zu dieser Aufmachung die Überlegungen von Stein selbst auf dem von ihm geführten literarischen Weblog Turmsegler: http://turmsegler.net/20091125/das-leinwand-cover/. 21 Die gleichen Elemente stehen, in zwei verschiedene Richtungen weisend, auch auf dem Rücken des Bandes. Nicht nur die Namen und der darunter gedruckte Text sind in Rot und Blau gehalten, sondern auch das jeweilige Vorsatzblatt und das jeweils obere Kapitalband. 22 Die Leseranweisung wird auf der jeweiligen dritten Seite dann weitergeführt und dem Leser wird eine noch größere Freiheit gelassen, das Buch etwa nach jedem Kapitel zu wenden und am anderen Strang der Geschichte weiterzulesen bzw. sich einen eigenen Weg durch die Kapitel der einen oder der anderen Geschichte zu suchen. Stein, Die Leinwand, Z. 3; W. 3. Wie im Roman selbst bezieht sich der Buchstabe Z. vor der Seitenzahl auf die von Zichroni erzählte Geschichte, der Buchstabe W. hingegen auf die Geschichte von Wechsler. Im Folgenden werden die Seitenzahlen, immer mit dem jeweiligen vorgestellten Buchstaben, direkt im Text in Klammern angegeben.

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und deren Verhältnis zueinander sowie zwei werbende Zitate über dieses »Spiegelkabinett mit zwei Eingängen«, das »die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerungen und das Ringen um Identität« zum Thema habe. Spätestens hier wird dem Leser klar, dass Zichroni und Wechsler die jeweiligen in erster Person erzählenden Hauptfiguren der zwei Geschichten sind,23 während die Kurzbiographie von Benjamin Stein und dessen Foto auf der Klappe des Zichroni-Covers ihn endgültig als Autor ausweisen. Diese die Konventionen bewusst verletzende Aufmachung des Buches, die den Leser am Anfang verunsichern und irritieren mag, spricht diesem andererseits ein ungewöhnliches Ausmaß an Freiheit zu: indem sie ihm anheimstellt, von welcher Seite und nach welcher Ordnung er das Buch lesen will, erhebt sie ihn nämlich zum gestaltenden Mitautor.24 Die Präsenz von zwei Namen auf jeder Umschlagseite untergräbt zwar von vorneherein den nach Lejeune bereits »auf dem Umschlag« unterzeichneten »autobiographischen Pakt«,25 der eine doppelte Übereinstimmung zwischen Autor und Erzähler sowie zwischen Erzähler und erzählter Figur vorsieht, lässt aber dem Leser die Möglichkeit offen, das Werk als einen bzw. zwei autobiographische Romane zu betrachten. Die forcierte Einbeziehung des Lesers in die Gestaltung des Werkes führt andererseits keinesfalls zum »Tod des Autors«,26 welcher vielmehr immer die das Spiel lenkende und bestimmende Instanz bleibt. Zwar behauptet Benjamin Stein, dass die biographischen Daten auf dem Cover eine Konzession an die Bedürfnisse des literarischen Marktes darstellen,27 und auf dem von ihm ge23 Im Buch steht dementsprechend auf der jeweiligen Schmutztitelseite nur der Name Benjamin Steins und der Titel Die Leinwand (Z. 1; W. 1), während auf der normalen Titelseite die Anweisung an die Leser folgt und auf der sogenannten Widmungsseite (Seite 5) nur die jeweiligen Namen Amnon Zichronis und Jan Wechslers vorkommen, begleitet jeweils von einem dreizeiligen Motto am Seitenfuß. Es fehlt hingegen die Impressumsseite und somit jede Information über Erscheinungsort und -jahr. Diese Informationen werden durch den ISBN-Barcode auf jedem Klappentext ersetzt. 24 Die Tatsache, dass man das Buch wenden muss, um die eine oder die andere Geschichte zu lesen, ist nicht absolut neu, da in Italien bereits 2005 Giulia Carcasi die Liebesgeschichte der zwei Jugendlichen Alice und Carlo von ihnen selbst, aus ihrem jeweiligen Gesichtspunkt, jeweils auf der einen und auf der anderen Seite des Buches, hat erzählen lassen, so dass es dem Leser frei steht, auf welcher Seite er mit der Lektüre anfangen will. Vgl. Carcasi, Ma le stelle quante sono?. Es ist natürlich auch nicht so neu, dass zwei parallel verlaufende und sich an mehreren Stellen überkreuzende autobiographische Berichte in einem Werk erzählt werden. Für die deutsche Literatur braucht man etwa nur an E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr zu denken. Auch von der dem Leser angebotenen Freiheit, sich bei der Lektüre einen eigenen Weg zu wählen, hat es in der Vergangenheit bereits andere experimentierende Beispiele gegeben. Man denke etwa an Julio Cortazars Roman Rayuela: Himmel-und-Hölle, der dem Leser zwei mögliche Wege vorschlägt, das Buch nach verschiedenen Reihenfolgen der Kapitel zu lesen. 25 Lejeune (1994), 27. 26 Dies ist die Annahme von Roland Barthes in seinem Aufsatz La mort de l’auteur (1968). 27 Stein, »Erste Lektoratssitzung«, http://turmsegler.net/20090714/erste-lektoratssitzung/.

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führten literarischen Blog Turmsegler beklagt er sich wiederholt, dass die Journalisten mehr an der Autorenvita als am literarischen Werk interessiert seien, so dass der Autor zum »Seelenstripper« werden müsse.28 Diese Einstellung scheint jedoch mit Steins Verhalten auf eben diesem Blog im krassen Widerspruch zu stehen, da er hier gerade in seiner Eigenschaft als Autor auftritt und seine Leser durch Dokumente, Fotos von den Handlungsorten des Romans,29 poetologische Überlegungen, Vorabdrucke und Lektüren der gerade entstandenen Abschnitte usw. an allen Entwicklungsmomenten des Werkes, von dessen Konzeption über die Entstehung der einzelnen Kapitel und die Gespräche mit dem Verlag bis hin zu den Korrekturen, dem Erscheinen des Werkes und der Rezeption desselben aktiv teilnehmen lässt.30 Auf diesen Blogseiten veröffentlicht Stein nicht nur eigene Texte oder Gedichte, die er später im Roman als Überlegungen von Wechsler aufgenommen hat,31 sondern geht sogar auf die eigene »Familiengeschichte« ein, indem er Nachrichten über seinen Groß- bzw. Urgroßvater veröffentlicht, die er in einer Zeitung bzw. in einem Online-Lexikon gefunden hat.32 Dieses Verfahren mag anzeigen, dass im Zeitalter des Internet niemand und umso weniger ein Autor wirklich verschwinden kann. Aus dieser Erkenntnis heraus nimmt dann aber Stein sozusagen das Spiel selber in die Hand, und anstatt zu verschwinden, tritt er als Autor auf die Bühne: seine Absicht besteht allerdings dabei mit Sicherheit nicht darin, den Leser von der eigenen Existenz und noch weniger von der Wirklichkeit des Geschriebenen zu überzeugen. »Was ich erzähle geschieht, nicht umgekehrt«, zitiert Stein nicht von ungefähr aus

28 Vgl. Stein, »Der Autor als Seelenstripper«, http://turmsegler.net/20100603/der-autor-alsseelenstripper/. 29 Vgl. etwa Stein, »Mayan Moza – eine Yerida«, http://turmsegler.net/20110102/mayan-mozaeine-yerida/. 30 Es sind 184 Beiträge im Blog, die sich direkt auf den Roman beziehen. Zu diesen ›Beiträgen‹ schreiben die Leser auch Kommentare, auf die Stein oft eingeht. Auch viele Seiten, die nicht unter der Kategorie »Die Leinwand« erfasst sind, beschäftigen sich allerdings mit Themen, die im Roman aufgenommen worden sind. 31 Vgl. etwa Stein, »Die Mangel«, http://turmsegler.net/20061127/die-mangel/; Stein, »Mutter«, http://turmsegler.net/category/lyrik/page/44/; Stein, »erotische gedichte«, http://turmsegler.net/20110919/erotische-gedichte/ und die entsprechenden Stellen in Stein, Die Leinwand, W. 28 f.; 33; 35 f. 32 Vgl. Stein, »Familiengeschichte«, http://turmsegler.net/20100614/familiengeschichte/. Spätestens an dieser Stelle wird es jedem Leser deutlich, dass der Name »Benjamin Stein« nicht der eigentliche Name des Autors ist, da der Großvater väterlicherseits Albrecht Werner hieß. Dazu schreibt Benjamin Stein: »Den Namen zu wechseln, zunächst als Autor und später auch im gesamten bürgerlichen Leben, kam mir wie eine zwingende Notwendigkeit vor. Ich wollte mich emanzipieren – von den Toten, vom Exil, von der Staatskarosse und seinem stolzen Insassen. […] Ich wollte selbst bestimmen, wer ich sein würde – als Autor, als Mensch. Ich wollte selbst bestimmen. Das kann ein Name allein nicht leisten. Aber er hilft dabei.« Ebd.

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seinem Roman Das Alphabet des Juda Liva auf der Blogseite.33 Alles, was er hier dem Leser an Materialien zum Autor und zum Gegenstand der Erzählung zur Verfügung stellt, soll keinesfalls als »Realitätseffekt«34 der Erzeugung einer Referenzillusion dienen, sondern genau umgekehrt die Fiktionalität des Geschriebenen und somit auch jene des Autors selbst hervorheben. Ähnlich verfährt Stein auch mit der eigenen Biographie im Roman. Schon die wenigen paratextuellen Informationen auf der Umschlagklappe, seine Geburt in Ost-Berlin, seine Arbeit bis zur Wende 1989 als Nachtpförtner in einem Altenheim, seine Arbeit als Korrespondent für Computerzeitschriften und später als Unternehmensberater sowie die Gründung eines eigenen Verlages, ermöglichen dem Leser, bereits nach wenigen Seiten des Wechsler-Teils die Ähnlichkeiten zwischen den Erinnerungen Wechslers und der Biographie des Autors zu erkennen.35 An mehreren Stellen im Roman erinnert sich dann Wechsler an seine Kindheit im »Kleinen Land« DDR oder träumt davon, berichtet über seine Großeltern, seine Lektüren (W. 27 – 37; 63 f.; 93), über das harte Training in der Rudermannschaft und seine Teilnahme an der DDR-Spartakiade (W. 105 – 109), über Erfahrungen in der Schule (W. 118 – 120), über seine frühe Annäherung an das Judentum und seine ersten Besuche in der Synagoge in Ost-Berlin (W. 127 – 131), schließlich auch über seinen ersten Besuch in West-Berlin nach der Öffnung der Mauer (W. 112 – 114). Alle diese Erfahrungen wirken so echt und so unmittelbar erlebt, dass für alle Wechslers Frage nach seiner Rückkehr aus seinem ersten Aufenthalt in West-Berlin gelten könnte: »Diese Stunden werde ich nie vergessen. Man erlebt so etwas oder erlebt es nicht; aber warum sollte man es erfinden?« (W. 114) Unmittelbar nach einer solchen Behauptung entdeckt jedoch Wechsler, dass alle seine Erinnerungen doch möglicherweise erfunden waren, da er gar keinen alten ostdeutschen, sondern vielmehr einen schweizerischen Pass besitzt, nach dem er »nicht in Berlin, sondern in Ramat Gan, Israel«, geboren war (W. 115). Die Nachfrage im Einwohnermeldeamt bezeugt ihm also eine ganz andere Biographie (W. 116) und diese Entdeckung stellt seine ganze Existenz in Frage: Denn mir ist immer noch unklar, was wahr und was Lüge ist. Ich bin, woran ich mich erinnere. Etwas anderes habe ich nicht. Wenn die Dokumente nun zu beweisen scheinen, dass ein großer Teil meiner Erinnerung nicht haltbar ist, dann bin ich selbst nicht haltbar. […] Ich müsste eingestehen, dass es mich gar nicht gibt. (W. 121)

33 Vgl. Stein, Das Alphabet des Juda Liva, 18. 34 Vgl. Barthes (1982). 35 Auch weitere biographische Einzelheiten im Leben Wechslers stimmen mit der Biographie des Autors überein, etwa das Geburtsdatum am 6. Juni wie Thomas Mann und Puschkin (vgl. W. 63; 116), obwohl Wechsler genau 5 Jahre älter als Stein ist. Vgl. Steins biographische Daten im Turmsegler : Stein, »Biographisches«, http://turmsegler.net/autoren/.

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Wechsler muss also annehmen, dass er »in die Biographie eines anderen geschlüpft« ist (W. 121), und somit vermuten, »ich sei ein anderer« (W. 122). Diese Identität, in die er »geschlüpft« sein soll, ist im Roman andererseits keine wirkliche, sondern eine bloß literarische. Kurz davor ist er nämlich bei der Lektüre des Debüt-Romans eines Schweizer Autors mit seinem gleichen Vorund Familiennamen auf sich selbst gestoßen (W. 78): in diesem Werk wurden nämlich »die Sagas zweier Familien, der Regensburger und der Markov‚s« erzählt (W. 78 ff.), die er als die Geschichten seiner Mutter erkannte, welche diese Geschichten ihrerseits von ihrer Großmutter erfahren hatte. Da der Autor des Romans in Israel geboren war und mit seiner Mutter als kleines Kind in die Schweiz eingewandert war, schließt der Erzähler folgerichtig: »Was immer er in seinem Roman erzählt, kann nur Fiktion sein und keineswegs autobiographisch« (W. 80). Nichtsdestoweniger nennt er jene Erzählungen kurz darauf »vermeintlich fiktive Geschichten« (W. 81), weil sie für ihn natürlich ganz reell sind und er sich nicht nur um seine Erinnerungen, sondern sogar um seine Identität bestohlen fühlte (W. 81). Dabei erwähnt er allerdings auch die umgekehrte Möglichkeit, dass er selber nämlich der Dieb der Erinnerungen sein könnte: Ich weiß nicht, ob ich mich mehr vor der Möglichkeit fürchtete, dass Wechsler meine Erinnerungen und damit mich selbst gestohlen hatte, oder aber vor einer zweiten, die ich für schlimmer hielt: Ich selbst könnte der Dieb sein und irgendwann in den letzten zehn Jahren die Regensburgers, Hillers und Markov‚s adoptiert und ihre Familiensaga zur Geschichte meiner Familie gemacht haben. Wenn es so war, dann existierte ich gar nicht. Dann bestand ich nur aus der Vorstellung, die ich mir und anderen von mir gemacht hatte. Dann war ich nicht mehr als eine literarische Figur und ein Autor wie Wechsler konnte mit mir und meinem Leben anstellen, was immer ihm gefiel. (W. 81 f.)

Diese zweite Möglichkeit scheint ihm insofern »schlimmer«, als wenn jemand ihm einfach seine Erinnerungen gestohlen hätte, weil er im zweiten Fall trotz allem er selbst bleiben würde, während er im ersten Fall die eigene Identität verliert. In der Fiktion des Romans fühlt also der autobiographische Ich-Erzähler, dass wenn er seine Erinnerungen und seine Identität jemandem anderen und sogar einer literarischen Fiktion gestohlen hat, er in Wirklichkeit gar nicht existiert, sondern nur die Konstruktion eines (fiktiven) Autors ist, der mit ihm tun und lassen kann, was er will. Dadurch erlebt er aber sozusagen, was jede literarische Figur sowie jeder fiktive Erzähler gegenüber seinem Autor empfinden müsste. Die Lage verkompliziert sich jedoch zusätzlich, wenn man feststellt, dass sowohl der Schweizer Autor als auch sein Debüt-Roman eine Entsprechung in der außerliterarischen Wirklichkeit haben. Die Sagas der Familien Regensburger und Markov‚s (vgl. W. 78 – 80) bilden nämlich den Inhalt des 1995 in Zürich

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erschienenen Romans von Benjamin Stein Das Alphabet des Juda Liva.36 Die Tatsache, dass die darin erzählten phantastischen Geschichten einen autobiographischen Hintergrund haben und die Hauptfigur des Romans Alexander Rottenstein in vielem das Abbild seines gleichaltrigen Erfinders ist, könnte nur eine zusätzliche Bestätigung dafür sein, dass sich hinter Wechsler der Autor Benjamin Stein versteckt, welcher allerdings selbst einen neuen Namen und eine neue Identität angenommen hat.37 Die in Wirklichkeit nur sehr knappen Lebensdaten des Schweizer Autors verweisen jedoch nicht so sehr auf Stein, sondern auf den Schweizer Schriftsteller und Journalisten Daniel Ganzfried, der im gleichen Jahr in Zürich den Roman Der Absender38 veröffentlicht hatte und ein paar Jahre später als Auslöser des sogenannten »Fall Wilkomirski« bekannt geworden ist.39 Die in der Fiktion des Romans »wahre« Biographie von Jan Wechsler erweist sich somit in Wirklichkeit als eine »gestohlene Biographie«, während die »vermeintlich fiktive[n] Geschichten« in der Fiktion die wahre Biographie des Autors Benjamin Stein widerspiegeln, wie er sie allerdings in seinem ersten Roman auf ganz phantastische Art und Weise projiziert hat. Benjamin Stein dichtet dann freilich seiner literarischen Figur Alexander Rottenstein und dadurch mittelbar auch dem Schweizer Autor Jan Wechsler alias Ganzfried eine »schillernde Vergangenheit an den Rändern des politischen Spektrums« (W. 137) zu, macht ihn wenigstens »aus zweiter Hand«, zum »Spion«, zum Informanten des Staatschutzes in der linken Studentenszene, zum Sympathisanten der äußersten rechten Szene und zum Autor in rechten Schweizer Hetzblättern, schließlich zum Mitglied einer schlagenden Verbindung (W. 134 f. u. 136 f.). Wechsler selbst vermutet sogar, dass die DDR-Biographie, an die er sich erinnert, nichts anderes als die von ihm selbst aufgebaute »Legende« sei, hinter der er sich verstecken wollte, ein »Film, den ich selbst inszeniert habe« (W. 137). Schon der Begriff »Legende« ist jedoch in diesem Zusammenhang höchst widersprüchlich, weil er als terminus technicus in der Sprache der Stasi die Deckbiographie bezeichnete, die sich ihre Mitarbeiter anlegten, um unerkannt geheimdienstlich ermitteln zu können, während in diesem Fall ein westlicher Geheimdienstler angeblich sich ausgerechnet eine DDR-Biographie als Tarnung überzieht. Der Terminus »Legende«, der nicht von ungefähr auch eine 36 Vgl. Stein, Das Alphabet des Juda Liva. 37 Vgl. hier oben, Anm. 32. 38 Ganzfried, Der Absender. Geboren 1958 in Afulah, Israel, lebt Daniel Ganzfried seit 1960 in der Schweiz, wo er als Journalist arbeitet. Vgl. Ganzfried, [Homepage], http://www.ganzfried.ch/. 39 Die Geburtsdaten stimmen allerdings nicht überein. ›Beide‹ Wechsler sind am Juni 1965 (vgl. W. 116 u. W. 63), d. h. am gleichen Tag wie Benjamin Stein, aber fünf Jahre früher geboren, während Ganzfried seinerseits sieben Jahre älter als Wechsler und somit zwölf Jahre älter als Stein ist.

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literarische Gattung bezeichnet, verweist darüber hinaus intertextuell auf einen Autor aus der DDR, den Wechsler seinen »Lieblingsdichter« nennt (W. 112; 136) und der in vieler Hinsicht auch als Pate für diesen Teil der Erzählung dienen kann, nämlich auf Wolfgang Hilbig. Vor allem in Hilbigs wichtigstem Roman Ich, aber auch in anderen Werken, spielt nämlich die Ich-Spaltung, das Hin-undHer-Wechseln zwischen verschiedenen Identitäten, zwischen beobachtendem und beobachtetem Ich, zwischen Täter und Opfer, eine schlechthin zentrale Rolle. Und auch bei Hilbig lassen sich diese Schwankungen des Ichs wie bei Stein letztendlich als Metaphern der schriftstellerischen Existenz begreifen.40 Weit davon entfernt zu verschwinden oder gar zu sterben, treibt also der Autor hinter dem Rücken seiner Figur ein kompliziertes Verweis- und Verwirrspiel, das die Figur des Erzählers und seine Glaubwürdigkeit zumindest in Frage stellt.

3.

Zwei Erzählstrategien und der unmögliche Tod des Erzählers

Die zwei in der ersten Person erzählten Geschichten hinter den zwei Umschlägen stammen nicht nur von ganz unterschiedlichen Erzählern, sondern sind vor allem ganz anders erzählt. Dieser Unterschied, der durch das Erzählte motiviert ist, ist auch für das Verständnis des Werkes von großer Wichtigkeit, weil er sozusagen Möglichkeiten und Grenzen der Ich-Erzählung aufzeigt bzw. demaskiert. Amnon Zichroni, dessen Vorname an die Amnesie erinnern und dessen Familienname hingegen auf Hebräisch so gut wie »meine Erinnerung« heißen soll,41 erzählt auf ganz traditionelle Art und Weise rückblickend von seiner Kindheit und seinem menschlichen und professionellen Werdegang. Sowohl die Zeit als auch der Ort der Niederschrift werden genau angegeben mit »Yerushalaym / Ofra, Sh’vat – Av 5768« (Z. 193), d. h. zwischen dem 8. Januar und dem 31. August 2008. An keiner Stelle berichtet der Erzähler jedoch über seine Gegenwart oder reflektiert über den Schreibprozess. Vom Wechsler-Teil des Romans erfahren wir aber, dass er ab dem 7. Januar des gleichen Jahres »als vermisst« gilt (W. 186), so dass man sagen könnte, dass er von einem »Jenseits« der Erzählung erzählt. Dementsprechend fällt auch seine Erzählweise aus, die trotz des Vornamens des Erzählers keine Amnesien, keine Lücken oder Unterbrechungen kennt. Wie jede Autobiographie hat auch diese fiktive Autobiographie ein Ziel: Zi40 Vgl. Costazza (2002). 41 Vgl. Stein, »Zichroni vs. State of Israel«, http://turmsegler.net/20090115/zichroni-vs-stateof-israel/.

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chroni rollt sein vergangenes Leben auf, um sich und dem Leser Rechenschaft über jenen durch seine ganze Biographie schwer zu erklärenden plötzlichen Zornausbruch zu geben, der ihn möglicherweise zum Mörder von Jan Wechsler hat werden lassen (Z. 192 f.). In einem streng orthodoxen Viertel in Jerusalem geboren und in einer orthodoxen Familie aufgewachsen, kommt Zichroni infolge seiner Liebe zur weltlichen Literatur zu seinem Nennonkel in die Schweiz, der sich »modern orthodox« (Z. 33) definiert und die weltliche Musik und insgesamt die weltliche Kultur liebt. Hier besucht Zichroni eine jüdische Grundschule, um alsdann nach Amerika zu gehen und in Baltimore eine jüdische Oberschule zu besuchen und anschließend in New York an einer jüdischen Universität zu studieren. Durch seine Aufenthalte und durch sein Studium wird er zwar seinem Ursprungsort und -ambiente fremd (vgl. Z. 143), ohne jedoch je die Orthodoxie zu verlassen. Von seinem Onkel lernt Zichroni andererseits die Schönheit, aber auch die Gefährlichkeit der weltlichen Kultur kennen. Dieser ist nämlich überzeugt, dass »ein Leben ganz und ausschließlich für und mit der Torah« nicht die richtige Wahl darstelle, weil »weltliche Bildung und ein Beruf, Gewandtheit in mehreren Sprachen und intime Kenntnis von Philosophie und Kunst«, vor allem aber der Literatur und der Dichtung, notwendig zu einem Leben gehören, durch das man Gott heiligen wolle. Das Symbol für eine solche Vermischung von religiösem und weltlichem Leben stellt jenes Demantoid dar, das er Amnon nach dem Abitur schenken (Z. 102) und das Wechsler später im Pilotenkoffer finden wird (W. 22 f.): so wie gerade die »Einschlüsse«, d. h. die »eingeschlossenen Verunreinigungen« die Schönheit und den Wert des Edelsteins erhöhten (Z. 28), so sollten auch »die Einschlüsse des Weltlichen« (Z. 30) die Schönheit eines Lebens erhöhen, das sich jedoch immer im Rahmen der Torah bewegen sollte (vgl. Z. 40 f. und Z. 100). Kunst ist für den Onkel »Gottesdienst und der Künstler Gehilfe des Ewigen im sich ständig erneuernden Werk der Vollendung der Welt« (Z. 30; 100). Komplementär dazu ist Gott der größte Künstler (Z. 100) und sein größtes Kunstwerk stellt die Geschichte dar – und zwar sowohl die des einzelnen Individuums als auch die Geschichte der Menschheit. An mehreren Stellen in diesem Teil des Romans ist von der göttlichen Lenkung der Geschichte die Rede, einer Lenkung, die für den Menschen zwar oft unverständlich oder sogar grausam erscheint – wie etwa viele Geschichten aus dem Talmud beweisen (vgl. Z. 69; 76; 83 ff.; 86 f.), in denen sich Gott auch des unschuldigen Leidens eines Menschen bedienen kann, um seine Pläne zu verwirklichen –, welche jedoch Ausdruck einer höheren Rationalität ist. In diesem Zusammenhang betrachtet Zichroni auch das eigene Leben bzw. seine Geschichte als eine Art Kunstwerk, als ein Drehbuch, in dem »der Ewige«, nach »einem genau ausgearbeiteten Plan« Regie führt (Z. 122; 145; vgl. Z. 79). Mit diesem Glauben an die göttliche Lenkung der Geschichte ist bei dem

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Onkel in der Schweiz, und dann dementsprechend auch bei Amnon Zichroni, eine tiefe Skepsis gegenüber der westlichen und weltlichen Wissenschaft eng verbunden. Diese Einstellung vermittelt der Onkel dem Neffen bezeichnenderweise durch ein Buch, und zwar durch Bulgakows Roman Der Meister und Margarita (Z. 54 – 59), der eben den »Wahn der Yevonnin, wie er die Griechen abfällig nannte« (Z. 60), verdeutlichen sollte, d. h. jene Anmaßung der westlichaufklärerischen Wissenschaft, ihre Messungen, Kategorisierungen und abstrakten Theorien für »verbürgte Wahrheit« zu halten (Z. 60 f.). Die Skepsis gegenüber dem »deterministischen Wissen« wird Zichroni später, vor allem während seines Studiums der Medizin und der Psychiatrie weiter vertiefen (107 ff.; 116 ff.) und wieder aus Bulgakows Roman die Lehre ableiten, »dass etwas anderes im Leben der Menschen Regie führt – nämlich die mitunter grauenvolle, poetische Hand des Ewigen« (Z. 119). Die Tatsache, dass er diese Lehre in einem Roman findet, ist nicht zufällig, weil er vor allem in der Literatur jenes Phantastische und Magische enthalten sieht, für das die »vermeintlich exakten Wissenschaften kein[en] Platz haben« (Z. 61; 63). Auch seine auf den ersten Blick unglaubliche, über die Schranken der exakten Wissenschaften hinausgehende Gabe, die Erinnerungen der Mitmenschen nicht nur zu sehen oder zu erraten, sondern physisch und psychisch zu erleben, hat in dieser Weltsicht ihren Platz und wird von Zichroni selbst als ein Geschenk Gottes betrachtet, der mit ihm etwas Besonderes vorhaben musste (Z. 79; 122; 145). Dementsprechend bemüht er sich auch diese Gabe zugunsten seiner Mitmenschen anzuwenden, indem er Psychologie studiert und den anderen zu helfen versucht. Schon auf der Schule, zusammen mit seinem Busenfreund Eli, und dann auch auf der Universität und in der ärztlichen Praxis muss er allerdings vor allem die Demut lernen (Z. 100 ff.). Er erkennt auch, dass er sozusagen Distanz von seinen Patienten braucht, und diese Distanz wird durch die weißen Baumwollhandschuhe symbolisiert, die er immer anzieht, um mit den Erinnerungen der Mitmenschen nicht unversehens in unmittelbaren Kontakt zu kommen. Vielleicht gerade infolge der gemachten Erfahrungen und im Namen der gelernten Demut wendet Zichroni allerdings seine fast magisch anmutende Gabe gerade im entscheidendsten Moment nicht an, als er nämlich mit dem angeblichen KZ-Opfer Minsky in Berührung kommt, dessen in einem Buch niedergeschriebene Erinnerungen später vom Journalisten Jan Wechsler als Lüge entlarvt werden sollten. Obwohl Zichroni die Möglichkeit gehabt hätte, die Wahrhaftigkeit von Minskys Aussagen zu überprüfen, lässt er es bei einer flüchtigen Berührung und somit bei einem kurzen Blick in seine Erinnerungen bewenden. Er setzt seine Gabe auch später nicht ein, weder um dem von allen Seiten angegriffenen Minsky zu helfen, noch um den Journalisten Jan Wechsler zu enttarnen, der ihn zufällig in der kleinen Siedlung Ofra in Israel besucht und eine erfundene Familiengeschichte vorlügt (Z. 190). Erst im allerletzten Mo-

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ment, als er in einem Zornausbruch den Kopf von Jan Wechsler, der in einer Mikwe, einem rituellen jüdischen Tauchbad, badet, mit aller Kraft unter Wasser zu halten versucht, zieht er seine Handschuhe aus (Z. 193). In diesem Moment müsste er in die Erinnerungen Wechslers eintauchen können und dem Leser somit die Wahrheit über die auf der anderen Seite des Buchs erzählte Geschichte berichten können. Darüber sagt jedoch Zichroni, der am darauf folgenden Tag mit seinen Aufschreibungen anfangen wird, um seinen Wutausbruch und möglicherweise den Mord an Wechsler zu rechtfertigen, bezeichnenderweise nichts. Von außen betrachtet bietet sich also dieser Strang der Geschichte als eine Art von negativem Bildungsroman an: die Geschichte fängt mit einer unglaublichen Begabung an, verfolgt die Entwicklung des Kindes, seinen schulischen und professionellen Werdegang, verzeichnet die anfänglichen Erfolge, aber auch die Enttäuschungen des Mannes und begleitet ihn schließlich bei seiner Aufgabe des Berufs und seinem Rückzug in eine orthodoxe Siedlung in Westjordanien. Diese die Lesererwartungen enttäuschende Misserfolgsgeschichte enttäuscht auch die Erwartungen von Zichroni selbst, der lange Zeit seine Gabe als ein Zeichen dafür gehalten hatte, dass Gott etwas mit ihm vorhatte und zum Schluss wahrscheinlich in Demut feststellen muss, dass auch er und seine Begabung im großen Plan Gottes, wie so oft im Talmud erzählt wird, nur ein kleines winziges Rädchen, ein Mittel zu höheren Zwecken waren. Trotz dieses in vieler Hinsicht enttäuschenden Endes garantiert Zichronis Glaube an die göttliche Ordnung der Welt auch die traditionell wirkende Kontinuität und Kohärenz seiner Narration. Obwohl seine Gabe, mit allen seinen Sinnen in die Erinnerungen der anderen eintauchen zu können, ihn an den Rand der Schizophrenie führen könnte, ist er sich sowohl im Laufe seines Lebens als auch im Augenblick des Schreibens seiner Erinnerung und somit auch seiner Identität immer sicher, weil sie für ihn sozusagen metaphysisch begründet ist. Nur ein integres Ich, das im festen Glauben an die eigene Identität auf sein vergangenes Leben erinnernd zurückblickt, kann so schreiben. Umgekehrt kann aber auch nur eine solche rückblickende Schreibweise die Identität des erzählten Ichs garantieren, indem sie das erzählende Ich in ein Jenseits der Geschichte verbannt, wo nichts geschieht oder geschehen kann, das das Erzählte verändern bzw. in Frage stellen könnte. Genau das meint Walter Benjamin, wenn er behauptet, dass »der Tod die Sanktion von allem [ist], was der Erzähler berichten kann«, weil er »vom Tode […] seine Autorität geliehen« hat.42 Es ist insofern kein Zufall, wenn die Wechsler-Geschichte aus einem ganz unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten Gesichtspunkt, nämlich fast tagebuchartig aus der unmittelbaren Gegenwart heraus erzählt wird, so dass 42 Benjamin (1977), 450.

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dem Ich-Erzähler einerseits die Kenntnis des Kommenden notwendig fehlen muss, während andererseits auch die von ihm erträumte oder erinnerte Vergangenheit immer einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart hat und sich dementsprechend auch verändern kann.43 Wechsler fehlt der Glaube an die göttliche Lenkung der Geschichte und wie schon sein Name andeutet, glaubt er vielmehr an die ständige Veränderung und an die Reinkarnation bzw. an die im jüdischen Glauben durch die Mikwe versinnbildlichte Wiedergeburt. Obwohl er zum jüdischen Glauben konvertiert, oder vielleicht gerade deswegen, verkörpert er im Vergleich zu Zichroni eher den modernen, stets nach Sinn suchenden und unzuverlässigen Erzähler, Repräsentant der »transzendentalen Obdachlosigkeit«. Wechsler erzählt, wie er eines Tages in seiner Wohnung in München einen Pilotenkoffer zugestellt bekommt, den er angeblich bei seinem letzten Flug aus Tel Aviv verloren hatte. Er erinnert sich jedoch weder an den Besuch in Israel noch an den Koffer und kann mit den darin enthaltenen Gegenständen – vier Büchern, einem Manuskript, einem Demantoid und drei Jellabas, langen arabischen Gewändern – nichts anfangen (W. 22 f.). Dieser Koffer zwingt ihn jedoch dazu, nach und nach seine Erinnerungen und somit auch seine Identität in Frage zu stellen. In seinen Erinnerungen und auch in seinen Träumen war er nämlich in Ostberlin aufgewachsen und war erst nach dem Fall der Mauer in den Westen und dann nach München gekommen, wo er als Journalist für Computerzeitschriften und später als Unternehmensberater gearbeitet hatte. Dank eines großen Gewinns im Lotto hatte er sich ein angenehmes und aufwendiges Leben finanzieren können. In dieser Zeit hatte er auch seine zukünftige Frau kennengelernt, der er aber nichts von seinem Lottogewinn erzählte. Nach der Heirat, aus der zwei Töchter hervorgegangen sind, gründete er einen kleinen Verlag und musste später für den nicht versteuerten Lottogewinn große Summen an das Finanzamt zurückzahlen (W. 59 ff.; 62 f.). Bereits in der DDR hatte er sich dem jüdischen Glauben genähert (Z. 127 ff.) und später im Westen seinen Eintritt in die jüdische Gemeinde entschieden weiter betrieben (Z. 140 ff.), so dass er sich nun wie ein orthodoxer Jude kleidete und nach den Regeln der Orthodoxie lebte. Auf die Spuren seiner vergessenen oder verdrängten Vergangenheit bringt ihn das im Pilotenkoffer enthaltene Buch eines Schweizer Autors mit seinem gleichen Vor- und Nachnamen, das den Titel Maskeraden trägt und die Geschichte von der Aufdeckung einer erlogenen Biographie des angeblichen KZOpfers Minsky erzählt. Sowohl das Treffen mit dem Verleger des Buches und des 43 Durch diese doppelte Erzählstrategie lotet Benjamin Stein sozusagen Möglichkeiten und Grenzen der zwei wichtigsten autobiographischen Erzählstrategien aus. Vgl. zur ähnlichen Polarität von »metaphysischer Geborgenheit« und »existentialistischem Ausgesetztsein« in den unterschiedlichen Erzählstrategien in Littners autobiographischem Bericht Mein Weg durch die Nacht und Koeppens literarischer Verarbeitung dieses Textes: Costazza (2006).

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Debüt-Romans des Schweizer Autors Wechsler (W. 131 ff.) als auch die arrangierte Begegnung mit Minsky in der Schweiz (W. 97) bestätigen Wechsler darin, dass er sich seine DDR-Biographie wahrscheinlich als Flucht nach dem Aufflammen des Minsky-Skandals zugelegt hatte. Eine zusätzliche Bestätigung erhält er auf dem Einwohnermeldeamt (W. 115 ff.) und schließlich aus einem Telefonat seiner Mutter, die mit seiner Frau mit eindeutig berndeutschem Akzent redet (W. 100). Wechsler versucht alsdann dem durch diese Entdeckung verursachten Auszug der Frau und der Kinder und der darauffolgenden Depression durch eine Reise nach Israel zu entfliehen, um dort die mögliche Ursache seines Vergessens zu finden (W. 103 ff.). Kaum in Israel angekommen, wird er jedoch am Flughafen verhaftet und in einem Verhör mit der prägnantesten Fassung seiner Autobiographie, d. h. mit seinem Ausweis44 konfrontiert (W. 166). Erst langsam und durch Alpträume, die eindeutig an mythische Übergangsrituale erinnern (W. 188 f.), entsinnt er sich seiner letzten Reise nach Israel, seines Besuchs zum Schabbat bei Zichroni in der Siedlung Ofra sowie ihres gemeinsamen Besuchs der Mikwe in Moza (W. 191 ff.). Die Verhaftung und die Verwahrung im Gefängnis lassen ihn vermuten, dass er am Verschwinden und am möglichen Tod von Zichroni schuldig sein könnte. Im Unterschied zu Zichroni ist Wechsler ein typisch moderner unzuverlässiger Erzähler. Bereits früh im Roman erzählt er, wie er stets vorgegeben hat, sich an Einzelheiten über den Ankauf von Büchern zu erinnern, die seine Frau dann durch dingfeste Belege dementierte (W. 25 ff.). An mehreren Stellen beklagt er sich dann über sein schlechtes Gedächtnis, lügt aber wiederholt auch wissentlich. So hat er z. B. seiner Frau nie von seinem (vielleicht nur erträumten) Lottogewinn erzählt (W. 65). Nicht anders belügt er auch seinen Verleger oder etwa die Frau im Einwohnermeldeamt absichtlich. Und auch den Polizisten, der ihn am Flughafen in Tel Aviv verhaftet hat, versucht er wiederholt mit falschen Informationen abzuspeisen (W. 166 ff.). Angesichts dieser scheinbar angeborenen Lügenhaftigkeit kann ihm auch der Leser unmöglich Vertrauen schenken. Obwohl seine Erinnerungen an die DDR durchaus authentisch scheinen und deren Authentizität auch durch die Tatsache bestätigt wird, dass er von ihnen träumt, bleibt der Leser immer unentschlossen, ob er ihm wirklich trauen soll. Selbst das Ende des Wechsler-Stranges verweist irgendwie ironisch auf die Fiktionalität, ja letztendlich auf die Unmöglichkeit einer unmittelbaren Erzählung. Der Erzähler beschreibt hier nämlich, wie er, zusammen mit dem Polizisten, der ihn verhaftet hat, die Mikwe von Moza aufsucht und sich erhofft, 44 Vgl. Holdenried (2000),12: »Die minimale und gleichzeitig mächtigste Version der autobiographischen Identitätspräsentation bildet die carte d’identit¦, identity card – der Ausweis. Identitätskarte und Steckbrief sind die kriminologisch gewichteten ›Identitätszumutungen‹, die von außen an eine Person herangetragen werden.«

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durch einen Sprung ins reinigende bzw. verwandelnde Wasser sein »verlorenes Ich« zu finden (W. 203): Ich glaube nicht, dass Ben-Or mir erlauben wird, noch einmal hier unterzutauchen. Aber es gibt keinen anderen Weg, wenn ich zu mir selbst zurückfinden will. Also stoße ich ihn entschlossen zu Seite und nehme Anlauf. Ich halte den Atem an und springe. Gleich werde ich in das eiskalte Wasser sinken, und alles wird sein, wie es einmal war. Aber ich sinke nicht. Ich falle. Das Becken, in das ich stürze, ist leer. (W. 203 f.)

Der Leser erfährt nicht, was mit Wechsler geschehen ist, ob er sich nur verletzt hat oder ob er vielleicht sogar gestorben ist; er weiß jedoch, dass kein Erzähler seinen Fall ins Leere und noch weniger seinen eigenen Tod unmittelbar, sozusagen live, erzählen oder aufschreiben kann.45 Beide Erzähler vermuten bzw. befürchten also, den anderen umgebracht zu haben: aber der Erzähler kann offenbar nicht aus der Erzählung eliminiert werden.

4.

Erinnerung und Identität als Fiktionen

Es geht also offensichtlich in beiden Erzählsträngen um Erinnerung und Identität. Trotz der Unterschiede zwischen den zwei Erzählern und den jeweiligen Erzählhaltungen sind ihre Positionen in dieser Hinsicht sehr nahe verwandt. Zichroni, der über einen metaphysischen Glauben an die gottgewollte Ordnung der Welt und an die dadurch garantierte Kontinuität der eigenen Identität besitzt, zweifelt zwar an keiner Stelle an der Wahrheit der eigenen Erinnerungen. Nichtsdestoweniger äußert er gleich am Anfang seines Berichts die Überzeugung von der Abhängigkeit der Identität von der Erinnerung und von der Wandelbarkeit der Erinnerung, die genau das Gegenteil zu behaupten scheint und genauso gut Wechsler anstünde: Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich. Erinnerung aber ist unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Mit jedem Erinnern formen wir um, filtern, trennen, verbinden, fügen hinzu, sparen aus und ersetzen so im Laufe der Zeit das Ursprüngliche nach und nach durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer wollte da noch sagen, was einmal geschehen ist? (Z. 7 f.)

Der Widerspruch ist möglicherweise mehr scheinbar als reell. Denn obwohl Zichroni nie an seinen eigenen Erinnerungen zweifelt, so ist er sich hingegen von der Relativität der Erinnerungen der anderen, in die er eintauchen und die er mit allen seinen Sinnen nachempfinden kann, vollkommen bewusst. 45 Vgl. ebd., 30: »Die Autobiographie ist […] durch ihre strukturelle Offenheit zum Ende hin gekennzeichnet: Seinen eigenen Tod hat noch kein Autobiograph geschildert«. Uwe Timm verletzt ironisch dieses Gesetz, indem er den Ich-Erzähler seines autobiographischen Romans Rot das eigene Sterben beschreiben lässt. Timm, Rot, 7 ff.

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Zichroni verliert die eigene Identität nicht einmal dann, wenn er sich mit den Erinnerungen der anderen vollkommen identifiziert. Gerade darin sieht er aber die erste Schwierigkeit, um den anderen durch seine Gabe behilflich sein zu können: Mir war klar geworden, dass ich weit davon entfernt war, mit meiner Fähigkeit jemandem nützlich sein zu können. Es begann schon damit, dass ich nicht wusste, ob und wann und unter welchen Umständen ich etwas sah. Wieder, wie schon die beiden Male zuvor, war ich von den Bildern überrannt worden. Ich war dem Geschehen ausgeliefert gewesen, ohne auch nur den Hauch einer Möglichkeit, den Verlauf zu kontrollieren. Am problematischsten schien mir jedoch, dass ich zwar in ein anderes Ich gesunken war, dabei aber nicht gänzlich aufgehört hatte, ich selbst zu sein. […] Diese Überlagerung fremder Emotionen mit meinen eigenen macht mir deutlich, dass ich, jedenfalls im Moment, niemandem mit meiner Gabe helfen konnte. […] Wenn ich aber nicht wusste, wessen Gedanken ich tatsächlich dachte und wessen Gefühle ich empfand während einer solchen Vision, würde das Bild, das sich vor mir ausspannte, immer eine vage Collage aus Eigenem und Fremdem sein. (Z. 98 f.)

Was hier von Zichroni beschrieben wird, ist nichts anderes als das Phänomen der Übertragung, die bei jeder psychologischen oder psychoanalytischen Therapie sowohl von Seiten des Patienten als auch von Seiten des Therapeuten stattfindet und die der Therapeut nur durch langjährige Lehrtherapie zu erkennen und so weit wie möglich auch zurückzunehmen lernen kann. Den gleichen Weg empfiehlt Zichroni auch dessen Freund Eli, indem er ihn jedoch auf die jüdische Mystik, auf den »›Weg des Frommen‹ als einen stufenweisen Prozess der Selbsterkenntnis und der Selbstkontrolle« verweist, der genau eine solche »Zurücknahme« bzw. eine »Selbstbeschränkung« oder die »Verringerung des eigenen Egos« bedeutet (Z. 99). Das Hauptmittel einer solchen Befreiung von der Selbstbezogenheit ist die »Demut« (Z. 100), die Eli und Zichroni »durch die Bücher der großen Mussar-Lehrer« (Z. 105) erlernen. Nur die Demut lehrt Zichroni auch die Grenzen seiner Gabe zu erkennen, welche hauptsächlich darin bestehen, dass er zwar in die Erinnerungen der anderen eintauchen konnte, dabei aber »keine Möglichkeit [hatte], Zusammenhänge zu erkennen, die der Betreffende nicht selbst in jenem Augenblick herstellte.« (Z. 134) Zichroni kann mit anderen Worten nicht über die Wahrheit oder Unwahrheit der Erinnerung und auch nicht über ihre wirkliche Bedeutung urteilen, weil er ausschließlich das in jenem präzisen Augenblick vom anderen Erinnerte nachvollziehen kann und somit auf der gleichen Ebene des Patienten steht. Ohne also eine Wahrheit über das wirklich Gewesene zu besitzen, kann Zichroni trotzdem den Patienten behilflich sein, indem er ihnen und ihren Erinnerungen ein Ohr schenkt und an sie glaubt (vgl. Z. 90). Darüber hinaus beabsichtigt er, zusammen mit den Patienten den hauptsächlich durch Träume zum Bewusstsein gelangten Erinnerungen anhand von freien Assoziationen

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neue Bedeutungen zuzuschreiben, um die Patienten somit von ihrer schmerzvollen Vergangenheit zu befreien: In der Analyse konnte man ihnen die Zügel wieder in die Hand geben – oder vielmehr die Palette und den Pinsel, mit dem sie auf die Leinwand ihrer Erinnerungen neue Akzente setzten. Dabei konnte man selbst ganz zur Leinwand werden, zu einer Projektionsfläche, auf der die Patienten mögliche Gegenentwürfe skizzierten und neue Möglichkeiten erprobten […]. Dabei wanderten sie ebenso durch Tausende möglicher Welten wie beim Eintauchen in Bücher oder Musik. In der Psychoanalyse sah ich also nichts weniger als die natürliche Verbindung von Kunst und Heilung. Es ging nicht darum etwas auszulöschen oder loszuwerden, sondern einzusammeln und wiederherzustellen, was zerbrochen war. (152 f.)

Gerade die Instabilität der Erinnerung, ihre Variabilität, ja ihr Konstruktionscharakter, der sie in die Nähe eines Kunstwerks bringt, wird hier also ins Positive gewendet: weit davon entfernt, die Kontinuität und Identität des Erinnernden in Frage zu stellen, kann diese Instabilität dazu dienen, die Vergangenheit zu revidieren und eine an der Vergangenheit fixierte Identität zu heilen. Genau in diese Richtung weist auch das Motto des Zichroni-Teils des Romans: »Wir wissen ja nicht, was wahr ist, / sagst du. Wir können nur sagen, / was zählt.« (Z. 5) Insofern ist jedes Streben nach einer absoluten Wahrheit eine Hybris, die gegen das Gebot der Demut und darüber hinaus auch gegen das Leben verstößt: nicht die Wahrheit des Gewesenen zählt, sondern ihre Bedeutung, ihr Wert für das Leben des Einzelnen. Nicht anders als Zichroni weiß auch Wechsler, dass die Identität auf der Erinnerung basiert und dass jede Erinnerung letztendlich eine Projektion des Einzelnen und eine Widerspiegelung der Ansicht der anderen ist. Das weiß er allerdings nicht als Psychologe, sondern als Verleger bzw. als Literaturexperte. Schon auf den ersten Seiten seines Berichts schreibt er : Ich bin Verleger und Autor. Viele Stunden am Tag […] bin ich mit Geschichten beschäftigt, mit Biographien, Vorfällen, unerhört oder alltäglich, in jedem Fall aber mit Material, lauter Fetzen Realität, die samt und sonders verdienen, liebevoll fiktionalisiert zu werden. Oder die bereits fiktionalisiert sind. Niemand wüsste besser als ich, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion in jeder Erzählung mäandernd inmitten der Sprache verläuft, getarnt, unfassbar – und beweglich. Selbst das Wort »Wirklichkeit« führt ins Unwägbare. Wer könnte sagen, ob es ein Synonym für Realität ist oder nicht doch vielmehr für all das steht, was wirkt – ein sehr subjektives Bild, das mehr vom Auge des Betrachters abhängt als vom Gegenstand, der wahrgenommen wird. (W. 13 f.)

Diese Auffassung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Fiktion ist gleichzeitig ein metaphysisches Credo und Bestandteil einer Poetik. Als sich Wechsler mit seinem vermeintlichen Verleger von Dennen trifft, um möglicherweise etwas über seine wahre Identität zu erfahren, lügt er ihm vor, dass er ein Buch in der

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Art von Raymond Queneaus Stilübungen schreiben will und dass er im Moment noch experimentiert und über sich selbst bzw. darüber schreiben will, wie die anderen ihn erzählen (W. 124 – 126). Queneau stellt aber in diesem Werk eine einfache Begebenheit aus ganz unterschiedlichen, manchmal scheinbar widersprüchlichen Gesichtspunkten dar und Wechsler behauptet, dass keine der Ansichten davon die wahre sei, weil sie vielmehr alle wahr sind: »Die Geschichte ereignet sich nicht nur einmal, sondern so oft, wie sie beobachtet wird. In der Wahrnehmung der Beobachter findet sie überhaupt erst statt.« (W. 125) Genau das Gleiche soll dann aber offensichtlich auch für die Biographie gelten, von der es keine Wahrheit geben soll, sondern immer nur so viele ›wahre‹ Bilder wie es Ansichten gibt. Aus diesem Grund begnügt sich Wechsler nicht mit der eher sachlichen Sicht seiner Biographie durch den Verleger, sondern verlangt von ihm auch, dass er ihm weitere Ansichten mitteilt, die aus mehreren anonymen Briefen an den Verlag stammten. Und obwohl er diese Darstellungen, die ihn als Spion, als Sympathisant der extremen Rechten und als Mitglied einer schlagenden Vereinigung hinstellten, unangenehm bis unerträglich findet, kann er »nicht behaupten, dass die Geschichte nicht ins Bild passte, das langsam in meiner Vorstellung Kontur annahm.« (W. 135) Wechsler glaubt darüber hinaus nicht nur, dass es keine Wahrheit und keine Identität gibt, sondern immer nur unendlich viele perspektivische Ansichten derselben; er ist darüber hinaus auch von der Idee der Verwandlung im Leben fasziniert. Ausdrücklich sagt er von sich selbst: »Ich habe Erfahrung darin, ein Leben für ein anderes aufzugeben« (W. 149). Daher kommt sein großes Interesse für die Mikavot,46 für die jüdischen Tauchbäder also, die den Übergang in ein neues Leben symbolisieren sollen. Aus diesem Grund entscheidet er dementsprechend, in die Mikwe zu gehen, um seinen Übergang zum jüdischen Glauben »auch symbolisch zu bekräftigen« (W. 147). Nach der Tevila, dem Bad in der Mikwe, sollte nämlich »nichts […] mehr gelten von dem, was gewesen war. Aus dem Wasser steige man auf als ein neuer Mensch«; »Das Band der Generationen wird zerschnitten und ein neues geknüpft.« Dabei nimmt er auch den neuen Namen Arieh Löwe Leiw an, denn »den Namen zu wechseln, ändert das Schicksal, die Zukunft und die Vergangenheit.« (W. 148) Der Übergang ins neue Leben ist allerdings auch mit Ängsten verbunden, weil er letztendlich einen Durchgang durch das Reich des Todes bedeutet. Nicht von ungefähr träumt Wechsler vor seiner ersten Tevila von einer Überfahrt »in einem morschen Kahn über einen bleiernen Fluss«, in dem der Kahn dann unterging und er unter Wasser entdeckte, dass er atmen konnte (W. 147). Diese Überquerung auf dem »morschen Kahn« ist wahrscheinlich nichts anderes als die 46 Das gleiche Interesse teilt im anderen Strang des Romans auch Eli, der Busenfreund Zichronis. Vgl. Z. 70 ff.

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Überquerung des Acherons – der hier jedoch mit dem Lethefluss, dem »Fluss des Vergessens« zusammenzufallen scheint –, so dass der Fährmann niemand anderer als Charon wäre, der die Seelen der Toten in das Totenreich bringt (vgl. W. 188). Dies erfährt zumindest der Leser etwas später, als Wechsler eine Nacht im Gefängnis in Tel Aviv verbringt und an die Erzählung einer Autorin zurückdenkt, die ihn auf die Parallelen zwischen dem Konzept der Mikva und den Ritualen der Schlangengrube hinweist, durch die man im Tempel des Asklepios im antiken Epidaurus die Psychotiker zu behandeln pflegte (W. 188). Auch dort erlebt Wechsler in einem Alptraum dieses schreckliche Übergangsritual, das ihm den Weg zu einer Wiedergewinnung der zugeschütteten Erinnerung öffnet. Genau diese Erfahrung des Überganges wird bereits vom Motto des WechslerTeils vorweggenommen, das die Verwandlung und die Wiedergeburt zum Thema dieses Teils macht: »willst du den hohlweg nehmen / oder den fluss? (den fährmann / zahlt niemand mit liebe)« (W. 5)47 Die »Mikwe« enthält »die Idee des Übergangs in ein neues Leben«, sie ist »ein Tor in ein anderes Leben«, ein »Ausweg«, »eine Möglichkeit der Erinnerung an die eigenen Fehler zu entkommen«, ein »Tor der Wiederkehr« (W. 171).

5.

Die Metapher der Leinwand

Letztendlich teilen also Zichroni und Wechsler eine ähnliche Auffassung der Veränderlichkeit der Erinnerung, die für beide zwar die Grundlage der Identität ist, nichtsdestoweniger aber sich in jedem Augenblick ändert und auf die auch verändernd eingewirkt werden kann. Diese Auffassung von Erinnerung drückt sich am deutlichsten in der Metapher aus, die dem Werk den Titel gibt. Das oft verwendete Bild des Spiegels als Metapher der Erinnerung wird hier von Stein bezeichnenderweise durch die Metapher der Leinwand ersetzt, die sowohl die Projektionsleinwand des Films als auch die Leinwand des Malers meint, um den nicht bloß reproduktiven, sondern höchst kreativen, ja künstlerischen Charakter dieser ›Widerspiegelung‹ zu unterstreichen: das Bild auf der Leinwand ist einerseits irrealer als jenes im Spiegel, andererseits aber das Produkt eines konstruktiven Vorganges.48 Im Wechsler-Teil bezieht sich der Begriff der Leinwand ausschließlich auf die Kinoleinwand und bezeichnet somit eher das Gefühl der Unwirklichkeit der 47 Vgl. das ganze Gedicht, aus dem diese Verse entnommen sind, im Turmsegler : Stein, »große wasser«, http://turmsegler.net/20071130/grosse-wasser/. 48 Diese Metapher für die Erinnerung könnte Stein in Daniel Ganzfrieds Roman Der Absender gefunden haben, wo es heißt: »Georg liess es dabei bewenden. Er begriff allmählich, dass eine Geschichte auch aus den Leeräumen besteht, wie auf einer Leinwand auch die unbemalten Flächen zum Bild gehörten.« Ganzfried, Der Absender, 224.

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Erinnerung, in der sich das Subjekt als etwas Fremdes, ihm nicht Zugehöriges erblickt. So überfällt etwa Wechsler die Erinnerung an den Abschied von seiner Mutter wie ein Flash: Worte aus einem Lautsprecher, inszenierte und auf eine Leinwand projizierte Bilder – wie ein Film der meine Mutter und mich in einem anderen Leben zeigt. Doch wie fremd sich das alles anfühlt, war es doch sicher kein Traum, sondern das Aufblitzen einer Erinnerung, die in den trüben Wassern des Unbewussten darauf gewartet haben mag, eines Tages wieder aufzusteigen. (W. 102)

Die Erinnerungen an die DDR-Vergangenheit nehmen sich hingegen auch dann durch ihre unmittelbare und lebendige Gegenwärtigkeit aus, wenn sie nur Träume sind. Erst später, wenn Wechsler bereits angefangen hat, an diesen Erinnerungen zu zweifeln, kommt er sich in ihnen vor wie »in einem Film, den ich selbst inszeniert habe« (W. 137). Im Zichroni-Teil erhält das Bild der »Leinwand«, das hier hauptsächlich eine Malerleinwand meint, eine differenziertere und tiefere Bedeutung als Symbol des konstruktiven Charakters der Identität und der Erinnerung. Der Begriff taucht zum ersten Mal gleich auf den ersten Seiten dieses Erzählstranges auf und zwar im Zusammenhang mit dem ersten Buch, das Zichroni gelesen und welches sein ganzes Leben beeinflusst hat, nämlich Das Bildnis des Dorian Gray (Z. 15 – 16).49 Das im Roman Oscar Wildes auf der Leinwand festgehaltene Porträt ist bekanntlich zwar eine Projektion, ein Kunstprodukt, welches aber die Eigentümlichkeit hat, sich im Laufe der Zeit zu verändern und alle jene Zeichen des Alterns und des ausschweifenden Lebens zu tragen, die das unveränderte Aussehen von Dorian Gray nicht zeigt. Insofern scheint hier gerade das projizierte Bild die wahre Identität des Subjekts zu enthalten, während das wirkliche Individuum nur Lüge und Äußerlichkeit ist. Das auf die Leinwand projizierte Bild stellt aber im Roman vor allem die Erinnerung als Fundament der Identität dar (vgl. Z. 152). Demnach besteht die Aufgabe des Psychotherapeuten, zu dem sich Zichroni ausbilden wollte, gerade darin, den unter ihrer Vergangenheit leidenden Patienten beizubringen, mit Pinsel und Palette auf der Leinwand ihrer Erinnerungen neue Akzente [zu] setzen. Dabei konnte man selbst ganz zur Leinwand werden, zu einer Projektionsfläche, auf der die Patienten mögliche Gegenentwürfe skizzierten und neue Möglichkeiten erprobten, mit anderen Menschen überhaupt wieder in Beziehung zu treten. Dabei wanderten sie ebenso durch Tausende möglicher Welten wie beim Eintauchen in Bücher oder Musik. (Z. 152)

Wenn Zichroni von einer »natürliche[n] Verbindung von Kunst und Heilung« (Z. 152) redet, dann schwebt ihm ein aktiver, d. h. produktiver Umgang mit der 49 Die englische Ausgabe dieses Werkes findet Wechsler auch im Pilotenkoffer. Vgl. W. 24.

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Erinnerung und der Vergangenheit vor, der sogar einer »Schöpfung« gleicht, indem er das Zerbrochene, »die versprengten Funken eines verstörten Selbst« »einzusammeln und wiederherzustellen« versucht (Z. 153). Im Falle von Minsky erhält das Bild der Leinwand seine bedeutendste Anwendung. Indem er nämlich davon überzeugt war, dass man ihm seine wahre Identität als Insasse eines Konzentrationslagers geraubt hatte, kam ihm sein Leben wie eine Leinwand, wie ein überdimensionales verfälschtes Gemälde [vor]. Er trug die Farben ab, um die Grundierung freizulegen, die fünf ersten Jahre seines Lebens, die grob übermalt worden waren. Er versuchte die Konturen zu finden und zu schärfen. Dabei stützte er sich auf Materialien aus Archiven, auf Dokumentationen und Berichte. Er besuchte die möglichen Orte des Geschehens und glich sie ab mit seinen Erinnerungssplittern, um sie einzupassen in das Bild, das erst jetzt, wie er sagte, mehr und mehr wirklich ihm glich statt jenem anderen, der er hatte sein sollen, wenn man den Behörden und den Berichten seiner verstorbenen Adoptiveltern glaubte. Minskys Suche und seine Arbeit am Bild seines Selbst war so ernsthaft wie die eines Künstlers, der den einzig wahrhaftigen Ausdruck für ein verschüttetes, aber immer präsentes Grauen in den Tiefen des eigenen Ich zu finden hofft. […] Je weiter er vorankam, je mehr er das Bild schärfen und belegen konnte, desto besser konnte er nachts schlafen und tagsüber die Ängste fernhalten. Er heilte die alten Wunden, indem er sie malte. Er trieb das Grauen aus sich aus, indem er ihm auf der Leinwand seines Selbst den Platz zuwies, an den es gehörte. Wer hätte sein Leiden besser behandeln können als er selbst? (Z. 176 f.)

Es wird hier deutlich, dass die Leinwand wohl eine Projektionsfläche ist, die nicht nur übermalt, sondern manchmal auch abgekratzt, von Ablagerungen befreit werden muss, damit die ursprünglichen Zeichnungen ans Licht kommen. Danach ist der Prozess des Hervorhebens, Übermalens, ja des Zusammentragens auch von fremden, kulturellen Erinnerungen ein höchst kreativer Vorgang, der möglicherweise nicht immer der Auffindung der Wahrheit dient. Das scheint aber Zichroni nicht zu beunruhigen, da er nur an der therapeutischen Wirkung dieses Procedere interessiert ist und sich aus diesem sozusagen kreativen Umgang mit der Vergangenheit die besten Erfolge für die psychische Gesundheit seiner Patienten und hier insbesondere seines Freundes Minsky erhofft. Diese Art von rekonstruierter Vergangenheit und Identität besitzt jedoch nur einen subjektiven Wert und darf nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden. Denn sobald die Erinnerung öffentlich gemacht wird, ändert sie ihren Status, wird von der bloß privaten zur sozialen Erinnerung, verlangt sozusagen nach Anerkennung und wird somit notwendigerweise an anderen ›Wahrheiten‹ gemessen, die gleichfalls nach Anerkennung verlangen. Zichroni hat zwar selbst den Freund ermuntert, »seine Erinnerungen aufzuschreiben, um ihnen so vielleicht noch besser nachgehen zu können« (Z. 177), aber er hat ihn nicht

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davor gewarnt, seine niedergeschriebenen Erinnerungen zu veröffentlichen und dann auch deren Erfolg zu genießen (Z. 177 f.). Und gerade darin erblickt er nun seine »Schuld« (Z. 177), weil die Veröffentlichung dann sowohl Minsky als auch Zichroni selbst in die Katastrophe geführt hat. Trotz dieses Eingeständnisses des eigenen Fehlers hasst Zichroni den Journalisten Wechsler, der als erster Minskys Werk der Lüge bezichtigt und den Skandal ausgelöst hatte, weil jener die Erinnerungen seines Freundes an einer abstrakten »Wahrheit der Wissenschaftler« gemessen hatte, ohne zu bedenken, »dass ein Messer, mit dem man das Bild eines Menschen zerstört, den Menschen tötet, den das Bild zeigt« (Z. 179). Diese Behauptung, die auf das Ende des Dorian Gray verweist, der bekanntlich starb, als er mit dem Messer das eigene Bild zerstören wollte, fasst noch einmal jene schon im Motto enthaltene, an Nietzsche erinnernde Weisheit zusammen, nach der für den Menschen die Lüge oft lebensfördernder ist als die »nackte Wahrheit«. Auch ein ›falsches‹, zusammengesetztes Bild der eigenen Vergangenheit kann oft eine wichtige therapeutische Wirkung haben. Ausgerechnet Wechsler, dem die mäandernde Durchdringung von Wirklichkeit und Fiktion in jeder Erzählung wohl bewusst war (vgl. W. 14) und an keine ›wahre‹ Geschichte, sondern nur an die Wahrheit jeder perspektivischen Ansicht derselben glaubte, hätte das aber wissen müssen. Doch offensichtlich war sein Beweggrund bei seiner gehässigen demaskierenden Attacke gegen Minsky nicht das unbedingte Streben nach Wahrheit. Ob erträumt oder wirklich, suggeriert Wechsler selbst, dass seine wahre Motivation einfach der Neid und sein verletzter Narzissmus gewesen sei. Schon als Kind träumte er nämlich davon, wie die chilenische Dichterin und Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral bei der Ankunft in der Heimat von einer Masse von Bewunderern empfangen zu werden (W. 107 f.; vgl. W. 157; 158). Auf der Leipziger Messe dann, bei der Vorstellung seines Debüt-Romans, hatte ihn Minsky absolut in den Schatten gestellt (Z. 184). Und das Gleiche wiederholt sich, als sie zusammen in Tel Aviv landen und Wechsler für einen Augenblick annimmt, dass die ganzen Kamerateams und »Journalisten mit gezuckten Notizblöcken und Aufnahmegeräten« am Flughafen Ben Gurion auf ihn dort warteten (W. 157), bis er zu der Erkenntnis gelangt: »Zum zweiten Mal bringt mich Minsky mit seinem Rührstück um die Aufmerksamkeit des Publikums.« (W. 158). Genau in diesem Moment schwört er sich aber bezeichnenderweise, den Lügner und Scharlatan zu entlarven: Er ist kein Autor, sondern ein Schauspieler, sagte ich mir. Ich konnte nicht begreifen, dass außer mir niemand das Offensichtliche sah. Ich würde ihn zur Strecke bringen, nahm ich mir vor. Ohne Pardon. Gnadenlos. So gnadenlos, wie er mich zur Strecke gebracht hatte. Ich habe von diesem Tag an nur noch aus Wut geschrieben und als die Wut aufgebraucht war, hatte ich nichts mehr zu sagen. Es muss etwas mit diesem Land zu tun haben. Bei meiner ersten Ankunft hat es mich um meine Hoffnungen als Autor

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gebracht. Bei meinem zweiten Aufenthalt ist mir die Erinnerung abhandengekommen, und ich weiß nicht mehr, wer ich bin. (W. 159)

Die niedrigen, ja gemeinen Beweggründe für Wechslers Vorgehen legen die Vermutung nahe, dass es sich bei seinem Gedächtnisverlust um eine Strafe handeln könnte. Nicht von ungefähr erzählt er seinem Verleger – möglicherweise auch nur als Vorwand –, dass er nach mehr als zehn Jahren ein neues Buch über Minsky schreiben wollte, weil er inzwischen »eine völlig neue Sicht auf den Fall gewonnen« habe (W. 138). Diese neue Erkenntnis könnte nämlich gerade darin bestehen, dass er nun aus eigener Erfahrung gelernt hat, dass man in der Biographie eines anderen Zuflucht suchen kann.

6.

Intertextualität und der »Fall Wilkomirski«

Wie bereits gesehen, sind in beide Geschichtsstränge häufige, mehr oder weniger explizite intertextuelle Bezüge eingewoben, die den fiktiven Charakter des Textes hervorheben. Das Bildnis des Dorian Grey bestimmt nicht nur den Werdegang von Zichroni, sondern dient im Text auch als Bildspender für die zentrale Metapher der Leinwand. Bulgakows Der Meister und Margarita, das Zichroni von seinem Onkel in der Schweiz geschenkt bekommt, leitet einen weiteren wichtigen Schritt in seiner Entwicklung ein, indem es seine Skepsis gegenüber den exakten Wissenschaften, seine Öffnung für das Magische und gleichzeitig seinen Glauben an eine höhere Lenkung der Geschichte begründet. Auf der Seite von Wechsler sind es dann vor allem Queneaus Stilübungen, die seine Poetik der relativistisch-perspektivistischen Auffassung der Wahrheit begründen. Aber auch das von Wechsler über alles geliebte Werk von Wolfgang Hilbig hat mit seinen kaleidoskopischen Identitätsspiegelungen und -spaltungen auf das Thema der Erzählung einen eindeutig starken Einfluss ausgeübt. Steins Roman handelt aber auch von anderen Werken und Autoren, die jedoch mit veränderten Namen angegeben werden, so dass man ohne Bedenken von einem Schlüsselroman reden kann. Wie schon angedeutet, steht hinter der Schweizer-Biographie von Wechsler die Biographie von Daniel Ganzfried. Dessen 1995 erschienenen Roman Der Absender ersetzt jedoch Stein durch den eigenen, im selben Jahr und ebenfalls in der Schweiz veröffentlichten Roman Das Alphabet des Juda Liva. Das zweite Werk von Wechsler, Maskeraden, das sich im Pilotenkoffer befindet und dessen Inhalt ziemlich genau wiedergegeben wird (W. 45 – 50), entspricht wiederum der Erzählung von Daniel Ganzfried Die Holocaust-Travestie.50 Im Pilotenkoffer befindet sich auch das Buch eines Histori50 Ganzfried (2002).

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kers namens Hans Macht, mit dem Titel Die Akte Minsky (W. 86 ff. und 152 ff.), hinter dem Stefan Mächler, der Autor des Buches Der Fall Wilkomirski,51 leicht zu erkennen ist. Beide letztgenannten Werke beziehen sich schließlich im Roman auf das autobiographische Werk von Minsky Aschentage,52 so wie ihre Entsprechungen in der Wirklichkeit Wilkomirskis Bruchstücke53 zum Gegenstand haben. In dieser Hinsicht kann also Benjamin Steins Werk als verspätete, mit literarischen Mitteln durchgeführte Auseinandersetzung mit dem bekannten »Fall Wilkomirski« betrachtet werden. Insofern erscheint aber auch die referentielle Frage nach der im Roman enthaltenen Einstellung zu diesem Fall bzw. zu Wilkomirskis autobiographischem Werk gerechtfertigt. Und dies umso mehr, als diese Einstellung letztendlich zugleich eine Antwort auf die Frage nach Steins Auffassung der Möglichkeiten und Grenzen autobiographischen Schreibens enthält. Da der »Fall Wilkomirski« hinlänglich bekannt ist, soll eine kurze Rekapitulation genügen. 1995 ist im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag ein schmales Büchlein mit dem Titel Bruchstücke erschienen, das gleich von allen Seiten in den höchsten Tönen gelobt – es wurde sogar den Werken von Primo Levi an die Seite gestellt –,54 dementsprechend mit vielen Preisen ausgezeichnet und gleich in viele Sprachen übersetzt wurde. Darin erzählt der Autor Binjamin Wilkomirski, wie er, aus Polen stammend, als kleines Kind in den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz überlebt hatte und später aus einem polnischen Kinderheim in die Schweiz transportiert und dort zur Adoption freigegeben worden war. Diese traumatische Kindheit soll ihm dann aber in der Adoptivfamilie und in der Schule ausgetrieben worden sein, bis er sie später, infolge von markanten Erlebnissen und Träumen, aber auch aufgrund von Lektüren, Nachforschungen und Besichtigungen der vermeintlichen Orte seiner Kindheit sowie durch die therapeutische Behandlung und die Unterstützung des israelischen Psychiaters Elistur Bernstein, rekonstruieren konnte. Erst 1998 stellte ein in der Weltwoche veröffentlichter Artikel von Daniel Ganzfried die Identität von Wilkomirski in Frage und bewies, dass er in Wirklichkeit als Bruno Grosejean 1941 in der Schweiz geboren und später von der Familie Dösseker adoptiert worden war. Zwei Jahre später rekonstruierte der Schweizer Historiker Stefan Mächler nicht nur das traumatische Leben des kleinen Bruno Grosejean, sondern versuchte auch nachzuzeichnen, wie es zur 51 Mächler (2000). 52 Der Titel könnte durch den ursprünglichen Titel von Wilkomirskis Autobiographie inspiriert sein, der Glut unter der Asche, Kindertage 1939 – 1947 lautete. Vgl. Mächler (2000), 105. 53 Wilkomirski, Bruchstücke. Aus einer Kindheit. 1938 – 1948. 54 So Anne Karpf in dem Artikel »Child of the Shoah«, erschienen im Guardian vom 11. Februar 1998, zitiert in: Gourevitch (2002), 262.

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Entstehung von Bruchstücke gekommen war und welche Teile der tatsächlichen Biographie des Kindes in verwandelter Form in seinen autobiographischen Bericht Eingang gefunden hatten. Die Entdeckung von Wilkomirskis erlogener bzw. »gestohlener Biographie« als KZ-Insasse löste heftige Diskussionen aus, die u. a. die Glaubwürdigkeit der Erinnerungen von traumatisierten Kindern, die Zulässigkeit von therapeutischen Maßnahmen zur Hervorbringung von Erinnerungen, die Blindheit sowohl der Kritik als auch der Verlage angesichts bestimmter Themen, die Vermarktung der Shoah und nicht zuletzt das Problem der Authentizität autobiographischer Berichte, zumal im Zusammenhang mit der Shoah, zum Thema hatten.55 Ausschlaggebend für eine Bewertung von Wilkomirskis autobiographischer Schrift ist die Erkenntnis der darin verwendeten Rhetorik des Faktischen oder der Referenz. Obwohl Wilkomirski in einer Art Vorspann auf den Topos der Sprachlosigkeit und auf seine Eigenschaft als nicht professioneller Schriftsteller rekurriert, um die vermeintliche Bruchhaftigkeit, die Unordnung und den Mangel an Logik in seiner Erzählung zu rechtfertigen und diese Merkmale zugleich zum Beweis der Authentizität der Erinnerungen zu erheben, verrät Bruchstücke in Wirklichkeit eine genau kalkulierte Konstruktion.56 Wilkomirski erzählt nämlich nicht unmittelbar seine Erfahrungen in den Konzentrationslagern, sondern vielmehr, wie ihm die Erinnerungen daran gekommen sind.57 Nach einer unmittelbaren Kindheitserinnerung, die nicht von ungefähr ziemlich unglaubwürdig wirkt, fängt die Erzählung mit der Ankunft des Protagonisten am Berner Bahnhof an, und die ersten sechs Kapitel gehen immer von Erfahrungen im schweizerischen Kinderheim aus, die flashartig58 ganz frühe Kindheitserinnerungen erwecken, die der Leser durch seine Vorkenntnisse unschwer in einem Konzentrationslager verorten kann. Da die plötzlichen Assoziationen durchaus wahr sein können, ohne dass dadurch auf die Wahrheit oder Wirklichkeit des Erinnerten geschlossen werden muss, lässt sich der Leser auf die immer drastischer werdende Shoah-Pornographie ein. Erst wenn er sich daran gewöhnt hat, kann Wilkomirski in den nächsten acht Kapiteln auf den Bezug auf die Erfahrungen im Kinderheim fast völlig verzichten und die Fäden vielmehr bis in die Gegenwart ziehen. Ab dem fünfzehnten Kapitel des Buches kehrt dann 55 Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf zwei Sammelbände, weil die Literatur über den »Fall Wilkomirski« und über Brüchstücke inzwischen zu zahlreich ist: Dikmann / Schoeps (2002), Ganzfried (2002). 56 Vgl. Düwell (2002), insb. 95 – 98; sowie Bannasch (2002), insb. 183 ff. 57 Die Anspielung auf Friedländer, Wenn die Erinnerung kommt, ist beabsichtigt, weil auch in diesem Werk – freilich auf einem ganzen anderen literarischen Niveau – das Wiederauftauchen der verdrängten Erinnerung an die Zeiten der Judenverfolgung während des Nationalsozialismus erzählt wird. 58 Vgl. über diese »Ästhetik des Plötzlichen«: Sorg / Angele (1999), 334 f.

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die Erzählung auf den Moment der Adoption und in den letzten vier Kapiteln auf Wilkomirskis Erfahrungen in der Schule in der Schweiz zurück. Diese auf die Schulzeit sich beziehenden Erzählungen könnten wieder absolut authentisch sein, auch wenn die Ängste oder die traumatischen Erinnerungen des Protagonisten nur eingebildet wären, so dass der Leser zumindest mit einem Gefühl der Wahrscheinlichkeit des Gelesenen entlassen wird. Das kurze Nachwort, in dem der Autor auf ähnliche Fälle und auf deren wissenschaftliche Erklärung verweist, unterstützt zusätzlich dieses Gefühl, indem es dem Erzählten Allgemeinheit und Wissenschaftlichkeit verleiht. Wilkomirskis Erinnerungen treten also mit einem unübersehbaren Gestus der Wahrhaftigkeit auf, mit dem Verlangen, unbedingt für authentisch gehalten zu werden. Gerade darin besteht aber das Problematische dieser Autobiographie,59 die weit davon entfernt ist, sich selbst oder die Faktizität des Erzählten bzw. der erzählenden Instanz durch Ironie, kritische Reflexion, intertextuelle Bezüge, Fiktionalisierung oder weitere stilistische Mittel auch nur andeutungsweise zu problematisieren.60 Die wesentliche Zweideutigkeit jeder literarischen Mitteilung vorausgesetzt, lässt sich trotzdem behaupten, dass der Roman Die Leinwand angesichts des literarischen Skandals um die Aufdeckung von Wilkomirskis ›falscher‹ Biographie ziemlich eindeutig für Wilkomirski Partei ergreift.61 Amnon Zichroni, der weder selbst noch durch seine Familie mit der Shoah je in Berührung gekommen war (Z. 174), schenkt Minsky-Wilkomirski absoluten Glauben. Aus diesem Grund rekurriert er nie bzw. nur einmal und ganz flüchtig auf seine Einfühlungsgabe, weil er an der Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit des Erinnerten und vor allem des empfundenen Leidens nie zweifelt. Bei seiner flüchtigen Berührung von Minsky-Wilkomirski sieht er freilich die Gummistiefel einer Frau, wo dieser hingegen von den Lederstiefeln der Blockowa redet (Z. 174 f.). Doch Zichroni geht bezeichnenderweise auf diese winzige Nichtübereinstimmung, die Minsky-Wilkomirski Lüge zu strafen und die Interpretation Mächlers zu stützen 59 Vgl. Friedrich (2009), insb. 215 f. 60 Gerade diesen absoluten Wahrheitsanspruch lassen Sorg und Angele in ihrer detaillierten Analyse von Wilkomirskis Bruchstücke außer Acht. Es wäre sonst unverständlich, wie sie dieses Werk zur »postfaktischen Shoah Dokumentarliteratur« zählen und etwa an die Seite von Ruth Klügers weiter leben stellen könnten. Alle Merkmale, die sie als typisch für diese Textkategorie aufstellen, dienen bei Wilkomirski, wenn überhaupt vorhanden, nicht etwa einer kritisch-reflexiven Problematisierung des Erinnerten und Erzählten, sondern verfolgen genau umgekehrt den einzigen Zweck, den Leser von der unzweifelhaften Wahrheit zu überzeugen. Vgl. Sorg / Angele (1999), 331 f. Vgl. zu Wilkomirski Bruchstücke im Rahmen der Autobiographiediskussion: Lezzi (2001), 133 – 151; Düwell (2004), 13 – 15; Holdenried (2007), 75 f.; Bannasch (2002). 61 Vgl. Steins Einstellung zu Wilkomirski: Stein, »Bruchstücke einer Kindheit«, http://turmsegler.net/20061221/bruchstucke-einer-kindheit/.

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scheint, wenn er einige von Wilkomirskis Erinnerungen auf seinen Aufenthalt als kleines Kind auf dem Bauernhof der Familie Aeberhard in der Schweiz zurückführt,62 nicht ein, weil sein Interesse nicht der Feststellung der Wahrheit, sondern nur der Befreiung seines Freundes von der ihn drückenden Vergangenheit gilt. Darüber hinaus stimmt Zichronis Wissenschaftsskeptizismus mit der Antwort überein, die Minsky-Wilkomirski auf die Ergebnisse der DNAUntersuchungen gegeben hat (W. 155), die über jeden Zweifel hinaus bewiesen haben, dass er in der Schweiz geboren und daher mit dem orthodoxen Juden in Israel nicht verwandt war, der ihn als seinen Sohn erkennen wollte.63 Eine einzige mögliche Kritik an Wilkomirski ist vielleicht in Zichronis Schuldgefühlen angedeutet, der sich vorwirft, den Freund nicht vor der Veröffentlichung der Memoiren gewarnt zu haben. Denn solange eine solche Erinnerung eine private Angelegenheit zu therapeutischen Zwecken bleibt, ist sie absolut zulässig; sie wird jedoch in dem Moment fraglich, wenn sie in die Öffentlichkeit tritt und daher notwendigerweise mit anderen Erinnerungen konfrontiert wird. Die Parteinahme für Minsky-Wilkomirski äußert sich dann deutlich auch auf der anderen Seite des Buches durch die ›Schuldigsprechung‹ Wechslers. Die ihm unterstellten niederen Motive und die ihm angedichtete anrüchige Vergangenheit unterminieren nämlich seine Glaubwürdigkeit, während sein Identitätsverlust sogar als eine Art Bestrafung gelesen werden kann. Dieses Eintreten zugunsten Wilkomirskis mag wenigstens auf den ersten Blick erstaunen, da der ganze Roman Möglichkeiten und Grenzen autobiographischen Erzählens regelrecht inszeniert, um dadurch das notwendig fiktionale Moment jeder Autobiographie aufzuzeigen. Auf der einen Seite kann nämlich Wechsler als modernes, metaphysisch obdachloses Ich nur aus der unmittelbaren Gegenwart heraus schreiben, wodurch er aber gar keine Gewissheit weder über sich selbst noch über seine Vergangenheit erlangen kann. Diese Unmöglichkeit entspricht andererseits seiner Überzeugung, dass keine endgültige ›Wahrheit‹ existiere, sondern es immer nur so viele ›wahre‹ Bilder derselben gebe, wie es Ansichten gibt, so dass auch die ›Wahrheit‹ einer Biographie letztendlich von der Sicht des Rezipienten abhängt. Wechsler Erzählhaltung wird dann sogar ad absurdum geführt, wenn sie über das eigene Ende bzw. über den möglichen Tod des Erzählers berichten soll. In diesem Erzählstrang führt Stein darüber hinaus mit dem Leser ein verwirrendes Versteckspiel um die eigene Biographie, die im Roman als bloß literarische Erfindung eines erfundenen Autors eingeführt wird, welche von einem erfundenen Erzähler sozusagen »gestohlen« wird. Die andere von Stein in der Figur Zichronis verkörperte Erzählhaltung ver62 Vgl. Mächler (2000), 242 – 249. 63 Vgl. ebd., 230 – 238.

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langt hingegen geradezu einen metaphorischen Tod des Autors, der von einem ›Un-Ort‹, von einem unbeweglichen Jenseits der Erzählung von Zeit und Raum berichten soll. Die Identität von erzähltem und erzählendem Ich sowie die Kontinuität und Kohärenz seiner Entwicklung sind hier zwar metaphysisch durch den Glauben an einen die individuelle und allgemeine Geschichte lenkenden Gott verbürgt, der selbst mit einem Künstler verglichen wird. Eine solche Idee kann aber auch so interpretiert werden, dass nur der Künstler als alter deus, d. h. letztendlich der Autor durch die Erzählung die Möglichkeit einer kontinuierlichen Identität des Subjekts garantieren kann. Dadurch kehrt man aber wieder zum Ausgangspunkt zurück, d. h. zum notwendig fiktionalen, konstruierten Charakter jedes Narrativen und somit auch jeder (Auto-)Biographie. Gerade das vergessen aber wenigstens momentan, wider besseres Wissen und aus unterschiedlichen Gründen, beide Protagonisten von Steins Roman, indem sie eine Biographie – jene Wilkomirskis oder jene Wechslers – an der angeblichen historischen Wahrheit messen und dadurch, trotz ihrer Verschiedenheit, den gleichen Fehler begehen und sich gleichermaßen schuldig machen. Angesichts dieser Auffassung des notwendig fiktionalen Charakters jeder Autobiographie lässt sich dann freilich fragen, wie Steins Verteidigung von Wilkomirskis auf Authentizität pochender autobiographischer Darstellung zu erklären sei. Eine mögliche Antwort darauf könnte darin bestehen, dass im Roman an keiner Stelle weder die Frage nach den literarischen Eigenschaften des autobiographischen Werkes noch jene nach einem besonderen Status der Autobiographien von Shoah-Opfern aufgeworfen wird. Stein ist von der – unabhängig von ihren formalen und inhaltlichen Eigenschaften sowie vom Selbstverständnis des Autors – fiktionalen Natur jeder Autobiographie so überzeugt, dass er danach gar nicht zu fragen braucht. Im Unterschied zur Autobiographietheorie des letzten Jahrzehntes geht er somit auch nicht auf das Problem ein, ob den (Auto-)Biographien im Kontext der Shoah die gleiche Freiheit zur Fiktionalisierung zuerkannt werden darf oder ob dort nicht engere Grenzen gezogen werden müssten, um möglichen revisionistischen Gefahren zuvorzukommen.64 Indem Stein durch Wechsler das Urteil über die Wahrheit der Biographie auf den Rezipienten überträgt, übernimmt er mehr oder weniger bewusst wieder eine Argumentation von Wilkomirski selbst, der in einem Interview dem Leser freigestellt hat, »mein Buch als Literatur oder als Dokument wahrzunehmen«.65 Man kann dann aber Stein die gleiche Frage stellen, die in Bezug auf Wilkomirski bereits gestellt worden ist, ob nämlich die von manchen 64 Vgl. hierzu etwa die Überlegungen von Eva Lezzi und die von ihr zitierte Bibliographie: Lezzi (2001), 133 – 141, hier insb. 141 f. Vgl. auch Bannasch (2002), 195 ff.; Friedrich (2009), 216. 65 Vgl. das Interview mit Peter Teuwsen (1998), zit. in: Mächler (2000), 146.

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Kritikern den Lesern von Bruchstücken zugesprochenen Freiheit, »die Authentizität der Berichte über den Holocaust zu glauben oder nicht zu glauben«, nicht etwa der »zynisch-entspannte[n] Position der modernen Revisionisten [entspricht], die die Lektion der postmodernen Erkenntnistheorie gelernt haben.«66

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