Literaturtheorie und Pragmatismus oder die Frage nach den Gründen des philologischen Wissens 9783484220676, 9783110923551

What epistemological claim do literary and cultural studies raise? In the first part of his study, Christian Kohlross pr

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German Pages 292 Year 2007

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Literaturtheorie und Pragmatismus oder die Frage nach den Gründen des philologischen Wissens
 9783484220676, 9783110923551

Table of contents :
Einleitung
Erster Teil: Geschichte der Literaturtheorie
Das Paradigma des Bewusstseins
Phnomenologische Literaturtheorie (Roman Ingarden)
Wirkungssthetik (Wolfgang Iser)
Rezeptionssthetik (Hans Robert Jau)
Empirische Literaturwissenschaft (S. J. Schmidt/Norbert Groeben)
Das Paradigma der Sprache
Psychoanalytische Literaturtheorie (Sigmund Freud)
Hermeneutik (Schleiermacher/Dilthey/Heidegger)
Strukturalismus (de Saussure/Jakobson)
Poststrukturalistische Dekonstruktion (Derrida/de Man)
Zweiter Teil: Pragmatistische Literaturtheorie
berleitung
Wahrheit, Sprache, Rechtfertigung - Ein Pragmatismus zu literaturwissenschaftlichen Zwecken
I. Wahrheit
IL Sprache
III. Grund
Ein pragmatistischer Begriff der Kunst
Wie Bedeutung geschieht
Radikale Interpretation
Die Aufgabe des bersetzers: Theorie nach dem Ende der Theorie
Literatur

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Wolfgang Braungart, Peter Eisenberg und Helmuth Kiesel

Christian Kohlroß

Literaturtheorie und Pragmatismus oder Die Frage nach den Gründen des philologischen Wissens

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-22067-6

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik Kempten

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

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Erster Teil: Geschichte der Literaturtheorie

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Das Paradigma des Bewusstseins

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Phänomenologische Literaturtheorie (Roman Ingarden) Wirkungsästhetik (Wolfgang Iser) Rezeptionsästhetik (Hans Robert Jauß) Empirische Literaturwissenschaft (S. J. Schmidt/Norbert Groeben) . . Das Paradigma der Sprache Psychoanalytische Literaturtheorie (Sigmund Freud) Hermeneutik (Schleiermacher/Dilthey/Heidegger) Strukturalismus (de Saussure/Jakobson) Poststrukturalistische Dekonstruktion (Derrida/de Man)

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Zweiter Teil: Pragmatistische Literaturtheorie

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Überleitung

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Wahrheit, Sprache, Rechtfertigung - Ein Pragmatismus zu literaturwissenschaftlichen Zwecken I. Wahrheit II. Sprache III. Grund Ein pragmatistischer Begriff der Kunst Wie Bedeutung geschieht Radikale Interpretation Die Aufgabe des Übersetzers: Theorie nach dem Ende der Theorie . . Literatur

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„Es begegnet uns allerdings die Kollision der Menge von Systemen und der einen Wahrheit, aber sie ist keineswegs unauflöslich." G. W. F. Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. VI, Hamburg 1994, S. 351.

Einleitung

Wie können wir etwas über Literatur wissen? Das ist die Frage der Literaturwissenschaft. Sie lautet nicht: Was können wir über Literatur wissen?1 - Oder gar: Warum sollen wir darüber überhaupt etwas wissen wollen, wozu nützt ein solches Wissen? Keine Frage, auch dies sind Fragen, deren Beantwortung man sich von der Literaturwissenschaft erwarten darf. Aber es sind keine Fragen, die Literaturwissenschaft als Wissenschaft konstituieren. - Selbst wenn Literaturwissenschaftler eines Tages zu dem Ergebnis gelangen sollten, dass man über Literatur nichts wissen oder gar dieses Wissen zu nichts Sinnvollem verwenden kann, so könnten sie sich dennoch weiterhin Literaturwissenschaftler nennen. Erst die Beantwortung der Frage, wie man etwas über die Literatur oder das Literarische wissen kann, macht aus der Literaturwissenschaft eine Wissenschaft. Wo diese Frage für unbeantwortbar gehalten wird, weil man etwa wissenschaftliches Wissen allein den Naturwissenschaften vorbehalten möchte, spricht man auch nicht von ,Literaturwissenschaft', sondern wie im englischen oder französischen Sprachraum von ,humanities' oder ,critique'. Wer sich demnach als Literaturwissenschaftler versteht, muss immer schon die zuerst genannte Frage für beantwortbar halten. Doch haben nur Antworten einer bestimmten Art überhaupt Aussicht darauf, als wissenschaftliche Antworten anerkannt zu werden. Es ist nun alles andere als gleichgültig, es ist entscheidend, was das für ein Verfahren ist, mit dem da ein Wissen über Literatur erlangt wird, entscheidend für die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Wissen (über Literatur). Auch das Memorieren von Texten oder die Einnahme bestimmter Drogen mag zu einem Wissen über Literatur führen, aber dies wäre kein wissenschaftliches Wissen.

,Literatur' steht hier wie im Folgenden für ,poetische Literatur', also für alle Äußerungen, in denen Sprache als Kunst gebraucht wird, sowie für alle mit diesem spezifischen Sprachgebrauch verbundenen, gemeinhin als ,das Literarische' bezeichneten Eigenschaften oder Gegenstände.

2 Dieses, dass nicht jedes Wissen auch als ein wissenschaftliches Wissen gilt, sondern nur dasjenige, das über ein als wissenschaftlich ausgewiesenes Verfahren zustande kommt, führt zu einem tradierten und daher besonders änderungsresistenten Anspruch gegenüber der Wissenschaft. Er besagt, dass in der Wissenschaft selbst Einigkeit über jene Verfahren zu erzielen sei, die als wissenschaftliche gelten. Dieser Anspruch besteht auch weiterhin, obwohl ihm keine Wissenschaft je Genüge getan und es eine solche Einigkeit in den Wissenschaften nie gegeben hat; der sog. Methodenpluralismus, wie er auch die Literaturwissenschaft kennzeichnet, ist die Regel, nicht die Ausnahme. Da sich aber, weil es stets viele Methoden, Theorien und Paradigmen gibt, weder innerhalb einer Wissenschaft noch gar zwischen den verschiedenen Wissenschaften (etwa den Natur- und Kulturwissenschaften) Einigkeit über die Verfahren zur Erlangung eines Wissens erzielen lässt, bleibt die Frage: Was, wenn schon nicht bestimmte theoriegeleitete Methoden macht eigentlich eine Wissenschaft zur Wissenschaft? Offenbar nicht die Dinge, offenbar nicht die Objekte, die sie erforscht! Moleküle werden bekanntlich sowohl von Chemikern als auch von Biologen und Physikern erforscht. Literarische Texte werden nicht nur von Literaturwissenschaftlem, sondern ebenso von Religionswissenschaftlern, Historikern oder Psychologen interpretiert. Nein, die Forschungsobjekte unterscheiden eine Wissenschaft nicht von einer anderen Wissenschaft und bestimmen sie auch selbst nicht zur Wissenschaft - nicht sie allein! Wenn aber weder der Hinweis auf bestimmte Objekte noch derjenige auf die Einheit einer Menge, die aus Verfahren zur Generierung des Wissens über diese Objekte besteht, genügt, um ein Erkennen ,wissenschaftlich' nennen zu können, stellt sich die Frage danach, was denn sonst die Wissenschaft zur Wissenschaft macht. Wiederum kann die Antwort nicht mit dem Hinweis auf bestimmte Gegenstände oder Inhalte gegeben werden. Wiederum liegt sie in der Art des Fragens nach diesen Inhalten oder Gegenständen. Wissenschaft fragt nämlich nicht einfach: Wie kann man über bestimmte Gegenstände etwas wissen? - Sondern: Wie kann man darüber etwas wissen - und dieses Wissen begründen? Wissenschaft ist deshalb niemals nur Produktion, sie ist immer auch Selbstreflexion des Wissens. Wenn nun erst das Begründen die Wissenschaft zu dem macht, was sie ist, dann bleibt Hegels berühmte Frage „Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?"2 jeder Wissenschaft mitgegeben (und nicht nur der Mssenschaft der Logik). Erst die kollektive, an intersubjektiver Verbindlichkeit

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Hegel (1986c), S. 65; Hervorheb. v. mir, C. K.

3 orientierte Reflexion auf diese Frage, erst die systematische Reflexion auf die Frage nach dem eigenen Grund macht ein epistemisches Unternehmen - und deren gibt es bekanntlich viele - zur Wissenschaft. Daher können auch nicht die Inhalte des Wissens für dessen Wissenschaftlichkeit einstehen, sondern doch wiederum nur die Begründungs- oder Rechtfertigungsverfahren, mit denen dieses Wissen gewonnen wird. Die Frage nach dem Grund oder den Begründungen ihres Wissens ist daher nicht irgendeine Frage für eine Wissenschaft, es ist die für sie als Wissenschaft konstitutive Frage. Im Falle der Literaturwissenschaften lautet sie: Hat das Wissen über Literatur seinen Grund in der Literatur oder in der Wissenschaft? Nehmen die Begründungsketten bei einem Wissen von der Literatur oder bei einem Wissen von der Wissenschaft ihren Ausgang? Zu dieser Frage ist dreierlei zu bemerken: Zum Ersten dies, dass nicht nur der Begriff der Wissenschaft, sondern ebenso derjenige der Literatur als ein möglicher Anfang - und eben nicht lediglich als Forschungsobjekt - einer Wissenschaft von der Literatur in Frage kommt. Doch wie kann das sein? Wie kann eine Wissenschaft von der Literatur bereits bei einem Wissen von der Literatur - oder von der Wissenschaft beginnen? Nun, die Antwort lautet: Da es keine Creatio ex nihilo, keinen Übergang vom vollkommenen Nicht-Wissen zum Wissen gibt, müssen wir über die Gegenstände unseres Wissens immer schon etwas wissen, um sodann mehr und Genaueres von ihnen wissen zu können. Man muss bereits ein vorgängiges Wissen von Literatur und Wissenschaft haben, um Literaturwissenschaft betreiben und die in literaturwissenschaftlichen Äußerungen vertretenen Wissensansprüche rechtfertigen zu können. Dies scheint - zum Zweiten - zu bedeuten, dass Literaturwissenschaft auch allein bei unserem vorgängigen Wissen von Literatur beginnen könnte; sie hätte dann die Aufgabe, dieses Vorwissen von der Literatur zu explizieren. Tatsächlich ist dies eine Möglichkeit, die eingangs gestellte Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit unseres Wissens über Literatur zu beantworten. Doch hierbei handelte es sich nicht um eine wissenschaftliche Antwort, denn sie müsste Literatur als ein in der Erfahrung Gegebenes voraussetzen. Die Gegebenheit selbst, dasjenige, was diese Gegebenheit ausmacht, was überhaupt bewirkt, dass Literatur erfahren werden kann, entzöge sich jedoch der Reflexion. Dies jedoch wäre ein für eine Wissenschaft, die sich gerade durch die Reflexion auf den Anfang ihres Wissens als Wissenschaft auszeichnet, inakzeptabler Anfang; die Begründungsketten würden dann nämlich in einen nicht-diskursiven Bereich zurücklaufen, der nur aus der Perspektive der ersten Person zugänglich ist. Anders gesagt: Wissenschaft als eine, das eigene Wissen rechtfertigende Tätigkeit begründet, indem sie Propositionen verwendet. Wer Literaturwissenschaft in einem vorgängigen Erfahrungswissen von der Literatur begründen möchte, sieht sich jedoch mit einem nicht-pro-

4 positionalen Wissen konfrontiert und bedürfte daher bereits eines Verfahrens oder einer Theorie zur Übersetzung dieses nicht-propositionalen Wissens in wissenschaftliches, in propositionales Wissen. Ein solches Verfahren, eine solche Theorie jedoch gibt es nicht! 3 So bleibt - drittens - ganz offenbar nur die Möglichkeit, das wissenschaftliche Wissen über Literatur in der Wissenschaft selbst zu begründen. Und eben davon handelt dieses Buch. Doch wovon handelt es dann? Ja, gibt es dann überhaupt noch etwas, wovon es handeln kann? Denn eine Wissenschaft, die ihren Anfang bei sich selbst nimmt, setzt doch offenbar bereits etwas voraus, das es noch gar nicht gibt und das sie daher allererst zu begründen hat, nämlich sich selbst (sie wäre wie weiland Münchhausen dazu verdammt, sich am eigenen Schöpf aus dem Sumpf zu ziehen). Nun kann, wie gesagt, die Literaturwissenschaft nicht bei der absoluten Voraussetzungslosigkeit und vollkommenen Unbestimmtheit beginnen. Sie muss ihren Anfang bei etwas Gegebenem nehmen. Doch dieses kann für sie - als Wissenschaft - nicht die reflexionslose Erfahrung der Literatur sein; es kann aber auch nicht der leere, nur über die Forderung intersubjektiver und systematischer Selbstreflexion des Wissens bestimmte Begriff der Wissenschaft sein. Doch gibt es eine Textgattung, die, ohne schon selbst als Wissenschaft gelten zu können, die Frage danach, wie wir etwas über Literatur wissen können, zu beantworten sucht, nämlich die Literaturtheorie. Sie ist der Gegenstand der folgenden Ausführungen. Denn in ihr dokumentiert sich unser Vorwissen über eine wissenschaftliche Begründung der Literaturwissenschaft. Sie ist nicht, ihre heterogene Erscheinungsweise macht dies sofort klar, diese Begründung. Aber sie ist ein im Zusammenhang mit der Institution (nicht dem Begriff) der Literaturwissenschaft entstandenes Unternehmen, das auf die Bedingungen eines begründeten Wissens über Literatur reflektiert. Aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Institution der Literaturwissenschaft stellt sie sich als eine relativ junge, gerade mal hundert Jahre alte Untemeh-

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Tatsächlich zeichnet sich hier die Möglichkeit eines anderen Anfangs von Literaturwissenschaft ab. Er setzt voraus, dass das propositionale Wissen, das wir über Literatur erlangen, in einem nicht-propositionalen Wissen der Literatur gründet. Die Literatur gäbe in dem (wissenschaftlichen Begründungsszenarien bislang unzugänglichen) Erfahren von Literatur etwas zu wissen, sie gäbe ein spezifisches literarisches Wissen von sich preis. Wenn dem so wäre, wenn die Literatur selbst - metaphorisch gesprochen - ein Ort des Wissens wäre, dann allerdings könnte die Literaturwissenschaft auch von diesem Ort ihren Ausgang nehmen. Ob sich an Literatur eine ihr eigene nicht-propositionale Form des Wissens auffinden und ob sich diese dann in wissenschaftliches Wissen übersetzen lässt - diese Fragen können im Rahmen dieser Arbeit nicht, sollen aber in einem sich anschließenden Literarische Epistemologie betitelten Forschungsvorhaben beantwortet werden.

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mung dar, als eine Erfindung des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Poetiken, die erklären, was Literatur ausmacht, wie Literatur produziert oder rezipiert wird (oder, man denke an die Regelpoetiken: werden soll), solche Poetiken gibt es, wie auch Poetologien, die auf die dabei relevanten Prinzipien reflektieren, schon sehr viel länger. Aber Literaturtheorie als Gattung, in der systematisch auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Literatur reflektiert wird, darf als eine Schöpfung der Moderne betrachtet werden. Das gilt vor allem dann, wenn sie wie im deutschen Sprachraum gerade die wissenschaftliche Erkenntnis der Literatur begründen soll, eine Forderung, die etwa im englischen und französischen Sprachraum, wo die auf die Frühromantik zurückgehende Vorstellung einer philologischen Wissenschaft kaum von Belang ist, nicht an sie ergeht. 4 Im 19. Jahrhundert obliegt es der mit Schleiermacher wieder erstarkten literarischen Hermeneutik, diese Aufgabe zu erfüllen. Sie steht dafür ein, dass das Sammeln von Fragmenten, das Edieren von Texten und das Schreiben von Kommentaren als ein Beitrag zur Erkenntnis der Literatur verstanden werden kann. Doch mit dem Erstarken des Positivismus auch in der germanistischen Literaturwissenschaft erwuchs der literarischen Hermeneutik Konkurrenz - und mit dieser Konkurrenz die Aufgabe einer überhistorischen und systematischen Begründung des Wissens über Literatur. Gerade das szientifische Selbstverständnis der Germanistik also hatte zur Folge, dass Texte geschrieben wurden, aber auch nach Texten aus anderen Wissensbereichen Ausschau gehalten wurde, die Vokabulare und Schemata enthielten, mit denen literarische Texte nicht nur beobachtet, sondern diese Beobachtungen auch wissenschaftlich begründet werden konnten. Dabei stand das Prädikat der Wissenschaftlichkeit vor allem für eines, nämlich für die Höhe des Anspruchs nach hinreichender Begründung. Die Germanistik erhöhte deshalb den Begründungsanspruch, dem sich Literaturtheorien ausgesetzt sahen und sehen, ganz erheblich. Aber auch wer in Yale oder Stanford theory betreibt, muss die Geltung seiner Thesen und die Effizienz seiner Beobach-

Das anglo-amerikanische Verständnis von .theory' ist daher auch ein sehr viel weiteres. Es „[...] umfasst Werke aus der Anthropologie, Filmwissenschaft, Geschlechterdifferenz, Kunstgeschichte, Philosophie, Politikwissenschaft, Psychoanalyse, Sozial- und Geistesgeschichte, Soziologie, Sprachwissenschaft und aus der Wissenschaftstheorie", so Culler (2002), S. 12f. Das trifft zwar auch für die Extension des Begriffs der Literaturtheorie im deutschen Sprachraum zu, aber hier muss Theorie eben auf die Erkenntnisbedingungen der Literatur reflektieren, das heißt, sie wird an ihrem Beitrag zu der Begründung eines solchen Wissens über Literatur gemessen. Für das anglo-amerikanische Verständnis von .theory' hingegen gilt etwas anderes: „Werke, die [hier] zu .Theorie' werden, liefern fachfremden Forschern nützliche Erklärungsmuster für Fragen etwa nach dem Wesen von Bedeutung, nach dem Gegensatz von Natur und Kultur, der Wirkweise der Psyche, dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre wie nach dem Zusammenhang von Geschichtlichkeit und individueller Erfahrung" (ders. ebd., S. 13).

6 tungsinstrumente unter Beweis stellen. Für die anglo-amerikanische theory gilt also nicht prinzipiell, sondern nur graduell etwas anderes als für das, was im deutschen Sprachraum .Literaturtheorie' genannt wird. All diese Theorien müssen in der Lage sein, unser Wissen über Literatur als begründetes Wissen auszuweisen - auch wenn der spekulative Charakter einiger dieser Theorien dies gelegentlich vergessen lässt. Damit aber kommt der Literaturtheorie (im weitesten Sinne) eine entscheidende Funktion zu: Sie liefert Formen, in denen unser Wissen über Literatur begründet werden kann. Das kann man auch anders ausdrücken, nämlich so, dass man sagt, die Literaturtheorie bestimme den allgemeinen Begriff des Wissens zum Begriff des literaturwissenschaftlichen Wissens. Doch was heißt das? Der allgemeine, seit Piatons Theätet maßgebliche Begriff des Wissens verlangt bekanntlich, dass drei Bedingungen erfüllt sein müssen:5 1) Eine Überzeugung bezüglich eines Sachverhalts muss wahr sein. 2) Es muss jemanden geben, der diese Überzeugung hat - den Wissenden. 3) Dieser Wissende muss in der Lage sein, seine den Sachverhalt betreffende Überzeugung zu begründen. Nun bedeutet eine bloß zufällig wahre Überzeugung, die jemand bezüglich eines bestimmten Sachverhalts hat, nicht, dass dieser Jemand über ein Wissen um diesen Sachverhalt verfügt (wer bloß tippt, welche Lösung die richtige ist, von dem sagen wir nicht, er wisse sie). Eine zufällige Koinzidenz von 1) und 2) reicht deshalb nicht, um jemandem ein Wissen zuzuschreiben. Auch deshalb konzentriert sich die zeitgenössische Diskussion um den Begriff des Wissens auf die dritte Bedingung, auf das Rechtfertigungskriterium.6 Die dritte, die Rechtfertigungsbedingung ist deshalb für eine Wissenschaft so entscheidend, weil Wissenschaft weder auf die Wahrheit, also darauf, dass etwas Bestimmtes der Fall ist 1), noch gar auf die subjektiven Überzeugungen bezüglich dieser Wahrheit 2) einen nennenswerten Einfluss auszuüben vermag. Als Wissenschaft kann sie nur auf eine ganz ausgefeilte Erfüllung des Rechtfertigungskriteriums 3) setzen. Es mag Fälle eines nicht explizit zu rechtfertigenden Wissens geben, etwa ein Wissen durch Kontemplation oder intellektuelle Anschauung, aber dabei handelte es sich dann nicht um ein wissenschaftliches Wissen.7 Das Gewicht, das den Rechtfertigungsverfahren innerhalb der Wissenschaft zukommt, erwächst aber nicht allein aus dem Umstand, dass die Wissenschaft ihrem eigenen Selbstverständnis nach nur über diese Verfahren auf die gemeinschaftlichen Überzeugungen zu wirken vermag,

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Vgl. Piaton (1981), 201c-210d u. Habermas (1999), S. 54. Vgl. hierzu Brandom (2001), S. 127-161. Die Phänomenologie, die ja ihr Wissen über genau eine solche Form des geistigen Schauens ausweisen wollte, hatte deshalb kaum je auch nur eine Chance, sich als Wissenschaft zu etablieren.

7 sondern auch aus der Tatsache, dass Wahrheit und Rechtfertigung kaum je zu unterscheiden sind, schon gar nicht in der Wissenschaft. Denn hier gelten nur die Überzeugungen als wahre Überzeugungen, die sich mittels anerkannter Verfahren rechtfertigen lassen. (Aber auch jenseits der Wissenschaft bleibt es ziemlich unklar, was jemand meint, der behauptet, seine Überzeugung, dass vor der Tür jemand stehe, lasse sich nicht nur rechtfertigen, indem man die Tür öffnet und nachschaut, sondern sei darüber hinaus auch noch eine wahre Überzeugung; es ist einfach nicht klar, was die Wahrheit der empirischen Rechtfertigung hier noch hinzufügt. 8 In dem Maße, in dem Wahrheit ihre Relevanz für den Begriff des Wissens verliert und Begründungsverfahren immer wichtiger werden, wird für die Literaturtheorie die Chance immer größer, sich als ein eigenständiges epistemisches Genre zu etablieren, dem nun die Tatsache, dass sein Gegenstand, die Literatur, nicht wahrheitsfähig ist, nicht mehr länger zum Nachteil gereicht. Literaturtheorie muss nun, um ihr literaturwissenschaftliches Wissen gegenüber dem allgemeinen Begriff des Wissens zu bestimmen, vor allem eines machen, nämlich ihre Begründungsverfahren spezifizieren. Das macht sie, indem sie angibt, was das für Gründe sind, aus denen wir etwas über Literatur wissen. - Und es stellt sich heraus: Offenbar sind diese Gründe (eines Wissens über Literatur) von anderer Art als diejenigen Gründe, die etwa in Mathematik, Logik, Chemie oder Philosophie als Gründe anerkannt werden. Was immer man in diesen Disziplinen unternimmt, um eine Überzeugung als gerechtfertigt zu erweisen, muss noch lange nicht dazu geeignet sein, um ein Wissen über literarische Texte zu rechtfertigen. Begründungsverfahren einer Wissenschaft lassen sich nämlich nicht einfach auf andere Wissenschaften oder Disziplinen übertragen; ob so etwas möglich ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Literaturtheorie zeichnet sich daher auch nicht etwa dadurch aus, dass sie eine besonders unspezifische oder heterogene und daher unbestimmte oder ,weiche' Form der Theorie, sondern dadurch, dass sie eine ganz andere oder eigene, von Philosophie und Wissenschaftstheorie (meist) unberücksichtige Art der Theorie ist. Damit erhebt die Literaturtheorie Einspruch gegen die in den Wissenschaften verbreitete Vorstellung, es gebe so etwas wie eine globale, transkulturelle oder interdisziplinäre Ordnung der Gründe, für die - allen voran - Philosophen zuständig sind. 9 Sie steht vielmehr dafür ein, dass auch die Gründe nach dem zu bemessen sind, was sie zu begründen haben.

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Das ist der pragmatistische Einwand gegen das Wahrheitskriterium, wie ihn etwa Rorty (2000), S. 27ff. erhebt. In diesem Sinne und damit gegen die Vorstellung, Erkenntnis sei eine natürliche Art, argumentiert schon Williams (1991).

8 Wenn man Literaturtheorie aber als eine Gattung versteht, die eine spezifische Art von Gründen liefert, nämlich solche Gründe, aus denen wir etwas über Literatur wissen können, dann allerdings stellt sich die spannende Frage, ob, wenn es schon verschiedene Arten von Gründen geben mag, es nicht auch umgekehrt eine spezifisch literarische Art der Gründe gibt, will sagen: ob nicht auch die Literatur Formen bereitstellt, mit denen wir Überzeugungen rechtfertigen und damit Wissen begründen können? 10 Dennoch plagen die zeitgenössische Literaturwissenschaft ausgeprägte Sorgen, die gerade mit den Versuchen, der Literaturtheorie ein tragfähiges Fundament zu verleihen, zusammenhängen. 11 Die Literaturwissenschaft übernahm nämlich zu diesem Zweck Theorien aus anderen Wissenschaften (vornehmlich aus Psychologie, Soziologie oder Philosophie) und applizierte diese dann auf die Literatur. Das Ergebnis dieser Versuche war ein immer wieder und dabei gelegentlich auch heftig diskutierter Methodenpluralismus, wobei unter ,Methode' eine Technik verstanden wurde, die es erlaubte, mit Hilfe fremder (nicht literaturwissenschaftlich entwickelter) Theorieelemente (Begriffe, Thesen, Argumentationsstile) literarische Texte zu interpretieren. Dieser Methodenoder Interpretationenpluralismus hat eine Reihe von Einwänden hervorgerufen, von denen hier nur einige der wichtigsten genannt seien: Früh schon ist darauf hingewiesen worden, dass „[...] bei der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung Theorieelemente jeder Art, die sogenannten philosophischen Gedanken' übernommen werden können, die Aneignung selbst aber theorielos als verbale Usurpation durch einen vortheoretischen[!] Kontext erfolgt". 12 Daher bleibt das Verhältnis von (allgemeinerer) Basistheorie und (im Geltungsbereich spezifischerer) literaturwissenschaftlicher Interpretationsmethode ungeklärt. 13 Eine Wissenschaft also - das ist die Paradoxie, in welche die Literaturwissenschaft damit geriet - die sich über die Aneignung von Theorien aus anderen Wissenschaften selbst als Interpretationswissenschaft konstituieren will, setzt bereits voraus, was sie begründen möchte: ein verbindliches Interpretationsverfahren.

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Eine Antwort auf diese Frage kann hier nicht gegeben werden. Sich an ihr zu versuchen, das bleibt wiederum dem erwähnten, .Literarische Epistemologie' genannten Forschungsvorhaben vorbehalten. An der Klassischen Philologie kann man immer noch die althergebrachten ressentimentbedingten Vorurteile gegen eine theoretische Begründung der Literaturwissenschaft studieren; vgl. Schmitz (2002), S. 16ff. Pasternack (1975), S. 156. Bereits Pasternack bemerkt: „Es ist das erstaunliche Phänomen zu klären, daß die Literaturwissenschaft .philosophische Gedanken' (Leibfried) aus den verschiedensten Theorien integrieren kann, ohne auf Kompatibilitätsprobleme zu stoßen." Ders. (1975), S. 124.

9 Aufgrund eines solchen methodisch unterbestimmten Theorieaneignungsverfahrens kam es sodann zu einem ,,bunte[n] Nebeneinander von methodologischen Subdiskursen", zwischen denen zumeist „keine Vermittlung stattfindet".14 Dieses „bunte Nebeneinander" wurde gelegentlich sogar noch radikalisiert,15 meist beklagt,16 zuletzt aber doch immer billigend in Kauf genommen, und zwar vor allem dann, wenn man den literaturwissenschaftlichen Pluralismus in politischen Begriffen paraphrasieren konnte, also von der wissenschaftstheoretischen auf die politische Ebene verschob.17 Mit einem Mal schien dann der Pluralismus ein Ausdruck von Liberalismus und demokratischer Gesinnung zu sein, während jede Argumentation, die einem Monismus das Wort redete, den Anschein von Totalitarismus und Fundamentalismus erhielt.18 Damit blieb das gewichtigste sich für die Literaturwissenschaft aus dieser pluralistischen Begründungssituation ergebende Problem natürlich bestehen: Wenn die literaturwissenschaftlichen Interpretationen je nach zugrunde liegender Interpretationsmethode zu anderen Erkenntnissen führen - was garantiert dann, dass all diese Erkenntnisse Erkenntnisse desselben Gegenstandes sind?19 Und wenn diese Interpretationen nicht ineinander übersetzbar sind,20

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Vgl. Fricke (1991), S. 172f u. zur aktuellen Bewertung dieser Situation: Geisenhanslücke (2003), S. 142ff., sowie zu den Konsequenzen: Culler (2002), S. 64ff. So bei Steinfeld (1997), der die Germanistik „nach dem Ende der Philosophie als allgemeiner Wissenschaft" ganz und gar auf Skepsis und Zweifel verpflichten möchte (vgl. ders., ebd., S. 209f.) - so aber auch bei Weimar (1996), der aus der unbegrenzbaren Polysemie poetischer Texte auf eine Unendlichkeit der Interpretationsmethoden schließt (vgl. ders. ebd, S. 119f.), oder Drews (1992), der einen möglichst schrankenlosen wissenschaftlichen Pluralismus fordert und diesen durch das wilde Denken der Literatur legitimiert sieht (vgl. ebd.). Doch da diese Radikalisierung, weil sie nicht wirklich an die Wurzeln des Problems heranreicht, ihren Namen nicht wirklich verdient, gilt nach wie vor das Urteil Reiner Wilds, „[...] daß in der umfangreichen Diskussion noch immer die Grundlagen selbst zu wenig infrage gestellt wurden" (ders., 1982, S. 1). Wie etwa bei Drews (1985) oder Barner (1997). Dieser schreibt: Zwischen den einzelnen Richtungen und Schulen läßt sich immer häufiger hochmütiges Verweigern von Kommunikation beobachten." Ders. ebd., S. 403, Hervorheb. ebd. Vgl. etwa Vogt (1999). Beispiele zu dieser Politisierung der (methodo)logischen Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit finden sich bei Harth (1996), S. 367f. Auch in den Diskussionsrunden zum Pluralismus im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft (1991ff.) ist diese Vermischung von logisch-methodologischen und politischen Fragen zu beobachten, was dann dazu führt, dass nicht zwischen Monismus und politischem Fundamentalismus unterschieden wird (vgl. z.B. ebd., 1991, S. 298). Vgl. hierzu Hempfer (2002), der wie auch schon Eco (1987) hier die Grenzen der Interpretierbarkeit sieht. Zur Diskussion um die Grenzen und Chancen der Interpretation vgl. de Berg/Prangel (1999). So etwa Kittler (1991), S. 311. Die kritische Auseinandersetzung mit Kittlers These, der zufolge die zentralen Begriffe einer Theorie nicht in eine andere Theorie übersetzbar sind, bei Danneberg/Vollhardt (1992b) krankt m.E. an der Unterbestimmtheit des

10 was spricht dann noch dafür, dass sie sich überhaupt auf so etwas wie einen wirklichen Gegenstand beziehen und nicht vielmehr jeweils ihre eigene Wirklichkeit erzeugen, also überhaupt keine Erkenntnisse vermitteln? Es ist in der Literaturwissenschaft üblich geworden, der hier virulent werdenden Gefahr des Relativismus ganz und gar nicht relativistisch, sondern apodiktisch zu begegnen, indem man nämlich behauptet: „[...] die Zeit für Synthesebildungen und Hegemonieansprüche [sei] in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften abgelaufen".21 Aber eine solche Auffassung kann nicht über die Notwendigkeit hinwegtäuschen, dass, wenn es viele Perspektiven auf den einen Gegenstand (z.B. viele Interpretationen eines Textes) geben soll, eben auch das Eine zu explizieren ist, auf das die vielen Perspektiven sich richten.22 Die Philologie hat aus dieser unbefriedigenden Lage drei Konsequenzen gezogen: Zuerst die der Rephilologisierung, also der Rückbesinnung auf die ursprünglichen philologischen Tätigkeiten des Sammeins, Edierens und Kommentierens von Texten.23 Oder es wurde, zweitens, das Ende der Literaturtheorie prognostiziert, weil von ihr nicht länger eine Begründung der Literaturwissenschaft zu erwarten sei.24 Und drittens hat in der letzten Dekade - und man darf mit Thomas Steinfeld vermuten: aus kompensatorischen Gründen25 - die Literaturwissenschaft begonnen, sich selbst zu beobachten. Das heißt, sie hat sich mehr und mehr der eigenen Fachgeschichte zugewandt und Darstellungsformen der Literaturwissenschaft untersucht.26 Diese unter der Ägide der Wissenschaftsforschung sich vollziehende Beobachtung des Beobachters (der poetischen Beobachtung) holt nach, was, keine Frage, zu

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Übersetzungsbegriffs bei Danneberg/Vollhardt und Kittler. Ich will am Schluss dieser Arbeit versuchen, hier ein Stück weiter zu denken. So bereits Bogdal (1990), S. 10, der an dieser Stelle jedoch allerdings genau das macht, was er kritisiert, denn auch er vertritt Hegemonieanspiiche - hier die des Pluralismus. Dies war schon das im Begriff der „Singularität" beanspruchte Anliegen Peter Szondis, vgl. ders. (1970), S, 21ff. Wer, anders als Szondi, die Pluralismusthese vertritt, kommt nicht umhin, dieses Eine zu denken. Denn die Auffassung, es sei richtig, viele Methoden zu praktizieren, setzt ein Wissen um die Totalität voraus, die den Pluralismus als ein adäquates Verfahren legitimieren könnte. In der philosophischen Diskussion wird bereits seit einiger Zeit beharrlich auf diese Schwachstelle eines postmodemen, gerade auch poststrukturalistischen Wissenschaftsverständisses hingewiesen; vgl. hierzu Donald Davidsons legendären Aufsatz Was ist eigentlich ein Begriffsschema? (ders., 1990a) und Thomas Nagels Das letzte Wort (ders., 1999). Aber auf die Selbstwidersprüchlichkeit des Pluralismus zu verweisen bedeutet nicht, den Pluralismus durch einen Monismus ersetzen zu wollen; es heißt vielmehr, dass der Monismus dem Pluralismus gleichberechtigt zur Seite zu stellen ist. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Gumbrecht (2003). zu dieser Reaktion Grossegesse/Koller (2001), S. 7ff. sowie Hitz/Stock (1995), S. Ulf. Steinfeld (1997), S. 204. die einschlägigen Artikel von Weimar (1998) u. Schönert (1998).

11 lange versäumt wurde, nämlich eine kritische Analyse von Beobachtungsund Argumentationsstrukturen in der Literaturwissenschaft. 27 Aber die Beobachtung des Beobachters bleibt eben doch unbeobachtet. Auch die sog. Wissenschaftsforschung ist alles andere als eine in Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftswissenschaft zureichend begründete Wissenschaft, 28 die nun ihrerseits die Literaturwissenschaft legitimieren könnte. Da nun, und das ist die Erfahrung von mehr als dreißig Jahren Methodendiskussion, keine verbindliche theoretische Begründung der Literaturwissenschaft gelungen ist, hat man sich in jüngster Zeit wieder mehr der Frage nach ihrem Gegenstand zugewandt, in der Hoffnung, auf diesem Wege wenigstens eine funktionalistische Begründung der Philologie zu erreichen. 29 Auch hier ist die Ausgangssituation eine pluralistische: Längst lässt sich die Literaturwissenschaft nicht mehr auf den Text verpflichten (sie ist keine Textwissenschaft mehr), längst ist die Verbindlichkeit des Kanons geschwunden, 30 längst ist, wie Barner, Huntemann und Horstmann beklagen, 31 das Zentrum der Literatur, ihre Literarizität, aus dem Blick geraten. „So erscheint", mit Niels Werber zu sprechen, „die Literaturwissenschaft heute als eine Wissenschaft, die ihren Objektbereich nicht zu definieren versteht." 32 Tatsächlich wollen viele emstzunehmende Stimmen das Problem der Unterbestimmtheit des Gegenstandes durch eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs (vornehmlich in Richtung auf den Begriff der Kultur) in den Griff bekommen. 33 Neben dieser Strategie, deren Ziel es ist, die Literaturwissenschaft an Objekte zu koppeln, die der interdisziplinäre Diskurs bereitstellt, ist jedoch auch eine Rückbesinnung auf den Umstand zu beobachten, dass es Objekte - Gegenstände - nur gibt, insofern es Subjekte gibt. 34 Wenngleich in den letzten Jahren vor allem systemtheoretische Arbeiten zum Problem

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Thönissen (1997) erhofft sich aus einer Analyse von Argumentationsstrukturen sogar einen moralischen Gewinn für die Philologie, vgl. ebd., S. 384f. Auch sie basiert wiederum auf einer bestimmten, wenn auch sehr einflussreichen Wissenschaftstheorie, nämlich auf dem Kritischen Rationalismus - von dem es jedoch fraglich ist, ob sein Wissenschaftsverständnis auf die Literaturwissenschaft übertragen werken kann - und vor allem: soll. Vgl. etwa Zeuch (2001); aber wiederum dokumentiert das Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft den Wandel der Diskussion (vgl. ebd, 1997ff.). Zur Kanondiskussion, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, vgl. die Beiträge zum DFG-Symposion Kanon - Macht - Kultur in: von Heydebrand (1998). Vgl. Barner (1997), Huntemann (2001) u. Horstmann (2003). Werber (1997), S. 177. Vgl. Bredeila (2002), Papiör (2000) u. Neumann/Weigel (2000), aber auch Bassler (1998), Böhme (1998), Bachmann-Medick (1998) sowie zu einer kulturwissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung Turk (2003). Vgl. z.B. Jahraus (1998).

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des literaturwissenschaftlichen Gegenstandes die Subjektivität der Literaturwissenschaft betonen,35 so gelangen doch auch sie zu keiner Lösung des Begründungsproblems. Denn so richtig es ist, darauf zu beharren, dass Literatur als Objekt vom Subjekt der Literaturwissenschaft erzeugt wird, so wenig wird dadurch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Subjekts beantwortet. Als Antwort auf diese Frage wird dann wiederum nur auf eine bestimmte, im wissenschaftlichen Diskurs bereits etablierte Theorie verwiesen, vornehmlich auf die Systemtheorie. Das Resümee lautet also: Wieder einmal scheint es keinen Ausweg aus dem vitiösen Zirkel zu geben, in dem die Grundlagendiskussion der Literaturwissenschaft befangen ist. Sucht man dennoch einen Ausweg aus dieser scheinbar ausweglosen Situation, so hat man zunächst das für das Entstehen dieser Situation durchaus mitverantwortliche Verständnis des Grundes und des Begründens zu bedenken. Denn es stellt sich die Frage, ob nicht ganz wesentlich dieses Verständnis dafür verantwortlich ist, dass der Schein der Ausweglosigkeit entstehen konnte. Tatsächlich bedient sich nämlich die Literaturwissenschaft nur einer bestimmten und, darauf will ich hinaus, keineswegs der einzig möglichen Interpretation von ,Grund' und .Begründung'. Für gewöhnlich versteht man unter einem Grund „[...] etwas, mit dessen Hilfe das Fürwahrhalten von Urteilen begründet werden kann".36 Das legt den Gedanken nahe, es müsse auch einen ganz besonderen, einen singulären Grund geben, mit dessen Hilfe sich das Fürwahrhalten aller (aus diesem Grund dann nur abgeleiteten) Urteile rechtfertigen lasse, einen höchsten, einen ersten oder letzten Grund eben. Doch tatsächlich ist diese Suche nach dem letzten Grund mit einer Paradoxie behaftet. Diese wird augenscheinlich, wenn man sie, die Suche, mit dem Satz vom Grund konfrontiert. Dieser Satz, der eigentlich ein imperativer Satz, eine Forderung ist, besagt, dass nichts ohne Grund sein dürfe. Dann aber stellt sich die Frage, wie denn die Suche nach dem letzten Grund mit diesem Grundsatz, mit dieser Forderung zu vereinbaren sei. Denn entweder gelangt man, wenn man nur immer wieder dem, was der Satz vom Grund fordert, folgt, in einen infiniten Begründungsregress oder man muss die Suche nach dem letzen Grund an irgendeiner Stelle abbrechen - und wird dann nicht behaupten können, es handle sich dabei um den letzten Grund. Angesichts dieser Paradoxie ist der Anspruch auf Letztbegründung, dem nicht genügen zu können alle Wissenschaften, und, da sie ihm so offensichtlich nicht genügen, gerade die Literaturwissenschaften umtreibt, so überhaupt nicht aufrecht zu erhalten. Ihm liegt selbst ein unzureichendes Verständnis des Grundes zugrunde.

35 36

Vgl. Janssen (2002), Jahraus (1998) u. Werber (1997). Rod (1973), S. 643.

13 Das wird vor allem dann deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Literaturtheorien zuletzt an dem Maßstab der methodologischen Reflexionen in der Philosophie (bei Descartes, Locke, Leibniz, Kant usw.) gemessen werden. Diese jedoch waren rein formale, von ihren Gegenständen abstrahierte Unternehmungen. Zwar gewährt diese Abstraktion die Unterscheidbarkeit von methodologischer Begründung einerseits und Begründetem andererseits, aber dieses klassische Verfahren produziert eine Erklärungslücke. Denn es bleibt, gerade weil die Gründe so unabhängig von dem sind, was sie begründen, offen, wie es die Gründe denn ,schaffen', dass gerade dieses oder jenes Bestimmte aus ihnen hervorgeht und daher in ihnen begründet ist. 37 Damit wird deutlich, was falsch an dem Vorverständnis ist, dem nicht zuletzt die Literaturwissenschaften einen beträchtlichen Teil ihres Selbstzweifels verdanken: Gründe sind, was sie sind, nur in Abhängigkeit von dem, was sie je und je begründen. Grund und Begründetes stehen, wie man auch sagen kann, im Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit, sie bilden einen Zusammenhang; und weil dem so ist, sind auch methodologische Überlegungen nicht unabhängig von inhaltlichen Überlegungen, sondern nur zusammen mit ihnen zu vollziehen. Das Verständnis der Literaturtheorie als einer Gattung von Texten, die im Stile philosophischer Traktate, wie sie Descartes, Locke und Leibniz verfasst haben, der Kritiken Kants oder zeitgenössischer wissenschaftstheoretischer Abhandlungen ein Wissen generieren, das allem weiteren Erkennen vorausgeht, war deshalb immer schon ein Missverständnis, und übrigens niemals ganz auf der Höhe der Zeit. Denn die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat in ihren wahrscheinlich bedeutendsten Denkern, Heidegger und Wittgenstein, eine ganz andere, eine dialektisch-hermeneutische Antwort auf die Frage nach dem Grund gegeben, eine Antwort, die der Literaturtheorie und Literaturwissenschaft zu denken geben sollte. Heidegger gelangt nämlich bei der Ausarbeitung seines Programms der Fundamentalhermeneutik zu der Einsicht, dass eine solche fundamentalhermeneutische Begründung nicht, wie dies die Metaphysik bislang immer getan hat, bei einem Gesetzten, bei einem Vorausgesetzten also einsetzen darf, sondern den Anfang des Denkens in der Nachfolge Hegels als einen spekulativen Anfang begreifen muss. 38 .Spekulativ' meint dabei, dass die Frage nach dem Anfang der Wissenschaft (die Heidegger mit der Frage nach dem Anfang der Metaphysik als einer Metawissenschaft gleichsetzt) so beantwortet werden muss, dass „[...] der Anfang [...] weder etwas Unmittelbares noch

37

38

Besonders deutlich ist dies im Falle der Gründe des Werdens, der Ursachen also: Die Wirkungen der Ursachen kann man beobachten, aber das Bewirken der Ursachen nicht. Vgl. hierzu u. zum Folgenden: Heidegger (1990), S. 43ff.

14 etwas Vermitteltes [ist]".39 Was aber ist er dann? Heidegger sagt, und auch Hegel sagt das schon: „Der Anfang ist das Resultat."40 Dies, so Heidegger, sei der eigentlich spekulative Anfang - des Denkens, der Wissenschaft, der Metaphysik, dann nämlich, wenn auch seine Umkehrung gilt: „Das Resultat ist der Anfang." 41 Das heißt nichts anderes, als dass der Ausgang bei einem Begründeten der Rückgang in dessen Grund sein - und zugleich jeder Grund seinen Grund in dem von ihm Begründeten haben muss. Da in dieser zirkulären Struktur jeder Punkt sowohl der Anfang als auch das Ende ist, spielt es nun auch keine Rolle mehr, an welcher Stelle oder mit welchem Vorausgesetzten der Anfang gemacht wird; für Heidegger, der die Metaphysik im Auge hat, heißt das dann: ob mit Gott oder dem leeren Sein der Anfang gemacht wird. Entscheidend ist nur, „[...] daß das Letzte auf seine Weise das Erste begründet und das Erste auf seine Weise das Letzte."42 Nun dürfen Grund und Begründetes in dieser zirkulären Struktur aber nicht zusammenfallen, nicht ununterscheidbar werden. Dieses, dass der Grund dem, was er begründet, vorausgeht, damit dann das Begründete aus ihm folgen kann, muss ja auch weiterhin verständlich sein. Andernfalls könnte Heidegger gar nicht beanspruchen, Begründungsstrukturen zu erklären. Heidegger benötigt daher das, was er ,ontologische Differenz' nennt. Er benötigt dabei vor allem ihre zeitliche, Differenz garantierende Geschichtlichkeit. Das Sein, insofern es in sich in Sein (oder Seyn) und Seiendes unterschieden ist, hält Grund und Begründetes auf Abstand, es steht, um im Bilde zu bleiben, für die Extension des Kreises ein. Wittgenstein argumentiert hier strukturell nicht anders. Auch er bindet die begründenden methodologischen Überlegungen an die von ihnen begründeten Inhalte, und zwar so sehr, dass beides, anders als bei Heidegger, gar nicht mehr scharf voneinander unterschieden werden kann. Wittgenstein betreibt Fundamentalphilosophie als Philosophie des Konkreten, als ein Denken in Beispielen. Auch bei ihm ist die Pointe der Methodologie, dass sich aus ihr Überlegungen bezüglich bestimmter und konkreter Inhalte ableiten lassen, die wiederum die methodologischen Überlegungen begründen. Wenn Wittgenstein in den Philosophischen Bemerkungen schreibt: „Jeder Satz, den ich schreibe, meint immer schon das Ganze, also immer wieder dasselbe und es sind gleichsam nur Ansichten eines Gegenstandes unter verschiedenen Winkeln betrachtet" 43 so vertritt er mit einer solchen Beschreibung seines Denkens eine Logik des Begründens, die der fundamentalhermeneutisch-zirkulären Heideg-

39 40 41 42 43

Ders. ebd, S. 43. Ders. ebd. Ders. ebd., S. 44. Ders. ebd., S. 52. Wittgenstein (1970), S. 22.

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gers verwandt ist. Auch für Wittgenstein ist das Resultat der Anfang und der Anfang das Resultat. Auch er hält der traditionellen, deduktiven Vorstellung von Begründung und Rechtfertigung sein zirkuläres Verständnis entgegen. Anders als Heidegger jedoch, der, um das Vitiöse des hermeneutischen Zirkels, die UnUnterscheidbarkeit von Grund und Begründetem, zu vermeiden, die Differenz zwischen beiden ontologisiert - als Austrag der Differenz zwischen Sein und Seiendem, zeigt Wittgenstein, dass unsere Gewissheit über die Effizienz zirkulärer Begründungsverfahren nicht aus der intellektuellen Anschauung der differenten Struktur eines ominösen Seins erwächst, sondern allein aus der Effizienz unserer Praktiken. Es gibt keine höhere Instanz für die Praxis als die Praxis! Das gilt gerade für die eigentlich wissenschaftliche Praxis, das Begründen von Überzeugungen! Was aber bedeutet das für die Literaturtheorie? Was heißt es für sie als eine unser Wissen über Literatur begründende Praxis? Zunächst bedeutet es, dass Literaturtheorie, die bislang lediglich bei einem im Voraus Gesetzen ihren Ausgang nimmt, Heideggers Verdikt über die Metaphysik anheim fällt. Denn sie kann ihren eigenen Anfang nicht begründen, und zwar nicht deshalb, weil er sich nicht begründen lässt, sondern weil sie kein adäquates Verständnis davon hat, was es heißt, Erkenntnisse, vor allem solche, die die Literatur betreffen, zu begründen. Literaturtheorie und mit ihr der Erkenntnisanspruch der Literaturwissenschaft muss daher anders begründet werden, als dies bislang geschehen ist. Im ersten Teil dieses Buches werden daher zunächst einmal die Verfahren untersucht, mit denen Literaturtheorie ihre Erkenntnisansprüche rechtfertigt. Es folgt also eine Rückbesinnung auf das in der Literaturtheorie dokumentierte Vorwissen bezüglich der Möglichkeit, zu einem Wissen über Literatur zu gelangen. Diese Rückbesinnung auf die Geschichte der Literaturtheorie geschieht aber nicht um ihrer selbst willen. Sie hat ihr Ziel in einer alternativen literaturtheoretischen Begründung literaturwissenschaftlichen Wissens. Der Blick zurück in die Vergangenheit der Literaturtheorie ist daher kein chrono-logischer, sondern ein systematischer, an Problemen und Lösungen, nicht an Vollständigkeit orientierter. Der systematische Charakter dieser Rückbesinnung auf die Geschichte der Literaturtheorie äußert sich darin, dass die Vielheit der in ihren Geltungsansprüchen nebeneinander bestehenden, wiewohl nacheinander entstandenen Literaturtheorien so dargestellt wird, dass am Vielen das Eine hervortritt, sich die Geschichte der Literaturtheorie also als eine Problemgeschichte erzählen lässt. Zu diesem Zweck wird die Aufmerksamkeit bei der Darstellung einer jeden Theorie auf die Frage fokussiert: Wie begründet die jeweilige Theorie das Wissen, das sich mit ihrer Hilfe über Literatur gewinnen lässt - oder gewinnen lassen soll?

16 Konfrontiert man Literaturtheorien mit dieser Frage, so wird deutlich, dass die Geschichte der Literaturtheorie durchaus nicht kontingent verläuft, die Theorien vielmehr einen gemeinsamen Ursprung und, das wird zu überprüfen sein, vielleicht sogar auch ein, wie auch immer unbestimmtes, so doch gemeinsames Ziel haben. Jener Ursprung ist, so die These, ein zweifacher. Das wird deutlich, sobald man das Augenmerk auf die den Gang der Geschichte leitenden Paradigmen legt. Diese Paradigmen sind nichts anderes als Formen, in denen die Gründe des Wissens erscheinen. Dergestalt geben sie die Begriffe, Regeln und Metaphern vor, mit denen die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis der Literatur vollzogen wird - metaphorisch ausgedrückt: sie stecken das Feld ab, in dem Antworten auf die Frage Wie können wir etwas über Literatur wissen? als Antworten anerkannt werden. Es wird nun zu zeigen sein, dass es in der Geschichte der Literaturtheorie zwei aus der Geschichte der Philosophie übernommene Paradigmen gibt, nämlich das des Bewusstseins und das der Sprache. Diese beiden Paradigmen werden von den unterschiedlichsten Theorien beansprucht. Während jedoch in der Geschichte der Philosophie diese Paradigmen ihre Wirkungsmacht nacheinander entfalteten, die klassische neuzeitliche Philosophie dem Bewusstsein, die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts der Sprache einen Vorrang einräumte, gibt es in der Geschichte der Literaturtheorie eine synchrone Ausrichtung an beiden Paradigmen. Während sich phänomenologische, rezeptions- und wirkungsästhetische sowie empirisch ausgerichtete Literaturtheorien am Paradigma des Bewussteins orientieren, richten sich dekonstruktivistische, strukturalistische, hermeneutische und sogar psychoanalytische Theorien am Paradigma der Sprache aus. Wie das im Einzelnen geschieht, davon handelt der erste Teil dieses Buches. Bereits jetzt sei jedoch darauf hingewiesen, dass mit dieser unterschiedlichen Ausrichtung der Theorien auch zwei Leitunterscheidungen oder Dualismen relevant werden: für das Paradigma des Bewusstseins die Unterscheidung in literarische Form und gedanklichen Inhalt, für das der Sprache die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem. Für die am Paradigma des Bewussteins orientierten Theorien heißt das, dass sie sich im Rückgriff auf die Kantische Unterscheidung in Begriffe und Anschauungen sowie der damit verbundenen Erkenntnis, dass „Gedanken ohne Inhalt leer [sind]",44 auf die Frage konzentrieren: Wie kann unser Denken über Literatur einen Inhalt haben? Im Horizont dieser Frage erscheint die Literatur als eine spezifische Form, die bereits über Inhalt verfügt (das muss sie, sonst wäre sie für das auf Inhalt

44

Vgl. Kant (1976), A51/B75.

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notwendig angewiesene Denken gar nicht zu erkennen).45 Die Frage Wie können wir etwas über Literatur wissen? führt für die am Paradigma des Bewusstseins ausgerichteten Theorien deshalb zu der Frage: Wie können die Inhalte unseres Denkens den literarisch geformten Inhalten entsprechen? Literatur, literarisch geformter Inhalt ist, so gesehen, etwas (Vor-)Gegebenes, das die Literaturwissenschaft in einem sekundären, in einem nachgeordneten Akt der Erkenntnis entdecken, entschlüsseln und angemessen zu re-präsentieren hat.46 Die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen literaturwissenschaftlichen Wissens ist dann beantwortet, wenn es gelingt, die - ursprünglich mit dem Paradigma gesetzte - Differenz zum Verschwinden zu bringen. Dieses ein wenig paradox anmutende Unternehmen, dass nämlich ein Dualismus zuerst gesetzt wird, um ihn danach eliminieren zu können, verfolgen auch die am Begriff der Sprache orientierten Literaturtheorien. Auch sie sind einem Gegebenen auf der Spur. Aber in ihrem Falle ist dieses Gegebene ein Bezeichnetes, das es mit den beschränkten Mitteln der begrifflichen Sprache der Literaturwissenschaft zu bezeichnen gilt. Was nun zur Disposition steht, ist nicht mehr korrekte Repräsentation (im Bewusstsein), sondern Referenz, sprachliche Bezugnahme - und das nicht erst im Poststrukturalismus. Da jedoch Zeichen sehr viel offensichtlicher als Gedanken etwas sind, das Menschen sich nach bestimmten Bedürfnissen oder zu bestimmten Zwecken schaffen, ist der Dualismus von Zeichen und Bezeichnetem mehr noch als der von gedanklichem Inhalt und literarischer Form dazu angetan, die Differenz von Denken und Sein anwachsen zu lassen und die epistemischen Zweifel zu vergrößern. Trotzdem sind die beiden binären Schemata einander verwandter, als es den Anschein haben mag, denn beide erfordern Tertia - Repräsentationen, Bedeutungen und dergleichen mehr - , die jeweils in der Lage sind, die in ihnen angelegte Differenz zu überwinden und beide Seiten miteinander zu vermitteln. Aber wer solche Tertia einführt, muss neue Entitäten erfinden, um wiederum jene Tertia mit den beiden Seiten der Unterscheidung zu verbinden. Er muss also, um ein Beispiel zu geben, erklären, was es denn ist, das Repräsentationen zum einen mit literarischen Formen und zum anderen mit gedanklichen Inhalten verbindet. Aber nicht nur in dieser Tendenz, über die Einführung immer wieder neuer Tertia Begründungsregresse zu erzwingen, gleichen sich die beiden Leitunterscheidungen. Auch dies, dass sie immer einer Seite der Unterschei-

45

46

„Ein leerer Gedanke wäre dasselbe, wie etwas zu denken, ohne dabei etwas zu denken [...]" heißt es bei McDowell (1998), S. 28. Rezeptionstheorien zeigen dann, dass man den Akut auch auf die gedanklichen Inhalte des Beobachters legen, sie also als das Gegebene und demgegenüber die Literatur als das aus diesem Gegebenen Abgeleitete betrachten kann.

18 dung einen Vorrang gegenüber der anderen einräumen, in der Regel dadurch, dass sie die eine Seite als ein Gegebenes, die andere Seite aber als ein aus diesem Gegebenen Abgeleitetes nehmen, macht sie einander ähnlich und provoziert durchaus ähnliche Probleme. Davon wird sogleich anhand ausgewählter Literaturtheorien und exemplarischer literaturtheoretischer Texte die Rede sein.47 Der sich daran anschließende, zweite Teil dieser Ausführungen möchte dann zeigen, dass, wie problematisch es auch immer sein mag, aus der Geschichte zu lernen, die Geschichte der Literaturtheorie doch nicht, wie es gelegentlich scheint, ziellos verläuft, sondern, im Gegenteil, auf eine pragmatistische Zukunft zuhält. Es wird daher der Versuch einer pragmatistischen Begründung der Literaturtheorie unternommen, genauer gesagt, es wird skizziert, wie eine solche Begründung aussehen könnte. Dass dies - wie ich meine - eine dringend gebotene Unternehmung ist, hängt damit zusammen, dass der Pragmatismus dazu auffordert, jenseits der traditionellen philosophischen Paradigmen des Bewusstseins und der Sprache zu denken. Er ersetzt diese Paradigmen nicht durch ein weiteres Paradigma, auch nicht durch das des Handelns, sondern stellt vielmehr eine Reihe von Praktiken des Denkens bereit, mit deren Hilfe diesseits oder jenseits der traditionellen Letzthorizonte des Wissens gedacht werden kann.48 Er kann daher, das mag der zweite Teil dieser Arbeit demonstrieren, als eine Weise des Denkens verstanden werden, die der Literaturtheorie dazu verhilft, die Probleme zu lösen, die sie von der Philosophie übernommen hat - und das sind zunächst und vor allem Probleme, die mit der Begründung theoretischen Wissens zusammenhängen. Man kann daher, wie gezeigt werden soll, mit pragmatistischen Mitteln eine Literaturtheorie begründen, die ohne die traditionellen, die Geschichte der Literaturtheorie prägenden Dualismen auskommt - weshalb der Pragmatismus die mit diesen Dualismen einhergehenden Probleme der Literaturtheorie nicht löst, sondern, um es forciert auszudrücken, sie vielmehr von ihnen erlöst, ihr also dazu

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Die Darstellung des ersten Teils erhebt, was das Belegmaterial angeht, keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es werden also Literaturtheorien nur in Betracht gezogen, insofern sie ein neues Licht auf die leitende Fragestellung werfen. Auf Vollständigkeit (des Belegmaterials, nicht der Systematik) wurde aber auch verzichtet, um auf die Anschlussprobleme und -fragen eingehen zu können, die aus der Begriindungsgeschichte der Literaturtheorie erwachsen. Der Leser/die Leserin mag dann selbst darüber entscheiden, ob Systemtheorie, Gender studies, Diskursanalyse, New Historicism und manch andere Literaturtheorie, von der im Folgenden nicht die Rede sein wird, die Konsequenzen oder Lehren, die im zweiten Teil dieser Arbeit aus dieser Geschichte der Literaturtheorie gezogen werden, widerlegen. Die Ablehnung solcher Letzthorizonte hat zur Folge, dass auch der Begriff des Handelns keine solche letzte Begründungsinstanz ist, sondern allenfalls ein heuristisches Prinzip.

19 verhilft, sich neuen Aufgaben zu widmen, allem voran der, ein anderes und - wie ich meine - adäquateres Verständnis ihrer selbst zu entwickeln. Um ein solches, in den Ausführungen des zweiten Teils skizziertes, aber nicht abgeschlossenes Projekt auf den Weg zu bringen, muss, darin besteht der erste Schritt, der Pragmatismus - oder: das Denken von Pragmatisten wie James, Peirce, Rorty, Brandom und anderen - auf das Erkenntnisinteresse der Literaturtheorie zugeschnitten werden. Das geschieht, indem das pragmatistische Verständnis von Wahrheit, Sprache und Begründung dargestellt wird - denn Literaturtheorie muss dazu verhelfen, die Wahrheit von Aussagen (oder: Urteilen) über sprachliche Ereignisse zu begründen. Doch sind es nicht irgendwelche wahren Aussagen über beliebige sprachliche Ereignisse, es sind Aussagen über ästhetische Sprachereignisse, über den Gebrauch der Sprache als Kunst, es sind also ästhetische Urteile, die sie begründen muss. Für eine pragmatistische Begründung der Literaturtheorie ergibt sich daraus die Notwendigkeit, etwas zu tun, worauf Literaturtheorien sonst gerne verzichten, nämlich - wie auch immer unvollständig - ihren Begriff der Kunst zu explizieren. Um jedoch verstehen zu können, wie sich der wissenschaftliche, urteilende Gebrauch von Sprache auf die Sprache der Kunst beziehen kann, um verstehen zu können, dass beide Gebräuche der Sprache, der assertorische und der ästhetische, eine gemeinsame Wurzel, einen gemeinsamen Grund haben, folgt eine kurze Explikation des Begriffs der Bedeutung, von der ich denke, dass sie als eben jene Wurzel oder, um im Bild zu bleiben, eben jener gemeinsame Grund sich erweisen wird, auf dem sowohl Ästhetisches als auch Theoretisches gedeiht.49 Am Schluss soll dann im Anschluss an Donald Davidsons Szenario der radikalen Interpretation deutlich werden, was es konkret heißen kann, auf pragmatistischem Wege Literaturtheorie zu begründen. Dabei mag sich dann zeigen, ob und, wenn ja, inwiefern die eigentlich philologische Tätigkeit, das Interpretieren, mit der eigentlich epistemologischen Tätigkeit, dem Begründen von Geltungsansprüchen, zusammenfällt. Damit es sich aber deutlicher zeigt und damit sich deutlich zeigt, wohin das - bestenfalls - führen kann, nämlich zu einem anderen, konkreten und, nicht zu vergessen: literarischen Verständnis des Theoretischen, kommt ganz am Schluss die Tätigkeit des Übersetzens in den Blick - und mit ihr Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers.

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Das wird hier nur angedacht, weil es umfangreichere weitere Forschungen voraussetzt, vor allem zum metaphorischen Bedeuten sowie zum Zusammenhang von Bedeutung und Wahrheit.

ERSTER TEIL

Geschichte der Literaturtheorie

Das Paradigma des Bewusstseins

Phänomenologische Literaturtheorie (Roman Ingarden)

Die Geschichte der Literaturtheorie als eine Geschichte des Nachdenkens über die theoretischen Möglichkeiten der Literaturerkenntnis logisch (nicht: chronologisch) zu erzählen heißt, mit dem Begriff des objektiven Bewusstseins zu beginnen. Dieser Beginn markiert zugleich einen Einspruch gegen jedes vortheoretische, subjektive Erleben der Literatur - und damit gerade gegen ihre psychologische Interpretation. Diesen Einspruch erhebt die Phänomenologie Roman Ingardens. Sie ist, wiewohl heute weitgehend in Vergessenheit geraten, ein für die Geschichte der Literaturtheorie als einer Geistesgeschichte unverzichtbares, weil Entwicklung allererst garantierendes Moment. 1 Ingardens Phänomenologie der Literatur bleibt aber über den Einspruch, den sie erhebt, über das Bestimmende der Negation also, an das psycho-logische Verständnis des Bewusstseins gebunden; das macht ihre Beschränkung aus. Die Beschränkung der phänomenologischen Literaturtheorie besteht darin, dass sie Literatur und Literaturwissenschaft auf den Begriff des Bewusstseins verpflichtet. Wenn man die Texte ihres namhaftesten Vertreters, Roman Ingarden, also danach befragt, wo bei der Erkenntnis des literarischen Werks der Anfang zu machen sei, so erwidern sie: Beim Bewusstsein! Aber sie konstatieren nicht (wie später dann Iser, Jauß und andere): beim Autor- oder Leserbewusstsein! Ingardens Interesse gilt vielmehr, und bereits darin lässt er jede Form psychologischer Theoriebildung hinter sich, dem literarischen Werk, und zwar als Ausdruck und Gestalt des Bewusstseins. Allerdings, ,Ausdruck und Gestalt' heißt hier nicht, dass die Werke etwas anderem, etwa anderen von ihnen unterschiedenen Bewusstseinen oder Bewusstseinsvollzügen Aus-

Phänomenologie als literaturtheoretisches Programm ist in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft denn auch häufig gerade nicht gemeint, wenn der Name genannt wird (so etwa bei Schlich, 1994). Autoren wie Eckhard Lobsien, die explizit an der Fortentwicklung einer phänomenologischen Literaturwissenschaft arbeiten (vgl. ders., 1988), sind die Ausnahme. Zu Ingardens Bedeutung für die phänomenologische Kunsttheorie und deren Geschichte, auf die ich nicht eingehen werde, vgl. Georg Bensch, 1994.

24 druck und Gestalt verleihen, nein, sie, die Werke, gelten Phänomenologen vielmehr selbst als eine Weise, in der sich Bewusstsein vollzieht - und zwar unabhängig von der Tatsache, dass Bewusstsein konkret nur als individualisiertes, an Körper gebundenes Bewusstsein erscheint. Indem so (und wie genau, das wird sogleich noch eingehender zu bedenken sein) die Literatur selbst die Gestalt des Bewusstseins annimmt, überwindet die Phänomenologie die ihr in der Bestimmtheit der Negation psychologischer Theoriebildung auferlegte Beschränkung. Darin liegt ein Schritt, den sie vollzieht, eine Entscheidung, die sie trifft, wenn man so will: ein Akt der Freiheit gegenüber der Tradition des neunzehnten Jahrhunderts. Aber, inwiefern kann man sagen und was heißt es, dass die Literatur die Gestalt des Bewussteins annimmt? Nun, für Ingarden heißt es zunächst einmal, das literarische Werk als ein „mehrschichtiges Gebilde" 2 zu verstehen, als ein Gebilde, das aus 1) der „Schicht der Wortlaute und der auf ihnen sich aufbauenden Lautgebilde" besteht, darüber hinaus 2) aus der „Schicht der Bedeutungseinheiten" sowie 3) der „Schicht der mannigfaltigen schematisierten Ansichten und Ansichtkontinuen" und schließlich 4) aus der „Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten". 3 Das literarische Werk hat demnach ein niederstufigeres materielles Substrat (die Wortlaute samt der durch sie bestimmten rhythmischen Struktur), auf dem die Bedeutungen (einzelner Sätze und schließlich des ganzen Textes) aufruhen. Diese Bedeutungen erscheinen dann durch den Gebrauch literarischer Stilmittel und Darstellungsweisen in einem bestimmten Lichte. Dadurch, so Ingarden, bringen sie den dargestellten Inhalt, das Bedeutete, in je und je besonderen Abschattungen und Gegebenheitsweisen zur Erscheinung. 4 Durch das Zusammenwirken dieser Schichten entstehen dann jene „dargestellten Gegenständlichkeiten" (imaginierte Personen, Orte, Handlungskonstellationen) samt der in ihnen zur intellektuellen Anschauung gelangenden metaphysischen Qualitäten (man denke hier etwa an einen im Verlauf der Lektüre sich plötzlich einstellenden Einruck von der Totalität des Seins).

2 3 4

Ingarden (1997), S. 11. Ingarden (1965), S. 26. „Prinzipiell betrachtet, können in einem literarischen Werke Ansichten eines jeden möglichen Gehaltes paratgehalten werden. So können bei der Darstellung ein und derselben gegenständlichen Situation zugleich z.B. visuelle, akustische und taktuelle Ansichten verwendet werden. Ein psychischer Zustand eines .Helden' kann ζ. B. durch äußere Ansichten seiner leiblichen Verhaltungsweisen und durch innere Ansichten zur Erscheinung gebracht werden usw. [...] Es ist aber auch möglich, Ansichten zu verwenden, die zu ganz verschiedenen Standpunkten gehören und bunt durcheinander geworfen werden, so daß der betreffende Gegenstand fast zugleich auf verschiedene Weise zur Erscheinung gelangt." Ders., ebd., S. 297.

25 Wie unschwer zu erkennen, entspricht hier - und um mehr als eine Entsprechung handelt es sich an dieser Stelle auch noch nicht - der Schichtenaufbau des literarischen Kunstwerks der Struktur des Bewusstseins - nicht des Bewusstseins überhaupt, sondern einer bestimmten, nämlich der phänomenologischen Vorstellung vom Bewusstsein. Dieser Vorstellung zufolge hat das Bewusstsein in seinen tieferen Schichten 1) eine konkrete, im Erleben zur sinnlich erfahrbaren Gestalt gelangende Form (die sog. sensuelle Hyle), die sich 2) in den Akten des Vermeinens (der Noesen) auf 3) bestimmte verzeitlichte Abschattungen des 4) vermeinten Gegenstandes (des Noemas) bezieht. Und was Ingarden nun in Das Literarische Kunstwerk zeigt, ist wesentlich dieses, dass er seinen Gegenstand, eben das literarische Kunstwerk, nach Maßgabe des phänomenologischen, also intentionalen Verständnisses von Bewusstsein zu beschreiben in der Lage ist und damit als eine eigene Bewusstseinsgestalt dem subjektiven, an Körperlichkeit gebundenen Bewusstsein gegenüberzustellen vermag. Das literarische Werk ist bei Ingarden also, darauf kommt es an, nicht allein, wie für gewöhnlich gesagt und von Ingarden ja auch selbst behauptet wird, ein intentionaler Gegenstand für ein Bewusstsein; es ist vielmehr als intentionaler Gegenstand das Bewusstsein noch einmal. Das zeigt sich nicht allein in der, dem intentionalen Bewusstsein Husserls isomorphen (Schichten-)Struktur. Denn das literarische Werk verfügt in der „[...] geordnete[n] Aufeinanderfolge seiner Teile [...], Sätze, Satzzusammenhänge, Kapitel [...]" auch über ein eigenes inneres Zeitbewusstsein, eine ihm eigene „[...] zeitliche .Ausdehnung' vom Anfang bis zum Ende sowie [über] verschiedene, sich daraus ergebende Kompositionseigenheiten, wie z.B. verschiedene Charaktere der dynamischen Entwicklung und dergleichen mehr".5 Ja, auch die für das Bewusstsein, und man muss hier genauer sagen: für die höheren Formen des Bewusstseins konstituierende Fähigkeit des Urteilens spricht Ingarden dem literarischen Werk zu. Die Literatur, daran lässt er nicht die Spur eines Zweifels, enthält Urteile. Mit ihnen verleiht sie ihren Gegenständen den Schein des Faktischen, wenn auch nicht, deshalb nennt Ingarden sie „Quasi-Urteile",6 faktische Geltung. „Es kommt da", schreibt er, „unzweifelhaft zu einer Seinssetzung der intentional entworfenen Sachverhalte [,..]."7 - Und man kann hinzufügen: es kommt zu einer Seinsset-

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Ders., ebd., S. 11. Vgl. Ingarden (1965), S. 169-191. Ders., ebd., S. 177. - Und Ingarden gibt ein Beispiel: „Wenn wir ζ. B. in einem Roman lesen, der Herr Soundso habe seine Frau ermordet, so wissen wir ganz genau, daß dies nicht emst zu nehmen sei, daß niemand - falls die betreffenden Sätze sich als falsch erweisen sollten - dafür zur Verantwortung gezogen werden dürfte. Und es fällt uns überhaupt nicht ein, die betreffenden Sätze nach ihrer Wahrheit oder Falschheit zu befragen. Und trotzdem wird da unzweifelhaft etwas auf eine besondere Weise be-

26 zung, wie sie auch das unmittelbare Bewusstsein seinen Vorstellungen immer schon mitgibt - weshalb es geneigt ist, seine Vorstellungen eben nicht für seine Vorstellungen, sondern für das Wirkliche zu halten, eine Neigung, die das nicht-literarische Bewusstsein dann mittels Reflexion darauf, dass es ein Bewusstsein ist, korrigieren muss. Aber auch dabei bleibt es nicht. Wie jedes Bewusstsein, was immer es für das Sein hält, zugleich mit einem Sollen belegt, ist auch für Ingarden das literarische Werk im wörtlichen Sinne ein wertvolles, ein mit Werten durchsetztes Werk, und zwar noch ehe es vom Bewusstsein des Rezipienten bewertet wird. Es ist wie ein eigenes und eigenständiges Bewusstsein, das, was immer ihm zur Erscheinung gelangt, was immer ihm Phänomen wird in eine stratifikatorische Ordnung bringt. Hat das literarische Werk erst einmal die Gestalt des Bewusstseins angenommen, dann allerdings lässt sich an ihm wiederum Subjektives und Objektives unterscheiden, und zwar so, dass das Subjektive an ihm mit seinen intentionalen Konstitutionsleistungen, das Objektive hingegen mit den in diesen Konstitutionsleistungen dargestellten Gegenständen zusammenfällt. Das Werk ist also nicht selbst der ästhetische Gegenstand, es bringt diesen vielmehr allererst vermittels der Polyphonie seiner Schichten hervor, gerade so wie das menschliche Gehirn, was immer es sich vorstellt, über das komplexe Zusammenwirken verschiedener Hirnareale erzeugt. Stelle ich mir etwa ein blaues Reh vor, so ist diese Vorstellung von meinen intentionalen Akten und, wie in einem vergleichbaren Fall meine Vorstellung von Josef K., von dem, was ich im Denken tue, abhängig. Aber weder das blaue Reh noch Josef K. sind ganz und gar dasselbe wie meine Bewusstseinsakte.8 Denn von beiden kann ich eine falsche Vorstellung haben. Ich kann etwa glauben, mir ein blaues Reh vorzustellen, während ich mir aber tatsächlich einen blauen Steinbock vorstelle. Wenn ich nun diesen Irrtum bemerken und ihn korrigieren sollte, werden auch noch so ausgefeilte Untersuchungsmethoden, die in der Lage sind, die Korrektur meines Irrtums anhand des neurophysiologischen Geschehens in meinem Gehirn sichtbar zu machen, mein blaues Reh in meinem Bewusstsein nicht beobachten können. Ebenso kann ich eine falsche Vorstellung von Josef K. haben, etwa dann, wenn ich ihn mir als einen heiteren und lebenslustigen Menschen vorstelle.

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hauptet [!], so daß wir es hier nicht mit reinen Aussagesätzen zu tun haben, wie das vielleicht manchem oberflächlichem Betrachter selbstverständlich scheinen mag." Ders., ebd. - Und seine These lautet dann: „In der Mitte zwischen den beiden Extremen - dem reinen Aussagesatz und dem echten Urteilssatz - liegt diejenige Art von Sätzen, die wir in den (modifizierten) Behauptungssätzen in literarischen Werken vorfinden." Ebd. Vgl. zu dieser Problematik auch Hörisch (1986).

27 Damit scheint, und dieser Schein ist hier eigens zu betonen, aber auch schon klar zu sein, wo bei der Analogie von literarischem Werk und Bewusstsein die Grenze liegt, nämlich darin, dass, während ich eine falsche Vorstellung von Josef K. haben kann, niemand niemals wird behaupten können, Kafka vermittle im Prozess eine unpräzise oder gar falsche Vorstellung von Josef K., denn es gibt keinen Josef K., an dem Kafkas Gestalt zu messen wäre. Genau das ist auch der springende Punkt. Das literarische Werk erzeugt gerade aufgrund seines fiktionalen Charakters eigenständige Gestalten - und letztlich Welten, über die sich der Autor nicht, wohl aber seine Leser täuschen können. Das Ausmaß dieses Täuschungspotentials wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die literarisch erzeugten Figuren und Welten mehr beinhalten als material über sie gesagt wird. Wer glaubt, Josef K. lebe im Rom des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, unterliegt einer Täuschung, obwohl Kafka diesem Glauben an keiner Stelle explizit widerspricht. Die so erzeugte Objektivität des literarästhetischen Gegenstands macht ihn für Phänomenologen zu einem rein intentionalen Gebilde, das, und eben darin liegt die Reinheit seiner Intentionalität, nicht auf die Akte seiner Konstitution (in den verschiedenen Schichten) zurückgeführt werden kann, sondern vielmehr aus ihnen emergiert. Dieser intentionale ästhetische Gegenstand, der psychisch auf den Bewusstseinsakten des Autors und physisch auf der Materialität des Werkes beruht, ist dennoch selbst weder eine physische noch eine psychische, sondern vielmehr eine eigenständige intersubjektive, eben eine transzendentale Entität. 9 Dieser Gedanke der Transzendentalität des literarästhetischen Gegenstands, der Gedanke also, dass Kunstwerke eine objektive, wenn auch fiktionale Welt konstituieren, die weder durch Rekurs auf ihre psychischen noch auf ihre physischen Entstehungsbedingungen zu verstehen sei, stellt natürlich für eine Wissenschaft, die gewohnt ist, was etwas ist, von den Umständen her zu

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Vgl. Ingarden (1997), S. 13 u. ders. (1965), S. 123, wo er schreibt: „Die rein intentionalen Gegenständlichkeiten sind den entsprechenden und überhaupt allen Bewußtseinsakten gegenüber in dem Sinne .transzendent', daß kein reelles Element (oder Moment) des Aktes ein Element der rein intentionalen Gegenständlichkeit ist und umgekehrt." Der zugrunde liegende Gedanke ist freilich ein einfacher und wird nur durch den Sprachgebrauch häufig verdeckt, wie Ingarden mit an Wittgenstein erinnernder Verve bemerkt: „Oft hört man die Behauptung aussprechen, Etwas sei .vorgestellt' bedeute nichts anderes, als .jemand stelle sich etwas vor'. [...] Indessen sind diese beiden Sätze gar nicht bedeutungsidentisch. Und es wäre unerklärlich, warum man in manchen Fällen statt direkt vom Vorstellen selbst von den Gegenständen dieses Vorstellens reden sollte. [...] Das Wort .Gegenstand' müßte eine merkwürdig schwankende Bedeutung haben, wenn es bei wirklich existierenden und vorgestellten Gegenständen, wie ζ. B. Tischen, Bergen u. dgl. m., eben diese Gegenstände bezeichnete, bei solchen Gegenständen dagegen, wie z.B. nicht-eisemes Eisen, goldener Berg usw., nicht diese Gegenstände, sondern ihr Vorstellen bedeuten sollte." Ders. (1935), S. 39f., Hervorheb. ebd.

28 denken, unter denen es geworden ist, eine gewaltige Provokation dar. Denn von der phänomenologischen Unterstellung, es gebe eine objektive literarische Welt, ergeht natürlich die Aufforderung an die Literaturwissenschaft, eben genau diese Welt zu bestimmen, und zwar in ihrer, mit einem Wort Hegels gesagt, ,,aufgehobene[n] Mannigfaltigkeit des Sinnlichen". 10 Und das ist ziemlich genau das Gegenteil dessen, was zumeist in den Literaturwissenschaften geschieht. Denn hier beschränkt man sich meist auf Aspekte und Perspektiven, unter denen jene eine Welt in den Blick genommen wird; man verfährt so, als sei jene literarisch erzeugte Welt nicht von den Perspektiven, in denen sie erscheint, zu unterscheiden - gerade so, wie Schmerzen nicht von dem Körper, in dem sie auftreten, zu trennen sind. Die phänomenologische Literaturtheorie Ingardens hingegen macht (im Anschluss an Husserl) den Gedanken stark, dass die Rede von vielen Perspektiven oder Abschattungen überhaupt nur in Bezug auf das Eine Sinn macht, das perspektiviert oder abgeschattet wird. Das heißt nicht, dass dieses Eine außerhalb des Bewusstseins, also jenseits von Abschattungen und Perspektiven existieren muss; es heißt nur, dass eine exklusive Beobachterposition zu denken ist, von der aus die Gesamtheit der Perspektiven in den Blick genommen werden kann. Und diese Beobachterposition kann dann nicht im empirischen Bewusstsein, sondern muss im transzendentalen Bewusstsein auszumachen sein. 11 Gesetzt, zwei Personen hörten den Satz ,Es gibt keine blauen Rehe', so ist es nicht nur mehr als unwahrscheinlich, dass in beiden Personen dieselbe Sequenz neuronaler Ereignisse abläuft, sondern ebenso, dass ihre mentalen Bilder auch nur annähernd identisch sind. Denn während die eine Person sich ein dunkelblaues Reh allein auf einer grünen Wiese vorstellt und diese Vorstellung dann mit ihrer Erinnerung daran, dass sie so etwas noch nie gesehen hat, verbindet, stellt die zweite Person sich viele Rehe in unterschiedlichen Blautönen vor und verbindet diese Vorstellung sodann mit dem Gedanken, dass der Sprecher nicht glaubt, es handle sich dabei um eine natürliche Art. Obwohl beide darüber hinaus keinerlei mentale Bilder für die Negation von ,Es gibt keine' zur Verfügung haben und obwohl sie nicht einmal über dieselben mentalen Bilder eines einzigen blauen Rehs verfügen, sind sie sehr wohl in der Lage, den Satz ,Es gibt keine blauen Rehe' zu verstehen, was sich etwa daran zeigt, dass beide sofort mit Zustimmung oder mit Bemerkungen wie ,Ich habe aber schon einmal von solchen Tieren geträumt' oder ,Aber lila Kühe kommen durchaus in Werbespots vor' reagieren. Wie unterschiedlich also auch immer die Perspektiven sein mögen, in denen sie das Gesagte

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Hegel (1986a), S. 210, Hervorheb. ebd. Zu Ingardens Streit mit Husserl um den angemessenen Grad oder den adäquaten Stellenwert dieser Transzendentalität im Rahmen phänomenologischer Theoriebildung vgl. Jacek Barski (1992), S. 66ff.

29 auffassen, wie sehr die Vorstellungen, die sie sich machen, auch differieren mögen, sie verstehen doch beide dasselbe, nämlich dasjenige, was der Sprecher zu bedenken gibt, wenn er den Satz ,Es gibt keine blauen Rehe' äußert. Was immer also das Verstehen ausmacht, es ist offenbar nicht dasselbe wie das Geschehen im Bewusstsein derer, die verstehen. Es scheint demnach so zu sein, als sei die phänomenologische Konstruktion des transzendentalen Bewusstseins gerade im Falle des Sprachverstehens von besonderer Evidenz. Ja, es hat den Anschein, Ingardens Konstruktion des Sprachkunstwerks nach Maßgabe der Gestalt des Bewusstseins führe mit Notwendigkeit auf ein diesem zugehöriges transzendentales Bewusstsein des wirklich Gesagten oder eigentlich Gemeinten, das sehr deutlich vom empirischen Bewusstsein unterschieden und daher auch nicht unter Verwendung psychologischer Begriffe erklärt werden kann. Wie immer man nun diesen Affront der Phänomenologie gegen den literaturwissenschaftlichen Psychologismus beurteilen, wie immer man die Frage Gibt es wirklich ein transzendentales poetisches Bewusstsein? beantworten mag, die Aktualität der Phänomenologie, ihre Relevanz jenseits des Historischen hängt nicht von der Antwort auf diese Frage ab. Auch wenn es keine Noemata, keine reinen Wahrnehmungsobjekte, im Bereich des Literarischen: keine reinen Inhalte, nichts wirklich Gesagtes geben sollte, das allein die Phänomenologie beschreiben könnte, so bleibt doch der Gedanke, dass das Viele nicht ohne das Eine gedacht werden kann, die Pluralität der Interpretationen, damit sie überhaupt Interpretationen desselben sein können, einer ausgezeichneten Beobachterposition bedürfen. Die Aktualität des phänomenologischen Transzendentalismus besteht also darin, dass er eine Grenze jener Art von Skeptizismus erkennen lässt, die alle, die sich wissenschaftlich mit Literatur auseinandersetzen, umtreibt, jener Skepsis nämlich, die daraus hervorgeht, dass die textuellen Belege eine Vielzahl an Interpretationen gestatten, die zwar mit den Belegen, aber nicht untereinander vereinbar sind. Auch wenn Interpretationen über rational ausweisbare Verfahren erstellt werden, die Vernunft erlaubt es nicht, eine Wahl zwischen ihnen zu treffen. In dieser Situation erhebt der Transzendentalismus Ingardens einen unerhörten Einspruch. Er besagt, dass ein Skeptizismus, der durch Argumentation erzeugt wird, nicht total sein kann, dass es vielmehr, mit Thomas Nagel gesprochen, „[...Jeinige Gedanken gibt, aus denen wir nicht heraustreten können", 12 um zu ihnen eine distanzierte, kritische Haltung einzunehmen. Ingardens transzendentaler phänomenologischer Textbeobachter steht für einen solchen Gedanken. 13

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Thomas Nagel (1999), S. 32, Hervorheb. ebd. Bei Fellmann (1989) findet sich dazu die Komplementärthese, der zufolge der phäno-

30 Nun gibt es bei einem solchen Denken jedoch (mindestens) ein Problem; und Roman Ingarden hat, wie Husserl vor ihm, dieses Problem durchaus erkannt. Es besteht darin, dass der transzendentale Beobachter nicht von dieser Welt sein kann. Denn nichts an diesem exklusiven Beobachter könnte das Medium sein, in dem blaue Rehe oder Josef K.s vergebliche Bemühungen, seine Lage zu verbessern, erscheinen. Nichts an diesem transzendentalen Bewusstsein um die wahren Inhalte eines literarischen Werks könnte sich über die dargestellten Figuren wundern oder gar so etwas wie Mitleid mit diesen fiktionalen Gestalten empfinden; kurzum: was immer es sein mag, das transzendentale Textbewusstsein wäre kein verstehendes Bewusstsein. Denn Verstehen ist offenbar etwas, das, obwohl mehr als ein materieller Vorgang, doch an Materialität gebunden ist - an die Materialität denkender Gehirne oder vielleicht einmal sogar an diejenige denkender Computer. Aber diese Kopplung des Verstehens an (s)eine Materialität scheint eines ganz gewiss auszuschließen, nämlich die Transzendentalität des phänomenologischen Textbeobachters. Der Punkt, auf den es ankommt, ist, dass Verstehen offenbar nicht einfach nur Perspektivität einschließt, sondern Perspektivität ganz offenbar auch Materialität. Und während man sich noch denken kann, was es heißen mag, die Vielzahl der Perspektiven auf ein literarisches Werk miteinander zu vereinen, ist es ganz und gar nicht klar, was dies nun wiederum heißen würde, wenn diese Perspektiven Erlebnisqualitäten enthielten, die an Gehirne (oder Körper) gebunden wären. Denn was wäre etwa im Falle von Kafkas Prozess das aus Mitleid mit der Situation Josef K.s, der Häme seiner Peiniger und K.s eigener Furcht resultierende Erleben? Selbst, wenn es ein Bewusstsein geben sollte, das in der Lage wäre, all dies in seinem Erleben zu synthetisieren, wäre ein transzendentales Bewusstsein nicht am wenigsten dazu in der Lage? All das mag deutlich machen, worin gerade im Falle der Literatur das angesprochene Problem besteht, nämlich darin, dass die Konzeption eines transzendentalen Literaturbeobachters, wie ihn die phänomenologische Programmatik vorsieht, geradewegs in einen Dualismus, also zu einer strikten Unterscheidung zwischen Geist und Gehirn führt. Ein solcher Dualismus mag ein probates Mittel sein, um zu psychologistischen Theorien auf Distanz zu gehen, eine überzeugende Alternative zu ihnen ist er nicht. Denn Geist und Gehirn, Sema und Soma, Bedeutung und Zeichen müssen natürlich auch im Falle der Literatur miteinander interagieren. Aber wo ist der Descartes' Zirbeldrüse entsprechende Ort, an dem dies im phänomenologischen Szenario geschehen sollte?

menologische Gedanke eines absoluten Beobachters wiederum narratologisch, letztlich also literarisch zu begründen sei; vgl. ders. ebd., S. 189ff.

31 Ingarden ist hier um eine Antwort nicht ganz und gar verlegen. Er sucht sich damit zu helfen, dass er die Zirbeldrüse als ein aus intentionalen Gegenständen Zusammengesetztes konzipiert und dieses Konstrukt dann in das literarische Werk projiziert. Denn die literarisch intentionalen Gegenstände, Gegenstände wie es blaue Rehe, aber auch so komplexe Geschehnisse wie das Verhängnis, das über Josef K. hereinbricht, sind, zeichnen sich gegenüber physikalischen Objekten wie etwa Stühlen und Tischen durch ihre Seinsheteronomie aus. Sie bedürfen, um überhaupt zu sein, eines Bewusstseins, das sie sich vorstellt. Sie sind „[...] auf das Sein und Sosein des zugehörigen Bewußtseinsaktes angewiesen [...]",14 schreibt Ingarden, und eben deshalb gerade nicht seinsautonom wie Tische und Stühle, die auch existieren, wenn sie in niemandes Bewusstsein (als Vorstellung oder Wahrnehmung) vorkommen.15 Damit ist klar, worum es Ingarden geht. In der Phänomenologie des literarischen Werks soll anhand der intentionalen, seinsheteronomen Gegenstände die Vermittlung von Soma und Sema, Zeichen und Bedeutung augenscheinlich und dadurch die Transzendentalität des phänomenologischen Beobachters gerettet werden. Denn dieser Beobachter hat im Falle der Literatur, im Falle von Zentauren und Einhörnern etwa, plötzlich Zugang zur qualitativen Seite allgemeiner Bewusstseinsgegenstände. Anders gesagt, Einhörner oder Zentauren vermitteln wie alle anderen literarischen Gegenstände auch das schlechthin Allgemeine, das Nicht-Körperliche mit ihren je und je besonderen Abschattungen in den intentionalen Akten des Einzelbewusstseins. Die Literatur ist, so gesehen, der Ort, an dem Allgemeines und Besonderes, Geistiges und Materielles miteinander kommunizieren.16 Soweit die Theorie. Aber das Problem, wie Physisches und Geistiges vermittelt werden können, und die Frage, ob es so etwas wie intentionale, aber in ihrer Intentionalität nicht-physische Gegenstände des Bewusstseins (respektive der Literatur) geben kann, wird auch bei Ingarden nicht wirklich gelöst (obwohl

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Ingarden (1965), S. 127. Alles kommt hier selbstverständlich auf den Begriff der Existenz, also darauf an, was man überhaupt unter .existieren' versteht, ob Existenz überhaupt eine Eigenschaft ist, ob .existieren' im logischen Sinne die Funktion eines Prädikats hat, usw. - Zu diesem Undsoweiter vgl. insbes. Ingarden (1964) sowie Haefliger (1994). Das, meint Ingarden, gelte für Sprache überhaupt, also nicht erst für literarische Werke: „Die Wortbedeutung - und ebenso der Sinn eines Satzes - ist einerseits etwas Objektives, das - falls natürlich das Wort eindeutig ist - bei allen Verwendungen des Wortes in seinem Kern identisch und somit den Denkerlebnissen gegenüber transzendent bleibt. Andererseits ist sie aber ein intentionales Gebilde entsprechend gebauter Denkerlebnisse, indem sie entweder in einem Denkakt schöpferisch gestaltet, oft auf Grund eines originären Erfahrungsaktes, oder aber - nachdem diese Gestaltung bereits vollzogen wurde - nur in Denkakten aufs neue nachgebildet bzw. gemeint wird." Ingarden (1997), S. 25.

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erst eine überzeugende Antwort auf solche Fragen eine ausreichende Legitimationsbasis des phänomenologischen Antipsychologismus wäre). Denn Ingarden sagt durchaus nicht, wie im Falle von Zentauren oder Einhörnern Soma und Sema oder auch Noesis und Noema, sondern nur, dass sie miteinander vermittelt sind. Das heißt, mit Hilfe der seinsheteronomen Gegenstände der Literatur wird der dualistische Ansatz der Phänomenologie nicht überwunden, sondern er zeigt sich in diesen Gegenständen lediglich noch einmal - weshalb sie auch nicht die ihnen zugedachte Funktion der Zirbeldrüse in der Konstruktion des literarischen Werks übernehmen können. Das Besondere nicht nur dieser literarischen Gegenstände, sondern vielmehr aller literarisch erzeugten Welten besteht darin, dass in ihrem Falle die Unterscheidung von Realität und Erscheinung hinfällig wird. Genau davon profitiert Ingarden, genau darauf ruht die anfängliche Überzeugungskraft seines Versuchs, die Literatur als ein ausgezeichnetes Feld phänomenologischer Forschung zu etablieren. Denn wer immer es mit Literatur zu tun hat, muss zunächst einmal diese, das sonstige Erleben beständig begleitende Kontrollunterscheidung zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was nur wirklich zu sein scheint (weil es nur vorgestellt ist), aufgeben. Aber warum sollte mit dem Hinweis auf die Irrelevanz dieser Unterscheidung beim praktischen Vollzug der Rezeption auch schon eine ganz andere theoretische Frage, nämlich die nach der Vermittlung von transzendenter und immanenter Beobachterperspektive beantwortet sein? Immerhin sind ja, um ein analoges Beispiel zu geben, auch Schmerzen phänomenale Zustände, bei denen die Unterscheidung zwischen Realität und Erscheinung hinfällig wird - wer Zahnschmerzen hat, kann sich nicht darüber irren, wie sie sich anfühlen. Aber allein deshalb sind Schmerzen noch keine seinsheteronomen intentionalen Gegenstände. Im Gegenteil, sie sind als körperliche Ereignisse weder seinsheteronom noch intentional, 17 ganz zu schweigen davon, dass mit dem Hinweis auf Schmerzen das TranszendenzImmanenz-Problem gelöst werden könnte. Die phänomenologische Literaturtheorie leidet daher an einem ihr immanenten Widerspruch: Einerseits beharrt sie auf der Einsicht, dass, wer immer für eine irreduzible Vielheit der Perspektiven votiert, dies nur unter Berufung auf einen transzendentalen Beobachter tun kann, der Zugang zu all diesen Perspektiven hat. Andererseits beharrt sie auf einem ontologischen Dualismus, der die dafür notwendige Vermittlung von, abstrakt gesprochen: Einheit und Vielheit beständig unterminiert. Und man kann, ja, muss Ingardens

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Hierin liegt übrigens auch ein entscheidender Einwand gegen die phänomenologische Identifikation des Mentalen mit dem Intentionalen, denn Schmerzen sind zweifelsohne mentale, wiewohl keine intentionalen Vorkommnisse.

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zweites literaturtheoretisches Hauptwerk Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks18 als einen verzweifelten Versuch betrachten, dieser Dialektik durch die Subjektivierung des transzendentalen literarischen Bewusstseins zu entgehen. Das heißt, erfolgte in Das literarische Kunstwerk die Konstruktion des transzendentalen literarischen Beobachters noch durch das Werk selbst und daher gleichsam als eine objektive, so schreibt Ingarden nun an einer ähnlichen Konstruktion, jetzt allerdings, indem er von der Rezeption ausgeht und dabei am Beobachterbewusstsein dessen Subjektivität herauskehrt: „Es handelt sich", so Ingarden, „nur darum, unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Bewußtseinsvorgänge zu lenken, die wir bei der Lektüre eines einzelnen literarischen Werkes vollziehen, nicht um an ihnen ihren individuellen Verlauf und ihre individuelle Leistung, sondern das Wesensnotwendige eines solchen Verlaufs und solcher Funktionen zu erfassen." 19 Das Erfassen dieses Wesensnotwendigen geschieht nun nicht allein unter Abstraktion von aller Individualität, nein, auch von dem Anspruch auf Erkenntnis abstrahiert Ingarden dabei ebenso wie von der Möglichkeit einer leitenden Orientierung durch die Materialität des Kunstwerks. „Die Auffassung", so nun wieder Ingarden, „dasselbe Reale sei Objekt sowohl der Erkenntnis als auch der praktischen Betätigung als auch endlich des ästhetischen Erlebnisses, ist unhaltbar." 20 Das heißt, im ästhetischen Erlebnis wird ein eigener ästhetischer Gegenstand produziert und sodann auch rezipiert, und zwar auf der Basis dessen, was Ingarden „ästhetische Ursprungsemotion" 21 nennt. Diese ästhetische Ursprungsemotion ist als spezifischer Erregungszustand des, und ich sollte hier genauer sagen: eines jeden Organismus der Anfang des bewussten Erlebens eines jeden, und daher auch des literarischen Kunstwerks. Mit ihr bezeichnet Ingarden also das ursprüngliche Angesprochenwerden des Lesers durch das Gelesene, über das der Leser nicht verfügen kann, das sich vielmehr in ihm ereignet - oder nicht. 22 Diese ursprüngliche Ansprache vorausgesetzt, vollzieht sich im (idealisierten) Leser die Konstitution des ästhetischen Gegenstandes, und zwar so, dass er seine Aufmerksamkeit von der realen Welt abzieht, sie mehr und mehr auf das Erscheinen der ästhetischen Welt richtet und sich dabei (im Verlaufe einer eidetischen Reduktion) vor allem auf die Qualitäten und Eigenschaften dieser Welt konzentriert. Diese Fokussierung auf das rein

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19 20 21 22

Die in Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft (ders. 1976) versammelten Aufsätze betreffen den systematischen Aufbau der Literaturwissenschaft unter forschungspraktischen Gesichtspunkten (Welche Teildisziplinen umfasst Literaturwissenschaft? Welche davon ist wofür zuständig?) und nicht literaturtheoretische Begründungsfragen. Sie werden deshalb hier nicht berücksichtigt. Ingarden (1997), S. 8. Ingarden (1969), S. 3. Ders. ebd. Ingarden spricht hier von einem Moment der Bejahung: „[...] der ästhetische Gegenstand wird als ein in besonderer Weise Existierendes bejaht." Ders. ebd., S. 7.

34 Qualitative geschieht in Abstraktion von Geltungs- oder Wahrheitsansprüchen und lässt gerade dadurch den ästhetischen Schein als ein ernst zu nehmendes Sein hervortreten, als etwas, das vermittels der durch die ästhetische Ursprungsemotion bewirkten Einstellungsänderung an und für sich gewürdigt werden muss. Das ästhetische Erleben ist daher zum einen das emotionale und also auch körperliche Verarbeiten dieser in der ästhetischen Reduktion zur Geltung gelangenden Qualitäten, zum andern jedoch die Synthesis dieser Qualitäten zur Ganzheit des ästhetischen Gegenstandes. Nun bleiben aber zwei spannende Fragen. Die erste lautet: Woher weiß Ingarden das eigentlich alles? Sind solche emotiven Verarbeitungen verallgemeinerbar? Oder erhebt Ingarden hier nur sein eigenes, sicherlich geschultes, sicherlich präzise beobachtetes Rezeptionsverhalten zum Maßstab dafür, wie wissenschaftlich mit Literatur zu verfahren sei? Und die zweite Frage heißt natürlich: Wie kann Ingarden die Objektivität des vom literarischen Werk selbst verkörperten Bewusstseins mit seinem idealisierten Rezipientenbewusstsein vermitteln? Und die Antwort auf diese zweite Frage lautet schlicht: Er vermittelt sie allein im Sinne der Konkretisierung. Ingardens Rezipientenphantom muss sich damit begnügen, die Leerstellen des Werks auszufüllen, also Unbestimmtheit in Bestimmtheit zu verwandeln - und zwar entsprechend der Vorgabe des literarischen Werks. 23 Das Rezipientenbewusstsein ist daher kein eigenes, ja vor allem kein eigenständiges Bewusstsein. Es mangelt diesem Erfüllungsgehilfen des literarischen Werks somit an der entscheidenden Voraussetzung einer wirklichen (und das heißt hier: kommunikativen) Vermittlung, nämlich an Autonomie. Das Rezipientenbewusstsein bleibt ein Subjekt ohne Subjektivität.

Wirkungsästhetik (Wolfgang Iser)

Es ist vor allem diese fragwürdige Vermittlung von Werk und Rezipient, Text und Leser, die heftige und bisweilen polemische Reaktionen hervorgerufen hat, etwa bei Wolfgang Iser. Er schreibt: „So wie Ingarden die Unbestimmtheitsstellen beschreibt, funktionieren sie nur in der Reklame [...]." 24 Isers Kritik an der bestimmenden Funktion, die das Werk sogar noch an seinen Unbestimmtheitsstellen ausüben soll, markiert dabei zugleich den Punkt, an

23 24

Vgl. Ingarden (1965), S. 261ff. Iser (1994a), S. 278.

35 dem die Entwicklung der Literaturtheorie eine neue Richtung einschlägt und sich von der Fixierung auf das gegebene Werk löst, um nun dem Leser eine neue tragende, ja recht eigentlich die bestimmende Rolle einzuräumen. Nicht mehr das Werk bestimmt maßgeblich, was es bedeutet, sondern sein Leser. Doch eine solche, durchaus geläufige Charakterisierung der Iserschen Wirkungsästhetik ist noch zu ungenau. Sie unterschlägt, dass die Wirkungsästhetik eben gerade den Rückfall in den Subjektivismus und Voluntarismus psychologisch inspirierter Literaturinterpretationen zu vermeiden sucht, auch wenn sie wie diese der Subjektivität zu ihrem Recht verhelfen möchte. Das heißt, Iser wertet gegenüber Ingarden den Leser wieder auf, möchte aber zugleich die Literaturtheorie vor dessen überbordender Einbildungskraft bewahren. Eben dazu benötigt er, Iser, ein Vorgegebenes, etwas, woran sich das Leserbewusstsein halten kann, etwas, das in der Lage ist, die Spontaneität der Einbildungskraft zu limitieren. Und so ist es alles andere als ein Zufall, wenn die Leitfragen der Iserschen Wirkungsästhetik heißen: „1. Inwiefern läßt sich der literarische Text als ein Geschehen ermitteln? 2. Inwieweit sind die vom Text ausgelösten Verarbeitungen durch diesen vorstrukturiert?"25 Während die Rezeptionsästhetik „[...] sich mit den historischen Bedingtheiten der jeweils dokumentierten Rezeption von Texten befaßt" 26 und sich damit von den Primärtexten als überzeitlichen Konstanten entfernt, ist eine Wirkungsästhetik Iserscher Provenienz auf den Text als ein Gegebenes angewiesen, das in der Lage ist, die Spontaneität des Leserbewusstseins einer Kontrolle zu unterwerfen. Auch die Wirkungsästhetik muss also vom Text als einem wie auch immer Unbestimmten, so doch zumindest schematisch Vorgegebenen ausgehen. Iser, darin also Ingarden noch ganz und gar verpflichtet, geht nun gleichwohl jenen schon angesprochenen entscheidenden Schritt über Ingarden hinaus, indem er nämlich dessen Vorstellung einer durch das Werk determinierten Konkretisierung der Unbestimmtheitsstellen einer (partiellen) Kritik unterzieht. Ingarden benötigte die Unbestimmtheitsstellen, um plausibel machen zu können, worin sich sinnlich wahrnehmbare Dinge (Tische, Stühle etc.) von intentionalen Gegenständen (wie etwa literarischen Texten) unterscheiden. Der Unterschied besteht ihm zufolge dann einfach darin, dass Objekte, die sinnlich wahrgenommen werden können, im Prinzip vollständig bestimmbar sein müssen, wohingegen intentionale Gegenstände mit Unbestimmtheits-

25 26

Ders. (1994a), S. IV. Ders. ebd.

36 oder Leerstellen durchsetzt, also auch für einen absoluten Beobachter nicht vollständig bestimmbar sind. 27 Diese den literarischen Werken als intentionalen Gegenständen eigene Negativität wurde jedoch bei Ingarden nur als die Kehrseite positiver Bestimmbarkeit gedacht. Auch die ästhetische Negativität in Gestalt einer Unbestimmtheitsstelle erfährt daher - als bestimmte Negation - von der sie umgebenden Bestimmtheit ihre Bestimmung. Und dem Rezipienten fiel dann die schon erwähnte Aufgabe zu, diese Verwandlung der Unbestimmtheit in Bestimmtheit so zu vollziehen, wie sie die vorgegebene Textstruktur vorsieht. Unbestimmtheit und Negativität sind bei Ingarden daher bloße Derivate von Bestimmtheit und Positivität, für die Literaturwissenschaft darüber hinaus aber auch eine leidige Begrenzung dessen, was sie an ihrem Gegenstand überhaupt erforschen kann. Aber sie sind keine konstitutiven Bedingungen für dieses Wissen selbst. Genau da setzt Isers Kritik ein. Er kritisiert nicht die Gegebenheit der Textschemata, sondern ihre Suprematie über die Unbestimmtheit und Negativität beim Vollzug der Konkretisierung. In Isers Worten: „[...] er [sc. Ingardens Begriff der Konkretisierung] bezeichnet nicht die Interaktion zwischen Text und Leser, sondern die Aktualisierung der vom Text parat gehaltenen Ansichten im Lektürevorgang, und das heißt, statt eines reziproken Verhältnisses meint er ein unilineares Gefälle vom Text zum Leser. 28 Iser ist also bemüht, den Leser nicht zum Erfüllungsgehilfen vorgegebener Textschemata, sondern zum Dialogpartner des Textes zu machen. Sein Einwand besteht darin, dass Ingarden den Unbestimmtheitsstellen oder der ästhetischen Negativität einen zu geringen Stellenwert bei der als Wechselspiel zwischen Text und Leser aufzufassenden literarischen Wirkung einräumt. 29 Wenn Iser deshalb davon spricht, dass schematisierte Ansichten zwar in sich bestimmt seien, aber ihr Verhältnis zueinander nicht, und schon gar nicht im Falle literarischer Texte, 30 dann wird zweierlei deutlich: Zum Ersten, dass der literarische Text gerade nicht vorgibt, wie die Unbestimmtheit in der Relationierung seiner Momente zu beseitigen ist; Unbestimmtheit ist vielmehr eine Wirkungsbedingung literarischer Texte. - Zum Zweiten aber, dass Iser den Leser benötigt, um die vom Text selbst nicht vollzogene Relationierung seiner Elemente zu vollziehen; wenngleich der Text nicht vorschreibt, wie dies zu geschehen hat, fordert er doch, dass es zu geschehen habe, wenn er literarisch wirken soll.

27 28 29 30

Vgl. Ingarden (1965), S.261f. Iser (1994a), S. 271. Vgl. Iser (1970), S. 36f. Iser, ebd., S. 15.

37 Fragt man sich nun, wer von beiden, ob also Iser oder Ingarden Recht hat, so wird ziemlich schnell klar, dass beide, im Grunde genommen, dasselbe behaupten, nämlich dies, dass Rezipienten literarischer Werke Unbestimmtheit beseitigen. Der Unterschied zwischen Iser und Ingarden besteht lediglich in demjenigen, in Bezug auf das sie die zu beseitigende Unbestimmtheit veranschlagen - bei Ingarden sind es die Worte, Sätze und schematisierten Ansichten des literarischen Textes, bei Iser das Beziehungsgefüge dieser Worte, Sätze und schematisierten Ansichten. Trotz unterschiedlicher Freiheitsgrade, die sie dem Leser einräumen, stimmen sie doch darin überein, dass Leser vorgegebene leere Formen mit Inhalt füllen. Geht man von diesem binären Schema, dem Schema von Form und Inhalt aus, dann zeigt sich, dass hinter der Frage danach, ob Isers oder Ingardens Konzeption ästhetischer Negativität die überzeugendere ist, die Frage steht, wie überhaupt das Verhältnis von literarischer Form und gedanklichem Inhalt zu verstehen sei - eine Frage, die in historischer Perspektive die Leerstelle markiert, die die Literaturtheorie immer wieder aufs Neue auszufüllen versucht. Im Falle der am Paradigma des Bewusstseins orientierten Literaturtheorien, also auch bei Ingarden und Iser, obliegt es dem Bewusstsein, die leere literarische Form mit Inhalt zu füllen - und die ganze Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Vertretern dieser Theorien scheint dann mit einem Male nur noch darum zu gehen, ob die Form oder das Bewusstsein dasjenige ist, das bestimmt, wie dieses Mit-Inhalt-Füllen geschieht. Aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit, wie sich gerade im Falle des Iser-Ingarden-Disputs um die Rolle der Unbestimmtheitsstellen für den Akt der Konkretisierung zeigt. Denn Iser bringt durch sein Verständnis der Leerstelle als ausgesparter Anschließbarkeit, als textuell nicht vorgegebener Relationierung über den Primat des Bewusstseins hinaus ja noch etwas anderes zur Geltung, dies nämlich, dass die Frage nach dem Verhältnis von literarischer Form und Bewusstseinsinhalt überhaupt keine Frage ist, die, sei es durch einen Rekurs auf die Form, sei es über den Rekurs auf ein Bewusstsein, normativ zu entscheiden ist. Isers Polemik gegen eine Literaturwissenschaft, die aus den Texten verborgene Bedeutungen ans Tageslicht befördert, die deren Autoren zuvor in ihnen vergraben haben, seine Ablehnung dieses Versteckspiels und des damit einhergehenden Selbstbildes des Literaturwissenschaftlers als eines „Dolmetschers] der verborgenen Bedeutung fiktionaler Texte" 31 hat eben hierin ihren Grund. Denn die Funktion der verborgenen Bedeutung ist ja eben die, dass sie als ein Gegebenes die Norm dafür bereitstellt, wie literarische Form und gedanklicher Inhalt aufeinander zu beziehen sind. Das heißt, nur dann, wenn Bedeutungen

31

Iser (1994a), S. 23.

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vorgegeben sind, können Interpretationen danach beurteilt werden, ob sie richtig, also der Bedeutung als Norm entsprechend verfahren oder ob sie diese Norm verfehlen. Isers Pointe, wenngleich sie in der Wissenschaftspraxis kaum je zur Geltung kam, besteht allem voran in der Funktion, die er sein Argument erfüllen lässt, weniger in der Wahrheit dieses Arguments. Die Funktion des Arguments liegt darin, dass es das Bild der Literaturwissenschaft als einer Wissenschaft, die die ästhetischen Gehalte der literarischen Texte erforscht, unterminiert. Denn wenn die Bedeutungen der Texte weder vorgegeben sind, noch als ein solches Gegebenes Normen für die Interpretation - also für das Auffüllen literarischer Formen mit gedanklichem Gehalt - vorgeben, dann lässt sich das Bild der Literaturwissenschaft als einer Wissenschaft, die das schwer zugängliche Reich poetischen Wissens erforscht, nicht aufrechterhalten. (Die Idee der Literaturwissenschaft als Forschung kann man dann nur noch für die schnöde Materialität der Texte, für ihre Entstehungsbedingungen etwa aufrecherhalten, aber nicht mehr für dasjenige, was sie uns lehren könnten.) Wenn aber Bedeutungen nicht vorgegeben sind, was sind sie dann? Nun, Iser schreibt, und darin besteht sein eigentliches Argument: „Bedeutungen literarischer Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt. Generiert der Leser die Bedeutung eines Textes, so ist es nur zwangsläufig, wenn diese in einer je individuellen Gestalt erscheint."32 Textbedeutungen werden also nicht gefunden, sie werden erzeugt. Es gibt da gar nichts, was gefunden werden könnte. Der Akt des Lesens zieht aus dieser Einsicht die Konsequenzen. Iser erläutert darin, mit welchen Strategien oder Verfahren eine Produktion von Bedeutung geschieht. Aber die zitierte Passage macht bereits deutlich, warum es mehr auf die kritische Funktion des Arguments und weniger auf dieses Argument selbst, auf seinen propositionalen Gehalt ankommt. Denn es ist ganz offensichtlich kein überzeugendes Argument. Wenn, wie Iser behauptet, Bedeutungen nicht vorgegeben, sondern „das Produkt einer Interaktion von Text und Leser" sind, dann gibt es keinen Grund, daraus abzuleiten, dass der Leser - und nicht der Text - Bedeutung generiert. Entweder verdanken sich literarische Bedeutungen einem kommunikativen, interaktiven Geschehen und erlauben es daher nicht, dem Leser oder dem Text einen Primat einzuräumen, oder sie sind allein das Produkt des Lesers und damit eben kein Resultat eines interaktiven Geschehens.

32

Iser (1970), S. 7.

39 Aber ich sagte schon, wie kritikwürdig auch immer das Argument und namentlich der Schluss auf den Primat des Lesers sein mag, es kommt, wenn man die Entwicklung der Literaturtheorie im Auge hat, darauf nicht eigentlich an. Für die Geschichte der Literaturtheorie weitaus relevanter ist der wirkungsästhetische Versuch, den Mythos von der Gegebenheit literarischer Bedeutung zu unterminieren. Denn dadurch verleiht er der Literaturtheorie eine eminent pragmatistische Dimension: Was etwas ist oder bedeutet, steht nicht im Vorhinein fest, sondern hängt davon ab, wie man es gebraucht. Wer wie Iser (und in seiner Nachfolge die Empirische Literaturwissenschaft) von dieser Maxime ausgeht, für den „[...] kann sich die Interpretation nicht mehr darin erschöpfen, ihren Lesern zu sagen, welchen Inhalts der Sinn des Textes sei; vielmehr muß sie dann die Bedingung der Sinnkonstitution selbst zu ihrem Gegenstand machen". 33 Solche Bedingungen können kollektiver oder individueller Natur sein, immer aber sind es Bedingungen des Handelns, Voraussetzungen dafür, wie Subjekte (Leser) mit Zeichen (nicht Bedeutungen) verfahren, um Sinn oder Bedeutung allererst zu erzeugen. Die eigentliche Bedingung für die Konstitution von Bedeutung ist somit der Leser selbst. Denn soziale, historische, kulturelle oder auch symbolische und logische Bedingungen sind nur insofern sie über den Leser vermittelt sind, Bedingungen der Bedeutungskonstitution. 34 Es ist also in letzter Instanz das einzelne Bewusstsein, das darüber entscheidet, wie literarische Form und gedanklicher Inhalt vermittelt werden. Nun sieht es so aus, als öffne, wer Bedeutung zu einem privaten Ereignis macht, dezisionistischen und relativistischen Konsequenzen Tür und Tor. Der Umgang mit Texten, die Erzeugung von Sinn und Bedeutung wird fast zwangsläufig zu einer willkürlichen Angelegenheit, wenn es der Leser ist, der literarische Form und gedankliche Inhalte miteinander vermittelt. Doch das ist entgegen allem Anschein keine notwendige Folge eines solchen, im Ansatz bereits pragmatistischen Denkens. Denn die Tatsache, dass Bedeutungen durch handelnde Bewusstseine generiert werden, impliziert keineswegs, dass das bedeutungskonstituierende Handeln dieser Bewusstseine kontingent ist. Und das ist es genau dann nicht, wenn es Regeln folgt! Isers Literaturtheorie erweckt in dieser Hinsicht den Eindruck, als widerspreche sie sich. Sie konstatiert nämlich einerseits genau dies: Bewusstseine folgen bei der Konstitution literarischer Bedeutungen Regeln (sie sind es, die gegeben sind, nicht die Bedeutungen!), was wiederum heißt, dass „Die Struktur des Textes" darin besteht, „Anweisung zu sein [...]" 35 und der Leser

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35

Iser (1994a), S. 36. Vgl. auch Iser (1994a), S. 22, wo es heißt: „[...] er [sc. der Leser] stellt somit die Bedingungen her, die notwenig sind, damit sich der Text auswirken kann". Iser (1994a), S. 7.

40 diesen Anweisungen folgen muss. Fiktionale Texte weisen nicht nur essentielle Eigenschaften illokutionärer Sprechakte auf, nein, sie rekurrieren sogar beständig auf Konventionen und leiten über literarische Formen (Schemata, Strategien) ihre Rezeption. - Andererseits leugnet Isers Wirkungsästhetik aber, und dafür ist sie berühmt geworden, dass literarische Form und Bewusstseinsinhalt über ein regelgeleitetes Handeln miteinander verbunden sind. Das soll gerade auch für fiktionale Texte gelten. Vor allem sie stellen die Geltung von Konventionen in Abrede, setzen grammatische ebenso wie soziale Regeln außer Kraft, das heißt, sie sind, was sind, als Abweichung von gegebenen Regeln. Einerseits pragmatisiert die Wirkungsästhetik also das Verhältnis von literarischer Form und gedanklichem Inhalt, andererseits entpragmatisiert sie es. Dieses Einerseits-Andererseits kann man als Unentschiedenheit oder, stärker noch, als Paradoxie deuten. Aber wäre eine solche Deutung gerechtfertigt? Beide Positionen sind doch offenbar durchaus vereinbar. Um sich das deutlich zu machen, genügt es, sich den primären Akt der Bedeutungskonstitution als ein regelgeleitetes Tun, den sekundären Akt der Interpretation dieser Bedeutungen jedoch als ein regelloses Verhalten vorzustellen - getreu der Devise: Man muss immer schon etwas verstehen, um es sodann missverstehen zu können. Genau darauf, auf dieses Zugleich scheint Iser hinauszuwollen, wenn er gegen Ingarden, Austin und Searle darauf insistiert, dass die fiktionale Rede sowohl „Imitation" der Alltagssprache (das heißt regelgeleitete Applikation eines gedanklichen Inhalts auf eine Form) als auch „Deviation von der gebrauchssprachlichen Verwendung der Rede" 36 sei. Tatsächlich trifft Iser jedoch durchaus eine Entscheidung. Während er nämlich in sprachtheoretischer Hinsicht, also im Hinblick auf den primären Akt der Bedeutungskonstitution, durchaus für eine Regelhaftigkeit votiert, setzt er in literaturtheoretischer Hinsicht, im Hinblick auf den sekundären Akt der Bedeutungskonstitution, die Orientierung an Regeln außer Kraft. Iser leistet sich also den Luxus, gleichzeitig sprachtheoretischer Monist und literaturtheoretischer Pluralist zu sein, das heißt, er ist, was die Frage, wie eine Wissenschaft von der Literatur zu verfahren habe, durchaus entschieden, nämlich ein entschiedener Pluralist. Für diesen Pluralismus gibt Iser, keine Frage, gute Argumente. So ist es zweifellos richtig, dass viele und gerade moderne literarische Texte die Bedingungen der Möglichkeit dessen, was sie zum Ausdruck bringen, verschweigen. 37 Auch mag man Iser nicht widersprechen, wenn er geltend macht, wie

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Iser (1975a), S. 290. Zu diesem an Heidegger erinnernden, mit Bezug auf Thackeray vorgetragenen Argument vgl. Iser (1970), S. 27.

41 sehr gerade die Zunahme der Leerstellen in der modernen Literatur jene Beobachterposition zum Verschwinden bringt, von der aus der Leser die Vielheit literarischer Perspektiven eines Textes zur Einheit vermitteln kann; ja, es entpuppt sich nicht selten die Perspektive des Lesers als eine, die im Text bereits vorweggenommen ist - mit der Konsequenz, dass der literarische Text wie ein Phantasma, wie ein Bewusstsein oder wie ein einziger Gedanke erscheint, aus dem man nicht heraustreten kann. 38 Hinzu kommt, dass Iser sich anschickt, die moderne Literatur mit all den von ihr ersonnenen Täuschungsmanövern für seine Sache einzuspannen. Thackeray, Beckett und Joyce sind seine Kronzeugen. Mit ihrer Hilfe, meint Iser, ließe sich zeigen, wie sehr gerade die Literatur selbst „[...] jede repräsentative Bedeutung [ Jtilgt [...]" und den „[...] zur Reflexion angestoßenefn] Leser in ein Verhältnis zu seinen Vorstellungen f...]" 39 bringt - wobei das Gewicht hier ganz auf dem Pronomen liegt. Es sind seine Vorstellungen, die des Lesers, mit denen der Rezipient literarischer Texte sich konfrontiert sieht. Nicht die intentio operis, geschweige denn eine intentio auctoris leitet den Leser. Denn auch diese, so Iser, haben ihren Ort lediglich „[...] in der Einbildungskraft des Lesers". 40 Mehr noch: „Indem der literarische Text seine Realität nicht in der Welt der Objekte, sondern in der Einbildungskraft seiner Leser besitzt, gewinnt er einen Vorzug vor allen Texten, die eine Aussage über Bedeutung oder Wahrheit machen wollen; kurz, über jene, die apophantischen Charakter haben." 41 Doch trotz dieser durchaus überzeugenden Argumente gibt es nichts an ihnen, was den Schluss auf einen pluralistischen Standpunkt unausweichlich macht. Im Gegenteil, der bestimmende Topos des Pluralismus - das Bild der unterschiedlichen Blickwinkel, unter denen ein Gegenstand beobachtet werden kann - macht offenbar nur dann Sinn, wenn es einen Raum gibt, der Perspektiven und Gegenstand einschließt. Aber die Präsupposition dieses gemeinsamen Raumes widerlegt die (im Topos enthaltene) These von den unterschiedlichen Standpunkten. Das ahnt natürlich auch Iser. Er muss deshalb, ob er will oder nicht, seinen Lesern eine wie auch immer ungefähre und implizite, so doch konkrete Vorstellung von diesem gemeinsamen Raum vermitteln, er muss ihn ausmalen. Und das Bild, das dabei zum Vorschein kommt, ist wiederum das Bild eines Bewusstseins, diesmal aber eines Bewusstseins, das sowohl transzendentale Züge trägt - es ist der gemeinsame Raum - als auch empi-

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Vgl. Iser (1970), S. 28. Das wirkungsästhetische Konzept, den Leser als ein Moment des Textes, als impliziten Leser also, auszuweisen, dient, wie hier vielleicht schon deutlich wird, ganz eminent dem Votum für einen solchen literaturtheoretischen Pluralismus. Iser (1970), S. 30. Iser (1970), S. 33. Vgl. Iser (1970), S. 33f.

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risch gegenständliche. Es muss diese beiden Seiten in sich vereinigen, weil es ja das Bewusstsein des Lesers sein soll, aber eben nicht - das ist ganz so wie bei Ingarden - das Bewusstsein eines einzelnen, sondern eines jeden Lesers. Dieses Leserbewusstsein, das kein empirisches Einzelbewusstsein einer bestimmten Person, sondern das Bild eines Literaturtheoretikers von den empirischen und begrifflichen Vorgängen im Bewusstsein einer jeden Person ist, differenziert den Text in Protentionen und Retentionen, Erwartungen und Erinnerungen. Dabei wird es permanent von einem Strom aus Eindrücken durchzogen, in dessen Verlauf aus Wahrnehmungen Vorstellungen erzeugt werden.42 Das Isersche Bild des Bewusstseins ist also das Bild eines lebendigen, eines erlebenden Bewusstseins. Es hat, wie man auch sagen kann, Geschehenscharakter.43 Aber das Geschehen als solches ist zunächst noch ein ganz und gar sinnliches, anschauliches und kein sinnvolles, begriffliches. Eben deshalb muss das Bewusstsein - irgendeine Instanz in diesem Bewusstsein - Konsistenz bildend eingreifen, das heißt, es muss aus dem bloßen Vorgang des Lesens ästhetische Erfahrungen generieren. Das wiederum bedeutet (mindestens) dreierlei: Zum Ersten dies, dass, nachdem literarische Form in gedanklichen Inhalt - das Geschehen - transformiert wurde, nun dieser Inhalt wiederum in eine neue Form gebracht wird, eben die der ästhetischen Erfahrung. Zum Zweiten bedeutet es aber für diese ästhetische Erfahrung den Vollzug einer Synthesis; die vielen, im Bewusstsein assoziierten Geschehnisse werden in der ästhetischen Erfahrung in die Form des Begriffs gebracht. 44 Aber sie werden deshalb nicht auch notwendigerweise zu etwas Begrifflichem, geschweige denn zu begriffenem Inhalt. Ästhetische Erfahrung gerinnt nicht sofort zu Propositionen. Nur deshalb kann sie, drittens, den Schein eines äußeren Geschehens annehmen - obwohl sie ein inneres Geschehen ist: „[...] wir reagieren im Lesen auf das, was wir selbst hervorgebracht haben, und erst dieser Reaktionsmodus macht es plausibel, weshalb wir den Text wie ein reales Geschehen zu erfahren vermögen".45 Da Bewusstseine, da Leser geneigt sind, auf ein inneres Geschehen wie auf ein äußeres Geschehen zu reagieren, bewirkt Literatur im Akt des Lesens eine Illusionsbildung. Der Leser wird zum Hypnotiseur seiner selbst. Etwas Illusionäres haftet aber

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Vgl. Iser (1975b), S. 260f. Und weil Geschehnisse nicht nur in, sondern, wie wir immerzu unterstellen, auch außerhalb des Bewusstseins, ,in der Welt da draußen' sich ereignen, sind sich innere und äußere Wirklichkeit oft zum Verwechseln ähnlich. Bei Iser heißt das lapidar: „[...] dieses [sc. das Bewusstseinsgeschehen] vermittelt sich in dem Eindruck der Lebensnähe", ders. (1975b), S. 271. Vgl. z.B. Iser (1975b), S. 264, - womit, das sei hier eigens angemerkt, ästhetische Erfahrung von dem Verdacht befreit wird, schlicht unbegrifflich und daher für theoretisches, auch und gerade literaturtheoretisches Denken unzugänglich zu sein. Iser (1975b), S. 267.

43 sogar noch dem Bild des ästhetisch erfahrenden Bewusstseins an. Denn dass die Transformation von gedanklichem Geschehen in ästhetische Erfahrung nach Maßgabe von Synthesis, als Integration einer Vielheit in eine Einheit geschieht, bleibt einseitiges, methodisch willkürliches Denken, dem gerade Isers kongeniale Interpretation einer Moderne entgegensteht, die eine in ihren Unbestimmtheitsgraden ständig wachsende Literatur hervorbringt. Gerade die Literatur legt es nahe, literarische Erfahrung als Differenzerfahrung zu konzipieren und die Transformation von gedanklichem Inhalt in begriffliche Form analytisch, also als Auflösung einer Einheit in die Vielheit zu verstehen. Was das heißt? Es heißt, sich daran zu erinnern, dass ästhetische Erfahrung in der Moderne ihr Bestimmtes vielfach in den gedanklichen Inhalten, aber eben nicht in der begrifflichen Form hat und daher, wie Negativitätsästhetiken nicht müde werden zu betonen, nur noch als Verstörung sich bemerkbar macht, nicht mehr als etwas, das verstanden werden kann. Dies jedoch ahnt auch Wolfgang Iser. Das zeigen Sätze wie: „Die Polysemie des Textes und die Illusionsbildung der Lektüre sind im Prinzip gegenläufige Bewegungen", 46 auf die man eigentlich nur erwidern möchte: Genau so ist es! Das Bewusstsein verlangt nach Synthesis; aber die Kunst gewährt sie ihm nicht. Denn Kunst als Kunst, Dichtung als Dichtung zu erfahren heißt ja, die Unmittelbarkeit dieser Erfahrung zu transzendieren, eben nicht nur zu lesen, was dasteht, sondern auf das Gelesene zu reflektieren. Gerade diese Reflexivität des ästhetisch erfahrenden Bewusstseins verhindert nun, dass Form und Inhalt innerhalb des Bewusstseins zur Deckung gelangen. Ich will versuchen, etwas deutlicher zu werden: Wer liest, der liest die Gedanken eines anderen. Daraus folgt: „[...] in der Lektüre [...] wird der Leser das Subjekt dieser Gedanken". 47 Der Leser macht also sein Bewusstsein zum Medium eines anderen Bewusstseins, nämlich zu dem des Autorbewusstseins. Es sind - bestenfalls - dieselben Gedanken, die Leser und Autor denken. Aber der Leser denkt sie als ein anderer. Und insofern dieses Denken-als gerade im Falle der Poesie für den Gehalt der Gedanken wichtig ist, weil die Poesie es eben nicht allein mit propositionalen Gehalten zu tun hat, führt die einfache Überlegung, dass der Leser die Gedanken des Autors denkt, zu einer gewichtigen Frage, nämlich derjenigen nach dem Medium, das Autor und Leser miteinander vermittelt. Damit der Leser demnach zum Medium des Autorbewusstseins werden kann, muss es erst einmal ein weiteres Medium geben, das beide, Leser und Autor, miteinander vermittelt. Wie wenig sich auch immer über dieses (zweite) Medium sagen lässt, eines ist gewiss: Es kann nicht von ganz anderer Art sein als dasjenige, was es vermitteln

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Iser (1975b), S. 265. Iser (1975b), S. 272.

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soll, nämlich Autor- und Leserbewusstsein. Was immer dieses Medium sein mag, es muss aus demselben Stoff sein wie Bewusstsein. Geht man nun, traditionell zwar, aber doch naheliegenderweise davon aus, dass das Werk oder der Text zwischen Autor- und Leserbewusstseinen vermittelt, so folgt daraus, dass ein Werk oder Text selbst den Charakter des Bewusstseins an sich haben muss. Aber was heißt das nun wiederum? Zunächst einmal, und das ist nicht wenig, dass Werke oder Texte als Medien mehr als nur materielle Objekte sind. Doch inwiefern kann man behaupten, sie seien von derselben Art wie Bewusstsein? Insofern, als man wie Iser das Bewusstsein dem Text oder Werk selbst einschreibt - nicht als gedanklicher Inhalt, nicht als Erlebnisqualität, denn die kann nur ein empirisches Bewusstsein haben, sondern als Form. Diese Form firmiert bei Iser unter dem bekannten Namen des impliziten Lesers. Der implizite Leser, das Analogon zu Wayne C. Booths implizitem Autor, markiert bei Iser die Präsenz des Bewusstseins im Medium des Textes - aber eben als Form. Als dem Text eingeschriebene Leserrolle 48 lenkt sie nicht nur die Rezeption eines bestimmten, sondern, das macht ihre Transzendentalität aus, eines jeden realen Leserbewusstseins. Zusammen mit ihrem Äquivalent, dem impliziten Autor, soll sie dafür einstehen, dass der empirische Leser wirklich die Gedanken des Autors denkt und nicht nur seine eigenen. Wenn aber der implizite Leser die dem gedanklichen Inhalt des empirischen Lesers korrespondierende Form ist und der implizite Autor der literarischen Form entspricht, dann handelt es sich bei einem in Begriffen des Bewusstseins beschriebenen Text oder, wie man auch sagen kann, bei dem als Bewusstsein konzipierten Medium des Werks um ein gespaltenes Bewusstsein. Die Unterscheidung von literarischer Form und gedanklichem Inhalt wird, darauf möchte ich hinaus, durch den Dualismus von implizitem Autor und Leser nicht aufgehoben, sondern reproduziert. Der literarische Text als Form des Bewusstseins zeigt daher im Grunde nur eines, dass es sich nämlich um ein gespaltenes Bewusstsein handelt - oder, dass das Bewusstsein gerade nicht der Raum (und ich könnte hier auch sagen: nicht der Topos) sein kann, der alle Perspektiven in sich vereint. Das heißt, Isers wirkungsästhetisches Bewusstsein bleibt ein heillos gespaltenes, ein dissoziiertes Bewusstsein. Doch bleibt zu fragen: Wird Bewusstsein hier richtig verstanden? Ist Isers Begriff des Bewusstseins oder, genauer: sein Verständnis des Textmediums als Bewusstsein hinreichend? - Nun, das ist es, weil es nur in der Lage ist, Bewusstsein im Modus von Differenz und Unterschiedenheit zu begreifen,

48

Vgl. Iser (1994b), S. 92.

45 während es doch ständig die Transzendentalität und Identität des Begriffes (die Einheit der Perspektiven) beanspruchen muss, offenbar nicht. Aber warum nicht? Vor allem deshalb, weil der Wirkungsästhetik die Tendenz des Bewusstseins zu Metapher und Reflexivität in die Quere kommt. Die metaphorische Tendenz des Bewusstsein zeigt sich in seiner Wandlungsfähigkeit. Mal tritt es in Gestalt der Unterscheidung von Intelligiblem und Empirischem, Begrifflichem und Anschaulichem oder Schema und Inhalt auf, mal als Einheit von literarischer Form und gedanklichem Inhalt, Textstruktur und Lesevorgang. In dieser letztgenannten Gestalt beansprucht die Wirkungsästhetik das Bewusstsein. Dabei personifiziert sie es. Hinter der Textstruktur steht ja ein empirischer Autor, hinter dem Vorgang des Lesens ein wirklicher Leser. Doch da die Literaturtheorie als Theorie (die hier nicht mit ihrer Umsetzung in der Praxis verwechselt werden darf!) mittels nicht-emprischer Verfahren Wissen zu generieren versucht und daher der empirische Leser sowie der empirische Autor keine ihrer Gegenstände sein können, macht sie aus beiden in der Literatur wiederkehrende, eben implizite Formen. Aber diese Formen sind nichts als Metaphern. Das wäre auch nicht weiter schlimm, dann nämlich, wenn sich diese metaphorischen Unterscheidungen wechselseitig bestimmen und via Reflexion zu einer begrifflichen Allegorie zusammenschließen würden. Aber genau das ist bei Iser nicht der Fall. Denn einmal bei der literarischen Reflexion von empirischem Autor und Leser, einmal bei deren metaphorischen Platzhaltern im literarischen Werk angelangt, müsste sich irgendwann einmal die Einheit in der Unterschiedenheit, die Vermittlung im Medium - also Verstehen ereignen. Doch genau dafür, für diesen Endpunkt im Prozess der Reflexion (der methodisch immerzu vorausgesetzt wird) ist in der wirkungsästhetischen Literaturtheorie (und, wie sich noch zeigen wird, nicht nur da) kein Ort. Noch einmal Wolfgang Iser: „Hebt das Lesen die für die Wahrnehmung und für die Erkenntnis konstitutive Subjekt-Objekt-Spaltung auf, so erfolgt dadurch zugleich eine ,Besetzung' des Lesers durch die Gedanken des Autors, die ihrerseits zur Bedingung für eine neue .Grenzziehung' werden. Nun stehen sich Text und Leser nicht mehr wie Objekt und Subjekt gegenüber; vielmehr ereignet sich diese .Spaltung' im Leser selbst. Denkt er die Gedanken eines anderen, dann springt er temporär aus seinen individuellen Dispositionen heraus, denn er macht etwas zum Thema seiner Beschäftigung, das bisher nicht - wenigstens nicht in dieser Form - in seinem Horizont lag." 49 Nicht einmal der empirische Leser, gelangt er überhaupt in den Fokus der Theorie, könnte, vom Standpunkt der Iserschen Theorie aus betrachtet, jemals bei sich sein. Auch er erführe nur immerzu die Differenz von Gemeintem und Gesagtem, These und Antithese, Sinn und Gegensinn.

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Iser (1975b), S. 273.

46 Weit und breit also kein transzendentales Bewusstsein, kein Raum, der die Perspektiven vereint, nichts, was in der Lage wäre, literarische Form und gedanklichen Inhalt zu vermitteln; alles, was bleibt, sind zwei in sich dissoziierte Bewusstseine, das des Werks und das des Lesers.

Rezeptionsästhetik (Hans Robert Jauß) Doch das ist natürlich noch lange nicht, nicht einmal, was die Konstanzer Schule anbelangt, der Weisheit letzter Schluss. Denn die Rezeptionsästhetik, allem voran ihr profiliertester Vertreter, Hans Robert Jauß, war angetreten, genau diesen Makel der Iserschen Wirkungsästhetik, die das Eine nicht denken konnte, sondern nur immerzu voraussetzen musste, zu beseitigen. Seine Antipathie gegen formalistische und strukturalistische Werk- und Darstellungsästhetiken führte ihn, man muss sagen: noch entschiedener als Iser auf die Notwendigkeit, den Leser als das Eine und Einzige zu konzipieren, auf das es bei der Kommunion von literarischer Form und gedanklichem Inhalt ankommt. Denn es sind Leser, die nicht nur für den Gehalt, sondern auch für die Gestalt der Werke verantwortlich sind, und zwar dann, wenn sie zu Autoren werden. Mit diesem einfachen Gedanken schließt Jauß den Kreis von Produktion, Werk und Rezeption. Mit einem Mal gelangt die literarische Kommunikation in den Blick, darüber hinaus aber auch die Frage nach dem Movens der literarischen Evolution. Rezeption ist für Jauß demnach nicht nur ein bestimmtes, sondern das die literarische Evolution und damit auch das die Produktion sowie die Werke selbst bestimmende Geschehen. Dieses Bestimmende im Begriff der Rezeption selbst zur Geltung zu bringen erfordert ein Um- und Weiterschreiben der Tradition. Diese hatte Rezeption allein als ein passives, empfangendes und einen bereits gegebenen Sinn verarbeitendes Geschehen verstanden - und eben nicht als ein Tun, ein Handeln, eine Aktivität. Doch Jauß sieht sich, ob zu Recht oder Unrecht, das sei hier dahingestellt, als Vollender einer Begriffsgeschichte, die sich eben der Korrektur dieses, ihres Vorverständnisses verschrieben hat, indem sie, je länger sie dauerte, umso unmissverständlicher das Aktive und Performative der Rezeption zutage förderte.50 Der Gedanke „produktiver Rezeption"51 ist denn auch der Leitgedanke, mit dem seine Literaturtheorie die Irrtümer ihrer Vorgeschichte zu korrigieren

50 51

Vgl. Jauß (1987). Jauß (1987), S. 9.

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und die ihr voraufliegenden Dualismen beseitigen möchte. Entgegen dem Anschein, dass sie mit der Rezeption nur ein Moment des Literarischen, ein wichtiges zwar, aber eben doch nur eines unter vielen, bedenkt, erhebt die Rezeptionsästhetik ihrem Namen zum Trotz durchaus Anspruch auf das Ganze der Literatur. Dieses Hegemoniebestreben ließ sich jedoch nur unter einer Bedingung verfolgen: Das Verständnis des Bewusstseins musste, um nicht immer wieder aufs Neue den Aporien des Selbstbewusstseins zu verfallen, überdacht und schließlich revidiert werden. Dieser Wandel im Verständnis des Bewusstseinsbegriffs hatte - nach Jauß - dann eine Befreiung des Begriffs von seinen cartesischen Ursprüngen zur Folge, namentlich die Befreiung von der für die Dialektik des Selbstbewusstseins verantwortlichen Metaphorik des Beobachtens oder Vorstellens von Gegenständen. Aber so weit hat sich Jauß nicht vorgewagt. Gleichwohl geht er einen entscheidenden Schritt in diese Richtung, indem er nämlich Bewusstsein ganz wesentlich über das Moment der Erfahrung, was in seinem Fall heißt: der ästhetischen Erfahrung bestimmt und damit an einen Vollzug koppelt, in dessen Verlauf sich Erfahrenes (Beobachtetes) und Erfahrender (Beobachter) kaum je trennscharf auseinanderhalten lassen. Komplementär zu dieser wesentlich rückwärts, der Vergangenheit zugewandten Perspektive entwickelt Jauß im Begriff des Erwartungshorizonts nun aber auch die wesentlich auf Zukünftiges gerichtete Seite eines Bewusstseins, das im Abgleich von Erfahrungen und Erwartungen zugleich ein urteilendes, ein literarisch wertendes Bewusstsein ist. Bis hierhin folgt er bei seiner Neubeschreibung des Bewusstseins aber noch durchaus traditionellen, von Descartes vermessenen, von Husserl, und Ingarden für die Literaturtheorie begehbar gemachten Pfaden. Wirklich neue Wege verfolgt er aber, wo er das cartesisch-phänomenologische Bewusstsein in ein historisches, genauer, in ein literarhistorisches Bewusstsein verwandelt. - Doch der Reihe nach. Das rezeptionsästhetische Bewusstsein ist, wie bislang deutlich geworden sein mag, als erfahrendes, erwartendes, wertendes und sich gegen die Vergänglichkeit behauptendes ein ganz eminent aktives Bewusstsein. Doch seine für die Begründung der Literaturtheorie zentrale Eigenschaft besteht in seiner Fähigkeit, ästhetische Erfahrungen zu machen. Und der ästhetischen Erfahrung kommt im Begründungszusammenhang der Rezeptionsästhetik eben die Position zu, die Ingardens Phänomenologie einem transzendentalen Beobachter vorbehalten wollte und Isers Wirkungsästhetik zwar noch beanspruchen muss, aber nicht mehr besetzen kann. 52 Zu dieser Aufwertung der

52

Wolfgang Iser hat allerdings dieses, im Vergleich zur Rezeptionsästhetik sehr deutlich

48 ästhetischen Erfahrung gelangt man, wenn man sich noch einen Schritt weiter, als Wolfgang Iser dies getan hat, vom literarischen Werk entfernt und es nur noch als einen, nicht einmal sonderlich bedeutsamen Teil des literarischen Geschehens versteht, sich also von der notorischen Textversessenheit der meisten (man muss heute sagen: älteren) Literaturtheorien befreit und sich damit vertraut macht, Literatur als einen Kommunikationszusammenhang, als ein diskursives Geschehen zu begreifen. 53 Sobald man dann versucht, dieses Kommunikationsgeschehen in den Griff zu bekommen, wie etwa dann, wenn man seinen historischen Verlauf rekapitulieren möchte, sieht es so aus, als sei alles, worauf es letztlich ankommt, die Tatsache, dass Menschen ästhetische Erfahrungen machen und auf diese Erfahrungen reagieren, so dass dann wiederum andere auf diese Reaktionen reagieren, mit ihnen also wiederum ästhetische Erfahrungen machen können. Tatsächlich ist die Gründung der Literaturtheorie auf den Begriff der Erfahrung der Hegeischen Einsicht geschuldet, selbst „Das Werk gewinne seine substantielle Wahrheit erst für und durch das anschauende Subjekt [...]". 54 Dahinter steht der freilich provozierende Gedanke, dass alles, was es gibt, sogar die literarische Gabe des Werks, nur im Modus der Erfahrung gegeben sei. Das aber kommt einer Zurückweisung, und darin besteht die eigentliche Provokation der rezeptionsästhetisch erzählten Literaturgeschichte, der Unterscheidung von literarischer Form und gedanklichem Inhalt gleich. Die literarischen Formen nämlich müssen gar nicht erst mit den gedanklichen Inhalten vermittelt werden, sie sind es immer schon, nämlich dann, wenn man versteht, dass sie immer schon erfahrungsgesättigt sind. Jauß bringt also allein schon dadurch, dass er auf Erfahrung rekurriert, die ursprünglich Kantische Einsicht zur Geltung, dass es Wissen, erst recht Erfahrungswissen nur geben kann, wenn sinnliche Rezeptivität und begriffliche (oder sprachliche) Aktivität wechselseitig voneinander abhängig sind. Die Eindrücke der literarischen Form im Bewusstsein des Rezipienten verfügen also bereits über gedanklichen Inhalt, der, was immer er genau sein mag, in jedem Fall mehr ist als lediglich eine Zutat des Rezipientenbewusstseins. Damit fungiert dann das Werk oder der Text auch nicht mehr als eine gegebene, vom Bewusstsein unabhängige Instanz, mit deren Hilfe man über die Wahrheit einer Interpretation zu entscheiden vermag.

werdende Defizit dadurch zu kompensieren versucht, dass er das Imaginäre als eine der literarästhetischen Erfahrung komplementäre Dimension der Literatur erschlossen hat, wenngleich er sich damit weit von seinen wirkungsästhetischen Anfängen entfernte (vgl. ders., 1993). 53 54

Vgl. Jauß (1987), S. 5. Jauß (1987), S. 21.

49 Obwohl Jauß so weit nicht geht, kündigt sich bei ihm bereits die durch den Primat der Erfahrung initiierte Auflösung der Trias von Autor, Werk und Rezipient an. Denn wenn zuletzt das ganze literarische Geschehen auf Erfahrung, sei sie begrifflicher, sinnlicher oder ästhetischer Natur, zurückgeführt werden kann (und .zurückführen' heißt hier nichts anderes als ,in dieser Erfahrung seinen Grund haben'), dann ist nicht nur das Lesen, sondern auch das Schreiben eine Art und Weise des Erfahrungmachens. Doch die Frage bleibt natürlich: Woher kommt der den literarischen Formen immanente gedankliche Gehalt? Und woher kommen diese Formen? Mit anderen Worten: Was an der Erfahrung ist es, das ihr Inhalt und Form verleiht? Wer auf diese Fragen eine Antwort finden möchte, der muss sich vor Augen führen, dass Jauß von ,Erfahrung' nur in einem ganz bestimmten Sinne spricht. Es geht - das ist klar, aber dennoch bedenkenswert! - nicht um sinnliche Erfahrung, auch nicht um jenes alltägliche Verständnis von Erfahrung, dem zufolge ein meist kontingentes äußeres Ereignis eine Korrektur unseres Wissens herbeiführt, sondern es geht - eben darin liegt die bedenkenswerte Selbstverständlichkeit - um ästhetische Erfahrung. Jauß erweckt zwar den Eindruck, als erzähle er in Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik deren Geschichte, aber was tatsächlich passiert (und gemäß rezeptionsästhetischer Lehre auch passieren muss), ist nichts anderes als in Hegels ursprünglich Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins betitelten Phänomenologie des Geistes: In beiden Werken, bei Hegel wie bei Jauß, wird der Eindruck erweckt, als beziehe sich ihr Verfasser letztlich auf unseren, mehr oder weniger natürlichen, mehr oder weniger alltäglichen Erfahrungsgebrauch. Tatsächlich handelt es sich aber jeweils um eine durchaus tendenziöse Schilderung philosophischer oder literarästhetischer Erfahrung, die deshalb so schwer zu widerlegen ist, weil man sie gerade nicht durch Abgleich mit der eigenen Erfahrung kritisieren kann. 55 So wie es sich bei Hegel um eine durch die „Umkehrung des Bewußtseins",56 also durch eine dialektische Bewegung bestimmte Erfahrung des absoluten Geistes handelt, die ihren Maßstab immer wieder in der Gegenwart eines Zukünftigen hat, handelt es sich bei Jauß um eine allgemeine, überindividuelle und insofern noch cartesisch unkörperliche Erfahrung eines, nun aber nicht absoluten, sondern eben historischen Bewusstseins, das seinen Maßstab an der Gegenwärtigkeit eines Vergangenen hat.

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Bei Hegel sticht natürlich aufgrund der zeitlichen Distanz das Tendenziöse und eben Literarische seiner .Beschreibung' deutlicher ins Auge, spätestens seit Robert Menasses Phänomenologie der Entgeisterung (ders. 1995). Hegel (1986b), S. 79, Hervorheb. ebd.

50 Wodurch aber zeichnet sich diese nicht-natürliche Art der Erfahrung - oder, was genau macht nun eigentlich den rezeptionsästhetischen Begriff der Erfahrung aus? Nun, die ästhetische Erfahrung hat bei Jauß drei Charakteristika, die sie von allen anderen Arten der Erfahrung unterscheiden: Aisthesis, Katharsis und Poiesis. Aisthesis meint die rezeptive Seite der Erfahrung, dieses, dass das Bewusstsein, wenn es ästhetisch Erfahrungen macht, Dinge sieht, die es so noch nie gesehen hat. Katharsis hingegen steht für die kommunikative Seite der Erfahrung, dafür, dass der Erfahrende ein distanzierter Beobachter zu sein vermag, wie etwa beim Erhabenen, aber auch in der Lage ist, seine Rollendistanz aufzugeben, etwa bei der wie auch immer spielerischen Identifikation mit dem Protagonisten einer Erzählung. 57 Die für die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen eines für das historische Bewusstsein apriorischen Zusammenhangs von literarischer Form und gedanklichem Gehalt aufschlussreichste Eigenschaft des ästhetisch erfahrenden Bewusstseins ist aber selbstverständlich die Poiesis. Denn sowohl die Kommunikativität der Katharsis als auch die Rezeptivität der Aisthesis setzen das Ineins von literarischer Form und gedanklichem Gehalt immer schon voraus. Von dieser Poiesis heißt es bei Jauß nun, sie bestehe „[...] für das produzierende Bewußtsein", und das muss dann nicht unbedingt ein Autor, sondern kann ebenso ein Leser sein, „im Hervorbringen von Welt als seinem eigenen Werk [...]". 58 Doch das gilt eigentlich für jede Art praktischen Tuns. Jauß begreift daher gut aristotelisch die Poiesis als einen Fall der Praxis. Sie zeichnet sich gegenüber den anderen Arten der Praxis dadurch aus, dass sie ihren Vollzug allein an internen Maßstäben ausrichtet und nicht etwa nach Maßgabe einer von anderen gegeben Anweisung (wie, das ist das Beispiel, ein Sklavenarbeiter) vollzieht. Im Unterschied zum sittlichen Wissen der Phronesis oder dem theoretischen der Episteme enthält sie ein praktisches Wissen, Techne. Dieses Wissen, das in die Poiesis eingeht und dem sie sich allererst verdankt, ist ein Können - also nicht ein Wissen, dass etwas der Fall ist, sondern wie etwas zu geschehen hat. 59 Mit dem Rückgriff auf dieses Wissen - wie gibt Jauß nun ein Beispiel für ein Wissen, das sich nicht vollständig analysieren lässt, in dem Form und Inhalt unmittelbar eins sind. Ein Bildhauer vermag nur

57 58 59

Vgl. Jauß (1977), S. 32 u. 62f. Jauß (1977), S. 63. Vgl. Jauß (1977), S. 77ff. Als Belegstelle dafür, dass es sich durchaus auch beim Können um ein Wissen, ja bisweilen sogar um Weisheit handelt, zitiert Jauß Aristoteles. „Das Lob der Weisheit (sophia) spenden wir im Bereiche des praktischen Könnens den vollendeten Meistern, z.B. dem Phidias als Bildner in Stein, dem Polyklet als Bildner in Erz. Dabei meinen wir mit .Weisheit' nichts anderes als die Vollendetheit ihres Können[s]." Nikomachische Ethik, 1141, zit. nach Jauß (1977), S. 78.

51 einen Teil seines Wissens explizit zu vermitteln; ob seine Schüler sich dieses Wissen angeeignet haben, zeigt sich nicht in ihren Erklärungen, sondern in ihren Werken. Die Nichtexplizierbarkeit eines Teils dieses Wissens hat eben darin ihren Grund, dass sein Inhalt von der Form seiner Ausführung nicht zu trennen ist! Man kann es nur zeigen, nicht sagen; und muss darauf vertrauen, dass der andere sieht, was man sagen möchte. Genau deshalb ist diese Art des Wissens auch ein Beispiel für den epistemisch relevanten Nexus von Form und Inhalt. Aber es ist dann eben doch nur ein Beispiel. Indem Jauß für die alles entscheidende Frage nach dem Grund der Vermittlung von literarischer Form und gedanklichem Inhalt beim Vollzug der ästhetischen Erfahrung ein Beispiel gibt, sagt er lediglich, dass es so etwas wie ein Wissen um die unmittelbare Einheit von Form und Inhalt gibt, und er gibt an, welcher Art dieses Wissen ist (nämlich praktischer Art), er verschweigt jedoch, woraus dieses Wissen resultiert. Macht er also geltend, dass dieses im poietischen Können beanspruchte Wissen kein Wissen aus Nachahmung sein kann, weil sich mit seiner Hilfe etwas realisieren lässt, was bisher noch gar nicht realisiert worden ist, 60 so bleibt er doch die Angabe des Grundes für dieses Wissen schuldig. Wenn er mit Vico behauptet, „es kann nirgends größere Gewißheit [...] geben als da, wo der, der die Dinge schafft, sie auch erzählt", 61 so zeigt Jauß, wie innig die Einheit von „Hervorbringen und Begreifen" 62 mitunter sein kann, aber er erklärt sie nicht, sondern begnügt sich stattdessen mit dem Hinweis auf das schöpferische Subjekt. Das aber kommt einer petitio principii gleich: das Subjekt muss seine eigene Subjektivität begründen; im Kontext der ästhetischen Erfahrung formuliert: die Unterscheidung in literarische Form und gedanklichen Gehalt wird in der ästhetischen Erfahrung aufgehoben, namentlich in deren poietischem Element, doch dasjenige, was sie da aufhebt, das Subjekt, ist selbst nicht weiter analysierbar. Das Unbefriedigende dieser Erklärung führt eine systematische Schwachstelle der Jaußschen Rezeptionsästhetik und ihres Versuchs, Literaturtheorie auf den Begriff der Erfahrung zu gründen, vor Augen: Der Begriff der Erfahrung kann niemals für das Ganze und Gesamte dessen, wovon er Erfahrung sein soll, einstehen; er beansprucht mehr als er erklären kann. Denn der Erfahrende erfährt stets etwas. Wie immer dieses Etwas (Hegel spricht von einem „ersten Ansich") 63 auch durch die Erfahrung und gewiss gerade auch durch das Poietische an ihr verändert, manipuliert, ja sogar entstellt werden mag,

60 61 62 63

Vgl. Jauß (1977), S. 82f. So Vico in der Nuova Scienza, hier zit. nach Jauß (1977), S. 86. Ders. ebd. Hegel (1986b), S. 79.

52 es bleibt doch das Andere der Erfahrung, auf das sie stets angewiesen bleibt und ohne das sie niemals wäre, was sie zu sein beansprucht. Dieses Andere, die literarästhetische Wirklichkeit, der Wolfgang Iser unter dem Namen des Imaginären und Adorno in seiner Asthetische[n] Theorie unter dem des Nicht-Identischen auf der Spur sind, bildet zur literarästhetischen Erfahrung den Komplementärbegriff. Jauß versucht ohne ihn auszukommen, seine Literaturtheorie allein auf Erfahrung zu gründen, ohne letztlich zu sagen, wovon sie Erfahrung ist. Und er glaubt, dieser Versuch habe Aussicht auf Erfolg, weil Erfahrung, die Erfahrung, um die es ihm geht, zeitlich strukturiert, zuletzt eben historische Erfahrung ist. Es ist demnach das historische Bewusstsein, von dem Jauß annimmt, es sei das Bewusstsein, das ästhetische Erfahrungen macht. Ein für die Konzeption des literarästhetisch erfahrenden Bewusstseins als historisches Bewusstsein konstitutives Element ist der Erwartungshorizont. Er vor allem muss die Leerstelle füllen, die die Abwesenheit eines Gegenbegriffs zur Erfahrung im Theoriegebäude der Rezeptionsästhetik hinterlässt. Das heißt, der Erwartungshorizont muss, so gut es eben geht, das Fehlen des der Erfahrung äußerlichen, ihr widerstehenden (für gewöhnlich als ein Gegebenes gedachten) Gegenstands kompensieren. Die eigentliche Funktion dieses Äußeren besteht bei dem, was normalerweise als Erfahrung gilt, darin, dass es den Zweifel bewirkt, der die Erfahrung erst in Gang setzt. Genauer gesagt, das Äußere, das Wirkliche am Gegenstand führt den Erfahrenden zur Negation seiner Vormeinung; er bemerkt, seine Meinung über den Gegenstand stimmt mit diesem nicht überein, ist bloße Meinung, bloßes (Gadamersches) Vorurteil. Damit nun aus dem sich als falsch erweisenden Vorurteil ein Erkenntnisgewinn gezogen und damit im vollen Sinne Erfahrung werden kann, darf das Subjekt nicht in seiner Vormeinung verharren. Genau hierin liegt der kritische Punkt jeder Erfahrung! Es muss deshalb bei der Erfahrung etwas auftreten, das sie über diesen Punkt, über diese Grenze hinausträgt. Wer sich nicht hinaustragen lässt, muss sich mit dem Skeptizismus zufrieden geben (denn Skeptizisten leugnen ja genau diese Möglichkeit eines epistemischen Mehrwerts in der Erfahrung). Wenn nun kein äußeres Gegebenes mehr vorausgesetzt wird - und in dem Beharrungsvermögen gegenüber solch fundamentalistischen Fundierungsversuchungen besteht ein immenser Fortschritt des rezeptionsästhetischen Theoriedesigns - , dann muss etwas anderes dessen korrigierende und den Verlauf der Erfahrung regulierende Funktion übernehmen. Die rezeptionsästhetische Lösung dieses Problems - wenn sie denn eine ist - vermag dabei ihre idealistischen Wurzeln nicht ganz zu leugnen. Denn bereits Hegels Phänomenologie des Geistes machte ja geltend, dass man, um das Defizit der Vormeinung überhaupt bemerken zu können, bereits über einen Begriff verfügen müsse, an dem die Vormeinung gemessen werden

53 könne. 64 Der Begriff ist bei Hegel also nichts Äußeres, sondern bereits jener Maßstab eines Zukünftigen, den der Erfahrende immer schon in Anschlag bringen muss, um über jenen kritischen Punkt hinausgetragen und damit vor dem Skeptizismus bewahrt zu werden. Eben diese Funktion, die bei Hegel dem Begriff zukommt, übernimmt bei Jauß nicht, wie sich gleich zeigen wird, allein, aber zu einem überwiegenden Teil der Erwartungshorizont. Dadurch, dass der literarästhetisch Erfahrende über einen Erwartungshorizont verfügt, hat er nämlich einen Maßstab, an dem er seine Erfahrung messen kann. Ja, wenn es etwas gibt, das der Erfahrung vorausgeht, dann ist das der Erwartungshorizont. Aber woraus besteht dieser Horizont? Aus dem Vorwissen, über das der Erfahrende verfügt, also aus den Erfahrungen, die er in der Vergangenheit gemacht hat! Diese vergangenen Erfahrungen bilden Erwartungen aus, z.B. bezüglich der ästhetisch dargestellten Welt, der Art und Weise, wie Literatur sich auf diese Welt bezieht oder im Hinblick auf die Einhaltung gattungsspezifischer Normen. 65 Damit umfasst der Erwartungshorizont mehr als das Einzelbewusstsein. Denn nicht allein der Erfahrende ist für die Ausbildung seiner Erwartungen verantwortlich. Der Erwartungshorizont zeigt sich somit als Element eines transsubjektiven ästhetischen Bewusstseins, das sich zwar im Einzelbewusstsein niederschlägt, aber auch - wie der implizite Leser - an den Texten selbst nachweisbar ist und daher ebenso eine subjektive wie objektive und objektivierbare Komponente enthält. Literarästhetische Erfahrung entsteht dann in der Vermittlung von subjektivem und objektivem Erwartungshorizont. Texte evozieren bei ihren Lesern Erwartungen und destruieren sie wieder; Leser zweifeln an dem Sinn von Sein, Literatur suggeriert ihnen eben diesen Sinn. Entscheidend für den Fortgang und die Überwindung des skeptizistischen Punktes im Prozess der Erfahrung ist nun diese Dialektik von objektiv tradierten und subjektiv gegenwärtigen Erwartungshorizonten, die, so sie der regulativen Idee einer Synthesis, einer Horizontverschmelzung folgen, einen gemeinsamen intersubjektiven Erwartungshorizont ausbilden, dessen historischer Wandel eben das ist, was Jauß unter ,Rezeptionsgeschichte' versteht. 66 Doch diese historische Dialektik der ästhetischen Erfahrung wird noch nicht hinreichend verstanden, solange man nur deren retrospektives Moment in Rechnung stellt. Mit anderen Worten, der Maßstab des Erwartungshorizontes ist im Falle der gewöhnlichen Erfahrung durch ein Vergangenes geprägt, dadurch, dass sich Vergangenheit wiederholt. Den ästhetischen Erwartungshorizont zeichnet jedoch ein negatives Moment aus, ein Moment, das den

64 65 66

Hegel (1986b), S . 7 7 f f . Vgl. Jauß (1970), S. 173ff. Vgl. Jauß (1970), S. 183 u. 186.

54 Fortgang der dialektischen Bewegung in der Geschichte, also die Überwindung des skeptizistischen Punktes garantiert und im Falle der Kunst zugleich den Maßstab ihrer ästhetischen Qualität abgibt. Jauß macht nämlich für die ästhetische Erfahrung geltend, dass sie gerade keine wiederholende Erfahrung sei. Innovation, nicht Reproduktion, Abweichung von bestehenden Lesererwartungen, nicht deren Erfüllung bildet für Jauß den Maßstab ästhetischer Wertung. Denn nur durch Verfremdung, Irritation, Schock schreibt sich Rezeptionsgeschichte als Erfahrungsgeschichte fort. Nur so geht Erfahrung Uber passive Rezeptivität hinaus, nur so kann sie mehr sein als Nachahmung oder Wiederholung. Erst die Distanz des Ästhetischen zum Realen sichert der ästhetischen Erfahrung ihre epistemische Qualität, macht aus dem ästhetischen oder poetischen ein erkennendes Bewusstsein. Damit ist die Aufgabe bezeichnet, die Jauß der Literatur zuspricht, ebenso wie das Maß, an dem sie gemessen werden soll. Die Literatur hat neue Perspektiven bereitzustellen, sie soll die Welt erscheinen lassen, wie sie niemals zuvor erschienen ist. Literarästhetische Erfahrung scheint damit immer auf die Erfahrung eines Neuen verpflichtet, ja, sie scheint keinen größeren Feind zu haben als das Alte, die Wiederholung. Mit anderen Worten, die literarästhetische Erfahrung ist der Überschreitung des skeptizistischen Punktes verpflichtet, und sie verpflichtet die Werke darauf. Rezeptionsästhetischer Logik entsprechend können diese denn auch gar nicht anders, als dieser Vorgabe des erfahrungssüchtigen historischen Bewusstseins nachzukommen. Denn eben das schien der von Jorge Luis Borges erdachte moderne Autor des Quijote, Pierre Menard, ja bewiesen zu haben: Eine Nachdichtung des Quijote, die sich mit keinem Buchstaben von ihrem historischen Original unterscheidet, ist mehr als die Wiederholung des alten, nämlich ein neues Werk. 67 Jauß, klug genug, dieses poetische Experiment für seine Zwecke nutzbar zu machen, wähnt denn auch die Rezeptionsästhetik auf der Höhe ihrer Zeit. Wenn das Menard-Beispiel etwas zeigt, dann doch wohl zweierlei. Zum Ersten, dass Wiederholung gar nicht möglich ist; zum Zweiten, dass die Literatur der Moderne genau darum weiß: derselbe Text noch einmal ist derselbe Text nur insofern, als man unter Text die Verteilung der Druckerschwärze auf dem Papier versteht. Sobald der Textbegriff aber mehr als die reine Materialität umfasst, sobald Bewusstsein und Erfahrung ins Spiel kommen, wird Wiederholung unmöglich. Jauß sieht sich nun, wie sollte es anders sein, von der Dichtung in der These bestätigt, dass das textuelle Sein vom Rezipientenbewusstsein abhängt. Die Dichtung, so scheint es, kann demzufolge gar nicht anders, als sich in das rezeptionsästhetische Maß, das das erfahrende Bewusstsein für sie vorsieht,

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Vgl. hierzu u. zum Folgenden: Borges (1994) sowie Jauß (1987), S. 30ff.

55 zu fügen. Doch, was wie eine Bestätigung des rezeptionsästhetischen Primats des Bewusstseins aussieht, verkehrt sich ins Gegenteil, sobald man die Pointe der Menard-Erzählung verstanden hat: Pierre Menards Nachdichtung des Don Quijote ist zwar ein neues Werk, aber kein bedeutendes. Es ist keines, das auch nur entfernte Chancen darauf hätte, kanonisch oder gar überhaupt gedruckt zu werden. Natürlich, so würde Jauß hier argumentieren, Aussichten darauf hätte es eben deshalb nicht, weil die Rezipienten von der Literatur eben das verlangen, was auch der Theoretiker von ihr fordert, Innovation. Aber mit einer solchen Argumentation würde sich die Rezeptionsästhetik nur darüber hinwegtäuschen, dass es ihr zwar gelingt, die Forderung zu beschreiben, die zu erfüllen die Leser der Moderne der Literatur abverlangen, aber nicht, wie die Literatur sie erfüllt. Dass Menard ein neues Werk geschrieben hat, liegt allein an den historisch sich wandelnden Kontexten, die das literarästhetisch erfahrende Bewusstsein in seine Rezeption des Textes einbezieht; dass er jedoch kein bedeutendes Werk geschrieben hat zeigt, wie defizitär der Rekurs auf den historischen Wandel der Kontexte ist. Die Geschichte allein vermag sehr wohl neue Werke hervorzubringen, aber offensichtlich keine gute Literatur. Wenn aber, wie schon Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte zu bedenken gab, Revolutionen „[...] ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen [,..]" 68 dürften, weil sie sonst Gefahr liefen, die Tragödie des Originals als Farce zu reproduzieren, dann zeigt das, für die Erklärung des Neuen gibt es keinen größeren Feind als die mit neuem Anstrich versehene Reproduktion des Alten. Wenn Marx daher schreibt, „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden", 69 so gilt das auch für die ästhetische Erfahrung. Als Erfahrung eines Vergangenen kommt sie über die Vergangenheit nicht hinaus. Sie bleibt daher bloße Reproduktion, ist keine Erfahrung, die ihren Namen verdient. Dennoch vertraut Jauß auf die innovative, ja bisweilen - jedenfalls für die Geistesgeschichte - revolutionäre Kraft wiederholender Erfahrung. Wie kann das sein? Nun, es kann sein, weil Jauß im Rekurs auf die Vergangenheit ein Telos zu entdecken glaubt, das in die Zukunft weist. Von diesem in der Vergangenheit enthaltenen, aber in die Zukunft weisenden Telos nimmt er (wie Baudelaire, Proust und Freud vor ihm) an, es bestünde in der Aufgabe, „[...] die eine bekannte, vorgewußte und sinnfremd gewordene Welt in ihrer Anfänglichkeit und Bedeutungsfülle wiederherzustellen". 70 Die Erinnerung der verlorenen Zeit, die Resurrektion des Nat-Urzustandes, wie sie dem Naiven

68 69 70

Marx (1966), S. 36. Ders. (1966), S. 34. Jauß (1977), S. 34.

56 gelingt, bringt Erfahrungsgehalte, die verdrängt oder kulturell in Misskredit geraten sind, wieder ins Bewusstsein zurück. Der Prozess der Geschichte erscheint daher als die sukzessive Verdrängung eines vormals Gewussten, die rückgängig zu machen heißt, das Alte wie zum ersten Mal zu sehen. Aber Jauß geht noch einen Schritt weiter. Er will nämlich nicht in den Verdacht geraten, das Neue der ästhetischen Erfahrung gemäß der platonischen Anamnesislehre und damit dann doch als Altes, weil bereits Vorgegebenes zu erinnern. Deshalb gesteht er der ästhetischen Erfahrung im Akt des Erinnerns ein eigenes kreatives, über die Wiederholung des Vergangenen hinausgehendes Potential zu, das „[...] kein anderes Ziel hat als ihre Bewegung selbst [...]". 71 Erst eine so geartete, eigenständige ästhetische Erfahrung vermag aus sich selbst das Telos hervorzubringen, „[...] das die unvollkommene Welt und vergängliche Erfahrung im Werk vollendet und verewigt". 72 Diese heilsgeschichtliche Dimension soll ästhetische Erfahrung in der vom Literaturhistoriker erzählten Rezeptionsgeschichte gewinnen. Erst in ihr erscheint die Wissenschaft von der Literatur selbst als das Telos der Selbstbewusstwerdung historischer Erfahrung. Erst in der Rezeptionsgeschichte, „[...] die nicht [wie die Gadamersche Wirkungsgeschichte] vom Werk und seiner Wahrheit, sondern vom verstehenden Bewußtsein als Subjekt der ästhetischen Erfahrung ausgeht und darum Horizontabhebung im aktiven Sinn (statt Horizontverschmelzung im passiven Sinn) erfordert", 73 wird aus der erinnernden Erzählung eines Vergangenen die Konstruktion eines Neuen. Das Erzählen der Literaturgeschichte als Rezeptionsgeschichte hat es daher weniger mit der Rekonstruktion und „[...] sukzessive[n] Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials [...]" 74 zu tun als vielmehr mit der Erschaffung einer ganz neuen, nämlich einer wissenschaftlichen Form der ästhetischen Erfahrung. Diese Erfahrung beruft sich zwar auf den historischen Leser, aber wie schon Wolfgang Isers impliziter Leser bleibt auch er ein Konstrukt theoretischen Erzählens. Das Bewusstsein, auf das die Rezeptionsästhetik sich gründet, ist daher nicht das historische, sondern ihr eigenes Bewusstsein - oder: das historische als ihr eigenes Bewusstsein. Den historischen Leser, den Gegenstand ihres Bewusstseins benötigt sie als Protagonisten ihrer Erzählung, aber als Synthesis kollektiver Erfahrung ist er alles andere als ein empirischer Leser. Die Rezeptionsgeschichte bildet so am historischen Leser die Vorstellung eines Anderen aus, an dem sie sich ihrer selbst bewusst werden kann. Und sie kreiert mit dem historischen Leser die Vergangenheit ihrer eigenen Gegenwart, also eine zeitliche Dimension, ohne die Erfahrung niemals auskommt. Wie bei Hegels philosophischem Begriff

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Ders. (1977), S. 35. Ders. ebd. Jauß (1987), S. 17. Jauß (1970), S. 186.

57 von Erfahrung und Gadamers Prinzip der Wirkungsgeschichte, das ebenfalls die „Struktur der Erfahrung" 75 hat, kommt auch in der Rezeptionsgeschichte eine Erfahrung zum Vorschein, die von der des empirischen Bewusstseins wohl zu unterscheiden, eben theoretische Erfahrung ist. 76 Der Erfahrende, derjenige, der hierbei wirklich Erfahrungen macht, ist der Literaturhistoriker. Er ist es, der aus sicherer zeitlicher Distanz, die ihn vor allen Irrtümern vergangener Lesergenerationen feien soll, den Erwartungshorizont eben dieser zum Schweigen verurteilten Generationen rekonstruiert, einen Erwartungshorizont, der von einem bestimmten Werk aktualisiert oder destruiert wird. Der Literaturhistoriker stellt also heute die Fragen, auf die der Text einst eine Antwort gab. 77 Aber auch er selbst, der Literaturhistoriker, partizipiert an dieser von ihm erzählten Geschichte. Nicht nur als Autor, der seiner Geschichte Erwartungshorizonte oder die Logik von Frage und Antwort einschreibt, nicht nur als Ausgangs-, sondern auch und vor allem als Endpunkt seiner Erzählung. Auf ihn, auf den Literaturhistoriker schreibt sich die von ihm selbst erzählte Geschichte zu. Er und kein anderer tritt somit als die Inkarnation einer Rezeptionsgeschichte auf, an deren vorläufigem Ende stehend er Benjamins Engel der Geschichte gleicht. Sein Antlitz unablässig der Vergangenheit zugewandt, trägt ihn ein Sturm, der vom Paradiese her weht, unaufhaltsam in die Zukunft. Eine solche Partizipation der Wissenschaft an dem von ihr untersuchten Geschehen aber ist nur möglich, weil alles, was das rezeptionsästhetische Universum enthält, Wirkungen, nicht literarische Wahrheitsgehalte sind. Allein deshalb kann es so aussehen, als sei die Erzählung der Rezeptionsgeschichte von der Art, von der auch ihre Gegenstände, die vergangenen Rezeptionen, sind. 78 Es dürfte diese Äquivalenz des lite-

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Gadamer (1972), S. 329, Hervorheb. ebd. Im Gegensatz zu Müller (1981), S. 122, denke ich, dass eine empirische Überprüfung dieser Form von Erfahrung ebenso ausgeschlossen ist, wie eine empirische Widerlegung der Hegeischen Phänomenologie des Geistes. Eine Rezeptionsgeschichte gewinnt ihre Überzeugungskraft aus Buchstaben (den eigenen wie den überlieferten), nicht aus sinnlicher Wahrnehmung. Vgl. Jauß (1970), S.183ff. Dabei darf man natürlich erwarten, dass sich ein Problem einstellt: Wie soll sich wissenschaftliche Rezeption in eine Rezeptionsgeschichte einschreiben, die sich im Literatursystem oder in der literarischen Öffentlichkeit vollzieht? Gibt es nicht unüberwindbare Gattungsunterschiede zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Rezeption? Oder gleicht deren Verhältnis doch eher dem zwischen Selbstbewusstsein und Bewusstsein? Ich denke, wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Rezeption sind wie Selbstbewusstsein und Bewusstsein vor allem dadurch unterschieden, dass im Falle des jeweils Ersteren das Moment der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Subjektivität noch hinzukommen muss. Ich meine daher auch, dass vor dem Hintergrund eines relativistischen und universalen Historismus, wie ihn Jauß vertritt, Rainer Warnings Forderung, Jauß müsse sich zwischen dem Anspruch auf richtige In-

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rarischen und des wissenschaftlichen Rezeptionsgeschehens sein, die Jauß dazu bewogen haben mag, allen Substantialismen ihr Recht zu verweigern und jede platonistische Präsupposition eines überzeitlichen Textsinns in den Bereich „philologische[r] Metaphysik" 79 zu verbannen. Gerade der Einwand der Rezeptionsästhetik gegen Gadamers Versuch, das Klassische von der Zeitlichkeit des Wirkungsgeschehens als ein unmittelbar Wirkungsmächtiges auszunehmen, zeigt, indem er eben die Relevanz des Historischen auch für das Klassische gewürdigt wissen will, dass die Ablehnung platonisierenden (wie übrigens auch positivistischen) Deutens einen weiteren wichtigeren Grund hat, nämlich das Dogma von der Unhintergehbarkeit des Historischen. Der die rezeptionsästhetische Erzählung allererst ermöglichenden Geschichte fällt bei Jauß die Aufgabe zu, literarische Form und gedanklichen Gehalt bis zur Unkenntlichkeit zu vereinen oder - dies die hermeneutische Metapher: zu verschmelzen. Nun gibt es eine Reihe, unter Kulturwissenschaftlern nicht immer gern gehörter Einwände gegen eine solche Vorrangstellung des Geschichtlichen bei der Begründung einer Wissenschaft. Doch bevor man die Einwände diskutiert, sollte man verstehen, was Jauß dazu bewogen hat, dem Geschichtlichen eine solche instantiierende Funktion zukommen zu lassen. Und das gelingt besser, wenn man zugleich versteht, dass Jauß mit seinem Rückgriff auf den Begriff der Geschichte ein Problem lösen möchte, das vor ihm Produktions- und Darstellungsästhetiker nicht überzeugend in den Griff bekommen haben; die Rede ist von der literarischen Evolution. Jauß aber will - endlich - den Gang der Literarturgeschichte erklären können. Das aber, und darin liegt seine innovative Einsicht, kann man nicht, wenn man sich allein auf das Werk oder allein auf den Produzenten, ja, nicht einmal dann, wenn man sich allein auf den Leser konzentriert, sondern nur, wenn man das „dialogische Verhältnis" 80 von Produzent, Rezipient und Werk berücksichtigt, ein Verhältnis, das selbstverständlich eine zeitliche Dimension hat. Eben das macht für den Literaturhistoriker Jauß Geschichtlichkeit aus. Sie steht für ein hochkomplexes, hochkommunikatives zeitliches Verhältnis, das er mit Hilfe der Logik „[...] von Frage und Antwort, Problem und Lösung [...]" zu erfassen oder als Relation von „Mitteilung und Empfänger" 81 zu beschreiben versucht. Damit nähert sich Jauß zwar dem Komplexitätsniveau an, das nötig ist, um literarischen Wandel zu beschreiben, aber das rechtfertigt noch nicht den

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terpretation und der Gadamerschen Geschichtlichkeit der Verstehens entscheiden (ders., 1975, S. 24) überzogen ist. Vgl. ders. (1970), S. 83. Jauß (1970), S. 171. Jauß (1970), S. 169.

59 entscheidenden Einwand gegen Gadamer, der im Unterschied zu Hegel die Erfahrung vor dem methodischen Anspruch der Wissenschaft gerade zu bewahren suchte, ja, überhaupt bestritt, dass sich Erfahrung dem wissenschaftlich-propositionalen Denken erschließt. Jauß hingegen möchte, darin besteht sein Einwand gegen Gadamer, der Erfahrung (der Literatur) ihren wissenschaftlichen Geltungsanspruch nicht vorenthalten, sondern glaubt vielmehr, dass die historische Erfahrung der Literatur gerade in der Literaturwissenschaft zu sich selbst komme: „Das .Urteil der Jahrhunderte' über ein literarisches Werk", so schreibt er, „ist mehr als nur", und hier zitiert er Wellek, ,„das angesammelte Urteil anderer Leser, Kritiker, Zuschauer und sogar Professoren', nämlich die sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials, das sich dem verstehenden Urteil erschließt, sofem es die .Verschmelzung der Horizonte' in der Begegnung mit der Überlieferung kontrolliert [!] vollzieht." 82 Aus der kontrollierten „Begegnung mit der Überlieferung" soll dabei eine Literarurgeschichte hervorgehen, die den synchronen und diachronen Rezeptionszusammenhang der Werke, darüber hinaus aber auch das Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Evolution offen legt. 83 Indem er nun seine Aufmerksamkeit auf die Geschichtlichkeit des literarischen Kommunikationsprozesses fokussiert, wähnt er sich der Werkästhetik des New Criticism, den substantialistischen Traditionalismen eines Ernst Robert Curtius sowie den subjektidiosynkratischen Strukturalisten überlegen. Denn sie alle, so Jauß, verorten ihren eigenen Beobachterstandpunkt, von dem aus sie Literaturgeschichte erzählen, außerhalb der Geschichte. 84 Diese Geschichtsfeme jedoch und das mit ihr einhergehende Vertrauen darauf, dass der Interpret überhaupt einen Standort außerhalb der Geschichte einnehmen könne, hält er mit Gadamer für eine selbstvergessene und überholte Ideologie der Wissenschaft. 85 Doch so sehr die Rezeptionsästhetik dadurch gewinnt, dass sie in der Beobachtung der Literaturgeschichte selbst einen historischen Standpunkt einnimmt, so sehr verspielt sie dadurch die Möglichkeit einer kontrollierten „Begegnung mit der Überlieferung". Denn gerade die Bindung des Rezeptionsaktes „[...] an den geschichtlichen Augenblick [...], im Bewußtsein, daß dieses Bild eines Werks ,nur heute, nur uns, nur als Augenblick so >erscheint