Literaturgeschichte und Ideologie: Ferdinand Wolfs literaturpolitisches Projekt «Le Brésil littéraire» (1863) 9783110697889, 9783110697797

This study reveals the implications of literary historiography when it is instrumentalized to control how the past is pe

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Literaturgeschichte und Ideologie: Ferdinand Wolfs literaturpolitisches Projekt «Le Brésil littéraire» (1863)
 9783110697889, 9783110697797

Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld
2. Die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire
3. Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung
4. Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes
5. Schluss: Das Scheitern von Wolfs literaturpolitischem Projekt
6. Anhänge
Literaturverzeichnis
Personenregister

Citation preview

Laura Rivas Gagliardi Literaturgeschichte und Ideologie

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt

Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 86

Laura Rivas Gagliardi

Literaturgeschichte und Ideologie

Ferdinand Wolfs literaturpolitisches Projekt Le Brésil littéraire (1863)

ISBN 978-3-11-069779-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069788-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069792-6 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2020939131 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Studie ist die aktuelle Fassung meiner Dissertationsschrift ‹Le Brésil littéraire› (1863) von Ferdinand Wolf: Literaturgeschichte und Ideologie im 19. Jahrhundert, die im Sommersemester 2019 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Das Promotionsverfahren wurde am 19. September erfolgreich abgeschlossen. Mein besonderer Dank gilt meiner Erstgutachterin Prof. Dr. Susanne ZeppZwirner und meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Joachim Küpper, die mein Dissertationsprojekt am Institut für Romanische Philologie mit wertvollen Hinweisen nachhaltig unterstützt und begleitet haben. Von ihrer intellektuellen und akademischen Haltung habe ich viel gelernt. Muito obrigada! Den weiteren TeilnehmerInnen der Promotionskommission danke ich ebenfalls sehr: Prof. Dr. Susanne Klengel, Prof. Dr. Sérgio Costa und Dr. Catarina von Wedemeyer. Ihre kritischen Anmerkungen zu meinem Text habe ich in der vorliegenden Fassung berücksichtigt. Prof. Dr. Ligia Chiappini, die das Manuskript gegengelesen hat, danke ich für die hilfreiche Kommentare. Darüber hinaus gilt mein Dank der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für Literaturwissenschaftliche Studien (FSGS) für das Praedoc-Stipendium von 2015 bis 2016 und das Promotionsstipendium von 2016 bis 2019, sowie für die weiteren Förderungsangebote, die unter anderem meine Forschungsarbeit in Archiven von Brasilien, Deutschland und Österreich ermöglichten. Den MitarbeiterInnen der Geschäftsstelle, den ProfessorInnen und den Mitglieder der FSGS bin ich herzlich dankbar. Auch meine KollegInnen des Arbeitsbereichs von Prof. Dr. Zepp-Zwirner danke ich für die Solidarität und die ständige Bereitschaft, meine Entwürfe auf Deutsch gegenzulesen, insbesondere Caio Yurgel, Diana Gomes Ascenso (1984– 2020), Elena von Ohlen, Esra Akkaya, Iulia Dondorici, Lucia Weiß, Marília Déa Jöhnk, Mirka Slowik und Sara Sohrabi. Ich danke auch meine KollegInnen der FSGS, insbesondere Anna Sophie Luhn, Bernhard Metz, Christoph Witt, Eva Murasov, Kai Wiegandt und Kurstin Gatt. Ein besonderer Dank gilt Christiane Quandt und Sophie Meiners, die das ganze Manuskript korrigierten. Nicht zuletzt danke ich Prof. Dr. Ottmar Ette dafür, dass meine Schrift an der mimesis Reihe erscheint. Frau Dr. Ulrike Kraus und ihren MitarbeiterInnen bin ich für die professionelle Betreuung beim Walter De Gruyter Verlag ebenfalls dankbar.

https://doi.org/10.1515/9783110697889-202

VI

Danksagung

Zum Schluss danke ich meinen Eltern, Maria Josefa und José Mauro, und meiner Schwester, Ana, die mich über den Atlantischen Ozean hinweg immer ermutigt haben. Dedico este livro ao Jorge Grespan, sempre a meu lado. São Paulo, April 2020 Laura Rivas Gagliardi

Inhaltsverzeichnis Danksagung 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1

2.3.2 2.3.3

2.3.4

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3

V

Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld 1 Problemstellung und Aufbau der Arbeit 2 Zur kulturhistorischen Einordnung von Le Brésil littéraire 6 Forschungsstand und Theoretischer Rahmen 11 Die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire 17 Ferdinand Wolf, Romanist und Beamter der kaiserlichen Hofbibliothek 17 Brasilien unter dem Habsburger Dom Pedro II. 30 Dokumente zur Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire 49 Vorbereitungen (1857–1859): Ferreira Franças Briefe an Wolf, Berichte der Novara-Expedition und Wolfs Briefe an Ludwig Lemcke 54 Niederschrift (1860–1861): Briefe von Manuel de Araújo Porto-Alegre an Wolf, Wolfs Brief an Ludwig Lemcke 69 Widmung (1862): Hausakten der kaiserl. kgl. Hofbibliothek, Berichte von Gonçalves de Magalhães, Wolfs Brief an Dom Pedro II. 78 Übersetzung (1862): Der einzige Brief des Übersetzers Dr. van Muyden 84 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung 87 Wolfs Begriff von Nationalliteratur 90 Sprache und Denken des Deutschen Idealismus 106 Der Sieg der «europäischen Zivilisation» 114 Die «Fortpflanzung» von Religion und Staat 121 Eine brasilianische Monarchie 124 Unabhängigkeit und Freiheit als Ideologie 135 Wolfs interpretatorisches Paradigma 151 Die Vorstellung einer brasilianischen «Mischrasse» 153 Translatio imperii und das «fünfte Reich» 158 Rückkehr zum Mittelalter: «Die Regeneration aus Deutschland» 170

VIII

3.7.4 3.7.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5 5.1 5.2 5.3 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5 6.5.6 6.5.7 6.5.8

Inhaltsverzeichnis

Sklaverei als Metapher und Versklavung in Brasilien Magalhães: der brasilianische «geniale Protagonist»

176 190

Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes» 197 Ergebnisse des Vergleichs zwischen dem deutschen Manuskript und der französischen Übersetzung 197 Ferdinand Denis, ein französisches Paradigma? 202 Wolfs Studien über Spanien und Portugal 207 Letzte Briefe und Dokumente über Le Brésil littéraire 215 Schluss: Das Scheitern von Wolfs literaturpolitischem Projekt 225 Geschichtsschreibung als soziale Praxis 225 Wolfs Geschichtsauffassung 229 Der Triumph eines Klassenbündnisses 232 Anhänge 235 Beispielseite aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur 235 Transkription von Auszügen aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur 236 Originalbrief von Dr. van Muyden an Ferdinand Wolf 284 Originalbrief von Ferdinand Wolf an Dom Pedro II. 287 Dokumente zur Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire 289 Brief von Ferdinand von Hochstetter an der kaiser. kgl. Hofbibliothek 289 Brief der Österreichische National Bibliothek an Norberto de Souza mit einer Liste von erhaltenen Werken 290 Briefe von Ernesto Ferreira França an Ferdinand Wolf 291 Briefe von Manuel de Araújo Porto-Alegre an Ferdinand Wolf 295 Brief von Dr. Van Muyden an Ferdinand Wolf 301 Ferdinand Wolf an der kaiserl. kgl. Bibliothek 303 Brief von Ferdinand Wolf an Dom Pedro II. 303 Berichte von Gonçalves de Magalhães 305

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis 309 Archivquellen 309 Primärquellen 309 Onlinequellen 310 Sekundärliteratur 310 Personenregister

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IX

1 Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld Ferdinand Wolfs Le Brésil littéraire,1 die erste Literaturgeschichte Brasiliens, wurde 1863 verlegt. Der Text war ursprünglich in deutscher Sprache verfasst, wurde aber auf Französisch veröffentlicht.2 Ferdinand Wolf wurde 1796 in Wien geboren, ab 1819 und bis zum Ende seines Lebens 1866 war er Vorstand der Handschriftenabteilung an der kaiserlichen und königlichen Hofbibliothek zu Wien und prominenter Mitbegründer des Fachs der Romanischen Philologie.3 Die vorliegende Studie rekonstruiert die Entstehungsgeschichte seines Hauptwerkes Le Brésil littéraire, um die spezifische Stellung dieses Werks in den philologischen wie kulturhistorischen Diskussionen seiner Zeit, sowohl in Europa als auch in Brasilien, nachvollziehbar zu machen. Dabei werden Wolfs Stellungnahmen zu politischen und sozialen Themen in ideologiekritischer Hinsicht untersucht.

1 Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire: Histoire de la littérature brésilienne suivie d’un choix de morceaux tirés de meilleurs auteurs bésiliens [sic]. Berlin: Asher & Co. 1863. 2 Ebda. «MM. les éditeurs ont désiré que la partie historique fût traduite en français. Qu’il me soit permis d’en remercier ici M. le docteur van Muyden, qui s’est efforcé de rendre aussi exactement que possible les idées de l’original», S. IX. Diese Passage ist nicht im Originalmanuskript zu lesen, sie wurde wohl später hinzugefügt. Siehe auch Adolf Ebert: Ferdinand Wolf. Seine Bedeutung für die romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte. In: Jahrbuch für romanische und englische Literatur 8 (1867): «So erst vermochte Wolf [...] eine vollständige Geschichte der brasilischen Literatur zu geben, die er, [...] in französischer Sprache (es war dies eine unerlässliche Bedingung des Verlegers) 1863 veröffentlichte [...]», S. 296. 3 Ferdinand Josef Wolf (Wien, 1796–1866) zählt zu den wenigen Philologen, die sich zu dieser Zeit dem Portugiesischen gewidmet haben. Seine literaturwissenschaftliche Arbeit beginnt 1837. Obgleich er nie eine Professur bekam, betrieb er energisch nicht nur die Einrichtung einer Wiener Akademie der Wissenschaften, wo er 1847 nicht nur die Romanistik vertrat, sondern auch die Veröffentlichung des Jahrbuches für romanische und englische Literatur betreute. Wolf verstand sich als Anreger neuer wissenschaftlicher Untersuchungen, wie sein ungefähr tausend Dokumente umfassender Briefwechsel mit Gelehrten vieler Nationen beweist. Obwohl Wolf heutzutage wohl nur noch unter wenigen RomanistInnen bekannt ist, galt er zu seiner Zeit als einer der wichtigsten Vertreter seines Faches in Europa. Siehe Edmund Stengel (Hg.): Vorwort. In: Kleinere Schriften von Ferdinand Wolf. Marburg: N.G. Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1890, S. III–XV. Adolf Ebert: Ferdinand Wolf. Seine Bedeutung für die Romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte. Adolf Mussafia: Zur Erinnerung an Ferdinand Wolf. Wien: Selbstverlag des Verfassers 1866. Annelise Habel: Ferdinand Wolf. Ein Beitrag zur Geschichte der Romanischen Philologie. Wien 1980. Diss. masch. https://doi.org/10.1515/9783110697889-001

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1 Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld

1.1 Problemstellung und Aufbau der Arbeit Ferdinand Wolfs Le Brésil littéraire wird in dieser Arbeit als historisches Dokument verstanden, das über eine lange Dauer den Gegenstandsbereich der brasilianischen Literaturgeschichtsschreibung und in deren Folge auch höchst problematische epistemologische Positionen etabliert hat. Dies gilt sowohl für den Blick von außen als auch für innerbrasilianische Literaturdebatten. Entsprechend ist der materialgeschichtliche und archivgestützte Zugriff dieser Arbeit als ein Versuch zu verstehen, die Auswahl und die narrativen Strategien von Ferdinand Wolf einer kritischen Analyse zu unterziehen. Es ist also nicht das Ziel, Wolfs Beurteilung brasilianischer Autoren und ihre Werke nachzuprüfen und sie aus literaturwissenschaftlicher Sicht einzuordnen. Im Mittelpunkt steht vielmehr das nie gedruckte deutschsprachige Manuskript Geschichte der brasilischen Nationalliteratur,4 das philologisch mit der gedruckten französischen Übersetzung verglichen wird. Durch die vergleichende Betrachtung der beiden Fassungen eröffnen sich neue Perspektiven für die mögliche Absicht, die hinter Wolfs Arbeit über Brasilien stand. Die Analyse von Briefen, Hausakten und Berichten ermöglicht es, neben der Erschließung weiterer Werke Wolfs und ihre wenigen KommentatorInnen, sein Buch über Brasilien als literaturpolitisches Projekt zu verstehen. Dieser archiv- und materialgeschichtliche Zugriff erlaubt es auch, im Anhang eine Sammlung von bis jetzt unveröffentlichten Materialien und deren Transkription zur Verfügung zu stellen.5 So steht im Zentrum des Erkenntnisinteresses dieser Studie auch eine sozialund mentalitätsgeschichtliche Frage: In welcher Weise ist Wolfs Literaturgeschichtsschreibung vom Denken des 19. Jahrhunderts geprägt und in welcher Weise hat dies die Wahrnehmung der brasilianischen Literatur geprägt? Wolfs Le Brésil littéraire hat problematische Narrative etabliert, die sich bis heute wiederholt finden. Seine erzählerische Anordnung eines ganzen Repertoires von Werken ist in ein übergeordnetes habsburgisches Geschichtsnarrativ eingebettet, das ein sehr eigenes Konzept eines vermeintlichen ‹nationalen Geistes› mit einer ge-

4 Ferdinand Wolf: Geschichte der brasilischen Nationalliteratur. Österreichische Nationalbibliothek, Manuskript-Nr. 14547, 1862. 5 Ferdinand Wolfs Nachlass liegt in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, aber weitere Materialien sind auch in der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft in Berlin und in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel zu finden. Dokumente über die Verhältnisse zwischen Wolf und den brasilianischen Diplomanten im Dienst vom Kaiser Pedro II. in Wien und Deutschland sind hauptsächlich im Arquivo histórico do Itamaraty und im Instituto Histórico e Geográfico in Rio de Janeiro zu finden.

1.1 Problemstellung und Aufbau der Arbeit

3

schichtsphilosophischen Vorstellung von Evolution verknüpft. Wolf betrachtet dabei nur jene literarischen Werke, die seinen ideologischen Grundsätzen und politischen Ansichten entsprechen. Der Aufbau der Arbeit folgt dem Ziel, möglichst präzise nachzuvollziehen, wie dieses Narrativ entstanden ist. Die Untersuchung von Le Brésil littéraire beginnt im zweiten Kapitel mit der Darstellung von grundlegenden historischen und literarischen Aspekten des Entstehungszusammenhangs. Mehr noch denn als Mitbegründer der Romanistik wird Ferdinand Wolf als Beamter des Habsburgischen Kaiserreichs vorgestellt. Es soll gezeigt werden, wie sich die Kräfte des Ancien Régime und des dynastischen Denkens nach dem Wiener Kongress 1815, der Wolf stark beeinflusste, gegen die entstehenden bürgerlichen Schichten organisierten und auf diese Weise eine besondere, ideologisch aufgeladene Gemengelage in Österreich bedingten. Auch die Entstehung und Entwicklung des Kaiserreichs in Brasilien wird in diesem Kapitel behandelt, vor allem die kulturellen Maßnahmen von Kaiser Pedro II. und seiner Mitstreiter zum Schutz der brasilianischen Großgrundbesitzerund Sklavenhaltergesellschaft. Da Kaiser Pedro II. in direkter Linie vom Hause Habsburg abstammte, hatte er ein Interesse daran, die dynastischen Vernetzungen mit Wien zu festigen. Beide Monarchien konnten sich gegenseitig in ihren jeweiligen Machtansprüchen stärken. Das Hauptziel des Kapitels ist es daher, sowohl die literarischen als auch die außerliterarischen Kontexte für die Entstehung des Buches von Wolf offenzulegen. Darüber hinaus werden Wolfs Korrespondenz und andere Originalquellen wie Manuskripte, Hausakten und Berichte bis zum Zeitpunkt der Übersetzungsphase von Geschichte der brasilischen Nationalliteratur chronologisch aufgearbeitet und ihre verschiedenartigen Inhalte eingehend erörtert. Diese Entstehungsgeschichte ist jedoch nicht immer ohne Schwierigkeiten nachzuvollziehen, denn die Daten über Leben und Werk einiger Figuren sind bis dato nicht vollständig erschlossen. Aufgrund des Umstandes, dass zentrale Dokumente nicht erhalten sind, ist die Quellenlage durchaus schwierig. Gelegentlich gilt es, die lückenhaften und unvollständigen Quellen qua Deduktion zu interpretieren, um plausible Hypothesen formulieren zu können. Dennoch kann nachgewiesen werden, dass und in welchem Umfang Wolf von brasilianischen Diplomaten, die dem Kreis des brasilianischen Kaisers angehörten, angeregt wurde, sich mit der Literaturgeschichte Brasiliens zu befassen. Nach der ausführlichen Darstellung der Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire wird der Inhalt des Buches zum Gegenstand des dritten Kapitels. Hier wird untersucht, ob die Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Fassung nur stilistischer oder auch konzeptioneller Natur sind und ob sich daraus eine Verschiebung von Wolfs Perspektive ableiten lässt. Dafür werden ein-

4

1 Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld

zelne Abschnitte aus dem Originalmanuskript ausgewählt und en détail mit der gedruckten französischen Fassung verglichen. Die Anordnung der Teile, die Kapitel im Einzelnen, die der Aufteilung zugrunde liegende Periodisierung, die Paratexte, die Beschreibung des Zustands von Wolfs Manuskript und die Veränderungen in der französischen Fassung werden ebenfalls anhand der beiden Varianten (Manuskript und Druckversion) geprüft. Daraus entsteht ein Panorama von Wolfs konservativer, monarchistischer und katholischer Weltanschauung – trotz seiner Aneignung von liberal-bürgerlichen Begriffen. Es lässt sich vor allem der Einfluss eines bestimmten Verständnisses des Deutschen Idealismus in Wolfs Denken und Schreiben identifizieren, dem Hegels Geschichtsphilosophie zugrunde liegt. Hegels Schlüsselbegriffe wie etwa «Freiheit», «Volksgeist», «Selbstbewusstsein», «Religion» und «Staat» werden von Wolf in seine Literaturgeschichte Brasiliens übernommen. Bei Wolf fungiert diese Geschichtsauffassung jedoch als Legitimation dynastischer Ansprüche. Sein Geschichtsbild, das besagt, dass Deutschland alle anderen Nationen, einschließlich Brasilien, von der Unterjochung Frankreichs befreit habe, ist auf das Engste mit diesem Idealismus verbunden. Entsprechend sieht Wolf im monarchistischen Prinzip die einzige legitime Regierungsform und den Kaiser als zentrale politische und moralische Kraft des Staats. Im Gegensatz dazu werden republikanische, demokratische und emanzipatorische Ideen, die nach der Französischen Revolution weltweit Verbreitung fanden, von Wolf wiederholt kritisiert. Vor diesem historisch-literarischen Horizont und der ausführlichen vergleichenden Analyse wird im vierten Kapitel Wolfs literaturpolitisches Projekt ausführlich beleuchtet. Dabei soll die Geschichte der brasilischen Nationalliteratur nicht als isoliertes Phänomen in Wolfs wissenschaftlicher Arbeit verstanden werden, steht sie doch in direkter Beziehung zu seinen vorherigen Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur,6 einer Sammlung seiner wichtigsten Schriften bis 1859. Nach der Analyse von Wolfs Auseinandersetzung mit den portugiesischen und spanischen «Nationalliteraturen» lässt sich feststellen, dass sich seine Zuneigung zu Brasilien aus der verdeckten Absicht der «Einbürgerung des deutschen Werkes» speist, um Wolfs eigene Worte zu zitieren.7

6 Ferdinand Wolf: Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur. Berlin: Asher & Co. 1859. 7 Ebda. «Möchten durch diese Einbürgerung des deutschen Werkes in Spanien die schädlichen Einflüsse die jene engherzige, sogenannte französisch-classische Schule auf die spanische Poesie nur zu lange übte, völlig vernichtet werden, und die Spanier des Deutschen von jedem Schulzwange freie Ansichten, seine tiefe Auffassung ihres eigenthümlichen Geistes und richtige Würdi-

1.1 Problemstellung und Aufbau der Arbeit

5

Wolf sieht in der Literaturgeschichtsschreibung als Wissenschaft auch eine Möglichkeit, die Herrschaft der habsburgischen Dynastie auf kultureller Ebene und anhand der philosophischen und geschichtlichen Grundlage des Deutschen Idealismus zu etablieren. Dies geschieht etwa zeitgleich mit der erfolgreichen Unterdrückung der Aufstände 1848, einem Moment also, in dem Österreich sich wieder als Großmacht in Europa durchzusetzen versucht. Der Vergleich zwischen dem Original und der Übersetzung offenbart jedoch, dass die Übernahme ins Französische mit stilistischen und begrifflichen Änderungen einherging, die der intendierten Wirkung seines Werkes entgegenlaufen. Wolfs letzte Briefe sowie weitere Dokumente beweisen seine Unzufriedenheit mit der Übersetzung, ja, das hohe Maß, in dem er sich durch die Veränderungen missverstanden fühlte. Dies kann nur ein Vergleich zwischen Wolfs Geschichte der brasilischen Nationalliteratur und der Übersetzung Le Brésil littéraire zeigen. Wolfs literaturpolitisches Projekt der geistesgeschichtlichen «Einbürgerung» Brasiliens in eine deutsche ‹Tradition› lässt sich historisch durch den Machtkampf zwischen Deutschland/Österreich8 und Frankreich um die europäische Vorherrschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründen. Es besteht zunächst darin, eine Überlegenheit und Vorherrschaft der ‹Deutschen Kultur› gegenüber dem französischen politischen und literarischen Muster zu postulieren. Wolfs Grundlagen sind, wie gesagt, die Philosophie des Deutschen Idealismus und seine entsprechende Geschichtsauffassung. Als Gegenbeispiel und primär zur Veranschaulichung französischer Denkmuster der Zeit werden Auszüge von Ferdinand Denis’ Résumé de l’histoire littéraire du Portugal suivi du résumé de l’histoire littéraire du Brésil,9 das 1826 veröffentlicht wurde, analysiert. Im Schlussteil werden die Ergebnisse zusammengefasst: Die Bedeutung von Le Brésil littéraire kann nur vollständig erfasst werden, wenn das Originalmanu-

gung ihrer Meisterwerke, die sie nur von einer geistesverwandten Nation erwarten durften, gänzlich von dem Irrwege zurückbringen [...]», S. 5–6. 8 Wolf bezieht sich in allen seinen Werken, Le Brésil littéraire und Geschichte der brasilischen Nationalliteratur einbezogen, nie auf Österreich oder das Habsburgerreich. Er positioniert sich offensichtlich auf Seiten der ‹Großdeutschen Lösung› mit Wien in der Leitungsposition. Wie Eric Hobsbawm erklärt: «The unification of Germany raised three questions: what exactly the Germany that was to be unified consisted of, how – if at all – the two major powers which were members of the Germanic Confederation, Prussia and Austria, were to be fitted into it, and what was to happen to the numerous other principalities within it, ranging from middle-sized kingdoms to comic-opera midgets. And both, as we have seen, directly involved the nature and frontiers of the Habsburg Empire». Eric Hobsbawm: The Age of Capital (1848–1875) [1975]. London: Abacus 1995, S. 89. 9 Ferdinand Denis: Résumé de l’histoire littéraire du Portugal suivi du résumé de l’histoire littéraire du Brésil. Paris: Lecointe et Durey 1826.

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1 Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld

skript Geschichte der brasilischen Nationalliteratur berücksichtigt wird. Der Vergleich zwischen beiden offenbart den Hintergrund von Wolfs literaturpolitischem Projekt, das anhand eines Zitats von Wolf selbst als Projekt einer versuchten «Einbürgerung» beschrieben werden kann. Doch es wird auch deutlich, dass sich die französische Übersetzung erfolgreich darum bemühte, den essentialistischen Wortschatz des Deutschen Idealismus abzuschwächen. Dabei zielte Wolfs literaturpolitisches Projekt nicht nur auf die Literatur Brasiliens ab, sondern lässt sich auch in seinen anderen Studien und Schriften zur europäischen Literatur nachvollziehen. In diesem Sinne ist Le Brésil littéraire kein bloßes Auftragswerk, wie oft behauptet wurde,10 es entstand im Zeichen einer ideologischen Agenda der Erhaltung der Habsburger-Monarchien auf beiden Seiten des Atlantiks.

1.2 Zur kulturhistorischen Einordnung von Le Brésil littéraire Wie eingangs erwähnt, wurde Le Brésil littéraire: histoire de la littérature brésilienne vom Wiener Bibliothekar Ferdinand Wolf 1863 veröffentlicht. Obwohl es ursprünglich in deutscher Sprache verfasst wurde, hatte der damalige Verleger des Berliner Druckhauses Asher, Albert Cohn, verlangt, dass das Buch auf Französisch erscheinen sollte und ließ es vom Übersetzter Dr. van Muyden11 übertragen. Es handelt sich dabei um die erste umfassende Literaturgeschichte Brasiliens, die von einem nicht-brasilianischen Autor zu dieser Zeit verfasst wurde.12 Drei Jahre nach der Veröffentlichung kam Ferdinand Wolf ums Leben, und sein Buch fand keine zweite Auflage. Das deutsche Original Geschichte der brasilischen Nationalliteratur erschien nicht. Das Manuskript wird bis heute in der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt.

10 Sílvio Romero: História da literatura brasileira. Bd. 1. Rio de Janeiro: Garnier 1888. «O livro de Ferdinand Wolf, feito às pressas, não tem vistas teóricas; é um produto artificial e diplomático», S. 5. 11 Dr. van Muyden, wahrscheinlich Gustav van Muyden (1837–1893), war Bibliothekar des kaiserlichen Patentamtes zu Berlin. Als Autor schrieb er verschiedene Bücher wie etwa Der Reisebegleiter: Winke für Reisende nach Frankreich. Berlin: E. Goldschmidt 1891 und Sammlung französischer Schriftsteller für den Schul- und Privatgebrauch 1862. Als Buchhändler arbeitete er zusammen mit Georg Stilke, mit dem er den Verlag Stilke und v. Muyden 1862 gründete. Als Verleger gab er unter anderem die Reden Bismarcks in französischer Sprache heraus (Les discours de M. le comte de Bismark avec de sommaires et notes). Zuverlässige ausführlichere biographische Auskünfte über ihn sind nicht zu erhalten. 12 Antonio Candido: Formação da literatura brasileira: momentos decisivos [1959]. Bd. 2. Belo Horizonte, Rio de Janeiro: Itatiaia 1997. «É a primeira visão sistemática de um estrangeiro até o meado do século XIX», S. 350.

1.2 Zur kulturhistorischen Einordnung von Le Brésil littéraire

7

Wie kam Ferdinand Wolf, ein Beamter des Habsburgischen Hofes und Freund des Prinzen Metternich,13 überhaupt dazu, über die brasilianische Literaturgeschichte zu schreiben? Warum wurde das Manuskript ins Französische übertragen? Warum wurde das deutsche Original nie veröffentlicht? Im ‹Préface› von Le Brésil littéraire liefert Wolf eine Erklärung, die jedoch nicht ausreichend erscheint: Wolf erklärt, dass es ihm in seinem Buch darum gehe, ein neues Kapitel für die Rezeption brasilianischer Literatur in Europa zu eröffnen und die Eigenständigkeit der ästhetischen Konzepte der brasilianischen Literatur in Bezug auf europäische Vorbilder herauszuarbeiten.14 Vor der Veröffentlichung von Le Brésil littéraire, so betont Wolf, sei die brasilianische Literatur außerhalb Brasiliens lediglich als kleine Ergänzung in einigen Literaturgeschichten Portugals berücksichtigt worden.15 Friedrich L. Bouterweck (1766–1828) und Simonde de Sismondi (1774–1842)16 hätten zwar Brasilianer des 18. Jahrhunderts wie Claudio Manuel da Costa (1729–1789) oder José Basílio da Gama (1742–1795) in ihren literaturgeschichtlichen Studien erwähnt, betrachteten sie aber eher als zur portugiesischen Literatur gehörende Autoren, da Brasilien zu diesem Zeitpunkt noch portugiesische Kolonie war (1500–1822). Auf den ersten Blick scheint Wolfs Interesse an der brasilianischen Literatur und die Tatsache, dass er sie innerhalb der Weltliteratur einordnete, seine Bestrebungen zu einem außerordentlich fortschrittlichen Unternehmen zu machen. Da Brasilien aus damaliger europäisch-kolonialer Sicht lediglich als Ort der Ausbeutung von Rohstoffen und Quelle ‹exotischer Abenteuergeschichten› galt, wurde außerhalb Brasiliens kaum wahrgenommen, dass dort auch Literatur geschaffen wurde.17 Doch Wolfs Beschäftigung mit einer außereuropäischen Literatur bedeu13 Die Beziehung zwischen Metternich und Wolf bestand in gegenseitigem Vertrauen, wie Wolf selbst in seiner ‹Einleitung› über eine Handschrift von Lope de Vega beschreibt. Diese Beziehung wird im Detail im zweiten Kapitel behandelt. Ferdinand Wolf: Über Lope de Vega’s Comedia famosa de la reina María. In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaft 16 (1855, Sitzung vom 25. April), S. 241. 14 Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire. «Mon ouvrage a dans tous les cas le mérite relatif d’être le premier et le seul qui ait paru en Europe sur ce sujet», S. IX. Geschichte der brasilischen Nationalliteratur: «Jedenfalls hat es das, freilich nur relative Verdienst, das erste und bis jetzt einzige über diesen Gegenstand in Europa erschienene Werk zu sein», S. IV. 15 Almeida Garrett: Bosquejo da história da poesia e língua portuguesa [1826]. In: Obras completas. Bd. 2. Lissabon: Empresa da História de Portugal 1904. 16 Friedrich Bouterweck: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des 13. Jahrhunderts [1801]. Göttingen: Johann Friedrich Römer 1805. Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi: De la littérature du midi de l’Europe. Paris: Treuttel et Würtz 1829. 17 Der oberste Zweck der Kolonisation bestand darin, wie Caio Prado Jr. erklärt, ein riesiges, wirtschaftliches Unternehmen zu errichten: «No seu conjunto, e vista no plano mundial e internacional, a colonização dos trópicos toma o aspecto de uma vasta empresa comercial, mais completa

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1 Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld

tete kein Aufbrechen der Hierarchien und Machtkonstellationen zwischen Kolonien und Metropole. Le Brésil littéraire ist ein literaturpolitisches Projekt,18 das sich in die expansionistischen Ansprüche des Hauses Habsburg einordnen lässt.19 Dies kann aber nur anhand des Vergleichs mit dem Originalmanuskript Geschichte der brasilischen Nationalliteratur und der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte beider Fassungen nachvollziehbar gemacht werden. Auch aus brasilianischer Sicht erschien das Buch zunächst in einem günstigen Zusammenhang für die Stärkung der dynastischen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der österreichischen und der brasilianischen Monarchie angesiedelt. Tatsächlich hatte die enge politische Verbindung zwischen Brasilien und Österreich bereits im Jahre 1817 mit der Hochzeit zwischen Dom Pedro I., dem portugiesischen Thronfolger, und Maria Leopoldine, der Tochter des österreichischen Kaisers Franz I., ihren Anfang genommen. Ihr Sohn Dom Pedro II. war daher seiner Geburt nach ebenfalls Habsburger und wurde in Brasilien als europäischer Prinz erzogen. Ihm ist Wolfs Le Brésil littéraire gewidmet.20

que a antiga feitoria, mas sempre com o mesmo caráter que ela, destinada a explorar os recursos naturais de um território virgem em proveito do comércio europeu. É este o verdadeiro sentido da colonização tropical, de que o Brasil é uma das resultantes; e ele explicará os elementos fundamentais, tanto no econômico como no social, da formação e evolução históricas dos trópicos americanos». Caio Prado Jr.: Formação do Brasil contemporâneo [1942]. São Paulo: Brasiliense 1969, S. 31. 18 Adolf Ebert schildert Wolfs Interesse an politischer Geschichte und Rechtsgeschichte ausführlich, das zeitlich mit der Entstehung von Geschichte der brasilischen Nationalliteratur zusammenfällt. Dies bekräftigt meine Hypothese, dass sein ganzes Werk unter dem Zeichen eines literaturpolitischen Projekts konzipiert wurde: «Ich muss mit ein paar Worten wenigstens einer andern auf einem verwandten Felde gedenken, die auch gerade an dem Abend seines Lebens noch einige Früchte trug. Ich meine seine politisch-geschichtlichen Studien». Adolf Ebert: Ferdinand Wolf. Seine Bedeutung für die romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte, S. 298–299. 19 Ich stützte mich vor allem auf die neusten Interpretationen der Kolonialgeschichte des Habsburgerreiches, nach der diese wie folgt zusammengefasst werden kann: «In spite of several attempts, Austria did not acquire overseas colonial possessions. This fact, however, should not suggest that Austria was a desinterested bystander when European nations annexed territories in all parts of the world [...]. On the contrary, Austria was heavily involved in the European diplomatic machinations that accompanied the partition of the world into colonial influences spheres from the beginning of the ninteenth century onwards [...]. Often Austrians served non-Austrian masters and interests and thereby colluded in the overall European colonial project». Ohne Autor: Austrian Encounters in Colonial Space: Introduction. In: Austrian Studies 20 (2012). Colonial Austria: Austria and the Overseas, S. 1. 20 Die wichtigsten Ereignisse der brasilianischen Geschichte des 19. Jahrhunderts in aller Kürze: 1822 Unabhängigkeit von Portugal; 1826 Anerkennung durch Portugal; 1831 Abdankung von Dom Pedro I. als Kaiser Brasiliens zugunsten seines minderjährigen Sohnes Pedro II.; Rückkehr von Pedro I. nach Portugal und Ausrufung von Pedro II. als Nachfolger; Ende des Primeiro Reinado und

1.2 Zur kulturhistorischen Einordnung von Le Brésil littéraire

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Ab 1822, nach der Unabhängigkeitserklärung Brasiliens, schien es nötig, bestimmte Vorstellungen über die koloniale Vergangenheit narrativ zu etablieren, um das Land als einen emanzipierten, monarchistischen Staat, als eine vollwertige Nation sich selbst und Anderen gegenüber überhaupt vorstellbar zu machen.21 Die Hauptaufgabe dieses Narrativs bestand darin, sehr verschiedene Kontexte des imperialen Brasiliens zu vereinen und die privilegierte Position einer herrschenden Klasse bei der Ausbeutung von Arbeitskraft und Naturgütern zu sichern.22 Brasilien sollte weiter hohe Profite liefern können, sowohl für die herrschende brasilianische Klasse als auch für die industrialisierten Länder Europas. Wolf legitimiert aus einer nur vermeintlich neutralen, wissenschaftlichen Perspektive die Entstehung der ‹brasilianischen Nation›. Er vollzieht die Herausbildung verschiedener Elemente nach, die Brasilien die Form eines imaginierten Ganzen gibt. Indem Wolf die brasilianische Literatur in die Romanistik einschließt, d. h. sie in einen bestimmten wissenschaftlichen Rahmen einordnet, soll sie die Anerkennung der europäischen Mächte gewinnen und in der Konsequenz nicht nur vor Europäern, sondern wiederum auch durch die gebildeten Schichten in Brasilien als eigenständig betrachtet werden. Es entsprach den strategischen Ansprüchen Dom Pedros II., ein ‹nationales Gesamtbild› auf kultureller Ebene für die Einheit des Landes zu festigen. Eine homogene Vorstellung von Brasilien wurde auch durch verschiedene Medien, vor allem Presse und Literatur, sowohl im Lande als auch weltweit, verbreitet. Auch deshalb kann Le Brésil littéraire als ein zentraler Gegenstand für die Auseinander 

Beginn des Período Regencial (die Amtsgeschäfte waren in den Händen von Regenten, die vom Parlament eingesetzt wurden); 1840 Krönung von Pedro II. im Alter von vierzehn Jahren; 1888 Abschaffung der Sklaverei; 1889 Ausrufung der Republik, Ende des Segundo Reinado. 21 Einleitend gehe ich von Benedict Andersons Definition von Nation aus: «In an anthropological spirit, then, I propose the following definition of the nation: it is an imagined political community – and imagined as both inherently limited and sovereign. It is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion». Benedict Anderson: Imagined Communities. London, New York: Verso 2006, S. 5–6. 22 Costa erklärt die turbulenten Zeiten nach 1822, als die herrschende Klasse in Brasilien die Macht übernahm, in der sogenannte Período Regencial: «Em 1822, as elites optaram por um regime monárquico, mas, uma vez conquistada a Independência, competiram com o imperador pelo controle da nação, cuja liderança assumiram em 1831, quando levaram D. Pedro I a abdicar. Nos anos que se seguiram, os grupos no poder sofreram a oposição de liberais radicais que se insurgiram em vários pontos do país. Ressentiam-se uns da excessiva centralização e pleiteavam um regime federativo; outros propunham a abolição gradual da escravidão, demandavam a nacionalização do comércio, chegando a sugerir a expropriação dos latifúndios improdutivos». Emília Viotti da Costa: Da monarquia à república: momentos decisivos. [1977]. São Paulo: Unesp 1999, S. 10.

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1 Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld

setzung mit der (Literatur-)Geschichtsschreibung und dem damit verbundenen Prozess der Herausbildung einer Nation als ideologische Konstruktion betrachtet werden. In diesem Kontext ist es bemerkenswert, wie stark ein Beamter des Habsburgerreichs, der selbst nie in Brasilien war,23 an der Entstehung einer nationalen (Literatur-)Geschichtsschreibung und Selbstdarstellung Brasiliens Anteil hatte. Als Interessensvertreter der reaktionären und konservativen Reichspolitik Wiens, nach der erfolgreichen Unterdrückung der Revolution von 1848, begrüßt Wolf Brasilien als neu gegründete Monarchie im Zeichen des österreichischen Vorherrschaftsanspruchs in Europa. Obwohl Wolf nie von Österreich unter der Herrschaft des Habsburgerhauses spricht – er nennt immer nur die «kulturelle» Herrschaft von «Deutschland» –, deuten seine Texte darauf hin, dass für ihn Österreich Beispiel eines einheitlichen Vielvölkerreichs war. Die Festigung einer herrschenden weißen Oberschicht,24 die sich durch transnationale Bündnisse und Netzwerke gegenseitig unterstützt, stand zu dieser Zeit sowohl in Österreich als auch in Brasilien im Zentrum unterschiedlichster kulturpolitischer Bemühungen. Brasilien wird den europäischen Mächten hier jedoch nicht im Sinne eines exotischen Anderen gegenübergestellt. Im Gegenteil: Aus Wolfs Studie lässt sich ein Bündnis zwischen den Herrschenden Österreichs und Brasiliens herauslesen, das ganz konkrete Ergebnisse (wie etwa Le Brésil littéraire selbst) hervorbrachte. Sie bedienten sich ähnlicher Strategien, ihre Vorherrschaft zu begründen und durchzusetzen. Diese Strategien bezogen die Wissenschaften, vor allem die Geschichtsschreibung, mit ein.

23 Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire. «[...] l’auteur ne connaît le Brésil que par les livres», S. IX. Geschichte der brasilischen Nationalliteratur. «[...] ich [kenne] Land und Volk nur aus Büchern», S. IV. Wie der Biograph Constantin von Wurzbach schreibt: «Wien hat der Gelehrte nur zweimal verlassen, als Student zu einer Ferienreise in die Schweiz und im Winter 1849/50 im amtlichen Auftrag, um an der Versteigerung des Tieck’schen Bücherschatzes in Berlin theilzunehmen und manches werthvolle Stück aus demselben für die Hofbibliothek zu erwerben. Die Länder, mit deren Literatur er sich sein Lebenslang [...] beschäftige [...] hat der Gelehrte nie betreten». Constantin von Wurzbach: Ferdinand Wolf. In: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. 57. Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei 1889, S. 273. 24 Emília Viotti da Costa beschreibt die Bildung der herrschenden Klasse Brasiliens nach 1822: «As elites brasileiras que tomaram o poder em 1822 compunham-se de fazendeiros, comerciantes e membros de sua clientela ligados à economia de importação e exportação e interessados na manutenção das estruturas tradicionais de produção cujas bases eram o sistema de trabalho escravo e a grande propriedade. Após a independência, reafirmaram a tradição agrária da economia brasileira; opuseram-se às débeis tentativas de alguns grupos interessados em promover o desenvolvimento da indústria nacional e resistiram às pressões inglesas visando abolir o tráfico de escravos». Emília Viotti da Costa: Da monarquia à república, S. 9.

1.3 Forschungsstand und Theoretischer Rahmen

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1.3 Forschungsstand und Theoretischer Rahmen Die außerordentliche Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire bedingt in vielfältiger Weise die Rezeption und die nachfolgende Deutung des Buches.25 In Europa wurde Wolfs Studie kaum rezipiert,26 in Brasilien dagegen galt sie als Lehrbuch in Schulen, unabhängig davon, dass das Werk nur auf Französisch existierte. Dies galt, bis der Gelehrte und Literaturhistoriker Sílvio Romero nach dem Ende des brasilianischen Kaiserreichs und der Ausrufung der Republik im Jahr 1889 den nachdrücklichen Bezug auf die Monarchie in diesem Werk öffentlich harsch kritisierte.27 Im 20. Jahrhundert erkannten manche Literaturhistoriker wie José Veríssimo Le Brésil littéraire einen gewissen Wert zu;28 es galt jedoch

25 Selbst in den neusten Studien zur Literaturgeschichte Brasiliens wird mehrmals hervorgehoben, dass Ferdinand Wolf das Werk im Auftrag von Dom Pedro II. verfasste, auch wenn sie dafür keine Belege liefern. Selbst die Tatsache, dass es ein Originalmanuskript auf Deutsch gibt, wird nie erwähnt, wie etwa in folgenden Beispielen: «As a matter of fact, in the early 1860s the Brazilian emperor Dom Pedro II. financed the production of a Brazilian literary history written in French by an Austrian scholar and published in Berlin: Le Brésil Littéraire, Histoire de la Littérature brésilienne suivie d’un choix de morceaux tirés des meilleurs auteurs brésiliens by Ferdinand Wolf». Marcia Abreu: Introduction: Fiction as an element of cultural conection. In: Marcia Abreu (Hg.): The Transatlantic Circulation of Novels between Europe and Brazil, 1789–1914. Palgrave Macmillan 2017, S. 6. Im selben Band steht die gleiche Aussage: «Le Brésil Littéraire, Histoire de la Littérature brésilienne suivie d’un choix de morceaux tirés des meilleurs auteurs brésiliens, was published in French by A. Asher & Co. (Albert Cohn & D. Collin, Berlin) with funding from Emperor Dom Pedro II.». Wiebke Roben de Alencar Xavier: The Brazilian Novels O Guarany and Innocencia Translated into German: National Production and the Bestseller in the Long Nineteenth Century. Ebda., S. 147–148. 26 Spärliche Rezensionen und Buchbesprechungen sind anlässlich der Veröffentlichung erschienen, wie etwa im Literarischen Zentralblatt für Deutschland 34 (22.08.1863), S. 807–808. Adolf Ebert schrieb auch eine ‹Kritische Anzeige›. Adolf Ebert: Le Brésil littéraire. In: Jahrbuch für romanische und englische Literatur 5 (1864), S. 222–240. Im 20. Jahrhundert wird Wolf oft beiläufig in den Brasilianistik Studien erwähnt. 27 Sílvio Romero: História da literatura brasileira. Bd. 1: «O livro de Ferdinand Wolf, Le Brésil littéraire (1863), tem sido, e continua a ser com razão, o nosso oráculo na matéria; porque é único em seu gênero. O escritor austríaco foi o primeiro a fazer um quadro mais ou menos inteiro de nossa literatura, quadro pálido e incorreto, é certo, mas que se impõe, por estar no singular. E já lá vão mais de vinte anos que o livro foi publicado, e ainda hoje é o compêndio oficial de nossos cursos!», S. 3–4. Die einzige Übersetzung von Le Brésil littéraire wurde erst 1955 veröffentlicht: Ferdinand Wolf: O Brasil literário (história da literatura brasileira). Übers. von Jamil Almansur Haddad. São Paulo: Companhia Editora Nacional 1955. Es ist bedeutend für die Schilderung der brasilianischen Elite, dass ihre SchulerInnen über brasilianische Literatur in einer anderen Sprache wie Französisch lernen. 28 José Veríssimo: Estudos da literatura brasileira: de Bento Teixeira (1601) a Machado de Assis (1908) [1912]. Rio de Janeiro: Topbooks 1907. «Aproveitando inteligentemente o trabalho destes

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1 Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld

trotzdem als überholt. Der Literaturtheoretiker Antonio Candido ging in seinem bis heute gültigen Werk aus dem Jahr 1959 Formação da literatura brasileira: momentos decisivos nicht auf Wolf ein.29 Candido schenkte ihm damit deutlich weniger Aufmerksamkeit als andere Studien, wie zum Beispiel die des Franzosen Ferdinand Denis.30 Candido schreibt Denis eine entscheidende Rolle bei der Einführung eines Bildes von Brasilien zu, das zwar eurozentrisch, aber immerhin republikanisch und demokratisch gewesen sei. Eine Studie zu Le Brésil littéraire muss sich heute von dem Umstand befreien, dass es die erste Literaturgeschichte Brasiliens gewesen ist.31 Die konkreten wissenschaftlichen Ansprüche des Werks müssen in die Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts eingeordnet werden, denn sie legen weit mehr über den Zeitgeist und die Verhältnisse der damaligen Akteure offen als über die brasilianische Literaturgeschichte als solche. Es geht folglich in dieser Studie darum, die Entste-

e de outras fontes de informação e as notícias e esclarecimentos pessoais de Magalhães e PortoAlegre, o austríaco Fernando Wolf publicou (Berlim, 1863) a sua ainda hoje muito estimável Histoire de la Littérature Brésilienne, a primeira narrativa sistemática e exposição completa, até aquela data, da nossa atividade literária, compreendendo o Romantismo», S. 32–33. 29 Antonio Candido erwähnt Wolf nur in seinen ‹Notas bibliográficas›. Antonio Candido: Formação da literatura brasileira. Bd. 2, S. 350. 30 Ebda. «Mas coube a Ferdinand Denis [...] iniciar embora em nível modesto, a história da literatura brasileira e lançar as bases teóricas do nosso nacionalismo romântico. [...] para que esta se constituísse realmente, julgava necessário desenvolver os aspectos nacionais», Bd. 1, S. 282. Und hier: «Cabe-lhe, sem dúvida, o mérito de haver estabelecido a existência de uma literatrua brasileira [...]. Nisto, foi fiel ao espírito moderno, nacionalista e liberal em política [...]», Bd. 2, S. 287–290. 31 Im 21. Jahrhunderts sind zwei Dissertationen verfasst worden, in denen Le Brésil littéraire behandelt wird: Beide Verfasser erörtern Wolfs literarischen Beurteilungen historisch, was in der Tat nichts Neues bringt. Sie beschäftigen sich mit der französischen Übersetzung, was lediglich einen partiellen Blick auf das Werk ermöglicht. Carlos Augusto de Melo: A formação das histórias literárias no Brasil: as contribuições de Cônego Fernandes Pinheiro (1825–1876), Ferdinand Wolf (1796–1866) e Sotero dos Reis (1800–1871). Instituto de estudos da linguagem. Faculdade Estadual de Campinas. Diss. Campinas 2009. Sébastien Rozeaux: La genèse d’un ‹grand monument national›: littérature et millieu littéraire au Brésil à l’époque impériale (1822–1880). Université Charles de Gaulle, Lille III. Diss. Lille 2012. Rozeaux gibt in seiner 800 Seiten Dissertation eine falsche Information über Wolf wieder: «Cependant, un érudit viennois inconnu du public brésilien, Ferdinand Wolf, publie à Berlin, d’abord en langue allemande puis en langue française, Le Brésil littéraire, une ambitieuse histoire littéraire de près de 250 pages doublée d’une anthologie critique de plus de 300 pages», S. 63, und «Le Brésil littéraire est édité à Berlin en 1863 en langue française, afin d’alimenter la place de Paris, un an seulement après sa publication en allemand», S. 201. Eigene Hervorhebungen. Das Originalmanuskript von Wolf wurde nie auf Deutsch veröffentlicht, wie hier in der ‹Einleitung› erörtert wird.

1.3 Forschungsstand und Theoretischer Rahmen

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hungsgeschichte des Buches zu rekonstruieren, das Manuskript mit der gedruckten Fassung zu vergleichen und die Widersprüche sowie die problematische Agenda von Wolfs literaturpolitischem Projekt aufzuzeigen. Diese Vorgehensweise kann neue Interpretationsmöglichkeiten von Wolfs Buch eröffnen: Inwiefern ist Literaturgeschichtsschreibung bewusst als ideologisches Werkzeug im geistesgeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts genutzt worden? Inwiefern setzt Wolf die zentralen Begriffe des Deutschen Idealismus ein, um die Vorherrschaft Österreichs gegenüber Preußen, sowie die Vorherrschaft Deutschlands gegenüber Frankreich zu festigen? Inwiefern war Wolf Mitgestalter bei der Herausarbeitung des Geschichtsbildes der herrschenden Klasse Brasiliens? Welche Rolle spielte die Literaturgeschichte bei der Entstehung eines brasilianischen Nationalstaats? Diese Fragestellungen situieren die Ansprüche der vorliegenden Studie im interdisziplinären Forschungsgebiet der vergleichenden Romanistik, Literatursoziologie und Geschichte. Es ist ein Ziel dieser Arbeit, sich dem essentialistischen Diskurs des 19. Jahrhunderts zu entziehen und Wolfs Studie als historisches Faktum zu betrachten, als Beleg dafür, wie Wolf am nationalistischen Diskurs der brasilianischen Oberschicht mitwirkte. Methode und Hypothesen für diese Interpretationen von Wolfs Werk gehen von einer Kritik am Deutschen Idealismus und seinen philosophischen Postulaten aus. Dabei liegt der Rückbezug auf die Ideologiekritik von Marx und Engels nahe, waren doch die Werke dieser beiden Zeitgenossen von Wolf die Grundlage schlechthin für die Entmystifizierung von essentialistischem, pro-monarchistischem und expansionistischem Gedankengut. Marx und Engels bilden den Gegenpol zu, bzw. eine andere Perspektive auf Wolfs Positionen. Als erster Beleg kann folgende Passage aus der Deutschen Ideologie zitiert werden, welche zwischen 1845 und 1847, also noch vor der 48-er Revolution, verfasst wurde. Sie legt die Beziehung offen, welche im Mittelpunkt dieser Dissertation steht: die Beziehung zwischen Theorie- und Ideologiebildung: Löst man nun bei der Auffassung des geschichtlichen Verlaufs die Gedanken der herrschenden Klasse von der herrschenden Klasse los, verselbständigt man sie, bleibt dabei stehen, dass in einer Epoche diese und jene Gedanken geherrscht haben, ohne sich um die Bedingungen der Produktion und um die Produzenten dieser Gedanken zu bekümmern, lässt man also die den Gedanken zugrunde liegenden Individuen und Weltzustände weg, so kann man z. B. sagen, dass während der Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treue etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheit etc. herrschten. Die herrschende Klasse selbst bildet sich dies im Durchschnitt ein. Diese Geschichtsauffassung, die allen Geschichtsschreibern vorzugsweise seit dem achtzehnten Jahrhundert gemeinsam ist, wird notwendig auf das Phänomen stoßen, dass immer abstraktere Gedanken herrschen, d. h. Gedanken, die immer mehr die Form der Allgemeinheit annehmen. Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder  



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1 Einleitung: Literaturgeschichtsschreibung als konfliktträchtiges Feld

der Gesellschaft darzustellen, d. h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen.32  

Aus dieser Passage wird der Ideologiebegriff ersichtlich. Marx und Engels kritisieren die idealistische Geschichtsauffassung, weil sie das Primat der Ideen voraussetzt. Das bedeutet, dass die Ideen keine Verbindung mit den wirklichen Individuen und mit den Bedingungen ihrer Entstehung mehr haben. Die Autoren zitieren zwei Beispiele: Die Aristokratie herrscht aufgrund feudaler Lehnspflicht, deren Basis ‹Ehre und Treue› sind. Wenn die wirklichen Verhältnisse des Vasallentums abstrahiert werden, werden dementsprechend ‹Ehre und Treue› ideelle Werte. In der bürgerlichen Gesellschaft werden die Verhältnisse hingegen durch Verträge geregelt, die auf der Basis von Freiheit und Gleichheit beider Parteien geschlossen werden. Wenn diese Verhältnisse abstrahiert werden, werden also Freiheit und Gleichheit zu bloß ideellen Prinzipien. Diese Abstraktionen sind Ergebnis der Imagination einer herrschenden Klasse, die ihre eigenen Interessen als «gemeinschaftliche» darstellt. Praktisch setzt die herrschende Klasse gegenüber allen Mitgliedern der Gesellschaft ihre eigenen Interessen als «allgemein gültig» durch, indem sie die Kontrolle über «materiellen» und «geistigen» Produktionsmittel ausübt: Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, sodass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen, haben unter anderem auch Bewusstsein und denken daher; insofern sie also als Klasse herrschen und den ganzen Umfang einer Geschichtsepoche bestimmen, versteht es sich von selbst, dass sie dies in ihrer ganzen Ausdehnung tun, also unter Andern auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln; dass also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche sind.33  

32 Karl Marx/Friedrich Engels: Deutsche Ideologie. In: Marx-Engels-Werke. Bd. 3. Berlin: Dietz Verlag 1978, S. 47. Eigene Hervorhebungen. 33 Ebda., S. 46. Eigene Hervorhebungen.

1.3 Forschungsstand und Theoretischer Rahmen

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Aus diesem Zitat lassen sich zwei Grundgedanken für die Argumentation dieser Studie entnehmen: Es besteht erstens eine Äquivalenz zwischen «materieller» und «geistiger Macht». Die Herrschaft über die materiellen Produktionsmittel bedingt in gleichem Maße die geistige Produktion: Die Gedanken, welche eine Epoche kennzeichnen, sind die Gedanken der herrschenden Klasse. Der Begriff von der «herrschenden Klasse» nimmt dabei (zweitens) durchaus komplexere Züge an, denn ihr Handlungsfeld erstreckt sich weit über die materiellen Verhältnisse hinaus und erreicht eine ideelle Form. Ideologie heißt also die Produktion und Verbreitung der Gedanken einer herrschenden Klasse als einzige Wahrheit, gewissermaßen als «ideeller Ausdruck» ihrer Herrschaft. Die Verflechtungen der Geschichtsschreibung und Ideologie wurden seitdem von zahlreichen Autoren erforscht und interpretiert. In seinem Text zur Begriffsentwicklung von «Geschichte» und «Historie» schreibt Reinhart Koselleck, dass sich die «Handhabung der Geschichte» nach der Französischen Revolution als privilegiertes Mittel des Kulturkampfs erwiesen hat: Je nach politischer Intention ließ sich das Bedeutungsfeld des elastischen Allgemeinbegriffs verschieben, und darin lag gerade die Effizienz seiner Verwendung beschlossen. [...] Je funktionaler zu politischen Interessen die ‹Geschichte› gehandhabt wurde, desto mehr verfiel sie einer grundsätzlichen – nicht nur gewollten – Fälschung, einer Ideologie, der sie schon aus Gründen der moralischen Selbsterhaltung der Wortverwender nicht mehr entraten zu können schien.34

Unter diesen theoretischen Voraussetzungen sollen Wolfs Geschichtsauffassung und seine Darstellung der brasilianischen Literaturgeschichte in Verbindung mit der Sichtweise der herrschenden Klasse gebracht werden und als Beispiel dafür dienen, wie Ideologien in diesem Sinne entstehen können.

34 Reinhart Koselleck: Geschichte, Historie. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 709.

2 Die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire 2.1 Ferdinand Wolf, Romanist und Beamter der kaiserlichen Hofbibliothek Ferdinand Wolf wurde ein Jahr nach seinem Tode von einem engen Freund, Adolf Ebert,1 in einem umfangreichen Aufsatz mit dem Titel ‹Seine Bedeutung für die romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte› mit folgendem Wortlaut beschrieben: Hiermit hängt zusammen seine politische, ästhetische und religiöse Vorurteilslosigkeit in der Behandlung wissenschaftlicher Fragen: Seiner Privatmeinung, seinem Geschmacke, seinem Glauben gestattete er darauf keinen maßgebenden Einfluss. [...] Die großen und mannigfachen wissenschaftlichen Verdienste Wolfs fanden nicht bloß in Deutschland, sondern auch im Ausland [...] viel Anerkennung. Die Auszeichnungen, der Ruhm der ihm dort wurde, sind als der deutschen Wissenschaft dargebrachte Huldigungen, welche den Bereich ihres

1 Adolf Eberts Biographie wird in Allgemeinen Deutschen Biographie von Ludwig Fränkel verfasst und enthält wichtige Hinweise über seine Beziehung zu Wolf, vor allem über deren Zusammenarbeit bei der Herausgabe des Jahrbuches für romanische und englische Sprache und Literatur zwischen 1859 und 1863. Ebert war Professor an der Universität Marburg und wurde 1862 zum neu gegründeten Lehrstuhl der romanischen Sprachenwissenschaften an der Universität Leipzig berufen. Seine Beschäftigung mit politischer Geschichte in Spanien unter Karl V. führt ihn zum Studium der romanischen Sprachen (nicht aber des Portugiesischen), darüber hinaus widmet er sich auch der deutschen Literaturgeschichte. Ähnlich wie bei Wolf ist die Basis seiner wissenschaftlichen Tätigkeit die Erforschung mittelalterlicher Literatur in Europa, die er als Ausdruck einer kulturellen Einheit sieht. Lange Zeit stand er in Fränkels Worten «im fatalen Geruch eines Demokraten» aufgrund eines Briefs des 1848 «standrechtlich» erschossenen Republikaners Robert Blum, was seine Karriere stark beeinträchtigt. Dies führt ihn u. a. zu einer gewissen «Austrophilie» oder dem Wunsch, im «Ausland» zu sein. Fränkel zitiert ihn wie folgt: «Ich schätze überhaupt die Süddeutschen höher als die Norddeutschen, und nichts ist mir mehr zuwider als das wahrhaft sterile Preußentum. Einen Wunsch habe ich nur, dass es Österreich gelingt, von dem Concordat sich zu befreien, dann wird das deutsche Element mit Leichtigkeit alle anderen niederhalten, und wenn sie nicht anders wollen, seine Herrschaft fühlen lassen», S. 233. Ludwig Fränkel: Adolf Ebert. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 48. Leipzig: Duncker & Humblot 1904, S. 230–241. Der Briefwechsel zwischen Ebert und Wolf wurde von Richard Wülker gesammelt. Richard Wülker: Briefwechsel zwischen Adolf Ebert und Ferdinand Wolf. In: Berichte über die Verhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaft zu Leipzig. Philologisch-historische Classe. Bd. 51, II. Leipzig: Teubner 1889, S. 77–139. Ebert schrieb auch eine Rezension zu Le Brésil littéraire. Literarischen Zentralblatt für Deutschland 34 (22.08.1863), S. 807–808.  

https://doi.org/10.1515/9783110697889-002

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2 Die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire

Einflusses, ihrer Herrschaft nicht bloß beurkundeten, sondern erweiterten, von allgemeiner Bedeutung.2

Wolfs Hingabe an die Wissenschaft und seine vermeintlich neutrale, objektive Beurteilung literarischer Werke wird auch von anderen Biographen und Autoren emphatisch betont.3 Diese Vorstellung der Wissenschaft und der Geschichtsschreibung muss historisch betrachtet werden: Wird das 18. Jahrhundert als das «philosophische Jahrhundert» bezeichnet, so kann das 19. Jahrhundert als das «historische» verstanden werden, wie Eduard Schmidt in seiner Monographie Umrisse zur Geschichte der Philosophie zeigt.4 Obwohl die Perspektiven der damaligen Historiker sich stark voneinander unterscheiden, besteht eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen: Ihnen weist die Geschichte auf «das kontinuierliche Wachstum von Staat und Volk theoretisch hin [...]».5 Die historische Darstellung sollte sich mit der Menschheit als Gattung beschäftigen und sich für die besonderen Erscheinungsformen von «Nation, im Volk und im Staat» interessieren. Historische Quellen dienen der materiellen Begründung für die Selbsterkenntnis, das SichBewusstwerden, ganz im Sinne einer «eigenen nationalen Eigentümlichkeit».6 Vor diesem wissensgeschichtlichen Horizont veröffentlichte Wolf zahlreiche Aufsätze, kritische Kommentare und Buchbesprechungen, welche den größeren Teil seiner Produktion umfassen. Sie werden häufig neben den von Ebert genannten Leistungen als Beweis dafür angeführt, dass Wolf seine Themen stets aus einer unbefangenen Perspektive betrachtet habe.7 Diese Darstellung von Wolfs

2 Adolf Ebert: Ferdinand Wolf. Seine Bedeutung für die romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte, S. 303. 3 Die nationalistische Rezeption von Le Brésil littéraire in Brasilien, selbst im 20. Jahrhundert, reproduziert dieses Bild von Wolf, wie etwa in der ‹Einleitung› von César zu lesen ist: Wolf sei «um representante qualificado da historiografia romântica» (S. XLIX), «austríaco de boa cepa» (S. L) «homem de experiência, versado em várias disciplinas» (S. L). Guilhermino César: Historiadores e críticos do Romantismo. 1. A contribuição europeia: crítica e história literária. Rio de Janeiro: LTC Livros Técnicos e Científicos; São Paulo: Edusp 1978. 4 Zitiert in Reinhart Koselleck: Geschichte, Historie, S. 367. 5 Ebda. 6 Ebda. 7 Constantin von Wurzbach: Ferdinand Wolf. «Diese ausgezeichnete wissenschaftliche Tätigkeit des Gelehrten fand auch von allen Seiten ehrende Anerkennung. Nachdem ihn Spanien wiederholt, dann Portugal, Frankreich, Brasilien, Dänemark und Bayern, dieses mit dem Maximiliansorden für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet hatten, verlieh ihm unser Monarch das Ritterkreuz des Franz Joseph-Ordens. Die Wissenschaft aber beteiligte sich an der Anerkennung des Gelehrten, indem ihn die Akademien von Berlin, Göttingen und München, die Académie des inscriptions et belles lettres, die Akademie der Geschichte zu Madrid und viele andere unter ihre Mitglieder aufnahmen, und österreichischerseits war er schon am 14. Mai 1847 zum wirklichen Mit-

2.1 Ferdinand Wolf, Romanist und Beamter der kaiserlichen Hofbibliothek

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Leistung war von langer Dauer und wurde sogar noch 1980, in der einzigen Dissertation über seine Schriften zur spanischen Literatur, wiederholt.8 Die Autorin Annelise Habel konzentriert sich auf die literarischen und philosophischen Ansprüche Wolfs,9 seine Tätigkeit als Beamter bei einer zentralen wissenschaftlichen Einrichtung der Habsburger Monarchie wie der kaiserl. kgl. Hofbibliothek wird nur beiläufig erwähnt. Habel bestätigt immerhin, dass Wolf aus einer zeitgenössischen Sicht eher als vergessener Autor gehandelt wird und versucht eine Erklärung dafür zu finden. Aus Habels Perspektive hänge Wolfs «romantische Sicht» damit zusammen: «Wahrscheinlich hat man ihn zu sehr in der deutschen Romantik verhaftet gesehen. Mit ihrem Ende mag auch das Vergessenwerden des Wissenschaftlers Wolf angefangen haben».10 Habels Hypothese lässt sich ergänzen, denn Wolfs «Vergessenwerden» liegt, wie im Folgenden gezeigt werden wird, nicht nur in seiner «Verhaftung in der deutschen Romantik» begründet. Wolfs Weltanschauung ist zwar zeitbedingt, lässt sich aber anhand einer Untersuchung seiner Schriften und der biographischen Artikel präzisieren und im komplexeren Rahmen der imperialen Regierungspolitik des Habsburgerreiches verorten. Ohne ein klares Verständnis von Wolfs loyalem Engagement im Zuge der Politik Metternichs für die Wissenschaften nach dem Wiener Kongress 1815 und eben nach 1848 in den neo-absolutisti-

gliede, am 29. Juli 1847 zum zweiten Sekretär und zum Sekretär der philosophisch-historischen Klasse der kaiserlichen Akademie der Wissenschaft ernannt worden. [...] Als Mensch genoss Ferdinand Wolf allgemeine Achtung und in Gelehrtenkreisen seines Faches großes Ansehen wegen der Gründlichkeit und Gediegenheit seiner Forschungen», S. 275. Ähnliches liest man auch bei Rudolf Beer: Ferdinand Wolf. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 43. Herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Leipzig: Duncker & Humblot 1898. «Hervorragender Forscher auf dem Gebiete der romanischen Philologie und Mitbegründer dieser Wissenschaft», S. 729. Siehe auch Edmund Stengel (Hg.): Vorwort. In: Kleinere Schriften von Ferdinand Wolf, und Adolf Mussafia: Zur Erinnerung an Ferdinand Wolf. 8 Annelise Habel: Ferdinand Wolf. Ein Beitrag zur Geschichte der Romanischen Philologie. «Das äußere Leben Wolfs lässt sich anhand weniger biographischer Daten nachzeichnen. Es ist das eines Gelehrten ohne große äußere Begebenheiten, ohne aufregende oder spektakuläre Stationen. Darin entspricht es den üblichen Lebensläufen der Gelehrtengeneration des 19. Jahrhunderts», S. 14. 9 Wie etwa im Kapitel über ‹Wolfs Akademierede›, in welchem sie feststellt: «Universelles Interesse hieß bei ihm [Wolf]: sich nicht beschränken auf die kleine Welt des Vaterlandes, sondern Sinn und Interesse haben für die kulturellen Erzeugnisse fremder Länder; sie in ihrer Eigenheit möglichst werfrei [sic] erkennen und darstellen». Auch Habel interpretiert Wolfs Leistung also als «wertfrei» und «kosmopolitisch», was sich in seinen Werken nur mit Schwierigkeiten nachweisen lässt, wie in dieser Studie gezeiget wird. Ebda., S. 65. 10 Ebda., S. 110.

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2 Die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire

schen Zeiten des Kaisers Franz Joseph I.,11 wären sein Werk, seine literaturpolitische Agenda und deren Paradoxien nur unvollständig nachvollziehbar. Ein Beispiel dafür ist Wolfs explizites Bekenntnis zum Katholizismus in allen seinen Texten, das von seinem Biographen Constantin von Wurzbach 1889 anhand einer Anekdote problematisiert wurde: Merkwürdig steht er in Betreff seiner religiösen Anschauungen da, hinsichtlich deren man ihn für den eifrigsten Katholiken zu halten Ursache hätte, und doch war er nichts weniger als ein solcher. In seinen religiösen Ansichten ganz Pantheist, erkannte er nur den Gott der Philosophie, war aber dabei so ultrakonservativ und ein so entschiedener Feind politischer und religiöser Ruhestörungen, dass er, den Katholizismus als das sicherste Mittel gegen die genannten Übel betrachtend, ihm bei jeder Gelegenheit Lobreden hielt. Interessant ist ein Urteil Halm’s [Münch-Bellinghausen] über ihn, welches dieser gelegentlich einer Fahrt nach Hütteldorf, wo Rettichs wohnten, tat. «Der alte Wolf», bemerkte Halm, «ist doch ein sonderbarer Kauz; er selbst glaubt eigentlich an gar nichts, möchte aber am liebsten alle Welt katholisch machen können».12

Im historischen und kulturpolitischen Zusammenhang der Restauration und des sogenannten Vormärz in Wien – aber eben auch danach – stellt sich die religiöse Auseinandersetzung als eine nicht nur individuelle, sondern auch politische, wissenschaftliche und ideologische Frage.13 Die Restauration basiert unter anderem

11 Nach Napoléons Niederlage wurde die Landkarte Europas unter Beachtung eines Gleichgewichts der fünf Großmächte, die aus den Kriegen gegen Napoléon hervorgegangen waren, stark umgestaltet: Russland, Großbritannien, Frankreich, Österreich und Preußen. Dem Wiener Kongress 1815 und der Zeit der Restauration (1815–1830) zum Trotz, die dazu dienen sollten, Frieden zu schließen und zu erhalten, verbreiteten sich weitere revolutionäre Gegenwellen in drei Phasen: Die erste, in den 1820er Jahren mit der Unabhängigkeit von Griechenland und den spanischen Kolonien in Lateinamerika, die zweite zwischen 1829 und 1834 mit der Sturz der Bourbonen in Frankreich durch die Julirevolution und mit den Erhebungen in anderen Ländern wie Italien und Deutschland, und schließlich die dritte und größte im Jahr 1848 mit dem Völkerfrühling. Diese Erschütterungen brachten zwei politische Innovationen mit sich, so Eric Hobsbawm: die unabhängige selbstbewusste Arbeiterbewegung und die nationalistische Bewegung. Eric Hobsbawm: The Age of Revolution (1789–1848) [1962]. New York: Vintage 1996, S. 132. 12 Constantin von Wurzbach: Ferdinand Wolf, S. 276. Eligius Franz Joseph Freiherr von MünchBellinghausen wurde ab 1845 erster Kustos an der kaiserl. kgl. Hofbibliothek. Von 1869 bis 1871 übernahm er die Stelle des Generalintendanten im Wiener Hoftheater und war mit der Schauspielerin Julie Rettich, auch in dieser Passage erwähnt, sehr eng verbunden. 13 Eric Hobsbawm: The Age of Revolution (1789–1848). «All official churches were ipso facto Conservative, though only the greatest of them, the Roman Catholic, formulated its position as flat hostility to the rising Liberal tide. In 1864 Pope Pius IX defined its views in the Syllabus of Errors. This condemned, with equal implacability, eighty errors including ‹naturalism› (which denied the action of God upon men and the world), ‹rationalism› (the use of reason without reference to God), ‹moderate rationalism› (the refusal of ecclesiastical supervision by science and philosophy),

2.1 Ferdinand Wolf, Romanist und Beamter der kaiserlichen Hofbibliothek

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auf der Verbindung von Monarchismus und Katholizismus. Beispiel dafür ist der Aufenthalt von Metternich und Friedrich Schlegel in Rom im Jahr 1819 und die «nachfolgende Annäherung der offiziellen österreichischen Politik an Kurie und Kirche».14 Ab diesem Moment wurde der katholische Idealismus, beispielsweise in Form von Friedrich Schlegels Publikationsprojekt Concordia (1820) von Metternich, erlaubt.15 Schlegel verbreitete in der Zeitschrift die Idee einer «positiven Wissenschaft», welche die «geoffenbarten Wahrheiten der katholischen Kirche»16 beinhaltete. Historisch betrachtet hat die Fokussierung auf das ‹Positive›, d. h. das Faktische, darüber hinaus das Ziel, den politischen status quo und den ethischen Anspruch der Religion zu verbinden. Ausgehend von der Vermutung, dass Wolfs Katholizismus wohl politische Gründe hat, also öffentlichen Interessen folgt, und der Tatsache, dass es unmöglich ist, zu beurteilen, was Wolf tatsächlich innerlich bewegte, stütze ich meine Hypothesen auf seine Texte, die seine Ansichten in der Wiener Öffentlichkeit als Gelehrter, Philologe, Romanist und Literaturhistoriker, aber vor allem als Beamter bei einer kaiserlichen Einrichtung kundgaben. Somit füge ich Wolfs Werke in einen «systematischen Kontext» ein, denn diese Werke sind nicht nur Ausdruck von Wolfs persönlichen Ambitionen, sondern repräsentieren vielmehr Interessen der Habsburgermonarchie. Meine Betrachtungsweise von Wolfs Leistungen hat die rezente Interpretation der Rolle Österreichs in der Kolonialgeschichte Europas zur Grundlage. Ein Musterbeispiel hierfür liefert Walter Sauer:  

[...] it seems crucial that colonial activities by individuals should also be placed into a systematic context. We have to understand them as representations not just of personal ambitions, but of specific interests. These interests were political, economic, scientific and cultural, religious etc., and they could arise from civil society or to [sic] government or both. They could be advanced in various strategic frameworks. They could be practised to the be-

‹indifferentism› (the free choice of any religion or none), secular education, the separation of church and state and in general (error no. 80) the view that ‹the Roman Pontiff can and ought to reconcile himself and come to terms with progress, liberalism and modern civilization›. Inevitably the line between right and left became largely that between clerical and anticlerical», S. 131. 14 Silvester Lechner: Gelehrte Kritik und Restauration. Tübingen: Niemeyer 1977, S. 70. 15 Concordia ist eines der größten Projekte Friedrich Schlegels aus seiner Wiener Zeit. 1820 gab er seine Stelle als Diplomat in der Regierung Metternichs auf, um sich lediglich der Herausgabe der Zeitschrift zu widmen. Im Vordergrund dieses Projekts standen religiöse Themen: Es sollte ein rein katholisches Organ sein, selbst wenn die ursprüngliche Idee auch protestantische Autoren einzubeziehen plante. Siehe Johannes Endres (Hg.): Friedrich Schlegel Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2017. 16 Silvester Lechner: Gelehrte Kritik und Restauration, S. 301. Der Autor erklärt weiter: «Jede Naturkenntnis wird damit von Gotteserkenntnis abhängig und jede Wissenschaft ist notwendig christliche Wissenschaft», S. 302. Hervorhebung im Original.

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nefit not only of Austria-Hungary, but frequently of other European countries as well which were more active in colonial policies and thus appeared more attractive. Consequently, when debating the Habsburg Empire’s role in overseas expansion, more attention needs to be given to contributions by Austrian civil society to these other powers in order to get a full picture. Anyway, re-examining Austria-Hungary’s significance in that area requires us to take into account the activities of its civil society, and not only those of the government.17

Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die oben zitierte Passage über Wolfs Bekenntnis zum Katholizismus, lässt sich vermuten, dass Wolf in seinem öffentlichen Leben stets Gelegenheit fand, zielorientierte Inhalte zu verbreiten. Es ist denkbar, dass nicht nur sein Bekenntnis zum Katholizismus, sondern auch für andere umstrittene Fragen galt. Seine Schriften könnten in diesem Sinne auch als politisches Vehikel für die Ideologisierung und für eine parteiische Stellungnahme gegen «politische und religiöse Ruhestörungen» verstanden werden. Wolfs wissenschaftliche Neutralität zu postulieren, erscheint letztlich nicht mehr so gerechtfertigt, wie es von den Biographen betont wurde. Ungefähr zehn Jahre nach Wurzelbachs Biographie wurde Wolfs Lebensgeschichte erneut von Rudolf Beer dargestellt. Von Anfang an unterstreicht Beer den Einfluss der romantischen Schule auf Wolfs Weltanschauung. Bei ihm wird jedoch die Verbindung zwischen Literatur und Patriotismus in den Analysen von Wolfs Beiträgen nicht außer Acht gelassen. Beer weist darauf hin, dass sich Wolf mit seinen theoretischen Schriften auch auf dem Schlachtfeld der «Befreiung des deutschen Vaterlandes» bewegte, d. h. am «nationalen Kampf», teilhatte, zwar aus einer gewissen Distanz, aber durchaus energisch:  

Wolf stand in seinen ersten Forscherjahren fast völlig auf dem Boden der Romantik [...]. Die Ziele der Schule: Verschmelzung von Poesie und Leben, Eindringen in die Zauberwelt des Mittelalters, vor allem in die Äußerungen volkstümlicher Dichtung und nationalen Singens und Sagens schwebten Wolf verlockend vor den Augen. Wie sehr die allgemeinen politischen Verhältnisse gerade damals solche Bestrebungen begünstigten, ist bekannt. Man täte dem allerdings still für sich fortarbeitenden Gelehrten Unrecht, wollte man annehmen, dass die mächtigen politischen Umwälzungen zu Beginn unseres Jahrhunderts an ihm spurlos vorübergegangen wären. Wenn es ihm auch nicht vergönnt war, persönlich an der Befreiung des deutschen Vaterlandes mitzuwirken [...] so verfehlte der nationale Kampf gerade bei dem forschenden Literarhistoriker keineswegs seine Wirkung.18

In einem weiteren Auszug erklärt Beer, wie sich Wolfs Engagement gegen Frankreich zu einem «nationalen Stolz» entwickelt hat. Wolf lobt seine deutschen

17 Walter Sauer: Habsburg Colonial: Austria-Hungary’s Role in European Overseas Expansion Reconsidered. In: Austrian Studies 20 (2012). Colonial Austria: Austria and the Overseas, S. 22. 18 Rudolf Beer: Ferdinand Wolf, S. 730. Eigene Hervorhebungen.

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Landsmänner in einer derart übertriebenen Weise, dass Beer zu der Feststellung kommt, Wolfs «ganzes Lebenswerk» widme sich der rhetorischen Vergrößerung der Leistung des «deutschen Volks». Wolfs Beschäftigung mit «dieser hohen Aufgabe» identifiziere ich als eindeutiges Signal für seine literaturpolitische Agenda: Mit Stolz registriert Wolf die Leistungen des durch die Fremdherrschaft gerade am schwersten geprüften Volkes, der Deutschen, auf diesem Felde nationaler Wiedergeburt; zum Preise eines Uhland, Herder, Jacob Grimm, Depping, der Schlegel, Tieck, Geibel, Schack scheint ihm kein Lobeswort genügend, und fast möchte es scheinen, als ob Wolfs ganzes Lebenswerk in dem Vorsatze aufging, den größten Schatz eines Volkes, das Bewusstsein seiner Kraft und seines Wertes, zu heben. Dieser hohen Aufgabe sucht er seinerseits durch möglichst eindringliche Erforschung und Darstellung der echt nationalen Denkmäler der Literatur zu genügen.19

Schon diese Beispiele können als Beleg dafür gelten, dass bei Wolf die Tätigkeit als Gelehrter nicht von einer tief empfundenen «politischen Aufgabe» zu trennen ist. Wolfs Verpflichtung gegenüber dem habsburgischen Patriotismus und den Richtlinien des dynastischen Denkens lässt sich in seinen eigenen Worten über seine Freundschaft mit dem Außenminister und ab 1821 Haus-, Hof- und Staatskanzler der Habsburger Monarchie, Fürst von Metternich, in dem Artikel ‹Über Lope de Vega’s Comedia famosa de la reina María› nachvollziehen: Sie [die Comedia] ist aber in der eigenhändigen Handschrift des Verfassers auf uns gekommen, früher in der Bibliothek des Herzogs von Osuna [...], nun im Besitze S. D. des Fürsten von Metternich welcher dieses kostbare Geschenk vom Herzoge erhalten und die Gnade gehabt hat, es mir anzuvertrauen, mit der Erlaubnis das Stück zu veröffentlichen. Dies verspare ich mir zwar für eine andere Angelegenheit; aber ich glaubte es der Gnade des Fürsten und dem Interesse der Akademie schuldig zu sein, von einer Dichtung die von Lope’s Geist und Hand herrührt (es de Lope!), schon jetzt und hier wenigstens eine ausführlichere Analyse mit Auszügen zu geben.20

Zwei Punkte fallen hier auf: Erstens, es bestand zwischen Metternich und Wolf eine vertraute Beziehung. Zweitens, Wolf musste seine «Schuldigkeit» gegenüber der «Gnade des Fürsten» und dem «Interesse der Akademie» der Wissenschaft tun. Darüber hinaus scheint es kein bloßer Zufall, dass es gerade um Lope de Vega (1562–1635) geht: Das Siglo de oro entspricht ungefähr der Herrschaftszeit des

19 Ebda. Eigene Hervorhebungen. 20 Ferdinand Wolf: Über Lope de Vega’s Comedia famosa de la reina María, S. 241. Eigene Hervorhebungen.

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Hauses Habsburg in Spanien.21 Auf jeden Fall scheint es klar, dass das Argument der Überlegenheit der Wissenschaft über allen parteiischen Beurteilungen eher als Anhaltspunkt für eine bestimmte ideologische Position gilt. Wolfs Loyalität gegenüber der Habsburgermonarchie muss also im größeren historischen und kulturpolitischen Zusammenhang verstanden werden. Ich führe hier als musterhafte Beschreibung der sozialpolitischen Lage Österreichs vor 1848, d. h. unter der Regierung von Metternich, die Artikelreihe «Revolution and Counter-Revolution in Germany»22 von Friedrich Engels an, die jener als Korrespondent für die Tageszeitung New York Daily Tribune verfasste. In diesen Texten untersucht Engels als Beobachter von außen die Ursachen, die zur Niederlage der revolutionären Aufstände in den Jahren 1848 und 1849 geführt hatten, durch eine ausführliche Darstellung der Lebensbedingungen der handelnden Klassen in Preußen und Österreich, den größten Mächten des Deutschen Bundes.23 Österreich, so Engels: «was considered as an entirely barbarian country, of which very little was known, and that little not to the credit of its population; Austria, therefore, was not considered as an essential part of Germany.»24 Engels’ Behauptungen erklären sich vor allem durch die Politik des Fürsten Metternich, der zwischen 1815 und 1848 die Restaurationszeit gestaltete. Metternichs Wiederherstellung des monarchischen Absolutismus wurde, wie Engels beschreibt, von zwei Klassen abgesichert: den feudalen Grundherren und den Börsenfürsten, die er so strategisch gegeneinanderstellte, dass die Regierung frei war zu handeln, wie sie wollte. Ein weiterer Faktor war, dass Österreich ein Vielvölkerreich war. Für Metternichs Regierung spielten die anderen Klassen eine weniger wichtige Rolle: Die Handels- und Industriebourgeoisie entwickelte sich eher langsam, denn der Handel über den einzigen Seehafen Triest war sehr einge 

21 Karl V. übernimmt die spanische Krone im Jahr 1516 und festigt so die internationale Herrschaft des Hauses Habsburg über Europa hinaus. Um Wolfs literaturpolitisches Projekt besser zu verstehen, muss die Verbindung zwischen der Casa de Austria in Spanien und dem Siglo de Oro in Betracht gezogen werden. Lope de Vega lebte genau zur Regierungszeit der spanischen Nachfolger Karls V., der bis 1556 regierte, Philipp II. (1556–1598) und Philipp III. (1598–1621). Perry Anderson: Spain. In: Lineages of the Absolutist State [1974]. London: NBL 1977, S. 60–84. 22 Friedrich Engels: Revolution and Counter-Revolution in Germany. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe I. Berlin: Dietz Verlag, 1985, Bd. 11, S. 3–85. 23 Ebda., S. 15*. Laut Engels liegt die Erklärung der Erfolge der Konterrevolution vom historischen Standpunkt aus nicht in den zufälligen Tatsachen oder Misshandlungen und dem Verrat bestimmter Menschen, sondern in dem allgemeinen gesellschaftlichen Zustand, der spontan die nationalen Bedürfnisse als Ausdruck verschiedener Klasseninteresse zum Widerstand bewegte. Das war das erste Mal, dass «die Arbeiterklasse als selbstständig handelnder Faktor in einer großen Revolution aufgetreten» war. 24 Ebda., S. 21.

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schränkt. Die Fabrikanten waren also vor ausländischer Konkurrenz geschützt und die Privilegien der Zünfte und anderer feudaler Korporationen wurden aufrechterhalten. Den Angehörigen der Arbeiterklasse und den Bauern, die als bloße Objekte behandelt wurden, war die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs fast vollkommen unzugänglich. Weiter stellt Engels fest, dass diese künstliche Stabilität auch das geistige Leben beeinträchtigte: Die Erziehung blieb in den Händen der Katholiken, die Universitäten vermittelten keine freisinnige Allgemeinbildung, es herrschte Presseund Literaturzensur, die keinem ausländischen Buch, keiner ausländischen Zeitung erlaubten, Österreich zu erreichen. Nach dreißig Jahren erfolgreicher Isolation war, so Engels, Österreich für Europa fast unbekannt, und man kannte Europa in Österreich ebenfalls nicht. Eine der erfolgreichsten Maßnahmen Metternichs war die Gründung und Führung von Jahrbüchern durch die Staatsorgane, was Silvester Lechner in seiner sehr aufschlussreichen Arbeit über «Metternichs Wissenschaftspolitik und die Wiener Jahrbücher der Literatur» nachzeichnet: Er veranlasste die Gründung [der Jahrbücher] [...], er sicherte die finanzielle Unabhängigkeit durch einen geheimen Fond der Staatskanzlei, er hatte die Oberaufsicht über Redaktion, Mitarbeiter und Inhalt, und er war schließlich der letzte und einzige, der die Jahrbücher trotz des Desinteresses beim in- und ausländischen Publikum und trotz vereinzelter Angriffe aus dem eigenen Lager bis zu seinem Sturz hinwegrettete. Auch was Aufnahme und Wirkung der Zeitschrift anbelangt, so wurden beide von dem Bild, das man sich von Österreich und d. h. von Metternich und seinem System machte, weitgehend bestimmt.25  

Wie Lechner bemerkt, förderte Metternich die Jahrbücher als eine Form ideologischer Kontrolle in den Wissenschaften. Die Jahrbücher seien «die kostspieligste und breitest angelegte ‹Propagandamaßnahme› der Österreichischen Regierung vor der März-Revolution von 1848».26 Diese Maßnahme gehörte u. a. zum sogenannten Metternich-System, dessen Ziel darin bestand, «vorwiegend Erlebnis und Erfahrung der Revolution (s. u.) bzw. die theoretische Verarbeitung bei deren französischen und englischen Gegnern [...]»27 zu blockieren. Die Repräsentanten der Wissenschaften sollten sich möglichst «frei» von revolutionären Ideen verhal 

25 Silvester Lechner: Gelehrte Kritik und Restauration, S. 41. Hervorhebungen im Original. 26 Ebda., S. 4. Lechner stellt weiter fest: «Er [Metternich] war es, der die zwar in ganz Europa verbreitete, doch bald schon bei Freund und Feind unbeliebte Zeitschrift protegierte, weil er sie einmal (1817/18) als politische Notwendigkeit erkannt und dem ‹status quo seines ErhaltungsSystems integriert› hatte. Die Jahrbücher wurden ein repräsentativer Bestandteil des österreichischen Absolutismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts». 27 Ebda. Eigene Hervorhebung.

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ten. Diese Vorgaben galten für alle staatlichen Institutionen, sodass sich die kaiserl. kgl. Hofbibliothek als zentrale Institution, neben dem Münz- und Antikenkabinett und dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, für die zielorientierte wissenschaftliche Produktion herausbildete. In Lechners Worten: Herausgefordert von der ‹Geschichtslosigkeit› der neuen, staatsfeindlichen Ideologien und der Revolution, angeregt von der romantischen Entdeckung des Mittelalters, konnten hier in Kontinuität, gegenseitigem Austausch und mit staatlicher Förderung die Quellen und Fundamente des durch die Tradition beglaubigten Staates freigelegt, gehegt und gesammelt werden.28

Lechner legt in seinem Buch dar, dass Wolf damals zu den ausgezeichnetsten Mitarbeitern zählte und umfangreiche Rezensionen und Buchbesprechungen nach den Vorschriften des Systems lieferte. «Es bestand der Anspruch», so Lechner, «aus dem ganzen Deutschen Bund Mitarbeiter zu sammeln, die, möglichst bekannt und politisch loyal, das Bild reiner, von der Zeit unberührter Wissenschaft geben sollten».29 Als Wolf noch Skriptor an der kaiserl. kgl. Hofbibliothek war, stand er neben anderen wie Deinhardstein, Hormayr und Moshammer als die «führenden Repräsentanten ihrer Wissenschaft» und gehörte aus diesem Grund zu den ersten Mitgliedern der Wiener Akademie.30 An anderer Stelle hebt Lechner hervor: «So sind Hormayr (bis 1826), Kopitar, Hammer-P., Wolf, Mosel, in Einzelbeispielen noch mancher andere, staatliche ‹Generalbevollmächtigte› in ihrem Fach, in einem gewissen Sinn ‹Duodezfürsten› in ihrem Terrain».31 Wolfs erster Beitrag für die Jahrbücher der Literatur wurde 1824 veröffentlicht,32 als Franz Bernhard von Buchholtz Redakteur war.33 Im Publikationsprogramm von Buchholtz wurden die Mitarbeiter mit der Aufgabe betraut, den «theoretischen» Kampf gegen die Revolution zu unternehmen, während die Regierung den «praktischen Kampf» unternahm.34 Wie Lechner selbst zusammenfasst, war die gesamte Publikationszeit der Jahrbücher von drei Stoßrichtungen geprägt: einer josefinischen, einer gouvernementalen und einer re-

28 Ebda., S. 109. 29 Ebda., S. 244. 30 Ebda., S. 245. 31 Ebda., S. 338. 32 Ferdinand Wolf: Bibliographische Nachricht von einigen der neuesten Ausgaben von Dante’s Werken. In: Jahrbücher der Literatur 26 (1824), S. 38–51. Wolf veröffentlichte insgesamt zehn Beiträge zwischen 1824 und 1848. Silvester Lechner: Gelehrte Kritik und Restauration, S. 404–405. 33 Franz Bernhard von Buchholtz (Münster, 1790 – Wien, 1838) war Redakteur zwischen 1821 und 1825. Silvester Lechner: Gelehrte Kritik und Restauration, S. 200–217. 34 Ebda., S. 209–210.

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form-katholischen. Letztere lag vor allen in den Händen von Schlegel, wie bereits oben erwähnt.35 Ab 1845 übernahm der Dichter Eligius Franz Joseph Freiherr Münch von Bellinghausen (Pseudonym Friedrich Halm) die Stellung des ersten Kustos und führte Reformen in der kaiserl. kgl. Bibliothek durch, welche zwar als liberal betrachtet wurden,36 die Struktur des Systems aber erhielten. Bis zum seinen Tode 1871 leitete Bellinghausen eine Gruppe in der Regierungspolitik aktiver Gelehrter, welche diese Zeit in der Geschichte der kaiserl. kgl. Bibliothek als eine der, so Bellinghausen, «glänzendsten» prägten.37 Wolf, der von ihm als die «vorzüglichste Zierde der Hofbibliothek» benannt wurde,38 erreichte während dieser Zeit die höchste Position seiner Karriere.39

35 Ebda., S. 163. 36 In der Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek wird die Tätigkeit Bellinghausens als positiv betrachtet, er habe die Einrichtung in vielerlei Sicht modernisiert. Die Bibliothek litt unter Raumnot, die Bücher standen in zwei, sogar drei Reihen hintereinander in den Regalen, und waren unter den schädlichen Einflüssen von Hitze, Kälte und Feuchtigkeit. Es fehlten verlässliche Kataloge, und das Stammpersonal von vier Kustoden, vier Skriptoren und drei Kopisten war nicht ausreichend für Katalogisierung und Verwaltungsarbeiten. Alle diese Probleme löste Bellinghausen durch die Beantragung einer außerordentlichen Dotation, die auch den Erwerb literarischer Seltenheiten ermöglichte. Bellinghausens größtes Verdienst ist wohl die Katalogisierung des gesamten Buchbestandes der Hofbibliothek: Seit 1845 erschienen der Katalog der hebräischen Handschriften, der Katalog der orientalischen Handschriften, der Katalog der abendländischen Handschriften, unter Oberleitung von Wolf, und ein Katalog der Sammlung von Autographen, Inkunabeln, und Kupfertischen. Er sorgte auch dafür, den Bestand der Bibliothek durch Verhandlungen mit Antiquaren und Bücherlieferanten, Forschungsreisen und Auktionen zu vermehren. Beispiel dafür ist die Teilnahme der kaiserl. kgl. Hofbibliothek an der beim Verleger und Antiquar Adolf Asher 1848 in Berlin veranstalteten Tieck-Auktion. Eine weitere Neuigkeit, nach dem Beispiel aller großen Bibliotheken Europas, war die Aufstellung der typographischen und handschriftlichen Seltenheiten in chronologischer Reihenfolge in Vitrinen im Großen Saal, die dem Publikum zum ersten Mal gezeigt wurden. Josef Stummvoll (Hg.): Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek, Erster Teil: Die Hofbibliothek (1368–1922). Wien: Georg Prachner Verlag 1968, S. 449. 37 Ebda., S. 454. 38 Wolf widmete Bellinghausen seinen Sammelband Studien zur Geschichte der portugiesischen und spanischen Nationalliteratur: «Wenn ich mir erlaube, Ihre gefeierten Namen, sehr verehrte Freund und Fachgenossen, diesen Blättern vorzusetzten, so darf ich wohl auf Ihre Genehmigung hoffen; denn in Folge Ihrer Aufforderung habe ich es unternommen, sie zu sammeln und wiederherauszugeben. [...] So glaube ich nach bestem Wissen und Gewissen getan zu haben, was ich nicht nur der Wissenschaft und mir selbst, sondern auch Ihnen, sehr verehrte Freunde, schuldig war, um Sie Ihre vertrauensvolle Aufforderung nicht bereuen zu machen». Ferdinand Wolf: Widmung. In: Studien zur Geschichte der portugiesischen und spanischen Nationalliteratur, ohne Seite. 39 Wolfs steile Karriere an der kaiserl. kgl. Bibliothek wird von Beer wie folgt geschildert: «Wolf bewarb sich am 12. Dezember 1819 um die Stelle eines unbesoldeten Praktikanten an der k. k. Hof-

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So wurde die Hofbibliothek unter der Ära Münchs – des ‹Literaten› – tatsächlich zum Mittelpunkt des geistigen Lebens der Stadt Wien und des österreichischen Kaiserstaats, und die heftigen Kritiken an Münchs Amtsführung zeigen nur das lebhafte Interesse, das die gesamte Bevölkerung an ‹ihrer› Hofbibliothek nahm.40

Doch die Aufstände in Frankreich im Februar 1848 erreichten schließlich auch Wien, was zum Sturz von Metternich führte.41 Engels schildert das Verhalten der Bourgeoisie nach dem Wiener Märzaufstand wie folgt: Während sich in Frankreich eine Revolution der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie entwickelte, um die bürgerliche Regierung zu stürzen und die Arbeiter zu emanzipieren, wurde in Preußen und Österreich gerade eben diese zerstörte Regierungsform errichtet.42 Mit der Niederlage des nachfolgenden Oktoberaufstands in Wien wurden die neuen Maßnahmen größtenteils zurückgenommen und der Absolutismus beinahe

bibliothek zu Wien, die er auf Antrag des Präfekten Ossolinski schon am 16. desselben Monats erhielt. Wolf’s Ernennung zum dritten Scriptor der k. k. Hofbibliothek erfolgte am 7. Dezember 1827; am 10. Februar 1838 rückte er zum 2. Scriptor, im Jahr 1853, nach dem Scheiden J. v. Eichenfeld’s zum 3. Kustos vor und wurde von da an Vorstand des Handschriftendepartements, welche Stellung er bis zu seinem Tode inne hatte». Rudolf Beer: Ferdinand Wolf, S. 729. 40 Josef Stummvoll (Hg.): Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek, S. 453–454 41 Die Auswirkungen der Märzrevolution machten sich auch im Bibliotheksalltag bemerkbar. Mit dem Austritt von Metternich proklamierte Kaiser Ferdinand die Pressfreiheit, das Entstehen einer Nationalgarde und eine Konstitution. Die Bevölkerung verlangte, dass die kaiser. kgl. Bibliothek die Öffnungszeiten bis sechs Uhr abends verlängerte und das ganze Jahr über geöffnet blieb, die Bücher sollten nach Hause ausgeliehen werden dürfen und ein Ausleihgeschäft sollte verfasst werden. Noch wichtiger war das Ende der Zensur, die nicht nur dem Leser, sondern auch selbst der Bibliothek das Erwerben von verbotenen Büchern unzugänglich machte. Dazu sollten Pflichtexemplare ausbleiben und nach dem Beispiel anderer konstitutioneller Staaten durch Organe der politischen Verwaltung erhoben werden. Doch die Verhandlungen darüber dauerten über zwei Jahre und selbst das Pressgesetz wurde mehrmals geändert. Erst 1863 wurde das Druckschriftverbot aufgehoben. Im November 1848 schlugen Flammen aus dem Dach der Hofbibliothek und das Feuer erfasste das erste Stockwerk des Naturalienkabinetts, das Dach des Augustinersaales sowie das Dach und den Turm der Augustinerkirche. Ebda., S. 426–431. 42 Friedrich Engels: Revolution and Counter-Revolution in Germany. Die politische Bewegung der Mittelklasse in Deutschland begann erst in den 1840er Jahren, als die kapitalbesitzende und industrielle Klasse ein «halbfeudales, halbbürokratisches» (S. 7) Regime nicht mehr duldete. In Frankreich hatte sie sich dagegen früher als eine mächtige und reiche Kraft in großen Städten insbesondere in Paris entwickelt. Dazu war die Vielfalt von Elementen, die eine Nation bilden, in Deutschland zu verschieden, sodass sich keine Gemeinsamkeit von Interessen, Zielen und Handlungen ergab. Der Deutsche Bund und sein Organ, der Bundestag, repräsentierten niemals eine deutsche Einheit. Die Gründung des Zollvereins spielte in diesem Sinne eine wichtigere Rolle, somit waren die Staaten an der Nordsee gezwungen, eine eigene Zollvereinigung zu bilden, während Österreich auch eine besondere Zollmauer aufbaute (S. 12).

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vollständig wiederhergestellt.43 Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) bestieg den Thron im Dezember 1848 und behielt ihn bis zum seinem Tode. Sein Hauptziel war es, die Legitimität des monarchischen Prinzips durchzusetzen und Österreich als zusammenhängenden Staat zu erhalten. In den Jahren 1851 und 1852 konsolidierten sich in Österreich die Kräfte der Reaktion, und die Idee der ‹deutschen Einheit›, die seit der Auflösung des Deutschen Reiches durch Napoléon bestanden hatte und die ein besonders Anliegen der Aufständischen 1848/1849 war, verwirklichte sich nicht. Obwohl Wolf alles andere als revolutionär war, befürwortete er die deutsche Einheit, mit Österreich in der Führungsrolle und einer monarchischen statt einer demokratischen Ordnung. In der Tat wurden sowohl in Berlin als auch in Wien konstitutionelle Regierungen errichtet, wie Engels erklärt, aber die Entzweiung der Opposition nach dem Sieg des Ancien Régime und das Bündnis zwischen der Bourgeoisie und den Anhängern des gestürzten Systems veränderten die feudale und bürokratische Struktur im Wesentlichen nicht. In seiner zusammenhängenden Darstellung der europäischen Verflechtungen der Revolutionsereignisse und der ökonomischen und sozialen Entwicklungen in den deutschen Staaten vermittelt Engels das Bild der Stimmung in Österreich, das auch bei Wolf wirkte, als paradigmatisch: «We have now to consider Austria, that country which up to March, 1848, was sealed up to the eyes of foreign nations almost as much as China before the late war with England».44 Perry Anderson beschreibt in Lineages of the Absolutist State, dass im Vormärz das Habsburgerreich zu einem «prison of people» wurde. Er fasst zusammen: «the feudal dynastic order had survived the popular ‹springtime› of Europe».45 Doch im folgenden Jahrzehnt nach dem Sieg der Konterrevolution erfolgte die Restauration eher schleppend. Die neoabsolutistischen Zeiten, d. h. der historische Hintergrund von Le Brésil littéraire, wird von Anderson wie folgt beschrieben:  

Henceforward, the Habsburger Monarchie was more and more the passive object of events and conflicts abroad. The fragile restauration of 1849 allowed it for a brief decade to achieve the long-envisaged goal of complete administration centralisation. [...] But no stabilization of this centralist autocracy was possible: it was too weak internationally.46

In diesem Kontext erhält Le Brésil littéraire neben Wolfs weiteren Schriften einen anderen Sinn, so meine Hypothese: Gegen 1860, als der neoabsolutistische Staat 43 44 45 46

Ebda., S. 65. Ebda., S. 24. Perry Anderson: Austria. In: Lineages of the Absolutist State, S. 290–327. Ebda., S. 323–324.

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sich erneut bedroht sah, versuchte Wolf durch eine klärere Stellungnahme in seinen letzten Publikationen die ‹uralten›, ‹geistigen› Verwandtschaften mit anderen europäischen Dynastien wiederzubeleben und zwar im Namen der Erhaltung der monarchischen Ordnung. Es ging hierbei um eine klare Überlebensstrategie, welche auch darauf abzielte, eine deutsche Vorherrschaft gegenüber den anderen Nationalitäten im Vielvölkerreich zu sichern. Jedoch musste Wolfs Projekt aufgrund der historischen Entwicklungen scheitern: Nach der Niederlage Österreichs gegen Preußen im Deutsch-Österreichischen Krieg 1866 etablierte sich die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.47 Eric Hobsbawm schildert die Schwächung des Habsburgerreiches, auch im kulturellen und sprachlichen Feld, mit folgenden Worten: The Habsburg monarchy after 1860 simply gave up trying to rule as though its subjects had no political opinions. Henceforth it concentrated on discovering some coalition of forces among its numerous and obstreperous nationalities which would be strong enough to keep the rest politically ineffective, though all of them had now to be given certain educational and linguistic concessions [...]. Until 1879 it was usually to find its most convenient base among the middle-class liberals of its German-speaking component. It was unable to retain any effective control over the Magyars who won something not far short of independence by the ‹Compromise› of 1867, which turned the empire into the Dual Monarchy of Austro-Hungary.48

Im Februar 1866, noch vor Beginn des Deutsch-Österreichischen Kriegs, verstarb Wolf.

2.2 Brasilien unter dem Habsburger Dom Pedro II. Le Brésil littéraire beginnt mit einer Widmung49 an Dom Pedro II., der im Zeitraum von 1840 bis 1889 Kaiser von Brasilien war.50 Aus Wolfs Sicht wurde das brasilianische Kaiserreich sowie sein literarischer Ausdruck nationalistischen Gepräges

47 Anderson sagt hierzu: «The Prussian victory over Austria in 1866 assured the Hungarian rise to dominance within the Empire. To save itself from disintegration, the monarchy accepted a formal partnership. The Dualism which created ‹Austria-Hungary› in 1867, gave the Magyar landowning class complete domestic power in Hungary». Ebda., S. 325. 48 Eric Hobsbawm: The Age of Capital (1848–1875), S. 80. 49 Diese Widmung ist im Originalmanuskript Geschichte der brasilischen Nationalliteratur nicht zu lesen. 50 Lilia Moritz Schwarcz verfasste eine der vollständigsten Biographien von Dom Pedro II.. Sie schildert ihn wie folgt: «Órfão de mãe com um ano, de pai aos dez, imperador aos catorze e exilado aos 64, no seu caminho é difícil notar onde se inicia a fala mítica da memória, quando acaba o discurso político e ideológico; onde começa a história, onde fica a metáfora». Aus diesem Grund

2.2 Brasilien unter dem Habsburger Dom Pedro II.

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in erster Linie von Dom Pedro II. gefördert und gefestigt. Er sei dafür verantwortlich, dass Brasilien sich im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich sowohl als politische, als auch als kulturelle Einheit konsolidiert.51 Selbst wenn Wolf in seinem Werk keinen direkten Bezug dazu herstellt, repräsentiert die Persönlichkeit Dom Pedros II. die Verbindung zwischen Brasilien und den europäischen Häusern Bragança (Portugal), Bourbon (Spanien), Orléans (Frankreich) und Habsburg (Österreich).52 Dom Pedro II., eigentlich Pedro d’Alcântara, war der einzige Sohn von Maria Leopoldine von Habsburg (Erzherzogin und Tochter von Kaiser Franz I. von Österreich) und Dom Pedro I. (aus dem portugiesischen Hause Bragança). In der Biographie Pedros II. fasst José Murilo de Carvalho die Figur des Kaisers wie folgt zusammen: «Dom Pedro II foi um Habsburgo perdido nos trópicos».53 Die eheliche Verbindung 1817 zwischen Pedro I. und Marie Leopoldine bedeutete strategisch die Vertiefung der Beziehungen beider Monarchien und entsprach Metternichs expansionistischem Anliegen.54 Diese enge Vernetzung lässt sich auch an anderen Fällen zeigen, die nicht unbedingt mit Eheverträgen zu tun haben, unter anderem am Beispiel der doppelten Tätigkeit von Johann Georg Hül-

wurde er auch Waisenkind der Nation gennant. Lilia Moritz Schwarcz: As barbas do imperador: um monarca nos trópicos. São Paulo: Companhia das Letras 2007, S. 21. 51 Schwarcz sagt: «O período que vai de 1841 a 1864 – ano do início da Guerra do Paraguai – representa uma fase importante para a consolidação da monarquia brasileira». Ebda., S. 85. 52 Die Schwester von Dona Maria Leopoldine, Marie Luise, war mit Napoléon Bonaparte verheiratet. Mütterlicherseits war Dom Pedro II. mit Franz I. von Österreich blutsverwandt. 1842 versucht ein Gesandter des brasilianischen Hofes erfolglos einen Heiratsvertrag für Dom Pedro II. mit einer Nachfahrin des Hauses Habsburg abzuschließen. Schließlich akzeptiert er den Heiratsantrag von König Ferdinand II. von Sizilien, Mitglied des Hauses Bourbon. Seine Tochter Teresa Christina Maria, ebenfalls Habsburgerin, kam im September 1843 in Rio de Janeiro an. Ebda., S. 47 und 92. 53 Carvalho beschreibt ihn in der Folge des obigen Zitates als: «Um homem de 1,90 m, louro, de penetrantes olhos azuis, barba espessa, prematuramente embranquecida [...]». José Murilo de Carvalho: D. Pedro II. São Paulo: Companhia das Letras 2007, S. 9. 54 Walter Sauer teilt die imperiale Expansion Österreich(-Ungarn)s durch Diplomatie und Militär in drei Momente ein: erstens, vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1848 mit dem Wiener Kongress 1815 und Metternichs multilateraler Außenpolitik im Zentrum. Hier haben die europäischen vor den nationalen Interessen Vorrang. Ende 1850 setzt eine Phase der überseeischen Expansion ein, die sich stark von der ersten Phase unterscheidet und mit der berliner Kongo-Konferenz 1885 endet. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird unter der Herrschaft von Franz Ferdinand die imperiale Marine wieder mächtig und beteiligt sich an der europäischen Intervention in China gegen 1900. Sauer fasst zusammen: «as multilateralism was at the core of Austria’s foreign policy philosophy in the nineteenth century, preference was given to participation in multilateral coordination of overseas expansion rather than to unilateral acquisition». Walter Sauer: Habsburg Colonial: Austria-Hungary’s Role in European Overseas Expansion Reconsidered, S. 21.

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semann (1799–1863). Dieser war sowohl als Herausgeber der Jahrbücher der Literatur als auch als Diplomat im Dienste Metternichs in Lissabon tätig. Das ermöglichte ihm ab 1824, Lehrer des portugiesischen Infanten Dom Miguel in Geschichte, Staats- und Militärrecht zu werden. Dom Miguel war Sohn von Dom João VI. und jüngster Bruder von Dom Pedro I., dem ersten Kaiser Brasiliens und Vater von Dom Pedro II. Die reaktionären Handlungen und Entscheidungen von Dom Miguel in Portugal wurden mit dem Einfluss von Metternichs System erklärt. Hierzu schreibt Lechner: Dom Miguels ‹Schreckensregiment›, das 1833 beendet wurde [...] wurde in der liberalen und demokratischen Publizistik zum Inbegriff alles Reaktionären. Sein Aufenthalt in Wien wurde dabei mit besonderer Vorliebe als innerer Zusammenhang seiner ‹Tyrannei› mit Metternichs System interpretiert.55

Anlässlich der Heirat von Marie Leopoldine von Habsburg und Dom Pedro I. wurde auch die sogenannte österreichische Brasilien-Expedition zwischen 1817 und 1835 durchgeführt, welche anfangs von Metternich finanziert wurde. Der Maler Thomas Ender bereitete sich besonders für die Forschungsreise unter Metternichs Betreuung vor. Auch hier verfolgt künstlerische Produktion, die scheinbar unpolitisch ist, ganz klar politische Ziele: In early 1817, Chancellor Metternich organized a scientific Austrian-Bavarian mission to Brazil on the occasion of Habsburg Princess Leopoldina’s wedding to the Portuguese prince dom Pedro I. [...] As regards the Austrian mission to Brazil, Metternich offered Thomas Ender the position of official landscape artist to the expedition; this commission turned out to be a turning point in his career. In March 1817, Thomas Ender boarded the ship Austria in the company of other members of the expedition, such as the botanist Karl Friedrich von Martius and the two zoologists Johann Baptiste von Spix and Johann Natterer.56

55 Lechner erklärt: «Hülsemann war neben seiner publizistischen Tätigkeit wohl seit dem Herbst 1824 Lehrer des portugiesischen Infanten Dom Miguel (1802 bis 1866). Dom Miguel befand sich seit dem Sommer 1824, nach einem misslungenen Putsch gegen seinen Vater König Johann VI. (30. April 1824) in einer Art Exil in Wien. Er war seit 1823 das Haupt der von seiner Mutter gesammelten Allianz aus Kirche und Adel gegen die 1821 eingeführte, 1822 von König Johann beschworene portugiesische Verfassung. Nach dem Tode Johanns (1826) wurde Dom Miguel durch seinen Bruder Pedro I., Kaiser von Brasilien, 1827 zum Regenten in Portugal eingesetzt. Er verlässt im Dezember Wien, trifft Ende Februar 1828 in Lissabeon [sic] ein, beschwört die Konstitution, um sie unmittelbar danach zu brechen [...]». Silvester Lechner: Gelehrte Kritik und Restauration, S. 220– 221. 56 Andrea Valente: Black Slaves in Farbe: Representations of the Subaltern in Thomas Ender’s Landscape Paintings from Old Rio. In: Austrian Studies 20 (2012). Colonial Austria: Austria and the Overseas, S. 26.

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Andrea Valente unterstreicht die politischen Zwecke der Expedition, die nicht im Rahmen eines kulturellen Austauschs verstanden werden sollten. Es ging vielmehr darum, die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedern beider Monarchien zu stärken: Thomas Ender’s relationship with his patron Metternich became an important feature of his practice as the official painter to the scientific expedition since he was not only in charge of documenting people and nature through his drawings and paintings, but also of strengthening diplomatic relations between Austria and Portugal; his paintings of exotic tropics were intended to fulfil a specific (political) purpose for his patron and his fellow countrymen.57

Die kolonialen Ansprüche der Habsburgermonarchie sind,58 so meine Hypothese, der Rahmen der Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire und gehen über die diplomatischen und ehevertraglichen Verhältnisse zwischen Brasilien und Österreich hinaus. In der Tat wird Österreich erst seit Kurzem im Kontext des nachkolonialen Denkens, wie Walter Sauer problematisiert, in die Debatten über Kolonisation miteinbezogen: «Sometimes this alleged abstention from colonial intervention is constructed as an important element of present day political identity».59 Sauer stellt in diesem Zusammenhang grundlegende Fragen, welche dazu dienen sollen, eine umfangreiche Definition von imperialer Herrschaft zu skizzieren: Has Austrian academic research indeed [...] always been unselfish and unconnected to any political or economic interests? Were Austrian travellers, missionaries and traders, just because they came from Habsburg lands, indeed behaving differently from similar folk coming from other European countries that did have colonial pasts? And above all: what definition of imperialism or colonial involvement do we use? Do we only mean direct political control

57 Ebda., S. 27. 58 Das expansionistische Bestreben der Habsburgermonarchie in Amerika zielte nicht nur auf Brasilien ab. 1863 intervenierte Louis Bonaparte (Napoléon III.) in Mexiko und rief den habsburgischen Erzherzog Ferdinand Maximilian (1832–1867), der nächstjüngste Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph I., zum Kaiser von Mexiko aus. Als Louis Bonaparte 1865 seine Truppen abziehen musste, hatte Ferdinand Maximilian keine Unterstützung mehr, und die legitime republikanische Regierung von Benito Juárez verurteilt ihn zum Tode. Die Novara brachte seinen Leichnam nach Wien, wo er sieben Monate nach seiner Hinrichtung aufgebahrt wurde. Sauer kommentiert hierzu: «[...] in 1864 Archduke Ferdinand Maximilian, together with 6,000 Austrian mercenaries and supported by a French army, embarked on a personal colonial adventure: His goal was to become ruler of a fictitious empire in Mexico. Three years later he was executed by the legitimate authorities of the Mexican Republic – a shocking development which left a deep traumatic impact among Austria’s political elite”. Walter Sauer: Habsburg Colonial: Austria-Hungary’s Role in European Overseas Expansion Reconsidered, S. 15. 59 Ebda., S. 6.

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of territories in the Americas, Asia or Africa by an European nation state [...]? What about other forms of domination, other agents?60

Sauer schlägt vor, dass die europäische Herrschaft auch in anderen «informellen Strategien» gesucht werden sollte, wie etwa in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Phänomenen. So sollten die Tätigkeiten von österreichischen ‹Forschern› und ‹Reisenden› anders betrachtet werden als bisher: Die wissenschaftlichen Untersuchungen werden zur informellen Dimension der überseeischen Expansion Österreichs. Darüber hinaus, so Sauers Argumentation weiter, spielten die imperialen Institutionen, welche diese Menschen im Ausland vertraten und förderten, eine zentrale Rolle, denn sie repräsentierten bestimmte wirtschaftliche, sozio-kulturelle und politische Interessen: Inevitably, academic research was part of those interests, it was auxiliary to colonial politics. Finally, and on a more general level, scientific advancement was at the heart of the European (Western) model of industrialization and of overseas expansion. It became part of the way in which modern societies understand nature and the cosmos, economic and human relations, progress and crisis. By engaging in this Western model of ‹development› and by exporting it overseas, Austro-Hungarian ‹explorers› made an important political contribution to the colonial project as a whole.

Von Sauers Beobachtung über die expansionistischen Ansprüche der Habsburgermonarchie und von der Einordnung der Wissensproduktion unter ihre ‹informellen Strategien› ausgehend ist für ein Verständnis der Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire die bilaterale Pflege des Verhältnisses zwischen Brasilien und Österreich im Laufe des 19. Jahrhunderts wesentlich. Hier muss nicht nur das Herrschaftsprojekt der Habsburgermonarchie betrachtet werden, sondern es muss vielmehr in Beziehung mit dem der brasilianischen Elite gesetzt werden. Das bedeutendste Beispiel dieser Allianz im Kontext von Wolfs Interesse an Brasilien ist die Novara-Expedition im Jahr 1857. Ihr wissenschaftliches, bzw. wirtschaftliches Ziel war es vor allem, Österreich als weltweite Großmacht zu etablieren: Occasionally, Austrian endeavours in colonial space took on a clearly official character, such as in the case of the circumnavigation of the globe of Austrian frigate Novara in 1857– 1859 with the explicit mission to gather colonial knowledge, investigate possibilities for Austrian overseas engagement and thereby demonstrate Austria’s capability to partake in the colonial appropriation of the world.61

60 Ebda., S. 6. 61 Ohne Autor: Austrian Encounters in Colonial Space: Introduction, S. 1.

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Wolf widmete sich in der Tat erst nach einem Büchereinkauf in Rio de Janeiro durch einen Beauftragten, der auf der Fregatte Novara mitreiste, dem Schreiben seiner Geschichte der brasilischen Nationalliteratur, wie das ‹Vorwort› und sein Briefwechsel offenbaren.62 Gegen 1860 ergab sich dank der Erweiterung des Handelsverkehrs mit Brasilien ein besserer Zugang zu den Quellen der brasilianischen Literatur, was die Basis für die Niederschrift von Le Brésil littéraire bilden sollte. Doch wurde Wolfs Interesse für die brasilianische Literatur gleichfalls durch den Kontakt zu brasilianischen Gelehrten, wie Gonçalves de Magalhães, Ernesto Ferreira França und Manuel de Araújo Porto-Alegre, die als Diplomaten in Europa unter Dom Pedro II. wirkten, geweckt.63 Die diplomatischen Vertretungen Brasiliens in Europa hatten zu dieser Zeit das Ziel, durch den gezielten Aufbau politischer Beziehungen, zu Dom Pedros II. Projekt, der (kulturellen) Einheit Brasiliens, beizutragen, wie in der Folge anhand zahlreicher Beispiele dokumentiert wird. Nicht nur Wolfs ständiges Lob Dom Pedros II. und der gebildeten Elite Brasiliens, die ihn unterstützte, sondern auch die Anregungen der brasilianischen Diplomaten in Wien erlauben die Feststellung, dass das Buch sich auch als Verbindungselement zwischen beiden Kaiserreichen verstehen lässt. Dies kann etwa erklären, warum Wolf sich nur Brasilien widmet und warum er keine anderen amerikanischen Länder in seinen Schriften ausführlich behandelt:64 Denn die an-

62 Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire. «La bibliothèque impériale de Vienne a reçu depuis quelques années un nombre assez considérable d’ouvrages brésiliens. Un des passagers de la frégatte Novara, M. le chevalier Ferdinand de Hochstetter avait été chargé par cet établissement de profiter de son séjour à Rio de Janeiro pour acheter des livres brésiliens», S. VIII. Im Originalmanuskript Geschichte der brasilische Nationalliteratur lautet die Passage: «Die k. k. Hofbibliothek in Wien hat aber in diesen letzten Jahren einen nicht unbedeutenden Vorrath von Werken der brasilischen Literatur erworben, theils durch die Expedition der k. k. Fregatte Novara, indem sie ein Mitglied derselben, Hr. Ferdinand Ritter von Hochstetter, versucht hatte, seinen Aufenthalt in Rio de Janeiro dazu zu benutzen, für sie solche Werke anzukaufen [...]», S. III. 63 Ebda. «[...] j’ai eu le bonheur de faire la connaissance de plusieurs écrivains distingués du Brésil. Je veux parler de MM. Domingos José Gonçalves de Magalhães, Manuel d’Araujo. PortoAlegre et Ernesto Ferreira França, qui m’ont fourni des matériaux de tout genre et m’ont aidé de leurs conseils». Im Originalmanuskript Geschichte der brasilischen Nationalliteratur ist Folgendes zu lesen: «Hierzu kam noch, daß ich so glücklich war, die persönliche Bekanntschaft so ausgezeichneter brasilischer Schriftsteller, wie der Hrn. Domingos José Gonçalves de Magalhães, Manoel de Araujo Porto-Alegre und Ernesto Ferreira França, zu machen, die nicht nur durch Mittheilung von Materialien mich unterstützten, sondern auch durch ihren Rath meine Studie leiteten». 64 Die Ausnahme sind zwei Artikel über argentinische Literatur, die im Jahrbuch veröffentlicht wurden, als Wolf sich mit seiner Geschichte der brasilischen Nationalliteratur beschäftigte. Ferdinand Wolf: Der erste historische Roman im spanischen Süd-Amerika. In: Jahrbuch für romanische und englische Literatur 2 (1860), S. 164–182. Ferdinand Wolf: Weitere Beiträge zur Geschichte des

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deren Länder waren zu jener Zeit Republiken, keine Kaiserreiche. Im Mittelpunkt von Le Brésil littéraire steht also die Geschichte der Entstehung eines «brasilischen Kaiserreiches». Die brasilianische Literatur und die entsprechende Literaturgeschichte werden dabei als das selbstverständliche Ergebnis dieser NationenGründung verstanden. Bis heute stellt sich in der Geschichtsschreibung die Frage, wie es überhaupt möglich war, dass Brasilien im 19. Jahrhundert als einzige Monarchie in ganz Amerika entstehen konnte.65 Emília Viotti da Costa liefert eine Erklärung, welche auf einer Analyse der Klasseninteressen zur Zeit der Unabhängigkeit Brasiliens im Jahr 1822 sowie der Krise des kolonialen Systems basiert.66 Auf der einen Seite steht also zunächst die rasche Entwicklung des Industriekapitals in Europa, die von der neuen aufsteigenden bürgerlichen Klasse ausgeht. Dazu werden alte Privilegien und Monopole, die die Kolonie zum exklusiven Handel mit dem Mutterland zwingen, zum Hindernis für die zunehmenden und intensivierten Geschäftsbeziehungen auf dem Weltmarkt. Auf der anderen Seite verliert der absolutistische Staat seine Funktion als zentrales und restriktives Kontrollorgan, und seine theoretischen Begründungen werden durch neue wirtschaftliche und soziale Theorien ersetzt: Die merkantilistische Wirtschaftspolitik, welche den Bund zwischen der kommerziellen Bourgeoise und der Krone voraussetzt, erschien zu Anfang des 19. Jahrhunderts mehr und mehr nutzlos. In der Tat wurde die merkantilistische Wirtschaftspolitik bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts von Adam Smith (1723–1790) und den Physiokraten kritisiert. Viotti da Costa stellt fest, dass der Zusammenbruch des kolonialen Systems in Amerika nicht auf einmal geschah, sondern allmählich, indem die Krise des kolonialen Systems mit der Krise der absolutistischen Regierungsformen zusammenfiel. Dieses Zusammenfallen erklärt sich aufgrund der diferença de ritmo das transformações econômicas e sociais que ocorriam nas várias regiões da Europa e da América envolvidas no sistema colonial. [...] enquanto na Inglaterra a Revolução Industrial preparava o caminho para uma nova teoria da colonização baseada na livre concorrência [...], em Portugal, onde a revolução industrial não chegara a produzir seus frutos, procurava-se reforçar o sistema tradicional.67

Romans im spanischen Südamerika. In: Jahrbuch für romanische und englische Literatur 4 (1862), S. 35–45. 65 Wie Lilia Moritz Schwarcz feststellt: «Como entender o enraízamento de uma realeza Bragança, mas também Bourbon e Habsburgo, em um ambiente tropical, cercado de indígenas, negros e mestiços?» Lilia Moritz Schwarcz: As barbas do imperador, S. 13. 66 Emília Viotti da Costa: Da Monarquia à República. 67 Ebda., S. 21.

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In Brasilien werden alte Konflikte zwischen entgegengesetzten sozialen Gruppen wie Großgrundbesitzern, Geschäftsleuten und Beamten sowie zwischen unterschiedlichen Händlern um Privilegien verschoben, wie Viotti da Costa erklärt.68 Sie sind nicht mehr Untertanen der portugiesischen Krone, die als Vermittler in den Konflikten agieren, sondern verstehen sich als ‹Brasilianer› mit gemeinsamen Interessen. Sie vereinigen sich, um den kolonialen Pakt mit dem Mutterland aufzukündigen. In der Tat wird, nachdem der portugiesische Hof 1808 vor den französischen Truppen nach Brasilien geflohen ist und Dom João VI. die Häfen für ausländische Nationen öffnet, das Handelsmonopol mit Portugal abgeschafft. Die neuen Handelsverträge Brasiliens mit England schädigen die portugiesischen Geschäftsleute und führen zu Konflikten mit den brasilianischen Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten.69 Die sogenannte Revolução do Porto im Jahr 1820 erzwingt die Rückkehr von Dom João nach Portugal, wo er sich mit der Unzufriedenheit vieler Gruppen in Brasilien und Portugal konfrontiert sieht. Viotti da Costa erklärt: Obwohl die Revolution sich von den liberalen Prinzipien gegen den Absolutismus und für eine Verfassung inspirieren lässt, gestaltet sie sich vor allem antiliberal und konservativ, denn sie zielt hauptsächlich auf die Wiederherstellung des kolonialen Pakts.70 Der Unterschied in den Absichten der portugiesischen und brasilianischen herrschenden Klassen wird zunächst durch Dom Pedro I., Sohn von Dom João und Regent Brasiliens während der Abwesenheit des Vaters, überwunden. Wie Viotti da Costa schreibt, war er das «instrumento ideal»71 für die Erlangung der gewünschten Autonomie, ohne dass es notwendig gewesen wäre, die Bevölkerung zu mobilisieren. Aus Sicht der herrschenden Klasse bestand allerdings das große Risiko einer Eskalation der Aufstände, in welchen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung drohten, die Interessen der herrschenden Klasse zu ersticken. Für einige Zeit verbreitete sich also die Idee einer doppelten Monarchie mit doppeltem Sitz, in Portugal und in Brasilien. Doch die wachsenden Unstimmigkeiten zwischen den Interessen beider Reiche (die Wiederherstellung des kolonialen Pakts auf Seiten Portugals, die Beibehaltung des freien Handels auf Seiten

68 Ebda. 69 Ebda. «De pouco valeram aos portugueses as medidas tomadas por Dom João VI a fim de garantir os privilégios dos portugueses e contrabalançar os efeitos da abertura dos portos às demais nações. [...] A concorrência dos países mais desenvolvidos prejudicava os portugueses que viam com saudosismo e desespero extinguir-se o tempo dos privilégios e monopólios. [...] Dom João não conseguia satisfazer a nenhum grupo e sua política agravava os ressentimentos», S. 38–39. 70 Ebda. 71 Ebda., S. 46.

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Brasiliens) führten Dom Pedro I. dazu, 1822 den endgültigen Bruch mit Portugal zu proklamieren. Diese Maßnahme wurde von England unterstützt, und Portugal war gezwungen, die Unabhängigkeit anzuerkennen. Letztlich erfolgte die Unabhängigkeit unter Beibehaltung der Monarchie und mit den europäischen Häusern Bragança, Bourbon, Orléans und Habsburg an der Macht als eine Bewegung von oben nach unten. Ihre Befürworter übernahmen alle entscheidenden öffentlichen Stellen und bildeten somit eine «verdadeira oligarquia», deren Hauptsorge es war, die Ordnung zu halten, demokratische Tendenzen zu blockieren, wirtschaftliche und soziale Strukturen, welche auf Großgrundbesitz, Sklavenarbeit und dem Export von tropischen Produkten basierten, zu erhalten: O governo da nação ficava nas mãos de um grupo de elite: fazendeiros, comerciantes, pessoas que ocupavam altos postos na administração e no governo, muitos dos quais foram mais tarde titulados por serviços prestados por ocasião da Independência.72

Ab 1840, mit der Krönung von Pedro II., hatte das Parlament konservative Gesetze verabschiedet, sodass sich die kaiserliche Regierung verstärkte und infolgedessen die Eliten eine bis dato unbekannte Macht erlangten. Seine Krönung brachte die Hoffnung mit sich, dass das Land befriedet würde, denn seitdem Dom Pedro I. die Regierung niedergelegt hatte, waren verschiedene Aufstände entstanden: Zwischen 1837 und 1848 Sabinada, Balaiada, Cabanagem und Praieira im Norden und Nordosten Brasiliens, und zwischen 1835 und 1845, Farrapos in Rio Grande do Sul. Ab 1842 gab es auch in Minas Gerais und São Paulo Erhebungen. Alle diese Revolten zeigen, wie groß der Widerstand gegen die imperiale Macht war und dementsprechend, wie groß die Herausforderung war, sie zu bekämpfen, um die Hegemonie zu untermauern.73 Die Beibehaltung der Monarchie, so Lilia Moritz Schwarcz, lässt sich auch anhand der Untersuchung der symbolischen Dimension des Königshauses auf den verschiedenen Ebenen des sozialen Lebens verstehen.74 Laut Schwarcz war das brasilianische Reich sehr erfolgreich bei der Produktion und Reproduktion einer großen Vielfalt an nationalen Bildern und Symbolen. Dadurch überlebte mit großem Erfolg die Vorstellung des imperialen Brasiliens. In diesem Zusammenhang

72 Ebda., S. 55. 73 Ebda., S. 155. 74 Lilia Moritz Schwarcz: As barbas do imperador. «É, portanto, privilegiando essa dimensão simbólica da representação da realeza que se pode penetrar em facetas pouco estudadas, porém fundamentais na recuperação de modelos de sociabilidade até hoje presentes. Coube à monarquia brasileira seguir um trajeto ao mesmo tempo próprio e comum, que correspondeu à essência de uma cultura enxertada mas que acompanhou a diferenciação da sensibilidade local», S. 19.

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wird der Kaiser Dom Pedro II. zum Inbegriff des Landes, er wird ein «monarca tropical».75 Musterhaft ist in diesem Sinne, dass nach der Ausrufung der Republik im Jahre 1889 bestimmte Symbole wie die Nationalhymne oder die Nationalflagge ersetzt werden mussten, wobei die Verknüpfungen mit der imperialen, europäischen Tradition weiterbestand. Ein für sich sprechendes Beispiel hierfür sind die Farben der Nationalflagge: Grün steht für die heraldische Farbe des Hauses Bragança und Gelb für die des Hauses Habsburg. Bis heute lernt man jedoch in der Schule, das Grün der brasilianischen Flagge stehe für die üppige Natur und das Gelb für das Gold Brasiliens.76 Die bewusste Entscheidung des Kaisers Dom Pedro II., Kultur zu politischen Zwecken zu fördern, wird oft als positiv gewertet. Carvalhos Schilderung von Dom Pedro II. bringt diesbezüglich nichts Neues im Vergleich zu älteren Biographien. Er wiederholt mit lobendem Ton die Zugewandtheit Dom Pedros II. zu Literatur, Wissenschaft und den Künsten, was in der Tat eine eher romantisierte, aber durchaus gängige Schilderung des Kaisers ist: «O imperador queria que sua imagem pública fosse a de um amigo dos livros».77 Dom Pedro II. gilt ihm als aufgeklärter Kaiser: «O de que não se pode duvidar é do genuíno interesse do imperador pelo cultivo e promoção da cultura».78 Er habe sein ganzes Leben dieses Bild gepflegt und anhand verschiedener Gemälde, Zeichnungen und Lithographien verbreitet. Carvalho übernimmt Dom Pedros II. Selbstdarstellung als Förderer der Kultur und unglücklicher Kaiser, der sich dieser, seiner wahren Leidenschaft, nicht widmen kann, ohne diese Züge in Zweifel zu ziehen.79 Im Folgenden soll daher kritisch infrage gestellt werden, was und wen Dom Pedro II. wirklich förderte. Inwiefern war die Förderung von Kultur gleichbedeutend mit der Verbindung von Klientelismus und Mäzenatentum? Inwiefern war diese kulturpolitische Operation notwendig für die Entstehung eines Bildes von Brasilien, welches das monarchische Regime in allen seinen Facetten rechtfertigt?

75 Ebda., S. 22. 76 Ebda., S. 19. 77 José Murilo de Carvalho: D. Pedro II, S. 223. 78 Ebda., S. 226. 79 Schwarcz liefert ein Bild von Dom Pedro II. im Alter von 57 Jahre, als er seine öffentliche Wahrnehmung nicht mehr zu korrigieren vermochte: «A imagem do velho monarca de longas barbas brancas – consagrada pela representação oficial – também data dessa época [...]. O imperador dormia nas sessões do IHGB ou quando assistia aos exames do Colégio Pedro II, e se transformava, dessa maneira, no foco de uma série de charges. Em questão estavam a sua personalidade e capacidade de dissimulação, suas pernas finas, a voz estridente; suas viagens, sua mania de erudição [...]. E assim d. Pedro dorme justamente nas atividades de que tanto se vangloria de participar [...]. Lilia Moritz Schwarcz: As barbas do imperador. Ebda., S. 420.

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Im ‹Vorwort› von D. Pedro II e a cultura, einer Sammlung von Dokumenten aus dem Arquivo Nacional do Rio de Janeiro, mit detaillierten Beschreibungen der Akten über Dom Pedros II. Vergabe von Stipendien, Spenden, und anderen Formen finanzieller Unterstützungen für Kultur, Literatur und Wissenschaft, stellt Américo Jacobina Lacombe fest: Um aspecto que não pode deixar de ser observado é o poder exercido pelas honrarias sobre sábios, artistas e escritores do mundo inteiro. A atração pelas bugigangas [...] fazia com que pessoas da maior respeitabilidade se pusessem a serviço do Imperador, e através dele, do Brasil.80

Die Vergabe von regierungsseitigen Zuschüssen für Kultur, Wissenschaft und Literatur hat eine klare politische Dimension und es wäre denkbar, dass auch Wolf Zuschüsse für Le Brésil littéraire bekommen hat. Dafür gibt es allerdings keine Belege. Dagegen zeigen unveröffentlichte Dokumente, die ich in einem anderen Archiv, dem des brasilianischen Auswärtigen Amts (Arquivo histórico do Itamaraty) in Rio de Janeiro gefunden habe, den Verlauf eines Gesprächs zwischen Wolf und dem diplomatischen Vertreter Brasiliens in Wien, Gonçalves de Magalhães.81 Magalhães repräsentierte die brasilianischen Interessen und die des Kaisers. Er spielte die Rolle des Vermittlers zwischen Dom Pedro II. und Wolf. Es gibt einen Bericht von Magalhães, der belegt, dass Wolf im Jahr 1863 den Rosenorden erhielt, anscheinend aber nichts darüber hinaus, wie im vierten Kapitel eingehend diskutiert wird.

80 Maria Walda de Aragão Araújo (Hg.): D. Pedro II e a cultura. Rio de Janeiro: Arquivo Nacional 1977, S. XII. 81 Domingos José Gonçalves de Magalhães (Rio de Janeiro, 1811 – Rom, 1882) studierte Medizin in Brasilien und reiste 1833 nach Europa, wo er zusammen mit anderen Brasilianern die Zeitschrift Nitheroy (1836) gründet. Er veröffentlicht nach Poesias (1832) seinen zweiten Lyrikband Suspiros poéticos e saudades, beide gelten als Beginn der brasilianischen Romantik. Als «Haupt der Bewegung» schreibt er Theaterstücke, wird Sekretär des Kaisers in den Bundesstaaten Maranhão und Rio Grande do Sul zwischen 1838 und 1846 und nimmt ab 1847 seine Tätigkeit als Diplomat in Italien, Russland, Spanien, Österreich, den Vereinigten Staaten, Argentinien und dem Vatikan auf. 1872 wird er Baron und 1874 Vicomte von Araguaya. Er war des Kaisers Dom Pedro II. persönlicher Freund. Antonio Candido beschreibt ihn wie folgt: «É provável que a maior influência individual jamais exercida por contemporâneos tenha sido, na literatura brasileira, a de Gonçalves de Magalhães». Antonio Candido: Formação da literatura brasileira, Bd. 2, S. 58–50 und 331, hier S. 48. Ab den 1850er Jahren verminderte sich Magalhães’ Prestige allmählich, besonders nach der Auseinandersetzung mit José de Alencar und dessen Aufstieg. So schreibt Candido, Dom Pedro II. habe Magalhães den Adelstitel eines Vicomtes verliehen, um die «aborrecimentos literários», also die Prestigeverluste des Autors, zu kompensieren (S. 49).

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Die Vergabe von Unterstützungen und Stipendien ähnelte der Verteilung von Adelstiteln, einer seit Dom Pedro I. sehr gebräuchlichen Praktik der brasilianischen Regierung. Für den Erhalt der Monarchie als zentrale Macht war es nach der Unabhängigkeit von Portugal 1822 zum einen notwendig, eine brasilianische Adelsschicht zu etablieren, und diese von den Verstrickungen der alten portugiesischen monarchischen Tradition zu befreien. Dom Pedro II. gab zahlreiche Adelstitel aus, die so entstandene, gewissermaßen ‹neue› soziale Klasse sollte wiederum als Gegenleistung die Regierung unterstützen. Sérgio Buarque de Holanda beschreibt die brasilianische Monarchie aus diesem Grund als «monarquia de emergência», und spielt mit den beiden Sinnen des Wortes «emergência» im Portugiesischen, das sowohl «Auftauchen» oder «Aufstreben» als auch «Dringlichkeit» oder «Notsituation» bedeutet. Buarque de Holanda unterstreicht den Unterschied der brasilianischen Monarchie zu den traditionellen europäischen Monarchien, vor allem in Hinsicht auf die sogenannten fidalgos in Portugal. Aus der Perspektive der Regierung konnte sich Brasilien nur durch die Festigung einer einheimischen Adelsschicht von Europa absetzen und sich gleichzeitig auf neue Weise annähern: Haveria, seguramente, no meio dos nossos patriotas, os que queriam ver o vasto império americano tão ricamente adornado de ouropeis nobiliárquicos quanto o eram as velhas monarquias europeias, e em particular a antiga metrópole. Do contrário, como lhe seria dado igualar-se completamente a elas? [...] Em primeiro lugar, a própria ausência, aqui, de uma casta de fidalgos exclusivistas, encastelada nas suas prerrogativas, ciumenta de privilégios ancestrais, só pode vir a favorecer essa proliferação de titulares novos. Assim é que dois anos antes da abdicação de D. Pedro já se contarão mais marqueses, condes e barões no Brasil do que os tivera em Portugal em 1803, quando foi retomado o quadro da nobreza.82

Die Klassenstruktur in Brasilien nach der Unabhängigkeit im Jahr 1822 war vor allem vom Gegensatz zwischen Sklaven und Großgrundbesitzern geprägt, aber es gab auch eine kleine Mittelschicht von Händlern und Ausländern, die nach sozialem Aufstieg strebte, der durch einen Adelstitel gesichert werden konnte. Diese Menschen weigerten sich, körperliche Arbeiten zu verrichten, denn diese Tätigkeiten wurden in der allgemeinen Vorstellung mit der Situation der Versklavten gleichgesetzt: So gewannen die ‹geistigen›, ‹intellektuellen› Berufe und Tätigkeiten eine besondere Bedeutung in der Gesellschaft.83 Auf jeden Fall herrschte, wie

82 Sérgio Buarque de Holanda (Hg.): O processo de emancipação. In: História geral da civilização brasileira. O Brasil monárquico II. Bd. 1. Rio de Janeiro: Bertrand Brasil 2003, S. 29. Eigene Hervorhebung. 83 Ebda., S. 37.

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Buarque de Holanda feststellt, eine «Aristokratie der Haut», eine «aristocracia da pele». Der soziale Status hing eng mit der weißen Hautfarbe zusammen. Viotti da Costa erklärt diesbezüglich, dass sich liberale Ideen in Brasilien nur mit Einschränkungen verbreiten konnten: Ihre Anhänger, die hauptsächlich aus der Klasse der Landherren stammten, standen für die Erhaltung der Sklaverei und des Großgrundbesitzes. Liberale Ideen hatten hier also eine andere soziale Basis als in Europa, wo sie entstanden sind. Die industrielle Bourgeoisie wirkte nicht als ihr entscheidender Träger, denn sie existierte in Brasilien nicht. Vielmehr wurden liberale Ideen vor allem mit den Interessen der privilegierten Grundbesitzer identifiziert. Noch deutlicher als in Europa diente eine liberale Haltung als bloße Pose oder Phrase84 und erlangte so eine andere politische und soziale Funktion. Als Beispiel erhielt das Wort «Freiheit» so viele abstrakte Bedeutungen, dass selbst ein Großgrundbesitzer für die ‹Freiheit› Brasiliens ‹kämpfen› konnte, nicht aber für die Abschaffung der Sklaverei. In der Tat bedeutete «Freiheit» in Brasilien primär den wirtschaftlich freien Handel: A ideia de revolução esbarrava sempre no receio de uma revolta de escravos. O comportamento dos revolucionários, com exceção de poucos, era frequentemente elitista, racista e escravocrata. [...] O horror das multidões e o receio de um levante de negros levaria essas elites a repelir as formas mais democráticas de governo e a temer qualquer mobilização de massa, encarando com simpatia a ideia de conquistar a Independência com a ajuda do Príncipe Regente [Dom Pedro I.]. Dentro dessas condições soariam falsos e vazios os manifestos em favor das formas representativas de governo, os discursos afirmando a soberania do povo, pregando a igualdade e a liberdade como direitos inalienáveis e imprescritíveis do homem, quando, na realidade, se pretendia manter escravizada boa parte da população e alienada da vida política outra parte.85

84 Diese Doppeldeutigkeit der Diskurse wird von Wolfs Zeitgenossen Karl Marx in der Arbeit Der 18te Brumaire des Louis Napoléon [1852] behandelt. In der Tat ereigneten sich die «weltgeschichtlichen Tatsachen» nur einmal, der Eindruck von Repetition ergibt sich aus dem bewussten Gebrauch der politischen Begriffe in verschiedenen historischen Kontexten: In Marx Beispiel die Revolution von 1789 und die Deuxième République (1848–1852). Die Wiederholung der alten Parolen der Première Repúblique zu ideologischen Zwecken fünfzig Jahre später entleert sie, der Inhalt ihrer Zeichen wird fragwürdig: «Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und tut, so muss man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden». Karl Marx: Der 18te Brumaire des Louis Napoléon [1852]. In: Marx-Engels-Werke. Bd. 8. Berlin: Dietz 2009, S. 139. 85 Emília Viotti da Costa: Da monarquia à República, S. 30. Eigene Hervorhebungen. «Falsos e vazios» entsprechen der Phrase von Marx, wie in der obigen Fußnote bereits dargestellt wurde.

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Tatsächliche handelte die gebildete Schicht, eine «elite de letrados» in den Worten von Viotti da Costa, als diskursiver Vertreter der liberalen Ideen und ihrer Klasseninteressen, welche die sozialen Widersprüche verbargen.86 Im Grunde genommen ergibt sich die monarchische Lösung aus der Notwendigkeit dieser Klasse, die Sklavenarbeit als herrschende Produktionsweise beizubehalten. Eine ausführliche Untersuchung über die Wirkung der liberalen Ideen zu dieser Zeit in Brasilien lieferte Roberto Schwarz in seinem Ao vencedor as batatas,87 insbesondere im ersten Kapitel ‹As ideias fora do lugar›. Da Brasiliens Wirtschaft in erster Linie exportorientiert war, herrschte innerhalb der höchsten gesellschaftlichen Schichten ein bürgerlich-wirtschaftliches Denken vor. Tatsächlich war die Wirtschaft jedoch in höchstem Maße von versklavter Arbeit abhängig. Dieser Widerspruch, der die Oppositionen der Klassenstruktur Brasiliens bildet, prägt gleichfalls die spezifische gesellschaftliche Vermittlung durch den «favor». Klientelismus ist die Basis der Soziabilität, die in der von «homens livres pobres» ausgemachte ‹Mittelschicht› ihren vollkommensten Ausdruck erreicht. Diese war eigentumslos, aber unversklavt. Die Hauptüberlebensstrategie für die Mittellosen lag in einer direkten Abhängigkeitsbeziehung zu den Wohlhabenden. Der Autor spricht daher von einer «comédia ideológica, diferente da europeia»: [...] a liberdade de trabalho, a igualdade perante a lei e, de modo geral, o universalismo eram ideologia na Europa também; mas lá correspondiam às aparências, encobrindo o essencial – a exploração do trabalho. Entre nós, as mesmas ideias seriam falsas num sentido inverso, por assim dizer, original.88

Gegen 1850 hatte es sich Dom Pedro II. zur Aufgabe gemacht, nicht nur das Königshaus zu schützen, sondern auch ein ‹brasilianisches› Gedächtnis und eine ‹brasilianische› Kultur zu etablieren.89 Aus diesem Grund begann er, das nach französischem Muster 1838 gegründete Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro (IHGB) finanziell zu unterstützen. Diese Institution versammelte die auf allen Ebenen privilegiertesten Menschen Brasiliens, mit dem Ziel, eine Vergangenheit und eine Zukunft für das Land zu erschaffen. Das IHGB wirkt wie eine Verbindungsstelle zwischen der Regierung (welche 75 % der Haushaltsmittel bereitstellte) und dem gesellschaftlichen Leben in Brasilien. Wie Schwarcz erklärt, war die Finanzierung des IHGB und der Werke seiner Mitglieder strategisch notwendig, nicht nur zur Stärkung der Monarchie und des Staates, sondern auch im Sinne der na-

86 Ebda., S. 59–60. 87 Roberto Schwarz: Ao vencedor as batatas: forma literária e processo social nos inícios do romance brasileiro [1977]. São Paulo: Duas Cidades/Editora 34 2000. 88 Ebda., S. 12. 89 Lilia Moritz Schwarcz: As barbas do imperador, S. 126.

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tionalen Vereinigung, welche unbedingt auf kultureller Ebene geschehen musste: «Em uma situação de consolidação do projeto monárquico, a criação de uma determinada memória passa a ser uma questão quase estratégica».90 Das Ziel war, so Schwarcz, Historiker auszuwählen, welche die Geschichtsschreibung Brasiliens nach den Taten bestimmter Heldenfiguren rühmten und erzählten; Künstler, die Bilder nationaler Charaktere erschufen und verbreiteten, und Literaten, welche die nationalen Vorstellungen erschufen und formulierten. Nach Schwarcz trug das IHGB wesentlich dazu bei, die Macht der Monarchie zu legitimieren, indem Dom Pedro II. als Erbe der europäischen Tradition dargestellt wurde. Er wurde ständig (auch von Wolf) mit anderen großen Monarchen der Weltgeschichte verglichen und mit diesen auf eine Ebene gestellt.91 Die Mitglieder des IHGB wurden insbesondere vom romantischen Denken in dessen französischer Ausprägung beeinflusst. Antonio Candido erklärt in Formação da literatura brasileira, wie der Zeitgeist der Romantik der brasilianischen Literatur ermöglicht hat, sich an die Gegenwart anzupassen. Der Zeitgeist der Romantik ermöglichte es der die brasilianische Literatur sich mit dem «sistema expressivo» der abendländischen Literatur zu verbinden.92 Candido betont in diesem Zusammenhang zwei Aspekte literarischer Schöpfung: «como atividade desinteressada e como instrumento, utilizando-a ao modo de um recurso de valorização do país».93 Eine ‹literatura nacional› wurde als der angemessene Ausdruck einer eigenen Wirklichkeit empfunden. In diesem Kontext wird Patriotismus zur Agenda und Herausforderung für jeden einzelnen Autor.94 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Gruppe junger Brasilianer, die 1836 die Zeitschrift Nitheroy mit romantisch-nationalistischen Absichten gründete, dies in Paris und nicht in Rio de Janeiro tat. Ihre Aufgabe bestand darin, die spezifischen Eigenschaften des ‹Brasilianischen› zu erfinden und die kulturelle Produktion mit programmatischen Texten auszustatten. In diesem Kontext wurden zwei literarische Symbole für die unabhängige Nation Brasilien hervorgebracht, die Natur und der edle autochthone Protagonist. Brasilien wird auf diese Weise als homogenes Land und aus Perspektive der Autoren der belles lettres, also aus der herrschenden Klasse heraus gestaltet.

90 Ebda., S. 127–128. 91 Ebda., S. 128. Wolf vergleicht Dom Pedro II. mit dem Römischen Princeps Augustus und mit dem französischen König Ludwig XIV. Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire, S. 137–38; Geschichte der brasilischen Nationalliteratur, S. 208–209. 92 Antonio Candido: Formação da literatura brasileira, Bd. 2, S. 11. 93 Ebda. 94 Ebda., S. 12.

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Der Anführer dieser romantischen Bewegung, Gonçalves de Magalhães, war Mitglied des IHGB und sollte, wie schon erwähnt, der wichtigste Günstling von Dom Pedro II. werden. Neben Magalhães waren es vor allem Manuel de Araújo Porto-Alegre (1806–1879), den Wolf persönlich kennenlernte und mit dem er Briefe wechselte; Joaquim Norberto de Souza Silva (1820–1891), Joaquim Manuel de Macedo (1820–1882), Gonçalves Dias (1823–1864) und Francisco Adolfo Varnhagen (1816–1878), deren Arbeiten die theoretische, literarische und geschichtliche Grundlage für Wolfs Le Brésil littéraire lieferten.95 Antonio Candido bezeichnet sie als «geração vacilante», denn sie waren von einer «nítida dubiedade nas atitudes e na prática» geprägt: «Não raro parecem oscilar entre duas estéticas, como na atitude política, misturam certo liberalismo de origem regencial e o respeitoso acatamento ao monarca».96 Schwarcz schreibt hierzu: São exatamente esses autores que passarão a frequentar o IHGB a partir de 1840, tendo na revista do Instituto [...] um órgão dileto de divulgação de suas ideias. [...] Com efeito, tomando a dianteira nesse movimento, o monarca selecionou um grupo e de forma direta afastou outros. Na verdade, é com a entrada de D. Pedro II no IHGB e seu mecenato que o romantismo brasileiro se transforma em projeto oficial, em verdadeiro nacionalismo, e como tal passa a inventariar o que deveriam ser as ‹originalidades locais›.97

Dom Pedro II. gibt als ein Projekt in Auftrag, vor allem im Bereich der Literatur, dessen Ziel das ganze Kaiserreich miteinbezieht: Es geht um eine nationalistische «política literária», in den Wortern von Schwarcz. Auf jeden Fall stand eher die Literatur als die Geschichte im Mittelpunkt des Projekts. Oft wird in der Literaturgeschichte Dom Pedros II. direkte Einwirkung auf die öffentliche Polemik rund um die Veröffentlichung des Buches Confederação dos Tamoios (1856) von Gonçalves de Magalhães erwähnt.98 Der Autor widmete sein Werk dem Kaiser, der als «príncipe perfeito» profiliert wird. Das Ziel von Magalhães bestand darin, mit die-

95 In der ‹Einleitung› von Geschichte der brasilischen Nationalliteratur und von Le Brésil littérarie erklärt Wolf seine Quellen, die fast ausschließlich brasilianische Autoren sind. 96 Antonio Candido: Formação da literatura brasileira, Bd. 2, S. 41. 97 Lilia Moritz Schwarcz: As barbas do imperador, S. 131. Eigene Hervorhebungen. 98 Wolf erklärt in einer Fußnote der französischen Übersetzung: «Nous savons du reste fort bien que la critique indigène n’a pas été tout-à-fait unanime. V. p. ex. les Cartas sobre a Confederação dos Tamoyos por I. G. (J. d’Alencar). Rio do Janeiro, 1856, 8°. Mais ces critiques sont ou bien inspirées par une animosité individuelle et partielle, ou bien se bornent à relever quelques petits détails». Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire, S. 149. Antonio Candido fasst das Werk zusammen: «O assunto é a rebelião dos tupis fluminenses contra os portugueses, no decênio de 1560, destacando-se o chefe Aimbire como símbolo [...] do homem americano resistindo ao invasor e, deste modo, tornando-se antepassado do brio nacional». Antonio Candido: Formação da literatura brasileira, Bd. 2, S. 55.

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sem auf Wunsch des Kaisers entstandenen Werk die größte epische Dichtung Brasiliens vorzulegen. Er beabsichtigte, den ‹ursprünglichen nationalen Mythos Brasiliens› literarisch hervorzubringen und machte den romantisch geprägten Indianismus zur «literatura oficial». Antonio Candido erklärt, dass der Indianismus als «reinster Ausdruck» der brasilianischen Literatur betrachtet wurde. In seiner Blütezeit zwischen 1840 und 1860 werden viele Werke in den Bereichen Lyrik, Dramatik und Prosa erschaffen, in denen der autochthone Protagonist oder die autochthone Protagonistin als Inbegriff des Landes ausgestaltet wird. Dabei bestand die Hauptsorge ihrer Autoren nicht nur darin, die ‹Eigentümlichkeit› Brasiliens anhand einer nicht-europäischen Vorstellungswelt literarisch darzustellen, sondern auch darin, eine Art Kompensation für den Mangel an Stoff für die Geschichtsschreibung des Landes im Vergleich zur Geschichte Europas zu schaffen: A altivez, o culto da vindita, a destreza bélica, a generosidade, encontravam alguma ressonância nos costumes aborígenes, como os descreveram cronistas nem sempre capazes de observar fora dos padrões europeus e, sobretudo, como os quiseram deliberadamente ver escritores animados do desejo patriótico de chancelar a independência política do país com o brilho de uma grandeza heroica especificamente brasileira. Deste modo, o indianismo serviu não apenas como passado mítico e lendário [...], mas como passado histórico, à maneira da Idade Média. Lenda e história fundiram-se [...] pelo esforço de suscitar um mundo poético digno do europeu.99

Das epische Gedicht A confederação dos Tamoios stellt also die Verknüpfung des Indianismus mit der Kulturpolitik des Kaisers Dom Pedro II. dar: Nach Schwarcz übernimmt der autochthone Protagonist, sogar als Verlierer, eine herausragende Rolle in der imperialen Genesis Brasiliens unter Dom Pedros II. Herrschaft.100 In seinem eigenen Exemplar von A confederação dos Tamoios notierte der Kaiser in Form einer handschriftlichen Notiz, dass er noch zwei Großtaten zu vollbringen vorhabe: «organizar moralmente a nacionalidade, formar uma elite».101 Hier wird die doppelte Entstehung einer Kultur und einer Elite von Anfang an als etwas Untrennbares deutlich. Vor diesem Hintergrund wird auch klar, wie sich Wolfs Arbeit in dieses Vorhaben einfügt: Sie vermitteltete Literatur und Geschichte, und sie war ein Produkt der Beziehungen zwischen den Eliten Österreichs und Brasiliens.

99 Antonio Candido: Formação da literatura brasileira, Bd. 2, S. 20. Eigene Hervorhebungen. 100 Lilia Moritz Schwarcz: As barbas do imperador. «[...] a literatura cede espaço ao discurso oficial e o indígena transformado em um modelo nobre toma parte, mesmo como perdedor, da grande gênese do Império, agora nas mãos de Dom Pedro II.», S. 134. 101 Ebda., S. 124.

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Allerdings erlangten Autoren, deren Werke den Kaiser und die Regierung kritisierten, keine ‹öffentliche› Anerkennung und bekamen keine staatliche Förderung. Diese ‹feindlichen› Autoren wurden infolgedessen auch von Wolf nicht behandelt. Unter diesen nicht konformen Autoren sind etwa der Schriftsteller Manuel Antonio de Almeida (1830–1861),102 der Dichter Laurindo Rabello (1826– 1864)103 und der Schriftsteller und Politiker José de Alencar (1829–1877).104 Letzterer legte die oben erwähnte Polemik gegen Magalhães Confederação dos Tamoios vor. Dom Pedro II. meldete sich diesbezüglich direkt zu Wort und verteidigte Magalhães gegen Alencars Vorwürfe über A confederação dos Tamoios. In einem Brief an einem Freund aus dem Jahr 1860 schrieb der Kaiser: «[...] quanto a ele [Alencar], ou se entra no grupo, ou se está fora».105 Schwarcz schreibt diesbezüglich: «É evidente, portanto, que o imperador conformava um grupo e um tipo de imagem do país, e mostrava o quanto era poderosa a sua reação contra aqueles

102 Der Literaturhistoriker José Verssímo (1857–1916) erklärt, warum den Roman von Manuel Antônio de Almeida Memórias de um sargento de milícias nicht von Wolf behandelt wurde: Veríssimo vermutet, das Problem liegt beim Publikumsgeschmack und nicht beim kulturpolitischen Projekt vom Dom Pedro II.: «Habituado ao romance romanesco e moralizante qual era não só o nosso, mas o português nessa época, em rever-se embevecido nas concertadas criações dos seus romancistas, não se podia o público enfeitiçar com um romance que para o seu gosto tinha o defeito de ser demasiado real e desenfeitado. Este seria também o sentimento dos próceres do Romantismo, então com toda a autoridade na opinião literária nacional. Parece indicá-lo o fato do Brésil littéraire, de Wolf, sabidamente inspirado por Magalhães e Porto-Alegre, não aludir sequer às Memórias de um sargento de milícias, e ao seu mal-aventurado autor, nem o representar na antologia, onde tanta cousa péssima vem, que adicionou ao seu livro». José Veríssimo: Estudos da literatura brasileira: de Bento Teixeira (1601) a Machado de Assis (1908), S. 273. Eigene Hervorhebungen. Es muss gesagt werden, dass Veríssimo in seinem Buch die gängigen Vorstellungen über Dom Pedro II. und den intellektuellen Kreis, der sich um ihm und das IHGB bewegt, d. h. die ofizielle Geschichtserzählung des Segundo Reinado, ständig reproduziert. 103 Sílvio Romero vermutet, dass Rabellos Werke nicht von Wolf behandelt wurden, weil dieser zu den niedrigsten sozialen Klassen in Rio de Janeiro gehörte: «Laurindo era um homem da plebe e sempre viveu em estado próximo da indigência. Não privava com o imperador, não era sócio do Instituto Histórico e tampouco era um protegido dos régios magnatas da literatura do seu tempo. Não era apaniguado de Magalhães, Porto-Alegre, Octaviano, Macedo e outros influentes da época. [...] Repare-se que Fernando Wolf nem uma só vez faz menção do seu nome. É que aqueles que forneceram os apontamentos para a obra do escritor austríaco guardaram silencio sobre o nosso trovista». Sílvio Romero: Historia da literatura brasileira, Bd. 2, S. 1009–1010. 104 Wolf sagt über Alencar in Le Brésil littéraire: «Seul le Guarany d’Alencar fait peut-être exception, mais il ne nous est pas parvenu», S. 240. Und in Geschichte der brasilischen Nationalliteratur: «Eine Ausnahme davon macht vielleicht der in jüngster Zeit erschienene und sehr gelobte Roman: ‹O Guarany› von J. d. Alencar, der uns aber nicht zu Gesicht zukommen ist», S. 359. Die anderen zitierten Autoren werden von Wolf nicht einmal erwähnt. 105 Lilia Moritz Schwarcz: As barbas do imperador, S. 134.  

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que a ele se opusessem. [...] D. Pedro II. continuaria a centralizar tal grupo, delimitando aliados e inimigos».106 Diese «grupo respeitável» mit «gente honrada»107 unter der Leitung von Magalhães wird von Antonio Candido nicht ohne eine gewisse Ironie beschrieben. Das Oszillieren der Autoren zwischen Klassizismus und Romantik in der Literatur und zwischen Monarchismus und Liberalismus in der Politik verdeutlicht letztlich nur ihre unverbrüchliche Loyalität gegenüber dem Kaiser und der Monarchie: De modo geral, são liberais, na medida em que o liberalismo representava então a forma mais pura e exigente do nacionalismo – a herança do espírito autonomista, o antilusitanismo, o constitucionalismo, o amor ao progresso, o abolicionismo, a aversão ao governo absoluto. [...] todos aceitavam a monarquia como fruto de livre escolha do povo e, dentro de tais limites, estavam prontos a acatar e reverenciar o Monarca – sempre mais à medida que iam envelhecendo e se acomodando nos cargos e funções públicas. Daí a ambivalência que os faz oscilar entre o amor da liberdade e a fidelidade dinástica, reputada inicialmente condição de ordem e paz, em seguida [...] preito e reverência pura e simples à sua pessoa.108

Le Brésil littéraire entstand also nicht nur aus einer bestimmten sozialen Lage in Europa oder einer geistesgeschichtlichen Konstellation Wiens heraus, die Wolfs persönliche Anstrengungen als Romanist prägten. Wolf trug mit seinem Werk offensichtlich dazu bei, Brasilien im Rahmen der monarchistischen und konservativen Weltanschauung, welche die imperiale Politik des Habsburgerreiches prägten, einzuordnen. Diese Weltanschauung basierte auf dem ‹monarchischen Prinzip›, auf der ‹christlich-katholischen› religiösen Orientierung und auf der radikalen Kritik an allen republikanischen und demokratischen Organisationen des Staates. Somit wurden auch die Interessen der brasilianischen privilegierten Klasse befriedigt: Eine Allianz mit Österreich war zunächst ein Versuch, Alternativen zur wirtschaftlichen Dominanz Englands zu schaffen. Außerdem galt die Vertiefung der dynastischen, verwandtschaftlichen Bindung als symbolischer Pakt im Sinne der Überlegenheit der Monarchie gegenüber einer republikanischen Revolution, welche möglicherweise einen Aufstand der Mehrheit der Bevölkerung, also der versklavten Arbeiter, hervorrufen könnte.

106 Ebda., S. 135. 107 Antonio Candido: Formação da literatura brasileira, Bd. 2, S. 42. 108 Ebda., S. 44. Eigene Hervorhebungen.

2.3 Dokumente zur Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire

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2.3 Dokumente zur Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire Wolfs Nachlass liegt seit 1885 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.109 Damals verkaufte seine Tochter Hedwig Wolf nach mehreren Wochen Verhandlung ungefähr tausend an ihren Vater gerichtete Briefe für 150 Mark an die Bibliothek. Das erste Angebot machte sie im Oktober 1885: Ich erlaube mir der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel zum Kaufe anzubieten um den Preis von ungefähr 200 Mark Originalbriefe und zwar 498 deutsche, 348 französische, 164 englische, 84 spanische, 24 italienische Briefe deutscher, französischer, englischer, amerikanischer, spanischer, italienischer Gelehrten darunter: Immanuel Becker, Haupt Moriz, Hoffmann von Fallersleben, Enk von der Burg, Benecke, Wackernagel, Massmann, Huber V. A., Lappenberg, Rosenkranz Karl, Karajan, Gachard, Michel Francisque, Du Méril Edelestand, Paris, Brunet, Prescott, Ticknor, Wright, Gayangos, Caballero Fernan, Duran, Hartzenbusch, Cantù Cesare an den Romanisten Ferdinand Wolf in Wien.110

Darunter sind auch vier Briefe von dem brasilianischen Diplomaten Ernesto Ferreira França aus der Zeit zwischen 1855 und 1858 auf Französisch,111 sechs Briefe von dem brasilianischen Künstler, Dichter und Diplomaten Manuel de Araújo Porto-Alegre aus der Zeit zwischen 1860 und 1863 auf Portugiesisch112 und ein einziger, aber sehr bedeutsamer Brief von dem Übersetzer Dr. van Muyden auf Deutsch aus dem Jahr 1862,113 die für die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire entscheidend sind. Darüber hinaus sind drei Briefe aus der Zeit zwischen 1860 und 1862 von Ferdinand Wolf selbst an dem Diplomaten Johann Jakob von Tschudi enthalten, deren zentrales Thema Büchersendungen aus Brasilien sind. Wolfs Nachlass ist in drei nicht katalogisierten Konvoluten organisiert, sodass Ferreira Franças, Porto-Alegres und Dr. van Muydens Briefe in der vorliegenden Arbeit überhaupt zum ersten Mal in gedruckter Form zu lesen sind.114

109 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, 504.3 Novi und 504.4 Novi. 110 Hedwig Wolf: Brief vom 29.10.1885. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, BA II 100, 15429. Später schickte Hedwig Wolf weitere Briefe an die Bibliothek, mit dem Ziel, den Nachlass zu vervollständigen, der erste Nachtrag kam 1887 und der zweite 1889, wie ihr Briefwechsel mit der Bibliothek zu diesen Jahren zeigt. 111 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.196–1.999. 112 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.3–1.8. 113 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.4 Novi, fol. 3.56. 114 Dabei sind Wolfs Kommentare über die verlegerische Stimmung im Bereich der romanischen Studien sehr aufschlussreich, insbesondere hinsichtlich der Herausgabe des von ihm mitbegründeten Jahrbuchs für romanische und englische Literatur, aber auch in Bezug auf politische Themen wie etwa das angespannte Verhältnis zwischen Österreich und Preußen, das später zum Deut-

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Weitere Briefe aus Wolfs Nachlass wurden 1886 von dem Romanisten Edmund Stengel transkribiert und in einer Abhandlung veröffentlicht.115 Stengel bemühte sich, ein ausführliches Verzeichnis aller Briefpartner Wolfs, die «wissenschaftliches Interesse erwecken» könnten, anzulegen. Dank dieser detailreichen Arbeit kann man ersehen, dass Wolf ein sehr aktiver Korrespondent war, der nicht nur Kontakt mit geistigen Größen überall in Europa pflegte, sondern dies auch mit beeinflusste. So hält Stengel über die Wirkungsgeschichte des Jahrbuchs für romanische und englische Literatur und Wolfs Rolle fest: Was aber Wolf’s Name für das Jahrbuch besagte, das ergibt recht deutlich erst ein Blick in seine Korrespondenz. Gerade der internationale Charakter, welchen das Jahrbuch von Anfang an in ausgeprägter Weise an sich trug, und ohne welchen es sich bei der Ungunst der Zeiten nicht hätte aufrecht erhalten lassen, konnte es nur durch einen Mann mit so staunenswert ausgedehnten Verbindungen erhalten.116

Nach Stengel war einer von Wolfs bevorzugten Gesprächspartnern in den 1860er Jahren sein Freund Ludwig Lemcke (1816–1884),117 mit dem er zwischen 1853 und 1865 etwa sechsunddreißig Briefe wechselte, davon sind fünfundzwanzig von Stengel transkribiert worden. Eine weitere bedeutende Quelle ist der intensive Schriftverkehr zwischen Wolf und Adolf Ebert. Mit Wolf rief Ebert 1859 das Jahrbuch für romanische und englische Literatur ins Leben, dies ist das Hauptthema der 125 Briefe aus den Jahren von 1851 bis 1864.118 Richard Wülker, ein Leipziger Student Eberts, beschrieb

schen Krieg führte, oder die philologischen Debatten hauptsächlich über spanische Autoren und ihre deutschsprachige Rezeption. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, 504.3 Novi und 504.4 Novi. 115 Edmund Stengel: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland für den ersten Neuphilologentag Deutschlands zu Hannover. Ausgaben und Abhandlungen aus dem Gebiete der Romanischen Philologie. Marburg: 1886. 116 Ebda., S. 22. 117 Der Übersetzer, Privatdozent und spätere Professor an der Universität Marburg und an der Universität Gießen und Jahrbuch-Herausgeber Ludwig Lemcke arbeitete vor allem zur spanischen, italienischen und englischen Literatur und veröffentlichte 1855 sein Hauptwerk Handbuch für spanische Literatur. Edward Schröder: Ludwig Lemcke. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 51. Herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Leipzig: Duncker & Humblot 1906, S. 639–642. Lemckes Briefe an Wolf befinden sich ebenso in Wolfenbüttel. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi. 118 Richard Wülker: Briefwechsel zwischen Adolf Ebert und Ferdinand Wolf. Eberts Nachlass wird an der Universität Leipzig, wo er Professor war, noch heute aufbewahrt. Seit 1853 bot Ebert seine ganze Kraft auf, um ein Zentralorgan für romanische Studien zu gründen. Verhandlungen mit Wolf und verschiedenen Verlegern zogen sich bis 1858 hin, als der erste Band erschien. Kurz

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und transkribierte seinen Briefwechsel teilweise, sodass Eberts Anstrengungen für die Erhaltung der Zeitschrift ausführlich nachvollzogen werden können. Mit diesen Ausnahmen wurden die weiteren Dokumente aus Wolfs Nachlass trotz ihrer historischen Bedeutung bislang nicht ausreichend erforscht. In der Österreichischen Nationalbibliothek, der ehemaligen kaiserl. kgl. Hofbibliothek, wo Wolf sein ganzes Leben arbeitete, sind Hausakten zu finden, welche die Geschichte der Widmung an Dom Pedro II. in ein anderes Licht rücken. Genauso wertvoll sind die Akten über die Novara-Expedition, denn sie zeigen, über welchen Weg die brasilianischen Bücher aus der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro Wien erreicht haben. Durch eine intensive Recherche in Archiven in Rio de Janeiro konnte ich einige Lücken in der Dokumentation über die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire schließen. Die Antwortbriefe von Ferdinand Wolf an die Brasilianer Ernesto Ferreira França und Manuel de Araújo Porto-Alegre waren allerdings nicht auffindbar, ebenso der Nachlass von Gonçalves de Magalhães. Im Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro (IHGB) sind die sieben Bände der Revista Popular aufbewahrt. In dieser Zeitschrift erschien tatsächlich die übersetzte Abhandlung über Gonçalves de Magalhães, die auf Deutsch separat gedruckt worden war und später in die Geschichte der brasilischen Nationalliteratur und Le Brésil littéraire aufgenommen wurde, wie Wolf in einem Brief an Lemcke erwähnt. Das Arquivo Histórico do Itamaraty enthält eine Vielzahl von wichtigen Akten. Die Stapel an Dokumenten der diplomatischen Delegationen in Europa, wo Manuel de Araújo Porto-Alegre und Gonçalves de Magalhães tätig waren, sind leider noch immer nicht systematisch organisiert und werden aufgrund des schlechten Zustands der Bibliothek bald zerstört sein, wenn nicht unverzüglich etwas dagegen unternommen wird. Die wichtigsten Dokumente für die Entstehungsgeschichte von Wolfs Studie sind dort zu finden: Ein Brief von Wolf an Dom

danach aber störte der Österreich-Italienische Krieg das Verhältnis von Deutschland zu Italien und Frankreich empfindlich und auch die Publikation des Jahrbuchs wurde dadurch gefährdet, wie Ebert am 30. April 1859 an Wolf schrieb: «Mag bei dem ausbrechenden Weltkriege der Himmel auch das Jahrbuch in seine Obhut nehmen, das die Brüderlichkeit der Nationen zur geistigen Basis hat. Es verträgt sich schlecht mit diesem wahrhaft miserablen Kriege!», S. 97. Im Laufe der Zeit beeinträchtigten manche Faktoren die weitere Publikationsgeschichte des Jahrbuchs: Ebert fühlte sich durch die redaktionelle Arbeit überlastet, die Verleger Asher & Co. und Dümmler wollten den Preis des Jahrbuchs erhöhen. Ende 1859 hatte das Jahrbuch 160 Abonnenten, im Jahr 1860 erreichte es 180, das war aber noch nicht ausreichend; für eine Kostendeckung mussten es 360 Abonnenten sein (S. 99 und 101). 1861 ging man von den Verlagen Asher & Co. und Dümmler in Berlin zu Brockhaus in Leipzig, 1865 übernahm Lemcke von Ebert die Leitung, Wolf verstarb im Jahr 1866. Doch ungeachtet aller Hindernisse erlangte das Jahrbuch schließlich dauerhaften Ruhm.

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2 Die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire

Pedro II. mit der Bitte um Erlaubnis, ihm sein Werk zu widmen, und die Verleihung eines Zivil- und Militärverdienstordens (Rosenorden) an Wolf.119 Weitere Akten von Gonçalves de Magalhães, die das Leben in Wien und die politische Lage in Europa um 1860 wiedergeben, ergänzen dieses literarische, politische und diplomatische Panorama. Der Nachlass des Verlags Asher und Co., welcher Le Brésil littéraire veröffentlichte und die Übersetzung ins Französische beauftragt hatte, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört: the firm’s records had all been destroyed by bombing in the raids of May 1944 and March an April 1945. Adolf Geipel (1871–1945), who took over the Berlin remnant of the firm in 1933, had kept the historic archive intact through the Nazi years and the war up to this point.120

Die Geschichte dieses Verlags ist mit traditionsreichen jüdischen Unternehmen verbunden, die dem Antiquariatsbuchhandel Weltgeltung verschafft hatten.121 Ashers Verlag – eine regelrechte Schule des Buchhandels, wie von mehrere Autoren betont wird, wo alle wichtigen deutschen Buchhändler der Zeit ihr Handwerk erlernten – erlangte großen Erfolg dank der Zusammenlegung des Verlags mit einem wissenschaftlichen Antiquariat. Dessen Angebot entsprach den Bedürfnissen zunehmender Spezialisierung auf einige wenige Disziplinen oder Wissensgebiete. Diese sogenannten ‹Spezialgeschäfte› im Import und Export von Büchern waren die eigentlichen Versorger von zahlreichen Bibliotheken und Gelehrten Europas. Unter Ashers Kunden waren das British Museum, die Oxford Library und Einzelpersonen wie Goethes Schwiegertochter Ottilie von Goethe.122 Zu Beginn der Vermarktung von Büchersammlungen und raren Werken veranstaltete Asher

119 Siehe Anhänge der vorliegenden Arbeit. 120 David Paisey: Adolphus Asher (1800–1853): Berlin Bookseller, Anglophile and Friend to Panizzi. Eletronic British Library Journal 1997, S. 134. http://www.bl.uk/eblj/1997articles/article14. html (07.06.2017). 121 Georg Jäger (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1871–1918. Teil 3. Berlin: De Gruyter 2010, S. 251. Ab dem Moment, als Ascher sein Geschäft in Berlin eröffnete, anglisierte er seinen Namen und firmierte auf Englisch als «A. Ascher’s Library». 122 Die wichtige Rolle von Asher als Buchhändler beschreibt David Pasey: «He became a principal supplier of English books to Germany and other parts of the Continent, and of European books, current and antiquarian, of every degree of rarity, to collectors and to libraries like the British Museum, whose sustained bid for universality he thus did so much to further. He supplied the Museum with modern books in all the major languages of Europe and many of the minor, from Modern Greek to Icelandic, Serbian and Latvian». David Paisey: Adolphus Asher (1800–1853), S. 136.

2.3 Dokumente zur Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire

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auch zahlreiche Auktionen, unter anderem versteigerte er im Jahr 1849 Ludwig Tiecks Bibliothek.123 Asher und Co. war einer der erfolgreichsten in Berlin angesiedelten Verlage und eines der besten wissenschaftlichen Antiquariate der damaligen Zeit. Der Verlag veröffentlichte 1859 auch Wolfs Studien zur portugiesischen und spanischen Nationalliteratur. Die Geschichte von Asher und Co. geht auf den Werdegang seines Begründers Adolf Asher zurück: Nach einem Aufenthalt als Kaufmann in England und danach in Russland, wo er in St. Petersburg Diamantengeschäfte getätigt hatte, zog er 1830 nach Berlin, um eine Buchhandlung mit Antiquariat zu eröffnen. Er sammelte in kurzer Zeit ein vielfältiges und umfangreiches Sortiment.124 Gehilfe bei ihm war Albert Cohn,125 der das Unternehmen nach Ashers Tod 1853 übernahm. Cohn suchte den literarischen Verkehr zwischen Deutschland und dem Ausland noch zu fördern und dafür gründete er 1864 ein weiteres Zweiggeschäft in London. «Zweifellos war Cohn in den sechziger und siebziger

123 Der Dichter war selbst Kunde des Antiquariats und freundete sich nach der Auktion mit Albert Cohn an. Dank dem Verkauf seiner Bibliothek von 36.000 Bänden deutscher, englischer und spanischer Literatur für 7000 Taler hoffte Tieck Verbindlichkeiten seines Bruders, des Bildhauers Friedrich Tieck, zu tilgen. Das British Museum erwarb den größten Teil von Tiecks Handexemplaren, einen Teil kaufte König Friedrich Wilhelm V. für die Berliner kgl. Bibliothek, und ein Rest ging nach Klein Öls an den Grafen York v. Wartenberg. Georg Jäger (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, S. 251. Erich Carlsohn: Alt-Berliner Antiquare. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 100 (28.11.1980), S. A486. 124 Abraham Isaac Ascher (später Adolf Asher) wurde 1800 in Cammin in Pommern geboren und auf dem alten Berliner Gymnasium Zum grauen Kloster ausgebildet. Neben seiner Tätigkeit als Verleger und Antiquar war Asher «bibliographisch äußerst tätig»: 1839 erschien von ihm Bibliographical essay on the collection of voyages and travels, 1843 Bibliographical essay on the scriptores rerum germanicarum und, mit Übersetzungen und Anmerkungen, gab er Itinerary of rabbi B. Benjamin of Tudela (1840 2 Bd.) heraus. Ins Englische übersetzte er 1834 Schillers ‹Lied von der Glocke›. Rudolf Schmidt: Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker. Bd. 1. Berlin/Eberswalde: Weber 1902, S. 12–13. 125 Albert Cohn (1827–1905) verfasste den berühmten Band Shakespeare in Germany (1865) und organisierte die Shakespeare Bibliografie in den ersten dreißig Bänden des Shakespeare Jahrbuchs (1864–1900). Bis 1874 war Cohn Alleinbesitzer des Verlags Asher und Co., dann kamen Leonhard Simion und ab 1882 Eugen Goldstücker als Teilhaber dazu. Um 1900 verzeichnete das Unternehmen einen herausragenden 54 Seiten starken Verlagskatalog vor allem im Bereich der Ethnographie mit Autoren wie A. Baeßler, A. Bastian, F. Boas, W. Joest, W. Reiß, A. Stübel, R. Virchow. Cohn zog sich 1874 zurück und gründete ein eigenes Antiquariat. Nach seinem Tod wurde seine Bibliothek gemäß seinem Testament an öffentliche Einrichtungen verteilt: Die 18000 Zettel seiner Shakespeare Bibliografie erhielt die Berliner Staatsbibliothek (im Zweiten Weltkrieg vernichtet), seine Goethe-Sammlung ging zunächst nach Weimar und seine Schillerhandschriften gingen nach Marbach. Fritz Homeyer: Deutsche Juden als Bibliophile und Antiquare. Tübingen: J. C. B. Mohr 1966, S. 18–19.

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Jahren der bedeutendste (bibliophile) Antiquar Deutschlands», so Cohns Lehrling Max Ziegert.126 Mithilfe einer Analyse der oben genannten Quellen in ihrem zeitlichen Ablauf kann die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire nachvollzogen werden. Auf diese Weise werden die Unterschiede zwischen den Briefen Wolfs und der wissenschaftlichen Darstellung seiner Studien deutlich. In seiner Korrespondenz ist Wolfs Ausdrucksweise offener als in seinen Werken. Die von Wolf empfangenen Briefe verraten durch verschiedene Höflichkeitsformeln und Ausdrücke viel über die Ansichten des Absenders. Im Gegensatz dazu werden öffentliche Angelegenheiten in offiziellen Berichten von ihm oft in einer vermeintlich neutralen Sprache ausgedrückt. Die Analyse dieser Dokumente kann daher dabei helfen, die literarischen, persönlichen und politischen Verbindungen zwischen Absender und Empfänger aufzudecken. Die Betrachtung dieser verschiedenen Diskursformen wird auf den folgenden Seiten Wolfs eigene Ansichten über seine Arbeit und über die brasilianische Literaturgeschichte veranschaulichen. Vier wesentliche Momente können hierbei identifiziert werden, nach ihnen sind die Unterkapitel strukturiert: die Vorbereitungen für das Schreiben (1857– 1859), die Niederschrift (1860–1861), die Widmung (1862) und die Übersetzung (1862). Jede Phase wird von einem bevorzugten Briefpartner markiert, zum Beispiel erscheint am Anfang Ernesto Ferreira França als Wolfs Hauptkontakt aus Brasilien. In der zweiten Phase tritt Manuel de Araújo Porto-Alegre auf den Plan. In der dritten Phase sind die offiziellen Berichte und Akten von Gonçalves de Magalhães von zentraler Bedeutung. Davon ausgehend lässt sich vermuten, dass Wolf nicht gleichzeitig in Kontakt mit den drei erwähnten Brasilianern stand. Außerdem brechen die Briefwechsel mit ihnen kurz nach der Veröffentlichung des Buches ab. Für längere Zeit jedoch hielt Wolf den Briefwechsel mit seinem Freund Ludwig Lemcke aufrecht, die Korrespondenz zwischen den beiden beginnt vor der Arbeit und setzt sich nach der Veröffentlichung fort.

2.3.1 Vorbereitungen (1857–1859): Ferreira Franças Briefe an Wolf, Berichte der Novara-Expedition und Wolfs Briefe an Ludwig Lemcke Wolf erwähnt im ‹Vorwort› seiner Studie über Brasilien den entscheidenden Einfluss durch seine brasilianischen Bekanntschaften:

126 Erich Carlsohn: Albert Cohn. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 39 (17.05.1960).

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[...] j’ai eu le bonheur de faire la connaissance de plusieurs écrivains distingués du Brésil. Je veux parler de MM. Domingos José Gonçalves de Magalhães, Manoel d’Araújo Porto-Alegre et Ernesto Ferreira França, qui m’ont fourni des matériaux de tout genre et m’ont aidé de leurs conseils.127 Hierzu kam noch, daß ich so glücklich war, die persönliche Bekanntschaft so ausgezeichneter brasilischer Schriftsteller, wie der Hrn. Domingos José Gonçalves de Magalhães, Manoel de Araújo Porto-Alegre und Ernesto Ferreira França, zu machen, die nicht nur durch Mittheilung von Materialien mich unterstützten, sondern auch durch ihren Rath meine Studien leiteten [...].128

Die Reihenfolge dieser Auflistung entspricht wahrscheinlich nicht dem Eintreten dieser Figuren in Wolfs Briefwechsel. Die Briefe von Ferreira França129 sind, meinen Erkenntnissen zufolge, die ersten Zeugnisse von Wolfs Beziehung zu Brasilien. Sie umfassen die Zeitspanne von 1855 bis 1859, d. h. noch bevor Wolf sich dem Projekt widmete, eine Geschichte der brasilianischen Literatur zu schreiben. Allerdings ist nirgendwo herauszufinden, wie sie sich kennenlernten oder wie der erste Kontakt zueinander zustande kam. So beginnt der erste Brief, wohl der erste zwischen beiden überhaupt, aus dem Jahr 1855 wie folgt:  

[...] je prends la liberté de vous écrire pour vous prier de vouloir bien m’envoyer le catalogue de vos ouvrages, selon la promesse obligeante que vous m’avez faite. Je dois écrire dans quel-

127 Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire, S. VIII. 128 Ferdinand Wolf: Geschichte der brasilischen Nationalliteratur, S. III. 129 Ernesto Ferreira França (Bahia, 1804 – Rio de Janeiro, 1872) gehört, so Sílvio Romero, einer der traditionsreichsten Familien Brasiliens an, die Kultur und Politik dominierten: «Os Andradas, os Silvas Lisboas, os Ferreiras Franças, os Vilellas Barbozas, os Carneiros de Campos e outros na política do tempo entraram levados por prestígio de família, entraram como influências tradicionais e locais, entraram como quase nobres, entraram quase par droit de naissance, e suas ideias representavam o doutrinarismo acadêmico, letrado, abstrato da Universidade de Coimbra». Sílvio Romero: História da literatura brasileira, Bd. 1, S. 665. Wolf kommentiert Ferreira Franças Werke sehr kurz in Geschichte der brasilischen Nationalliteratur und Le Brésil littéraire und gibt wenige biographische Hinweise. Nach Wolf war er Professor für Jura und schrieb die Oper Lindoya, tragédia lyrica em quatro actos (Leipzig, 1859) nach dem Thema von Basílio da Gamas O Uraguay, außerdem erotische Lieder und Sonette, die in O livro de Irtilia (Paris, 1854) gesammelt wurden. In einer Fußnote auf der S. 348 ergänzt Wolf: «Le docteur Ferreira França a en outre fait imprimer les ouvrages suivants en Allemagne, où il a séjourné longtemps et dont il s’est approprié la langue: Brasilien und Deutschland, Leipsic, 1858, 8°; Institutiones Justiniani, Leipsic, 1858, 8°; Chrestomathia da lingua brasil (de la langue toupi), Leipsic, 1859, 8». Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire, S. 233. Im Originalmanuskript: «Dr. Ferreira França hat außerdem in Deutschland, wo er sich durch längere Zeit aufhielt und dessen Sprache sich aneignete, drucken lassen: Brasilien und Deutschland, Leipzig, 1858. 8º.; Institutiones Justiniani, Lipsia, 1858. 8º – Chreshomathia da lingua brasil. (der Tupi Sprache). Leipzig, 1859. 8º», S. 348.

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ques jours pour Rio de Janeiro, et je désirerais profiter de cette occasion pour le remettre au Secrétaire de l’Institut. J’ai eu avant mon départ de Vienne, l’honneur de vous chercher deux fois à la Bibliothèque Impériale, mais je l’ai trouvée malheureusement toujours fermée, et on n’a pas pu me dire si vous étiez déjà parti pour la campagne, ou non. C’est pourquoi je n’ai pas eu le plaisir de vous voir [...].130

Ferreira França war zu dieser Zeit Diplomat in Dresden und unternahm wahrscheinlich eine Reise nach Wien, denn er nimmt Bezug auf eine persönliche Begegnung mit Wolf. Wahrscheinlich war der Brasilianer bei diesem Aufenthalt in Österreich auf Wolfs philologischen Schriften aufmerksam geworden, daher seine Bitte um Zusendung von dessen Arbeiten. Ferreira França suchte bei diesem, wohl ersten schriftlichen Kontakt, eine Nähe zu Wolf zu schaffen, und dies mittels markanter Höflichkeitsformeln. Ferreira França wirkte in diesem Zusammenhang nicht nur als kultureller Vermittler,131 wie seine Briefe beispielsweise an Richard Wagner aus dem Jahr 1857 offenbaren.132 Er beabsichtigte vielmehr, seine Beziehungen zu deutschspra-

130 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.196. Eigene Hervorhebungen. 131 Gonçalves Dias schreibt an Dom Pedro II. in einem Brief datiert mit dem 04.03.1857 über seine Arbeiten als Gesandter in Dresden und erwähnt sein Treffen mit Ferreira França: «Quanto ao Drama [Boabdil], aconteceu que eu o lesse aos Drs. França e Sousa, que aqui se acham. Não desgostaram dele. O França traduziu-o para o alemão e parece que não ficou mal. Ainda assim vai ser novamente revisto, e supõe o Tradutor que ele irá à cena aqui em Dresde e talvez também em Leipzig. Representado ele, aparecerão livreiros que o queiram imprimir, quando não for senão pela curiosidade de ser um drama brasileiro. Neste caso, eu não quereria que a tradução aparecesse impressa antes do original. [...] Visto que falei de brasileiros que nos achamos em Dresde, aconteceu por casualidade que nos encontramos aqui os Drs. Sousa e França, o Stockmayer e eu. O França tem dado umas preleções em língua francesa sobre a constituição, código comercial e literatura do Brasil», S. 212. In einem anderen Brief an seinen Freund Capanema, schreibt Dias im September 1857 Folgendes über Ferreira França: «Aí te mando dois artiguinhos a meu respeito. Outros tem saído, mas não sei deles senão por alto. Dizem-me (isto é) diz-me o nosso Patrício França que já ando por Estocolmo e Upsala: não sei até que ponto isso seja verdade. Sei desses dois artigos, porque parece que foi ele quem influiu para a sua publicação, assim como quem deu apontamentos para eles», S. 231. Ein letzter Hinweis auf die Wirkung von Ferreira França in Europa ist im Brief von Dias an Dom Pedro II., vom 05.05.1858, enthalten: «O Sr. França publicou ultimamente em Leipzig um folheto – Brazilien und Deutschland – que mereceu o favorável acolhimento na Imprensa alemã», S. 243. Correspondência ativa de Antonio Gonçalves Dias. In: Anais da Biblioteca National. Bd. 84. Rio de Janeiro 1964. Bd. 84. 132 Carl Heinrich Hunsche/Ernesto Ferreira França: Richard Wagner und Brasilien. In: Iberoamerikanisches Archiv 11, 3 (1939), S. 199–216. Ferreira Franças Briefe an Wagner wurden genau in dem Moment veröffentlicht, in dem es darum ging, die Vergangenheit nach bestimmten Interes-

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chigen Künstlern und Gelehrten auszudehnen. Dabei behauptete er, dies sei kein Auftrag der brasilianischen Regierung, im Gegenteil, er schließe den Kontakt zu Wagner freiwillig im Dienst seines Vaterlandes.133 Wagner, der im Exil in Zürich war, wurde 1857 von Ferreira França eingeladen nach Brasilien zu reisen. Ferreira França schlug in seinen ebenfalls auf Französisch geschriebenen Briefen weiter vor, Wagner sollte das neu komponierte Werk, das später als Der Ring des Nibelungen bekannt wurde, im Theatro Lyrico do Rio de Janeiro vorstellen und das Werk Dom Pedro II. widmen.134 Dom Pedro II. wurde von Ferreira França als ein aufgeklärter Souverän, ein Schirmherr von Kunst und Wissenschaft geschildert, der nicht mit den antiliberalen europäischen Fürsten zu verwechseln wäre, was möglicherweise Wagners Ansprüchen entsprechen konnte.135 Von diesem kulturellen Austausch würden beide Seiten profitieren: Wagner von der inspirierende Kraft der tropischen Natur Brasiliens und Brasilien von der kulturellen Tradition Europas. Da die Antwortbriefe von Wagner nicht auffindbar sind, bleibt unbekannt, warum sich der Plan einer Reise nach Brasilien letztlich nicht verwirklichte.136 Der letzte Brief von Fer-

sen neu zu erzählen, wie folgende Passage aus Hunsches Artikel beweist: «Dank dem liebenswürdigen Entgegenkommen von Frau Winfried Wagner und der Unterstützung der vom Führer im Mai 1938 errichteten, Richard-Wagner-Forschungsstätte Bayreuth’ [...] können diese sechs Ferreira França Briefe nun erstmalig im französischen Original veröffentlicht werden, ebenso der Entwurf des ersten von Wagner an Ferreira França gerichteten Schreibens vom 15. März 1857, der sich ebenfalls ungedruckt im Archiv des Hauses Wahnfried befand», S. 202–203, Hervorhebungen im Original. 133 In seinem ersten Brief an Wagner schrieb Ferreira França 1857: «Je ne suis pas chargé de prendre sous ce rapport aucune iniciative, mais je croirai avoir fait un service à ma patrie en lui fournissant l’occasion l’apprécier [sic] un talent comme le vôtre». Ebda., S. 211. 134 Antonio Alexandre Bispo: Wagner e o Brasil na mediação de E. Ferreira França Filho (1828– 1888). O projeto de dedicação de Tristan und Isolde a D. Pedro II. In: Revista Brasil-Europa: Correspondência Euro-Brasileira 147, 9 (2014). http://revista.brasil-europa.eu/147/Wagner-Brasil_19 76.html (7.09.2016). 135 In seinem ersten Brief an Wagner 1857 schrieb Ferreira França: «[...] et où vous trouveriez sans doute dans l’Empereur, protecteur zélé des lettres et des arts, un appui et une protection», S. 211. Und in einer anderen Stelle: «Si par hasard vous vouliez dédier à S. M. l’Empereur ce nouvel Opéra [Nibelungen], je me chargerais avec beaucoup de plaisir de faire parvenir votre demande à S. M., dont les qualités et l’illustration sont au-dessus de tout éloge». Carl Heinrich Hunsche/Ernesto Ferreira França: Richard Wagner und Brasilien, S. 211. 136 In seiner 16-bändigen Autobiographie schreibt Wagner, wie er den Kontakt zu Ferreira França, den er Ferreiro nennt, empfand: «Meine missglückten Aussichten auf die Unterstützung des Großherzogs von Weimar für die Nibelungen-Arbeit nährten aber in mir eine fortgesetzte Verstimmung; ich sah eine Last vor mir, deren ich mich nicht zu entledigen wusste. Zu gleicher Zeit war mir nun eine abenteuerliche Meldung zugekommen: ein Mensch, welcher sehr natürlich Ferreiro hieß, hatte sich als brasilianischer Konsul von Leipzig aus bei mir gemeldet und mir Anzeige von

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reira França war von einem persönlichen Anliegen geprägt, er bat Wagner darum, bei dem Rektor einer Schweizer Universität zu intervenieren, damit dem Brasilianer genehmigt würde, im deutschsprachigen Raum zu dozieren.137 Das zweite von mir gefundene Zeugnis zur Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire stammt aus dem August des Jahres 1857, als Ferdinand de Hochstetter der kaiserl. kgl. Hofbibliothek den Bücherankauf in Rio de Janeiro im Rahmen der wissenschaftlichen Expedition der Novara mitteilte.138 Die Novara-Weltumsegelung war, wie bereits dargestellt wurde, ein gelungenes Ergebnis der expansionistischen Ansprüche des Hauses Habsburg.139 In seinem ‹Vorwort› erklärte Wolf,

der großen Zuneigung des Kaisers von Brasilien für meine Musik gemacht. Meinen Zweifeln an dieser sonderbaren Erscheinung wusste der Mann in seinen Briefen recht hübsch zu entgegnen; der Kaiser liebte das Deutsche und wünschte mich gerne zu sich nach Rio de Janeiro zu haben, damit ich ihm daselbst meine Opern vorführe, wozu, da dort allerdings nur italienisch gesungen würde, es nur der Übersetzung meiner Texte bedürfe, was er als sehr leicht und zugleich sehr vorteilhaft für dieselben ansah. Sonderbarerweise wirkte die hierdurch angeregte Vorstellung in Wahrheit sehr angenehm auf mich, und es schien mir, als müsste ich sehr gut ein leidenschaftliches Musikgedicht zustande bringen können, welches sich im Italienischen ganz trefflich ausnehmen sollte. Wiederum gedachte ich mit stets neu auflebender Vorliebe an Tristan und Isolde. Zunächst übersandte ich Herrn Ferreiro, um der großmütigen Neigung des Kaisers von Brasilien einigermaßen auf den Zahn zu fühlen, die kostbar eingebundenen Klavierauszüge meiner drei älteren Opern, von deren gnädiger und splendider Aufnahme in Rio de Janeiro ich mir längere Zeit etwas recht Angenehmes erwartete. Weder von diesen Klavierauszügen noch vom Kaiser von Brasilien und dessen Konsul Ferreiro habe ich in meinem Leben je wieder etwas gehört». Richard Wagner: Mein Leben: Dritter Teil 1850–1861. Bd. 2. München: Bruckmann 1911, S. 649–650. Hervorhebungen im Original. 137 Carl Heinrich Hunsche/Ernesto Ferreira França: Richard Wagner und Brasilien, S. 216. 138 Die Reise dauerte insgesamt 551 Tage und brachte vielfältiges Material nach Europa, unter anderem auch aus Brasilien. Die Fregatte verließ Triest am 25. April 1857, nahm in Gibraltar und Madeira Proviant auf und erreichte Rio de Janeiro sieben Wochen später. Die Novara traf am 5. August 1857 in Rio ein und verließ die Stadt am 31. August 1857. In der ehemaligen Hauptstadt Brasiliens empfing Pedro II. den Kommodore und die Fachgelehrten persönlich an Bord. Danach segelte die Novara in Richtung des indischen Subkontinents über das Kap der Guten Hoffnung. Bis zu ihrer Rückkehr am 26. August 1859 legte sie im Indischen Ozean an den Inseln St. Paul und Amsterdam an, passierte Ceylon und Madras und gelangte nach Singapur, Java, Manila, Hongkong, Shanghai, zu den Salomonen, nach Sydney, Tahiti, Valparaíso, Kap Hoorn und wieder zu den Azoren. David G. L. Weiss/Gerd Schilddorfer: Novara. Österreichs Traum von der Weltmacht. Wien: Amalthea-Verlag 2010. 139 Wie Walter Sauer erklärt: «Based on the harbour of Trieste and its potential, the neo-absolutist regime established after the suppression of the revolutions of 1848 tried to position the empire as an internationally connected commercial centre for Central and Northern Europe. In this context, both the Suez Canal project – in which France and Austria had major stakes – as well as plans to establish colonial outposts along the route to East Asia gained strength. On two occasions, Archduke Ferdinand Maximilian, the Emperor’s (Franz Joseph’s) younger brother and com-

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dass Ferdinand de Hochstetter als Mitglied der Expeditionsgruppe den Auftrag hatte, brasilianische Bücher zu erwerben.140 Im Brief an die kaiserl. kgl. Hofbibliothek schrieb Hochstetter: Der Gefertigte hat die Ehre, dem ihm gewordenen Auftrage gemäss, hiermit eine Reihe von Werken in portugiesischer Sprache für die k. Hofbibliothek einzusenden. Ein Theil der eingesendten Werke ist aus den dem Gefertigten von der k. Hofbibliothek ausgesetzten Geldmitteln angekauft um den Preis von circa 100 [unleserlich] Darunter ist wohl alles Wichtigere enthalten, was in neuerer Zeit in Brasilien an historischer, juristischer, und schön wissenschaftlicher Literatur erschienen ist, und was während des kurzen Aufenthaltes der Novara im Hafen von Rio dem Gefertigten auf buchhändlerischem Weg aufzufinden möglich war. Ein kleinerer Theil der eingesendten Bücher ist ein Geschenk des deutschen Buchhändlers Laemmert in Rio de Janeiro an die k. k. Hofbibliothek, meist Übersetzungen deutscher Werke in das Portugiesische, für welche der genannte Buchhändler, der die meisten der angekauften Werke besorgte, um eine bescheidene [unleserlich] in der k. Hofbibliothek bittet. Um die vortreffliche Gelegenheit, die Bücher mit dem Hamburger Dampfer ‹Teutonia› auf sehr wohlfeilen Wege nach Europa zu senden durch die Güte des Österreichischen Generalkonsulates in Rio nicht zu versäumen, beeilt sich der Gefertigte dieselben heute schon zu expedieren, findet aber im letzten Augenblick der Abreise der Novara nicht mehr Zeit, die Rechnungen und andere Details, welche auf diese Büchersendung sich beziehen beizulegen. Der Gefertigte wird sich erlauben, den detaillierten Bericht über die Büchersendung an die k. Hofbibliothek erst vom Cap der guten Hoffnung aus einzusenden.141

Die Bedeutung dieses Briefes liegt in der Wiedergabe wichtiger Information über den Weg der brasilianischen Bücher zur kaiserl. könig. Hofbibliothek. Wolf hatte schon im Jahr 1857 Zugang zu den Werken, d. h. vor der Rückkehr der Novara 1859 nach Triest. Darüber hinaus macht Hochstetters Brief den historischen Zusammenhang der Neugestaltung des Weltmarkts deutlich, in welchem der Hamburger  

mander-in-chief of the navy, initiated maritime operations aimed at establishing, or at least preparing the ground for, colonial footholds along the prospective shipping route between Suez and India. [...] the second [journey] was connected to the voyage of the Austrian flagship Novara around the globe between 1857 and 1859 and was aimed at proclaiming Austrian sovereignty over the Nicobar Islands – a deliberate reference to Habsburg’s eighteenth-century colonial policies». Walter Sauer: Habsburg Colonial: Austria-Hungary’s Role in European Overseas Expansion, S. 14. 140 Eine Liste der erworbenen Werke ist in der Nationalbibliothek Wien leider nicht erhalten. Die Akademie der Wissenschaften zu Wien veröffentlichte jedoch die Ergebnisse der Expedition in einem ausführlichen 21-bändigen Werk, dessen geologischer Teil unter De Hochstetters Verantwortung stand. Karl von Scherzer: Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde. Wien 1861– 1876. In seinen Büchern gibt Hochstetter keine Auskunft über seinen Buchankauf in Rio de Janeiro. 141 Österreichische Nationalbibliothek, HB 212/1860. Eigene Hervorhebungen.

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Dampfer Teutonia eine zunehmende Rolle als Handelsschiff spielte.142 Die Vermehrung und Beschleunigung der Handelsbeziehungen und die Zunahme der Auswanderungen, auch als Folge der gescheiterten Revolution im Jahr 1848, die viele Menschen ins Exil gezwungen hatte, gelten in diesem Zusammenhang als entscheidende Gründe.143 1856 wurde also ein regelmäßiger Dampferverkehr zwischen Hamburg und New York und zwischen Hamburg und Rio de Janeiro eingerichtet. Trotz des sehr hohen Kohlepreises, insbesondere in den südamerikanischen Häfen, und trotz der bereits seit 1850 bestehenden Dampferverbindung mit der Royal Mail Steam Packet Co., konnte die Hamburg-Brasilianische Dampfschifffahrtgesellschaft das Projekt einer Dampferlinie zwischen Brasilien und Deutschland verwirklichen. Die Flotte bestand aus drei Dampfern: Teutonia, Petropolis und Prinzessin von Joinville. 1857 wurde eine Zweiglinie von Rio de Janeiro nach Buenos Aires mit Stopps in Santos, Desterro, Rio Grande und Montevideo eingerichtet.144 Wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit die Welt überwiegend eine ländliche war, hieß nahe an einem Hafen zu leben, wie Hobsbawm erklärt, dem Tor zur Welt nahe zu sein.145 Von der Nähe der damaligen brasilianischen Hauptstadt zum Ozean profitierte auch Wolf, denn das Dampfschiff Teutonia transportierte neben Passagiere auch die Büchersendungen, die als Grundlage für seine Studie der brasilianischen Literatur dienen sollten.146 In der Tat standen die von

142 In einem Brief von Ferreira França an Richard Wagner bezieht er sich auf Hamburg als die übliche Verbindung mit Rio de Janeiro: «Je me suis déjà hâté de le [Paket mit Werken von Wagner an Dom Pedro II.] diriger sur Hamburg, et il partira pour Rio de Janeiro le 20 de ce mois [Juni 1857]». Carl Heinrich Hunsche/Ernesto Ferreira França: Richard Wagner und Brasilien, S. 213. Außerdem liefert Gonçalves Dias Briefwechsel eine breite Aussicht über die Wichtigkeit des Hafens in Hamburg auch für den Verkehr von Büchern, sowohl aus Brasilien als auch aus Deutschland und aus Österreich. Correspondência ativa de Antonio Gonçalves Dias. In: Anais da Biblioteca National. Bd. 84. Rio de Janeiro 1964; und Correspondência passiva de Antonio Gonçalves Dias. In: Anais da Biblioteca National. Bd. 91. Rio de Janeiro 1971. 143 Die Auswanderungen aus dem deutschsprachigen Raum nach Brasilien nahmen in den Jahren 1849 und 1854 stark zu, mit einem Anstieg von 37 Personen auf 1294. Max Peters: Die Entwickelung der deutschen Rhederei seit Beginn dieses Jahrhunderts. Jena: G. Fischer 1905, S. 140–144. 144 Indessen wurden im selben Jahr noch eine Dampfschifflinie von Genua, eine von Marseille, eine andere von Le Havre, eine vierte von Lissabon, eine fünfte von Antwerpen und eine sechste von England nach Brasilien eröffnet. Wegen dieser großen Konkurrenz und der 1858 eintretenden Handelskrise musste die Gesellschaft Konkurs anmelden. Erst 1871 wurde durch die noch heute bestehende Hamburg-Südamerikanische Dampfschifffahrtgesellschaft eine Linie begründet, die regelmäßig 14-tätig Verbindungen nach Südamerika anbot. Ebda. 145 Eric Hobsbawm: The Age of Revolution (1789–1848), S. 9. 146 Anders als die Teutonia wurde das große Dampfschiff Novara für die lange Reise großzügig ausgestattet, man brauchte keinen Kohlenvorrat und es gab genügende Wohnräume und Arbeits-

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der Novara-Expedition erworbenen Bücher schon im Jahr 1857 im Katalog der kaiserl. kgl. Hofbibliothek. Obwohl Wolf nie in Brasilien war, konnte er auf diese Weise auf vielfältige Materialien zurückgreifen. Es bleibt aber offen, ob die brasilianischen Gesandten von Dom Pedro II. Einfluss auf die Auswahl der Werke oder überhaupt auf die Entscheidung, Bücher aus Brasilien liefern zu lassen, hatten. In seinem Brief aus dem Jahr 1857, wiederholte von Ferreira França die Absicht, Brasilien und Europa, besonders Deutschland, weiter zu vereinigen: [...] je prends la liberté de vous offrir, l’un pour vous, l’autre pour la Bibliothèque Impériale, deux volumes de poésies publiés recemment [sic] chez Ms. Brockhaus par un de mes amis. J’espère même pouvoir dorénavant pouvoir [sic] vous faire parvenir avec assez de régularité les ouvrages qui seront publiés chez nous. En vérité il serait à plaindre qu’un aussi grand connaisseur de la langue portugaise en fût privé d’autant plus que notre langue y gagnera. Je compte faire de la librairie de Brockhaus le point central des correspondances littéraires entre le Brésil et l’Europe particulièrement l’Allemagne [...]. [...] Nous nous occuperons aussi, si vous le voulez, d’établir des relations directes et régulières entre l’Académie des Sciences et notre Institut, ainsi que d’opérer de la même manière l’échange des publications respectives.147

Hier fasste Ferreira França seine Ziele zusammen: Brockhaus soll der zentrale Vermittler zwischen dem IHGB («notre Institut») und der kaiserl. kgl. Akademie der Wissenschaften werden. Die erste Person Plural, «nous», erscheint ohne weitere Hinweise: Er spricht wohl im Namen des wissenschaftlichen Zweigs der brasilianischen Regierung, im Namen des IHGB. Darüber hinaus machte Ferreira França noch ein weiteres Angebot: Wenn es nach Wolfs Ansicht interessanter wäre, könnte die Beziehung zwischen den Institutionen «direkt» und «regelmäßig» ohne Vermittlung etabliert werden.148 Im Subtext sagt Ferreira França, dass Wolf die

stätten für etwa 350 Personen. Es verfügte außerdem über eine Schiffsbibliothek. Renate BaschRitter: Die Weltumsegelung der Novara 1857–1859: Österreich auf allen Meeren. Graz: Akademische Druck- und Verlagstalt Graz 2008, S. 41 und 80. 147 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.197. Eigene Hervorhebung. 148 Das IHGB veröffentlichte in seiner Zeitschrift eine Liste der von der Wiener Akademie der Wissenschaft empfangenen Werke. Siehe Appendice ao relatório do primeiro secretario. Obras e impressos oferecidos ao Instituto Historico em o anno de 1857. In: Revista do Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro 20, Suplemento [1857], Reprint Nendeln/Lichtenstein: Kraus 1973, S. 103. Der Kontakt zwischen dem IHGB und die kaiserl. kgl. Akademie der Wissenschaften wurde gleichfalls vom Austausch aufgrund der Novara-Expedition begünstigt. Über die Teilnahme von Karl

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neuesten Produktionen aus Brasilien nicht vorenthalten werden sollen. Den gewünschten Austausch setzte er dann auch gleich um: Er schenkte Wolf wohl die zweite Ausgabe von Gonçalves Dias’ Lyrikband Cantos, der 1857 bei Brockhaus in einer luxuriösen Schmuckausgabe verlegt wurde.149 Der dritte Brief von Ferreira França an Wolf ist vom 27. Februar 1858, darin bittet er um Informationen über ein Buch von Anchieta, das 1859 tatsächlich bei Brockhaus neu verlegt wurde: [...] je vais avoir recours à votre obligeance pour vous prier de me dire si la Bibliothèque Imp. et Royale à Vienne a l’ouvrage suivant: Anchieta (Jozé de) Arte de Grammatica da lingoa mais usada na Costa do Brazil, Coimbra, 1595, 8º pequeno Dans ce cas vous m’obligeriez beaucoup si vous pouriez [sic] me confier le livre, même vu que devenu très rare, je ne parviens pas a [sic] en trouver un exemplaire, et qu’il faut même à cause de cela, que j’en fasse une nouvelle édition, que des travaux sur les langues indigènes au Brésil, rendent nécessaire. [...] En prenant la liberté de vous faire une pareille demande, je me souviens que vous avez mis nos littérateurs sur la piste du Code du Vatican où se trouvent le Cancioneiro del Rey D. Diniz, et que les trésors qui dans les langues Romanes contient la Bibliothèque Imp. ne pouvaient jamais trouver d’interprète dont les connaissances hautes et variés eussent pu mieux les faire valoir. Je me suis permis il y a quelque temps de vous envoyer le Plutarcho Brazileiro, où il y a quelques notices intéressantes sur la littérature Brésilienne [...].150

von Scherzer und Ferdinand von Hochstetter in den Sitzungen des IHGBs siehe etwa Sessão em 21 de agosto de 1857, S. 17–18. 149 Roberta Campassi sagt: «Cantos was printed by F. A. Brockhaus in small in octavo formt, high quality paper, sharp printing of the text, and a luxurious cover with golden wignettes engraved on it. According to Nogueira da Silva, it was ‹a typographic wonder› and ‹the best and most authorised editions of those made in Germany, the only one which was personally assisted by the poet›. A total of 2,000 copies of the anthology were printed, of which 1,700 were sent to Brazil to be sold with the help of Baron of Capanema and other friends of Gonçalves Dias». Wie die Autorin feststellt, war Cantos schon nach kurzer Zeit ausverkauft, was Brockhaus zu einer weiteren Ausgabe veranlasste, jedoch schmuggelte er die Bücher nach Brasilien, sodass Dias an den Gewinnen seines eigenen Buches nicht teilhatte. Roberta Campassi: F. A. Brockhaus and its relations with Brazil in the 19th century as supplier of scientific works and publisher of Brazilian literature. Masterarbeit, Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2017, S. 63. 150 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.198. Eigene Hervorhebungen.

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Das Streben der brasilianischen Regierung und ihrer Mitarbeiter, durch gezielte Kulturförderung eine «nationale» Vergangenheit zu erschaffen,151 spiegelt sich in ihrem Interesse für die Sprachen der autochthonen Bewohner Brasiliens wider, besonders in Bezug auf die Tupi-Sprache, eine Verkehrssprache (lingua franca), die von den Jesuiten, vor allem José de Anchieta, systematisiert und dokumentiert wurde. 1859 veröffentlichte Ferreira França bei Brockhaus die Chrestomathia da Lingua Brazilica152 als Ergebnis seiner Forschungen über seltene Dokumente, das nach dem Beispiel des im nächsten Brief an Wolf erwähnten Ruiz de Montoya vollendet wurde. Ferreira Franças Interesse zeugt von der romantischen Sehnsucht nach einem ‹Ursprung›: Während in Europa das Mittelalter der Bezugspunkt war, waren es in Brasilien die Kolonialzeit und bis zu einem gewissen Grad die autochthonen Kulturen. Der Dichter Gonçalves Dias, auch Mitglied des IHGBs und Gesandter von Dom Pedro II., veröffentlicht auch im Jahr 1858, ebenfalls bei Brockhaus, das berühmte Dicionário da Língua Tupi.153

151 Ein bedeutendes Beispiel im Kontext der Untersuchung verschiedener Aspekte der brasilianischen Kultur in kulturpolitischem Sinne während der Herrschaft von Dom Pedro II. ist die sogenannte Comissão científica do império. Wie Roberta Campassi erklärt, «the idea of the Imperial Science Commission was immediately supported by Pedro II. and IHGB’s members, who were underpinned by national pride as well as by the perception that foreign scientists who had explored the country in the past had wrongly depicted it. It was time to launch a ‹process of affirmation of what would become national science›– meaning science made in Brazil about Brazil and by Brazilians.» Roberta Campassi: F. A. Brockhaus and its relations with Brazil in the 19th century, S. 18. Hervorhebung im Original. 152 Ernesto Ferreira França: Chrestomathia da lingua brazilica. Leipzig: Brockhaus 1859. Unter dem Namen des Verlegers steht: «livreiro de S. M. o Imperador do Brazil». Das Buch ist dem IHGB gewidmet und beinhaltete ein Motto auf Deutsch von Franz Bopp über die Sprachen der Autochthonen. Es geht um eine Sammlung von Texten aus verschiedenen Quellen (aus einem Manuskript des Britischen Museums und aus Montoyas Tesoro de la lengua Guarani) über die TupiSprache. 153 Gonçalves Dias war der Leiter der Abteilung für ‹Ethnographie und Erzählung› in der Comissão científica do império neben den Fächern Geologie, Mineralogie, Zoologie, Geographie, Botanik und Astronomie. Campassi schreibt hierzu: «Gonçalves Dias primary goal was to conduct thorough studies of the indigenous populations of Ceará – having not found enough tribes there, he would later travel to the Amazon region in order to fulfil the task». Dias war auch für Buchbestellungen in Europa verantwortlich, als er als Gesandter der brasilianischen Regierung zwischen 1854 und 1858 tätig war. Diese Bücher sollten neben Werkzeugen und Instrumenten die Grundlage der Arbeit der Kommission sein. In diesem Kontext nahm Dias erstmals Kontakt mit Brockhaus auf, welcher rasch zum bevorzugten Buchlieferanten Brasiliens werden sollte. Roberta Campassi: F. A. Brockhaus and its relations with Brazil in the 19th century, S. 19–21. Siehe auch Renato Braga: História da comissão científica de exploração. Fortaleza: Imprensa Universitária do Ceará 1962. Gonçalves Dias kehrte 1859 nach seinem Aufenthalt in Europa nach Brasilien zurück, um sofort an der Reise der Kommission teilzunehmen, siehe insbes. S. 30–33. Und auch Lorelai

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Ferreira França erwähnte die von Wolf entdeckte Spur vom Cancioneiro del Rey D. Diniz im Vatikan, die Wolf in seiner Studie ‹Zur Geschichte der portugiesischen Literatur im Mittelalter› ausführlich darstellt,154 wie im vierten Kapitel dieser Arbeit diskutiert wird. So zeigt Ferreira França Hochachtung vor Wolfs philologischer Arbeit und nimmt ihn als einen Gelehrten wahr, mit dem er eine vertrauensvolle und enge Verbindung zu schaffen versucht. Für die Informationen über die vergessenen Bücher von Anchieta bietet Ferreira França ein Exemplar von Plutarco brasileiro,155 eines der wenigen Werke über das Leben brasilianischer Autoren, das Wolf in der ‹Einleitung› von Le Brésil littéraire als Quelle für seine Forschung zitiert.156 In einem weiteren Brief aus dem Jahr 1858, noch zwei Jahre vor Ferreira Franças Rückkehr nach Rio de Janeiro, schrieb er Wolf sehr deutlich, dass er sich darum bemühe, die Verbindungen zwischen Europa und Brasilien zu verbessern. Es scheint, der kulturelle Austausch hatte Rückenwind: [...] vous aurez probablement déjà reçu ma circulaire sur l’établissement de relations suivies entre le Brésil et l’Europe. En vous priant de m’excuser si je ne l’ai pu accompagner de quelques lignes, je me permets de le faire à présent, en vous demandant votre haute et précieuse coopération dans tout ce qui pourra avoir rapport au but que nous voulons atteindre. En effet, je crois qu’un pareil commerce scientifique tout en ayant pour le Brésil la plus grande importance, n’en sera pas moins sans quelques résultats pour la science européenne, et je me trouverai très flatté de pouvoir compter, non seulement sur vos bons offices, mais aussi sur vos excellents conseils, dans une affaire qui nous interesse [sic] tous. Connaissant parfaitement votre obligeance que j’ai déjà tant de fois mise à l’épreuve, je vais vous prier à présent de vouloir bien me faire savoir s’il y a dans la Bibliothèque I. et R. des ouvrages on [unleserlich] sur les langues indigènes de l’Amérique du Sud ainsi que leur ti-

Kury (Hg.): Comissão científica do império 1859–1861. Rio de Janeiro: Andrea Jakobsson Estúdio 2008. 154 Ferdinand Wolf: Zur Geschichte der portugiesischen Literatur im Mittelalter. Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur, S. 690–736. 155 João Manuel Pereira da Silva: Plutarco brasileiro. Rio de Janeiro: Laemmert 1847. 156 Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire. «Si dans cet ouvrage [Parnaso brasileiro] l’auteur [Pereira da Silva] se borne aux notices biographiques les plus élémentaires, son Plutarco Brasileiro (Rio de J. 1847. 2 vol.) nous offre au contraire des biographies critiques et détaillées de plusieurs d’entre les plus grands poètes brésiliens», S. 3. Im Originalmanuskript: «Wenn er sich hier in der historischen Einleitung nur auf die nöthigsten biographischen Notizen beschränkte, so gab er von mehreren der bedeutenden Dichter ausführliche biographisch-critische Darstellungen in seinem ‹Plutarco brasileiro› (Rio de J. 1847. 2. Vols), der in zweiter verbesserter und ergänzter Ausgabe erschien unter dem Titel: Os varoes illustres do Brasil durante os tempos coloniáes (Paris, 1858, 2 vols. 8º)», S. 5. Die letzte erwähnte Information über die zweite Ausgabe des Buches erscheint in der Übersetzung in einer Fußnote auf der Seite 3.

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tre. – Il me serait particulièrement agréable de connaître avec spécialité, quels sont sur cet objet, les ouvrages du Père Ant. Ruiz de Montoya, que votre Bibliothèque puisse avoir.157

Auffällig ist hier, dass Ferreira França seine Vorschläge hinsichtlich des kulturellen Austauschs in einer sehr direkten Weise macht. Er spricht explizit von einem «commerce scientifique» und bezeichnete den Verkehr mit Deutschland mit dem Wort «affaire». Doch wer ist «nous», d. h. in wessen Namen er spricht, welches ist das «but», und wie genau konnte Wolf zur Vertiefung der Verhältnisse zwischen Brasilien und Deutschland beitragen? Diese Fragen können im Rahmen des kulturpolitischen Projekts Dom Pedros II. verstanden werden, also auch im Kontext einer Erweiterung der internationalen Beziehungen und Netzwerke. Campassi publizierte erstmals das von Ferreira França erwähnte «Circulaire», das die Bedingungen einer solchen Partnerschaft zwischen brasilianischen und europäischen wissenschaftlichen Institutionen etablieren und festigen sollte. Der Buchhändler und Verleger Brockhaus sollte dabei als Vermittler wirken. Die Zusammenarbeit wurde in dem «Circulaire» mit folgenden Argumenten begründet:  

Les progrès qu’ont faits les arts et les sciences peuvent en grande partie être attribués au commerce intellectuel qui s’est établi entre les nations. Le Brésil ne saurait être étranger à ce commerce, et je viens vous demander votre coopération soit personelle, soit collective, en conséquence de [unleserlich] position et de vos nombreux rapports, pour l’établissement de relations régulières et suivies entre le Brésil et l’Europe.158

157 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.199. Eigene Hervorhebungen. 158 Roberta Campassi: F. A. Brockhaus and its relations with Brazil in the 19th century, S. 84. Das Circulaire ist vom 10.11.1858 und der Brief an Wolf mit dem 7.12.1858 datiert. Roberta Campassi erklärt wie dieses Verhältnis hinsichtlich des Verlegers Brockhaus, als offizieller Buchhändler Dom Pedros II., erfolgte: «Ernesto Ferreira França [...] addressed the IHGB about a possible partnership with F. A. Brockhaus. In a long letter dated from August 2nd, 1857, he expressed the intention of promoting the exchange of publications between the institute in Rio and several international scientific societies. He then explained that the company from Leipzig could receive IHGB’s publications and forward them to different European institutions. Interchangeably, F. A. Brockhaus would receive publications from those institutions and ship them to Rio de Janeiro. [...] Ferreira França argued that the complete series of IHGB’s Revista do Instituto Histórico Geográfico Brasileiro should be broadly distributed in Europe. He thus requested copies of it be sent to the libraries of Berlin, Göttingen, Bonn, Heidelberg, Berne, Munich, Turin, Florence, Vienna, and Leipzig, as well as for the libraries of the British Museum and the Royal Asiatic Society in London. In case some volumes were out of print, Ferreira França remarked that they could be reprinted by F. A. Brockhaus itself, in Leipzig, as it would cost much less than in Brazil», S. 40.

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Campassi vermutet allerdings, dass Ferreira Franças Absichten nicht vollständig umgesetzt wurden. Sie hat in ihrer Forschung keinen Beweis dafür gefunden, dass Brockhaus wissenschaftliche Zeitschriften aus Brasilien nach Europa geliefert und einen Vertreter in Rio de Janeiro gehabt hätte. Was aber Wolf betrifft, so zeigen Ferreira Franças Briefe seine Intention, ihn in dieses breitere Netzwerk miteinzubeziehen. Inwieweit Wolf freiwillig oder im Auftrag der brasilianischen Regierung in diesem Netzwerk gehandelt hat, bleibt eine offene Frage. Genau wie bei Richard Wagner versuchte Ferreira França in den Briefen an Wolf zu verdeutlichen, dass es um einen Tausch ging. Sein ökonomisierter Duktus im Umgang mit wissenschaftlichen oder literarischen Themen ist seiner Vorstellung von Gleichheit geschuldet: Beide Seiten würden gleichermaßen von diesem ‹Handel› profitieren. Ferreira França hatte vor, neben den in Europa schon üblichen Rohstoffen, auch kulturelle und wissenschaftliche Produkte aus Brasilien zu exportieren, die mit den auf dem Weltmarkt hoch angesehenen Produkten aus der Natur verglichen und gleichgesetzt werden könnten. Es ist unklar, ob sich der Briefwechsel zwischen Ferreira França und Wolf noch fortsetzte. Besonders interessant scheint aber, dass Porto-Alegre gewissermaßen an die Stelle von Ferreira França trat und wohl die brasilianische Regierung in Berlin/Dresden weiter vertrat, was sich in Wolfs Briefwechsel leicht nachvollziehen lässt. Der Briefwechsel zwischen Wolf und Porto-Alegre begann genau 1860, als Ferreira França nach Rio de Janeiro zurückkehrte. Wolfs erste Äußerung über das Interesse an der brasilianischen Literatur lässt sich in einem Brief vom 13.11.1859 an Lemcke finden. Doch hier scheint es, als wäre Wolfs Aufmerksamkeit nur aufgrund der Büchersendung der Novara-Expedition geweckt worden: Ich bin nun für den heurigen Winter in die neue Welt verschlagen. Die [österreichische Fregatte] Novara hat uns [d. h. der kaiserl. kgl. Bibliothek in Wien] nämlich so interessantes, in Europa noch ganz unbekanntes Material zu einer Geschichte der portugies. Literatur in Brasilien gebracht, dass ich dieses zu verarbeiten gedenke. Auch ein [sic] süd-amerikanischen historischen Roman Amalia, in Buenos Aires gedruckt, in 8 Bdn., hat mir Freund Tschudi mitgeteilt, der als eine Charakteristik des Tyrannen Rosas und der Zustände der argentinischen Republik sogar von historischer Wichtigkeit und nicht ohne künstlerischen Wert ist. Vielleicht sage ich ein paar Worte darüber in unserem Jahrbuch [...].159  

159 Edmund Stengel: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, S. 33. Hervorhebungen im Original von Wolf; Stengels Ergänzungen in Klammern. Wolf veröffentlichte bis zu seinem Tod 1866 etwa elf Abhandlungen im Jahrbuch für romanische und englische Literatur: Rodrigo el Campeador. Estudio histórico... por Manuel de Monlina und Poëme de Cid. Texte espagnol... par Damas Hinard (1859, Bd. I, S. 120–130, 215–226), Über den realistischen Roman und das Sittengemälde bei den Spaniern in der neuesten Zeit, mit beson-

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Manche Nuancen in diesem Brief lassen sich nicht auf den ersten Blick nachvollziehen. Die Kontrastierung des «heurigen Winter» mit dem kursiv geschriebenen Adjektiv «neu» betont auch die in der Vergangenheit übliche Einteilung der Welt in ‹neu› und ‹alt›, weitere Oppositionen wie etwa Ost und West, Nord und Süd werden evoziert. Wolf näherte sich innerlich an ein ihm noch unbekanntes literarisches Universum an, noch weiter entfernt als Spanien und Portugal, jenseits der Grenzen Europas. Wolfs ‹Entdeckung der Neuen Welt› war deckungsgleich mit der intellektuellen Erschließung ihrer Literatur. Schon ab diesem Moment wurde Brasilien als eigenständiges Land mit einem entsprechenden künstlerischen Ausdruck betrachtet, was aus Wolfs eurozentrischer Perspektive ein Zeichen der zivilisatorischen Entwicklung darstellte. Doch muss man immer im Auge behalten, dass Brasilien sich zwar als autonomer Staat verstand, die kolonialen Strukturen aber keineswegs aufgehoben worden waren. Wolf lässt im weiteren Verlauf seines Briefes das «ich» beiseite und wählt das «wir», was auf seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft hindeutet, die sich sowohl auf die Wiener Bibliothek, als eine amtliche Institution der Habsburgermonarchie, als auch auf «Europa», oder die ‹alte› Welt insgesamt beziehen lässt. Wie in den oben zitierten Briefen von Ferreira França nutzt auch Wolf die erste Person Plural, um sich als Vertreter bestimmter Institutionen darzustellen. In beiden Fällen ähnelt die Verwendung der ersten Person Plural dem Pluralis Majestatis, bei dem «wir» für ‹ich und die von mir regierten Gott› steht: Obwohl sich die Absender wohl nicht als direkte Repräsentanten der Krone verstehen, betrachten sich beide als Vertreter einer höheren Instanz. Darüber hinaus führt Wolf mit dem Wort «neu» auch einen ‹neuen› Betreff in seinem Brief ein. Dies dient der möglichen Entfernung von früher behandelten Themen wie etwa den religiösen Spannungen in Norddeutschland und der Rezeption der katholisch-spanischen Autorin Cecilia Francisca de Faber, alias Fernán Caballero, die kurz zuvor von Lemcke ins Deutsche übertragen wurde. Nur durch Zufall, so schreibt Wolf, sei er diesem anderen Teil der Welt begegnet, wie das

derer Beziehung auf die Werke von Fernán Caballero (1859, Bd. I, S. 247–297), Der erste historische Roman im spanischen Südamerica. Amalia. Por José Marmol (1860, Bd. II, S. 164–182), Nachwort zu Reinhold Köhler’s Aufsatz: Zu F. Wolf’s Proben portugiesischer und catalonischer Volksromanzen (1861, Bd. III, S. 63–73), Cuentos y Poesias populares andaluces colleccionados por Fernán Caballero (1839) (1861, Bd. III, S. 209–237), Weitere Beiträge zur Geschichte des Romans im spanischen Südamerica (1862, Bd. IV, S. 35–45), Die Nebulosa von Joaquim Manuel de Macedo. Ein Beitrag zur Geschichte der brasilischen Literatur (1862, Bd. IV, S. 121–141), Ein neues Zeugniß für den historischen Cid (1862, Bd. IV, S. 350–352), História crítica de la literatura española por Don José Amador de los Rios (1864, Bd. V, S. 80–134; 1865, Bd. VI, S. 60–109), Zur Geschichte der portugiesischen Nationalliteratur in der neuesten Zeit (Bd. VI, S. 265–326).

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Verb «verschlagen» zeigt, und er wird ihm nur durch zwei Vermittler zugänglich, nämlich die Fregatte Novara und seinen Freund Tschudi.160 Der oben zitierte Briefausschnitt von Wolf enthält auch eine bis heute übliche Verwechslung zwischen Argentinien und Brasilien. Die ‹neu entdeckte Welt› erschien ihm von Wien aus sehr viel einheitlicher als dies tatsächlich der Fall war. Die verschiedenen Einheiten, wie etwa «Brasilien», «Buenos Aires», «argentinische Republik» werden von Wolf in «südamerikanisch» zusammengefasst. Auch dies ist vor dem Horizont von Wolfs Erfahrungen im Habsburgischen Vielvölkerreich zu verstehen, doch nur in Brasilien herrschte noch ein zentralisiertes Kaiserreich wie in Wien. Der Ausschnitt aus Wolfs Brief schließt mit einer Erwähnung des Romans Amalia,161 dessen historischer Charakter Wolfs Interesse weckt. So schrieb Wolf kurz darauf, wie angekündigt, auch tatsächlich eine Rezension des Romans Amalia, welche 1860 im Jahrbuch erschien. Hier nennt Wolf Amalia den «ersten historischen Roman im spanischen Süd-amerika».162 Wolf ging die

160 Tschudi wird an verschiedenen Stellen in Wolfs Werken und Briefwechseln erwähnt. Er war ein Amerika-‹forscher› und beförderte wesentlich die Kenntnis der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zustände in Brasilien in den 1860en Jahren. Wie er und Wolf sich kennenlernten, ist nicht bekannt. Nachdem Tschudi medizinische und zoologische Studien in Zürich und Paris absolviert hatte, unternahm er 1838 seine erste Schiffreise nach Peru, wo er bis 1841 über dortigen Natur- und Gesellschaftsformen forschte. Die Ergebnisse seiner Untersuchung veröffentlichte er in mehreren Werken, die ihn an die Universitäten in Berlin, Wien und Würzburg brachten. 1857 reiste Tschudi zum zweiten Mal nach Südamerika, diesmal nach Rio de Janeiro und besuchte andere Städte, insbesondere in der Region Minas Gerais, wo er mineralogische Studien durchführte. Dann reiste er weiter nach Argentinien, Chile und Bolivien. Paul-Emile Schatzmann: Johann Jakob von Tschudi. Forscher, Arzt, Diplomat. Zürich: Verlag Mensch und Arbeit 1916. 161 Der Roman enthält eine kritische Stellungnahme gegen den Diktator Juan Manuel de Rosas, der erst 1852 seine Macht verloren hatte. Der argentinischen Schriftsteller José Mármol veröffentlichte ihn zum ersten Mal im Jahr 1851 kapitelweise im Feuilleton der Zeitung La Semana in Montevideo. 1855 erschien der Roman als Buch mit acht neu hinzugefügten Kapiteln, weil die gesamte Vorabveröffentlichung in der Zeitung aus politischen Gründen unterbunden worden war. 162 Ferdinand Wolf: Der erste historische Roman im spanischen Süd-Amerika. In: Jahrbuch für romanische und englische Literatur 2 (1860), S. 164–182. Wolf stellte in der Rezension lobend heraus, dass sich Argentinien mit diesem Roman auf den Weg machte, sich einen Platz in der Weltliteratur zu sichern – genauso wie er dies bezüglich der brasilianischen Literatur wiederholt tat. Mármol, so fuhr Wolf fort, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte Argentiniens in poetischer Form zu schildern, was mit der Wahrheit der historischen Zusammenhänge nicht unverträglich sei. Eigentlich bediene sich Mármol einer klugen Strategie, von historischen Personen, von Rosas und seinen Ministern zu erzählen: In rückschauender Form schreibe er, als ob zwischen ihm und den geschilderten Figuren einige Generationen lägen. Wolf urteilte dennoch insgesamt hart über den Roman, dem er eine «sklavische Nachahmung» europäischer Muster attestierte, ein Ausdruck, den Wolf bei der Beschreibung der brasilianischen Literatur auch nutzt. Es fehle dem Werk der Charakter einer freien Schöpfung, denn die erfundene Fabel werde vom His-

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Entwicklung der Dichtkunst in Argentinien anschließend in seinen «Weiteren Beiträgen zur Geschichte des Romans im spanischen Südamerika» durch.163 Er beschäftigte sich allerdings nicht weiter mit «südamerikanischer Literatur».164

2.3.2 Niederschrift (1860–1861): Briefe von Manuel de Araújo Porto-Alegre an Wolf, Wolfs Brief an Ludwig Lemcke Nach Wolfs erster Begegnung mit Brasilien mittels der Novara-Büchersendung, seinem Freund Tschudi und den zwei von Ferreira França geschenkten Bänden, macht er Lemcke gegenüber am 29.04.1860 seine Absicht explizit, sich der Geschichte der brasilianischen Literatur zu widmen: Ich glaube, Ihnen geschrieben zu haben, dass ich gegenwärtig mit der Ausarbeitung einer Geschichte der brasilischen Literatur beschäftigt bin; als Probe davon habe ich vor ein paar

torischen, von der Erzählung des Tatsächlichen, der Schilderung der wirklichen Zustände und von den historischen Porträts zurückgedrängt. In literaturgeschichtlicher Hinsicht habe Amalia aber den Wert, nationale Elemente und «volkstümlichen Eigenheiten» zum ersten Mal aufzufassen und eine Quelle für den Geschichtsschreiber zu bieten. Wolf argumentierte, dies sei ein natürlicher Werdegang, weil die spanische-südamerikanische Republik als solche noch kaum eine historische Vergangenheit habe. 163 Ferdinand Wolf: Weitere Beiträge zur Geschichte des Romans im spanischen Südamerika. Wolf behandelte zwei Romane von Daniel alias Eduarda Mansilla de García, einer Nichte des Diktators de Rosas: El médico de San Luis (1860), ihr erstes Werk, und Lucía Miranda. Novela sacada de la historia argentina (1860). Nochmals bemängelte Wolf die bloß formale Nutzung der Romangattung, ohne innere Notwendigkeit oder Beherrschung des Stoffes. Die ausgewählten Beispiele erschienen Wolf trotzdem besonders wichtig, weil sie ein kulturhistorisches Moment widerspiegelten, sodass «mit dem Eintritt einer ruhigeren Entwicklung der dortigen politischen und geselligen Zustände auch eine objektive künstlerischere Gestaltung dieser Dichtgattung stattfinden dürfte». Wolf hob ebenso die Beredsamkeit der Verfasserin und die Charakterisierung der «indigenen Welt» als Versuch hervor, die «Sitten zu verbessern» und ein anschauliches historisch-vaterländisches Gemälde zu schildern. Interessanterweise benutzte er die Wendung «Südamerika», obwohl lediglich AutorInnen aus Buenos Aires besprochen worden waren. Beide Texte sind dem realistischen Sittenroman (Costumbrismo) zuzuordnen, denn die Autorin ging davon aus, dass der völlige Bruch mit der kolonialen und spanischen Vergangenheit das Aufkommen des historischen Romans unmöglich machte. Wolf stimmte diesem Argument zu: Der historische Roman sei eine verfrühte Erscheinung, eine «exotische Kuriosität» in Argentinien, denn ein «Volk» das mit dem Alten gebrochen habe, habe weder «historisches Selbstbewusstsein» noch «historischen Sinn». 164 Wolfs Anmerkungen über argentinische Literatur können mit seinen Einschätzungen der brasilianischen Literatur verglichen werden. Ein Ausgangspunkt hierfür wäre die Abhandlung von Wolf, die im gleichen Band des Jahrbuchs erschien, nämlich Wolfs bereits erwähnte Studie über das Gedicht Nebulosa von Joaquim Manuel de Macedo. Ferdinand Wolf: Die Nebulosa von Joaquim Manuel de Macedo. Ein Beitrag zur Geschichte der brasilischen Literatur.

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Tagen den Abschnitt über den unglücklichen Juden Antonio José da Silva (verbrannt beim Auto da fé von 1739), den Verfasser der sogenannten ‹operas do judeo› in der Akademie gelesen; wovon ich mir seiner Zeit das Vergnügen machen werde, Ihnen ein Exemplar zuzusenden.165

Im Unterschied zum ersten zitierten Ausschnitt des Briefwechsels mit Lemcke, in welchem Wolf von einer «portugiesischen Literatur in Brasilien» spricht, bezieht er sich hier wörtlich auf die «brasilianische[n] Literatur». Unter der Annahme, dass diese Grenze einen entscheidenden Punkt in der Literaturgeschichte Brasiliens bildete, zögerte Wolf, ob Antonio José da Silva166 als brasilianischer oder portugiesischer Autor betrachtet werden sollte. Mit Ausnahme von Wolf wurde Da Silva in den literarischen Handbüchern schon damals und bis heute unter den Portugiesen eingeordnet.167 Es scheint so, als habe Wolf sich an der Debatte über 165 Edmund Stengel: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, S. 34. 166 Antonio José da Silva stammte aus einer Familie zwangsgetaufter Juden und wurde 1705 in Rio de Janeiro geboren. Seine Mutter wurde bei den 1702 einsetzenden Inquisitions-Untersuchungen angeklagt und musste sich 1713 in Portugal einem Verfahren stellen. Die ganze Familie floh aus Brasilien und Da Silvas Vater ließ sich als Anwalt in Lissabon nieder. Da Silva studierte in Coimbra und arbeitete mit seinem Vater zusammen, bis er sich für das Theater entschied. Ab 1733 verfasste er populäre komische Theaterstücke für Marionetten und erlangte damit großen Ruhm. Seine Stücke waren als Opern des Juden bekannt, deren Stoff die damalige portugiesische Gesellschaft war, was seine Entfernung von Brasilien eindeutig bestätigt. 1737 wurde er denunziert, und nach zwei Jahren Gefängnis wurde er verurteilt und verbrannt. Da Silva veröffentlichte seine Stücke in Einzelbänden, nach seinem Tod wurden sie allerdings durch die Inquisition verboten. In der Sammlung Theatro comico portuguez (1744) erschienen sie anonym. Ferdinand Wolf: Le Brésil littérarie, S. 31. Für eine aktualisierte Rezeption von Da Silvas Leben und Werke siehe Alberto Dines: Vínculos do fogo. São Paulo: Companhia das Letras 1992. 167 Das IV. Kapitel von Le Brésil littéraire besteht aus einer Zusammenfassung der oben genannten Vorlesung Wolfs in der Akademie der Wissenschaft und erklärt, warum Da Silvas Werke als Teil der brasilianischen Literatur verstanden wurden: «L’auteur des pièces connues sous le nom d’opéras du Juif (Operas do judeu) n’est à la vérité brésilien que de naissance et appartient au Portugal par sa culture et son activité. Ce qui malgré cela nous engage à parler de lui dans cet ouvrage, c’est que nous voulons profiter de cette occasion pour faire connaître sur un des hommes les mieux donnés du Brésil un certain nombre de faits que les dernières années ont mit complétement en lumière». Ferdinand Wolf: Le Brésil littérarie, S. 31. Eigene Hervorhebungen. Im Originalmanuskript heißt es: «Allerdings gehört der Verfasser der unter dem Namen der Opern des Juden (Operas do judeu) berühmt gewordenen Stücke nur in Bezug auf seine Familie und seiner Geburt Brasilien, seiner Bildung und Wirksamkeit nach aber eigentlich Portugal an, und wir können dessen ausführlichere Besprechung in diesem Werke nur damit entschuldigen, daß wir diese Gelegenheit benützen wollten, um die erst in neuster Zeit vollständiger bekannt geworden und kritisch gesichteten Daten über das Leben und die Werke eines der begabtesten Söhne Brasiliens auch in weiteren Kreisen kundzumachen», S. 42. Eigene Hervorhebungen.

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die neuesten Entdeckungen über Da Silvas Leben und Werke im 19. Jahrhundert beteiligen wollen, ohne dass er über klare Kriterien verfügt hätte, die Nationalität eines Autors zu bestimmen. Wolfs Zeitgenossen beschäftigten sich intensiv mit seinem Werk.168 Der erste an Wolf adressierte Brief von Porto-Alegre ist mit dem 19. April 1860 datiert,169 ein Jahr nach Ferreira Franças letztem Brief. Es scheint, dass sich im Briefwechsel ein zunächst höfliches und allmählich intimeres, nicht nur auf Literatur fokussiertes Verhältnis zwischen beiden entwickelte. Es wird klar, dass der erste Brief von Wolf stammte, um bestimmte Informationen über seine literarische Produktion und wahrscheinlich auch über zeitgenössische brasilianische Autoren zu erhalten. Wolf teilte ihm wohl seine Vorarbeiten zu einer Geschichte der brasilianischen Literatur mit, für welche Porto-Alegre sich im Namen aller Brasilianer bedankte. Wie Wolf den Kontakt mit Porto-Alegre knüpfte, bleibt dabei unbekannt:

168 Siehe Friedrich Bouterweck: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, Bd. 4, S. 337; Ferdinand Denis: Chefs-d’oeuvre des théatres étrangers. Paris: Ladvocat 1823, S. 24–25; Domingos José Gonçalves de Magalhães: Antonio José ou o poeta e a Inquisição: tragédia. Rio de Janeiro: Paula Brito 1839 (Das Theaterstück wurde 1838 in Rio de Janeiro uraufgeführt); Francisco Adolfo de Varnhagen: Florilegio da poesia brazileira. Lissabon: Imprensa Nacional 1850, S. 207; Meyer Kayserling: Antonio José da Silva. In: Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judenthums. Leipzig: Hunger 1860, S. 331–338; Giovanne Vegezzi-Ruscalla: Il giudeo portoghese. Turin: Tip. Ferrero e Franco 1852. 169 Manuel José de Araújo kam 1806 in Südbrasilien zur Welt und starb 1879 in Lissabon. Er übernahm den Namen der Stadt Porto Alegre, wo er seine Jugendzeit verbrachte, als Nachnamen. Er studierte in Rio de Janeiro Kunst an der von französischen Gelehrten gegründeten Academia de Belas Artes, außerdem Medizin und Philosophie, widmete sich aber schließlich der bildenden Kunst und Architektur. Nachdem er den König Dom Pedro I. porträtiert hatte, bekam er den Auftrag, die ganze königliche Familie zu malen. Er reiste infolgedessen nach Europa, um die Schwiegermutter von Dom Pedro I. zu porträtieren. Doch mit Abdankung des Königs von Brasilien im Jahr 1831 scheiterte dieser Plan und Porto-Alegre ließ sich wegen finanzieller Schwierigkeiten in Paris nieder, um bei seinem früheren Lehrer Jean-Baptiste Debret (1768–1848) und bei dem Maler Antoine-Jean Gros (1771–1885) weiter zu lernen. Als er 1836 wegen der instabilen politischen Lage des Período Regencial nach Rio de Janeiro zurückkam, wurde er als einziger Brasilianer unter Franzosen Professor für Kunst an der Academia de Belas Artes. Nach der Ernennung von Dom Pedro II. zum Kaiser widmete sich Porto-Alegre Bauprojekten öffentlicher Gebäude in Rio de Janeiro. 1849 gründete er zusammen mit Joaquim Manuel de Macedo und Gonçalves Dias die Zeitschrift Guanabara. 1858 begann er seine Karriere in der Diplomatie und wurde im Zeitraum von 1860 bis 1866 Konsul Brasiliens in Preußen und Sachsen. Aus diesem Grund lebte er in Berlin und Dresden, bevor er nach Lissabon zog, wo er von 1866 bis 1879 ebenfalls als Konsul Brasiliens tätig war. 1874 verlieh ihm Dom Pedro II. den Adelstitel Baron von Santo Ângelo. Candido nennt ihn «amigo dos homens e da poesia». Antonio Candido: Formação da literatura brasileira, Bd. 2, S. 60–65 und 332. Wolf geht ebenfalls auf sein Leben ein: Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire, S. 169–175.

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Tenho presente a estimadissima carta de V. Sa. em que me pede alguns esclarecimentos à cerca da minha pobre existência litteraria, e algumas provas das poucas tentativas que publiquei em Revistas e em separado. Desejando com o mais cordial agradecimento corresponder à benevolencia de V. Sa. não perderei a occasião de entregar ao Sr. Asher tudo quanto tenho à mão; e isto o farei depois que voltar de Dresda, onde ficarei os dias necessarios para rever um trabalho que fiz, por ordem do Imperador, sobre aquella galeria de paineis. Alem do que me é particular, V. Sa. pode dispor largamente do meu pequeno prestimo, não so para lhe fornecer o que tiver aqui entre os poucos livros que trouxe, como para lhe prestar todas as informaçoens que estiverem ao meu alcance. Tenho 53 annos, vivi no centro do movimento, entrei nas luctas, e fui muitas vezes ferido no combate. N’esta Corte está o Sr. Magalhaens, meu amigo intimo, que o poderá igualmente ajudar em tão grato empenho para todos nós brasileiros. Se V. Sa. não está em relaçoens com elle, e se o deseja, tenha a bondade de m’o dizer, porque terei n’isto immenso prazer, e o Sr. Magalhaens não menos, cujo caracter conheço e apprecio. Agradeço toda a delicadesa empregada por V. Sa. n’este seu pedido: V. Sa. é dos modestos generosos, que favorecem como se fossem favorecidos.170

Besonders interessant in diesem Brief ist die erwähnte Rolle von Albert Cohn vom Verlag Asher, der als Vermittler und Buchhändler zwischen Porto-Alegre und Wolf fungiert, auch wenn Porto-Alegre ihn fälschlicherweise als «Sr. Asher» anspricht. Das semantische Feld des Briefs ist von Ausdrücken wie «estimadíssima», «cordial», «benevolência», «dispor largamente», «meu pequeno préstimo», «bondade» und «imenso prazer» geprägt, was einen überaus höflichen Ton kennzeichnet. Porto-Alegre stellte sich einerseits, fast schon unterwürfig, als Charakter mit einer sehr bescheidenen Tätigkeit als literarischer Autor dar. Anderseits ist er gewissermaßen ein Held, der «im Kern der Bewegung lebte, an Kämpfen teilnahm, und häufig im Gefecht verwundet wurde». Auf jeden Fall klingt er immer – selbst in seinen Berichten als Gesandter der brasilianischen Regierung – dramatisch. Hier wird das literarische Leben nicht wie bei Ferreira França als Geschäft verhandelt, sondern als ein ehrenvoller Kampf – näher an der adeligen als der bürgerlichen Welt.171

170 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.3. Eigene Hervorhebung. 171 Porto-Alegre und Wolf kannten sich persönlich, wie Wolf in einer Fußnote des Kapitels XV über die brasilianische zeitgenössische literarische Produktion in Le Brésil littéraire erklärt: «M. de Porto-Alegre s’est rendu à Vienne en 1861 et à cette occasion l’auteur a eu le plaisir de faire la connaissance de cet homme aussi aimable qu’instruit. C’est de lui qu’il tient les notices biographi-

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Wohl auch wegen des persönlichen Kontakts erklärt sich der dramatische Tonfall, mit welchem Wolf Porto-Alegres Biographie färbt: Er gibt in Le Brésil littéraire Porto-Alegres Selbsterzählung sehr genau wieder, was für die anderen von Porto-Alegre gelieferten Informationen über Persönlichkeiten der brasilianischen Literatur in den nächsten Briefen ebenfalls gilt. Zwar gilt das literarische Werk von Porto-Alegre allgemein als nicht besonders bedeutend, bei Wolf aber nimmt es viel Raum ein. Porto-Alegre verkörpert nicht nur die Rolle des klassischen Künstlers, der sich der Baukunst, der Malerei und schließlich der Literatur widmete, sondern auch die Rolle des vom Staat beauftragten Kulturvermittlers, der in einer anderen Weise als Ferreira França agierte. Porto-Alegre, wie er selbst sagt, stellte sich zu Verfügung, Wolf beim Schreiben des Buches zu unterstützen, er bot ihm alles an, was er hatte, ohne eine Gegenleistung einzufordern. Ferreira França hatte stets einen Tausch vorgeschlagen, mit einem Buch oder einem Gefallen als Gegenleistung. Nach dem ersten schriftlichen Kontakt mit Porto-Alegre geht Wolfs Arbeit an der Literaturgeschichte Brasiliens gut voran, wie sein Brief an Lemcke vom 25.06.1860 zeigt: Mit meiner Geschichte der brasil. Lit. geht es tout doucement vorwärts; doch werde ich mir das Vergnügen machen, Ihnen als Probe davon nächstens einen Separatabdruck des als Monographie bearbeiteten Kapitels über den brasilianischen Dichter Antonio José da Silva, den von Bouterweck u.s.w. so sehr malträtierten Verfasser der ‹Operas do judeo›, zu übersenden, welche Abhandlung ich in unserer Akademie gelesen und die nun in deren Sitzungsberichten erschienen ist [...].172

Auffällig ist hier die Wortwahl: Wolf verwendete einen französischen Ausdruck und das ins Deutsche übertragene Verb «malträtieren», um eine gewisse Heiterkeit bezüglich der neuen Niederschrift auszudrücken, und um auf die in seinen Augen ungerechtfertigte ‹Misshandlung› von Da Silvas Werk hinzuweisen. Seine Monographie war tatsächlich deutlich ausführlicher als die seiner

ques qu’on vient de lire». Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire, S. 171. Porto-Alegre war Generalkonsul in Preußen und lebte zwischen 1860 und 1862 in Berlin. Doch die erschwerten Lebensbedingungen und insbesondere das unangenehme Wetter brachten ihn mehrmals dazu, eine Stelle anderswo zu beantragen, bis er Generalkonsul in Sachsen wurde und mit seiner Familie nach Dresden zog. Erst 1866 bekam er eine Stelle in Lissabon, wohin er mit Freude ging und wo er im selben Jahr das epische Gedicht Colombo mit über zwanzig tausend Versen veröffentlichte. Porto-Alegre – genauso wie Gonçalves Dias – litt sehr unter der Kälte Berlins. Eine Tochter und eine Dienerin verstarben aus gesundheitlichen Gründen während dieser Zeit. 172 Edmund Stengel: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, S. 35.

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Zeitgenossen, da er dank seines philologischen Ansatzes unterschiedliche Quellen nutzen konnte. Wenige Monate später, am 27.09.1860, schrieb Wolf wieder an Lemcke, um sich für die offensichtlich positive Rezeption der Broschüre über Da Silva zu bedanken und ihn über den Stand der Arbeit an der brasilianischen Literaturgeschichte zu benachrichtigen: [...] Es freut mich sehr, dass Sie meine Broschüre über Antonio José da Silva so nachsichtig aufgenommen haben und Ihre Zustimmung gibt mir Hoffnung, dass meine Arbeit über die brasilische Literatur keine ganz unnütze und interesselose werden dürfte. Ich benutze eben meinen Urlaub, um sie zu fördern; ob ich je deren Druck erlebe, ist unter den jetzigen drohenden Anzeichen eines Weltkriegs freilich sehr problematisch! [...]173

Die Heiterkeit beim Schreiben, die im oben genannten Brief zu sehen war, ist hier völlig verschwunden. An deren Stelle tritt Unsicherheit und Sorge. Wolf hegte Bedenken, dass seine Arbeit über die brasilianische Literatur keine öffentliche Anerkennung erlangen würde. Hier bleibt offen, welches Publikum sich Wolf für sein Werk vorstellte. Hätte es sich um einen Auftrag der brasilianischen Regierung (von Seiten des IHGBs oder Dom Pedros II.) gehandelt, hätte Wolf vielleicht diese Unsicherheit nicht verspürt. Wolf fürchtete, dass er seine Schrift nicht veröffentlichen können würde, falls Krieg ausbrechen sollte. Dabei ging es wohl um die Konfrontation mit Preußen, die zum Krieg von 1866 und zur Auflösung des Deutschen Bundes führte. Wolfs Beklemmung wiederholt sich im Briefwechsel mit Lemcke bis nach der Veröffentlichung des Buches. Dennoch war er durchaus von seiner Aufgabe überzeugt und nutzte seine freie Zeit dafür, das Projekt voranzutreiben. Zu dieser Zeit entstand ein weiteres Dokument von Bedeutung, nämlich ein Brief der kaiserl. kgl. Bibliothek an den Brasilianer Joaquim Norberto de Souza Silva,174 der den ergiebigen kulturellen Austausch zwischen Brasilien und Öster-

173 Ebda. 174 Joaquim Norberto de Souza Silva (1820–1891) war seit seiner Jugend Mitglied des Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro und auch Dichter, der Gonçalves de Magalhães’ Vorbild für eine romantische Schule in Brasilien begeistert folgte. Er schrieb auch ein Bosquejo da literatura brasileira, das als Grundlagetext für Wolfs Studie galt und das Thema in einem folgenden Brief zwischen Wolf und Porto-Alegre ist. Antonio Candido betont seine vielfältige Tätigkeit im IHGB als Dichter, Schriftsteller und Kritiker, was ihn zu «talvez a figura central da crítica romântica» (S. 298) macht. Er schreibt: «se aplicou a desenvolver as ideias de Magalhães», d. h. die poetische Fähigkeit der Autochthonen, welche tatsächlich der Beginn der brasilianischen Literatur seien. Bei ihm sei die Tupi-Kultur genauso inspirierend wie das Mittelalter. «[...] Editou vários poetas com abundância de notas e elementos biográficos, criando um certo tipo de edição erudita no Brasil. [...] Desde os primeiros trabalhos norteou-se pelas convicções nacionalistas, que não aban 

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reich in der Folge der Novara-Weltumsegelung und wohl auch des oben erwähnten «Circulaire» von Ferreira França zeigt. Das Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro und die kaiserl. kgl. Hofbibliothek abonnierten gegenseitig ihre wissenschaftlichen Publikationen. Das 1838 gegründete Institut bildete das kulturpolitische Zentrum der Macht, mit dem Ziel, die Monarchie zu festigen, insbesondere, weil es von der Regierung gefördert wurde und seine Mitglieder sich immer nach der kaiserlichen Familie richten mussten, wie bereits erwähnt wurde. Die gesamte historiographische Produktion des Instituts stammte von Persönlichkeiten der brasilianischen Elite, die eine geschlossene adlige Gruppe bildeten. Mitglieder des Instituts schickten häufig Bücher und Zeitschriften nach Wien, wie an der folgenden Stelle zu lesen ist: Vous avez bien voulu remettre, par l’intermédiaire de M. de Tschudi, des ouvrages de Mm. Mello Moraes, dos Santos Titára et Teixeira e Souza (34 volumes) à la Bibliothèque Impériale de Vienne. La Bibliothèque vient de recevoir ces livres et je m’empresse de vous exprimer en son nom les plus vifs remercîments pour cet intéressant cadeau. Elle l’a accueilli avec d’autant plus de satisfaction, qu’elle tient à compléter les rayons qui sont destinés à la littérature brésilienne, littérature devenant de jour en jour plus importante.175

Wesentlich ist hier, dass Tschudi die Rolle des Vermittlers übernimmt, statt die eines Buchhändlers. Weder Brockhaus, wie Ferreira França sich gewünscht hatte und in dem oben erwähnten «Circulaire» feststellte, noch der Asher Verlag, wie man nach Porto-Alegres erstem Brief an Wolf vermuten kann, waren hier dazwischengeschaltet. Der Austausch muss wohl «direkt» zwischen dem IHGB und der Bibliothek stattgefunden haben. 1861 muss ein sehr betriebsames Jahr für Wolf gewesen sei. Ein Großteil der Dokumente über die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire stammt aus diesem Jahr. Das erste ist die Nachricht von Porto-Alegre an Wolf vom 31. Januar,

donou jamais, e constituem o princípio estrutural da sua contribuição crítica, das mais importantes do Romantismo», S. 344. Antonio Candido: Formação da literatura brasileira, Bd. 2, auch S. 298–299. In der Sekundärliteratur widerholt sich die Hypothese, dass Norberto nicht weiter an seiner eigenen Literaturgeschichte Brasiliens gearbeitet hat, denn Wolf war unter der Schirmherrschaft von Dom Pedro II. mit seinem Buch fast fertig. Siehe etwa Janaína Senna: Um capítulo à parte: Joaquim Norberto e a escrita da história da literatura brasileira. In: Escritos. Revista da Fundação da Casa de Rui Barbosa 2, 2 (2008), S. 401. Und auch Roberto Acízelo de Souza: Identidade nacional e história da literatura: a contribuição de Joaquim Norberto. In: Literatura e identidades. Rio de Janeiro: UERJ 1999, S. 9–22. 175 Österreichische Nationalbibliothek, HB 212/1860. Unterstreichungen im Original. Im Dokument wird Tschudi als «Envoyé extraordinaire et Ministre plénipotentiaire de la Suisse à Rio de Janeiro» bezeichnet.

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dass er dem Brief Exemplare der brasilianischen Zeitschrift Guanabara: Revista mensal, artística, científica e literária176 beilegt: Ahi vão os Guanabaras que contem alguns escriptos meus. Não possuo actualmente nada do que sahio em separado: não tenho o canto Genethliano, o Corcovado, a Destruição das florestas, Angélica e Firmino, a Estatua Amazonica, o Prestigio da lei, e outras bagatellas.177

Porto-Alegre, Gonçalves de Magalhães und Joaquim Manuel de Macedo, die damals wichtigen Namen der brasilianischen Literaten hatten die Zeitschrift im Jahr 1849 in Rio de Janeiro gegründet. Sie setzten gewissermaßen die verlegerische Idee von Nitheroy und Minerva fort, d. h. frühere Projekte der oben genannten Autoren, die im Mittelpunkt der brasilianischen Romantik standen. Einen Monat später, am 22.02.1861, schrieb Porto-Alegre wieder an Wolf, mit einer Antwort auf Wolfs Frage über den Lebenslauf eines Dichters namens Batista Caetano de Almeida und über weitere Ausgaben der beiden Zeitschriften Minerva Brasileira und Guanabara. Auffallend ist hier der Abschluss des Briefes:  

Agradeço-lhe tantos e tantos favores, e rogo-lhe o obsequio de me não poupar em qualquer informação que queira, ou livro que precise; porque tenho como dever prestar-lhe todo o auxilio que estiver em meu poder. A sua vontade é uma ordem para mim.178

In allen seinen Briefen zeigte sich Porto-Alegre immer bereit, Wolf bei seinem Projekt mit allen Mitteln zu unterstützen. Doch die Zweideutigkeit bestimmter Ausdrücke erschwert die Interpretation, wie etwa die Anwendung des Verbes dever: Geht es hier um einen wörtlichen oder bildlichen Sinn? Gehörte es womöglich auch zu Porto-Alegres Pflichten als Generalkonsul, Wolf bei der Erstellung seiner Studie zu unterstützen? Wolf teilt Lemcke am 16.04.1861 mit, dass er mit dem Schreiben der Geschichte der brasilianischen Literatur fertig sei und sie an den Verleger in Berlin schicke. Wie Wolf dazu kam, das Manuskript bei Asher & Co. zu veröffentlichen, ist unklar.

176 Für die historische Bedeutung der Zeitschrift siehe Bruno Colla: A poesia lírica na revista Guanabara (1849–1856). Masterarbeit an der Universidade Estadual Paulista Júlio de Mesquita Filho, Faculdade de Filosofia, Ciências e Letras de Assis, São Paulo 2013, vor allem das zweite Kapitel, A Guanabara: um histórico geral e a sua relação com os primeiros poetas do Romantismo brasileiro. 177 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi, fol. 1.4. 178 Ebda. Eigene Hervorhebungen.

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Dabei spielte wohl die Tatsache eine Rolle, dass sein letztes Buch Studien über die spanischen und portugiesischen Nationalliteraturen (1859) auch bei diesem Verlagshaus erschienen war. Aus diesem Brief lässt sich ersehen, dass die Entscheidung für eine Übersetzung von Wolfs Buch ins Französische bereits getroffen war. Doch mehr sagt er nicht dazu: Meine Geschichte der brasil. Literatur habe ich bis zur letzten Epoche (von 1840 bis jetzt) ausgearbeitet und das Manuskript an den Verleger Asher nach Berlin gesandt, um während ich diese letzte, aber wichtigste und schwierigste Epoche ausarbeite, die früheren ins Französische übersetzen zu lassen. Bis zum Herbst hoffe ich damit zu Stande zu kommen.179

Ein kurzer Brief von Porto-Alegre vom 06.04.1861 an Wolf zeigt ein vorheriges Gespräch über die Verhandlungen, Wolfs Studie über das Werk von Magalhães in Brasilien zu publizieren. Es geht um ein Teilkapitel der Geschichte der brasilischen Nationalliteratur, das tatsächlich übersetzt – allerdings nicht, wie ursprünglich geplant, von Porto-Alegres Sohn – und in drei Teilen 1862 in der Revista Popular in Rio de Janeiro veröffentlicht wurde.180 Wieder bezieht er sich auf den Verleger von Asher & Co., Albert Cohn, als «Sr. Asher», was dessen Rolle als Buchlieferant innerhalb Deutschlands erneut bestätigt. Recebi o opusculo que V. Sa. teve a bondade de mandar-me por via do Sr. Asher, e o mandei traduzir por meu filho, para que o Brasil saiba agradecer a V. Sa. os obsequios que lhe está fazendo, dando maior nome ao poeta Magalhaens. Da parte do meu amigo Silva, envio a V. Sa. dous exemplares da sua Obra, um para a magnifica Bibliotheca Imperial e outro para V. Sa.181

Drei Monate später, am 24.09.1861 schrieb Porto-Alegre einen langen Brief an Wolf, in dem er viele Fragen über Joaquim Norberto, über das Werk Marília de Dirceu (1792) und seinen Autor Gonzaga und schließlich über Odorico Mendes beantwortet. Porto-Alegre beschreibt sowohl die Persönlichkeit der Autoren als auch ihre Werke und ihre Aufnahme in den Kreis der Mitglieder des IHGB überaus lebendig. Porto-Alegre gibt durch seine eigene Einschätzung vor, wie Wolf diese Figuren aufzunehmen hat. Es ist davon auszugehen, dass Wolf Porto-Alegres Er-

179 Edmund Stengel: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, S. 36. Eigene Hervorhebungen. 180 Ferdinand Wolf: Análise das obras do Sr. Domingos José Gonçalves de Magalhães. Excerto para a história da literatura brasileira pelo Dr. Fernando Wolf. Übers. Werneck de Aguilar. In: Revista popular 13, S. 175–184; 14, S. 245–250; 15, S. 372–376 (1862). 181 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi.

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zählung für vertrauenswürdig hielt, denn er gibt sie in seiner Studie über Brasilien getreu und vollständig wieder. Aqui recebi os seus recados pelo Sr. Asher, e posso-lhe afirmar de que fora igual o meu pesar ao de V. Sa. quando perdi a esperança de poder vê-lo uma segunda vez; porém espero que não será a última, porque tenciono voltar a Viena para o ano futuro. [...] Vamos ao que teve a bondade de pedir-me. O que está no dicionário do Sr. Silva a respeito do meu amigo Norberto é o mais exato possível; agora, porém, dir-lhe-ei o que sei a respeito das obras. [...] Vamos agora ao Sr. Odorico. Em tenra idade foi para Coimbra estudar a Filosofia natural. Lá foi amigo e companheiro do imortal Garrett. Garrett me disse que o Odorico, Manuel Alves Branco e Candido José de Araújo Vianna eram os três maiores latinistas do seu tempo. Em Coimbra compôs Odorico o seu Hino à tarde – obra primorosa. Voltou ao Brasil na época da independência, e entrou no turbilhão da política. É homem que nunca mudou de opinião, e que por isso não subiu. Pouco ambicioso, não quis ser ministro, e nem Regente do Império em 1831!182

Dieser Brief kann als Beleg dafür gelten, dass sich die beiden nur ein Mal persönlich trafen und dass der Asher Verlag weiter als Vermittler zwischen ihnen fungierte. Darüber hinaus gibt er darüber Aufschluss, wie die öffentlichen Ämter in der brasilianischen Monarchie verteilt wurden.

2.3.3 Widmung (1862): Hausakten der kaiserl. kgl. Hofbibliothek, Berichte von Gonçalves de Magalhães, Wolfs Brief an Dom Pedro II. Von einer persönlichen Korrespondenz zwischen Gonçalves de Magalhães und Wolf, falls sie überhaupt existierte, konnten keine Spuren gefunden werden. Wie im oben erwähnten Brief von Porto-Alegre beschrieben wird, kann es sein, dass die beiden sich durch Porto-Alegre kennengelernt haben und sich häufig persönlich trafen, sodass sie keine Briefe wechselten. Magalhães spielte eine zentrale Rolle sowohl in Wolfs Darstellung der brasilianischen Literaturgeschichte als auch als Vermittler zwischen Dom Pedro II. und Wolf. Eine Hausakte der kaiserl. kgl. Hofbibliothek vom 4.11.1861 weist darauf hin, dass die Publikation von Le Brésil littéraire bereits gesichert war, die Widmung jedoch nicht. Zuerst dachte Wolf darüber nach, das Buch Magalhães zu widmen, aber er wurde von dieser Idee abgebracht – es klingt ähnlich wie Ferreira Franças

182 Ebda. Eigene Hervorhebungen.

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Vorschlag, Richard Wagner solle sein neuestes Werk Dom Pedro II. widmen. Zufall oder nicht, man hat den Eindruck, die Mitglieder der brasilianischen Aristokratie versuchten, Lob für ihren Kaiser zu generieren: Der ergebenst Gefertigte hat seit einiger Zeit sich mit der Ausarbeitung einer Geschichte der brasilischen Literatur beschäftiget und hofft damit im Laufe dieses Winters fertig zu werden. Der brasilische Gesandte am hiesigen Hofe, Hr. v. Magalhães, der selbst als Dichter und Philosoph eine ausgezeichnete Stelle in der Literatur seines Vaterlands einnimmt, hat durch seine Mittheillungen dieses Werk wesentlich gefördert, so daß der Gefertigte sich für verpflichtet hielt, es ihm zu widmen. Hr. v. Magalhães aber erachte es für passender, daß dieses Werk S. M. dem Kaiser von Brasilien gewidmet werde, forderte den Gefertigten dazu auf und versprach die Annahme der Widmung von Seite des Kaisers zu erwirken. Der Gefertigte bittet daher, höheren Ortes ihm die Bewilligung erwirken zu wollen, das oben bezeichnete Werk S. M. dem Kaiser von Brasilien widmen zu dürfen.183

Einzig die Machtstrukturen der zentralisierten habsburgischen Monarchie können erklären, warum Wolf eine Genehmigung der kaiserl. kgl. Hofbibliothek brauchte, nicht nur um sein Werk zu veröffentlichen, sondern auch, um es einer bestimmten Persönlichkeit zu widmen. Nachdem er die Genehmigung bekam, musste die Erlaubnis für die Widmung beim brasilianischen Kaiser selbst beantragt werden. Diese diplomatischen Verhandlungen, die im Kern der Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire stehen, sind ebenfalls in Wolfs Brief an Pedro II. vom 10.11.1861 zu lesen: Sire! La bibliothèque impériale de Vienne a reçu dans ce dernier temps un nombre considérable de livres brésiliens, dont elle a été fournie par les soins des savants autrichiens qui faisaient partie de l’expédition scientifique de la frégate la Novara, et par l’obligeance du célèbre voyageur M. de Tschudi, de sorte qu’elle est peutêtre la plus complète en Europe dans cette branche de littérature. En outre j’ai eu le bonheur d’entrer en relation avec MM. Domingos José Gonçalves de Magalhães et Manoel de Araújo Porto-Alegre, deux coryphées de la littérature brésilienne, qui ont bien voulu me communiquer des matériaux et me guider par leurs lumières. J’ai donc vu dans tout cela presque une vocation de m’occuper plus particulièrement et en détail de cette littérature. Saisi d’admiration, d’une part, par ses beautés, par sa richesse, et surtout par les rapides progrès qu’elle a faits depuis une vingtaine d’années – progrès seule-

183 Österreichische National Bibliothek HB 267/1861. Eigene Hervorhebungen.

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ment possibles par la puissante protection et sous la sage direction d’un souverain aussi savant et aussi éclairé que l’est Votre Majesté – et surpris, d’autre part, de ce qu’une littérature d’une pareille importance est restée presque inconnue en Europe et spécialement en Allemagne, je me suis décidé à profiter des matériaux qu’une heureuse coïncidence de circonstances a mis à ma disposition, et à contribuer de mon mieux, à faire connue et appréciée en Europe une littérature qui a déjà acquis tant de titres à l’être. C’est après plus de deux ans de travail et de recherche, que je suis sur le point de terminer l’essai d’une histoire de la littérature brésilienne depuis son origine jusqu’à nos jours. Quoique je sois pénétré du sentiment de l’insuffisance de mes forces, pour rendre digne mon ouvrage d’être présenté au pied du trône de Votre Majesté, la bonne intention qui me l’a fait entreprendre, m’excusera peutêtre, si j’ose supplier Votre Majesté de daigner en agréer la dédicace. Puisque la splendeur de l’auguste nom de Votre Majesté suppléera à mon insuffisance, et la gracieuse protection de Votre Majesté accordée à un si faible essai encouragera d’autres, plus instruits et plus habiles que moi, de parfaire un ouvrage dont je n’ai pu que tracer les premiers lignes. Je me suis permis de joindre à cette humble supplique deux chapitres de mon ouvrage que j’ai publiés séparément comme échantillons, ceux sur Antonio José da Silva, et sur D. Domingos José Gonçalves de Magalhães.184

Manche Argumente aus Wolfs ‹Vorwort› zur Geschichte der brasilischen Nationalliteratur tauchen auch hier auf: Der Text beginnt mit einem Absatz über «Vienne», «savants autrichiens», «l’expédition scientifique de la frégate la Novara», und den «célébre voyageur M. de Tschudi». In anderen Worten: Im Mittelpunkt steht Wolfs Zugang zu den brasilianischen literarischen Werken dank einer Initiative aus Europa, er betont so auch seine eigene eurozentrische Perspektive. An zweiter Stelle werden die Brasilianer Magalhães und Porto-Alegre erwähnt – kurioserweise nicht Ferreira França. In der Folge nutzt Wolf die (auch damals) üblichen Schlüsselbegriffe zur Beschreibung Brasiliens, nämlich «beauté», «richesse» und «progrès». Wolf verbindet die literarische Entwicklung des Landes mit der «puissante protection» und «sage direction» durch den Kaiser. Diese beiden Ausdrücke können einen Begriff davon geben, wie stark das kulturpolitische Projekt Dom Pedros II. die Produkte seiner elitären Kreise von Künstlern und Autoren mitbestimmte. In der Folge erklärt Wolf seine «vocation», sich mit der brasilianischen Literatur zu beschäftigen und setzt sich ein deutliches Ziel: die Verbreitung dieser Literatur in Europa zu gewährleisten, wörtlich, «la faire connue et appréciée en

184 Arquivo Histórico do Itamaraty, Konvolut Viena 1861–1862, 232/4/10. Eigene Hervorhebungen.

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Europe». Davon ausgehend kann man feststellen, dass Wolf sich zunächst ein europäisches Publikum für sein Werk vorstellte. Dazu nennt er neben seiner «vocation» die günstigen Umstände als Impuls für sein Unterfangen. Es scheint nicht der Fall, dass die Studie im Rahmen eines Projekts ausgehend von der brasilianischen Seite entstanden ist. Doch bleibt unklar, was Wolfs Forderung nach «protection» bedeutet. Wolf geht davon aus, dass sich wohl andere Wissenschaftler dafür interessieren werden, seine Studie zu ergänzen und sich mit Brasilien zu beschäftigen, wenn Dom Pedro II. solche Arbeiten fördert. Auf der einen Seite gesteht Wolf die Entstehung seiner Studie als glücklichen Zufall, auf der anderen Seite erbittet er die Protektion des Kaisers, sodass nicht nur er selbst, sondern auch andere davon profitieren können. Wolf sieht sein eigenes Schaffen als ein «essai d’une histoire de la littérature brésilienne, depuis son origine jusqu’à nos jours» und verwendet dabei nicht das Wort «national», wie es im Titel des Originalmanuskripts zu lesen ist. Außerdem fällt auf, dass Wolf seinen Artikel über Antonio José da Silva dem Brief beigelegt hat. Wie Wolf feststellt, hatte sich Da Silva in der Jungend in Lissabon niedergelassen und dort als Autor gewirkt, Brasilien war nur sein Geburtsort, stand also nicht im Mittelpunkt seines Artikels über diesen. Einige Tage später, am 28.11.1861, berichtete Gonçalves de Magalhães über Wolfs Vorhaben und erklärt seine Arbeit zu einem großen Dienst an der brasilianischen Literatur: Tenho a honra de remeter a V. E. para que ponha aos Pés de S. M. O Imperador uma suplica do Dr. Fernando Wolf, acompanhada de dous Opúsculos em língua allemã escritos por elle sobre a nossa Litteratura. Devo informar que o Dr. Wolf goza de grande reputação como litterato e erudito, é Conservador da Bibliotheca Imperial de Viena, Secretario Perpetuo da Imperial Academia de Sciências desta Capital, condecorado com varias Ordens tanto nacionaes como estrangeiras, e conhecido pelos seus escriptos sobre a litteratura hespanhola, em que é mui versado, bem como na italiana e portugueza, e agora na parte que nos pertence, e à que se entrega com todo o afan para escrever a sua historia, que deseja publicar debaixo do honroso auspicio de S. M. O Imperador, a Quem a dedica e consagra, e a Quem pede o necessario Prasme.185

Magalhães unterstützt Wolfs Bitte um Genehmigung für die Widmung und stellte ihn als jemanden vor, der im exklusiven Kreis vom Dom Pedro II. verkehren sollte. Hier wird nicht erwähnt, in welcher Sprache Wolfs Schrift erscheinen wird.

185 Arquivo Histórico do Itamaraty, Konvolut Viena 1861–1862, 232/4/10. Eigene Hervorhebungen.

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Wolf korrespondierte in einem Brief vom 19.11.1861 mit Lemcke über die geplante Publikation seines Werkes. Hier wird Magalhães als eine zentrale Figur für Wolfs Projekt präsentiert: [...] Inzwischen werden Sie wohl auch meine Broschüre über den brasilischen Dichter Magalhães erhalten haben, die ich teils um dem Dichter (er ist brasil. Gesandter am hiesigen Hofe, und ich ihm vielfach verpflichtet) eine Aufmerksamkeit zu beweisen, teils um eine Probe aus meinem größeren Werke zu geben, auch separat abdrucken ließ. Mein Aufsatz schien Hrn. v. Magalhães auch in der Tat angesprochen zu haben; denn er ließ ihn durch seinen Sekretär ins Portugies. übersetzen, um ihn in der Revista popular von Rio de Janeiro einrücken zu lassen. – Sagen Sie mir aufrichtig, was er für einen Eindruck auf Sie gemacht, und ob Sie mit der Art der Behandlung einverstanden sind; Ihr Tadel kommt noch dem Werke zu gute. – Ich habe bereits einen Teil der französischen Übersetzung davon (und nur in dieser erscheint das Werk) revidiert und daraus leider ersehen, dass gerade in den Teilen, welche am meisten deutsches Gepräge tragen, wie die literarhist. Übersichten, die genetischen Entwicklung usw., dieses großenteils der französischen Glätte aufgeopfert werden musste und daher ihre nationale und individuelle Physionomie verloren gegangen ist. [...]186

Außer der Bestätigung, dass eine Übersetzung von Wolfs Artikel in der Revista Popular veröffentlicht werde, sind hier noch andere Aspekte von Bedeutung. Erstens: Wolf fühlte sich unsicher wegen «der Art der Behandlung», d. h. seiner Darstellung von Magalhães Werken und seinem Handeln. Wie im dritten Kapitel dieser Studie ausführlich anhand des Vergleichs zwischen Manuskript und Übersetzung analysiert wird, erreicht Wolfs Literaturgeschichte Brasiliens im Kapitel über Magalhães ihren Höhepunkt. Laut Wolf sei er der «geniale Protagonist», der herausragende literarische Ausdruck Brasiliens. Magalhães’ Werke sind Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren, darunter insbesondere die Herrschaft von Dom Pedro II. und der Einfluss der «deutschen Kritik». Magalhães wie Dom Pedro II. schaffen eine Brücke zwischen beiden Kulturen, wie Wolf hervorhebt. Dank des «deutschen Werkes» sei eine Freiheit möglich, welche als Grundlage für die Entstehung Brasiliens als Nation und seiner entsprechenden Literatur gilt. Von Bedeutung ist auch Wolfs hier zu lesende erste Klage über die französische Übersetzung. Bis zu diesem Punkt sieht es wohl so aus, als würden Original und Übersetzung erscheinen, aber hier ergänzt Wolf in Klammern, dass nur die französische Fassung gedruckt werde. Der Name des Übersetzers Dr. van Muyden taucht hier noch nicht auf. Unzufriedenheit prägt Wolfs Ton: Er ist mit der Übertragung nicht einverstanden. Seine Arbeit bei der «literarhistorischen Übersichten», bei der «genetischen Entwicklung» werde in der französischen Sprache ver 

186 Edmund Stengel: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, S. 36. Eigene Hervorhebungen.

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einfacht. Wolf ahnt, dass die französische Version anders ausfällt als die deutsche. Die Komplexität von Wolfs Darstellung hängt eng mit der Sprache zusammen, in welcher er sein Buch konzipiert. Aus diesem Grund ist die brasilianische Literatur in der Übersetzung nur vereinfacht dargestellt: Wolfs Konstruktion ihrer «nationalen und individuellen Physionomie» wurde im Kern geändert, d. h. anders konstruiert. Vielleicht wird aus diesem Grund im ‹Préface› vom Le Brésil littéraire, im «Avril 1862» datiert, folgender Hinweis gegeben:  

MM. les éditeurs ont désiré que la partie historique fût traduite en français. Qu’il me soit permis d’en remercier ici M. le docteur van Muyden, que s’est efforcé de rendre aussi exactement que possible les idées de l’original.187

Zwei Stellen springen unmittelbar ins Auge: Erstens bezieht sich das Verb «désirer» auf den dezidierten Wunsch des Verlegers, der mit dem des Verfassers nicht zu verwechseln ist. Dieser Wunsch geht wohl auf Meinungsverschiedenheiten zwischen Wolf und Albert Cohn zurück, was die Sprache der Publikation betrifft. Es scheint, dass Wolf bei diesem Tauziehen keinen Erfolg hatte. Das wäre ein Zeichen dafür, dass die Abfassung und die Herausgabe von Le Brésil littéraire von verschiedenen Motiven geprägt waren. Davon ausgehend lässt sich der Charakter des Buches in seinem letztendlichen sprachlichen Ausdruck als den Interessen des Verfassers gegenläufig verstehen. Zweitens verweist das Verb «s’éfforcer» einerseits auf die Aufgabe des Übersetzers, den Quelltext getreu zu übertragen, anderseits auf den Wert, den Wolf auf diese Genauigkeit legt. Ex negativo legt die Wortwahl offen, dass die Übersetzung hinter ihrem Original zurückgeblieben ist. Die Gründe, warum Französisch die bevorzugte Sprache für das Buch wurde, werden in der gedruckten Fassung nicht weiter genannt. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass Französisch damals lingua franca unter den globalen Eliten war.188 Eine andere Hypothese besagt, dass eine französische Fassung sich von der Intensität des charakteristischen Vokabulars des deutschen Idealismus entfernen konnte. Es lässt sich schwer erschließen, ob die brasilianischen Diplomaten eine Rolle bei dieser Entscheidung gespielt haben.

187 Ferdinand Wolf: Préface. Le Brésil littérarie, S. IX. Dieser Abschnitt wird später hinzugefügt, sodass er nicht im Originalmanuskript zu lesen ist. Eigene Hervorhebungen. 188 Ein kleines Beispiel liefert Erich Carlsohn in seiner Schilderung Berlins Mitte des 19. Jahrhunderts: «Damals wurde am Hofe und in der Berliner Gesellschaft französisch gesprochen. Auch in weiten Bürgerkreisen bediente man sich dieser Sprache infolge der ausgedehnten französischen Kolonie». Erich Carlsohn: Alt-Berliner Antiquare, S. A481.

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2.3.4 Übersetzung (1862): Der einzige Brief des Übersetzers Dr. van Muyden Der einzige erhaltene Brief in Wolfs Nachlass, den der Übersetzer Dr. van Muyden an ihn richtete, ist mit dem 23.01.1862 datiert, also elf Tage nach Wolfs Brief an Lemcke: Dabei habe ich Gelegenheit gehabt zu bemerken, dass Sie der französischen Sprache in solchem Grade mächtig sind, dass Sie hätten Ihr Werk eigentlich französisch schreiben, und es bloß revidieren lassen können. Leider habe ich an einzelnen Stellen einige Wörter ausgelassen. Das kommt daher, dass der Deutsche es liebt, seine Periode mit einer Menge compléments voller zu machen [...]. Ich werde in den übrigen Heften nach Ihren Grundsätzen verfahren – meine Anfrage haben Sie auch erschöpfend beantwortet, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin.189

Aus der Betrachtung und Gegenüberstellung beider Briefe im Kontext ergeben sich aufschlussreiche Folgerungen: Erstens wird hier eindeutig klar, dass die Übersetzung ins Französische nicht von Anfang an geplant war. Die Gründe für diese Entscheidung sind nicht ohne weiteres zu erschließen. Zweitens offenbart Van Muyden, dass er den Text tatsächlich geändert hat, kommentiert dies aber in euphemistischer Weise mithilfe der Ausdrücke «an einzelnen Stellen» und «einige Wörter». Drittens wird in beiden Briefen versucht, die Kennzeichen der deutschen und der französischen Sprache in Worte zu fassen, mit dem Ziel, die Übersetzungsmethode zu begründen. Viertens loben sowohl Wolf als auch Van Muyden gegenseitig ihr Talent für Fremdsprachen. Außerdem erwähnt Van Muyden in diesem Abschnitt noch, dass Wolf selbst ihn, also den französischen Muttersprachler, korrigiere. In diesem dreiseitigen Brief werden weitere Themen behandelt, wie etwa mögliche Titel für die zwei Teile des Buches. Der erste Teil enthält Wolfs Studie, der zweite eine Sammlung (Choix des morceaux tirés des meilleurs auteurs bésiliens[sic]) mit Dichtungen, Auszügen von Erzählprosa und Theaterstücken von den im ersten Teil behandelten Autoren: Appendice geht entschieden nicht. Dafür mache ich Ihnen einen Vorschlag der auch schon von Herrn Cohn angenommen worden ist. Wir nehmen die unter geschr. Première Partie, den Anhang dagegen Seconde Partie. Choix de morceaux tirés des meilleurs auteurs brésiliens, und verweisen im 1.en Teil auf die Seconde Partie. nº... Pièces à l’appui wird von Prozessakten und jurisdischen Dokumenten, Urkunden etc. gebraucht, passt daher hier nicht. Mein

189 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.4 Novi, fol. 3.56. Unterstreichungen im Original, Eigene Hervorhebungen kursiv.

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Vorschlag précédé d’une histoire war nur zum Spaß. – Chrestomathie wie ein Schulbuch, Anthologie ging allenfalls, ich will noch darüber nachdenken.190

Eine weitere Figur tritt hier auf den Plan: der Verleger Albert Cohn. Es wird deutlich, dass er sich um die Herausgabe des Buches persönlich kümmerte. Es scheint auch, dass der Dialog zwischen Übersetzer und Verleger viel enger war als der zwischen Autor und Verleger. Wahrscheinlich hat Van Muyden nicht nur die Übersetzung vorgenommen, sondern auch eine Art Anpassung von Wolfs Ideen an den Geschmack eines europäischen, eventuell brasilianischen, und daher nicht unbedingt deutschsprachigen Publikums vorgenommen. Es scheint, dass dieser internationale Charakter der Veröffentlichung ein Ziel des Verlegers war. Das könnte vielleicht erklären, warum manche Stellen weggelassen, geändert und gekürzt wurden. Hatte sich Albert Cohn ein populärwissenschaftliches Sachbuch gewünscht und dementsprechend versucht, den wissenschaftlichen Duktus von Wolfs Schreibweise abzumildern? Ein Beleg dafür findet sich im Titel selbst: Le Brésil littéraire. Dieser Titel klingt eher nach einem Werk, das sich an eine nicht spezialisierte Leserschaft richtet als nach einer wissenschaftlichen Abhandlung. Weiterhin lässt sich vermuten, dass Van Muyden möglicherweise Wolf gekränkt hat, indem er den Schwerpunkt des Werkes auf die Sammlung und nicht auf Wolfs Arbeit legte: Selbst wenn Van Muyden erklärt, dass der Vorschlag nur «zum Spaß» war, wirkt es nicht so, als gäbe es Raum zum Scherzen zwischen den beiden. Ein weiteres Thema dieses Briefes ist eine neue Fassung des ersten Abschnitts der Einführung: Ich weiß nicht, ob Sie mit der folgenden Definition der bras. Literatur zufrieden sein werden, die ich nach Ihren Wünschen geändert habe: ‹La littér. brésil. a été apportée au Brésil par les conquérants portugais. Les colons, leurs successeurs restés en relation avec la métropole et se servant de sa langue, continuèrent à la cultiver. Elle a été enfin développée avec une indépendance toujours plus grande par les brésiliens natifs d’origine portugaise, à mesure qu’ils s’émancipaient eux même davantage de la mère patrie.› Dieser Anfang ist einfach und gibt Ihren Gedanken wie mir scheint gut wieder.191

Van Muyden bietet Wolf eine andere und angepasste Version des erstens Abschnitts an, da Wolf, wie aus der zitierten Passage hervorgeht, mit diesem unzufrieden war. Anhand des letzten Satzes bekommt man das Gefühl, Wolfs Niederschrift wäre in einer solchen Art und Weise geschrieben, dass Muyden den

190 Ebda. Unterstreichungen im Original, eigene Hervorhebungen kursiv. 191 Ebda. Unterstreichungen im Original, eigene Hervorhebungen kursiv.

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2 Die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire

Eindruck gewann, er müsste sie umformulieren. Außerdem hat das Verb «wiedergeben» auch den Sinn von «berichten», «erzählen» oder «darstellen», was eine zusammenfassende, umgestaltende Fassung und nicht unbedingt eine dem Original nahe Übertragung bezeichnen könnte. Das bestätigt wiederum Van Muydens Übersetzungsmethode. Zum Vergleich ist in der gedruckten Fassung Folgendes zu lesen: C’est à bon droit qu’on peut parler maintenant d’une littérature brésilienne. Les premiers éléments littéraires cependant ont été apportés au Brésil par les conquérants portugais. Les colons, leurs successeurs, restés en relation avec la métropole et se servant de sa langue, continuèrent à les cultiver. Ils ont enfin été développés avec une indépendance toujours plus grande par les Brésiliens natifs d’origine portugaise, à mesure qu’ils s’émancipaient eux-mêmes davantage de la mère-patrie.192

Was den ersten Satz betrifft, so bleibt offen, ob Van Muyden ihn weggestrichen hatte oder ob Wolf mit der ersten Übersetzung des Abschnitts einverstanden war, sodass in dem Brief nicht darüber gesprochen wird. Gleichfalls ist unklar, warum Wolf mit der ersten Version unzufrieden war. Der Vergleich zwischen beiden Abschnitten zeigt eine einzige Korrektur, die allerdings einen substantiellen Unterschied darstellt: «la littérature brésilienne» wird durch «les premiers éléments littéraires» ersetzt. Es ist dabei äußerst schwer zu beurteilen, ob diese Änderung eine Entscheidung Wolfs oder Van Muydens war. Doch unter der Annahme, dass die brasilianische Literatur keine fertige Einheit sei, die einfach von Portugal nach Brasilien gebracht werden konnte, scheint die zweite Variante genauer. Die Vorstellung von «ersten literarischen Elementen» deutet auf einen historischen Prozess hin und eben auf eine Entstehung der brasilianischen Literatur durch verschiedene Einflüsse, die nicht nur aus Portugal kamen. Infolgedessen änderten sich im Text auch die Pronomen: «les» bezieht sich auf «les éléments littéraires», während «la» zweideutig ist und sich sowohl auf «la langue» als auch «la littérature brésilienne» beziehen kann. Die Vermutung, die französische Übersetzung sei eher eine Neufassung von Wolfs deutschem Original, lässt sich, wie mit diesem Beispiel gezeigt werden konnte, durchaus belegen. Der Übersetzung geht es nicht nur darum, lange Sätze umzuschreiben, sondern sie setzt auch anders besetzte Begriffe ein und verändert dadurch das Ideengerüst des Textes. Das ins Detail gehende Close Reading beispielhafter Auszüge aller Kapitel von Le Brésil littéraire wird im Folgenden zeigen, wie durch die französische Übersetzung ein ganz anderes Werk geschaffen wurde.

192 Ferdinand Wolf: Le Brésil littéraire, S. 1.

3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung Durch die Untersuchung der Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire: histoire de la littérature brésilienne und der Dokumente über den Entstehungsprozess im vorherigen Kapitel ist nun eine Grundlage erarbeitet worden, um Wolfs literaturpolitisches Projekt ausführlich anhand einer vergleichenden Analyse zwischen dem Manuskript Geschichte der brasilischen Nationalliteratur1 und der veröffentlichten Übertragung zu betrachten. In diesem Kapitel werden ausgewählte Auszüge des von mir transkribierten Manuskripts mithilfe eines Close Readings analysiert, um die Struktur von Wolfs Gedankengängen rekonstruieren zu können und die kritischen Punkte des Übersetzungsprojekts explizit aufzuzeigen. Das Hauptziel besteht darin, Wolfs Absichten zu untersuchen und die Tendenz der Änderungen in der französischen Version zu interpretieren. Die eingehende Analyse des Manuskripts zeigt, wie Wolfs literaturpolitische Agenda untrennbar mit dem Vokabular verbunden ist, auf das er zurückgreift, und wie sich seine Wortwahl in die Denktradition des Deutschen Idealismus einordnen lässt. Der Deutsche Idealismus wird hier bezogen auf den Zeitraum zwischen den philosophischen Systemen von Kant und Hegel verwendet.2 Zum anderen ist er eine «Bezeichnung für die mit der deutschen Klassik gleichzeitige und ihr geistesverwandte Philosophie».3 In diesem Sinn können Autoren wie Goethe, Schiller, Hölderlin, die Gebrüder Schlegel, Schleiermacher, Novalis, Herder, Jacobi und Jean Paul miteinbezogen werden. Obwohl Wolf seine Zugehörigkeit zum Deutschen Idealismus nie ausdrücklich thematisiert, kann man sie aufgrund seiner lobenden Erwähnung bestimmter Autoren als gesichert annehmen, beispielhaft zitiert sei die folgende Passage:

1 In diesem Kapitel werden die Seitenangaben aus der Übersetzung und aus dem Original am Ende des Zitats in Klammern angegeben. Fett gedruckt sind meine Hervorhebungen, kursiv die Hervorhebungen im Original. Wolfs eigene Korrekturen, Ergänzungen und Umformulierungen wurden in eckigen Klammern eingefügt. Die Kommentare der Verfasserin der vorliegenden Arbeit sind in geschweifte Klammern gesetzt. Eine paläographische Transkription ist im Anhang zu lesen. 2 Hierfür orientiere ich mich an die Definitionen des «Deutschen Idealismus» aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Ritter Joachim, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe Verlag 1971–2007, hier Bd. 4, S. 35. 3 Ebda., S. 36. https://doi.org/10.1515/9783110697889-003

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

So hat namentlich um die spanische Volkspoesie auch ein Deutscher, der geniale Herder, durch seine Stimmen der Völker in Liedern und besonders durch seinen Cid sich das unbestreitbare Verdienst erworben, für sie das Interesse des gebildeten Europa angeregt zu haben [...]. So haben Deutsche, Jacob Grimm und Depping, zuerst in neuerer Zeit und ausserhalb Spaniens Sammlungen von spanischen Romanzen (Romanceros) in der Originalsprache veranstaltet [...]. So hat endlich – nachdem Bouterweck, die beiden Schlegel, Tieck, F. W. V. Schmidt, Diez, Beauregard-Pandin, Häring (Willibald Alexis), Böhl de Faber, Julius, Rosenkranz, Keller, Duttenhofer, Regis, Geibel, Karl Stahr, Ludwig Glarus u. a. durch Abhandlungen, Uebersetzungen und Ausgaben mehr oder minder fordernd zu diesem Zwecke mitgewirkt haben – wieder ein Deutscher, Hr. Prof. Huber, [...] zuerst die formelle Bildung und Entwicklung der Romanzenpoesie wissenschaftlich untersucht und kritisch gewürdiget.4  

Auch im Buch über die brasilianische Literatur ist ein Abschnitt zu lesen, aus welchem Wolfs historisch-philosophische Ansichten hervorgehen. In beiden Beispielen fällt seine Bemühung auf, die Vorherrschaft Deutschlands im historischen und kulturellen Kontext zu untermauern. Hier bezieht er sich explizit auf Kant, Schelling und Hegel: Er [Januário da Cunha Barbosa] bekleidet diesen Posten fast durch ein Vierteljahrhundert und machte seine zahlreichen Schüler nicht nur mit den Systemen der alt-classischen und französischen Philosophie, sondern auch mit den kritischen Resultaten Kant’s, den Speculationen Schelling’s und der Dialektik Hegel’s bekannt. (S. 174) Il revêtit ce poste pendant plus d’un quart de siècle et fit connaître à ses nombreux disciples non seulement les philosophies ancienne et française, mais aussi les recherches critiques de Kant, les spéculations de Schelling et la dialectique de Hegel. (S. 116)

In der Übersetzung wird Wolfs literaturpolitische Agenda – und aus diesem Grund die mit ihr verbundene Denktradition – nicht vollständig wiedergegeben. Der Wortschatz des Deutschen Idealismus wurde größtenteils durch einen anderen ersetzt, der eher dem französischen intellektuellen Kontext zuzuordnen ist. Um diese Hypothese zu formulieren, ist weder eine critique génétique noch ein editorischer Ansatz nötig, denn es ist bereits anhand philologischer Verfahren möglich zu zeigen, inwiefern Wolfs literaturpolitisches Projekt seine außerliterarischen Absichten offenbart. Wolf bemühte sich auf der einen Seite, die dynastische Verwandtschaft zwischen Brasilien und Österreich zu unterstreichen, auf der anderen Seite eine weltweit verbreitete französische

4 Ferdinand Wolf: Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur, S. 308–309.

3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

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Sicht auf Kultur und Literatur durch eine deutsche zu ersetzen. Der Vergleich der deutschen mit der französischen Fassung zeigt die Einführung eines anderen Wortschatzes, anderer Begriffe und Ideen, die mehr noch als eine Verschiebung der idealistischen Denktradition Wolfs, eine markante Änderung seines Projekts bedeutet. Eine Spekulation über die Gründe, warum der Verleger und der Übersetzer diese nicht nur stilistischen, sondern auch konzeptuellen Änderungen in Wolfs Text unternommen haben, steht in diesem Kapitel nicht im Zentrum und wurde bereits im vorherigen Kapitel anhand der gefundenen Dokumente behandelt. In dieser Hinsicht ist der Kommentar von Adolf Ebert in seiner Rezension von Le Brésil littéraire sehr aufschlussreich.5 Er offenbart im letzten Absatz, dass das Werk aufgrund der Verlagsverhandlungen zur Verbreitung des Werkes in «weiteren Kreisen», vermutlich auch Brasilien, ins Französische übersetzt wurde. Unklar bleibt, mit wem die Verleger verhandelt haben. Ebert plädiert daher im Namen der «Wissenschaft» und des «Vaterlandes» für die Veröffentlichung auch des deutschen Originals: Nur eins müssen wir schließlich bedauern: dass dem Verf. es nicht vergönnt gewesen ist, das Werk in deutscher Sprache, in welcher es verfasst wurde, zu veröffentlichen, so dicht der französischer Übersetzer auch, Hr. Dr. van Muyden, an das Original sich zu halten bemüht war. Allerdings sind die Gründe der Verlagshandlung, welche dem Werke eine sehr würdige Ausstattung hat zu Teil werden lassen, leicht denkbar und begreiflich; auch liegt es im Interesse der deutschen Wissenschaft selbst, in den Ländern, deren Literatur sie zum Gegenstand ihrer Forschung und Darstellung macht, auch in weiteren Kreisen bekannt zu werden: aber das Vaterland hat auch seine Rechte, und so hoffen wir, dass später auch noch das deutsche Original seine Veröffentlichung finden werde.6

Hier sind ähnliche Indizien eines Ressentiments im Veröffentlichungs- und Übersetzungsprozess aufzufinden, wie in Wolfs Brief; die Vokabeln «bedauern», «nicht vergönnt», aber vor allem der Satz: «aber das Vaterland hat auch seine Rechte» sind in dieser Hinsicht aufschlussreich. Zwar erkennt Ebert die Bemühung des Übersetzers, die Gründe des Verlegers und die nötige Verbreitung der «Deutschen Wissenschaft» in den erforschten Ländern an, fügt er aber für jedes dieser Argumente eine Einschränkung ein: «So», «allerdings» und «aber» markieren seine Kritik an dem gesamten Prozess.

5 Adolf Ebert: Le Brésil littéraire, S. 222–240. 6 Ebda., S. 240. Eigene Hervorhebungen.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Deutlich wird also hier, warum sich dieses Ressentiment bei Wolf und seinen Freunden entwickelt hat. Die Änderungen im französischen Text wurden bewusst unternommen. In diesem Sinne verdeutlicht das Manuskript Wolfs ursprüngliche Vorhaben in einer viel klareren Weise als die französische Fassung. In dieser wurde Wolfs literaturpolitische Agenda durch die Änderung der Begrifflichkeit nicht in der intendierten Weise wiedergegeben, sodass es für die heutige Leserschaft nicht mehr unmittelbar ersichtlich ist. Das ideologische Fundament von Wolfs Beitrag kann nur anhand der Deutung dieser diskursiven Kluft zwischen Manuskript und gedruckter Fassung und zwischen den französischen und den deutschen Denkmustern, die sie vertreten, verstanden werden. Beide Versionen sind sicherlich eurozentrisch, doch aus unterschiedlichen Gründen und auf verschiedene diskursive Arten und Weisen. Vor allem die jeweils zugrunde liegende Idee einer Nation und ihrer Grundpfeiler sind nicht dieselben. Darüber hinaus wird die vergleichende Analyse eine bestimmte Dynamik des europäischen politischen Zusammenhangs enthüllen, in welcher Brasilien eher als Fluchtpunkt auftritt, nämlich die Machtauseinandersetzungen zwischen Frankreich und Deutschland/ Österreich. Für den Umgang mit dem Original und der Übersetzung wurden bestimmte Kriterien aufgestellt, die bei der Transkription des Originals als Orientierung gedient haben. Zunächst wurden die Stellen auf Französisch ausgewählt, die ich für musterhaft, auffällig und aufschlussreich für die Entschlüsselung von Wolfs Denken halte, dann wurden sie im Manuskript gesucht und transkribiert. Ausgehend von der Gliederung des Werkes war unmittelbar zu erkennen, dass Wolf die Hauptaspekte jeder historischen Epoche am Anfang jedes Teils und manchmal auch jedes Teilkapitels zusammenfasste. Daher habe ich mich dafür entschieden, diesen Passagen erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken: Sie ermöglichen nicht nur die Rekonstruktion von Wolfs chronologischem Überblick über die vermeintliche Entwicklung der brasilianischen Literatur, sondern geben auch ein Bild von seiner Geschichtstheorie und deren Grundlagen. So entstand eine Belegsammlung von ungefähr fünfzig transkribierten Seiten, in denen die Struktur von Geschichte der brasilischen Nationalliteratur repräsentativ erkennbar wird. Im Anhang dieser Studie werden diese Stellen zum ersten Mal gedruckt.

3.1 Wolfs Begriff von Nationalliteratur Le Brésil littéraire hat im Jahr 1863 nur eine Auflage erlebt und wurde nicht nachgedruckt. Wie viele Exemplare gedruckt wurden, ist unbekannt. Der Zugang zu diesem heute rar gewordenen Werk wird dadurch erleichtert, dass es 2009 von

3.1 Wolfs Begriff von Nationalliteratur

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der Französischen Nationalbibliothek im Rahmen des Digitalisierungsprojekts Gallica online gestellt wurde.7 Der Text hat zwei Teile: Der erste enthält Wolfs Darstellung der Literaturgeschichte Brasiliens nebst Biographien der Autoren und Zusammenfassungen ihrer Werke, der zweite Auszüge aus einigen bei Wolf besprochenen Texten in Originalsprache d. h. im brasilianischen Portugiesisch (von Wolf «Probe» genannt). Es gibt kein Manuskript oder Hinweise auf ihre Entstehung und Zusammenstellung. In meiner Arbeit liegt der Fokus auf dem ersten Teil, der dem deutschen Original strukturell entspricht. Der erste Teil umfasst 242 und der zweite 334 Seiten, die Seitennummerierung fängt im zweiten Teil neu an. Am Ende des zweiten Teils befindet sich eine ‹Table alphabétique des noms d’auteurs et des matières› (S. 325) und eine ‹Errata›-Liste für beide Teile (S. 333). Die Auszüge aus den Originaltexten werden von Wolf im ersten Teil ausführlich behandelt. Doch Wolfs eingehender Kommentar über Baptista Caetano de Almeida wurde am Ende des XVI Kapitels völlig gestrichen.8 In der gedruckten Fassung findet sich auf der ersten Seite eine lange Beschreibung von Wolfs Lebenslauf, indem alle seine Titel erwähnt werden, und auf der zweiten Seite Wolfs Widmung ‹À sa majesté l’empereur du Brésil!›. Beides fehlt im Original. So es ist nicht ermittelbar, wann die Widmung tatsächlich verfasst wurde:  

Sire! En daignant accepter la dédicace de cet ouvrage, Votre Majesté n’a eu égard qu’à mon désir de faire apprécier en Europe la belle littérature du Brésil. Un ouvrage paraissant sous l’auguste égide de Votre Majesté ne manquera pas d’attirer l’attention de tout le monde civilisé. Je m’estimerais heureux, si je pouvais me flatter d’avoir produit une œuvre digne de l’insigne faveur que Votre Majesté a bien voulu lui faire. C’est le but vers lequel ont tendu tous mes efforts.

Es fällt auf, dass trotz der angegebenen Absicht des Werkes bestimmte Oppositionen zu überwinden, die Redewendung «monde civilisé» wiederholt wird, was immer als ein Hinweis dafür lesbar ist, dass Brasilien eigentlich nicht dazu gehört. Außerdem wird das Zielpublikum deutlich als ein europäisches vorgestellt. Was genau die Schirmherrschaft des brasilianischen Kaisers für die tatsächliche Ent-

7 Bibliothèque Nationale de France, Gallica: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k57227980 (24.06.2018). 8 Diese lange Passage ist zum ersten Mal im Anhang in gedruckter Form zu lesen.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

stehung des Werkes bedeutete, wie etwa Finanzierung oder Teilhabe bei der oben erwähnten «Verlagsverhandlung», bleibt offen. Wolf versucht mit seinem Werk «l’insigne faveur que Votre Majesté a bien voulu faire» zu erwidern, doch soweit es die Recherchen ergaben, war der Kontakt nicht direkter Natur, sondern er wurde stets brieflich von Gonçalves de Magalhães vermittelt. Wahrscheinlich bezieht sich der «Gefallen» bloß auf die von Wolf erhaltene Erlaubnis, das Werk Dom Pedro II. zu widmen. Das Manuskript Geschichte der brasilischen Nationalliteratur wird bis heute in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt. Im Gegensatz zur gedruckten Fassung wurde es erst durch meine Anfrage im Rahmen dieser Arbeit als gescannte Kopie öffentlich online verfügbar gemacht.9 Wie für Manuskripte üblich beinhaltet es Wolfs Änderungen, Korrekturen und Verbesserungen während des Schreibprozesses, die seine Suche nach einer genaueren, passenderen Formulierung dokumentieren. Der Umfang beträgt 363 nummerierte Seiten, der Umschlag ist grün. Auf der ersten Seite stehen der Titel und der Name des Autors. Der Text beginnt mit einer Bemerkung Wolfs, in der er sich auf die Vorveröffentlichung einiger Auszüge des Werkes bezieht. In der französischen Fassung ist dieser Hinweis verschwunden: Dies{es} Werk ist nur in französischer Übersetzung im Druck erschienen, unter dem Titel ‹Le Brésil littéraire›; etc (Berlin, 1863. 8º ein Band); – davon enthält die II. Partie: ‹Choix de morceaux tirés des meilleurs auteurs brésiliens,› den ‹Anhang› auf den hier verwiesen wird. Vom Original sind als Proben erschienen die Artikel: ‹Antonio José da Silva› (in den Sitzungsberichten der phil. hist. Klasse der k. Akad. der wiss. Bd. 34, S. 249; – auch im Separatabdruck. Wien, 1860); – über ‹Magalhães› (in der Kathol. Literaturzeitung, Jahrg. 1861, nº 32–34 und 36); – und über die ‹Nebulosa› von J. M. de Macedo (im Jahrb. für roman. und engl. Lit. Bd. 4, S. 121).

Diese erste Bemerkung von Wolf erwähnt die französische Übersetzung, doch nicht den Übersetzer Dr. van Muyden. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass zum betreffenden Zeitpunkt anscheinend noch offen war, wer die Aufgabe der Übersetzung übernehmen würde. Im Folgenden soll Wolfs ‹Vorwort› aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur mit dem ‹Préface› aus Le Brésil littéraire verglichen werden. Wolf eröffnet sein ‹Vorwort› mit dem Ausgangspunkt seiner Geschichte der brasilianischen Literatur, nämlich «[dem] Kaiserreich Brasilien». Das Wort «Literatur» taucht erst im zweiten Absatz auf. Hier wird die Tatsache, dass die brasilianische Literatur in

9 Österreichische Nationalbibliothek Wien http://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.faces? doc=DTL_5820240&order=1&view=SINGLE (24.06.2018)

3.1 Wolfs Begriff von Nationalliteratur

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einem politischen, genauer gesagt einem monarchischen, Zusammenhang entstanden ist, ausdrücklich betont. Außerdem wird ein klarer Gegensatz zwischen dem brasilianischen Kaiserreich und Europa postuliert, der sich durch das ganze Werk zieht, auch wenn die Sprache einen egalitären Anschein macht. Tatsächlich werden die Existenzbedingungen eines brasilianischen Kaiserreiches durch «europäische Forscher» untersucht, sodann darf es an der «Weltgeschichte» teilnehmen. Den Europäern stand immer noch zu, über die ‹Anderen› zu entscheiden, sie anzuerkennen und ihr Bestehen gewissermaßen zu genehmigen. Das Kaiserreich Brasilien hat in neuester Zeit bereits eine so bedeutende weltgeschichtliche Stellung eingenommen, daß die Europäer sich in fast allen Beziehungen damit bekannt zu machen suchten; europäische Naturforscher, Ethnographen, Historiker und Politiker haben es zum Gegenstande ihrer Studien gemacht und eine ansehnliche Anzahl beachtenswerther Werke sind die Früchte derselben. (S. I) L’empire du Brésil a vu ces dernières années son influence s’augmenter à tel point qu’il a attiré sur lui l’attention de l’Europe. Naturalistes, ethnographes, historiens, hommes d’État l’ont pris pour but de leurs études, dont un nombre considérable d’ouvrages importants ont été les fruits. (S. VII)

In der französischen Fassung liest man etwas ähnliches, aber Wolfs Formulierung «weltgeschichtliche Stellung» und damit die Idee von einer gleichbedeutenden Beteiligung des Kaiserreiches Brasilien an der Weltgeschichte ist verschwunden. Stattdessen wurde ein neues Wort eingeführt: «influence», es lässt die ungleiche Machtverteilung, die in Wolfs originaler Wortwahl implizit ist, weniger deutlich werden. Die Wiederholung des Adjektivs «europäisch» vor der Auflistung der Personen, die sich für Brasilien interessieren, verschwindet hier völlig. Im nächsten Abschnitt lassen sich einige Unterschiede erkennen, die sich eher als stilistisch bezeichnen lassen, denn sie bedeuten keine Veränderung von Wolfs Ideen. Erstens wird die Redewendung «terra incognita» nicht mehr auf Latein zitiert, sondern ins Französische übertragen, und der lange deutsche Satz wird in zwei Sätze geteilt. Die Gegenüberstellung zwischen Brasilien und Europa wird hier ein weiteres Mal betont. Es ist wichtig, diese Beziehung im Sinn zu haben, denn Wolf wird sie anders betrachten, wenn er über die Kolonisatoren, die auch Europäer waren, Auskunft gibt. «Europa», «Europäer» und «europäisch» wird acht Mal im ursprünglichen ‹Vorwort› erwähnt, in der französischen Fassung hingegen nur viermal. Zentral erscheint – und dies ist dann mehr als nur stilistisch –, dass Wolfs essentialistische Verbindung zwischen dem Land, dem Grund und Boden, und der «eigentümliche[n] Literatur» auf Französisch eine nüchterne wissenschaftliche Fassung bekommt. Das natürliche Element «Boden» wurde durch den Terminus «indigène» und «eigentümlich» wurde durch «national» ersetzt, was als

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Hinweis auf einen Unterschied zwischen den Denktraditionen und historischen Erfahrungen in Frankreich und Deutschland gelesen werden kann. Der Begriff des «Eigentümlichen» bezeichnet zunächst ein Eigentumsverhältnis, welchem der lateinische Begriff proprietas entspricht.10 In diesem historischen Zusammenhang haben Autoren wie Herder und Schlegel dem Wort einen weiteren Sinn zugeschrieben: Es bezeichnet nun den «selbständigen Charakter» eines Individuums, eines Volkes oder einer Nation im Unterschied zu den anderen.11 Somit wird das «Eigentümliche» auch als «Original» im Gegensatz zur Nachahmung verstanden. Aus diesem Grund steht das «Eigentümliche» im Kern von Wolfs Darstellung, vor allem im Hinblick auf die von ihm postulierte Autonomie der brasilianischen Literatur im Vergleich zum europäischen Muster: Eine ‹nationale Literatur› kann nur unter der Bedingung existieren, dass sie Ausdruck einer ‹nationalen Individualität› ist. Diese Idee wird von Wolf im Lauf seines Buches permanent wiederholt und ergänzt, sodass sein Argument nachvollziehbar wird. Die Naturbilder, hier etwa der «Boden», die typisch für den Deutschen Idealismus sind, werden genauso wie das Adjektiv «eigentümlich» in der Übersetzung nicht übertragen. Außerdem ist Wolfs Formulierung «fast völlig unbeachtet geblieben» durch eine Metapher ersetzt worden: «l’obscurité»: Nur in einer Beziehung ist Brasilien bis jetzt fast eine terra incognita für die Europäer geblieben: die auf dessen Boden entstandene und emporgewachsene eigenthümliche Literatur ist fast völlig unbeachtet geblieben und höchstens bruchstückweise als ein Anhang der portugiesischen in Europa bekannt geworden. (S. I) Sous un seul rapport le Brésil est resté jusqu’ici une terre inconnue aux Européens: sa littérature indigène et nationale est demeurée dans l’obscurité. C’est à peine si l’existence en a été révélée par quelques ouvrages sur la littérature portugaise, dont elle ne forme que l’appendice exigu. (S. VII)

10 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Online-Version (12.06.2019). 11 Ingeborg Nerling-Pietsch: Herders literarische Denkmale: Formen der Charakteristik vor Friedrich Schlegel. Münster: LIT 1997. «Die Frage nach dem Ganzen ist die nach dem Zusammenhang, nach dem ‹gemeinsamen Geist›, der alles Einzelne verbindet. Für diesen ‹gemeinsamen Geist› findet Schlegel im Forster-Aufsatz einen anderen Terminus: ‹das Eigentümliche›. Dass sich das ‹Eigentümliche› mir [sic] dem ‹gemeinsamen Geist› gleichgesetzt lässt, zeigt Schlegels Erläuterung des erstgenannten Begriffs: Das ‹Eigentümliche› eines Autors liege dort, wo alles lebt und auch im kleinsten Glieder der ganze Urheber sichtbar wird›», S. 11. Und weiter: «Das Ganze, der ‹gemeinsame Geist›, das ‹Eigentümliche›, das ‹Charakteristische›, oder der Charakter: Dies alles sind Synonyme für etwas, das man auch als den Mittelpunkt des Individuums bezeichne könnte [...]», S. 12.

3.1 Wolfs Begriff von Nationalliteratur

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Wolfs Feststellung, dass, genauso wie dem brasilianischen Kaiserreich ein Platz in der Weltgeschichte gehöre, auch der brasilianischen Literatur eine «selbstständige Stellung» in der «Geschichte der Nationalliteraturen» gebühre, wird ausdrücklich im dritten Abschnitt artikuliert. Wolfs Argumentation hängt mit dem Titel seines Werkes Geschichte der brasilischen Nationalliteratur zusammen, doch mit der Titeländerung im Französischen ist die Verweislogik nicht deutlich, und die Rechtfertigung der Perspektive scheint weniger kongruent. Und doch ist die Entwicklung der brasilischen Literatur, besonders in den letzten Jahrzehnders, in einem so bedeutenden Maße fortgeschritte{n}, daß man ihr nicht länger eine selbstständige Stellung, und daher die einer solchen zukommend Beachtung und Darstellung in der Geschichte der Nationalliteratur wird verweigern können. (S. II) Et pourtant la littérature du Brésil a fait de tels progrès, surtout depuis une trentaine d’années, qu’on ne peut lui refuser plus longtemps la place qui lui revient dans l’histoire des littératures nationales. (S. VII)

In diesem Abschnitt wird das Subjekt des Satzes, «Entwicklung der brasilischen Literatur» durch «la littérature du Brésil», ausgetauscht. Der Übersetzer fand vielleicht, dass «dévelopement» und «progrès» in einem Satz einer Dopplung entsprechen würden, oder es war ihm nicht besonders wichtig, wie bei Wolf, diese progressive Bewegung zu betonen. Das erklärt, warum sich der allgemeine Ausdruck «in den letzten Jahrzehnders» auf Französisch zu einem genaueren «depuis une trentaine d’années» geändert hat. Dreißig Jahre vorher, 1831, verließ Dom Pedro I. Brasilien und kehrte nach Portugal zurück. Sein Sohn Dom Pedro II. war noch ein fünfjähriges Kind, aber schon zum Thronfolger ernannt. 1840 wurde er vorzeitig mit vierzehn Jahren für volljährig erklärt und übernahm die Regierung. In diesen Details gründet Wolfs Preisung der imperialen Macht als Höhepunkt der brasilianischen historischen Entwicklung. Die Idee von «Entwicklung» ist hier fundamental, denn sie stellt einen ersten Bezugspunkt zur Hegelschen Geschichtsphilosophie dar. Reinhart Koselleck erklärt, inwiefern Hegel zum ersten Mal die Idee von Fortschritt als historischen Prozess versteht: [...] Hegel bevorzugte ‹Fortgang› oder ‹Fortschreiten›, besonders ‹Entwicklung› und speziell ‹Prozess›. Diese Ausdrücke waren eher geeignet, die Spannung zwischen Bewahren und Verändern – in Comtes Programm zwischen ordre und progrès – auf ihren Begriff zu Bringen. Denn nur wenn Wechsel und Dauer aufeinander bezogen werden, lässt sich etwas wie Fortschritt begreifen.12

12 Reinhart Koselleck: Fortschritt. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 403. Im Fall Brasiliens war genau

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Koselleck stellt fest, dass der Begriff des Fortschritts sowohl eine Verlaufskategorie, welche den Stufengang der Weltgeschichte im Unterschied zur sich ewig wiederholenden Natur, als auch ein «Strukturmerkmal für Geschichte selber» kennzeichnet.13 Im ersten Fall geht es darum, den Zweck der Weltgeschichte zu verwirklichen: «Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit».14 Das erklärt auch, warum Hegel sich einer «naturalen Entwicklungsmetaphorik» bedient, «etwa des Bildes vom Keim und der Frucht oder der Lebensalter, in denen sich die ‹Bildung des Bewusstseins› vollziehe».15 Bei Wolf sieht man ein ähnliches Verfahren: Der Einfluss der «physischen» auf die «psychische» Welt wird ständig betont, insofern als die Natur Brasiliens das kulturelle und politische Leben unmittelbar gestalte.16 In Hinblick auf den Vergleich der deutschen und französischen Versionen des oben zitierten Absatzes ist weiterhin zu bemerken, dass in beiden eine Vorstellung maßgeblich ist: Es gibt eine bestimmte Gemeinschaft, zu welcher Brasilien noch nicht gehört, an der es aber ab diesem Moment teilhat. Diese Gemeinschaft wird nicht explizit charakterisiert, doch gemeint ist der europäische kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Raum. Wolf behauptet, Brasilien sei keine Kolonie mehr, sondern ein unabhängiges Kaiserreich mit einer entsprechenden, selbstständigen Literatur. Er fragt sich dabei jedoch nicht, was eine Kolonie ausmacht, seine leitende Frage ist eher: Was macht ein Kaiserreich aus? Und aus diesem Grund kann er anscheinend problemlos Parallelen zwischen seinem idealen Bild eines Kaiserreiches bzw. dem Habsburgischen und dem imperialen Brasilien

die Spannung zwischen «Bewahren» und «Verändern» so konstitutiv, dass sie später, 1889, bei Ausrufung der Republik im positivistischen Motto der brasilianischen Flagge bewahrt wurde – selbst wenn auf der Flagge «progresso» eher im Sinne von Comtes Philosophie als im Sinne des hegelianischen «Verändern» steht. Für die brasilianischen herrschenden Klasse sollte der Fortschritt die Ordnung «bewahren», d. h. Fortschritt bezieht sich auf ein quantitatives wirtschaftliches Wachstum und nicht auf eine entsprechende qualitative Veränderung in der sozialen Struktur der «Ordnung». 13 Ebda., S. 405. 14 G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte [1822–1823]. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1994, S. 63. 15 Reinhart Koselleck: Fortschritt, S. 405. 16 Die Wechselwirkung zwischen dem «natürlichen» und dem «politischen» Leben lässt sich in einer Passage von Hegel im Rahmen seiner Philosophie des Geistes verstehen: «Die verschiedenen Volksgeister fallen im Raum und in der Zeit auseinander; und in dieser Rücksicht macht sich der Einfluss des Naturzusammenhanges geltend, des Zusammenhanges zwischen dem Geistigen und dem Natürlichen, dem Temperament usf. Gegen die Allgemeinheit des sittlichen Ganzen und seine einzelne handelnde Individualität gehalten ist dieser Zusammenhang ein Äußerliches; aber als der Boden auf dem sich der Geist bewegt, ist er wesentlich und notwendig eine Grundlage». G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte [1822–1823], S. 187.  

3.1 Wolfs Begriff von Nationalliteratur

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ziehen. Bei Wolfs historischem Ansatz wird der Übergang von kolonialen zu imperialen Zeiten als erfolgreich dargestellt. Die typischen Merkmale einer Kolonie, die die brasilianische Gesellschaft noch immer prägten und ihre Rolle in der Weltgeschichte auf die eines Ausbeutungsortes beschränkten, bleiben in Wolfs Geschichtserzählung, zugunsten einer Pointierung der emanzipatorischen Vorstellung, unerwähnt. In seinem teleologischen Denken hat Brasilien einen geschichtlichen ‹Höhepunkt› erreicht. Das Thema der Nationalliteratur wird ebenso im oben zitierten Absatz behandelt. Die Bedeutung des Begriffs der «Nationalliteratur» bei Wolf ist, nach seinem Freund Adolf Ebert,17 eng mit dem politischen Hintergrund in Deutschland/ Österreich verbunden. Es ging ihm um eine ‹patriotische› Reaktion gegen die napoleonische Herrschaft und die vermeintliche «Erniedrigung Deutschlands»: Die kulturelle und literarische Sphäre ermöglichte einen Raum für Freiheit, ohne jegliche Form von Unterdrückung. In dieser Sphäre konnte Deutschland «die erste Rolle auf der Weltbühne spielen». Adolf Ebert erklärt weiter: So betrachtet man also die Literatur, zunächst die eigne, als Ausdruck des nationalen Geistes; der Begriff der ‹Nationalliteratur› entwickelt sich, welches Wort Wachler zuerst in seinen Vorlesungen über die Deutsche Nationalliteratur 1818–1819 anwandte. Indem die deutsche Sprachforschung aber weiter schritt, wurden alle alten Denkmale vaterländischen Schrifttums ohne Rücksicht auf künstlerischen oder stilistischen Wert schon bloß als Quellen der Sprache von höchster Wichtigkeit. So trat bei uns in der Behandlung der Literaturgeschichte, und zunächst unsrer eigenen, an die Stelle des ästhetischen der historisch-philologische Standpunkt.18

Ebert ordnet Wolfs Leistung in eine generelle Tendenz der Wissenschaft zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein, und begründet damit dessen «historisch-philologischen Standpunkt». In Deutschland basiere die Entstehung der Nation nicht auf der Einheit des Staats und des Rechts, vielmehr ist hier für ihn die kulturelle Sphäre der Raum für die Konstruktion von Zusammengehörigkeit. Wie Reinhart Koselleck erklärt, vollzog sich die europäische Nationenbildung auf zwei verschiedene Arten: «die primäre, auf jeweils einer gens und der Ausbildung ihres politischen Bewusstseins beruhende, und die sekundäre, die in einem langwierigen Prozess mehrere gentes zusammenwachsen ließ».19 Anders als Frankreich oder England beruhe die Entstehung von Deutschland auf der sekundären Form,

17 Adolf Ebert: Ferdinand Wolf. Seine Bedeutung für die romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte, S. 271–305. 18 Ebda., S. 277–278. Hervorhebungen im Original. 19 Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/ Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe [1978]. Bd. 7. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 243–244.

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denn «Germania» war ein eher geographischer Begriff, das Gebiet wurde von den Römern nur teilweise erobert: [...] es hatte eben ein ‹deutsches›, auf die Germania begrenztes Volk mit politischem Zentrum innerhalb der Germania nicht gegeben [...]. Erst die Humanisten mit ihrer, wenn auch unhistorischen, Gleichung Germania = Deutschland haben eine Integrationswirkung des Wortes für einen größeren ‹gesamtdeutschen› Verband möglich gemacht.20

Koselleck sagt weiter in seiner umfassenden Darstellung, dass der Begriff «Volk» gegen Anfang des 19. Jahrhunderts politisiert wurde und den Vorrang gewann. Der alte, aus dem Lateinischen abgeleitete vorrevolutionäre Nationsbegriff, der für die Adelsnation stand, wurde allmählich vergessen und der neue aus dem Französischen abgeleitete Nationsbegriff konnte womöglich pejorativ verstanden werden. Koselleck betont die Doppelbedeutung von «Volk» als Spezifikum der deutschen Sprache, «weil in unserer Sprache seit der Widergabe der beiden Termini ‹peuple français› und ‹nation française› durch das eine Wort ‹Volk› zwei Begriffe für das nationale Phänomen zur Verfügung stehen».21 Der Begriff von «Nation» bezog sich im Wesentlichen auf eine adlige Elite, und wandelte sich in postrevolutionären Zeiten: Die Entstehung einer neuen Elite, die sich als «Volk» verstand, prägte den Begriff mit einer anderen neuen Bedeutung.22 Auf dieser Basis war es durchaus nötig, die Verbundenheit zwischen den deutschen König- und Fürstentümern anhand einer gemeinsamen Sprache sowie gemeinsamer Gebräuche und Mythen zu legitimieren. Hier spielt die philologische und historische Forschung die zentrale Rolle.23 Wolf war also daran beteiligt, diese Vergangenheit geschichtlich und literaturwissenschaftlich zu erschaffen.24 20 Ebda., S. 243. 21 Ebda., S. 240. 22 Ebda., S. 237. Eric Hobsbawm kennzeichnet die Zeit zwischen 1830 und 1880 als «the era of triumphant bourgeois liberalism» (S. 39). Der Begriff «Nation» erlangte in diesem Kontext seinen modernen Sinn, d. h. er wurde im politischen Diskurs verwendet, um «‹the people› and the state in the manner of the American and the French revolutions”, mit «centralizing and unitary implications» (S. 18) gleichzusetzen. Er erklärt weiter: «The ‹nation› so considered, was the body of citizens whose collective sovereignty constituted them a state which was their political expression. For, whatever else a nation was, the element of citizenship and mass participation or choice was never absent from it», S. 18–19. Eric Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1870: Programme, Myth, Reality [1990]. Cambridge: Cambridge University Press 2000. 23 Eric Hobsbawm: The Age of Revolution 1789–1848, S. 286. 24 Ebert stellt auch in diesem Aufsatz fest: «Dasselbe nationalliterarische Interesse zog in derselben Zeit Wolf zu der portugiesischen Literatur Brasiliens», S. 295. Mit diesem Satz verbindet Ebert Le Brésil littéraire mit Wolfs vorherigen Studien vor allem über spanische Literatur, in welchen er immer «einen Sinn für das Volksmäßige und Nationale» suchte (S. 286). Adolf Ebert: Ferdinand Wolf. Seine Bedeutung für die romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte.  

3.1 Wolfs Begriff von Nationalliteratur

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Doch als Beamter bei einer kaiserlichen und königlichen Institution hat Wolf auch im Sinn, die Vorherrschaft des Habsburgerhauses mittels dynastischer Verbindungen zu festigen. Das Wort «national» in Wolfs Titel Geschichte der brasilischen Nationalliteratur sollte also im Kontext des deutschen semantischen Feldes verstanden werden, das oben kurz charakterisiert wurde. Damit verknüpfen sich Begriffe wie etwa «eigentümlich», «Volksgeist», «volksmäßig», welche in der französischsprachigen Form eine völlige andere Bedeutung haben. Die daraus entstehenden semantischen Brüche oder Friktionen werden auf den nächsten Seiten gezeigt.25 Man kann vermuten, dass bei Wolfs Studie über Brasilien eine Idee von Weltliteratur (nicht im Sinne Goethes)26 im Hintergrund steht. Doch während Wolf den Begriff der «Nationalliteratur» im Titel und an weiteren vierzehn Stellen des hier

25 Als illustratives Beispiel folgt ein Auszug des Eintrags zu Nationalliteratur aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie: «Der Begriff Nationalliteratur begegnet in der Literaturwissenschaft erstmals in der Aufklärung [...]. Meister versteht unter Nationalliteratur die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Sprache und Dichtung vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, wobei Nation im Sinne von Volk aufgefasst wird». Die begriffliche Herausbildung von ‹Nationalliteratur› verbindet sich mit nationaler Identität und patriotischer Tradition. In der Frühaufklärung wie etwa bei Gottsched geht es darum, die deutsche Literatur «in ihrem Eigenwert von der französischen Dichtkunst abzugrenzen». Während der Romantik kritisiert etwa Schlegel «eine autonome Nationalpoesie» und plädiert für die Erforschung «aller nationalgeprägter Schattierungen», was eine «europäische Bildung» und eine «einheitliche europäische Poesie» ermöglicht. Die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wird von diesen Idealen geprägt. Der von Ebert erwähnte Wachler wollte mit diesem Begriff «die vaterländische Gesinnung seiner Leser festigen». Bei ihm, genauso wie bei anderen wie Koberstein, Hillebrand, Gervinus, «gilt Literaturgeschichtsschreibung als nationales Anliegen». [Art.] Nationalliteratur. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6, S. 415. 26 Als Goethe Anfang des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal den Begriff der Weltliteratur im letzten Heft seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum verwendete, bezog er sich hauptsächlich auf die neu entstandenen sozialen und ökonomischen Bedingungen seiner Zeit, die es erlaubten, Grenzen zu überschreiten, um den wechselseitigen Austausch zwischen europäischen Intellektuellen hinsichtlich des Projekts einer universalen Bildung und nicht zuletzt eines kosmopolitischen Bewusstseins zu fordern. Zwar lag die Idee einer Weltliteratur schon vor 1830 in der Luft, als die genannte Ausgabe von Goethes Zeitschrift erschienen ist, doch setzte Goethe den Begriff in einem anderen Sinn um, indem er weder die Etablierung eines «Kanon weltweit und überzeitlich gültiger literarischer Werke» noch die «Summe der Literatur aller Völker und Zeiten» berücksichtigt wissen wollte. In diesem Sinne hat der Terminus bei Wolf wenig mit der Begriffsverwendung bei Goethe zu tun. Anne Bohnenkamp: «Den Wechseltausch zu befördern»: Goethes Entwurf einer Weltliteratur. In: Johann Wolfgang von Goethe. Ästhetische Schriften 1824–1832: Über Kunst und Altertum V–VI. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 938.

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verwendeten Korpus nutzt, erscheint der Begriff «Weltliteratur» nur ein einziges Mal.27 Allein dieser quantitative Vergleich zeigt, welcher Begriff im Mittelpunkt seiner Perspektive über die Literaturgeschichtsschreibung steht. Im letzten Abschnitt seiner Studie stellt Wolf fest: [...] Aus diesem Versuch einer Geschichte der brasilischen Literatur – so unvollkommen und lückenhaft er auch sein mag – wird sich wenigstens soviel mit Gewißheit ergeben haben: daß die brasilische Literatur nicht nur auf den Namen einer eigenthümlichen, nationalen, und als solche auf Beachtung und eine Stelle in der Weltliteratur Anspruch machen kann, sondern auch daß sie, insbesondere in der letzten Periode, nach allen Richtungen sich entfaltet und in den Hauptzweigen bereits Anerkennenswerthes aufzuweisen hat. (S. 364) Quelque imparfait que soit cet essai, le lecteur pourra en tirer avec certitude les résultats suivants: La littérature brésilienne peut prétendre à bon droit à être regardée comme vraiment nationale; en cette qualité elle a sa place marquée dans l’ensemble des littératures du monde civilisé; enfin, dans la dernière période surtout, elle s’est développée dans toutes les directions et a produit dans les principaux genres des œuvres dignes de l’attention de tous les amis des lettres. (S. 242)

Bei Wolf ist die Bedeutung von Weltliteratur mithin folgendermaßen gefasst: Die Nationalkulturen sind voneinander zu unterscheiden, die Gesamtheit der Nationalliteraturen konstituiere dann die Weltliteratur. Die Teile (Nationalliteraturen) des Gesamten (Weltliteratur) seien zudem «organisch» miteinander verbunden. Dieses Verhältnis bringe ein «Ganzes» hervor. «Weltliteratur» wird hingegen als «l’ensemble des littératures du monde civilisé» übersetzt. Auf Französisch bezieht sich das Wort «ensemble» nicht unbedingt auf den Anspruch des deutschen Idealismus nach Totalität. «L’ensemble des littératures du monde civilisé» setzt kein Verhältnis zwischen den Literaturen voraus, sie sind bloß nebeneinander grup-

27 Das Wort «Weltliteratur» taucht hingegen schon im ersten Absatz von Wolfs Eintrag über brasilianische Literatur im Konversationslexikon auf: «Von einer brasilischen Literatur, abgesondert von der portugiesischen, zu sprechen, ist man gegenwärtig nicht nur berechtigt, sondern auch genöthigt, da ihre selbständige Entwicklung, besonders in neuester Zeit, solche Fortschritte gemacht hat, dass sie auf einen eigenen Platz in der Weltliteratur Anspruch machen kann. Allerdings war sie ursprünglich nur ein aus Portugal verpflanztes Reis, das sich kümmerlich fortbrachte; aber im Laufe der Zeit hat es sich in dem üppigen Boden der Neuen Welt und unter der tropischen Sonne immer eigenthümlicher gestaltet, immer reichere Blüten und genuinere Früchte hervorgebracht.» Eigene Hervorhebungen. Es ist in diesem Abschnitt ein Wortschatz ähnlichen dem der Geschichte der brasilischen Nationalliteratur zu bemerken. Ferdinand Wolf: Die brasilische Literatur. In: Unsere Zeit. Jahrbuch zum Conversations-lexikon 8 (1864), S. 634–642. Eigene Hervorhebungen.

3.1 Wolfs Begriff von Nationalliteratur

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piert. Die französische Übersetzung lässt dabei das Adjektiv «eigentümlich», wie fast immer, ganz wegfallen, während Wolf das Wort häufig nutzt. Das folgende Zitat aus dem ‹Vorwort› ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Es handelt sich um Wolfs Geschichtsbild einer impliziten Machtteilung in Europa. Dieses lässt sich im Subtext seines Lobes an «Deutschland» und in der von ihm zugeschriebenen Bedeutung der kaiserl. kgl. Hofbibliothek in Wien entnehmen, die er als die größte und reichste Europas betrachtet. Daß diese Berücksichtigung ihr in Europa, und namentlich in Deutschland, trotz dessen Streben nach Universalität, bis jetzt noch nicht {Zuteil} geworden ist, liegt wohl großentheils in dem Mangel an Material und Hilfsmitteln. Denn wie gering ist selbst in den größten Bibliotheken Europas der Vorrat an Werken der brasilischen Nationalliteratur, wie schwierig ist es, sich solche zu verschaffen! Nicht einmal durch Übersetzung war diesem Mangel abzuhelfen, da die Brasilier selbst bis jetzt noch keine vollständige, bis auf die neueste Zeit herabreichende Geschichte ihrer Literatur besitzen. (S. II) Ce qui fait que cette littérature n’a pas encore attiré l’attention, même en Allemagne, ce pays universel, c’est probablement que les sources et les matériaux en sont trop inaccessibles. Les bibliothèques européennes les plus riches possèdent à peine les œuvres des principaux auteurs brésiliens; et quelle difficulté n’y a-t-il pas à se les procurer! On ne pouvait pas même remédier à cette lacune en traduisant quelque histoire littéraire, car les Brésiliens n’en possèdent aucune, qui aille jusqu’à nos jours. (S. VII–VIII)

Aus Wolfs Sicht besteht ein großer Unterschied in der Hierarchisierung verschiedener Kulturen, die eine entsprechende Beteiligung in der oben erwähnten «Gesamtheit» haben. Auffallend ist die doppelte Bewegung der diskursiven Konstruktion eines Bildes von Nation: Indem Wolf Brasilien zu definieren versucht, charakterisiert er Deutschland/Österreich durch deren «Streben nach Universalität». Der Fluchtpunkt zwischen Brasilien und Deutschland findet sich in Wolfs elitärer, konservativer Weltanschauung, deren deutlichster Ausdruck seine Literaturgeschichte ist. Wolf repräsentiert die hegemonialen Ansprüche des Habsburgerhauses, diese Selbstdarstellung als Wahrheit zu verbreiten. Wolfs ideologische Haltung, die in diesem vierten Absatz des ‹Vorworts› zu lesen ist, wiederholt sich im ganzen Werk und bildet ein zentrales Element seiner Argumentation für die Entstehung einer brasilianischen Literatur, wie auf den nächsten Seiten gezeigt wird. In seinem ‹Vorwort› beleuchtet Wolf zudem die Entstehung seines eigenen Zugangs zu brasilianischen Werken. Wolf nutzte für die Ausarbeitung seiner brasilianischen Literaturgeschichte eine Vielzahl an Quellen und studierte die bestehende Literatur über das Land aufmerksam. Er betont im folgenden Abschnitt die zentrale Rolle der kaiserl. kgl. Hofbibliothek, welche ihm Zugang zu einem im Europa seiner Zeit einzigartigen Bestand brasilianischer Werke ermöglichte. Wien ist

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in Wolfs Darstellung die Hauptstadt Deutschlands – und eben auch Europas. Die von ihm behauptete kulturelle Vormacht des Habsburgischen Kaiserreiches wird etwa durch den Erfolg der Novara-Expedition nach Rio de Janeiro und die Verdienste von Johann Jakob von Tschudi möglich, die beide großen Einfluss auf die Entstehung des Werkes hatten. Die k. k. Hofbibliothek in Wien hat aber in diesen letzten Jahren einen nicht unbedeutenden Vorrath von Werken der brasilischen Literatur erworben, theils durch die Expedition der k. k. Fregatte Novara, indem sie ein Mitglied derselben, Hrn. Ferdinand Ritter von Hochstetter, ersucht hatte, seinen Aufenthalt in Rio de Janeiro dazu zu benützen, für sie solche Werke anzukaufen; theils durch die gütige Verwendung des Hrn. Johann Jakob von Tschudi, der während seines jüngsten Aufenthaltes in Brasilien sowohl durch Ankauf als {auch} durch Geschenke diesen Vorrath noch zu vermehren suchte. (S. III) La bibliothèque impériale de Vienne a reçu depuis quelques années un nombre assez considérable d’ouvrages brésiliens. Un des passagers de la frégatte [sic] Novara, M. le chevalier Ferdinand de Hochstetter avait été chargé par cet établissement de profiter de son séjour à Rio de Janeiro pour acheter des livres brésiliens. En outre M. Jean Jaques de Tschudi a eu la bonté de chercher à augmenter cette collection pendant son séjour au Brésil, soit par des achats, soit par les dons nombreux qui lui ont été faits. (S. VIII)

Im französischen Text fällt auf, dass die Verbindung der Fregatte Novara mit der gleichnamigen vom habsburgischen Kaiserreich unternommen Expedition beiseitegelassen wurde. Die Verwendung des Wortes «Expedition» ist zentral: Hochstetter war ein «Mitglied» der Expedition, was seine offizielle Rolle und dementsprechend seine wissenschaftliche Aufgabe andeutet. Wenn «Expedition» im französischen Text gestrichen wird, wird Hochstetter bloß «passager» der Fregatte, der den Auftrag hatte, Bücher in Rio de Janeiro für die Bibliothek zu kaufen. Außerdem verweist «Expedition» auf alle früheren Expeditionen nach Brasilien und setzt einen kolonialen Bezug voraus. Genau wie die anderen Forschungsgebiete, die Wolf im ersten Abschnitt erwähnt, lässt sich auch die Literatur eines Landes dank einer Expedition besser kennenlernen. In der Übersetzung wird dieses imperiale Unternehmen mit expansionistischen Ansprüchen nicht einmal mit Österreich verknüpft: Die Abkürzung «k. k.», die die Bibliothek und die Expedition kennzeichnen, wird nur im ersten Fall beibehalten. Wolfs ‹Vorwort› dient vor allem dazu, eine Reihe von Umständen und Personen aufzulisten, die zur Entstehung des Buches beigetragen haben. Doch die Erwähnung dieser Namen hat eben auch eine andere Funktion: Sie soll die diplomatischen Bündnisse zwischen den Parteien, Deutschland/Österreich und Brasilien, festigen. Indem er sich bei vielen Menschen bedankt, stehen diese Menschen künftig in seiner Pflicht. Im folgenden Abschnitt zitiert er die Namen der drei brasilianischen Diplomaten im Dienst von Kaiser Pedro II. in Wien. Im Original ergänzt er seinen Text mit einer wiederholten Danksagung an Tschudi.

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Hierzu kam noch, daß ich so glücklich war, die persönliche Bekanntschaft so ausgezeichneter brasilischer Schriftsteller, wie der Hrn. Domingos José Gonçalves de Magalhães, Manoel de Araújo Porto-Alegre und Ernesto Ferreira França, zu machen, die nicht nur durch Mittheilung von Materialien mich unterstützten, sondern auch durch ihren Rath meine Studien leiteten; wofür ich ihnen hier meinen besten Dank auch öffentlich auszusprechen, mich verpflichtet fühle. [Nicht minder hat Hr. v. Tschudi sich Anspruch auf meinem Dank erworben, der ebenfalls durch Mittheilungen aus seiner eigenen Büchersammlung und aus dem reichen Schatz seiner Kenntnisse mir wesentliche Dienste leistete.] (S. III) Ajoutons à cela que j’ai eu le bonheur de faire la connaissance de plusieurs écrivains distingués du Brésil. Je veux parler de MM. Domingos José Gonçalves de Magalhães, Manoel d’Araújo Porto-Alegre et Ernesto Ferreira França, qui m’ont fourni des matériaux de tout genre et m’ont aidé de leurs conseils. Je leur en exprime ici publiquement ma reconnaissance, ainsi qu’à M. de Tschudi qui, non content de mettre à ma disposition sa riche bibliothèque, a ouvert pour moi le trésor inépuisable de son érudition. (S. VIII)

Fundamental ist hier die Rolle der Brasilianer, denn sie «leiteten» Wolfs «Studie». So eine Aussage kann Missverständnisse wecken, selbst die Originalität von Wolfs Beurteilungen könnte dadurch in Zweifel geraten. Vielleicht wurde dieser Satz deswegen im französischen Text entfernt. Auch Wolfs pathetischer Ton wird aufgrund des Adverbs «so» im verstärkenden Sinne von «überaus» oder «maßlos» nicht übertragen. In dem Zusammentreffen dieser günstigen Umstände glaubte ich eine Aufforderung zu finden, die erwähnte Lücke in der Geschichte der Nationalliteraturen auszufüllen. Ich habe es daher versucht, eine Geschichte der brasilischen Literatur zu schreiben, und damit eine reichere Auswahl von Proben aus den Werken der besprochenen Autoren verbunden, theils wegen der bemerkten Seltenheit dieser Werke in Europa, theils um den Leser in den Stand zu setzen, sich ein selbständiges Urtheil zu bilden. (S. IV) Telles sont les circonstances qui m’ont engagé à remplir la lacune importante que j’ai signalée dans l’histoire littéraire. J’ai essayé de raconter le développement des lettres au Brésil. J’ai joint à mon récit une anthologie des œuvres des écrivains dont j’ai parlé. Ce qui m’a décidé à le faire c’est d’abord la rareté de ces ouvrages, puis le désir de permettre au lecteur de juger par lui-même. (S. VIII–IX)

In diesem Abschnitt fällt die Betonung auf, mit der Wolf jene ‹Verpflichtung› charakterisiert: Zum einen gegenüber der Wissenschaft, damit die «Lücke in der Geschichte der Nationalliteratur» gefüllt werde, zum anderen gegenüber der Leserschaft. Im französischen Text wird das Wort «Nationalliteratur» durch «littérature» ersetzt. Auch die Konjunktionen zwischen Worten und Sätzen (wie etwa «daher», «damit», «wegen», «um ... zu») werden im französischen Text gestrichen, sodass in der Übersetzung eine Folge von Aussagen nacheinander gereiht

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wird, ohne dass sich eine logische Verbindung zwischen ihnen ergibt. Auch das Adjektiv «günstig», das die von Wolf oben dargestellten Umstände der Entstehungsgeschichte des Buches zusammenfasst, wird nicht übertragen, das Adjektiv «reichere» ebenso wenig. Allerdings werden zwei neue Wörter im französischen Text eingeführt: «importante» und «désir». Deutlich geht es in der Übersetzung um eine Verbesserung der Fokussierung auf ein allgemeines Publikum, das nicht nur Europa miteinbezieht, sondern wohl auch Brasilien. Der letzte Absatz bezieht sich ebenfalls auf die Leserschaft, und liefert weitere wichtige Informationen: Wolf sagt, er habe sich drei Jahre lang mit der Verfassung des Buches beschäftigt, sei nie in Brasilien gewesen und seine Arbeit sei das «erste» und «einzige» Buch über das Thema in Europa.28 Obwohl diese Informationen in der französischen Fassung wiedergegeben sind, ist die Art und Weise, wie sie ausgedrückt werden, völlig anders. Nicht nur wegen der Kürzungen, sondern auch wegen einer Änderung im Ton. Im deutschen Text charakterisieren bestimmte Ausdrücke Wolfs hyperbolischen Redestil, was im Französischen nicht der Fall ist, wie etwa: «dem Ermessen kompetenter Richter überlassen», «mein Buch ... mehr als einen Lückenbüßer»: Ich muß es dem Ermessen Competenter Richter überlassen, ob sie diesen Versuch für gelungen, ob sie mein Buch – die Frucht dreijähriger Arbeit, für mehr als einen Lückenbüßer wollen gelten lassen; billige werden dabei in Anschlag bringen, daß es unter den gegebenen Verhältnissen, unter denen nicht der geringste Nachtheil der ist, daß ich Land und Volk nur aus Büchern kenne, in mehr als einer Hinsicht mangelhaft und unvollständig ausfallen mußte. Jedenfalls hat es das, freilich nur relative Verdienst, das erste und bis jetzt einzige über diesen Gegenstand in Europa erschienene Werk zu sein. (S. IV) C’est aux lecteurs à juger cet essai, fruit de trois années d’un travail opiniâtre. Je les prie seulement d’avoir égard à ce que diverses circonstances et surtout le fait que l’auteur ne connaît le Brésil que par les livres ont dû le rendre plus ou moins défectueux et incomplet. Mon ouvrage a dans tous les cas le mérite relatif d’être le premier et le seul qui ait paru en Europe sur ce sujet. (S. IX)

28 Wolf bezieht sich immer auf die künftige Wirkung seines Buches in Europa, denn er ist sich darüber bewusst, dass Joaquim Norberto bis 1861 viele Artikel von seiner geplanten História da literatura brasileira in brasilianischen Zeitschriften veröffentlichte, dann jedoch das Projekt aufgibt. Diese Artikel, darauf weist Wolf widerholt in den Fußnoten hin, galten als Grundlage für Wolfs Studie über Brasilien. Es bleibt aber offen, ob Wolf das Buch Curso elementar de literatura nacional des brasilianischen Autors Joaquim Caetano Fernandes Pinheiro kannte. Vgl. Roberto Acízelo de Souza: Identidade national e história da literatura: a contribuição de Joaquim Norberto, S. 9–22.

3.1 Wolfs Begriff von Nationalliteratur

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In der französischen Fassung folgt nach dem ‹Vorwort› ein Verzeichnis, eine ‹Table des chapitres›, des ersten Teils und eine ‹Table des morceaux tirés des meilleurs auteurs brésiliens›, d. h. ein Inhaltsverzeichnis des zweiten Teils. Im Original beginnt direkt nach dem ‹Vorwort› die ‹Einleitung›. Aus dem bisherigen Vergleich der deutschen mit der französischen Fassung sind drei Hauptaspekte in Bezug auf die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire und den Übersetzungsprozess ersichtlich. Zunächst ist festzuhalten, dass Wolf im Manuskript zwar auf die künftige Übersetzung ins Französische verweist, den Namen des Übersetzers aber nicht erwähnt. Außerdem ist im Manuskript keine Widmung zu lesen, sie erscheint nur in der gedruckten Fassung. Vielleicht hatte Wolf ursprünglich nicht die Absicht, das Buch jemandem zu widmen. Er musste dafür die Genehmigung bei der kaiserl. kgl. Hofbibliothek beantragen und danach die Erlaubnis des Kaisers Pedro II. erhalten, bis er die Widmung umsetzen durfte. Das ist ein Beleg dafür, dass das Buch ursprünglich nicht von der brasilianischen Regierung finanziert oder im Auftrag der brasilianischen Regierung verfasst wurde. Es ist im Gegenteil anhand des Manuskripts erkennbar, dass Wolfs literaturpolitische Agenda und deren expansionistische Ansprüche von größerer Bedeutung für die Entstehungsgeschichte des Buches waren. Zweitens lässt sich eine Parallele zwischen stilistischen und inhaltlichen Veränderungen feststellen. Wolfs hyperbolischer Ton, seine langen und verschachtelten Sätze, die die Überlegenheit der deutschen Sprache vergegenständlichen sollen, werden im Französischen durch eine einfache und nüchterne Sprache ersetzt, die Wolfs imperiale Haltung deutlich reduziert. Selbst wenn seine eurozentrische Perspektive in der Übersetzung erhalten ist, wird sie doch abgemildert. Somit wird im französischen Text der Gegensatz zwischen Brasilien und Europa nicht offensichtlich und passt besser zu Wolfs eigener Rede von der gleichen Stellung der habsburgischen Reiche in Europa und Amerika. Schließlich beruht Wolfs Geschichtsauffassung auf einer begrifflichen Konstellation, die nicht vollständig übersetzt wurde. So steht etwa der Begriff «national» im deutschen Text im engen Verhältnis zu «eigentümlich», «Boden», «selbständige Stellung» und «Entwicklung». Die Gesamtheit dieser Begriffe und ihre Verweislogik ruft das philosophische System des Deutschen Idealismus auf. Doch die Übersetzung verändert dies. Die Bedeutung von «national» im französischen Text entspricht nicht der des Originals, sondern evoziert «national» vielmehr in der nicht essentialistischen Bedeutung, die im französischen sprachlich-kulturellen Kontext üblich ist.  

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

3.2 Sprache und Denken des Deutschen Idealismus In der ‹Einleitung› beschäftigt sich Wolf zunächst mit der «Begriffsbestimmung und den daraus sich ergebenden Epochen der brasilischen Literatur», dann mit der Auflistung der untersuchten Werke. Zunächst stellt Wolf Vermutungen über den Ursprung der brasilianischen Literatur an und zeichnet ihre Entwicklung nach. Dabei folgt er einer Epocheneinteilung, die die Gesamtheit eines «Entwicklungsprozesses» nachvollziehbar machen soll. Wie schon in der Analyse vom Wolfs ‹Vorwort› festgehalten wurde, ist Wolfs Begriff von «Nationalliteratur» nicht deckungsgleich mit dem Begriff «Nationalstaat». Wolf datiert denn Beginn der brasilianischen Literatur auf die koloniale Zeit, auch wenn der brasilianische Staat erst nach der Unabhängigkeit von Portugal 1822 gegründet wurde. Wie auch anhand des einzigen Briefs des Übersetzers Van Muyden nachvollzogen werden kann, ging es Wolf in der ‹Einleitung› darum, auf welche Weise sich die brasilianische Literatur aus der portugiesischen entwickelt habe. In seiner Epocheneinteilung konstruierte Wolf eine zusammenhängende Reihenfolge von Geschehnissen der kolonialen Geschichte, aus der sich der vermeintliche ‹National-Charakter der Brasilier› ‹entwickelt› habe. Den portugiesischen «Eroberern» seien die «Siedler» nachgefolgt, denen sich die «Eingeborenen» portugiesischer Abstammung angeschlossen haben: Wenn man von einer brasilischen Literatur spricht, so kann man nur die darunter verstehen, welche von den portugiesischen Eroberern [Brasiliens] mitgebracht und eingeführt; – von ihren sich dort festsetzenden Nachfolgern, den Colonen, in Verbindung mit dem Mutterlande in der Sprache desselben unterhalten und cultiviert; – und endlich von deren immer unabhängiger vom Mutterlande werdenden Nachkommen, den Eingeborenen portugiesischer Abstammung auch immer selbstständiger und eigenthümlicher entwickelt wurde. (S. 1) C’est à bon droit qu’on peut parler maintenant d’une littérature brésilienne. Les premiers éléments littéraires cependant ont été apportés au Brésil par les conquérants portugais. Les colons, leurs successeurs, restés en relation avec la métropole et se servant de sa langue, continuèrent à les cultiver. Ils ont enfin été développés avec une indépendance toujours plus grande par les Brésiliens natifs d’origine portugaise, à mesure qu’ils s’émancipaient euxmêmes davantage de la mère-patrie. (S. 1)

Für Wolf ist die Literatur in Brasilien ein Import aus Europa. Er stellt dies als einen friedlichen Austausch dar: Während Brasilien Rohstoffe und Naturprodukte nach Europa geliefert habe, seien Literatur und die portugiesische Sprache aus Europa nach Brasilien gekommen. Die sogenannten Kulturprodukte des ‹zivilisierten› europäischen Lebens werden als so natürlich wie die Natur selbst dargestellt, sodass sie auch auf «tropischem Boden gedeihen» können. In Wolfs Sprache ist die essentialistische Verbindung von Natur und Kultur nachvollziehbar. Obwohl die

3.2 Sprache und Denken des Deutschen Idealismus

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Entstehung der brasilianischen Literatur sich aus einem breiten Spektrum an Einflüssen entwickelt habe, betont Wolf die Vorstellung, dass sie auf brasilianischen Boden «cultiviert» werde, sodass sich ihre «Wurzeln» verzweigen könnten – analog zu den Menschen, die Nachfahren der «Eroberer» oder «Siedler» waren, die schließlich «Eingeborene» in Brasilien geworden seien. In der Darstellung von Wolf habe sich auf diese Weise nach der «Einwanderung» portugiesischer Siedler eine «eigenthümliche» Bevölkerung in Brasilien entwickelt, die aus «Eingeborenen portugiesischer Abstammung» bestehe. Es fällt auf, dass die autochthone Bevölkerung Brasiliens ausdrücklich davon ausgeschlossen wird. Wolf reproduziert hier eine in seiner Zeit verbreitete Vorstellung, dass die Kolonien ein «Zweig» Europas seien. Dies entspricht Hegels Vorstellung im Teilkapitel ‹Die Neue Welt› in seiner Studie Vernunft in der Geschichte: Er beschreibt dort «Kreolen» als «ein Volk aus Eingeborenen und europäischen Blute, das dort einheimisch» sei.29 Solch eine Vorstellung festige den Anspruch der «eingeborenen» Nachkommen europäischer Siedler auf die ehemaligen Kolonien. Wolf thematisiert Fragen von Herkunft in seinem gesamten Werk immer wieder. Schon in der ersten Fußnote der ‹Einleitung› formuliert er, wie akribisch brasilianische Gelehrte wie etwa Francisco Adolfo de Varnhagen die Frage der «wahren Nationalität der Brasilier» untersucht hätten. Dabei markiert Wolf eine Kontinuität: Die europäische Sprache, das Portugiesische, und die europäische Bevölkerung, die Portugiesen, «entwickelten» sich außerhalb von Europa weiter. Auf der anderen Seite wird ein Element des Bruches hervorgehoben: Der «Boden» sei ein anderer, sodass die ehemals portugiesische Bevölkerung wie die Literatur in diesen neuen Nährboden «eingepflanzt», d. h. «cultiviert» werden müsse. Diese eurozentrische Sicht, die die autochthone Bevölkerung ausdrücklich ausschließt, wird markant formuliert:  

Denn die Ureinwohner, die indischen Stämme Brasiliens haben, wie alle Wilden, nie eine eigentlich literarische Cultur erreicht, und höchstens ihren Sinn für Poesie, ihre dichterischen und musikalischen Anlagen in lyrisch-epischen Gesängen, in religiösen, Kriegs-tanzund anderen volksmäßigen Liedern bethätiget; [könnten daher nur diese als die einzigen originellen Producte] in ihren indigenen Sprachen aufweisen. (S. 1) Les indigènes en effet n’ont jamais eu de culture littéraire proprement dite. C’est tout au plus si par certains poèmes à la fois épiques et lyriques, par des hymnes religieux ou guerriers, soit enfin par de simples mélodies destinées à régler leurs danses, ils ont donné carrière à leurs instincts poétiques et musicaux. Telles doivent être les seules productions que présentent les dialectes indigènes. (S. 1)

29 G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. S. 201.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Wolf ordnet die autochthone Bevölkerung Brasiliens in die Kategorie von vermeintlich «Wilden» ein, die über keine «literarische Kultur» verfügten. Die Tatsache, dass sie ihre Hymnen und Gesänge nicht schriftlich aufzeichneten, und diese oralen Traditionen eine andere Funktion in ihren Gesellschaften hatten, erachtet Wolf nicht als Beitrag zur Entstehung der brasilianischen Literatur. In der Bezeichnung «Ureinwohner» wird deutlich, dass Wolf die Vielfalt der in Brasilien ansässigen autochthonen Gesellschaften nicht berücksichtigt. Seit der Ankunft der Portugiesen an der amerikanischen Küste war diese Vielfalt bekannt und im Laufe der Zeit wurde sie noch ausführlicher von europäischen Ethnographen erforscht, wie Wolf selbst im ‹Vorwort› erwähnt – indes ohne Folgen für seine eigene Argumentation. Im Französischen fällt auf, dass Wolfs pejorative Bezeichnung «Wilde» durch das neutralere «indigènes» ersetzt wurde. Mehr noch: Auch die pejorative Verallgemeinerung «wie alle» fällt weg. Wolfs Wortwahl signalisiert nicht nur seine Vorurteile, sondern markiert auch seine Vorstellung, dass jedes «Volk» verschiedene Stadien im Prozess seiner historischen Entwicklung zu überwinden habe. Dies ist in der Übersetzung getilgt. Doch die französische Fassung ist nicht frei von pejorativen Vorstellungen, wenn sie die Sprachen der autochthonen Bevölkerung Brasiliens mit dem Begriff «dialectes» zusammenfasst, die nicht den Status einer «richtigen Sprache» besäßen. Darüber hinaus wird den «indigènes» allein der Ausdruck eines musikalischen und dichterischen «instincts» zugestanden, ein Wort, das bei Wolf gar nicht vorkommt. Auffällig bei Wolf ist das Adjektiv «volksmäßig», welches in direkter Verbindung zum «Volksgeist» steht. Der Begriff von «Volksgeist» wurde bei Hegel30 erstmals systematisch ausgearbeitet: Der Geist ist wesentlich Individuum; aber in dem Elemente der Weltgeschichte haben wir es nicht mit Einzelnem oder mit der Beschränkung und dem Zurückgehen auf die partikulare Individualität zu tun. Der Geist in der Geschichte ist ein Individuum, das allgemeiner Natur,

30 [Art] Volksgeist, Volksseele. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11, S. 1103. Der Begriff «Geist des Volks» wird im Deutschen von J. G. Herder zum ersten Mal verwendet. Er nahm Bezug auf Montesquieus esprit général (Klima, Religion, Sitten und Lebensstil), welcher die Grundlage für die Staatsgesetze bilden soll. Bei Herder hat der «Geist des Volks» die «Äquivalente: «Charakter des Volks», «Nationalcharakter», «Nationalgeist». «Die Zwiespältigkeit des Herderschen Volksgeistbegriffs, einerseits angeboren und ‹unauslöschlich›, andererseits ‹sich erzeugend› zu sein, zeichnet nachfolgende die Auseinandersetzungen, namentlich zwischen Hegelschule und Historischer Rechtschule, vor». Ich gehe davon aus, dass Wolf sich auf die hegelianische Fassung des Begriffes bezieht.

3.2 Sprache und Denken des Deutschen Idealismus

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dabei aber ein bestimmtes ist, d. h. ein Volk überhaupt; und der Geist, mit dem wir es zu tun haben, ist der Volksgeist.31  

Bei Hegel regiert der Geist die Weltgeschichte.32 Er kann aber nicht aus Beschränkungen entstehen, die auf das Einzelne zurückgreifen. Dennoch ist der Geist selbst Individuum, doch ein Individuum von allgemeiner Natur, der seinen partikularen Ausdruck im «Volk» finde. «Volksgeist» ist also in diesem Denken ein konstitutives Element. Der doppelte Charakter des Geistes als individuell und allgemein kennzeichnet seine Bewegung in der Geschichte, welche sich nur dialektisch verstehen lässt: Zum einen erscheint der Geist als «Volksgeist», zum anderen gilt der «Volkgeist» als wesentlicher Bestandteil des Individuums. In dieser Geschichtsauffassung ist Geschichte nichts ‹Naturgegebenes›, sondern bildet sich in einem fortlaufenden Entwicklungs- und Verfallsprozess heraus.33 Der Begriff des «Volksgeistes» ist insgesamt in Wolfs literaturgeschichtlicher Perspektive, aber insbesondere in seiner Studie über Brasilien, von zentraler Bedeutung. Die Tatsache, dass Wolf «Volksgeist» in einem außereuropäischen Zusammenhang nutzt, ist auffällig, denn seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurde dieser Begriff ausschließlich auf Europa und Asien bezogen. Dennoch wird das Wort «volksmäßig», genauso wie in dieser Passage, sehr oft nicht ins Französische übertragen. Wolfs Bezug auf die idealistische Geschichtsauffassung geht also in der Übersetzung größtenteils verloren. Auf den nächsten Seiten wird gezeigt, wie Wolf mithilfe des diskursiven und begrifflichen Gerüsts des deutschen Idealismus eine historisch-philosophische Begründung für die Hegemonie von Deutschland/Österreich zu schaffen versuchte. Im dritten Abschnitt der ‹Einleitung› reflektiert Wolf weiter über die «kulturellen Leistungen» der Ureinwohner. Ihre Verbindung mit den Portugiesen und ihre Nachkommen kennzeichnet Wolf als das Entstehungsmoment einer neuen «Mischrasse», was als Tatsache behandelt wird, ohne weitere Überlegungen anzuschließen, ob diese Verbindung freiwillig oder auf gewaltsame Art und Weise

31 G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S. 59. 32 Diese Aussage lässt sich auch durch eine andere Passage bei Hegel belegen: «Der Volksgeist ist zugleich wesentlich ein besonderer, zugleich nichts als der absolute allgemeine Geist, – denn der ist Einer. Der Weltgeist ist der Geist der Welt, wie er sich im menschlichen Bewusstsein expliziert». Ebda., S. 60. 33 In den letzten Jahren seines Lebens hatte Wolf großes Interesse an der politischen Geschichte, wie Ebert schreibt: «Sein Interesse aber für die politische Geschichte Spaniens erhielt sich, namentlich zog ihn die Verfassungs- und Rechtsgeschichte an». Adolf Ebert: Ferdinand Wolf. Seine Bedeutung für die romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte, S. 299.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

geschah. Man könnte es auch als Ergebnis einer friedlichen oder zufälligen Begegnung verstehen, eine Geschichtserzählung, welche bis heute wiederholt wird. Die «genetische Mischung» wurde von Wolf positiv betrachtet, da sie dem «Nationalcharakter der Brasilianer» entspreche und die Besonderheit ihrer Literatur kennzeichne. Diese «Mischrasse» sei durch die «reiche und großartige Natur des Landes» begünstigt, und unterscheide die Brasilianer wesentlich von den Portugiesen: Nur mittelbar haben diese Ureinwohner durch ihre Verbindungen mit den Portugiesen und ihren Nachkommen durch die daraus entstandenen Mischraçen (Mamelucos [und Mestizos]), auf die eigenthümliche Entwicklung des brasilischen National-Charakters und dessen Ausprägung in der Literatur Einfluß geübt, wozu die reiche, großartige Natur des Landes noch mächtiger beitrug, so daß nach Ablauf von zwei Jahrhunderten der Charakter der brasilischen Nation und Literatur als ein wesentlich verschiedener von dem der portugiesischen sich zeigt. (S. 1–2) Ce n’est qu’indirectement que ces habitants primitifs du pays, par leurs unions avec les colons, et par les races mêlées (mamelucos et mestizos) qui en sont sorties, ont exercé sur le développement du caractère brésilien et par conséquent sur la littérature de ce peuple une influence, que venait encore augmenter la nature riche et grandiose du pays. C’est ainsi qu’au bout de deux siècles le caractère national des Brésiliens et par conséquent aussi celui de leur littérature différait essentiellement de celui des Portugais. (S. 1)

In diesem Abschnitt wird auf eine Art Bezug auf die autochthone Bevölkerung genommen, die den Wert ihrer «culturellen Producte» beständig bezweifelt. Ohne schriftliche Sprache, ohne für die Europäer greifbare Dokumente und Zeugnisse dieser Kultur wird ihre Geschichte und Erfahrung auf nur einen «Sinn für Poesie» reduziert. Eine Anerkennung autochthoner Traditionen ergibt sich in der Perspektive von Wolf erst durch den Kontakt mit den Europäern, als sie diese Traditionen in ihre europäischen Sprachen übertragen und somit für sie selbst verständlich und kenntlich machten. Die Vernichtung und Ermordung unzähliger indigener Bevölkerungsgruppen Brasiliens wird dabei an keiner Stelle erwähnt, mehr noch: Die Geschichte Brasiliens wird erzählt, als ob es diese nie gegeben hätte. Wolf unterteilt die Geschichte der brasilianischen Literatur in fünf Epochen, die in ihrer Entwicklung einer Zeitspanne von den ersten «Eroberern» bis zur Gegenwart entsprechen. Wolf markiert jeweils «Fortschritt» und «Entwicklung» von einer Epoche zur nächsten, welche er mit chronologischen Darstellungen von Ereignissen aus der brasilianischen Geschichte verknüpft. Brüche, Leerstellen, Widersprüche haben in diesem Narrativ keinen Platz. Zudem wird die Zeit vor der Ankunft der Portugiesen überhaupt nicht berücksichtigt und miteinbezogen, als ob dies eine Zeit jenseits der Geschichte gewesen sei. Auf der Grundlage seiner linearen Geschichtsauffassung bemühte sich Wolf, eine kontinuierliche Geschichte

3.2 Sprache und Denken des Deutschen Idealismus

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Brasiliens nachzuerzählen, deren ‹Höhepunkt› die Gegenwart sei, in welcher Brasilien endlich Selbstbestimmung erlangt und daher Anspruch habe, an Gemeinschaft der sogenannten ‹zivilisierten Nationen› teilzuhaben. Wolf kommentiert in der ‹Einleitung› die Epochenteilung auf der Grundlage einer «genetischen Begriffsentwicklung» und einer «pragmatischen Bestimmung». Diese beiden Ausdrücke verweisen auf Wolfs Vorliebe zur hegelianischen Philosophie, im Vergleich zu anderen Autoren des Deutschen Idealismus. Nur bei Hegel findet sich die These, dass der Begriff sich allmählich entwickle und dass die Kulturgeschichte seiner Bewegung dementsprechend folge.34 Beide Ausdrücke fallen allerdings in der Übersetzung weg und sind durch allgemeinere Formulierungen ersetzt. Auf diese Weise wird der Missbilligung von Wolfs philosophischer Grundlage und seines wissenschaftlichen Anspruchs auf methodologische Genauigkeit Ausdruck verliehen: Diese genetische Begriffsentwicklung der brasilischen Literatur enthällt zugleich die pragmatische Bestimmung ihrer Epochen, nämlich: [...]. (S. 2) Cet exposé des éléments qui ont concouru à former la littérature brésilienne, nous conduit tout naturellement à la division en périodes, que nous allons indiquer. (S. 2)

Nach einer Zusammenfassung der Epocheneinteilung, die von Wolf erstmals eingeführt wurde und lange Zeit in der Literaturgeschichte Brasiliens gültig war, wird Folgendes kommentiert: Aber trotz des interessanten Schauspiels, das dieser Entwicklungsgang gewährt, trotz der immer bedeutender werdenden Ansprüche der brasilischen Literatur auf Beachtung in der Geschichte der literarischen Cultur überhaupt, und der Amerikas insbesondere, ist ihr diese in Europa bis jetzt nur äußerst spärlich zu Theil geworden. (S. 4) Malgré l’intérêt qu’offre le spectacle de ce développement et l’importance toujours croissante de la littérature du Brésil pour l’Amérique et pour le monde civilisé, c’est à peine si elle est connue aujourd’hui en Europe. (S. 2)

Wolfs Geschichtsbegriff und sein Bezug von Geschichte und Literatur werden in der französischen Fassung nur zu losen verbundenen Elementen. Bei Wolf hatte Brasilien einen bestimmten «Entwicklungsgang» erfahren, um an der «Geschichte der literarischen Cultur» teilzuhaben, doch in der Übersetzung wird diese letzte durch «le monde civilisé» ausgetauscht. In beiden Fassungen wurde die Vorstel-

34 Siehe G. F. W. Hegel: Vorrede. Phenomenologie des Geistes [1807]. Frankfurt am Main 1986.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

lung beibehalten, dass Europäer die «Entwicklung» der anderen Nationen als «Schauspiel», «spetacle» beobachteten. In einem späteren Abschnitt stellt Wolf seine Geschichtsauffassung noch kategorischer dar: Mit dem idealistischen Ausdruck «wie es in der Natur der Sache liegt» führt er die Idee von Fortschritt als etwas Selbstverständliches ein, das irgendwann seine Vollendung erreichen werde. Auf Französisch wird dieser Gedanke ersetzt: «Il devait en être ainsi et la même chose s’est vue chez tous les peuples». Wolf geht jedoch einen Schritt weiter und zieht eine Parallele zwischen Geschichte und Literaturgeschichte: Zuerst entwickle sich ein «nationales Bewusstsein», das die Untersuchung der historischen Tatsachen, die es hervorbrachte, erst ermögliche. In der Literatur sei es entsprechend: Zuerst entwickele sich eine «Nationalliteratur», dann entstünde die Notwendigkeit, ihre Geschichte zu schreiben: Auch die Eingeborenen selbst haben – wie es in der Natur der Sache liegt – erst nachdem ihr nationales Selbstbewusstsein jenen Grad der Stärke erreicht hatte, der ihnen [dieses auch objectiv] als eine historische Thatsache erscheinen ließ und sie zur [Selbst-] Untersuchung und Darstellung ihrer Entwicklung drängte, erst nachdem sie eine wirklich selbstständige Nationalliteratur geschaffen hatten, auch das Bedürfnis gefühlt, ihre Geschichte zu schreiben. Daher sind auch in Brasilien selbst erst seit den letzten drei Jahrzehnden einige Werke erschienen, welche es sich zur Aufgabe machten, theils urkundlich durch Zusammenstellung des Materials, theils pragmatisch, durch die historische Verarbeitung derselben, die Geschichte der brasilischen Literatur zur Darstellung zu bringen. (S. 4) Il ne faut pas s’étonner que les indigènes eux-mêmes n’aient senti le besoin d’écrire l’histoire de leur littérature qu’après avoir eu conscience de leur émancipation intellectuelle, et après avoir produit des œuvres originales. Il devait en être ainsi et la même chose s’est vue chez tous les peuples. Ce n’est que dans le courant des trente dernières années qu’il a paru au Brésil des ouvrages ayant pour but de rassembler les matériaux de l’histoire littéraire future ou d’essayer de se rendre compte de son développement. (S. 2–3)

Bemerkenswert ist die Verwirrung zwischen «Eingeborenen» und «Ureinwohnern» in der Übersetzung: Im obenstehenden Beispiel wird der «Eigeborene», den Wolf als Nachfahre der Portugiesen versteht, als «indigène» übertragen. Zuvor hatte Wolf behauptet, dass die «Ureinwohner» keinen Beitrag zur Entstehung der brasilianischen Literatur geleistet hätten. Er meinte also etwas ganz anderes, als es die Übersetzung wiedergab. Außerdem geht aus Wolfs Text hervor, dass aus seiner Sicht die autochthonen Gemeinschaften Brasiliens eigentlich keine Brasilianer waren. Dies sind in Wolfs Verständnis ausschließlich die Nachfahren der Portugiesen, selbst wenn sie sich mit den Autochthonen «vermischt» haben. Für Wolf bezieht der Begriff der «Nation» allein die adeligen höheren Schichten mit ein.

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3.2 Sprache und Denken des Deutschen Idealismus

Hierfür führt Wolf den Begriff des «Selbstbewusstseins» ein, der schon das Denken verschiedener Autoren des Deutschen Idealismus kennzeichnet.35 Auch hier ist zu vermuten, dass Wolf auf die hegelianische Definition zurückzugreift. Das «nationale Selbstbewusstsein», wie Wolf es hier darstellt, ist Vorbedingung für Geschichtsschreibung. Jeder, jedes «Volk», selbst die «Eingeborenen», verfügten über ein «nationales Bewusstsein», doch erst wenn es ihnen als «historische Tatsache» erscheine, d. h. wenn es zum möglichen Gegenstand von Untersuchungen werde. Hegel legt seinen Begriff von «Selbstbewusstsein» in der «Bestimmung des Geistes» als Verbindung zwischen «Geist», «Volk» und «Bewusstsein» dar:  

[...] Der Geist also ist denkend und ist das Denken eines solchen, das ist, und Denken, dass es ist und wie es ist. Er ist wissend: Wissen aber ist Bewusstsein eines vernünftigen Gegenstandes. Bewusstsein ferner hat der Geist nur, insofern er Selbstbewusstsein ist; d. h. ich weiß von einem Gegenstande nur, sofern ich darin auch von mir selbst weiß, meine Bestimmung darin weiß, dass das, was ich bin, auch für mich Gegenstand ist, dass ich nicht bloß dies oder jenes bin, sondern das bin, wovon ich weiß.36  

Was bei Hegel hier nicht explizit gemacht wird, wird bei Wolf zu einem «nationalen Selbstbewusstsein». Immer wieder finden sich in der ‹Einleitung› Stellen, die die kulturelle Vorherrschaft Deutschlands betonen. Es wird deutlich, dass Wolf Brasilien empfiehlt, sein kulturelles Vorbild Frankreich durch Deutschland zu ersetzen. Bei der Auflistung der von ihm verwendeten Quellen wird Varnhagen zum ersten Historiker Brasiliens: Noch wichtiger ist Francisco Adolpho de Varnhagen’s: ‹Florilegio da poesia brazileira, ou Colleção das mais notaveis composições dos poetas brazileiros falecidos, contendo as biographias de muitos delles, tudo precedido de um Ensaio historico sôbre as lettras no Brazil› (Vol. 1 e 2. Lisboa, 1850; vol. 3 Madrid, 1853. in 16º); denn der gelehrte Herausgeber dieser Sammlung theilt nicht nur aus seltenen Handschriften viele Stücke zum erstenmale im Druck mit, sondern beurkundet auch durch die mit Gründlichkeit und Kritik geschriebene, sehr schätzbare historische Einleitung seine deutsche Abkunft. Dieser hauptsächlich sind wir in den ersten vier Epochen gefolgt. (S. 5–6)

35 Die Definition und der begriffliche Unterschied zwischen Autoren wie Fichte, Herder und Hegel sind unter «Bewusstsein» im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Bd. 1, S. 893) nachzulesen. Grundlegend ist hierzu die «nachidealistischen Entwicklung» des Begriffs: «Es [das Bewusstsein] kann dann aber auch das Gesamte der subjektiven Vorstellungen, Ideen (‹Ideologien›) usw. umfassen, sei es beim einzelnen Individuum sei es bei Kollektiven, wie der Klasse, dem Volke usw.» (S. 893–894), was wiederum zur Ideologietheorie von Marx führt. 36 G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S. 54. Hervorhebung im Original.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Le livre de M. F. A. de Varnhagen intitulé: Florilegio da poesia brazileira ou Collecção das mais notaveis composições dos poetas brazileiros falecidos, contendo as biographias de muitos delles, tudo precedido de um Ensaio historico sobre as lettras no Brazil, vol. 1 et 2. Lisbonne 1850, vol. 3. Madrid 1853. 16°. est encore plus important. Le savant auteur de cet ouvrage ne s’est pas contenté d’y publier pour la première fois un grand nombre de morceaux inédits et puisés à des sources très-rares ; il y décèle son origine allemande par l’exactitude et la profondeur que nous voyons percer partout dans l’introduction historique mise en tête du premier volume. C’est cette dernière partie de l’ouvrage qui nous a surtout servi de modèle pour les quatre premières périodes. (S. 4)

Der große Wert von Varnhagens Arbeit ließe sich, so Wolf, erst durch seine «deutsche Abstammung» erklären, als wäre die Fähigkeit zum Nachdenken biologisch bedingt. Außerdem geht die Bedeutung des Begriffs «Kritik» bei Wolf, wie er sich seit Kant in der philosophischen Tradition etabliert hat, in der französischen Übertragung verloren, indem das Wort «profondeur» verwendet wird, das aus einem anderen semantischen Bereich stammt als «Kritik». Zusammenfassend offenbart der Vergleich der deutschen ‹Einleitung› mit der französischen ‹Introduction›, dass zentrale Begriffe für Wolfs Geschichtsauffassung wiederholt nicht übersetzt worden sind. Dies betrifft insbesondere die idealistischen Begriffe wie etwa «Geist», «Volksgeist» oder «Selbstbewusstsein». Diese Begriffe haben in Wolfs Argumentation die Funktion, die materiellen Interessen für die Entstehung des kolonialen Systems in Brasilien zu überdecken. Wolf stellt die Kolonisation als ein kulturelles Projekt dar, in dem die Metapher der Natur nicht nur die Kolonisation (die ‹Kultivierung des Bodens›), sondern auch ihrer von Wolf festgestellten «progressiven Entwicklung» erklären soll.

3.3 Der Sieg der «europäischen Zivilisation» Nachdem Wolf in der ‹Einleitung› seine Auffassung der Entwicklung der Literaturgeschichte Brasiliens erklärt und die grundlegende Quelle seines Buches zusammenfasst, widmet er sich in der Folge den literarischen Werken im Einzelnen. In den fünf folgenden Teilen seines Werkes stellt er biographische Informationen zu brasilianischen Autoren und ihren Werken dar und zeichnet die (Literatur-)Geschichte als eine Entwicklung zu einer politischen und literarischen «Selbständigkeit». Das erste Stadium dieser teleologischen Bewegung beginnt nach Wolf mit der «Entdeckung» des Landes im Jahr 1500 und geht bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Auffassung Wolfs über den Anfang der so genannten «Civilisation» in Brasilien steht ein Vergleich zwischen Amerika und Europa. Dieser Vergleich enthüllt nicht nur Wolfs binäre Betrachtungsweise der Entste-

3.3 Der Sieg der «europäischen Zivilisation»

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hung von Literatur, sondern auch die Schwierigkeit, europäische Modelle auf einen kolonialen Zusammenhang anzuwenden: Die Entwicklungsgeschichte der Cultur und Literatur [Brasiliens und Amerikas überhaupt] bildet gewißermaßen das Gegenstück zu der des modernen Europas. In beiden Welttheilen war diese Entwicklung das Product der Wechselwirkung zwischen einer älteren Civilisation und einem naturwächsigen Barbarenthume; aber im umgekehrten Verhältniße {sic}. Denn in Amerika waren die Eroberer und Eindringlinge die Träger der Civilisation, während die bezwungenen und unterjochten Eingeborene Barbaren blieben und bleiben (etwa mit Ausnahme der Mejicaner [und Peruaner]), bis sie in Mischraçen mit ihren Eroberern auch an deren Cultur sich betheiligen. Daher entwickelte sich die Cultur in Amerika weil [weniger organisch und originell]; denn die civilisierenden Eroberer und Colonen hatten [einerseits] im langen und harten Kämpfen gegen die uncultivierte Natur und die Wildheit der Eingeborene alle Mühe, selbst nicht zu verwildern, und konnten nur durch die Verbindung mit dem Mutterlande und nachströmende Kräfte aus demselben die mitgebrachte Cultur bewahren und weiter entwickeln. (S. 9) Andererseits hatten die indianischen Stämme nicht die Bildungsfähigkeit der germanischen, und brachten nicht wie diese neue, frische, in organischer Selbstentwicklung fortschreitende Cultur-Elemente dazu, woraus trotz des Einflußes einer höheren Civilisation eine eigenthümliche Cultur und eine originelle Literatur hervorgehen konnten. (S. 10) L’histoire du développement de la civilisation et de la littérature du Brésil et de toute l’Amérique a une certaine analogie avec celle de l’Europe moderne. Dans ces deux continents il a été produit par les mêmes causes, mais en sens inverse. En Amérique il est bien sorti du contact d’une civilisation antérieure et de peuples à demi-sauvages, mais ce furent les conquérants qui apportèrent la civilisation, tandis que les indigènes, presque tous barbares (à l’exception des Mexicains et des Péruviens), ne participèrent à la culture qui suivit qu’en se mêlant à leurs oppresseurs. C’est pourquoi la civilisation américaine est beaucoup moins naturelle et moins originale. Les conquérants en effet, luttant sans cesse contre la nature, les maladies et les sauvages aborigènes, eurent beaucoup de peine eux-mêmes à ne pas devenir barbares, et ne purent conserver leur culture intellectuelle que par une liaison intime avec la mère-patrie, qui se chargeait en outre de combler les vides que la guerre, le climat ou la maladie avaient creusés dans leurs rangs. D’un autre côté les tribus indiennes n’étaient pas susceptibles de culture comme les nations germaniques qui envahirent l’empire romain; elles n’avaient pas comme celles-ci un génie capable de remonter le courant d’une civilisation plus ancienne et de lui communiquer un nouvel élément. (S. 5)

Wolf widerholt seine Feststellung, dass Geschichte ein Entwicklungsprozess sei, in welchem Kultur und Literatur untrennbar verbunden seien. Im Manuskript wird Brasilien in einem breiten Bezugsystem, im «amerikanischen» Kontext, eingeführt, was in der Übersetzung verkürzt wurde. Wolfs Entscheidung für die Bezeichnung «Gegenstück» in obigem Abschnitt ist auffällig, denn sie kann auf zwei unterschiedliche Bedeutungen hinweisen: Auf der einen Seite drückt sie eine

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Spiegelung aus, auf der anderen Seite ein Gegenteil. Auf Französisch hat das Wort «analogie» diese Zweideutigkeit nicht, der Übersetzer musste sich für die Ähnlichkeit zwischen Amerika und Europa entscheiden, um so die Relationen zwischen ihnen sprachlich zu betonen. Auf jeden Fall, so Wolf, gehe es in der brasilianischen Kulturgeschichte um eine Korrelation zwischen alt und neu, ‹Zivilisation› und ‹Barbarei›, Kultur und Natur. Wolfs Parallelisierungen zwischen Amerika und Europa übergehen jedoch Auseinandersetzungen und Kriege. Wenn er im Fall Brasiliens und Amerikas von «langen und harten Kämpfen gegen die unkultivierte Natur und die Wildheit der Eingeborenen» spricht, ist dies kein Widerspruch, denn aus seiner Sicht haben die autochthonen Gruppen nicht zur kulturellen Entwicklung beigetragen. Während in Europa die germanischen ‹Barbaren› durch eigene Kultur-Elemente zur römischen Zivilisation beigetragen hätten, sodass sich eine «eigenthümliche Cultur und eine originelle Literatur» daraus entwickelt habe, so seien die «indianischen Stämme» in Amerika «Barbaren» geblieben und blieben es auch weiterhin. Die Wahl des Verbs im Präsens signalisiert, dass Wolf sich dessen bewusst war, dass zu dieser Zeit noch autochthone Bevölkerungsgruppe in Brasilien lebten. Dennoch zeigt das Präsens auch einen Widerspruch in seinem Denken an: Wenn es noch «Barbaren» in Brasilien gibt, wie kann das Land dann «höhere Stadien seiner Entwicklung» erreichen, sodass es sich lohnt, eine Literaturgeschichte über das Land als Ganzes zu verfassen? Diese Inkongruenzen setzen sich fort, wenn Wolf die Idee von kulturellem Synkretismus noch stärker durch sein Argument über die «Mischraçen» betont: Die «indianische Stämme» konnten sich laut Wolf von ihrer «Rückständigkeit» lediglich befreien, wenn sie sich mit ihren «Erobern» verbanden und «an ihrer Kultur beteiligten». Weil die ‹germanischen Barbaren› «Bildungsfähigkeit» besaßen, habe sich aus dieser «Vermischung» eine «originelle und organische» Kultur entwickeln können. Im Fall Brasiliens hätten sich die Eroberer intensiv bemühen müssen, selbst keine «Barbaren» zu werden und stattdessen die Kultur des Mutterlandes zu verteidigen. In Wolfs Geschichtserzählung wird die Gewalt der Kolonisation einseitig aus der Kolonisatoren-Perspektive betrachtet als «Kämpfe gegen die Natur und die Wildheit der Eingeborene». In Wolfs Logik, der «Kampf gegen die Natur» ist eine legitime Maßnahme, um Kultur zu schaffen, und der «Kampf gegen die Wildheit der Eingeborene» bedeutet eine notwendige Erziehung als Vorbereitung für Kultur. Und genau diese Neigung, die Realität der Kolonisationsgeschichte unilateral darzustellen und als Wahrheit zu verbreiten, legt seine ideologische Absicht offen. Ausgehend von Wolfs Argumentation wird deutlich, dass aus seiner Sicht nur durch die von ihm positiv betrachtete Kolonisation die «wilde» tropische Natur Brasiliens kultiviert werden und also gedeihen konnte.

3.3 Der Sieg der «europäischen Zivilisation»

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Es ist auffällig, dass Wolf sich innerhalb weniger Seiten selbst widerspricht. Hier wird die Natur nicht mehr als positives Element für das «Gedeihen von Kultur» betrachtet, sondern als etwas Bedrohliches, das einzig durch das Kultivieren beherrschbar wird. Die Technik des Kultivierens besitzen laut Wolf nur die europäischen «Eroberer». Auf Französisch fällt die ständige Änderung der Bezeichnung für Brasiliens autochthone Bevölkerung auf: In diesem Auszug werden die Ausdrücke «peuples demi-sauvages» und «indigènes, presque tous barbares», «sauvages aborigènes» eingeführt. Im Gegensatz zu den «tribus indiennes» werden die «nations germaniques» bereits als «nation» behandelt. Mit dem Begriff von «Nation» soll wahrscheinlich ihr vermeintlicher Fortschritt angezeigt werden. Noch interessanter ist die Erwähnung des «römischen Reiches», welche in der deutschen Fassung nicht existiert. Der Hauptunterschied zwischen beiden Fassungen liegt dennoch darin, dass «Eroberer» als «oppresseur» übersetzt wird. Diese bewusste Änderung verweist auf eine durchaus andere Perspektive der Kolonialgeschichte Brasiliens. Doch trotz des vermeintlich fundamentalen Unterschieds in der Entstehung der europäischen und amerikanischen Literaturen, dass die germanischen Völker zur Entstehung einer Kultur beigetragen hätten, sieht Wolf eine wichtige Übereinstimmung zwischen beiden, nämlich, die religiöse, christliche Grundlage. Er argumentiert: Und doch hat die brasilische Literatur seinen mit dem der meisten neu-europäischen analogen Anfangs- und Ausgangs-Punct gehabt: Auch sie entwickelte sich zuerst unter dem Schutze der christlichen Kirche und durch die Pflege ihrer Diener. Die christlichen Missionäre waren es, welche die ersten Keime dazu legten, sie waren wohl anfangs die Einzigen, welche eine literarische Cultur mitgebracht und ein Interesse hatten, sie zu bewahren und zu verbreiten; denn sie wollten geistliche und geistige Eroberungen machen, während die weltlichen Eroberer [meist ungebildete] Soldaten und Abenteurer, theils mit der Erwerbung und Behauptung des neuen Besitzes vollauf zu thun hatten, theils nur von der Ruhm- und Geldgierde angetrieben nach der neuen Welt gezogen waren und sich dort niedergelassen hatten [, ja häufig waren die früheren Colonen deportierte Verbrecher! –] (S. 11) Cependant la littérature brésilienne a commencé à peu près comme ses sœurs d’Europe: elle s’est développée d’abord sous l’égide de l’Église et par les soins de ses serviteurs. Ce sont les missionnaires chrétiens qui en ont semé les premiers germes; ils étaient les seuls qui eussent apporté quelque culture littéraire et qui eussent intérêt à la conserver et à la répandre; car ils voulaient faire des conquêtes à la fois spirituelles et intellectuelles, tandis que les conquérants laïques, soldats et aventuriers sans instruction pour la plupart, étaient assez occupés à se maintenir dans les pays conquis, et n’avaient guère été poussés vers le Nouveau Monde que par l’appas de la gloire et des richesses. Souvent même les premiers colons étaient des criminels condamnés à la déportation. (S. 6)

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

In diesem Abschnitt macht Wolf seine teleologische Geschichtsauffassung explizit: Als Literaturhistoriker bemühe er sich sowohl darum, den Anfangs- als auch den Zielpunkt der «literarischen Cultur» zu bestimmen. Der Übersetzer platziert das Wort «analog» schon im vorherigen Absatz. Somit wird die Opposition («Gegenstück») zwischen den Beiträgen der autochthonen Bevölkerung Brasiliens und der Germanen für die jeweiligen Kulturgeschichten abgemildert. Dementsprechend fällt Wolfs Lob an der Beteiligung der Germanen in der Übersetzung schwächer aus. Der Übersetzer hebt stattdessen die gleichgewichtigen Kulturgeschichten als christlich hervor. Auf Französisch wird wieder ein anderes Wort und eine andere, damit verbundene Idee genutzt: Das Wort «sœurs» (Dt. Schwestern) beschreibt die Verwandtschaft der brasilianischen mit der europäischen Literatur. Wolf nutzte Metapher des Landbaus für seine Beschreibung der Entwicklung von Kultur, um die lateinische Abstammung des Begriffs «kultivieren» hervorzuheben. In diesem Beispiel haben die «Diener der christlichen Kirche» die «ersten Keime» der «literarischen Cultur» aus Europa «mitgebracht», «bewahrt» und «verbreitet». Diese Verfälschung der Kolonisationsgeschichte passt mit der Vorstellung zusammen, dass es nicht nur um eine ökonomische Expansion gegangen sei, sondern auch um «geistige und geistliche Eroberung». Ein ökonomisches Interesse an der sogenannten «Neuen Welt» besaßen laut Wolf lediglich «weltliche[n] Eroberer [meist ungebildete] Soldaten und Abenteurer». Seine Ergänzung, dass diese «weltlichen Eroberer» ungebildet gewesen seien, verstärkt ein Bild der Kirche als Förderin der Kultur, und kaschiert anderweitige Interessen, etwa die Missionierung in Amerika als zentrales Instrument der Gegenreformation, um den Verlust von Gläubigen in Europa auszugleichen und die Katholisierung weiterer Territorien zu gewährleisten. In den zwei weiteren Auszügen gründet Wolf seine positive Beurteilung der Rolle der Kirche insbesondere auf den Jesuitenorden. Obwohl es an dieser Stelle keine deutliche Verschiebung der Perspektive in der Übersetzung gibt, wird sein Text auf Französisch doch drastisch gekürzt. In der Tat fällt praktisch das ganze Lob der Tätigkeit der sogenannten Missionare weg. Unter diesen Missionären waren es wieder vorzugsweise die Jesuiten, welche sich die Pflege und Verbreitung geistiger Cultur angelegen sein ließen. Sie erhielten und pflegten sie unter ihren Landsleuten, den portugiesischen Einwanderern, durch Anlegung von Schulen. (S. 11) So waren die Jesuiten nicht nur die Träger, Erhalter und Verbreiter literarischer Cultur durch Lehre und Beispiel unter ihren Landsleuten, sondern suchten auch als Missionäre bei der Christianisierung der Eingeborenen deren Anlage für Poesie und Musik und deren Vorliebe für Beredsamkeit zu benützen und zu unterstützen. (S. 13)

3.3 Der Sieg der «europäischen Zivilisation»

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Parmi ces missionnaires ce furent particulièrement les jésuites qui prirent à cœur de répandre la culture intellectuelle, surtout en établissant des écoles. (S. 6) Les jésuites répandirent et conservèrent donc par leur exemple la culture littéraire chez leurs compatriotes, et cherchèrent comme missionnaires à tirer parti des talents musicaux et oratoires des aborigènes. (S. 8)

Wolf betont an der obigen Stelle, dass die Missionare in zwei Richtungen wirkten, um die «geistige Cultur» zu erhalten: auf der einen Seite, unter ihren Landesleuten, auf der anderen Seite unter den «Eigeborenen» und durch Christianisierung. Diese verschiedenen Handlungen werden in der Übersetzung nicht pointiert, besonders da die Prädikativergänzung der Jesuiten in eine Verbform gewandelt wurde. Die drastische Kürzung in diesem Absatz kann durch den Anti-Klerikalismus erklärt werden, der die französischen Lumières prägte und ein Merkmal dieser französischen Denktradition geworden war.37 Ein Beispiel für diese Tendenz ist Voltaires Candide (1759): In diesem Roman wird die Rolle der Jesuiten in den Kolonien in Südamerika ironisiert.38 Bevor Wolf die literarischen Autoren dieser Epoche vorstellt, schließt er seine einführenden Bemerkungen mit der Wiederholung des Vergleichs zwischen Landbau und Kultur ab. Parallel zur Tätigkeit der Missionare im kulturellen Bereich seien auch im politischen die «ersten Keime» der «brasilischen Nationalität» befruchtet worden, diesen Ausdruck nutzt Wolf hier zum ersten Mal. Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass Krieg für Wolf offenbar grundsätzlich eine Voraussetzung für die Entstehung von «Nationalität» ist.39 In diesem Sinne spielen die autochthonen Bevölkerungsgruppen Brasiliens keine Rolle für die Herausbildung einer «brasilischen Nationalität», bzw. nur als Hindernis, das die «Colonisten portugiesischer Abkunft» zu überwindende haben. Letztere stehen im Zentrum von Wolfs Geschichtserzählung und spielen eine doppelte, ausdrücklich männliche Hauptrolle als «Söhne» und «Väter». Diese Konstruktion einer Genealogie Brasiliens ist in der französischen Fassung nicht entsprechend wiedergegeben. Der familiäre und emotionale Ansatz in Wolfs Genealogie wird durch ein vernunftorientiertes Element, die «conscience», ersetzt. Die männliche Dominanz wird so vermindert, weil die geschlechtliche Opposition zum vermeintlich «weib-

37 Auch wenn es dafür keine konkreten Belege gibt, so lässt sich van Muyden dieser Tradition zuordnen, wie im Laufe dieser Arbeit anhand von Beispielen gezeigt werden wird. 38 Voltaire: Candide [1759]. Paris: Hachette 1978, insbes. Kapitel 14: Comment Candide et Cacambo furent reçus chez les jésuites du Paraguay. 39 So führte in Wolfs Augen auch der Kampf gegen Napoléon dazu das ‹Nationale›, das «wahre Wesen der Völker» zu wecken und zu stärken, wie etwa in seiner Arbeit ‹Über die Romanzenpoesie der Spanier›. In: Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur.

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lichen» Mutterland sowie die Rolle der Siedler als «Söhne» sprachlich weniger deutlich sind. Diese ersten Keime wurden durch die langen Kämpfe gegen die Holländer und deren endliche Besiegung (1624–1662) befruchtet, indem die Kolonisten portugiesischer Abkunft sich nicht nur als Söhne des Mutterlandes sondern auch als Stammväter einer brasilischen Nationalität fühlen lernten. (S. 14) Ces premiers germes furent fructifiés par les longues luttes contre les Hollandais et leur expulsion finale (1624–1662); ce fut alors que les colons commencèrent à avoir conscience non seulement de leur qualité de Portugais, mais aussi de celle de pères de la nationalité brésilienne. (S. 8)

Wolfs Vorstellung der Bildung einer «brasilianischen Nationalität» legt deren Konstruktcharakter offen. Religion und Kultur zu verbinden, wird unter anderem auch durch die Macht der katholischen Kirche im Habsburgischen Kaiserreich als entscheidend für die Erhaltung der Monarchie betrachtet, wie im zweiten Kapitel dieser Studie bereits gezeigt wurde.40 Die wesentlichen Punkte aus dem Close Reading von Wolfs erster Epoche der brasilianischen Literaturgeschichte lassen sich wie folgt resümieren: Wolf ging es um die Etablierung einer Genealogie der brasilianischen Literatur und Kultur. Seine teleologische Geschichtsauffassung ist evident. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in einem vorkolonialen «Barbarentum» und erreicht nur durch eine progressive Entwicklung und durch Ein-und Unterordnung in bzw. unter ein «Kulturvolk» ihren Zielpunkt, die Selbstständigkeit. Wolf konstatiert Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Entstehung der brasilianischen Literatur im Vergleich zur europäischen Literatur. Ein zentraler Unterschied liege im ungleichen ‹Entwicklungsgrad› der Germanen und der autochthonen Bevölkerungen Brasiliens. Während die Germanen mit zur römischen Kultur beigetragen hätten, sodass neue kulturelle Produkte entstanden seien, hätten die autochthonen Bevölkerungen Brasiliens nichts zu Kultur der Kolonisatoren bei-

40 In diesem Sinne ist die Beobachtung von Perry Anderson über die kulturelle Vorherrschaft der Katholischen Kirche als expansionistische Macht im Habsburgischen Kaiserreich eine Erklärung dafür, dass Wolf ihr auch in Brasilien den Vorrang gibt: «[...] Habsburg Absolutism achieved a unique cultural an ideological feat: Bohemia, Austria and Hungary – the three constitutive zones of its rule – were progressively folded back into the Church of Rome. [...] Austrian lords and peasants, bohemian towns and Hungarian landowners alike were eventually recatholicized by the skill and drive of the Counter-Reformation, under the auspices of the Habsburg dynasty: a record without equal anywhere else in the continent». Perry Anderson: Austria. In: Lineages of the Absolutist State, S. 309.

3.4 Die «Fortpflanzung» von Religion und Staat

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tragen können, sodass in Brasilien keine «originale Kultur» habe entstehen können. Darüber hinaus seien die autochthonen Bevölkerungen eine ständige Bedrohung für die portugiesischen Siedler gewesen, die zudem aufgrund des Kontakts stets Gefahr liefen, selbst zu «Barbaren» zu werden. So konnte aus der Sicht von Wolf nur die Kolonisation diese Bevölkerungen von ihrer kulturellen Rückständigkeit «retten». Genauso wie ihr Boden sollten auch sie geistig «kultiviert» werden. An dieser Stelle markiert Wolf die von ihm konstatierte Ähnlichkeit: Sowohl in Europa als auch in Brasilien sei Literatur unter dem Schutz der katholischen Kirche entstanden. Die Kirche sei auf beiden Kontinenten dafür verantwortlich gewesen, die «geistige» und infolgedessen die literarische Entwicklung zu ermöglichen. In diesem ersten Hauptteil von Wolfs Darstellung wird also bereits nachvollziehbar, wie engagiert sein Text ist, die Sieger der Kolonialisierung Brasiliens als Hauptfiguren seiner Geschichtserzählung zu schildern. Seine Literaturgeschichte erfindet eine eigene ‹historische Wahrheit›, festigt diese und verbreitet sie: Die Kolonialgeschichte wird verfälscht, das Ausmaß ihrer Zerstörung und Ausbeutung verdeckt. Selbst wenn in der französischen Übersetzung diese Perspektive weiterhin erhalten bleibt, ist sie weniger drastisch formuliert: In der französischen Übertragung finden sich viele Ausdrücke, die zumindest den vermeintlichen ‹Barbaren-Charakter› der autochthonen Bevölkerungen reduzieren.

3.4 Die «Fortpflanzung» von Religion und Staat Die zweite Entwicklungsepoche der brasilianischen Literatur entspricht, so Wolf, der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nach Verbreitung des christlichen Glaubens sei die weitere wesentliche Komponente für die Entstehung von Kultur eine Regierung, die das höfische Leben begünstige. Diese Verknüpfung zwischen Religion und Staat macht Wolf nicht explizit, aber sie ist das Ergebnis seiner Darstellung. Am Anfang dieses Teilkapitels hebt er die zentrale Rolle der portugiesischen Regierung hervor. Der folgende Auszug verdeutlicht Wolfs Argumentation: Die christlichen Ortsnamen erscheinen bei Wolf wie ein «natürlicher» Ausdruck ihrer kulturellen Prägung. Hier gibt es keine größeren Unterschiede zwischen Original und Übersetzung. Das General-Gouvernement von Bahia und der Hauptort desselben, die Stadt des Erlösers, Salvador, an der [Bai aller Heiligen,] Bahia de todos los Santos waren, wie wir gesehen, schon im Laufe des 17ten. Jahrhunderts das Centrum der Civilisation Brasiliens geworden, und daraus waren die bedeutendsten literarischen Nobilitäten hervorgegangen.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Seit dem Anfange des 18ten. Jahrhunderts, besonders seit der Regierung Königs Johann V von Portugal (1706–1750) und und {sic} der dauernden Erhebung dieses General-Gouvernements zu einem Vice-Königthum (1720 [–1760]) hatte die Bedeutung derselben im gleichen Maße mit dem wachsenden Wohlstande zugenommen. (S. 31–32) Le gouvernement général de Bahia et sa capitale la ville du Sauveur (Salvador) sur la baie de tous les Saints (Bahia de todos los Santos) avaient déjà été pendant le 17me siècle le centre de la civilisation brésilienne, et c’est de leurs seins qu’étaient sorties les notabilités littéraires du temps. Depuis le commencement du 18me siècle, surtout après l’avènement du roi Jean V de Portugal (1706–1750); depuis surtout que le gouvernement général de Bahia fut devenu une viceroyauté (1720–1760), son importance n’avait fait qu’augmenter avec sa richesse. (S. 23)

Bei seiner Charakterisierung der portugiesischen Regierung nutzt Wolf die bereits eingeführten These, Literatur sei nur möglich, wenn Reichtum zur Verfügung stehe. In diesem Sinne zirkuliere Literatur nur innerhalb einer Aristokratie, die allein sie produzieren und genießen könne. Dieses Verständnis von Literaturproduktion und -zirkulation prägt Wolfs Literaturgeschichte, seine Geschichtsnarration ist in einem aristokratischen Zusammenhang verortet. Wolfs monarchische Überzeugung lässt sich hier im subtilen Lob der «Spitze der Regierung» erkennen. Damit verstärkt er auf der einen Seite die Verbindung zwischen der brasilianischen und der habsburgischen Monarchie, und auf der anderen Seite seine eigene Stellung im kulturpolitischen Machtkampf Europas. In der französischen Fassung sind diese monarchischen Zusammenhänge nur sehr reduziert widergegeben. Wie überall gedieh daher auch hier die literarische Cultur und besonders die Dichtkunst im Schooße des Wohlstandes, eines Hofhaltes und des folgerecht damit verbundenen Luxus; um so mehr, wenn die an der Spitze der Regierung Stehenden Sinn auch für den geistigen Luxus hatten, und durch gesellige Vereinigung der Gleichgestimmten und Begabten diese Richtung zu fördern und zu leiten suchten. (S. 32) Comme partout la culture littéraire et surtout la poésie grandit au Brésil dans le sein du bien-être et d’une cour luxueuse, et cela d’autant plus, que les chefs du gouvernement prisaient le luxe intellectuel et cherchaient à le favoriser en réunissant ceux qui s’y intéressaient. (S. 23)

Wolf beschreibt im folgenden Absatz die Wechselwirkung zwischen sozialem Leben und literarischer Produktion. Aus diesem Grund betont er die Rolle von Religion, Regierung und Hofadel in den «wissenschaftlichen Leistungen» und in der brasilianischen «höfisch-panegyrischen Gelegenheitspoesie». Die französische Übersetzung ändert auch in diesem Beispiel Wolfs Vokabular und verkürzt seinen Gedankengang. Hier drückt das Adverb «naturellement» ein unvermitteltes Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft aus. Wolfs Argument wird durch die

3.4 Die «Fortpflanzung» von Religion und Staat

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Idee ergänzt, die schon durch die Unterscheidung der kulturellen Entstehung von Europa und Amerika dargelegt wurde, dass die brasilianische Dichtung noch weniger als die portugiesische originell sei, weil ihr eine «volksmäßige Grundlage», eine «genuine Volkspoesie» fehle. So sei vielmehr die Nachahmung für die Leistung der Brasilianer wesentlich. Wolf stellt es als weniger günstig dar, auf diese Weise eine «nationale» noch eine «individuelle Eigenthümlichkeit» zu schaffen. Auffällig ist hier auch die Verwendung von «national» und «individuell», zwei Ausdrucksformen der neu entstandenen bürgerlichen Gesellschaft, die sich nach der Französischen Revolution emanzipiert hatte. Wolf kombiniert sie mit seiner monarchischen Weltsicht; dies führt zu auffälligen Widersprüchen, die sich in aller Deutlichkeit bei seiner Interpretation der brasilianischen Literaturgeschichte zeigen. Auf Französisch wird ein neues Element eingeführt, um diese Entsprechung zu übersetzen, nämlich das «génie national». Zwar kann das Wort «génie» auf die deutschen Autoren der Romantik verweisen, doch Wolf verwendet diese Vokabel im vorliegenden Manuskript kein einziges Mal, denn sie steht nicht in Verbindung mit seiner idealistischen Geschichtsauffassung. Wolfs Schlüsselwörter wie etwa die Begriffe «Verhältnisse», «Einflüsse», «Charakter» und «individuelle Eigenthümlichkeit» bekommen entweder eine ganz andere Bedeutung auf Französisch oder werden durch andere Begriffe ersetzt, die Wolfs Perspektive falsch wiedergeben. Die Ausdrücke «volksmäßige Grundlage» und «genuine Volkspoesie» verweisen auf das Denken von Herder und werden gleichfalls aufgelöst. Das bedeutet nicht, dass die Übertragung besser wäre als das Original oder freier von Vorurteilen – im Gegenteil: Die Übersetzung zeigt jedoch ein anderes, eher in der französischen Denktradition verankertes eurozentrisches Modell von Literatur- und Kulturgeschichte: Durch diese Verhältnisse und Einflüße wurde aber zugleich der Charakter der Leistungen bestimmt. In Folge jener war es wohl natürlich, daß die dichterischen Schöpfungen den Charakter einer conventionell- oder höfisch-panegyrischen Gelegenheits-Poesie, und die wissenschaftlichen Leistungen ein akademisches Gepräge erhielten; um so mehr, als einerseits der brasilischen Dichtung noch mehr als der portugiesischen eine eigentlich volksmäßige Grundlage, eine genuine Volkspoesie fehlte, andrerseits bei der noch immer vorherrschenden Nachahmung spanischer und portugiesischer Muster in ihr ein freies, selbstständiges Schaffen, mit ausgesprochener nationeller oder individueller Eigenthümlichkeit noch nicht durchdringen konnte. (S. 33) Cet état de choses imprima naturellement aux productions poétiques un caractère spécial, celui de poésies de circonstance purement panégyriques, de même que la science prenait des allures académiques. Cela fut d’autant plus le cas que la poésie brésilienne plus encore que la portugaise, n’a pas de racines dans le peuple, et que l’imitation de modèles espagnols et portugais ne permettait pas l’essor du génie national. (S. 24)

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Die Analyse von Antonio José da Silvas dramatischen Werken steht im Mittelpunkt von Wolfs Darstellung der zweiten Epoche der brasilianischen Literaturgeschichte. Zu den Kommentaren im vorherigen Kapitel, über Wolfs Entscheidung, diesen brasilianischen, portugiesisch-jüdischen Autor in seiner Studie über Brasilien zu behandeln, ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Aus dem Vergleich der deutschen und der französischen Fassung der zweiten Epoche wird ersichtlich, dass Wolf in jedem Teil seiner Studie einen zentralen Aspekt für die Entstehung des Kaiserreichs und eine dementsprechende Literatur in den Mittelpunkt stellt. Während sich Wolf in der ersten Epoche mit dem Element «Volk» beschäftigt, widmet er sich in der zweiten Epoche dem Thema «Regierung». In Wolfs Darstellung entsteht Literatur in materiell reichen adligen Kreisen. So werden Wolfs aristokratische und promonarchische Ansichten nachvollziehbar: Brasilien habe keine «richtige Monarchie», denn es sei noch eine portugiesische Kolonie, und außerdem habe es keine «volksmäßige Grundlage», weil die Autochthonen, anders als die germanischen Völker, nichts zur Entwicklung einer Kultur beigetragen hätten. Im französischen Text werden Wolfs aristokratische und kolonialistische Feststellungen nachdrücklich reduziert.

3.5 Eine brasilianische Monarchie Salvador war bis Mitte des 18. Jahrhunderts die Hauptstadt Brasiliens, vor allem aufgrund der günstigen Lage als Hafenstadt für den Umschlag von Zucker, der im Nordosten Brasiliens angebaut wurde. Mit dem beginnenden Abbau von Goldgruben in Minas Gerais veränderte sich die wirtschaftliche Achse Brasiliens: Rio de Janeiro wurde zur Hauptstadt und zum Haupthafen. Hier situiert Wolf den Beginn einer neuen Phase in der brasilianischen Literaturgeschichte. Er behandelt die wichtigsten Autoren der sogenannten «Escola de Minas» und des «Arcadismo», die in ihren literarischen Werken für die Unabhängigkeit von Portugal plädierten.41

41 Für Antonio Candido beginnt die Formação da literatura brasileira in diesem historischen Moment, denn die brasilianische Literatur habe sich zu diesem Zeitpunkt erstmals als ein literarisches System artikuliert. Tatsächlich konsolidierte sich zu dieser Zeit in Brasilien «ein literarisches System», wie Antonio Candido es versteht: Die Kommunikation zwischen Literaturproduzenten und Publikum anhand einer etablierten Sprache als Übertragungsmittel war deutlicher zu sehen als in den vergangenen Jahrhunderten. Nach Candido war Literatur in Brasilien nun nicht mehr eine dilettantische Tätigkeit von vereinzelten Menschen, sondern ergab sich aus einem bestimmten symbolischen System, welches den Werken einen gemeinsamen Nenner gab. Zudem beobachtet Candido die ersten Spuren einer literarischen Kontinuität, die eine ge-

3.5 Eine brasilianische Monarchie

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In seinen einführenden Kommentaren zur dritten Epoche erklärt Wolf, dass die literarische Originalität Brasiliens mit einer Selbstständigkeit in Bezug auf die portugiesischen Vorbilder einhergehe. Doch anders als zuvor werden diese «indigenen Keime» in einer sehr positiven Weise als originell beschrieben. Der Unterschied liegt darin, dass ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Veränderung in der Bewertung der autochthonen Kulturen erfolgt ist, die der Konstruktion einer longue durée brasilianischer Kultur dienen sollte. Diese romantisierende Umdeutung der Kolonialgeschichte, die damals weit verbreitet war, sollte nicht verwechselt werden mit Wolfs Ansicht, die Autochthonen hätten keine «entwickelte» Kultur gehabt. Zum einen folgt Wolf hier also dem Denken der brasilianischen Romantik und Dom Pedros II. kulturpolitischem Projekt: Die ursprüngliche Bevölkerung Brasiliens wurde vernichtet, doch die Elite aus Rio de Janeiro imaginierte sich als ihre Nachfahren und erzählte auf deren Kosten ihre eigene Geschichte. Zum anderen, wie im vorangegangenen Kapitel bereits ausgeführt, findet sich wieder die Einschätzung, dass die brasilianische Literatur nicht «originell» sei, weil der Beitrag der brasilianischen autochthonen Kulturen zur Bereicherung der von den Portugiesen nach Brasilien mitgebrachten Kultur minimal gewesen sei. In der Übersetzung wird das «Streben nach Selbständigkeit» zur «tendance toujours croissante à l’indépendance», was das Agonale der Formulierung von Wolf zurücknimmt. Noch wichtiger ist der Wechsel vom deutschen «indigene» zum Begriff «nativiste»: In der brasilianischen Romantik war der Nativismus eine Form des literarischen Nationalismus, wie im Folgenden ausführlicher gezeigt werden wird. Jedoch sollte der Begriff bei Wolf erst später auftauchen: Ab der

meinsame dauerhafte Bewegung in der Zeit anzeigt, und die Überlieferung von bestimmten Werken und Themen gewährleistet. Dadurch bildet sich nicht nur ein Kanon, sondern auch eine Tradition heraus. Das bedeutete praktisch, dass erstens eine größere Menge an literarischen Veröffentlichungen zur Verfügung stand; zweitens, dass die Autoren sich ihrer Rolle bewusst waren und entsprechend an der Öffentlichkeit teilnahmen; drittens, dass sich eine zwar reduzierte, aber heimische Leserschaft gebildet hatte: «um sistema de obras ligadas por denominadores comuns, que permitem reconhecer as notas dominantes duma fase. Estes denominadores são, além das características internas, (língua, temas, imagens), certos elementos de natureza social e psíquica, embora literariamente organizados, que se manifestam historicamente e fazem da literatura aspecto orgânico da civilização. Entre eles se distinguem: a existência de um conjunto de produtores literários, mais ou menos conscientes de seu papel; um conjunto de receptores, formando os diferentes tipos de público, sem os quais a obra não vive; um mecanismo transmissor, (de modo geral, uma linguagem, traduzida em estilos), que liga uns a outros» (S. 23). Das unterscheidet «literatura» von bloßen «manifestações literárias». Candido sieht die Entstehung dieses Systems in Brasilien in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Antonio Candido: Literatura como sistema. In: Formação da literatura brasileira, Bd. 1, S. 23–25.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

vierten Epoche – wie er selbst in seiner ‹Einleitung› erklärt –, vor allem aber in der letzten, fünften Epoche durch den Beitrag von Gonçalves de Magalhães bei der politischen und literarischen Schaffung eines Bildes von Brasilien. In dieser Epoche nahm die brasilische Literatur [in der That] durch verschiedene Einflüße, deren wir gleich gedenken werden, unverkennbar einen neuen Aufschwung, {und} während sie einerseits sich noch furchtsam an ihre Muster, die portugiesische, und mittels derselben, die französische und italienische Literatur anschloss, zeigten sich andererseits immer bedeutsamer das Streben nach Selbstständigkeit und die Keime indigener, origineller Entwicklung. (S. 60) Dans la 2de moitié du 18me siècle la littérature du Brésil prit en effet un nouvel essor, par l’influence de plusieurs circonstances dont nous allons parler. Tandis que d’un côté elle n’ose s’écarter de ses modèles, les littératures portugaise, française et italienne, elle montre de l’autre une tendance toujours croissante à l’indépendance, et les germes d’un développement nativiste et original. (S. 45)

Im folgenden Abschnitt betont Wolf erneut den Zusammenhang zwischen Kultur und gesellschaftlichem Leben: Der literarische «Aufschwung» sei in Brasilien nicht nur «begünstigt» sondern auch «gestaltet» worden – und dies durch einen parallelen Aufschwung von Wirtschaft und Politik, auf Grundlage des «reichen Gewinn versprechende[n] Anbau[s] der Goldgrube». Weil Portugal durch das brasilianische Gold sehr schnell reich geworden sei, habe die Bedeutung der Kolonie rapide zugenommen. Zwar thematisiert Wolf die Verhältnisse zwischen literarischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, seine Deutungen wirken aber konstruiert, denn es geht ihm mit diesem Argument allein um eine Rechtfertigung des kolonialen Systems. Wolf legt nicht offen, dass der «Reichtum Brasiliens» allein in den Händen der portugiesisch-brasilianischen Oligarchie lag. Ein Beispiel dafür ist, dass nach Wolfs Auffassung der Marquês de Pombal42 die brasilianische

42 Sebastião José de Carvalho e Mello, bekannt als Marquês de Pombal (1699–1782) war während der Herrschaft von König João I. ab 1756 Premierminister von Portugal und der bedeutendste portugiesische Staatsmann des 18. Jahrhunderts. Ausgehend von einer aufgeklärten Politik führte er Maßnahmen zur Modernisierung des Staats durch. Unter anderem unternahm er eine Reform des Finanzsystems mit der Gründung von mehreren Handelsgesellschaften und Monopolen, schaffte die Sklaverei in Portugal und in den indischen Kolonien ab, um den Sklavenhandel nach Brasilien zu orientieren, übergab dem Staat die Kontrolle über Zensur, Bildung und Inquisition. Buarque de Holanda schreibt: «Desde o início, volta suas ideias e prodigiosa atividade para os domínios ultramarinos. Afirmará um dia que as colônias foram estabelecidas ‹com o preciso objeto da utilidade da metrópole a que eram pertencentes› (documento de 1776); e sabemos que essa utilidade não se opõe apenas à das outras potências (sentido primordial naquele texto), mas inclui a exploração imperialista. Ao mesmo tempo, porém, pretende instaurar uma espécie de nacionalismo liberal, incentivar o progresso e mesmo a felicidade dos povos subjugados». Sérgio Buarque

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Kolonie aus reiner Wohltätigkeit beschützte, und nicht etwa, weil Portugal die Kolonie erhalten wollte, um sein Außenhandelsdefizit auszugleichen. Die Stabilisierung der monarchischen Macht ist bei Wolf stets Fluchtpunkt seiner Argumentationen, der seine Parallelführung zwischen literarischen, wirtschaftlichen und politischen Formen rechtfertigt. Wolf nimmt dabei durchaus widersprüchliche Positionen ein, weil er die verschiedenen Aspekte des historischen Geschehens in seiner Geschichtserzählung dem monarchischen Prinzip unterordnet. Ein Bespiel dafür ist sein Verhältnis zum Jesuitenorden. In der ‹Einleitung› würdigt er die Wirkung der Jesuiten auf die Erhaltung der europäischen Kultur und die Christianisierung der Autochthonen in Brasilien. Zugleich lobt er das Wirken Marquês de Pombal, der den Jesuitenorden in Portugal und Brasilien auflöste. Wolf behandelt zudem andere von Pombal unternommene Reformen nicht, die Brasilien betrafen, wie etwa das Verbot der Nheengatu, einer lingua franca auf Basis verschiedener Sprachen der autochthonen Bevölkerungsgruppen. Das zeigt auch, dass Wolf nur bestimmte Elemente auswählt, um seine Version von Geschichte zu konstruieren. Obwohl eine Gleichstellung von Brasilien und dem «Mutterland» aufgrund der ungleichen Machtverhältnisse nicht trägt (man bedenke etwa Portugals fortgesetztes Handelsmonopol), nutzt er diese imaginäre Gleichheit für ein Bild von Brasilien, das den Oligarchen gefallen haben muss: Das Land sei keine Kolonie, sondern aufgrund seines Reichtums verfüge es, wie das Zentrum selbst, über politische und wirtschaftliche Macht. Auf Französisch wird der Diskurs in einer ähnlichen ideologischen Richtung ausgestaltet, doch mit einem anderen Wortschatz. Wolfs beständiges Lob des Kaisertums wird sprachlich zurückgenommen und die Wirkung von äußeren Einflüssen auf das literarische Schaffen limitiert. Zudem findet sich das Wort «exploitation», das die Geschäfte in Minas Gerais sehr viel genauer beschreibt als das deutsche Original. Das Wort «exploitation» verbindet sich semantisch mit dem Wort «oppresseur», das Wolfs «Eroberer» in der zweiten Epoche übersetzt. Einen solchen Aufschwung begünstigende und derartig gestaltende Einflüße waren das Emporblühen des Handels in Rio de Janeiro, die Verlegung der Residenz des Vicekönigs dahin [(1763)] und dadurch die Bildung eines neuen Centrums, der reichen Gewinn versprechende Anbau der Goldgrube von Minas Geraes und die Constituierung dieser Provinz, die Wichtigkeit welche Brasilien dadurch bei den Regierenden im Mutterlande gewann, besonders in den weit- und scharfsichtigen Augen Pombal’s, der nicht nur die reiche Colonie mit gleicher Sorgfalt behandelte wie das Mutterland, ihre hoffnunggebenden Söhne unterstützte, beförderte [und an sich zog,] sondern sogar den Plan gehabt

de Holanda (Hg.): História geral da civilização brasileira. A época colonial. Administração, economia e sociedade, Bd. 2, S. 50.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

haben soll, den Sitz der Monarchie nach Brasilien zu verlegen, dessen große Zukunft er voraussah. (S. 60–61) Les circonstances qui y contribuèrent, furent d’abord le commerce florissant de Rio de Janeiro; le fait que le vice-roi en fit sa résidence en 1763 et créa par là un nouveau centre de culture, puis l’exploitation des mines d’or de Minas Gerais et le défrichement de cette province, et enfin l’importance croissante du Brésil pour la mère-patrie. Cette importance s’accrût surtout depuis le moment où l’œil pénétrant de Pombal, qui traitait la riche colonie aussi bien que la métropole, vint à l’aide de ceux de ses enfants qui montraient du talent, et forma même le plan de transférer le siège de la monarchie au Brésil, dont il prévoyait le brillant avenir. (S. 45–46)

In einem weiteren Abschnitt seiner einführenden Bemerkungen zur dritten Epoche akzentuiert Wolf die Verknüpfung zwischen der Entstehung von Dichterschulen in Minas Gerais und dem Reichtum der Kolonie, die wiederum Literatur und Politik untrennbar verbindet, aber zugunsten einer Haltung, welche Versklavung, Großgrundbesitz, Monarchie und Katholizismus glorifiziert. Wolf sieht in der Literatur in erster Linie eine Beschäftigung für reiche Aristokraten. In der Übersetzung wird Wolfs gemäßigter Ausdruck «eine Art von» gestrichen und an dessen Stelle kommt eine klare Beschreibung der Gruppe als «societé célèbre». Auch Wolfs Einsatz des Substantivs «Kultur» ist wichtig, denn es handelt sich um einen zentralen Begriff, der stets in Zusammenhang mit Reichtum, hier «der Cultur des Goldes», Verwendung findet. Wolf macht die Entsprechung zwischen «Cultur des Goldes» und «geistiger Cultur» noch deutlicher: An diese schloßen sich die theils in der Provinz Minas, besonders zu Villa Rica (jetzt Ouro Preto) geborenen, theils dort ansäßigen Dichter, wie José de Santa Rita Durão, Claudio Manoel da Costa, Alvarenga Peixoto, Gonzaga, etc die wieder unter sich eine Art von Dichter-Schule bildeten, die unter dem Namen der von Minas [(Poetas mineiros)] nicht nur in poetischer sondern auch in politischer Hinsicht berühmt geworden ist. Denn in dieser Provinz hatte die Cultur des Goldes nicht nur regeres materielles Leben, sondern auch Entwicklung der geistigen Cultur zur Folge. Gerade von dieser Provinz gingen die revolutionären Bewegungen und die ersten Versuche nach [Erringung der] Unabhängigkeit aus, und eben jene Dichterschule nahm davon den thätigsten Antheil. (S. 62) A ces poètes se joignirent les écrivains nés dans la province de Minas ou y demeurant, surtout ceux de Villa Rica (aujourd’hui Ouro Preto), comme José de Santa Rita Durão, Cláudio Manuel da Costa, Alvarenga Peixoto, Gonzaga, etc. Ceux-ci formèrent à leur tour entre eux une société célèbre dans les annales politiques et littéraires du pays sous le nom d’école de Minas (Poetas mineiros). Dans cette province les mines d’or avaient produit non seulement une vie matérielle plus active, mais aussi un développement considérable de la culture intellectuelle. C’est précisément de cette province que partirent les mouvements révolutionnaires et les tentatives d’indépendance, à la tête desquelles se mirent ces poètes. (S. 47)

3.5 Eine brasilianische Monarchie

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Im Rahmen seiner einführenden Darstellung zur dritten Epoche präsentiert Wolf eine eigene Variante des historischen, politischen und literarischen Hintergrunds der Provinz Minas Gerais. Er ordnet den «Hochverrat», oder die «Conjuração mineira» (1789)43 in die weltweiten revolutionären Bewegungen vom nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zur Französischen Revolution ein. Wolf vertritt die Auffassung, dass das «sicherste Revolutionsmittel» die «Bedrohung der nächsten, materiellen Interessen» sei. An dieser Stelle sei angemerkt, dass auf Französisch nicht nur Abkürzungen und Einführungen neuer Begriffe unternommen worden sind – so wurde etwa das Wort «Kampf» in Wolfs Formulierung «nordamerikanischer Unabhängigkeitskampf» gestrichen und das «aurore» in «aurore de l’indépendance de les États-Unis» hinzugefügt –, sondern auch die Emanzipation Brasiliens unterschiedlich dargestellt wird. Auf Deutsch spricht Wolf von zwei verschiedenen Ideen, die nicht unbedingt miteinander zu tun haben, aber Ziel der «conjuração mineira» waren: Die «Losreißung von der Herrschaft des Mutterlandes» und die «Constituierung freier Republiken auch in Brasilien». Die kopulative Konjunktion kann in diesem Fall eine Kausalität zwischen beiden Elementen bezeichnen. Doch auf Französisch werden nicht nur beide Elemente anders übertragen: «Losreißung von der Herrschaft des Mutterlandes» wird zu «l’indépendance de la colonie», die «Herrschaft» verschwindet, und statt «Mutterland» tritt «colonie» ein. Das andere Element («Constituierung freier Republiken auch in Brasilien») wird zu «proclamation d’une république brésilienne», das Adverb «auch» fällt weg und damit die Nähe zwischen den brasilianischen und den oben erwähnten Bewegungen, die von republikanischen Ideen inspiriert wurden. Auffallend ist auch die Ersetzung der kopulativen Konjunktion im Deutschen durch die koordinierende Konjunktion «ou» auf Französisch, was beide Elemente in ein sich nicht gegenseitig ausschließendes Verhältnis setzt. So wird in der Übersetzung die Trennung von Portugal nicht unbedingt mit der Gründung einer brasilia-

43 Ebda. «Não foi uma insurreição de letrados, mas de homens descontentes visando a sacudir o jugo português. Embora não se tenham elementos suficientes para indicar com precisão suas filiações políticas, sofreu, inegavelmente, o impacto do Iluminismo francês, não sob a forma de sua filosofia, mas de seus ataques ao Antigo Regime, e o da independência dos Estados Unidos da América do Norte pela força do exemplo. A falta de consistência ideológica não invalida o significado histórico da Inconfidência Mineira. Era um sintoma da desagregação do Império Português na América. A Coroa portuguesa bem o sentiu e tentou, por um castigo exemplar, deter a marcha do processamento histórico e impedir, pelo terror, que seus domínios seguissem o exemplo da América inglesa. Refletia, por outro lado, os impulsos de um povo que tomava consciência de sua realidade, suas particularidades e suas possibilidades. Nesse sentido foi nacionalista, mesmo que pretendesse circunscrever-se a Minas Gerais. Pode-se, portanto, considerá-la, sem hesitação, um movimento precursor da Independência do Brasil», S. 450.

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nischen Republik verbunden, es könnte sich auch eine andere politische Organisationsform ergeben, wie es in der Tat mit der Entstehung eines brasilianischen Kaiserreichs geschehen ist. [... Denn bei der Ankunft des] Nachfolgers des Menezes, des Visconde de Barbacena, der im J. 1788 dieses General-Capitanat antrat, wurde das Gerücht verbreitet, er werde nun auf einmal die 700 Arroben Gold eintreiben, welche die Capitanie als Kopfgeld (pela lei da capitação) schuldete. Diese Bedrohung der nächsten, materiellen Interessen, benützte als das jederzeit sicherste Revolutionsmittel jene Partei, die, begeistert von den durch nord-amerikanischen Unabhängigkeitskampf und die Vorspiele der Französischen Revolution erzeugten und selbst bis dahin vorgedrungenen Ideen, schon damals die Losreißung von der Herrschaft des Mutterlandes und die Constituierung freier Republiken auch in Brasilien verwirklichen zu können glaubte. (S. 63–64) A l’arrivée du successeur de Menezes, le vicomte de Barbacena, en 1788, le bruit se répandit que celui-ci exigerait à la fois les 700 arrobas d’or qui formaient la capitation de la province (pela lei da capitação) et qui étaient encore dues. Les intérêts matériels les plus chers étaient menacés, et ce parti, auquel l’aurore de l’indépendance des États-Unis et les avant-coureurs de la révolution française avaient monté la tête, sut habilement profiter du plus sûr de tous les moyens de révolution pour chercher à réaliser déjà alors l’indépendance de la colonie ou la proclamation d’une république brésilienne. (S. 48)

Wolf fährt in seiner historischen Darstellung fort und berichtet im nächsten Absatz von der Rolle der Dichter im Aufstand gegen die portugiesische Regierung. Da diese sowohl politisch als auch literarisch tätig gewesen seien, hätten sie die Ideen von der einen zur anderen Sphäre vermittelt. Die Idee von «Unabhängigkeit», welche hier als Grundstein der Nation dargestellt wird, sei ab diesem Moment in die Literatur eingetreten. Dem entspricht Wolf Vorstellung von einer «lokaleren und individuelleren Färbung» dieser Literatur, die von ihm beobachtete «Wahl nationaler Stoffe», denn Brasilien habe über keine «volksmäßige Grundlage» verfügt. Es sei also darum gegangen, «den vaterländischen Boden» in einen Schauplatz zu verwandeln, in dem die «Eingeborenen» als «Mithandelnde» sichtbar werden konnten. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Wolf unter «Eingeborenen» die Nachfahrern der Portugieser versteht. So wird deutlich, dass die «nationalen Gefühle und Gesinnungen» nicht nur auf diese Gruppe beschränkt waren, sondern auch aus ihrer Imagination hervorgingen. Bemerkenswert ist, dass die Bezeichnung «Hochverrat von Minas» zwar die Perspektive der kolonialen Regierung wiederholt, hier aber in Anführungszeichen steht. Die Anführungszeichen weisen nur scheinbar auf Wolfs Neutralität hin, denn er übernimmt den Ausdruck schlicht aus seinen brasilianischen Quellen ins Deutsche. Die Anführungszeichen verschwinden in der französischen Übersetzung. Hier lassen sich die Änderungen als Perspektivverschiebung erkennen: Der Ausdruck der «angeregten Ideen von Unabhängigkeit» wird mit dem Verb «naî-

3.5 Eine brasilianische Monarchie

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tre» verbunden, welches etwas «Natives» konnotiert, statt «eingeführt» und «angeregt» zu werden. Durch das Verb wird ein indirekter Anschluss zur «nation» hergestellt, denn das Substantiv wurde aus dem lateinischen natio hergeleitet, was die «rechtliche und emotionalen Bindung des einzelnen» in einer Gemeinschaft durch die Geburt mitbestimmt.44 Außerdem wird «Streben» wieder als «tendance» widergegeben. Die Ersetzung des Adjektivs «curieux» durch «charakteristisch» scheint für weniger zu Wolfs wissenschaftlichen Ansprüchen zu passen. Das Bild des Bodens ist bei Wolf, wie schon gezeigt werden konnte, Ausdruck «vaterländischen Bodens» – im französischen wird es schlicht zu «patrie». Auch hier findet sich wieder die Verwechslung in Bezug auf den Begriff von «Eingeborenen», der bei Wolf die Nachfahren der Eroberer bezeichnet, im Französischen aber als «indigènes» übersetzt wird. «Nationale Gefühle und Gesinnung» werden zu «sentiments patriotiques». Außerdem ist Wolfs ursprünglicher Absatz in zwei Teile geteilt. So ist dieser «Hochverrath von Minas» sowohl durch die in demselben eine hervorragende Rolle spielenden Dichter, als auch durch die [dadurch] angeregten Ideen von Unabhängigkeit in der Literaturgeschichte Brasiliens epochemachend geworden. Denn von nun an tritt in der brasilischen Nationalliteratur, wenn auch noch schüchtern, das Streben nach größerer Selbstständigkeit auf, sei es durch eine localere und individuellere Färbung, sei es auch nur durch die Wahl nationaler Stoffe, und in letzterer Beziehung zeigt sich dies vorzüglich in der Epik. Es ist jedenfalls charakteristisch, daß man jetzt begann, in dieser Dichtungsgattung Versuche zu machen, die freilich noch ganz nach fremden Mustern geformt waren, weil ihnen jede eigentlich volksmäßige Grundlage fehlte, aber doch schon es wagten, den vaterländischen Boden zum Schauplatz, [Eingeborene zu Mithandelnde waren auch noch in zweiter Linie,] und nationalen Gefühle und Gesinnungen zum Gegenstande ihrer Begeisterung und Sympathie zu machen. (S. 65) Cette haute-trahison de Minas fait époque dans l’histoire littéraire du Brésil, soit par les poètes qui y jouent les principaux rôles, soit par les idées d’indépendance qu’elle fit naître. C’est de cet événement que date dans la littérature brésilienne la tendance, d’abord timide, puis de jour en jour plus grande, à l’émancipation, soit seulement par une couleur plus locale, soit aussi par le choix de sujets nationaux, surtout dans l’épopée. C’est un fait curieux qu’on commença alors à s’essayer dans ce genre. Les productions du temps étaient, il est vrai, des imitations de poèmes étrangers, parce qu’elles n’avaient pas de base populaire, mais leurs auteurs osaient déjà transporter l’action dans leur patrie, faire remplir aux indigènes les rôles secondaires et y exprimer des sentiments patriotiques. (S. 49)

44 Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, 212–215.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

In dieser dritten Epoche beschäftigt sich Wolf mit dem Werk O Uraguai von Basílio da Gama (1741–1795) und der Hervorbringung von «nationalen Stoffen» in der Epik. Im folgenden Zitat offenbart Wolf, wie die Epik, eine dem brasilianischen Zusammenhang zunächst nicht originäre Form, von Basílio da Gama bewusst im Sinne eines nationenbildenden Diskurses genutzt wurde. Dessen Auswahl von Themen und Figuren, die ein bestimmtes Bild von Brasilien zeigen soll, wird von Wolf positiv als «der richtige Weg» beurteilt. Basílio da Gamas Suche nach passenden «poetischen Elementen» für die Imagination und Darstellung der «brasilianischen Zustände» regt Wolfs Interesse für die «brasilische Eigenthümlichkeit» an, welche ihm Voraussetzung für das «nationale Selbstbewusstsein» wird. Auf Französisch wird diese Folgerung nicht wiedergegeben, denn die Konjunktion «so» verschwindet, stattdessen geht es hier um eine Auflistung von Aspekten, deren Verbindung nicht hervorgehoben wird. Genauso wird das Verb «entdecken» gestrichen und der Ausdruck «in brasilischen Zuständen» ist durch das allgemeine «dans le Brésil lui-même» übersetzt. Zwar feiert er {Basílio da Gama} den Sieg der spanischen und portugiesischen Waffen; aber das Hauptinteresse lenkt er auf die Eingeborenen, durch Schilderung von Charakteren und Sitten, Erzählung anziehender Episoden, und Beschreibung von Naturscenen, und so gewinnt er – ohne es vielleicht beabsichtigt zu haben – die größte Theilnahme für die Besiegten, für die der Übermacht unterliegenden Opfer der Verführung. Er hat darin sicher schon den rechten Weg eingeschlagen, in brasilischen Zuständen die poetischen Elemente zu suchen und zu entdecken, für brasilische Eigenthümlichkeiten zu interessieren, und so das nationelle Selbstbewußtsein zu wecken. (S. 71) Il célèbre, il est vrai, la victoire des armes portugaises et espagnoles, mais il reporte l’intérêt principal sur les indigènes par des peintures de caractères et de mœurs, par des épisodes attachants et par des descriptions magnifiques. Il met en jeu, contre son gré peut-être, les sympathies pour les vaincus, pour les victimes de la séduction. C’est certainement à bon droit que José Basilio a cherché les éléments poétiques dans le Brésil lui-même. Il a réussi à éveiller l’intérêt pour ce pays et ses particularités et n’a pas peu contribué par là à donner essor au sentiment national. (S. 54)

Nachdem Wolf sich mit der Epik beschäftigt, wendet er sich der Lyrik zu. Im folgenden Zitat legt Wolf nicht nur sein Verständnis von Lyrik offen, sondern zieht auch einen Vergleich zwischen europäischen und brasilianischen poetischen Formen, die im Dienst der «Nationalisierung» von Literatur wirken könnten. An Wolfs Vergleich zwischen den brasilianischen Lyrikern Tomás Antônio Gonzaga (1744–1810) und Alvarenga Peixoto (1742–1793) werden weitere Aspekte seiner Vorgehensweise deutlich: Wolf versteht die Literaturgeschichte als eine Reihe verschiedener Stadien, die bis zu einem Höhepunkt durchlaufen werden müssen. Die Autoren werden als die Akteure betrachtet, welche diesen Ablauf antreiben. Diese Bewegung ist bei Wolf durch das Verb «streben» ausgedrückt. In diesem

3.5 Eine brasilianische Monarchie

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Sinne werden die Autoren von Wolf bewertet: Je nachdem, ob sie auf das «Nationalisieren» «hinstreben». Das erklärt Wolfs Anerkennung für Alvarenga, der zwar «[an] dichterischer Begabung [...] unbezweifelt Gonzaga nach[steht]», es aus Wolfs Sicht aber besser als alle früherer Lyriker verstanden habe, eine Zusammenstellung von ausgewählten Elementen der brasilianischen Natur (autochthone Bäume, Vögel und Flüsse) in eine «eigenthümliche vaterländische Färbung» zu verwandeln. Alvarenga kombiniere in einer überzeugenden Weise, was Wolf «nationale Formen» nennt (wie die Form des Rondós und der Redondilha) mit «volksmäßigen Rhythmen» (wie die Verwendung von Refrains) mit dem Ziel, auch in der Literatur die Unabhängigkeit Brasiliens von europäischen Vorbildern zu demonstrieren. Wolfs Überzeugung, die Brasilianer sollten eine «eigenthümliche Literatur» schaffen, verhüllt die Tatsache, dass es für sie unmöglich ist, auf europäische Traditionen gänzlich zu verzichten. Ein Beispiel dafür ist, dass die Spuren der «alt-classischen Mythologie» von ihm als schlecht gelungen, weil nicht ausreichend «national» betrachtet wurden. Als Abschluss zur dritten Epoche betont Wolf noch einmal die Auswirkungen der Abhängigkeit von Portugal sowohl «in der Poesie» als auch «in der Politik». Hier nutzt Wolf Naturmetaphern, die auf eine bestimmte Vorstellung von brasilianischer Natur verweisen: Der «vaterländische Boden» soll «befruchtet werden». Die Sonne ist in diesem Fall die Metapher für den europäisch aufgeklärten Begriff der Freiheit. In der Kolonie, im großen Reichtum Brasiliens, war jedoch Freiheit auf eine bestimmte Schicht beschränkt. Es ist hier nicht die auf Versklavung basierende, auf wirtschaftlichen Gewinn ausgerichtete Produktionsweise gemeint, die tausende Menschen zu einer Existenz als bloße Ware verdammte, sondern die politische Freiheit einer sehr kleinen elitären Gruppe. Wir haben bemerkt, daß wie Gonzaga auch Alvarenga unter dem Namen der Geliebten seine erotischen Gedichte zusammengereicht hat und diese hauptsächlich seinen Dichterruhm begründen. An Innigkeit des Gefühls, an Tiefe des Gemüths, an Gedankenfülle, kurz an [höherer] dichterischer Begabung steht er unbezweifelt Gonzaga nach; aber in einer Beziehung gebührt ihm in der Geschichte der brasilischen Literatur eine bedeutendere Stellung als jenem. Er hat nämlich dahin gestrebt, auch der lyrischen Poesie eine eigenthümliche vaterländische Färbung [(«côr americana»)] zu geben, sei es durch der Natur Brasiliens entnommene Bilder und Gleichnisse, sei es durch die Anwendung nationaler Formen und volksmäßiger Rhythmen. Zwar hat auch er noch durch das Schäfer-Costüm als höfischer, und durch den nicht sparsamen Gebrauch der alt-classischen Mythologe als gelehrt-geschulter Dichter sich legitimieren [zu müssen] geglaubt; aber seine Hirten und Götter weilen nicht mehr an den Ufern des Tejo und Mondego, sondern an denen des Plataund Amazonen-Stromes; seine Dryaden und Hamadryaden beleben die brasilischen Bäume Cajueiro und Mangueiras (Akaju- und Mango-Baum) und er verwandelt sich selbst in das niedlichste Vöglein seiner Heimath (Beija-flor); dazu hat er sich der nationalen Form des

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Rondó mit Estribilhos (Refrains) und der volksmäßigen Redondilhas bedient. So gebührt Alvarenga unstreitig das Verdienst, zuerst den Weg in der Lyrik gezeigt zu haben, wie auch diese zu nationalisieren war, wenn auch sein Beispiel damals noch keinen durchgreifenden Erfolg haben konnte; weil die Abhängigkeit vom Mutterlande in der Poesie wie in der Politik noch zu groß war. Aber der Same, den er in der Lyrik, so wie sein Freund José Basílio da Gama in der Epik, in den vaterländischen Boden gelegt hatte, blieb nicht unfruchtbar; er trug reiche Früchte, als die Sonne der Freiheit ihn zeitigte. (S. 98–100) Nous avons déjà fait observer qu’Alvarenga comme Gonzaga a donné à ses poésies érotiques le nom de sa maîtresse, et que celles-ci l’ont surtout rendu célèbre. Pour le talent poétique il est sans aucun doute inférieur à Gonzaga, mais sous un rapport il occupe une place plus élevée dans le panthéon brésilien. Il s’est efforcé en effet de donner aussi à la poésie lyrique une couleur nationale (côr americana), soit par des images ou des comparaisons empruntées à la nature brésilienne, soit en employant, des formes nationales et un rythme populaire. Il est vrai qu’il a cru devoir se donner un brevet de poète de cour par l’emploi des inévitables bergers, et d’écrivain savant par tout l’attirail de la mythologie classique; en revanche ses personnages ne fréquentent plus les bords du Tage et du Mondego, mais bien ceux des fleuves de la patrie; ses dryades et hamadryades animent les cajueiros et mangueiras (acajou et mango) du Brésil, et le poète se métamorphose lui-même en oiseau (le Beija-flor, baise-fleur, l’oiseau le plus joli du Brésil). Il s’est servi de la forme nationale du rondó avec des estribilhos (refrains) et des redondilhas. Alvarenga a donc le mérite d’avoir frayé la route; son exemple ne fut pas suivi alors, parce que la dépendance de la métropole était encore trop grande en poésie comme en politique. Mais ces premières semences, comme celles de son ami José Basílio pour l’épopée, ne périrent pas et portèrent des fruits abondants, lorsque le soleil de la liberté vint les mûrir. (S. 72)

Auffällig sind hier auch die Ersetzung von «Geschichte der brasilischen Literatur» durch «le panthéon brésilien» und der Wegfall von «nationalisieren».45 Wie in einem anderen Beispiel sind die Anführungszeichen in «côr americana» verschwunden und aus der «eigenthümlichen vaterländischen Färbung» wird «couleur national». «Volksmäßig» wird zwei Mal genutzt, bei «volksmäßigen Rhythmen» wird es «populaire», im Gegensatz dazu fällt es in der Übertragung von «volksmäßigen Redondilhas» schlicht weg. Um den unternommenen Vergleich der dritten Epoche zusammenzufassen, sollen folgende Punkte hervorgehoben werden: Im Kern von Wolfs Darstellung

45 Der franzönsische Panthéon wurde während der Französischen Revolution säkularisiert (er sollte eine Kirche nach dem Vorbild von römischem Pantheon werden). Seit 1789 werden dort ausgewählte französischen BürgerInnen begraben. Er ist ein Symbol für Frankreich als Nation. Wenn der Übersetzter dieses Wort nutzt, verweist er damit auf diese Geschichte, es ist ein weiteres Beispiel seiner republikanischen Ansicht von Nation, die in der französischen Denktradition zu verorten ist.

3.6 Unabhängigkeit und Freiheit als Ideologie

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steht die Idee einer «Nationalisierung» der Literatur. Dafür muss Originalität (in Bezug auf die europäischen, insbesondere die portugiesischen Vorbilder) in den literarischen Werken diagnostiziert werden können. Zum ersten Mal ist das Thema der Unabhängigkeit Brasiliens Teil der literaturgeschichtlichen Betrachtung: Das ist der zentrale Beitrag des Arcadismo und der Escola de Minas. Wolfs Begriff von der «Cultur des Goldes» ermöglicht die Korrelation zwischen politischer und literarischer Independenz, denn die Aufständischen waren gleichzeitig Dichter. Wolf führt damit ein weiteres Beispiel dafür an, dass Literatur nur in einem reichen, adligen Kontext entstehen kann. Die Formulierung «Cultur des Goldes» verdeckt jedoch die tatsächlichen Bedingungen für die Produktion von Reichtum: Ausbeutung von Arbeitskraft und von den Goldgruben in Minas Gerais. Genau diesen Begriff führt die französische Übersetzung ein («exploitation»), von der man daher als etwas wirklichkeitsnäher sprechen kann. Die Literatur zu «nationalisieren» sei nötig, so Wolf, denn der brasilianischen Literatur fehle eine «volksmäßige Grundlage», d. h. ein Mittelalter und eine adlige Schicht. In der Übersetzung wird dieses Argument abgemildert, denn Wörter wie «eigenthümlich», «Boden» und weitere Begriffe des deutschen Idealismus werden nicht übertragen. Stattdessen führt die französische Übersetzung anderen Vokabeln ein, die erst später in Wolfs Darstellung auftauchen werden, wie etwa den Begriff des «Nativismus». Auf dieser Weise wird im französischen Text die «indigene Grundlage» für die Entstehung der brasilianischen Literatur hervorgehoben. Diese Haltung steht im Gegensatz zur Wolfs Behauptungen in der ‹Einleitung› und in der ersten Epoche seiner Studie. Dennoch entsprechen sie den kulturpolitischen Ansprüchen Dom Pedros II., eine Vergangenheit für die brasilianische Geschichte auf der Basis eines idealisierten Bildes autochthoner Kultur zu schaffen. Der Brief von Porto-Alegre an Wolf, in dem er über das Werk von Thomás Antonio Gonzaga Marília de Dirceu Auskunft gibt, kann diese Änderung in Wolfs Einsichten erklären. Wahrscheinlich haben Wolfs brasilianischen Bekanntschaften ihn auch in dieser Passage «geleitet».  

3.6 Unabhängigkeit und Freiheit als Ideologie Der Höhepunkt von Wolfs Deutung der brasilianischen Literaturgeschichte ist in der vierten und fünften Epoche dargestellt. Beide Hauptteile beziehen sich auf Wolfs Gegenwart, sodass Autoren und Werke des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt von Geschichte der brasilischen Nationalliteratur und Le Brésil littéraire stehen. Die vierte und fünfte Epoche machen mehr als die Hälfte des Buches aus: Im deutschen Manuskript reicht dieser Teil von Seite 113 bis 364 und in der französischen Fassung von Seite 84 bis 242.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

In der vierten Epoche berücksichtigt Wolf den Zeitraum vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1840. Zwei entscheidende Geschehnisse sind für diese Epoche kennzeichnend: die Unabhängigkeit Brasiliens (1822) von Portugal und die vorzeitige Krönung von Dom Pedro II. zum Kaiser von Brasilien (1840). Wolf beschäftige sich also mit der Entstehung des brasilianischen Kaisertums und der Beteiligung eines Nachfahren der habsburgischen Dynastie an der Regierung Brasiliens. Im Manuskript wird die Beschreibung der Kapitelthemen später ergänzt, wie die hinzugefügten Sätze in eckigen Klammern anzeigen: 4te. Epoche. Vom Anfang des 19ten. Jahrhunderts, insbesondere von der Proclamation der Unabhängigkeit des brasilischen Reiches (1822) bis [zur völligen, nicht nur politischen, sondern auch literarischen Emancipation vom Mutterlande, und von der ausschließenden Herrschaft des Pseudo-Classicismus durch den Einfluß des modernen Romanticismus (1840).] (S. 113) Quatrième Période. Du commencement du 19me siècle et surtout de la proclamation de l’indépendance du Brésil, jusqu’a l’émancipation politique et littéraire de la mère-patrie et de la domination exclusive du pseudo-classicisme par l’influence des Romantiques (1840). (S. 84)

Diese spätere Ergänzung kann darauf hindeuten, dass Wolf nicht von Anfang an genau geplant hat, wie er die Zeitspanne des 19. Jahrhunderts periodisieren würde. Anhand dieses Nachtrags wird indes Wolfs Zugriff auf diesen historischen Moment evident: Die Spannung zwischen «Herrschaft des Pseudo-Classizismus» und «Einfluss des modernen Romanticismus» wird überwunden. Wolf zieht eine Parallele zwischen der tatsächlichen politischen Abhängigkeit Brasiliens von Portugal und der kulturellen Abhängigkeit Brasiliens von Frankreich. Wolfs Annährung an diese zwei Arten von Herrschaft führt dazu, dass die LeserInnen den Eindruck bekommen, die politische Unabhängigkeit 1822 sei auch ein Ergebnis des «modernen Romanticismus». In der französischen Übersetzung werden diese Elemente jedoch nur recht lose übertragen, sodass Wolfs Standpunkt nicht mehr eindeutig nachvollziehbar ist. Ein Beispiel dafür ist, dass das Wort «Reich» nicht übersetzt wurde, obwohl es für Wolfs Denken zentral ist. Es bezieht sich auf seine bevorzugte politische Regierungsform und deutet auf die Beibehaltung der Monarchie selbst nach der Unabhängigkeit Brasiliens hin. Auch das Wort «völlig», das hier emphatisch wirkt, wird nicht wiedergebeben. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Versionen ist für den Begriff des «modernen Romanticismus» festzuhalten, den Wolf später kommentieren wird: auf Französisch wird nicht die literarische Bewegung des «modernen Romanticismus» erwähnt, sondern ihren Anhängern verallgemeinernd die Bezeichnung «Romantiques» zugewiesen, was Wolfs Absicht, diese Bewegung über das Adjektiv «modern» zu definieren, untergräbt.

3.6 Unabhängigkeit und Freiheit als Ideologie

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Wolf beginnt in der Folge den ersten Absatz des neunten Kapitels mit der Adversativpräposition «trotz», um die Spezifik dieses historischen Moments am Anfang des 19. Jahrhunderts hervorzuheben. Er spricht hier zum ersten Mal von einem «geistigen Colonialverhältnis», ein wesentlicher Begriff in diesem Zusammenhang, denn er produziert widersprüchliche Assoziationen zwischen dem idealistischen Begriff des Geistes und einem konkreten Verhältnis von Unterdrückung, dem «Colonialen»: Trotz des Aufschwungs, den die brasilische Literatur, wie wir gesehen haben, seit der Mitte des 18ten. Jahrhunderts gewonnen, trotz des ersten Aufflackerns des Nativismus, der sich auch in ihr, wie in den politischen und socialen Verhältnissen, namentlich in der DichterSchule von Minas kundgab, blieb in ihr nicht minder, als im staatlichen und geselligen Leben, das Colonial-Verhältniß, die geistige Abhängigkeit vom Mutterlande und von Europa noch so vorherrschend, daß sie von dort den Impuls und die Muster empfing, der europäischen Geschmacksrichtung folgte, zunächst in Stoff und Form an die portugiesische Literatur sich anschloß, und daß Brasiliens Söhne noch immer auf der Hochschule von Coimbra und am Hofe von Lissabon ihre wissenschaftliche Weihe und ihre literarische Ausbildung sich holten. (S. 113–114) Malgré l’essor qu’avait pris la littérature du Brésil dès la seconde moitié du 18me siècle, malgré les premières étincelles de l’esprit national, que nous avons vues briller en politique comme dans les lettres au sein de l’école de Minas, la dépendance politique, littéraire et sociale de la métropole n’en resta pas moins si dominante, que cette école elle-même en reçut son impulsion, ses modèles, son goût et même la forme de ses écrits. Les enfants du Brésil n’en continuèrent pas moins à demander à l’université de Coïmbre leur culture scientifique et littéraire. (S. 84)

In dem er «Colonial-Verhältnissen» durch «geistiger Abhängigkeit» konkretisiert verschleiert er die materielle Dimension der Kolonisationsgeschichte. Es wird so nicht mehr als ein konkretes, wirkliches «Colonial-Verhältnis» bezeichnet, sondern eher als eine abstrakte, intellektuelle Abhängigkeit. Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt, die das Kolonialverhältnis begründen, werden verschwiegen. Obwohl Wolf behauptet, dass die materielle Abhängigkeit auch eine immaterielle hervorbringen kann, was seine Perspektive «historisch» machen soll, verfolgt Wolf diskursiv eine Strategie, die die materielle Abhängigkeit sehr viel geringer erscheinen lässt, wenn man sie mit einer «geistigen Abhängigkeit» vergleicht. Nicht umsonst entscheidet sich Wolf genau in diesem Punkt seiner Darstellung, dieses Verhältnis zu benennen. Wenn Herrschaft sich vor allem auf einer eher «geistigen» Ebene äußert, kann er sein Argument besser begründen, «die Deutschen» hätten Europa – und auch Brasilien – vom «französischen Pseudo-Classizismus» «geistig befreit». Wolfs Darstellung wird vom Übersetzer zusammengefasst und verändert. Die Formulierung «Colonial-Verhältnis» verschwindet auf Französisch. Auf Deutsch

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

steht, dass Brasilien auch von Europa abhängig sei, während auf Französisch das Wort «métropole» genutzt wird, ohne den Hinweis auf das Land Portugal. Wolfs Opposition zwischen dem «französischen Pseudo-Classicismus» und dem «deutschen Romanticismus» verliert also auf Französisch einen wichtigen Anknüpfungspunkt. In diesem Auszug sind auch zwei weitere Änderungen auffällig. Erstens wird «Nativismus» auf Französisch durch «esprit national» ersetzt. «Esprit national» mag sich auf die Philosophie des deutschen Idealismus beziehen, jedoch nicht in der Art und Weise, wie Wolf diese Beziehung formuliert. Außerdem erscheint «Nationalgeist» in dem verwendeten Korpus nur ein einziges Mal und zwar in Bezug auf Antonio José da Silva, d. h. der Ausdruck spielt wohl eine nicht so zentrale Rolle in Wolfs Einsichten wie andere Begriffe, etwa «Nationalliteratur», «National-Charakter», «nationales Selbstbewusstsein» und «nationale Form». Auf Französisch werden «nativisme» und «nativiste» nicht immer als Übersetzungen der deutschen Begriffe «Nativismus» und «nativistisch» eingesetzt. An einigen Stellen werden andere Ausdrücke mit diesem Begriff übersetzt, wie das folgende Beispiel zeigt: «[...] Keime indigener, origineller Entwicklung» (S. 60) wird zu «les germes d’un développement nativiste et original» (S. 44). Im Originalmanuskript ist die Anwendung des Begriffs «Nativismus» genauer, denn auf Deutsch erscheint das Wort erst ab einem bestimmten historischen Moment – nämlich ab Wolfs vierter Epoche. Auf Französisch hingegen stammt das oben erwähnte Beispiel aus der dritten Epoche. Auf Portugiesisch muss «Nativismus» außerdem von «Indianismus» unterschieden werden, doch sowohl in Geschichte der brasilischen Nationalliteratur als auch in Le Brésil littéraire wird nur «Nativismus» genutzt, was zu Verwechslungen führen kann. In der Literaturwissenschaft nutzt etwa Antonio Candido das Wort «nativismo» in Bezug auf die lobende Darstellung der Eigenschaften der brasilianischen Naturlandschaften als Ausdruck des Patriotismus: etwa bei Formulierungen wie «pitoresco tradicional como exaltação da pátria» oder «paisagem como estímulo e expressão do nacionalismo».46 «Indianismo» ist dagegen eine Tendenz der romantischen Schule, welche den imaginierten Autochthonen in den Mittelpunkt der literarischen Darstellung stellt und ihn als Held der brasilianischen Geschichte einführt. Die positive Bewertung der autochthonen Bevölkerung bezieht sich lediglich auf ihre literarische Repräsentation, in der sie als entscheidendes Element in der Hervorbringung einer nationalen Identität betrachtet wird. Der Indianismo wurde vor allem aus dem französischen Exotismus eines Chateaubriands abgeleitet und insbesondere von den Mitgliedern des IHGB und von Dom Pedro II. rezi 

46 Antonio Candido: Pitoresco e nativismo. In: Formação da literatura brasileira, Bd. 1, S. 200.

3.6 Unabhängigkeit und Freiheit als Ideologie

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piert, gefördert und weiterentwickelt.47 Auf diese Tendenz des Indianismus bezieht sich Wolf wahrscheinlich, wenn er das Wort «Nativismus» nutzt. In Wolfs Geschichtsschreibung werden außerdem «Brasiliens Söhne» hervorgehoben, während sich auf Französisch das Wort «enfants» auf alle Menschen bezieht, ohne Genderdifferenzierung. Die Verallgemeinerung «les enfants du Brésil» bezieht sich allerdings nur auf die Kinder der Reichen, die in Coimbra studieren konnten. Durch diese Metonymie werden die Kinder der Reichen für alle Kinder genommen. Das stützt meine These, dass Wolf mit seinem Buch einen elitären Standpunkt bei der Betrachtung von Literatur und Geschichte einnimmt. «Brasilien», das ist für ihn ein kleiner Kreis von reichen, weißen, gebildeten (männlichen) Menschen, die im Luxus leben und Literatur als politisches Mittel für die Beibehaltung dieser privilegierten Situation produzieren. Die Formulierung «Brasiliens Söhne» evoziert darüber hinaus die Idee, dass sich das Land noch in seiner Jugend befinde. Diese Metapher war üblich im Kontext der südamerikanischen Kolonien, doch war das Verweiselement normalerweise der imaginierte Autochthone. So übernehmen die Nachfahren der Kolonisatoren die Rolle der «Eingeborenen» und werden somit «die Brasilianer». Im folgenden Abschnitt bekommt die ideologisch-diskursive Spannung zwischen Original und Übertragung weitere Akzente. Hier argumentiert Wolf, dass die Unabhängigkeit Brasiliens keine autochthone Entwicklung war, sondern ebenso aus Portugal kam wie andere Elemente des sozialen und kulturellen Lebens in Brasilien. Allerdings werden bestimmte Verben, Sätze und Ausdrücke, welche die LeserInnen davon überzeugen sollten, dass die fortgesetzte Beteiligung der Portugiesen an der Regierung Brasiliens nach der Unabhängigkeit sinnvoll war, auf Französisch entweder gestrichen oder umformuliert. Wolfs Verteidigung der Monarchie wird also in der französischen Fassung reduziert. Auffallend ist das Verschwinden des Satzes «welche die heimischen Elemente entfesselten und stärkten» am Anfang des Abschnitts. Die beiden ausgewählten Verben, die einem agonalen semantischen Feld angehören, werden nicht wiedergegeben, und die neutrale, kurze Formulierung «une nouvelle voie» drückt in der französischen Version keinen Enthusiasmus für die Beteiligung der portugiesischen Monarchie an der Unabhängigkeit Brasiliens aus. Ja selbst die ersten entscheidenden Schritte, welche die heimischen Elemente entfesselten und stärkten, sollten noch vom Mutterlande ausgehen, als der damalige Regent Portu-

47 Candido erklärt, der Indianismus «preocupou-se sobremaneira em equipará-lo [o indígena] qualitativamente ao conquistador, realçando ou inventando aspectos do seu comportamento que pudessem fazê-lo ombrear com este – no cavalheirismo, na generosidade, na poesia.» Ebda., Bd. 2, S. 19.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

gals, D. João, am 23 Januar 1808 in Bahia landete von Napoleon’s kronenräuberischen Hand gezwungen, in dem transatlantischen Theile seines Reiches den legitimen Thron zu bergen, und der erste, der den Sitz des Hofes hierher verlegte, von dem jubelnden Volke prophetisch als «Brasiliens Kaisers» begrüßt wurde. Als einer seiner ersten Regierungsacte die brasilischen Höfen für alle Flaggen eröffnete, war der jahrhundertjährige Bann gelöst, das Colonial-verhältniß für immer gebrochen und Brasiliens Unabhängigkeit ausgesprochen; dessen Erklärung zu einem «Reich» in gleichen Range mit dem Mutterlande im J. 1815, und dessen Constituierung zum völlig selbstständigen Kaiserthum [im J. 1822] waren nur die unausbleibliche Consequenzen davon. (S. 114) Les premiers pas que fit le Brésil dans une nouvelle voie partirent du Portugal lui-même. Le régent D. João, fuyant la main puissante de Napoléon, fut réduit à transporter pour la première fois le siège du gouvernement légitime dans ses possessions transatlantiques, où il arriva le 23 janvier 1808. Reçu avec enthousiasme par le peuple, il fut salué tout d’abord du titre d’empereur du Brésil. Un des premiers actes de son gouvernement fut d’ouvrir à toutes les nations les ports du pays. Ce fait équivalait à la déclaration de l’indépendance du Brésil; l’élévation en 1815 de l’ancienne colonie au même rang que la métropole, et son émancipation complète en1822 n’en furent que les conséquences inévitables. (S. 84)

Entscheidend für meine Hypothese zu den ideologischen Interessen in Wolfs Geschichtsschreibung ist die Beschreibung von Napoléons Angriff auf Portugal. Auf Deutsch schreibt Wolf, dass Dom João gezwungen gewesen sei, um seinen «legitimen Thron» von «Napoléon’s kronenräuberischen Hand» zu retten, den Sitz des Hofes nach Brasilien zu verlegen. Die französische Version erzählt dies anders: Dom João ist aufgrund der «main puissante» (und nicht der «kronenräuberischen Hand») von Napoléon nach Brasilien geflohen («fuyant»), was eher Dom Joãos Schwäche als seinen Mut markiert. Der Satz «fut réduit à transporter» drückt etwas Ähnliches aus. In diesem Sinne klingt Wolfs fortgesetztes Lob der portugiesischen Monarchie in der französischen Fassung widersprüchlich, denn die Figur von Dom João erscheint von Anfang an als demoralisiert. Das Wort «kronenräuberisch» deutet auf zwei Aspekte der napoleonischen Kämpfe hin: Auf der einen Seite steht es für die feudale Lebensweise, auf die das Wort «Krone» verweist, auf der anderen Seite steht es für die Idee, Napoléon sei ein Räuber, seine Eroberung Portugals also illegitim. Das Hauptziel von Wolf ist es, diese Version der europäischen Geschichte durch seine Schriften zu verbreiten. Brasilien ist hier lediglich Fluchtpunkt eines auf Europa bezogenen Geschichtsbildes. Wolfs Wortschatz verweist auf dynastisches Denken, wie auch die Nutzung folgender Worte im gleichen Absatz belegt: «Krone», «Thron», «Kaiserthum» und «Reich» sind alle aus diesem semantischen Feld. Dagegen werden sie auf Französisch durch einen schlichteren «republikanischen» Wortschatz ersetzt: «Gouvernement» und «métropole» reichen aus. Auch die Nutzung des Possessivpronomens im «transatlantischen Teile seines Reiches» wird auf Französisch durch den Plural «ses possessions transatlantiques» reduziert. Darüber hinaus wird eine

3.6 Unabhängigkeit und Freiheit als Ideologie

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logische und chronologische Verkettung zwischen den historischen Momenten durch das Wort «prophetisch» insinuiert, die in der französischen Übersetzung nicht erhalten ist. Der Ausdruck «Colonialverhältnis» wird bei Wolf genutzt, aber nicht übersetzt. Stattdessen ist «l’ancienne colonie» in Opposition zur «métropole» gesetzt und nicht zum «Mutterland». «Metropole» hat eine allgemeinere Bedeutung: So heißt es sowohl «Mutterland», als auch «Hauptstadt» oder «Weltstadt». Auch Wolfs hyperbolische Formulierung, dass der «jahrhundertjährige Bann» «für immer gebrochen wurde» wird in der Übersetzung beschnitten. Diese Unterschiede deuten darauf hin, dass der Übersetzer mit Wolfs narrative Darstellung der Vergangenheit nicht übereinstimmt. Im Manuskript wird Wolfs Absicht klar, seine einseitige, dynastische Interpretation der Ereignisse als historische Wahrheit darzustellen. Der Vergleich des Manuskripts mit der Übersetzung zeigt, wie der Übersetzer die reaktionäre Ausrichtung von Wolfs Geschichtsbild zu korrigieren versuchte – und zwar durch die Anwendung eines Wortschatzes, der von einem französischen liberal-bürgerlichen Denken geprägt war. Im folgenden Abschnitt betont Wolf erneut den Zusammenhang zwischen Politik und Literatur, wenn er schreibt, «das politische Selbstbewusstsein erstarkte auch das literarische». Für Wolf bildet sich dieses Selbstbewusstsein im Falle Brasiliens zunächst in Abgrenzung zu portugiesischen, dann zu anderen europäischen Vorbildern, bis es schließlich durch den Einfluss des Deutschen, dessen vornehmliches Verdienst für ihn der «Sinn für das Volksmäßig-Eigenthümliche» ist, zu seiner vollen Entfaltung gelangt. Das Deutsche ist hier gewissermaßen Katalysator für die Entwicklung der brasilianischen Selbstständigkeit. In der Reihenfolge der Darstellung kann man außerdem eine Hierarchie erkennen, das Deutsche ist demnach der wirkungsvollste Einfluss auf diese Selbstständigkeit, wirkungsvoller als z. B. französische Einflüsse. In diesem Zusammenhang wird erneut offensichtlich, dass literarische Werke in der Auffassung von Wolf immer die eine oder die andere Partei politischen Handelns widerspiegeln:  

Die Folgen dieser politischen Umgestaltung mußten natürlich auch in der Literatur sich bald kennbar machen. Denn bald trat auch auf diesem Gebiete Rivalität und dann Opposition in Bezug auf das Mutterland ein; das politische Selbstbewußtsein erstarkte auch das literarische, und bedurfte man hier noch der Stützen und Muster, so suchte man sie zunächst nicht mehr bei dem portugiesischen, sondern vorzugsweise bei dem Franzosen und Engländer und als später von den Deutschen ausgehend sich der Sinn für das Volksmäßig-eigenthümliche über alle europäischen Culturvölker verbreitete, fand er bei der nun gestalteten brasilischen Nationalität nur um so mehr Empfänglichkeit. (S. 114–115) Les suites de cette révolution politique ne tardèrent pas à se faire sentir dans la littérature. La rivalité et même l’opposition à la mère-patrie éclatèrent bientôt; le sentiment d’indépendance politique se fit jour dans les lettres en les fortifiant, et l’appui qu’on ne voulait

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

pas demander au Portugal, on le trouva en France et en Angleterre. Lorsque plus tard enfin le goût pour ce qui est vraiment populaire, parti de l’Allemagne, se répandit dans toute l’Europe civilisée, il n’en fut que mieux reçu par la jeune nationalité brésilienne. (S. 85)

Wolfs Patriotismus und Treue zum monarchischen Prinzip entfällt in der französischen Fassung, indem der Übersetzer diesen idealistisch-romantischen Wortschatz nicht übernimmt. Was auf Deutsch «politische Umgestaltung» heißt, wird auf Französisch zur: «révolution politique». Eine «Revolution» hat allerdings im Zuge von Brasiliens Unabhängigkeit von Portugal nicht stattgefunden, sondern eher eine Machtübergabe an den Nachfahren der portugiesischen Thronfolger. Doch es scheint, als versuche der Übersetzer mit der Einführung dieses Wortes, die Unabhängigkeit als einen Aufstand zu verstehen, und ihn damit in die revolutionäre Tradition und Geschichte Frankreichs einzuordnen. Im gleichen Satz spielt das Verb «müssen» auf Deutsch eine zentrale Rolle: Wolf etabliert eine kausale Beziehung zwischen Politik und Literatur. Hier verlässt er das Reich des Geistes, wendet sich dem Leben zu und behauptet, Politik beeinflusse alles, auch die Literatur. Auf Französisch wird die Beziehung zwischen Politik und Literatur in anderer Weise gekennzeichnet: Das Verb «tarder» etabliert eine Verbindung zwischen beiden Sphären. Wolf argumentiert weiter, «Rivalität und dann Opposition in Bezug auf das Mutterland» seien auch im literarischen Feld zu spüren. Die französische Übersetzung emendiert jedoch den letzten Teil des Satzes, sodass «la rivalité et même l’opposition à la mère-patrie» auf allen Gebieten, nicht nur im literarischen Feld, anzusiedeln sind. Auffällig ist außerdem die Ersetzung des Begriffs «politisches Selbstbewusstsein» durch «sentiment d’indépendance politique». Dies gilt auch für die Ersetzung von «Sinn für das Volksmäßig-eigenthümliche» durch «le goût pour ce qui est vraiment populaire». Wolfs Entscheidung für das Wort «Selbstbewusstsein» entspricht seiner Geschichtsauffassung. Analog zu Hegel bezeichnet Wolf den Prozess, sich seiner selbst bewusst zu werden, als Voraussetzung für Freiheit. Das wird an folgendem Auszug aus Vernunft in der Geschichte deutlich, indem Hegel eine enge Verbindung zwischen «Volksgeist» und «Selbstbewusstsein» herstellt: Die Volksgeister aber unterscheiden sich wieder nach der Vorstellung, die sie sich von sich selber machen, nach der Oberflächlichkeit oder tiefe, in der sie das, was der Geist ist, gefasst, ergründet haben. [...] Also die Vorstellung des Geistes ist es, die sich in der Geschichte realisiert. Was der Geist von sich weiß, davon hängt das Bewusstsein des Volkes ab; und das letzte Bewusstsein, worauf alles ankommt, ist dies, dass der Mensch frei sei.48

48 G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S. 59.

3.6 Unabhängigkeit und Freiheit als Ideologie

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Nach Hegel ist sich seiner selbst bewusst zu werden gleichbedeutend damit, sich selbst als frei imaginieren zu können. Wenn aber auf Französisch «Selbstbewusstsein» mit «sentiment» übersetzt wird, geht die idealistische Verbindung von «Volksgeist»–«(Selbst-)Bewusstsein»–«Freiheit» verloren. Diese begriffliche Kette, welche die Grundlage von Wolfs idealistisch-ideologischem Argument ausmacht, wird in der Übersetzung nicht übernommen, sie ist durch die Wortwahl «sentiment» und gleich danach «goût» unkenntlich gemacht worden. Zentral in diesem Abschnitt ist darüber hinaus Wolfs Darstellung des «Volksmäßig-eigenthümlichen» eines jeden «Culturvolkes». Er bezieht sich auf den europäischen Zusammenhang, doch Brasilien taucht als Fluchtpunkt auf, um das die europäischen Länder England, Frankreich und Deutschland/Österreich in verschiedenen historischen Momenten und aus verschiedenen Gründen im Wettbewerb standen. Dieser Wettstreit um den Einfluss in den Kolonien wird bei Wolf als Angebot von «Stützen und Muster» dargestellt. Van Muyden übersetzt jedoch nur «appui» (Dt. «Stützen») und lässt Wolfs Wort «Muster» beiseite. Es stellt sich die Frage, wie überhaupt von einem «brasilianisch Volksmäßig-Eigenthümlichen» die Rede sein kann, wenn dieses, in Wolfs Logik, im Wesentlichen Nachahmung von europäischen Mustern sei. Wolf scheint seine eigenen Widersprüche nicht zu bemerken und argumentiert weiter, die Verbindung zwischen Brasilien und den europäischen Ländern sei von (einzelnen) «Franzosen», «Engländern» und «Deutschen» hergestellt worden und nicht von den entsprechenden Nationen. So scheint es, dass diese Verbindung sich nicht zwischen Staaten auf Grundlage von Handelsverträgen, sondern zwischen Menschen bzw. «Völkern» etabliert habe. Auf Französisch wiederum werden die Namen der Nationen genannt, was ein anderes Bild der Beziehungen aufruft. Die französische Übersetzung von Wolfs Begriff des «Volksmäßig-eigenthümlichen» als «ce qui est vraiment populaire» ist außerdem nicht in der philosophischen Konstellation des Idealismus verankert. Im letzten Satz spricht Wolf über den «deutschen Einfluss» in Brasilien und «von der nun gestalteten brasilischen Nationalität»: Die Vollendung des Prozesses der Nationenbildung wird dank des Partizip Perfekts als Adjektiv erreicht. Auf Französisch wird das Verb nicht übersetzt, sodass der Prozess noch offen ist und ergänzt werden kann – was Wolf in der Tat in der fünften Epoche seines Buches tut. Wolfs Kampagne gegen Frankreich setzt sich im folgenden Abschnitt fort, indem eine Verbindung zwischen dem von ihm genannten «volksthümlichen» und dem «christlich-religiösen Element» hergestellt wird. Laut Wolf ist dieses Element bereits vor den politischen Änderungen, die mit der Ankunft von Dom João VI. und dem portugiesischen Hof in Brasilien einhergingen, zu spüren, selbst wenn es durch die «humanistische Richtung» und «die französisch-classisch Schule» eingeschränkt worden sei. Das «christliche-religiöse Element» war aus Wolfs

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Sicht also zentral, um das «zurückgedrängte Volksthümliche» zu retten. Auffällig ist hier vor allem, dass dieses Element, sich auf die «geistige Beredsamkeit» stutzt, die für ihn in Brasilien «von jeher» da war. Auf diese Weise stellt er die christliche Missionierung des Landes als natürlichen Ursprung der Nationalität dar und ordnet Brasilien in die christlich-abendländische Kulturgeschichte ein. Das Ergebnis der Widerbelebung dieses Elements nennt Wolf «modernen Romanticismus»: Aber noch vor dieser politischen Bewegung hatte sich ein durch die humanistische Richtung und die französisch-classische Schule im 18ten. Jahrhunderte zurückgedrängtes Volksthümliches Element, das christlich-religiöse in der brasilischen Literatur wieder geltend gemacht, da in diesem Lande, wo von jeher die geistliche Beredsamkeit mit besonderer Liebe gepflegt wurde, ohnehin ein sehr fruchtbarer Boden dafür war. Auch gieng die Wiederbelebung dieses Elements in der brasilischen Literatur, das später mit dem nationalen verschmolzen den sogenannten modernen Romanticismus bilden sollte, in der That von zwei der berühmtesten Kanzelredner jener Zeit aus, nämlich von Sousa Caldas und S. Carlos. (S. 115) Mais antérieurement à ce mouvement politique on avait vu reprendre de l’importance au Brésil l’élément chrétien, refoulé un instant par les «humanistes» et l’école classique française du 18me siècle. Dans ce pays, où de tout temps l’éloquence de la chaire avait été cultivée avec prédilection, cet élément qui, fondu avec le national, devait former le romantisme moderne, trouva une terre toute préparée. Aussi les principaux promoteurs de ce mouvement furent-ils deux des premiers orateurs sacrés du temps, Sousa Caldas et S. Carlos. (S. 85)

Einmal mehr ist Wolfs Konzeption in der Übersetzung drastisch verändert und nur teilweise wiedergegeben. Die «humanistische Richtung» wird auf Französisch personifiziert und in Anführungszeichen gesetzt als «les humanistes». Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Unterschiede im Hinblick auf den Begriff «Humanismus» in den Denktraditionen von Frankreich und Deutschland bewusst gemacht werden sollen. Die größte Veränderung betrifft aber die Kohärenz von Wolfs Literaturgeschichte, denn «das volksthümliche Element» wurde in der Übersetzung vollständig gestrichen. So scheint es auf Französisch, dass der «moderne Romanticismus» lediglich aus der Mischung des «christlichen» – nicht des «volksthümliche[n]» – und des «nationalen» Elementes entsteht. In der vierten Epoche (Kapitel 10.) beschäftigt sich Wolf mit den Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, genauer: bis 1840, also mit den Autoren, die zur Etablierung einer brasilianischen Monarchie beigetragen haben. Für ihn ist José Bonifácio die bedeutendste Figur dieser Epoche. Wolf entscheidet sich dafür, die Ereignisse vor und nach dem Unabhängikeitsjahr 1822 entlang der Lebensgeschichte von Bonifácio zu erzählen, denn dessen Leben ist eng mit der Beibehaltung der Monarchie in Brasilien und mit der Geschichte Europas und des

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deutschsprachigen Raums verbunden. Zudem wird offenbar, welche Position Wolf in seiner Geschichtsschreibung verteidigt. Aus diesem Grund ist es irrelevant, dass der Autor, wie im Fall von Bonifácio, nur einen einzigen (und recht unbedeutenden) Gedichtband geschrieben hat.49 José Bonifácio war eine ambivalente Figur. Auf der einen Seite wird er als «um homem do futuro» beschrieben,50 wie dies etwa der brasilianische Historiker Sergio Buarque de Holanda getan hat, weil sich Bonifácio gegen die Versklavung von Menschen in Brasilien positioniert hat. Genau diese emanzipatorischen Ansichten von Bonifácio werden allerdings in Wolfs Darstellung seines Werdegangs nicht erwähnt. Wolf betont vielmehr strategisch, was Bonifácio zu einem «homem do passado» machte.51 Wolf unterstreicht Bonifácios Rolle in der Unabhängig-

49 Antonio Candido: Pessoas. In: Formação da literatura brasileira. «José Bonifácio foi medíocre poeta, apesar da alta envergadura do talento de estadista e homem de ciência. [...] O livrinho onde encerrou cerca de meio século de atividade poética revela temperamento vivo, atraído pelo furor dos gregos e a melancolia dos britânicos, mas enquadrado na estética predominante em Portugal no fim do século XVIII», Bd. 1, S. 185. Hervorhebung im Original. 50 Sérgio Buarque de Holanda (Hg.): História geral da civilização brasileira. O Brasil monárquico II: O processo de emancipação. «Em documento redigido para a Assembleia Constituinte de 1823 apontará a antinomia entre uma Constituição liberal e um país ‹continuamente habitado por uma multidão de escravos brutos e inimigos›. Não temendo ‹os urros do sórdido interesse›, há de propor que se dê à abolição da escravatura um sentido de ‹expiação de crimes e pecados velhos›. Falará mesmo em ‹justiça social›, expressão insólita naquele tempo e não só no Brasil. E dirigindo-se aos que defendiam a escravidão em nome da propriedade, dirá que ‹a propriedade foi sancionada para o bem de todos (...). Não é o direito de propriedade que querem defender, é o direito da força (...)›. Além de revelar a superior visão do problema, quem assim se exprimia desafiava o interesse dominante na quase totalidade da população branca. Joaquim Nabuco seria mesmo de opinião que à influência dos traficantes de pretos deveram-se, pelo menos em grande parte, a queda e o prolongado exílio de José Bonifácio. De qualquer modo, na crença abolicionista como em outras opiniões menores (mudança da capital para o centro do país, por exemplo), o velho Andrada era um homem do futuro», Bd. 3, S. 189–90. Eigene Hervorhebungen. 51 «[...] no terreno da política realizada, o Ministro paulista foi sobretudo um homem do passado. Não pela sua fé na Monarquia como instrumento de unidade e transição, nem muito menos, é claro, pela intensa atividade do proselitismo patriótico, da defesa militar, das iniciativas diplomáticas – atividade, aliás, que cimentou em grande parte o poder unificador de D. Pedro, mas que isoladamente só alcançaria projetar esse poder num prazo curto e num âmbito restrito, desde que a nação fora destravada pela efervescência libertária. Entretanto, referimo-nos ao plano de lançamento das instituições que balizariam o Império: nesse plano, entre as campanhas pela Constituinte e pela aclamação do Imperador, e ainda mais tarde, a influência do Ministro foi quase sempre negativa ou de retardamento, em face da pressão dos que se empenhavam em não perder na Independência o impulso da revolução. Sem professar apego ao absolutismo, pelo menos teoricamente, o que seria talvez absurdo junto a ideias sociais tão avançadas, José Bonifácio desconfiava muito do rojão liberal em andamento e em particular dos seus portadores mais conspícuos no Rio de 1822». Ebda., S. 189. Eigene Hervorhebungen.

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keitsbewegung, seine Freundschaft mit Dom Pedro I. und seinen Einfluss auf die Bildung einer konstitutionellen Monarchie in Brasilien. Er vertritt die Ansicht, dass Bonifácio seine Meinungen geändert habe und von der republikanischen zur konservativen Partei wechselte, als er sich bewusst geworden sei, wie «gefährlich» die Idee einer dezentralisierten brasilianischen Föderation für die Einheit Brasiliens sein könnte. Wolf erzählt die Geschichte Brasiliens immer aus einer Perspektive, die die Beibehaltung der Monarchie in den Händen einer privilegierten Elite rechtfertigt. Dafür muss die Mehrheit der Bevölkerung in seinen Schilderungen ausgeschlossen werden, wie im folgenden Abschnitt deutlich wird: Als aber D. Pedro I., durch die Revolution vom 6ten. April 1831 bestimmt, zum zweitenmal seine persönlichen Gefühle und Ansichten dem Wohle Brasiliens zum Opfer brachte und wie früher durch sein Bleiben dessen Unabhängigkeit, so jetzt durch sein Abtreten dessen Einheit, und beidemale das monarchische Princip sicherte und Brasilien dadurch vor dem Zerfallen und vor dem Schicksal der spanisch-südamerikanischen Republiken bewahrte, als er nun zu Gunsten seines minderjährigen Sohnes abdankte und im Begriffe war, nach Portugal zurückzukehren, Brasiliens und seinem Sohne auf immer Lebewohl sagend, da gedachte er seines alten Freundes [, seines genossen bei der Begründung von Brasiliens Unabhängigkeit,] José Bonifacios; ihm übertrug er die Vormundschaft über den minderjährigen Kaiser [und dessen Schwestern] und die Wahrung der Rechte der Krone, im Vertrauen auf seine Ehrenhaftigkeit und in [der Hoffnung, durch seinen Einfluß die demokratische Partei zu zügeln.] (S. 151) Mais lorsque la révolution du 6 avril 1831 engagea D. Pedro I. à sacrifier pour la seconde fois ses sentiments personnels au bien du pays, et à assurer par son abdication l’unité du Brésil et le principe monarchique, qui le sauva du triste sort des colonies espagnoles, celui-ci se souvint de son ancien ami et lui confia la tutelle de son fils en partant pour le Portugal, se fiant à sa probité éprouvée, et espérant que son influence suffirait pour tenir en respect le parti démocratique. (S. 103)

In diesem Abschnitt lässt sich auch erkennen, wie die französische Übersetzung das Manuskript verkürzt, um alle rhetorischen Mittel zu eliminieren, die Wolfs Apologie der Monarchie untermauern, wie etwa Wiederholungen, Vergleiche oder Metaphern. Wolfs Darstellungen greifen auf erzählerische Strategien und vor allem auf Verfahren des Spannungsaufbaus zurück, um die Handlungen seiner «Protagonisten» wiederzugeben. So werden etwa auf Deutsch die moralischen Eigenschaften von Dom Pedro I. hervorgehoben, er wird nicht nur als Monarch, sondern auch als Mensch und als Opfer seiner Umstände geschildert. Auf diese Weise sollen sich die LeserInnen in Dom Pedro I. hineinversetzen und seine Gefühle nachvollziehen können. Wolf möchte die Empathie des Publikums wecken, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Dom Pedro I. unter der brasilianischen Bevölkerung und in bestimmten Bereichen der herrschenden Klasse nicht beliebt war. Auffällig ist auch der Unterschied in Hinsicht auf die Darstellung des dynas-

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tischen Prinzips: Im deutschen Text sei Dom Pedro I. nach Portugal «zurückgekehrt», damit die monarchische Einheit beibehalten werden konnte. Im französischen Text dagegen wird das neutrale Verb «partir» («en partant pour le Portugal) genutzt. In diesem Abschnitt werden ‹Gut› und ‹Böse› in zwei gegenüberliegenden semantischen Feldern dargelegt: Dom Pedro I. repräsentiert das ‹Gute›, das Wohl Brasiliens, er «bewahrt» das Land, er «opfert» sich zugunsten von Brasiliens Unabhängigkeit und Einheit. Dadurch wird in Wolfs Darstellung das Schicksal des Landes durch die Fortführung des monarchischen Prinzips, die Wahrung der Rechte der Krone im letzten Moment vor dem drohenden «Zerfall» in Republiken zum Guten gewendet. Mit Dom Pedro I. wird die Figur José Bonifácio durch die Begriffe «Vertrauen», «Ehrenhaftigkeit» und «Hoffnung» verbunden. Das ‹Böse› sei durch ihn erfolgreich verhindert worden. Doch wird diese Opposition auf Französisch viel weniger deutlich wiedergegeben («le triste sort»), die rhetorischen Mittel werden ebenso gestrichen wie weitere Informationen («seines Genossen bei der Begründung von Brasiliens Unabhängigkeit», «und dessen Schwestern», «Wahrung der Rechte der Krone»). Die Repräsentation der Monarchie als ‹gut› und der Republik als ‹böse› taucht im ganzen Buch, besonders jedoch ab der vierten und fünften Epoche, auf. Das ist vor allem als politische Stellungnahme Wolfs für das «monarchischem Prinzip» zu verstehen. Wie die Etymologie des Worts «monarchisch» andeutet, geht es um eine «Alleinherrschaft» (aus dem Griechischen mono-árchein). «Prinzip» wird hier als «Grundsatz», «Grundregel» verstanden, also als etwas, nach dem sich alles auszurichten hat. Wolf erkennt an, dass José Bonifácio von republikanischen Ideen beeinflusst wurde, führt dies aber nicht weiter aus. Auf jeden Fall werden sie von Wolf stets als etwas Bedrohliches, Leichtsinniges oder Dummes dargestellt, als etwas, das Menschen in der Jugendzeit verführen kann, nicht aber im Erwachsenenalter. So verzeiht Wolf Bonifácio und markiert dessen Jugendjahre als Täuschung: [...] José Bonifácio, durch das Alter ruhiger, durch die Erfahrung klüger, durch die Beobachtung der europäischen Zustände maßhaltender geworden, hatte seine Ansichten bedeutend modificiert; er war noch immer [, oder vielmehr erst jetzt] ein ächter Demokrat und Liberaler, er wollte daß das Volk so viel als möglich sich selbst regieren, aber unter der Herrschaft des Gesetzes; daß es der möglich größten Freiheit sich erfreue, aber nur so weit sie mit der Ordnung bestehen kann; kurz er wollte die progressive, organische Evolution, aber nicht die dauernde, überstürzende Revolution; er hatte die Überzeugung gewonnen, daß Brasilien nur durch eine monarchische Regierung, durch eine starke Centralgewalt von dem Lose der südamerikanisch-spanischen Republiken, von dem Zerfallen, der föderalistischen Anarchie oder der Militär-Despotie bewahrt werden könne. Zugleich hatte er die Pflicht übernommen, die Rechte der Krone, seine Mündel zu vertheidigen, dem Vertrauen seines kaiserlichen Freundes zu entsprechen. (S. 153–154)

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José Bonifacio, que l’âge, l’expérience et la connaissance de l’état des choses en Europe avaient rendu plus calme, plus prudent et plus modéré, avait bien modifié ses opinions. Il était toujours véritable démocrate ou plutôt il l’était devenu alors; il voulait l’autonomie du peuple mais sous la domination des lois, et pour autant qu’elle est compatible avec l’ordre: bref, il voulait le progrès et non la révolution. Il s’était en outre convaincu que le Brésil ne pouvait être préservé du sort des républiques espagnoles, de la ruine, de l’anarchie fédéraliste ou du despotisme militaire, que par un gouvernement monarchique. Il avait en même temps promis, de défendre les droits de la couronne, et de ne pas tromper la confiance de son ami l’empereur. (S. 104)

Wolfs spätere Ergänzung «oder vielmehr erst jetzt» setzt die Reihe von Inversionen und Gegensätzen auf eine offensichtlich politische Weise fort: Laut Wolf ist Bonifácio erst ein «echter Demokrat und Liberaler» geworden, als er die Krone verteidigte, und die Rechte der Bevölkerung beiseiteließ, d. h. faktisch ein ‹echter Konservativer› wurde. Wolf macht den Konservatismus zu einer befreienden Ideologie.52 Wolf zitiert keinen politischen Text von Bonifácio, denn in seinen Schriften assoziierte Bonifácio die Einheit und Souveränität Brasiliens nicht nur mit einem konstitutionell-monarchischen System, sondern in erster Linie mit der Debatte über die Autonomie der zwei größten Bevölkerungsgruppen Brasiliens: der Autochthonen und der Versklavten. In der Tat behandelt Wolf auch kein Gedicht von Bonifácio, was seine Auswahlkriterien für die Autoren seiner Literaturgeschichte zumindest fragwürdig erscheinen lässt. Auch wenn es dem damaligen Wissenschaftsjargon durchaus entsprach, statt klarer Aussagen sehr lange und verschachtelte Sätze zu bilden, so kann es vor Wolfs ideologischem Hintergrund auch als stilistische Strategie gewertet werden, auf diese Weise Dinge miteinander in Verbindung zu bringen, die sich nicht oder nicht notwendigerweise entsprechen. Außerdem verweist die Gegenüberstellung von «sich selbst regieren» und «Herrschaft des Gesetzes», «Freiheit» und «Ordnung», «progressive, organische Evolution» und «dauernde, überstürzende Revo 

52 Emília Viotti da Costa stellt diese Änderungen der politischen Haltung in einen größeren Kontext: Die brasilianische Oligarchie festigte seit 1822 stetig ihre Macht, indem sie gewaltsam gegen jede Opposition vorging. Ihr Hauptanliegen bestand darin, die Agrarwirtschaft und die Versklavung beizubehalten. Ab 1834 wurde die den Provinzen eingestandene größere Autonomie als Vorwand genutzt, um die sogenannte «Guarda nacional», die neben dem Militär bestehen durfte, ins Leben zu rufen. So wurden die Interessen der lokalen Elite verteidigt: «Uma nova geração de políticos assumiria o controle da nação, governando sob a tutela protetora do jovem imperador cuja maioridade fora antecipada. Os dissidentes dos primeiros tempos desapareceram da cena política, engolfados pelo processo de modernização ou cooptados pelo sistema. [...] muitos outros passaram de uma posição nitidamente liberal para uma posição relativamente conservadora. Esse movimento encontra paralelismo na evolução do pensamento liberal desse período». Emília Viotti da Costa: Da Monarquia à República, S. 11.

3.6 Unabhängigkeit und Freiheit als Ideologie

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lution» auf eine Verfälschung, auf eine Stereotypisierung des emanzipatorischen Diskurses. Wolf behauptet, dass «Republik» im Grund genommen ein Synonym für «Anarchie» und «Despotismus» sei. Er behandelt die möglichen Formen von politischer Organisation des Staates weder ausführlich noch kritisch, er verbreitet nur eine tendenziöse Beurteilung, ohne sich auf einen Beweis oder auf eine nachvollziehbare Argumentation zu stützen. Das bedeutet nicht, dass er nicht wüsste, wovon er spricht, im Gegenteil. Es gehört zu seiner Strategie, die Worte und Begriffe missbräuchlich einzusetzen, um eine Wahrheit zu erfinden und zu verbreiten. Wolfs strategische Inversionen, die die historischen Ereignisse nur ausgewählt erzählen und allein die Interessen einer privilegierten Elite vertreten, sind in ihrer Fülle nicht übertragen worden: Der französische Text klingt schlichter, objektiver, transparenter, auch hinsichtlich des Satzbaus. Der Satz über Bonifácio «il voulait le progrès et non la révolution» klingt plausibler in Bezug auf die Persönlichkeit und Tätigkeit Bonifácios. Außerdem wird «Demokrat und Liberaler» nur als «democrate» übersetzt, was nicht im Widerspruch zum Monarchismus steht und Wolfs Ansichten weniger widersprüchlich erscheinen lässt. Während oben die Redewendung «Rechte der Krone» gestrichen wurde, taucht sie hier wieder auf und wird auch übersetzt. Auf Französisch lässt sich ebenfalls eine Kritik an bestimmten Vorstellungen der Republikaner lesen, jedoch ohne das übermäßige Pathos der deutschen Version. Der letzte Abschnitt aus der vierten Epoche, der in der vorliegenden Arbeit behandelt wird, ist der Anfang des elften Kapitels. Hier führt Wolf einen weiteren grundlegenden Aspekt in seine Argumentation ein, das «politisch-patriotische Element». Wolf erklärt, warum die Literatur Brasiliens in diesem historischen Moment untrennbar mit der Politik verbunden gewesen sei. Neben dem «christlichreligiösen» Element erfindet Wolf «das politisch-patriotische». Die Überlegenheit politischer Themen in der literarischen Produktion der Zeit erkläre sich dadurch, dass die wichtigsten Akteure im Prozess der Unabhängigkeit gleichzeitig Dichter waren. Die in dem vorigen Kapitel aufgeführten Dichter haben schon vermöge ihrer staatsmännischen Stellung und ihrer thätigen Theilnahme an der großen politischen Umgestaltung ihres Vaterlandes sich veranlaßt gefunden, das politisch-patriotische Element zu einem der vorherrschenden auch in ihren Dichtungen zu machen. Daß dieses Element, wie natürlich in einer so erregten Zeit, alle Schichten durchdrang und in allen seinen Schattierungen, von der loyal-monarchischen bis zur radical-republikanischen, auch in der Poesie Ausdruck zu gewinnen suchte, davon können die in diesem Kapitel zu besprechenden Dichter zur Probe dienen. (S. 169) Les poètes mentionnés au chapitre précédent sont avant tout patriotes, ce qui s’explique facilement par le rôle important qu’ils ont joué dans la transformation de leur patrie. La po-

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litique est aussi le principal mobile des poètes que nous allons énumérer, et chez qui nous pourrons observer toutes les nuances imaginables d’opinions, des monarchiques aux radicales. (S. 113)

Auch an dieser Stelle wurde Wolfs Text in der französischen Version stark gekürzt. Genauso wie das «christlich-religiöse» Element wird auch «das politischpatriotische Element» recht lose übertragen. Daher verliert Wolfs Versuch, ein kohärentes wissenschaftliches Narrativ zu rechtfertigen, an Überzeugungskraft. Aus Wolfs positiver Beurteilung der Wechselwirkungen von Literatur und Politik kann folgende Schlussfolgerung gezogen werden: Literatur ist ihm Werkzeug, um bestimmte Interessen dieser Staatsmänner bei der Nationenbildung durchzusetzen und zu verteidigen und um die Beibehaltung der Monarchie als Regierungsform zu rechtfertigen. Er äußert dies nicht explizit, doch legt die Analyse dieses Abschnitts diese Absicht offen. Die doppelte Funktion der Staatsmänner als Dichter ermöglichte ihnen eine mächtige Position innerhalb der brasilianischen Gesellschaft. So konnten sie nicht nur die neue Regierung gemäß eigener Interessen gestalten, sondern ihre ideologischen Grundlagen, ihre Werte, Bilder und Wahrheiten mittels einer dafür geschaffenen Literatur verbreiten. Wolf wiederholt den Ausdruck «politische Umgestaltung», die im Französischen allerdings als «transformation politique» übersetzt wird und nicht wie zuvor als «révolution politique». Die zwei verschiedenen Übertragungsformen des gleichen Ausdrucks entkräften den inneren diskursiven Zusammenhang von Wolfs Argumentation. Das «politisch-patriotische Element» wird in einen kurzen Satz aufgelöst: «les poètes mentionnés au chapitre précédent sont avant tout patriotes, ce qui s’explique facilement par le rôle important qu’ils ont joué dans la transformation de leur patrie». Die Tatsache, dass die Staatsmänner-Dichter sich in einer zentralen Position befinden, hängt in der französischen Variante nicht mehr kausal mit der Instrumentalisierung von Literatur als ideologisches Mittel zusammen. Der neue Begriff, «mobile», im Sinne von raison d’ordre affectif ou intellectuel par laquelle peut s’expliquer un acte, wird im Französischen ausgewählt, um die «vorherrschende» Tendenz dieses Elements in der Dichtung zu beschreiben. Wolfs Überzeugung, dass die Lyrik Ausdruck «aller Schattierungen» der politischen Parteien sei und «alle Schichten» der Gesellschaft repräsentiere, wird auf Französisch verkürzt. Außerdem werden «loyal-monarchisch» und «radikal-republikanisch» zu «monarchique» und «républicain». Wolfs Kombination setzt voraus, dass «radikal» sich nur mit «republikanisch», und «loyal» nur mit «monarchisch» verbinden lässt. «Loyal-republikanisch» oder «radikal-monarchisch» wären paradoxe Ausdrücke. Somit festigt Wolf Stereotype, die diese beiden politischen Orientierungen im Allgemeinen prägen. Durch diese strukturellen Ände-

3.7 Wolfs interpretatorisches Paradigma

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rungen wird Wolfs Hervorhebung des Politischen in der französischen Fassung entscheidend eingeschränkt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wolf in den Textabschnitten seiner vierten Epoche die historische Grundlage für die Unabhängigkeit Brasiliens ausführt. Die Stützpfeiler des politischen und literarischen Lebens waren für Wolf das «politisch-patriotische» und das «christlich-religiöse» Element. Letzteres äußere sich insbesondere in einem «Sinn für das Volksmäßig-eigenthümliche». Beide gelten laut Wolf jedoch gleichermaßen als Zeichen der ‹Empfängnisbereitschaft› brasilianischer Dichter und Staatsmänner für die Aufnahme des deutschen Modells des «modernen Romanticismus», das Wolf in der folgenden und letzten Epoche seiner Geschichte der ‹Nationalliteratur Brasiliens› ausführlich darstellt.

3.7 Wolfs interpretatorisches Paradigma In der fünften Epoche laufen alle argumentativen Fäden von Wolfs literaturpolitischem Vorhaben zusammen.53 Wolf gelingt es innerhalb seines Manuskripts, eine inhärente Verbindung zwischen Natur und Kultur, Romantik und Monarchismus in einem rhetorisch überzeugenden Zusammenhang darzustellen. Hier erreicht Wolf nun den Höhepunkt seiner Interpretation der Literaturgeschichte Brasiliens, wodurch auch sein Verständnis der Literaturgeschichte im Allgemeinen am deutlichsten nachvollziehbar wird. Aber, je kohärenter es auf Deutsch klingt, desto ungenauer wird es ins Französische übertragen. In der Übersetzung geht Wolfs literaturpolitisches Narrativ völlig verloren. Aus diesem Grund ermöglicht die vergleichende Analyse beider Fassungen seine eigentliche Motivation zur Abfassung einer Literaturgeschichte Brasiliens nachzuvollziehen. Das erste Teilkapitel der fünften Epoche basiert auf einer Schrift Wolfs über den Schriftsteller, Diplomaten und persönlichen Freund Wolfs, Gonçalves de Magalhães. Wolf erzeugt eine Darstellung der Literaturgeschichte Brasiliens, in der alle zuvor von ihm analysierten Werke und Autoren eine Art Vorbereitung für die «Geburt» einer Figur wie Magalhães darstellen. Dieser Teil des Textes wurde 1862 separat auf Deutsch veröffentlicht, diente aber auch als Leseprobe des gesamten

53 Wolfs Absicht, sein Werk in crescendo zu gliedern wurde auch durch Jamil Almansur Haddad bemerkt, der das Werk 1955 ins Portugiesische übertragen hat, obgleich mit unkritischem Blick: «Pode-se afirmar que o livro de Wolf dá a impressão de uma pirâmide, cuja base se vem estreitando cada vez mais, terminando num ápice chamado nacionalismo (que no caso é sinônimo de romantismo) e nesta ponta, glorioso como em estátua equestre, o homem de Suspiros poéticos e saudades». Jamil Almansur Haddad: Ferdinand Wolf e a aurora do romantismo nacional, S. IX.

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Buches für Dom Pedro II. und wurde ihm zugeschickt, wie im zweiten Kapitel dieser Studie gezeigt wurde.54 Außerdem wurde der Aufsatz ins Portugiesische übersetzt und damals in der Zeitschrift Revista popular in Rio de Janeiro publiziert.55 Wahrscheinlich versuchte Wolf mit diesem Artikel, einen Überblick über seine Deutung der Entstehung einer brasilianischen Literatur und ihrer Entfaltung zu einer «nationalen Literatur» zu geben und gleichzeitig seine Argumentationsstrategie zu unterstützen. In der Zusammenfassung am Anfang dieses letzten und zentralen Hauptteils von Wolfs Buch sind die sprachlichen Änderungen in der Übersetzung noch offensichtlicher nachvollziehbar: Kapitel 14. – Mit der Consolidierung der Monarchie, Verbreitung und Unterstützung der Wissenschaften und Künste durch [die Regierung und] den Kaiser selbst, auch immer völligere Entwicklung einer eigentlichen, selbstständigen Nationalliteratur, unter dem Einfluße der modern-romantischen Schule und durch das selbstbewußte Auftreten {unleserlich} des nativistischen Princips – Domingos José Gonçalves de Magalhães. (S. 205) La monarchie se consolide – Le gouvernement et l’empereur lui-même encouragent les sciences et les arts – La littérature brésilienne s’émancipe complètement sous l’influence de l’école romantique et des éléments nationaux. – Domingos José Gonçalves de Magalhães. (S. 135)

Die Substantive «Verbreitung» und «Unterstützung» wurden in einem Verbalsatz mittels des Verbs «encouragement» übersetzt, womit das kulturpolitische Projekt Dom Pedros II. nicht genau wiedergegeben wird. «Verbreitung» verweist auf eine expansionistische Absicht und «Unterstützung» auf die tatsächliche Finanzierung von Kultur. Das Verb «encourager» entspricht diesen beiden Bedeutungen nicht genau, es entspricht eher dem deutschen «ermutigen», das deutlich weniger konkret ist. Ebenso auffällig ist die spätere Einfügung des Wortes «Regierung», wodurch Dom Pedro II. nicht als Person, sondern als Repräsentant des brasilianischen Staates dargestellt wird. Der stärkste Unterschied ist jedoch, wie auch an anderer Stelle, die Verkürzung und die Auslassung von Wolfs typischem Wortschatz in der Übersetzung: Die «immer völligere Entwicklung einer eigentlichen, selbstständigen Nationalliteratur» wird im Französischen zu «la littérature brésilienne s’émancipe complètement», d. h. «Entwicklung» und «Nationalliteratur»  

54 Wolf gibt den genauen Ort der Veröffentlichung auf der ersten Seite des Manuskripts an, wie oben zitiert: Magalhães. In: Kathol. Literaturzeitung 32–34 und 36 (1861). 55 Dieser Text wurde direkt aus dem Deutschen übersetzt und gibt eine völlige andere Perspektive wieder, als die brasilianische Übersetzung aus dem Jahr 1955. Ferdinand Wolf: Análise das obras do Sr. Domingos José Gonçalves de Magalhães.

3.7 Wolfs interpretatorisches Paradigma

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verschwinden aus diesem Satz. Im nächsten Satz wird Wolfs Idee einer «modernromantischen Schule» gleichfalls nicht wiedergegeben, sondern durch die unspezifische «l’école romantique» ersetzt. Wieder nutzt Wolf den idealistischen Begriff «selbstbewusst», der aber auf Französisch nicht auftaucht. Zudem ist Wolfs genauere Bezeichnung «nativistisches Princip» im allgemeinen Ausdruck «éléments nationaux» aufgelöst.

3.7.1 Die Vorstellung einer brasilianischen «Mischrasse» Durch den Vergleich zwischen französischer und deutscher Fassung wird deutlich, welche Begriffe aus Wolfs Wortschatz in der französischen Übersetzung systematisch ausgelassen wurden. Im Laufe der folgenden Analyse wird daher nachvollziehbar, inwiefern der Kontrast zwischen beiden Fassungen immer größer wird. Der erste Absatz dieses Teilkapitels über Magalhães fasst Wolfs vorherige Darstellung der literaturpolitischen Entwicklung Brasiliens zusammen. Er wird in der Übersetzung gekürzt, selbst wenn er auf Französisch noch immer recht lang ist: Wir haben bisher gesehen, wie der Boden Brasiliens von der europäischen Civilisation [und zunächst von den Portugiesen] erobert, urbar gemacht und cultiviert wurde; wie ebenso und in Folge dessen die geistige Entwicklung und Bildung Brasiliens, und ihr intensivster Ausdruck, die Nationalliteratur, nur der Reflex der portugiesischen, und höchstens durch dieses Prisma der europäischen Bildung und Literatur überhaupt war und werden mußte; wie dieses geistige Colonial-verhältniß gleichen Schritt hielt mit dem politischen und mit demselben analoge Phasen durchmachen mußte; wir haben aber auch gesehen, wie die auf Brasiliens Boden geborenen Abkömmlinge der Eroberer und Colonisten sich immer mehr mit der Erde, die sie getragen, mit der Natur, die sie umgab, identificierten, wie die von ihnen stammenden Generationen, unter der tropischen Sonne aufgewachsen, von einer großartig reichen, üppig-wilden Natur bald begünstigt, bald zum Kampfe mit ihr und den Söhnen der Wildniß, den Ureinwohnern gezwungen, [bald aber auch durch friedliche, besonders geschlechtliche Verbindungen mit den letzteren, und später auch mit den Negern zu einer Mischrace verschmelzend,] ein heißeres Blut, eine kindlichere Anfänglichkeit an die mütterlich-freigebige Erde, ein lebendigeres [Gefühl] für ihre Reize, und durch die ihr abgerungenen Siege ein immer mehr erstarkendes Selbstbewußtsein bekommen mußten; kurz, wie für immer mehr als eine von den portugiesischen Stammvätern wesentlich verschiedene [Race oder] Volksart, mit eigenthümlicher [durch Clima und Mischung] modificierter physischer Organisation, mit schon darin begründeter und durch die politischen Verhältnisse noch gesteigert Verschiedenheit in der Denk- und Gefühlsweise und mit Sonder-Interessen [sich] ausgebildet haben. Daher haben wir auch gesehen, wie diese Verschiedenheit und Eigenthümlichkeit in der brasilischen Literatur trotz ihrer Abhängigkeit von der portugiesisch-europäischen, zum Ausdruck zu kommen suchten; wie die brasilischen Dichter, wenn sie auch in Coimbra ihre Bildung erhielten und sich in formeller Hinsicht den Gesetzen der jeweilig aus

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Tejo und Mondego herrschenden Schule unterworfen, doch mit Vorliebe vaterländischer Stoffe wählten, der vaterländischen Natur ihre Bilder entnahmen und immer mehr von patriotischen Gefühlen begeistert und hingerissen wurden. (S. 205–206) Nous avons vu jusqu’ici la civilisation européenne représentée par les Portugais conquérir le sol du Brésil, le défricher et le cultiver. En suite de cette activité le développement et la culture intellectuelle de ce pays et leur expression la plus intense, la littérature nationale, devaient n’être que le reflet des lettres portugaises ou tout au plus, et par leur intermédiaire de celle des autres nations de l’Europe. Nous avons vu en revanche les descendants des conquérants et des colons s’identifier toujours davantage avec la terre qui les porte, avec la nature qui les entoure. Les générations subséquentes, grandissant sous le soleil des tropiques, tantôt favorisées par cette même nature si luxurieuse, tantôt forcées de la combattre; tantôt luttant avec les fils du désert, les indigènes, tantôt se mêlant à eux comme plus tard aux nègres, donnent le jour à une race nouvelle, dont les signes distinctifs sont un sang plus chaud, un attachement plus filial au sol si fertile de son pays, un sentiment plus fort de ses beautés, et une confiance naturelle en elle-même, que viennent augmenter encore les victoires remportées sur le désert. Cette race en un mot se développe toujours davantage, différente de ses ancêtres portugais; son organisation physique est modifiée par le climat et par de fréquents mélanges, sa manière de voir éprouve une métamorphose complète, des intérêts particuliers, des opinions politiques propres se font jour, et nous trouvons enfin un peuple d’une individualité fortement accusée. Nous avons vu les particularités chercher à se montrer dans la littérature malgré sa dépendance des lettres européennes; les poètes brésiliens, bien que formés à Coïmbre et se réglant pour la forme sur l’école en vogue alors en Portugal, choisir de préférence des sujets nationaux, emprunter leurs images au sol natal, et se pénétrer de plus en plus de sentiments patriotiques. (S. 135–136)

Wolf wiederholt seine Theorie über den Kolonisationsprozess, welche er bereits in der ‹Einleitung› ausführlicher behandelt hatte. Doch hier sind seine Formulierungen plakativer, werden stärker auf den Punkt gebracht. Wolfs Ansicht nach war Brasilien in der Tat ein «reiner Boden», welcher durch die «europäische Civilisation» «erobert, urbar gemacht und kultiviert» wurde, auf geistiger wie landwirtschaftlicher Ebene. Die Ausbeutung der Natur und der Arbeitskräfte durch die Versklavung autochthoner Bevölkerungsgruppen wird dabei verschwiegen. Wolf invertiert die Ereignisse: Tatsächlich musste der Boden Brasiliens nicht kultiviert werden, denn er war bereits von den autochthonen Bevölkerungsgruppen kultiviert worden. Die Europäer insbesondere die Portugiesen unternahmen genau das Gegenteil, sie zerstörten, was bereits bestand. Nüchtern betrachtet ist die Zucker-Plantagen-Monokultur keine hochwertigere Kultivierung des Bodens gewesen. Diese Feststellung teilt den Europäern eine Hauptrolle in der Geschichte Brasiliens zu, sie sind diejenigen, die auf allen Ebenen des sozialen Lebens die Macht innehaben sollten. Damit ist unmittelbar die Idee verbunden, dass Macht etwas Natürliches oder Selbstverständliches sei. Diese Ansicht verändert sich im

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Laufe der Darstellung der Geschichte Brasiliens kaum, denn diese ersten Europäer und ihre Nachfahren besitzen in dieser Logik von Wolfs Argumentation einen beinahe natürlichen Anspruch, Spitzenpositionen in der brasilianischen Gesellschaft inne zu haben. Sie werden eine «heimische Dynastie» bilden, wie Wolf später erklärt. Bemerkenswert ist an dieser Stelle außerdem, dass Wolf eigentlich von der «europäischen Civilisation» spricht, er korrigiert sich selbst und ergänzt im ersten Satz «zunächst von den Portugiesen», was die Herrschaft Portugals abmildert und sie in einem breiteren, europäischen Zusammenhang einordnet. In der französischen Übersetzung ist das Subjekt des ersten Satzes dagegen «la civilisation européene, représenteée par les Portugais», sodass kein Zweifel besteht, wer hier die Hauptrolle spielte. Der Triumph der Kolonisation wird eher den Portugiesen zugeschrieben, geht also nicht in der Verallgemeinerung der «europäischen Civilisation» unter. In Wolfs Beschreibung ist die «Nationalliteratur» der intensivste Ausdruck einer «geistigen Entwicklung Brasiliens», zugleich jedoch «nur der Reflex der portugiesischen Literatur». Das Paradox, «national» und «Reflex» gleichzeitig zu sein, wird von Wolf nicht weiter behandelt. Seine Argumentation ist voller Lücken, sodass seine politisch-ideologischen Vorhaben noch deutlicher werden. Hier wird das Wort «geistig» tatsächlich in der französischen Übertragung aufgenommen: «le développement et la culture intelectuelle du pays». Gleichfalls taucht auch «la littérature nationale» auf, was eine Ausnahme in der Übersetzung von Wolfs Vokabular darstellt.56 Dennoch ist Wolfs zentraler Satz und somit die wichtigste Formulierung in diesem Absatz nicht übertragen worden, nämlich das «geistige Colonial-Verhältnis», das den politischen Zustand des Landes mit dem geistigen gleichsetzt. Die Ausdrücke «gleiche Schritt» und «analoge Phase durchmachen musste» verdeutlicht, dass in der Tat bei Wolf Literatur als Instrument für politische Zwecke verstanden wird. Im Laufe des Absatzes taucht der «Boden Brasiliens» immer wieder auf: Wolf will erklären, wer «das brasilianische Volk» sei und definiert es als «auf brasilianischem Boden geborene Abkömmlinge der Eroberer und Kolonisten». Weitere Begriffe wie «Natur», «Erde» oder «tropische Sonne» werden genutzt, um das Umfeld der «neuen Generationen», nämlich der Nachfahren der in Brasilien niedergelassenen Europäer, zu schildern. Jedoch scheint es in Wolfs Darstellung, als sei

56 Zum Vergleich: Wolf nutzt den Begriff «Nationalliteratur» im vorliegenden Korpus vierzehn Mal. Im ganzen Buch Le Brésil littéraire wird «littérature nationale» hingegen nur sieben Mal verwendet.

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die «Mischrace» zwischen ihnen und den «Ureinwohnern» durch «friedliche, besonders geschlechtliche Verbindungen» entstanden und nicht zum großen Teil durch Vergewaltigung von autochthonen und versklavten Frauen. Dadurch übertüncht Wolf die Tatsache, dass Brasilien kein «reiner Boden» war, sondern eine Region, in der bereits Menschen lebten. Es kommt Wolf überhaupt nicht in den Sinn, dass diese Menschen über eine eigene Wahrnehmung der Ankunft der Portugiesen in Brasilien verfügen könnten. Auf Französisch werden diese Verbindungen zwischen «Boden» und «Volk» subtiler ausgeführt, sie bestehen jedoch trotzdem. Es ist auch auffällig, dass Wolf damals gängige, rassistische Tropen-Klischees unkritisch reproduziert, nach denen beeinflusst die Umwelt das Gemüt, die «tropische Sonne» führt zu «heißerem Blut» und generell zu einem kindlicheren Sein, indem man seine Leidenschaften noch nicht erwachsen kontrollieren kann. Es entsteht außerdem der Eindruck, kolonialen Konflikte würden letztendlich in dieser Mischrasse aufgehen und sich versöhnen. Die Herausbildung der Identität dieser «neuen Generation» erfolgt im Narrativ von Wolf durch zwei Handlungen: Zunächst durch den Kampf gegen die «Söhne der Wildniß», die «Ureinwohner». Auf Französisch wird die Formulierung «fils du désert, les indigènes» gewählt. Zweitens erfolgt dieser Prozess durch die Beherrschung der Natur. Hier werden die Autochthonen Brasiliens benannt, aber als Feinde, als Bedrohung für die Besetzung durch die Nachfahren der Europäer. In jedem Fall wird Identität nur anhand des Krieges gegen ‹den Anderen› und seine Zerstörung bzw. Gefügigmachung möglich. Damit einhergehend findet ein Prozess der Zerstörung der Natur statt, die mit der autochthonen Bevölkerung gleichgesetzt wird. Durch die Zerstörung der Natur wird auch diese beherrschbar und lässt sich an die Interessen der Europäer und ihre Nachfahren anpassen. In einer späteren Ergänzung imaginiert Wolf, wie in Brasilien eine «neue Race» entstanden sei. Hier kommt Wolf nicht mehr umhin, den Kontakt zwischen Ureinwohnern und Kolonisatoren zu thematisieren, dieser wird jedoch wie folgt beschrieben: «durch friedliche, besonders geschlechtliche Verbindungen mit den letzteren [Ureinwohnern], und später auch mit den Negern zu einer Mischrace verschmelzend» (eigene Hervorhebungen). Auffällig ist an dieser Stelle, dass plötzlich in der Mitte des Buches zum ersten Mal die Zuschreibung «Neger» auftaucht, ohne zu spezifizieren, wer damit gemeint ist und ohne zu erläutern, ob diese Menschen in Wolfs Ermessen in die Gruppe der autochthonen Bevölkerung mit eingeschlossen sind. Ebenfalls wird nicht deutlich, warum Wolf zunächst von einem Kampf gegen die autochthone Bevölkerung spricht und an dieser Stelle unvermittelt von «friedlichen Verbindungen». So werden Wolfs Bestrebungen transparent, die Widersprüche im kolonialen Unternehmen einzuebnen: Stets wird die Ver-

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sklavung von Menschen aus verschiedenen Gebieten in Afrika, stets wird der Sklavenhandel, konsequent ignoriert. Ebenso geht nicht aus Wolfs Ausführungen hervor, dass die versklavten ArbeiterInnen im 19. Jahrhundert einen großen Teil der brasilianischen EinwohnerInnen ausmachten.57 In der Übertragung wird das Wort «friedlich» ausgelassen, sodass der französische Text weniger Kompromisse eingeht. Hier wird eine sehr bewusste Entscheidung getroffen, kein Adjektiv zu nutzen, nur das Verb «se mêlant». Außerdem werden die Charakteristika dieser vermeintlichen «neuen Race» mit dem Satz «dont les signes distintifs sont» eingeführt, was im Manuskript nicht enthalten ist. Diese «Mischrace» siege, so Wolf, und als Folge entwickle sie ein anderes «Bewusstsein», das sich durch den «Boden» bzw. die «Natur» beeinflussen lasse. Wolfs chronologische Darstellung der von den «Brasiliern» überwundenen Schwierigkeiten wird mit einer heroischen Note zugespitzt, und mit einem «erstarkenden Bewusstsein» gekrönt, das die französische Übersetzung völlig ausspart. Wieder verzichtet die französische Fassung sowohl auf Wolfs Stil und Ton als auch auf den idealistischen Wortschatz. Sie entfallen schlicht und werden durch den Satz «que [les signes distinctifs] viennent augmenter encore les victoires remportées sur le désert» ersetzt. Nach dem Originalmanuskript hat «der Brasilier» also eine «modificierte physische Organisation», welche ihm eine neuartige «Denk- und Gefühlweise» sowie «Sonderinteressen» verleihe. Auf Französisch werden diese Substantive durch einen weniger essentialistischen Ansatz ausgedrückt: «sa manière de voir». Der französische Text spricht ebenso von einem «peuple d’une individualité fortement accusée», was das Argument hin zum Individuum und seiner Perspektive verschiebt. Wolfs Postulat einer ‹organischen› Veränderung des menschlichen Körpers und einer dementsprechenden Veränderung in der «Denk- und Gefühlsweise», das an den Positivismus erinnert, macht die vermeintliche «Verschiedenheit und Eigentümlichkeit» der «Brasilier» im Vergleich zu den Portugiesen und Europäern, sowohl in der Politik als auch in der Literatur, deutlich. Auf Französisch werden allerdings beide Substantive als «particularités» übersetzt. Beide Versionen ziehen dabei eine Parallele zwischen der Entstehung dieser neuen «Volksart» und

57 In der ausführlichsten Volkszählung unter der Herrschaft von Dom Pedro II. im Jahr 1872 hatte Brasilien ca. 10 Millionen Einwohner. 15 % davon waren Versklavte. Siehe https://biblioteca.ibge. gov.br/biblioteca-catalogo?view=detalhes&id=225477 (24.07.2019). Dagegen waren 1850 in Rio de Janeiro ca. 38 % der Bevölkerung versklavte Menschen. Luiz Felipe de Alencastro (Hg): História da vida privada no Brasil II. Império: a corte e a modernidade nacional. São Paulo: Companhia das Letras 1997, S. 25.

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dem Mangel einer entsprechenden Literatur und politischen Organisation, da die «Brasilier» zu dem Zeitpunkt noch den portugiesischen Gesetzen unterworfen waren. Am Ende des Absatzes schildert Wolf, wie diese «Brasilier» eine «patriotische» Literatur erschaffen hätten. Die Bildung in den portugiesischen Universitäten habe den «Brasiliern» ermöglicht, ihre «Vorliebe» zur «vaterländischen Natur» durch daraus entnommene Bilder auszudrücken und ihre «patriotischen Gefühle zu pflegen». Wolfs Tendenz, einen Aspekt der Wirklichkeit als einzige Wahrheit zu verallgemeinern, zeigt sich hier erneut. Er beschreibt die Erfahrung der brasilianischen Elite, als wäre sie für die gesamte Bevölkerung gültig: Nur die reichsten Familien konnten ihre Kinder nach Portugal schicken, um dort ein Studium zu absolvieren. Sie bereiteten sich vor und bildeten sich dafür aus, die höchsten Stellen der (vor 1822 noch portugiesischen) Regierung zu bekleiden und verteidigten selbstverständlich lediglich ihre eigenen Interessen.

3.7.2 Translatio imperii und das «fünfte Reich» Nach einem einführenden Absatz über die Erfindung der Geschichte Brasiliens aus europäischer Sicht und nach europäischem Muster setzt Ferdinand Wolf in diesem Abschnitt seinen zweiten argumentativen Schwerpunkt. Es geht ihm um eine Etablierung des Landes Brasiliens als «zusammengehörige Nation». Neben dem «Triumph» der «europäischen Civilisation» über die autochthone Bevölkerung und die Natur lobt Wolf, wie bereits erwähnt, die Brasilianer als «Nationalität», die zutiefst «dem monarchischen Prinzip» verbunden sei. Der Monarchismus wird hier als einzig mögliche, weil gewissermaßen naturgegebene, Regierungsform für Brasilien dargestellt. Wolfs eindeutige Bevorzugung der Monarchie gegenüber den aus den ehemaligen spanischen Kolonien entstandenen Republiken wird hier viel deutlicher als in vorherigen Kapiteln. Besonders auffällig ist dabei die Art und Weise, wie Wolf den Monarchismus in der Geschichte Brasiliens mit einer aus seiner Sicht teilweise vergleichbaren Entwicklung in der Geschichte Deutschlands/Österreichs verbindet. Wolf setzt seine Darstellung der Geschichte Brasiliens in einer Weise fort, die Dom Pedro II. als Hauptfigur dieser Geschichte präsentiert: Wir sahen endlich, daß dieses Gefühl einer eigenthümlichen Nationalität, das während der Colonial-Zeit nur schüchtern sich hervorwagte, oder wenn es zeitweise kühner auftrat, wie ein Rebell sich geberdete, erst dann mit Sicherheit und im vollen Selbstbewußtsein seiner Berechtigung sich aussprach, als Brasiliens Unabhängigkeit [am Ufer des Ipiranga]

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ausgerufen war, als das fünfte Kaiserreich sich constituiert hatte, als mit der Mündigkeitserklärung D. Pedro’s II. das monarchische Princip befestigt, die Succession einer heimischen Dynastie legitimiert, und so Brasilien von der Zertrümmerung in anarchische Republiken gesichert war, und dessen Bewohner, von Pará bis Rio Grande do Sul, von Alagoas bis Matto Grosso als Eine, große zusammengehörige Nation sich fühlen gelernt hatten. (S. 207) Nous avons vu enfin que ce sentiment national, timide encore du temps de la colonie, ou plus ou moins révolutionnaire quand il osait se montrer, ne se prononça d’une manière franche et décidée qu’après la proclamation de l’indépendance du Brésil sur les bords de l’Ipiranga. La constitution du cinquième empire, l’affermissement de la monarchie en suite de la déclaration de majorité de Dom Pedro II et de l’établissement d’une dynastie nationale empêchèrent le Brésil d’être divisé en petites républiques, et apprirent aux Brésiliens à se sentir une grande nation du Pará au Rio Grande do Sul, et de l’Alagoas au Mato Grosso. (S. 136)

In diesem Abschnitt schildert Wolf die Entstehung der brasilianischen Monarchie in auffälliger Art und Weise. Zunächst habe sich ein «Gefühl eigenthümlicher Nationalität» in Brasilien etabliert, das dann «mit Sicherheit und im vollen Bewusstsein seiner Berechtigung» nach der Unabhängigkeit verlangte. Auf Französisch erhält das Argument einen völlig anderen Sinn: Das Wort «Nationalität» wird zu «sentiment national» und bezeichnet einen in der Kolonialzeit noch unscharfen Begriff. Zuerst war die «Nationalität» «schüchtern» oder «kühn», auf Französisch liest man nur «timide». Schließlich zeigt sie sich als «Rebellin», was wie folgt übersetzt wurde: «plus ou moins révolutionnaire quand il osait se montrer». Darüber hinaus wird in diesem Absatz ein wesentlicher Unterschied in Hinblick auf den Begriff von «Nationalität» deutlich: Im deutschen Text wird «Nationalität» als ein grundlegendes Element des «monarchischen Princips» verstanden, was eine durchaus antifortschrittliche Konnotation enthält. Im französischen Text wird der Begriff dagegen ein «sentiment nacional», das eine eindeutige «revolutionäre» Komponente, ein fortschrittliches Potenzial, miteinbezieht. Das lässt sich durch den Sprachgebrauch des Wortes im französischen Kulturraum erklären. Außerdem verbindet sich die «Nationalität» hier mit der Idee von «Entwicklung» des «Selbstbewusstseins». Die Formulierung «sentiment national» zeigt sich indes «d’une manière franche et décidée». Dem abstrakten Bewusstsein wird eine konkrete Entscheidung gegenübergestellt. In der deutschen Fassung wird die Unabhängigkeit Brasiliens als Festigung der konservativen, anti-revolutionären Kräfte gedeutet, die für eine bestimmte Form der «brasilischen Nationalität» eintreten. Sie wird Brasiliens Unabhängigkeit mit der Vorstellung von einem «fünften Kaiserreich» gekoppelt, an die Mündigkeitserklärung Dom Pedros II., durch den das «monarchische Princip» legiti-

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miert wird. Die Folge ist die Entstehung «einer heimischen Dynastie», welche Brasilien vor der republikanischen Gefahr gerettet habe. Auf Deutsch wird die Kausalität des Geschehens in einer Folge von Nebensätzen zum Ausdruck gebracht, die mit der temporalen Konjunktion «als» beginnen: «als Brasilien...», «als das fünfte Kaiserreich...», «als mit der Mündigkeitserklärung...» und mit dem konsekutiven Adverb «so» endet: «und so Brasilien von der Zertrümmerung ... gesichert war». In der französischen Fassung wird die von Wolf konstruierte, logische Reihenfolge nicht eins zu eins wiedergegeben, denn der lange Satz wird in zwei Sätzen übersetzt, auch wenn in letzterem das temporale Adverb «ensuite» genutzt wird. Die «rebellische» «Gefahr» einer Republik ist dabei eine kontinuierlich wiederholte Sorge Wolfs. Wie sehr die Eliten Brasiliens und Deutschland/Österreichs in Sorge waren, ihre hegemoniale Machtposition zu verlieren, lässt sich beispielhaft durch diese auffällige rhetorische Fügung gegen demokratischere Regierungsformen zeigen. Am Ende des Absatzes wird diese Angst in eine Sprache übertragen, die der «Zertrümmerung in anarchische Republiken» dann «Eine, große zusammengehörige Nation» gegenüberstellt. Wolf stiftet hier nicht nur einen Dualismus, sondern auch einen Manichäismus, der Furcht erzeugen soll. Die «edle» Funktion der Monarchie wird als Rettung der Existenz der «Bewohner» Brasiliens markiert, indem sie von einer zentralen Gewalt regiert und von der Regierung nicht im Stich gelassen werden. Dennoch ist die Verschiedenheit zwischen den Regionen Brasiliens und selbst zwischen den Interessen seiner herrschenden Schichten so auffällig, dass Wolf eingestehen muss, dass die Idee von Brasilien als Nation den «Brasilianern» selbst erst «beigebracht» werden müsse: «dessen Bewohner [sich als] Eine, große zusammengehörige Nation fühlen gelernt haben». Die Assoziation der Verben «fühlen» und «lernen» ist der auffälligste Beleg dafür, dass der Übergang von «Bewohnern» zu «Brasilianern» ein durchaus künstliches und von oben gesteuertes Unternehmen darstellte. In der französischen Fassung wird Wolfs promonarchische Rhetorik nicht in ihrer gesamten diskursiven Eigenart wiedergegeben. Der Satz über den Schutz «Brasiliens vor der Zertrümmerung in anarchische Republiken» wird wie folgt übersetzt: «[...] l’établissement d’une dynastie nationale empêchèrent le Brésil d’être divisé en petites républiques». Die moralische Beurteilung des Zerfalls in «anarchische Republiken» wird schlicht zu «petites républiques». Van Muyden zeigt seine republikanische Haltung mit dieser Änderung, da das Problem dieser Republiken nach ihm darin bestünde, «klein» zu sein, und nicht «anarchisch». Doch dies bringt eine innerliche Ambivalenz im französischen Text in Bezug auf Wolfs ständige promonarchische Rede hervor. Die implizite Gewalt der Bedeutung von «Zertrümmerung» verliert ihren Appellcharakter in der Form des «être

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divisé». «Gesichert» wird umgekehrt zu «empêchèrent». Genauso signifikant ist es, dass der französischen Text von «Brésiliens» und nicht von «Bewohnern» («habitants») spricht. Die Idee des «fünften Reiches», welche in der französischen Fassung nur an dieser Stelle zu lesen ist, verbindet sich mit der Mündigkeitserklärung von Dom Pedro II. und steht im Zentrum von Wolfs propagandistischem Argument zu Gunsten der imperialen Macht des Hauses Habsburg. Hier vermischt Wolf die mittelalterliche Geschichtsauffassung der translatio imperii mit den tatsächlichen Ereignissen der brasilianischen Geschichte – und dies in allen Nebensätzen, die mit der temporalen Konjunktion «als» beginnen. Jacques Le Goff hat die mit dem Begriff58 translatio imperii verbundene Vorstellung als profane Entsprechung einer sakralen Geschichtsauffassung gedeutet, welche Geschichte in einer linearen und vorbestimmten Reihenfolge von Ereignissen versteht. Diese sakrale Geschichtsauffassung erzeugt die Vorstellung einer kontinuierlichen Bewegung, deren Anfang in der Genesis liegt und die unumkehrbar bis zum Ende der Geschichte führt. Im Falle des christlichen Glaubens prägt der Sündenfall die historische Entwicklung als Fortschreiten zur Dekadenz. Le Goff hebt in seiner Analyse hervor, dass Analogie und Echo die wesentlichen Strukturen der mittelalterlichen Mentalität waren: Die hebräische Bibel wurde auf diese Weise zur Präfiguration des Neuen Testaments umgedeutet. Alles, was existierte, war also schon immer dagewesen, es gab nie etwas Neues, nur Umwandlungen. Le Goff erklärt, dass dieser sakralen Geschichtsauffassung eine profane entspricht, welche die Weltgeschichte als Machtübertragung von einer Zivilisation zu einer anderen versteht. So kommt die historische Periodisierung den nachfolgenden Kaiserreichen entgegen, die über Hegemonialmacht und Kontrolle über das ganze Universum verfügen.59

58 Jacques Le Goff: La civilisation de l’occident médiéval. Paris: Arthaud 1964, S. 211–221. 59 «Le monde, à chaque époque, a un seul coeur à l’unisson duquel, sous l’impulsion duquel vit le reste de l’univers.» Diese Interpretation basiert nach Le Goff auf dem Werk von Paulus Orosius, das eine Art Theorie der imperialen Nachfolge schafft und somit den Verknüpfungspunkt zwischen einer modernen und einer mittelalterlichen Geschichtsphilosophie etabliert: «Fondée sur l’exegese orosienne du songe de Daniel, la succession des empires, des babyloniens aux Mèdes et aux Perses, puis aux macédoniens et après eux aux Grecs et aux Romains, est le fil conducteur de la philosophie médiévale de l’histoire». Die Vorstellung einer translatio imperii wurde im Mittelalter als Rechtfertigung der Machtübernahme verschiedener Monarchien Europas genutzt. Für den deutschen Bischof Otto von Freising (1112–1158) stand das Heilige Römische Reich am Ende einer langen Herrschaftskette. Für den französischen Dichter Chrétien de Troyes (1140–1190) war es Frankreich und für den englischen Bischof Richard de Bury (1281–1345) war es England. In der Neuzeit wurde diese eschatologische Geschichtsauffassung wiederbelebt, etwa in Portugal, wenn

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In der Neuzeit wurde ein weiterer Aspekt der translatio imperii hervorgehoben: die Verbindung von Zeit und Ort, von Geschichte und Geographie. Le Goff sagt: «Porteuse de passion nationale, la conception de la translatio inspire [...] la croyance en l’essor de l’Occident».60 So wurde der Nabel der Welt vom Osten in den Westen verschoben. In diesem Zusammenhang erreichte Portugal angesichts seiner Kolonien in der sogenannten «Neuen Welt» eine besondere Stellung innerhalb der europäischen Machtpolitik. Brasilien kommt in dieser Vorstellung einer räumlichen und zeitlichen Machtübertragung ein besonderer Stellenwert zu.61 Wolf nutzt diese politisch-theologische Vorstellung einer translatio imperii als Legitimation für seine Darstellung der geschichtlichen Ereignisse, welche die Entstehung einer «heimischen Dynastie» in Brasilien ermöglicht hätten. Durch diese Mischung von imaginierter Geschichte und Ereignisgeschichte verbindet Wolf nicht nur Brasiliens Geschichte mit der christlichen Tradition Europas, sondern gibt Brasilien eine geradezu sakrale Bedeutung innerhalb der weltweiten Monarchiegeschichte. Le Goff weist darauf hin, dass die Vorstellung einer imperialen Herrschaftsübertragung stets von einer weiteren begleitet wird, nämlich der translatio studii, welche sich auf den Transfer von Wissen und Kultur bezieht. Wolfs Verbindung von Brasilien und Österreich galt also der Einordnung eines kulturpolitischen Herrschaftsprojekts. Dom Pedro II. personifizierte das Haus Habsburg in Amerika und galt ihm zugleich als Mitstreiter in der Erweiterung der Vorherrschaft des Deutschen Bundes, mit Österreich in der Führungsposition, in der sogenannten ‹Neuen Welt›. Wolfs literaturpolitisches Projekt lässt sich also nur vor dem Horizont dieser dynastischen Verbindungen der brasilianischen Monarchie nachvollziehen. Nordamerika oder die ehemaligen spanischen Kolonien in Südamerika konnten solch ein dynastisches Machtbündnis nicht bieten.

das Land als Ort des Beginns einer neuen Ära der Weltgeschichte, dem «fünften Reich», imaginiert wurde. Ebda., S. 218. 60 Ebda., S. 219. 61 Der portugiesische Jesuit und Missionar in Brasilien Antônio Vieira (1608–1697) entwickelt die Vorstellung eines Fünften Reichs weiter und behauptete, dass Portugal unter Dom João IV. (1604–1656) Nachfolger des Römischen Reiches sei, da Dom João ein universales christlichen Reich regiere. Dom João IV. wird der Restaurator genannt, denn als König von Portugal ab 1640 gründet er die neue portugiesische Dynastie Bragança. Nach sechzig Jahren spanischer Fremdherrschaft, habe sein Königtum eine neue Zeit in Portugal markiert. Diese Auffassung vertritt Vieira in seiner História do futuro: «[...] chamamos Império Quinto ao novo e futuro que mostrará o discurso desta nossa História: o qual se há de seguir ao império romano na mesma forma de sucessão em que o romano se seguiu ao Grego, o grego ao persa e o persa ao assírio». Padre António Vieira: Obra completa. História do futuro e voz de deus ao mundo, a Portugal e à Baía. [1718] Lissabon: Círculo dos leitores 2014, Bd. III, S. 437–438.

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Wolf hat es dabei für notwendig befunden, die Bedeutung der Monarchie in einer Fußnote ergänzend zu bekräftigen: Daß aber bei der Heterogenität der Abstammung des brasilischen Volks nur der Monarchismus ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen, erhalten und bis zu dem Grade eines wahren Nationalgefühls erstarken machen konnte, haben die einsichtsvolleren unter den brasilischen Politikern selbst zugegeben [...]. (S. 207). Les politiques brésiliens les mieux pensants ont tous reconnu que, vu le peu d’homogénéité du peuple brésilien, la monarchie seule pouvait réunir ces éléments divers, et en faire sortir de vrais sentiments nationaux. (Fußnote 3, S. 136)

Die französische Übersetzung verkürzt die Wiederholung von Wolfs Eintreten für den Monarchismus markant und kehrt die Betonung sogar um: Während das Thema des Monarchismus in der deutschen Fassung an erster Stelle auftaucht, kommt auf Französisch zunächst die Zustimmung der brasilianischen Politiker zur Sprache. In der Übersetzung werden Haupt- und Nebensatz direkt nacheinander dargestellt, was der Umkehrung auf Deutsch nicht entspricht. Außerdem wird die einprägsame Beschreibung der «Heterogenität der Abstammung des brasilischen Volks» durch ihr Gegenteil und die Entfernung des Wortes «Abstammung» ausgedrückt: «le peu d’homogénéité du peuple brésilien». Während im Original die «uneinheitlichen» Aspekte der «Abstammung» hervorgehoben werden, verweist die Übersetzung auf eine bestehende «Einheit des Volks», wenn auch in geringem Maß. Auch das Wort «Abstammung» ruft bestimmte Assoziationen auf, welche sich unmittelbar mit der Idee von «Ursprung», «Erbe» und «Übertragung» verbinden. Auch auf die dynastische Machtübertragung über Generationen kann dieses Wort verweisen. In diesem Sinne stellt der französische Text einen durchaus anderen Begriff von Nation dar, welcher sich eher durch eine affektive Verbindung zwischen den «éléments divers» aus dem «peuple» ergibt. Ebenfalls wird die Rolle des «Monarchismus» in der Übersetzung gemindert: Wolfs Satz «ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen, erhalten und bis zu dem Grade eines wahren Nationalgefühls erstarken machen konnte» wird zu «la monarchie seule pouvait réunir ces éléments divers, et en faire sortir de vrais sentiments nationaux». Im deutschen Text wird die Fähigkeit, eine «Nationalität» hervorzubringen, lediglich der Monarchie zugeschrieben. Aus diesem Grund ist «der Monarchismus» das Subjekt des Satzes in Wolfs Text und erlangt so eine aktive Rolle in der Entstehung von «Zusammengehörigkeit». Das französische Verb «réunir» stellt einen radikalen Unterschied dazu dar, da es einen durchaus anderen etymologischen Hintergrund hat: Aufgrund der mannigfaltigen Bedeutung des Präfixes «re-» wird die Idee einer Vereinigung sowohl als «Wiederholung» als

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auch als «Intensivierung» verstanden. Darüber hinaus passt «réunir» zur «peu d’homogénéité», denn nur etwas, das schon einmal bestand, kann wiederhergestellt werden. Das erklärt, warum die «politiques brésiliens» das Subjekt im französischen Text sind und nicht der «Monarchismus». Diese «politiques brésiliens» handeln und nicht der Monarchismus, sie «erkennen» (reconnaître) die Notwendigkeit der Monarchie, während sie im deutschen Text ihre Notwendigkeit «zugeben». In jedem Fall wird die Idee der Unterwerfung in der Übersetzung beiseitegelassen. Ein weiterer Kontrast ist der Plural in «de vrais sentiments nacionaux» in der französischen Übersetzung, er gibt Wolfs Nationalitätsbegriff eine subjektive Färbung, als ob jeder «de vrais sentiments nacionaux» für sich wählen könnte. Für Wolf hingegen verwandelt sich das «Gefühl der Zusammengehörigkeit» durch die Zentralgewalt der Monarchie in «Nationalgefühl». Außerdem wird die «Zusammengehörigkeit»62 als Lösung für die Frage der «Heterogenität der Abstammung» präsentiert. Nachdem Wolf begründet, warum allein die Monarchie die Existenz Brasiliens garantieren kann, widmet er sich im nachfolgenden Absatz einem ausführlichen Lob Dom Pedros II. Der Kaiser konsolidiere alle Ansprüche der transnationalen Elite Brasiliens und Österreichs und bekräftige die programmatische Umsetzung des «Nationalgefühls» auch in der «Wissenschaft und den Künsten» als ideologische Instrumente einer «Aristokratie des Ideals»: Nun erst – besonders nachdem der alles übertäubende, die Wissenschaft und Kunst verstummen machende Lärm, der mit dem Constitutionalismus unvermeidlich verbundene politische Leidenschaften und Parteikämpfe immer mehr auf sein eigentliches Gebiet, das Parlamentshaus, beschränkt, und durch des Kaisers Versöhnungsworte gemäßigt und beschwichtigt worden war; nachdem in also beruhigteren und gesetzmäßigeren Zuständen neben dem nur materiellen Interessen huldigenden Industrialismus und der commerziellen Plutokratie auch das Bedürfniß nach geistiger Nahrung und die Aristokratie des Ideals sich wieder geltend machen konnten; – nun erst war es möglich geworden, daß dieses Nationalgefühl nicht nur in vereinzelten Ausbrüchen, in mehr subjectiven Stimmungen, gleichsam wie ein Gelegenheitsdichter auch in der Literatur sich manifestierte,

62 Wenn man die etymologische Bedeutung von «gehören» im Hinterkopf hat, lässt sich die Rolle des Monarchen in Wolfs Darstellung noch besser aufzeigen: Im Mittelhochdeutschen und Althochdeutschen bedeutete «gehören» nach dem Duden Herkunftswörterbuch, «hören, anhören; gehorchen, woraus sich dann die Bedeutung ‹zukommen, gebühren, als Eigentum haben› entwickelten». Der Monarchismus vermittelt also nicht nur das Verhältnis zwischen Menschen, sondern ordnet sie dem Willen des Monarchen unter. Die Einheit der Nation entsprach einer «Alleinherrschaft», welcher sich alle andere Menschen unterzuordnen hatten. Die Gemeinsamkeit zwischen ihnen war die Pflicht, gehorsam zu sein.

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sondern daß es diese durchgeistigte, in ihr sich zu objectivieren, sie sich homogen umzugestalten und in allen zeitgemäßen Richtungen zu entwickeln suchte. (S. 208) Cependant les passions politiques s’étaient calmées et avaient été bornées au parlement, leur domaine; leur fracas, si peu favorable aux lettres, s’était tu; les paroles conciliatrices de l’empereur avaient modéré et apaisé les haines de parti, le règne de l’industrialisme pur et de la ploutocratie n’était plus exclusif et avait cessé d’absorber tous les intérêts; ce fut alors qu’on sentit de nouveau le besoin d’une nourriture intellectuelle et que l’aristocratie de l’idéal reprit ses droits. Tandis qu’auparavant le sentiment national s’était fait jour dans la littérature, d’une manière intermittente et plutôt subjective, il put dès lors la pénétrer, devenir objectif, s’assimiler à elle et la développer dans toutes les directions conformes à l’esprit du siècle. (S. 136–37)

Im Mittelpunkt dieser Argumentation steht die Figur des Kaisers, der mit den erhabensten Merkmalen geschildert wird. Vor allem wird Dom Pedro II. die Fähigkeit zugeschrieben, Streitende zu versöhnen. Er vertritt idealiter und als Person den brasilianischen Staat, welcher sich über private oder parteiische Interessen hinwegsetzen soll. Das semantische Feld, das Wolf mit Dom Pedro II. verbindet, entsteht aus Worten wie «versöhnen», «gemäßigt», «beschwichtigen», «beruhigt» und «gesetzmäßig». Das dem gegenüberstehende semantische Feld wird mit «Lärm», «Constitutionalismus», «politischen Leidenschaften», «Parteikämpfen» und «Parlamentshaus» bezeichnet. Der Sieg der Monarchie erscheint als die einzig denkbare Lösung in Wolfs dualistischer Darstellung der brasilianischen Geschichte. Bei ihm sind Auseinandersetzungen stets ein Kampf zwischen zwei Mächten, welche sich nie versöhnen können, bei welchen vielmehr die eine der anderen unterworfen werden muss. Doch erreicht Wolfs Dualismus hier noch eine komplexere Dimension. Am Anfang des Abschnitts werden «Wissenschaft und Künste» als vom politischen Streit beschädigt dargestellt. Der Kaiser übernimmt die Verantwortung, in der politischen Auseinandersetzung zu vermitteln und einen Raum für das «Parlamentshaus», zu besorgen, sodass «Wissenschaft und Künste» wieder von diesen «Kämpfen» frei sind, eine Art Autonomie erhalten und sich wieder entfalten können. So werden diese unterschiedlichen Felder des gesellschaftlichen Lebens vorgeblich nicht vermischt. Diese Feststellung steht in großem Widerspruch zu anderen Stellen im Manuskript, in denen deutlich wurde, wie sehr Wolf Literatur als politisches Instrument versteht. Doch hier geht es Wolf darum, die Rolle Dom Pedros II. und der Monarchie als einen «gesetzmäßigeren Zustand» darzustellen und die Zukunft der Künste und der Wissenschaften mit der monarchischen Herrschaft über das Land und der Unterdrückung aller Oppositionsbewegungen gegen die Regierung zu verbinden. Die französische Übersetzung ist hier besonders auffällig nicht in Übereinstimmung mit dem Original. Der lange Satz des deutschen Manuskripts ist in kür-

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zere Sätze unterteilt, die Verbindung zwischen ihnen entsteht weniger kausal als eher aus der Auflistung und den rhetorischen Wiederholungen heraus, viele Adjektive werden gestrichen, neue Ideen werden eingeführt. Die deutlichsten Beispiele für die Unterschiede sind die folgenden: Zunächst wird aus «Wissenschaft und Kunst» in der französischen Übersetzung «lettres». Obwohl «lettres» zur «Kunst» gehört, können die deutschen Begriffe «Wissenschaft und Kunst» nicht durch «lettres» ersetzt werden. «Lettres» beschränkt sich auf literarische Studien, wie etwa Literatur, Grammatik und Philologie. Auch Wolfs bedrohliche Metapher einer mangelnden Aufmerksamkeit für diese Bereiche aufgrund des Politischen, die das Verb «verstummen» zum Ausdruck bringt, wird im Französischen nicht wiedergegeben. In der Übersetzung «si peu favorable» wird keine vergleichbare Bildsprache genutzt. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die politischen Begriffe. Das im Manuskript genutzte Wort «Constitutionalismus» fällt weg und damit der deutliche Hinweis auf die Debatten über die Regierungsform Brasiliens nach der Unabhängigkeit. Außerdem wird Wolfs Formulierung «neben materiellen Interessen huldigenden Industrialismus und der commerziellen Plutokratie» in einer gekürzten Weise wiedergegeben, ohne die Adjektive und mit einem neuen Wort, nämlich «règne»: «le règne de l’industrialisme pur et de la plutocracie». Im französischen Text bezieht sich das Wort «règne» nicht unbedingt auf dynastische Monarchien, sondern eher auf die Vorherrschaft wirtschaftlicher Beziehungen, wie die Verbindung mit «industrialisme» andeutet. Die Konjunktionen «neben» und «auch», welche Simultaneität von Geschehen markieren, werden durch andere ersetzt, wie etwa «alors», das eher Kausalität ausdrückt. Auffälliger ist die Inversion im Hinblick auf Ideen wie «Ordnung» und «gesetzlich». Während im deutschen Text der «gesetzmäßigere Zustand» die Herrschaft des Staats anhand des «Constitutionalismus» und seiner Gesetze aufzeigt, werden diese beiden Begriffe im französischen Text entfernt und das Wort «droit» wird als Metapher in Verbindung mit der «aristocracie de l’idéel» genutzt, d. h. nicht im eigentlichen politischen Sinne. Das dritte Beispiel ist eine Umdeutung von Wolfs idealistischem Wortschatz – mit dem Ergebnis, dass sein Argument an philosophischer Kohärenz verliert: «sich manifestiert» wird «s’était fait jour», «es diese durchgeistigte» wird zu «il put dès lors la pénétrer» und schließlich «sie sich homogen zu gestalten [suchte]» wird als «s’assimiler à elle» übertragen. Die einzige Ausnahme ist «in ihr sich zu objectivieren [suchte]», das zu «devenir objectif» wird. Das Wort «esprit» taucht in Bezug auf eine andere Formulierung auf, in «esprit du siècle», was jedoch nicht im Original zu lesen ist. Ein einziger Aspekt der idealistischen Philosophie wird beibehalten: Die Opposition zwischen Objektivem und Subjektivem. Als Ergebnis erscheint in der französischen Fassung die idealistische Philosophie  

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nicht mehr als Grundlage des «Nationalgefühls». Vielmehr wird im letzten Teil des Abschnitts auf Französisch eine lose Verbindung der Etablierung der Monarchie mit dem Aufstieg der «Aristocratie des Ideals» hergestellt, sodass beide das «Nationalgefühl» in der Literatur hervorgebracht haben. Es handelt sich nicht mehr um gelegentlichen Ausdruck dieses Gefühls sondern um ein strukturelles Erstarken eines vermeintlichen «nationalen Geistes». Wolfs gesamtes Unternehmen bestand darin, «nationale Elemente» in der Geschichte Brasiliens zu konstruieren und eine kontinuierliche Entwicklung zwischen diesen Elementen im Laufe der Zeit zu imaginieren, damit es sinnvoll erscheint, von einer brasilianischen «Nationalliteratur» zu sprechen. Indem ihm an dieser Stelle die Formulierung unterläuft, dass diese «nationalen Elemente» und «nationalen» Dichter nur zufällig («gelegentlich») auftauchen, bringt er selbst sein gesamtes Unternehmen ins Wanken, einen notwendigen, historischen und inhaltlichen Zusammenhang in der «brasilischen Nationalliteratur» zu schaffen. In der Kolonialzeit war «das Nationale» kein Ziel literarischer Kreativität. Aber seit der Regierungszeit von Dom Pedro II. wurde die Erfindung des «Nationalen» zum Hauptprogramm aller Autoren unter kaiserlichem Schutz. So zeigt Wolfs widersprüchliche Aussage, inwiefern diese Erfindung des «Nationalgefühls» auch manipuliert werden konnte. Dafür spricht auch seine Feststellung, dass die Literatur «homogen gestaltet wird», was im Gegensatz zur oben herausgestellten «Heterogenität der Abstammung des brasilischen Volks» steht. Wenn man Wolfs Argument in aller Konsequenz folgt, wäre die brasilianische Literatur «national» ohne «populär» zu sein. Es wird deutlich, wie sehr dieses «Nationalgefühl» bevorzugtes Ausdrucksmittel der brasilianischen Elite war und sich ein ideologisches Instrument darstellte. Diese Widersprüche werden von Wolf nicht gesehen, durchgehend wird der Kaiser Dom Pedro II. gelobt. Der französische Text versucht, die größten Widersprüche in Wolfs Gedankengang abzumildern, wie am folgenden Abschnitt deutlich wird: Zu dieser Entwicklung trug des Kaisers persönliche Theilnahme an der Wissenschaft und Kunst mächtig bei. Denn D. Pedro II. ist nicht nur ein erleuchteter Gönner derselben, er versammelt nicht blos aus Vergnügen an geistiger Unterhaltung Gelehrte und Künstler an seinem Hofe; er unterstützt und begünstigt sie nicht blos aus berechnender Schlauheit, wie Augustus, oder aus eitlem Egoismus, wie Ludwig XIV., um seine Macht durch sie vergrößern, seinen Namen feiern zu lassen; nicht blos als Mittel zu politischen Zwecken oder zur Selbstverherrlichung, sondern um ihrerselbst willen achtet und fördert er die Wissenschaft und die Kunst und ist in mehr als einem Zweig derselben nicht blos Dilettant, sondern gründlicher Kenner. So versäumt er selten, an den Sitzungen des historisch-geographischen Instituts persönlich theilzunehmen, wie die Sitzungsprotokolle derselben fast jedesmal des Kaisers Gegenwart constatieren. (S. 208–209)

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L’empereur eut la plus grande part à ce développement. Dom Pedro II ne se contente pas d’aimer et de protéger les sciences et les arts, de réunir à sa cour les savants et les artistes, de les favoriser non par calcul comme Auguste, ou par une vanité égoïste comme Louis XIV, qui n’avait d’autre pensée que de les faire concourir à l’agrandissement de sa puissance et à la gloire de son nom. D. Pedro II ne fait pas des sciences et des arts le marche pied de son ambition, il les aime pour eux-mêmes, et en connaît à fond plusieurs branches. Il manque rarement d’assister aux séances de l’Institut historico-géographique, comme les procès-verbaux en font foi [...]. (S. 137–38)

Die Persönlichkeit des Kaisers und sein vermeintlich unmittelbares Engagement in «Wissenschaft und Kunst» wird im französischen Text schlicht gestrichen: Das Adjektiv «persönlich» und das Substantiv «Theilnahme» und das Verb «theilnehmen», sowohl am Anfang als auch am Ende des Abschnitts, werden nicht übersetzt. Wolf versucht im deutschen Manuskript, den Kaiser als sympathischen, bescheidenen Menschen zu profilieren. Dom Pedro II. wird mit anderen Kaisern der Weltgeschichte verglichen, denen Wolf vorwirft, Wissenschaft und Kunst manipuliert zu haben. Diese markanten Unterschiede zwischen Dom Pedro II. und anderen Monarchen betont Wolf anhand seines bevorzugten Stilmittels, der Anapher in Form der Wiederholung von «nicht bloß» am Anfang jedes Nebensatzes. Doch Wolfs hyperbolisches Lob von Dom Pedro II., jener habe Kunst und Wissenschaft nie «als Mittel zu politischen Zwecken oder zur Selbstverherrlichung» genutzt, erzeugt einen gegenteiligen Effekt. Wolf berichtet, der Kaiser versammle «Gelehrte und Künstler an seinem Hofe» und nehme «an den Sitzungen des Historisch-Geografischen Instituts persönlich» teil. Diese Tatsachen können jedoch durchaus auch den Eindruck erwecken, dass der Kaiser die Produktion von «Wissenschaft und Kunst» strategisch unter seine Kontrolle zu bringen suchte, wie im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit behandelt wurde. Im französischen Text wird die Formulierung «als Mittel zu politischen Zwecken oder zur Selbstverherrlichung» durch «le marche pied de son ambition» ersetzt. Selbst wenn es in der Übertragung um ähnliche Ideen geht, ist «ambition» nicht unbedingt ein Begriff im deutschen Text. Viel wichtiger scheint das «politische Spiel» selbst, das sich unter dem aufgeklärten und gerechten kaiserlichen Mantel entwickelt. Doch hier wird zweimal das Verb «aimer» genutzt, was dem deutschen semantischen Feld nicht genau entspricht: Dom Pedro II. wird als «erleuchteter Gönner», «gründlicher Kenner», «nicht blos Dilettant» gekennzeichnet, als jemand, der «Wissenschaft und Kunst» nicht nur «aus Vergnügung und Unterhaltung» «unterstützt», «begünstigt», «achtet», «fördert», sondern auch aus einer ehrlichen Zuneigung heraus. Diese Lesart wird im folgenden Abschnitt deutlich, in dem Wolf die Entstehungsgeschichte der brasilianischen Literatur bis zur Gegenwart zusammenfasst, bevor er die Absicht seines Werkes offenlegt:

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Während also durch Beruhigung und Ordnung der inneren politischen Zustände, durch Stärkung des Nationalgefühls und durch vom Throne selbst ausgehende Achtung und Verbreitung wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung Brasiliens Boden vorbereitet war, aus eigener Kraft diesen geistigen Samen zu nähren, zu zeitigen und eine reiche Ärnte an indigenen Früchte hoffen zu lassen, hatte auch im alternden Europa eine Verjüngung stattgefunden, welche beitragen sollte diese Hoffnung zu begünstigen. (S. 210) Tandis que les événements que nous venons de récapituler préparaient le sol du Brésil à recevoir la semence spirituelle, à la mûrir, et à donner une riche moisson, la vieille Europe voyait s’accomplir en elle un rajeunissement, qui ne pouvait que contribuer à entretenir ces espérances. (S. 138)

Laut Wolf haben drei Elemente eine zentrale Rolle für die Entfaltung der fünften Epoche der brasilianischen Literaturgeschichte gespielt. Erstens: die «Beruhigung und Ordnung des inneren politischen Zustandes», zweitens die «Stärkung des Nationalgefühls» und drittens die «vom Throne selbst ausgehende Achtung und Verbreitung wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung». Auch wenn die innere Beziehung zwischen diesen drei Elementen oben bereits dargestellt wurde, macht ihre Rekapitulation die politische Absicht noch deutlicher. Doch wird diese Zusammenfassung im französischen Text nicht mitübersetzt, sondern in einer eher losen Formel resümiert: «les événements que nous venons de récapituler». Wolf ruft die Metapher des «brasilischen Bodens» vom Anfang des Kapitels wieder in Erinnerung. Nach dem Aufstieg der Ordnung der Monarchie und «des Nationalgefühls» durch staatliche Finanzierung sei nun der «Boden» bereit, einen «geistigen Samen» aufzunehmen. Auffällig ist Wolfs Wortwahl: Er nutzt hier die gleiche Metapher, mit welcher er den Kolonisationsprozess beschrieben hatte. Man kann sie an dieser Stelle so interpretieren, dass Brasilien auf «geistiger» Ebene neu kolonisiert werden soll. Obwohl das Land offiziell von Portugal unabhängig geworden ist, setzt Wolf hier wieder ein Verhältnis der Abhängigkeit in Bezug auf Europa voraus. Doch ergibt sich diese Abhängigkeit jetzt in einer anderen Form: Die Wahlverwandtschaft zwischen der österreichischen und der brasilianischen Monarchie ordnet sie als Projekt eines Bündnisses der herrschenden Klasse mit identischen Interessen neu. Die Unabhängigkeit bedeutete nicht nur einen Bruch in den Beziehungen zwischen Brasilien und Portugal, sondern sie erzeugte unter den europäischen Mächten England, Frankreich und nicht zuletzt Österreich massive Auseinandersetzungen um den Stellenwert der alten Metropolen. Wolf artikuliert eine vermeintlich «natürliche», eben «geistige» Verbundenheit zwischen den beiden Monarchien. Brasilien solle sich mit dem Hause Habsburg und seinen Prinzipien verbünden, denn, so Wolfs Darstellung, die Geschichte Brasiliens und Österreichs sei unverbrüchlich miteinander verbunden. So wird evident, dass Wolfs

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zentrales Argument der dynastischen Wahlverwandtschaft ideologischer Natur ist.

3.7.3 Rückkehr zum Mittelalter: «Die Regeneration aus Deutschland» Die Absicht von Wolfs Literaturgeschichte wird unter anderem in seinem Streben deutlich, narrativ eine kohärente gemeinsame europäische Vergangenheit zu schaffen, welche sich in der Literatur nachweisen lässt. Wolfs Zeitdiagnosen sind auf das Engste mit den kulturellen und politischen Zusammenhängen unmittelbar nach der Restauration 1815 verbunden. Seine Ansichten zur Entwicklung der Literatur in Europa und zur Rolle des Mittelalters werden anhand seiner Betrachtung der zeitgenössischen Literatur Brasiliens deutlich. Die Wechselwirkungen und die sich gegenseitig ergänzende Dynamik zwischen den beiden Kontexten spiegeln sich auch in anderen Verhältnissen, welche Wolfs außerliterarische Interessen offenbaren: Ihm ging es mit seiner Literaturgeschichte um die Verbreitung einer bestimmten Version des historischen Geschehens, die seiner elitären, monarchischen und konservative Perspektive folgt. Die Art und Weise, wie Wolf Geschichte narrativ konstruiert, ist beispielhaft, sowohl für die ideologischen Grundlagen der Literaturgeschichte Europas als auch Brasiliens. Nachdem Wolf erklärt, dass die brasilianische Monarchie ihren Höhepunkt erreicht und infolgedessen günstigere Bedingungen für die Einführung neuer politischer, philosophischer und literarischer Verfahren ermöglicht habe, verschiebt er den Schwerpunkt seiner Darstellung auf die Kulturgeschichte Europas. Wolf beschreibt, wie zwei «Nationen», gemeint sind Frankreich und Deutschland, eine «Verjüngung» Europas auf verschiedenen Ebenen und durch verschiedene Mittel ausgelöst hätten. Wolf nennt diesen Prozess «Regeneration», und er findet aus seiner Sicht sowohl im Politischen als auch im Geistigen statt: Europa war nicht bloß durch die Bluttaufe der französischen Revolution politisch verjüngt, sondern auch durch die von Deutschland ausgehende Confirmation des volksthümlichen Princips, die Festigung des Glaubens an naturwüchsige, nationelle Spontaneität geistig verjüngt worden. Dadurch ist namentlich in der Poesie die Continuität der spontanen Entwicklung wiederhergestellt, von den Fesseln des Pseudo-Classicismus befreit, und die Berechtigung jeder Volksthümlichkeit sich naturgemäß auszusprechen, wieder anerkannt worden. Man hat diese Regeneration mit dem Namen Romanticismus bezeichnet, und insofern nicht mit Unrecht, als man: romanisch die Vulgärensprachen, die Volksmundarten (lingua romana rustica) im Gegensatz zur römischen Schriftsprache (sermo urbanus) [und jedes Werk in der Volkssprache: ‹Romans› oder ‹Romant›] genannt hat; denn der wahre, berechtigte Romanticismus ist ja nur der von jeder conventionellen Sprache befreite Ausdruck des eigenthümlichen Volksgeistes. (S. 210)

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L’Europe n’avait pas seulement été rajeunie au point de vue politique par le baptême de sang de la révolution française; elle l’avait aussi été littérairement par la confirmation du principe populaire, de la foi en une spontanéité naturelle et nationale, partie de l’Allemagne. Ce dernier fait a rétabli en poésie la continuité du développement spontané, l’a débarrassé des entraves du pseudo-classicisme, et a fait reconnaître le droit imprescriptible à tous les peuples de prêter des accents à leur génie particulier. On a nommé cette régénération romantisme, comme on a appelé romanes les langues vulgaires, les patois (lingua romana rustica) pour les opposer à la langue latine savante (sermo urbanus). Le vrai romantisme n’est en effet pas autre chose que l’expression du génie d’une nation, débarrassé de toutes les entraves de la convention. (S. 139)

Wolf parallelisiert hier zwei Ereignisse: Die Französische Revolution und eine «Anregung» aus Deutschland, die als «Confirmation des volksthümlichen Princips, [die] Festigung des Glaubens an naturwüchsige, nationale Spontanität» bezeichnet wird. Während die Ereignisse der Französischen Revolution sich zeitlich genau identifizieren lassen, schwebt die «Verjüngung aus Deutschland» außerhalb der zeitlichen Präzisierung. Aus diesem Grund ist kaum nachvollziehbar, ob aus Sicht von Wolf eine kausale Beziehung zwischen beiden Ereignissen besteht. Auf jeden Fall bezeichnen sie eine gegenläufige Bewegung. Das Ereignis der Französischen Revolution brachte die Möglichkeit mit sich, das Leben im Rahmen progressiver, zukunftsorientierter Werte neu zu organisieren. Selbst die Bedeutung des Worts «révolution» änderte sich durch das Ereignis selbst: Bis zur Französischen Revolution bedeutete es eine Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit, die von den Naturrechten regiert wurde. Ab der Französischen Revolution bezeichnet es die Schaffung einer neuen sozialen Ordnung.63 Das Substantiv bringt zudem das neue Verb «révolutionner» hervor. Demgegenüber ist Wolfs «Verjüngung» aus Deutschland, wie er sie im Manuskript darstellt, an der Vergan-

63 Hannah Arendt erklärt die Herkunft des Wortes: «The word ‹revolution› was originally an astronomical term which gained increasing importance in the natural sciences through Copernicu’s De revolutionibus orbium coelestium». Hannah Arendt: On Revolution [1963]. London: Penguin 1990, S. 42. Koselleck stellt die Verdeutschung des Wortes im Eintrag «Revolution» dar: «Der Ausdruck ‹Revolution›, der der astrologisch-astronomischen Fachsprach entstammt und als solcher schon um 1500 eingedeutscht wurde, drang auf der Wörterbuch- und Lexikonebene – im Gegensatz zu den westlichen Sprachen – nur langsam in das Gebiet von Geschichte und Politik vor. Bis in das 18. Jahrhundert hinein wurde der Ausdruck, wenn überhaupt, als Fremdwort angeführt, und Konnotationen zu ‹Revolte›, ‹Aufruhr› usw. oder zu ‹bürgerlicher Krieg› wurden vor 1789 so wenig registriert wie umgekehrt». Reinhart Koselleck: Revolution. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 714.

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genheit ausgerichtet und setzt die Wiederbelebung der Prinzipien des Ancien Régime voraus. Diese Opposition zwischen Zukunft und Vergangenheit erklärt auch, warum Wolf das Wort «Revolution» im Fall Deutschlands nicht nutzt.64 Er spricht stattdessen von «Confirmation», «Festigung», «Continuität», «Regeneration» von etwas, was schon bestand und «wieder hergestellt», «wieder anerkannt» wird. Wolf behauptet, dass die Vergangenheit unterbrochen worden sei und sich dank der «Regeneration» aus Deutschland wieder konstituiere. Wolf muss die Bedeutung der Französischen Revolution als «Verjüngung» erkannt haben, um mit ihr diese «Regeneration» aus Deutschland zu vergleichen. Doch die Französische Revolution stellt auch ein Paradox dar: Zum einen ist sie der Grund, warum der historische Lauf der Dinge unterbrochen wurde, zum anderen ist sie der Auslöser der genannten «Regeneration». Wolfs Ziel ist es, diese «Regeneration» im Sinne einer Restauration der Vergangenheit voranzutreiben. Wolfs Antagonismus zwischen Französischer Revolution und Restauration lässt sich deutlich nachvollziehen: Die «Verjüngung» auf Seiten Frankreichs wird mit einer «Bluttaufe» markiert. Diese Metapher signalisiert kriegerische Auseinandersetzungen schon am Beginn des Lebens. In der christlichen Tradition ist die Taufe die offizielle Einführung eines Menschen in das gemeinschaftliche religiöse Leben. Doch statt Weihwasser wird in diesem Fall das ganz Frankreich in Blut getaucht. Dem blutigen «Terror» der Französischen Revolution wird die «blutfreie Regeneration» Deutschlands gegenübergestellt. Der Begriff «Verjüngung» knüpft auch an die Machtübertragung im Sinne der translatio imperii an, was sich anhand von Hegels Geschichtsphilosophie erklären lässt.65 Hegel legt drei Kategorien fest, «in denen sich die Ansicht der Geschichte allgemein dem Gedanken darstellt» (Ebda., S. 34): «Veränderung», Verjüngung» und «Vernunft». Die «Veränderung» bezieht sich auf die Vergänglichkeit des Lebens: «Völker, Staaten, Individuen» sterben. Das ist die negative Seite der Geschichte, welche Trauer hervorruft. Die «Verjüngung» bedeutet, dass «aus dem Tode neues Leben aufersteht» (Ebda., S. 35). Hegel stellt weiter fest: «Die Verjüngung des Geistes ist nicht ein bloßer Rückgang zu derselben Gestalt; sie ist Läuterung, Verarbeitung seiner selbst» (Ebda., S. 35). Man kann diese Aussage so interpretieren, dass bei jeder Machtübertragung in der Geschichte der Geist «erhöht, verklärt» werde. Zuletzt enthüllt die Kategorie der «Vernunft» den Endzweck der

64 Wolf spricht von einer «Revolution» aus Deutschland in seinem Artikel über Antonio José da Silva. Ferdinand Wolf: Dom Antonio José da Silva. Wien: K. K. Hof- und Staatsdruckerei 1860, S. 32. 65 G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte.

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vergangenen «Verjüngung»: «Sie [die Vernunft] ist im Bewusstsein als der Glaube an die in der Welt herrschende Vernunft vorhanden» (Ebda., S. 36). Das Verhältnis zwischen den Kategorien offenbart sich dialektisch: Der negative Aspekt der Veränderung (Tod) wird durch den positiven der Verjüngung (Leben) überwunden. Das Leben kommt aus dem Tod wie der Tod im Leben steht. In diesem Sinne ist Wolfs Argument einer Unterbrechung der kontinuierlichen «spontanen Entwicklung» zu verstehen. Wolf unterstreicht nicht nur die Rolle Deutschlands in den Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in Europa, sondern proklamiert die «Verjüngung» des Heiligen Römischen Reiches in einer ‹Großdeutschen Lösung› für den Deutschen Bund, was nach dem Deutschen Krieg 1866 nicht geschah. Anders als bei Hegel ist bei Wolf der Vorrang des «Geistigen» über das Politische als eine versöhnende Kraft wesentlich, ohne dass er diesen Herrschaftsanspruch benennt. Selbst wenn Wolf programmatisch von Europa als Einheit spricht, legt er dieser Einheit die einzelnen nationalen «Volksgeister» zugrunde. Die Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland/ Österreich legen sich hier über die Rede von der «Berechtigung jeder Volksthümlichkeit», sodass ihr Gegenteil aufgedeckt wird. Wolf geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt eine Verbindung zwischen «Regeneration» und «Romanticismus» her. Erst eine Befreiung vom «Pseudo-Classicismus» ermögliche, dass «jede Volksthümlichkeit sich naturgemäß» ausdrücke. Dafür müssten sich die «Völker» in ihren eigenen Sprachen («Volkssprachen») äußern. Durch die Verneinung «jeder conventionellen Sprache» könne der «Pseudo-Classicismus» bekämpft werden. Aus Wolfs Sicht bestehe der «wahre, berechtigte Romanticismus» in der Einheit von «Volk» und Sprache. In der französischen Fassung wird Wolfs Argumentation schon im ersten Satz verändert, die Opposition zwischen «politisch» und «geistig» bleibt nicht bestehen. Statt «spirituellement» wird das Adverb «littérairement» für «geistig» eingesetzt. Das erzeugt eine andere textuelle Kohärenz, denn das Adverb «littérairement» ist mit dem Substantiv «poésie» verbunden. Selbst wenn Wolfs idealistischer Wortschatz in diesem Abschnitt genauer als an anderen Stellen übersetzt wurde – «volksthümliches Princip» wird «principe populaire»; «naturwüchsige, nationale Spontaneität» wird «spontanéité naturelle et nationale» – wird der zentrale Begriff des «Geistes» entfernt. Obwohl das Wort «génie» zwei Mal vorkommt («eigenthümlicher Volksgeist» wird «génie d’une nation»), ist es nicht auf das philosophische System des Deutschen Idealismus bezogen. Dafür werden andere Begriffe eingeführt. Folgende Beispiele machen dies deutlich: «Berechtigung» wird «droit imprescriptible» [Dt. «unveräußerliches Recht»], was viel stärker als das deutsche Wort und viel näher am Wortschatz der Französischen Revolution ist. Der französische Ausdruck stammt aus der Rechtssprache und bezieht sich, selbst wenn nicht unmittelbar, auf ein Gesetzbuch und infolgedessen auf das ge-

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sellschaftliche, bürgerliche Leben. Im deutschen Text taucht der Ausdruck «nicht mit Unrecht» auf, ein Grundsatz oder gar eine Verfassung werden bei Wolf nicht einmal angedeutet. Am Ende des oben zitierten Abschnitts fügt Wolf eine Fußnote ein, in der er ausführlicher seine Definitionen des «Pseudo-Classicismus» und seine Auffassung des Unterschieds zwischen dem «wahren» und dem «falschen Romanticismus» darstellt: Daß dies der wahre historisch begründete Begriff des Romantismus oder Romanticismus ist, wird sogar durch die in Folge seiner Auswüchse und seiner Entartung damit verbundener Nebenbegriffe bestätigt. Denn aus demselben Grunde hat man die mittelalterliche, nicht-antike, den Völkern der neuen Welt eigenthümliche Kunst die romantische, richtiger romanische, genannt. Darum, und weil diese Völker, um die Continuität ihrer spontanen Entwicklung herzustellen und den in der modernen Zeit dazwischen getretenen Einfluß der Humanisten und Reformisten, des Classicismus und Rationalismus zu paralysieren, meist zum sogenannten Mittelalter zurückehren mußten, wo ihre eigenthümlichste, selbstständigste Entwicklung in vollster Blüthe stand, hat man mittelalterlich und romantisch fast synonym gebraucht. Weil aber diese mittelalterliche Kunst und Poesie fromm-gläubig, von Idealen und Ahnungen erfüllt ist, das mystisch-abenteuerlich, phantastisch-wunderbare liebt, hat man dem Romantischen auch alle diese Bedeutungen unterlegt, und, das zufällige für das wesentliche, die Auswüchse für den Stamm haltend, hat der falsche moderne Romanticismus alles das noch carikiert und auch den ächten discreditiert, so daß man auch das subjectiv-willkürliche, nebulos-verschwommene, capriciös-formlose in der Kunst und Poesie romantisch genannt hat. (S. 210) Les idées accessoires qu’on a rattachées à celle de romantisme par suite de sa décadence, ne font que confirmer la vérité étymologique et historique de cette définition. C’est pour les mêmes raisons qu’on a nommé romantique ou mieux roman l’art du moyen-âge propre aux peuples modernes et opposé à l’antique. Pour rétablir la continuité de leur développement spontané et pour paralyser l’influence moderne des humanistes, des réformistes, du classicisme et du rationalisme, ces mêmes peuples ont dû retourner en arrière et puiser à la source toujours abondante du moyen-âge, époque brillante du développement qui était le plus conforme à leur génie. C’est pour cette raison encore qu’on a confondues les deux mots de moyen-âge et de romantisme. Mais comme cette poésie et cet art du moyen-âge sont bigots, idéalistes à l’excès, se plaisent dans le mysticisme et dans le phantastique, on a donné à tort au romantisme ces acceptions diverses. Prenant l’accessoire pour le principal, le romantisme moderne a caricaturé encore tout cela et discrédité le vrai romantisme, en sorte qu’on a donné ce nom, dans les domaines de l’art et de la poésie, à tout ce qui est subjectif, arbitraire, nébuleux, capricieux et sans formes arrêtées. (S. 139)

Der französische Text stellt eine bewusste Verschiebung von Wolfs Geschichtsauffassung dar. Der Vergleich zwischen dem deutschen und dem französischen Text veranschaulicht drei Übersetzungsprobleme. Das erste bezieht sich auf das Wort «moderne». Wolf charakterisiert den «wahren Romanticismus» als den

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künstlerischen Ausdruck von «nicht-antiken Völkern» in einer «neuen Welt», womit er sich auf das Mittelalter bezieht. Hier hat «neue Welt» keine geographische Bedeutung und bezeichnet sich nicht auf den amerikanischen Kontinent, sondern auf eine historische Epoche. Damit meint Wolf wohl den Zeitraum nach dem Untergang des römischen Reichs, als sich die europäischen «Völker» herausbildeten. Die «neue Welt» und die «nicht-antiken Völker» sind bei Wolf keine Griechen und Römer, sie sind vor allem christlich. Im französischen Text wiederum werden beide Ausdrücke als «peuples modernes» übertragen und ihre Kunst wird der Kunst der «antique» gegenübergestellt. Das stellt einen Widerspruch zum darauffolgenden Satz dar, in welchem «l’influence moderne des humanistes» verhindert werden muss. Warum können «moderne peuples» eine «influence moderne» blockieren? Im deutschen Text dagegen ist der Unterschied sehr deutlich: Die «neue Welt» ist nicht «modern», und der Übergang von der «antiken Welt» zur «neuen Welt» ist «spontan». So wird die Opposition zwischen Mittelalter und «moderner Zeit» eindeutig. Diese «nicht-antiken Völker» mussten, so Wolf, im Laufe der Geschichte für die «Continuität ihrer spontanen Entwicklung» sorgen. Sie rekurrierten aus diesem Grund ständig auf das «sogenannte Mittelalter», um gegen die «Einflüsse der Humanisten und Reformisten, des Classicismus und Rationalismus» zu kämpfen. In diesem Satz wird deutlich, was Wolf unter «Pseudo-Classicismus» versteht: Die Kultur Europas, die seit der Renaissance bis zur Französischen Revolution entstanden ist. Er kritisiert unmittelbar alle aus dem kulturellen Bereich stammenden Vorbilder eines anderen Menschenbildes und anderer Staatsorganisationen, die nicht mit seiner Repräsentation des Mittelalters zu tun haben. Das zweite Übersetzungsproblem bezieht sich auf die Streichung und Einführung von Begriffen: Der Satz, dass «ihre eigenthümlichste, selbstständigste Entwicklung in vollster Blüthe stand» wird zu «époque brillante du développement qui était le plus conforme a leur génie». Der Superlativ ist weggefallen, ebenso wie die Adjektive «eigenthümlich» und «selbstständig» und das Naturbild der «Blüthe». Auf Deutsch wird das Mittelalter als ein literarhistorischer Moment beschrieben, der als Grundlage und Ursprung der Kultur aller «europäischen Völker» gilt. Auf Französisch geht es um eine «historische Epoche», die zwar wichtig, nicht aber die wichtigste ist. Es ist auch auffällig, dass Wolf im deutschen Text die Verwendung von «mittelalterlichen» und «romantischen» als «synonym» erklärt, während dies auf Französisch als bloßer Zufall aufgrund des Verbs «confondre» erscheint: «on a confondues les deux mots». Wieder einmal sind Wolfs idealistischer Wortschatz und seine damit verbundenen reaktionären Ansichten nicht übertragen worden. Das dritte Übersetzungsproblem bezieht sich auf die Entfernung der Opposition zwischen «wahrem» und «falschem» Romantizismus und auf deren vermeint-

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liche Merkmale. Stattdessen tritt eine Opposition zwischen «vrai» und «moderne romantisme» ein. Damit sind Wolfs Lob des Mittelalters und seine Rückkehr zur Vergangenheit im Französischen nicht mehr auf gleiche Weise nachvollziehbar, selbst die Verbindung zwischen «wahrem», mittelalterlichem Romantizismus und «falschem Romanticismus», der für Wolf die «Regeneration aus Deutschland» ermöglicht, wird in der Übertragung nicht rekonstruiert. Ebenso wird die Wiederholung des Naturbildes «Auswüchse» und die ganze metaphorische Grundlage des Deutschen Idealismus beiseitegelassen, tatsächlich wurde der ganze Teilsatz: «die Auswüchse für den Stamm haltend» entfernt. Auf Deutsch wird die Kunst des Mittelalters als «fromm-gläubig» gekennzeichnet, als «erfüllt von Idealen und Ahnungen», hingewandt zum «mystisch-abenteuerlichen» und zum «fantastischwunderbaren». Während im deutschen Text diese Aspekte belanglos, «zufällig» sind, denn sie entsprechen dem Romantizismus nicht vollständig und begünstigen eben die spätere Entstehung des «falschen, modernen Romanticismus», sind sie im französischen Text «accessoire[s]» und werden mit ironischem Ton und pejorativer Bedeutung übertragen: «bigot» und «idéalistes à l’éxces». Auch die Verdeutschung «bigott» behält den Sinn von Übertreibung, den «fromm-gläubig» nicht hat. Wolfs Erklärung zur Bedeutung des Romantizismus greift also auf seine Vorstellung von Wahrheit und Geschichte zurück. Seine Definition sei die einzig richtige, denn sie sei «historisch begründet». Wolf mobilisiert die Wissenschaft, hier das Fach Philologie, um eine bestimmte Interpretation der Geschichte zu rechtfertigen. Er geht davon aus, dass das Wort «Romanticismus» in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen genutzt wird und folglich Missverständnise verursacht. Als Philologe übernimmt Wolf die wissenschaftliche Aufgabe, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden. Doch schafft er dabei bewusst Verwirrung, denn sein Ziel ist es, seine eigene Geschichtserzählung zu forcieren, die Philologie wird ihm dabei zum Legitimationsinstrument. Im französischen Text wird dies infrage gestellt: Die Worte «Begriff» und «Nebenbegriffe» werden durch «idée accessoire» ersetzt. Außerdem wird «historisch begründet» zu «verité etymologique et historique». Hier gilt die etymologische Erklärung nicht als wissenschaftliche Begründung für Wolfs Argumentation.

3.7.4 Sklaverei als Metapher und Versklavung in Brasilien Wolfs Argumentation folgt im nächsten Abschnitt der oben analysierten Fußnote. Das Thema der «Regeneration aus Deutschland» gewinnt an Komplexität: Die zentrale literaturkritische Metapher der «Sklaverei» wird eingeführt, um die «geistige Befreiung» hervorzuheben:

3.7 Wolfs interpretatorisches Paradigma

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Diese Befreiung war ein Werk deutscher Kritik, und die Deutschen haben den Franzosen die doppelte Knechtung, die politische und die geistige, die sie so lange von ihnen erduldet hatten, dadurch vergolten, daß sie selbst dieses Volk, das sich in seinen pseudoclassischen Fesseln so wohl gefiel und so lange auch die anderen Nationen zur Nachäffung [dieser freiwilligen Sclaverei] veranlaßt hatte, endlich [davon befreiten und] zum Selbstbewußtsein brachten. Allerdings sind die Franzosen, wie gewöhnlich, von einem Extrem in das andere, von der Sclaverei in die Zügellosigkeit verfallen, haben, statt wie einst ein Bild voll Naivität, nun ein Zerrbild von sich gegeben, und durch sie ist die wahre Natur und Berechtigung des Romanticismus auch schon vielfach verdunkelt und in Zweifel gestellt worden. Aber doch wurde hauptsächlich durch sie auch das gute Princip des ächten Romanticismus, bei den übrigen romanischen Nationen wieder zur Anerkennung gebracht, bewirkte auch bei diesen die Abwerfung der solange nachgeschleppten pseudo-classischen Fesseln, und spornte sie an zu freier Bewegung, zu spontaner Entwicklung ihrer Volksthümlichkeit. (S. 210–211) Cet affranchissement est l’ouvrage de la critique allemande. Les Allemands se sont vengés du double esclavage, politique et littéraire, que les Français ont fait si longtemps peser sur eux, en délivrant enfin ce peuple, si heureux des entraves pseudo-classiques et qui avait si longtemps forcé les autres nations à imiter son esclavage volontaire; ils lui ont enfin donné conscience de lui-même et de sa valeur. Il est vrai que les Français sont tombés d’un extrême dans un autre, de l’esclavage dans une liberté sans frein. Au lieu de donner d’eux-mêmes, comme autrefois, une image naïve et fidèle, ils se sont caricaturés, et ont fait souvent révoquer en doute la vraie nature et le droit à l’existence du romantisme. Ce sont eux cependant qui ont en grande partie remis en honneur le véritable romantisme chez les autres peuples néo-latins. Obéissant à cette impulsion, ceux-ci se sont débarrassés des dernières entraves pseudo-classiques, et ont donné pleine carrière à leur génie propre. (S. 139–140)

Im deutschen Text wird die Korrelation zwischen «politischer» und «geistiger» Befreiung wiederholt. Jedoch wird sie im französischen Text wieder nicht übertragen, denn «geistig» wird noch einmal zu «littéraire». So beschneidet die französische Übersetzung Wolfs literaturpolitisches Projekt und seine expansionistischen Ansprüche drastisch. Der Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland taucht immer wieder auf, aber diesmal verweist Wolf eher auf die Bewohner dieser Länder: «die Deutschen» und die «Franzosen». Die Anwendung des Wortes «Werk» im Sinne von «Leistung» und «Wirkung» verknüpft Wolfs Aussage hier mit der des zuvor analysierten Abschnitts und befestigt die semantischen Merkmale seines Wortschatzes. Auch die zweimalige Anwendung des Wortes «Fessel» in Verbindung mit «Pseudo-Classicismus» dient dazu, die Idee der «Befreiung» davon zu unterstreichen. Diese Befreiung ergibt sich anhand der «Kritik», welche die «Verjüngung aus Deutschland» ermöglicht, und eröffnet «den Völkern» den Zugang zum «Selbstbewusstsein». Auf Französisch werden beide Begriffe semantisch beibehalten (Frz. «peuple» und «conscience de lui-même»), ihre Opposition zur vermeintli-

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

chen französischen «Unterjochung» durch den «Pseudo-classicismus» ist im Deutschen durch die Anwendung des Verbs «nachäffen» viel stärker. Obwohl es als Synonym von «nachahmen» benutzt wird, erweckt es auch ein Naturbild mit pejorativer Konnotation: «wie ein Affe nachahmen».66 Wolfs Urteil, durch das Menschen mittels eines Tiervergleichs herabgewürdigt werden, findet sich im französischen Text nicht. Eine weitere Beurteilung wird ebenfalls aus dem französischen Text entfernt: Wolf führt den Kommentar «wie gewöhnlich» zwischen Kommas ein, um das Verhalten der «Franzosen» stereotyp darzustellen. Nicht umsonst scheint es, dass die «deutsche Kritik» mit dem Verb «vergelten» verbunden wird, das Rache evoziert und dem Bereich der Affekte zuzuordnen ist. In der Übersetzung fehlt dieser Einschub wie gewöhnlich. Besonders relevant für das Verständnis von Wolfs Begriff der Freiheit ist dessen Verankerung in der Philosophie des Deutschen Idealismus, vor allem die bestehende Verbindung zwischen Freiheit und Selbstbewusstsein in der hegelianischen Geschichtsphilosophie. Nach Hegel seien «erst die germanischen Nationen im Christentum zum Bewusstsein gekommen, dass der Mensch als Mensch frei ist, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht».67 Hegel fasste Änderungen in der Begriffsbestimmung in Zeit und Raum zusammen, in einer Bewegung von Osten nach Westen, genau wie in der Idee der translatio imperii. Die Einteilung der Weltgeschichte sei nach Hegel also folgende: «die Orientalen [haben] nur gewusst, dass Einer frei sei, die griechische und römische Welt aber, dass einige frei sind, dass wir aber wissen, dass alle Menschen an sich frei, der Mensch als Mensch frei ist [...]».68 Hegels Perspektive ist hier eindeutig, das Pronomen «wir» enthüllt seinen Standpunkt. Doch verweist bei ihm das «nationale Element» auf die «Germanischen Nationen» und nicht auf die «Deutsche» Nation, wie bei Wolf. Die christliche Grundlage für eine vollständige Wahrnehmung der Freiheit wird auch von Hegel hervorgehoben. Entsteht ein Staat als «organisches Ganze[s]», als Ausdruck des «geistigen Individuums, des Volkes», ist er Resultat der «Bildung einer Nation» (S. 114, Hervorhebung im Original), dann kann die Freiheit durch das Gesetz «ihre Objektivität» erhalten. Diese Voraussetzung kann Wolf jedoch nicht vollständig in seine Interpretation der brasilianischen Literaturgeschichte übertragen. Obwohl er sich bemüht, die Gründung eines brasilianischen Reiches mit dynastischen Verwandtschaften zu profilieren, muss er die Tatsache der Versklavung überspringen, denn dann

66 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis, Leipzig 1971. Online-Version (20.06.2019). 67 G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S. 62. 68 Ebda., S. 63.

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wird die Rede von Freiheit, selbst wenn es um eine abstrakte Freiheit geht, unhaltbar. Wolfs literaturpolitisches Projekt wird also noch widersprüchlicher, denn er stellt neben den Gegensatz zwischen «geistig» und «politisch» einen anderen, noch relevanteren in Bezug auf die brasilianische Geschichte: Den Gegensatz zwischen «Freiheit» und «Sclaverei», jedoch ohne die tatsächliche Versklavung zu benennen oder überhaupt zu meinen. Nach Wolf werden alle Nationen, mitsamt Frankreich, durch die «deutsche Kritik» von der doppelten «Knechtung» bzw. «Sclaverei» befreit. Doch war die Versklavung in Brasilien keineswegs eine Metapher intellektueller Unterjochung, sondern eine Form der Ausbeutung von Fremdarbeit, was die brasilianische Gesellschaft als eine Sklavenhaltergesellschaft kennzeichnet.69 Die metaphorische Anwendung beider Begriffe, «Knechtung» und «Sclaverei», welche aus dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wortschatz importiert wurden, zeigt Wolfs Absicht, das konkrete, unmetaphorische Verhältnis, das sie bezeichnen, zu verdecken. Bei Wolf verschiebt die Metapher die Bedeutung des Wortes in die theoretische Sphäre. Wolf zieht die konkrete Versklavung von Menschen an keiner einzigen Stelle seines Buches in Betracht, obwohl sie die Grundlage des brasilianischen Staats darstellte: Um mit Alencastro zu sprechen, geht es mit der Versklavung um den Zement, der die Unterschiede in den Interessen der herrschenden Klassen (Großgrundbesitzer und Sklavenhändler) Brasiliens gebunden und somit die nationale, wirtschaftlich-politische Einheit geschaffen hat.70 Selbst wenn Wolf die Existenz von versklavten Menschen in vereinzelten Werkanalysen von brasilianischen Autoren nebenbei erwähnt, spricht er nie offen über die reale Versklavung. Wolfs Anwendung der Begriffe «Knechtung» und «Sclaverei» kann beinahe als Zeichen eines dynastischen Klassenbündnisses interpretiert werden: Die Perspektive der «Knechte» in der Geschichte Europas und die Perspektive der «Sklaven» in der Geschichte Brasiliens muss so eingeebnet werden, als habe es sie nie gegeben. Genauso wie in Wolfs Geschichtsauffassung die Wiederherstellung der

69 Luiz Felipe de Alencastro erklärt: «Amorcé dès les premières décennies du XVie siècle, le commerce atlantique d’esclaves s’arrête en 1870. Pendant cette période près de dix millions d’Africains ont été transportés Outre-Atlantique. De ce total le Brésil reçoit 38 % [...]. Au XIX siècle en particulier sont introduits en Amérique environ 1 900 000 esclaves africains. Pendant la période 1801–1850, date à laquelle s’arrête la traite clandestine vers les côtes de l’Amérique du Sud, le Brésil capte 80 % de l’ensemble des esclaves exportés d’Afrique. En conclusion, le Brésil est l’agrégat politique et économique américain qui reçoit le plus grande nombre d’esclaves africains». Luiz Felipe de Alencastro: La traite négrière et l’unité nationale brésilienne. In: Revue française d’histoire d’outre-mer 66, 244–245 (1979), S. 395. 70 Ebda., S. 400.

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feudalen Verhältnisse des Ancien Régime im Mittelpunkt steht, so ist es auch für das Geschichtsbild der reaktionären herrschenden Klasse Brasiliens wesentlich, die koloniale Ordnung beizubehalten und die neue, durch englisches Industriekapital auf dem Weltmarkt etablierte Arbeitsteilung zu verhindern.71 In der metaphorischen Anwendung der Worte übernehmen die Herrschenden die Rolle der Unterdrückten, wodurch wiederum die tatsächlichen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Verhältnisse verkehrt werden. Es geht bei Wolf um eine rein begriffliche Volte.72 In der Realität bestand im Jahr 1849 die Hälfte der Bevölkerung in Rio de Janeiro aus versklavten Menschen, wie Alencastro nachgewiesen hat: «La capitale de l’Empire rassemblait alors la plus importante concentration urbaine d’esclaves que le monde ait connu depuis la fin de l’Empire romain».73 An anderen Stellen des Manuskripts von Wolf, die für die vorliegende Arbeit transkribiert wurden, wird das Wort «sklavisch» als «servilement» ins Französi-

71 Der portugiesisch-brasilianischen herrschenden Klassen gelang es bis 1850, als das Gesetz zur Abschaffung des Sklavenhandels in Kraft trat, dem englischen Druck durch diplomatische Verhandlungen zu begegnen. Nach Alencastro legitimierten sich diese Klasse, indem sie sich im Lande durch Gewalt und Versöhnung und im Ausland durch Verträge und Zaudern durchsetzte. Die neu entstandenen herrschenden Klassen aus verschiedenen Regionen Brasiliens vereinigten sich, um ihre Herrschaft über die Geschäfte der alten kolonialen Ordnung mit den Kolonien von Portugal in Afrika zu gewährleisten. Doch eskalierten um 1848–1849 die Gegensätze mit England: Die von England aufgegriffenen Sklavenhändlerschiffe wurden im atlantischen Seehandel als Piraten angesehen und ihre Güter und Waren als Beute eingezogen: «L’assimilation, par une loi anglaise, des trafiquants brésiliens aux pirates disqualifiait la partie brésilienne. En dépit de l’apparat impérial et des alliances dynastiques entretenues en Europe par Dom Pedro II., le Brésil se trouvait rabaissé au rang des ‹nations barbaresques› [...] Ce glissement catégoriel du gouvernement brésilien efface la caution civilisatrice que l’Emprie fournissait à la nation: la fonction impériale est atteinte au coeur même de sa substantialité politique. En d’autres termes, l’équilibre pervers qui soutenait le pouvoir impérial se trouve boulerversé». Ebda., S. 408. 72 Hegel führt in Phänomenologie des Geistes [1807] aus, wie das dialektische Verhältnis zwischen Herr und Knecht ihre Identitäten wechselseitig bildet. Zusammenfassend kann es wie folgt erklärt werden: Zunächst ist der Herr Herr des Knechtes und der Knecht ist Knecht des Herren. Angenommen, das Verhältnis zwischen ihnen wird durch die Arbeit des Knechtes vermittelt, dann arbeitet der Knecht in einem zweiten Moment nur und der Herr konsumiert nur. In einem dritten Moment wird der Herr also vom Knecht abhängig, denn der erste braucht die Arbeit des zweitens zum Leben. Der Herr wird Knecht des Knechtes und entsprechend wird der Knecht Herr des Herren. G. F. W. Hegel: Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft. In: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. Karl Marx kritisiert diese Bewegung der hegelianischen Dialektik in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten [1844], in welchen Herr und Knecht keine bloßen philosophisch-archetypischen Figuren mehr sind, sondern soziale Klassen. Karl Marx: [Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt]. In: Marx-Engels-Gesamtausgabe I [1932], Berlin, Bd. 3. 73 Luiz Felipe de Alencastro: La traite négrière et l’unité nationale brésilienne, S. 412.

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sche übertragen. Dies geschieht bereits in der ‹Einleitung›, als Wolf die Epochen der Literaturentwicklung in Brasilien zusammenfasst. Er beschreibt die Unterwerfung brasilianischer Literatur anhand europäischer Modelle als «sclavische Nachahmung portugiesischer und spanischer Vorbilder» (S. 3). Anschließend bezieht er sich in einer Fußnote in einem der Schlüsselkapitel auf Dichter als «Helot», der größten Bevölkerungsgruppe von Staatssklaven im alten Sparta: «[...] der Dichter und der Künstler, Heloten, zur Vergessenheit verdammt» (S. 208) und in der französischen Übersetzung: «[...] le poète et l’artiste – ilotes condamnés à l’oubli [...]» (S. 137). Ein weiteres Beispiel stammt aus einer Fußnote, in welcher Wolf Auskunft über ein 1857 in der Zeitung Jornal do Commercio erschienenes Gedicht gibt. Es geht um ‹Os Palmares›, ein Fragment von Joaquim Norberto de Souza Silva über den Quilombo dos Palmares.74 Der deutsche Text lautet: «Es ist überhaupt bemerkenswert, dass in diesem Gedichte die Neger die Protagonisten sind» (S. 301). Die Übersetzung lautet: «Il est digne de remarque que dans ce poème les nègres sont les principaux champions» (S. 200). Selbstverständlich ist das Wort «Protagonist» in der literaturwissenschaftlichen Beschreibung Wolfs genauer als die französische Übertragung «les principaux champions», denn der deutsche Begriff verweist auf den Hauptcharakter eines fiktionalen Werkes. Die bewusste Entscheidung für «les principaux champions» geht über das literarische Feld hinaus und bezieht sich auch auf die tatsächlichen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Versklavten, die sich organisierten und Widerstand gegen die koloniale Macht leisteten. In der Ereignisgeschichte gab es tatsächlich «Sieger» und «Besiegte», wie der französischen Text verstehen lässt. Als Kontrast zu Wolfs Stellungnahme ist es aufschlussreich, die Beschreibungen über die Arbeitsbedingung in Brasilien von Karl von Scherzer, dem wissenschaftlichen Leiter und Reiseschreiber der Novara-Expedition, zu zitieren. Er gab 1864 eine dreibändige Edition der Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde heraus.75 Angesichts der Relevanz der Novara-Expedition für die

74 Quilombo bezieht sich auf eine Form gemeinschaftlicher Organisation von versklavten ArbeiteInnen in Brasilien, denen es gelang, zu fliehen. Wie Alencastro erklärt, sobald jeder Art Gruppierung von AfrikanerInnen und AfrobrasilianerInnen (fünf Menschen bildeten laut dem damaligen brasilianischen Gesetz bereits ein Quilombo) entstand, wurde sie kriminalisiert, gewalttätig unterdrückt, bekämpft und zerstört. Palmares war der größte Quilombo Brasiliens (17. Jahrhundert). Vor dieser Situation waren Versklavte zur Akkulturation verdammt, was als «miscigenação» beschrieben wurde und später als positives Kennzeichen der brasilianischen Kultur betrachtet wurde. Ebda., S. 396. 75 Karl von Scherzer: Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde, in den Jahren 1857, 1858 und 1859 unter den Befehlen des Commodore von Müllerdorf-Arbair [1861–1862]. Bd. 1. Wien: Druck und Verlag von Carl Gerold’s Sohn 1864 Volksausgabe. Das Buch wurde innerhalb eines

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Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire hatte Wolf vermutlich Kontakt zu Scherzer und kannte seine Eindrücke von Brasilien. Doch während Wolf Beamter bei einer kaiserlichen Institution war, übernahm Scherzer 1856 die Leitung der Novara-Expedition unter der Schirmherrschaft des Erzherzogs Ferdinand Maximilian,76 trotz seiner aktiven Tätigkeit in der Revolution 1848 in Wien.77 Obwohl Scherzer also verpflichtet war, die Ansprüche der Habsburgermonarchie in seinem Reisebericht zu verbreiten, kann er seine Begeisterung für das englische Herrschaftsmuster nicht verbergen. Christa Knellwolf King stellt hierzu fest: «Scherzer’s travel account repeatedly expresses admiration for the British Empire», denn England propagierte ein Bild des Kaisertums, das sich auf die liberalen Prinzipien von «Freedom, Peace an Prosperity» berief.78 King ergänzt: «For Scherzer, the British type of Empire is an example that should be emulated; whose strident success should encourage imperial Austria to re-invent itself along similar principles».79 Scherzers Ansichten hinsichtlich der Besetzung von überseeischen Regionen war vor allem durch Immigration und Besiedlung mit Men-

Jahres zum Bestseller, die erste Edition, mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren, wurde ausverkauft und ist nach Alexander von Humboldts Kosmos das meistgekaufte derartige Werk im deutschen Sprachraum. Christoph H. Benedikter/Philipp Kreidl/Peter Rohrbacher: Projekt Novara-Expedition. http://www.novara-expedition.org/de/geschichte.html (05.07.2019) 76 Über Erzherzog Ferdinand Maximilian siehe Fußnote 58 des zweiten Kapitels in der vorliegenden Arbeit. 77 Karl von Scherzer (1821–1903) schloss die Lehre der Buchdruckkunst in der Wiener Staatsdruckerei ab und bildete sich weiter bei Brockhaus in Leipzig, wo er auch Philologie und Nationalökonomie studierte. Seine Begeisterung für liberale Ideen war die Grundlage für seine sozialkritische Studie «Über die Armtum» (1843), welche 1848 als Kritik an der Wiener Zensur gedruckt wurde und mit der er 1849 den Doktorgrad an der Universität Gießen erlangte. Auch wegen seiner liberalen Ideen stand er 1851 vor dem Kriegsgericht. Zwischen 1852 und 1855 unternahm er zusammen mit Moritz Wagner eine Reise nach Amerika. Roswitha Karpf: Scherzer, Karl Ritter von. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 22. Berlin: Duncker & Humblot 2005, S. 706. Christa Knellwolf King schildert ein Bild von Scherzer als «virulent enemey of slavery and other forms of exploitation and opression» (S. 161) und der «extraordinary energies to the design of plans an programms for the improvement of the human condition in Europa and its overseas territory» aufbrachte (S. 161). Nichtsdestotrotz sah er die Vernichtung von autochthonen Bevölkerungsgruppen als eine zwar traurige, aber unvermeidliche Tatsache. «[...] his career is also hinged on a major contradiction, stemming from his background as oppositional activist, on the one hand, and establishment figure, on the other» (S. 173). Christa Knellwolf King: The Novara Expedition and the imperialist messages of exporation literature. In: Christa Knellwolf King/Margarete Rubik (Hg.): Stories of Empire: Narrative Strategies for Legitimation of an Imperial World Order. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2009, S. 157–176. 78 Ebda., S. 163 und 165. «While Scherzer’s official role forbade criticism, his insistence that the British empire is founded on political liberty shames his native country by comparison», S. 165. 79 Ebda., S. 165.

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schen aus Deutschland/Österreich geprägt und repräsentierte gewissermaßen die jüngste Anpassungen der Weltordnung, die vom englischen Industriekapital regiert wurde und die ab Mitte des 19. Jahrhunderts an die Stelle der feudalen-dynastischen Verhältnisse eintrat. Selbst wenn die Novara-Expedition als Symbol der expansionistischen Ansprüche der Habsburgermonarchie betrachtet werden kann, wie im vorhergehenden Kapitel der vorliegenden Arbeit dargestellt wurde, können Unterschiede hinsichtlich der kolonialen Absichten von Wolf und Scherzer nachvollzogen werden. In der Tat offenbart sich auch in Scherzers Haltung eine Form von Kolonialherrschaft, jedoch in ihrer aktualisierten Form: Lohnarbeit statt Sklaverei. Wahrscheinlich sind aus diesen Gründen Scherzers und Wolfs Darstellungen Brasiliens durchaus unterschiedlich: Sie vertreten zwei Momente der politisch-wirtschaftlich-ideologischen Entwicklungsgeschichte des Kapitals im 19. Jahrhundert. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Scherzer und Wolf liegt wohl in ihrer Einstellung zur deutsch/österreichischen Vorherrschaft: «Scherzer agitated in favour of a political party that wanted to define Austria as a German ‹Grossmacht› [...] His pursuit of a pan-Germanic nationalism already manifests itself in the Novara account [...]. Scherzer was an ardent supporter of a German-Austrian union».80 Scherzer war sehr aufmerksam in Hinblick auf die Arbeitsbedingungen der Versklavten und Funktionsweise der bürgerlichen Institutionen in Brasilien. Seine scharfe Kritik an der versklavten Arbeit und sein Plädoyer für Lohnarbeit müssen also in einem breiteren historischen Rahmen verstanden werden. Er hält auf den fünfzig Seiten über den Aufenthalt in Rio de Janeiro fest, das Land sei so voller Kontraste, dass es aus seiner Sicht keine gute Zukunft am Horizont gebe. Dass diese Kontraste vor allem in der Produktionsweise lagen – und sich nicht in Le Brésil littéraire finden lassen – ist dabei von zentraler Bedeutung. So schreibt Scherzer etwa: Die Verhältnisse der schwarzen Bevölkerer Brasiliens sind indes wesentlich von jenen verschieden, wie sie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und auf den westindischen Inseln, auf Jamaica, Cuba, Porto Rico und St. Thomas bestehen. Der Unterschied der Hautfarbe, welcher selbst freien bemittelten Negern der Aufenthalt in dem Norden der amerikanischen Union verleidet und Ursache unzähliger Zurücksetzungen ist, fällt in Brasilien gänzlich weg. Die Frage ist hier nicht ob weiß oder schwarz, sondern ob frei oder Sklave. Freie Neger können hier anstandslos die höchsten Stellen im Staate einnehmen und selbst auf die Geschicke der weißen Bewohner nachhaltigen Einfluss ausüben. Aber auch die Sklaven werden hier humaner, teilnehmender, vorurteilsloser behandelt als in irgendeinem anderen und bekannten Lande, auf dem noch der Fluch der Sklaverei ruht. Ja wir gehen ohne Bedenken, und das Sklaventum, wie es in Brasilien, freilich nur während ei-

80 Ebda., S. 164.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

nes sehr flüchtigen Aufenthaltes, kennen gelernt, weit mehr ein Unglück für die weiße Bevölkerung als für schwarze Rasse schien; denn in einem Lande, wo bisher Arbeit, weil sie bloß von Sklaven verrichtet wurde, nicht wie in freien Staaten als ehrenvoll, sondern als Schande betrachtet wurde, konnten weder Agrikultur noch Industrie sich entwickeln und gedeihen. Nicht bloß die Sklaven, welche kein Interesse hatten, fleißig zu sein, auch die Herren waren faul, und der nahe volkswirtschaftliche Ruin wurden immer augenfälliger. Diesem unwürdigen Zustande kann allein die freie Arbeit abhelfen, wenn sie einmal im Lande die Oberhand gewinnt. Mit ihr kann die Sklavenarbeit auf die Dauer die Konkurrenz nicht aushalten. Die Intelligenz, Tätigkeit und Ausdauer von hunderttausend weißen freien Arbeitern wird Brasilien zu größerem Reichtum und dauerndem Glücke verhelfen als die Zwangsarbeit von zwei Millionen schwarzen Negersklaven.81

Aus kapitalistischer Sicht war die Versklavung ein Hindernis für den Fortschritt der rentabelsten Produktionsweise geworden, die in Europa bereits auf industrieller Produktion und Lohnarbeit beruhte.82 Scherzers Ansichten spiegeln also eine Debatte der Zeit wider, deren zentrales Argument Karl Marx im Schlusskapitel des ersten Bandes des Kapital unter dem Titel ‹Die moderne Kolonisationstheorie› mit teils ironischer teils parodistischer Akzentuierung rekonstruiert hatte, um ihm dialektisch zu widersprechen.83 Marx’ Titel bezieht sich auf das Werk The Art of Colonisation, das 1849 vom englischen Politiker und Kolonisator Australiens Edward Gibbon Wakefield verfasst wurde.

81 Karl von Scherzer: Reise der österreichische Fregatte Novara um die Erde, S. 142–143. Eigene Hervorhebung. 82 Eric Williams: Capitalism and Slavery [1944]. Richmond: The University of North Carolina Press 1944. «Adam Smith thereby treated as an abstract proposition what is a specific question of time, place, labor and soil. The economic superiority of free hired labor over slave is obvious even to the slave owner. Slave labor is given reluctantly, it is unskillful, it lacks versatility. Other things being equal, free men would be preferred. But in the early stages of colonial development other things are not equal. When slavery is adopted, it is not adopted as the choice over free labor; there is no choice at all. The reasons for slavery, wrote Gibbon Wakefield, ‹are not moral, but economical circumstances; they relate not to vice and virtue, but to production.› With the limited population of Europe in the sixteenth century, the free laborers necessary to cultivate the staple crops of sugar, tobacco and cotton in the New World could not have been supplied in quantities adequate to permit large-scale production. Slavery was necessary for this, and to get slaves the Europeans turned first to the aborigines and then to Africa», S. 170. Über Versklavung in Brasilien stellt Williams fest: «The independence of Brazil gave Canning a better opportunity. Recognition in return for abolition. But there was a danger that France would recognize Brazil on condition that the slave trade be continued. What then of the British carrying trade and British exports? ‹There are immense British interests engaged in the trade with Brazil›, Canning reminded Wilberforce, ‹and we must proceed with caution and good heed; and take the commercial as well as moral feelings of the country with us›. Morality or profit? Britain had to choose», S. 6. 83 Karl Marx: Das Kapital [1867]. In: Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz 2013, Bd. 23.

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Das Adjektiv «modern» in Bezug auf «Kolonisation» verweist eher auf die Siedlungskolonien, vor allem die neuen westlichen Regionen der USA, Australiens und Neuseelands, und nicht auf die Kolonien der Neuzeit in Südamerika, wie etwa Brasilien. Wakefield plädierte in seinem Buch für die Einführung der Lohnarbeit in den Kolonien. Er erachtete die Siedlungskolonien als ein Hindernis für die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Das erklärte er wie folgt: Wenn der Arbeiter nur für sich selbst arbeite und akkumuliere, sei die kapitalistische Produktionsweise unmöglich. Diese These wird von Marx im ersten Abschnitt des Kapitels widerlegt, indem er die Verwechslung zwischen «zwei Sorten Privateigentum, wovon das eine auf eigner Arbeit des Produzenten beruht, das andre auf der Ausbeutung fremder Arbeit» korrigiert. Diese zwei Sorten von Privateigentum stehen in direkten Gegensatz und kommen auch im Verhältnis zwischen Europa und den Siedlungskolonien zum Ausdruck. Während in Europa der Produzent mit seiner Arbeit den Kapitalisten bereichert, ist in den Kolonien der Produzent noch Besitzer seiner eignen Arbeitsleistung. Im Hintergrund steht die Wahrnehmung Wakefields, dass nach der industriellen Revolution nicht nur die Versklavung, sondern auch die freien Einwanderer und Produzenten in den Kolonien ungünstig für das Kapital gewesen seien. Marx zeigt in den früheren Kapiteln seines Buches, dass das Kapital vom Mehrwert lebt, und Mehrwert wird von den Lohnarbeitern in den Industrien produziert. Die Engländer seien sich bewusst geworden, dass eine ausschließliche Fokussierung auf den Handel nicht sehr lukrativ sei, wie durch das Verbot des Sklavenhandels nach dem Wiener Kongress 1815 deutlich geworden sei. Dazu stellt Marx auch fest, dass die Arbeitsbedingungen in den Kolonien das Gesetz von Arbeitsnachfrage und Zufuhr, das die Reproduktion des Lohnarbeiters als Lohnarbeiter voraussetzt, infrage gestellt werde: «In Europa zögert das Kapital keinen Augenblick, denn die Arbeiterklasse bildet sein lebendiges Zubehör, stets im Überfluss da, stets zur Verfügung».84 Aber in den Kolonialländern wie Australien und USA nicht. Obwohl viele Menschen dorthin einwanderten, bilde sich kein Arbeitsmarkt, denn der europäische Lohnarbeiter verwandele sich in den neuen Kolonien in einen unabhängigen Produzenten, er werde sogar zum Konkurrenten des Kapitalisten, wenn es ihm gelinge, ein Stück Land zu kaufen. Als Lösung für dieses Problem schlägt Wakefield Folgendes vor: Der Einwanderer träume davon, unabhängiger Bauer zu werden, kaufe sich vom Staat ein Grundstück und bezahle es mit seiner Arbeit. Doch ist der Bodenpreis so hoch, dass der Einwanderer gezwungen sei, für sehr lange Zeit zu arbeiten, um seine

84 Ebda., S. 799.

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3 Das deutsche Manuskript und die französische Übersetzung

Schulden zu tilgen. Der Betrag, den der Einwanderer ausgebe, bilde einen Fonds für die kontinuierliche Finanzierung der Einwanderung aus Europa. Anhand von der «Modernen Kolonisationstheorie» wird die Ähnlichkeit zwischen Wakefields und Scherzers Argumentation eindeutig: Beide verteidigen die freie Arbeit als «ehrenvoller» und «würdiger», beide nehmen den sogenannte Nationalreichtum in Schutz, der jedoch, um mit Marx zu sprechen, lediglich Kunstmittel zur Herstellung der Volksarmut ist. Es wird auch ersichtlich, was Arbeitsideologie in diesem Zusammenhang bedeutet: Die ArbeiterInnen müssen sich «freuen», ausgebeutet zu werden, denn sie werden dadurch «würdige» Menschen. In diesem Sinne ist auch die Gleichsetzung zwischen Reichtum und Glück am Ende des Zitats von Scherzer zu lesen. Scherzer ergänzt seine eurozentrischen Behauptungen mit der Aussage, dass die Versklavung von verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus Afrika ausschließlich die sogenannte «Ehre der Weißen» beleidige. Die Versklavung erzeugte ein besonderes gesellschaftliches Leben, so Scherzer, in dem alle faul seien: Herren und Versklavte. Gefährlicher aus einer ideologiekritischen Sicht ist die Idee, die hier auch vorliegt, dass Brasilien eine von friedlicher, fortgeschrittener und liberal-bürgerlicher «Rassendemokratie» geprägte Gesellschaft wäre, was den Terror der Versklavung völlig verschleiert. An anderer Stelle erwähnt Scherzer eine Lösung für Brasilien, die eigentlich die Türen für eine andere Art Herrschaft öffnet: Konzessionen an fremdländische Einwanderung.85 Zu dieser Zeit gab es mehrere große Wellen deutschsprachiger Einwanderer nach Brasilien. Nach dem gesetzlichen Verbot des Sklavenhandels (Lei Eusébio de Queirós, 1850) und dem Bodengesetz von 1850 änderte sich die offizielle Agrarpolitik und dementsprechend die Immigrationspolitik im Wesentlichen kaum, wie Alencastro erklärt: Adoptant les thèses de Wakefield, auteur qui fut expressément cité à l’appui par les législateurs brésiliens, cette loi a un double objectif. D’une part il s’agissait de expulser du sol les petits agriculteurs qui s’adonnaient aux cultures de subsistance. D’autre part on cherchait à poser des barrières à l’acquisition des terres publiques par les futurs immigrants. Ces deux directives visaient à créer un volant de travailleurs ruraux et à fermer toute brèche paysanne dans l’univers des plantations.86

85 «Für das schöne, fruchtbare, an ungehobenen Naturschätzen überreiche Brasilien gibt es nur die Alternative: entweder aus Mangel an Arbeitskräften einem volkswirtschaftlichen Ruin entgegen zu gehen oder sich der fremdländischen Einwanderung unter der glänzendsten Konzession das Land zu öffnen.» Karl von Scherzer: Reise der österreichische Fregatte Novara um die Erde, S. 146. Eigene Hervorhebungen. 86 Luiz Felipe de Alencastro: La traite négrière et l’unité nationale brésilienne, S. 416.

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Mit dem Bodengesetz wurde die Macht der Großgrundbesitzer bestätigt: Der doppeldeutige juristische Begriff der «terra devoluta», welcher das Grundeigentum regulieren sollte,87 verweigerte der autochthonen Bevölkerung das legitime Recht auf den Boden, auf dem sie lebten, und machte es den Immigranten schwer, sich im Brasilien zu etablieren. Daraus entwickelt sich eine neue Art sozialer Konflikte: Die autochthonen Bevölkerungsgruppen sollten nicht nur gegen die Maßnahmen der brasilianischen Regierung kämpfen, sondern auch gegen die Immigranten.88 Gegen 1858 wurde der deutschsprachige Raum durch den großen Skandal der Verschuldung von Immigranten aus deutschen Staaten in den brasilianischen Kolonien erschüttert. Wie Marx in seinem Kapitel beschreibt, verschuldeten sich die Einwanderer, doch in einem Land wie Brasilien, wo die Versklavung nicht nur die Produktionsweise, sondern auch die Mentalität bestimmte, konnte die Ähnlichkeit dieser beiden Modelle zu großen Problemen führen.89 Dieser Problematik versuchte die brasilianische Regierung auf verschiedenen Wegen beizukommen. Die erfolgreichste Lösung kam jedoch von Seiten der Schweiz: 1860 wurde der Niederösterreicher Johann Jakob von Tschudi – wie bereits im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit dargestellt, intimer Freund von Wolf – als außerordentlicher Gesandter der Schweiz nach Rio de Janeiro geschickt, um den Anklagen gegen die brasilianische Regierung, dass deutschsprachige Einwanderer versklavte würden, nachzugehen, und auch, um einen Konsularvertrag zwischen beiden Ländern abzuschließen. Tschudis Rundreise in der Provinz São Paulo zeigte, dass obwohl die Kolonisten frei waren zu arbeiten, sie sich in Halbpacht-Verträgen selbst verpflichtet hatten, den Grundbesitzern einen großen Teil ihrer Erträge abzuliefern.90 In Ver87 Emília Viotti da Costa: Política de terras no Brasil e nos Estados Unidos und Colônias de parceria da lavoura de café: primeiras experiências. Da monarquia à república. 88 José Mauro Gagliardi: O indígena e a república. São Paulo: Hucitec 1986. Der Autor stellt fest, dass selbst nach der Republikausrufung die Zweideutigkeiten des Bundesgesetzes in der neuen republikanischen Verfassung von 1891 beibehalten wurde. Dies verschleiert erneut die Eigentumsproblematik und das Verhältnis des brasilianischen Staates zu den autochthonen Bevölkerungsgruppen. Praktisch dauerten die gewalttätigen Auseinandersetzungen weiter an (S. 90). 89 Die internationalen Medien in der Schweiz, Österreich, England, und Sachsen, berichteten über ‹Die brasilianische Menschenjagd in Deutschland›, wie der Titel einer Artikelserie in der Illustrirten Zeitung aus dem Jahr 1858 belegt. Brasilianische Menschenjagd in Deutschland: Besonderer Abdruck aus der Illustrirten Zeitung. Leipzig: J. J. Weber 1858. 90 Nachdem England 1850 den Sklavenhandel verboten hatte, versuchte die brasilianische Regierung, den Reichtum des Landes durch die Ersetzung der versklavten Arbeitskräfte durch Lohnarbeit in der Ausdehnung der Kaffeeplantagen in São Paulo zu erhalten. Die Parceria war typisch für São Paulo und galt als Übergangssystem zur Einführung der Lohnarbeit. Das Ergebnis war aber die Entstehung einer Art von Wander-Landproletariertum (proletário rural ambulante). Anders verlief die Kolonisation in südbrasilianischen Regionen wie Rio Grande do Sul und Santa Ca-

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bindung mit den hohen Kosten für die Reise, die der brasilianische Staat vorgestreckt hatte, ließ das die Kolonisten in dramatische Schulden rutschen; ein Schuldenrückkauf durch die Schweiz war nicht möglich und die Alternative war schließlich, den brasilianischen Behörden eine neue, für die Kolonisten günstigere Gesetzgebung vorzuschlagen, mit dem Argument, dass ansonsten die Auswanderung aus der Schweiz und aus anderen europäischen Ländern eingestellt würde. Tschudis diplomatische Verhandlungen vertuschten den Skandal erfolgreich, weil er gegenüber allen Beteiligten eine vermeintlich neutrale Haltung einnahm. Seine Berichte erkannten an, dass nicht allein die brasilianische Regierung für die Situation der Schweizer verantwortlich war.91 Während Scherzers Bericht über die Arbeitsbedingungen in Brasilien aufzeigte, dass die Versklavung durch Lohnarbeit ersetzt werden musste, veranschaulichte Tschudis Mission die Problematik der Halb-Pachtverträge. Scherzer schließt seine Kommentare über den Aufenthalt in Rio de Janeiro mit einer moralischen Beurteilung des Charakters ‹der Brasilianer› ab: Die Brasilianer stehen auf einer niederen Stufe der sozialen Bildung, ohne Tiefe der Besinnung und Empfindung, und fast schein es, als wären sie jeder ausdauernden Tätigkeit unfähig. Dieser sichtbare Mangel an einem markigen, tatkräftigen Willen, dieses Gewirr und Gemisch von fremden Nationen, welche bloß erscheinen, um das Land auszubeuten und nach gemachtem Gewinn wieder heimzukehren, erzeugt bei den Ankommenden ein Gefühl des Unbehagens, das selbst nach dem Anspruch von Fremden, welche Rio schon Jahre lang bewohnen, sich keineswegs mit der Zeit verliert, vielmehr den Wunsch immer reger macht, recht bald wieder von diesen Küsten scheiden zu können.92

tarina, wo die Einwanderer tatsächlich Besitzer ihrer Kleinstgrundstücke waren. In diesen letzten Fällen wurden Tschudis Forderungen sehr ernst genommen, seine Berichte machten die Missstände in den Provinzen deutlich und verlangten die allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen durch den Aufbau von Schulen und Kirchen. Durch Tschudis Mission und nach einem Aufstand in Ibicaba 1857 wurde das Parceria-System allmählich aufgegeben und schließlich durch die locação de serviços ersetzt, und der Nachzug von deutschsprachigen Arbeitern endete. Sérgio Buarque de Holanda: Prefácio do tradutor. In: Memórias de um colono no Brasil (1850). Ebda., S. 15–45. 91 Viele Kolonisten waren für die Arbeit auf dem Lande nicht geeignet, so schreibt etwa Schatzmann: «Besonders im Jahre 1856 hatten Gemeinden mehrerer Kantone der deutschen Schweiz die Auswanderung nach Brasilien begünstigt, um sich die Armenlasten zu ersparen [...] Gewissenlose Gemeinden hatten Elemente nach Amerika spediert, deren sie sich einfach entledigen wollten: Arbeitsunfähige, Alte, Geistesschwache, Kretine, Gebrechliche, Epileptiker, auch berufsmäßige Bettler, Vagabunden, Alkoholiker, ehemalige Zuchthäusler und sogar Blinde.» Paul-Emile Schatzmann: Johann Jakob von Tschudi, S. 148. 92 Kal von Scherzer: Reise der österreichische Fregatte Novara um die Erde, S. 153. Eigene Hervorhebungen.

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In der zweiten Auflage der Volksausgabe von Scherzers Buch aus dem Jahr 1864 führt er eine aufschlussreiche Fußnote am Ende des Kapitels über den Aufenthalt in Brasilien ein, in der deutlich wird, dass die Sklavenarbeit in Brasilien notwendig für die Beibehaltung der Machtposition der herrschenden Klassen war.93 Er geht sogar noch einen Schritt weiter und sagt, die brasilianische Presse sei von der Regierung und der Elite finanziert und korrumpiert. Dies mag eine Vorstellung davon geben, was für eine Wirkung seine Ansichten in der herrschenden Klasse Brasiliens ausgelöst haben mögen: Unsere offene Sprache in Bezug auf die dermaligen Zustände des brasilianischen Kaiserreiches hat, wie wir seither erfahren, in gewissen Kreisen Brasiliens großes Missfallen erregt, und mehrere gebundene Lohnschreiber mussten ihre feine Feder dazu hergeben, um in verschiedenen, von der brasilianischen Regierung mit teuren Gelde gekauft oder subventionierten Blättern unsere Mitteillungen als irrtümlich, vorurteilsvoll, anmaßend usw. zu erklären, und dieselben im Sinne der in Brasilien dominierenden Pflanzerkaste zu berichtigen. [...]94

Die Kontraste, die Scherzer in Rio de Janeiro identifiziert, werden bei Wolf symptomatisch in seiner umfassenden Darstellung der Entwicklung der brasilianischen Geschichte und Literaturgeschichte ausgelassen. Er macht so die Komplexität des gesellschaftlichen Lebens unkenntlich. Wenn die sozialen Bedingungen auch die Literatur prägen, so sollten doch solch offenkundige Spannungen auch literarisch in dem Maße deutlich werden, dass sie ein Literaturhistoriker nicht missachten kann. Diese Haltung Wolfs kann also auch als Beweis dafür gelten, dass seine Literaturgeschichte und seine Geschichtserzählung mit Kompromissen in Bezug auf bestimmte Interessen, sowohl auf der österreichischer als auch auf brasilianischer Seite einherging. Als Beamter des Habsburgischen Kaiserreichs und Freund vieler Mitglieder des IHGBs unter der Leitung

93 Renate Basch-Ritter kommentiert: «Diese herbe Kritik an Brasilien brachte Scherzer nach Erscheinen seiner Bücher recht kritische Gegenfragen ein. Trotzdem war er nicht gewillt, diese Passagen bei einer Neuauflage seines Werkes zu ändern». Renate Basch-Ritter: Die Weltumsegelung der Novara 1857–1859, S. 80. Scherzer war mit seiner Kritik nicht allein: Der Engländer Henry John Temple, Vicomte Palmerston (1784–1865), Leiter des Auswärtigen Amts war zusammen mit dem brasilianischen Politiker Eusébio de Queiroz Mattoso Coutinho (1812–1868) für das Klassenbündnis verantwortlich, um mit Alencastro zu sprechen, welches zum Verbot des Sklavenhandels in Brasilien 1850 führte. Palmerston schreibt 1864 an Lord Russel: «La vraie réalité c’est que, parmi les nations européennes, les Portugais sont ceux qui sont au plus bas état moral et que les Brésiliens sont des Portugais dégénérés, démoralisés par l’esclavage et la traite négrière et toutes les influences dégradantes et corrompues qui se rapportent à cela», zitiert von Luiz Felipe de Alencastro: La traite négrière et l’unité nationale brésilienne, S. 414. 94 Karl von Scherzer: Reise der österreichische Fregatte Novara um die Erde, S. 153.

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des Kaisers Dom Pedros II., entschied er sich bewusst, in seinem Werk soziale Konflikte nicht zu erwähnen und die Herrschaft der Großgrundbesitzer nicht infrage zu stellen. Wolfs Gebrauch des Begriffs der «Sklaverei» und die Bedeutungsverschiebung durch eine rein metaphorische Anwendung zeigt, inwiefern er aus einem abstrakten Blickwinkel auf Brasilien blickt: Zwar behandelt er die Geschichte des Landes, wählt aber aus, welche Aspekte der kolonialen und imperialen Geschichte erzählt werden sollen und welche nicht. Für Wolf, genau wie für die herrschende Klasse Brasiliens, ist die Versklavung von Menschen ebenso selbstverständlich wie notwendig. Er schließt an die äußerst konservative Einstellung der brasilianischen Elite an, die die brasilianische Realität ignorierte und eine andere prägte, welche ihre Machtstellung gewährleistete. An diesem Beispiel wird deutlich, wie eine Geschichtsschreibung entlang politischer Absichten dazu führen kann, den Blick auf die Vergangenheit und damit letztlich auch auf Gegenwart und Zukunft, zu verfälschen.

3.7.5 Magalhães: der brasilianische «geniale Protagonist» Nachdem Wolf in früheren Abschnitten die Geschichte der brasilianischen Literatur als erweiterte kulturgesellschaftliche Bewegung aus dem europäischen Raum behandelt hat, stellt er in diesem Abschnitt fest, dass auf beiden Kontinenten die Befreiung der «politischen und geistigen Sclaverei» gleichzeitig und durch den Einfluss des «deutschen Werkes» geschehen sei. So verknüpft er den Romantizismus, welcher durch Frankreichs Vermittlung nach Brasilien gelangte, mit dem Nativismus. Wolf nutzt das Verb «verbinden» dafür, einen Zusammenschluss zwischen Deutschland/Österreich und Brasilien zu imaginieren. Im französischen Text wird das Verb hingegen als «contracter» übertragen, welches den Eindruck erweckt, dass zwischen beiden Parteien ein vertraglicher, und kein «geistiger» Bund bestehe. Die Idee, dass beide organisch miteinander verbunden seien, wird durch den rechtlichen Wortschatz abgemildert. Diese Entfesselung hatte sich über Europa zur selben Zeit verbreitet, als die oben erwähnten, für die brasilische Nationalliteratur so günstigen Verhältnisse stattfanden, und so verband sich der Romanticismus auf die glücklichste Weise mit dem in Brasilien bereits zur Potenz gewordenen Nativismus. (S. 211) Cet affranchissement coïncide avec l’époque si favorable à la littérature du Brésil, dont nous avons parlé. Le romantisme contracta dans ce pays l’union la plus étroite avec le nativisme, devenu une puissance. (S. 140)

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Auffällig ist es hier, dass «Nationalliteratur» zu «la littérature du Brésil» wird, d. h. Wolfs Beweisführung der Entstehung einer «nationalen» Literatur in Brasilien wird in der Übersetzung getilgt. Die Opposition zwischen Frankreich und Deutschland gestaltet sich unmittelbar zu einem anderen Verhältnis, namentlich zu einem hierarchischen Vorrang von Deutschland gegenüber den anderen Ländern Europas. Wolf ergänzt sein Argument, das nicht nur Frankreich, sondern jetzt «ganz Europa» sich dank der «Verjüngung aus Deutschland» vom «PseudoClassicismus» emanzipiert habe. In diesem Moment, so Wolf, habe sich die Wirkung des Romantizismus über die Welt hinaus erstreckt. Diese wesentlichen Änderungen im semantischen Feld erzeugen verschiedene Inhalte im französischen und im deutschen Text. Somit bestätigt sich die Hypothese, dass es der Übersetzung gelingt, Wolfs ideologische Agenda abzumildern. Doch ergibt sich daraus ein neues Paradox: Wie geschieht die Rückkehr zu einer «spontanen Entwicklung» nach Überwindung des sogenannten «PseudoClassicismus» in Brasilien hinsichtlich der Kolonialgeschichte? Das erklärt Wolf im nächsten Abschnitt mithilfe einer Definition von «Nativismus», den er mit dem Romantizismus verknüpft:  

Dieser Verbindung bedurfte der Nativismus aber um so mehr, sollte er ein poetisches Element werden und eine positive Grundlage abgeben als er sich bisher nur mehr negativ als Antagonismus gegen die politische Abhängigkeit vom europäischen Mutterlande ausgesprochen hatte, ohne auch von der geistigen sich gänzlich freimachen, ohne ein eigentlich historisches, d.i. in einer selbstständigen Geschichte begründetes Bewußtsein entwickeln zu können, denn er mußte ja die neueste Zeit, seit der Unabhängigkeitserklärung, mit jener vorhistorischen in Continuität bringen, die der Eroberung und Colonisierung vorausging, wollte er sein Princip auch legitimieren. (S. 212) Celui-ci avait besoin de cette union pour devenir un élément poétique et fournir une base positive. C’était d’autant plus nécessaire qu’il avait été jusqu’alors plutôt négatif et en opposition avec la dépendance politique de la métropole, sans se délivrer du joug intellectuel que le Portugal lui imposait sans pouvoir faire éclore les sentiments que produit chez un peuple une histoire glorieuse. Il lui fallait pour se légitimer lui-même, rattacher le présent aux temps antéhistoriques, à l’époque qui avait précédé la conquête de la colonisation. (S. 140)

Laut Wolf ermögliche nur die Verquickung eines ‹heimischen› literarischen Ausdrucks mit dem deutschen Romantizismus die Entstehung eines «historischen Bewusstseins», das sich «in einer selbstständigen Geschichte» begründen ließe. Der Romantizismus habe allein die Fähigkeit, das «Prinzip des Nativismus» als Kennzeichnung den brasilianischen «Nationalcharakter» zu ermächtigen. Ohne die Vermischung von beiden habe sich der Nativismus lediglich als «politischer Antagonist» von Portugal durchsetzen können. Aus diesem Grund bewertet Wolf die Leistung des Nativismus als negativ. Die Einwirkung des Romantizismus auf den

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«brasilischen Geist» verleiht letzterem wiederum einen positiven Aspekt, sodass eine neue Zeit in Brasilien beginnen kann. Wolf markiert einen Neuanfang Brasiliens, der sich 1822 mit der Unabhängigkeitserklärung «geistig» «gänzlich freimach[e]». Ab diesem Moment, so Wolf, sei Brasilien in die Geschichte eingetreten. Die vollständige Emanzipation komme nicht nur aus der politischen Unabhängigkeit von Portugal, sondern verschmelze mit der damit einhergehenden «geistigen» Unabhängigkeit. Brasilien habe also endlich eine Vergangenheit und einen Anspruch auf eine Zukunft. Der Romantizismus, wie Wolf ihn versteht, bietet das Modell für die Schaffung der Vergangenheit als ein kontinuierliches, kausales und zweckmäßiges Verhältnis zwischen den Ereignissen. Wolfs Voraussetzung für die (Literatur-)Geschichtsschreibung lässt sich hier noch einmal deutlich erkennen: Obwohl Wolf von einer «spontanen Entwicklung» spricht, geht es eigentlich darum, dass Kausalität und Zweck der brasilianischen Geschichte konstruiert werden müssen. So wird Wolfs Einsatz des Deutschen Idealismus mit ideologischen Absichten am deutlichsten: Es geht um eine gedachte Verbindung, welche das «Vorhistorische» mittels der «Eroberung und Colonisierung», mit der Gegenwart verknüpft, woraus sich dann eine Zukunft ergibt. Im französischen Text liegt an dieser Stelle der Hauptunterschied zum Manuskript darin, dass «historisches Bewusstsein» zu «sentiments chez un peuple» und «selbständige Geschichte» zu «histoire glorieuse» werden. Wolfs von der hegelianischen Geschichtsphilosophie inspirierte Begriffe werden nicht übertragen. Die Einführung von «peuple» evoziert eine andere Bedeutung des Wortes, welche nicht mit der des Wortes «Volk» zu verwechseln ist. Es geht um ein konkretes «peuple» eher im Sinne von «Bevölkerung», das «sentiment» hat und aus historischen Subjekten besteht, die die Entscheidung treffen können, gemeinsam zu leben oder nicht. Im deutschen Text liest man außerdem «europäische[s] Mutterland» als eine allgemeine Bezeichnung für das Herrschaftsverhältnis, das reduziert die Rolle Portugal, zugunsten anderer europäischer Großmächte. Im französischen Text wird stattdessen «Portugal» genannt, dessen Vormacht auf diese Weise bestätigt wird. Wie in anderen weiter oben analysierten Passagen spielt in der Übersetzung die Opposition zwischen «geistig» und «politisch» gar keine Rolle. Es besteht ein unmittelbarer Gegensatz zwischen «dépendance politique» und «joug intellectuel», was Wolfs idealistisches Projekt nicht wiedergibt. Im nächsten Absatz beschäftigt sich Wolf mit der Entwicklung dieser Aspekte bis zum schließlichen «Aufkommen» einer «nationalen Literatur» durch die Hände des «Mann[es] der Epoche». Wolf präsentiert Gonçalves de Magalhães als Erlöser und Meister der brasilianischen Literaturgeschichte:

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Nun aber, nachdem der Nativismus durch den Romanticismus die ideelle Weise und Berechtigung eingefangen hatte, nachdem die innere Entwicklung so weit vorgeschritten war, um auch die geistigen Mittel zur Realisierung dieses Princips zu bieten, und dadurch eine wahre Nationalliteratur zu ermöglichen, bedurfte es nur eines genialen Protagonisten, um diesem Principe den Sieg zu verschaffen, um das, was gleichsam in der Luft lag, zu verkörpern, um das, was auf allen Lippen schwebte, auszusprechen, um, nachdem der Geist frei geworden, auch die Form seiner Erscheinung frei zu gestalten, kurz, um [der Mann der Epoche] zu werden. (S. 212) Und wie immer in solchen Epochen, wo das Herz einer Nation voll ist und nur der Zunge bedarf, um überzufließen, fand sich auch in Brasilien der rechte Mann dazu: Domingos José Gonçalves de Magalhães wurde ihr erster Wortführer, das Haupt einer neuen, der eigentlich nationalen Dichterschule. (S. 213) Le nativisme avait enfin reçu du romantisme sa consécration idéale, le développement intérieur avait pris assez de consistance pour qu’on pût penser à réaliser ce principe, une littérature nationale véritable était devenue possible. Il ne fallait plus qu’un esprit d’élite pour procurer la victoire au nativisme, pour donner un corps à ce qui était dans l’air, pour prononcer ce qui était sur les lèvres de tous, pour émanciper la forme, comme l’esprit l’avait été auparavant: il ne fallait plus en un mot que l’homme du siècle. Et comme il arrive toujours aux époques où le cœur d’une nation est plein à déborder, cet homme se trouva aussi au Brésil, ce fut Domingos José Gonçalves de Magalhães, chef de l’école nouvelle vraiment nationale. (S. 141)

In diesen langen, von hyperbolischen und naturalisierenden Bildern angefüllten Sätzen knüpft Wolf den entscheidenden Effekt des Romantizismus, die Ermöglichung der literarischen Selbstständigkeit, an den Nativismus. Wolfs Wortwahl belegt seine (Literatur-)Geschichtsauffassung: Begriffe wie «Ideelle Weise und Berechtigung», «innere Entwicklung», «geistige Mittel», «genialer Protagonist», «Geist», «Erscheinung» markieren auch das semantische Feld der hegelianischen Geschichtsphilosophie. Erneut ist Hegels Idee von Entwicklung in Wolfs Interpretation präsent. Der französischen Text zeigt sich deutlich bemüht, wie in den anderen analysierten Passagen in diesem Kapitel, die idealistischen Grundlagen von Wolfs Denken unkenntlich zu machen. Das Substantiv «consécration» gemeinsam mit dem Adjektiv «idéale» ordnet Wolfs Geschichtsauffassung in einen christlich religiösen Rahmen ein, der zwar Wolfs Einsichten nicht verfälscht, hier aber nicht zu seinem Gedankengang gehört. So schafft der französischen Text eine innere Verbindung zwischen Idealismus und Christentum, die auch skeptisch gesehen werden könnte. Ein neues Wort wird hier ebenso eingeführt: «consistence», um die «développement intérieur» zu bezeichnen. Doch ohne die idealistische Grundlage, welche die abstrakte Spannung von Innen und Außen als entscheidend für den «Fortschritt des Geistes» in der Geschichte darstellt, ist die Bedeutung des Satzes kaum greifbar.

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Darüber hinaus wird das «geistige Mittel» im Französischen verbalisiert: «penser», eine entscheidende Änderung, welche das hegelianische Bild des Heroen und seiner Wirkung nicht wiedergibt. «Große Welthistorische Individuen» sind, um mit Hegel zu sprechen, «Mittel» für die «Verwirklichung des Geistes» in der Geschichte. Hier antizipiert Wolf die Einführung seines «genialen Protagonisten», doch im französischen Text ist dieser Bezugspunkt verschwunden. An dieser Stelle scheint es, als würde die Übersetzung das Manuskript ironisieren: «Genialer Protagonist» wird zu «esprit d’élite», was Wolfs literaturpolitisches Projekt in aller Deutlichkeit offenbart. Das Schlüsselwort des Deutschen Idealismus und der hegelianischen Philosophie «Geist» – «esprit» glänzt hier, aber nicht um das philosophische System zu kennzeichnen, sondern um ein Klassenverhältnis zu desavouieren. Nachdem Wolf Gonçalves de Magalhães als «genialen Protagonisten» der brasilianischen Literatur und «Mann der Epoche» darstellt, widmet er sich der Analyse seiner Werke. Bis zum Ende seines Buches behandelt Wolf selbstverständlich andere Autoren, doch immer aus der Perspektive, dass sie sämtlich unter dem Einfluss von Magalhães standen. Das kommt der hegelianischen Definition von Heroen als «Repräsentanten des Geistes des Volkes» entgegen, wie in dieser Passage von Hegel zu lesen ist: [...] denn sie sind die Einsichtigen: Sie wissen, was die Wahrheit ihrer Welt, ihrer Zeit, was der Begriff ist, das nächste hervorgehende Allgemeine, und die andern, wie gesagt, sammeln sich um ihr Panier, weil sie aussprechen, was an der Zeit ist. Sie sind in ihrer Welt die Einsichtsvollsten und wissen am besten, um was es zu tun ist; und was sie tun, ist das Rechte. Die Andern müssen ihnen gehorchen, weil sie das fühlen. Ihre Rede, ihre Handlungen sind das Beste, was gesagt, getan werden konnte.95

Besonders auffällig in der bildlichen Darstellung von Magalhães als «Mittel» und «Heros» ist Wolfs Metaphorik der Inkarnation: Sowohl im deutschen als auch im französischen Text wird sie auf folgendem semantischen Feld aufgebaut: «verkörpern», «Lippen», «Mann», «Herz» und «Zunge». Diese Bilder werden so angeord-

95 G. F. W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S. 98. Andere ausgewählte Passagen können hier hilfreich sein, Wolfs Übertragung des hegelianischen Begriffs des Heroen in den kulturellen Kontext Brasiliens zu verstehen: «Der Wert der Individuen also beruht darauf, dass sie gemäß seien dem Geiste des Volkes, dass sie Repräsentanten desselben seien und sich einem Stande der Geschäfte des Ganzen zugeteilt haben», S. 94. «Jedes Individuum ist der Sohn seines Volkes auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung dieses Volks. Niemand kann den Geist seines Volkes überspringen, sowenig er die Erde überspringen kann», S. 95. «Es sind nun die großen welthistorischen Individuen, die solches höhere Allgemeine ergreifen und zu ihrem Zwecke machen, die den Zweck verwirklichen, der dem höheren Begriffe des Geistes gemäß ist», S. 97.

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net, dass am Ende des Absatzes der Name Magalhães als krönender Abschluss zitiert wird. Die Idee, dass sich der Geist befreie und dann in einer freien Form erscheinen könne, verknüpft Wolfs konservatives literaturpolitisches Projekt mit der Geschichtstheologie. Wolfs Narrativ erreicht seinen Höhepunkt, wenn die Geschichte Europas und Brasiliens in der Gegenwart aufeinandertreffen. Hier werden alle Grundelemente seiner literaturpolitischen Agenda in Übereinstimmung gebracht und auch sein bevorzugter literarischer Vertreter in Brasilien inthronisiert: Gonçalves de Magalhães, Dichter, Diplomat im Dienst des Kaisers Dom Pedros II. in Wien und persönlicher Freund von Wolf. Die hyperbolische Hochschätzung von Magalhães ist der Hauptgrund für die scharfe Kritik von Sílvio Romero, nach dem Ende des brasilianischen Kaiserreichs durch die Ausrufung der Republik im Jahr 1889, die die spätere Rezeption des Buches stark beeinflussen sollte.96 Dieser ist nun der letzte Teil des Close Reading, dessen Ergebnisse im folgenden Kapitel zusammengefasst werden.

96 Wie Jamil Almansur Haddad, Übersetzer von Le Brésil littéraire ins Portugiesische, in seinem ‹Vorwort› feststellt (er verteidigt Wolf): «Às vezes sobre o autor do livro [...] paira a arguição de que teria sido simples obra de camaradagem, com o fito principal de agradar a Magalhães e com muito favor ao amigo deste, Porto-Alegre. Não é verdade», S. VII und auch: «Por aí é que o nosso autor [Wolf] foi incriminado de exagero ou camaradagem. Mas é possível que Magalhães haja merecido tamanho relevo». Jamil Almansur Haddad: Ferdinand Wolf e a aurora do romantismo nacional, S. IX–X.

4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes» Anhand des Vergleichs des deutschen Originalmanuskripts mit der gedruckten Fassung auf Französisch, der im vorigen Kapitel erfolgte, war es möglich, Wolfs literaturpolitisches Projekt genauer zu verstehen. In diesem Kapitel werden seine Hauptmerkmale auf den Punkt gebracht und mit dem paradigmatischen Gegenstück zu Wolfs Text, Ferdinand Denis’ Résumé de l’histoire littéraire du Brésil,1 kontrastiert. Die Unterschiede zwischen beiden werden veranschaulichen, inwiefern Passagen der französischen Übersetzung sich sowohl stilistisch als auch inhaltlich eher in eine französische Denktradition einfügt. Im nächsten Schritt werden zentrale Aspekte von Wolfs Schriften über die portugiesische und spanische Literaturgeschichte beleuchtet, um den Text Geschichte der brasilischen Nationalliteratur im Rahmen seiner anderen Werke einordnen und sein literaturpolitisches Projekt in seinen eigenen Worten beschreiben zu können. Zuletzt zeigt die Analyse von Wolfs Briefwechsel und Dokumenten über die Entstehungsgeschichte des Buches und seine Rezeption kurz nach der Veröffentlichung, dass und auf welche Weise Le Brésil littéraire im Dienst der Herrschaft des «deutschen Geistes» und der expansionistischen Ansprüche des Hauses Habsburg steht.

4.1 Ergebnisse des Vergleichs zwischen dem deutschen Manuskript und der französischen Übersetzung Stilistisch liegt der Hauptunterschied zwischen beiden Fassungen in der Auflösung der verschachtelten Sätze im Deutschen und in Wolfs bevorzugtem rhetorischen Mittel: der Wiederholung. Aus diesem Grund geht in der Übersetzung die logische Zuordnung der Sätze, welche eine bestimmte Verbindung zwischen den Geschichtsereignissen und den Begriffen darstellt, verloren. Im französischen Text wird Wolfs zusammenhängende und gezielte Argumentation häufig zu lose verbundenen Aussagen, die bloß aufgelistet oder in einer Reihe angeordnet werden, ohne dass ihre Zusammengehörigkeit grammatisch mithilfe von Präpositionen, Konjunktionen oder in Nebensätzen offenkundig würde.2 Es werden also im

1 Ferdinand Denis: Résumé de l’histoire littéraire du Portugal, suivi du résumé de l’histoire littéraire du Brésil. 2 Adolf Ebert beschreibt Wolfs Stil mit folgenden Worten: «Der Stil ist anspruchslos – ein ungesuchter sachgemäßer Ausdruck, in dem sich das persönliche Element nicht absichtlich hervordrängt; in der Wiedergabe, der Analyse des Inhalts von Dichtungswerken fehlt ihm weder Lebenhttps://doi.org/10.1515/9783110697889-004

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französischen Text andere Verbindungen zwischen den Haupt- und Nebensätzen geschaffen, was Wolfs Argumentation wesentlich verändert. Daraus resultiert in der Übersetzung ein durchaus anderer Ton, der weit weniger lobend und hyperbolisch ist. Semantisch liegt die bedeutendste Abweichung in der begrifflichen Konstellation des Deutschen Idealismus. Die Wiedergabe von Wolfs Geschichtsauffassung, die sich insbesondere auf die hegelianische Geschichtsphilosophie und deren Wortschatz stützt, wird nachdrücklich eingeschränkt. Drei Vorgehensweisen sind hier zu beobachten: Erstens, der betreffende Begriff wird völlig gestrichen (und der dazugehörige Inhalt wird ebenso nicht übersetzt), wie etwa im Fall von «eigentümlich». Zweitens, der betreffende Begriff wird durch ein Äquivalent übersetzt, das im französischen Text jedoch eine vom Original abweichende Bedeutung erlangt. Der Fall des Begriffs «Geist» ist exemplarisch: Das französische Wort «esprit» wird fast nie genutzt, wo doch, dann ruft es keine Assoziationen mit dem Deutschen Idealismus hervor, wie etwa die Beispiele «esprit d’élite» und «esprit du siècle» belegen. Das Adjektiv «geistig» wird häufig als «littéraire» und selten als «intellectuel» übersetzt. Drittens werden Begriffe durch andere ersetzt, die keinen Bezug zum Deutschen Idealismus haben wie beispielsweise der Begriff «Selbstbewusstsein»: Im französischen Text wird er durch «sentiment» übersetzt. Die stilistischen und semantischen Veränderungen des französischen Textes entsprechen also einem inhaltlichen Verlust. Das zentrale Anliegen von Wolfs literaturpolitischem Projekt bestand zunächst darin, den Geist als regierende Instanz der Weltgeschichte zu etablieren und in einem nächsten argumentativen Schritt die Überlegenheit des «deutschen Geistes» mittels des «deutschen Werkes» und des «wahren Romanticismus» zu postulieren. Mit der Abmilderung oder verkehrten Anwendung des Geistesbegriffs verschwinden in der Übersetzung ebenfalls die expansionistischen Herrschaftsansprüche, die Wolf mit diesem ver-

digkeit noch Fülle, ebenso wenig Klarheit und Übersichtlichkeit in der kritischen Untersuchung und pragmatischen Entwicklung; ein Streben nach Gedrungenheit zeichnet ihn da aus, welches die Sätze zu größeren Perioden verflicht, um dem Ausdruck der Argumentation größere Festigkeit und Schärfe zu verleihen. Der Reichtum des Materials, den sein Fleiß ihm zu Gebote stellte, das ängstliche Bemühen der Wahrheit nichts zu vergeben, welches ihn zu Einschränkungen nötigte, mit einem Wort sein Streben nach Vollständigkeit, Genauigkeit und Treue verführte ihn freilich auch mitunter zu einer mit längeren öfteren Schaltsätzen überbürdeten Konstruktion». Adolf Ebert: Ferdinand Wolf. Seine Bedeutung für die romanische Philologie, namentlich die Literaturgeschichte, S. 303. Die Kriterien von Sílvio Romero für die Einschätzung von Wolfs Stil in Le Brésil littéraire unterscheiden sich wesentlich: «O tom geral é ditirâmbico, e, entre outros, os exageros sobre o merecimento de seu principal inspirador, Gonçalves de Magalhães, nos provocam hoje o riso». Sílvio Romero: História da literatura brasileira, S. 5.

4.1 Ergebnisse des Vergleichs zwischen Manuskript und Übersetzung

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band. Was von Wolfs Originalargument bezüglich des Geistesbegriffs in der Übersetzung bleibt, ist die Behauptung, dass Brasilien erst in die Weltgeschichte eintritt, als das Land unter dem Einfluss des «deutschen Geistes» steht – und dies ist bei Wolf die historische Aufgabe von Magalhães. Es bleibt in der Übersetzung auch erhalten, wie Wolf mit dem Deutschen Idealismus zugunsten eines hegemonialen Geschichtsbilds operiert: Wolf wählt Ereignisse und Elemente aus der Geschichte aus und behandelt sie auf einer rein ideellen Ebene. «Freiheit» und «Sclaverei» werden etwa bloße Phrasen und Metaphern, welche auf diese Weise einen sehr entfremdeten und befremdlichen Bezug zu den wirklichen Tatsachen darstellen. Wenn diese Begriffe keine Verbindung mehr zu dem soziokulturellen Zusammenhang haben, der sie hervorbringt, werden sie leichter manipulierbar. Ein anderes Beispiel: Zwar wird die Kolonisation in den beiden Fassungen positiv und als Anfang eines ‹zivilisatorischen Prozesses› betrachtet, das von Wolf genannte «geistige Colonialverhältnis» wird aber nicht in der französischen Übersetzung wiedergegeben. Somit geht das Argument Wolfs verloren, dass nach der «politischen» eine «geistige» Unabhängigkeit Brasiliens erfolgte. In Wolfs Vorstellung kann diese «geistige Unabhängigkeit», diese «geistige Befreiung» nur mithilfe des «deutschen Geistes» stattfinden. Wenn kein «geistiges Colonialverhältnis» (wie etwa die Herrschaft der portugiesischen Muster und des französischen «Pseudo-Classicismus» in Wolfs Sicht) besteht, kann der «deutsche Geist» auch nichts «befreien». Wolfs Vorgehensweise, vom Wirklichen ins Ideelle überzugehen, zeigt den ideologischen Zweck seiner Literaturgeschichtsschreibung. Die Dominanz des Geistes ist jedoch wie gesagt im französischen Text, im Vergleich zum Manuskript, deutlich abgeschwächt: Durch die ‹Korrekturen›, ‹Nuancen›, ‹Abmilderungen›, ‹Emendierungen› die für sehr bewusste Entscheidungen seitens des Übersetzers und Verlegers gehalten werden können, erreicht die französische Übersetzung einen allgemeinen Gestus, der dem deutschen Text nicht entspricht und geradezu im Gegensatz zur Wolfs Vorstellungen steht. Das Ergebnis ist, dass der französische Text weniger ideologisch begründet scheint, also «neutraler» als der deutsche Text. Paradoxerweise werden Wolfs Ansprüche auf eine vermeintlich wissenschaftliche «Neutralität» überzeugender in der gedruckten Fassung. Im deutschen Text stellen sich Wissenschaft und Philologie deutlicher als Werkzeuge für die Begründung und Durchführung von Wolfs literaturpolitischem Projekt dar. Die französische Übersetzung führt außerdem bestimmte Wörter ein, die im vorliegenden Korpus des Originalmanuskripts nicht zu lesen sind, wie etwa «exploitation», «oppresseur» und «révolution». Diese Termini, die nicht zu Wolfs Repertoire gehören, fallen im französischen Text nicht besonders auf, eben weil sich die Übersetzung auf einen andere politisch-philosophischen Grundlagen stützt.

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«Exploitation», «oppresseur» und «révolution» gehören im revolutionären Kontext des 19. Jahrhunderts zu einer sozialkritischen Geschichtsauffassung, welche im direkten Gegensatz zu Wolfs promonarchistischen, idealistischen Ansichten steht. Selbst wenn Wolfs Lob Dom Pedros II. in der Übersetzung erhalten bleibt, fehlt die philosophische Voraussetzung für die Legitimation und Beibehaltung der dynastischen Bündnisse. Die Einführung von neuen, im Widerspruch zu Wolfs Geschichtsauffassung stehenden Vokabeln, wird an manchen Stellen sogar als feine Ironie spürbar, als mache der Übersetzer sich über Wolfs Unterwürfigkeit gegenüber dem monarchischen Prinzip auf einer Metaebene lustig. Dies wird beispielsweise anhand des Briefes von Dr. van Muyden an Wolf deutlich. In Bezug auf die Interpretation der historischen Ereignisse sind hier drei musterhaften Beispiele zu nennen: Das erste bezieht sich auf die Tatsache, dass Dom João VI. im deutschen Text wegen Napoléons «kronenräuberischer Hand» den Sitz des portugiesisches Hofes 1808 nach Brasilien verlegt, während er im französischen Text vor Napoléon wegen dessen «main puissante» (Dt. machtvolle Hand) nach Brasilien «flieht». Diese zwei gegensätzlichen Erklärungen derselben Tatsache zeigen, dass die Geschichtsschreibung aus einer bestimmten Perspektive erzählt wird. Das zweite Beispiel betrifft die ehemaligen Versklavten in Quilombo dos Palmares. Während diese im deutschen Text die «Protagonisten» in einem Gedicht von Joaquim Noberto de Souza Silva sind, sind sie die «champions» im französischen Text. Die Übersetzung tendiert also dazu, die Wirklichkeit, die Konflikte, und nicht das Ideelle hervorzuheben – in diesem Beispiel also die Menschen und nicht die Figuren. Das dritte Beispiel bezieht sich auf die Übersetzung von «Eroberer» als «oppresseur», was die Perspektive auf die Kolonisationsgeschichte ändert. Das führt im französischen Text zur Bestätigung eines Klassenkampfes. Wolfs reaktionäre Geschichtsauffassung lässt sich auch in seinem Verständnis von Mittelalter und seiner darauffolgenden Unterscheidung zwischen dem «wahren» und dem «modernen» «Romanticismus» beobachten. Der erste sei die «Verjüngung» des Mittelalters, die Weiterentwicklung der Ausdruck seiner «nicht-Antiken Völker» im 19. Jahrhundert. Der zweite ist eine von Frankreich unternommene Karikatur der auffälligsten Merkmale dieses Ausdrucks. Im französischen Text wird «wahre» nicht gegen «modern» kontrastiert, was die pejorative Bedeutung von «modern» bei Wolf völlig aufhebt. Wolfs Interpretation des Mittelalters erklärt sich aufgrund seiner politischphilosophischen Haltung: Während Frankreich mit der Revolution von 1789 eine «politische Befreiung» veranlasse, regiere in Deutschland die «geistige Befreiung» der «Völker». Diese verwirkliche sich durch die «Deutsche Kritik» in einer rückwärtigen Bewegung Richtung Mittelalter, um die ursprünglichen, feudalen, dynastischen Verhältnisse wieder lebendig zu machen. Die Französische Revolution und der «moderne Romanticismus», welche sich vorwärts orientieren (in dem

4.1 Ergebnisse des Vergleichs zwischen Manuskript und Übersetzung

201

Sinne, dass sie andere politisch-gesellschaftliche Lebensweisen anstreben), werden von Wolf moralisch-ideologisch als «falsch» wahrgenommen. Ein solcher Antagonismus zwischen Restauration und Revolution und Wolfs deutliche Zuneigung zur ersteren, die im Close Reading veranschaulicht wurde, ist im französischen Text nicht präsent. Die Zugehörigkeit der französischen Übersetzung zu einer nicht-idealistischen Geschichtsauffassung lässt sich durch den Vergleich des Nationsbegriffs in den beiden Fassungen exemplarisch nachvollziehen. Im deutschen Text ist «Nationalität» mit dem «monarchischen Prinzip» verknüpft, das die Nation als zusammenhängendes Ganzes durch die Homogenisierung aller Unterschiede erhält. «Nationalität» ist eher eine Vorstellung. Im französischen Text wird sie indessen als ein «sentiment» vorgestellt, sodass das bürgerliche Individuum, sein Handeln und seine Gefühle im Mittelpunkt stehen. Aus dem ständigen Kampf der Übersetzung gegen das Originalmanuskript ergibt sich ein zweideutiger, lückenhafter Text, dessen Kohärenz auf anderen Elementen beruht. Die Mischung eines reaktionären Inhalts mit der Verwendung von liberal-bürgerlichen Begriffen führt zu einer Oszillation, die sich im ideologischen Kontext des 19. Jahrhunderts verorten lässt.3 Das Primat des Ideellen im deut-

3 Die Rezeption des deutschen Idealismus in Frankreich kann wohl auch erklären, warum Übersetzer und Verleger sich bemühten, Wolfs literaturpolitisches Projekt abzuschwächen. Gerade gegen Mitte des 19. Jahrhunderts verändert sich die Art und Weise wie Hegel rezipiert wurde sehr stark. Das zeigt sich eindeutig an den einführenden Texten von Ott und Vera, welche zu den bedeutendsten Übersetzern und Vermittlern des Deutschen Idealismus in Frankreich zu jener Zeit gehören. Hierzu eine beispielhafte Passage von Ott: «La philosophie allemande n’est pas un fait isolé dans l’histoire moderne; elle est l’expression de l’esprit même du peuple allemand, de ses croyances religieuses, de ses tendances morales. Ces tendances ne sont pas celles de la France. La France est une nation catholique; chez elle, prédominent les sentiments d’unité, les idées sociales; dans les croyances françaises, l’individu est subordonné à la société, le moi n’est qu’un point de la circonférence, la raison de chacun doit se soumettre à la raison de tous. L’Allemagne, au contraire, c’est la patrie du protestantisme, de l’esprit de division et de séparation; chez elle le moi s’est fait centre, la raison individuelle ne reconnaît aucune autorité supérieure, le point de vue individuel domine le point de vue social. A ces deux tendances répondent deux philosophies, mais deux philosophies opposées, contradictoires, que jamais on ne parviendra à concilier. [...] Pour nous, qui croyons notre patrie dans la bonne voie, nous lui souhaitons d’y persister et de rester fidèle à sa tradition, dont l’abandon serait une renonciation au principe même de sa nationalité«. Obwohl Ott vor der «Gefahr» der sogenannten «Einbürgerung des deutschen Werkes», die Hegels Werke repräsentieren, warnt, nutzt er den hegelianischen Wortschatz, sodass zu bemerken ist, wie die Übersetzung von Dr. van Muyden sich vom Original distanziert hat. Auguste Ott: Hegel et la philosophie allemande ou exposé et examen critique des principaux systèmes de la philosophie allemande depuis Kant et spécialement de celui de Hegel. Paris: Joubert 1844, S. VI–VII. Eigene Hervorhebungen. Für die Rezeption Hegels in Frankreich siehe Andrea Bellantone: Hegel en France.

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4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes»

schen Text führt zu einer Verkehrung der wirklichen Verhältnisse, die im französischen Text ausgeglichen wird. Die Hervorbringung von Ideologie lässt sich diskursiv in Wolfs Geschichtsschreibung identifizieren. Es geht ihm zunächst darum, einen Teil für das Ganze (pars pro toto) darzustellen: Er präsentiert etwa die Perspektive der weißen, europäischen Kolonisatoren als einzige Wahrheit. In einem nächsten Schritt operiert Wolf eine rhetorische Verkehrung: Kolonisation bedeutet nicht Ausbeutung (von Naturressourcen und Arbeitskraft), sondern «Kultivierung» (des «Bodens» und des «Geistes»). Das Ergebnis ist, dass ein Teil der Wirklichkeit verhüllt wird und sich dementsprechend die menschlichen Handlungen auf eine ideelle, «geistige» Sphäre beschränken. Ideologie bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur Realitätsferne, sondern auch Illusion und Selbsttäuschung. Eine Ideologiekritik sei an dieser Stellte also die Kritik an der Vorstellung, die Idee beherrsche die Weltgeschichte.4

4.2 Ferdinand Denis, ein französisches Paradigma? Die Analyse einiger Passagen von Ferdinand Denis’5 Résumé de l’histoire littéraire du Brésil: considérations générales sur le caractère que la poesie doit prendre dans le Nouveau Monde (1826) soll als Paradigma für ein nicht-idealistisches Denkmus-

De Cousin à Vera. Bd. 1. Paris: Hermann 2011, insbesondere Hegel entre réaction et révolution (1838–1848). 4 Ulrich Dierse: Ideologie. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 3. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 148. 5 Ferdinand Denis (1798–1890) arbeitete sein Leben lang in der Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris, erst als Mitarbeiter dann als Leiter. Denis war eng mit Dom Pedro II. verbunden: Nach seinem Résumé veröffentlichte er weitere Werke über Brasilien, was ihn zu einer zentralen Referenz in Europa und in Brasilien machte. Cícero Dias beschreibt die Erfahrung von Denis in Brasilien in seinem ‹Vorwort› zum Catalogue du fonds Ferdinand Denis: «Chegado ao Rio, Denis estabeleceu contatos interessantes com Lebreton e Neukomm. Visitou a Biblioteca nacional, o Jardim Botânico e impressionou-se dessa ambiência brasileira, que se tornou um dos pontos fundamentais de sua obra futura. Depois, partiu para a Bahia. Nessa cidade, ele se integra completamente à vida brasileira. Com interesse e admiração, segue de perto todos os acontecimentos da nossa evolução. Estuda, escreve cartas, toma apontamentos. [...] Viaja, também, pelo interior da província e é mesmo atacado de febres numa de suas incursões pelo sertão. Analisa os hábitos, os costumes, o folclore, os vários aspectos da vida brasileira da época. Anota as passagens dos navios pelo porto, estuda as festas do carnaval, os festejos de coroação de D. João VI, e analisa a repercussão dos acontecimentos revolucionários de 1817». Cicero Dias: Catalogue du fonds Ferdinand Denis. Paris: Bibliothèque Saint-Geneviève 1972, S. 27.

4.2 Ferdinand Denis, ein französisches Paradigma?

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ter dienen, das in vielerlei Hinsichten als Wolfs Antipode gesehen werden kann. Die französische Übersetzung von Wolfs Text ist tatsächlich an manchen Stellen dem Résumé Denis’ näher als dem Originalmanuskript. Selbst wenn Denis seine Abhandlung fast vierzig Jahre vor Wolfs Buch veröffentlichte, lässt sich in seinem Stil und in seiner politisch-philosophischen Haltung nachvollziehen, wogegen Wolf sich empört, wenn er Frankreich als «Universalmonarchie» kritisiert. Obwohl Wolf Denis’ Leistung anerkennt, muss er seinen Beitrag aufgrund von historischen Bedingtheiten als beschränkt beurteilen. In dieser Weise kann Wolf seiner eigenen Arbeit größeren Ruhm zuschreiben: Denn Ferdinand Denis ist der einzige unter den europäischen Literarhistorikern, der seinen: «Résumé de l’histoire littéraire du Portugal», als Anhang ein: «Résumé de l’histoire littéraire du Brésil» (Paris, 1826 in 12º, p. 513–601) beigegeben hat; und auch dieser gewiss verdienstliche Umriß erschien zu einer Zeit, wo die völligere Entwicklung der eigentlichen brasilischen Nationalliteratur erst begann. (S. 4) Ferdinand Denis est le seul littérateur européen qui ait ajouté à son résumé de l’histoire littéraire du Portugal un appendice sur la littérature de la grande monarchie américaine (Paris 1826. 12° p. 513–601), et encore cet ouvrage a-t-il paru à une époque où le développement dont nous avons parlé, ne faisait que commencer. (S. 2)

Die Veränderung in der Übersetzung ist in diesem Beispiel bedeutend: Zum einen wird die Aufgabe des «Literaturhistorikers» nicht anerkannt, denn «littérateur» bezieht sich nicht unbedingt auf jemanden, der Literaturgeschichte schreibt, sondern auf jemanden, der sich allgemein für Literatur interessiert. Zum anderen wird «Nationalliteratur» durch «la littérature de la grande monarchie américaine» ersetzt, was aufgrund des offensichtlich promonarchischen Tonfalls eine Ausnahme in der Übersetzung darstellt. Wie der einzige Brief von Dr. van Muyden an Wolf zeigt, haben die beiden einige Absätze ausführlicher diskutiert, eventuell auch in diesem Fall. Bemerkenswert ist, dass Wolf Denis in seinem Manuskript nicht kritisiert. Denis bemüht sich in seinem Résumé, einen freundlichen Kontakt zwischen Brasilien und Frankreich zu festigen. Er gründet diese Verbindung auf die Idee der «influence», also auf Frankreichs kulturellen Einfluss auf Brasilien. Anders als bei Wolf geht es bei Denis nicht um eine essentialistische ‹Verwandtschaft›, die auf monarchische Bezüge verweist. In der Übersetzung des ‹Vorworts›, wie im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde, wird genau diese Vokabel («influence») hinzugefügt. Folgende Beispiele aus Denis’ Résumé zeigen den Anspruch auf diese Form von Kontakt: Mais une chose vraiment remarquable, c’est l’influence qu’exerce maintenant notre littérature sur celle des Brésiliens. [...] (S. 526)

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4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes»

On ne peut se dissimuler cependant que le séjour des artistes français appelés à Rio de Janeiro n’ait exercé une très-heureuse influence dans cette capitale. (S. 584)

Der französische «Einfluss» auf die brasilianischen Gelehrten ist Wolf bewusst. Wolf kann diesen Einfluss nicht leugnen. Seine Haltung lässt sich im Manuskript genauer als in der Übersetzung nachvollziehen: Sein Buch soll das Ende des französischen Einflusses ab der letzten Epoche und den Anfang eines neuen «Einflusszeit» bestimmen, in welcher Frankreich als kulturelles Vorbild und Muster durch Deutschland/Österreich verdrängt wird. Daraus lässt sich eine weitere Hypothese für die Entscheidung des Verlegers ableiten, Wolfs Buch ins Französische übersetzen zu lassen, und zwar der Versuch, es mit Denis’ Buch in Konkurrenz treten zu lassen. Zwischen Denis und Wolf lässt sich ein wesentlicher Unterschied in der Verwendung des Begriffs «Nationalliteratur» beobachten. Bei Denis ist ein Werk «national», wenn es das individuelle Leben in einer bestimmten Gemeinschaft beeinflusst und über die Kraft verfügt, sich im kollektiven Gedächtnis einzuprägen. Es reicht nicht, historische Ereignisse in literarischer Form nachzuerzählen – was im Fall Brasiliens eine Rückkehr zu den Reiseberichten der ersten «Abenteurer» bedeutete. Entscheidender ist für ihn die Vorstellung, dass die literarischen Texte auswendig wiederholt werden, weil sie ein Gefühl von Miteinander ausdrücken: «Quelques années se sont à peine écoulées, et on les [les chants de Gonzaga] redit dans les cités nouvelles, comme on répète dans notre vieille Europe les plaintes d’Abélard» (S. 569) oder «Quoi qu’il en soit, Gonzaga est un poète national; ses chants, répétés en tous lieux, animent les solitudes les plus reculées du Brésil» (S. 571). Die Rezeption eines Werkes mache es also «national» und nicht die essentialistische Tatsache, dass es den «Volksgeist» einer «Nation» zum Ausdruck bringe. Die Verbindung von «Nationalität» mit dem einzelnen Individuum erklärt, warum Begriffe wie etwa «Selbstbewusstsein» oft als «sentiment» ins Französische in Le Brésil littérarie übersetzt wurden. Laut dieser Geschichtsauffassung steht der bürgerliche Mensch, das Individuum, im Zentrum. In diesem Sinne sei es schwierig, so Denis, die Anfänge der brasilianischen Literatur zu bestimmen, denn: «Le commencement de la littérature brésilienne ne date pas d’une époque très-reculée. Et cependant il est assez difficile d’assigner sa véritable origine» (S. 527), oder «Il est assez difficile d’indiquer quel fut leur premier poète» (S. 529). Man kann davon ausgehen, dass bei Denis die Zeit vor der Ankunft der Europäer als Teil der brasilianischen Geschichte berücksichtigt werden könnte. Es sei aber wichtiger, einschlägige Vorschriften für die kommende Literatur zu verfassen, als die Vergangenheit präzise darzustellen: «Maintenant, ils doivent fonder leur littérature: je le répète, elle doit avoir un caractère particulier». Denis sieht die Geschichte Brasiliens nicht als Entwicklungsprozess, der

4.2 Ferdinand Denis, ein französisches Paradigma?

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sich in Stadien ausdrücken lässt, sondern als ‹menschliches Wachstum›. Aus diesem Grund erlebe die brasilianische Bevölkerung noch ihr Jugendalter «la jeunesse d’un peuple» (S. 515) oder «la simplicité sauvage d’un peuple dans l’enfance» (S. 534). Denis versteht sich als Progressist, Humanist und Republikaner, spricht sich offen gegen das Kolonialsystem aus und betrachtet Brasilien und Amerika überhaupt als eine Hoffnung für die «Bereicherung des menschlichen Geschlechts». Bei ihm krankt Europa und die Zukunft liegt in der sogenannten «Neuen Welt», wie man an verschiedenen Stellen seines Textes liest: [...] le Brésil cessait alors d’être une colonie; l’odieux système tombait de lui-même. (S. 513) [...] Que les poètes de ces contrées contemplent la nature, qu’ils s’animent de sa grandeur, en peu d’année ils deviendront nos égaux, peut-être nos maîtres. (S. 519) [...] L’Europe a fondé la grandeur du Nouveau-Monde, mais ce sera peut-être un jour son plus beau titre de gloire. (S. 520) [...] les Brésiliens n’ont pas besoin de quitter leur pays pour rendre au monde savant les plus grands services. Par eux, non seulement le Nouveau monde, mais l’Afrique peut être bien mieux connue. (S. 599)

Auffällig ist Denis’ Offenheit dafür, seine eigene Perspektive infrage zu stellen. Sie wird nicht als endgültige Wahrheit verstanden, auch weil Denis nicht die Absicht hat, wie etwa Wolf, seine Meinung mithilfe der angeblichen Neutralität der Wissenschaft und Überlegenheit des «deutschen Geistes» zu untermauern. Denis ist eher ein «observateur», und «curiosité» ist ein Schlüsselwort bei ihm, wie in den folgenden Beispielen deutlich wird: «un point de départ toujours curieux à observer» (S. 533), «les débuts d’un peuple en ce genre sont toujours curieux à connaître» (S. 535), «trop vrais sans doute, mais curieux du moins pour l’Europe» (S. 548). Denis sieht Europa in seinem Résumé nicht notwendigerweise in einer Vormachtstellung, durch die es das Schicksal der anderen Länder entscheidet, für ihn scheint es möglich, dass dieses Herrschaftsverhältnis umgestaltet werden kann. Denis spiegelt die Leitbegriffe der Französischen Revolution im brasilianischen Zusammenhang wider. Als «neues» Land solle sich in Brasilien «un peuple de frères» (S. 523) herausbilden. Außerdem äußert er sich ausdrücklich gegen die Versklavung, indem er mehrmals von den «douleurs de l’esclavage» (S. 524) spricht. Selbst die größte Widerstandsorganisation von ehemaligen versklavten Menschen in Brasilien, den Quilombo de Palmares, erwähnt Denis mit Begeisterung: «c’est lui [Rocha Pitta] sans contredit qui donne les détails les plus importants sur cet empire des noirs indépendants formé au sein du Brésil sous le nom

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4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes»

de Palmares» (S. 589). Wolf gelingt es im Gegensatz dazu, kein einziges Wort über die konkrete Versklavung von Menschen und den Arbeitseinsatz von Versklavten in Brasilien zu schreiben. In den ersten Zeilen seiner Abhandlung führt Denis den Wunsch der ‹Brasilianer› aus, am europäischen Reichtum teilzuhaben, der wiederum auf Basis der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Brasiliens aufgebaut wurde. Obwohl auch bei ihm ein ‹romantisierendes› Bild von Natur zu lesen ist, zeigt er eine klare Vorstellung der Ausbeutung, die bei Wolf praktisch nicht vorkommt: «Pendant longtemps l’Amérique méridionale, soumise au joug de deux puissances européennes, sembla condamnée à leur fournir des richesses sans partager leur gloire» (S. 513). Denis versteht die Kolonistationsgeschichte Brasiliens nicht als etwas Positives, im Gegenteil, er nennt sie «bizarrerie»: «La nature leur avait prodigué tous ses biens, et, par une inconcevable bizarrerie, ils réunissaient l’innocence des premiers âges à une férocité que ne peut concevoir la civilisation la plus corrompue» (S. 537). Die starke Kritik an den ‹zivilisatorischen› Ansprüchen der Kolonisation zeigt einen weiteren Unterschied zwischen Denis’ und Wolfs Geschichtsauffassung. Wolf begründet die Kolonisation mit dem Argument, dass die ‹Neue Welt› zivilisiert und christianisiert werden müsse. Entsprechend wird die objektive Natur als Gründungsmetapher der Geschichte Brasiliens genutzt. Da Wolf die Wirklichkeit auf eine ideelle Ebene schiebt, wird eine Kritik der Kolonisation und der Ausbeutung bei ihm unmöglich. Denis stellt fest, dass die Etablierung von europäischen Institutionen in Brasilien, die weder mit dem Klima und der Natur noch mit den Gebräuchen der autochthonen Bevölkerung zu tun haben, nur zu Irrtümern führen konnte. Dieser Import sei sehr ungünstig gewesen und habe der richtigeren Tendenz widersprochen, so Denis, «neue» und «energische» Gedanken zu entwickeln, die der «glänzenden», «kraftvollen» Natur entsprächen. Er begründet das romantische Leitmotiv der Wechselwirkung zwischen Natur und literarischer Schöpfung im brasilianischen Kontext: Dans cette grandeur de la nature, dans le désordre de ses productions, dans cette fertilité sauvage qui se montre à côté de la fertilité de l’art [...] la pensée du Brésilien prend une énergie nouvelle. (S. 523)

Denis’ Begeisterung für die Ureinwohner Brasiliens und ihre Traditionen verbindet sich mit seiner Kritik an der ‹Zivilisation›: «Que’on étudie les faibles tribus échappées à trois siècles de destructions, on y verra encore tous les peuples primitifs qui excitent fortement l’imagination» (S. 518). Denis möchte die Aufmerksamkeit darauf richten, dass noch viele Nachfahren der Autochthonen in Brasilien leben, selbst wenn seine Kommentare auch in einem kolonialen Rahmen

4.3 Wolfs Studien über Spanien und Portugal

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gelesen werden können. Denis’ eurozentrische Perspektive lässt sich in der folgenden Passage nachvollziehen, jedoch stellt sie sich in einer anderen Art und Weise dar als bei Wolf: Il est vraiment à regretter qu’il ne se trouve pas au Brésil un Cooper pour donner à Europe une juste idée de ces nations dont les restes errent encore dans les forêts des Capitaineries désertes. (S. 545)

Von diesen Beispielen ausgehend wird ersichtlich, dass Wolfs Ziel die Etablierung einer universellen Vorherrschaft von Deutschland/Österreich über Europa und die Welt hinaus war – und in Bezug auf Brasilien, ein dynastisches Bündnis zwischen den herrschenden Klassen der jeweiligen Kaiserreiche. Denis’ veröffentlichte sein Résumé, als die europäischen Mächte die politische Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal anerkennen mussten. Er zielt also darauf ab, eine bevorzugte Stellung für Frankreich zu sichern, insbesondere in Hinblick auf die zunehmenden kommerziellen Geschäfte zwischen Brasilien und England: Le rôle qui nous reste à jouer dans ce pays est encore assez beau, et si les anglais ont plus que nous cette influence commerciale que leur assigne partout leur activité, nous devons être satisfaits de voir une nation brillante de jeunesse et de génie s’attacher à nos productions littéraires, en modifier ses propres productions, et resserrer par les liens de l’esprit ceux qui doivent exister par la politique [...] (S. 526–527, Eigene Hervorhebungen).

Denis stellt offensichtlich den Zusammenhang zwischen «politischen», «wirtschaftlichen» und «geistigen» Ebenen («liens de l’esprit») durch das Wort «influence» her. Bei ihm erlangt der «Geist» keinen Vorrang und es entsteht keine reaktionäre Bedeutung. Ohne Umschweife gesteht er die kommerzielle Vorherrschaft Englands ein und formuliert keine Reaktion durch die Wiederherstellung der monarchischen Bündnisse, sondern spricht im Sinne der neuen Arbeitsteilung, die die Industrielle Revolution hervorbrachte. Aus diesem Vergleich ist ersichtlich, dass weder Frankreich noch Deutschland/Österreich gegen das englische Kapital konkurrieren konnten. Daher blieb ihnen nur übrig, einen Kampf um «les liens de l’esprit» und den «geistigen» Vorrang zu führen. Weder Denis noch Wolf erwähnen, dass diejenigen, die über die Herrschaft der Produktionsmittel verfügen, auch Anspruch auf die Herrschaft der Produktionsmittel der Kultur erheben.

4.3 Wolfs Studien über Spanien und Portugal Wolfs literaturpolitisches Projekt bestand auch in der Suche nach einer gemeinschaftlichen Einheit unter den «nicht-antiken Völkern». Diese Einheit sollte sich

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4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes»

in einer Art ‹Ur-Romanze› beweisen und als solche die Grundlage der europäischen Kulturen symbolisieren. Das Bedürfnis, eine gemeinsame und einheitliche Herkunft der europäischen Kulturen zu schaffen, wie Eric Hobsbawm ausführt,6 findet seinen Grund in der konkreten Auswanderung, die der Autor als Ergebnis der Industriellen und der Französischen Revolution und als wichtigstes soziales Phänomen des 19. Jahrhunderts darstellt. Die angeblich verlorene Harmonie von Mensch und Welt wurde vor dem Hintergrund eines kulturellen und politischen Übergangs vom Ancien régime zur industriellen kapitalistischen Gesellschaft in drei verschiedenen Formen ausgestaltet, so Hobsbawm: Zunächst in der Erfahrung des Mittelalters, dann in der Untersuchung des ‹Volkes›, des ‹Primitiven› und des ‹Exotischen›, schließlich in der Erkenntnis der Französischen Revolution. Die reaktionären Romantiker, wie Wolf, fanden nach Hobsbawm im Mittelalter eine Art Heimat, das Symbol des konservativen und religiösen Gegenspielers der Bourgeoisie wurde: However, it found its classical expression in Germany, a country which in this period acquired something not far from a monopoly of the medieval dream, perhaps because the tidy Gemuetlichkeit which appeared to reign beneath those Rhine-castles and Black Forest leaves lent itself more readily to idealization than the filth and cruelty of more genuinely medieval countries.7

In diesem Zusammenhang kennzeichnet Hobsbawm «den einfachen Mann aus dem Volk», den Bauern oder den Handwerker der vorindustriellen Epoche als Inbegriff der «Volksseele». Seine Ausdrucksformen und Sprache wurden nicht nur literarisch bearbeitet, sondern auch wissenschaftlich untersucht, wofür eine Fülle an Wörterbüchern und Sammlungen der mündlichen Tradition Zeugnis sei. Das Interesse der Philologie sei nicht nur die Entdeckung, Entzifferung und Klassifizierung der Sprachen durch neue Methoden der Dokumentationsforschung und geschichtswissenschaftliche Techniken gewesen, sondern die Entdeckung einer gemeinsamen sprachlichen ‹Wurzel›.8

6 Eric Hobsbawm: The Age of Revolution 1789–1848, S. 264. 7 Ebda., S. 456. 8 Hobsbawm argumentiert weiter, dass eine sprachliche Verwandtschaft zwischen den europäischen Nationen tatsächlich bestätigt wurde: Die europäischen und außereuropäischen Schriftsprachen, die sogenannten indogermanischen [heute indoeuropäischen] Sprachen, verwandelten sich über Jahrhunderte und entwickelten sich vermutlich aus einer gemeinsamen Ursprache. Der Evolutionsbegriff war von entscheidender Bedeutung für die Philologie, die seine allgemeinen Gesetze prüfte und nicht nur für die menschliche Kommunikation gültig machte, sondern auch für andere Wissenschaften. Aus diesem Grund fasst Hobsbawm zusammen, dass die Philologie Mitte des 19. Jahrhunderts neben der politischen Ökonomie, die mathematische Formeln für

4.3 Wolfs Studien über Spanien und Portugal

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Durch die Erforschung des Spezifischen in Sitte und Literatur des Mittelalters stellte Wolf die politische und kulturelle Dominanz des französischen Rationalismus und der klassizistischen kulturellen Mentalität infrage und förderte die führende Rolle des deutschen, «wahren Romanticismus». Doch Wolfs Opposition gegen Frankreich lag nicht nur im Kampf gegen Napoléons Vorherrschaft auf dem sprachliterarischen Gebiet begründet, sondern vielmehr im Anspruch darauf, die Vorherrschaft Deutschlands/Österreichs als europäische Macht im Kontext des Zerfalls des dynastischen Denkens zu schützen. Aus dieser Perspektive haben bei Wolf die Zuneigung zur brasilianischen Literatur und die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter ähnliche Gründe: Es geht ihm um die Einheit und Erhaltung der Habsburgermonarchie. Wolf veröffentlichte 1859 eine Sammlung mit seinen repräsentativsten Arbeiten, bevor er sich der brasilianischen Literatur widmete. Der Band Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur enthält vier Abhandlungen, die drei ersten über die Literaturgeschichte Spaniens im Mittelalter, die letzte über die Entstehung der portugiesischen Literatur. Es geht also nicht, wie er selbst in seiner Widmung an Eligius von Münch-Bellinghausen erklärt, um «ein organisches Ganzes, eine vollständige und erschöpfende Geschichte der behandelten Epochen und Zweige der spanischen und portugiesischen Literatur».9 In der ersten Studie ‹Zur Geschichte der spanischen Literatur im Mittelalter›, einer Rezension der spanischen Übersetzung von Bouterwecks Historia de la literatura española, erörtert Wolf die wissenschaftliche Notwendigkeit, die spanische Literatur übergreifend historisch zu beschreiben, mit der Absicht, die ‹Geistesverwandtschaft› zwischen ihr und derjenigen Deutschlands/Österreichs zu explizieren. Dieses Gefühl von ‹Brüderlichkeit› lag in den politischen, kulturellen und ehelichen Kontakten zwischen beiden Reichen und hat mit der bürgerlichen Fraternité im Sinne der Französischen Revolution nicht viel zu tun. Wolf versucht, durch literaturgeschichtliche Interpretationen die verlorene spanische Linie des Habsburgerreichs wiederherzustellen.10 Auch hat das vorliegende Buch [die Übersetzung von Bouterweks Historia de la literatura española ins Spanisch] noch einen ganz eigenen Reiz für uns: es erscheint uns wie eine Erneuerung des geistigen Bündnisses zweier nicht bloss dem Stamme, sondern mehr noch ih-

die Entwicklung einer systematischen Bevölkerungstheorie anwandte, die wichtigste Sozialwissenschaft der Zeit wurde. Ebda., S. 286. 9 Ferdinand Wolf: Widmung. Studien zur Geschichte der portugiesischen und spanischen Nationalliteratur, ohne Seite. 10 Siehe Fußnote 21 im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit.

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rem innersten Wesen nach verbrüderter Nationen; wie eine Erneuerung des altherkömmlichen Grusses der Spanier an die Deutschen: Somos hermanos! und wir erwidern herzlich den lang entbehrten Gruss. Möchten durch diese Einbürgerung des deutschen Werkes in Spanien die schädlichen Einflüsse die jene engherzige, sogenannte französisch-classische Schule auf die spanische Poesie nur zu lange übte, völlig vernichtet werden, und die Spanier des Deutschen von jedem Schulzwange freie Ansichten, seine tiefe Auffassung ihres eigenthümlichen Geistes und richtige Würdigung ihrer Meisterwerke, die sie nur von einer geistesverwandten Nation erwarten durften, gänzlich von dem Irrwege zurückbringen, auf dem sie durch den falschen Glanz einer nüchternen Glätte und einer schulgerechten Gefeiltheit ohne Gemüth und Tiefe so weit verführt wurden, dass sie sich selbst missverstehen, und über dem einseitigen Spotte phantasiearmer Aristarchen an der Seine die üppigen, lebensfrischen Blüthen der heimischen Fluren am Manzanares und Guadalquivir als wucherndes Unkraut unbeachtet lassen konnten!11

Auffällig an dieser Passage ist vor allem Wolfs Formulierung «Einbürgerung des deutschen Werkes», die seine expansionistischen, kolonialen und hegemoniale Ansprüche am deutlichsten ausdrückt. Der Auszug synthetisiert seinen Umgang mit der Philologie, mit der Wissenschaft, aber vor allem mit der Literaturgeschichtsschreibung. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Bedeutung des Wortes «Werk», welche nicht nur als Synonym von «Leistung» oder «Wirkung» verstanden werden kann, sondern auch einen eigenen Sinn in der Philosophie des Deutschen Idealismus erlangt, wie in der hegelianischen Geschichtsphilosophie: Der Geist handelt wesentlich, er macht sich zu dem, was er an sich ist, zu seiner Tat, zu seinem Werk; so wird er sich Gegenstand, so hat er sich als ein Dasein vor sich. So der Geist eines Volkes; sein Tun ist sich zu einer vorhandenen Welt zu machen, die auch im Raume besteht; seine Religion, Kultus, Sitten, Gebräuche, Kunst, Verfassung, politische Gesetze, der ganze Umfang seiner Einrichtungen, seine Begebenheiten und Taten, das ist sein Werk – das ist dies Volk.12

Bei Hegel sei das Werk der Geist selbst, seine Verwirklichung. Das Werk eines Volkes sei also seine Objektivierung auf der Welt in Form politisch-kultureller Strukturen wie «Religion, Kultus, Sitten, Gebräuche, Kunst, Verfassung, politische Gesetze, [...] Einrichtungen, [...] Begebenheiten und Taten». Wenn Wolf von der «Einbürgerung des deutschen Werkes» spricht, bedeutet dies, dass diese Strukturen von den anderen «Nationen» aufgenommen werden sollen. Es geht um das entscheidendste Beispiel von Wolfs Postulat für die Literaturgeschichtsschrei-

11 Ferdinand Wolf: Zur Geschichte der spanischen Literatur im Mittelalter. In: Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur, S. 5–6. Eigene Hervorhebungen. 12 G. F. W Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S. 67. Eigene Hervorhebungen.

4.3 Wolfs Studien über Spanien und Portugal

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bung: Die Verschiebung der konkreten hin zu einer abstrakten Welt begründete eine andere Art des kolonisierenden Expansionismus.13 Wolfs Programm besteht darin, das «geistige Bündnis» zwischen Deutschland/Österreich und Spanien zu «erneuern» – doch erklärt er hier diesen Prozess noch nicht mit dem Begriff der «Verjüngung» aus Deutschland. Die Idee, dass das «geistige Bündnis» ein wirkliches Klassenbündnis verdecke, besteht jedoch bereits. Eine Passage aus der zweiten Studie «Über die Romanzenpoesie der Spanier» zeigt, dass Wolfs Formulierungen hinsichtlich seiner Romantizismus-Theorie noch nicht die Komplexität erreicht hat, die sie in der Geschichte der brasilischen Nationalliteratur erreichen sollte: Die in ganz Europa wiedererwachte Liebe zur Volkspoesie und die wetteifernde Sorge aller Nationen für Erhaltung und Verbreitung ihrer volksmässigen Märchen, Sagen und Lieder sind gewiss eine eigenthümliche und bedeutsame Erscheinung unserer, sonst so unromantischen Zeit. [...] Diese Unkenntnis und Verachtung der volksthümlichen Literatur waren die Folge theils der auf die Spitze getriebenen Einseitigkeit der gelehrt-humanistischen Richtung, indem man achtlos die duftigen, frischen Waldblumen des heimischen Bodens zertrat um schöne Petrefacte oder Marmorbüsten aus fernen Zeiten und fremden Ländern auszugraben; theils der alles Selbstbewusstseins beraubten knechtischen Versunkenheit der Völker selbst, die über der kleinlich-habsüchtigen, bloss auf äusserliche Vergrösserung gerichteten Politik jener seit dem dreissigjährigen Kriege immer schamloser auftretenden «Staatspraxis» jedes begeisternde Gefühl der National-Einheit, jedes Andenken an Stammgenossenschaft vergessen gelernt hatten.14

Zwar spricht Wolf hier wieder von «Nationen» und «National-Einheit», stellt aber die Idee von «Stammgenossenschaft» neben «Völker» im Plural in den Vorder-

13 Diese Haltung Wolfs lässt sich innerhalb der Ansprüche der Habsburgermonarchie einordnen, als die Regierung in Wien nicht nur die Expedition, sondern auch die Veröffentlichung der Ergebnisse der Novara finanzierte: «Diese insgesamt 21 Bände spiegeln einen universalistischen Anspruch wider, der künftig als Ursprung einer modernen, explizit als «deutsch» ausgewiesenen Wissenschaft gefeiert wurde. Diese Ursprungserzählung österreichischer wissenschaftlicher Forschung begründete nach der Niederlage Österreichs gegen Preußen 1866 den Gedanken, dass Wien – wenn schon nicht politisch, so doch in Wissenschaft und Kultur – eine führende Rolle spiele. Die österreichische Weltumsegelung bildete auch das Startsignal dafür, dem universalistischen Wissen eine stärkere Repräsentanz in Österreich zu verschaffen». Brigitte Fuchs: «Rasse», «Volk», Geschlecht. Anthropologische Diskurse in Österreich 1850–1960. Frankfurt/New York: Campus 2003, S. 139. 14 Ferdinand Wolf: Über die Romanzenpoesie der Spanier. Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur, S. 304–305. Eigene Hervorhebungen.

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grund, was seine Vorstellung von einem «geistigen Bündnis» aus der ersten Abhandlung aufruft. Bemerkenswert ist, dass Wolf seine eigene Zeit – das Buch wurde 1859 veröffentlicht – «unromantisch» wahrnimmt. Wie er in Geschichte der brasilischen Nationalliteratur ausführlicher darstellt, war die «gelehrt-humanistische Richtung» dafür verantwortlich, dass der «heimische Boden» vergessen worden sei, dass die «Völker» in der «Knechtschaft» «bewusstlos» versunken seien. Auffällig ist ebenfalls seine Anwendung des Substantivs «Knechtschaft» und nicht «Sclaverei». In der Folge des Textes beschreibt Wolf die politische Rolle der Literatur und der Sprache weiter: Es bedurfte fürwahr einer neuen ‹Geißel Gottes›, der eisernen Faust eines Welteroberers, der das Princip jenes Despotismus und jener Eroberungspolitik in seinen äussersten Consequenzen furchtbar entwickelte, um die Nationen aus dieser Lethargie aufzurütteln und wieder zum Selbstbewusstsein zu bringen; es bedurfte der alles nivellierenden, alle innere organische Entwicklung vernichtenden Zwingherrschaft der Usurpation und Unterjochung, um die Völker das letzte Rettungsmittel ihrer nationalen Eigenthümlichkeit und Selbstständigkeit in der Erhaltung ihrer Sprache und in der Pflege ihrer volksthümlichen Literatur wieder aufsuchen zu machen. So sehen wir fast gleichzeitig mit dem Erreichen des Gipfelpunctes der Napoleonischen Weltherrschaft die Teilnahme der Völker an ihren älteren Sprach- und Literatur-Denkmälern wieder erwachen; dem Donner der Kanonen von Austerlitz und Jena antworteten die ‹Stimmen der Völker in Liedern›, mit dem Schlachtruf der Befreiungskriege erklangen wieder die alten Heldenlieder von den Nibelungen und vom Cid, und mit dem Siege der nationalen Selbständigkeit über die Universalmonarchie war auch in der Literatur der Sieg des volksthümlichen Prinzips über das französisch-classische entschieden.15

Dieser Ausschnitt legt Wolfs Einschätzung von Napoléons Herrschaft und ihrer widersprüchlichen Wirkung offen: Die positive Seite von Napoléons Eroberungspolitik sei eben jene Herstellung der «nationalen Eigenthümlichkeit» durch die Rückkehr zur Literatur und zur Sprache, eine Art Widerstandsstrategie gegen die «Usurpation und Unterjochung». Das liest sich in der Metapher, denn: Gegen die faktische Gewalt der Kanonen gerade im emblematischen Sieg Napoléons in Austerlitz gegen Österreich und Russland seien «Volkslieder» gesungen worden. Dieses Bild synthetisiert Wolfs idealistisch-philosophischen Standpunkt für die (Literatur-)Geschichtsschreibung, dem zufolge die Wirklichkeit vom Ideal abgelöst wird. Der Selbstbewusstseinsbegriff steht auch in diesem Ausschnitt im Zentrum von Wolfs Argumentation: Das Selbstbewusstsein ermöglicht, dass die Literatur und die Sprache eine politische und nationale Bedeutung bekommen. Das zeigt,

15 Ebda., S. 306. Eigene Hervorhebungen.

4.3 Wolfs Studien über Spanien und Portugal

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dass sie zu ideologischen Zwecken erforscht und hervorgebracht werden. Damit begründete Wolf die Relevanz seiner eigenen philologischen Arbeit, nämlich die Etablierung der essentialistischen Korrespondenz zwischen Sprache und Nation. Wolfs letzte Studie in diesem Sammelband ‹Zur Geschichte der portugiesischen Literatur im Mittelalter› beleuchtet seine andere, für das Verständnis von Geschichte der brasilischen Nationalliteratur im Rahmen seines literaturpolitischen Projektes wesentliche These: Die portugiesische Literatur sei nicht «volksthümlich». Wolf beschäftigt sich damit, die portugiesische von der spanischen Literatur zu trennen, denn in seiner Vorstellung habe die zweite Vorrang gegenüber der ersten. Was interessiert Wolf ist es, das «geistige Bündnis» mit Spanien wiederzubeleben – nicht das mit Portugal, denn es bestand keine dynastische Verbindung zwischen beiden Monarchien.16 ‹Zur Geschichte der portugiesischen Literatur im Mittelalter› ist eine Buchbesprechung von Christian Friedrich Bellermanns 1840 herausgegebenem Buch Die alten Liederbücher der Portugiesen oder Beiträge zur Geschichte der portugiesischen Poesie vom dreizehnten bis zum Anfang des sechzehnten Jahrhunderts nebst Proben aus Handschriften und alten Drucken. Aufgrund Bellermanns Veröffentlichung mancher Auszüge verschiedener Cancioneiros konnte Wolf Bouterwecks verbreitete Ansicht widerlegen, dass die portugiesische und die spanische Poesie kulturell so ähnlich wären, dass kein Unterschied zwischen beiden bestünde. Bellermann beschäftige sich, so Wolf, mit der portugiesischen Sprache und Poesie des 12. Jahrhunderts, noch vor Einführung von Hof- und Kunstpoesie. Seine Analyse epischer Ritterlieder in verschiedenen Werken führt Wolf seinerseits zu der Behauptung, dass «die Portugiesen weit früher als die Spanier mit den italienischen Formen der Poesie bekannt worden seien».17 Während die spanische

16 Zwischen 1580 und 1640 befand sich Portugal unter der Herrschaft von Spanien. Portugal wurde nur zu dieser Zeit von einem Kaiser aus dem Haus Habsburg regiert. Ab 1516 regierte Karl V. in Spanien. Zwischen 1147 (Gründung des portugiesichen Reichs) und 1383 (Avis’ Revolution) regierte in Portugal das französische Adelshaus Burgund. 17 Ferdinand Wolf: Über die Romanzenpoesie der Spanier, S. 307. Im Mittelpunkt von Wolfs Interesse sind jedoch die Liederbücher, die sogenannten Cancioneiros, die «nach den Mustern der altprovenzalischen oder Troubadourpoesie gebildet, und in galicischer oder altportugiesischer Sprache abgefasst worden sind», S. 696. Wolf postuliert, dass die Cancioneiros Zeugnisse der Bildung portugiesischer Poesie seien und daher ein Beweis dafür, dass die Kunstlyrik früher in Galicien und Portugal entstand als in Kastilien. Der Unterschied zwischen beiden, so Wolf, wäre, dass die portugiesische «von vorn herein als höfische, nach fremden (provenzalischen) Mustern gebildet erscheint, der nicht, wie der kastilischen, eine einheimische, aus volkstümlichen Elementen hervorgegangene, und darauf basiert echt nationale, noch halb volks-, halb kunstmäßige Dichtung vorausgegangen war», S. 697. Eigene Hervorhebungen.

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4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes»

Poesie ein «volksthümliches Princip» hatte, hatte die portugiesische ihre «Wurzel» im «Fremden». Wolf definiert sie als eher rezeptiv denn produktiv und hält Camões und Gil Vicente für «vereinzelte Erscheinung[en] ohne nachhaltige Wirkung».18 Wolf beschäftigt sich so intensiv mit den Anfängen der portugiesischen Poesie, dass er sogar das erste wichtige Cancioneiro Portugals, das Cancioneiro d’El Rei D. Diniz, das in der Bibliothek des Vatikan aufbewahrt wird, zum ersten Mal ausfindig macht. Ferreira França erwähnte es in einem Brief an Wolf, wie bereits im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit dargestellt wurde. Nach der ins Detail gehenden Analyse von Bellermanns Darstellung der portugiesischen mittelalterlichen Literatur schließt Wolf seine Rezension mit dem kategorischen Urteil ab, die beiden «Principien» der spanischen und portugiesischen Literatur stünden in Konflikt und deuteten eher auf ihre Verschiedenheit als auf ihre Einheitlichkeit hin. Eindeutig ist, dass Spanien und Portugal entsprechende Nationalliteraturen entwickelten, wobei sie unterschiedliche Wege einschlugen. Diese Darstellung von Wolfs Deutung kann einen Begriff davon geben, wie sich hier zwei verschiedenen Haltungen bezüglich des kulturellen Austauschs erschließen. Für die einen ergeben sich die kulturellen Produkte aus einer Praxis, die auf einem kulturideologischen Expansionismus aufgebaut ist. Portugal sei beispielhaft, denn das Land sei ständig unter ‹fremden Einflüssen› gewesen, wie etwa aus Italien und Frankreich. Für die anderen folgen die kulturellen Produkte aus Importen, die sich aus dynastischen Verbindungen ergeben. Wolf schätzt Spanien, weil es ein vollkommener Ausdruck des ‹Eigentümlichen› und infolgedessen des ‹Nationalelements› sei. Wolf behauptete, Spanien habe sich nie von der überlieferten Lebensweise gelöst, sei der Tradition politisch und kulturell verpflichtet und lehne die Ideen der Aufklärung und die Ergebnisse der Französischen Revolution ab. Besonders relevant an Wolfs Auseinandersetzung mit der Literaturgeschichtsdeutung von Spanien und Portugal, für die Betrachtung von Wolfs literaturpolitischem Projekt und von Le Brésil littéraire, ist die Tatsache, dass die brasilianische Literatur sich aus der portugiesischen entwickelte und daher in seiner Logik eigentlich von Anfang an «weniger organisch und originell» sein musste.19

18 Ebda., S. 697. 19 Ferdinand Wolf: Geschichte der brasilischen Nationalliteratur, S. 9.

4.4 Letzte Briefe und Dokumente über Le Brésil littéraire

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4.4 Letzte Briefe und Dokumente über Le Brésil littéraire Die Untersuchung der letzten Briefe und Dokumente, die während der und über die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire verfasst wurden, bietet weitere Ergänzungen und Belege für die Ergebnisse des Close Reading und die Darstellung von Wolfs literaturpolitischem Projekt. Betrachtet man den roten Faden von Wolfs Briefwechsel aus dem zweiten Kapitel der vorliegenden Studie, so gewinnt man den Eindruck, dass das Jahr 1862 nicht so glücklich begann: Wolf beklagte sich wiederholt bei seinem Freund Ludwig Lemcke wegen der stockenden Fortschritte der Publikation und der französischen Übersetzung. Sein Unbehagen lässt sich anhand eines weiteren Schlüsseldokuments beweisen, einem Brief von Wolf an Lemcke vom 12. Januar 1862, also elf Tage vor dem Brief des Übersetzers Dr. van Muyden an Wolf. Hier ergeben sich maßgebliche Anhaltspunkte für Wolfs Einschätzung der Persönlichkeit von Dr. van Muyden. Beide haben sich wahrscheinlich nicht persönlich kennengelernt und an keinem anderen Buch- oder Übersetzungsprojekt zusammengearbeitet. Eben in den letzten zwei Wochen war ich sehr beschäftigt, die mir zugesandte französ. Übersetzung der ersten vier Perioden [des Brésil lit.] zu revidieren um meine Bemerkungen dem Übersetzer (Dr. van Muyden in Berlin, kennen Sie ihn etwa?) mitzuteilen. Er ist ein unterrichteter Mann, der nicht nur seine Muttersprache (die Französische) korrekt und elegant schreibt, sondern auch der deutschen Sprache so vollkommen mächtig ist, dass seine Briefe den Ausländer nicht erkennen ließen.20

Auffällig ist die Art und Weise, wie Wolf Van Muydens Sprachfähigkeit beschreibt: Zunächst bewertet er seinen Stil in der Muttersprache positiv, dann seine Beherrschung des Deutschen als Fremdsprache. Das Ausländertum Van Muydens wird durch die Begabung kompensiert, sich in einer Fremdsprache, hier im Deutschen, meisterhaft auszudrücken. Die folgenden Sätze lassen vermuten, dass Wolf die Übersetzung als unabhängige Einheit als gelungen betrachtete. Im gleichen ehrlichen Ton gibt er jedoch seinem Freund Lemcke gegenüber zu: Auch habe ich alle Ursache mit seiner Übertragung im ganzen zufrieden zu sein; aber gerade die Stellen, welche die eigentümlich deutschen und meine individuellen Ansichten von der literarhistorischen Entwicklung und bei der ästhetischen Beurteilung des Einzelnen enthalten, sind oft bis zum Unkenntlichen französiert und verflacht, was er allerdings nicht mit Unrecht dadurch entschuldigen konnte, dass das Französische teils für so viele Ausdrücke unserer

20 Edmund Stengel: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, S. 37. Eigene Hervorhebungen.

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Kunstsprache keine Äquivalent habe (wie. z. B. für volkstümlich, im Unterschied zu volksmäßig und von national), teils keine so freien Wörter- und Satzbildungen, so gehäufte Epitheta, lange Periode usw. vertrügen, kurz ich musste es mir gefallen lassen, meine deutsche Bärenhaut mit dem habit habillé zu vertauschen, um in die literarisch-gebildete societé eingeführt werden zu können!21  

Es wird in dieser Passage ersichtlich, dass Autor, Verleger und Übersetzer sich hinsichtlich einer passenden Übersetzungsmethode nicht im Vorhinein verständigten. Die Übersetzungsverfahren werden von Wolf als «Verflachung» und «Französierung» beschrieben. Die französische Sprache sei oberflächlich, die deutsche Sprache sei eine «Kunstsprache». Geradezu drastisch erweist sich die Idee der «Verflachung»: Die Komplexität von Wolfs Gedankengang, der sich nur an eine bestimmte philosophische Tradition, die des Deutschen Idealismus anlehnt, ist nicht wiedergegeben. So wird aus einem alltäglichen Briefwechsel Wolfs deutlich, dass Wolf grundsätzlich von einer sehr engen Verbindung zwischen Nation und Sprache überzeugt war. Die deutsche Sprache sei freier in der Wort- und Satzbildung, besser im Umgang mit langen Sätzen und genauer in der Begriffsbestimmung. Es ist davon auszugehen, dass Wolfs nationalistische Ansichten sich in seiner Bewertung der deutschen Sprache widerspiegeln: Sie stehe über den anderen Sprachen, weil es ihr möglich sei, die Vielschichtigkeit des «Geistes» angemessen auszudrücken. Es gebe also «kein Äquivalent» für in Wolfs Sicht entscheidende Ausdrücke, wie etwa «volkstümlich», «volksmäßig» und «national», deren Unterschiedlichkeit in der Übersetzung nicht übertragen worden sei. Wolfs enttäuschter und bedauernder Ton erklärt sich erstens aufgrund des Mangels an wissenschaftlicher Präzision in Van Muyden’s Übersetzungsarbeit und zweitens aufgrund der Verkehrung seines literaturpolitischen Projekts der «Einbürgerung des deutschen Werkes». Es geht nun um den Prozess der Französierung des «deutschen Werkes» – was also von «den anderen Nationen» eingebürgert wird, ist nicht mehr das «Deutsche Werk», sondern das «Französische Werk». Hier tritt in einer umgekehrten Form das Identitätsproblem hervor, das gleichfalls den kulturhistorischen Inhalt des Buches betrifft: Die Herkunft der Schrift ist nicht mehr erkennbar, weder ihre «nationale» und «sprachliche» «Abstammung», noch ihre Autorschaft. Wolf kann aus der Übersetzung sein literaturpolitisches Projekt nicht mehr ersehen, seine «literaturkritische» und «originelle» Untersuchung sei verlorengegangen. Am Ende des Zitates fasst Wolf zusammen, was ihm die Übersetzung von Le Brésil littéraire in Wirklichkeit bedeutet: Die Verschaffung einer Art Genehmigung

21 Ebda. Eigene Hervorhebungen.

4.4 Letzte Briefe und Dokumente über Le Brésil littéraire

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zum Eintritt in eine bestimmte Gesellschaft, die «literarisch-gebildete societé». Offensichtlich geht es ihm um eine Kritik der vermeintlichen «Vorherrschaft» der französischen Sprache und Kultur. Wolfs Unsicherheit hinsichtlich der Rezeption von Le Brésil littéraire taucht in seinen letzten Briefen ständig auf. Mit dem Ausdruck «gefallen lassen» deutet Wolf an, dass die französische Übersetzung ein unangenehmes, wohl unerwartetes Geschehen gewesen sei. Der Kontrast zwischen Deutschland und Frankreich wird als Metapher auf einer außerliterarisch wahrnehmbaren Ebene behandelt: Der Bezug auf die Bekleidungen «Bärenhaut» und «habit habillé» verweist auf zwei stereotype Bilder beider Kulturen, die eine erscheint als rau und wild, ursprünglich und natürlich, die andere als raffiniert und gebildet, jedoch auch vorübergehend und künstlich. Im Gegensatz zu einer Bärenhaut ist ein «habit» durch menschliche Arbeit hergestellt, was die damalige, vermeintlich fortgeschrittene Entwicklung in Frankreichs sozial-politischem Leben bezeichnen könnte. Dabei bezieht sich das französische Wort auf die typische französische Mode bei Hofe, die auf Frankreichs Kaisertum und Macht verweist.22 Am 29.12.1862 berichtete Gonçalves de Magalhães der brasilianischen Regierung, dass Le Brésil littéraire erschienen war und dass dem Kaiser Dom Pedro II. ein Exemplar geschickt werde: O Dr. Fernando Wolf, tendo obtido o necessário prasme para poder dedicar à Sua Majestade O Imperador a sua História da Literatura do Brasil, que acaba de sair à luz, entregou-me para fazer chegar ao seu Alto destino, o exemplar dessa obra, que agora remeto, pedindo a V. Ex. queira ter a bondade de pô-la aos pés do mesmo Augusto Senhor da parte do ilustre literato, honrado pelo Seu Soberano, por tantos Monarcas estrangeiros, e pelas principais Academias da Europa, entre estas o Instituto de França, como se vê dos títulos que acompanham o seu nome no frontispício desta importante obra; títulos que abonam a imparcialidade e a independência de seu juízo acerca da importância da nossa literatura, e realçam o serviço que acaba de prestar à glória de nosso País, pelo que merecerá sem dúvida a consideração do Governo Imperial.23

22 Nach diesem etwas bitteren Ton beendet Wolf seinen Brief mit folgendem Absatz: «Ich habe noch den ganzen Winter vollauf zu tun, um die noch übrigen vier bis fünf Kapitel auszuarbeiten und den Druck, der nun bald beginnen soll, nicht aufzuhalten; vielleicht wird es möglich, das Buch bis zur Michaelis-Messe fertig zu machen. Als ich vor drei Jahren die Arbeit begann, hätte ich nicht geglaubt, dass sie mich so lange in Anspruch nehmen würde!» Ebda. Eigene Hervorhebungen. Wülker berichtet, dass am 22.11.1862 (Brief 105) Ebert Wolfs Brésil littérarie mit großer Neugier erwartete, weil er es im Literarischen Zentralblatt anzeigen wollte, was er auch tatsächlich tat. Richard Wülker: Briefwechsel zwischen Adolf Ebert und Ferdinand Wolf, S. 106. 23 Arquivo Histórico do Itamaraty, Viena 1861–1862, 232/4/10. Eigene Hervorhebungen.

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4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes»

Magalhães hebt in diesem offiziellen Bericht Wolfs Auszeichnungen24 als Beleg seines unparteiischen Umgangs mit der Wissenschaft und der Geschichtsschreibung hervor, eine Tendenz, die sich in der Auseinandersetzung mit Wolfs Werk und mit seiner Biographie oft wiederholt, wie im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde. Auch hier könnte seine Beurteilung ganz anders ausfallen: Magalhães weiß, dass Wolf ihn und seine Werke zum Mittelpunkt von Le Brésil littéraire macht. Er ist sich bewusst, dass Wolf tendenziös in der Beurteilung der Literatur Brasiliens ist, denn die ‹Feinde› des Kaisers Dom Pedros II. werden nicht im Buch behandelt. Magalhães weiß ebenso – und die vorliegende Studie hat dies gezeigt –, dass Wolf seine Studie zunächst ihm widmen wollte. Indem Magalhães Wolfs anerkannte Bedeutung als Gelehrter hochschätzt, versucht er, erstens Wolfs Titel über seine Leistung zu stellen und zweitens, die Rezeption der Studie in Brasilien zu lenken.25 Darüber hinaus sagt Magalhães eindeutig, dass Wolf sich mit seinem Buch in den Dienst der Ehre Brasiliens stellte und er daher entsprechend offiziell anerkannt werden sollte. Wolf zieht in einem Brief an Lemcke vom 31.01.1863 eine Bilanz, wie er die eigene Arbeit zur Literaturgeschichte Brasiliens sieht:

24 Auf dem Titelblatt von Le Brésil littéraire ist eine Art Lebenslauf Wolfs zu lesen. So wird er seinem Publikum vorgestellt: «Docteur en philosophie, conservateur de la Bibliotheque Imp. de Vienne, chevalier de l’Ordre Imp. Autrichien de François-Joseph, commandeur (de número) de l’Ordre Roy. Espagnol de Charles III, membre de l’Ordre Roy. Bavarois de Maximilien pour le mérite scientifique, chevalier des Ordres Royaux d’Isabelle la Catholique, du Christ (de Portugal), du Danebrog et de la Legion d’Honneur; membre et secrétaire de l’Académie Imp. des Sciences de Vienne, membre de l’Academie Roy. de Munic, de la Societe Roy. d’Histoire et de Langue Danoises de Copenhague, membre honoraire du Comité Flamand de France, membre correspondant de l’Institut de France (Académie des Inscriptions et Belles-lettres), de l’Academie Roy. de Berlin, de la Société des Sciences de Goettingue, de la Société d’Histoire de Madrid, des Sociétés des Antiquaires de Londres, d’Edimbourg, et de la Normandie, etc.» 25 Magalhães erwähnt in einem einleitenden Hinweis der zweiten Auflage seines eigenen Essays über die brasilianische Literaturgeschichte, ursprünglich aus dem Jahr 1836, Wolfs Le Brésil littéraire: «Ultimamente um sábio filólogo alemão, o Dr. Ferdinand Wolf, conhecedor profundo da literatura dos povos de origem latina, notando o extraordinário desenvolvimento da nossa nestes últimos tempos, pela quantidade de obras desconhecidas na Alemanha que a comissão científica da fragata Novara levou do Brasil à Viena, encarregou-se de mostrar à Europa no seu Brasil literário que já possuímos uma literatura própria, que pelo seu caráter especial se distingue da portuguesa. Esta obra escrita com toda a imparcialidade de um juiz tão idôneo como competente, é o mais seguro e completo guia nesta matéria aos nacionais como aos estrangeiros». Domingos José Gonçalves de Magalhães: Advertência ao Discurso sobre a história da literatura no Brasil. In: Opúsculos históricos e literários. Rio de Janeiro: Garnier 1865, S. 240.

4.4 Letzte Briefe und Dokumente über Le Brésil littéraire

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[...] Es soll mich sehr freuen, wenn mein Brésil littéraire Ihren freundlichen Erwartungen einigermassen entspricht. Jetzt, da das Buch mir... wie fremd geworden ist, kommen mir manchmal Bedenken, ob ich den Gegenstand nicht überschätzt habe, was während man sich damit beschäftiget, so leicht geschieht? – Ich tröste mich damit, dass die in Europa fast ganz unbekannte brasilische Literatur wenigstens neben der cechischen, magyarischen usw. eine Stelle wohl verdiene. Sollten Sie es der Mühe werth finden, mein opus etwa in den Blättern f. literar. Unterhaltung zu besprechen, so würden Sie mich und meinen Verleger sehr dadurch verpflichten. Betrachten Sie aber diesen Wunsch durchaus nicht als eine Zumuthung, pochend auf Ihre mir so oft bewahrte freundliche Gesinnung.26

Die Bedeutung, die er Le Brésil littéraire beimisst, lässt sich anhand dreier Punkte dieser Passage ausführlicher erschließen. Erstens, Wolf gesteht ein, dass er die Bedeutung der brasilianischen Literatur womöglich überschätzt hat. Diesen Eindruck bekommt er wohl aufgrund der französischen Übersetzung: Seine wiederholten Beschwerden in den letzten Briefen an Lemcke münden hier in der Überzeugung, dass das Buch ihm «fremd» geworden sei. Sein Unbehagen kompensiert er mit dem Argument, dass er zum ersten Mal die brasilianische Literatur umfassend in Europa präsentiert. Das heißt, er hat sich für sein Werk ein vorwiegend europäisches Publikum vorgestellt. Darüber hinaus übernimmt er die Verantwortung für die Auswahl des Themas, für die Vorgehensweise und die Beurteilungen. Zweitens stellt Wolf die brasilianische Literatur «neben [die] cechische[n], magyarische[n] usw.». Diese Passage führt den entscheidenden Beweis dafür ein, dass er mit seinem Werk expansionistische Ansprüche verfolgte, selbst wenn sie nicht wortwörtlich in der Geschichte der brasilischen Nationalliteratur zu lesen sind: Für Wolf gehörte Brasiliens zum Kaisertum Österreich, es ist eine weitere «Nationalität» im Vielvölkerreich, neben der tschechischen und der ungarischen. Wolf nutzt vielleicht auch aus diesem Grund in Geschichte der brasilischen Nationalliteratur das Wort «Mutterland» an der Stelle von «Portugal». Das könnte die Zugehörigkeit Brasiliens zum Vielvölkerreich absichtlich in verwirrender Weise andeuten. Drittens sieht Wolf die geringe Rezeption des Buches voraus. Er bedankt sich bei Lemcke im Voraus auch im Namen seines Verlegers (hier werden weder der Name des Verlags noch der des Verlegers erwähnt) für eine eventuelle Rezensi-

26 Stengel Edmund: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, S. 39. Eigene Hervorhebungen. Etwas Ähnliches schrieb Wolf an Lemcke am 30.08.1858, als er die Revision seiner Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur vollendente: «Dies Unternehmen hat mir übrigens mehr Arbeit gemacht als ich dachte, und mich fast ein ganzes Jahr beschäftigt», S. 33–34.

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4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes»

on.27 Das Thema der Rezension von Le Brésil littéraire taucht auch im Brief am Lemcke vom 20.07.1863 wieder auf: Ferner schrieb mir Ebert, dass Sie so gütig sein wollten, eine kurze Anzeige meines Brésil littéraire für das Centralblatt zu schreiben, wofür ich Ihnen im Voraus meinen besten Dank sage.28

Am 22. August 1863 erschien tatsächlich, allerdings ohne Nennung des Autors, eine Besprechung von Le Brésil littéraire im Literarischen Centralblatt für Deutschland.29 Die Rezension nimmt eine positive Beurteilung von Wolfs Buch vor, das als «schönes, hochverdienstliches Werk» gelobt wird. Trotz «verschiedenartigen Schwierigkeiten», «fast gänzlichem Mangel an Vorarbeiten» und «Seltenheit und Schwerzugänglichkeit der Quellen» behandele Wolf ein Thema, das bis zu diesem Moment in Europa ein «so gut wie unbekanntes Gebiet der Literaturwissenschaft» gewesen sei und «in Brasilien selbst noch keine zusammenhängende Darstellung»

27 In der Zusammenfassung von Wolfs Briefwechsel mit Ebert kommentiert Wülker, dass Ebert am 14. Februar 1863 (Brief 107) Wolf’s Brésil erhalten habe, es aber wegen vieler Arbeiten kaum angesehen hätte (S. 106). Später, am 11. Juli 1863 (Brief 110) heißt es, Ebert wolle gleich Wolf’s Brésil genau durchlesen und für die Allgemeine Zeitung anzeigen. Lemcke werde es für das Centralblatt und ausführlicher für das Jahrbuch rezensieren (S. 107). Am 7. September 1863 (Brief 112) teilte Ebert sein Urteil über die Schrift ‹Le Brésil littéraire von Wolf› mit (S. 108). Und am 15. Oktober 1863 (Brief 113) sprechen beiden über Eberts Anzeige (S. 108). Richard Wülker: Briefwechsel zwischen Adolf Ebert und Ferdinand Wolf. 28 Edmund Stengel: Zur Geschichte der romanischen Philologie in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, S. 40. Eigene Hervorhebungen. 29 Literarisches Centralblatt für Deutschland 34 (22.08.1863), S. 807–808. In einer Passage der Rezension heißt es: «Denn wenn wir an Dutzenden von Beispielen sehen, wie selbst sonst tüchtige Köpfe an der Darstellung der Nationalliteratur bloß darum scheitern, weil ihnen der scharfe Blick und das feine Gefühl für das spezifisch Volkstümliche fehlt, selbst wo dieses Volkstümliche sich in verhältnismäßig markierten Zügen und scharfen Gegensätzen ausprägt, so werden wir die Zahl der zur Aufgabe wahrhaft Berufenen für sehr fein halten müssen, wo es sich um die Literatur einer erst im Werden begriffenen Nationalität handelt, die außer durch das starke Band der Sprache noch durch tausend feine geistige Fäden mit der Mutternation zusammenhängt, an der also nur ein sehr scharfes, an seinem Stoffe lange geübtes Auge jene feinen Nuancen unterscheiden kann, welche die junge Pflanze zwar nur erst als eine auf anderem Boden und unter einem anderem Himmel gezeitigte Varietät ihrer Species bezeichnet, aber als eine Varietät, die zu eigentümlicher Entwicklung berufen ist und Anspruch auf selbstständige Betrachtung hat. Dass in diesem Sinne von einer brasilianischen Literatur die Rede sein kann und muss, zeigt der Verfasser in der Vorrede, und die ganze Darstellung liefert einen neuen Beweis, dass er, wie kein Anderer, der Mann ist, die Aufgabe, welche es sich hier handelt, zu lösen. Sein Buch darf daher nicht nur den Anspruch machen, dass erste über den Gegenstand zu sein, es wird auch, wenn uns nicht alles trügt, lange das einzige, und wahrscheinlich noch länger das beste bleiben». Eigene Hervorhebungen fett, Hervorhebungen im Original kursiv.

4.4 Letzte Briefe und Dokumente über Le Brésil littéraire

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gefunden habe. Der Verfasser kann Wolfs Behauptung nachvollziehen, dass Portugal kein «selbstständiges Volkstum anerkennen will» und daher auch den Zugang zu brasilianischen Büchern in den portugiesischen Bibliotheken verhindere. Die Besprechung gibt Wolfs Epocheneinteilung der brasilianischen Literatur wieder. Das Ziel des anonymen Verfassers, wahrscheinlich Lemcke, ist es offensichtlich, Le Brésil littéraire in bestimmten intellektuellen Kreisen einzuführen und dadurch eine breitere Leserschaft zu erreichen. Zwei Anmerkungen über die Spezifik von Wolfs Methode der Literaturgeschichtsschreibung fallen in der Besprechung auf: Als einen großen Vorzug des Buches betrachten wir es, dass der Verfasser den Notizen über das Leben der bedeutenderen Dichter etwas mehr Raum gegönnt hat, als es sonst und zwar zu nicht geringem Nachteile für die richtige Erkenntnis ihrer Stellung in der Literatur in Werken dieser wohl zu geschehen pflegt. Wir wollen der Anekdotenkrämerei, in welcher sich z. B. die Engländer bei der Behandlung ihrer Literaturgeschichte ergehen, nicht das Wort reden, aber sie hat auch ihr Gutes und zwischen ihr und dem dürren Todtenlistenstil mancher deutschen Literaturgeschichten: ‹er ward geboren, machte seinen Doktor in X. und starb›, liegt eine verständige Mitte, und diese scheint uns Wolf richtig getroffen zu haben.30  

Dieser Besprechung kann man vor allem zweierlei entnehmen: Zum einen wurde Wolfs Buch in Europa offensichtlich kaum wahrgenommen, zum anderen ist er augenscheinlich Teil eines Netzwerkes von Romanisten, die sich gegenseitig lesen und in ihren literaturpolitischen Ansprüchen stärken. Der letzte Brief von Porto-Alegre an Wolf ist mit dem 28.04.1863 datiert. Um sich für Wolfs Behandlung und Beurteilung seiner Werke in Le Brésil littéraire zu bedanken, nutzt Porto-Alegre eine pathetische Ausdrucksweise, wie es auch sonst üblich für ihn ist: Por uma carta do Sr. Magalhaens soube que a V. Sa. não chegara a carta que lhe escrevi, agradecendo os seus obsequios. Disse n’aquela ocasião que V. Sa. tinha sido nimiamente bom para comigo, elevando-me a uma altura que não mereço, disse que via no seu livro uma certa affeicção, que muito me sensibilisava, e que me movia uma eterna gratidão; disse mais, que a sua obra é um monumento erguido ao meu pobre paiz, e que ella faria fructificar grandes bens, não só aos litteratos, como a entidade geral, à nação. Disse o que o meu coração agradecido sentira; e se adivinhasse do resultado teria novamente escripto de Berlim, onde estive agora mez e meio, por causa d’esta saúde, que está uma verdadeira teia de Penellope, que se urde e se tece no verão e se desmancha no inverno. Espero passar mais tarde por Vienna e ahi de viva voz, e com o coração nos labios repetir-lhe os meus mais sinceros agradecimentos.

30 Ebda.

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4 Wolfs literaturpolitisches Projekt der «Einbürgerung des deutschen Werkes»

Não creia V. Sa. que me escaparam os seus altos conselhos porque os acolhi com respeito, e com proposito de os aproveitar no trabalho que tenho em mãos, segundo o permittirem a minha naturesa e limitada intelligencia. [...]31

Es scheint sich nicht um einen Abschiedsbrief zu handeln. Mit dem Brief schickte Porto-Alegre Wolf weitere Bücher über brasilianische Literatur. Er plante auch eine Reise nach Wien, um sich persönlich bei Wolf zu bedanken. Jedoch endet der Briefwechsel an dieser Stelle. Vielleicht hatte der Kontakt zwischen beiden nur das Ziel, die Fertigstellung des Buches zu begleiten. Tatsächlich besteht kein weiterer brieflicher Kontakt mit anderen Brasilianern nach 1863 und bis zu Wolfs Tod im Jahr 1866. Porto-Alegre erwähnt im Postskriptum dieses Briefes, dass er in der Zeitung Diário do Rio de Janeiro gelesen hat, «Ihre Bücher» seien schon geliefert worden. Wahrscheinlich hat Wolf gefragt, ob Dom Pedro II. ein Exemplar bekam, wahrscheinlich hatte er keine Rückmeldung aus Brasilien bekommen. In der brasilianischen Zeitung Diário do Rio de Janeiro wurde am 9. März 1863 die Veröffentlichung von Le Brésil littéraire angekündigt.32 Dabei handelt es sich jedoch um die Kopie eines Eintrags aus der portugiesischen Zeitung Gazeta de Portugal, der wiederum die Übersetzung einer Besprechung aus der Zeitschrift Bibliothèque Universal ist.33

31 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. und 504.4 Novi, fol. 1.8. 32 Ferdinand Wolf wurde schon vor dieser Angelegenheit zwei Mal in derselben Zeitung lobend erwähnt. Am 16. November 1861 (Ausgabe 00313 1) wird angezeigt: «O Sr. Ferdinand Wolf, de Viena de Áustria, que há tempos noticiamos publicará um interessante trabalho sobre Antônio José e suas obras e acaba de publicar um belo ensaio sobre o Sr. Domingos José Gonçalves de Magalhães e a literatura brasileira. Distingue-se esse trabalho por conhecimentos especiais da nossa literatura e por um juízo imparcial e benévolo sobre os nossos escritores. Ainda bem que se vá fazendo na Europa justiça aos que a merecem». Im Jahr 1862 (Ausgabe 0153) ist folgende Meldung zu lesen: «O Sr. Inocêncio Francisco da Silva, autor do Dicionário bibliográfico, tem recebido de vários sábios estrangeiros as mais lisonjeiras manifestações de apreço pelos seus trabalhos literários. O Sr. Wolf, biliotecário de Viena, e o Sr. Ferdinand Denis escreveram-lhe elogiando a obra do nosso ilustrado compatriota». Die Bemühung von Seiten der Zeitung, Wolfs Namen für das allgemeine Lesepublikum in Rio de Janeiro weniger fremd zu machen, scheinen auch als eine Art Vorbereitung für die Veröffentlichung von Le Brésil littéraire zu sein. 33 Die Rezension vom 09.03.1863, die keine Autorangabe hat, wird hier zitiert: «Obra sobre o Brasil. – Lê-se na Gazeta de Portugal: Sob este título (Brasil literário), acaba de se imprimir em Berlim, sendo editores os Srs. Asher & C., uma história da literatura brasileira, seguida de notável seleção de excertos dos melhores autores brasileiros. Esta obra é do Sr. Fernando Wolf, escritor mui reconhecido na Europa. Ainda não a vimos, porém encontramos na Biblioteca Universal, de Genebra, a seguinte notícia da obra, e apressamo-nos em transcrevê-la: Por muito tempo os europeus estabelecidos no Brasil, lutando continuamente com o clima dos trópicos, apenas cuidavam

4.4 Letzte Briefe und Dokumente über Le Brésil littéraire

223

Die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire endet mit dem Bericht von Gonçalves de Magalhães vom 03. Juni 1863: Acusando a recepção do Despacho de V. Ex.ª datado de 5 de março ultimo sob n.º 3, que me communicou ter Sua Majestade O Imperador agraciado o Dr. Fernando Wolf com o Officialato da Imperial Ordem da Rosa; e bem assim a recepção do Officio da Directoria Geral de 17 do dito mez, acompanhado da Carta Imperial, e da respectiva insignia; cumpre-me declarar a V. Ex.ª que o Dr. Wolf, a quem entreguei o que lhe era destinado, mostrou-se extremamente satisfeito, e penhorado, pela honra que Sua Majestade O Imperador Se Dignou conceder-lhe, e pedio-me que levasse em seu nome aos pés do Throno Imperial as cordiaes, e respeitosas expressões do seu indelevel reconhecimento por essa tão subida graça.34

Offenbar war Wolfs einzige «Belohnung» für seinen Verdienst die Vergabe des Ordens der Rose. «L’insigne faveur», den Wolf in seiner Widmung an Dom Pedro II. erwähnt, bezieht sich also wohl auf Dom Pedros II. Erlaubnis, ihm das Werk zu widmen. Wie aus den anderen Berichten von Magalhães aus Wien nach Rio de Janeiro herauszulesen ist, handelte er als Hauptvermittler zwischen Wolf und Dom Pedro II.

na conservação da existência. Afinal, pelos princípios de século XVII, foram aparecendo alguns ensaios literários, puramente imitativos, e em seguimento outras obras mais importantes, mas sem se diferenciarem em coisa alguma das de Portugal; foi preciso que o sopro da liberdade viesse animá-las para dar-lhes um caráter original. Na segunda metade do século XVIII, uma escola inteira de poetas, sonhando já com a independência da pátria, provou com os seus cantos que podia aquele país ter uma vida literária propriamente sua. O ano de 1808, que obrigou a família real a refugiar-se no Brasil, a proclamação da independência e a elevação do imperador D. Pedro I ao trono desenvolveram estes princípios, e à terra de Cabral só faltava um gênio capaz de os fortalecer. Foi Magalhães esse gênio. vivamente impressionado pela escola romântica francesa e pelos poetas ingleses, resolveu seguir-lhes as pisadas, e pouco depois doou ao país produções em todos os gêneros, verdadeiramente brasileiras. Numerosos discípulos vieram agrupar-se em torno do mestre, e as obras daqueles, não tendo toda a grandeza de concepção deste último, são contudo notáveis por muitos títulos. O Brasil possui hoje uma literatura sua, digna de ocupar um lugar a par de suas irmãs europeias. O mérito de haver dado à luz as riquezas literárias do grande império americano pertence inteiramente ao Sr. Fernando Wolf, de Viena, de quem pelo mundo científico são conhecidos e apreciados os trabalhos sobre as línguas romanas. O seu livro é o primeiro e único parecido na Europa sobre aquele assunto, e seria impossível avaliar quantas fadigas e indagações ele não custaria. Em um relancear, o Sr. Wolf soube apresentar-nos um quadro tão completo e verdadeiro do movimento intelectual do Brasil, que os seus sucessores pouco terão a acrescentar-lhe. Além disso, para o leitor se tornar também juiz da sua história literária, adicionou-lhe o autor uma antologia, que sem dúvida aumentará o número de leitores do livro.» Online auf der Webseite der Biblioteca National do Rio de Janeiro. http://memoria.bn.br/DocReader/Hotpage/ HotpageBN.aspx?bib=094170_02&pagfis=17189&url=http://memoria.bn.br/docreader# [letzter Zugriff am 3. Mai 2018] 34 Arquivo Histórico do Itamaraty, Konvolut Legação Imperial na Áustria, 1863–1867, 232/4/11.

5 Schluss: Das Scheitern von Wolfs literaturpolitischem Projekt Die vorliegende Arbeit hat an erster Stelle die Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire rekonstruiert und das Werk als historisches Dokument untersucht. Es war nicht ihr Ziel, Wolfs Beurteilung brasilianischer Autoren und ihrer Werke zu überprüfen und sie aus einer literaturwissenschaftlichen Sicht neu zu interpretieren. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stand das nie gedruckte deutschsprachige Manuskript Geschichte der brasilischen Nationalliteratur, das philologisch mit der gedruckt erschienenen französischen Übersetzung verglichen wurde. Durch die vergleichende Betrachtung der beiden Fassungen eröffneten sich neue Interpretationsmöglichkeiten für die Gründe, die Wolf dazu bewogen, über Brasilien zu schreiben. Die Analyse von in Archiven und Bibliotheken gefundenen Briefen, Hausakten und Berichten, neben der Erschließung weiterer Werke Wolfs und ihrer wenigen KommentatorInnen, ermöglichten es, Wolfs Buch über Brasilien in sein literaturpolitisches Projekt einzuordnen. Nicht zuletzt war die zweite Absicht dieser Arbeit, eine Sammlung von bis jetzt unveröffentlichten Materialien und ihre Transkriptionen zur Verfügung zu stellen.

5.1 Geschichtsschreibung als soziale Praxis Mein Grundgedanke zum Begriff der Literaturgeschichte greift auf die Reflexionen Reinhart Kosellecks in seinem Eintrag über ‹Geschichte, Historie› in den Geschichtlichen Grundbegriffen zurück.1 Obwohl er sich nicht direkt mit Literaturgeschichte befasst, gehe ich von einigen strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Begriffen aus. Koselleck stellt fest: Der Streit um Geschichte, speziell um ihren Begriff, war nicht nur ein methodischer, wissenschaftstheoretischer oder wissenschaftspolitischer Streit. Er reicht tief in die politische und soziale Dimension des Sprachfeldes, denn dem Begriff wohnte als einem generellen Bewegungsbegriff auch jene integrative und distanzierende Kraft inne, die politisches Handeln motivieren konnte.2

Zwei Hinweise von Koselleck sind von großer Bedeutung für meine Vorgehensweise: Zum einen ist der Begriff «Geschichte» nicht frei von politischen und ge-

1 Reinhart Koselleck: Geschichte, Historie. 2 Ebda., S. 708. https://doi.org/10.1515/9783110697889-005

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5 Schluss: Das Scheitern von Wolfs literaturpolitischem Projekt

sellschaftlichen Auseinandersetzungen. Im Gegenteil: Die Bemühungen, «Geschichte» zu definieren, gehen über bloß methodologische und wissenschaftliche Ansätze hinaus und bedingen eine bestimmte soziale Praxis. Zum anderen findet die Auseinandersetzung zunächst auf dem Feld der Sprache statt, ist also an erster Stelle diskursiv. Ausgehend davon, dass Geschichtsschreibung auch eine soziale Praxis darstellt, sind auch HistorikerInnen von den Auseinandersetzungen ihrer Zeit, bewusst oder unbewusst, betroffen. Geschichtsschreibung und auch Literaturgeschichtsschreibung sind also keine neutralen Felder. Walter Benjamins Ansatz in seiner Schrift Über den Begriff der Geschichte [1940] kann in diesem Kontext zur Reflexion herangezogen werden.3 Benjamin kritisiert in seiner Schrift zwei Postulate des Historismus: Erstens den Umstand, dass HistorikerInnen behaupten, Geschichte zu beschreiben, «wie sie gewesen ist», als wäre solche Wahrheit zugänglich; zweitens, dass sie die sogenannte wissenschaftliche Perspektive vor einer parteiischen Stellungnahme schützen könnte. Im Gegensatz dazu sieht Benjamin eine gewisse Einfühlung der HistorikerInnen bei der Geschichtsschreibung als unvermeidlich. Die zentrale Frage sei aber eine andere: In wen, in wessen Perspektive fühlen sich HistorikerInnen eigentlich ein? Benjamin stellt über das Verfahren des Historismus fest: Es ist ein Verfahren der Einfühlung. Sein Ursprung ist die Trägheit des Herzens, die acedia, welche daran verzagt, des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt. Sie galt bei den Theologen des Mittelalters als der Urgrund der Traurigkeit. [...] Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut.4

Die Alternative zum Historismus liegt für Benjamin darin, «die Geschichte gegen den Strich zu bürsten» (§ 7 S. 697), das bedeutet, dass HistorikerInnen sich bewusst in die «Tradition der Unterdrückten» einfühlen sollen. Benjamins Geschichtsauffassung setzt voraus, dass HistorikerInnen den «Klassenkampf [...] immer vor Augen» haben (§ 4 S. 694), denn «der Klassenkampf [...] ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt» (Ebda.). Diese Hinweise erlauben es, Wolfs Geschichte der brasilischen Nationalliteratur als einen Text zu lesen, der aus der Perspektive der «Sieger» verfasst wurde. Diese Perspektive wird auch in der gedruckten französischen Fassung Le Brésil 3 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [1940]. In: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 4 Ebda., § 7, S. 696.

5.1 Geschichtsschreibung als soziale Praxis

227

littéraire eingenommen, aufgrund der Verfasstheit als Übersetzung jedoch in einem anderen Maß. Die sprachliche Kluft zwischen beiden Fassungen werde ich gleich noch einmal genauer ausführen. Hier möchte ich zunächst hervorheben, was die Perspektive der Sieger im Konkreten bedeutet: Wolf nimmt in den (auch philologischen) Diskussionen seiner Zeit eine spezifische Stellung ein, sowohl in Europa insbesondere Deutschland/Österreich als auch in Brasilien. Das wird besonders an seinem Einsatz des Wortschatzes des deutschen Idealismus deutlich. Wolf mischt bestimmte Begriffe des liberalen Diskurses aus dem Umfeld der Französischen Revolution dazu, nutzt diese aber zuweilen mit einer diametral entgegengesetzten Bedeutung, was zu begrifflichen Irritationen führen kann und zugleich einen Kulturkampf auf dem Feld der Sprache erkennbar macht. Beide Fassungen, die deutsche und die französische, repräsentieren jeweils unterschiedliche Denktraditionen, die sich als einander gegenüberliegend verstehen. Wolf und sein Werk über Brasilien sind in den beiden Fassungen genau zwischen diesen Traditionen zu situieren. Seine deutlichen Stellungnahmen zu politischen und sozialen Themen lassen sich nachdrücklich mithilfe mehrerer Beispiele nachvollziehen, welche im dritten Kapitel analysiert wurden. Zwei davon sind paradigmatisch: Das erste Beispiel bezieht sich auf die Bedeutung des Wortes «Sklaverei» in Wolfs Originalmanuskript und der Übersetzung zu «esclavage» in der französischen Fassung. Es handelt sich in seinem Schreiben um eine literaturkritische Metapher für die Abhängigkeit der brasilianischen Autoren in Bezug auf Modelle der europäischen literarischen Tradition. Dadurch verdeckt Wolf die konkrete Tatsache, dass die Arbeit von versklavten Menschen die Grundlage der brasilianischen Wirtschaft bildete. Die Versklavten bildeten fast die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung, obwohl sie eigentlich nicht als Teil der Bevölkerung betrachtet wurden. Versklavte Menschen zählten zum Eigentum eines «Herren», sie wurden als Ware gehandelt, genauso wie die Produkte ihrer Arbeit: Zucker, Gold und Kaffee. Wie Emília Viotti da Costa und später auch Luiz Felipe de Alencastro erklären, war der Druck der Sklavenhändler und -halter – beide unter den mächtigsten Klassen Brasiliens – dafür verantwortlich, dass das Land einheitlich blieb: Die Aufspaltung in verschiedene Länder, wie sie in den ehemaligen Kolonien Spaniens geschah, hätte zu einem drastischen Gewinnverlust und dementsprechend einer neuen Spaltung der Macht geführt und so das ganze Sklavenhandelssystem im Südatlantik beeinträchtigt.5

5 Luiz Felipe de Alencastro: La traite négrière et l’unité nationale brésilienne. Und vom selben Autor: Le versant brésilien de l’Atlantique-Sud: 1550–1850. In: Annales. Histoire, sciences sociales 61, 2 (2006), S. 339–382. Emília Viotti da Costa: Da Monarquia à República.

228

5 Schluss: Das Scheitern von Wolfs literaturpolitischem Projekt

An keiner einzigen Stelle seines Buches behandelt Wolf diese offensichtliche Tatsache der brasilianischen Wirklichkeit. Diese Verschiebung der Bedeutung des Begriffs «Sklaverei» hin zu einer abstrakten literaturkritischen Sphäre verstehe ich als entscheidend für Wolfs Einfühlung in die Perspektive der «Sieger», d. h. der herrschenden Klasse Brasiliens. Versklavung wird von Wolf nicht als ein spezifischer sozialer Zustand betrachtet. Sie ist für ihn Teil der natürlichen Ordnung des Landes und muss daher nicht thematisiert werden. Dieses Beispiel zeigt, dass sich Wolfs Denken diskursiv verwirklicht und eine bestimmte Wirkung zu erzielen sucht. Er versuchte, einen neuen Sprachgebrauch des Wortes «Sklaverei» zu verbreiten, der kaum einen konkreten Bezug zur Realität hat. Somit trägt Wolf dazu bei, eine sprachliche Grundlage für die Bildung der neuen Elite Brasiliens zu schaffen. Wolf zeigt, wie die Sprache die Wirklichkeit verdrehen und verhüllen kann. Für diesen Zweck werden verschiedene rhetorische Mittel sowie die philosophische Grundlage des deutschen Idealismus aufgerufen. Ein ähnliches Verfahren findet man in Wolfs Lob der «Aristokratie des Ideals», die ich hier als zweites Beispiel nennen möchte. Die politisch führende Position der Aristokratie in einer Monarchie wird wieder metaphorisch in eine «geistige», führende Position verkehrt. Hier fühlt sich Wolf nicht nur in die Position der Herrschenden ein, sondern zeigt zusätzlich seine Treue zur Beibehaltung der dynastischen Prinzipien des Hauses Habsburg. Im Fall Brasiliens wird die Rede von einer «Aristokratie des Ideals» aber problematischer, denn die Entstehung des Adels ist schwerlich mit Naturmetaphern zu beschreiben: Die dynastischen Häuser stammten nicht aus der mittelalterlichen europäischen Tradition. Aus diesem Grund verlieh die brasilianische Monarchie noch unter der Regierung von Dom Pedro I. Adelstitel, um politische Loyalität zur Regierung zu belohnen. So wurden Sklavenhalter schnell zu Freiherren und Vicomtes, die eine sogenannte ‹brasilianische Aristokratie› bilden sollten. In Wolfs Darstellung der brasilianischen Geschichte tritt nun die «Aristokratie des Ideals» als etwas auf, das «heimisch» und «urwüchsig» entsteht. Jedoch werden die konkreten politischen Bedingungen des Klientelismus für ihre künstliche Herausbildung nicht erwähnt. Die kulturelle Vorherrschaft der entstehenden brasilianischen «Aristokratie» war fragil, sie musste gestärkt werden, Sklavenhalter an sich machen noch keine Aristokratie. Zu diesem Ziel hatte die geistige Grundlage der europäischen Romantik und des Historismus, welche Wolfs Werk – auch wenn in verminderte Form aufgrund der Übersetzung – verbreitet, entscheidend beigetragen. Zur Zeit Wolfs war die gängige Vorgehensweise die des Historismus, wie ihn auch Benjamin kritisiert. Wolf erfindet also eine lineare, chronologische und kausale Darstellung der Ereignisse in der Geschichte Brasiliens, deren roter Faden das «nationa 

5.2 Wolfs Geschichtsauffassung

229

le», «volkstümliche Element» darstellt. Bei Wolf dient der Historismus auf der einen Seite als ideologisches Instrument, um das eigene literaturpolitische Projekt durchzuführen, auf der anderen Seite fungiert er in nationalistischem Gewand als diskursive Basis für die Hervorbringung eines vorgeblich wissenschaftlichen Diskurses, welcher sich zwar im Laufe der Zeit verändert, jedoch im Grunde bis heute besteht.

5.2 Wolfs Geschichtsauffassung Wolf galt stets als herausragender Mitbegründer der Romanischen Philologie. Seine Werke waren in diesem Fach bis Ende des 19. Jahrhunderts epochenmachend, ich betrachte sein Wirken jedoch aus einer anderen Perspektive. Als persönlicher Freund von Prinz Metternich und loyaler Beamter der kaiserlichen Hofbibliothek repräsentiert Wolf in seinen Werken auch bestimmte Interessen des Habsburgischen Hauses in Hinblick auf dessen Hegemonialstellung in Europa. Er sah in der romanischen Philologie ein Mittel für die Verbreitung des kulturellen Vorrangs von Österreich in der Führungsposition einer ‹Großdeutschen Lösung› auf der Welt. Eigentlich versucht er, alte dynastische Verwandtschaften zwischen etwa Spanien und Österreich6 mittels eines «geistigen Bündnisses» wieder neu zu beleben. Wolf orientierte sich an der Vorstellung eines vereinigten deutschen Nationalstaats, der nicht nur Österreich einschließen, sondern auch unter dessen Führung stehen sollte. Wolf bezieht sich in all seinen Werken, nicht nur in seinem Buch über Brasilien, immer in diesem Sinne auf «Deutschland». Wolfs literaturpolitisches Projekt bestand also in der «Einbürgerung des deutschen Werkes», um einen Ausdruck von ihm zu zitieren. Er setzte dieses Projekt auch im Rahmen seiner Beschäftigung als Gelehrter in verschiedenen Bereichen, neben seiner Tätigkeit in der kaiserlichen königlichen Hofbibliothek Wien, um: Er verfasste Rezensionen, förderte Übersetzungen, begründete literarische Zeitschriften, plädierte für die Stiftung wissenschaftlicher Institutionen und führte mehrere Briefwechsel mit Schriftstellern im Ausland. Die Literaturgeschichtsschreibung ist dabei, unter all seinen Beschäftigungen, stets das bevorzugte Mittel. In seiner Aufsatzreihe ‹Geschichte der spanischen Literatur im Mittelalter›7 er-

6 Das spanische Königshaus im Zeitraum 1516 (Carlos V) bis 1701 stammte aus dem Hause Habsburg. 7 Ferdinand Wolf: Geschichte der spanischen Literatur in Mittelalter. In: Geschichte der portugiesischen und spanischen Nationalliteraturen.

230

5 Schluss: Das Scheitern von Wolfs literaturpolitischem Projekt

öffnet Wolf seine Überlegungen über die spanische Rezeption von Bouterwecks Historia de la literatura española8 mit einer klaren politischen Stellungnahme, welche sich jedoch in einem Lob an die «Erneuerung des geistigen Bündnisses zweier nicht bloß dem Stamme, sondern mehr noch ihrem innersten Wesen nach verbrüderter Nationen» (S. 5, eigene Hervorhebung), bzw. Spanien und Deutschland, verhüllt zeigt. Dazu kommen auch die Herabsetzung Frankreichs, das als Unterdrücker dargestellt wird, und die Vorherrschaft Deutschlands, das als Held fungiert, der alle Nationen von der französischen Unterjochung mittels des «deutschen Geist» befreit, wie im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit dargestellt wurde. Der Ausdruck «Einbürgerung des deutschen Werkes» synthetisiert Wolfs literaturpolitisches Projekt: «Werk» wird hier auch – ganz im Sinne der hegelschen Philosophie – als «Leistung», «Verdienst» und «Wirkung» verstanden. Nach Wolf ermöglicht die «deutsche Kultur» auf kultureller Ebene eine Freiheit, welche die Französische Revolution auf der politischen Ebene ermöglicht hatte. Doch unter dem Deckmantel der «kulturellen Freiheit», welche sich in der Erweckung des «Eigentümlichen jeder Nation» befindet, steht ebenso sein Projekt der Vormachstellung Deutschlands. Dieser expansionistische und herrschaftliche Anspruch entsprach demjenigen des Habsburgischen Hauses. Nachdem die Französische Revolution die europäische Politik «verjüngt» habe, so Wolf, falle nun Deutschland die Rolle zu, eine «geistige Verjüngung» durchzuführen, die es anhand des von ihm genannten «Romantizismus» zu realisieren galt. Diese literaturphilosophische Bewegung habe auch Brasilien erreicht, so Wolf, und würde von den Autoren im Dienst des Kaisers Dom Pedro II. vertreten. Unter dem Einfluss des «deutschen Werkes» hätten sich die Brasilianer endlich von der «geistigen Abhängigkeit vom Mutterland und von Europa» befreit. Wolf schenkt dem Widerspruch, der hinter dieser Aussage steckt, keinerlei Aufmerksamkeit: Er spricht von einer «geistigen Befreiung», auch wenn es tatsächlich um eine Umstellung der philosophischen Matrix geht, die eben auch aus Europa stammt. Wolf zelebriert das «geistige Bündnis», welches der Romantizismus darstellt, und verhüllt somit das beanspruchte Bündnis der herrschenden Klasse. Wolf beabsichtigte, die brasilianische Literatur als eine «Nationalliteratur» zu beschreiben. Er assoziierte literarische Autonomie mit der politischen Unabhängigkeit

8 Friedrich Bouterweck: Historia de la literatura española. Übers. D. José Gomez de la Cortina und D. Nicolás Hugalde y Mollinedo. Madrid: Eusebio Aguado 1829.

5.2 Wolfs Geschichtsauffassung

231

Brasiliens von Portugal im Jahr 1822. Bei Wolf spielt dabei die Frage der Überwindung der kolonialen Ordnung sowohl im politischen als auch im kulturellen Feld keine Rolle. Für ihn bedeuteten die Beibehaltung der Monarchie und die Figur des Kaisers Dom Pedro II. wesentliche Anknüpfungspunkte mit der Geschichte Europas, vor allem mit der Geschichte Deutschland/Österreichs. Wolfs Unternehmen, das Primat des deutschen Denkens sprachlich umzusetzen, ist gerade aufgrund seiner sprachlichen Bedingtheit misslungen: Im veröffentlichten Werk, Le Brésil littéraire, wurde sein literaturpolitisches Projekt nicht vollständig wiedergegeben. Es wurde in der französischen Übersetzung tatsächlich sogar absichtlich verändert: Selbst wenn Wolf die Perspektive der herrschenden Klasse weiterhin als einzige Wahrheit verbreiten kann, schaffen die Verkürzungen seiner verschachtelten Sätze Änderungen im semantischen Feld, auf diese Weise geht sein essentialistischer Wortschatz verloren, die Anknüpfung an den deutschen Idealismus ist weniger deutlich. Inhaltliche und andere Verschiebungen verändern den Text von seiner intendierten hin zu einer durchaus anderen Wirkung. Manchmal sind die Propositionen ähnlich, manchmal ganz verschieden, aber nicht immer dem Original und Wolfs Projekt entsprechend. Die habsburgische Vorherrschaft und die Verteidigung der Monarchie, oder die Vorwürfe an republikanische Ideen bleiben zwar in der Übersetzung erhalten, werden jedoch deutlich gemindert. Hinzu kommt ein für die LeserInnen paradoxer Gesamteindruck, da Wolfs Frankreichfeindlichkeit aufgrund der Übersetzung, die die einzige veröffentlichte Fassung darstellt, eben gerade auf Französisch zu lesen ist. Der Plan, Frankreich diskursiv zu dezimieren, den Wolf zunächst auf Deutsch ersonnen und entworfen hatte, wird in die Sprache des vermeintlichen ‹Feindes› übersetzt, und so gehen seine Kohärenz und Glaubwürdigkeit verloren. Aufgrund der mangelnden Quellen ist es unmöglich nachzuvollziehen, aus welcher Motivation heraus diese Änderungen unternommen wurden, und ob sie auf Wunsch des Verlegers oder des Übersetzers vorgenommen wurden. Daher wurden sie in der vorliegenden Arbeit historisch im Streitfeld um die europäische kulturelle, politische und kommerzielle Vorherrschaft verstanden. In diesem Sinne sagt Wolf mehr über sich selbst und über die Ansprüche des Habsburgischen Hauses als über die Geschichte der brasilianischen Literatur. Zudem legt das Spannungsfeld zwischen den beiden Versionen offen, inwieweit Literaturgeschichtsschreibung ein privilegiertes Werkzeug für die Verbreitung eines selektiven Blicks auf die Vergangenheit ist. Wolf spricht also von einem elitären Standpunkt aus: Er strebt danach, die Unterschiede zwischen europäischen insbesondere deutsch-österreichischen und brasilianischen herrschenden Klassen aufzuheben, indem er die Ähnlichkeiten zwischen ihnen hervorhebt. Auf den ersten Blick könnte dies als Erfolg der sogenannten europäischen Zivilisation in Brasilien gelten. Wolfs Interesse lag aber

232

5 Schluss: Das Scheitern von Wolfs literaturpolitischem Projekt

vor allem darin, die Beziehung zwischen den beiden promonarchischen herrschenden Klassen zu vertiefen, um zwischen ihnen ein transnationales Bündnis zu etablieren.

5.3 Der Triumph eines Klassenbündnisses Ab 1808 stritten sich die Großmächte Europas wie Frankreich, England und Deutschland um eine privilegierte Position als Wahlverwandtschaft Brasiliens, weil Brasilien nun nicht mehr ausschließlich mit Portugal verhandeln musste. Das bedeutet: Portugal vermittelte die Geschäfte nicht mehr, die brasilianischen Herren (deren versklavte Arbeiter preiswerte Waren wie Gold, Zucker und Baumwolle produzierten) konnten direkten Handel mit ausländischen Unternehmen betreiben. So wurde der Handelsgewinn unmittelbar auf diese Länder übertragen. Wolf stellt über jeden kommerziellen Vertrag und über die Regeln des internationalen Kapitalismus hinaus einen «geistigen Bezug» zwischen Brasilien und Österreich her. Aus diesem Grund ruft Wolf alte dynastische Verwandtschaften auf und mobilisiert die Vorgehensweise der europäischen Restauration, um die monarchische Regierungsform als Muster zu rechtfertigen. Dies war eine geschickte Strategie Wolfs, denn Brasilien war die einzige Monarchie in ganz Amerika, nicht vergleichbar mit den Republiken, die aus den ehemaligen englischen und spanischen Kolonien hervorgegangen waren. Wolfs Darstellung der Ereignisse der brasilianischen Geschichte ist linear und erreicht ihren Höhepunkt im Jahr 1840, als der vierzehnjährige Dom Pedro II. zum Kaiser Brasiliens gekrönt wird. Der Kaiser stellte für ihn die Personifizierung der Einheit der europäischen Dynastien in Amerika dar: Bourbon, Bragança, Orléans und Habsburg. Wolfs Loyalität gegenüber dynastischen Prinzipien spiegelt sich in seiner Würdigung des neuen Kaisers Brasiliens, dessen Hauptanliegen es war, das Land unter einer zentralen Verwaltung und Regierung vor der vermeintlichen republikanischen ‹Gefahr› zu schützen. Die Geschichte der brasilianischen Literatur spiegelte aus Wolfs Perspektive die Bedingungen der brasilianischen Literaturproduktion selbst wider: Die Perspektive der Großgrundbesitzer, die zwar nach der Unabhängigkeit Brasiliens eine «heimische» Elite bildeten, die dabei aber die Rolle einnahmen, die Interessen des (internationalen) Kapitals in ihrem eigenen Land zu verwalten und die höchsten Gewinne zu erzielen. Schließlich war es das Anliegen der vorliegenden Arbeit zu zeigen, inwiefern das konservative Denken, die reaktionäre Haltung, die anti-demokratische Rede, die kaschierte Gewalt auch auf dem Feld der Sprache eine historische Grundlage haben. Die Bündnisse der herrschenden Klassen, die sich auch in der (Literatur-)

5.3 Der Triumph eines Klassenbündnisses

233

Geschichtsschreibung aufzeigen lassen, erlangen stets neue wirkliche und sprachliche Formen. Aus diesem Grund kann diese Art der Geschichtserzählung immer dann evoziert werden, wenn es den herrschenden Klassen nötig scheint. Und auch heute noch klingt der damalige promonarchische Diskurs nicht überholt, sondern seltsam aktuell und mehr noch: von Tradition aufgeladen. Die begrifflichen Verschiebungen, die Wolf bewusst in seinen Werken vollzieht, sind auch heute noch erkennbar. Sie gelten also als paradigmatisches Verfahren für die Entstehung von Ideologien: Eine Verfälschung der Wirklichkeit als etwas Einseitiges, das als universelle Wahrheit verbreitet wird.

6 Anhänge 6.1 Beispielseite aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

Österreichische Nationalbibliothek, Manuskript-Nr. 14547, 1862.

https://doi.org/10.1515/9783110697889-006

236

6 Anhänge

6.2 Transkription von Auszügen aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur* {Fehlende Paginierung} Dies{es} Werk ist nur in französischer Übersetzung | im Druck erschienen, unter dem Titel «Le Brésil | littéraire»; etc (Berlin, 1863. 8º ein Band); | – davon enthält die II. Partie: «Choix de morceaux | tirés des meilleurs auteurs brésiliens,» den «Anhang» | auf den hier verwiesen wird. Vom Original sind als Proben erschienen die | Artikel: «Antonio José da Silva» (in den Sitzungs- | berichten der phil. hist. Klasse der k. Akad. der wiss. | Bd. 34, S. 249; – auch im Separatabdruck. Wien, | 1860); – über «Magalhães» (in der Kathol. Literatur- | zeitung, Jahrg. 1861, nº 32–34 und 36); – und über die | «Nebulosa» von J. M. de Macedo (im Jahrb. für | roman. und engl. Lit. Bd. 4, S. 121). Ferdinand Wolf {S.} I. Vorwort. Das Kaiserreich Brasilien hat | in neuester Zeit bereits eine | so bedeutende weltgeschichtliche | Stellung eingenommen, daß die | Europäer sich in fast allen Be- | ziehungen damit bekannt zu | machen suchten; europäische Na- | turforscher, Ethnographen, Histo- | riker und Politiker haben es zum | Gegenstande ihrer Studien ge- | macht und eine ansehnliche Anzahl | beachtenswerther Werke sind die | Früchte derselben. | Nur in einer Beziehung ist | Brasilien bis jetzt fast eine terra incognita für die Europäer | geblieben: die auf dessen Boden | entstandene und emporgewachsene | eigenthümliche Literatur ist fast | völlig unbeachtet geblieben und höch- | stens bruchstückweise als ein Anhang | der portugiesischen in Europa | bekannt geworden. | {S.} II. Und doch ist die Entwicklung | der brasilischen Literatur, | besonders in den letzten Jahr- | zehnders, in einem so bedeu- | tenden Maße fortgeschritte{n}, | daß man ihr nicht länger eine | selbstständige Stellung, und daher | die einer solchen zukommend | Beachtung und Darstellung in | der Geschichte der National- | literatur wird verweigern können. |

* Wolfs Terminologie wird Wort für Wort hier wiedergegeben. Der Strich | hebt hervor, wo Wolf einen neuen Absatz beginnt. Wolfs Selbstkorrekturen, Ergänzungen und Umformulierungen wurden in * * eingefügt. Die geschweifte Klammern { } kennzeichnen meine eigenen Kommentare.

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

237

Daß diese Berücksichtigung | ihr in Europa, und namentlich | in Deutschland, trotz dessen | Streben nach Universalität, | bis jetzt noch nicht {Zuteil} geworden ist, | liegt wohl großentheils in dem | Mangel an Material und | Hilfsmitteln. Denn wie gering | ist selbst in den größten Biblio- | theken Europas der Vorrat an | Werken der brasilischen Na- | tionalliteratur,1 wie schwierig | ist es, sich solche zu verschaffen! | Nicht einmal durch Übersetzung war | diesem Mangel abzuhelfen, da | die Brasilier selbst bis jetzt noch | keine vollständige, bis auf die | neueste Zeit herabreichende | Geschichte ihrer Literatur | besitzen.2 | {S.} III. Die k. k. Hofbibliothek in Wien | hat aber in diesen letzten Jahren | einen nicht unbedeutenden Vorrath | von Werken der brasilischen | Literatur erworben, theils durch | die Expedition der k. k. Fregatte | Novara, indem sie ein Mitglied | derselben, Hrn. Ferdinand Ritter | von Hochstetter, ersucht hatte, | seinen Aufenthalt in Rio de | Janeiro dazu zu benützen, für | sie solche Werke anzukaufen; | theils durch die gütige Verwendung | des Hrn. Johann Jakob von Tschu- | di, der während seines jüngsten Auf- | enthaltes in Brasilien sowohl | durch Ankauf als {auch} durch Geschenke | diesen Vorrath noch zu vermehren | suchte. | Hierzu kam noch, daß ich so glück- | lich war, die persönliche Bekannt- | schaft so ausgezeichneter bra- | silischer Schriftsteller, wie der | Hrn. Domingos José Gonçalves | de Magalhães, Manoel de | Araújo Porto-Alegre und Ernesto | Ferreira França, zu machen, | die nicht nur durch Mittheilung von | Materialien mich unterstützten, | sondern auch durch ihren Rath meine | Studien leiteten; wofür ich ihnen | hier meinen besten Dank auch | öffentlich auszusprechen, mich | verpflichtet fühle. | * Nicht minder hat Hr. v. Tschudi | sich Anspruch auf meinem Dank erworben, | der ebenfalls durch Mittheilungen aus | seiner eigenen Büchersammlung

1 In Bibliotheken von Lissabon | und Coimbra dürften wohl am | reichsten davon sein; aber gerade | von dort ist eine Bekanntmachung, | oder gar pragmatische Bearbei- | tung dieses Materials am wenig- | sten zu hoffen, da die alte Eifer- | sucht, das vornehme Herabsehen | auf die einstige Colonie der | brasilischen Literatur wohl noch | immer keine selbstständige Stellung | neben der portugiesischen | zugestehen. Daß aber auch diesen | Bibliotheken viele und wichtige | Werke der brasilischen Literatur | fehlen, ersieht man aus dem Arti- | kel über brasilische Autoren in | dem trefflichen «Diccionário biblio- | graphico portuguez» von I. Fr. | da Silva, der sich die meisten Werke | aus der neueren und neuesten Zeit, | besonders die seit der Trennung der beiden | Reiche erscheinen, durch Privatmittheilungen aus | Brasilien selbst verschaffen mußte. 2 Allerdings arbeitet Joaquim | Norberto de Souza Silva, ein in | jeder Hinsicht dazu befähigter Ge| lehrter, seit längerer Zeit an | einer ausführlichen Geschichte der | brasilischen Literatur; aber lei| der hat er bis jetzt nur einige | Proben davon veröffentlicht.

238

6 Anhänge

und | durch seiner Einsicht aus dem reichen | Schatz seiner Kenntnisse mir wesent- | liche Dienste leistete.* {S.} IV. In dem Zusammentreffen | dieser günstigen Umstände | glaubte ich eine Aufforderung | zu finden, die erwähnte Lücke | in der Geschichte der National- | literaturen auszufüllen. | Ich habe es daher versucht, eine | Geschichte der brasilischen Lite- | ratur zu schreiben, und damit eine | reichere Auswahl von Proben | aus den Werken der besproche- | nen Autoren verbunden, theils | wegen der bemerkten Seltenheit | dieser Werke in Europa, theils | um den Leser in den Stand zu | setzen, sich ein selbständiges Ur-| theil zu bilden. | Ich muß es dem Ermessen | Competenter Richter überlassen, | ob sie diesen Versuch für ge- | lungen, ob sie mein Buch – | die Frucht dreijähriger Arbeit, | für mehr als einen Lückenbüßer | wollen gelten lassen; billige | werden dabei in Anschlag bringen, | daß es unter den gegebenen | Verhältnissen, unter denen nicht | der geringste Nachtheil der ist, daß | ich Land und Volk nur aus Büchern | kenne, in mehr als einer Hinsicht | mangelhaft und unvollständig aus- | fallen mußte. | Jedenfalls hat es das, freilich | nur relative Verdienst, das erste | und bis jetzt einzige über diesen | Gegenstand in Europa erschiene- | ne Werk zu sein. | Wien, im April 1862. | {S.} 1.) Einleitung | Begriffsbestimmung und daraus sich | ergebende Epochen der brasilischen | Literatur; – benützte Werke über | ihre Geschichte. | Wenn man von einer brasilischen | Literatur spricht, so kann man nur | die darunter verstehen, welche von | den portugiesischen Eroberern *Brasiliens* | mitgebracht und eingeführt; – von | ihren sich dort festsetzenden Nach- | folgern, den Colonen, in Verbindung | mit dem Mutterlande in der Sprache | desselben unterhalten und cultiviert; – | und endlich von deren immer unab- | hängiger vom Mutterlande wer- | denden Nachkommen, den Eingebor- | enen portugiesischer Abstammung | auch immer selbstständiger und eigen- | thümlicher entwickelt wurde.3 | Denn die Ureinwohner, die indischen | Stämme Brasiliens haben, wie alle | Wilden, nie eine eigentlich literari- | sche Cultur erreicht, und höchstens ihren |

3 Vgl. Varnhagen, Historia geral | do Brasil. Rio de Janeiro, 1854– | 1857. 4º vol. II. 1º XXXV, über die | wahre Nationalität der Brasilier. |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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Sinn für Poesie, ihre dichterischen und | musikalischen Anlagen in lyrisch- | epischen Gesängen, in religiösen, Kriegs- | tanz- Liedern und anderen volksmäßigen | Liedern bethätiget; und *könnten nur daher nur | diese als die einzigen ori- | ginellen Producte* in ihren indigene | indigenen Sprachen aufzuweisen.| {S.} 2.) Nur mittelbar haben diese Urein- | wohner durch ihre Verbindungen mit | den Portugiesen und ihren Nachkommen | durch die daraus entstandenen Misch- | raçen (Mamelucos *{unleserlich} und Mestizos {unleserlich}*), auf die eigen- | thümliche Entwicklung des brasilischen | National-Charakters und dessen Aus- | prägung in der Literatur Einfluß | geübt, wozu die reiche, großartige | Natur des Landes noch mächtiger | beitrug, so daß nach Ablauf von {unleserlich} | zwei Jahrhunderten der Charakter | der brasilischen Nation und Litera- | tur als ein wesentlich verschiedener | von dem der portugiesischen | sich zeigt. | Diese genetische Begriffsentwick- | lung der brasilischen Literatur ent- | hällt zugleich die pragmatische Be- | stimmung ihrer Epochen, nämlich:4 | 1te. Epoche, von der Entdeckung Bra- | siliens bis zum Ende des 17ten. Jahr- | hunderts. – Einführung der aus Europa | mitgebrachten literarischen Cultur, | besonders durch die Jesuiten; – Skla- | vische Nachahmung der portugiesischen | und spanischen Muster durch die ange- | siedelten Portugiesen und ihre Nachkommen. | 2te. Epoche, vom Anfange bis Mitte | des 18ten. Jahrhunderts. – Größere | Verbreitung literarischer Cultur; {unleserlich} | Stiftung literarischer Gesellschaften; ab- | trotz {unleserlich} einiger Versuche, selbstständige{n} | aufzutreten, im ganzen noch fortdauernde | bloße Nachahmung portugiesischer Muster. | {S.} 3.) 3te. Epoche, von der Mitte bis | Ende des 18. Jahrhunderts. – | Nicht nur steigende Verbreitung der | literarischen Cultur, sondern auch mit | zunehmendem Streben nach Unabhän- | gigkeit vom Mutterlande; – selbst- | ständigeres Auftreten und nationalere | Färbung, besonders durch die politisch | und literarisch {unleserlich} Ver- | suche der Dichter-Schule von Minas | Geràes. |

4 Wir folgen hierin der von Joaquim | Norberto de Souza Silva gegebenen Ein- | theilung (Modulaçoens poeticas. Precedidas | de um Bosquejo da historia da poesia brasi- | leira. Rio de Janeiro, 1841, 8º p. 21–53); | *und weichen nur darin von ihm ab, | daß wir seine 4te und 5te Epoche | in Eine (unsere 4te) verschmel- | zen, da uns die in politischer Bezie- | hung allerdings epochemachende Unab- | hängigkeits-Erklärung in der Literatur nicht sogleich eine so wesentliche Verän- | derung hervorgebracht zu haben scheint, | um mehr als höchstens eine Übergangs- | phase zu begründen.* |

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4te. Epoche, vom Anfange des 19ten Jahr- | hunderts bis zur Proclamation der | Unabhängigkeit des brasilischen | Reiches (1822). Mit der ausge- | proschenen Trennung, sich {unleserlich} nicht nur | politisch, sondern auch literarisch vom | Einflüße des Mutterlandes zu be- | freien. | 4te. Epoche von der Proclamation | der nationalen Unabhängigkeit bis | zur Reform der brasilischen Dichtung | durch Magalhaens – *vom Anfang des 19ten. Jahrhunderts, | insbesondere von der Proklamation | der Unabhängigkeit des brasilischen | Reiches (1822) bis zur völligen {unleserlich} | nicht nur politischen, sondern auch literari- | schen Emancipation vom Mutterlande | und von der ausschließenden Herr- | schaft des Pseudo-Classicismus durch den | Einfluß des modernen Romanticismus | (1840). {unleserlich}* – Unter den poli- | tischen Stürmen und Schwankungen, {unleserlich} | den nun mehr unmittelbaren Einflü- | ßen der tonangebenden europäischen | Literaturen (besonders der franzö- | sischen und englischen) {unleserlich} *Bestreben der brasilischen, die natio- | nalen Elemente zu entwickeln und | geltend zu machen.* | 5te. Epoche, von *1840* der Reform durch Magelhaens *(1826)* bis zur Gegenwart. – Mit der Consolidierung der Monarchie, | Verbreitung und Unterstützung der Wissen- | schaften und Künste durch die Regierung | und den Kaiser selbst, immer völligere | und {unleserlich} allseitigere Entwicklung einer eigent- | lichen selbstständigen National- | literatur {unleserlich} *durch den unter dem Einfluss der | modern-romantische | Schule und durch das selbstbewusste | Auftreten des volksthümlichen Prinzips nativistischen Prinzips.* | {S.} 4.) Aber trotz des interessanten Schau- | spiels, das dieser Entwicklungsgang | gewährt, trotz der immer bedeutender | werdenden Ansprüche der bra- | silischen Literatur auf Beachtung | in der Geschichte der literarischen | Cultur überhaupt, und der Amerikas | insbesondere, ist ihr diese in Europa | bis jetzt nur äußerst spärlich zu Theil | geworden. Denn Ferdinand Denis ist der einzige | unter den europäischen Literarhisto- | rikern, der seinen: «Résumé de | l’histoire littéraire du Portugal», als Anhang ein: «Résumé de | l’histoire litté- | raire du Brésil (Paris, 1826 in 12º, p. | 513–601) beigegeben hat; und auch dieser | gewiss verdienstliche Umriß erschien | zu einer Zeit, wo die völligere Entwicklung der eigentlichen brasilischen | Nationalliteratur erst begann. | Auch die Eingeborenen selbst haben – | wie es in der Natur der Sache liegt – | erst nachdem ihr nationales Selbst- | bewusstsein jenen Grad der Stärke | erreicht hatte, der es ihnen *dieses auch objectiv* als eine hi- | storische Thatsache erscheinen ließ und | sie zur *Selbst-* Untersuchung und Darstellung ihrer | Entwicklung drängte, erst nachdem sie | eine wirklich selbstständige National- | lite-

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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ratur geschaffen hatten, auch das | Bedürfnis gefühlt, ihre Geschichte zu | schreiben. Daher sind auch in Brasilien | selbst erst seit den letzten zwei drei Jahr- | zehnden einige Werke erschienen, welche | es sich zur Aufgabe machten, theils urkund- | lich durch Zusammenstellung des {unleserlich} | Materials, theils pragmatisch, durch die | historische Verarbeitung derselben, die | Geschichte der brasilischen Literatur zur | Darstellung zu bringen. | So hat schon vor dem im J. 1831 der selbst | als Dichter berühmte Canonicus Januario da Cunha Barbosa einen «Parnaso Bra- | sileiro» herausgegeben, der uns aber nur dem | Titel nach bekannt geworden ist.5 | {S.} 5.) Im J. 1841 setzte Joaquim Nor- | berto de Souza Silva seinen «Mo- | dulacionesdulaçoens poeticas», ein: «Bosquejo | da historia da poesia Brasileira» | vor, das in scharfen Umrissen ein | wohl getroffenes Bild der brasilischen Literatur | giebt, dem wir in der | Aufstellung ihrer Epochen gefolgt sind.6 | Im J. 1843 gab J. M. Pereira | da Silva heraus von seinem «Parnaso Brazileiro ou Selecção de poesias dos melho- | res poetas brazileiros desde o | dese descobrimento do Brasil. Pre- | cedida de uma Introducção his- | torica e biographica sobre a litte- | ratura brazileira» (Rio de Janeiro. | Vol. I. 1843) den ersten Theil heraus, | der die Dichter des 16ten., 17ten. und 18ten. | Jahrhunderts enthält und eine his-

5 Vgl. J. M. Pereira da Silva. Parnaso Bra- | sileiro. Rio de Janeiro, 1843, 8º vol. I p. | V.; – D. J. G. de Magalhaens, Poesias. Rio | de J. 1832. 8º p. II; – Varnhagen, l. c. vol. | I. p. 16. | 6 Von demselben steht ein größeres | Werk: «Historia da litteratura | Brasileira» zu erwarten, wovon | aber bis jetzt leider nur eine kleine | Probe {unleserlich} uns bekannt geworden ist in der Revista | do Instituto historico e geographico | Brasileiro, Tomo XVIII, p. 29 sg. XIX. | Supplem. p. 83; in Revista popular, T. 9, 1861. | Leider hat auch Hr. v. Magalhaens sei- | nen Plan nicht ausgeführt, eine Geschichte | der brasilischen Literatur zu schreiben; – | oder sagen wir lieber glücklicherweise; | denn er ist durch seine statt reproductiv | und kritisch, lieber productiv und schöpfe- | risch, durch seine eigenen Werke epoche- | machend {unleserlich} aufgetreten, und hat | daher, statt Geschichte zu schreiben, sie «gemacht». – Er hatte nämlich in der von | ihm mit mehreren Freunden in Paris | im J. 1836 herausgegebenen Zeitschrift «Nitheroy, Revista brasiliense». Tomo | I, p. 132– 159, einen Aufsatz bekannt ge- | macht: «Ensaio sobre a historia da litte- | ratura do Brasil», der als Vorläufer | eines größeren Werkes dienen sollte, aber | nur die Einleitung dazu (Estudo prelimi- | nar) enthält, die {unleserlich} allerdings so geistreich | und beredt geschrieben ist, daß man bedauern | muß, statt eines historischen Kunstwerkes nur | diesen Torso zu besitzen. – Nach dieser Einlei- | tung (p. 151) hatte er vor, die Geschichte der | brasilischen Nationalliteratur in zwei Haupt- | perioden zu behandeln, vor und nach dem J. 1808; | für so pragmatisch begründet wir aber auch die- | se Hauptabtheilung halten, so glaubten wir doch | die von Norberto aufgestellten Unterabthei- | lungen beibehalten zu sollen, da dadurch | nicht nur die Übersicht erleichtert, sondern auch | die kleineren epochemachenden Wendungen | {unleserlich} gekennzeichnet und die Entwicklungs- | phasen ausführlicher gemacht werden. |

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tori- | sche Einleitung enthält, und ließ in seinem dem | im J. 1848 erschienen zweiten Theile | die Dichter des 19ten. Jahrhunderts | nachfolgen. | Wenn er sich hier in der historischen | Einleitung nur auf die nöthigsten | biographischen Notizen beschränkte, | so gab er von mehreren der bedeu- | tendsten Dichter ausführliche bio- | graphisch-kritische Darstellungen | in seinem «Plutarco Brasileiro» | (Rio de J. 1847. 2. Vols.), der in zweiter | verbesserter und vermehrter Aus- | gabe erschien unter dem Titel: «Os varões ilustres do Brazil | durante os tempos coloniáes» (Paris, | 1858, 2 Vols. 8º.) | Noch wichtiger ist Francisco Adolpho | de Varnhagen’s: «Florilégio da | poesia brazileira, ou Colleção das | mais notaveis composições dos poetas | brazileiros falecidos, contendo as bio | {S.} 6.) graphias de muitos delles, tudo pre- | cedido de um Ensaio historico sôbre | as lettras no Brazil» (Vol. 1 e 2. | Lisboa, 1850; vol. 3 Madrid, 1853. | in 16º); denn der gelehrte Herausgeber | dieser Sammlung dieser Sammlung | giebt theilt nicht nur aus seltenen Handschriften | viele Stücke zum erstenmale im Druck | heraus mit, sondern beurkundet auch durch | die mit Gründlichkeit und Kritik geschrie- | bene, sehr schätzbare historische Einlei- | tung seine deutsche Abkunft. Dieser hauptsächlich sind wir in den ersten fünf | vier Epochen gefolgt. | Gesam{m}elte Proben brasilischer Dichter boten | uns auch die nachstehenden Werke: | «Parnaso Lusitano, ou poesias | selectas dos auctores portu- | guezes antigos e modernos» | (mit einem Bosquejo da historia | da poesia e ling. portug. von dem | berühmten Almeida Garrett.» Paris | 1826, 5 vols., in 32º). | «Museo pittoresco historico e | litterario» (Rio de Jonciro, 1848 | 2 Vols. in 4to.). | «Grinalda de flores poeticas. | Selecção de producções modernas | dos melhores poetas brasileiros e | portuguezes etc.» (Rio de Janeiro, | 1854, 1 vol., in 8º). | Biographisch-kritische Beiträge | und Notizen fanden wir auf noch | außerdem in der für die Geschichte | {der} Land- und Volkskunde Brasiliens so | wichtigen und reichhaltigen: «Revista | trimensal de historia e geographia | do Instituto historico e geographico | do Brazil» (Rio de Janeiro, 1839– | 1859, 22 Vols. in 8º). | In «Ensaio biographico-crítico sobre | os melhores poetas portuguezes.» Por | José Maria da Costa e Silva7 (Lisboa, | 1850–1856, 10 Vols., in 8º); |

7 Der Verfasser des anmutigen Ge- | dichtes: «O passeio» (der Spaziergang). |

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{S.} 7.) «Memorias de litteratura con- | temporanea.» Por A. P. Lopes de | Mendonça (Lisboa, 1855, 1 Vol., in 8º); | und in «Dicionário bibliographico | portuguez. Estudos de Innocencio | Francisco da Silva applicaveis | à Portugal e ao Brasil» (Lisboa, | 1858–1859 bis jetzt, 2 Vols., in 8º). | Die von uns benützten Werke der | einzelnen Schriftsteller werden am | gehörigen Orte angeführt werden.8 | {S.} 9.) 1e. Epoche, von der Entdeckung | Brasiliens bis zum Ende des 17ten. | Jahrhunderts. | Kapitel 1. Einführung literarischer | Cultur, besonders durch die Jesuiten. | Erste Versuche theils in lateinischer Sprache, | theils nach portugiesischen und spanischen | Mustern. Bento Texeira Pinto, der | älteste ge brasilische Dichter. Die Entwicklungsgeschichte der | Cultur und Literatur *Brasiliens und | Amerikas überhaupt* | bildet gewißer- | maßen das Gegenstück zu der des | modernen Europas. In beiden Welt- | theilen war diese Entwicklung das | Product der Verbin Wechselwirkung | zwischen einer älteren Civilisation | und einem naturwächsigen Barbaren- | thume; aber im umgekehrten Ver- | hältniße. Denn in Amerika waren | die Eindri Eroberer und Eindring- | linge die Träger der Civilisation, | während die bezwungenen und unter- | jochten Eingeborene Barbaren blie- | ben und bleiben (etwa mit Ausnahme | der Mejicaner *und Peruaner*), bis sie in Mischraçen | mit ihren Eroberern auch an deren | Cultur sich betheiligen. {unleserlich} die | Civilisierung der Erob Daher entwickelte | sich die Cultur in Amerika weil *weniger organisch und ori- | ginell* lang- | samer und allmähligen; denn die civi- | lisierenden Eroberer und Colonen | hatten *einerseits* im langen und harten Kämpfen | gegen die uncultivierte Natur und | die Wildheit der Eingeborene alle | Mühe, selbst nicht zu verwildern, und | konnten nur durch die Verbindung mit | dem

8 Aus einer Notiz in der Revista | do Instituto (Tom. XX, Suppl. p. 80) | ersahen wir, daß Francisco Me- | neses handschriftlich und unvollendet | hinterlassen hat: «Os quadros | da litteratura brasileira». – | In I. Fr. Da Silva’s oben angeführtem | «Diccionario» finden wir Tomo II, p. | 51–54, als bibliographisches Hilfsmittel | erwähnt: «Catalogo dos livros do Gabinete | Portug. de leitura do Rio de Janeiro. | Seguido de um Supplemento das obras | entradas no Gabinete depois de começada | a impressão.» Rio de Janeiro, 1858. 8º. | Enthält 15.–16.000 Bände von ges größten- | theils portugiesischen und brasilischen | sowohl gedruckten als handschriftlichen | Werken. | Ebenfalls nur dem Titel nach bekannt ge- | worden sind uns: Antonio da Silva de Pi- | nheiro, Origines de la poesia da terra de | Cabral (Bahia, 1854. 8º); – und der von | dem Conego Fernandes Pinheiro der in | Rio de Janeiro im J. 1852 erschienenen Über- | setzung des Hiob von José Eloy Ottoni | beigefügte: «Discurso sobre a poesia | em geral, e em particular no Brasil.» | (p. I–XXXIX). |

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Mutterlande und nachströmende | Kräfte aus demselben die mitgebrachte | Cultur bewahren und weiter entwickeln. | {S.} 10.) Andererseits hatten die indianischen | Stämme nicht die Bildungsfähigkeit | der germanischen, und brachten nicht | wie diese neue, frische, in organi- | scher Selbstentwicklung fortschrei- | tende Cultur-Elemente dazu, woraus | trotz des Einflußes einer höheren Civi- | lisation eine eigenthümliche Cultur | und eine originelle Literatur her- | vorgehen konnten. | So hatten namentlich die indianischen | Stämme Brasiliens allerdings eine | «Art von Poesie *die ihnen zum Gesange | diente»,* wie Hr. v. Varnhagen | (l. c. I. p. XI.) sagt und sie also be- | schreibt: «ihre Dichter *der Tupinambás* selbst sogar von ihren | Feinden geschätzt, waren eben die | Musiker oder Sänger selbst, die in | der Regel gute Stimmen hatten, aber | außerordentlich monoton waren, | sie improvisierten Refrains mit Kehr- | Strophen, deren Schlußzeilen mit dem | Refrain reimten (improvisavam | motes com voltas, acabando éstas no | consoante dos mesmos motes). Der Im- | provisator oder die Improvisatorin | trug das Lied in modulierendem Ge- | sang vor (garganteava a cantiga), und | die übrigen antworteten mit der Schluß- | zeile des Refrains (com o fim do mote), | indem sie zu gleicher Zeit und am selben | Platze Rundtänze unter der Begleitung | von Tamborinen Tambourinen und | Maracás9 dazu aufführten. Der Gegen- | stand dieser Lieder waren gewöhnlich | die Thaten der ihrer Altvordern (as façanhas | de seus antepassados), und sie äfften darin | Vögel, Schlangen und andere Thiere nach, | indem sie alles in Vergleichen dichterisch dar- | stellten. Auch waren sie große Redner | und schätzten diese Eigenschaft so hoch, daß | sie häufig zu ihren Häuptliegen die besten | Redner zu Häuptliegen machten.»10 | Aber über die solche Anfänge einer Poesie | kamen diese Indianer nie hinaus, so- | lange sie sich selbst überlassen und un- | vermischt blieben, wie sie auch sonst an | der Stufe der *Jagd und Fischfang treibenden | Wilden* {unleserlich} stehen geblieben sind. |

9 maracá, ein brasilisches Wort, eine | Art Cymbel oder kriegerisches In- | strument, welches die Indianer in | Maranhão aus einem trockenen | Kürbiß oder einer Kokusnuß ver- | fertigen. | 10 Aus einem auf der kaiserl. Bibliothek zu Paris | handschriftlich befindlichen: «Roteiro do Brasil.» | Aus derselben Quelle theilt Hr. v. Magalhaens (l. c. p. | 155) noch eine andere, speciell auf die Tamoyos sich be- | ziehende Stelle mit: «São havidos estes Tamoyos por | grandes musicos, entre o gentio e bailadores, os quais | são muito respeitados dos gentios por onde quer que | vão.» |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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{S.} 11.) Und doch hat die brasilische | Literatur seinen mit dem der meisten neu- | europäischen einen analogen Anfangs- | und Ausgangs- Punct gehabt: | Auch sie entwickelte sich zuerst unter | dem Schutze der christlichen Kirche | und durch die Pflege ihrer Diener. | Die christlichen Missionäre waren es, | welche die ersten Keime dazu legten, | sie waren wohl anfangs die Einzigen, | welche eine literarische Cultur mitge- | bracht und ein Interesse hatten, sie | zu bewahren und zu verbreiten; denn | sie wollten geistliche und geistige Ero- | berungen machen, während die weltlichen | Eroberer *meist ungebildete* Soldaten und Abenteurer, | theils mit der Erwerbung und Behauptung | des neuen Besitzes vollauf zu thun hatten, | theils nur von der Ruhm- und Geldgierde | angetrieben nach der neuen Welt gezo- | gen waren und sich dort niedergelassen | hatten *, ja häufig waren die ersten früheren Colonen | deportierte Verbrecher! –*. | Unter diesen Missionären waren es | wieder vorzugsweise die Jesuiten, | welche sich die Pflege und Verbreitung | geistiger Cultur angelegen sein ließen. | Sie erhielten und pflegten sie unter ihren | Landsleuten, den portugiesischen Ein- | wanderern, durch Anlegung von Schulen. | So wurde die erste Schule der Gram| matik in Brasilien von den Jesuiten | im J. 1543 zu Bahia errichtet, und | eine zweite stifteten dieselben im | J. 1554 an dem Collegium zu Pira- | tininga, in welcher außer der latei- | nischen Grammatik auch die Anfangs- | gründe der Theologie gelehrt wurden.11 Aus diesen Schulen gingen | die ersten Humanisten und die ersten | Dichter auf brasilischem Boden her- | vor. In ihren bildeten sich z. B. | der Franciscaner Vincente de Salvador, | [...]  

{S.} 13.) [...] Man sieht, diese | Darstellungen trugen noch ganz den | Charakter der Auttos und Entre- | mezes, wie wir sie bei Gil Vicente | und seinen nächsten Nachfolgern | finden. | So waren die Jesuiten nicht nur die | Träger, Erhalter und Verbreiter | literarischer Cultur durch Lehre und | Beispiel unter ihren Landsleuten, | sondern suchten auch als Missionäre | bei der Christianisierung der Einge- | borenen deren Anlage für Poesie und | Musik und deren Vorliebe für Be- | redsamkeit zu benützen und zu un- | terstützen.12 Daher sagt Pereira da | Silva (l. c., Vol. I,

11 Pereira da Silva, l. c. Vol. I, p. | 14. | 12 Hr. v. Magalhaens führt z. B. (l. c. p. 156) folgen- | de Stelle aus des Simão de Vasconcellos «Leben | des padre José de Anchieta» an: «Estavam elles | (os filhos dos selvagens) já bastantemente | instruidos na Fé, ler, escrever e contar: foi | traça de José, que viessen estes meninos para | os campos encorporarse com seus discipulos | em favor, e ajuda dos Pàis, com o effeito, que | logo veremos. Continuavam estes na nova Al- | dea sua escola, ajudavam a beneficiar os | officios divinos  

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p. 14) mit Recht: | «der Anfang der Civilisation in Bra- | silien, der Unterricht, den das Volk | {S.} 14.) der Colonie zu erhalten begann, | die Kenntnisse, welche sich verbreiteten, | die ersten lit Keime einer Literatur, | Alles das ist der Sorgfalt der Je- | suiten-Missionäre zu {unleserlich} verdanken».13 | Diese ersten Keime wurden durch | die langen Kämpfe gegen die Hollän- | der und deren endliche Besiegung (1624– | 1662) befruchtet, indem die Kolonisten | portugiesischer Abkunft sich nicht nur | als Söhne des Mutterlandes sondern | auch als Stammväter einer brasi- | lischen Nationalität fühlen lernten. | Auch auf die Entwicklung des als Mu- | sters der Beredsamkeit so berühmt | gewordenen Jesuiten Antonio | Vieira14 waren diese Bewegungen | nicht ohne Einfluß, der, obwohl kein | Brasilier von Geburt, doch durch | seinen langen Aufenthalt, sein | Wirken und seine Werke {unleserlich} | mehr Brasilien als Portugal | angehört. Denn seine lange, segens- | volle Wirksamkeit, besonders für | eine menschlichere Behandlung der In- | dianer,15 so daß man ihn der Las | Casas Brasiliens nennen könnte, sei- | ne große Rednergabe, und sein für | die damalige Zeit reicher Schatz an Kennt- | nissen trugen bedeutend zur Verbrei- | tung der Cultur in Brasilien bei; sei- | ne Predigten und Briefe haben nicht | nur seinen Namen weltberühmt ge- | macht, sondern auch unter den Brasiliern | selbst eine Pflanzschule von Kanzel-

em canto de orgam, e instru- | mentos musicos (o mor gosto e incitamento, | que podia haver para os Pàis, que já alli | estavam, vindos de seus sertoens). Espalha- | vam-se à noite pelas casas de seus pa- | rentes, a cantar as cantigas pias de José | em propria lingoa contrapostas às | que elles costumavam cantar vans | gentilicas». | 13 Auch Norberto de Souza Silva (Re- | vista do Instituto, Vol. XVIII, p. 30) | spricht mit Begeisterung von der Thä- | tigkeit der Jesuiten als Missionäre | und von ihren Einfluß auf die Indianer, | indem er ausruft: «Contempla as fi- | guras venerandas dos Jesuítas, que | trabalhando na catechese d’essas | tribus errantes, aproveitam-se de seu | talento poetico, de sua lingua har- | moniosa e flexivel, fazem versos | pagãos com pensamentos christãos, | e introduzem o theatro nas cidades | que surgem no meio dos desertos, | fazendo representar as Comedias | de Anchietta noa adros das igrejas, | e sombra das florestas.» – Selbst ein nord-deutscher, protestantischer | Geschichtsschreiber, Hr. Handelmann | (Geschichte von Brasilien. Berlin, | 1860, 8º S. 78–81) kann nicht um| hin, die civilisierende Thätigkeit | der Jesuiten lobend zu erwähnen. | 14 Es ist nur wohl über allen Zweifel er- | haben, daß Antonio Vieira den 6ten. | Februar 1608 zu Lissabon geboren | wurde. Er starb den 18ten. Juli 1697 | zu Bahia de Todos os Sanctos. – | Die besten Nachweisungen seiner zahl- | reichen Biographien und der Ausgaben | seiner vielen Werke finden sich in: | da Silva’s Diccion. bibliograph. portug., | Vol I., p. 287–293. – Vgl. das minder günstige | Urtheil Varnhagen’s Hist. do Brazil, Vol. II p. 50–51. | 15 Vgl. Handelmann, l. c. S. 246 ff. |  

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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| Rednern gestiftet, von denen | unter seinen nächsten Nachfolgern | Antonio de Sá und Eusébio de Mattos | die ausgezeichneten sind.16 | [...] {S.} 31.) [...] IIe. Epoche, vom Anfang bis | Mitte des 18ten. Jahrhunderts. | Kapitel 3. Bei immer mehr zunehmen- | der Bedeutung der Colonie und ihres Wohl- | standes, namentlich in Bahia *nun der Residenz eines | Vice-Königs,* auch immer | größere Verbreitung der literarischen | Cultur, besonders durch literarische | Vereine; *höfisch-panegyrischer | Charakter der Dichtung;* {unleserlich}. João Brito | de Lima, Manoel de Santa Maria | und andere gleichzeitige Dichter; {unleserlich} | Sebastian da Rocha Pitta. | Das General-Gouvernement von | Bahia und der Hauptort desselben, | die Stadt des Erlösers, Salvador, an | der *Bai aller Heiligen,* Bahia de todos los Santos (Ba- | hia) waren, wie wir gesehen, schon im | Laufe des 17ten. Jahrhunderts das Cen- | trum der Civilisation Brasiliens | geworden, und daraus waren die be- | deutendsten literarischen Nobili- | täten hervorgegangen. | Seit dem Anfange des 18ten. Jahrhun- | derts, besonders seit der Regierung Königs | Johann V von Portugal (1706–1750) und | {S.} 32) und der dauernden Erhebung dieses | General-Gouvernements zu einem | ViceKönigthum (1720 *–1760*) hatte die | Bedeutung derselben im gleichen | Maße mit dem wachsenden Wohl- | stande zugenommen. | «Bahia», sagt Hr. v. Varnhagen | (l. c., T. I. p. 189), «war damals ein | wahrhaft gesegnetes Land. Seine Be- | völkerung lebte im Überfluß, und | sich einer vollkommenen Ruhe erfreu- | end, trug es nur Sorge für Festlich- | keiten. Da gab es keine Feier eines | im Lande volksthümlichen Heiligen, | keiner Geburtstag eines Princen oder | einer Princessin, keine Vermählung | oder Namensfeier eines Mitgliedes der | königlichen Familie, die da nicht mit Pomp | {unleserlich} begangen oder und dann besungen | wurden. *wurden selbst,* Selbst fehlte es an anderen | Veranlassungen, die Vice-Könige und | ihre Familien wurden dazu gewählt, | sie wurden der Gegenstand nicht nur für | panegyrischer Gedichte überhaupt, sondern | insbesondere für Hochzeits- und Geburts- | gesänge.» | Wie überall gedieh daher auch hier | die literarische Cultur und besonders | die Dichtkunst im Schooße des Wohl- | standes, eines Hofhaltes und des folge- |

16 Vgl. Varnhagen, l. c. vol. I, p. XVIII | der dort noch mehrere andere ausge | als Prediger ausgezeichnete Brasilier | {unleserlich} jener Zeit namhaft | macht. – Vgl. auch Pereira da Silva, l. c. | Vol. I., p. 24; – und über Ant. de Sá, | derselben, Varões ill., Vol. II., p. 310. |

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recht damit verbundenen Luxus; um | so mehr, wenn die an der Spitze der Re- | gierung Stehenden Sinn auch für den gei- | stigen Luxus hatten, und durch gesellige | Vereinigung der Gleichgestimmten und Be- | gabten diese Richtung zu fördern | und zu leiten suchten. Und dieß geschah | hier in der That durch den ViceKönig | Vasco Fernandes Cezar de Menezes, | der im J. 1724 einen den ersten gelehrten Verein in | Bahia unter dem Namen der: «Aca- | demia Brazilica dos Esquecidos» grün- | dete den half.17 | {S.} 33.) Durch diese Verhältnisse und | Einflüße wurde aber zugleich | der Charakter der Leistungen bestimmt. | In Folge jener war es wohl natürlich, | daß die Dichtungen dichterischen Schö- | pfungen den Charakter einer con- | ventionell- geselligen oder höfisch- | panegyrischen Gelegenheits-Poesie, | und die wissenschaftlichen Leistungen | ein akademisches Gepräge erhielten; | um so mehr, als einerseits der bra- | silischen Dichtung noch mehr als der | portugiesischen eine eigentlich volks- | mäßige Grundlage, eine genuine | Volkspoesie fehlte, andrerseits bei | der noch immer vorherrschenden Nach- | ahmung spanischer und portugiesi- | scher Muster in ihr ein freies, selbst- | ständiges Schaffen, mit ausgesproche- | ner Nat nationeller oder individu- | eller Eigenthümlichkeit noch nicht | durchdringen konnte. | [...] {S.} 40.) [...] Sein Werk {Rocha Pittas} ist schon als die erste um- | fassende Geschichte Brasiliens, als die | bis dahin reichste Sammlung des Materi- | als in wissenschaftlicher Hinsicht merkwür- | dig, und wenn man ihm Mangel an Kritik | und allzu gläubige Aufnahme von Wunder- | und Volkssagen vorgeworfen hat, so musste | man, um gerecht zu sein, den damalige | Stand der Wiss historischen Forschung, | die Zeitansichten und die Orthodoxie | des Verfaßers berücksichtigen. Es ist aber | noch merkwürdiger durch das warme Ge- | fühl für das Vaterländische, durch | die anschauliche, lebendige Darstellung und durch | den blühenden Styl, dessen von süd-ame- | rikanischer Gluth erzeugte Überfälle und | Nüchterneren freilich

17 Über diese Akademie und eine ähn- | liche: «dos Felizes», im J. 1736 zu Rio | de Janeiro gestiftet, vgl. Revista | do Inst., Tomo I, p. 80–82; – | und Varnhagen, l. c. Vol., I. p. XXXIV– | XXXV. – Letzterer glaubt, daß der | Name: «dos Esquecidos», die der Ver- | gessenen, daher rühre, weil die Mit- | glieder dies dieser Akademie von | der im. J. 1720 zu Lissabon errichte- | ten «Academia de Historia» ver- | gessen worden seien. Wiewohl die | Schriften dieser Akademie mit dem | Schriften, auf dem sie nach Lissabon zum | Drucke gesandt wurden, verbrannt | sein sollen, behauptet doch Varnhagen | einige davon in der Klosterbiblio- | thek von Alcobaça eingesehen | zu haben, die er anführt, aber für | nicht sehr belangreich erklärt. |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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oft bis zum Bombast | überladen vorkommt. Kurz es ist ein Werk, | an dem Herz und Phantasie noch mehr Theil | haben als Verstand und Kritik, und worin | dichterische Begabung den historischen For- | schungsgeist bei weitem überragt.18 | {S.} 41.) Kapitel 4. Dramatischer Ver- | suche und Zustand der Bühne in | Brasilien – Die «Opera des Juden» | Antonio José da Silva. Wir haben gesehen, daß sich in | Brasilien bis zur Anfange Mitte | des 18ten. Jahrhunderts eigentlich nur | die lyrische Dichtung einigermaßen | entwickelt hatte, und zwar bloß als | Kunstlyrik nach fremden Mustern, | ohne eigentlich volksthümliche Grund- | lage, mit schwacher nationaler Fär- | bung. | Unter solchen Verhältnissen, bei | dem Fehlen einer breiten volksmä- | ßigen Basis und eines prägnant sich | aussprechenden National-Charakters, | bei dem Mangel einer epischen Rich- | tung selbst in der Kunstpoesie, konnte | natürlich ein National-Drama sich | noch nicht bilden. Auch die übrigen | Culturzustände waren noch zu wenig | vorgeschritten, um die Errichtung | regulärer Bühne zum Bedürfniße | zu machen. | Die Versuche, die im Dramatischen | gemacht wurden, beschränkten sich da| her auf entweder auf kirchliche | und festliche Gelegenheitsspiele und Schau- | stellungen, oder auf bloß literarische, | nie zur Aufführung gekommenen und | wohl auch dafür nicht bestimmte Dich- | tungen. | Außer den erwähnten kirchlichen | Darstellungen bei Processionen, und | in den Klöstern und Jesuiten-Collegien, | fanden nur manchmal bei außeror- | dentlichen Gelegenheiten, bei Hoffesten | und anderen Feierlichkeiten drama- | tische Productionen statt, und zwar, wenn | diese sich nicht bloß auf mimische Tänze | oder sogenannte «Entremezes» beschränk- | ten, sondern auch eigentlich Comedias | zur Aufführung {unleserlich} brachten, so wählte man | dazu spanische, und trug sie selbst in | {S.} 42.) dieser Sprache vor. | So wissen wir, daß im Jänner | 1717 zu Bahia Calderon’s Comedie | «El conde Lucanor», und: Los «Afectos de | odio y amor»; und im J. 1729, zum | Feier der Nachricht von der abgeschlo- | ßenen Doppel- | Heirath zwischen den | königli-

18 S. Pereira da Silva, Os var. ill., | Tomo I, p. 185–209. – Als Probe | von Rocha Pitta’s poetischem | Styl geben wir im Anhange, nº | 14 die einige Stellen, die Beschrei- | bung der üppigen Natur Bra- | siliens enthaltend. |

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chen Kronprinzen von Spanien und | Portugal mit den Infantinen Maria | Barbara von Braganza und der spanischen | Maria Anna Victoria von Bourbon | Farnese die Comödien desselben Dich- | ters: «Fineza contra fineza», «La fiera, | el rayo y la piedra» und «El monstruo de | los jardines», und Moreto’s: «La fuerza | del natural», und «El desden con el des- | den» aufgeführt worden sind.19 | Und doch wurde noch zu Anfang | dieses Jahrhunderts in Brasilien | ein dramatischer Dichter geboren | wie Portu die portugiesische Sprache | seit Gil Vicente keinen gehabt hatte | und bis auf Almeida-Garrett keinen | ebenbürtigen bekommen sollte. | Allerdings gehört der unter dem | Nam Verfasser der unter dem Na- | men der «Opern des Juden» (Operas | do judeu) berühmt gewordenen Stücke | nur in Bezug auf seine Familie und | seiner Geburt Brasilien, seiner Bil- | dung und Wirksamkeit nach aber ei- | gentlich Portugal an, und wir können | deßen ausführlichere Besprechung in | diesem Werke nur damit entschuldi- | gen, daß wir diese Gelegenheit be- | nützen wollten, um die erst in neuster | Zeit vollständiger bekannt geworden | und kritisch gesichteten Daten über das | Leben und die Werke eines der begabte- | sten Söhne Brasiliens auch in weiteren | Kreisen kundzumachen.20 | [...] {S.} 52.) [...] Dabei weiß er mit vielem Geschicke | Redeweisen, Sprichwörtern und Witzen des | Volkes sich zu bedienen, so daß seine | Stücke in sprachlicher Beziehung auch | wissenschaftlichen Werth haben. | Diese Volksthümlichkeit, Freiheit und Un- | gebruderheit *Selbstständigkeit* muß man aber Antonio | José um so höher anrechnen als gerade damals | die portugiesischen Drammariker *auch die Dichter der pyrenäischen | Halbinsel* un- | ter dem Drucke des französischen | Pseudo-Classicismus schon ganz ihren | Natio-

19 S. Varnhagen, l. c. Tomo I, p. | XXXIII. und XXXIV.; – und über spätere | ähnliche Festspiele, dessen Hist. do Bra- | zil, Vol. II, p. 207–208. | 20 Die von uns benützten Quellen | sind: Varnhagen, l. c., Tomo I, | p. 201–236; – und in der Revista | do Inst., Tomo IX, p. 114–124; – Pereira | da Silva, Os var. ill., Tomo I, p. 259 | –281; – José Maria da Costa e | Silva, l. c., Tomo X, p. 328–371; – | und: Innocencio Francisco da Silva, | Diccion. bibliograph. portug., Tomo, I, | p. 176–180, in welch letzterem Werke | die übrigen Quellen und Hilfsmittel voll- | ständig verzeichnet und gewürdigt sind. | Ob die von Hrn. Rodrigo de Souza | da Silva Pontes angekündigte Ausgabe | der Werke und die Biographie un- | seres Dichters seitdem erschienen | sind, ist uns nicht bekannt geworden. | Wir haben inzwischen diesen | Abschnitt unseres Werkes als selbst- | ständige Monographie bearbeitet im | 34ten. Bde. der «Sitzungsberichte der phil. hist. Classe | der k. akad. d. Wiss.» und auch besonders abgedruckt | (Wien 1860, 8º) herausgegeben. |

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nalgeist *aufzugeben begannen, | und auch Antonio José durch | seinen Freund, den Grafen von | Ericeira, einen Verehrer der | Boileau’s, mit dessen damals als | Orakelsprüche geltenden Lehren | bekannt gemacht worden war. | Dessen ungeachtet aber und trotzdem, | daß, wie wir bemerkt haben, er die | Werke von Metastasio, Molière, | Rotrou, u.s.w. eifrig studiert hatte, | die Originalität seines Geistes be- | wahrte und der von seinem Natio- | nalgefühle eingegebenen Rich- | tung folgte.*21 | [...] {S.} 60.) IIIte. Epoche, von der Mitte bis | Ende des 18ten. Jahrhunderts. | Kapitel 5. Neuer Aufschwung der brasili- | schen Literatur, besonders durch Pombal’s grö- | ßere Sorgfalt für die Colonie; Creierung | eines neuen Centrums der Cultur durch die | Verlegung der viceköniglichen Residenz nach | Rio de Janeiro; Errichtung von Akademien, | besonders der Arcadia ultramarina; | Dichterschule von Minas Geraes, ihrer Ver- | wicklung in den «Hochverrath von Minas», und | *Folgen davon für* deren Einfluß auf die literarische Ent- | wicklung. Ganz besonders von dieser Epoche gilt | was Pereira da Silva (Parnaso brasil. T. | I. p. 34) von der brasilischen Literatur | des 18ten. Jahrhunderts sagt: «Sie war eine | Copie und Nachahmung der portugiesischen | welche selbst eine Copie und Nachahmung der | französischen Literatur war; doch erkennt | man durch ihr Prisma ihre Nationalität, | ihren neuen, geheiligten Ursprung.» | In dieser Epoche nahm die brasilische | Literatur *in der That* durch verschiedene Einflüße, | deren wir gleich gedenken werden, un- | verkennbar einen neuen Aufschwung, {und} | während sie einerseits sich noch furchtsam | an ihre Muster, die portugiesische, und | mittels derselben, die französische und | italienische Literatur sich anschloss, zeig- | ten sich andererseits immer bedeut- | samer das Streben nach Selbstständig- | keit und die Keime indigener, ori- | gineller Entwicklung. | Einen solchen Aufschwung begünstigende | und derartig gestaltende Einflüße waren | das Emporblühen des Handels in Rio de | Janeiro, die Verlegung der Residenz des | Vicekönigs dahin *(1763)* und dadurch die Bildung | eines neuen Centrums,22 der reichen Gewinn | versprechende Anbau der Goldbergwerken |

21 Vgl. Magalhães, Antonio José | ou o Poeta e a Inquisição, Tragedia. | Rio de Janeiro, 1839. 8º. p. II. | 22 Es wurde sogar schon im J. 1749 1747 in | Rio de Janeiro der Versuch gemacht, eine Drucke- | rei anzulegen, um nicht, wie bisher, alle zum Druck | bestimmten Werke nach Portugal senden zu müssen; | aber die Erzeugnisse dieser ersten brasilischen Drucke- | rei des Antonio da Fonseca beschränkten sich nur | auf ein paar unbedeutende Werkchen, und sie | ging bald wieder ein, entwe-

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Goldgrube von Minas Geraes und die Cons- | tituierung dieser Provinz, die Wichtigkeit | welche Brasilien dadurch bei den Regierenden | im Mutterlande gewann, besonders in den | weit- und scharfsichtigen Augen Pombal’s, der nicht | {S.} 61.) nur die reiche Colonie mit gleicher | Sorgfalt behandelte wie das Mutterland, | die haben sich ausprechenden ihre hoffnunggebenden Söhne der | Colonie unterstützte, und beförderte *und an sich zog,* son- | dern sogar den Plan gehabt haben soll, | den Sitz der Monarchie nach Brasilien | zu verlegen, dessen große Zu| kunft vorahmend er voraussah.23 | So versuchten sich nun auch in Rio de | Janeiro wissenschaftliche und dichteri- | sche Vereine nach dem Muster der | damals über Europa verbreiteten | Akademien und «Arkadien» zu bilden. | [...] {S.} 62.) [...] An diese schloßen sich die theils in | der Provinz Minas, besonders zu Villa | Rica (jetzt Ouro Preto) geborenen, theils | dort ansäßigen Dichter, wie José Batila |Rita José de Santa Rita Durão, Claudio | Manoel da {unleserlich} Costa, Alvarenga Peixoto, | Gonzaga, etc die und wieder unter sich | eine Art von Dichter-Schule bildeten, | die unter dem Namen der von Minas *(Poetas mineiros)* | nicht nur in poetischer sondern auch in poli- | tischer Hinsicht berühmt geworden ist. | Denn in dieser Provinz hatte die Cul- | tur des Goldes nicht nur regeres mate- | rielles Leben, sondern auch Entwick- | lung der geistigen Cultur zur Folge. | Gerade von dieser Provinz gingen die | revolutionären Ver Bewegungen und | die ersten Versuche nach *Erringung der* Unabhängigkeit | aus, und eben jene Dichterschule nahm | davon den thätigsten Antheil. |

der aus Man- | gel an Unterstützung, oder von der | Regierung unterdrückt. – Vgl. Varnhagen, | l. c. p. XXXVI–XXXVII; – Revista do Instituto, Tomo I, p. 14. | 23 Pereira da Silva, l. c. Parnaso brazil., T., I. p. 32, sagt, daß | nach Angaben von Zeitgenossen Pom- | bal’s Aufmerksamkeit vorzüglich die | Stadt Belém von Pará auf sich gezogen | und er den Plan gehabt daran gedacht habe, den Sitz | der portugiesischen Monarchie dahin zu ver- | legen, als einen geeigneteren Mittel- | punct für all die zu ihr gehörigen Län- | der, wodurch einer künftigen Trennung | der beiden Königreiche vorgebeugt werden | könne. – Über die vielen Brasilier, welche | in dieser Epoche hohe Staats- und Kirchen- | Ämter bekleideten, oder sich in den Wissen| schaften auszeichneten, vgl. Varnhagen, | l. c. T. I, p. XLIV–XLVI. – und Pereira da | Silva, Parnaso brazil., V. I. p. 34–37. |

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{S.} 63.) [...] Im Jahr 1783 wurde zum General-Capitän | der Provinz Minas D. Luis da Cunha de | Menezes ernannt. Dieser eitle Mann hatte | sich durch seine Mißgriffe in der Admini- | stration nicht nur verhaßt, sondern auch | lächerlich gemacht, so zwar, daß er zum | Gegenstande einer heftigen Satyre wur- | de, die in neun poetischen Briefen, den | berühmt gewordenen: «Cartas Chilenas» ei- | ner der Dichter von Villa Rica unter dem | Pseudonym Critillo schrieb und an einen | «Dorotheu» in der Residenz richtete.24 Diese | Briefe wurden um 1786 geschrieben, | enthielten das Sündenregister der üblen | Wirtschaft des General-Capitäns, und, | wie sie der allgemeinen Mißstimmung | Ausdruck gaben, trugen sie bei, die Gährung | zu unterhalten, zu steigern und *als Verschwörung bestimmter zu | gestalten. Dazu kam, daß Denn bei der An- | kunft des* zum Ausbruch | vorzubereiten, diesen veranlaßte der | Nachfolgers des Menezes, des Visconde de | Barbacena, der im J. 1788 dieses General- | Capitamt Capitanat antrat, und bis dessen | Ankunft sich wurde das Gerücht verbreitet {unleserlich}, er | werde nun auf einmal die 700 Arroben | Gold eintreiben, welche die Capitanie als | Kopfgeld (pela lei da capitação) schuldete. | Diese Bedrohung der nächsten, materiellen In- | teressen, benützte als das jederzeit sicherste | Revolutionsmittel benützte jene Partei, die, | von den begeistert von den durch nord- | amerikanischen Unabhängigkeitskampf und | die Vorspiele der Französischen Revolution | erzeugten und selbst bis dahin vorgedrungenen | Ideen, schon damals die Losreißung von | der Herrschaft des Mutterlandes und die Con- | stituierung freier Republiken Republiken | {S.} 64.) auch in Brasilien verwirklichen zu | können glaubte. So brachte eines der Häupte | der Verschworenen, Joaquim José da Silva | Xavier, mit dem Beinamen «Tiradentes», | Officier der Provinzialb{unleserlich} Provinzial- | miliz in Villa Rica, bei einem öffentlichen | Gastmahl einen Trinkspruch auf die Un- | abhängigkeit der Minas Geraes und Bra- | siliens aus, welcher von einem großen | Theile der Anwesenden mit lauter | Jubel aufgenommen ward.25 So ging | der Dichter Alvarenga Peixoto in seinem | Enthusiasmus so weit, daß er die künftige | Nationalfahne improvisierte und zu dem | Stossen aufrief bei dem unvermeidlich | bevorstehenden Kampfe.26 Aber dazu sollte | es nicht kommen; [...] |

24 Nach Hrn. v. Varnhagen’s Meinung könn- | ten nur Claudio Manoel oder Al- | varenga Peixoto die Verfasser dieser | Briefe sein, doch getraut er sich nicht, | mit Bestimmtheit für den einen oder | den anderen sich auszusprechen (S. l. c. T. I. | p. XLII und Tom. II. p. 365–367). | 25 Handelmann, a. a. a. o. S. 592. 26 Die von Alvarenga Peixoto vorgeschla- | gene und von vielen den Verschworenen | approbierte Nationalfahne sollte zum | Embleme haben einen Genius, der die | Ketten zerbricht, und zur De-

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{S.} 65.) [...] So ist dieser «Hochverrath von Minas» | sowohl durch die in demselben eine hervor- | ragende Rolle spielenden Dichter, als | auch durch die {unleserlich} *dadurch* angeregten Ideen von | Unabhängkeit Unabhängigkeit in der | Literaturgeschichte Brasiliens epochemachend | geworden. Denn von nun an tritt in der | brasilischen Nationalliteratur, wenn | auch noch schüchtern, das Streben nach grö- | ßerer Selbstständigkeit auf, sei es durch | eine localere und individuellere Färbung, | sei es auch nur durch die Wahl der natio- | naler Stoffe, und in letzterer Beziehung | zeigt sich dies vorzüglich in der Epik. | und Es ist jedenfalls charakteristisch, daß man jetzt begann, in dieser Dichtungsgattung | Versuche zu machen, die freilich noch ganz nach | fremden Mustern geformt waren, weil | ihnen jede vo eigentlich volksmäßige Grund- | lage fehlte, aber doch schon es wagten, den | vaterländischen Boden zum Schauplatz, *Eingeborene zu Mithandelnde | waren auch noch in zweiter Linie,* Lands- | leute zu ihren Helden und nationalen Gefühle | und Gesinnungen zum Gegenstande ihrer Be- | geisterung und Sympathie zu machen. | {S.} 66.) Kapitel 6. Die brasilischen Epiker José | Basílio da Gama, Santa Rita Durão | und José Francisco Cardoso. | [...] {S.} 71.) [...] Es mag sein, daß José Basílio bei der | Wahl dieses Stoffes zunächst von seiner | Abneigung gegen die Jesuiten und von der | Absicht geleitet wurde, sich dadurch Pom- | bal gefällig zu bezeigen. Aber es bleibt | immer bedeutend, daß er überhaupt einen | vaterländischen Stoff gewählt, daß er | im heimischen Boden die epischen Elemen- | te herauszufinden gewußt hat. Zwar | feiert er den Sieg der spanischen und por- | tugiesischen Waffen; aber das Hauptin- | teresse lenkt er auf die Eingeborenen, | sowohl durch Schilderung von Charakteren | und Sitten, Erzählung anziehender Episoden, | und Beschreibung von Naturscenen, und | so gewinnt er – ohne es vielleicht beab- | sichtigt zu haben – die größte Theilnahme | für die Besiegten, für die der Übermacht | unterliegenden Opfer der Verführung. | Er hat darin sicher schon den rechten Weg | eingeschlagen, in brasilischen Zuständen | die poetischen Elemente zu suchen und zu | entdecken, für brasilische Eigenthümlich- | keiten zu interessieren, und so das | nationelle Selbstbewußtsein

vise: | «libertas que sera tamen»; – er machte | den Zaghafteren unter den Verschwor- | enen Muth, indem er ihnen vorstellte, | es genüge, Minas mit Pulver, Salz und | Eisen auf zwei Jahre zu verprovian- | tieren, u.s.w. – Vgl. Pereira da Silva, Os var. ill., Tomo II. p. 86. |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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zu wecken. | Mit Recht sagt daher Pereira da Silva (l. c., p. | 377) von José Basílio’s Gedicht: «er habe darin | eine unter den modernen Compositionen | eine geliefert, worin am meisten der natio- | nal-amerikanische Geist vorwiegt und glänzt, | und worin am meisten die beredten Beschrei- | bungen dieses Welttheils hervortreten».27 | [...] {S.} 83.) Kapitel 7. Die Lyriker *der Schule von Minas:* Claudio | Manoel da Costa; – Alvarenga Peixoto; – Manoel Ignacio da Silva | Alvarenga – Thomaz Antonio Gon- | zaga. *– Manoel Ignacio da Silva | Alvarenga; – Alvarenga | Peixoto; – und Andere.* Domingos Vidal Barbosa | Weniger national-eigenthümlich als | die Epik war die lyrische Dichtung die- | ser Epoche, theils weil es in der Natur | derselben ubh überhaupt liegt, das mehr | Innerliche, Allgemeinmenschliche zum | Gegenstande zu haben, theils weil da- | mals noch der pseudo-classische, | französische Geschmack im romanischen | Sprachgebiet der herrschende war, und | auf die portugiesische Kunstlyrik | und durch dieselbe auch auf die bra- | silische seinen vollen Einfluß aus- | übte. Wenn aber auch diesem Geschmacke | die Formen, die Einkleidung und bis auf | einen gewissen Grad selbst die Denk- | und Gefühlsweise sich anbequemten, und | den typischen Ausdruck einer conventi- | onellen Manier annahmen, wenn auch | die brasilischen Kunstlyriker es nach vor- | z, statt von ihrer großartig-wilden | Natur sich begeistern zu lassen, statt die geheimnißvollen Töne ihre Ur- | wälder, die Geister-Stimmen aus den | Welten des Silber- und Amazonen-Stro- | mes in ihrer Lyra voll und frei ausklin- | gen zu lassen, es noch vorzogen, sich in | die nach französischer Manier zugeschnitte- | nen Hofgärten von Cintra, an die sorg- | lich gedämmten Ufer des *Tejo* Tajo zu ver- | setzten, und in den conventionellen Schäfer-| Habit verhüllt ihre Wehmuts- und Sehnsuchts- | klagen (saudades) dem in Lissabon herr- | schenden Modeton gemäß zu modulieren, | so macht sich doch auch schon manch heimischer | Naturlaut, mancher Ruf des Selbstge- | fühls, und namentlich bei der auch politisch ver- | bündeten, nach Unabhängigkeit strebenden | Dichterschule von Minas, der hohen der schon | bestimmter angeschlagene Ton geltend des bald | von einer ganzen Nation anzustimmenden Freiheits- | Hymnus geltend. |

27 Auch Almeida-Garrett (Parnaso Lusitano, | Tomo I. p. XLVII.) sagt davon von José Ba- | sílio: «que mais nacional foi que nenhum | de seus compatriotas brasileiros» (nämlich bis zu | jener Zeit); und: «os Brazileiros principal- | mente lhe devem a melhor coroa de sua poesia, | que n’elle é verdadeiramente nacional, e le- | gitima americana». |

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{S.} 98.) [...] Wir haben bemerkt, daß wie Gonzaga | auch {unleserlich} Alvarenga unter dem Namen | der Geliebten seine auf sie sich bezie | henden{...} erotischen | Gedichte zusammengereicht hat | und diese hauptsächlich seinen Dichter- | ruhm begründen. An Innigkeit des | {S.} 99.) Gefühls, an Tiefe des Gemüths, | an {unleserlich des Gedankens} Gedankenfülle, | kurz an *höherer* dichterischer Begabung steht er | unbezweifelt Gonzaga nach; aber in | einer Beziehung gebührt ihm in der Ge- | schichte der brasilischen Literatur eine | bedeutendere Stellung als jenem. Er | hat nämlich mit Absicht bewußt sind da- | hin gestrebt, auch der lyrischen Poesie | eine eigenthümliche vaterländische Fär- | bung *(«côr americana»)* zu geben, sei es durch der Na- | tur Brasiliens entnommene Bilder | und Gleichnisse, sei es durch die Anwendung | nationaler Formen und volksmäßiger | Rhythmen. Zwar hat auch er noch durch das | Schäfer-Costüm angethan und {unleserlich} | altclassischen Mythologie noch nicht {unleserlich} | als höfischer, und durch den nicht spar- | samen Gebrauch der alt-classischen | Mythologe als gelehrt-geschulter | Dichter sich zu legitimieren *zu müssen* geglaubt; | aber seine Hirten und Götter weilen | nicht mehr an den Ufern des Tejo | und Mondego, sondern an denen des | Plata- und Amazonen- Stromes; | seine Dryaden und Hamadryaden | beleben die brasilischen Bäume | {unleserlich} Cajueiro und {unleserlich} Man | gueiras (Akaju- und Mango- Baum) | und er verwandelt sich selbst in das | niedlichste Vöglein seiner Heimath | (Beija-flor); dazu hat er sich der | nationalen Form des Rondó mit | Estribilhos (Refrains) und der volks- | mäßigen Redondilhas bedient. | So gebührt Alvarenga unstreitig das | Verdienst, zuerst den Weg in der | Lyrik gezeigt zu haben, wie auch diese | zu nationalisieren war, wenn auch sein | Beispiel damals noch keinen durchgrei- | {S.} 100.) fenden Erfolg haben konnte; weil die | Abhängigkeit vom Mutterlande in der | Poesie wie in der Politik noch zu groß | war. Aber der Same, den er in der Ly- | rik, so wie sein Freund José Basílio | da Gama in der Epik, in den vaterländi- | schen Boden gelegt hatte, blieb nicht | unfruchtbar; er trug reiche Früchte, als | die Sonne der Freiheit ihn zeitigte. | [...] {S.} 113.) 4te. Epoche. Vom Anfang des 19ten. | Jahrhunderts, insbesondere von der | Proclamation der Unabhängigkeit | des brasilischen Reiches (1822) bis *zur völligen, nicht nur politi- | schen, sondern auch literari- | schen Emancipation vom Mutter- | lande, und von der ausschließenden | Herrschaft des Pseudo-Classicis- | mus durch den

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Einfluß des moder- | nen Romanticismus (1840). * | zum völligen Durchbruch des modernen | Romanticismus und des volkthüm- | lichen Princips (1849). Kapitel 9. Hervortreten Wiederbelebung des christ- | lich-religiösen Elements in der | brasilischen Literatur. – Antonio | Pereira de Souza Caldas; – Francisco | de S. Carlos; – José Eloy Ottoni. | Trotz des Aufschwungs, den die brasi- | lische Literatur, wie wir gesehen haben, | seit der Mitte des 18ten. Jahrhunderts | gewonnen, trotz des ersten Auf- | flackerns des Nativismus, der sich | auch in ihr, wie in den politischen und | socialen Verhältnissen, namentlich in | der S Dichter-Schule von Minas | kundgab, blieb in ihr nicht minder, als | im staatlichen und geselligen Leben, | das Colonial-Verhältniß, die geistige | Abhängigkeit vom Mutterlande und | von Europa noch so vorherrschend, | daß sie von dort den Impuls und die | Muster empfing, der europäischen | Geschmacksrichtung folgte, zunächst in | Stoff und Form an die portugiesische | Literatur sich anschloß, und daß Bra- | siliens Söhne noch immer auf der Hoch- | schule von Coimbra und am Hofe von | Lissabon ihre wissenschaftliche Weihe | {S.} 114.) und ihre literarische Ausbildung | sich holten. | Ja selbst die ersten entscheidenden | Schritte, welche die heimischen Elemente | entfesselten und stärkten, sollten noch | vom Mutterlande ausgehen, als der | damalige Regent Portugals, D. João, | am 23 Januar 1808 in Bahia landete | von Napoleon’s kronenräuberischen Hand | gezwungen, in dem transatlantischen | Theile seines Reiches den legitimen | Thron zu bergen, und der erste, der | hier seinen Tha den Sitz des Hofes | hierher verlegte, von dem jubelnden | Volke prophetisch als «Brasiliens | Kaisers» begrüßt wurde. Als einer | seiner ersten Regierungsacte die | Ere brasilischen Höfen für alle Flag- | gen eröffnete, war der jahrhundert- | jährige Bann gelöst, das Colonial- | verhältniß für immer gebrochen | und Brasiliens Unabhängigkeit aus- | gesprochen; dessen Erklärung zu ei- | nem «Reich» in gleichen Range mit | dem Mutterlande im J. 1815, und | dessen Constituierung zum völlig | selbstständigen Kaiserthum *im J. 1822* waren | nur die unausbleibliche Consequen- | zen davon.28 |

28 Der Einfluß, den die Verlegung des Ho- | fes nach Brasilien und insbesondere | die Persönlichkeit D. João’s auf die | Entwicklung dieses Reichs hatte, schildert | Monte Alverne, der größte Redner | Brasiliens, mit folgenden Worten | («Obras oratórias». Rio de Janeiro, 1853, | Tomo XI, p. VI.): «A chegada do Principe | Regente ao Brasil foi saudada como pre- | sagio de sua grandeza, e sua futura | independencia. Os grilhões coloniaes es- | talárão um a um entre as mãos do Prin- | cipe, que a posteridade reconhecerá por o | verdadeiro Fundador do imperio do Brasil. | As artes, a industria, e o commercio flore- | cêrão à sombra do genio creador deste | monarcha generoso, para

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Die Folgen dieser politischen Um- | gestaltung mußten natürlich auch in | der Literatur sich bald kennbar | machen. Denn bald trat auch auf diesem | Gebiete Rivalität und dann Opposition | in Bezug auf das Mutterland ein; das | politische Selbstbewußtsein erstarkte | auch das literarische, und bedurfte man | hier noch der Stützen und Muster, so such- | te man sie zunächst nicht mehr in Portu- | gal bei dem portugiesischen, sondern vor- | zugsweise bei dem Franzosen und Engländer | {S.} 115.) und als später von den Deutschen | ausgehend sich der Sinn für das Volks- | mäßig-eigenthümliche über alle euro- | päischen Culturvölker verbreitete, | fand er bei der nun gestalteten brasi- | lischen Nationalität nur um so mehr | Empfänglichkeit. | Noch fällt in diese Zeit das Wachs- | thum einer politischen Presse in Bra- | silien, und unter den ersten Journa- | len zeichnete sich der von Hippolito | José Da Costa Pereira in London herausgege- | bene «Correio {brazilense} brasiliense» durch seine | nativistische Tendenz und seine wissen- | schaftliche Haltung aus.29 Aber noch vor dieser politischen | Bewegung hatte sich ein durch die | humanistische Richtung und die fran- | zösisch-classische Schule im 18ten. | Jahrhunderte zurückgedrängtes Volks- | thümliches Element, das christlich- | religiöse in der brasilischen Li- | teratur wieder geltend gemacht, | da in diesem Lande, wo von jeher | die geistliche Beredsamkeit mit be- | sonderer Liebe gepflegt wurde, | ohnehin ein sehr fruchtbarer Boden | dafür war. Auch gieng die Wie- | derbelebung dieses Elements in der | brasilischen Literatur, das später | mit dem nationalen verschmolzen | den sogenannten modernen Ro- | manticismus bilden sollte, in der | That von zwei der berühmtesten | Kanzelredner jener Zeit | aus, nämlich von Sousa Caldas und | S. Carlos. |

quem o Bra- | sil era o sonho mais agradavel de sua | vida. Tudo que o Brasil possue em esta- | belecimentos de publica utilidade, teve | nelle sua origem. Arsenaes, Academias | de marinha, Theatro, museo, Escola e | archivo militar, Thesouro, Imprensa, | Bibliotheca, Praças publicas, tudo é devido à sua beneficencia e à sua so- | licitude. A aeção protetora do Principe | devia exercer nos espiritos uma poderosa | influencia.» | 29 S. über H. J. da Costa Pereira, | Silva Pereira da Silva, Os var. | ill., Tomo II. p. 338–339 – | Hypolito hat später noch den «Investigador» in London, den «Patriota» | und die «Gazeta» in Rio de Janeiro, | und die «Idade d’ouro» in Bahia he- | rausgegeben. – Vgl. über die Anfän- | ge der politischen Presse in Brasilien | und der Einfluß Hypolito’s durch seinen | «Correio Braziliense», Varnhagen, Hist. | do Brazil, Vol. III. p. 350–356. |

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{S.} 138.) Kapitel 10. José Bonifacio | de Andrada e Silva; – Fran- | cisco Vilella Barbosa, marquez | de Paranaguá; – *Manuel Alves Branco, | Visconde de Caravellas* Domingos | Borges de Barros, visconde da | Pedrabranca; – *Paulo José de Mello | Azevedo e Brito.* | [...] {S.} 144.) [...] Dies hatte auch der Prinz Regent | erkannt, und um Brasilien der | Dynastie zu erhalten, beschloß | er zu bleiben und die Interessen Bra- | siliens den *sie bedrohenden Anord- | nungen der* Cortés in Lissabon zum | Trotz zu wahren. Zum Beweise dessen | ernannte er *am 16. Jänner 1822* José Bonifácio, der un- | terdeß *als Sprecher der De- | putation von* von São Paulo nach Rio de | Janeiro gekommen war, zu seinem | Staatsminister, indem er ihm die | Departements des Innern, der Justiz | und des Auswärtigen übertrug, so | und dessen Bruder, Martim Francisco30 | später zum Finanzminister. Diese beiden | Brüder übten von nun an sowohl durch | ihre persönliche Stellung als auch durch ihre | Verbindungen mit den politischen Geheim- | gesellschaften den größten Einfluß auf | D. Pedro’s Cabinet und die weitere Ent- | wicklung der Dinge. | [...] {S.} 151.) [...] Als aber D. Pedro I., durch die Re- | volution vom 6ten. April 1831 | bestimmt, zum zweitenmal seine | persönlichen Gefühle und Ansichten | dem Wohle Brasiliens zum Opfer | brachte und wie er früher durch sein | Bleiben so jetzt der dessen Unabhängig- | keit, so jetzt durch sein Abtreten dessen | Einheit, und beidemale das monarchische | Princip sicherte und Brasilien es dadurch vor | dem Zerfallen und vor dem Schick- | sal der spanisch-südamerikani- | schen Republiken bewahrte, als | er nun zu Gunsten seines minder- | jährigen Sohnes abdankte und im | Begriffe war, nach Portugal zurück- | zukehren, Brasiliens und seinem Sohne | auf immer Lebewohl sagend, da | gedachte er seines alten Freundes *, seines genossen bei der Be- | gründung von Brasiliens Un- | abhängigkeit,* José | Bonifacios; ihm übertrug er die Vor- | mundschaft über den minderjährigen | Kaiser *und dessen Schwestern* und die Wahrung der Rechte | der Krone, im Vertrauen auf seine | Ehrenhaftigkeit und in *der Hoffnung, durch seinen | Einfluß die demokra- | tische Partei zu zügeln.* kluger {unleserlich} | seinens Einflußes auf die demokra| tische Partei. |

30 Martim Francisco gilt für | den größten parlamentarischen | Redner Brasiliens. |

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{S.} 153.) [...] José Bonifácio, durch das Alter | ruhiger, durch die Erfahrung klüger, | durch die Beobachtung der europäischen | Zustände maßhaltender geworden, | war noch immer ein ächter Demokrat | und Liberaler er wollt hatte seine | Ansichten bedeutend modificiert; | er war noch immer *, oder vielmehr | erst jetzt* ein ächter De- | mokrat und Liberaler, er wollte | daß das Volk so viel als möglich sich | selbst regieren, aber unter der | Herrschaft des Gesetzes; daß es | der möglichst größten Freiheit sich | erfreue, aber nur so weit sie mit | der Ordnung bestehen kann; kurz | er wollte die progressive, orga- | nische Evolution, aber nicht die | dauernde, überstürzende Revo- | lution; er hatte die Überzeugung ge- | wonnen, daß Brasilien nur durch eine | monarchische Regierung, durch eine star- | ke Centralgewalt von dem Lose der | südamerikanisch-spanischen Republi- | ken, von dem Zerfallen, der föde- | ralistischen Anarchie oder der Mi- | litär-Despotie bewahrt werden | könne. Zugleich hatte er die Pflicht | übernommen, die Rechte der Krone, | seine Mündel zu vertheidigen, dem | {S.} 154.) Vertrauen seines kaiserlichen Freun- | des zu entsprechen. Er schloß sich daher der conservativ-consti- | tutionellen Partei an und trat da- | durch von vorneherein zu der Re- | gentschaft in Opposition. [...] | {S.} 169.) Kapitel 11. José da Natividade | Saldanha; – Luis Paulino Pinto | da França; – Joaquim José Lisboa; | Gaspar José de Mattos Pimentel; – | Januario da Cunha Barboza; – | Padre Silverio da Paraopeba; – | Ladislau dos Santos Titára; – | João Gualberto Ferreira dos Santos | Reis. | Die in dem vorigen Kapitel aufge- | führten Dichter haben schon vermöge | ihrer staatsmännischen Stellung und | ihrer thätigen Theilnahme an der | großen politischen Umgestaltung | ihres Vaterlandes sich veranlaßt | gefunden, das politisch-patrio- | tische Element zu einem der | vorherrschenden auch in ihren | Dichtungen zu machen. Daß dieses | Element, wie natürlich in einer so er- | regten Zeit, alle Schichten durchdrang | und in allen seinen Schattierungen, | von der loyalmonarchischen bis | zur radical-republikanischen, | auch in der Poesie Ausdruck zu | gewinnen suchte, davon können | die in diesem Kapitel zu besprechen- | den Dichter zur als Probe dienen. | [...] {S.} 186.) Kapitel 12. Alvaro Teixeira | de Macedo; – Francisco Ber- | nardino Ribeiro; – Antonio Augusto de Queiroga; – und die | übrigen Dichter dieser Epoche. |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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Außer den bisher erwähnten, | haben wir noch mehrere dieser | Epoche angehörige Dichter ange- | führt gefunden; aber sie sind uns | nur in spärlichen Proben,31 oder | gar nur dem Namen nach32 be- | kannt geworden. Doch dürfte kaum | einer darunter sein, durch dessen | Übergehung eine wesentliche Lücke | in der Geschichte der brasilischen | Literatur verursacht würde. | Wir müßen uns daher begnü- | gen, die folgenden drei heraus- | zuheben, die uns noch als die be- | deutendsten erschienen sind unter | denen erschienen sind, von denen | über welche wir doch einigermaßen | ein selbständiges Urtheil ausbilden | konnten. [...] | {S.} 190.) [...] Diese beiden Dichter drücken daher am | prägnantesten den Charakter dieser | Übergangs-Epoche aus und wir schließen | sie wohl am best passendsten mit diesen Vor- | boten des neu-anbrechenden Frühlings der | brasilischen Literatur, in dem {unleserlich}| {S.} 191.) bisher gelegten Keime und Sprossen sich | hierin, eigenthümlicher und üppiger | {unleserlich} was bis dahin nur keimte | und sproßte, sich hierin, was in | Treibhäusern künstlich gezeitigt, | wurde oder gar von französischen | Ziergärtnern in Wachsthum ge- | hindert wurden und nach convetio- | nellen Modellen zugeschnitten | wurde, nun naturwüchsig sich freier, | eigenthümlicher und üppiger sich | entfaltete, und einen Sommer | von eigenthümlich-*tropischer* {unleserlich} Pracht | und Fülle hoffen läßt. | [...]

31 So finden sich in dem dieser Epoche | gewidmeten 3ten. Theile von Varnha- | gen’s «Florilegio» wohl Proben, aber | in sehr knapper Auswahl und ohne alle | biographische und kritische Bemerkun- | gen, von: Vicente de Costa Jaques | (ein Sonett und eine Glosse darüber), | Fr. Francisco de Paula Santa Gertru- | des Magna, Manuel Ferreira d’Arau- | jo Guimarães (von beiden schwulstige, | und doch triviale {unleserlich} Panegyriken; – | der letztere war Brigadier im Genie- | Corps, geb. den 5ten. März 1777 zu Bahia, | gest. den 24ten. October 1838 *V. Titára, | l. c., p. 131*), und Francisco Ferreira | Barreto (zwei wunderliche Gedichte auf die | Erschaffung des ersten Menschenpaares, | im Psalmisten-Ton und in – «Quadras»!). | 32 Wenn es um Namen zu thun ist, der | vergleiche z. B. Pereira da Silva, | «Parnaso», Tomo II. p. VIII–IX.; – | Norberto de Souza Silva, «Modul.», p. | 46–47; – Titára, l. c. p. 130–140. | Wir wollen nur bemerken, daß darun- | ter auch Dichterinnen aufgeführt wur- | den (Titára, p. 140), was wenigstens | für die schon damals sehr verbrei- | tete Technik des Versemachens und den | poetischen Dilettantismus zeugt. |  

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{S.} 205.) 5te Epoche; vom J. 1840 bis zur | Gegenwart. | {Links in roter Farbe:} Wiederholung aus der Einleitung Kapitel 14. – Mit der Consolidierung | der Monarchie, Verbreitung und Un- | terstützung der Wissenschaften und | Künste durch *die Regierung und* den Kaiser selbst, | auch immer völligere Entwicklung einer | eigentlichen, selbstständigen National- | literatur, unter dem Einfluße der | modern-romantischen Schule und | durch das das selbstbewußte Auftreten {unleserlich} des | nativistischen Princips – | Domingos José Gonçalves de | Magalhães. | Wir haben bisher gesehen, wie der | Boden Brasiliens von der europäischen | Civilisation *und zunächst von den | Portugiesen* erobert, urbar gemacht und | cultiviert wurde; wie ebenso und in Folge | dessen die geistige Entwicklung und Bildung | Brasiliens, und ihr intensivster Ausdruck, | dessen die Nationalliteratur, nur der Re- | flex der portugiesischen, und höchstens | durch dieses Prisma der europäischen | Bildung und Literatur überhaupt war und wer- | den mußte; wie dieses geistige Colonial- | verhältniß gleichen Schritt hielt mit dem | politischen und mit demselben analoge | Phasen durchmachen mußte; wir haben | aber auch gesehen, wie die auf Brasiliens | Boden gebornen Abkömmlinge der | Eroberer und Colonisten sich immer mehr | mit der Erde, die sie getragen, mit der | Natur, die sie umgab, identificierten, {S.} 206.) wie die von ihnen stammenden Genera- | tionen, unter der tropischen Sonne | aufgewachsen, von einer großartig | reichen, üppig-wilden Natur bald be- | günstigt, bald zum Kampfe mit ihr und | den Söhnen der Wildniß, den Ur- | einwohnern gezwungen, *bald aber auch durch friedliche, besonders ge- | schlechtliche Verbindungen mit den | letzteren, und später auch mit den | Negern zu einer Mischrace ver- | schmelzend,* ein heißeres | Blut, eine kindlichere Anfänglichkeit an | die mütterlich-freigebige Erde, ein | lebendigeres *Gefühl* für ihre Reize, und durch | die ihr abgerungenen Siege ein immer | mehr erstarkendes Selbstbewußtsein | bekommen mußten; kurz, wie für immer | mehr als eine von den portugiesischen Stammvätern | wesentlich verschiedene *Race oder* Volksart, mit ei- | genthümlicher climatisch *durch Clima und | Mischung* modificierter | physischer Organisation, mit schon darin | begründeter und durch die politischen Ver- | hältnisse noch gesteigert Verschieden- | heit in der Denk- und Gefühlsweise | und mit Sonder-Interessen *sich* ausgebil- | det haben. Daher haben wir auch gesehen, | wie diese Verschiedenheit und Eigenthüm- | lichkeit in der brasilischen Literatur | trotz ihrer Abhängigkeit von der portu- | giesisch-europäischen, zum Ausdruck | zu kommen suchten; wie die brasilischen | Dichter, wenn sie auch in Coimbra ihre | Bildung erhielten und sich in formeller | Hinsicht den Gesetzen der jeweilig aus |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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Tejo und Mondego herrschenden Schule | unterworfen, doch mit Vorliebe vater- | ländischer Stoffe wählten, der vater- | ländischen Natur ihre Bilder ent- | nahmen und immer mehr von patrioti- | schen Gefühlen begeistert und hinge- | rissen wurden. | Daher konnte Hr. Santiago Nunes | Ribeiro, selbst ein begabter Dichter | Brasiliens, mit Recht sagen: «Die | Poesie Brasiliens ist eine Tochter der | amerikanischen Begeisterung (filha | da inspiração americana) ... Statt | sie daher für eine schöne Fremde, für | {S.} 207.) eine Jungfrau aus der Gefilden | von Hellas, verpflegt nach den Re- | gionen der neuen Welt gebracht, | anzusehen, wollen wir sie lieber | eine Tochter der Wildniß (filha das | florestas) nennen, erzogen im alten | Europa, wo ihre angeborene Begeiste- | rung (a sua inspiração nativa) sich durch | das Studium und die Betrachtung der | fremden Wissenschaft und Natur | entwickelten. ... Wenn sie dennoch so | sehr Brasiliens eingedenk blieb, so ge- | schah es eben weil es ihr Vaterland war | und sie so des Gefühls ihrer Nationali- | tät bewußt wurden».33 | Wir sahen endlich, daß dieses Ge- | fühl einer eigenthümlichen Nationali- | tät, das während der Colonial-Zeit | nur schüchtern sich hervorwagte, oder | wenn es zeitweise kühner auftrat, | wie ein Rebell sich geberdete, erst | dann mit Sicherheit und im vollen Selbst- | bewußtsein seiner Berechtigung sich | aussprach,34 als Brasiliens Unabhängig- | keit *am Ufer des Ipiranga* {unleserlich} | ausgerufen war, als das fünfte Kai- | serreich sich constituiert hatte, und als | mit der Mündigkeitserklärung D. Pedro’s | II. das monarchische Princip befe- | stigt, und die Succession einer heimi- | schen Dynastie geführet war | legitimiert, und so Brasilien von der | Zertrümmerung in anarchische Re- | publiken gesichert war, und dessen

33 Minerva Brasiliense, Rio de Ja- | neiro, 1843. Tomo I. p. 16, in dem | Aufsatze: «Da nacionalidade da | litteratura brasileira», der die von | einem Dr. Gama e Cástro (in «Jornal | do Commercio») und von den Portugie- | sen überhaupt gewöhnlich aufgestellte | Behauptung mit triftigen Gründen wi- | derlegt, als besäßen die Brasilier | keine eigenthümliche Literatur, son- | dern diese {unleserlich} gehöre zur por- | tugiesischen, weil die Sprache, in der | sie geschrieben ist, keine von Brasi- | liern eigenthümlich sondern die por- | tug der Portugiesen ist. | 34 Von diesem Gefühl, und dem dadurch bewirkten | Umschwung in der brasilischen Literatur sagt | Hr. v. Magalhães treffend («Nichteroy», T. I. p. 151 | –152): «No seculo XIX com as mudanças, e refor- | mas politicas, que tem o Brasil experimentado | nova facie Litteraria apresenta. Uma só ideia | absorve todos os pensamentos, uma nova ideia | até alli desconhecida, é a ideia da Patria; ella | domina tudo, tudo se faz por ella, ou em seu | nome. |

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| Bewohner, von Pará bis Rio | Grande do Sul, von Alagoas bis | Matto Grosso als Eine, große zu- | sammengehörige Nation sich fühlen | gelernt hatten.35 | {S.} 208.) Nun erst – besonders nachdem der alles | übertäubende, die Wissenschaft und Kunst | verstummen machende Lärm, der mit dem Con- | stitutionalismus unvermeidlich verbun- | dene politische Leidenschaften und | Parteikämpfe immer mehr auf sein ei- | gentliches Gebiet, das Parlamentshaus, | beschränkt, und durch des Kaisers Ver- | söhnungsworte gemäßigt und beschwich- | tigt worden war;36 nachdem in also | beruhigteren und gesetzmäßigeren | Zuständen neben

35 Daß aber bei der Heterogenität der | Abstammung des Einwohner brasilischen | Volks nur der Monarchismus ein Ge- | fühl der Zusammengehörigkeit erzeu- | gen, erhalten und bis zu dem Grade eines | wahren Nationalgefühls erstarken ma- | chen konnte, haben die einsichtsvolleren | unter den brasilischen Politikern selbst | zugegeben, und ist z. B. recht gut nachge- | wiesen worden in: «Bosquejo historico, | politico e literario do Brasil; ... por um | Brasileiro. «Nichteroy», 1835, 4to; beson- | ders pag. 74 seg. –75; – vgl. auch: Pereira | da Silva «Le Brésil sous l’empereur Dom | Pedro II.» in der Revue des deux mondes, 2e | période, Tome XIV, Paris, 1858, p. 797–799. | 36 Der treffliche Dichter und Redner Joaquim | Manoel de Macedo entwirft von jenen | Zeiten politischer Aufregung und ihrem schäd- | lichen Einfluß auf Wissenschaft und Kunst ein | leider nur zu wahres Bild, da sich überall | unter ähnlichen Verhältnissen dazu Gegenstücke | finden. Er sagt davon in seiner im J. 1857 im | historisch-geographischen Institut gehaltenen | Rede (Revista, Tomo XX, Supplem. p. 75–76): | «Es gab eine Zeit – und noch muß die Erinnerung | daran frisch in Aller Gedächtniß sein – in welcher | die Heftigkeit der politischen Leidenschaften, die das | Land in fortwährende Convulsionen versetzten | und aufregten, alle Menschen mit sich fortrieß | und ausschließend alle Geister beherrschte. Damals | verachtete man die Feder, welche sich nicht hergab, | den Heißhunger des Publicums zu stillen (para | acudir à voracidade publica), indem sie mehr oder | minder extravagante gouvernamentale Theo- | rien schrieb, oder, wie ein Dolch mit vergifteter | Klinge, die Brust des politischen Gegners traf. | Es war ein ruhmloser, brudermörderischer | Kampf; aber es war ein wuthentbrannter | Kampf, und während seinem Wüthen waren | der Dichter und der Künstler, Heloten, zur | Vergessenheit verdammt, welche den Genius | ersticht, wie die Söhne einer fremden Erde, | eine Sprache sprechend, die Niemand verstand. | Damals suchte man mit größerer Begierde | das maßlose, brandschürende Journal, als | die «Suspiros poeticos» von Magalhaens; und | die Diatriben und Verläumdungen geschleudert | gegen den Staatmann der {unleserlich} | Publizisten der auf Seite der Regierung stand, | oder gegen jenen, der die Überschreitungen | der Regierung bekämpfte, hatten tausendmal | mehr Werth, als eine ein von der schönsten Be- | geisterung eingegebener Gesang. Sollte man auch | ein oder das anderemal Beifall einer beiß- | enden Satire, welche sich den Regeln der Metrik | unterworfen hatte, so beklatschte man sie nur, | weil auch in ihr eine politischen Waffe war, man | begrüßte mit Beifall das Gift, das ihren Versen | tropfenweise entfloß (que distillavam seus | versos), man beklatschte das Metrum nur, weil | es dem Gedächtniß zu Hilfe kam, den Insult | zu behalten; man beklatschte die Satire, aber | verachtete die Poesie; man beklatschte den | Politiker, aber verachtete den Dichter, der | nur {unleserlich} als ein Gelegenheits-Juvenal | etwa galt (que não passava de um Juvenal de occasião).» |  

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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dem nur noch mate- | riellen Interessen huldigenden Industri- | alismus und der commerziellen Pluto- | kratie auch wieder das Bedürfniß nach | geistiger Nahrung und die Aristokratie | des Ideals sich wieder geltend machen | konnten; – nun erst war es möglich ge- | worden, daß dieses Nationalgefühl nicht | nur in vereinzelten Ausbrüchen, in mehr | subjectiven Stimmungen, gleichsam wie ein | Gelegenheitsdichter auch in der Literatur sich | manifestierte, sondern daß es diese durch | geistigte, in ihr sich zu objectivieren, sie | sich homogen umzugestalten und in allen | zeitgemäßen Richtungen zu entwickeln | suchte. | Zu dieser Entwicklung trug des | Kaisers persönliche Theilnahme an der Wis- | senschaft und Kunst mächtig bei. Denn D. | Pedro II. ist nicht nur ein erleuchteter | Gönner derselben, er versammelt nicht | blos aus Vergnügen an geistiger Unter- | haltung Gelehrte und Künstler an seinem | Hofe; {unleserlich} er unterstützt und | begünstigt sie nicht blos aus berechnender | Schlauheit, wie Augustus, oder aus eitlem | Egoismus, wie Ludwig XIV., um seine Macht | durch sie vergrößern, seinen Namen | feiern zu lassen; nicht blos als Mittel zu | politischen Zwecken oder zur Selbstverherr- | lichung, sondern um ihrerselbst willen achtet | und fördert er die Wissenschaft und die | Kunst und ist in mehr als einem Zweig | {S.} 209.) derselben nicht blos Dilettant, | sondern gründlicher Kenner.37 So ver- | säumt er selten, an den Sitzungen | des historisch-geographischen Instituts | persönlich theilzunehmen, wie die Sitzungs- | protokolle derselben fast jedesmal des | Kaisers Gegenwart constatieren. | Daher entstanden bildeten sich unter seiner Re- | gierung38 viele neue wissenschaftliche Anstalten und Vereine, | und hatte früher der politische Jour- | nalismus alles überwuchert,39 so konnten | nun auch blos der Wissenschaft und Kunst | gewidmete Zeitschriften sich Bahn bre- | chen und ein Publicum finden. Die | be-

37 Der berühmter Dichter Herculano, den man | als Portugiesen und Liberalen gewiß nicht der | Schmeichelei verdächtigen wird, sagte von D. Pedro II. | schon im J. 1847: «É geralmente sabido que o jovem imperador do | Brazil dedica todos os momentos que pode salvar | das ocupações materiaes de chefe de Estado ao culto | das lettras. ... Não notaes n’estas tendencias do moço | principe um symbolo do presente e uma prophecia | consoladora acerca do porvir do Brazil?». («Cantos», | de A. G. Dias, 3. ed. Leipzig, 1860. 8º Tomo I. p. XII. | 38 Im J. 1856 gab es in Brasilien 2.460 Pri- | mär- und Sekundär-Schulen, die von 82.500 | Schülern besucht wurden. Rechtsakademien sind | in São Paulo und Pernambuco, medicinische und | mathematischen Facultäten in Bahia und Rio. | S. Pereira da Silva, «Le Brésil sous l’emp. D. Pedro II», | l. c. p. 814 – Nun ist man nicht mehr genöthigt nach | Coimbra zu gehen, um eine höhere wissenschaftliche | Bildung zu erlangen. {unleserlich} 39 S. «Progresso do Jornalismo no | Brazil» von Francisco de Souza | Martins, in der «Revista do Inst.», | Tomo VIII (1846), p. 262–275. der | {unleserlich} Im J. 1846 erschienen in Brasilien gegen

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deutendste darunter, die so oft er- | wähnte «Revista» des historisch-geo- | graphischen Instituts hatte an Reichhaltig- | keit und Gediegenheit immer mehr | zugenommen, und da fast alle aus- | gezeichneten Dichter auch Mitglieder | des Instituts sind und insbesondere | als Sekretäre und Redner (oradores) | desselben sich lebhaft daran bethei- | ligen, so ist dieses Journal *nicht nur* auch eine | der wichtigsten Quellen für die Ge- | schichte, für die Vergangenheit der brasilischen National- | literatur geworden, wie unsere | oftmaligen Hinweisungen auf das- | selbe bezeigen, sondern hat auch | auf ihre fernere Entwicklung auch in Zukunft einen | unmittelbaren Einfluß gewonnen.40 | Neben diesem Journal verdienen als | die einflußreichsten in letzterer Bezie- | hung erwähnt zu werden: Me «Nitheroy» | (1836); «Minerva brasiliense» (1843); | «Iris» (1847); «Guanabara» (1849) und | «Revista brazileira» (1857), die theils | als litterarische Centren zur Vereinigung | der besten Kräfte und Veröffentlichung ihre | Publicationen Productionen, theils als kritische Orga- | ne zur Erweckung und Bildung des Geschmacks | und Verbreitung der neuesten Aussichten | dienten. | {S.} 210.) Während also durch Beruhigung und | Ordnung der inneren politischen Zu- | stände, durch Stärkung des National- | gefühls und durch vom Throne selbst | ausgehende Achtung und Verbreitung wissenschaftli- | cher und künstlerischer Bildung41 Brasili- | ens Boden vorbereitet war, aus eige- | ner Kraft diesen geistigen Samen | zu nähren, zu zeitigen und eine reiche | Ärnte an indigenen Früchte hoffen zu | lassen, hatte auch im alternden Europa | eine Verjüngung stattgefunden, welche | beitragen sollte diese Hoffnung zu be- | günstigen. |

| 80 Journale, worunter 17 wissen- | schaftliche und litterarische, während | im J. 1835 nur fünf der letzteren Gat- | tung sich zeitweise erhalten konnten. | 40 Man vgl. über die Entwicklung die- | ses Instituts unter der Regierung | D. Pedro’s II. den den von dem Redner D. | Joaquim Manoel de Macedo in der | öffentlichen Sitzung vom J. 1854 gege- | benen Bericht erst (Relatorio), worin er | unter anderem sagt (Revista, Tomo XVII. | Supplem. p. 8): «O patriotismo que se dei- | xára guiar pela sabedoria viu dentro em | pouco a consummação da sua obra: o im- | perador do Brazil abrindo-lhe as portas | de seu palacio, chamou o Instituto para | perto de si, faz reflectir sobre elle o brilho | de sua augusta magestade, e, graças a seu | soberano influxo, uma simples associa- | ção de homens amantes das letras trans- | formou-se em uma bella instituição | do paíz.» – Und insbesondere über des Kai- | sers Unterstützung und Theilnahme: p. 9–10. | 41 So ist nun der {unleserlich} Doktor-Titel | und sich als Professor auszuzeichnen, der | sicherste Weg Carière zu machen, zu den | höchsten Würden und Adelstitel zu ge- | langen; denn nur einen rein gewöhnlichen, | nicht einmal auf der Söhne vererblichen | Adel gibt es in Brasilien, und daher | keine Vorrechte oder Begünstigungen ei- | ner {unleserlich} Aristokratie der Geburt. Auch haben sich die meisten | Staatsmänner in der Dichtkunst ver-| sucht, und so manche einen ebenso be- | deutenden literarischen, als politi- | schen Ruf erworben.

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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Europa war nicht bloß durch die | Bluttaufe der französischen Revo- | lution politisch verjüngt, sondern auch | durch die von Deutschland ausgehende | Confirmation des volksthümlichen Prin- | cips, die Festigung des Glaubens an | naturwüchsige, nationelle Spontanei- | tät geistig verjüngt worden. Dadurch ist | namentlich in der Poesie die Continui- | tät der spontanen Entwicklung wieder | hergestellt, von den Fesseln des Pseudo- | Classicismus befreit, und die Berechtigung | jeder Volksthümlichkeit sich naturgemäß | auszusprechen, wieder anerkannt worden. | Man hat diese Regeneration mit dem | Namen Romanticismus bezeichnet, | und insofern nicht mit Unrecht, als | man: romanisch die Vulgärensprachen, | die Volksmundarten (lingua romana | rustica) im Gegensatz zur römischen | Schriftsprache (sermo urbanus) *und jedes Werk in der Volks- | sprache: «Romans» oder «Ro- | mant»* genannt | hat; denn der wahre, berechtigte Ro- | manticismus ist ja nur der von jeder | conventionellen Sprache befreite Aus| druck des eigenthümlichen Volksgeistes.42 | Diese Befreiung war ein Werk deutscher | Kritik, und die Deutschen haben den Fran- | zosen die doppelte Knechtung, die politi- | sche und die geistige, die | sie so lange von ihnen | erduldet hatten, dadurch vergolten, | daß sie selbst dieses Volk, das sich in seinen | pseudo-classischen Fesseln so wohl gefiel | {S.} 211.) und so lange auch die anderen | Nationen zur diesen Nachäffung *dieser freiwilligen | Sclaverei* ver- | anlaßt hatte, endlich *davon befreiten und* zum Selbstbewußt- | sein brachten. Allerdings sind die Fran- | zosen, wie gewöhnlich, von einem Extrem | in das andere, er von der {unleserlich} | Sclaverei in die Zügellosigkeit ver- | fallen, haben, statt wie einst ein Bild | voll Naivität, nun ein Zerrbild von

42 Daß dies der wahre historisch begründete | Begriff des Romantismus oder Roman- | ticismus ist, wird sogar durch die in Folge seiner | Auswüchse und seiner Entartung damit ver- | bundener Nebenbegriffen bestätigt. Denn aus | demselben Grunde hat man die mittelalterliche, | nicht-antike, den Völkern der neuen Welt ei- | genthümliche Kunst die romantische, richtiger | romanische, genannt. Darum, und weil diese | Völker, um die Continuität ihrer spontanen | Entwicklung herzustellen und den in der moder- | nen Zeit dazwischen eingetretenen Einfluß der Humanisten | und Reformisten, des Classicismus und Ratio- | nalismus zu paralysieren, meist zum soge- | nannten Mittelalter zurückehren mußten, | wo ihre eigenthümlichste, selbstständigste Ent- | wicklung in vollster Blüthe stand, hat man | mittelalterlich und romantisch fast synonym | gebraucht. Weil aber diese mittelalterliche | Kunst und Poesie | fromm-gläu- | big, von I- | dealen und | Ahnungen erfüllt ist, das mystisch-abenteu- | erlich, phantastisch-wunderbare liebt, hat man | dem Romantischen auch alle diese Bedeutungen | unterlegt, und, das zufällige für das wesentliche, | die Auswüchse für den Stamm haltend, hat der | falsche moderne Romanticismus alles das noch | carikiert und auch den ächten discreditiert, so daß | man auch das subjectiv-willkürliche, nebulos- | verschwommene, capriciös-formlose in der | Kunst und Poesie romantisch genannt hat. |

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| sich gegeben, und durch sie ist die wahre | Natur und Berechtigung des Romanti| cismus auch schon vielfach verdunkelt | und in Zweifel gestellt worden.43 Aber | doch wurde hauptsächlich durch sie auch das | gute Princip des ächten Romanticis- | mus, bei den übrigen romanischen | Nationen wieder zur Anerkennung gebracht, {unleserlich} be- | wirkte auch bei diesen die Abwer- | fung der solange nachgeschleppten pseu- | do-classischen Fesseln, und spornte sie | an zu freier Bewegung, zu spontaner | Entwicklung ihrer Volksthümlichkeit.44 | Diese Entfesselung hatte sich über | Europa zur selben Zeit verbreitet, | als die oben erwähnten, für die | brasilische Nationalliteratur so | günstigen Verhältnisse {unleserlich} | stattfanden, und so verband sich der | Romanticismus auf die {unleserlich} glücklichste | Weise mit dem in Brasilien bereits | zur Potenz gewordenen Nativismus. | {unleserlich}. | {S.} 212.) {unleserlich} Dieser Verbindung bedurfte der | Nativismus aber um so mehr, sollte | er ein poetisches Element werden | und eine positive Grundlage abgeben | als er sich bisher nur mehr negativ | als Antagonismus gegen die politische | Abhängigkeit vom europäischen Mutter- | lande ausgesprochen hatte, ohne auch | von der geistigen gänzlich sich gänzlich freimachen, | ohne ein eigentlich historisches, d. i. in | einer selbstständigen Geschichte begrün- | detes Bewußtsein entwickeln zu können, | denn er mußte ja die neueste Zeit, | seit der Unabhängigkeitserklärung, | mit jener vorhistorischen in Continui- | tät bringen, die der Eroberung und | Colonisierung vorausging, wollte er | sein Princip auch legitimieren. |

43 Das machte wohl den Kaiser D. Pedro II., | der auch hindurch einen Beweis von seinem | Scharfsinn und seiner Umsicht gab, veran- | lassen, dem historisch-geographischen | Institut die Frage vorzulegen: | «Befördert oder hindert das Studium | und die Nachahmung der Romantiker | die Entwicklung der Nationalpoesie» | (O estudo, e imitação dos poetas roman- | ticos promove, ou impede o desen- | volvimento da poesia nacional)? – | welche Frage von dem damaligen (1850) | Secretär des Instituts Dr. Paula Me- | nezes in einer sehr schön geschriebenen, | den ächten Romanticismus würdigen- | den Abhandlung beantwortet wurde | (V. «Guanabara», Tomo I. p. 293). | 44 Daß, wie mehr oder minder bei allen | Nationen romanischer Zunge, auch bei | der brasilischen dieser französischen Ein- | fluß, und durch ihn der des modernen Ro- | manticismus ein bedeutendes Entwicklungs- | Moment in der Literatur bildet, haben | die Brasilier selbst vielfach anerkannt; – | vgl. z. B. die Zeugnisse des Herr v. Maga- | lhães in Nitheroy, Tomo {unleserlich} | I. p. nº I, p. 149; – Pereira da Silva, in «Le Bré- | sil sous l’empereur D. Pedro II.», 1. c. p. 843; – | Echos da alma, poesias colligidas pelo | poeta macambuzio (Baptista Caetano de | Almeida). Rio de Janeiro, 1856. 8º, p. 22– | 24; – letzterer schlägt sogar dagegen das | nationale Element zu gering an. |  

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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Nun aber, nachdem der Nativismus | durch den Romanticismus die ideelle | Weise und Berechtigung eingefangen hatte, | nachdem die innere Entwicklung so weit | vorgeschritten war, um auch die geistigen | Mittel zur Realisierung dieses Prin- | cips zu bieten, und dadurch eine wahre | Nationalliteratur zu ermöglichen, | bedurfte es nur eines genialen {unleserlich} | Protagonisten, um diesem Principe | den Sieg zu verschaffen, um das, was | gleichsam in der Luft lag, zu verkör- | pern, um das, was auf allen Lippen | schwebte, auszusprechen, um, nachdem | der Geist frei geworden, auch die Form | seiner Erscheinung frei zu gestalten, | kurz, um *der Mann der Epoche* {unleserlich} zu werden. | {S.} 213.) Und wie immer in solchen Epochen, | wo das Herz einer Nation voll ist und | nur der Zunge bedarf, um überzu- | fließen, fand sich auch in Brasilien | der rechte Mann dazu: Domingos | José Gonçalves de Magalhães wur- | de ihr erster Wortführer, das Haupt | einer neuen, der eigentlich nationalen | Dichterschule.45 |

45 Als solches haben Magalhães die | begabtesten unter seiner Zeit, sei- | ne Landsleute selbst, ja sogar die | begabtesten unter seinen Neben- | buhlern anerkannt und ausgerufen; | so begrüßte {unleserlich} einer der bekanntesten | Kritiker Brasiliens F. L. Torres Homem | die Erscheinung von dessen «Suspiros poe- | ticos e Saudades» mit folgenden Worten | («Nitheroy», Tomo I. nº 2, p. 254): «Esta pro- | ducção de um novo genero é destinada a | abrir uma era à poesia Brasileira. Permitta | deos, que ella não fique solitaria no meio da | nossa litteratura, como uma sumptuosa pal- | meira no meio dos desertos. Apesar de tudo cre- | mos que o tempo futuro não conseguirá riscar | da memoria dos admiradores das musas o | nome do auctor dos Suspiros Poeticos. | Dissemos apesar de tudo, por que nós ou- | tros Brasileiros não podemos soffrer re- | putações;» etc. – Ebenda (p. 239) sagt Pereira | da Silva von dem Verfasser der «Suspiros»: «ao auctor compete a duplicada coroa do | primeiro lyrico Brasileiro, e de chefe de uma | nova escola». – Noberto de Souza Silva | beginnt mit Magalhães die neueste Epoche | in seinem Abriß der Geschichte der brasilischen | Literatur und äußert sich über dessen Auftreten | also («Modul.» p. 47): «Em sua apparição no | estadio da litteratura brasileira, com um | opusculo de bellas poesias, o Sr. D. J. G. de M. foi | saudado pelas notabilidades do paiz e Evaristo | Ferreira da Veiga e o visconde de Cayru lhe | tributaram publicamente não immeritos | encomeos, e tanto mais que – ha tempos de | nossos prelos não saïa um opusculo que tanto | lustre desse a nossa litteratura, e que fizesse | apparecer em tanto relevo o bom ingenho bra- | siliano. –» Und in der Minerva, p. 415: | «o qual (Magalhães) dando o signal para | a reforma se constitue chefe de uma revo- | lução toda litteraria, e marca nos annaes | da litteratura do Novo Mundo uma epocha | brilhante de poesia». – Ebenso hat Santiago | Nunes Ribeiro in seinem Aufsatze: «Da nacio- | nalidade da litt. bras.» (in der Mi- | nerva, p. 23), worin er für die Ge- | schichte der brasil. Lit. drei Epochen | aufstellt, {unleserlich} als den Repräsentanten der dritten Ma- | galhães bezeichnet: «Terceira epocha. O | seu representante legitimo e natural é o Sr. Dr. Magalhães.» – Auch D. Ma- | noel de Araújo PortoAlegre, | einer der berühmtesten Dichter der | neuesten Zeit, hat sich ebenso über | Magalhães ausgesprochen (Gua- | nabara, Tomo II. p. 42): «Foi o Sr. | Magalhães, o Garrett brasileiro, e | para melhor o dizer, o fundador | da nova escola. Foi elle {unleserlich} | quem contrabalançou a gloria

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{S.} 219.) [...] Bedenkt man daher dieses Abweichen | von dem Gewohnten, dieses {unleserlich} | bei südlichen Völkern seltene | Vorherrschen der Reflexion und | Speculation, dieses für sie doppelte | empfindliche Entbehren des Zaubers | der sinnlichen Wirkung der Form, die | bei einer so dominierenden Grundstim- | mung und absichtlich durchgeführten Har- | monie des Gedankens kaum | *Einfärbigkeit*, {unleserlich} so wird man das {unleserlich} {S.} S. 220.) *Wagniß des Dichters beim | Betreten dieser neuen Bahn | ermessen können;* in dem Auftreten des Dichters nicht | verkennen können; aber um so mehr | aus in seinem glänzenden Erfolge | aus in seinem umgestaltenden Einfluß | auf die vaterländische Dichtung auf | seine absolute und relative Bedeutung | schließen können anerkennen müßen. | Es thut seiner Originalität keinen | Eintrag, wenn auch die Bekanntschaft | mit dem französischen Romanti- | cismus, und namentlich mit Lamartine’s | «Méditations» vielleicht der nächste | äußere Anlaß wurde, das was sein | innerstes Wesen ausmachte, was | ihn «beseelte», frei von jeder Fessel | in seiner ganzen Eigenthümlichkeit | auszusprechen. Es kann höchstens für | einen Mahnruf gelten, nur der ei- | genen Kraft zu vertrauen und zu fol- | gen, der sie zum Selbstbewußtsein | und zur freien Entwicklung ihrer Ori- | ginalität erweckte; Kraft und Origi- | nalität mußten aber da sein, um solchen | Rufe folgen zu können. [...] | {S.} 222.) [...] Die Brasilier haben von den Portugiesen | die Vorliebe für die epische Dichtung geerbt | und, wie diese, haben sie vorzugsweise in | Heldengedichten ihren patriotischen Gefühlen | Ausdruck zu geben gesucht. Sie befanden | sich aber gegen die Portugiesen in so weit | im Nachtheile, als sie ihnen nicht nur, wie diesen | ein eigentlich indigenes Heroenthum und eine wahr- | haft volksmäßige *epische

| do poeta portuguez, precendendo-o | na reforma do theatro, com | duas tragedias etc.» – Ebenso sagt | Francisco de Paula Menezes in der von ihm | im J. 1855 herausgegebenen: Revista Brasileira | (Rio de Janeiro), p. 5, er habe schon vor sechs | Jahren die Werke von Magalhães zum | Gegenstande besonderer Studien gemacht, | und fährt dann fort: «Porém então, como | agora, era o nosso glorioso patricio (Ma- | galhães) o poeta à quem tributavamos | mais amor e veneração; então como agora | o consideravamos como reformador, o | chefe da escola moderna, cujos esforços | levaram de vencida a todos os velhos | e gastos preceitos de uma poetica uni- | versal e eterna, e que animando a | mocidade que enthusiasmada o seguia, | guiava seus mal seguros passos pelos | destrilhados caminhos da arte». |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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Grundlage* {unleserlich} fehlten, sondern | auch ihre historischen Großthaten, die wenig- | {S.} 223.) stens Stoffe zu Epopöen in moder- | nem Sinne geben konnten, den portugiesischen | Colonen und deren Abkömmlingen zu gute | kamen. Darum suchten schon, *wie wir gesehen haben,* Basilio da Gama | und Santa Rita Durão, | wenn sie auch bemüßigt waren der Geschichte | gemäß die Portugiesen als Sieger zu feiern, | die besiegten Eingebornen im möglich gün- | stigsten Lichte darzustellen und für diese das Hauptinteresse zu erwecken. Diese nati- | vistische Tendenz schon während des Colo- | nial-Verhältnißes sich zeigende nativistische | Tendenz der Brasilier trat aber natürlich | noch mehr hervor, ab nachdem Brasiliens | Unabhängigkeit mit Begeisterung ausgerufen | und mit Animosität gegen die Portugiesen | erkämpft worden war. Um diesen Nati- | vismus nun seinen entsprechenden Aus- | druck in nationalen Epopöen zu geben, | mußten dafür *daher* die brasilischen Dichter die | Stoffe dazu entweder aus den ältesten | Zeiten, aus den Traditionen der Ur- | einwohner und den Kämpfen um ihre Selb- | ständigkeit vor ihrer Unterjochung durch | die {unleserlich} Colonen, oder aus der | jüngsten Zeit, aus dem kaum beredeten | Unabhängigkeitskampfe entnehmen; | denn nur in diesen beiden Fällen konn- | ten sie die noch freien, oder die wieder | frei gewordenen Brasilier im Gegen- | satze zu den {unleserlich} sie unterjochenden und beherrschenden Portugiesen zu den Helden ihrer Ge- | dichte, zu den Repräsentanten der | nun geborene Nationalität machen. Wie mißlich es | aber ist, Ereignisse einer jüngstvergange- | nen, v von der leidenschaftlichen Bewegung | noch mächtig erregten Zeit zum Gegenstande | epischer Behandlung zu machen, die vor | allen ruhige Abklärung und objectiv- | naive Auffassung erfordert, haben | noch überall derlei Versuche bewiesen, | und in Brasilien insbesondere einige | in hohem Grade mißglückte, wie z. B. | das oben erwähnte Epos: «Paraguassú» | von Ladislau dos Santos Titára, und: | «A independencia do Brasil. Poema epico |  

{S.} 224.) em XII. Cantos» (Rio de Janeiro, 1847 e 1855. | 2 Vols. 8º) von Antonio Gonçalves Tei- | xeira e Sousa, einem sonst so talentvoller | Dichter, dessen den wir später ausführlicher | {unleserlich} besprechen und seinen Verdiensten ge- | mäß würdigen werden, der auch in diesen | Versuche seine patriotische Gesinnung be- | stätigt, aber auch zugleich gezeigt hat, wie | die epische Behandlung eines so modernen | Stoffes, noch dazu nach der hergebrachten | Schablone in vielen hunderten von | Octaven und mit all der mythologischen | Maschinerie, nur allzuleicht zur Parodie | wird, denn hier nur kurz als einer | Verirrung zu erwähnen, {unleserlich} wohl {unleserlich} | mildeste Beurtheilung ist. |

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Mit richtigem Tacte dagegen hat dagegen | Hr. v. Magalhães zum Gegenstande seines | National-Epos jene Zeiten erwählt, | in welcher noch ein großerer Theil der Ein- | geborene für seine Selbstständigkeit | bewahrt hatte und erst nach langen und schwe- | ren Kämpfen von den Portugiesen | unterjocht oder gar nur ins Innere zu- | rückgedrängt worden war. So genügte | er dem Nativismus, in dem er die wieder frei | gewordenen Brasilier in ihren noch | freien Stammvätern zu feierte; | {unleserlich} und diese zu den Helden seines | Epos machte *, welchen er* und dem diesem eben dadurch | ein tragisches Pathos gab, daß er sie der Geschichte *und dem Principe der | Menschen-Entwicklung* gemäß wohl endlich | der Übermacht der Civilisation un- | terliegen, aber sie als die Vorkämpfer | für Recht und Freiheit, die Portugiesen da- | gegen als Eroberen und Unterdrücker | erscheinen läßt, die welche die Über- | macht, die ihnen die Civilisation ver- | lieh, nicht zu deren Förderung, sondern | zu selbstständigen Zwecken gebrauchten. | Zugleich gewann er durch die Wahl dieser | Protagonisten *zwei ächt-epische Elemente:* eine Art indigenes, | wenn auch noch sehr rohes Heroenthum, und | durch die Beziehungen auf ihre Mythen, | Traditionen und Gebräuche einen sagenhaft- | wunder {unleserlich} erfüllten Hintergrund in den Bezie- | hungen auf ihre Mythen, Traditionen | und Gebräuche. | {S.} 256.) [...] Hr. v. Magalhães hat sich überhaupt | viel mit ethnographisch-historischen | Untersuchungen über die Ureinwohner | Brasiliens beschäftiget, wovon schon | sein episches Gedicht Beweise genug giebt, | so z. B. in der Abhandlung: «Os Indigenas | do Brasil perante a Histora,» *(in der Revista do Inst., Tomo XXIII. | p. 3– 66 abgedruckt), worin er | mit patriotischem Eifer die Vorurtheile | zu widerlegen sucht, {unleserlich} wonach man die Einge- | borene {unleserlich} für der Cultur unfähige Wilde | darstellt ansieht.46 | Die neuere Geschichte seines Vaterlan- | des behandelt ein Aufsatz von ihm, in | dem Journal «Nichteroy» (Paris 1846) *der derselben «Revista» (Tomo XI. {unleserlich} | 1848) des hist- geogr. | Instituts abgedruckt:* | «Memoria historica e documentada | da Revolução de Maranham desde | 1833 á 1841, premeada pelo Instituto | hist. e geo geograph. do Brasil.» |  

46 Merkwürdig ist darin folgende Stelle über | den Einfluß dieser von ihm gewonnenen gün- | stigeren Ansicht von den Indigenen auf die | vaterländische Poesie und sein eigenes Dich- | ten: «Por isso é que os feitos dos indigenas | offerecem argumento á nossa poesia nacional. | E como bem notou o Sr. Odorico Mendes: os | selvagens, rudos e de costumes quasi homericos, | podem prestar bellos quadros à epopèa. O | parecer de tão abalisado critico, | que nos deu Virgilio em Portuguez, e | lucta para interpretar Homero, é de | tanto peso, que decide só por si qualquer | duvida. Feliz me julgo de pensar como | elle, que sabe o que é uma epopéa». |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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{unleserlich} Den Anfang einer geistrei- | chen Übersicht der Geschichte der bra- | silische Literatur *(Estudos sobre a historia | litteraria do Brasil)* hat er *, wie wir öfter erwähnt haben,* in dem | Journal: «Nictheroy. Revista Bra- | siliense» (Paris, 1846) gegeben, {unleserlich} | und es ist zu bedauern, daß er diese | Arbeit unvollendet gelassen hat. | Endlich wollen wir noch eines novellisti- | schen Versuchs von ihm erwähnen, da er auch | in dieser In Dichtgattung einer der ersten da- | mit aufgetreten ist: «Amancia, Ro- | mance»; in der «Minerva brasileira*liense*» | (Rio de Janeiro, 1844. 4to.) *p. 267–292*. | Ferdinand Wolf. | {S.} 257.) Kapitel 15. – Manoel de Araujo | Porto-Alegre; – Antonio Gon- | çalves Dias; – Joaquim Manoel | de Macedo; – Manoel Odorico | Mendes. | [...] {S.} 265.) [...] Am meisten verdient hat s gemacht um die Dicht- | kunst Brasiliens hat sich aber Porto- | Alegre durch seine «Brasilianas» und | seinen «Colombo». Schon die Namen | zeigen, daß auch er von dem Geiste | inspiriert wurde, der nun auch in Ame- | rika und Brasilien überhaupt und in Bra- | silien insbesondere erwacht ist, in von dem | Geiste, der nur das Ideale, Poetische | zunächst in dem Welt- oder Erdtheile in | dem *der Eigenthüm- | lichkeit des Erd- | theiles oder Landes* in dem wir geboren, und der | Menschen-Race oder Nationalität, | der wir angehören, suchen und finden | heißt, der, dieser Eigenthümlichkeit sich | bewußt geworden, sie in einer ebenso | spontanen, naturgemäßen Form aus- | zusprechen weiß. Von diesen Geiste | angetrieben und mit der bestimmt auch | gesprochenen Tendenz, dessen Entwicklung | und Verbreitung in der vaterländischen | Dichtkunst zu fördern, hat Porto-Alegre | in einer Reihe von Gedichten die großen | Naturscenen, eigenthümlichen Lebens- | weisen und außerordentlichen Erscheinun- | gen in seinem Vaterlande zu Stoffe | gewählt und sie nach dem Vorgange von | Magalhães in freien Formen mit wech- | selnden Metren behandelt; – diese Ge- | dichte hat er daher mit allem Fuge: | «Brasilianas» genannt. | [...] {S.} 272.) [...] Er {Gonçalves Dias} geht hierin noch um einen Schritt weiter | als seine Vorfahren, und selbst als sein nächster | Araujo Porto-Alegre, dessen «Brasilianas» | {S.} 273.) ihn, wie gesagt, auf diesen Weg geleitet | hatten: er beschreibt nicht bloß die sub- | jectiven Eindrücke der Eigenthümlichkeiten | brasilischer Naturscenen und Le-

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bensgewohn- | heiten, sondern er stellt sich auf einen objec- | tiven Standpunct, indem er sich mit der An- | schauung- und Ausdrucksweise der einge- | borene Indianer *die seine* identificiert, bald als | indianischer Vates (Piaga oder Payé) {unleserlich} | {unleserlich} *Visionen deutet und* Träume beschwört, bald als Krieger | Schlachtgesänge anstimmt oder blutige Opfer | und Kämpfe besiegt, bald als Marabá das | unglückliche Loos dieser von den Indianern | verachteten Mischrace beklagt, bald als | Indianer-Knabe von dem Reiz und Zauber | der {unleserlich} *«Wasser-Mutter» (Mãe d’água) | erzählt, die gleich den Sirenen, | ihn in das feuchte Grab verlockt;* | kurz er hat, wie man sieht, darin schon den | eigentlichen Balladenton angeschlagen und | daher den besten Weg betreten, eine wahr- | haft nationale und zeitgemäße Poesie *in einer dem Zeitgeschmack ent- | sprechenden Form* zu | schaffen. [...] {S.} 295.) Denn die vorstehende Analyse genügt | wohl, um ersichtlich zu machen, daß weder | die Fabel im Geiste der Epik concipiert | wurde, noch Behandlung und Ton dieser ent- | sprechen. Die Fabel ist so einfach, *auf nur vier Personen in wenig | veränderter Situation be- | schränkt,* daß sie höchstens | fast nur für eine Ballade *oder Novelle* ausreicht; die Behandlung nähert | sich eher der dramatischen Form; denn das Ge- | dicht besteht fast nur aus Monologen und | Dialogen, in welche meist auch die erzählenden | Parteien eingeschaltet sind, und nur die Be- | schreibungen der Scenerie *und die Reflexionen | des Dichters* nehmen manchen | dazwischen einen größeren Platz ein;47 der | Ton aber ist ein durchaus lyrischer; die | Charaktere sind ebenfalls ganz lyrisch auf- | gefaßt, sie stehen fertig vor uns ohne alle | Entwicklung, sie sind eigentlich mehr nur Re- | präsentanten eines gegebenen Seelen- | zustandes, eines dominierenden Gefühls, | so zwar, daß sie sich fast der Allegorie | nähern Prosopopäie nähern; so erscheint | die verschmähte Liebe, wie sie egoistisch – | leidenschaftlich, durch beleidigten Stolz noch ge- | reizter im Manne sich ausspricht, im Trova- | dor verkörpert; in der Douda hingegen zeigt | sich dasselbe Gefühl in seinen Wirkungen auf | ein ächt weibliches Herz, in aufopfernder, bis | zum Liebes-Wahnsinn sich steigernder Hin- | gebung und Resignation; ja wir halten die Dar- | stellung dieses Gegensatzes, dieser contrasti- | erenden Wirkung desselben Gefühls auf die | beiden Geschlechter für die Haupttendenz und | den größten Vorzug des Gedichtes, ({unleserlich} | wie denn

47 Man sieht, wie es auch hier den Dichter zu | dieser seinen dramatischen Talente | besonders zusagenden Form hindrängte; | ja mit den nöthigen Kürzungen und einigen | anderen, wenig bedeutenden Änderungen ließe | sich dieses Gedicht in eine treffliche lyrische | Oper umgestalten, in ein interessantes | Gegenstück zur «Norma». |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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der Dichter selbst | diese Tendenz in der seiner oben angeführten Apo- | strophe an den Trovador ausdrücklich betont | hat.48 Darum hätten wir es auch für passender | gehalten, wenn der Verfasser seiner Gedichte | den Titel: «Verschmähte Liebe» *(«amar sem ser | amado»)*, oder einen ähn- | lichen gegeben hätte, statt es: «Nebulosa» zu | nennen, nach einem in der That sehr «nebu- | los» gehaltenen Wesen, von dem und dessen | Macht wohl sehr oft gesprochen wird, dessen | Wirkungen auf die Charaktere und dessen | Eingreifen in die Entwicklung der Fabel | man aber umsonst erwartet und das zu nicht viel | mehr, als zum scenischen Hintergrund | dient. Ja es scheint uns der Dichter sich selbst nicht | klar geworden zu sein über *die Natur und* die Verbindung | dieser Nebelgestalt mit seiner Fabel und seinen | Charakteren, die durch Weglassung dieser | {S.} 296.) eigentlich nur in der Phantasie der | Douda bestehenden Feerie nichts ver- | loren, vielleicht sogar gewonnen hätten. | Denn bald erschienen die Nebulosa und die | ihr Huldigenden als von Gott verworfene, | mit einem Kainszeichen gebrandmarkte | Zauberinnen; bald als liebessehnsüchtige, | verschmähte Liebe rächende und durch ein | Leben voll Freude nach dem irdischen Tode | lohnende und belohnte Feen *; Zwitterwesen, wie sie die ächte | Volkspoesie in ihren bestimmt scharf | geschiedenen und consequent durchge- | führten guten und bösen Feen (Licht- | und Schwarz-Elfen) nicht kennt.* Viell Wohl | dürfte diese mysteriös-grauenhafte, wahr- | haft rembrandtische Färbung des ganzen | Gemäldes eben jener mißverstandenen, | durch die Franzosen modegewordenen | Auffassung des Romantismus zuzu- | schrieben sein, die dessen Wesen im | Ungeheuerlich-Schreckhaften Schrecklichen | im Nebulos-Spuckhaften sucht? – | [...] {S.} 298.) Kapitel 16. – Joaquim Norberto de | Silva Souza Silva; – Firmino Ro- | drigues Silva; – Antonio Gonçal- | ves Teixeira e Souza; – Joaquim | José Teixeira; – Manoel Antonio | Álvares de Azevedo; – *Luis José Junqueira Freire; – | und einige andere lyrische Dichter | der neusten Zeit.* | [...]

48 So hat der «Redner» des geo historisch-geo- | graphischen Instituts (Revista, Tomo XX. | Supplem. p. 54–56) bei Erwähnung der im J. 1857 vor- | liegenden poetischen Leistungen die «Nebu| losa» allerdings in einem so panegyrischen Tour gelobt, | daß man viel davon auf Rechnung der üblichen | Überschwenglichkeit einer akademischen Eloge | setzen muß; aber den Charakter des Gedichts | hat er treffend bezeichnet, indem er sagt: | «A Nebulosa é uma visão em | seis cantos, é o poema do | amor, da belleza, e do ideal; | é uma inspiração, uma Odisséa | de amor, etc.» |

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{S.} 313.) [...] Wenn der Dichter {Teixeira e Souza} auch ausdrücklich angibt, | daß er blos «eigenen Inspirationen» | gefolgt sei, «Niemand nachzuahmen» gesucht | habe, so möchte jene *damals modegewordene* französische {unleserlich}-| Romantik nicht ohne Einfluß auf ihn geblie- | ben sein und ihn verleitet haben, eine so phan- | tastisch-grauenhafte Katastrophe einer so schön | {S.} 314.) angelegten Idylle anzufügen. | [...] {S.} 328.) [...] Wie so mehr fand die von {Álvares de} Azevedo | eingeschlagene Richtung Anhänger unter | der jüngsten Generation, und der ver- | derbliche Einfluß der sich selbst ver- | götternden, an allem anderen aber ver | zweifelnden und daher verzweifelnden | Genialität der französischen Neu- | Romantiker und Lord Byron’s spricht | sich nur zu sehr in den unreifen Pro- | ducten von Schülern aus, die die Welt | nur aus {unleserlich} mißverstandenen | Büchern kennen und über das irdische | und ewige Leben oft mit cynischer | Frechheit absprechen. Besonders scheint | dieser Einfluß *und Azevedo’s Beispiel | unter seinen Nachfolgern, | {unleserlich}* unter den Schülern der | Rechtsakademie von S. Paulo sich geltend | gemacht zu haben. Davon zeugen die | von dieser Schule ausgegangenen belletristi- | schen Zeitschriften: «Ensaios litterarios: jor- | nal academico» (S. Paulo, 1850) und: «Esbo- | ços litterarios: jornal redigido por acade- | micos» (S. Paulo, 1859) und die auch separat erschie- | nenen Gedichtsammlungen von Zöglingen derselben, | {S.} 329.) wie z. B. «Rosas e goivos» (S. Paulo, 1849) | von José Bonifácio de Andrada e | Silva, einem Bruderssohne des berühmten | Staatsmannes gleichen Namens, und | «Minhas canções» von (S. Paulo, 1849) | von João Silveira de Sousa,49 deren | Ta 

49 Vgl. I. Fr. da Silva, Diccionario, Tomo | IV. p. 37 und 278. – Ein Bruder des oben- | erwähnten José Bonifacio und ganz gleich- | namig mit ihrem Vater: Martim Fran- | cisco Ribeiro de Andrada hat ebenfalls | ein Bändchen Gedichte herausgegeben un- | ter dem Titel: «Lagrimas e sorrisos» | (Rio de Janeiro, 1847), die allerdings | viel nüchterner gehalten sind, aber auch | über das gewöhnliche Maß sich nicht | erheben. Die darin vorkommenden | mit J. B. A. S. unterzeichneten Gedichte | rühren wohl {unleserlich} von seinem Bru- | der José Bonifácio {unleserlich} und {unleserlich} | unterscheiden sich von den übrigen | durch ihren Schwung nicht minder, als | durch die oben erwähnte gen Pseu- | do-Genialität, wie z. B. (p. 123, «Meus | amores – Meus amigos», {unleserlich} wozu | {unleserlich} bemerkt wird, daß Alfred de Musset’s Rolla | {unleserlich} ihm zum Vorbild  

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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lent es um so mehr bedauern läßt, daß | sie eine falsche Richtung eingeschlagen haben. | {Die folgenden Absätze wurden nicht ins Französische übersetzt} Hingegen verdient unter den jüngsten | Dichtern besonders hervorgehoben zu werden | Baptista Caetano de Almeida, geboren | in der Provinz von Minas-Geraes und ein Zög| ling der Militär-Schule von Rio de Janeiro. | Er steht nicht nur keinem derselben an | poetischem Talent nach, sondern hat auch eine viel | selbständigere Richtung eingeschlagen und bewies | durch Maßhalten eine größere Reife des | Geistes und der Lebensauffassung. Er hat einen | Band Gedichte herausgegeben unter dem Titel: | «Echos da alma. Poesias colligidas pelo | Poeta macambuzio» (Rio de Janeiro, 1856). | In der That ertönt aus diesen Gesängen | das «Echo der Seele eines melancholischen | Dichters»; denn es ist keine gemachte Me- | lancholie, auch nicht blos jenes weichliche Ge- | fühl sehnsüchtigen Schmerzes (saudades), das | die Brasilier von den Portugiesen ererbt | haben und das auch in ihren Poesien stereotyp gewor- | den ist; es ist der Wiederhall aus dem Tiefen einer durch herbe | Lebenserfahrungen, durch den Contrast der | Wirklichkeit zum Ideal melancholisch ge- | stimmter Seele, das männliche Auf- | raffen aus dem individuellen Weh zu | der Betrachtung der Quelle alles Schmerzens | im Leben des Menschen verglichen mit dem | der Natur. Wie ergreifend ist nicht z. B. | die V und zugleich von einer neuen Seite aufge- | faßt ist nicht der Schmerz des seiner Vergäng- | lichkeit bewußten Menschen, verglichen mit | dem gleichen, aber viel glücklicheren Lose der | bewußtlosen Natur in dem Gedichte: {unleserlich} | «Threno» (Anhang, nº | 117)! – Wie schön ist der «Wunsch» ausgedrückt | daher, gleich der Natur, eines vergänglichen, | aber schmerzlosen Daseins sich zu erfreuen | in: «Desejo» (118)! – Wie bitter {unleserlich} schildert | der Dichter dagegen {unleserlich} die Enttäuschung des auf | sein Wissen, seine «Erfahrung» pochenden | Menschen in: «A experiência» (119)! – |  

gedient habe. | – Franklin Americo de Menezes Doria, | ein Schüler der Rechtsakademie von Recife, | hat eben eine Gedichtsammlung herausgegeben | unter dem Titel: «Enlevos» (Pernambuco, | 1859); dies welche zwar auch von keinem außer- | gewöhnlichen Talente zeugt, aber durch die Weich- | heit des Gefühls, besonders kindlicher Pietät, | durch sittliche und religiöse Gesinnung um so wohlthuen- | der ausgreift, wenn man sie mit den Produc- | ten der Paulisten vergleicht. Doch huldigt auch | {unleserlich} Doria darin dem Genius des Azevedo und Jun- | queira Freire, diesen in besonderen und feiert je- | den in einem seinen Andenken gewidmeter Ge- | dichte (p. 147: «A Coroa do poeta. À memória | de Junqueira-Freire»; – und p. 289 «Mono- | dia. À memória de M. A. Alvares de Azevedo»); | in der Anmerkung zu dem ersten dieser | beiden Gedichte sagte er: Figura hon- | rosamente entre (Jonqueira Freire) | («O nome de | Junqueira-Freire pertence ao necrologio dos | genios modernos do Brazil, que teem expirado | na aurora da mocidade. Figura honrosamente entre os de Azevedo e Franco de Sá)». – Von | diesem letzten ist uns leider nichts weiter bekannt geworden. |

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{S.} 330.) Daß alles Wissen des Menschen | nicht ausreiche, ihm die großen | Räthselfragen seiner Existenz zu be- | antworten: «Woher komme ich? was bin | ich? wohin gehe ich?», wie in dem | Gedichte: – «Donde venho? quem sou? | Aonde vou?« *(120)* ebenso einfach-kräftig, | als tief gefühlt ausgesprochen. | Doch sind dies keine geniale Über- | schwänglichkeit, kein affectierter | Weltschmerz; es ist sind Zweifel und | Schmerzen vom Ernst und Weh des | Lebens erzeugt, es ist Forschungsdrang, | der Beruhigung sucht, und sich nicht schämt, | gestehen zu müßen, daß er sie | nur im «Glauben» finden könne wie er sich | beschwichtigend versöhnen zuruft in dem schönen | Gedichte: «Fé» (121). | Wohl zählt auch er, wie er in dem Ge- | dichte: «Os livros» sagt, zu seinen Lieb- | lingsschriftstellern außer der Bibel, Ho- | mer, Ossian und Dante, auch Maistre, | Chenier, Lamartine und Byron, die | von denen er sich nicht trennen konnte, | als die Noth ihn zwang, «durch den | Verkauf seiner Bücher seinen Hun- | ger zu stillen»;50 | wohl hat auch er in | seinem Gedichte «A Lamartine» | diesen besonders gefeiert und sich wohl | auch vielfach zum Vorbild genommen; | aber er hat weder gesucht, die genialen | Excentrizitäten der Neu-Romantiker | noch zu überbieten, wie die Paulisten, | noch hat er seine Selbständigkeit und bessere | Überzeugung {unleserlich} *namentlich seine sittlichen | Ansichten und religiösen | Gefühle einem* modegewordenen | Tone zu Liebe unter der ächte verleugnet. | In Almeida’s Gedichten ist, wie in den | «Suspiros» von Magalhães, dem er über- | haupt in vieler Beziehung am nächsten steht, | die Form durchaus dem Gedanken unter- | geordnet und seine Verse entbehren auch | großentheils {unleserlich} | {S.} 331.) des Reimes und des regelmäßigen | Strophenbaues; aber auf die Sprache | hat er besondere Sorgfalt verwandt | und sie von Archaismen und Gallicismen | frei zu halten gesucht. Wie sehr er da- | rüber nachgedacht, beweist, was er selbst | in der Vorrede zu seinen Gedichten sagt | über das Verhältniß der portugiesischen | Sprache zu dem heutigen Anforderungen | bei dem so bedeutend erweiterten Ide-

50 Homéro, Ossian, e a minha Biblia- | sinha, | Lamartine e Chenier, Byron e Maistre | E Dante e poucos mais! | Eis-aqui os amigos que ficaram-me | No tempo da miséria; | Quando por pão troquei os outros livros, | Pelas garras da fome atormentado, | Estes largar não poude. |

6.2 Auszüge aus Geschichte der brasilischen Nationalliteratur

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en- | kreise, und über die Schwierigkeiten, die | dadurch *besonders* für einen modernen, in diesen | Ideenkreisen sich bewegenden Dichter be- | sonders im Brasiliens entstehen. | Auch die Ansichten, die Almeida in | dieser Vorrede über die Poesie über- | haupt und die brasilische insbesondere | ausspricht, sind sehr beachtenswerth und | zeugen von einem gebildeten, den- | kenden und selbst von Nationalvorur| theilen freien Geiste. Die *Ja, die* Charakteri- | stik und das Prognostikon, die er von | der Poesie seines Vaterlandes giebt, scheint | *scheinen* uns eher zu ungünstig und zu sehr die | Schattenseiten hervorhebend betonend; aber, eben | weil sie von einen so begabten einge- | borenen Dichter herrühren, doch so merk- | würdig, daß wir diese Stelle seiner | Vorrede ganz hierher setzen wollen. | Nachdem er von den oben erwähnten | sprachlichen Schwierigkeiten für einen mo- | dernen brasilischen Dichter gesprochen, fährt er fort: | «Noch unter von einem anderen Gesichtspunct | aus angesehen, was kann die Poesie sein | bei dem gegenwärtigen Zustande in diesem | Lande? Wir sind eine neue Nation, wir | haben keine merkwürdigen Epochen in | unserem politischen Leben, keine denk- | würdigen Thaten, welche den Patriotismus | erwecken und entwickeln (!?); es fehlt an | Verbindungen unter unseren Provinzen, | endlich fehlt es auch an einem öffentlichen | Geiste (espirito publico). Es fehlt daher | {S.} 332.) der Gegenstand und die Anregung | zu einer Gattung wie die Lusiaden und | zu jeder Art patriotischer Gesänge (!?); | denn da wir nichts Großartiges aufzu- | weisen haben ({unleserlich} *não* havendo grandeza), | noch was würdig wäre, gefeiert zu wer- | den (!?), so kann es auch keinen Enthu- | siasmus geben, und deshalb ist die patrio- | tische Begeisterung eine Fiction (fingi- | mento), eine frostige Übertreibung, | ein solches eitles Aufhäufen von | tönendem Worteprunk (um amontoar | vão de palavrões sonoros). Wohl könnte | den patriotischen Gedichten mehr Wahr- | heit innewohnen, wenn man den Blick | auf die Zukunft richtete; denn für ein | neues Reich sind wohl der Glaube und die | Hoffnung zwei reiche Quellen der Be- | geisterung; die Zukunft, die ist unser, | {unleserlich} Vergangenheit ist nichts aber *wir haben wir keine* (pois o | passado é nullo); die Erinnerungen an | die Colonialzeiten, an die Kriege mit den | Eingeborene, Holländern, und Franzosen | würden höchstens Stoff zu Sagen und Er- | zählungen (à alguma cosa cousa como – | lendas e narrativas) geben. Um hier Ge- | sänge, wie die Ossianischen zu bekommen, | dürfte es in diesem Lande der Sorglo- | sigkeit *dieser Heimat | der Faulheit* (na terra da preguiça) wohl | schwer sein, einen Macpherson zu fin- | den, einen emsigen Forscher und überdies | mit einen genialen Blick, der Muth hätte, | die Vergangenheit zu durchwühlen, den Cha- | rakter der eingebornen Völkerschaften | zu studieren, zu sammeln, compilieren, | und endlich einen Bau auf-

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zuführen zu con- | struieren wie Ossian’s Buch; und selbst wenn | ein solcher Macpherson sich fände, so | bezweifeln wir dennoch, daß er etwas zu | Stande brächte; denn es ist sehr wenig Poe- | sie in den rohen unwissenden *und dummen* Stämmen | (nas grosseiras e estupidas tribus), die in | diesen Wäldern wohnten. Wie Jemand | {S.} 333.) sagte, bedarf es immer eines An- | fangs von Civilisation, um die Poesie | zu ermöglichen; und die Tupis waren | keine Azteken; jede Race im Stande | Zustande völliger Barbarei hat keine | anderen Bedürfnisse, als die physischen, | und kann keinen Gegenstand der Poesie abgeben.» | «Wohl könnte es eine nationale Poesie | geben; jene brasilischen Gesänge (as | canções Brasileiras), die ein Spiegel der | Sitten, Ideen und der gläubigen Meinungen | (crenças) unserer ungebildeten und ein- | fachen *Patricier | Landherren | {unleserlich} | Landsleute* (patricios) sind, mit | den Sagen und Erzählungen der vergan- | genen Zeiten, eigentliche Volkslieder | (propriamente – canções populares); | diese Poesie ist aber für bis jetzt unmöglich | gewesen für unsere Literaten, die nur um die | Angelegenheiten Europas sich bekümmern, | so suchte *verfolgte* man unter uns {unleserlich} mit | bei weiten mehr Interesse die Wande- | lungen des Kampfes der Alliierten mit | den Russen (1855), als die des Krieges am | Rio Grande. Würde man fragen, wo ist | der Rio das Mortes und warum führt | er diesen Namen, so würden wenige da- | rauf zu antworten wissen, während sie | recht gut wissen wo die Seine ist, und tausend | andere Dinge von der großen Stadt an | deren Ufer.» | «Werke in der Art, wie «Jocelyn», die | «Nouvelle Heloïse», die mehr den Menschen | an sich betrachten, als den Sohn eines bestim{m}- | ten Landes, solche könnte unsere Literatur | noch am ersten producieren, wenn nicht beinahe | absoluter Mangel an Instruction wäre (!?) | und wenn nicht vor allem die Schwierigkeit wäre, | eine Sprache schaffen zu müßen, so zu sagen ein | neues Capital von Wörtern und | Phrasen aus- | zuprägen, deren es wohl so schön und so poetische | gibt, die aber noch nicht durch gute Schriften | autorisiert sind und noch nicht die Sanction | durch den Stämpel des Genies erhalten haben. | Am Mangel an Instruction und, wer weiß, | ob nicht auch am Mangel an Antrieb, daran | scheitert alles (eis o tudo)! Wer möchte wohl | guten Muthes in der Arbeit ausharren, wo er nicht | sieht, daß die Arbeit Erfolge erziele und wenig- | stens beachtet werde!» – *Wenn man auch in diesen übertrieben | harten Aussprüchen und scharfen Urtheilen | vieles auf Rechnung einer individuellen, ver- | bitterten und daher unbilligen Stimmung setzen | muß, so enthalten sie doch so manches Wahre, | so manche beachtenswerte Winke für die | fernere Entwicklung der brasilischen Dich- | tung, namentlich sich durch einen künstlich | potenzierten Patriotismus

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und Nativismus | nicht verleiten zu lassen, poetische Elemente | zu suchen, wo sie nicht zu finden sind; und in | Folge dessen nicht in einem ebenso hohlen Wort- | prunk und eine so innerlich unwahre Begeisterung | zu verfallen, wie jener Affectation der | früheren classisch-mythologischen Poesie; | vielmehr an die wahrhaft volksmäßigen, | an die realen, in der Natur und im Leben | vorhandenen poetischen Elemente sich zu halten | und sie in einer den Stoffen entsprechenden Weise zu behandeln.* | {Ende des ins Französische nicht übersetzteten Teils} {S.} 334.) Kapitel 17. – Fortschritte der | dramatischen Poesie in dieser Perio- | de; – Domingos José Gonçalves de | Magalhães, der Gründer des brasi- | lischen NationalTheaters durch seine | Tragödien; – Originale Tragödien | und Dramen von einigen Anderen; – | Entwicklung der nationalen Ko- | mödie durch *Araujo PortoAlegre;* Luis | Carlos Martins Penna und Joa- | quim Manoel de Macedo und | Anderen; – besondere Cultur der | Operndichtung in Brasilien; – | *Ernesto Ferreira França.* | Wir haben in den beiden vorherge- | henden Perioden der dramatischen Poe- | sie keinen eigenen Abschnitt widmen | können, und sahen uns darauf beschränkt, | nur gelegentlich die dramatischen Ver- | suche einiger Dichter zu erwähnen. | Denn diese Versuche sind doch nur rein | litterarische geblieben und nie zur | Aufführung auf öffentlichen Bühnen | gekommen; konnten daher auf die | Entstehung und Entwicklung eines eigent- | lichen National-Theaters auch keinen | Einfluß üben. | Noch zu Anfang dieser Periode | begnügte man sich, neben den bei | weitem bevorzugten Opern, portu- | giesische Original-Dramen, oder | Übersetzungen meist französischer | Stücke aufzuführen.51 So konnte noch in | So haben F. J. de Souza Silva, I. A. de | Lemos Magalhães, A. J. de Araujo, Pinheiro | Guimarães,

51 Man vgl. Hrn. Emile Adêt’s Aufsatz | über die dramatische Kunst in Brasilien | («Da arte dramatica no Brasil») in der: | «Minerva brasiliense», 1843, p. 154– | 157, der damals noch die Frage aufwarf: | «Besitzt Brasilien eine dramatische | Literatur?» – und sie mit: «Nein» be- | antwortete, «denn eine so äußerst be- | schränkte Zahl von Compositionen dieser | Gattung, großentheils nachgeahmt oder über- | setzt, kann ohne Zweifel eine solche nicht bilden» (Pos- | sue o Brasil uma litteratura dramati- | ca? Não; pois não é sem duvida um | numero mui limitado de composições | deste genero, a môr parte das vezes imi- | tadas ou traduzidas, que a poderia formar). | – Er kennt allerdings schon die Tragödien | des Hrn. v. Magalhães; aber diese waren | damals eine noch eine zu vereinzelte Er- | scheinung, um seine obige Behauptung unhalt- | bar zu machen. – Übrigens findet Hr. Adêt, | selbst ein Franzose, die Hauptursache dieser Un- | fruchtbarkeit an dramatischen Compositionen der | brasilischen Dichter hauptsächlich darin, daß sie sich fürchteten, ein Publicum für sich zu ge- | winnen, das durch die grobe Effekthascherei | {der unleserlich}- und Schreckens-Dramen der | französischen Neu-Romantiker schon zu | verwöhnt war (Receiam os

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Odorico Mendes sich darauf be- | schränkt, Dramen von Delavigne, Ducis, Byron, | Voltaire, zu übersetzen Shakespeare (aber | meist nach französischen Bearbeitungen), Byron | {S.} 335.) zu übersetzen; und selbst D. J. G. de | Magalhães trat zuerst *beschäftigte sich noch* mit Bearbei- | tungen nach Arnaud und Ducis auf. | Diesem selbstständigen Geiste aber, | der, wie wir gesehen haben, durch seine | «Suspiros poeticos» in der lyrischen Poesie | Brasiliens eine so folgenreiche Revolu- | tion bewirkte hatt, war es vorbehalten | auch den Weg zur Erlangung eines | National-Theaters zu bahnen, ja | ihm gebührt die Ehre, dies für Brasi- | lien gethan zu haben, bevor noch G | Garrett das gleiche für Portugal un- | ternommen hatte.52 Am 13ten. März | 1838 ließ Magalhães auf dem Theater | des Constitutionsplatzes (da Praça da | Constitução) von Rio de Janeiro seine Ori- | ginal-Tragödie: «Antonio José, ou o Poeta e a Inquisição» (gedruckt im J. 1839) | und am 7ten. September 1839 zur Feier | der Eröffnung des Theaters von D. Pedro | d’Alcantara eine zweite: «Olgiato» (ge- | druckt 1841) aufführen, und zwar mit solchem | Erfolge, daß auch in einem durch die franzö- | sischen Stücke so verwöhnten Publicum, wie | das damalige noch war, ein großes Interesse | an einheimischen Productionen erweckt wur- | de. | In den Vorreden zu diesen beiden Tragödien vorge- | druckten Einleitungen giebt der Dichter selbst | seinen Standpunct an. So sagt er in dem | «Prólogo» zu «Antonio José» (p. IV): «Ich fol- | ge weder der Starrheit der Classiker, noch | der Ungebundenheit der Romantiker» (Eu | não sigo nem o rigor dos Classicos, nem o | desalinho dos romanticos); – und in dem | zum «Olgiato» (p. VI.): «Ich kann mich in keiner | Weise gewöhnen an die Gräuel der moder- | nen Schule, an jene Monstrositäten unnatür- | lichen Charakters, zügelloser und unedler | Leidenschaften, ausschweifender Verliebtheit | in einer verkünstelten Sprache, unter dem | Vorgeben, natürlich sein zu wollen» (Não | posso de modo algum acostumar-me com os | horrores da moderna escola, com essas mon- | struosidades de caracteres preternaturaes, de | paixões desenfreadas, e {unleserlich} *ignobeis* de amores |

poetas, querendo | ficar nos limites do bom gosto e da decencia, | não poder produzir effeitos sufficientes para | espectadores cansados, acostumados a não ver | senão dramas febricitantes etc). | 52 S. die oben, in der Biographie der | Magalhães angeführte Stelle von | Araujo Porto-Alegre (Guana- | bara, Tomo II., p. 42). |

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{S.} 336.) licensiosos, de linguagem requin- | tada, à força de querer ser natu- | ral); – und (p. VII.): «Ich weiß aber | vollkommen die Einfachheit, Energie und | Concision der Tragödien Alfieri’s | und Corneille’s *nach Verdienst* zu würdigen» (mas | dou todo o devido apreço à simplici- | dade, energia e concisão das tragedias | de Alfieri e Corneille). | {S.} 350.) Kapitel 18. – Einführung der | Novelle und des Romans *und der Novelle* in die | brasilische Literatur; – Nor- | berto de Sousa Silva’s Novellen, | Romane von Joaquim Manoel de | Macedo, Antonio Gonçalves Te- | Teixeira e Sousa, und Anderen; – | Novellen *novellistische Versuche* Norberto’s de Souza Silva | und andere. – *Cultur der Beredsam- | keit und des prosaischen | Styls; – Fr. Adolpho de | Varnhagen.* | Es ist natürlich, daß in Brasilien, | so lange es von Portugal ausschließ- | lich oder nur durch dessen Vermitt- | lung seine literarischen Vorbil- | der und Impulse erhielt, die No- | velle und der Roman gar nicht | cultiviert wurden; denn es ist be- | kannt, daß, seitdem der Ritterroman | den Streichen seines ironischen Verthei- | digers, des Ritters von la Mancha | erlegen ist war und seitdem der Schäfer- | roman sein Scheinleben ausgeseufzt | hatte, auch die portugiesische Literatur | in dieser Dichtungsgattung nichts auf- | zuweisen hatte, als einige wenige No- | vellen im altspanischen Stile, und | daß auch sie erst in neuerster Zeit durch | Übersetzung und Nachahmung franzö- | sischer und englischer Muster sich | wieder daran betheiligt hat. | Daher ist erst in dieser Periode | und durch denselben Einfluß auch in | Brasilien diese Dichtungsgattung | eingeführt worden; daher tritt | hier namentlich der Roman | gleich in | seinen modernsten Formen, als re- | alistisch-socialer, psychologisch- | subjectiver auf. | {S.} 364.) [...] Aus diesem Versuch einer Ge- | schichte der brasilischen Literatur | – so unvollkommen und lücken- | haft er auch sein mag – wird | sich wenigstens soviel mit Gewiß- | heit ergeben haben: daß die | brasilische Literatur nicht nur | auf den Namen einer eigenthüm- | lichen, nationalen, und als solcher | auf Beachtung und eine Stelle | in der Weltliteratur Anspruch | machen kann, sondern auch daß | sie, insbesondere in der letzten | Periode, sich nach allen Richtungen | sich entfaltet und in den Hauptzweigen bereits | Anerkennenswerthes aufzuwei- | sen hat. |

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6.3 Originalbrief von Dr. van Muyden an Ferdinand Wolf

6.3 Originalbrief von Dr. van Muyden an Ferdinand Wolf

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Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.4 Novi, fol. 3.56.

6.4 Originalbrief von Ferdinand Wolf an Dom Pedro II.

6.4 Originalbrief von Ferdinand Wolf an Dom Pedro II.

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Arquivo Histórico do Itamaraty, Konvolut Viena, 1861–1862, 232/4/10

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6.5 Dokumente zur Entstehungsgeschichte von Le Brésil littéraire 6.5.1 Brief von Ferdinand von Hochstetter an der kaiser. kgl. Hofbibliothek [Österreichische Nationalbibliothek, HB 234/1857] [Erste Seite] Rio de Janeiro, den 30 August 1857 Löblichste k. k. Hofbibliothek, Der Gefertigte hat die Ehre, dem ihm gewordenen Auftrage gemäss, hiermit eine Reihe von Werken in portugiesischer Sprache für die k. Hofbibliothek einzusenden. Ein Theil der eingesendten Werke ist aus den dem Gefertigten von der k. Hofbibliothek ausgesetzten Geldmitteln angekauft um den Preis von circa 100 [unleserlich] Darunter ist wohl alles Wichtigere enthalten, was in neuerer Zeit in Brasilien an historischer, juristischer, und schön wissenschaftlicher Literatur erschienen ist, und was während des kurzen Aufenthaltes der Novara im Hafen von Rio dem Gefertigten auf buchhändlerischem Weg aufzufinden möglich war. Ein kleinerer Theil der eingesendten Bücher ist ein Geschenk des deutschen Buchhändlers Laemmert in Rio de Janeiro an die k. k. Hofbibliothek, meist Übersetzungen deutscher Werke in das Portugiesische, für welche der genannte Buchhändler, der die meisten der angekauften Werke besorgte, um eine bescheidene [unleserlich] in der k. Hofbiblio[Zweite Seite] thek bittet. Um die vortreffliche Gelegenheit, die Bücher durch mit dem Hamburger Dampfer «Teutonia» auf sehr wohlfeilen Wege nach Europa zu senden durch die Güte des Österreichischen Generalkonsulates in Rio nicht zu versäumen, beeilt sich der Gefertigte dieselben heute schon zu expedieren, findet aber im letzten Augenblick der Abreise der Novara nicht mehr Zeit, die Rechnungen und andere Details, welche auf diese Büchersendung sich beziehen beizulegen. Der Gefertigte wird sich erlauben, den detaillierten Bericht über die Büchersendung an die k. Hofbibliothek erst vom Cap der guten Hoffnung aus einzusenden. Die k. Fregatte Novara lichtet morgen, den 31 August die Anker, um ihre Reise nach dem Cap der guten Hoffnung fortsetzen. [unleserlich] Ergebenst, Dr. Ferdinand Hochstetter am Bord der k. k. Fregatte «Novara»

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6.5.2 Brief der Österreichische National Bibliothek an Noberto de Souza mit einer Liste von erhaltenen Werken Österreichische National Bibliothek, HB 212/1860 Obras do Dr. Mello Moraes 1. Physiologia das paixões 3 v. 2. Memorias diarias da guerra do Brasil 1 v. 3. Pathogenesia homoeopathia 1 v. 4. Os portuguezes perante o mundo 1 v. 5. Elementos de litteratura 1 v. 6. Repertorio homoeopathico 1 v. 7. Pratica homoeopathica 1 v. 8. Corographia do Brasil 1 v. 10. Doutrina social 1 v. 11. Guia pratico homoeop. 1 v. 12. Discurso historico 1 v. Obras de L. dos S. Titára 1. Paraguaçu, Poema (4º e 5º tomo de poesias) 2 v. 2. Poesias (7º e 8º tomo) 2 v. 3. Tratado de figuras e tropos 1 v. 4. Memória do grde. exército alliado 1 v. Obras de Teixeira e Souza 1. Maria ou a menina roubada (romance) 1 v. 2. Os tres dias de un noivado (poema) 1 v. 3. Cânticos lyricos (2º vol. de poesias) 1 v. 4. O cavalleiro teutonico (tragedia) 1 v. 5. As fatalidades de dous jovens (romance) 3 v. 6. O filho do pescador (romance) 1 v. 7. A providência (romance) 5 v. Monsieur Joaquim Norberto de Souza Silva, secrétaire de l’Institut historique et géographique du Brésil, etc etc à Rio de Janeiro. unter der Adresse: Monsieur Monsieur J.J. de Tschudi, Envoyé extraordinaire et ministre plénipotentiaire de la Suisse à Rio de Janeiro

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Monsieur, Vous avez bien voulu remettre, par l’intermédiaire de M. de Tschudi, des ouvrages de Mm. Mello Moraes, dos Santos Titára et Teixeira e Souza (34 volumes) à la Bibliothèque Impériale de Vienne. La Bibliothèque vient de recevoir ces livres et je m’empresse de vous exprimer en son nom les plus vifs remercîments pour cet intéressant cadeau. Elle l’a accueilli avec d’autant plus de satisfaction, qu’elle tient à compléter les rayons qui contiennent sont destinés à la littérature brésilienne, littérature devenant de jour en jour plus importante. Veuillez agréer, Monsieur, l’assurance de ma considération la plus parfaite. Vienne le 7 novembre 1860. Conseiller antique et directeur de la Bibliothèque impériale de Vienne

6.5.3 Briefe von Ernesto Ferreira França an Ferdinand Wolf [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.196] [Erste Seite] Badgastein le 20 – Obre.55 Monsieur. Me trouvant à Gastein déjà depuis quelques jours, je prends la liberté de vous écrire pour vous prier de vouloir bien m’envoyer le catalogue de vos ouvrages, selon la promesse obligeante que vous m’avez faite. Je dois écrire dans quelques jours pour Rio de Janeiro, et je désirerais profiter de cette occasion pour le remettre au Sécrétaire de l’Institut. J’ai eu avant mon départ de Vienne, l’honneur de vous chercher deux fois à la Bibliothèque Impériale, mais je l’ai trouvée malheureusement toujours fermée, et on n’a pas pu me dire si vous étiez déjà parti pour la campagne, ou non. C’est pourquoi je n’ai pas eu le plaisir de vous voir, selon ce dont nous étions convenus. [Zweite Seite] Je vous prierais également d’avoir la complaisance de m’envoyer l’adresse du libraire chez lequel vous publiez en ce moment, à Berlin, votre recueil de – Romances – Veuillez bien agréer l’hommage de la considération distinguée avec laquelle j’ai l’honneur d’être, Monsieur, votre très humble et obéissant serviteur, Ernesto Ferreira França

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[Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.197] [Erste Seite] Räckwitzstrasse Nº 6 Dresden, le 11 Mai 1857 Monsieur. Je prends la liberté de vous ouffrir, l’un pour vous, l’autre pour la Bibliothèque Impériale, deux volumes de poésies publiés recemment chez Ms. Brockhaus par un de mes amis. J’espère même pouvoir dorénavant pouvoir vous faire parvenir avec assez de régularité les ouvrages qui seront publiés chez nous. En vérité il serait à plaindre qu’un aussi grand connaisseur de la langue portugaise en fût privé d’autant plus que notre langue y gagnera. [Zweite Seite] Je compte faire de la Librairie Brockhaus le point central des correspondances littéraires entre le Brésil et l’Europe particulièrement, l’Allemagne, dont la langue, je me flatte de le dire, commence a être étudiée avec beaucoup d’ardeur chez nous. J’ai lu avec beaucoup de plaisir votre dernière publication, la langue portugaise n’a pas besoin d’autre interprète pour être connue et apprécie en Allemagne. Mes affaires et des voyages qui me laissent peut de temps, ne m’ont [Dritte Seite] pas permis d’avoir plutôt l’honneur de m’adresser à vous, mais je me propose, avec votre permission, d’avoir maintenant ce plaisir avec moins d’interruption. Nous nous occuperons aussi, si vous le voulez bien, d’établir des relations directes et régulières entre l’Académie des Sciences et notre Institut, ainsi que d’opérer de la même manière l’échange des publications respectives. Je suis, Monsieur, avec la plus haute considération votre haut dévoué, Ernesto Ferreira França

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[Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.198] [Erste Seite] Monsieur. Je vais avoir recours à votre obligeance pour vous prier de me dire si la Bibliothèque Imp. et Royale à Vienne a l’ouvrage suivant: Anchieta (Jozé de) Arte de Grammatica da lingoa mais usada na Costa do Brazil, Coimbra 1595, 8º pequeno. Dans ce cas vous m’obligeriez beaucoup si vous pourriez me confier le livre, même vu que devenu très-rare, je ne parviens pas a en trouver un exemplaire, et qu’il faut, même à cause de cela, que j’en fasse une nouvelle édition, que des travaux sur les langues indigènes au Brésil, rendent nécessaire. Je profitte aussi de cette occasion pour vous demander si par hasard vous pourriez me donner quellque notice que ce fût sur un Manuscript contenant une Gramm. un vocabulaire et un Catéchisme attribués au Père Manuel Vega par Adelung dans son Mithridates V. III, 2me. part., p. 442 (cf. Jöcher Gelehrten [unleserlich]). [Zweite Seite] En prenant la liberté de vous faire une pareille demande, je me souviens que vous avez mis nos littérateurs sur la piste du Code du Vatican où se trouvent le Cancioneiro del Rey D. Diniz, et que les trésors qui dans les langues Romanes contient la Bibliothèque Imp. ne pouvaient jamais trouver d’interprète dont les connaissances hautes et variés eussent pu mieux les faire valoir. Je me suis permis il y a quelque temps de vous envoyer le Plutarcho Brazileiro, où il y a quelques notices intéressantes sur la littérature Brésilienne et je saisis avec empressement cette occasion pour vous renouveler l’assurance de la haute estime avec laquelle j’ai l’honneur d’être, Monsieur, votre tout dévoué Ferreira França Jena, Febr. 27, 58 [Dritte Seite] Dans le cas où vous n’aillez pas la Gramm. d’Anchieta, puis-je vous demander où vous croyez que l’on puisse la trouver en Allemagne?

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[Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.199] [Erste Seite] Monsieur et très honorable ami. Vous aurez probablement déjà reçu ma circulaire sur l’établissement de relations suivies entre le Brésil et l’Europe. En vous priant de m’excuser si je ne l’ai pu accompagner de quelques lignes, je me permets de le faire à présent, en vous demandant votre haute et précieuse coopération dans tout ce qui pourra avoir rapport au but que nous voulons atteindre. En effet, je crois qu’un pareil commerce scientifique tout en ayant pour le Brésil la plus grande importance, n’en sera pas moins sans quelques résultats pour la science européenne, et je me trouverai très flatté de pouvoir compter, non seulement [Zweite Seite] sur vos bons offices, mais aussi sur vos excellents conseils, dans une affaire qui nous interesse tous. Connaissant parfaitement votre obligeance que j’ai déjà tant de fois mise à l’épreuve, je vais vous prier à présent de vouloir bien me faire savoir s’il y a dans la Bibliothèque I. et R. des ouvrages [unleserlich] sur les langues indigènes de l’Amérique du Sud ainsi que leur titre. – Il me serait particulièrement agréable de connaître avec spécialité, quels sont sur cet objet, les ouvrages du Père Ant. Ruiz de Montoya, que votre Bibliothèque puisse avoir. Croyez bien, Monsieur, que je serai toujours charmé de pouvoir [Dritte Seite] de quelque manière que ce soit avoir l’occasion de vous rétribuer par des services égaux, ceux que je n’hésite pas en ce moment a réclamer de votre bonne amitié. J’ai aussi eu l’honneur de vous envoyer un petit volume, un exemplaire des Institutiones à l’usage des Acad. de Droit du Brésil, que je vous prie de regarder comme un témoignage des mes sentiments affectueux et de la haute consideration et parfaite estime avec lesquelles j’ai l’honneur d’être, Monsieur, votre haut dévoué, E. Ferreira França (Avec soins de Ms. F. A. Brockhaus) Leipzig Décembre 7.58

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6.5.4 Briefe von Manuel de Araújo Porto-Alegre an Ferdinand Wolf [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi, fol. 1.3] Berlin 19 de Abr. de 1860. Ilmo. Senr. Dr. Wolf. Tenho presente a estimadissima carta de V. Sa. em que me pede alguns esclarecimentos à cerca da minha pobre existência litteraria, e algumas provas das poucas tentativas que publiquei em Revistas e em separado. Desejando com o mais cordial agradecimento corresponder à benevolencia de V. Sa. não perderei a occasião de entregar ao Sr. Asher tudo quanto tenho à mão; e isto o farei depois que voltar de Dresda, onde ficarei os dias necessarios para rever um trabalho que fiz, por ordem do Imperador, sobre aquella galeria de paineis. Alem do que me é particular, V. Sa. pode dispor largamente do meu pequeno prestimo, não so para lhe fornecer o que tiver aqui entre os poucos livros que trouxe, como para lhe prestar todas as informaçoens que estiverem ao meu alcance. Tenho 53 annos, vivi no centro do movimento, entrei nas luctas, e fui muitas vezes ferido no combate. N’esta Corte está o Sr. Magalhaens, meu amigo intimo, que o poderá igualmente ajudar em tão grato empenho [Zweite Seite] para todos nós brasileiros. Se V. Sa. não está em relaçoens com elle, e se o deseja, tenha a bondade de m’o dizer, porque terei n’isto immenso prazer, e o Sr. Magalhaens não menos, cujo caracter conheço e apprecio. Agradeço toda a delicadesa empregada por V. Sa. n’este seu pedido: V. Sa. é dos modestos generosos, que favorecem como se fossem favorecidos. Creia no summo respeito e alta consideração com que me preio ser De V. Sa. muito attencioso creado e obrigado, Manoel de Araujo Porto-alegre. Links-Straße nº 21.

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[Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi, fol. 1.4] [Erste Seite] Berlin 31 de Janeiro de 1861. Respeitavel Sr. Wolff. Ahi vão os Guanabaras que contem alguns escriptos meus. Não possuo actualmente nada do que sahio em separado: não tenho o canto Genethliano, o Corcovado, a Destruição das florestas, Angélica e Firmino, a Estatua Amazonica, o Prestigio da lei, e outras bagatellas. Estes apontamentos foram lançados ao correr da penna; e eu não posso fazer outros porque acabo de perder uma filha. V. Sa. desculpe o estado desgraçado de um homem que é pai. Sou com gratidão e respeito e cordialidade De [Zweite Seite] De V. Sa. creado obrigadissimo por tantos favores. Manuel de Araujo Porto-alegre [Rückseite]53 Berlin 30 de Janeiro de 1861. Compadre e amigo. Hoje às 5 horas e meia da tarde vi expirar a minha Luizinha. Tu já sabes o que isto é. Saudades à Comadre. Teu do C Porto-alegre

53 Dieser Brief nennt den Empfänger nicht, er wurde wohl aus Versehen nach Wolf gesandte.

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[Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi, fol. 1.5] [Erste Seite] Berlin, 22 de Fevereiro de 1861. Respeitavel Sr. Dr. Wolf. o nome do Poeta Macambuzio é Baptista Caetano de Almeida, filho da provincia de Minas, e um dos meus discipulos na Escola Militar. Eu o conheço de perto, e é homem muito estimavel por tudo. Ahi lhe irá ter a Minerva Brasileira, que foi quem deu maior impulso às lettras depois do Jornal dos Debates, escripto pelo Conselheiro Salles Torres Homem, o maior dos nossos oradores parlamentares. Do Guanabara tenho em mãos o resto, e mais alguns livros, que estão às suas ordens [Zweite Seite] e pelo tempo que quiser. Agradeço-lhe tantos e tantos favores, e rogo-lhe o obsequio de me não poupar em qualquer informação que queira, ou livro que precise; porque tenho como dever prestar-lhe todo o auxilio que estiver em meu poder. A sua vontade é uma ordem para mim. Disponha V. Sa. do que lhe consagra o maior respeito e estima. Manoel Araujo Porto-alegre

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[Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi, fol. 1.6] [Erste Seite] Berlin 6 de Abr. 1861. Respeitavel Snr. Dr. Wolf. Recebi o opusculo que V. Sa. teve a bondade de mandar-me por via do Sr. Asher, e o mandei traduzir por meu filho, para que o Brasil saiba agradecer a V. Sa. os obsequios que lhe está fazendo, dando maior nome ao poeta Magalhaens. Da parte do meu amigo Silva, envio a V. Sa. dous exemplares da sua Obra, um para a magnifica Bibliotheca Imperial e outro para V. Sa. Aqui fico sempre às suas ordens, como quem é affectuosamente De V. Sa. creado e obrigadissimo Manoel de Araujo Porto-alegre

[Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi, fol. 1.7] [Erste Seite] Berlin 24 de Setembro de 1861. Meu respeitavel Sr. Dr. Wolff. Aqui recebi os seus recados pelo Sr. Asher, e posso-lhe affirmar de que fora igual o meu pesar ao de V. Sa. quando perdi a esperança de poder vel-o uma segunda vez; porem espero que não será a ultima, porque tenciono voltar a Vienna para o anno futuro. 28 dias para ver essa cidade, ir à Hungria, admirar o Sömmering, e visitar o barão de Staudenam, em Grätz, (visita promettida em Marienbad,) não é tempo sufficiente. Estou em divida comigo mesmo, e desejo pagar. Vamos ao que teve a bondade de pedir-me. O que está no Diccionario do Sr. Sylva a respeito do meu amigo Norberto é o mais exacto possível; agora, porem, dir-lhe-ei o que sei a respeito das suas obras. Norberto é um pouco sonhador em litteratura, porque é dos que aspiram a uma independencia litteraria em epocas prematuras. O Livro dos seus amores é feito à sua esposa; é uma obra de amisade ou de vontade de poetar.

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[Zweite Seite] A Dama que o inspirou é uma Venus de Rubens com o colorido de Miguel Angelo. São Amores de amisade e amisades sem amores; não tem n’esta obra d’arte o toque vivo de um Gonsalves Dias, nem a melodia e novidade de um Macedo. O Dirceo de Marilia é uma tentativa, que outro não faria. Norberto finge-se ser a propria Marilia que responde ao seu Dirceo. Gonzaga morreu em Moçambique amando a sua Marilia, mas esta, segundo affirma toda a gente de Minas, não lhe foi fiel até a morte. Depois de velha, e na idade das que dão a Deus o que o mundo já não quer, (como dis Tolentino), fingio-se amorosa, por ser procurada por todos os admiradores do poeta, cuja sorte infeliz mais o tornou celebre e digno de sympathias. Ella mostrava então um vestido bordado pela mão do poeta, o qual devia servir-lhe no dia do casamento; e algumas outras prendas que lhe dera, das quaes duvido a fidelidade. Os Mineiros são os homens os mais sagazes do Brasil, e pouca gente os engana. [Dritte Seite] Vamos agora ao Sr. Odorico. Em tenra idade foi para Coimbra estudar a Philosophia natural. Lá foi amigo e companheiro do immortal Garret. Garret me disse, que o Odorico, Manuel Alves Branco e Candido José de Araújo Vianna eram os tres maiores latinistas do seu tempo. Em Coimbra compoz Odorico o seu – Hymno à tarde, – obra primorosa. Voltou ao Brasil na epoca da Independencia, e entrou no turbilhão da politica. É homem que nunca mudou de opinião, e que por isso não subio. Pouco ambicioso, não quis ser ministro, e nem Regente do Império em 1831! Foi deputado consiencioso, exemplar e homem publico modelo. Abandonado pelos maranhenses, ficou no Rio de Janeiro, onde serviu o alto emprego de Inspetor Geral da Thesouraria da Provincia, e ao mesmo tempo ensinava latim para poder viver sem dividas, pois tinha então uma numerosa familia. [Vierte Seite] Começou no Rio a sua tradução de Virgilio, aqual concluio em Pariz, para onde foi viver com o pouco que tinha da propria casa e da sua aposentadoria. Hoje está em Pisa, onde trabalha na tradução da Illyada de Homero. Eu não conheço um homem mais respeitavel do que elle! Odorico é a verdade, a modestia e a illustração em pessoa; é o typo do homem perfeito. Conheço-o muito e muito de perto, assim como o conhecem os Sr. Magalhaens e Dr. Silva, que acaba agora de publicar – L’Oyapoc et l’Amazone! Vou mandar buscar maiores detalhes, e, se m’os mandarem, la lhe irão ter à mão. Escrevo isto pa. sempre diser-lhe alguma coisa. Creia V. Sa. no respeito profundo que lhe consagra o

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De V.Sa. creado e muito obrigado, Manoel de Araujo Porto-alegre

[Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.3 Novi, fol. 1.8] [Erste Seite] Dresda 28 de Abril de 1863. Illmo. Snr. Dr. Wolf. Por uma carta do Sr. Magalhaens, soube de que a V. Sa. não chegara a carta que lhe escrevi, agradecendo os seus obsequios. Disse n’aquella ocasião, que V. Sa. tinha sido nimiamente bom para comigo, elevando-me a uma altura que não mereço; disse que via no seu livro uma certa affeicção, que muito me sensibilisava, e que me movia uma eterna gratidão; disse mais, que a sua obra é um monumento erguido ao meu pobre paiz, e que ella faria fructificar grandes bens, não só aos litteratos, como à entidade geral, à nação. Disse o que o meu coração agradecido sentira; e se advinhasse do resultado teria novamente escripto de Berlin, onde estive agora mez e meio, por causa d’esta saude, que está uma verdadeira teia de Penellope, que se urde e se tece no verão, e se desmancha no inverno. Espero passar mais tarde por Vienna e ahi de viva voz, e com o coração nos labios repetir-lhe [Zweite Seite] os meus sinceros agradecimentos. Não creia V. Sa. que me escaparam os seus altos conselhos, porque os acolhi com respeito, e com proposito de os approveitar no trabalho que tenho em mãos, segundo o permittirem a minha naturesa e limitada intelligencia. Assim, pois, rogo à bondade de V. Sa. o favor de me conceder todas as desculpas, e de crer que não sou causa d’este extraviamento. Em Berlim fui victima de um creado, e agora de uma creada, segundo penso, porque a ella entreguei a carta. E que fazer? Um d’estes casos motivou o suicidio de um Secretario da Legação Ingleza, cujo creado comia o porte dos despachos, e os não punha no correio! Levar-lhe-hei mais dous volumes do Mello Moraes, que tem algum interesse pelos documentos que encerram a respeito das Missoens e dos Jesuitas. Renovando cordialmente os meus protestos de alta estima e veneração, peço a V. Sa. de novo o obsequio de desculpar-me, e de crer-me sempre

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[Dritte Seite] o seu mais profundo venerador e obrigado creado, Manoel de Araujo Porto-alegre P.S. Sei que os seus livros foram entregues porque li isso no Diario do Rio.

6.5.5 Brief von Dr. Van Muyden an Ferdinand Wolf [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 504.4 Novi, fol. 3.56.] [Erste Seite] Berlin, den 23 Januar 1862 Hochgeehrter Herr Doktor! Ihren verehrten Brief erhielt ich vor einigen Tagen, und habe ich mich beeilt Ihre Bemerkungen gerecht zu werden. Das ist mir bis auf wenige Fälle gelungen, wovon Näheres unten. Dabei habe ich Gelegenheit gehabt zu bemerken, dass Sie der französischen Sprache in solchem Grade mächtig sind, dass Sie hätten Ihr Werk eigentlich französisch schreiben, und es bloß revidieren lassen können. Leider habe ich an einzelnen Stellen einige Wörter ausgelassen. Das kommt daher, dass der Deutsche es liebt, seine Periode mit einer Menge compléments voller zu machen, und man daher [unleserlich] nicht gedruckt, leicht irgendeins vergisst – mit der Bezeichnung der hervorzuhebenden Wörter bin ich einverstanden. Schade nur, dass das Gesperrtdrucken bei den Franzosen sozusagen unbekannt ist. Ich werde in den übrigen Heften nach Ihren Grundsätzen verfahren – meine Anfrage haben Sie auch erschöpfend beantwortet, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin. Ich bedauere, dass ich Ihnen wegen Glaucus die Mühe gemacht habe. Kaum hatte ich das Manuskript abgeschickt, als es mir einfiel, dass ich durch einen unbegreiflichen lapsus memoria an den Meeresgott nicht gedacht hatte! – Appendice geht entschieden nicht. Dafür mache ich Ihnen einen Vorschlag der auch schon von Herrn Cohn angenommen worden ist. Wir nehmen die unter geschr. Première Partie, den Anhang dagegen Seconde Partie. Choix de morceaux tirés des meilleurs auteurs brésiliens, und verweisen im 1en Teil auf die Seconde Partie. nº... Pièces à l’appui wird von Prozessakten und jurisdischen Dokumenten, Urkunden, etc gebraucht, passt daher hier nicht. Mein Vorschlag précédé d’une histoire war nur zum Spaß. – Chrestomathie wie ein Schulbuch, Anthologie ging allenfalls, ich will noch darüber nachdenken.

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[Zweite Seite] Ich weiß nicht, ob Sie mit der folgenden Definition der bras. Literatur zufrieden sein werden, die ich nach Ihren Wünschen geändert habe: «La littér. brésil. a été apportée au Brésil par les conquérants portugais. Les colons, leurs succésseurs restés en relation avec la métropole et se servant de sa langue, continuèrent à la cultiver. Elle a été enfin développée avec une indépendance toujours plus grande par les brésiliens natifs d’origine portugaise, à mesure qu’ils s’émancipaient eux même davantage de la mère patrie.» Dieser Anfang ist einfach und gibt Ihren Gedanken wie mir scheint gut wieder – Nativisme werde ich auf den Rat eines französischen Literaten einfach hinschreiben. – Die beiden Abteilungen werden mit besonderen Pagination gedruckt. – Ich denke, ich mache die 1st Korrektur, Sie die 2te oder die 3te. Da ich gegenwärtig eine Sammlung französischer Klassiker mit Kommentar herausgebe, so für darin schon etwas geübt. – Von Ihren Bemerkungen habe ich folgende nicht ganz ausführen. können. S. 84 histoire traditionelle, wieso beinahe, die alte, immer wiederkehrende Geschichte. Ich muss: fabuleuse stehen lassen, welcher z. B. vom Argonauten Zeuge gesagt wird. S. 86 épopée artistique geht nicht. Ich könnte sagen savante. Artistique finde ich in keinem Wörterbuch! Kulturvolk, peuple civilisateur? – Weltbewegung mit Held in nur ein epitheton ornans. Ein Held bewegt immer die Welt. Es wäre schwer zu übersetzen, und in Franz. [unleserlich]: Sie sagen ich hätte in der Einleitung z. Kap. VII eine Stelle über Schäferkostüm ganz übergangen. Wie lautet Sie? ich will es nachtragen.  

[Dritte Seite] S. 102 Die Stelle über Petrarca’s Laura hatte ich so verstanden, dass sie ihn unsterblich gemacht haben, indem sie ihn zu solchen Dichtungen begeisterte. anacréontique heißt leider französisch: schlüpfrig. S. 121 Ce sentiment intime de son coeur, unfranzösisch. Ich habe korrigiert: Ce que ressentait son coeur? S. 138 soll ich ausgelassen haben: im Bilde der zum Himmel hinauffahrenden Jungfrau. Ich weiß aber nicht wo? Die Stelle liegt in dem Absatz über Caldas. Da ich jedes Manuskript habe, so werde ich hoffentlich die weitere Übersetzung kräftig fördern, obgleich ich in diesem Vierteljahr mit Stunden sehr geplagt bin. Zuerst muss ich aber einige Hefte zum Druck fertig machen. Bald werde ich Ihnen weitere Hefte zur Ansicht schicken, und werde mich bemühen die bezeichneten Stellen möglichste getreu wiederzugeben. Ich schließe mit der Versicherung meiner aufrichtigsten Hochachtung Ihr ergebenste, G van Muyden

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6.5.6 Ferdinand Wolf an der kaiserl. kgl. Bibliothek [Österreichische National Bibliothek HB 267/1861] Löbl. k. k. Hofbibliothek! Der ergebenst Gefertigte hat seit einiger Zeit sich mit der Ausarbeitung einer Geschichte der brasilischen Literatur beschäftiget und hofft damit im Laufe dieses Winters fertig zu werden. Der brasilische Gesandte am hiesigen Hofe, Hr. v. Magalhães, der selbst als Dichter und Philosoph eine ausgezeichnete Stelle in der Literatur seines Vaterlands einnimmt, hat durch seine Mittheillungen dieses Werk wesentlich gefördert, so daß der Gefertigte sich für verpflichtet hielt, es ihm zu widmen. Hr. v. Magalhães aber erachtete es für passender, daß dieses Werk S. M. dem Kaiser von Brasilien gewidmet werde, forderte den Gefertigten dazu auf und versprach die Annahme der Widmung von Seite des Kaisers zu erwirken. Der Gefertigte bittet daher, höheren Ortes ihm die Bewilligung erwirken zu wollen, das oben bezeichnete Werk S. M. dem Kaiser von Brasilien widmen zu dürfen. Wien der 4.tem November 1861

Dr. Ferdinand Wolf, Custos

6.5.7 Brief von Ferdinand Wolf an Dom Pedro II. [Arquivo Histórico do Itamaraty, Konvolut Viena, 1861–1862, 232/4/10] Sire! La bibliothèque impériale de Vienne a reçu dans ce dernier temps un nombre considérable de livres brésiliens, dont elle a été fournie par les soins des savants autrichiens qui faisaient partie de l’expédition scientifique de la frégate la Novara, et par l’obligeance du célèbre voyageur M. de Tschudi, de sorte qu’elle est peutêtre la plus complète en Europe dans cette branche de littérature. En outre j’ai eu le bonheur d’entrer en relation avec MM. Domingos José Gonçalves de Magalhães et Manoel de Araujo Porto-Alegre, deux coryphées de la littérature brésilienne, qui ont bien voulu me communiquer des matériaux et me guider par leurs lumières. J’ai donc vu dans tout cela presque une vocation de m’occuper plus particulièrement et en détail de cette littérature. Saisi d’admiration, d’une part, par ses beautés, par sa richesse, et surtout par les rapides progrès qu’elle a faits depuis une vingtaine d’années – progrès, seulement possibles par la puissante protecti-

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on et sous la sage direction d’un souverain aussi savant et aussi éclairé que l’est Votre Majesté – et surpris, [Zweite Seite] d’autre part, de ce qu’une littérature d’une pareille importance est restée presque inconnue en Europe et spécialement en Allemagne, je me suis décidé à profiter des matériaux qu’une heureuse coïncidence de circonstances a mis à ma disposition, et à contribuer de mon mieux, à faire connue et appréciée en Europe une littérature qui a déjà acquis tant de titres à l’être. C’est après plus de deux ans de travail et de recherche, que je suis sur le point de terminer l’essai d’une histoire de la littérature brésilienne depuis son origine jusqu’à nos jours. Quoique je sois pénétré du sentiment de l’insuffisance de mes forces, pour rendre digne mon ouvrage d’être présenté au pied du trône de Votre Majesté, la bonne intention qui me l’a fait entreprendre, m’excusera peutêtre, si j’ose supplier Votre Majesté de daigner en agréer la dédicace. Puisque la splendeur de l’auguste nom de Votre Majesté suppléera à mon insuffisance, et la gracieuse protection de Votre Majesté accordée à un si faible essai encouragera d’autres, plus instruits e plus habiles que moi, de parfaire un ouvrage dont je n’ai pu que tracer les premiers lignes. Je me suis permis de joindre à cette humble supplique deux chapitres de mon ouvrage que j’ai publiés séparément comme échantillons, ceux sur Antonio José da Silva, et sur D. Domingos José Gonçalves de Magalhães. Je suis avec le plus profond respect, de Votre Majesté Impériale, le très humble et très soumis serviteur, Ferdinand Wolf Conservateur de la Bibliothèque imp., secrétaire de l’Académie imp. des Sciences Vienne, 10 Novembre 1861

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6.5.8 Berichte von Gonçalves de Magalhães [Arquivo Histórico do Itamaraty, Konvolut Viena, 1861–1862, 232/4/10] [Erste Seite] Secção Central N.º 15

Legação do Imperio do Brasil n’Austria Vienna, 28 de Novembro de 1861.

Ilmo. e Exmo. Snr. [Links mit Bleistift: S. M. I. acata a dedicatoria da obra, e levei à sua presença; os dous exemplares –] Tenho a honra de remetter a V. E. para que ponha aos Pés de S. M. O Imperador uma suplica do Dr. Fernando Wolf, acompanhada de dous Opúsculos em língua allemã escriptos por elle sobre a nossa Litteratura. Devo informar que o Dr. Wolf goza de grande reputação como litterato e erudito, é Conservador da Bibliotheca Imperial de Vienna, Secretario Perpetuo da Imperial Academia de Sciencias desta Capital, condecorado com varias Ordens tanto nacionaes como estrangeiras, e conhecido pelos seus escriptos sobre a litteratura hespanhola, em que é mui versado, bem como na italiana e portugueza, e agora na parte que nos pertence, e à que se entrega com todo o afan para escrever a sua historia, que deseja publicar debaixo do honroso auspicio de S. M. O Imperador, a Quem a dedica e consagra, e a Quem pede [Zweite Seite] o necessario Prasme. Aproveito esta opportunidade para reiterar à V. E. as expressões da minha particular estima e alta consideração. Ilmo. e Exmo. Snr. Benvenuto Augusto de Magalhães Taques Domingos José Gonçalves de Magalhaens

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[Arquivo Histórico do Itamaraty, Konvolut Viena, 1861–1862, 232/4/10] [Erste Seite] Secção Central N.º 16

Legação do Imperio do Brasil n’Austria Vienna, 29 de Dezembro de 1862.

[Links mit Bleistift: Officialato da O. da Rosa Escreva se as [unleserlich] do Imp.º, e communique se á [unleserlich] a este officio –] Ilmo. e Exmo. Snr. O Dr. Fernando Wolf, tendo obtido o necessario prasme, para poder dedicar à Sua Majestade O Imperador a sua Historia da Litteratura do Brasil, que acaba de sahir a luz, entregou-me para fazer chegar ao seu Alto destino, o exemplar dessa Obra, que agora remetto, pedindo a V. Ex. queira ter a bondade de pol-o aos pés do mesmo Augusto Senhor da parte do illustre litterato, honrado pelo Seu Soberano, por tantos Monarchas estrangeiros, e pelas principaes Academias da Europa, entre estas o Instituto de França, como se vê dos titulos que acompanham o seu nome no frontespicio desta importante Obra; titulos que abonam a imparcialidade e a independencia de seu juízo ácerca da importancia da nossa litteratura, e realçam o serviço que acaba de prestar à glória de nosso Paiz, pelo que merecerá sem duvida a consideração [Zweite Seite] do Governo Imperial. Aproveito a occasião para reiterar à V. Ex. os protestos da minha particular estima e alta consideração Ilmo. e Exmo. Snr. Marquez de Abrantes Domingos José Gonçalves de Magalhaens

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[Arquivo Histórico do Itamaraty, Konvolut Legação Imperial na Áustria, 1863– 1867, 232/4/11] [Erste Seite] Secção Central. N.º 13.

Legação do Imperio do Brasil n’Austria Vienna, 3 de Junho de 1863.

Ilmo. Exmo. Snr. § 1º Acusando a recepção do Despacho de V. Ex.ª datado de 5 de março ultimo sob n.º 3, que me communicou ter Sua Majestade O Imperador agraciado o Dr. Fernando Wolf com o Officialato da Imperial Ordem da Rosa; e bem assim a recepção do Officio da Directoria Geral de 17 do dito mez, acompanhado da Carta Imperial, e da respectiva insignia; cumpre-me declarar a V. Ex.ª que o Dr. Wolf, a quem entreguei o que lhe era destinado, mostrou-se extremamente satisfeito, e penhorado, pela honra que Sua Majestade O Imperador Se Dignou conceder-lhe, e pedio-me que levasse em seu nome aos pés do Throno Imperial as cordiaes, e respeitosas expressões do seu indelevel reconhecimento por essa tão subida graça. § 2º Pelo Despacho com me honrou V. Ex.ª em data de 19 de Março sob nº 5 fico certo de ter chegado a essa Secretaria de Estado o meu [Zweite Seite] Officio n.º 4 de 20 de Fevereiro ultimo. § 3º Foi entrega a Carta de Sua Magestade A Imperatriz para Sua Alteza Real a Sra. Duqueza de Berry, que me veio recommendada pelo Officio da Directoria Geral de 25 de Abril. § 4º Incluso achará a V. Ex. o Relatorio dos acontecimentos mais importantes dos últimos quinze dias do mez passado. Aproveito a opportunidade para reiterar à V. Ex. as protestações da minha particular estima e alta consideração Ilmo. e. Exmo. Snr. Marquês de Abrantes Domingos José Gonçalves de Magalhaens

Literaturverzeichnis Archivquellen Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Ferreira França, Ernesto: Briefe an Ferdinand Wolf, 1855–1859. Cod. Guelf. 504.2 Novi, fol. 1.196– 1.199. Porto-Alegre, Manuel de Araújo: Briefe an Ferdinand Wolf, 1860–1863. Cod. Guelf. 504.3 Novi, fol. 1.3–1.8. Van Muyden, G.: Brief vom 23.01.1862 an Ferdinand Wolf. Cod. Guelf. 504.4 Novi, fol. 3.56. Wolf, Hedwig: Brief vom 29.10.1885 an die Herzog August Bibliothek. BA II 100, 15429.

Wien, Österreichische Nationalbibliothek Hochstetter, Ferdinand Ritter von: Brief an der kaiserl. kgl. Hofbibliothek am 30.07.1857. HB 212/1860. Souza Silva, Joaquim Norberto de: Brief an der kaiserl. kgl. Hofbibliothek am 07.11.1860. HB 212/1860. Wolf, Ferdinand: Geschichte der brasilischen Nationalliteratur. Manuskript-Nr. 14547, 1862. Wolf, Ferdinand: Antrag auf Widmung eines Werkes an dem Kaiser Brasiliens HB 267/1861.

Rio de Janeiro, Arquivo Histórico do Itamaraty Gonçalves de Magalhães, Domingos José: Bericht vom 28.11.1861 mit der Bitte um die Genehmigung Wolfs Widmung an Dom Pedro II.. Konvolut Viena 1861–1862, 232/4/10. Gonçalves de Magalhães, Domingos José: Bericht über die Verleihung des Ordens der Rose an Ferdinand Wolf. Konvolut Legação Imperial na Áustria, 1863–1867, 232/4/11. Wolf, Ferdinand: Brief an Dom Pedro II. am 10.11.1861. Konvolut Viena 1861–1862, 232/4/10.

Primärquellen Wolf, Ferdinand: Bibliographische Nachricht von einigen der neuesten Ausgaben von Dante’s Werken. In: Jahrbücher der Literatur 26 (1824) S. 38–51. – Über Lope de Vega’s Comedia famosa de la reina María. In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaft 16 (1855, Sitzung vom 25. April). – Dom Antonio José da Silva. Wien: K. K. Hof- und Staatsdruckerei 1860. – Der erste historische Roman im spanischen Süd-Amerika. In: Jahrbuch für romanische und englische Literatur 2 (1860), S. 164–182. – Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationalliteratur. Berlin: Asher & Co. 1859. https://doi.org/10.1515/9783110697889-007

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Literaturverzeichnis

– Análise das obras do Sr. Domingos José Gonçalves de Magalhães. Excerto para a história da literatura brasileira pelo Dr. Fernando Wolf. In: Revista popular 13, S. 175–184; 14, S. 245–250; 15, S. 372–376 (1862). – Die Nebulosa von Joaquim Manuel de Macedo. Ein Beitrag zur Geschichte der brasilischen Literatur. In: Jahrbuch für romanische und englische Literatur 4 (1862), S. 121–141. – Weitere Beiträge zur Geschichte des Romans im spanischen Südamerika. In: Jahrbuch für romanische und englische Literatur 4 (1862), S. 35–45. – Le Brésil littéraire: Histoire de la littérature brésilienne suivie d’un choix de morceaux tirés de meilleurs auteurs bésiliens [sic]. Berlin: Asher & Co. 1863. – Die brasilische Literatur. In: Unsere Zeit. Jahrbuch zum Conversations-lexikon 8 (1864), S. 634–642. – O Brasil literário (história da literatura brasileira). Übers. von Jamil Almasur Haddad. São Paulo: Companhia Editora Nacional 1955.

Onlinequellen Benedikter, Christoph H./Kreidl, Philipp/Rohrbacher, Peter: Projekt Novara-Expedition, http:// www.novara-expedition.org/de/geschichte.html (05.07.2019). Bispo, Antonio Alexandre: Wagner e o Brasil na mediação de E. Ferreira França Filho (1828– 1888). O projeto de dedicação de Tristan und Isolde a D. Pedro II. In: Revista Brasil-Europa 147, 9 (2014). Correspondência Euro-Brasileira, http://revista.brasil-europa.eu/147/Wagn er-Brasil_1976.html (7.09.2016). Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Online-Version (12.06.2019). Diário do Rio de Janeiro. (16.11.1861 und 09.03.1863) http://memoria.bn.br/DocReader/Hotpag e/HotpageBN.aspx?bib=094170_02&pagfis=17189&url=http://memoria.bn.br/docreader# (03.05.2018). Paisey, David: Adolphus Asher (1800–1853): Berlin Bookseller, Anglophile and Friend to Panizzi. In: Eletronic British Library Journal 1997. http://www.bl.uk/eblj/1997articles/ article14.html (07.06.2017).

Sekundärliteratur Abreu, Marcia (Hg.): The Transatlantic Circulation of Novels between Europe and Brazil, 1789–1914. Palgrave Macmillan 2017. Alencastro, Luiz Felipe de (Hg): História da vida privada no Brasil II. Império: a corte e a modernidade nacional. São Paulo: Companhia das Letras 1997. – La traite négrière et l’unité nationale brésilienne. In: Revue française d’histoire d’outre-mer 66, 244–245 (1979), S. 395–419. – Le versant brésilien de l’Atlantique-Sud: 1550–1850. In: Annales. Histoire, sciences sociales 61, 2 (2006), S. 339–382. – L’empire du Brésil. In: Duverger, Maurice. Le concept d’empire. Paris: PUF 1980, S. 301–309. Anderson, Benedict: Imagined Communities. London, New York: Verso 2006. Anderson, Perry: Lineages of the Absolutist State. London: NLB 1974.

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Personenregister Álvares de Azevedo, Manuel Antônio 275–277 Abélard, Pierre 204 Adelung, Johann Christoph 293 Alencar, José M. de 40, 45, 47 Alencastro, Luiz Felipe de 179–181, 186, 189, 227 Alfieri, Vittorio 283 Alighieri, Dante 278 Almeida, Manuel Antônio de 47 Alvarenga Peixoto, Inácio José de 128, 132–134, 252–253, 255 Alvarenga, Manuel Inácio da Silva 255–256 Alves Branco, Manuel 78, 259, 299 Anchieta, José de 62–64, 245, 293 Anderson, Perry 29–30, 120 Andrada e Silva, José Bonifácio 144–149, 259–260, 276 Andrada e Silva, Martim Francisco 259 Arnaud, Antoine Vincent 282 Asher, A. 27, 52–53, 72, 77–78, 222, 295, 298 Azevedo e Brito, Paulo José de Mello 259 Böhl de Faber, Johann N. 88 Barbosa, Francisco Villela 259 Barbosa, Januário da Cunha 88, 241, 260 Basílio da Gama, José 7, 55, 132, 134, 254–256, 271 Beer, Rudolf 22–23, 27 Bekker, August Immanuel 49 Bellermann, Christian Friedrich 213–214 Benjamin, Walter 226, 228 Boileau, Nicolas 251 Bonaparte, Louis 33 Bonaparte, Napoléon 20, 29, 31, 119, 140, 200, 209, 212, 257 Borges de Barros, Domingos 259 Bouterweck, Friedrich 7, 73, 88, 209, 213, 230 Buarque de Holanda, Sérgio 41–42, 126, 145 Byron, George Gordon (Lord) 276, 278, 282 https://doi.org/10.1515/9783110697889-008

Caballero, Fernán 49, 67 Caetano de Almeida, Baptista 76, 91, 277, 297 Calderón de la Barca, Pedro 249 Camões, Luís Vaz de 214 Campassi, Roberta 62–63, 65–66 Candido, Antonio 12, 40, 44–46, 48, 71, 74– 75, 124–125, 138 Cantù, Cesare 49 Cardoso, José Francisco 254 Cohn, Albert 6, 53, 72, 77, 83–85, 301 Corneille, Pierre 283 Costa e Silva, José Maria da 242 Costa Pereira, Hipólito José da 258 Costa, Cláudio Manuel da 7, 128, 252, 255 Costa, Emília Viotti da 9–10, 36–37, 42–43, 148, 227 Debret, Jean Baptiste 71 Delavigne, Casimir 282 Denis, Ferdinand 5, 12, 197, 202–207, 222, 240 Depping, Georg C. B. 23, 88 Dias, Antonio Gonçalves 45, 56, 60, 62–63, 71, 73, 202, 273, 299 Diez, Friedrich C. 88 Dom João IV. 162 Dom João VI. 32, 37, 140, 143, 200, 202, 257 Dom Miguel 32 Dom Pedro I. 8–9, 31–32, 37–38, 41–42, 71, 95, 146–147, 223, 228, 259 Dom Pedro II. 2–3, 8–9, 11, 30–32, 35, 38–41, 43–48, 51–52, 56–58, 60–61, 63, 65, 71, 74–75, 78–82, 92, 95, 102, 105, 125, 135– 136, 138, 152, 157–159, 161–162, 164–165, 167–168, 180, 190, 195, 200, 202, 217– 218, 222–223, 230–232, 265, 268, 287, 303 Dom Pedro II. 11 Ducis, Jean-François 282 Durán, Augustin 49 Duttenhofer, Friedrich Martin 88 Ebert, G. K. W. Adolf 8, 11, 17–18, 50–51, 89, 97–99, 109, 197, 220

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Personenregister

Edélestand, Duméril 49 Ender, Thomas 32–33 Engels, Friedrich 13–14, 24–25, 28–29 Enk von der Burg, Leopold 49 Ferdinand Maximilian von Österreich 33, 58, 182 Fernandes Pinheiro, J. Caetano (Cônego) 243 Ferreira França, Ernesto 35, 49, 51, 54–58, 60–67, 69, 71–73, 75, 78, 80, 103, 214, 237, 281, 291–294 França, Luis Paulino Pinto da 260 Franz I. von Österreich 8, 31 Franz Joseph I. von Österreich 20, 29, 33 Gachard, Louis Prosper 49 Garrett, Almeida 78, 242, 250, 282, 299 Gayangos, Pascual de 49 Geibel, F. Emanuel A. 23, 88 Gil Vicente 214, 245, 250 Goethe, Johann W. von 52–53, 87, 99 Gonçalves de Magalhães, Domingos José 12, 35, 40, 45, 47–48, 51–52, 54–55, 72, 74, 76–82, 92, 103, 126, 151–153, 190, 192– 195, 198–199, 217–218, 221–223, 236– 237, 241, 245, 262, 269–270, 272–273, 278, 281–282, 295, 298–300, 303–307 Gonzaga, Tomás Antônio 77, 128, 132–135, 204, 252, 255–256, 299 Grimm, Jacob L. K. 23, 88 Gros, Antoine-Jean 71 Hölderlin, Johann C. F. 87 Habel, Annelise 19 Hartzenbusch, Juan Eugenio 49 Haupt Moriz, Rudolph Friedrich 49 Hegel, Georg W. F. 4, 87–88, 95–96, 107–109, 111, 113, 142–143, 172–173, 178, 180, 193–194, 201, 210 Herder, Johann G. 23, 87–88, 94, 108, 113, 123 Hobsbawm, Eric 5, 20, 30, 60, 98, 208 Hochstetter, Ferdinand Ritter von 35, 58–59, 62, 102, 237, 289 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 49 Homer 272, 278, 299 Huber, Victor Aimé 49, 88

Jacobi, Carl G. J. 87 Jean Paul 87 Junqueira Freire, Luís José 275, 277 Kant, Immanuel 87–88, 114 Keller, H. Adelbert von 88 King, Christa Knellwolf 182 Koselleck, Reinhart 15, 95–98, 171, 225 Lacombe, Américo Jacobina 40 Lamartine, Alphonse de 270, 278 Lappenberg, Johann Martin 49 Le Goff, Jacques 161–162 Lechner, Silvester 25–26, 32 Lemcke, Ludwig 50–51, 54, 66–67, 69–70, 73–74, 76, 82, 84, 215, 218–221 Lisboa, Joaquim José 260 Lope de Vega 7, 23–24 Ludwig XIV. 44, 265 Münch-Bellinghausen, Eligius von 20, 27–28, 209 Macedo, Álvaro Teixeira de 260 Macedo, Joaquim Manuel de 45, 47, 67, 69, 71, 76, 92, 236, 264, 266, 273, 281, 283, 299 Macpherson, James 279–280 Maistre, Joseph Maire de 278 Maria Anna Victoria de Bourbon 250 Maria Barbara de Bragança 250 Maria Leopoldine von Österreich 8, 31–32 Martins Penna, Luís Carlos 281 Marx, Karl 13–14, 42, 113, 180, 184–187 Massmann, Hans Ferdinand 49 Mello Moraes, Alexandre José de 75, 290–291, 300 Mendes, Manuel Odorico 77–78, 272–273, 282 Mendonça, A. P. Lopes de 243 Meneses, Luís da Cunha 130, 253 Metastasio, Pietro 251 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 7, 19, 21, 23–25, 28, 31–33, 229 Michel, Francisque 49 Molière 251 Montoya, Antonio Ruiz de 63, 65, 294 Moreto y Cabaña, Agustín 250 Musset, Alfred de 276

Personenregister

Novalis 87 Nunes Ribeiro, Santiago 263, 269 Ottoni, José Eloy 243, 257 Pandin, Bauregard 88 Paraopeba, Silvério da (Pe.) 260 Paris, Gaston 49 Pereira da Silva, João Manuel 64, 241, 251, 255 Pimentel, Gaspar José de Mattos 260 Pombal, Marquês de 126–128, 251–252, 254 Porto-Alegre, Manuel de Araújo 12, 35, 45, 47, 49, 51, 54–55, 66, 69, 71–80, 103, 135, 195, 221–222, 237, 269, 273, 281, 295– 298, 300–301, 303 Prescott, William Hickling 49 Queiroga, Antonio Augusto 260 Rabello, Laurindo 47 Regis, J. Gottlob 88 Reis, João Gualberto Ferreira dos Santos 260 Ribeiro, Francisco Bernardino 260 Rocha Pitta, Sebastião da 205, 247–249 Romero, Sílvio 11, 47, 55, 195, 198 Rosenkranz, Johann K. F. 49, 88 São Carlos, Francisco (Frei) 257 Saldanha, José da Natividade 260 Salles Torres Homem, Francisco de 297 Santa Rita Durão, José de 128, 252, 254, 271 Sauer, Walter 21, 31, 33–34, 58 Schack, Adolf F. Graf von 23 Schelling, Friedrich W. J. 88 Scherzer, Karl von 62, 181–184, 186, 188–189 Schiller, Johann C. Friedrich 87 Schlegel, Friedrich 21, 27, 94, 99 Schlegel, Gebrüder 23, 87–88, 94 Schleiermacher, Friedrich D. E. 87 Schmidt, Eduard 18 Schmidt, Friedrich W. V 88 Schwarcz, Lilia Moritz 30–31, 36, 38–39, 43–47

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Schwarz, Roberto 43 Silva, Antonio José da 70–71, 73–74, 77, 80– 81, 92, 124, 138, 172, 236, 249–251, 298, 304 Silva, Inocêncio Francisco da 222, 243 Silveira de Sousa, João 276 Sismondi, Simonde de 7 Smith, Adam 36, 184 Sousa Caldas, Antônio Pereira de 144, 257 Souza Silva, Joaquim Norberto de 45, 74, 77–78, 104, 181, 200, 237, 239, 241, 246, 269, 275, 283, 290 Stengel, Edmung 19, 50 Teixeira e Souza, Antônio Gonçalves 75, 271, 275–276, 283, 290–291 Teixeira, Joaquim José 275 Ticknor, George 49 Tieck, Ludwig 10, 23, 27, 53, 88 Tiradentes 253 Titára, Ladislau dos Santos 75, 260–261, 271, 290–291 Tschudi, Johann J. 49, 66, 68–69, 75, 79–80, 102–103, 187–188, 237, 290–291, 303 Uhland, J. Ludwig 23 Valente, Andrea 33 van Muyden 1, 6, 49, 82–86, 89, 92, 106, 119, 143, 160, 200–201, 203, 215–216, 284, 301–302 Varnhagen, Francisco Adolfo de 45, 107, 113–114, 242, 244, 247, 283 Vega, Manuel (Pe.) 293 Verssímo, José 47 Vianna, Candido José de Araújo 78, 299 Vieira, Antônio (Pe.) 162, 246 Voltaire 119, 282 Wülker, Richard 17, 50, 220 Wagner, Richard 56–58, 60, 66, 79 Wakefield, Edward Gibbon 184–186 Willibald Alexis 88 Wurzbach, Constantin von 10, 20 Ziegert, Max 54