Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners: Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten 9783050093215, 9783050055695

Besides being a major literary figure and revolutionary, Georg Büchner was also an aspiring scientist. Stiening analyzes

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Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners: Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten
 9783050093215, 9783050055695

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Siglenverzeichnis
1. Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft
2. Philosophie und Philosophiegeschichte
3. Naturphilosophie
4. Politik
5. Zwischenbilanz und Ausblick: Büchners Wissen und seine poetische Valenz
6. Über die Grenzen des Wissens: Danton’s Tod
7. Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz« zwischen Psychologie, Naturphilosophie und Ästhetik
8. Humoristisches Wissen? Leonce und Lena als Kritik der Romantik
9. Wissen und Gesellschaft: Woyzeck
10. Ausblick
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Gideon Stiening Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners

Gideon Stiening

Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten

ISBN 978-3-05-005569-5 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009321-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038024-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data: 2018965079

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Porträtskizze Büchners von Alexis Muston. Aus: Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Ein Büchner-Fund. Fink: 1987. Mit freundlicher Genehmigung von Heinz Fischer. Printing and binding: CPI books GmbH, Leck

www.degruyter.com



Für Anne-Louise und Julian

Vorwort Die nachfolgende Studie wurde im Juli 2009 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Äußere Umstände haben eine frühere Publikation verhindert. Die Arbeit wurde überarbeitet, an den aktuellen Forschungsstand – soweit sinnvoll – angepasst und um das Kapitel zu Leonce und Lena ergänzt. Wie stets, so ist der Autor auch in diesem Falle zu vielfältigem Dank verpflichtet. Dieser gilt zunächst und zumeist Friedrich Vollhardt (München), der nicht nur das Erstgutachten für das Habilitationsverfahren verfasste, sondern mich und meine Forschungen seit Jahrzehnten geduldig fördert. Darüber hinaus gilt mein Dank Andreas Kablitz (Köln), der eines der auswärtigen Gutachten übernahm und durch vielfältige Anregungen und Hinweise meine Überlegungen zum Verhältnis von ›Wissen und Literatur‹ prägte. Großer Dank gilt zudem Andreas Höfele (München), Karl Eibl († München) und Steffen Martus (Berlin), die ebenfalls Gutachten verfassten und mit ihrer produktiven Kritik zu mancherlei Änderungen meiner Sicht auf Büchner beitrugen. Doreen Haring, Michael Schwingenschlögl und insbesondere Oliver Bach leisteten mit vielerlei sachlichen Hinweisen, vor allem aber bei der Einrichtung und der Korrektur des Manuskript wertvolle Hilfe, auf die ich mit großer Dankbarkeit zurückblicke. Ein besonderer Dank gilt schließlich meinem Freund und Kollegen Udo Roth, mit dem über Büchner zu debattieren und zu streiten nicht allein eine große Freude ist, sondern die entscheidende Grundlage dafür schuf, sich mit diesem Wissenschaftler, Dichter und Politiker intensiver zu befassen. Gewidmet ist die Arbeit meinen Kindern, Anne-Louise und Julian, die mit viel Geduld und kritischem Blick meine Arbeit begleiten.

https://doi.org/10.1515/9783050093215-201



Ich werde […] immer meinen Grundsätzen gemäß handeln… Georg Büchner an die Familie, Juni 1833

Inhalt Vorwort  VII Siglenverzeichnis  XVII  . . . . .  . .. .. .. ... ... .. ... ... .. .. .. . .. ... ... ... .. ...

Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft  1 Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner  1 1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  7 Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  15 Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  26 Aufbau der Arbeit  38 Philosophie und Philosophiegeschichte  41 Stationen der büchnerschen Philosophiestudien  44 Schulzeit bis 1831: Fichte und andere Idealisten  44 Straßburg 1831–1833: Zwischen anatomischen Studien und »französischer Gewitterluft«  53 »Mit aller Gewalt« in die Philosophie: Darmstadt und Gießen von Juli 1833 bis September 1834  55 Wintersemester 1833/34: Hegel und Psychologie?  55 Sommersemester 1834: Vorlesungen bei Joseph Hillebrand  64 Exkurs: Büchner und Hillebrand oder: Vorlesungen über Logik und Naturrecht  66 Logik  66 Naturrecht und allgemeine Politik  70 Darmstadt, Oktober 1834 bis März 1835: Philosophiegeschichte?  78 Naturwissenschaft und Philosophiegeschichte: Straßburg, März 1835 bis Oktober 1836  81 In Zürich: Naturphilosophie  86 Die philosophischen Vorlesungsskripte  90 Philosophiegeschichtsschreibung seit dem späten 18. Jahrhundert  90 Der »Methodenstreit« zwischen 1790 und 1820  91 Dominanz des Idealismus: Philosophiegeschichtsschreibung in den 1830er Jahren  95 Zum ideengeschichtlichen Kontext von Büchners Quellen  104 Das Descartes-Skript  114 Büchners kritische Perspektive auf Erkenntnistheorie und Metaphysik Descartes’  118

XII  Inhalt ... ... ... ... ... .. ... ... ... ... .

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Exkurs: Büchner und Diderot oder: War Büchner Materialist ?  126 Mechanistische Materietheorie und »abenteuerliche Kosmogonie«: Büchner über Descartes’ Naturphilosophie  149 »Zusammengeschraubte« Menschen und »Gemeingefühl«: Zu Descartes’ mechanistischer Anthropologie und Psychologie  151 Widerlegungslust: Büchners Rekonstruktion der Objectiones  160 Beschluss I: Büchners Descartes  163 Das Spinoza-Skript  166 Kommentierte Ethik: Das Problem der Gottesbeweise  170 »Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik«: »Wissenschaftslehre« und Methodologie des TIE  187 Unter Zeitdruck: Zusammenfassung und Exzerpte aus Tennemann und Herbart  198 Beschluss II: Büchners Spinoza  200 Fazit: Büchners philosophisches und philosophiehistorisches Wissen  201 Naturphilosophie  205 Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  207 Schulzeit bis 1831: »Ich darf werden, wozu ich einzig tauge.«  209 Straßburg 1831–1833: Zwischen zwei gegensätzlichen Mentoren: Ernest-Alexandre Lauth und Georges-Louis Duvernoy  212 Büchner und die Cuvier-Schule  215 Büchner und die Geoffroy-Saint-Hilaire-Schule  221 Gießen und Darmstadt 1833–1835: Zwischen Wernekinck und Wilbrand – aber ohne Liebig  228 Vergleichende Anatomie in Gießen: Friedrich Christian Gregor Wernekinck  230 Die »gesammte Organisation« der Natur: Die Naturphilosophie Johann Bernhard Wilbrands  235 Gießener Paläontologie: Johann Jakob Kaup  252 Gründe einer verpassten Begegnung: Büchner und Liebig  253 Straßburg 1835–1836: Ausbildung zum selbständigen Wissenschaftler: Die Dissertation  255 Exkurs: Büchner und Schleiden oder: Anatomia practica zwischen Empirismus und Naturphilosophie  257 Zürich 1836/37: Die Probevorlesung und eine glänzende Zukunft als Naturforscher  266 Büchners naturwissenschaftliche Schriften  267 Zur Wissenschaftslandschaft zwischen 1800 und 1840  269 Konturen einer Karriere: Naturphilosophie zwischen Wissenschaften, Philosophie, Politik und Kultur  269

Inhalt  XIII

... ... ... ... .. ... ... ... ... ... ... ... ... .  . . .. .. .. .. . .. ... ... ... ... .. .. .. . ..

Naturphilosophie in der Kritik  275 Zum Tableau naturphilosophischer Theoriebildungen  279 Disziplinäre Ausdifferenzierung der philosophischen Naturforschung  294 Prägende Einflüsse?  302 Zur Systematik der büchnerschen Naturphilosophie und wissenschaft  306 Die nomologische Einheit der Natur  306 Das Ökonomieprinzip und das »Gesetz der Schönheit«  309 Selbsterhaltung versus Mechanismus  310 Büchners Modell natürlicher Evolution  315 Exkurs: Büchner und Darwin – »Unterschiedenes ist gut«  318 Méthode génétique  319 Wider die »teleologische Ansicht der Natur«  321 Zoologische Neuroanatomie  323 Fazit: Naturwissenschaft und Politik?  324 Politik  327 Wissenshistoriographie vs. politische Gesellschaftsgeschichte  327 Die 1830er Jahre als politischer Erfahrungsraum:  334 Ein ›Riß durch das Zeitalter‹: Die Julirevolution 1830  335 Die »Krankheit der Gesellschaft«: Pauperismus in den 1830er Jahren  340 Politische Parteiungen der 1830er Jahre  349 Exkurs: Büchner und Blanqui – oder: War Büchner Neobabouvist?  357 Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners  365 Der »absolute Rechtsgrundsatz« einer neuen Gesellschaftsordnung  366 Subjektive »Hebel« der Revolution: Hunger und religiöser Fanatismus  368 Recht – Gemeinwohl – Eigentum: Die Grundlagen der neuen Gesellschaft  370 Moderner ›Ennui‹ als Argument? – Soziopolitik und Kulturkritik  378 »Bildung« und »[A]ussterben« – Naturgeschichte und Gesellschaft?  382 »Heilige Rechte«: Büchners Rechtsverständnis  387 Büchners Geschichts- und Revolutionsverständnis – der ›Fatalismusbrief‹  389 Theorie und Praxis – War Büchner ein Frühsozialist?  399 Wissensmomente im Hessischen Landboten  402 Statistik als politisches Instrument – finanzpolitisches Wissen  405

XIV  Inhalt .. .. .. ..

Naturrecht und Staatstheorie – politisches Wissen  408 Der Fürst als Mensch – anthropologisches Wissen  413 Die Große Revolution der Franzosen – historisches Wissen  415 Fazit: Wissen und Rhetorik im Hessischen Landboten  417



Zwischenbilanz und Ausblick: Büchners Wissen und seine poetische Valenz  419

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Über die Grenzen des Wissens: Danton’s Tod  421 »Obscöne Sprache« für die »Banditen der Revolution«  426 »Quecksilberblüthen« und Autopsie – Büchners szientifischer Blick  426 »Revolutionärer Erotiker«? Über die Grenzen des polithistorischen Paradigmas  433 Natur und Geschichte – die Rede St. Justs  438 Zur Frage der Legitimation revolutionärer Gewalt  438 Evolution der Natur versus Geschichte der Gesellschaft  441 Gottesbeweise und die Unsterblichkeit der Seele: Das Philosophengespräch  446 Deus non est causa rerum?  447 »Der Schmerz ist der Fels des Atheismus« – Anthropologie und Theologie  455 »Und die Moral?« – Zur praktischen Funktion der Gottesinstanz  457 ›Politische Religion‹ oder über die pragmatischen Grenzen des Wissens  463 Revolutionäre Politik und philosophisches Wissen – une liaison dangereuse?  464 Danton versus Robespierre, oder moralische Politik und politische Moral  465 Mignets Vorgaben – und Büchners Gestaltungen  467 Das Duell (I.6)  468 »Ein durchsichtiges Gewand«? – die Staatstheorie der Dantonisten  481 Marion – Epikureismus als Utopie?  488 Fazit: Danton’s Tod als dramatische Reflexion auf Politik und Wissen  492

.. . .. .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .

 . .

Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz«  497 Aufsatz oder Novelle – Zu Form und Geltungsstatus des LenzFragments  502 Lenz’ Wissen: Naturphilosophie und Kunsttheorie  508

Inhalt  XV

.. ... ... ... ... ... .. ... ... ... ... .. .  . .. .. .. .. . .. ..

8.3

.. .. .. .  . ..

..

Eine »Art von Somnambulismus« – Magnetismus und Naturphilosophie zwischen Mystizismus und Wissenschaft  510 Seherische Träume im szientifischen und religiösen Kontext der 1830er Jahre  513 Tierischer Magnetismus – Rhabdomantie und deren antimaterialistische Erklärung  524 Evolutionäre Anthropologie – ein Kommentar  540 Allgemeine Naturtheorie  555 Naturphilosophie versus Psychopathologie  563 Das Kunstgespräch  565 Optimistische Kosmologie und rationale Mimesis  566 Leben als »unendliche Schönheit«  570 Depotenzierung ästhetischer Distinktionen und emotionalistische Epistemologie  571 »Der Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur«  574 Gang durchs Gebirge – Poesie und Psychopathologie  578 Fazit: Wissen und Poesie  583 Humoristisches Wissen? Leonce und Lena  587 König Peter und die Philosophie  597 Lever und Metaphysik  598 Der reine Wille des Souveräns  602 Kategorienfehler  607 Der verlorene Souverän und ein indolenter Staatsrat  610 Das Wissens des »Aristocratismus« – Prinz Leonce  615 Langeweile und Melancholie  615 Langeweile und Sarkasmus  637 Schlussvision – »Flucht ins Paradies«?  645 Zur Vorgeschichte der Schlussvision: Sadismus und »infusorische Politik«  646 Kosmologische Politik für Lenas vegetabile Seele  649 Staat, Gesetze und Strafen – Valerio als Staatsminister  654 Die Bauernszene  658 Wissen und Gesellschaft: Woyzeck  661 Der Doktor – »Es giebt eine Revolution in der Wissenschaft«  665 Von Dr. Frankenstein bis Balthazar Claës – Zur Stellung von Naturforschern und Medizinern in der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts  665 Der Doktor – Mediziner oder Naturforscher, Naturwissenschaftler oder Naturphilosoph?  671

XVI  Inhalt .. .. . .. .. . .. .. 

Der Menschenversuch – Zwischen Militärpolitik und Sozialpolitik?  677 Wissenschaftstheorie – Wissenschaftsethik: Der freie Wille des Doktors  679 »Viehsionomik« – Natur und Kultur  683 Zur Jahrmarktszenerie – Wissens-Popularisierung im Vormärz  684 Tierische Vernunft oder vernünftige Tiere?  687 »Criminalpsychologie« – Woyzeck als Fall der Forensik  691 Ist Woyzeck unfrei? – Zwischen Forensik und Wissenschaftsethtik  691 Soziales Drama oder Wissenschaftskomödie?  695 Ausblick  697

Literaturverzeichnis  699 Personenregister  754

Siglenverzeichnis AA

Kantʼs gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff.

Bergemann 1922

Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Aufgrund des handschriftlichen Nachlasses Georg Büchners hg. von Fritz Bergemann. Leipzig 1922.

Büchner u. Weidig 1996

Georg Büchner u. Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Stuttgart 1996.

GBJb HA I/II

Georg Büchner Jahrbuch Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Werner L. Lehmann. 2 Bde. Hamburg 1967/71.

MA

Georg Büchner: Werke und Briefe. Hg. von Karl Pörnbacher u. a. München 21990.

MBA I–X

Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000–2013.

MEW

Marx, Karl und Friedrich Engels: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus. 39 Bde. u. Erg.-Bde. Berlin 1957ff.

P I/II

Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hg. von Henri Poschmann. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1992/99.

Rph

Rechtsphilosophie

SWB

Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Ariane Martin. Stuttgart 2012.

 Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Historiographische Kategorienbildung am Beispiel der wissenschaftlichen, literarischen und politischen Schriften Georg Büchners Omnis scientia est cognitio certa et evidens. René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, II, 1.

. Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner In Kapitel 55 des Moby Dick scheint die Geduld Ismaels, des Erzählers, mit den ›Erkenntnissen‹ der zeitgenössischen Naturgeschichte endgültig aufgebraucht. Vordergründig über The Monstrous Pictures of Whales klagend, verschiebt sich die Kritik an den bisherigen Versuchen einer Visualisierung der ebenso riesigen wie unheimlichen Tiere schnell auf »the most conscientious compilations of Natural History«.1 Ohne längere Umwege kommt Ismael auf das anvisierte Ziel seiner kritischen Auseinandersetzung zu sprechen: »the great Cuvier«,2 den bedeutendsten Naturforscher des Jahrhunderts. Gerade weil er diesen Titel keineswegs abstreitet, erreicht die Polemik des Erzählers den Gipfelpunkt der Brillanz und des Witzes: But the placing of the cap-sheaf to all this blundering business was reserved for the scientific Frederick Cuvier, brother to the famous Baron. In 1836, he published a Natural History of Whales, in which he gives what he calls a picture of the Sperm Whale. Before showing that picture to any Nantucketer, you had best provide for your summary retreat from Nantucket. In a word, Frederick Cuvier’s Sperm Whale is not a Sperm Whale, but a squash. Of course, he never had the benefit of whaling voyage (such men seldom have), but whence he derived that picture, who can tell?3

Schon in Kapitel 32, das zu Recht die szientifische Überschrift Cetologie trägt, hatte der ehemalige Walfänger an der naturwissenschaftlichen Erforschung der Walgattung sowie der naturgeschichtlichen Ordnung ihrer Arten kein gutes Haar gelassen. Es fehle den wissenschaftlichen Versuchen an überzeugenden Kriterien, was ihn allerdings wenig verwundere, mangele es den Herren der Wissenschaft doch an ausreichender Erfahrung. Diese jeder Naturforschung unabdingbare epistemologi 1 Melville 1994, S. 260. 2 Ebd., S. 137. 3 Ebd., S. 261. https://doi.org/10.1515/9783050093215-001

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft sche und methodische Voraussetzung erhielten sie allerdings nur auf jenen »whaling voyages«, die jedoch »such men seldom have«, wie es im aufgeführten Zitat hieß. Ismael lässt keinen Zweifel daran, dass nur der Praktiker in der Lage sei, für diesen Forschungsgegenstand, den die Wissenschaft als »a field strewn with thorns« charakterisiere,4 angemessene Kriterien zu entwickeln. Daher arbeitet er am Ende des Kapitels zur Cetologie auch einen eigenen Vorschlag aus, der es in der Tat mit den zeitgenössischen Ordnungsschemata aufnehmen konnte.5 Ismael überbietet mit seiner Polemik und der anschließenden Superioritätsgeste die seit Thales topische Häme des gesunden Menschenverstandes gegen die wissenschaftliche Theorie: Hatte Thales das Lachen seiner Magd über sich ergehen lassen müssen, weil er den Anforderungen des Alltags nicht gewachsen schien, so demonstriert der Walfänger Ismael, dass die Naturforschung – selbst die aktuellste und bedeutendste der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – sich aufgrund ihres Erfahrungs- und Praxismangels auf ihrem eigenen Gebiet der Lächerlichkeit preis gibt: ›a squash instead of a whale‹.6 Melvilles lustvolle Polemik gegen die Wissensansprüche der Naturforschung seiner Zeit konstituiert den ganzen Roman auf semantischer und systematischer Ebene. Dabei ist die Naturwissenschaft nur eine unter vielen Reflexionsformen über den Wal und seinen Fang, die der praxisbewehrte Erzähler einer kritischen Überprüfung unterzieht. Die Häme gegen die Naturforschung und ihre Repräsentationsfigur, den ›Baron Cuvier‹, bildet jedoch den Höhepunkt der kritischen Abwehr aller Formen landbewohnender Ahnungslosigkeit. Melville zieht aus dieser Problemlage allerdings nicht den Schluß, dass es die subjektive Unzulänglichkeit der Autoren sei, die einer angemessenen naturwissenschaftlichen, naturrechtlichen, künstlerischen, ingenieurstechnischen, schiffsbaulichen, kulturgeschichtlichen, ethischen oder religionshistorischen Reflexion auf den Wal im Wege stünde. Er betont vielmehr die grundsätzliche Irrationalität dieser Anliegen. Eine exemplarische Funktion für diese Conclusio nehmen die Versuche der bildenden Kunst ein: For all these reasons, then, any way you may look at it, you must needs conclude that the great Leviathan is that one creature in the world which must remain unpainted to the last. True, one

 4 Ebd., S. 137. 5 Vgl. Otter 1999, S. 132–159; es sei allerdings darauf hingewiesen, dass eine detaillierte wissensgeschichtliche Kontextualisierung der Wissensbestände des Romans als Desiderat zu beklagen ist. So wird sich weiter unten zeigen, dass Melville offensichtlich in die Untiefen evolutionärer Osteologie intensiver eingearbeitet war, als dies bislang bekannt ist; seine – wenngleich kritische – Rezeption der u. a. von Oken, Goethe, aber auch Meckel, Carus oder Büchner vertretenen Wirbeltheorie des Schädels (vgl. hierzu meine Nachweise in Kap. 3) dokumentiert des Autors exzellente Kenntnisse zeitgenössischer Naturforschung – gerade für eine umfassende Zurückweisung jedes szientifischen Erklärungsanspruches. 6 Zu den unterschiedlichen Stufen theoriefeindlicher Superioritätsgesten vgl. Blumenberg 1987, S. 100ff.

Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner  

portrait may hit the mark much nearer than another, but none can hit it with any very considerable degree of exactness. So there is no earthly way of finding out precisely what the whale really looks like. And the only mode in which you can derive even a tolerable idea of his living contour, is by going a whaling yourself.7

Auch Melville lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass die Welt des Walfanges einen eigenständigen Mikrokosmos ausbildet, der nicht durch die genannten Reflexionsformen, schon gar nicht durch die Wissenschaft, sondern einzig durch die Literatur in seiner enzyklopädischen Vollständigkeit erfasst werden könne. Nur in diesem Medium sind naturgeschichtliche Ordnungsformen mit Reflexionen auf die religiöse Semantik der weißen Farbe auf dem Buckel des Wales zu verknüpfen; nur in der Reflexionsform des Romans können die Unzulänglichkeiten der Philosophie und der Einzelwissenschaften ebenso wie die der einzelnen Künste und Handwerke überwunden werden, und zwar im Hinblick auf den Nachweis einer geschöpflichen Weltordnung, deren Gründe und Zwecke – und zu letzteren wird der große Leviathan erhoben – unermesslich bleiben. Melvilles ›romantisches‹ Romankompendium von 1851 ist als einer der letzten ernstzunehmenden Versuche der Weltliteratur zu werten, die sich der im 19. Jahrhundert durchsetzenden wissenschaftlichen Neuordnung der modernen Welt entgegenstemmten. Nicht nur die missglückte zeitgenössische Rezeption,8 sondern auch die konzeptionellen Unzulänglichkeiten9 und kontextuellen Rahmenbedingungen der Publikationszeit des Romans weisen auf den schon brüchigen Status des Versuches hin: Denn seit den 1840er Jahren arbeiteten in Berlin um den Physiologen Johannes Müller mehrere Arbeitsgruppen jüngerer Naturforscher, die in wissenschaftstheoretischer, methodischer und technischer Hinsicht eine Naturwissenschaft entwarfen, die sich von Cuviers Theorie und Praxis der Naturforschung substanziell unterschied und damit das von Melville gezeichnete Bild der Wissenschaften längst hinter sich gelassen hatte.10 Emil Du Bois-Reymond, Jacob Matthias Schleiden sowie Hermann von Helmholtz und Rudolf Virchow in Berlin oder Justus von Liebig in München verhalfen dem experimentell-empirischen, mathematisch-physikalischen Paradigma in Naturwissenschaft und Medizin zu seinem endgültigen Durchbruch.11 Anders als Melville noch 1851 spottete, erwiesen sich diese Forschungen nicht nur als wissenschaftlich innovativ und gegenstandsadäquat selbst auf mikrologischer Ebene,12 sondern zudem als praktisch außeror-

 7 Melville 1994, S. 262. 8 Vgl. hierzu Delbanco 2007, S. 223ff. 9 Ebd., S. 186: »Während sein Buch dahinraste, konnte Melville mit seinen Gestalten kaum mithalten.« 10 Vgl. hierzu u. a. Lenoir 1992, S. 14–71 sowie Breidbach 2005, S. 3–30. 11 Vgl. hierzu u. a. Cassirer 71994, S. 148ff.; Poggi u. Röd 1989, S. 90–151; Breidbach 1988, S. 1–56. 12 Vgl. Charpa 2005, S. 632f.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft dentlich virulent. Sie unterstützten in unterschiedlicher Weise die Industrialisierung der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft und erwiesen sich – zumindest auch – als jene ›Retter der Menschheit‹, die Liebig und Du Bois-Reymond in ihnen sahen.13 Melvilles Wissen über die Naturwissenschaften ist mithin veraltet. Dieses Urteil der Antiquiertheit des szientifischen Wissensbestandes im Roman gilt im übrigen nicht allein für die Naturwissenschaften, sondern auch für die normativen Geistes- und Sozialwissenschaften.14 Melville bekam allerdings jenen Wandel, der sich in den Wissenschaften ebenso wie in den soziopolitischen und -kulturellen Lebenssphären ereignete und der in Moby Dick nur in Teilbereichen reflektiert wurde, aufs Deutlichste zu spüren. Alle Versuche aber, nach ihm noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Medium der Literatur dem wissenschaftlichen Wissen seine apriorischen Grenzen aufzuzeigen, mündeten in Weltanschauungsliteratur.15 Doch auch szientifische Unternehmungen wie u. a. Haeckels wissenschaftlicher Universalismus, der den Phänomenalismus der empiristischen Naturwissenschaften zu überwinden hoffte, schlugen fehl.16 Wissenschaft und Literatur zogen ihre engen und streng bewachten Grenzen in Geltungsfragen. Noch 20 Jahre vor der Publikation des Moby Dick sah die Problemlage im Verhältnis zwischen der Literatur und den eine kulturelle Leitfunktion beanspruchenden Natur- und Sozialwissenschaften vollkommen anders aus. Nach dem in der europäischen Kultur beklagten oder gefeierten »Ende der Kunstperiode«, das sich ab 1830 durchsetzte,17 musste die Philosophie ihre paradigmatische Stellung, die sie seit den 1750er Jahren europaweit eingenommen hatte, an die Einzelwissenschaften abtreten und dabei insbesondere an die im weitesten Sinne biologischen Naturwissenschaften und eine Soziologie, die sich in methodischer und kategorialer Hinsicht der Biologie anzuschließen suchte.18 Das weitgehend einvernehmliche Konkurrenzverhältnis zwischen der Philosophie und der romantischen bzw. klassizistischen Literatur um 180019 wurde seit den 1830er Jahren ebenso empfindlich wie grundlegend gestört durch den Reflexions- und Gestaltungsanspruch der empirischen Natur- und Sozialwissenschaften und die Versuche ihrer kategorialen Vermittlung.20 Vor allem in Frankreich und England mit ihren aufblühenden Romankulturen, aber

 13 Vgl. u. a. Brock 1999, S. 247ff. sowie Du Bois-Reymond 1974, S. 105–158. 14 Vgl. hierzu aber Poggi u. Röd 1989, S. 90ff.; Köhnke 1993, S. 23–105; Beiser 2014, S. 3ff. 15 Ausführlich dazu Thomé 2002, S. 338–380. 16 Vgl. u. a. Ziche (Hg.) 2000. 17 Vgl. hierzu u. a. Jauß 1970, S. 107–143; Sengle 1971–1980, I, S. 155ff.; Bock 1995; Eke 2005, S. 59ff.; Stein 2017, S. 216ff. 18 Vgl. Gedö 1995, S. 1–39. 19 Vgl. hierzu die vor allem in der Hölderlin- und Frühromantik-Forschung geleisteten Analysen und Interpretation zum Verhältnis von Philosophie und Dichtung u. a. bei Henrich 1986; Henrich 1992; Frank 1998; Richards 2002; Stiening 2005b; Luhnen 2007 oder Schwingenschlögl 2019. 20 Lepenies 22006, S. 15ff.

Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner  

auch in der deutschen Literatur auf dem Felde des Dramas und einer formal diversifizierten Prosa nahm eine neue Generation von Literaten die Herausforderung an, die ihr in den Erklärungsansprüchen der sich formierenden Soziologie und der neuen Naturwissenschaften entgegentrat.21 Zu Recht spricht Wolf Lepenies für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts von einer Deutungskonkurrenz, die zwischen den drei Kulturen ausgetragen wurde.22 So nimmt schon im dritten Teil von Honoré de Balzacs La Peau de Chagrin aus den Jahre 1831 die Unfähigkeit selbst der bedeutendsten Naturforscher vor der Erkrankung Raphaels einen breiten Raum ein. Den wesentlichen Unterschied zum Topos der Gelehrtensatire macht die umfangreiche und differenzierte Kenntnis in den verschiedensten Bereichen der Naturforschung und Medizin aus, die an den Versuchen des Protagonisten vorgeführt wird, seinen prophezeiten Tod abzuwenden. Es ist nicht mehr allein der zugleich selbstgefällige und praxisunfähige Habitus der Gelehrten, sondern ihre fachliche Inkompetenz vor einer wissenschaftlichen Analyse des Chagrinleders, die en detail vorgeführt und aufgespießt wird; die differenziertesten Versuche eines Naturhistorikers, eines Physikers, eines Ingenieurs und eines Chemikers enden im Desaster: Le deux savants étaient comme des chrétiens sortant de leurs tombes san trouver un Dieu dans le ciel. La science? Impuissante! Les acides? Eau claire! La potasse rouge? Déshonorée! La pile voltaїque et la foudre? Deux bilboquets!23

Dabei besteht der Anspruch Balzacs nicht allein in einer Kritik der Erklärungsfähigkeiten der Wissenschaften; anders als die Literatur um 1800, die nur für bestimmte Erkenntnisgegenstände eine Superiorität der Literatur gegenüber der Philosophie in Anspruch nahm,24 will Balzac demonstrieren, dass seine literarische Reflexion der modernen Gesellschaft und aller ihrer Teilgebiete wissenschaftlichen Analysen grundlegend überlegen ist:25 Balzac will für die Gesellschaft das tun, was Buffon für die Zoologie geleistet hat: er will die sozialen Gattungen analysieren, aus denen die französische Gesellschaft besteht, und er will jene wahrhafte Geschichte der Sitten schreiben, welche die Historiker, fixiert auf Glanz und Elend ihrer Haupt- und Staatsaktionen, meist zu schreiben vergessen. […] Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß im wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhundert zumindest in Teilbereichen von der

 21 Vgl. hierzu auch Dietrich 2003, S. 255f. sowie Klinkert 2010, S. 130ff. 22 Lepenies 22006, S. I–XVII u. S. 15–48. 23 Balzac 1974, S. 310. 24 Vgl. hierzu den – zu Unrecht kaum wahrgenommenen – Band von Bachmaier u. Rentsch (Hg.) 1987; Stiening 2005b sowie Luhnen 2007. 25 Dazu muss er jedoch die Literatur den Erklärungsbefähigungen der Wissenschaften annähern, vgl. hierzu auch Wanning 1999, S. 162: »Interessanterweise spricht Balzac Künstlern und Wissenschaftlern gleichermaßen die Fähigkeit zu, kausale Zusammenhänge zu erkennen und darzustellen.«

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Literatur ein vielen wissenschaftlichen Disziplinen ebenbürtiger Erkenntnisanspruch angemeldet wird.26

Das Anliegen des Autors der Comédie humaine ist dabei nicht nur epistemologisch auf ein ausschließlich in der Literatur angemessen zu analysierendes Verständnis von Individualität ausgerichtet;27 in La Recherche de l’Absolu demonstriert er 1834 die inhumane Destruktionsmacht eines unbegrenzten Wissensanspruches der Naturforschung, die er nicht der narzisstischen Psyche des Forscher, sondern der Logik des Wahrheitsanspruches der Wissenschaften zuschreibt, die ohne alle Rücksicht ebenso inter- wie intrapersonale Bezüge zerstört.28 Nach Balzac führt ein unbegrenzter Wissensanspruch der Wissenschaften in ihr Gegenteil: in den Wahnsinn. Was in dessen Werken seinen umfassenden Anspruch und detailreichen Ausdruck findet, endet ebenso triumphal wie desaströs in Melvilles Moby Dick: der Versuch der Literatur, dem wissenschaftlichen Wissen seine Grenzen und damit seinen Ort in der modernen Kultur anzuweisen. Schon Gottfried Keller, der späte Heinrich Heine, Charles Baudelaire29 oder Gustave Flaubert reflektieren auf die Entwicklungen der Wissenschaften nicht mehr unter der Perspektive eines Anspruchs auf übergreifende Deutungshoheit in Bezug auf die natürliche und gesellschaftliche Wirklichkeit.30 Flaubert, der in Bouvard et Pécuchet seine immensen Kenntnisse der zeitgenössischen Wissenschaften demonstriert und deren Leistungen kritisch reflektiert,31 hält es für ein Überleben der Literatur in der modernen Gesellschaft für unerlässlich, sich den Reflexionsformen der empirischen Wissenschaften anzunähern.32 Und schon Edgar Allan Poe zeigte einen immensen Eifer bei der Aneignung und poetischen Gestaltung wissenschaftlichen Wissens, ohne damit einen Überbietungsanspruch gegenüber den Wissenschaften zu verbinden; er suchte vielmehr, wie schon Jean Paul, nach Bestätigungen seines Interesses am Übersinnlichen.33 Auch die Naturwissenschaft schränkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren zuvor uneingeschränkten Erklärungsanspruch ein. Emil Du BoisReymonds Schlachtruf Ignorabimus von 1872 weist die Wissenschaften in ihre phänomenologischen und dadurch praxisrelevanten Schranken und entzieht damit  26 Lepenies 1989, S. 65. u. S. 67 27 Vgl. die Analyse von Wanning 1999, S. 177. 28 Vgl. Balzac 1976; vgl. hierzu Dietrich 2003, S. 251–286. 29 Schon 1852 hält Baudelaire fest: »Die Zeit ist nicht fern, in der man verstehen wird, daß jede Literatur, die sich weigert, brüderlich zwischen der Wissenschaft und der Philosophie zu marschieren, eine mörderische, eine selbstmörderische Literatur ist.« Zitiert nach Lepenies 1989, S. 67. 30 Vgl. hierzu u. a. auch Ritzer 2007, S. 275–308. 31 Vgl. u. a. Scholler 2002. 32 Vgl. erneut Lepenies 22006, S. Vf.; Scholler 2002 und Klinkert 2010, S. 156ff. Dass diese intendierte methodische Annäherung auch für Zola gilt, zeigt Lepenies 1978, S. 138ff. 33 Vgl. Zumbach 1989, S. 508f. sowie Schnackertz 1999, S. 5–33.

1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  

einer Auseinandersetzung mit der von ihm hochgeschätzten Literatur und Philosophie um die Grundlagen des Wissens und Handelns den Boden.34 Es ist mithin die Zeit des europäischen Vormärz, während derer die Literatur aus den fundamentalen Kontroversen mit dem Wissen der Einzelwissenschaften ihre innovativen Potentiale schöpft;35 es ist die Zeit, in der Georg Büchners Werk entsteht.36

. 1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution Zu Recht hat die Forschung zum literarischen Vormärz die soziopolitischen Umwälzungen des Zeitraums zu einem konstitutiven Kontext der sich verändernden Literatur ins Zentrum ihrer analytischen und interpretierenden Anstrengungen gestellt. Nicht zufällig haben sich an den Autoren und Texten dieses Zeitraums innovative und ergebnisreiche Modelle einer Sozialgeschichte der Literatur erprobt und weiterentwickelt,37 auch wenn die interdisziplinären Interaktionen zur geschichtswissen-

 34 Du Bois-Reymond 1974, S. 54–77; zur wissenschaftstheoriegeschichtlichen Bedeutung dieser Rede vgl. u. a. Vidonie 1991; Bayertz 2000, S. 189–202; Stiening u. Roth 2001, S. 207–216; Wahsner 2007, S. 36–62 sowie Beiser 2014, S. 97–104. 35 Vgl. hierzu Klinkert 2010 sowie jetzt auch die Beiträge in Podewski u. Frank (Hg.) 2012. 36 Weil in der Folge der historische Rahmen durch die Jahre zwischen 1830 bis 1850 – dabei insbesondere die 1830er Jahre – abgesteckt ist, die die Gemüter der Zeitgenossen in ganz Europa durch die politischen Ereignisse im Zuge der Julirevolution prägten (vgl. hierzu die Arbeiten von Pilbeam 1991, Wehler 31996, S. 345ff. sowie Pilbeam 2000), auch wenn diese Prägung sich nicht in alle Bereiche der Wirklichkeit auswirkte (vgl. Sengle 1971–1980, S. 1–82 sowie Gedö 1995, passim), wird in der Folge aufgrund der wissens- und literaturwissenschaftlichen Ausrichtung der Arbeit von diesem Zeitraum als »Vormärz« gesprochen. Spätestens seit 1830 prägen die politischen Ereignisse, seit den 1840er Jahren durch Pauperismus und einsetzende Industrialisierung auch die sozialen Veränderungen die gesellschaftlichen Realien sowie das kulturelle Vorstellen. Allen Zeitgenossen Europas, vom Junker bis zum hungernden Bauern war seit 1830 die politische und soziale Instabilität des Zustandes bewusst, der dann in der Tat – wenn auch mit geringeren Auswirkungen als erhofft oder befürchtet – im März 1848 eruptiv einbricht. Das soziopolitisch bedingte, den Zeitgenossen bewusste ›Transitorische‹ der politischen, sozialen, wissenschaftlichen und literarischen Zustände findet (trotz aller weltanschaulichen Auseinandersetzungen um den in seinem Status als Reflexionsbegriff zumeist missverstandenen Epochenterminus; vgl. Erhardt 2008, S. 129–162) im Vormärz seinen angemessenen Begriff. In der Geschichtswissenschaft (vgl. u. a. Hachtmann 1997, S. 68ff. oder auch Mommsen 1998, S. 18ff.) wird der Terminus mit eben jener Semantik verwendet, die – ganz unteleologisch – die Entwicklungstendenzen der Zeit zwischen 1830 und 1848 auch unter differenzierter Berücksichtung der zeitgenössischen Eigenperspektive zu fassen vermag. Zur germanistischen Debatte über die konkurrierenden Epochenbegriffe ›Biedermeier‹ und ›Vormärz‹ vgl. neben Erhard 2008 auch Titzmann 2002, S. 1–7, spez. S. 5; Bunzel, Stein u. Vaßen 2003, spez. S. 19; die Debatte rekonstruierend Schmidt 2015, S. 45ff. sowie Stein 2017, S. 36ff. 37 Vgl. vor allem die in der Forschung allerdings ungenügend gewürdigte monumentale Arbeit von Sengle 1971–1980 sowie die Bände von Köster 1983, Sautermeister u. Schmid (Hg.) 1998 und noch

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft schaftlichen Vormärzforschung überraschend gering ausfielen.38 Die europaweit bis in den Alltag aller Gesellschaftsschichten einwirkende Julirevolution und die daraus erfolgende politische Instabilität sowie die sozioökonomischen Umwälzungen,39 die sich in neuen Produktionsformen verwirklichten und sich in den diese begleitenden gesellschaftsstrukturellen Veränderungen bis hin zu dem in den 1840er Jahren drängenden Pauperismusproblem deutlich zeigten,40 hinterließen unverkennbar ihre form- und gehaltspezifischen Spuren in der Literatur der Zeit.41 Die erheblichen methodischen Probleme für einen exakten Nachweis der literarischen Reflexion auf soziopolitische Kontexte, die zumal in der Germanistik allzu häufig zu methodologischen Metadebatten führten, deren Fruchtbarkeit für die Literaturgeschichtsschreibung – auch des frühen 19. Jahrhunderts – durchaus in Frage steht,42 vor allem aber der sich seit den 1990er Jahren vollziehende Paradigmenwechsel zu einer kulturwissenschaftlichen Fundierung literaturtheoretischen und -historischen Arbeitens, der einen der profiliertesten literaturwissenschaftlichen Sozialhistoriker, Jörg Schönert, zu Recht davon sprechen ließ, dass die ›Sozialgeschichte der Literatur‹ gar nicht genug Zeit gehabt habe, ihre Ressourcen vollständig zu entwickeln,43 verstellte die Sicht darauf, dass dem unvergleichlichen soziopolitischen Umwälzungsprozess im frühen 19. Jahrhundert eine wissenschaftsgeschichtliche Revolution korrespondierte,44 die für die Literatur eine mindestens ebenbürtige Herausforderung darstellte. Zwischen 1800 und 1850 vollzog sich – in spezifischer Einbettung in die soziopolitischen Ereignisse und Struk-

 Titzmann (Hg.) 2002. Die in dem und um das Forum Vormärz-Forschung entstehenden Studien haben dieses Paradigma durch ihre diskursanalytischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven allerdings verlassen. 38 Vgl. hierzu die weitgehend äußerliche, handbuchartige Zitation der Wehlerschen Gesellschaftsgeschichte bei Stein 1998, S. 16–37; die diskursanalytische Vormärzforschung hat diese interdisziplinäre Verbindung mittlerweile gänzlich unterbrochen, vgl. die programmatische Studie von Bunzel, Stein u. Vaßen 2003, S. 9–46; anders hierzu Eke 2005, der (S. 20–58) zwar weitgehend zu einer politischen Ereignis- und Kulturgeschichte als Kontext der Literatur des Vormärz übergegangen ist, immerhin aber wirtschafts- und sozialgeschichtliche Erläuterungen noch ausführt. 39 Zur Julirevolution aus politik- und sozialhistoriographischer Perspektive vgl. die exzellenten Studien von Pinkney 1972 und Pilbeam 1991; sowie in Bezug auf Büchner meine Ausführungen in Kap. 4. 40 Vgl. hierzu u. a. Matz 1980; Kukowski 1995, S. 188–218; Wehler 31996, S. 293f. sowie Hachtmann 1997, S. 79–86; Geisthövel 2008, S. 131–147; Winkler 32012, S. 545ff., sowie Siemann 2017, S. 764ff. 41 Vgl. hierzu u. a. Köster 2002 sowie Schönert 2002. 42 Vgl. hierzu die kritischen Hinweise von Ort 2000. 43 Vgl. Schönert 2000, S. 95. 44 Mit dem hier gewählten Begriff der ›Korrespondenz‹ zwischen ideen- und sozialgeschichtlichen Entwicklungen soll der geringste Eindruck einseitiger Verursachungs- bzw. Ableitungsverhältnisse ebenso vermieden werden wie der Impetus, beide Entwicklungsgeschichten hätten nichts miteinander zu tun.

1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  

turentwicklungen45 – ein Prozess, den die Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu Recht als den »Aufstieg der Wissenschaften von einer Geistesbeschäftigung am Rande der geschichtlichen Bewegung zu einem ihrer wichtigsten Antriebe«46 charakterisiert.47 Das »Verhältnis von Wissenschaften und Gesellschaft nahm damals Züge an, die – im Guten wie im Schlechten – für die moderne Welt typisch werden sollten«, weshalb der »Entwicklungsprozeß der Wissenschaften [...] nicht nur wissenschaftsintern betrachtet werden« kann.48 Dabei zeichnet diesen Prozess aus, dass er sich nicht als lineare Erfolgsgeschichte im Sinne einer formellen Teleologie nach der Logik äußerer Zweckmäßigkeit vollzog,49 sondern durch eine wütende Kontroverse zwischen unterschiedlichen Formen der Naturphilosophie einerseits50 und der sich erst in den 1840er Jahren allmählich durchsetzenden empiristischen Naturwissenschaft andererseits.51 Olaf Breidbach hat mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, dass die sich ab 1800 machtvoll entwickelnde Naturphilosophie weder als ein deutscher Sonderbzw. Umweg der Naturwissenschaft in die Moderne, noch als reine Retardation des im 18. Jahrhundert sich entwickelten Paradigmas der analytischen Naturwissenschaft zu erklären ist, sondern vielmehr als ein erfolgreicher Versuch der Entwick 45 Dass auch die Entwicklungen der Naturwissenschaften mit den sie umgebenden soziopolitischen und -kulturellen Prozessen vermittelt sind, versuchen von Engelhardt 1981, S. 209–225, Erhart 2004, S. 120f. und Flasch 2003, S. 189–196 zu zeigen. Teile der neueren Wissenschaftshistoriographie (vgl. insbesondere Hagner 2001, S. 23) haben allerdings versucht, das methodisch durch die Kategorien der internen und externen Bedingungen der Wissenschaften (vgl. hierzu die exzellente Studie von Mayntz 2000, S. XXVII–XLII) geregelte Forschungsfeld mit Hilfe diskursanalytischer Entdifferenzierung, für die es keine sinnvolle Unterscheidung zwischen wissenschaftsinternen und -externen Bedingungen geben kann, zu zerstören. Zur Kritik hieran und einem Versuch des begründeten Nachweises für die Aufrechterhaltung dieser ertragreichen Distinktion vgl. Stiening 2007, S. 265–298. 46 So Zwick 1997, S. 120–139, hier S. 120. 47 Vgl. hierzu auch Osterhammel 2009, S. 1107ff. 48 Beide Zitate aus Poggi u. Röd 1989, S. 13–151, hier S. 18 u. S. 15. 49 Der in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen seit geraumer Zeit kultivierte affektive Anti-Teleologismus (vgl. u. a. Bauer 1999) wird in der vorliegenden Studie nicht geteilt. Reduziert man den Begriff der Teleologie nicht auf seine Form äußerer Zweckmäßigkeit, sondern nimmt ihn in der ganzen Fülle seiner systematischen Möglichkeiten, wie dies Kant (vgl. Kant 1983, VIII, S. 477–480 [KdU, § 63]) und Hegel (Hegel 1986, VI, S. 436–461 [Wissenschaft der Logik, II.2.3.: Die Teleologie]) vorführten, ergeben sich auch und in besonderem Maße für eine Methodik der Geisteswissenschaften kategoriale Potentiale, die vielerlei Bewegungsgesetze des poetischen oder wissenschaftlichen Denkens rekonstruieren lassen. Der affektive Anti-Teleologismus der Geistesund Sozialwissenschaften, der sich auf das Betrachten von Diskontinuitäten, Brüchen fokussiert, abstrahiert darüber hinaus von den logischen und methodischen Voraussetzungen seiner Reflexion im Begriff der Kontinuität (vgl. hierzu sowie Stiening 2009). 50 Vgl. hierzu Bonsiepen 1997, Mischer 1997, Bach u. Breidbach (Hg.) 2005 sowie Schwenzfeuer 2012. 51 Siehe hierzu Schleiden 1844 sowie Breidbach 1988.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft lung von Ordnungsprinzipien für die exponentiell anwachsende Menge empirischer Informationen in der Naturforschung.52 Dabei bestand eine der fundierenden Thesen der Naturphilosophie darin, dass diese Prinzipien nur als Momente eines Begriffs von der Natur als einer Einheit zu entwickeln und zu begründen seien, um den zunehmend sich durchsetzenden Gedanken von einer Evolution der Natur in einer kohärenten Konzeption Rechnung tragen zu können. Der wissenschaftliche, institutionelle und öffentliche Erfolg der Naturphilosophie wurde nicht nur bis in einzelne Inhalte in der Literatur der Zeit reflektiert,53 er induzierte auch intensive Wechselwirkungen zwischen der soziopolitischen und der naturwissenschaftlichen Sphäre. Nicht nur beanspruchten namhafte Naturphilosophen aufgrund eines postulierten Status ihrer Wissenschaft als einer scientia universalis, mithilfe naturphilosophischer Kategorien zu politischen und politiktheoretischen Fragen Stellung nehmen zu können;54 Lorenz Oken, Adam Müller oder auch Christian Gottfried Nees von Esenbeck trugen derartige Begründungen – wenngleich mit erheblich abweichenden politischen Voten – vor.55 Auch der sich seit den 1820er Jahren machtvoll entwickelnde Positivismus sah sich als Verwirklichung naturwissenschaftlicher Methodik und Systematik auf dem neuen Felde der Soziologie.56 Heinrich Heine hat den aus seiner Sicht ambivalenten Einfluss der Naturforschung auf die zeitgenössische Politik und Kultur prägnant zum Ausdruck gebracht: Ach, die Naturphilosophie, die in manchen Regionen des Wissens, namentlich in den eigentlichen Naturwissenschaften, die herrlichsten Früchte hervorgebracht, hat in anderen Regionen das verderblichste Unkraut erzeugt. Während Oken, der genialste Denker und einer der größten Bürger Deutschlands, seine neuen Ideenwelten entdeckte und die deutsche Jugend für die Urrechte der Menschheit, für Freiheit und Gleichheit, begeisterte: ach! zu derselben Zeit dozierte Adam Müller die Stallfütterung der Völker nach naturphilosophischen Prinzipien.57

Umgekehrt führten auch die soziopolitischen Rahmenbedingungen zu manchen Konsequenzen auf wissenschaftlicher Ebene.58 So wurde die Naturphilosophie zu 52 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 1988, S. 25f. sowie Breidbach 2004, S. 154. 53 Vgl. hierzu die Beiträge in den Bänden von Richter, Schönert, Titzmann (Hg.) 1997; Danneberg u. Vollhardt (Hg.) 2002; Elsner u. Frick (Hg.) 2004; von Engelhardt u. Wißkirchen (Hg.) 2006 sowie die Studien von Barkhoff 1995; Wanning 1999; Schmoller 2002; Breidbach 2006; Weder 2008 oder Specht 2010. 54 Siehe Breidbach 2001, S. 22: »Wissenschaft ist vielmehr in sich selbst politisch. Wissenschaft ist Freiheit. Diese Freiheit ist in der Natur gegründet, in der der Geist als Moment und Telos zu begreifen ist und in der die Geschichte dieser Natur auch zu realisieren ist. Naturphilosophie ist demnach bei Oken konsequent immer politische Naturphilosophie in eben diesem Sinne.« Vgl. auch Ries 2004, S. 188ff. sowie Brand 2006, S. 201f. 55 Vgl. hierzu den Band von von Engelhardt, Kleinert u. Bohley (Hg.) 2004. 56 Vgl. hierzu Comte 1994, S. 33ff. sowie Poggi u. Röd 1989, S. 120ff. und Wagner 2001, S. 49ff. 57 Heine 1976, III, S. 636f. 58 Vgl. hierzu auch Kremer 1991, S. 155–170.

1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  

mindest bis in die 1830er Jahre durch die Einrichtung von Lehrstühlen an den Universitäten maßgeblich unterstützt59 und auch die länder- und disziplinenübergreifende Gründung der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte markiert eine zeittypische Institutionalisierung, die ihren erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaften verzeichnete.60 Kurz: Für die Inkubationszeit moderner Naturwissenschaften zwischen 1800 und 1850, die sich durch wirkungsvolle Kontroversen zwischen den verschiedenen wissenschaftstheoretischen Positionen innerhalb der Naturphilosophie und dieser mit der analytischen Naturwissenschaft auszeichnete, ist darüber hinaus eine gegenüber dem 18. und dem späten 19. Jahrhundert verstärkte Interferenz zwischen wissenschaftsinternen und -externen Prozessen zu verzeichnen. Wie das Zitat aus Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland sowie die kurzen Andeutungen aus Melvilles Moby Dick und Balzacs La Peau de Chagrin zeigten, verfügte eine Reihe prägender Literaten der Zeit sowohl über erstaunlich detaillierte Kenntnisse wichtiger Teilbereiche der wissenschaftlichen Debatten als auch über das Interesse und die Fähigkeiten, das Interaktionverhältnis zwischen diesen Wissenschaften und den soziopolitischen Realitäten des Vormärz zu reflektieren. Dazu zählen die Naturforschung und Dichtung neben- oder nacheinander praktizierenden Achim von Arnim61 und Adalbert von Chamisso62 ebenso wie die wissenschaftlich mehr dilettierenden Heinrich Heine, Jean Paul63 oder E. T. A. Hoffmann,64 die allesamt umfangreiche Lektüreprogramme in der zeitgenössischen Naturforschung absolvierten. Auch Mary Shelley wies in Frankenstein der Auseinandersetzung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft einen konfliktkonstituierenden Status zu, weil diese Kontroverse für sie zugleich eine Auseinandersetzung mit der zerbröckelnden gesellschaftlichen Ordnung Alteuropas signalisierte.65 Noch die eher gesellschaftskritisch ausgerichteten Georg Herwegh,66 Karl

 59 Vgl. u. a. Breidbach 2000, S. 19–49. 60 Vgl. hierzu Jahn 32004, S. 300f. 61 Vgl. hierzu die Edition der Naturwissenschaftlichen Schriften von Arnims (2007), die Reflexion des literarischen Autors auf diese abgelegte Tätigkeit, deren Erkenntnisleistungen und soziale Stellung in Hollins Liebeleben (von Arnim 2002, II, S. 7–81) sowie beider Interpretation durch Gerten 1997; Burwick 1997 sowie Höfler 2012. 62 Vgl. hierzu Wagenitz 2004, S. 273–292; Langer 2008, S. 159ff. sowie den Band von Federhofer u. Weber (Hg.) 2013. 63 Siehe hier Müller 1988 sowie Dietrich 2003, S. 208ff. 64 Zu Hoffmanns Wissenschaftskenntnis vgl. neben Barkhoff 1995, S. 195–237 insbesondere Schweizer 2008, S. 52ff. 65 Siehe Shelley 1993, S. 32–39 sowie von Engelhardt 2006, S. 113–129 und Knellwolf u. Godall (Hg.) 2016. 66 Vgl. hierzu Peperle 1990, S. 575–592.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Immermann67 oder Alfred de Musset68 verfügten über erstaunliche Kenntnisse im szientifischen Wissen der Zeit. Georg Büchner ist einer der wenigen literarischen Autoren des Zeitraumes, die eine wissenschaftliche Ausbildung mit einem aktiven politischen Handeln und dessen polittheoretischer Reflexion in ihrer Person vereinigten. Sein wissenschaftliches, politisches und literarisches Werk ist daher besonders geeignet, das spezifische Verhältnis von Wissen, Literatur und Gesellschaft, das den europäischen Vormärz in spezifischer Weise prägte, zu rekonstruieren. Weil die literarhistorische Vormärz-Forschung die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Entwicklung der Literatur von 1830 bis 1850 bisher nur in Ansätzen reflektierte,69 maß sie Büchner einen historischen Status der Unvergleichlichkeit zu.70 Die in der nachfolgenden Studie beabsichtigte wissensgeschichtliche Perspektive, die sich nicht als Ersetzung, sondern als Ergänzung der Sozialgeschichte versteht,71 versucht demgegenüber zu zeigen, dass Büchners ›Vermittlung‹ von Wissenschaft, Politik und Literatur als paradigmatisch für seine Zeit betrachtet werden kann. An Büchners Werken lässt sich daher aufzeigen, dass mit Hilfe eines Kontextualisierungsmodells Ideen- und Sozialgeschichte durch eine Umsetzung des Postulats der Kontexthierarchisierung so zu vermitteln sind, dass eine differenziertere Interpretation der Texte ermöglicht wird, ohne die substanziellen Unterschiede der Perspektiven in methodischer und systematischer Hinsicht aufzuheben, wie es die transdisziplinären Kulturwissenschaften vorschlugen.72 Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – verstärkt seit 1830 – ist mithin von einem intensiven Interdependenzverhältnis zwischen Literatur, Wissen und Gesellschaft zu sprechen, das sich vor allem durch eine Dominanz der fundamentalen

 67 Vgl. Barkhoff 1995, S. 281ff. 68 Vgl. Musset 1980, S. 724ff. 69 Vgl. noch, wenngleich unzureichend Sengle 1971–1980, I, S. 34ff.; Bezüge zur wissenschaftlichen Revolution des frühen 19. Jahrhunderts fehlen dagegen bei Köster 1983, Sautermeister u. Schmidt 1998 und Eke 2005; erste Ansätze zu einer kontextuellen Berücksichtung erst wieder bei Engel 2002, Weckwerth 2003, S. 87–107 sowie jetzt Podewski u. Frank (Hg.) 2012, die punktuell die anthropologischen Systementwürfe romantischer Provenienz bearbeiten und Perspektiven der Korrelation mit den literarhistorischen Entwicklungen aufzeigen; vgl. vor allem die Arbeiten von Schweitzer 2008 und Höppner 2017. 70 Vgl. die hilflose Sonderrolle Büchners bei Frank 1998, Eke 2005, S. 91–99 oder Ehlich u. Kopp 2016; zur Kritik hieran schon Zeller 1986/87, S. 100f.: »Die Büchner-Interpretation hat sich, scheint mir, zu lange mit Büchner als einer singulären Erscheinung befaßt und hat vieles als Sicht Büchners interpretiert, was zum kulturellen Wissen seiner Zeit gehört.« 71 Zu Perspektiven eines Ideen- und Sozialgeschichte vermittelnden Modells von Literaturwissenschaft, das sich allerdings in unangemessener Weise unter das Label Kulturwissenschaften stellte, vgl. Müller 2003 und Vollhardt 2004, S. 29–48; unter Abwendung von Terminus und Konzept der Kulturwissenschaften bemühen sich um Konturen jener Vermittlung Benz u. Stiening (Hg.) 2020. 72 Zu dem hier favorisierten Text-Kontext-Modell vgl. Schweizer 2008, S. 18.

1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  

Umwälzungen in der Staats- und den Gesellschaftssphären sowie in den Wissenschaften auszeichnet. Dieser historische Befund bedeutet für eine wissenschaftliche Rekonstruktion sowohl des gesamten Gefüges als auch seiner Momente, dass keiner der Teilbereiche durch Auflösung ihrer Bestimmtheit in einseitige Bedingungsverhältnisse zu beschreiben bzw. zu interpretieren ist. Die relative Eigenständigkeit in einer möglichst umfassenden, in sich differenzierten gegenseitigen Kontextualisierung bedeutet daher nicht eine Aufhebung der qualitativen Besonderheiten der zeitgenössischen Reflexions- und Handlungsfelder in methodischer, systematischer oder historischer Hinsicht. Gegen die auch in der Vormärz-Forschung sich durchsetzende Konzeption kulturwissenschaftlicher Transdisziplinarität73 muss an der Eigenständigkeit literarischer, wissenschaftlicher und politischer Reflexionsformen und deren wissenschaftlicher Bearbeitung festgehalten werden,74 gerade um eine methodisch gesicherte Rekonstruktion ihrer kontextuellen Korrelation zu ermöglichen. Weil aber die kulturwissenschaftliche Wende in den Literaturwissenschaften in ihrem methodologischen Zentrum eine strikte Abwehr jeglicher Formen sozialwissenschaftlicher Perspektiven darstellte,75 konnten die methodischen Erweiterungen, die dem sozialgeschichtlichen Paradigma in den Geschichtswissenschaften ermöglicht werden sollten, in den Philologien nicht realisiert werden. Dabei hatte HansUlrich Wehler schon 1998 deutlich gemacht, dass er eine Reduktion historischer Wirklichkeit – auch in ihrem gesetzmäßig rekonstruierbaren Wandel – auf deren wirtschafts-, politik- und kulturgeschichtliche Strukturen für unzulässig hält. In noch vorläufiger Diktion stellte Wehler fest: Der theoretische und methodische Schwachpunkt der neueren Sozialgeschichte bestand von Anfang an darin, daß kulturelle Traditionen, ›Weltbilder‹ und Sinnkonstruktionen, Religion, Weltdeutung und Perzeption der ›Realität‹ durch die Akteure, Kollektivmentalitäten und Habitus in ihrer wirklichkeitsprägenden Kraft unterschätzt, im Forschungsprozeß an den Rand gedrängt oder sogar völlig übergangen wurden. […] Mit anderen Worten, die doppelte Konstituierung der Realität: zum einen durch die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen  73 Vgl. erneut Bunzel, Stein u. Vaßen 2003, S. 9–46 oder auch Borgards u. Neumeyer (Hg.) 2009. 74 Vgl. hierzu beispielhaft Breidbach 2006, S. 268ff.; es ist diese Wissenschaftsgeschichtsschreibung, die den literaturwissenschaftlichen Übergriffen auf ihr Gebiet im Zeichen kulturwissenschaftlicher Diskursanalysen oder Poetologien des Wissens (vgl. Pethes 2003, S. 191) solide Formen interdisziplinärer Kooperation vorschlägt und die zu Recht von der relativen Eigenständigkeit poetischer und szientifischer Reflexionsformen ausgeht. 75 Vgl. hierzu die gegen Wehler gerichteten Invektiven bei Huber u. Lauer 2000, S. 1–11 oder Daniel 2001, S. 34ff.; dabei geht es den Kritikern der Strukturgeschichte zumeist weniger um die Einforderungen der Besonderheiten des Individuums bzw. des freien Subjekts, das aus dem starren Gerüst der sie determinierenden ökonomischen und politischen Entwicklungsgesetze zu befreien sei, als vielmehr um die Rehabilitierung der Kontingenz oder des unverfügbar Inkommensurablen, das gegen den Rationalismus der Strukturgeschichte zu retten sei. Zum Nachweis der grundlegenden Gegnerschaft der Kulturwissenschaften zur Sozialgeschichte vgl. Stiening 2009.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Bedingungen, zum anderen durch die Sinndeutung und Konstruktion von Wirklichkeit durch die Akteure selber, wurde nicht ernst genug genommen.76

Auch wenn der Dualismus des Bildes von der ›doppelten Realität‹ deshalb wenig überzeugt, weil keinerlei erkenntnistheoretische oder ontologische Begründungen ausgeführt werden – Wehlers Begründungstheorie ist von Beginn an anthropologisch77 –, können mit dieser Skizze sowohl die Tendenzen sozialgeschichtlicher Vereinseitigung durch Ableitung des Wissens aus den sozioökonomischen und -politischen Strukturen als auch die Neigung zur Entdifferenzierung der Realität durch einen universalistischen Diskurs- oder Wissensbegriff der Kulturwissenschaften vermieden werden. Weil jedoch die poetische Reflexion78 und deren literarische Realisationen weder auf sozialgeschichtliche Strukturen noch auf ideengeschichtliche Begriffe zurückgeführt werden können, wenngleich sie von beiden Feldern kontextuell umschlossen sind und beeinflußt werden, erweisen sie sich als besonders geeignete Gegenstände für eine methodisch geregelte Vermittlung von Ideen- und Sozialgeschichte. In Phasen des Umbruchs auf sozial- und ideengeschichtlicher Ebene wird die Notwendigkeit der Vermittlung beider Realitätssphären sichtbar, und dazu kann die Literaturwissenschaft, die sich einer differenzierten Kontextkonzeption bedient, aufgrund ihres eigentümlichen Gegenstands und dessen spezifischen Reflexionsleistungen beitragen. Der europäische Vormärz kann als eine solche Phase vielfältiger Revolutionen beurteilt werden.79 Für die in der Folge im Zentrum des Interesses stehende wissensgeschichtliche Perspektive auf literarische Texte bedeutet dies jedoch zum einen, dass eine Geschichte der Literatur des europäischen Vormärz nur durch eine spezifische Vermittlung von sozial- und ideengeschichtlicher Kontextualisierung zu schreiben ist, wobei sich die Sozialgeschichte vor allem auf politik- und wirtschaftshistorische Konturen und Ereignisse und die Wissensgeschichte auf die wissenschaftsgeschichtlichen Prozesse konzentrieren kann. Es geht hierbei nicht um das Auflösen literarischer Gegenstände zu ›Schnittstellen‹ interagierender Diskursstränge, son 76 Wehler 1998, S. 145; Wehler hat insofern wichtige Kritikpunkte der Einwände von Eibl 1996, S. 8–11 produktiv aufgenommen. 77 Vgl. hierzu Wehler 1987, S. 6–31, spez. S. 19. 78 Im Folgenden wird als der Literatur und Wissen vermittelnde Begriff der der »Reflexion« verwandt, weil hiermit die beiden Erscheinungsformen des Selbstbewusstseins gemeinsame Rationalität und Selbstbezüglichkeit angemessen erfasst wird, ohne ihre substanzielle Differenz zu negieren. Zudem ermöglichen die internen Differenzierungen im Begriff der Reflexion (vgl. Hegel 1986, V, S. 17–35) kulturell oder individuell bedingte Komplexitätsniveaus zu unterscheiden. 79 Zum Urteil eines grundlegenden Wandels zwischen 1830 und 1850 vgl. die Stellungnahmen aus den unterschiedlichste Disziplinen, so Jaeschke 1995, S. VIIf.; Gedö 1995, S. 1ff.; Roth 2004, S. 1; Breidbach 2005, S. 6ff.; Sengle 1971–1980, I, S. 12ff.; Stein 1998, S. 17; Titzmann 2002, S. 5f.; Eke 2005, S. 18f.; Gall (Hg.) 1993; Bock 1995, S. 56ff.

Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  

dern um eine Erfassung ihres je spezifischen Gehaltes durch ihre bedeutungskonstituierende Kontextverarbeitung80 im Medium der poetischen Reflexion. An den Texten Büchners, der sowohl wissenschaftliche als auch literarische sowie politische Formen und Gehalte reflektierte, lässt sich das Postulat einer erforderlichen Hierarchisierung der Kontexte in Bezug auf den je einzelnen Text exemplarisch vorstellen. Weil aber eine wissensgeschichtliche Bearbeitung der wissenschaftlichen und politischen Texte Büchners sowie deren Bedeutung für seine Dichtung bisher weitgehend unterblieb, wird in der nachfolgenden Untersuchung diese spezifische Form der ideengeschichtlichen Perspektive eingenommen; ausdrücklich sei jedoch erneut darauf hingewiesen, dass die folgende Korrelation von Wissen und Literatur in den Texten Georg Büchners in einer Weise erfolgt, die für eine sozialgeschichtliche Perspektive anschlussfähig bleibt. Insbesondere an der wissensgeschichtlichen Bearbeitung des Hessischen Landboten werden sich die Erfordernisse funktionaler Vermittlung zur Sozialgeschichte und damit die Grenzen wissensgeschichtlicher Kompetenzen aufzeigen lassen. Der im Vorstehenden aufgerufene Begriff des Wissens als historiographische Kategorie einer Ideengeschichte der Literatur bedarf jedoch vor dem Hintergrund der Forschungslandschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer näheren Erläuterung.

. Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?81 Die nach wie vor nicht abgeschlossene ›kulturwissenschaftliche Wende‹ der Geistesund Sozialwissenschaften, die die Wissenschaftslandschaft seit etwa 20 Jahren in Atem hält, allmählich jedoch an Zugkraft verliert, vollzog sich über die Ausrufung einer Fülle neuer Paradigmata des Forschens. Nach der überwältigenden Stellung der »Körpergeschichte« wurden in schneller Folge »Theatralität« bzw. »Performativität«, »Medien« oder »Textualität«, »Wissen« oder »Tiere« zu solchen Leitvorstellungen kulturwissenschaftlicher Forschung erhoben – ohne allerdings in den zahlreichen Selbstverständigungsdebatten aufeinander bezogen oder gar untereinander abgestimmt zu werden.82 Lange Zeit nahmen sogenannte »Poetologien des Wissens« eine unübersehbar prägende Bedeutung im Rahmen kulturwissenschaftlicher Lite-

 80 Zu den Bedingungen einer allgemeinen Bedeutungs- für eine jede Kontexttheorie vgl. Kablitz 2013. 81 Zum Folgenden vgl. auch ausführlicher Stiening 2011. 82 Zur Kritik an der Beliebigkeit kulturwissenschaftlicher Kategorienbildung vgl. Stiening 2002, Reinhard 2005, S. 1–16 oder auch Israel 2014.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft raturwissenschaft ein.83 Die Korrelation von Wissen und Literatur war unter poetologischer Perspektive zu einem Schwerpunkt literaturwissenschaftlichen Arbeitens avanciert. Der auch als »Wissenspoetik« firmierende Forschungsansatz, der mittlerweile die Erforschung des büchnerschen Œuvres erreichte,84 setzte sich als eigenständiges »Paradigma« durch.85 Der im Zusammenhang der Literaturwissenschaft – nicht allein in ihrer Ausrichtung als kulturwissenschaftliche Wissenspoetik – verwendete Begriff des Wissens stand und steht allerdings in der Kritik.86 Vor allem von Seiten einer so genannten ›analytischen Literaturtheorie‹ wurde bestritten, dass es überhaupt möglich sei, einen Wissensbegriff mit Literatur dergestalt zu korrelieren, dass man in Literatur nach Wissenskontexten suchen könne.87 Zwischen der Scylla eines ebenso unbegrenzten wie unbestimmten Wissensbegriffs und der Charybdis einer Austreibung des Wissens aus der Literaturgeschichtsschreibung kann durch eine kritische Darstellung beider Positionen die für die nachfolgende Studie favorisierte und praktizierte Wissensgeschichte als Kontext der Literaturgeschichte konturiert werden.88 Dafür muss ein präziser und daher begrenzter Wissensbegriff formuliert werden, der gegen die Kulturwissenschaften ebenso wie gegen die analytische Literaturwissenschaft zu profilieren ist. Es gibt drei konstitutive Momente des wissenspoetologischen Forschungsansatzes, die einer Kritik unterzogen werden müssen:89 (1) die spezifische Form der Historisierung des Wissens, (2) die Entdifferenzierung und Entgrenzung des Wissens und (3) seine Ästhetisierung bzw. Poetisierung. (1) Die erste Prämisse der Wissenspoetik besteht in der Annahme einer grundlegenden Diskontinuität von Geschichte. Diese These geht auf Michel Foucaults wissensarchäologische Zentralkategorie einer historischen Apriorität zurück, nach der es keinerlei historische Konstanten gebe – bis auf dieses Urteil selbst. Der in dieser Kategorie aufgehobene Historismus gehört zu den Fundamenten aller Kulturwissenschaft:  83 Vgl. u. a. Vogl (Hg.) 1999; Vogl 2002; Pethes 2003; Pethes 2004; Renneke 2008; Hörisch 2009; Specht 2010; Dillmann 2011; Borgards, Neumeyer u. a. (Hg.) 2013; Geß u. Janßen (Hg.) 2014 sowie Höppner 2017, S. 30f. 84 Vgl. Müller-Nielaba 2001; Müller-Sievers 2003; Fortmann 2007 oder auch Borgards u. Neumeyer 2009. 85 So Brandes 2006. 86 Vgl. hierzu die in der Zeitschrift für Germanistik ausgetragene Debatte zwischen Köppe 2007, Borgards 2007 und Dittrich 2007. 87 So insbesondere Köppe 2007, S. 400ff. sowie Köppe 2011. 88 Unfruchtbar scheint mir dagegen der Versuch, die substanziellen Differenzen zwischen beiden Positionen einzuebnen oder von ihnen zu abstrahieren; vgl. hierzu Höppner 2017, S. 30ff., der mit einem (in den Kulturwissenschaften beliebten) »weiten« Begriff von Wissen operiert, damit aber das Spezifische der Frage nach einem klaren Verhältnis von Wissen und Literatur verpasst. 89 Zum Folgenden vgl. Stiening 2007a.

Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  

Das […] moderne Konzept von Kulturwissenschaft beruht auf der Einsicht, daß es nur ein Apriori gibt, das historische Apriori der Kultur.90

Manfred Frank konnte jedoch schon vor 30 Jahren nachweisen, dass die abstrakte Setzung historischer Diskontinuitäten, die auf Foucaults historischem Apriori basiert, instabil ist, weil dieser Begriff an ihm selbst relational im Hinblick auf eine Kontinuität verfasst ist, von der er sich stets abstößt.91 Alle Versuche der Feststellung von historischen Brüchen sind mithin auf deren Korrelation mit Konstanten angewiesen, wie dies schon die hochdifferenzierten Geschichtstheorien der Aufklärung vorführten.92 »Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz,« so wusste schon Kant, und an der Gültigkeit dieser Erkenntnis hat sich auch für eine auf Brüche fixierte Geschichtswissenschaft nichts geändert.93 Eine methodisch stabile und historiographisch ertragreiche Wissensgeschichte, die tatsächlich die Leistungen der Sozialgeschichte ebenso wie die der Ideen- und Philosophiegeschichtsschreibung aufnehmen können will, wird sich daher vom antinomischen Historismus des historischen Apriori verabschieden müssen. Historiographie – sei es als ausdifferenzierte Literatur-, Philosophie-, Theologie- oder Wissenschaftsgeschichte, sei es als übergreifende Ideen- oder Wissensgeschichte – wird an der Formierung formaler Apriorismen nicht vorbei kommen. So hat Wolfgang Röd für die Philosophiegeschichtsschreibung die Möglichkeit und Produktivität der Begriffe des Fortschritts und Rückschritts als reflektierter historiographischer Kategorien nahegelegt.94 Auch in der Literaturwissenschaft wurden solche Überlegungen im Rahmen einer an Kurt Flasch anschließenden Problem- oder Wissensgeschichte angestellt.95 Und Olaf Breidbachs wissenschaftsgeschichtliches Modell einer interdisziplinären Wissensgeschichte ist ebenfalls dem Versuche der Formierung entwicklungsgeschichtlicher Kategorien verpflichtet, die alle Varianten unkritischer Teleologie wie die historistischer Diskontinuitätskonzeptionen unberührt lassen.96 Die nachfolgenden Überlegungen zu Büchners Schriften basieren daher auf der Annahme von rekonstruierbaren Verlaufsformen der Geschichte, die Kontinuität und Diskontinuität vermittelnd einzelne Gegenstände in übergreifende Zusammenhänge historischer Veränderung so integriert, dass sie als einzelne allererst durch ihren Zusammenhang konstituiert und als solche erkennbar werden. (2) Zweitens ist an den Modellen der Wissenspoetik ein undifferenzierter, unabgegrenzter und historisch unbestimmter Begriff des Wissens festzustellen, da er mit

 90 Böhme 1997–2004, II, S. 356–359, hier S. 357. 91 Vgl. hierzu Frank 1987, S. 97–130. 92 Vgl. hierzu Rohbeck 2004, S. 23–52. 93 KrV B 224. 94 Röd 1995a, S. 31–43; zum Anschluss hieran vgl. Stiening 2012. 95 Flasch 2003/05, I, S. 62–80 sowie Werle 2006, S. 478–498. 96 Vgl. Breidbach 2006, S. 310–319 sowie Breidbach 2008, S. 23f., S. 33ff. u. S. 42–61.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Vorstellungen überhaupt identisch ist. Anders formuliert: Für die Poetologen des Wissen ist jede mentale Repräsentation je schon Wissen.97 Systematisch ist dieser Wissensbegriff in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen bereitet der Begriff Schwierigkeiten, weil es vor dem Hintergrund des diskursiven Universalismus der diskursanalytischen Wissensgeschichte keinerlei Unterscheidung – weder interne noch externe, mentale noch extramentale – gegenüber dem bzw. vom Wissen geben kann. Auf der Grundlage dieses Begriffs muss Wissensgeschichte zur neuen scientia universalis erhoben werden, für die alles, was ist, Wissen ist. Zu welchen Ungereimtheiten jedoch diese Überpotenzierung führt, lässt sich an einem Beispiel aus der Geschichtswissenschaft erläutern: Dirk van Laak hat im Jahre 2004 eine Arbeit über den Deutschen Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt, die sich selbst dezidiert wissensgeschichtlich versteht und begründet.98 Herfried Münkler hat diese Studie und ihr methodisches Selbstverständnis aber zu Recht in der folgenden Weise kritisiert: Nun zeigt aber gerade diese Arbeit, in welche Aporien eine Geschichte des Imperialismus gerät, die sich nicht auf einen politischen oder ökonomischen Kern konzentriert, sondern kultur- und wissensgeschichtlich angelegt ist: Sie wird tendenziell ununterscheidbar von der Geschichte der Entdeckungen und der Sammlung des Wissens über bis dato Unbekanntes.99

Münkler liefert mit seinen Argumenten ein überzeugendes Plädoyer dafür, Wissensgeschichte in ihrem methodischen, systematischen und historischen Anspruch zu begrenzen. Es gibt Gegenstände historischer Wissenschaften, die mit den Instrumenten einer Wissensgeschichte nicht angemessen zu erfassen sind, und daher muss jeder als historiographische Kategorie entworfene Wissensbegriff intensional und extensional eingeschränkt werden. Diese hier aufscheinende grundlegendere Debatte kann allerdings nicht ausschließlich auf der Ebene literaturwissenschaftlicher Methodologie bzw. allgemeiner oder spezieller Literaturtheorie ausgetragen werden, denn die Frage nach dem Verhältnis von Vorstellungen und dem von und in ihnen vorgestellten Gegenständen ist nur auf der Grundlage erkenntnistheoretischer, metaphysischer und psychologischer Kategorien und Prinzipien zu beantworten. Dennoch ist daran festzuhalten, dass zwischen der Geschichte der Ideen und der Geschichte der Realien ein systematisch zu bestimmender, methodologisch zu reflektierender und inhaltlich zu

 97 Zum Begriff der »mentalen Repräsentation«, seiner historischen Verbindung und systematischen Äquivalenz zum lockeschen Begriff der »idea« und damit dem der »Vorstellung überhaupt« vgl. Kemmerling 2006, S. 7f. 98 Vgl. van Laak 2005. 99 Münkler 2005, S. 40.

Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  

gestaltender Unterschied besteht, der in der nachfolgenden Untersuchung daher auch berücksichtigt wird.100 Zum anderen führt die Identifikation des Wissensbegriffes mit dem der Vorstellung überhaupt bzw. der mentalen Repräsentation ohne Not zu einer Entdifferenzierung eines seit Aristoteles wohldefinierten Begriffs. Demgegenüber scheint es aus begriffsgeschichtlichen und forschungspragmatischen Gründen einer zu Recht geforderten Anschlussfähigkeit an andere Fächer101 auch für die Literaturwissenschaft geboten, zwischen Wissen, Glauben, Meinen, Empfinden, Einbilden und Fühlen zu unterscheiden. Mit diesen Begriffen werden unterscheidbare mentale Prozesse bzw. Vermögen erfasst, die mit je unterschiedlichen Verfahren anhand unterschiedlicher Kriterien bestimmbar sind, sich in Literatur allerdings je anders realisieren und je anders analysiert und interpretiert werden müssen. Zu den Bestimmungen des Wissens gehört seit Aristoteles aus guten Gründen die Urteilsform ebenso wie der Wahrheitsanspruch und die Begründungsleistung.102 Dem Glauben wie dem Meinen oder Fühlen, wie auch dem Erzählen fehlen einzelne oder mehrere dieser Kriterien oder sie werden durch andere bestimmt. Deshalb ist Literatur kein Wissen,103 d. h. sie kann keinen Wissensanspruch erheben, auch wenn namhafte Autoren diesen Anspruch kultivierten.104 Georg Büchner hat als Wissenschaftler und Literat auf die zeitgenössisch und systematisch virulente Problemlage des Unterschieds zwischen Wissen und Literatur eine eigenständige Lösung entworfen. (3) Drittens ist auch die ›Poetologisierung‹ des (wissenschaftlichen) Wissens fragwürdig. Im Zentrum dieser Prämisse steht die erkenntnistheoretische Annahme von einer »unauflöslichen Verschränkung von Poetologie und Epistemologie«105 und damit die praemissa maxima des wissenspoetologischen Programms: Jede epistemologische Klärung ist mit einer ästhetischen Entscheidung verknüpft.106

Jede Beschäftigung mit Erkenntnistheorie lässt wissen, dass diese These nicht zu halten ist; es ist schlicht falsch, dass jeder Erkenntnisvorgang (oder jede erkenntnistheoretische These oder gar Demonstration) an ästhetische Kriterien gebunden sei –

 100 Wohin es führt, wenn Realien und Ideen nicht angemessen unterschieden werden, kann man an der großen Studie von Martus 2015 ablesen, für den das 18. Jahrhundert keineswegs nur ein Zeitalter der Aufklärung, sondern ein aufgeklärtes Zeitalter war; zur Kritik hieran vgl. Stiening 2017. 101 So zu Recht Köppe 2007, S. 398f. 102 Vgl. hierzu auch Klausnitzer 2008, S. 12. 103 Anders dazu u. a. Klinker 2010. 104 So zu Recht Köppe 2007, S. 403. 105 Dotzler 2005, S. 12. 106 Vogl 2002, S. 13.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft und das gilt insbesondere für das Wissen im eigentlichen Sinne.107 Zwar ist unbestreitbar, dass sowohl unter systematischen als auch unter historischen Gesichtspunkten Erkenntnistheorie und Ästhetik in einem engen Zusammenhang stehen;108 ihre »unauflösliche« Identität wird allerdings nur von den Wissenspoetologen eingefordert. Alles Wissen aber ist zunächst und zumeist durch seine konstitutiven Definitionsmomente der ›wahren gerechtfertigten Überzeugung‹ bestimmt und nur sekundär durch seine Darstellungsformen. Zwar kann mit guten Gründen gefragt werden, welche Rolle die Darstellungsformen der Wissenschaften für deren semantische und systematische Erkenntnisgehalte oder deren Verbreitung spielen. Diese Fragen sind aber ganz ohne apriorische Ästhetisierung des Wissens schon vor einiger Zeit gestellt und mit bemerkenswerten Ergebnissen beantwortet worden. Hier lässt sich entnehmen, dass die These, die Formen des wissenschaftlichen Schreibens würden deren Gehalte durchgehend bestimmen, zu differenzieren ist. Denn es gibt wissenschaftliche Texte, deren äußere Form gegenüber ihren Gehalten indifferent ist; schon Hegel zeigte das für Spinozas oder Christian Wolffs Paraphierung ihrer Deduktionen;109 und selbst Rousseaus Du Contrat Social mag zwar sprachlich ansprechender sein als Pufendorfs De officio; gegenüber den jeweiligen naturrechtlichen Gehalten ist diese Frage jedoch allerhöchstens zweitrangig. Vor allem sind diese Darstellungsformen des wissenschaftlichen Wissens nicht ausschließlich an literarische bzw. ästhetische oder auch nur allgemein narrative Kriterien gebunden, sie folgen – wie Hegels Phänomenologie oder Auerbachs Mimesis – ihren je eigenen formalen Gesetzen. Auch an Büchners Dissertation wie an seinen Vorlesungsskripten zur Geschichte der Philosophie wird sich die weitgehende Irrelevanz ihrer äußeren Form dokumentieren lassen. Alle drei Prämissen – die Diskontinuitätsthese, der unbestimmte Wissensbegriff und die apriorische Ästhetisierung des Wissens – legen es nahe, eine literaturgeschichtlich fruchtbare Wissensgeschichte grundlegend anders zu begründen und zu gestalten. Dazu ist es allerdings erforderlich, an einem Wissensbegriff überhaupt als historiographisch ertragreicher Kategorie für die Literaturwissenschaft festzuhalten. Diese Möglichkeit wurde jedoch mit dem Argument bestritten, Literatur entspreche in keiner Hinsicht den Bestimmungen eines nur epistemologisch eindeutig zu definierenden Wissensbegriffs. Zwar könne Literatur subjektive Überzeugungen gestal-

 107 Vgl. hierzu u. a. die von den Poetologen des Wissens nicht wahrgenommenen analytischen Debatten bei Ernst 2002, Enskat 2003, Hofmann 2007, S. 147–174 oder den für die Literaturwissenschaft besonders anschlussfähigen Band von Kern 2006. 108 Vgl. hierzu den in seinen Beiträgen allerdings methodisch und systematisch höchst divergierenden Band von Bauereisen, Pabst u. Vesper (Hg.) 2009. 109 Vgl. Hegel 1986, XX, S. 163ff.

Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  

ten und ausdrücken, doch führe sie weder einen Wahrheitsanspruch aus noch enthalte sie systematische Begründungsformen.110 Dieser analytischen Austreibung des Wissens aus den Literaturwissenschaften ist jedoch mit gleichem Nachdruck zu widersprechen. Es lässt sich nämlich zeigen, dass diese Kritik auf einem Kategorienfehler beruht, den es zu vermeiden gilt. Gleichwohl kann zunächst einer methodischen Prämisse jener Kritik zugestimmt werden: Auch Literaturwissenschaftler sind dazu verpflichtet, die von ihnen verwendeten Begriffe klar und deutlich zu definieren. Dieses Postulat gilt nicht nur wegen der erforderlichen Anschlußfähigkeit an andere Disziplinen, sondern auch aufgrund des allgemeinen Wissenschaftsanspruches des Faches. Die Annahme, es gäbe so etwas wie weiche Kategorien oder ›idiosynkratisches‹ Denken, versucht von dieser unhintergehbaren Verpflichtung auf Wahrheitsanspruch oder Falschheitsnachweis, die jeder Wissenschaft zukommt, zu abstrahieren.111 Darüber hinaus ist im Anschluss an die Tradition einem Festhalten an der Definition des seit der Antike eindeutigen Wissensbegriffes zuzustimmen. Der Terminus »Wissen« ist aus guten Gründen gemäß seines Wahrheitsanspruchs seit Aristoteles zum Begriff bestimmt durch die Kriterien der wahren gerechtfertigten Überzeugung. Man kann auch vom ›subjektiven und objektiven Fürwahrhalten‹ sprechen, und das Wissen in Abgrenzung vom Meinen und Glauben wie folgt bestimmen: Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt), hat folgende drei Stufen: M e i n e n, G l a u b e n und W i s s e n. M e i n e n ist ein mit Bewußtsein s o w o h l subjektiv, a l s objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es G l a u b e n. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das W i s s e n. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Ü b e r z e u g u n g (für mich selbst), die objektive, G e w i ß h e i t (für jedermann).112

Es bedarf mithin für jegliches Wissen, das mehr bzw. anderes sein will als Glauben oder Meinen, der Urteilsform, des Wahrheitsanspruches und einer diesen Anspruch realisierenden Begründungsleistung. Daraus folgt aber erneut und ohne alle Einschränkungen, dass Literatur kein Wissen ist. Auch wenn zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine methodologisch breit gefächerte Gruppierung in den Literaturwissenschaften diese Prämisse – unter anderen unter Verwendung des Hilfsbegriff vom ›kulturellen Wissen‹ – vertritt,113 ist dem Einwand der so genannten analytischen Literaturwissenschaft uneingeschränkt Recht zu geben, weil allein die Urteilsform in vielen poetischen Texten fehlt, mehr noch der Wahrheitsanspruch und vor allem  110 Vgl. hierzu Köppe 2007, S. 398–405. 111 Vgl. hierzu Vogl 2007, S. 249–258. 112 KrV B 850. 113 Hörisch 2008; siehe auch Vorwort der Herausgeber. In: Scientia Poetica 8 (2004), S. VII–IX; Schweizer 2008, S. 16ff.; Valenza 2009 oder auch Krämer u. Hufnagel (Hg.) 2015.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft die Begründungsleistung. Es macht die Besonderheit der poetischen Reflexion in der Bindung an die Darstellung des sinnlich Konkreten aus, kein Wissen zu sein.114 Verfehlt ist jedoch die hermeneutische These der so genannten analytischen Literaturwissenschaft, Literatur enthalte kein Wissen. Diese Annahme basiert auf einem Kategorienfehler, den die analytische Literaturwissenschaft begeht, wenn sie einen erkenntnistheoretischen mit einem wissensgeschichtlichen Wissensbegriff identifiziert. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass Wissen nicht in seinem materialen Status als Wissen in Literatur gestaltet wird; so ist es nur als methodischer und systematischer Fehlgriff zu bezeichnen, Büchners Reflexionen auf Magnetismus und spekulative Naturphilosophie, die er in seiner Erzählung Lenz anstellt, unter philosophischen – also systematischen – Gesichtspunkten zu rekonstruieren.115 Dennoch ist der Literarhistoriker dazu verpflichtet, diesen Wissenskontext als Moment einer poetischen Gestaltung von zeitgenössischen Wissensansprüchen im Textganzen zu erkennen, zu analysieren und zu interpretieren. Ein gewichtiger Unterschied zwischen der erkenntnistheoretischen und der wissensgeschichtlichen Wissenskategorie besteht also darin, dass man das in Literatur gestaltete Wissen nicht auf seinen materialen Wahrheitsgehalt überprüfen muss, denn dann käme man bei chiromantischen oder mystizistischen Wissensbeständen, die die Literatur u. a. von Ludwig Tieck bis Thomas Mann aufruft, nur zu einem historisch und historiographisch irrelevanten Urteil der Falsifizierung. Die Kriterien des Wissens sind gleichwohl in formaler Hinsicht aufrechtzuerhalten, um sie von anderen in Literatur gestalteten mentalen Prozessen und deren Historie zu unterscheiden. In diesem Status ermöglichen sie dem Literaturwissenschaftler zu überprüfen, ob der historische Autor in seinem literarischen Text mit historischen Wissensbeständen oder anderen Vorstellungsformen arbeitet. Durch die Erschließung des wissensgeschichtlichen Kontextes kann er darüber hinaus der Frage nachgehen, welche Stellung jenes historische Wissen innerhalb des poetischen Gefüges einnimmt. Dieses methodische Postulat einer angemessenen Erschließung des wissensgeschichtlichen Kontextes impliziert die Maxime einer mög 114 Das bedeutet allerdings nicht, wie Hegel zeigte, dass die Kunst als an sinnliche Gewissheit gebundenes Medium nicht selber auf den Begriff gebracht werden könnte. Hegels Begriff des Begriffs leistet auch die Erfassung des von ihm Unterschiedenen: »Und wenn auch die Kunstwerke nicht Gedanken und Begriff, sondern eine Entwicklung des Begriffs aus sich selber, eine Entfremdung zum Sinnlichen hin sind, so liegt die Macht des denkenden Geistes darin, nicht etwa nur sich selbst in seiner eigentümlichen Form als Denken zu fassen, sondern ebensosehr sich in seiner Entäußerung zur Empfindung und Sinnlichkeit wiederzuerkennen, sich in seinem Anderen zu begreifen, indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt« (Hegel 1986, XIII, S. 27f.). 115 Auch diese Festlegung ist unter bestimmten methodischen Gesichtspunkten zu relativieren, leistet doch Dieter Henrich mit seiner Variante der Konstellationsforschung Interpretationen der literarischen Texte Hölderlins in philosophiehistorischer Absicht – ohne diese Texte allerdings auf jene epistemologische Funktion einzuschränken; vgl. Henrich 1992, S. 185–266.

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lichst umfassenden Bearbeitung des Wissensfeldes und seiner wissenschaftlichen Erforschung unabhängig von den Rezeptionsformen und -ergebnissen des literarischen Autors. Das Postulat bedeutet darüber hinaus, in einem zweiten Schritt die dilettantischen oder professionellen Rezeptionswege, -umfänge und die Auswahl zu berücksichtigen, die der literarische Autor tätigte. Die Aufrechterhaltung der traditionellen Wissenskriterien einer ›wahren gerechtfertigten Überzeugung‹ in einem formalen Status ermöglicht einerseits, Wissen von anderen Formen der Vorstellung abzugrenzen und so eine Wissensgeschichte von Glaubens-, Meinens-, Gefühls- oder Erfahrungsgeschichten zu unterscheiden. Weil sich ›wahre gerechtfertigte Überzeugungen‹ in den historisch variierenden Formen der Wissenschaften in ausgezeichneter Weise realisieren, tendiert eine präzise definierte Wissens- zu einer Wissenschaftsgeschichte, ohne mit ihr identisch zu sein.116 Das methodische und historiographische Programm einer scientia poetica zielt daher mit guten Gründen auf eine kritische Korrelation von Wissenschafts- und Literaturgeschichte ab.117 In dieser hier favorisierten Form ist Wissensgeschichte ein spezifisches Segment einer auf den Anschluss mit der Sozialgeschichte der Literatur bedachten ideengeschichtlichen Kontextualisierungskonzeption.118 Andererseits eröffnet die Einschränkung und Bestimmung der historisch und systematisch wirksamen Definitionselemente des Wissens auf einen rein formalen Status die Möglichkeit, eine Überprüfung der systematischen Virulenz des literarisch gestalteten Wissens als historiographisch irrational zurückzuweisen. Damit muss weder der Literatur überhaupt Wissen zugeschrieben bzw. eine qualitative Differenz zwischen beiden Reflexionsformen im Zeichen des Diskurses bzw. des kulturellen Wissens eingeebnet werden, noch muss der Literatur Wissen als gestaltbarer Gegenstand a priori abgesprochen werden, weil sie seinen Kriterien in der Tat materialiter nicht entspricht. Darüber hinaus ermöglicht das Festhalten an einem wohldefinierten Wissensbegriff, begründete Differenzierungen im Programm einer ideengeschichtlichen Kontextualisierung von Literatur einzuhalten; so betont der Wissenshistoriker Peter Burke: Differenzieren müssen wir auch zwischen Wissen und Information, zwischen ›wissen, wie‹ und ›wissen, dass‹, zwischen Explizitem und Angenommenem. Der Einfachheit halber verwenden

 116 Vgl. hierzu Stiening 2007a, S. 240ff. 117 Vgl. hierzu das Vorwort der Herausgeber in Scientia Poetica 1, S. VIIf. sowie Richter, Schönert u. Titzmann 1997, S. 9–36, die allerdings mit einem übergreifenden Diskursbegriff arbeiten, der die substanziellen Differenzen zwischen Wissen und Literatur tendenziell einebnet und damit die Aufgabe ihrer spezifischen Vermittlung verzerrt. 118 Zu einem vergleichbaren Vorschlag in Bezug auf das Verhältnis von Medizin, Literatur und Gesellschaft vgl. Erhart 2004, S. 118–128; Stiening 2011 sowie Benz u. Stiening 2020.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft wir in diesem Buch den Begriff Information für das, was roh, spezifisch und praktisch ist, während Wissen das Gekochte bezeichnet, das gedanklich Verarbeitete oder Systematisierte.119

Schon Jürgen Mittelstrass hatte weniger in historiographischen als vielmehr in systematischen und soziopolitischen Zusammenhängen empfohlen, an dieser Unterscheidung zwischen Wissen und Information festzuhalten: Maßgebend für diese Bestimmung ist, dass ›Informationswissen‹ stets in erster Linie ein Faktenwissen ist, d. h. ein Wissen darüber, was der Fall ist (oder als solcher ausgegeben wird). Demgegenüber lässt sich ein Orientierungswissen als ein Zwecke- und Zielewissen definieren, d. h. als ein Wissen darüber, was (begründet) der Fall sein soll. Oder noch anders, den ›Ort‹ eines ›Informationswissens‹ im System des Wissens verdeutlichend, formuliert: ›Informationswissen‹ ist Teil eines Verfügungswissens und dient dem Orientierungswissen.120

In der Anbindung an die Traditionen des Wissensbegriffes bietet Mittelstrass hiermit eine formale Unterscheidung, die auch in einer historiographischen Anwendung die historisch und disziplinär je unterschiedlichen Status spezifischer Inhalte der wissensgeschichtlich zu betrachtenden Vorstellungen zu differenzieren erlaubt. Nur eine Geschichte des Wissens, die diese von Mittelstrass und Burke verteidigte formale und daher transhistorische Differenzierung des Wissensbegriffes berücksichtigt, kann die qualitativen Unterschiede von historisch variierenden Reflexionsformen angemessen bestimmen. An Büchners Hessischem Landboten lässt sich die Fruchtbarkeit allein dieser, noch ganz basalen Differenzierung zwischen Information und Wissen anschaulich belegen. Auf der Grundlage eines formalen Wissensbegriffes können zudem die unterschiedlichen Entwicklungsstadien wissenschaftlicher oder philosophischer, aber auch weltanschaulicher Konzepte distinkt erfasst werden; überhaupt können zwischen empirischem und nichtempirischem Wissen sowie zwischen Wissenschaften und Weltanschauungsformen deutliche Grenzen gezogen werden,121 um erst auf der Basis dieser Differenzierung die sich historisch je verändernden Korrelationen zu überprüfen. Die hiermit skizzierte Variante von Wissensgeschichte, die ein Segment einer übergreifenden ideengeschichtlichen Kontextualisierung der Literaturgeschichte zu konturieren und zu praktizieren sucht, bewegt sich daher in ihrem Selbstverständnis zum einen keineswegs »nach der Sozialgeschichte«.122 An den Schriften Georg Büchners versucht diese Wissensgeschichte, die sozialgeschichtliche Perspektive vielmehr in regelgeleiteter Form zu ergänzen.123 Der an Büchner zu exemplifizieren-

 119 Burke 2001, S. 20. 120 Mittelstrass 2001, S. 44. 121 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Thomé 2002, S. 338–380. 122 Vgl. erneut Huber u. Lauer 2000. 123 Vonseiten der Sozialgeschichtsschreibung wurde eine für eine eigenständige Ideengeschichte anschlussfähige Konzeption entwickelt von Jörg Schönert; zusammengefasst in Schönert 2007.

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de Versuch von Wissensgeschichte bewegt sich daher zum anderen jenseits der Alternative zwischen der wissenspoetologischen Überpotenzierung und der wissensepistemologischen Depotenzierung des Wissensbegriffs. Die vermittelnde Stellung kann erstens eingenommen werden, weil gegen die Wissenspoetik an einem differenzierten Begriff des Wissens festgehalten wird, der die Bestimmungen der Tradition aufnimmt und so an dem eigenständigen Geltungsanspruch des Wissens gegen andere Vorstellungsformen sowie gegen literarische Reflexionen festhält.124 Zweitens ergibt sich für die hier gewählte wissensgeschichtliche Literaturforschung eine Mittelstellung, weil sie gegen die analytische Austreibung des Wissensbegriffes mit Hilfe eines rein formalen Status seiner Momente dessen historische Realisationen nicht an einem materialen Wahrheitsgehalt überprüfen muss. So lässt sich an einem bestimmten Segment einer umfassenderen Kontextualisierungsgeschichte literarhistorischer Gegenstände arbeiten, ohne in philosophisch-systematische Auseinandersetzung verstrickt zu werden. Literarische Reflexion vermittelt mithin in sich bestimmte Gehalte der sie umgebenden Kontexte, seien es ideengeschichtliche oder sozialgeschichtliche, und wirken – allerdings in erheblich geringerem Maße und in völlig anderer Weise – auf diese zurück. Dabei ist sowohl der Vermittlungsbegriff als auch die angedeutete asymmetrische Reziprozität zu erläutern: Zum einen nämlich ist jene Reziprozität zwar nicht von der Hand zu weisen, dennoch muss das Programm Wissen und Literatur noch deutlicher in sich differenziert werden. Denn die Frage nach der Bedeutung der literarischen Reflexionsformen für die Wissenschaften ist eine erheblich andere – nämlich wissenschaftsgeschichtliche –, als die nach der Bedeutung der Wissenschaften für die Literatur – das ist nämlich eine literarhistorische. Diese Fragen müssen jeweils mit anderen Methoden, Verfahren und Systematiken verbunden werden. Zudem scheint selbst die Bedeutung narrativer Strukturen u. a. für die Geschichtswissenschaften in der Literaturwissenschaft noch erheblich überschätzt zu werden.125 Zum anderen muss der oben verwendete Vermittlungsbegriff klar und deutlich bestimmt werden. Denn Vermittlung meint in diesem Zusammenhang nicht eine einfache Relationierung von unmittelbar Gegebenem. Vielmehr ist erstens »einfache Unmittelbarkeit« selbst ein Reflexionsausdruck und deren Gehalte werden damit durch Vermittlung allererst gesetzt, wie dies Hegel in der Wissenschaft der Logik zu Recht nachweist, wenn er festhält,

 124 Von dem neuerdings erhobenen vornehmen Ton einer praxeologischen Literaturwissenschaft (vgl. Martus 2016) sieht sich die Studie allerdings ebenso entfernt, weil die empiristische Prämisse der Möglichkeit einer Geltungsüberprüfung literaturwissenschaftlicher Methoden durch eine Reflexion auf deren Genese unhaltbar ist. 125 Vgl. hierzu den exzellenten Forschungsüberblick bei Krämer 2010.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener [ihr abstrakter] Gegensatz sich als nichtig zeigt.126

Erst durch die literarische Vermittlungsleistung werden die Wissenschaften mehr bzw. anders als Wissenschaften, nämlich zu Kontexten der Literatur und damit u. a. in ihrem Wissensstatus verändert. Warum und in welcher Form welche Wissenschaften zu bestimmten Zeiten zum Reflexionsgegenstand der Literatur werden, ist allerdings nicht nur ideen- bzw. wissensgeschichtlich zu beantworten, sondern durch eine umfassendere Kontextualisierung, die allerdings nicht auf ein additives Aggregat der Kontexte reduziert werden darf, sondern durch eine strenge Hierarchisierung vorerst für jedes einzelne literarische Werk in ein System zu überführen ist. Zweitens werden die Relata im Prozess der Vermittlung in ihrem Sein verändert. Man spricht daher von einem Transformationsprozess des Wissens in Literatur, und der Versuch einer wissensgeschichtlichen Distinktion zwischen materialem und formalem Wahrheitsanspruch suchte ein Moment dieses Transformationsprozesses zu bestimmen. Wenn es tatsächlich so ist, dass Literatur ideen- und realgeschichtliche Kontexte korreliert, und damit Reflexionen des Geistes auf sich und sein Anderes gelingt, und dies in der Reflexionsform sinnlicher Gewissheit realisiert,127 dann deuten sich erhebliche ›Vermittlungsleistungen‹ der Literatur an. Mit diesem Vermittlungsbegriff scheint daher das Eigenständige literarischer Reflexion gegenüber dem Wissen oder bestimmten Realien hinreichend berücksichtigt, d. h. in eine Aufgabe gestellt, deren eminente Leistung von der historiographischen Literaturwissenschaft allererst zu rekonstruieren und in ein neues Wissen zu überführen ist.

. Geschichte und Stand der Büchner-Forschung Das ebenso umfangreiche wie weit ausdifferenzierte Werk Georg Büchners128 bietet sich deshalb für die vorgestellte Form wissensgeschichtlicher Kontextualisierung literarischer Texte des frühen 19. Jahrhunderts an, weil der Autor selbst auch in wissenschaftlichen und politischen Bereichen agierte sowie publizierte und unpublizierte Texte hinterlassen hat. Viele der wissensgeschichtlich relevanten Kontexte seiner literarischen Texte liegen in seinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten vor bzw. in den dort direkt wie indirekt zitierten Kontexten. Selten genauer als bei Georg Büchner sind wir über den Wissensbestand eines literarischen Autors infor-

 126 Hegel 1986, V, S. 66. 127 So der Sache nach auch Kablitz 2013, S. 219ff. 128 Zu einem anderen Urteil kommt Pethes (2004, S. 351), der Büchners Werk in seiner literarischen und seiner wissenschaftlichen Spielart für überschaubar hält. Die Interpretationsvorschläge der Wissenspoetologie Pethes’ dokumentieren dann aufs Deutlichste die Gründe für dieses Urteil.

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miert. Zugleich bietet sich dieses methodische Konzept für eine grundlegend neue Erschließung des büchnerschen Œuvres an, weil er als professioneller Naturwissenschaftler, Philosophiehistoriker und Politiker ein Wissen akkumulierte, das in seine Literatur Eingang fand. Ausgehend von der Wissensschaftsgeschichte seines Werkes lässt sich ein deutlich verändertes Bild des Literaten und Politikers Büchner entwerfen. Dass mit Büchner ein literarischer Autor in den 1830er Jahren für kurze Zeit die Bühne betrat, der neben politischen Aktivitäten auch eine wissenschaftliche Ausbildung verfolgte, erfolgreich abschloss und gar als Universitätsdozent tätig war, hat die Forschung seit Karl Viëtors und Hans Mayers epochemachenden Monographien insoweit berücksichtigt,129 als sie die Reflexions- und Handlungsfelder der Politik, der Dichtung und der Wissenschaft von Büchner bearbeitet sah und durch die Titel und Konzeptionen ihrer Studien zu erfassen suchte.130 Dabei galt allerdings für Karl Viëtor wie für Hans Mayer trotz erheblicher Unterschiede in der inhaltlichen Ausgestaltung als ausgemacht, dass Büchners gesamtes Denken und Handeln als systematische Einheit zu verstehen und diese von seiner ›Politik‹ aus zu rekonstruieren sei: Auf die Frage nach der Einheit kommt alles an. Sie vom Politischen her zu stellen heißt nicht etwa, Dichterisches und Denkerisches fremder Gesetzlichkeit zu unterjochen; es geht nicht darum, die Dichtungen als ›Tendenzdichtungen‹ zu interpretieren, was sie im geläufigen Wortsinne wahrhaftig nicht sind. Auch darum nicht, Büchners Wissenschaft und Philosophie mit krasser vereinfachender tagespolitischer ›Spitze‹ zu versehen. Hier wird nach den Grundlagen der politischen Konzeption Büchners gefragt, die […] in weltanschaulichen Entscheidungen gründet. Man denkt nicht losgelöst von der Zeit und der in ihr gestellten Fragen.131

Schon Hans Mayers Forschungsthese lautet mithin, dass eine spezifische Einheit der Reflexions- und Handlungsfelder Büchners rekonstruiert werden müsse, um sie je einzeln und in ihrem Zusammenhang zu verstehen: »Auf die Frage der Einheit kommt alles an«! Diese methodische These wird mit der systematischen Annahme verknüpft, jene Einheit sei vom Politischen aus herzustellen. Mayer konturiert damit keine allgemeine Widerspiegelungstheorie wie einige seiner das politische Paradigma aufnehmenden Vorgänger bzw. Nachfolger.132 In Georg Büchner und seine Zeit wird vielmehr der Versuch unternommen, an einem und für einen Gegenstand seine sozial- oder politikgeschichtliche Kontexttheorie der Literatur und der Wissenschaften zu entwerfen, weil der gewählte Gegenstand – Büchners gesamtes Werk – eine

 129 Vgl. Viëtor 1949 und Hans Mayer 1972 [EA 1946]. 130 Vgl. hierzu Viëtor 1949: »Georg Büchner. Politik · Dichtung · Wissenschaft« sowie Hans Mayer 1972: »Georg Büchner und seine Zeit«. 131 Hans Mayer 1972, S. 22f. 132 Vgl. hierzu insbesondere Lukács 31973 [EA 1937] oder Poschmann 1985.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft in sich differenzierte Einheit dergestalt aufweise, dass sie nur aus einer Fundierungstheorie – hier vom Politischen her – zu verstehen sei.133 Gegenüber dieser methodischen Prämisse wird die Mayer eigentlich interessierende inhaltliche Demonstration einer revolutionären ›linken‹ Politik Büchners aus der Retrospektive zweitrangig, weil es nur dieser – problematische – Inhalt ist, in dem er sich von seines Konkurrenten Interpretationen unterschiedet: Denn auch Karl Viëtor hatte die weltanschauliche Position Büchners zum Fundament seines politischen Schaffens und seiner naturphilosophischen und literarischen Texte erklärt. Dabei sieht Viëtor Büchner allerdings nicht als handlungsbereiten revolutionären Sozialisten – wie dies nach Hans Mayer auch Friedrich Sengle, Walter Grab, Christoph Hauschild, Thomas Michael Mayer und Burghard Dedner vortrugen134 –, sondern als verzweifelten Geschichtsmetaphysiker im Sinne eines schopenhauerschen Pessimismus, dessen politisches Handeln wider besseres Wissen erfolgt sei. Im Zentrum dieser ebenfalls den ›ganzen Büchner‹ erfassen wollenden Perspektive steht eine Interpretation des so genannten ›Fatalismusbriefes‹: Selbstmord der Revolution, trostloses Ende aller Hoffnungen: die revolutionäre Kraft wütet gegen sich selbst. Unmöglich kann dies niederdrückende Schauspiel tragischer Verwirrung oder fatalistischer Sinnlosigkeit, wie man will, dazu dienen, die Revolution zu verherrlichen und revolutionären Enthusiasmus zu entfachen.135

Diese kontroverse Interpretationslage, die Büchner entweder als revolutionären Sozialisten oder als pessimistischen Metaphysiker – in beiden Fällen jedoch als Gegenstand einer Heldengeschichte, sei sie sozialistisch, sei sie nietzscheanisch – kultiviert, wird bei allen internen und externen Modifikationen die Forschungslandschaft bis in der 1990er Jahre bestimmen. Dabei gilt sowohl für die bis in die 1970er Jahre mit Interpreten wie Wolfgang Martens,136 Werner Lehmann137 und Wolfgang Wittkowski138 dominierende metaphysische bzw. religiöse Büchner-Deutung,139 die

 133 Zur Kontur der mayerschen Zielsetzung und ihrer induktiven Begründung vgl. Stiening 2008, S. 305–322. 134 Zur These von einem Sozialismus oder gar Frühkommunismus Büchners vgl. Sengle 1971– 1980, III, S. 290–297; Grab 1990, S. 67ff.; vor allem aber Mayer 1979a; noch Dedner 2012, Kurzke 2013, S. 104 (allerdings in der Variante »christlicher Sozialist«) sowie Hauschild 2013–15, S. 279; zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der letztlich unhaltbaren These vgl. meine Ausführungen in Kap. 4. 135 Viëtor 1949, S. 100; vgl. auch ebd., S. 172. 136 Vgl. Martens 31973, S. 406–443. 137 Vgl. Lehmann 1963, S. 210ff. 138 Vgl. Wittkowski 1978, S. 98ff. sowie noch Wittkowski 2009, S. 159ff. 139 Vgl. Viëtor 1973 [EA 1934], S. 98–137; Requadt 1974, S. 124ff.; Wittkowski 1976, S. 359f., S. 388– 398 u. S. 412ff.; Schwann 1997, S. 322ff.; Wagner 2000, S. 204–219; Faber 2002, S. 444f.; Wittkowski 2009, S. 61–74 u. S. 213–232, sowie Kurzke 2013.

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seit einigen Jahren mit Arnd Beise und Hermann Kurzke140 eine Renaissance erlebt, als auch für die mit der Studentenbewegung heranwachsende, durch Autoren wie Alfons Glück, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer, Herbert Wender oder JanChristoph Hauschild repräsentierte, ›revolutionäre‹ Büchner-Forschung, die sich ab den 1980er Jahren auch institutionell etablierte,141 dass beide Fraktionen den Wissenschaftler Büchner mehr am Rande bearbeiteten.142 Schon Karl Viëtor und Hans Mayer hatten ihre Kapitel zu Büchners Naturforschung weitgehend ohne eigene Recherchen aus den Ergebnissen der Studie von Jean Strohl gezogen, der im Jahre 1936 einen Vergleich zwischen Lorenz Okens und Georg Büchners Naturwissenschaft vorgelegt hatte.143 Aufgrund der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gängigen Verachtung der Naturphilosophie und der daraus resultierenden weitgehenden Unkenntnis des gesamten Forschungsfeldes fielen die Hinweise Strohls eher schematisch aus.144 Auch die umfangreichen Skripte Büchners zur Philosophie Descartes’ und Spinozas, die er als Vorbereitung einer philosophiehistorischen Vorlesung anfertigte,145 dienten seit Viëtor und Hans Mayer bis in die 1990er Jahre zumeist als Steinbruch zur Verifikation von Thesen zu Büchners kulturpolitischer Position,146 die an anderen Texten gewonnen worden waren.147 An dieser Forschungslage vermochte weder die Werk-Ausgabe Werner Lehmanns von 1967 noch vereinzelte Studien, die Büchners Naturforschung bearbeiteten,148 substanzielle Änderung zu bewirken. Die philosophischen Vorlesungsskripte und Exzerpte, die in Lehmanns Ausgabe erstmals vollständig ediert wurden und immerhin fast 270 Druckseiten umfassten, erfuhren dagegen als methodisch und systematisch eigenständige Arbeiten des Autors bis in die 1990er Jahre keine umfassende, disziplinär gebundene, d. h. philosophiehistoriographische Untersuchung. Bis auf die nachfolgende Untersuchung gibt es bislang überhaupt nur vier Studien,

 140 Vgl. Beise 2005–08; Kurzke 2013. 141 Vgl. hierzu die im Literaturverzeichnis angegebenen zahlreichen Publikationen der genannten Autoren sowie Schmitz 2000, S. 219–267. 142 Zu den wenigen Arbeiten zu Büchners Naturphilosophie und Philosophiegeschichte vgl. die Überblicke bei Stiening 1999, S. 100ff.; Roth 2004, S. 3–16; Stiening 2000–04, S. 207–239, Borgards 2009, S. 123–129, Röcken 2009, S. 130–137 sowie Elm 2015. 143 Vgl. Strohl 1936. 144 In diesem Zusammenhang fallen Viëtors Ausführungen (Viëtor 1949, S. 213–249) – trotz erheblicher Mängel – zutreffender aus als die Mayers, weil er wenigstens in Grundzügen um die Prämissen und die Ziele der Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts weiß. 145 Abgedruckt erstmalig in HA II, S. 137–290. 146 Vgl. hierzu paradigmatisch Dedner 1987, S. 200ff. 147 Auch wenn Hans Mayer erkannte, dass es in diesen Texten um die Darstellung philosophiehistorischer Zusammenhänge ging, sind seine Überlegungen zur systematischen Perspektive Büchners auf die Philosophien der beiden rationalistischen Systematiker zutreffender als viele der späteren Thesen (vgl. Hans Mayer 1972, S. 348–365). 148 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Döhner 1967; Döhner 1982 und Oehler-Klein 1985.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft die sich dieser philosophiegeschichtlichen Texte unter wissenschaftshistorischen und philosophischen Gesichtspunkten widmen – allerdings zumeist auf der Grundlage einer selektiven Textauswahl.149 Es ist der Vorteil der wissensgeschichtlichen Methodik, dass sie erlaubt und gebietet, diese Texte erstmalig einer vollständigen Interpretation, die nicht ohne eine umfangreiche Kontextualisierung auskommt, zu unterziehen. Eine von der Frage nach ihrer Bedeutung für Büchners Literatur zunächst entlastete Interpretation seiner philosophiehistorischen Texte ermöglicht es, sie aus dem jahrzehntelangen Schattendasein zu entlassen, das sie in der polithistorisch oder weltanschaulich dominierten Büchner-Forschung ebenso führten wie in der Forschung zur Geschichte der Philosophiegeschichte im frühen 19. Jahrhundert. Erst auf der Grundlage dieser Rekonstruktion ihrer Gehalte wird die Frage nach deren Stellung in Büchners Literatur begründet zu beantworten sein. Ein gewichtiger Grund für die ephemere Beschäftigung mit Büchners umfangreichen, systematisch und methodisch unterschiedlichen, wissenschaftlichen Texten liegt – neben dem Jahrzehnte währenden Primat der polithistoriographischen bzw. weltanschaulichen Perspektive auf den Autor und seine politischen und literarischen Texte150 – ohne Zweifel in der disziplinären ›Eigentümlichkeit‹ seiner Wissenschaften. Büchner beendete nämlich nicht nur ein naturgeschichtliches Studium mit einer Promotion über das evolutionstheoretische Problem der Stellung des Nervensystems einer Wirbeltierart, der Barbe, innerhalb der Naturstufenleiter. Er ordnete darüber hinaus seine analytisch-darstellenden Auseinandersetzungen mit Descartes und Spinoza auf einen philosophiehistorischen Überblick hin, der die Bewegungsgesetze des philosophischen Denkens seit der Frühen Neuzeit rekonstruieren sollte und auf den Zielpunkt der »philosophischen Systeme der Deutschen« ausgerichtet war.151 Auch wenn er – wie zu zeigen sein wird – diese denkgeschichtliche Perspektive erst erlernen musste, weil ihm die systematischen Auseinandersetzungen mit Descartes’ Naturphilosophie und mit Spinozas Gottesbeweisen großes  149 Vgl. hierzu Vollhardt 1991; Stiening 2000–04; Röcken 2009 sowie Stiening 2012a; die Arbeiten von Glebke 1995, Osawa 1999 und der Kommentar von MBA IX sind weder methodisch noch systematisch auf dem Stand der seit Schneiders Braun-Übersetzung (vgl. Braun 1990) möglichen Forschung zur Geschichte der Philosophiegeschichte. 150 Vgl. hierzu auch die Ausführungen des Wissenschaftshistorikers Manfred Wenzel, der darauf verwies, dass »die Gefahr, den Fokus allein auf den politischen Büchner zu richten«, darin besteht und – so sei ergänzt – stets darin bestand, zu verkennen, »dass Büchner […] vermutlich langfristig ohne den frühen Tod in Zürich als Naturforscher hervorgetreten wäre« (Wenzel 2007, S. 170). Bei aller Spekulation bleibt doch der Hinweis Wenzels zutreffend, dass die alleinige Fokussierung auf den ›Politiker‹ Büchner dessen wissenschaftliches Wissen, damit aber auch das Besondere seiner Literatur verkennen lässt. 151 Vgl. hierzu Büchners eigene Mitteilung an den Bruder vom 2. September 1836: »Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um […] Vorlesungen […] über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza zu halten« (P II, S. 44811–17 / MBA X.1, S. 10212–17).

Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  

Interesse bereitete; der Privatdozent der philosophischen Fakultät in Zürich müht sich um eine zeitgenössisch wirksame historische Perspektive auf die Philosophie.152 Büchner versuchte mithin, sich in zwei Fächern zum Wissenschaftler auszubilden,153 die im frühen 19. Jahrhundert als akademische Disziplinen ebenso neu wie aufstrebend waren: Vergleichende Anatomie und Philosophiegeschichtsschreibung.154 Deren umfangreiche und hochdifferenzierte Wissensbestände, die sich zwischen 1800 und 1850 entwickelt hatten,155 waren jedoch im 20. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen soweit verschüttet, dass eine angemessene Situierung der Stellung Büchners in diesen Wissenschaftslandschaften und damit eine Analyse der Gehalte seiner Text erheblich erschwert wurde. Hinzu kam, dass seit den vernichtenden Urteilen Liebigs, Du Bois-Reymonds oder Schleidens über die Naturphilosophie, die sie als »Pestilenz des Jahrhunderts«,156 als »Syndrom«157 oder als »Geisteskrankheit«158 gebrandmarkt hatten, dieses Paradigma der Naturforschung einen irreversiblen Ruf als unwissenschaftliche Ideologie genoss. Die literarhistorische Forschung wollte Büchner mit dieser Form der Naturwissenschaft, der er – wie noch Strohl und Viëtor wussten – verpflichtet war, offensichtlich nicht belasten, oder sie war ihnen unbekannt.159 Selbst die einzige wissenschaftsgeschichtliche Arbeit über Büchners Naturforschung, die im 20. Jahrhundert nach Strohl verfasst wurde, Otto Döhners Dissertation von 1967, bemüht sich nach Kräften, die unübersehbaren Verbindungen zur zeitgenössischen Naturphilosophie durch den Nachweis eines auch

 152 Anders dazu MBA IX.2, S. 169ff., die Büchner zum systematischen Fachphilosophen macht; zu einer Kritik hieran vgl. Stiening 2013b. 153 Zu Recht spricht Hauschild 1993, S. 526 von einer »Doppelqualifikation«; wiederholt in Hauschild 2013, S. 223. 154 Vgl. hierzu schon Stiening 1999. 155 Zur Geschichte der vergleichenden Anatomie im frühen 19. Jahrhundert vgl. Lubosch 1931, S. 3–76 und Rothschuh 1968, S. 178ff.; zur Geschichte der Philosophiegeschichte desselben Zeitraums vgl. Braun 1990, S. 254–355 sowie Schneider 1999. 156 Liebig 1840, S. 24. 157 Schleiden 1844, S. 18. 158 Du Bois-Reymond 1974, S. 212. 159 Vgl. u.a. die Versuche Hauschilds (1993, S. 521ff.), Büchner zum Empiristen zu erklären, weil der deskriptive Teil der Dissertation den philosophischen im Umfang überrage. Auch von MüllerSievers (2003, S. 175) ist das »Gewicht der empirischen Arbeit zu schwer, als dass er zur Naturphilosophie gerechnet werden dürfte«. Noch die MBA (VIII, S. 243ff. u. IX.2, S. 255 – hier mit Hauschild und Müller-Sievers einig) hat nicht die Kraft, Büchner als Naturphilosophen zu interpretieren, weil damit das jahrelang kultivierte Dogma des büchnerschen Materialismus zerbrochen wäre, zudem der Wissensbestand Büchners im wissenschaftlichen Feld ausschließlich historischer Natur wäre, was offenbar dem sorgsam gehegten Heldenbild nicht entspricht. Zum Nachweis Büchners als eines zeitgenössischen Naturphilosophen vgl. Stiening 1999 sowie ausführlich Roth 2004. Aufgenommen wurden deren Ergebnisse erstmalig von Beise 2010, S. 92ff. sowie – wenngleich ohne Verständnis der zeitgenössischen Wissenschaftslandschaft – Kurzke 2013, S. 350–358.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft naturwissenschaftlich fundierten Materialismus Büchners zu marginalisieren;160 dass bei diesem ausschließlich weltanschaulich motivierten Unterfangen erhebliche Ungereimtheiten zu verzeichnen waren, entging der Forschung lange Zeit.161 Auch Büchners naturwissenschaftliches Wissen kann und muss – allerdings vor dem Hintergrund eines erheblich verbesserten Forschungsstandes zur Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts – einer eigenständigen wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Untersuchung unterzogen werden. Es wird sich zeigen, dass deren Interpretation selbst gegenüber den neueren Ergebnissen der Forschung162 Innovationen zu bieten versucht, um erst auf der Grundlage dieser Bearbeitung für die Rekonstruktion seiner spezifischen Poetisierung dienlich sein zu können. Die Forschungen der 1970er und 1980er Jahre, die in den Studien Thomas Michael Mayers und Jan-Christoph Hauschilds ihr ebenso wissenschaftstheoretisches wie -politisches Fundament sowie ihren rhetorisch charakteristischen Ausdruck erhielten,163 drängten die Auseinandersetzungen mit dem Wissenschaftler Büchner nahezu gänzlich an den Rand. »Revolutionär – Dichter – Wissenschaftler«, mit dem hierarchisierenden Titel des Katalogs zur Darmstädter Ausstellung anlässlich des 150. Todestages wurden die Wertung und Wertschätzung der Reflexions- und Handlungsfelder Büchners deutlich markiert.164 Auch mit Mayers Dissertation, der Gründung des Büchner-Jahrbuchs sowie der Planung und Durchführung der zwischen 2000 und 2013 erschienenen historisch-kritischen Ausgabe, die sowohl die Leistungen Lehmanns als auch die parallel entstehende Werk-Ausgabe Henri Poschmanns165 philologisch und historisch zu überbieten beanspruchte, fand das Programm des Nachweises eines zunächst und zumeist politischen, sozialrevolutionären Büchner seine wissenschaftsinternen und institutionellen Ausprägungen.166 Dabei ging es den Vertretern des Paradigmas nicht allein um den Nachweis eines Primats der Politik für Büchners gesamte Textproduktion; gegenüber dem – wie es hieß – »oberflächlich« recherchierten Buch von Hans Mayer167 sollte  160 Vgl. Döhner 1967, S. 11–20; selbst für Döhner, der sich mit Büchners Naturauffassung ausschließlich beschäftigte, ist die »unheimliche Einheit« seiner Arbeiten nur vom »Politischen« aus zu erfassen. Bei Holmes (1990, S. 62) führt dieser Zwang zur politischen Vereinheitlichung des Werkes dann zu folgendem Urteil: »Mir will scheinen, daß Büchner auch als Naturforscher Kommunist war.« Zur Kritik an dieser ›Politisierung‹ noch der anatomischen Naturforschung vgl. Stiening 1999, S. 98f.; Roth 2002, S. 65; Stiening 2006a, S. 113f.; Roth 2016 sowie meine Ausführungen in Kap. 3. 161 Zur lange fälligen Kritik an Döhners überholter Arbeit vgl. Stiening 1999; Stiening u. Roth 2000 sowie Roth 2004; eine Rehabilitierung erfährt Döhner bei Borgards 2009, S. 129. 162 Vgl. hierzu die Arbeiten von Roth 2004, Borgards 2009 und Elm 2015. 163 Vgl. insbesondere Mayer 1979a; alle weiteren von Mayer vorgelegten Studien basieren auf der hier entwickelten Systematik. 164 Vgl. Georg Büchner 1987. 165 Vgl. P I u. P II. 166 Vgl. hierzu Mayer 1981b, S. 9 sowie die so genannte Marburger Denkschrift 1984, S. 3–13. 167 So Mayer 1979a, S. 40.

Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  

der Nachweis einer bestimmten, nämlich »frühkommunistischen« Position erbracht werden, der alle weiteren Bereiche des büchnerschen Denkens und Handelns untergeordnet wurden und die daher auch von der Forschung in diesem Ableitungsverhältnis zu erfassen sei: Büchner versuchte politisch wie philosophisch nichts weniger, als die bislang unüberbrückbare Kluft zwischen dem anthropologischen Materialismus und der sozialen Revolution in einer theoretischen und praktischen Synthese zu schließen; der Text seines Revolutionsdramas zeigt, wie weit er dabei im Winter 1834/35 entlang der gleichsam für ihn selbst hermeneutischen Fragestellung nach dem Verhalten der ›radikalen‹ und der ›sensualistischen‹ Partei am Scheitelpunkt der für das gesamte 19. Jahrhundert paradigmatischen bürgerlichen Revolution fortgeschritten war.168

Es wird sich zeigen, dass wenige der einzelnen Momenten dieser These und keineswegs ihre Gesamtheit zu verifizieren ist. Weil aber nach Mayers Ansicht der als frühkommunistisch interpretierte »Neobabouvismus«, dem auch Büchner zuzuordnen sei,169 eine materialistische Philosophie vertreten habe, wurde der Straßburger und Gießener Student der Medizin forthin als ontologischer und epistemologischer Materialist sowie als ethischer Naturalist gehandelt.170 Zum Nachweis dieser These zog Mayer seit den 1970er Jahren ein von ihm zusammengestelltes Dokumentenkonvolut heran, das die Prozessakten und Verhörprotokolle der Mitverschwörer Büchners enthalte. Es sind mithin historische Sekundärdokumente, nicht etwa Interpretationen der Werke Büchners, die ihn zum ›Neobabouvisten‹ machten. Die seit Jahrzehnten zurückgehaltene Publikation dieser Materialien hat der Begeisterung weiter Teile der Forschung für Mayers Thesen keinen Abbruch leisten können.171 Dass es den Akteuren dieses Forschungszieles bei ihren historisch wie philologisch detaillierten Nachweisen vor allem um die Formierung einer linken Heldengeschichte im Dienste einer Revolution und weniger um eine historisch, methodisch und systematisch angemessene, wissenschaftliche Erfassung der Gehalte der Texte

 168 Ebd., S. 134. 169 Ebd., S. 5f., S. 25f. u. S. 31–66; Mayers These von Büchners Neobabouvismus gilt seither als eines der Dogmata der Forschung; weitgehend ungeprüft wiederholt wurde es u. a. von Hermand 1983, S. 115; Grab 1985, S. 73f.; Mayer 1987, S. 173f.; Hauschild 1993, S. 153–162; P II, S. 832ff.; Knapp 3 2000, S. 67f.; MBA V, S. 404; Hauschild 22004, S. 43f.; Hofmann 2009, S. 10f.; Neuhuber 2009, S. 14f.; Morawe 2012, S. 29ff.; Hofmann u. Kannig 2013, S. 36f.; Hauschild 2013–15, S. 279f.; kritisch dazu Kurzke 2013, S. 100, der Büchner allerdings zu einem christlichen Sozialisten macht; differenzierter dagegen Fortmann 2013, S. 13ff. und S. 72ff.; in den Monographien von Martin 2007 und Beise 2010 fehlt – allerdings ohne jede Begründung – ein Bezug auf Mayers prägende Behauptungen; zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dieser These vgl. meine Ausführungen in Kap. 4. 170 Vgl. Mayer 1979a, S. 73ff. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der These von einem Materialismus Büchners vgl. meine Ausführungen in Kap. 2 und 4. 171 Vgl. u. a. noch Hermand 2000.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Büchners zu tun war,172 dass hier also weder Literaturwissenschaft noch Literaturgeschichtsschreibung, sondern – wie in der Hölderlin-Forschung173 – Editionsphilologie als ›Arbeit an der Revolution‹ betrieben wurde, zeigte sich an den in den 1990er Jahren auftretenden Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren, die jedwede wissenschaftliche Dignität vermissen ließen.174 Der auch von der polithistorischen Büchner-Forschung beanspruchte Nachweis einer Einheit des büchnerschen Werkes175 verlor sich jedoch in philologischer ›Dekonstruktionsarbeit‹. Die aufgrund der desolaten Text- und Quellenlage hochspekulativen Versuche einer Festlegung der Textanteile Büchners und Weidigs am Hessischen Landboten,176 der Identifizierung von Bearbeitungsstufen des Lenz177 und im Hinblick auf die philosophischen Skripte zu Spinoza dissoziierte unter der Maxime biographisch-politischer Identität oder philologischer Textgenese die Texte des Autors. Auch die Auflösung hermeneutischer Einheiten in Quellenensembles erschwerte die Rückkehr zu Fragen des systematischen Verhältnisses von wissenschaftlicher, politischer und literarischer Reflexion wie erst recht die nach der Einheit des Werkes. Nicht zufällig wurden und werden die historisch-philologischen Ergebnisse der Marburger Büchner-Ausgabe vom Poststrukturalismus produktiv rezipiert.178 Auch wenn das polithistorische Paradigma seit der Jahrtausendwende aufgebraucht scheint,179 die Historisch-kritische Ausgabe erschien zwischen 2000 und 2013 nach den philologischen und hermeneutischen Prinzipien der 1980er Jahre.180 In deren Zentrum steht neben den weitgehend von der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe übernommenen editionsphilologischen Textpräsentationsprinzipien die Aufgabe, in möglichst umfassendem Maße Quellen der Texte Büchners aufzufinden, weil dieser

 172 Vgl. hierzu das Bekenntnis bei Hauschild 1993, S. XII; die theonome Variante dieser Heldengeschichte schrieb dann Kurzke mit seiner Vorstellung vom ›Genie Büchner‹. 173 Vgl. hierzu Stiening 2007. 174 Als paradigmatisch für diese bis ins Feuilleton vordringende Auseinandersetzung zwischen Mayer und Hauschild, Mayer, Dedner und Poschmann, Mayer, Dedner und Wender und letztlich Mayer und Dedner erweist sich die von wissenschaftlicher Argumentation nur selten gestreifte 150seitige Rezension der Büchner-Biographie Hauschilds durch Mayer 1995–99c; das gilt auch für die Kontroverse zwischen Morawe 2014b und Dedner 2015. 175 Siehe hierzu auch Bittner 2010, S. 8f. 176 Vgl. Mayer 1979a, S. 183–287 sowie – mit einem neuen Vorschlag – Dedner 2009–12. 177 Dedner 1990–94. 178 Vgl. Guntersmann 2000; Müller-Nielaba 2001; Müller-Sievers 2003; Schneider 2006, S. 136ff.; insbesondere aber den Band von Borgards u. Neumeyer (Hg.) 2009; Meyzaud 2012 sowie das Gros der Beiträge in GBJb 12 und 13. 179 Vgl. hierzu schon Stiening u. Roth 2000, S. 192–215. 180 Erste, behutsame Lösungen vom polithistorischen Paradigma weisen die Bände VIII und IX der MBA auf, so heißt es in MBA IX, S. 298: »Philosophie […] betrieb Büchner weder als Politiker noch als Dichter, sondern vor allem in seiner Spezialisierung als Naturwissenschaftler.«

Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  

nachweislich einen Großteil seiner literarischen Arbeiten durch zitierende Übernahmen aus anderen Texten bewerkstelligt habe. Im Hintergrund dieser Maxime steht eine eigenwillige Interpretation einiger poetologischer Reflexionen Büchners, nach der der Dichter Vergangenheit möglichst authentisch, d. h. wirklichkeitsnah und damit besser als die Geschichtsschreibung zu reproduzieren habe.181 Um diese prätendierte Nähe zur Vergangenheit zu erzielen, die in Dantonʼs Tod auf eine Reflexion auf die politischen Potentiale der Revolution und damit auf politischpraktische Fragen abziele,182 habe Büchner möglichst umfänglich aus historischen Quellen zitiert.183 Schon die diesem Programm zugrundeliegende Interpretation der skizzenhaften Poetik Büchners lässt sich jedoch bestreiten und vielmehr mit der von Victor Hugo in der Vorrede zum Cromwell oder auch der in Balzacs Avant-propos entwickelten Poetik kontextuell vermitteln,184 die von einer strikt politischen Reflexion auf die zeitgenössischen Möglichkeiten einer Revolution substanziell unterschieden sind.185 Dieser sich als Methodik ausgebende, in Wahrheit hermeneutisch begründete Positivismus führte allerdings seit den 1980er Jahren – verstärkt seit dem Erscheinen der MBA-Bände seit 2000 – zu einem verselbständigten, gegenüber Textsorten und Reflexionsformen indifferenten »Quellenfetischismus«,186 dessen systematische, methodische und historische Verengung früh schon auf den kritischen Begriff gebracht wurde. Mit scheinbarem Blick auf eine Studie Paul Requadts,187 der in Wirklichkeit die Prinzipien der MBA und der sie umgebenden Forschung in den Georg Büchner-Jahrbüchern trifft, hält Rosemarie Zeller schon 1990 fest: Dazu eine methodische Bemerkung: so nützlich der Nachweis einzelner übereinstimmender Stellen ist, so hängt das Verfahren doch mehr oder weniger vom Finderglück des Literaturwissenschaftlers ab und läuft letztlich auf positivistische Einflußphilologie hinaus, wobei man zudem nie sicher sein kann, ob die Übereinstimmung nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen ist. Rekonstruiert man dagegen, wie ich postuliere, den literarischen Kontext und das literarische Bewußtsein des Publikums, vermeidet man diese methodologischen Probleme: Es kommt nicht darauf an, ob Büchner diese oder jene Äußerung von Hugo oder von anderen Romantikern gekannt hat, sondern darauf, ob er die literarische Diskussion und die Dramen

 181 Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835, P II, S. 4106ff.. 182 So Mayer 1979a, S. 108ff.; aber auch Voges 1990, S. 9ff. oder noch Knapp 32000, S. 99, S. 106 u. S. 108; zur Kritik an dieser einseitig polittheoretischen Interpretation des Dramas schon Ruckhäberle 1981 sowie Ulrike Dedner 2003. 183 Vgl. hierzu die als Programmschrift zu wertende, allerdings nur halböffentliche Marburger Denkschrift 1984. 184 Vgl. hierzu Kablitz 2003, S. 91–122. 185 Vgl. hierzu schon Landau 31973a, S. 29; Wender 1988, S. 149ff. oder Knapp 32000, S. 103 sowie die exzellenten, in der Forschung allerdings weitgehend ohne Resonanz gebliebenen Studien von Zeller 1986/87 und Zeller 1990. 186 So zu Recht Berns 1987, S. 260f. 187 Vgl. Requadt 1974.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft jener Jahre gekannt hat, wobei er sie nicht einmal selbst gelesen haben muß, denn die Konkretisation, welche die Dramen durch die Kritiker erfahren haben, ist für das literarische Bewußtsein genauso wichtig.188

Am Zutreffenden wie Unabgegoltenen dieser Einwände und Hinweise hat sich seither nichts verändert. Friedrich Vollhardt hat die sich hier andeutende Kontexttheorie in Bezug auf eine Erforschung auch der wissenschaftlichen Texte Büchners und ihre Vermittlung mit seiner Literatur kritischer noch gegen den terminologischen Positivismus der Marburger Büchner-Forschung gewandt, wenn er schreibt: Denn die Semantik der philosophischen Anspielungen in Büchners literarischem Werk entschlüsseln sich nicht schon durch den Aufweis möglicher oder nur zufälliger sprachlicher Korrespondenzen, sondern erst mit der sorgfältigen Kommentierung solcher Stellen, die […] e i n e m Kontext angehören.189

Diese Auforderungen zu einer die positivistische Quellenorientierung nicht ersetzenden, wohl aber erweiternden Kontextforschung verhallten bis zum Abschluss der MBA im Jahre 2013 nahezu ohne Resonanz. Die nachfolgende Studie sieht sich jedoch als Versuch der Umsetzung ebendieser methodischen Postulate in wissensgeschichtlicher Hinsicht. Die Agonie der politischen Büchner-Forschung seit Mitte der 1990er Jahre, die nicht durch konkurrierende Perspektiven, sondern von innen verursacht wurde, hinterließ ein Vakuum, das nicht sofort gefüllt werden konnte. Anknüpfend an eine schon in den 1980er Jahren blühende kulturkritische Deutung190 entwickelte sich auf der Grundlage der kulturwissenschaftlichen Wende eine zunehmend Leitfunktion für die Entfaltung eines neuen Büchner-Bildes beanspruchende diskursanalytische Forschung.191 Deren von Foucault angeregte spezifische Form von Ideengeschichte192 erlaubte es nicht nur, sondern gebot geradezu, Büchners naturwissenschaftliche Texte mit seinen literarischen unmittelbar zu korrelieren. Es wird sich in der Folge allerdings zeigen, dass das Desinteresse dieses Paradigmas an einer methodisch und systematisch fachgerechten wissenschaftsgeschichtlichen Analyse und Interpretation der vergleichend-anatomischen Texte Büchners, die erst in einem zweiten, die substanzielle Differenz zwischen wissenschaftlicher und poetischer Reflexion berücksichtigenden Schritt eine Korrelation mit dessen Dichtung  188 Zeller 1990, S. 161f. 189 Vollhardt 1988/89, S. 67. 190 Vgl. hierzu beispielsweise schon Kittsteiner u. Lethen 1983 oder Oesterle 1983. 191 Vgl. hierzu u. a. Ludwig 1998; Guntermann 2000; Müller-Niebala 2001; Kimmich 2002, S. 135– 170; Müller-Sievers 2003; Pethes 2006; Pethes 2006a; Borgards 2007, Fortmann 2007; Ruf 2008; Borgards u. Neumeyer (Hg.) 2009; Beise 2010; Meyzaud 2012; Fortmann 2013; Morawe 2014b und Wübben 2016. 192 Zu Foucaults Verständnis von Ideengeschichte und dessen prägender Bedeutung für die Kulturwissenschaften vgl. Stiening 2009.

Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  

unternehmen kann, zu sachlichen Fehlurteilen über Gehalt und Funktion allein der Wissenschaften Büchners führte.193 Die normative Fundierung dieser Perspektive im Sinne einer allgemeinen Rationalitäts- und Modernitätskritik194 setzt allerdings in formaler Hinsicht die politfunktionalen Tendenzen der 1970er und 1980er Jahre fort, so dass sich deren Vertreter – bei allen Modifikationen – zu Recht als deren legitime Nachfolger begreifen.195 Die gleichzeitig, weder von der allgemeinen Kulturwissenschaft noch von der besonderen Büchner-Forschung wahrgenommene ertragreiche Entwicklung der Erforschung der Naturphilosophie und -wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts196 sowie die Forschung zur Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung des nämlichen Zeitraums197 ermöglichte es allerdings, erste Schritte auf dem Weg einer streng wissenschaftsgeschichtlichen Bearbeitung der umfangreichen wissenschaftlichen Texte Büchners zu gehen.198 Auch wenn die Kommentare der Werk-Ausgaben Poschmanns und der MBA die Anregungen der Wissenschaftsforschung nicht aufnahmen,199 wird die nachfolgende Studie die Ergebnisse dieser Wissenschaftsgeschichte zu berücksichtigen haben und daher sowohl im Hinblick auf Büchners philosophiegeschichtliches, naturphilosophisches und politisches Wissen als auch – auf dieser Grundlage – im Hinblick auf seine Literatur Neuland zu betreten versuchen. Gegen die Tradition der philologischen ›Dekonstruktion‹ der Texte im Zeichen der Revolution sowie gegen den aktuelleren Trend zur Amalgamierung philosophischer, naturwissenschaftlicher und literarischer Reflexion in Zeichen des Diskurses wird zu zeigen sein, dass die von Karl Viëtor und Hans Mayer zu Recht gestellte Frage nach der Einheit des büchnerschen Werkes nur zu beantworten ist unter Berücksichtigung der vom Autor selbst hergestellten systematischen Differenz innerhalb seiner Wissensfelder einerseits und dieses in sich differenzierten Wissens zu seinen literarischen Reflexionen andererseits. Die Einheit von Büchners Werk ist nicht als analytische zu rekonstruieren – weder im Ausgang von der Politik, noch im Ausgang von der Philosophie oder Naturwissenschaft –, sondern nur als Synthesis.

 193 Zum Nachweis sachlicher Fehler dieser Sicht auf Büchners Neuroanatomie vgl. u.a. Roth 2004. 194 Vgl. hierzu Stiening 2007a, S. 247f. 195 Vgl. hierzu den affirmativen Bezug von Borgards 2007 auf Günter Oesterle und von Pethes 2004 auf Günter Oesterle und Alfons Glück; nicht zufällig ging die Leitung der Büchner-Forschungsstelle im Jahre 2018 an Roland Borgards, einen der profiliertesten deutschsprachigen Poststrukturalisten. 196 Vgl. hierzu insbesondere die im Literaturverzeichnis angegebenen zahlreichen Arbeiten von Dietrich von Engelhardt, Walther Zimmerli, Olaf Breidbach, Thomas Bach, Kai Torsten Kanz, Stefan Höppner oder Paul Ziche. 197 Vgl. hierzu u. a. Braun 1990, Schröpfer 1994, Schneider 1999, Sicco-Bruns 2004 oder auch Michalski 2010. 198 Vgl. die bahnbrechende Arbeit von Roth 2004. 199 Vgl. hierzu die Kritik in Stiening 2013b.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Aus diesem Grunde steht Büchner den Superioritätsgesten, die die Literatur zwischen Balzac und Melville mit großem ästhetischen Gewinn kultivierte, und dem Anspruch auf Deutungskonkurrenz gegenüber den Wissenschaften ebenso distanziert gegenüber wie u. a. Grabbe und späterhin Flaubert. Sein Modell des Verhältnisses von Wissen und Literatur erweist sich – so werden die folgenden Seiten zu zeigen haben – als das einer Arbeitsteilung.200

. Aufbau der Arbeit Dem vorgestellten Modell wissensgeschichtlicher Kontextualisierung entsprechend werden in der nachfolgenden Studie zunächst die Bereiche des wissenschaftlichen Wissens Georg Büchners vorgestellt, und zwar in ihrer jeweiligen Systematik sowie in ihrer Verknüpfung zu anderen Wissensbereichen. Diese Rekonstruktionsarbeit muss unabhängig von den literarischen Texten des Naturforschers und Philosophiehistorikers erfolgen.201 Zu diesem Zweck wurde die Darstellungsreihenfolge der Wissensfelder Büchners ausdrücklich nicht nach einem genetischen, sondern nach einem systematischen Kriterium angelegt: Nach der Betrachtung der philosophischen und philosophiehistorischen Kompetenzen, die sachlich von ontologischen über epistemologische, geschichtsphilosophische, ethische bis hin zu ästhetischen Themen reichen, kommt Büchners naturphilosophisches und -wissenschaftliches Wissen in den Blick. Auch weil die Rekonstruktion beider wissenschaftlicher Reflexions- und Tätigkeitsfelder an ihnen selbst entwicklungsgeschichtlich und systematisch ausgerichtet ist, wird ersichtlich, dass Büchners Interesse an der zwischen empirischer und rationaler Epistemologie und Methodologie vermittelnden Naturforschung größer war als an der als Fundierungstheorie gleichwohl intensiv betriebenen Philosophie. Erst nach diesen Betrachtungen der Metaphysik, Erkenntnistheorie, Naturphilosophie und Ästhetik, mithin der Felder der theoretischen Vernunft, erfolgt die analytische Darstellung von Büchners Überzeugungen im Bereich der praktischen Vernunft, d. h. seines politischen Wissens. Dabei erweist sich dieses Kapitel, in dessen Zentrum eine wissensgeschichtliche Interpretation des Hessischen Landboten steht, in seiner vermittelnden Stellung zwischen Wissenschaft und Literatur als fruchtbar, weil sich Büchners ›Politik‹ nicht allein als szientifisches Wissen, sondern auch als Erfahrungswissen ausweisen lässt.202 Es muss in diesem Wissensfeld eine Unterscheidung und Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft sowie zwischen dem Wissens der praktischen Vernunft und seiner Pragmatik in der empi 200 So schon die allerdings weder ausgeführten noch aufgenommenen Hinweise von Ingrid Oesterle 1995, S. 65. 201 Vgl. hierzu Stiening 2006 sowie Breidbach 2006, S. 312ff. 202 Zu diesen Distinktion vgl. schon Stiening 2012 und Stiening 2016.

Aufbau der Arbeit  

rischen Wirklichkeit beachtet werden, die in der Spannung zwischen ihrer unverfügbaren Kontingenz und einer prätendierten Ordnung durch das denkende und handelnde Subjekt auch in Büchners Literatur Gestalt findet. Nirgends deutlicher als in diesem Kapitel zu Büchners politischer Theorie und zum Hessischen Landboten wird sich zudem die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit zu einer methodisch geregelten Ergänzung der Wissens- durch eine Sozialgeschichte der Literatur ausweisen lassen. Im Anschluss und auf der Grundlage einer möglichst umfassenden Rekonstruktion und Kontextualisierung von Büchners vielfältigem Wissen werden seine literarischen Texte, deren kulturgeschichtlich weitaus bedeutendere Stellung unbestritten ist, betrachtet werden. In diesem zweiten, literaturwissenschaftlichen Teil der Untersuchung kann und muss die Anordnung der Interpretation der vier poetischen Werke und Fragmente zeitlich erfolgen, weil Büchner in seiner Literatur jeweils Momente aller seiner Wissensfelder gestaltete, wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die der Genese seiner wissenschaftlichen und politischen Entwicklung korrespondieren. So wird sich das in Dantonʼs Tod gestaltete Verhältnis zwischen herrschafts- und kulturpolitischen Fragen, d. h. die Bedeutung der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen Danton und Robespierre im Hinblick auf deren moraltheoretische Fundierung sowie deren Verhältnis zur omnipräsenten Sprache der Erotik,203 auf der Grundlage der in Kapitel 4 geleisteten Distinktion im politischen Wissen deutlicher aufzeigen lassen. Erst vor diesem Hintergrund kann in die Debatte um die Stellung des Dramas zu Büchners politischen Reflexionen auf die Möglichkeiten und Ziele einer politischen Revolution in den 1830er Jahren eingegriffen werden; vor allem aber werden die schon für Paul Landau enigmatischen Diskussionen zu philosophischen Fragen,204 wie dem Atheismus und der Unsterblichkeit der Seele, in das poetische Ganze des Dramas loziert werden können. Insbesondere das so genannte Philosophengespräch (III.1) kann aus seinem in der Forschung festgefügten Status als humoristische Reflexionseinlage befreit werden. Als besonders ertragreich wird sich die wissensgeschichtliche Perspektive der folgenden Untersuchung im Zusammenhang der Interpretation der Erzählung Lenz erweisen. Es wird sich nämlich zeigen, dass alle Versuche einer Politisierung der Erzählung im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit einer bürgerlichen oder religiösen Ideologie an der Zurückhaltung des Autors in Bezug auf ätiologische Spekulationen über die psychische Erkrankung abprallen. Vielmehr kann die konstitutive Stellung des Gesprächs zwischen Lenz und Oberlin über Magnetismus und Naturphilosophie sowie die daran anknüpfende Kontroverse mit Kaufmann über Fragen der Kunst für den Gehalt der gesamten Erzählung nachgewiesen werden. Die Nähe des lenzschen Wissens zu Büchners eigener Naturphilosophie und Epistemo 203 Vgl. hierzu u .a. Horten 1988, S. 290–306 sowie Martin 2007, S. 156ff. 204 Landau 31973 [EA 1909], S. 16.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft logie sowie deren wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten wird eine gegenüber der bisherigen Forschung grundlegend neue Interpretation der Erzählung ermöglichen. Auch zu einer Interpretation der Komödie Leonce und Lena kann eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung neue Erkenntnisse beitragen, und dies nicht allein durch eine genaue Kommentierung der zumeist sarkastischen Anspielungen auf allgemeine zeitgenössische Philosopheme, sondern auch im Hinblick auf besondere anthropologische Themenfelder, wie die Liebe oder die Langeweile, die Büchner poetisch gestaltet. Insbesondere eine Betrachtung der so genannten Schlussvision wird durch die wissensgeschichtliche Perspektive zu neuen Überlegungen führen.205 Letztlich werden die in der Forschung schon geleisteten wissenschaftsgeschichtlichen Interpretationszugänge zum Woyzeck systematisiert und in ihrer kategorialen Konstruktion begrenzt werden können.206 Die Thesen von einer grundlegenden Kritik aller (Natur-)Wissenschaft, die im Woyzeck als Repressionsinstrument einer bürgerlichen207 oder ratiozentrierten208 Ideologie gestaltet sei, wird einer differenzierten Perspektive auf Büchners Dramenfragment weichen, dessen Autor zwischen einer wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und einer ethischen oder soziopolitischen Perspektive auf deren Stellung innerhalb der Gesellschaft wohl unterscheiden konnte. Insgesamt wird die wissensgeschichtliche Kontextualisierung der literarischen Texte Georg Büchners neue Akzente zu setzen versuchen, ohne die bisherigen Erkenntnisse der Forschung zu ignorieren. Es wird sich zeigen, dass die gewählte Methodik die Vorstellungen über Form und Gehalte der Literatur Büchners in unterschiedlichem Maße verändern kann und eben dadurch einen Anschluss an die bisherige Forschung und ihre Geschichte leisten wird.

 205 Vgl. hierzu insbesondere Dedner 1990 sowie Beise 2002, Beise 2005–08 und Beise 2009. 206 Vgl. hierzu in anschlussfähigen Ansätzen bei Roth 1990–94 sowie Roth 1995–99. 207 Vgl. hierzu insbesondere die bahnbrechenden Arbeiten von Glück 1984, Glück 1984a, Glück 1985, Glück 1985a, Glück 1990a und Glück 1990b. 208 Vgl. Ludwig 1998 oder Pethes 2006.

2 Philosophie und Philosophiegeschichte Die Bedeutung der Philosophie sowie ihrer wissenschaftlichen und institutionellen Entwicklung während der 1830er Jahre1 für die intellektuelle Biographie Georg Büchners gehört zu den unübersichtlichsten Feldern der Forschung. Der geringe Bearbeitungsstand dieses Themas ist nur zu einem Teil darin begründet, dass Büchners umfangreiche Vorlesungsskripte zur Philosophie Descartes’ und Spinozas sowie seine Exzerpte zur griechischen Philosophie erst im Jahre 1971 vollständig von Werner R. Lehmann publiziert wurden,2 nachdem schon eine lange Rezeptions-, Analyse- und Interpretationstradition der Dichtungen ausgebildet worden war, an die vielfach noch in den 1970er und 1980er Jahren angeknüpft wurde, ohne die neue textliche Grundlage zu berücksichtigen. Auch die neueren und umfassenderen Editionen der Texte durch Henri Poschmann und die MBA hat an der Tatsache, dass Büchners philosophiehistorische Interpretationen nicht gelesen oder tatsächlich interpretiert werden, nichts geändert.3 Ein weit gewichtigerer Grund für die Unklarheit über bzw. die Unkenntnis4 von Gehalt, Kontext sowie wissenschafts- und literarhistorischer Bedeutung dieser Vor-

|| 1 Vgl. hierzu den Überblick bei Gedö 1995 sowie Schneider 1999, S. 151–246. 2 HA II, S. 137–409; zur vorhergehenden wechselvollen Editionsgeschichte dieser Texte vgl. Osawa 1999, S. 26f. oder auch MBA IX.2, S. 196–198. 3 Bodo Morawe hat die Ignoranz der Forschung gegenüber einer detaillierten Textanalyse und -interpretation der büchnerschen Vorlesungsskripten eindrucksvoll bestätigt. Im Furor eines Modernitätsnachweises der Philosophie Spinozas, deren Immanenzgedanke den Materialismus des 18. Jahrhunderts und via Hegel, Heine, Feuerbach, Nietzsche und Freud die Moderne konstituiert habe, wird eine genauere Lektüre und angemessene historiographische Kontextualisierung Büchners (und Spinozas) bewusst vermieden. Dass Büchner allerdings gegen Spinozas rationalen Gottesbegriff und deren Beweise argumentativ angeht, weil es ihm um eine Widerlegung der Geltungsmöglichkeit eines jeglichen Gottes- und Vollkommenheitsbegriffs zu tun ist, Büchner also insgesamt gegen Spinoza argumentiert, kann den normativ überlagerten Ausführungen Morawes gleichgültig sein; mit Büchners Texten und deren Kontexten haben seine weltanschaulichen Insinuationen, die sich ausdrücklich auf die Ideologeme des Poststrukturalismus berufen (vgl. Morawe 2014b, S. 518), wenig zu tun; vgl. Morawe 2005–08, S. 256ff.; Morawe 2012b, S. 12ff. oder auch Morawe 2013, S. 129– 180. Zu einer ausführlichen Kritik des analogen Heinebildes bei Morawe vgl. Deinet 2007, S. 64f. 4 Zu Recht spricht Henri Poschmann davon, dass die »philosophiegeschichtlichen Schriften […] der Leserschaft und ihr voran der Büchner-Forschung ein Buch mit sieben Siegeln geblieben« sind (P II, S. 925); vgl. auch Vietta 1992, S. 133: »Angesichts der Bedeutung dieses Philosophiestudiums für Büchner ist dessen Vernachlässigung in der Büchner-Forschung bemerkenswert.« Die einführungsartigen Ausführungen von Röcken 2009, Beise 2010, S. 79–89, dessen Darstellungsversuch aufgrund seiner Unkenntnis der Metaphysik des 17. Jahrhundert besonders fehlerhaft ausfällt, oder Hofmann u. Kanning 2013, S. 61–65 haben daran nichts geändert. Andere Einführungen (Neuhuber https://doi.org/10.1515/9783050093215-002

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lesungsskripte liegt zum einen in den Perspektivverengungen des politischen bzw. polithistorischen Paradigmas, das die Büchner-Forschung seit den 1970er Jahren prägte.5 Aus dieser Perspektive, die eine systematische Geschlossenheit der Positionen Büchners mehr voraussetzte als begründete,6 wurde aus dessen politischer Position ein allgemeiner, d. h. naturtheoretischer, epistemologischer und soziohistorischer Materialismus ›abgeleitet‹.7 Auf eine Berücksichtigung der begründungstheoretischen und systematischen Differenzen dieser Materialismen im 18. und 19. Jahrhundert wurde und wird allerdings weitgehend verzichtet.8 Diese – gegen alle internen Unterscheidungen und Unterschiede – grundlegende Prämisse des polithistorischen Forschungs-Paradigmas, nach der Büchner sowohl theoretisch als auch praktisch »an der Schwelle zum historischen Materialismus«9 gedacht, geschrieben und gehandelt habe, führt aber in philosophischer Hinsicht noch im Jahre 2000 zu folgenden, die Sachlage verstellenden Thesen: Büchners äußerste philosophische Position, die in Danton’s Tod bereits aufscheint und in der Probevorlesung umrissen wird, läßt sich zwischen Relikten des spinozistischen Pantheismus, Feuerbachs späterem Materialismus und der Ideologiekritik des jungen Marx der Ökonomischphilosophischen Manuskripte lokalisieren.10

Diese in allen Punkten unhaltbare Behauptung wiederholt sich bei Jan-Christoph Hauschild, dem lange Zeit maßgeblichen Büchner-Biographen, im Hinblick auf eine Beurteilung der philosophischen Skripte Büchners noch im Jahre 2004 in der folgenden Weise: Während Büchner in der Darstellung von Descartes’ philosophischen Prinzipien »nirgends eigentlich über die Selbstverständigung oder lehrhafte Wiedergabe« hinausgeht, bewegt er sich in seinen Spinoza-Studien nach Ansicht von Silvio Vietta »methodologisch auf der Höhe der

|| 2009) oder gar Textausgaben (SWB) befassen sich mit diesen philosophischen Texten Büchners erneut gar nicht. 5 Vgl. hierzu Wetzel 1981; Schmitz 2000. 6 Vgl. schon Hans Mayer 1972 [EA 1946], S. 22ff. oder auch Döhner 1967, S. 14f. und Müller-Seidel 1968, S. 209; vor allem Mayer 1979a, aber auch schon Jancke 31979 oder später Poschmann 21985 und Wender 1985; noch Hauschild 1993 und die Bände der MBA sind diesem Forschungsparadigma zuzuordnen. Auch wenn sich die genaue Kontur der Thesen zu einer in sich geschlossenen Konzeption des 23-jährigen Büchner bei den Interpreten nicht unerheblich unterscheidet, soll Büchner doch – so die übereinstimmende Prämisse – ausgehend von seinen politischen Vorstellungen alle weiteren Denk- und Handlungsbereiche abgeleitet und daher aus einem einheitlichen System heraus gedacht und gehandelt haben. Kritisch dazu schon Bittner 2010; differenzierter Fortmann 2013. 7 So in der weithin prägenden Arbeit von Mayer 1979a, S. 73ff. 8 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Gregory 1977, S. 13–28 u. S. 51ff.; Jaeschke 2000, S. 25ff.; vor allem aber der das Feld materialistischer Argumentationssysteme im 19. Jahrhundert systematisch ordnende Beitrag von Bayertz 2007, S. 54ff. 9 Mayer 1979a, S. 134; zur Kritik an dieser polithistorischen Zuweisung vgl. schon Proß 1980, S. 172. 10 Knapp 32000, S. 32f.

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Philosophiegeschichtsschreibung seiner Zeit« und weist in seiner Kritik sogar deutlich darüber hinaus. Hans Mayer zufolge nimmt Büchner inhaltlich die Spinoza-Wertung Ludwig Feuerbachs aus den frühen 1840er Jahren vorweg. […] Für den Philosophen Büchner gilt, daß er »von der Forschung« erst »noch zu entdecken« ist.11

Auch diese Urteile sind je einzeln und in ihrem systematischen Zusammenhang schlicht falsch und das nicht nur, weil Hauschild sich auf zwei weitgehend veraltete Studien aus den Jahren 1972 und 1987 bezieht,12 sondern weil er dem philosophiehistoriographischen Kontext, in den die Vorlesungsskripte Büchners zu lozieren sind,13 offensichtlich keine Beachtung schenkt.14 Dieser Kontext aber wird in der Folge ausführlich zu betrachten sein; er wird zeigen, dass Büchner weder methodologisch – was nun überhaupt nicht zutrifft, weil der junge Dozent der Philosophiegeschichte keine Reflexionen auf seine Methode anstellt, und einzig dies ist in der Zeit ungewöhnlich15 – noch methodisch die Höhe der Philosophiegeschichtsschreibung seiner Zeit erklommen hatte, sondern hinter den in den 1830er Jahren stattfindenden Professionalisierungstendenzen, die u. a. durch Hegel, Erdmann, Schelling oder Feuerbach markiert wurden, durchaus zurückbleibt. Büchners Leistungen als Philosophiehistoriker sind also erst noch zu entdecken und zu überprüfen. Allerdings wird diese Prüfung in jüngster Zeit zum anderen von der Annahme versperrt, der Autor sei systematischer Philosoph gewesen.16 Trotz erheblicher Kenntnisse und Interessen war Büchner ein solcher Systematiker nicht, als Philosoph kann er daher sicher nicht entdeckt werden.17 Hierzu fehlt es vor allem an Dokumenten, in denen Büchner eine systematische Position differenziert und rekonstruierbar entfaltet. Beide Befunde bedeuten umgekehrt aber nicht, dass man die zeitlebens intensive Auseinandersetzung Büchners mit der Philosophie und ihrer Geschichte in der Weise ignorieren dürfte, wie es in der Forschung seit den

|| 11 Hauschild 22004, S. 127f.; vgl. weitgehend wort-, in jedem Falle aber sachlich identisch schon Hauschild 1993, S. 525–528 sowie Hauschild 2013, S. 226f.; zur angeblichen FeuerbachVorwegnahme vgl. auch Hans Mayer 1972, S. 364; Vietta 1979, S. 424f.; Kahl 1982, S. 115ff., spez. S. 119; Taylor 1995, S. 60. 12 Nämlich auf Hans Mayer 1972, S. 348–365 sowie ein unpubliziertes Manuskript von Silvio Vietta aus dem Jahre 1987. 13 Vgl. auch Röcken 2009, S. 136f. 14 Vgl. noch Hauschild 2013, S. 223–227. 15 Vgl. hierzu Geldsetzer 1968 sowie Stiening 2005. 16 So u. a. MBA IX.2, S. 169, oder Beise 2010, S. 79–89; besonders aufdringlich, weil von einer weitgehenden Unkenntnis der Philosophie Spinozas ebenso wie Büchners geschlagen: Morawe 2013, S. 129–180; zur Kritik an diesen grundlegend verfehlten Perspektiven schon Stiening 2002, S. 47 sowie Stiening 2012a, S. 168. 17 Vgl. auch Stiening 2012a, Stiening 2013a sowie Stiening 2013b.

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späten 1970er Jahren zu verzeichnen war und noch die jüngsten Ausgaben, Werkmonographien und Biographien charakterisiert.18 Eine unverstellte Betrachtung der büchnerschen Rezeption der Philosophie kann indes herausarbeiten, dass Georg Büchner seit der Schulzeit19 neben der seit 1831 qualitativ und quantitativ bedeutenderen naturwissenschaftlichen Ausbildung seine philosophischen und philosophiehistorischen Kenntnisse kontinuierlich erweiterte. Ab dem Sommer 1836 nahmen diese Kenntnisse Dimensionen an, die in die professionalisierte Form einer Vorlesungsvorbereitung übergehen konnten. Offenbar aufgrund einer Anfrage der Züricher philosophischen Fakultät im Frühsommer 1836 sah sich Büchner genötigt, aber auch in der Lage, Vorlesungen über die »philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza«20 vorzubereiten, was eine schon länger währende Kompetenz voraussetzt. Um das Spektrum des philosophischen Wissens Büchners sowie dessen Entwicklungsgang zu erfassen, ist es zunächst erforderlich, den gesamten Zeitraum zwischen 1830/31 und seinem frühen Tod, im Februar 1837, zu überblicken. Erst auf dieser Grundlage können die philosophiehistorischen Vorlesungen angemessen analysiert, kontextualisiert und interpretiert werden. Dabei lassen sich folgende Phasen und Schwerpunkte der büchnerschen Beschäftigung mit der Philosophie und ihrer Geschichte ausmachen:21

2.1 Stationen der büchnerschen Philosophiestudien 2.1.1 Schulzeit bis 1831: Fichte und andere Idealisten Schon während der Schulzeit befasste sich Büchner mit der Philosophie, auch wurde er mit ihr im Latein- und Griechisch-, aber auch im Religions-Unterricht konfrontiert.22 Dabei ist für die nachfolgende Darstellung von erheblicher Bedeutung, dass diese Beschäftigung mit stoischer und epikureischer Philosophie gerade nicht in einem philosophischen Unterricht und somit nicht unter philosophiegeschichtlicher Perspektiven stattfand, sondern – neben den primär philologischen – unter philosophisch-systematischen Gesichtspunkten. Dass Büchners zu diesem Zeitpunkt

|| 18 Vgl. die sachlich völlig haltlosen Hinweise bei Hofmann u. Kanning 2013, S. 61–65 sowie Kurzke 2013, S. 359–366. Charakteristisch für diese verkürzte Sicht auf Büchner ist auch die sogenannte Werkausgabe von Martin (SWB), die auf den Abdruck der Dissertation sowie der philosophischen Skripten verzichtet. 19 Vgl. auch P II, S. 924; Röcken 2009, S. 130f. sowie MBA IX.2, S. 170–173. 20 P II, S. 44816f./MBA X.1, S. 10216f.. 21 Vgl. auch die kursorische und unvollständige Liste »biographische[r] Informationen« zu Büchners Beschäftigung mit Philosophie bei Mayer 1995–99a, S. 308f. sowie MBA IX.2, S. 170ff. 22 Vgl. hierzu Hauschild 1993, S. 526; Lehmann 2005, S. 14ff.

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erworbene Kenntnisse nicht auf der Ebene äußerlichen Schulwissens verblieben, ist gut dokumentiert: Noch Jahrzehnte später erinnerten sich zwei seiner Schulfreunde übereinstimmend an eine deutliche, wenngleich nicht unkritische Affinität ihres Mitschülers zur Philosophie. So schreibt Friedrich Zimmermann im Jahre 1877 in einem Brief an Emil Franzos, dass Büchner sich »frühzeitig« – und Zimmermann berichtet über die Jahre 1829 bis 1831 – »auf religiöse Fragen, auf metaphysische und ethische Probleme« geworfen habe.23 Auch Ludwig Wilhelm Luck erinnert sich lebhaft daran, dass Büchner »allezeit gradaus auf das los[ging], was er als das Wesen und den Kern der Dinge erkannte, auch in der Wissenschaft, besonders in der Philosophie«.24 Dabei bezieht Büchner offenbar stets kritisch Position; vor allem gießt er seinen »Hohn über Taschenspielerkünste Hegelscher Dialektik und Begriffsformulationen« aus,25 was eine mehr als äußerliche Kenntnis dieser Theoreme immerhin voraussetzt. Namentlich Zimmermann stellt mehrfach einen »inneren Zusammenhang«26 zwischen Büchners philosophischer Beschäftigung mit seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung her: Ich bin davon überzeugt, daß mein unvergeßlicher Jugendfreund und commilito in literis mehr zum Philosophen als zum Dichter geboren war; auch den Beruf zum bedeutenden Naturforscher scheint er mir schon damals entschieden angekündigt zu haben.27

Auch wenn die hier zitierten Dokumente mit großer Vorsicht zu behandeln sind, weil sie aus einem Abstand von 50 Jahren über Ereignisse aus der eigenen Schulzeit berichten,28 wird doch ersichtlich, dass Büchner ein deutliches Interesse an der Philosophie hatte und dies auch über den Schulalltag hinaus zu verwirklichen suchte. Unbestreitbar ist auch, dass die im letzten Zitat aufgerufenen Naturwissenschaften schon früh das gewichtigere Interesse Büchners ausmachten – ein Tatbestand, der in den 1820er und noch in den 1830er Jahren keineswegs eine Abkehr von der Philosophie bedeutete; deren differenzierte Kenntnis galt vielmehr als eine noch weitgehend unbestrittene Bedingung der Möglichkeit von Naturforschung.29

|| 23 Zitiert nach MA, S. 371, vgl. auch Friedrich Zimmermann: Georg Büchner: »Frühzeitig erwachte sein philosophischer Geist, der ihn alsbald auf den Weg des Zweifels, ja des Unglaubens führte.« Zitiert nach Hauschild 1985a, S. 333. 24 Zitiert nach MA, S. 374. 25 Ebd. 26 MA, S. 371. 27 Ebd., S. 372. 28 Vgl. hierzu zu Recht P II, S. 755. 29 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 1988, S. 7ff.; von Engelhardt 1997; Mischer 1997, S. 165ff.; Jahn (Hg.) 3 2004, S. 275–355; Richards 2002, S. 207–321; Breidbach 2006, S. 175ff. u. S. 211–222; Grindl (Hg.) 2015 sowie Danz (Hg.) 2017; dass auch Büchners empirische Studien auf der Grundlage einer naturphilosophischen Fundierung erfolgten, wussten noch Viёtor 1949, S. 247; Golz 1964 und Sengle

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Am deutlichsten zeigt sich Büchners nachhaltiges Interesse an zeitgenössischer Philosophie und sein Wille sowie seine Befähigung, deren Erkenntnisse als systematische anzuerkennen und anzuwenden, in einer seiner überlieferten Schülerschriften, der Rezension eines Mitschülertextes, die in den einschlägigen Ausgaben mit dem Herausgebertitel Über den Selbstmord versehen wird.30 In diesem Text, der formal als Rezension des Aufsatzes eines Mitschülers, material als Stellungnahme zur zeitgenössischen »ethisch-literarischen Suiziddebatte«31 zu bestimmen ist und dessen didaktisches Telos als Übung der rhetorischen Kompetenzen des Schülers richtig herausgearbeitet wurde,32 bemüht sich Büchner um die Widerlegung sowohl der religiösen als auch der moralischen Argumente, die den Selbstmord verurteilen bzw. negativ bewerten. Büchner ruft hierbei pragmatisch-anthropologische,33 moralund naturphilosophische Argumente auf, um die selbstmordkritische Haltung des rezensierten Textes zu widerlegen. So behauptet er gegen die christliche Verwerfung des Suizides, die zugleich den Tod des Cato legitimiert und diesen Widerspruch mit der These, Catos Tod sei subjektiv gerechtfertigt, objektiv aber nicht legitimierbar, zu vermitteln sucht, eine Nicht-Relativierbarkeit moralischer Urteile: Was sittlich ist, muß von jedem Standpunkte, von jeder Lehre aus betrachtet sittlich bleiben.34

Das Zentrum der Argumentation Büchners, die keineswegs den Selbstmord für uneingeschränkt legitimierbar erklärt, sondern eine gemäßigt kritische Position einnimmt,35 besteht jedoch nicht in einer moral-, sondern in einer naturphilosophi-

|| 1971–1980, III, S. 278; danach erst wieder Schramm 1989; Reddick 1990; Stiening 1999; Roth 2004 und Hauschild 2013, S. 216f.; die noch immer festzustellende Distinktion zwischen Büchners empirischen Arbeiten und dem angeblich nur spekulativen Verfahren der Naturphilosophie (vgl. MBA IX.2, S. 255; Beise 2010, S. 92f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 62 oder auch Kurzke 2013, S. 350ff.) basiert mithin auf einer historisch und systematisch unangemessenen Unterscheidung. 30 Vgl. hierzu HA II, S. 19–23; P II, 38–43; MBA I, S. 104–141; zum Folgenden vgl. Schaub 1975, S. 31f.; Schaub 1981, S. 224–232; Hauschild 1993, S. 99–103; Knapp 32000, S. 9f.; Lehmann 2005, S. 166–182 sowie Lehmann 2009, S. 5f., die allerdings zu den philosophischen Grundlegungen des Textes keine Ausführungen macht. 31 Knapp 32000, S. 9; zu dieser Debatte vgl. u. a. Decher 1999, Busche 2004 sowie Marx 2001. 32 Schaub 1981, S. 226ff.; zur durchaus berechtigen Kritik an der von Schaub vorgetragenen ausschließlich rhetorisch Funktion dieses Textes vgl. Wagner 2000, S. 199. 33 Vgl. hierzu P II, S. 3912–24/MBA I.1, S. 1122–19: »Es liegt ganz in der Natur des Menschen, daß er einen, ihm unerträglich gewordnen Zustand mit einem andern, wenn auch noch so unsichern zu vertauschen sucht, es ereignet sich dieß täglich, und niemand nimmt einen Anstoß daran. […] Ich behaupte also, daß man in dieser Hinsicht keineswegs den Selbstmörder unklug nennen könne.« Hvhb. im Text. 34 P II, S. 4018–20/MBA I.1, S. 11910–12; Hvhb. im Text. 35 Vgl. Büchners anthropologisches, eindeutig kritisches Argument: »Ich möchte nämlich eigentlich behaupten, der Selbstmord handle gegen unsre Natur, denn in ihr liegt unsre Bestimmung. Man könnte also in dießer Hinsicht den Selbstmord eine der Natur widerstrebende oder unnatürliche

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schen Argumentation, die gegen eine theologische Annahme vom Diesseits als »Prüfungsland« angeführt wird: Die Erde wird nämlich hier ein Prüfungsland genannt; dießer Gedanke war mir immer sehr anstößig, denn ihm gemäß wird das Leben nur als Mittel betrachtet, ich glaube aber, daß das Leben selbst Zweck sey, denn: Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck. Von dießem Gesichtspunkte aus kann man auch den einzigen fast allgemein gültigen Vorwurf dem Selbstmord machen, weil derselbe unserm Zwecke und somit der Natur widerspricht, indem er die von der Natur uns gegebene, unserm Zweck angemessne Form des Lebens vor der Zeit zerstört.36

Diese These, nach der das Leben (des Menschen) nicht als Mittel zu einem außer ihm liegenden Zweck bestimmt und so missbraucht werden darf, weil der Zweck des Lebens nur in ihm selbst zu finden, das Leben mithin Selbstzweck sei, und zwar weil es wesentlich als Entwicklung bestimmt werden müsse,37 gehört nun aber zu den wichtigsten Erkenntnissen und Beweiszielen des deutschen Idealismus.38 Büchners ›syllogistische Argumentation‹39 ist insofern nicht als »antiteleologisch« zu qualifizieren, wie es weite Teile der Forschung zu dieser Passage der Schülerschrift und ihrem Zusammenhang mit späteren Positionen Büchners annehmen,40 weil sie positiv mit einem Zweck-, d.h. mit einem ›Telos‹-Begriff arbeitet, der in der allererst von Kant entwickelten Form der ›inneren Zweckmäßigkeit‹ mit dem Begriff eines ›Zweckes seiner selbst‹ wesentlich argumentiert.41 Das Leben ist – so argumentiert Büchner – als Entwicklung Selbstzweck und daher nicht auf ein Mittel für einen außer ihm liegenden Zweck – sei er nun transzendent in Gott42 oder immanent im Vater-

|| Handlung nennen, jedoch in einem von dem schon angeführten, sehr schwachen Einwurf ganz verschiednen Sinne.« P II, S. 3929–35/MBA I.1, S. 1137–15. Hvhb. im Text. Insofern ist die aufgespreizte Interpretation Franks (1998, S. 584), nach der Büchner den Selbstmord als Radikalisierung des ethischen Grundprinzip des freien Willens bestimmt habe, erheblich zu modifizieren. 36 P II, S. 4122–33/MBA I.1, S. 12414–12712; Hvhb. im Text. 37 Vgl. hierzu in präziser Zusammenfassung Jancke 31979, S. 24; Janckes weitere Ableitungen (S. 24f.) zu einem Begriff der äußeren Freiheit als Zentrum dieses frühen Zweckbegriffs müssen aber als haltlose Assoziation bezeichnet werden, weil Janckes Kurzschließen des teleologischen mit einem praktischen Zweckbegriff unter systematischen und historischen Gesichtspunkten unzulänglich ist; ähnlich konfus zu dieser Passage Proß 1980, S. 171f. 38 Vgl. hierzu u. a. Düsing 31995. 39 Natürlich liegt bei Büchners Schlussformel nur ein unreiner Syllogismus deshalb vor, weil im Objektbegriff des Obersatzes die Form der Conclusio schon enthalten ist; dennoch bedient sich Büchner eindeutig der Form des Syllogismus, die ihm also schon zu diesem Zeitpunkt geläufig ist. 40 So Hans Mayer 1972, S. 45; Kahl 1982, S. 106; Horn 1982, S. 210; Hauschild 1993, S. 101; Glebke 1995, S. 105–108; Morawe 2013, S. 151f.; Graff 2017, S. 155. 41 Kant 1983, VIII, S. 477ff. (KdU, § 63ff.); zu dieser Tradition im Hinblick auf Büchners Naturphilosophie vgl. Stiening 1999, S. 104, im Anschluss daran Roth 2004, S. 248, S. 278 u. ö. 42 Gegen Wagner 2000, S. 201, die in einer philosophiehistorisch uninformierten, systematisch haltlosen Polemik behauptet, Büchner habe auch an dieser Stelle seiner Schülerschriften seine

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land43 – zu reduzieren. Die Büchner-Forschung hat als eine Quelle dieser Thesen die achte der fichteschen Reden an die deutsche Nation ausgemacht,44 wohl auch, weil dieser Text nachweislich schon für Büchners Reden über den »Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer«45 und über »Kato von Uttika«46 als Quelle diente. Nun heißt es bei Fichte zwar in der Tat: In der regelmäßigen Ordnung der Dinge hingegen soll das irdische Leben selber wahrhaftig Leben seyn, dessen man sich erfreuen, und das man […] dankbar genießen könne.47

Im hier ausgelassenen Nebensatz fügt der Redner aber hinzu: »freilich in Erwartung eines höheren« Lebens; Fichte fasst seine Auffassung des funktionalen Verhältnisses von irdischem und höherem Leben in der folgenden Vermittlungskonzeption zusammen: Das Leben, bloß als Leben, als Fortsetzen des wechselnden Daseyns, hat für ihn [den edlen Menschen] ja ohnehin nie Werth gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des Dauernden, aber diese Dauer verspricht ihm allein die selbständige Fortdauer seiner Nation.48

Es ist aber genau dieses Leben, »bloß als Leben«, das für Büchner Zweck seiner selbst ist. Fichtes Vermittlung des Lebenszwecks an den Gedanken der Nation muss zweifelsohne als das Gegenteil von Büchners ›lebensphilosophischer‹ Konzeption

|| lebenslang aufrechterhaltenen religiösen Argumentationsmuster nicht abgelegt, muss festgehalten werden, dass dieser Beweis von der Selbstzweckhaftigkeit des Lebens ausdrücklich gegen theologische Thesen vom Diesseits als Prüfungsland, mithin gegen die Versuche der Vermittlung des menschlichen Lebens auf einen außer ihm liegenden Zweck, gerichtet ist. Der die Überzeugung des Autors betonende Hinweis, diese Annahme sei ihm »immer schon anstößig«, also theoretisch falsch und praktisch unmoralisch erschienen, macht diese Abwehr religiöser Postulate in bezug auf das menschliche Leben nachdrücklich und unabweisbar. Eine »religiöse Büchnerdeutung« (Wittkowski 1989 oder Kurzke 2013), in deren Tradition Wagner argumentiert, tut sich – so sie denn diskutierbar bleiben will – mit solcher Verstocktheit keinen Gefallen. 43 Unübersehbar macht Büchner zwischen der Cato-Rede vom September 1830 bis zur Rezension vom März 1831 eine Entwicklung dergestalt durch, dass er dort noch den Selbstmord Catos für »Vaterland und Freiheit« (P II, S. 3416) als legitim und durch dessen gesamten Charakter gut gerechtfertigt ansah, während die Rezension eine solche Verzweckung des Lebens für selbstwidersprüchlich erklärt und daher als unnatürlich verwirft. 44 Vgl. Lehmann 1963, S. 203f.; im Anschluss hieran Jancke 31979, S. 14ff.; Schaub 1975, S. 31f.; Wittkowski 1976, S. 354–360; Mayer 1985, S. 55; Knapp 32000, S. 10; Taniguchi 2000–04, S. 84ff.; Lehmann 2005, die (S. 166–182) die bisherige Forschung zusammenfassend auch die Quellen der Rezension nennt, äußert sich ausgerechnet zu dieser ebenso wichtigen wie umstrittenen Passage und ihrem Hintergrund mit keinem Wort; Fichtes Reden gelten ihr aber offenbar nicht mehr als eine Quelle für diesen Text (vgl. S. 166). 45 So schon Lehmann 1963, S. 197–220; P II, S. 766 sowie Lehmann 2005, S. 455. 46 Lehmann 2005, S. 126. 47 Fichte 1971, VII, S. 379, auf diese Passage bezieht sich Lehmann 1963, S. 204. 48 Fichte 1971, VII, S. 383; Hvhb. von mir.

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bezeichnet werden, was deutlicher noch an folgender Passage aus der fünften Rede Fichtes abzulesen ist: Der einzige Selbstzweck, ausser welchem es keinen andern geben kann, ist das geistige Leben.49

Büchner hatte demgegenüber jedes (menschliche) Leben – weil eine zur Entwicklung fähige Existenz – als Selbstzweck bezeichnet; deutlicher kann eine Differenz zu Fichte nicht ausfallen. So umfangreich die Übernahmen Büchners aus Fichtes Reden an die deutsche Nation insbesondere in die Rede über den »Helden-Tod« ausfallen, hinsichtlich des idealistischen Grundsatzes der Rezension, der Selbstzweckhaftigkeit des Lebens, kann Fichte als Quelle wie als systematischer Hintergrund nicht dienen. Es lohnt sich also in diesem Zusammenhang, den zeitgenössischen Kontext in umfassenderer Weise zu berücksichtigen, um Gehalt und Stellung dieses Theorems angemessener zu erfassen und damit die Bedeutung der Auf- und Übernahme durch Georg Büchner.50 Denn schon Kant hatte – und zwar im Zusammenhang der Frage nach der Berechtigung des Selbstmordes – in der zweiten Auflage seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft festgehalten: Denn man darf zwar auf die Gefahr des Verlustes seines Lebens etwas wagen oder auch den Tod von den Händen eines anderen erdulden, wenn man ihm nicht ausweichen kann, ohne einer unnachlaßlichen Pflicht untreu zu werden, aber nicht über sich und sein Leben als Mittel, zu welchem Zweck es auch sei, disponieren und so Urheber seines Todes werden.51

Im Hintergrund dieses Selbstmordverbots, das Kant in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten gegenüber dem Verbrechen der Selbstentleibung wiederholt,52 stand allerdings nicht die Prämisse vom Leben als Entwicklung, sondern die vom menschlichen Dasein als einer der praktischen Vernunft und der moralischen Gesinnung fähigen »Persönlichkeit«,53 als die »der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten [war]: nämlich, in Ansehung des Anspruchs, selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als solcher geschätzt, und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden.«54 Die kantische Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ist mithin moralphilosophisch durch seine Befähigung zur inneren Freiheit und der daraus resultierenden Fähigkeit zur moralischen Gesinnung begründet. Diese sowohl in theologischer

|| 49 Ebd., S. 330. 50 Zum Folgenden vgl. auch Petersen 1973, S. 247ff. 51 Kant 1983, VII, S. 737. 52 Ebd., S. 554ff.; zu dieser kontextuellen Korrelation vgl. auch Graff 2017, S. 155f. 53 Kant 1983, VII, S. 555. 54 Kant 1983, IX, S. 91.

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als auch in ethischer und politischer Hinsicht weitreichende These zählt zum Kernbestand der kantischen Ethik. Bei Büchner hingegen geht es um das Prädikat der »Entwicklung«, die das Leben zu einem Zweck seiner selbst mache; verwies die argumentative Verbindung von Selbstzweckhaftigkeit des Leben mit der These von einer Widersprüchlichkeit des Selbstmordes, die Büchner vornimmt, auf Kant, so stellt die Betonung der Prozessualität als definiens des Lebens eine kontextuelle Verbindung u. a. zu Hegels Philosophie her, der Büchner laut Luck vor allem in Hohn und Spott zugetan gewesen sein soll.55 Schon 1817 hatte Hegel im ersten Teil der enzyklopädischen Logik geschrieben, dass das »Lebendige […] so der Prozeß seines Zusammenschließens mit sich selbst [sei], das sich durch drei Prozesse verläuft«;56 und im naturphilosophischen Teil der Enzyklopädie von 1830 hieß es im Zusatz zu § 337, der die organische Physik und damit den Begriff des Lebens entwickelt: [D]as Leben hat aber sein Anderes an ihm selbst, es ist eine abgerundete Totalität in sich, – oder es ist Selbstzweck. […] Schon Kant bestimmte das Lebendige als Zweck für sich selbst.57

Dem 17-jährigen Büchner dürften diese Passagen ebenso unbekannt gewesen sein wie die aus Feuerbachs 1830 anonym veröffentlichter Schrift Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, in der der Begriff des Lebens mit dem der Veränderung bzw. der Geschichte systematisch verbunden58 und daher geschlossen wird: Was daher lebt, hat den Grund und das Prinzip seines Seins in sich selbst, nur das, was in sich selbst und aus sich selbst ist, hat Leben. Leben heißt nichts anderes als der Grund seiner selbst sein. Insichsein, Selbstsein ist doch wohl die augenfälligste, unleugbarste Bestimmung des Lebens.59

Unübersehbar – zwischen Grund und Zweck liegen die Welten der idealistischen Logik und Metaphysik60 – diente auch dieser Text Büchner nicht als direkte Vorlage seiner Argumentation.61 Im Hinblick auf die Stellung des »Kerngedanken[s] der

|| 55 Vgl. MA, S. 374. 56 Hegel 1986, IX, S. 374 (§ 217); vgl. hierzu Fleischhacker 2002. 57 Hegel 1986, IX, S. 339; vgl. hierzu Breidbach 1982, S. 347–356; Düsing 1986, S. 280ff.; Frigo 2002, S. 117f.; Stekeler-Weithofer 2004, S. 316–336. 58 Vgl. Feuerbach 1975, I, S. 170: »Was daher Geschichte ist oder hat, folglich das Prinzip selbst seiner Veränderung ist, das hat sein Leben nicht von außen, sondern von innen, aus und von sich selbst. Geschichte ist darum Leben, Leben Geschichte, ein Leben ohne Geschichte ist ein Leben ohne Leben.« 59 Ebd., S. 171. 60 Vgl. hierzu Hegel 1986, VI, S. 80–124 u. S. 436–461 sowie Wolff 1986. 61 Zu einer kontextuellen Verbindung dieser Feuerbach-Stelle mit Büchners Zweckverständnis vgl. schon Zons 1976, S. 64f.; Hinderer 1977, S. 28; Taylor 1994; zu diesem Text Feuerbachs als möglicher Quelle von Danton’s Tod siehe MBA III.4, S. 170.

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Rezension«62 ist diese quellenpositivistische Frage allerdings auch nebensächlich. Wichtig ist vielmehr, dass Büchner in seinem antitheologischen Einspruch gegen eine Ver-Mittlung des Lebens auf ein jenseitiges Telos hin genuin idealistische Argumente aufruft,63 die von Kant über Hegel bis Feuerbach »das Leben« des Menschen als Selbstzweck zu begründen versuchten.64 Welch philosophischsystematische, aber auch religions- und staatspolitische Wucht dieser Erkenntnis noch in den 1830er Jahren zukommt, zeigt ein kleiner Text Heinrich Heines aus dem Jahre 1833, in dem es gegen eine Instrumentalisierung der Gegenwart für eine bessere staatliche Zukunft heißt: Und in der Tat, wir fühlen uns wichtiger gestimmt, als daß wir uns nur als Mittel zu einem Zwecke betrachten möchten; es will mich überhaupt bedünken, als seien Zweck und Mittel nur konventionelle Begriffe, die der Mensch in die Natur und in die Geschichte hineingrübelt, von denen aber der Schöpfer nichts wußte, indem jedes Erschaffnis sich selbst bezweckt und jedes Ereignis sich selbst bedingt, und alles, wie die Welt selbst, um seiner selbst willen da ist und geschieht.65

Publiziert wurde diese Skizze übrigens erst im Jahre 186966 und sie illustriert – wie auch das Feuerbach-Zitat – anschaulich, dass in den 1830er Jahren eine intensive Debatte über die Selbstzweckhaftigkeit des menschlichen Lebens gegen die Vermittlungsinteressen theologischer oder politischer Konzepte bzw. Institutionen geführt wurde. Dabei verbleibt das Gros der Theoretiker – so auch der Schüler Georg Büchner – im Rahmen der Begriffs- und Kategorienbildung des deutschen Idealismus,67 auch wenn sich Heine mit seinem Postulat explizit gegen eine »idealische Staatsform«,68 mit der er offenbar die Schillers und Fichtes verband,69 richtet und auch Büchner eindeutig gegen Fichte argumentiert.70 Heine wird auf diesem Reflexionsweg eine naturrechtliche Richtung einschlagen,71 indem er das Leben zu einem »Recht« erklärt,72 während Büchner sein Postulat vom menschlichen Leben als Zweck zu einem allgemeinen naturphilosophischen Gesetz im Hinblick auf alle

|| 62 Knapp 32000, S. 10. 63 So auch Graff 2017, S. 155f. 64 Dass Schelling in diesem Zusammenhang nicht von Büchner aufgerufen wird, zeigt dessen naturphilosophischer Lebensbegriff, der die Kategorie der inneren Zweckmäßigkeit gerade nicht bemüht, vgl. hierzu Rang 1988; Mischer 1997, S. 198ff. sowie Richards 2002, S. 289ff. 65 Heine 1976, V, S. 22f. [Verschiedenartige Geschichtsauffassungen]. 66 Ebd., S. 717. 67 Vgl. hierzu Gedö 1995, S. 7ff. 68 Heine 1976, V, S. 22. 69 Vgl. Höhn 32004, S. 323–326. 70 Zur Fundierung der heineschen Geschichtskonzeption im Idealismus trotz idealismuskritischer Momente vgl. Liedtke 1999, S. 602ff. 71 Vgl. hierzu auch Klippel 1995, S. 270ff. sowie Klippel 1997. 72 Heine 1976, V, S. 23: »Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht.«

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Naturerscheinungen ausweiten wird: Noch in der Probevorlesung, einem seiner letzten Texte vom November 1836, hält der nunmehrige Privatdozent der Philosophie als naturphilosophische Prämisse seines naturwissenschaftlichen Arbeitens fest: Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles was ist, ist um seiner selbst willen da.73

Die Forschung hat den motivlichen und thematischen Zusammenhang der oben zitierten Passage aus der Schüler-Rezension und der hier aufgerufenen Passage aus der Probevorlesung häufig – wenn auch nur thetisch – festgestellt74 und sich dabei vor allem auf die in beiden Argumentationen gültige Kritik der Vorstellungen äußerer Zweckmäßigkeit bezogen – allerdings unter der unzureichenden Verallgemeinerung, Büchners Position sei durch eine grundsätzliche Teleologiekritik charakterisiert.75 Das ist – wie erwähnt – allein deshalb unzutreffend, weil in beiden Argumenten ein spezifisches Telos, nämlich der Selbstzweck als konstitutive Kategorie in Anspruch genommen wird.76 Neben der Gemeinsamkeit einer Kritik an der Konzeption äußerer Zweckmäßigkeit, die 1831 und 1836 anzutreffen ist, sind aber auch die bedeutenden sachlichen Differenzen beider Passagen festzuhalten: Büchner spricht 1830 über das (menschliche) Leben als Selbstzweck und einer daraus abzuleitenden Kritik sowohl am theologischen Verständnis des Lebens als Mittel für eine jenseitige Existenz als auch an einer Widersprüchlichkeit des Selbstmordes, mithin im Rahmen einer naturphilosophischen und pragmatischen Anthropologie in religionsphilosophischer Absicht; 1836 aber formuliert er ein allgemeines Naturgesetz in naturphilosophischer und -wissenschaftlicher Absicht, dessen Gültigkeit zudem keineswegs auf den Menschen eingeschränkt ist. Dass Büchner mit diesem Bestimmungsmoment seiner Naturphilosophie erneut bzw. immer noch im Kontext idealistischer Naturphilosophie argumentiert, hat die neuere Forschung zu Büch-

|| 73 MBA VIII, S. 15340–43. 74 Vgl. u. a. Hans Mayer 1972, S. 44f.; MA, S. 437; Hinderer 1977, S. 28f.; Jancke 31979, S. 68ff.; Knapp 32000, S. 10; Roth 2004, S. 253; MBA VIII, S. 543; Beise 2010, S. 86 oder Morawe 2013, S. 151f. 75 Zur These einer umfassenden Teleologiekritik bzw. einer »antiteleologischen« Position Büchners vgl. schon Viёtor 1949, S. 235; Hans Mayer 1972, S. 45; Horn 1982, S. 210; Kahl 1982, S. 104; Holmes 1990; Kubik 1991, S. 215–218; Glebke 1995, S. 105–108; MBA VII.2, S. 521f.; Borgards 2009, S. 128; Wittkowski 2009, S. 136f.; Beise 2010, S. 89; Morawe 2013, S. 151f.; Graff 2017, S. 155. 76 Zu Büchners – wenngleich bewusstloser – Inanspruchnahme der Kategorie ›innerer Zweckmäßigkeit‹ vgl. Stiening 1999, S. 104 sowie Stiening 2013a, S. 345; einzig Hans Mayer (1972, S. 348) hatte – ohne nähere Begründung sich selbst revidierend (vgl. ebd., S. 45) – im späteren Teil seiner Studie festgehalten: »Nur oberflächlichen Betrachtungen möchte sein Weltbild als völlig antiteleologisch erscheinen. In Wirklichkeit geht es stets um die Frage nach dem Telos in der Welt, und es ist nur eine unzulängliche, allzu simple, selbstgenügsame Teleologie, die er verlacht.«

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ners Naturwissenschaften überzeugend nachweisen können.77 Im Begriff und der Kategorie des Selbstzwecks – einmal des Menschen, einmal jeder Naturerscheinung – zeigt sich eine Prämisse des büchnerschen Denkens, die durch alle Wandlungen seiner politischen, philosophischen oder einzelwissenschaftlichen Kenntnisse und Überzeugungen hindurch konstant bleibt.78 Und es sei eigens darauf hingewiesen, dass diese Kostante eine philosophische Kategorie ist.79

2.1.2 Straßburg 1831–1833: Zwischen anatomischen Studien und »französischer Gewitterluft« Über eine Beschäftigung mit philosophischen Gegenständen während des ersten Straßburger Aufenthaltes zwischen 1831 und 1833 ist wenig überliefert. Sicher scheint nur, dass Büchner die elsässische Metropole auch deshalb als Studienort wählt, weil »an der dortigen Akademie die Verbindung naturwissenschaftlicher und philosophischer Disziplinen gelehrt wird«.80 Die Freundschaft mit dem Anatomiedozenten Ernst-Alexander Lauth,81 der als Vertreter naturphilosophischen Denkens in Straßburg galt,82 dürfte ebenfalls für einigen – in diesem Falle naturphilosophischen – Gesprächsstoff gesorgt haben. Dass Büchner philosophische Veranstaltungen in Straßburg besucht hätte, ist nicht überliefert. Es spricht auch wenig dafür, da

|| 77 Vgl. hierzu Osawa 1999, S. 147f., der Schellings Ableitungen zum Organismus aus der Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur im Zusammenhang mit Büchners Ausführungen zur Selbstzweckhaftigkeit zitiert, die allerdings – aufgrund der verwendeten Grund-Kategorie (vgl. Schelling 1985, I, S. 278ff.) – mehr auf Feuerbach als auf Büchner verweisen, sowie Döhner 1967, S. 172, Stiening 1999, S. 104f., Roth 2004, S. 248 u. S. 478 und Fortmann 2013, S. 42f., die – angemessener – auf Johannes Müllers Schrift Vom Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung aus dem Jahre 1824 als Quelle Büchners hinweisen, damit aber auf eine der Hegelschule zugehörige naturphilosophische Programmatik; zu Müllers Hegelianismus vgl. von Engelhardt 1992 sowie Breidbach 2005, S. 6f. 78 Zu Recht hält Thomas Michael Mayer fest: »Mit der Polemik gegen die christliche Eschatologie (Erde als ›Prüfungsland‹) und der Definition des Lebens als ›Zweck‹ seiner selbst verläßt Büchner endgültig die teilweise noch religiösen Argumentationsmuster der vorangegangenen Gedichte und Schülerarbeiten.« Mayer 1985, S. 55. 79 Vgl. auch Jancke 31979, S. 250: »Daß das Leben, das Dasein jedes Wesens Selbstzweck sei und seinen Wert in sich selber trägt, ist aber gerade Büchners tiefste Überzeugung.« Ähnlich Graff 2017, S. 156. 80 Knapp 32000, S. 11, vgl. schon Mayer 1979b, S. 365, Stiening 2002, S. 47f.; zur wissenschaftlichen Situation der Universität Straßburg in den 1830er Jahren vgl. Livet 1996, S. 182ff., S. 212f. u. S. 244ff. 81 Zu diesem engen Verhältnis zu Lauth vgl. Ludwig Büchner in: Dedner (Hg.) 1990, S. 108: »Unter seinen Straßburger Freunden nennen wir Lauth […].« Siehe auch Kurzke 2013, S. 326ff. u. ö. sowie meine Ausführungen hierzu in Kap. 3. 82 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 25f. u. S. 29ff. und die dort angegebene, allerdings spärliche Literatur sowie Beise 2010, S. 31ff. und Fortmann 2013, S. 42.

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an der Straßburger Akademie ausschließlich der vom Rationalismus zur Rechtgläubigkeit konvertierte katholische Religions- und Moralphilosoph Louis-Eugène-Marie Bautain lehrte,83 der zwar während Büchners erstem Aufenthalt84 durch seinen Streit mit dem Klerus große Aufmerksamkeit in Straßburg erregte, jedoch durch seine offenbarungstheologische Fundierung aller Rationalität und Wissenschaft wenig Interesse bei Büchner geweckt haben dürfte. Allerdings könnte Büchner erstmalig mit der Professionalisierung der Disziplin ›Philosophiegeschichte‹ konfrontiert worden sein, denn im Jahre 1831 beantragt die Universität – wenngleich erfolglos – die Finanzierung eines Lehrstuhls für die »Geschichte der Philosophie«.85 Tatsächlich erlebte die Philosophiegeschichte als akademische Disziplin seit den späten 1820er Jahren eine Blütezeit; zu verbinden ist diese Konjunktur insbesondere mit dem Namen Victor Cousins, dessen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, die er ab 1828 in Paris abhält, vor »überfüllten Rängen« stattfinden.86 Mit einiger Wahrscheinlichkeit (mehr aber auch nicht)87 führte Büchner zudem philosophisch-theologische Streitgespräche mit seinem Freund Adolphe Stoeber, der – allerdings erst im April 1834 und damit fast ein Jahr nach Büchners Abreise aus Straßburg – seine Dissertation über das religionsphilosophische Thema einer Offenbarung Gottes in der Natur verteidigte. Überliefert sind vor allem politische Gespräche mit Stoeber und Diskussionen in der von ihm maßgeblich geführten Studentenverbindung Eugenia, in die Büchner als Gast aufgenommen worden war.88 Insgesamt beherrschten den ersten Straßburg-Aufenthalt jedoch seine naturwissenschaftlichen Studien89 sowie politische Aktivitäten und Reflexionen.90

|| 83 Vgl. Livet 1996, S. 212ff. sowie Kselmann 2006, S. 178f. 84 Vgl. Livet 1996, S. 213f. 85 Werner 1987, S. 120. 86 Vgl. das anschauliche Kapitel »Victor Cousin« in Schneider 1999, S. 180–212, Livet 1996, S. 212; sowie Vermeren 2007. 87 Vgl. hierzu Mayer 1979b, S. 377; auf die als reine Spekulation zu bezeichnenden Thesen Mayers, dass Büchner »sicher [sic] mit Stoeber über die Arbeit gesprochen, wahrscheinlich [sic] auch ein Druckexemplar der ersten selbständigen Veröffentlichung seines Freundes erhalten haben dürfte [sic]« (keine der beiden an Kriterien des common sense über akademische Freundschaften ermittelten Behauptungen lässt sich empirisch belegen), baut Vollhardt 1988/89 Überlegungen über den Einfluss der stoeberschen Dissertation auf das Philosophengespräch in Danton’s Tod auf, die auch durch die unkritische Aufnahme in MBA III.4, S. 165ff. u. MBA IX.2, S. 184f. nicht besser belegt werden. 88 Vgl. hierzu Mayer 1986/87; Hauschild 1993, S. 185–192; Martin 2007, S. 37ff. sowie Kurzke 2013, S. 341ff. 89 Vgl. hierzu Hauschild 1985, S. 359–379; Roth 2004, S. 24–33; MBA VIII, S. 178–182; Beise 2010, S. 23f. 90 Vgl. dazu Mayer 1979b, S. 365–368; Hauschild 1993, S. 123–225; Knapp 32000, S. 11–17; Martin 2007, S. 31–56; Neuhuber 2009, S. 14f.; Beise 2010, S. 23f. Weil den weiteren Gang der Argumentation nicht berührend, sei hier nur anmerkungsweise auf die These von einem eingehenden Studium

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2.1.3 »Mit aller Gewalt« in die Philosophie: Darmstadt und Gießen von Juli 1833 bis September 1834 2.1.3.1 Wintersemester 1833/34: Hegel und Psychologie? Erst nach seiner Rückkehr nach Darmstadt und während seines Studienaufenthaltes in Gießen finden sich wieder Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit der Philosophie, und zwar in einem zuvor unbekannten Ausmaß. Im Dezember 1833, während einer krankheitsbedingten Unterbrechung seines Studiums, schreibt Büchner an seinen Freund August Stoeber: Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, die Kunstsprache ist abscheulich, ich meine für menschliche Dinge, müßte man auch menschliche Ausdrücke finden; doch das stört mich

|| des französischen Materialismus während des ersten Straßburger Aufenthaltes Bezug genommen. Vgl. hierzu Mayer 1979a, S. 69–86, spez. S. 75ff.; Dedner 1985, S. 367ff. oder – um nur einige weitere Beispiele zu nennen – Schwann 1997, S. 122ff.; Osawa, 1999, S. 110; Taniguchi 2000–04, S. 86ff.; Teraoka 2006, S. 169; Morawe 2005–08, S. 256ff.; Morawe 2012, S. 12ff.; Morawe 2013, S. 166 und Hofmann u. Kanning 2013, S. 28f., die nach über 30 Jahren der ungeprüften Nachbeterei diese Thesen Mayers ohne jeden Nachweis reproduzieren: »Ferner scheint es gesichert zu sein, dass er sich in dieser Phase mit der materialistischen und sensualistischen Literatur der französischen Enzyklopädisten eingehend beschäftigte.« Nichts liegt ferner (so auch MBA IX.2, S. 263); denn Mayers Beweisführung, die nicht nur eine »Intensität seiner Beschäftigung« (Mayer 1979a, S. 75) mit den Materialisten, sondern eine dadurch herbeigeführte materialistische Überzeugung Büchners insinuiert, beruht auf einem Zitat Büchners aus Beaumarchais’ Le Mariage de Figaro, der »indessen seine Beeinflussung vom französischen Materialismus nicht verleugnen« (ebd., S. 76) könne und auf einem angeblichen Quellennachweis der goetheschen Übersetzung von Diderots Essai sur la Peinture, die Büchner sowohl in Danton’s Tod als auch im Lenz an zentralen Stellen übernommen habe. Diese Beweisführungen legen aber weder eine materialistische Überzeugung Büchners noch eine intensive Lektüre des französischen Materialismus nahe, sondern schlicht die schon von Maurice Benn nachgewiesene büchnersche Kenntnis des beaumarchaisschen Dramas, in dem eher die Menschenwürde als eine materialistische Anthropologie gefeiert wird (vgl. Grimm 52006, S. 251f.), sowie sprachliche Übereinstimmungen zwischen Goethes Übersetzung und einigen Textstellen Büchners, deren gehaltliches Verhältnis jedoch einer weiteren Überprüfung bedarf. Die zentrale These Mayers, Büchner sei spätestens im Februar 1834 auf der »Höhe der Debatte« um eine materialistische Fundierung des Neobabouvismus angelangt (Mayer 1979a, S. 74, und um diese Nähe zum Neobabouvismus war es Mayer einzig zu tun), die am Beispiel des Briefes Büchners an seine Eltern vorgestellt wird, der eine spezifische Anthropologie zum Ausdruck bringt, ist – wie weiter unten zu zeigen sein wird – ebenfalls brüchig, weil diese Anthropologie keinesfalls notwendig mit materialistischen Begründungstheorien zu verknüpfen ist. Weil aber diese lückenhaften ›Beweise‹ Mayers nicht einmal eine gediegene Kenntnis Büchners in Bezug auf den französischen Materialismus nahelegen können (geschweige denn eine Überzeugungsübernahme; vgl. hierzu auch Eibl 1981, S. 418), kann auf eine Darstellung dieser Tradition im Rahmen der obigen Rekonstruktion der büchnerschen Beschäftigung mit der Philosophie in Straßburg verzichtet werden.

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nicht, ich lache über meine Narrheit; und meine es gäbe im Grund genommen doch nichts als taube Nüsse zu knacken.91

Gegen vielerlei Spekulationen, Büchner habe zu diesem Zeitpunkt im Dezember 1833 an jenen Texten oder wenigstens Vorstufen gearbeitet,92 die dann im Sommer 1836 zu Vorlesungsskripten über Descartes und Spinoza bzw. zu jenen Exzerpten zur griechischen Philosophie ausgearbeitet wurden, hat schon Thomas Michael Mayer mit Recht festgehalten, dass die überlieferten Dokumente keinen Aufschluss darüber geben, mit welcherart Philosophie Büchner sich im Herbst 1833 beschäftigte: »Büchner kann sich zu dieser Zeit genauso gut mit Leibniz, Jacobi, Schelling oder Hegel beschäftigt habe. Wir wissen es nicht.«93 Ausschließlich abgrenzend scheint mir aus Büchners Formulierung ersichtlich zu werden, dass er sich nicht – wie dann ein Jahr später und vor allem im Sommer 1836 – mit Fragen der Philosophiegeschichte befasste, sondern mit systematischen Problemen.94 Dieser wichtige, jedoch von der zwischen Philosophie und Philosophiegeschichte nicht differenzierenden Forschung bislang übersehene Sachverhalt erschließt sich aus zwei Anhaltspunkten: Zum einen eröffnet die Kritik Büchners an der »Kunstsprache«, in der die Philosophie befangen sei, die Möglichkeit anzunehmen, dass er sich – angeregt womöglich durch seinen in dieser Hinsicht versierten Gießener Professor für Philosophie Joseph Hillebrand95 – mit der hegelschen Philosophie befasste, deren sprachliche Form selbst von den Schülern des einflussreichsten Philosophen der 1830er Jahre als zu überwindende »Kunstsprache« bezeichnet wurde. In seiner Vorrede zur zwei-

|| 91 P II, S. 37622–27/MBA X.1, S. 2920–24; zu einem Kommentar der eigentümlichen Rhetorik dieser Passage vgl. MBA VI, S. 167. 92 So die wenig überzeugenden Thesen von Hauschild 1993, S. 260 (übernommen von P II, S. 929) und wiederholt – trotz der in der Form ausfallenden, der Sache nach überzeugenden Kritik von Mayer 1995–99a, S. 307 – in Hauschild 22004, S. 126. 93 Mayer 1995–99a, S. 296, vgl. auch S. 307ff. u. S. 317f. 94 Anders Osawa 1999, S. 23, der – ohne einen Beleg dafür zu liefern – annimmt, Büchner beschäftige sich Ende 1833 mit Spinoza; die MBA IX.2, S. 175 tippt dagegen – ebenfalls ohne Beleg – auf Hillebrand. 95 Zu Hillebrand vgl. insbesondere Uhde-Bernays 1955, S. 283–395, spez. S. 289–314 sowie MBA IX.2, S. 175ff.; zu Hillebrands Kenntnis der und Beeinflussung durch die Philosophie Hegels vgl. Noack 1879, S. 384; Prantl 1880, S. 417 sowie Schreiber 1937, S. 10f.

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ten Auflage der hegelschen Rechtsphilosophie,96 die vom 29. Mai 1833 datiert, hält Hegels bedeutendster unmittelbarer Schüler, Eduard Gans,97 fest: Indem ich dem Publikum somit dieses Buch, mit der treuen Angabe, wie es entstanden ist, überreiche, bleibt mir nur noch übrig, von seinem künftigen Schicksal zu sprechen. […] Vielleicht wird es, wie das ganze System, nach vielen Jahren in die Vorstellung und das allgemeine Bewußtsein übergehen: seine unterscheidende Kunstsprache wird sich verlieren, und seine Tiefen werden ein Gemeingut werden.98

Das Zitat zeigt, dass – wie für Büchner, so auch für Gans – in der Kritik an der ›abscheulichen Kunstsprache‹ der hegelschen Philosophie weder eine grundsätzliche Abwehr aller Philosophie überhaupt noch auch der hegelschen zum Ausdruck kommt, die von der Forschung seit Emil Franzos in Büchners hier ausgedrückte Haltung gerne projiziert wird.99 Im Gegenteil spielt Gans mit seinen Ausführungen auf die seit der Auseinandersetzung des frühen Idealismus mit der Philosophie Kants topische Unterscheidung zwischen »Geist und Buchstabe«100 einer Philosophie an, indem er dem kunstsprachlichen ›Buchstaben‹ der hegelschen Philosophie Kontingenz und Historizität zuschreibt im Gegensatz zum philosophischen Gehalt, dem tiefen ›Geist‹, der sich erhalten werde. Büchner kontrastiert in ähnlicher Weise die Kunstsprache der Philosophie ihrem Gehalt, der sich menschlicher Dinge widme, für die es eine angemessene Ausdrucksweise geben müsse. Von einer grundlegenden Verwerfung der Philosophie also keine Spur.101 Zum anderen weisen zwei weitere briefliche Dokumente darauf hin, dass Büchner sich auch in anderen thematischen Zusammenhängen philosophischer Kategorien bediente, und zwar zumeist anthropologischer. Diese Briefe zeigen aber auch, dass die Philosophie, in die er sich »mit aller Gewalt« stürzte, systematischer Natur

|| 96 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hg. von Eduard Gans. Berlin 1833; dass Büchner Kenntnisse in der hegelschen Rechtslehre besaß, dokumentierte schon die Erinnerung Lucks, der Büchners Hohn über die hegelsche Dialektik besondern betont hatte, wofür er sich aber eines Beispiels aus der Vorrede der Rechtsphilosophie bediente, nämlich »z. B. Alles, was wirklich, ist auch vernünftig, und was vernünftig, auch wirklich«. (MA, S. 374 und Hegel 1986, VII, S. 24). 97 Zu Gans vgl. Blänkner, Göhler u. Waszek 2002. 98 Eduard Gans: Vorwort zur 2. Ausgabe der Rechtsphilosophie (1833), in: Riedel 1975, S. 242–248, hier 248. 99 Vgl. hierzu u. a. Emil Franzos: Georg Büchner, in Dedner (Hg.) 1990, S. 172ff.; Oesterle 1983, S. 225ff.; Kuningk 1987, S. 277f. mit einer besonders absurden, weil systematisch und historisch unzutreffenden Anbindung an Gutzkows Systemverdikt; Glebke 1995, S. 33ff.; Osawa 1999, S. 9ff. sowie Beise 2013–2015, S. 93–101. 100 Vgl. hierzu schon Johann Gottlieb Fichte: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie (1794), in: Fichte 1971, VIII, S. 270–300. 101 So aber, mit Bezug auf dieses Zitat vom Herbst 1833, Horn 1982; ähnlich Kuningh 1987; vgl. dagegen schon Stiening 2005.

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gewesen sein muss, bzw. dass die Perspektive, aus der er historische Systeme betrachtete, nicht – wie später dann – die »Entwickelung der […] Philosophie«102 reflektierte. Diese anthropologische Argumentation erweist sich als systematische Grundlage sowohl im Zusammenhang seiner geschichtstheoretischen Reflexionen im so genannten ›Fatalismusbrief‹ als auch in einer Passage aus einem Legitimationsbrief an die Eltern, die Momente einer bestimmten Sozialanthropologie ausführt. Beide Briefe, die in ihren anthropologischen Thesen eine systematische Einheit ausbilden,103 entstanden in den ersten Wochen des Jahres 1834 in Gießen. Im ersten Brief, in dem Büchner bekanntermaßen aus dem Studium der Geschichte der Revolutionen einen »gräßlichen Fatalismus« ableitet,104 heißt es, das geschichtsphilosophische Urteil begründend: »Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt.«105 Einige Wochen darauf heißt es in erneut anthropologischer Argumentation: Ich verachte Niemanden, am wenigstens wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, – weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen. Der Verstand nun gar ist nur eine sehr geringe Seite unsers geistigen Wesens und die Bildung nur eine sehr zufällige Form desselben.106

In anthropologischer Hinsicht besagen beide Passagen durchaus das Gleiche107: Der Mensch ist hinsichtlich seiner natürlichen Grundausstattung mit einer ahistorischen Unveränderlichkeit – »Gleichheit« – ausgestattete, die vor allem darin besteht, durch äußere Bedingungsfaktoren konstituiert zu sein, welche zunächst ausschließlich als Gewaltverhältnisse bestimmt werden. In der eher moralischen Argumentation des zweiten Briefes, in dem er sich gegen den Vorwurf des intellektuellen Elitarismus zur Wehr zu setzen hat, behauptet Büchner, dass der Mensch im Hinblick auf seine theoretischen Verstandes- und Bildungsleistungen, aber auch seine moralisch-rechtlichen Handlungen grundlegend durch äußere Bedingungsfaktoren bestimmt würde, auch wenn er hinzufügt, dass die Verstandesleistungen, deren äußere Form die Bildung ausmache, nicht eben die höchste »Seite« des menschlichen Geistes ausmachten; ob die Determinanten der hier nur mittelbar angesprochenen höheren Formen des »geistigen Wesens« auch »außer uns« liegen, wird allerdings

|| 102 P II, S. 43919 f./MBA X.1, S. 931. 103 Vgl. hierzu schon Jancke 31979, S. 126ff. 104 Dieser sogenannte ›Fatalismusbrief‹ wird aufgrund seiner sachlichen Bedeutung für Büchners politische Theorie und Praxis im Kapitel 4 Büchners politisches Wissen eingehender analysiert und interpretiert. 105 P II, S. 37721–23/MBA X.1, S. 3030f.; Hvhb. von mir. 106 P II, S. 37824–30/MBA X.1, S. 3219–25. 107 Zum Zusammenhang beider Briefe vgl. auch Hans Mayer 1972, S. 101ff.; Jancke 31979, S. 126ff.

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nicht ausgeführt – denkbar ist vor dem Hintergrund der abgrenzenden Äußerungen auch eine andere Konzeption, nach der die höheren Formen eines »heiligen Geistes im Menschen«108 einer Spontaneität der Begriffe bzw. der Autonomie der praktischen Vernunft entstammen.109 Ungeachtet der letzten These Büchners, die ein konstitutives Element der Argumentation ausmacht, hat die Forschung seit den 1970er Jahren – in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Viëtor110 – in diesen Passagen entweder eine – wenngleich noch abstrakte – Vorwegnahme der marxschen Feuerbachthesen gesehen111 oder aber eine »unabweisbar[e]« Fundierung im französischen Materialismus.112 Nun ist unbestreitbar, dass der Materialismus des 18. Jahrhunderts eine Anthropologie ausbildete, die den klimatischen, geographischen,113 vor allem aber den biologischen Bedingungsfaktoren114 menschlicher Existenz bestimmende, ja determinierende115 Ursächlichkeit für das als unabhängigen Geist nur illusionär wahrgenommene Bewusstsein zugeschrieben hatte. So führt d’Holbach im Système de la Nature aus: Exiger d’un homme qu’il pense comme nous, c’est exiger qu’il soit organisé comme nous; qu’il ait été modifié comme nous dans tous les instans de sa durée; qu’il ait reçu le même tempérament, la même nourriture, la même éducation; en un mot, c’est exiger qu’il soit nous-même, [… ]. Ses opinions ne sont-elles pas des suites nécessaires de sa nature et des circonstances particulières qui ont, dès l’enfance, nécessairement influé sur sa façon de penser et d’agir?116

Diese Ausführungen sind denen Büchners sprachlich durchaus verwandt,117 weil auch hier die äußeren Umstände für Denken und Handeln des Einzelnen als Determinanten aufgeführt werden. Allerdings teilt Büchner den anthropologischen Mate-

|| 108 So Büchner im selben Brief, vgl. P II, S. 37931/MBA X.1, S. 3225f.. 109 Insofern ist die vorschnelle Zuweisung einer antiidealistischen, insbesondere am freien Willen Kritik übenden Position (vgl. Dedner 2002, S. 292–294) nur unter Absehung von dieser Briefpassage zu erzielen. 110 Zum angeblichen Materialismus dieses Briefes vgl. schon Viëtor 1949, S. 28. 111 Vgl. Jancke 31979, S. 129 sowie Mayer 1979a, S. 75 u. S. 88ff. 112 Mayer 1979a, S. 74, der gleich »drei Hauptthemen des französischen Materialismus« im »Gießener Februar-Brief von 1834« realisiert sieht; vgl. auch Dedner 1985, S. 368f., Dedner 1990, S. 126ff.; Osawa 1999, S. 88ff.; MBA IX.2, S. 263; MBA X.2, S. 193f. sowie Hofmann u. Kanning 2013, S. 28f. 113 Vgl. Fink 1987. 114 Mensching 2007, S. 27. 115 Zur Antinomie dieses materialistischen Determinismus der Aufklärung vgl. ebd., S. 31f. 116 D’Holbach 1966, I, S. 218; vgl. hierzu auch Dedner 1985, S. 368. 117 Zu Kritik am Kriterium rein sprachlicher Ähnlichkeiten für den Nachweis gehaltlicher Zusammenhänge vgl. Vollhardt 1989/89, S. 67: »Denn die Semantik der philosophischen Anspielungen in Büchners literarischem Werk entschlüsseln sich nicht schon durch den Aufweis möglicher oder nur zufälliger sprachlicher Korrespondenzen, sondern erst mit der sorgfältigen Kommentierung solcher Stellen, die […] einem Kontext angehören.«

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rialismus, nach dem der menschliche Geist bzw. die Seele nichts als Körperfunktionen darstellen, nicht,118 denn die Umstände, von denen Büchner spricht, sind keine »physischen Ursachen«, also keine körpereigenen Prozesse, wie bei d’Holbach,119 sondern als soziale Bedingungen ausschließlich »außer uns«. Hinsichtlich der Stellung der büchnerschen Thesen zum Materialismus des 18. Jahrhunderts ist dieser Mangel eines Bezuges auf die körperliche Natur des Menschen als Bewusstseinsdeterminante nur ein vorläufiges Indiz. Wichtig ist vielmehr, dass die Thesen von einer Prägung der intellektuellen und moralischen Eigenschaften, mithin – in zeitgenössischer Terminologie – des »Charakters« durch äußere Einflüsse wie Erziehung, Klasse, Religion keineswegs exklusiv dem philosophischen Materialismus zuzuschreiben sind. Schon die dezidiert antimaterialistischen Aufklärungsanthropologien behaupteten einen prägenden Einfluss natürlicher und sozialer Bedingungen auf den Charakter;120 selbst Friedrich Hölderlin – dem Materialismus ausschließlich kritisch zugetan – spekuliert über die Bedeutung von »Umständen und vom Klima« auf die Gedanken des Menschen;121 und ausgerechnet der dem Deismus zuneigende, von der Forschung seit Thomas Michael Mayer aber vor allem als Neobabouvist122 wahrgenommene Filippo Buonarroti, dessen Schriften Büchner gelesen haben soll,123 entwickelte im Jahre 1828 die folgende These: Die Verfechter der Ungleichheit sagen, es gäbe zwischen den Menschen noch einen anderen natürlichen Unterschied, der sich zwangsläufig auch auf ihre Bildung und gesellschaftliche Stellung auswirkt, den des Geistes. […] Eine innere Stimme scheint uns jedoch zu sagen, daß die Dinge vom Schöpfer der Natur nicht auf solche Weise geregelt worden sind. Wenn die Menschen, die gemeinhin einen ganz gut eingerichteten Organismus besitzen, nicht alle über die gleiche geistige Fähigkeit verfügen, dann rührt die Verschiedenheit, die in dieser Hinsicht zwischen ihnen besteht, weit weniger von einer unterschiedlichen Konstitution des Organismus her als von den andersgearteten Umständen, in die sie sich versetzt finden.124

|| 118 So zu Recht Eibl 1981, S. 418Anm. 14; anders dazu Dedner 1985 und Dedner 2002. 119 D’Holbach 1966, I, S. 187–223. 120 Vgl. hierzu in Bezug auf Wieland Beetz 2004, S. 280f. 121 So im Brief an Sinclair vom Dezember 1798: »[…] denn, wenn der Mensch in seiner eigensten, freiesten Thätigkeit, im unabhängigen Gedanken selbst von fremdem Einfluss abhängt, und wenn er auch da noch immer modifiziert ist von den Umständen und vom Klima, wie es sich unwidersprechlich zeigt, wo hätt’ er dann noch eine Herrschaft?« Hölderlin 1992/94, II, S. 722f.; vgl. hierzu auch Stiening 2005b, S. 340. 122 Vgl. auf der Grundlage einer höchst selektiven Lektüre von Höppner u. Seidel-Höppner 1975: Mayer 1979a, S. 31ff., darauf ›aufbauend‹ u. a. Knapp 32000, S. 13f.; Hauschild 22004, S. 84; Neuhuber 2009, S. 14f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 36ff. 123 Zur angeblich prägenden Bedeutung Buonarrotis für Büchner vgl. Mayer 1979a, S. 43ff.; Matala de Mazza 2009, S. 173. 124 Buonarroti 1828; zitiert nach der Übersetzung von Höppner u. Seidel-Höppner 1975, S. 89; überraschenderweise wird ausgerechnet diese These Buonarrotis von Mayer nicht zitiert.

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Diese Überlegungen sind zwar mit der dezidierten Zurückweisung eines neurophysiologischen Materialismus Büchner näher als die d’Holbachs, bleiben jedoch durch den deistischen Bezug auf den Schöpfergott Büchners Brief vom Februar 1834 fremd. Der ganz beliebige Bezug auf die Anthropologie der Spätaufklärung, Hölderlins, Buonarrotis oder auch Étienne Pivert de Senancours125 deutet mithin schon darauf hin, dass ein positiver Bezug auf äußere Umstände als Determinanten für psychische und mentale Prozesse noch keinen Materialismus verlangte.126 Dass auch der stark der aufklärerischen Naturrechtstradition verpflichtete, als Frühsozialist bezeichnete Robert Owen die Ansicht vertrat, der Charakter des Menschen sei von äußeren Umständen geprägt und könne nur durch diese geändert werden, zeigt vielmehr die erhebliche Verbreitung sozialanthropologischer Determinationstheorien im frühen 19. Jahrhundert.127 Solcherart Theorien, die hier nur an einigen Beispielen nachgewiesen wurden, waren mithin im 18. und 19. Jahrhundert mit höchst unterschiedlichen Grundlagentheorien verknüpft und verlangten keineswegs eine Fundierung im Materialismus. Wenn Büchner also intellektuelle und moralische Bildung vollständig durch äußere Umstände determiniert sieht, dann richtet er sich zwar deutlich gegen Thesen von einer ausschließlich selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen; diese Überzeugung bedarf aber keineswegs eines begründungstheoretischen Materialismus. Noch an einem letzten Beispiel soll die kontextuelle Extension dieser anthropologischen Thesen Büchners in seinem Brief vom Anfang des Jahres 1834 erläutert werden: Es ist nach wie vor umstritten, ob Büchner im Wintersemester 1833/34 philosophische Vorlesungen besuchte; sicher ist einzig, dass er neben seinen naturwissenschaftlichen Studien philosophische Vorlesungen als Pflichtveranstaltungen besuchen musste,128 von denen eine die philosophische Psychologie zum Gegenstand hatte, die in jenem Wintersemester auch tatsächlich angeboten wurde.129 Jan-

|| 125 Vgl. auch den ganz unmaterialistisch denkenden Senancour 1982, S. 79f.: »Sie [die verschiedenen Eigenarten der Völker] werden nicht weniger als durch ihre Sitten und Gesetze, ja vielleicht stärker noch durch die Unterschiede der Lage, des Klimas und der Dünste geprägt. Denn in Wirklichkeit gehen auch Gegensätze in den Sitten und Gesetzen ursprünglich auf physische Ursachen zurück.« 126 So auch Kurzke 2013, S. 23f. 127 Vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 172f. 128 Vgl. hierzu Maaß 1987, S. 148 sowie die bei Hauschild 1993, S. 252 zitierte ministeriale Verordnung, nach der alle Kandidaten der Theologie, Juristerei und der Medizin durch Zeugnisse zu belegen hatten, dass sie »Vorlesungen über Logik, Psychologie, Reine Mathematik, Naturlehre und Geschichte« besucht hätten. 129 Vgl. Großherzoglich hessisches Regierungsblatt Nr. 56, Darmstadt am 25. September 1833: Verzeichnis der Vorlesungen, welche auf der Großherzoglich Hessischen Landesuniversität zu Gießen im bevorstehenden Winterhalbjahre vom 28. Oktober an gehalten werden sollen: Von den insgesamt acht Veranstaltungen jenes Semesters fielen vier auf Joseph Hillebrand (Logik, Psychologie, Ethik/Pädagogik und Ästhetik); drei auf Wilhelm Braubach (Logik und Psychologie, Principien

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Christoph Hauschild hat 1993 die Behauptung aufgestellt, Büchner könne diese von dem Gießener Ordinarius für Philosophie, Joseph Hillebrand,130 gehaltenen Vorlesungen besucht haben, seine These allerdings mit der unbelegten Begründung versehen, diese sei »historisch angelegt« gewesen, so dass Büchner sein philosophiehistorisches Interesse hier habe befriedigen können.131 Nun wurde schon darauf hingewiesen, dass es keinerlei Anzeichen für ein spezifisch philosophiehistorisches Erkenntnisinteresse Büchners zu diesem Zeitpunkt gibt. Betrachtet man darüber hinaus Hillebrands Lehrbuch der theoretischen Philosophie und philosophischen Propädeutik, das explizit »zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen«132 ausgewiesen wurde und einen umfangreichen psychologischen Abschnitt enthält, wird nicht nur deutlich, dass diese Vorlesung keineswegs historisch angelegt war, sondern vielmehr systematisch als anthropologisch-empirische Vermögenslehre, die nur unter eher nebensächlichem historischem Bezug auf anthropologische Standardwerke von Otto Casmann über Christian Wolff, Ernst Platner und Friedrich Herbart bis zu Hegel und Hillebrands eigener Anthropologie von 1823 zurückgriff.133 Ersichtlich wird an diesem Text, dass selbst der vom spekulativen Idealismus stark beeinflusste Gießener Philosoph nicht nur die Klimatheorie der aufklärerischen Anthropologien vertrat,134 weil »die klimatische und lokale Natureinrichtung sowohl unmittelbar als mittelbar die psychische Verschiedenheit mitbegründen«.135 Der Giessener Philosoph behauptet darüber hinaus einen prägenden Einfluss äußerer Umstände auf den Charakter des Menschen, mithin das, was Büchner als intellektuelle und moralisch-rechtliche Fähigkeiten bezeichnet hatte: Was der Mensch durch eigentliche Erziehung und Bildung werden könne, d.h. durch die Summe aller derjenigen Einwirkungen auf das ursprüngliche Seelenleben, welche aus dem Wech-

|| der Moral und Religion sowie Pädagogik) und eine auf den Privatdozenten August L. Th. Koch (Einleitung in die Philosophie); vgl. auch MBA IX.2, S. 176. 130 Zu Joseph Hillebrand vgl. Schreiber 1937; Mayer 1981, S. 195f.; Mayer 1985, S. 123f.; Honegger 1991, S. 123–125; Hauschild 1993, S. 261–263; Nowitzki 1998, S. 309–313; Schneider 1999, S. 244f.; MBA IX.2, S. 176ff. 131 Zu den Spekulationen über einen Besuch der Psychologie-Vorlesung Hillebrands durch Büchner vgl. Hauschild 1993, S. 261; Nowitzki 1998, S. 310; MBA IX.2, S. 178; kritisch dazu Mayer 1995– 99a, S. 307. 132 Vgl. Hillebrand 1826. 133 Vgl. die Bibliographie anthropologisch-psychologischer Standardwerke bei Hillebrand 1826, S. 79–81. 134 Vgl. hierzu u. a. LaMettrie 1990, S. 41: »Der Einfluß des Klimas ist so mächtig, daß ein Mensch, der es wechselt, diesen Wechsel unwillkürlich spürt. Er ist eine wandelnde Pflanze, die sich selbst umgepflanzt hat; wenn das Klima nicht mehr daßelbe ist, ist es nur richtig, daß sie entweder eingeht oder gedeiht.« Wezel 2000ff., VII, S. 100; zur Bedeutung der Klimatheorie im Rahmen der Geschichtskonzeptionen der Anthropologen des 18. Jahrhunderts vgl. Gisi 2007, S. 83–114. 135 Hillebrand 1826, S. 151 (§ 206); vgl. auch Hillebrand 1822/23, II, S. 382f.

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selverkehr in der Koexistenz der Menschen hervorgehen, spricht die Geschichte der Menschheit wie die tägliche Erfahrung gleich deutlich und vernehmlich aus.136

Zwar spricht Hillebrand auch von einem angeborenen »Naturell«,137 das sich vor allem auf Gefühlsbereiche des Menschen erstreckt – und in dieser die »Naturanlage« des Charakters betreffenden Voraussetzung der Sozialanthropologie wäre ihm Büchner nicht gefolgt – aber eine prägende Auswirkung äußerer Bedingungsfaktoren auf die intellektuellen und die moralischen Eigenschaften eines Menschen entwickeln beide, ohne dass für diese Annahme – wie Hillebrand zeigt – eine materialistische Grundlagentheorie vorausgesetzt werden muss. Bei Hillebrand konnte Büchner auch die systematischen Voraussetzungen seiner These finden, dass »[d]er Verstand nun gar […] nur eine sehr geringe Seite unsers geistigen Wesens [ist] und die Bildung nur eine sehr zufällige Form desselben«.138 Bei den Materialisten waren solcherart Reflexionen über das geistige Wesen und dessen verschiedene, hierarchisch qualifizierbare Momente nicht zu finden. Hillebrand aber hatte in seiner Anthropologie zwischen dem Denken und dem Wissen und damit zwischen Verstand und Vernunft unterschieden,139 und diese Unterscheidung andernorts wie folgt ausgelegt: Jene durch das bloße Denken, durch die Reflexion und Abstraktion vermittelst der Verstandesthätigkeit, bewirkte Einheit in der Vielheit ist gleichsam nur eine vorläufige (provisorische). Dieselbe muß, dieses zu seyn, endlich aufhören und sich zu der wahren, ursprünglichen (nicht mehr abstrakten, sondern unmittelbaren) Einheit hinaufheben, oder das Denken muß zum eigentlichen Wissen werden. […] Der Verstand wird von der Vernunft abgelöst. Dieses geistige Streben ist das eigentliche Philosophiren.140

Weil auch Büchner von höheren als der »geringeren« Verstandes- und Bildungsseite des »geistigen Wesens« spricht, wird unübersehbar, dass der oben zitierten Briefpassage eine Anthropologie zugrunde liegt, die – wie Hillebrands Ausführungen – einem idealistischen oder empiristisch-anthropologischen Kontext entstammen, keineswegs aber einem materialistischen. Büchner musste für seine Thesen von der sozialen Determiniertheit des menschlichen Verstandesdenkens und Handelns nicht einmal von seinem ethischen Universalismus, den er in der Schülerschrift entwickelt hatte, abrücken. Denn entweder hatte Büchner den freien Willen, jene höhere Seite am geistigen Wesen des Menschen, mit seinem Determinismuskonzept gar nicht gemeint, dessen Zuständigkeit unterhalb dieser Ebene verblieb; oder er vertrat eine Position, in der Handlungen auch dann einer moralischen Bewertung

|| 136 Hillebrand 1826, S. 151f. (§ 208); vgl. auch Hillebrand 1822/23, II, S. 385ff. 137 Vgl. Hillebrand 1826, S. 153 (§ 211) sowie ausführlicher Hillebrand 1822/23, II, S. 385ff. 138 P II, S. 37828–30/MBA X.2, S. 3223f.. 139 Vgl. Hillebrand 1826, S. 114. 140 Hillebrand 1820, S. 5; vgl. auch Hillebrand 1830, S. 44.

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unterzogen werden, wenn ihre Verursachung nicht dem freien Willen zuzuschreiben ist. Lessing und die Utilitaristen des 18. und 19. Jahrhunderts hatten dies vorgeführt.141 Zwar weisen Hillebrands Texte eine Terminologie und Argumentationsbewegung auf, die es eher unwahrscheinlich macht, dass Büchner diese Vorlesung hörte.142 Für eine kontextgestützte systematische Interpretation seiner Briefaussagen zur Sozialanthropologie und Geschichtsphilosophie ist diese Frage aber nebensächlich. Auch wenn also nicht dokumentierbar ist, ob Büchner in diesem Wintersemester überhaupt philosophische Vorlesungen besuchte, und wenn ja, welche, kann doch festgehalten werden, dass er sich zu diesem Zeitpunkt – vor allem nach der krankheitsbedingten Rückkehr nach Darmstadt – »mit aller Gewalt« der Philosophie widmete. Ab Januar war er in Gießen offenbar mit geschichtsphilosophischen und anthropologischen Fragestellungen beschäftigt, die den Vorlesungen Hillebrands nicht fern standen. Diese philosophische Reflexionsarbeit schloss aber eine materialistische Systematik ebenso aus wie eine spezifische Perspektive auf die Geschichte der Philosophie.

2.1.3.2 Sommersemester 1834: Vorlesungen bei Joseph Hillebrand Im Sommersemester 1834 weiten sich Büchners Studienanstrengungen im Fach Philosophie erheblich aus. Ist nach wie vor nicht zu belegen, ob er PhilosophieVorlesungen im vorhergehenden Wintersemester 1833/34 besuchte, so kann man seit längerem durch ein Testat Joseph Hillebrands belegen,143 dass Büchner zwischen dem 28. April und dem 29. September 1834 bei dem Gießener Philosophen zwei Vorlesungen hörte, und zwar über Logik sowie über Naturrecht und allgemeine Politik. Nun hat Hillebrand zeitlebens zwar keine eigenständige Veröffentlichung zum Naturrecht vorgelegt, so dass sich seine politphilosophische bzw. naturrechtliche Konzeption nur aus verstreuten Ausführungen in seinen anthropologischen

|| 141 Zu Lessings Determinismus vgl. Timm 1974, S. 105ff.; zu den Utilitaristen Trapp 1992, S. 249ff. 142 Eines der wenigen Indizien, die für eine Teilnahme Büchners an dieser Vorlesung sprechen, liegt in Hillebrands Ausführungen zur »Normalität und Abnormalität der Seele« (Hillebrand 1826, S. 143–148). In diesem Abschnitt, der ausführlicher in seiner 1835 publizierten Philosophie des Geistes ausgeführt wird, beschäftigt sich Hillebrand mit dem Phänomen des »Somnambulismus« (Hillebrand 1826, S. 144, Hillebrand 1835/36, I, S. 372ff.) als einer »Erscheinungsform der subjektiven Thätigkeit des Geistes neben dem Traum«. In diesem seriösen wissenschaftlichen Kontext erscheint der Somnambulismus dann als Terminus und Begriff im Lenz; die Quellen Büchners für dieses die Psychologie der 1820er und 1830er Jahre erneut beherrschende Thema sind aber nach wie vor unbekannt; vgl. hierzu die Spekulationen in MBA V, S. 411f. sowie meine Ausführungen in Kap. 7. 143 Vgl. hierzu Zimmermann 1980; Mayer 1985, S. 124.

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oder enzyklopädischen Publikationen rekonstruieren lässt; wohl aber hat er in zwei Publikationen seine ›Wissenschaft der Logik‹ vorgestellt, und zwar in beiden Fällen explizit »zum Gebrauche bei Vorlesungen«.144 Weitere Werke zur Logik hat Hillebrand nicht publiziert, so dass man davon ausgehen kann, dass er nach eben diesen Texten jene Vorlesung im Sommer 1834 bestritt, die Büchner hörte. Da dieser ausdrücklich von Hillebrand »lobenswerten Fleiß« beim Besuch beider Vorlesungen attestiert bekam,145 Büchner also in den Monaten Mai bis September den Gießener Philosophen wöchentlich dreimal zur Logik hörte146 und dies trotz der Belastung durch die geheimen politischen Aktivitäten um den Hessischen Landboten,147 verlohnt sich neben der Rekonstruktion des hillebrandschen Naturrechts ein kurzer Blick in dessen beide Publikationen zur Logik, zumal eine eingehendere Beschäftigung mit diesen Texten sowohl im Rahmen der Büchner-Forschung148 als auch im

|| 144 Vgl. Hillebrand 1820 sowie Hillebrand 1826. 145 Mayer 1985, S. 124. 146 Die Logik-Vorlesung erfolgte am Dienstag, Donnerstag und Freitag vormittags von 8.00 bis 9.00 Uhr; darüber hinaus hörte Büchner Hillebrand am Mittwoch und Samstag, jeweils von 8.00 bis 9.00 und von 11.00 bis 12.00 Uhr, so dass sich beide über ein halbes Jahr nahezu täglich sahen; vgl. hierzu auch Nowitzki 1998, S. 310; Nowitzki (ebd., S. 314) will allerdings mit dieser Auflistung plausibilisieren, dass Büchner auch die Ästhetik-Vorlesung Hillebrands gehört habe, weil diese ebenfalls mittwochs und sonnabends – gleichsam zwischen den Naturrechtsvorlesungen – von 10.00 bis 11.00 Uhr gehalten wurde; weshalb die Vermutung naheläge, Büchner sei einfach sitzengeblieben und habe so auch Hillebrands Ästhetik gehört. So verlockend diese Indizienkette wirkt, kein einziges Dokument spricht für Büchners Kenntnis der hillebrandschen Ästhetik. 147 So auch Mayer 1981, S. 196. 148 Einzig Nowitzki 1998 hat sich mit der Frage der Bedeutung des büchnerschen Studiums bei Hillebrand im Hinblick auf die Logik und deren Rezeption in den literarischen Texten näher befasst – allerdings auf der Grundlage des erst 1835/36 veröffentlichten Hauptwerkes Hillebrands (Philosophie des Geistes oder Enzyclopädie der gesamten Geisteslehre, 2 Teile, Heidelberg 1835/36), das Büchner im Exil in Straßburg kaum mehr zur Kenntnis genommen haben dürfte. Die wichtigen Anregungen Nowitzkis wurden von der Büchner-Forschung zwar nicht im Hinblick auf Leonce und Lena (vgl. MBA VI, spez. S. 444ff.), wohl aber – wenngleich nur kursorisch – in Bezug auf Büchners philosophische Arbeiten aufgegriffen (vgl. MBA IX.2, S. 176–180), und dies, obwohl Büchners regelmäßige Teilnahme an der Logik- und der Naturrechts-Vorlesung eindeutig dokumentiert ist sowie in Teilen der Forschung angenommen wird, dass es neben den für die philosophischen Skripte bekannten Vorlagen (Tennemann, Herbart, Kiesewetter, Kuhn und Schulze, vgl. hierzu meine Ausführungen weiter unten) »noch weitere unmittelbare Quellen gibt« (Osawa 1999, S. 14). Eine umfassende biographische und philosophie- wie literarhistorische Erschließung des hillebrandschen Werkes (letztmalig in der heute unzureichenden Arbeit von Schreiber 1937) ist daher dringend geboten. Wichtige Ansätze hierzu werden in nächster Zeit geboten durch die Edition und Kommentierung zweier Mitschriften der hillebrandschen Vorlesungen über Naturrecht und Politik sowie über Logik aus den 1830er Jahren; vgl. hierzu: Was Büchner hörte. Edition und Kommentierung einer Mitschrift einer Naturrechts- und Politik-Vorlesung Joseph Hillebrands aus dem Sommersemester 1834. Hg. von Doreen Haring, Udo Roth u. Gideon Stiening. Leiden 2019.

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Rahmen einer Philosophie-, speziell einer Logikgeschichte des 19. Jahrhunderts149 bislang unterblieb.

2.1.4 Exkurs: Büchner und Hillebrand oder: Vorlesungen über Logik und Naturrecht 2.1.4.1 Logik Beide Lehrbücher, nach denen Hillebrand wahrscheinlich seine Vorlesungen über Logik abhielt, beginnen mit einer allgemeinen Einführung in Begriff, enzyklopädische Struktur (System) und Methode der Philosophie. Diese Vorlesung zur Logik diente mithin auch zur Einführung in die Disziplin überhaupt und Büchner dürfte hier erstmalig mit einem mehr als ›dilettantischen‹ Verständnis von Philosophie konfrontiert worden sein. Hillebrand bezeichnet die Philosophie ausdrücklich als Wissenschaft; mit Anspielungen auf Fichte wird sie als »Wissenschaft der Wissenschaften« definiert.150 Im Abschnitt über die »Encyklopädie der Philosophie« entwickelt er seine systematische Stellung, die einerseits einen aus Anthropologie und Naturlehre bestehenden Bereich des Faches als »Phänomenologie« ausweist, welche »die allgemeine Lehre über die bloß empirischen Erkenntnisse des Menschen oder über die Erscheinungen im Daseyn« ausführt,151 andererseits die hiervon unterschiedene »Philosophie« in theoretische und praktische einteilt. Trotz dieser durch die Unterscheidung zwischen Phänomenologie und Philosophie auffälligen Anbindung an Hegel152 sucht Hillebrand eine Position zwischen Kant und Hegel einzunehmen. Die theoretische Philosophie enthält nach Hillebrand Logik und Metaphysik, die praktische führe Ästhetik, Ethik und Politik aus. Insbesondere die Einbindung der Ästhetik in die praktische Philosophie zeigt den starken Einfluss Kants noch in den 1820er Jahren. Die Logik hingegen – und hieran zeigt sich das ebenso ambivalente wie kenntnisreiche Verhältnis zur Philosophie Hegels – soll den Status einer rein formalen Wissenschaft übersteigen, indem Hillebrand es unternimmt, »ihr eine reale Bedeutung« zu geben. Dieser Versuch steht ersichtlich in der Tradition einer objektiven Logik, die über Christoph Gottfried Bardili153 zu Hegels spekulativem Konzept führte,154 von dem sich Hillebrand gleichwohl nachdrücklich abgrenzt.155 In beiden Publikationen schließen Ausführungen zur Methodik der

|| 149 Vgl. hierzu Hansen 2000, der Hillebrand nicht erwähnt. 150 Hillebrand 1820, S. 3 u. S. 7; Hillebrand 1826, S. 9ff. 151 Hillebrand 1820, S. 15ff.; Hillebrand 1826, S. 77ff. 152 Vgl. hierzu Hegel 1986, III, S. 39ff. 153 Zu Bardili vgl. Röd 2006, S. 166f. 154 Vgl. u. a. Koch u. Schick 2002. 155 Vgl. u. a. die fundamentale Kritik der für den komplexen Anfang der Hegelschen Logik konstitutiven Dialektik von Sein und Nichts bei Hillebrand 1820, S. 57 (§ 102).

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Philosophie diese propädeutischen Überlegungen ab,156 die in Abgrenzung von den Methodologien der Einzelwissenschaften eine enge systematische Verbindung von Gegenständlichkeit und Methode des Denkens als zentralem philosophischem Gehalt betonen.157 Hillebrand definiert nun trotz des starken Einflusses der hegelschen Philosophie158 die Logik zunächst in eher aristotelischer Tradition als eine Wissenschaft von den »Regeln und Gesetzen des reinen Denkens«159 und unterscheidet auf dieser Grundlage zwischen einer »logischen Elementar- oder Prinzipienlehre«, einer »logischen Funktionslehre« und einer »logischen Pragmatik«,160 weil die Wissenschaft der Logik einerseits »Selbstzweck«, andererseits »Kanon und Organon«161 der empirischen Einzelwissenschaften sei. Weder also schließt sich Hillebrand der ihm wohlbekannten spekulativen Logik der Hegelschule an,162 noch reduziert er die Logik – in der Tradition der Psychologie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts163 – auf ihre wissenschaftstheoretische Begründungsfunktion für die Erkenntnistheorie.164 Ausdrücklich heißt es gegen solcherart Tendenzen seit dem späten 18. Jahrhundert: »Unrichtigkeit der Ansicht, nach welcher einige Neuere die Logik zur Psychologie gerechnet haben.«165 In dieser Bestimmung der »Logik als Wissenschaft

|| 156 Hillebrand 1820, S. 75–79; Hillebrand 1826, S. 20ff. 157 Vgl. Hillebrand 1820, S. 75: »Dieses Eigenthümliche der Philosophie besteht aber darin, daß sie als Wissenschaft des Wissens nicht Gegebenes zum Gegenstande hat, sondern sich ihren Gegenstand erst selbst giebt; mithin ihren Anfang nicht voraussetzt, sondern ihn selber setzt. Aus jener Eigenthümlichkeit der Philosophie folgt nothwendig diese andere, daß bei ihr Inhalt und Methode identisch seyn müssen […].« 158 Zu Hillebrands Nähe und Distanz zu Hegel vgl. Hillebrand 1820, S. Vf.: »Denn die Ansicht, daß die Logik in ihrem starken Formalismus sich selbst in gewissem Sinne vernichte, kann der Verf. nicht anders als seine Ueberzeugung nennen, ihr aber, wie der scharf- und tiefsinnige Hegel, eine rein spekulative Bedeutung beyzulegen, oder sie vielmehr in gewisser Hinsicht für allein mögliche Spekulation auszugeben, scheint ihm bey aller Achtung gegen den Urheber des Versuches und gegen sein Werk eine Mißkennung des wahrhaften eigenthümlichen Wesens der Logik zu seyn.« 159 Hillebrand 1826, S. 35f. 160 Ebd., S. 37 u. S. 163ff. 161 Ebd., S. 164f. 162 Vgl. hierzu Hansen 2000, S. 11ff. 163 Vgl. hierzu u. a. Eckardt, John, van Zantwijk u. Ziche 2001 für das späte 18. Jahrhundert sowie die Darstellung der empiristischen Positionen Friedrich Eduard Benekes und der Herbart-Schule bei Poggi u. Röd 1989, S. 54–73 u. Poggi 2001 für das frühe 19. Jahrhundert. 164 Zu dieser Büchner möglicherweise durch Wilhelm Traugott Krug (nach Lehmann 2005, S. 500) bekannten Tradition vgl. Hansen 2000, S. 14ff. Dass Büchner schon auf der Schule formallogische Kenntnisse erworben haben muss, zeigt der – wenn auch nur unreine – Syllogismus im Zusammenhang der Reflexionen auf die Selbstzweckhaftigkeit des Lebens in der Rezension Über den Selbstmord. 165 Hillebrand 1820, S. 23; insofern ist die von Prantl 1880, S. 417 aufgestellte und von Nowitzki 1998, S. 311 übernommene These von einer »Mittelstellung [Hillebrands] zwischen herbartschen Psychologismus und Hegelschem System« unzutreffend; Hillebrand vermittelt vielmehr ganz klas-

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des Denkens« und als spezifisch erkenntnistheoretische Voraussetzung für diesen Begriff des Denkens liegt Hillebrands Verständnis objektiver Logik, die das eigentliche Telos seiner Arbeiten ausmacht: Aus allem folgt, wie nun auch die Lehre über die Gesetzmäßigkeit des Denkens (die logische Gesetzlehre) einmal nur die Grund- oder Hauptgesetze des Denkens (der Verstandesthätigkeit) enthalten könne, wie dann ferner die Grundgesetze denen der Natur analog oder eigentlich nur die Darstellung der Grundgesetze des Existenziellen überhaupt sind. In dieser letztern Eigenthümlichkeit der Denkgesetze (welche eine nothwendige ist) liegt wiederum die reale Bedeutung des Denkens, mithin der Logik ausgedrückt.166

In dieser logischen Prinzipienlehre entwickelt Hillebrand nun den Gehalt und den Status von vier »Grundgesetzen des Denkens«,167 nämlich das Gesetz der Identität, das des Widerspruchs, das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten sowie das des zureichenden Grundes.168 Die logische Funktionslehre endlich entfaltet die klassische Lehre von den Begriffen, Urteilen und Schlüssen, die zeigt, dass Hillebrand zumindest bis 1826 den kantischen Innovationen u. a. bezüglich der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen mehr zuneigte169 als der hegelschen Logik, die sich in ihrer Kritik an den Syllogismen als erkenntnisfördernden logischen Schlussformen auszeichnet.170 Nach Hillebrand aber bildet die Lehre von den Syllogismen als »mittelbaren Schlüssen« den Abschluss des »Systems des Schlusses«.171 Dass Büchner diesen zentralen Teil der Logik – die Schlusslehre – mit großer Wahrscheinlichkeit hörte, zeigt die Anwendung der von Hillebrand in durchaus konventioneller Weise ausgeführten Lehre172 von den ›relativen (hypothetischen) Schlüssen‹,173 die Büchner an zentraler Stelle der Descartes-Skripte abrufen wird.174 Selbstverständlich liefert Hillebrand auch Bestimmungen zu »falschen Schlüssen«, die er als »Fehlschlüsse (Paralogismen) und Trugschlüsse (Sophismen)« konkretisiert, ohne allerdings den

|| sisch zwischen kantischem Transzendentalismus und hegelscher Dialektik, mit Eklektizismus aber (so Beise 2010, S. 82) hat diese systematische Vermittlungsleistung nichts zu tun. 166 Hillebrand 1820, S. 131. 167 Hillebrand 1826, S. 170. 168 Ebd., S. 167–170 sowie Hillebrand 1820, S. 129–140. 169 Vgl. Hillebrand 1826, S. 191. 170 Hegel 1986, VI, S. 374ff. 171 Hillebrand 1826, S. 200. 172 Vgl. hierzu – um nur zwei Beispiele zu nennen – Kant 1983, V, S. 560f. sowie Hegel 1986, VI, S. 395–398. 173 Hillebrand 1820, S. 197. 174 Vgl. hierzu Büchners Analyse des cogito-Argumentes, das er (P II, S. 1775f./MBA IX.2, S. 4527) als »hypothetischen Vernunftschluß« interpretiert, wobei »Büchner […] den Schlüssel zu dieser präzisen Formulierung des Grundprinzips weder bei Tennemann noch bei Kuhn finden« konnte (so schon Vollhardt 1991, S. 202).

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dann von Büchner in Danton’s Tod verwendeten Terminus des »Circelschlusses« zu verwenden.175 Den abschließenden Teil bildet eine »logische Pragmatik«, die Hillebrand wie folgt definiert: Die logische Pragmatik ist die Lehre von der möglichen allgemeinen Anwendung des Denkens rücksichtlich des wissenschaftlichen und wahren Erkennens überhaupt.176

Es dürfte womöglich dieser Teil der Logik Hillebrands gewesen sein, der Büchner 1834 am stärksten anzog, werden hier doch allgemein wissenschaftstheoretische Ausführungen hinsichtlich der Systematik und Methodik szientifischen Arbeitens überhaupt dargelegt. Hillebrand entfaltet in seiner »Systematik« eine allgemeine Prinzipienlehre ebenso wie eine Erklärungs- und Einteilungskonzeption für jede Form wissenschaftlichen Arbeitens; den Abschluss bildet eine Theorie des Beweises, die in ein differenziertes Tableau von Beweisformen und deren Status mündet, so den rationalen und empirischen Beweis, den direkten und indirekten sowie den progressiven (synthetischen) und den regressiven (analytischen) Beweis.177 In der anschließenden »Methodik« geht es Hillebrand zufolge weniger um »die Erkenntnis selbst, als vielmehr um die Art ihrer Erwerbung und Aneignung«, weshalb die folgenden Bestimmungen auf der Grundlage der erkenntnistheoretischen Grunddistinktion der kantischen Philosophie, nämlich der Unterscheidung zwischen Erfahrung und Vernunft als »Quellen der Erkenntnis« entwickelt werden. Auf diesem erkenntnistheoretischen Fundament ergibt sich auch die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von einer »rationalen oder Vernunftwissenschaft« und »empirischen oder Erfahrungswissenschaften«;178 zu letzteren sind nach Hillebrand »die historischen (im engeren Sinne) und die Naturwissenschaften« zu zählen.179 Im abschließenden Abschnitt »Dialektik« wird zunächst die »logische Semiotik« als Theorie der spezifisch sprachlichen Realisation wissenschaftlichen Denkens betrachtet; hier zeigt Hillebrand, dass er um die Kritik seiner Studenten an der »Kunstsprache« der Philosophie durchhaus weiß, denn bei der Formulierung einiger »Anforderungen an eine Sprache« aus dem logischen Gesichtspunkte treten »Lebendigkeit« und »Bildsamkeit« ebenso auf wie die »elementarische Einfachheit« und »Bestimmtheit des Ausdrucks«.180 Im zweiten Teil des Abschnittes »Dialektik« entfaltet der Logiker Kriterien für eine angemessene logische Beurteilung und Prü-

|| 175 MBA III.1, S. 20222f. sowie MBA III.4, S. 170f., die allerdings keine Verbindung zu Hillebrand herstellen; zur völlig äußerlichen Verknüpfung dieser Passage aus Danton’s Tod mit der Vorlesung Hillebrands vgl. Mayer 1981, S. 196; Knemeyer 1984, S. 313 sowie Hauschild 1993, S. 261. 176 Hillebrand 1826, S. 207. 177 Ebd., S. 217f. 178 Vgl. Hillebrand 1826, S. 219 u. S. 221. 179 Ebd., S. 221. 180 Ebd., S. 232.

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fung von Gedanken, die explizit von einer materialen Beurteilung unterschieden wird. Den Abschluss dieses Lehrbuchs der Logik zum Gebrauche bei Vorlesungen bildet eine »allgemeine Schlussandeutung, die Logik (insgesamt) betreffend«, die aufgrund ihrer prägnanten Form, die die hillebrandsche Konzeption zusammenfasst und zugleich den Vorlesungscharakter dokumentiert, hier in Gänze zitiert sei: 1) Allgemeine Wiederholung dessen, was in der Logik als Hauptsache näher entwickelt worden ist, mit Hinweisung auf den Zweck, Nutzen und den eigenthümlichen Charakter dieser Wissenschaft. 2) Ueber die wahre logische Allgemeinheit und Abstraktion im Gegensatze mit der falschen, eingebildeten. 3) Ueber den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis aus dem echt logischen Gesichtspunkte. 4) Ueber die Verschiedenheit der Wissenschaft und ihr besonderes Verhältnis zur Logik. 5) Ueber die wissenschaftliche Polemik aus dem Standpunkte der Logik. 6) Andeutungen über die wahrhafte wissenschaftliche Ausbildung und die Methode des akademischen Studiums, gleicher Weise nach Anforderungen der Logik.181

Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass Büchner solcherart Sätze gehört hat und daher in dieser Konzeption von Logik ausgebildet wurde, die mit einer Einführung in die Philosophie überhaupt und ihren Übergängen zur wissenschaftlichen Praxis über die rein formale Bestimmtheit dieser Wissenschaft weit hinausging. Dabei ist für die folgende Entwicklung Büchners nicht unerheblich, dass Hillebrand auch – allerdings nur illustrierende – Ausführungen zur »Geschichte der Logik«182 einstreute, die sich von den Vorsokratikern über Aristoteles, Leibniz und Wolff bis zu Kants Unterscheidung von transzendentaler und formaler Logik erstreckten. Insgesamt hörte Büchner eine in vielerlei Hinsicht für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts konventionelle Logik-Vorlesung,183 die in die Anfangsgründe der Logik als Wissenschaft einführte und ihn aufgrund ihrer allgemein wissenschaftstheoretischen und -methodischen Anmerkungen als Naturwissenschaftler durchaus angezogen haben dürfte; sein »lobenswerte[r] Fleiß«184 konnte also in einer Interessenslage der Sache gegenüber begründet sein.

2.1.4.2 Naturrecht und allgemeine Politik Anders als hinsichtlich der Logik fertigte Hillebrand für seine Vorlesungen über Naturrecht und allgemeine Politik kein eigenes Handbuch an. Zum Zwecke einer Rekonstruktion seiner Positionen im Rahmen dieser im frühen 19. Jahrhundert leb-

|| 181 Ebd., S. 248. 182 Ebd., S. 38ff. 183 Vgl. hierzu nochmals Hansen 2000, S. 14–27. 184 Vgl. erneut Mayer 1985, S. 124.

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haft diskutieren philosophischen Wissenschaft185 ist man auf die verstreuten Ausführungen des Gießener Professors in seinen enzyklopädischen Publikationen angewiesen. Trotz der seit langem bekannten Tatsache, dass Büchner im Sommersemester 1834 neben der Logik auch diese Vorlesungen Hillebrands besuchte und damit kurz nach der Abfassung des Hessischen Landboten,186 der sich zumindest an einer Stelle naturrechtlicher Argumente bedient,187 wurde eine solche Rekonstruktion von der Forschung bisher nicht versucht.188 Im Folgenden soll dieser Versuch unternommen werden: Hillebrand äußert sich in jeder seiner bis zum Sommer 1834 erschienenen Publikationen, die zumeist einführenden oder enzyklopädischen Charakters sind, zum Naturrecht,189 das er – so erklärt sich auch der Titel der Vorlesung – mit dem Begriff der Politik synonym setzt: Die dritte Disziplin der praktischen Philosophie ist die Politik (oder das sogenannte Naturrecht).190

Beide Bestimmungen sind jedoch – der Begriffs- und Sachgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts entsprechend – mit der allgemeinen Staatslehre identisch,191 weshalb Hillebrand die Definition auch fortsetzt: Sie ist die wissenschaftliche Entwicklung und Darstellung des Staates, oder sie ist die Wissenschaft des Staats.192

Dabei besteht eine charakteristische Eigentümlichkeit des hillebrandschen Naturrechts als einer allgemeinen Staatswissenschaft darin, dass er den Staat nicht über eine kontraktualistische Argumentation193 deduziert und dadurch »Ursprung und Legitimation des Staates«194 generiert. Vielmehr weist Hillebrand – hier im Einklang

|| 185 Vgl. Klippel 1995, S. 271ff.; Klippel 1997, S. VI–XVI sowie Dietmeier 2002. 186 Vermutlich Mitte März 1834; vgl. hierzu Mayer 1979b, S. 374; Görisch u. Mayer 1982, S. 375ff.; Schaub 1996, S. 182f.; P II, S. 825; anders Hauschild 1993, S. 314. 187 Vgl. P II, S. 5613f./MBA II.1, S. 710. 188 Osawa 1999, S. 25Anm. 1 hat sich anmerkungsweise zu Hillebrands »Deduktion des Staates« aus einem spekulativen Vernunftbegriff in den Prolegomena von 1830 und der Philosophie des Geistes von 1835 geäußert; wie erwähnt die MBA IX.2, S. 176–180 sowie Beise 2010, S. 81f. 189 Vgl. Hillebrand 1819, I, S. 158–178; Hillebrand 1820, S. 68–74; Hillebrand 1822/23, III, S. 22 u. S. 102–122; Hillebrand 1826, S. 60–68; Hillebrand 1830, S. 149–154; siehe auch Hillebrand 1835, II, S. 135–198. 190 Hillebrand 1820, S. 68; vgl. auch Hillebrand 1826, S. 60f. 191 Vgl. Stolleis 1997, S. 3. 192 Hillebrand 1820, S. 68. 193 Zum Kontraktualismus als einer entscheidenden rechtsphilosophischen Argumentationsfigur zwischen Hobbes und Rawls vgl. Kersting 1994. 194 Stolleis 1997, S. 4.

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mit den »deutschen Konservativen«,195 aber auch liberalen Ideengeschichtlern196 des Vormärz – jegliche Variante naturrechtlicher Vertragskonstruktion explizit zurück: Daß der Staat demnach weder seinen Ursprung und seine Begründung, noch seine Fortentwickelung und Vollendung einem sogenannten Ur- oder Grundvertrage verdanke, ist für sich klar. Ein solcher Vertrag würde den Staat, den er begründen soll, schon voraussetzen, also in sich selbst einen Widerspruch enthalten, abgesehn von seiner historischen Richtigkeit und seiner praktischen Unmöglichkeit und Gefährlichkeit.197

Für Hillebrand haben sich alle Vertragstheoretiker seit Hobbes daher des »Ultraliberalismus« schuldig gemacht,198 der unter allen Umständen abzulehnen sei.199 Demgegenüber wird die Ansicht vertreten, der Staat müsse und könne einzig aus der allgemeinen Idee der Vernunft abgeleitet und so legitimiert werden; in seinen Prolegomena von 1830 hält Hillebrand unmissverständlich fest: Der Staat ist diesem gemäß in seiner idealen und wesenhaften Bedeutung die objektive Vernunftordnung des menschlichen Handelns, mit dem Zwecke, die Anerkennung und Achtung der Vernunft ihrer selbst wegen unten den Menschen zu vermitteln und zu verbürgen. Es ergiebt sich hieraus zunächst, daß der Staat rein ideal oder ursprünglich in der Vernunft selbst gegründet liegt.200

Insofern der Staat mithin als notwendig praktische Konsequenz der spekulativen Vernunft dargestellt und legitimiert wird, ist er selbst – in welcher historischen Form auch immer, also grundsätzlich – vernünftiger Natur. Diese der hegelschen Staatstheorie verwandte Argumentation201 basiert auf der nach Hillebrand entscheidenden Einsicht in die Positivität des Staates als Rechtsrealisation und Freiheitsobjektivation,202 welche allererst ermögliche, die aus dem Kontraktualismus erwachsene Annahme, »daß der Staat B e s c h r ä n k u n g der Freiheit sey«,203 zu widerlegen:

|| 195 Ebd., S. 6 sowie Wehler 31996, S. 446. 196 Vgl. auch den spezifischen – Hillebrands Positionen verwandten – Antikontraktualismus bei Dahlmann 1997 [EA Göttingen 1835], S. 11: »Der Staat ist also keine Erfindung, weder der Noth noch der Kunst, keine Actiengesellschaft, keine Maschine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben hervorspringendes Vertragswerk, kein nothwendiges Übel, kein mit der Zeit heilbares Gebrechen der Menschheit, er ist eine ursprüngliche Ordnung, ein nothwendiger Zustand, ein Vermögen der Menschheit und eines von den die Gattung zur Vollendung führenden Vermögen.« 197 Hillebrand 1822/23, III, S. 110; vgl. auch Hillebrand 1830, S. 150. 198 Hillebrand 1822/23, III, 111Anm.*. 199 Zur wirksamen Tradition dieses aufklärerischen Kontraktualismus noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Brand 2006. 200 Hillebrand 1830, S. 149f. 201 Vgl. Hegel 1986, VII, S. 398ff. (spez. § 258). 202 Hillebrand 1822/23, III, S. 111. 203 Ebd., S. 110.

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Ueberhaupt ist es eine falsche und das Wesen der Staates herabwürdigende Lehre, daß derselbe nur ein Institut zur Beherrschung der Menschen sey, da er in der That nur die S e l b s t s o r g e d e r V e r n u n f t ist, die wahre Freiheit immer mehr objektiv darzustellen, die Kräfte der Menschen stets wirksamer zu vereinen und so die Menschheit selbst mehr und mehr zu realisieren. Der Staat wirkt nicht bloß negativ, sondern vorzüglich positiv.204

Deshalb auch übt Hillebrand scharfe Kritik an einem durch Schiller popularisierten Verständnis des ›Not- und Verstandesstaates‹,205 der ausschließlich negativ als Instrument der unerlässlichen Beschränkung der Freiheit des Einzelnen bestimmt wird. Während vor ihm wenigstens ein Student sitzt, der kurz zuvor eine politische Flugschrift fertig stellte, in der der Staat als Instrument zur Ausbeutung der Armen durch eine kleine Gruppe korrupter Reicher bezeichnet wird, schließt Hillebrand aus seiner die Positivität des Staates voraussetzenden »Deduktion des Staates« als eines »rein ursprünglichen Selbsterzeugnis[ses] der Vernunft«206 auf »den Begriff und die Bedeutung des Rechts«.207 Als gleichursprüngliche Kategorie208 gründet dessen Geltung in der Autonomie und Autorität des Staates. Aus dieser Systematik einer Ableitung von Staat und Recht auseinander sowie dieses Rechtsstaatskomplexes aus einem spekulativen Vernunftbegriff ergeben sich zudem folgerichtig Hillebrands Ausführungen zum »Rechtszwang« und zur »Strafe«,209 die hegelschen Vorstellung erneut sehr nahe kommen.210 Wie dieser bestimmt Hillebrand nämlich das Verbrechen als »Vernunftwidrigkeit«, die durch den Staat aufgehoben werden müsse, damit dieser seine Vernunft und Autorität aufrechterhalten und nur in dieser Form realisieren könne: Zweck der Strafe ist also Vernichtung des Unrechts im Verbrechen, leitende Norm die Idee der Gerechtigkeit, eigentliches Princip aber die Selbsterhaltung des Staats als einer objektiven Vernunftforderung in der Socialität.211

Ausdrücklich kommt Hillebrand in diesem Zusammenhang auch auf »das Eigenthumsrecht« zu sprechen, das im Begriff der Person als Rechtsinhaberin analytisch

|| 204 Ebd., S. 105Anm. *; vgl. hierzu auch die Argumentation bei Dahlmann 1835, S. 11. 205 Hillebrand 1830, S. 154: »Eben so wenig darf man aber im Staate eine Zwangsanstalt finden wollen, gleichsam ein Institut der Noth, somit ein nothwendiges Uebel.« Zu Schillers Staatsvorstellung, die hier einer Kritik verfällt, vgl. Schiller 1981, V, S. 576ff. 206 Hillebrand 1830, S. 150. 207 Ebd., S. 151. 208 Vgl. ebd.: »Aus dem Wesen des Staats entwickelt sich von selbst die Bedeutung des Rechts, welches in ihm allein seine Begründung hat und ohne seine Voraussetzung bedeutungslos ist oder doch mit dem Sittlichen schlechthin zusammenfällt.« Hvhb. im Text. 209 Ebd., S. 153; zum zeitgenössischen Kontext in Strafrechtstheorie und -praxis sowie deren Interaktionen vgl. Klippel, Henze u. Kesper-Biermann 2006, S. 385ff. 210 Vgl. hierzu Hegel 1986, VII, S. 185ff. (§ 97ff.). 211 Hillebrand 1830, S. 153.

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enthalten sei.212 Die allgemein vernunfttheoretische und -praktische Deduktion des Staates als einer »Selbstsorge der Vernunft«213 führt bei Hillebrand auch zu einer historisierenden, allerdings geschichtsphilosophischen Perspektivierung des Staates, die nicht zufällig eine legitimierende Funktion innehat: Allein wo solche Ungestalt [die Despotie] hervortritt, bezeichnet sie mehr oder weniger den Verfall der bürgerlichen Ordnung selbst; und man darf es so ziemlich als einen allgemeinen historisch-philosophischen Grundsatz aufstellen, daß jedes Volk, welches der Despotie anheimfällt, derselben bedarf oder werth ist.214

Diese »metaphysische Begründung des Staates«215 ist zentraler Gegenstand des ersten von drei Bestandteilen des Naturrechts als einer Disziplin der praktischen Philosophie; als deren erstes Moment erhält sie die Bezeichnung »Politische Elementarlehre«.216 Das zweite Moment dieser Einteilung des Naturrechts macht die »Politische Principienlehre« aus, die die »wissenschaftliche Darstellung der Principien, Grundsätze und allgemeinen Mittel zur Realisirung des Staatsbegriffs« enthält; hier werden Begriffe des Staatszweckes, der Souveränität, der Herrschaft, Regierung und Verfassung entwickelt.217 Den dritten Teil des wissenschaftlichen Naturrechts macht laut Hillebrand die »Politische Pragmatik« aus, die »die empirisch-nothwendigen Bedingungen für die Realisierung des Staatsbegriffes« ausführt, zu denen u. a. die »Civil- und Criminalgesetzgebung«, die »Wohlfahrt« oder die »Polizeigesetzgebung« zu zählen sind.218 Wie bei Kant,219 so schließt auch bei Hillebrand die Staatszweckbestimmung einer rechtstaatlichen Freiheitsrealisation Wohlfahrtsziele als essentielle Funktion des Staates durchaus ein.220

|| 212 Ebd., S. 153; zum zeitgenössischen Kontext der naturrechtlich begründeten liberalen Eigentumstheorien im Vormärz vgl. Klippel 1995, S. 286f. 213 So Hillebrand 1822/23, III, S. 105Anm. *. 214 Ebd., III, S. 110Anm.*. 215 Hillebrand 1820, S. 69. 216 Ebd., S. 69–71; Hillebrand 1826, S. 61. 217 Hillebrand 1820, S. 71f.; Hillebrand 1826, S. 61. 218 Hillebrand 1820, S. 72–74; vgl. auch Hillebrand 1826, S. 61. 219 Vgl. hierzu Kant 1983, IX, S. 125–172, hier S. 155: »Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern als bloßes Mittel, den rechtlichen Zustand, vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks, zu sichern«, weil, wie es in einer Anmerkung heißt, »der Staat, ohne Wohlhabenheit des Volks, nicht Kräfte genug besitzen würde, auswärtigen Feinden zu widerstehen, oder sich selbst als gemeines Wesen zu erhalten.« Zur Sozialstaatsfunktion als eine der »Bedingungen, ohne die Freiheit der Willkür überhaupt unmöglich wäre«, vgl. Merle 1999, S. 207ff. 220 Zum historischen Kontext der unterschiedlichen naturrechtsphilosophischen Wohlfahrtsstaatstheorien des 18. und 19. Jahrhundert vgl. Ebbinghaus 1986, I, S. 231–264 sowie Frischmann 2006, S. 570ff.

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Die politische Pragmatik stellt für Hillebrand mithin keine äußerliche, regierungspraktische Zugabe zur allgemeinen Staatswissenschaft dar, sondern ist eine Berücksichtigung der notwendigen empirischen Realisationsbedingungen jeder historisch konkreten Staatsform. Aufgrund dieser Vermittlung von Spekulation und Empirie im Naturrecht korrespondiert der ›allgemeinen Staatswissenschaft‹ Hillebrands in seiner Anthropologie aus den Jahren 1822/23 eine rechtsgeschichtliche Betrachtung des »Bildungsganges der Gesetze«,221 die zu einer »Rechtsgeschichte der Völker«222 ausgeweitet wird. Neben den strenger rechtsphilosophischen Deduktionen einer allgemeinen Staatswissenschaft, die in der Tradition eines Naturrechts des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts stehen,223 ist Hillebrand über die Entwicklungen des Faches zu einer historischen Rechtsschule224 im frühen 19. Jahrhundert also bestens informiert und darum bemüht, die Erklärens- und Verstehensansprüche beider Forschungsausrichtungen zu vermitteln. Dass diese Vermittlung von System und Geschichte letztlich geschichtsphilosophischen Charakter hat, zeigt seine Zurückweisung einer theoretischen Suche nach einer idealen Staatsform: Vielmehr ist die Frage nach einer absolut-besten Staatsform ohne Sinn und Bedeutung, indem jede die beste ist, welche in einer bestimmten Zeit für ein bestimmtes Volk nach den nothwendigen Forderungen der historischen Umstände und des eigentlichen Wesens des Staates die Autokratie der bürgerlichen Ordnung am zweckmäßigsten und angemessensten darstellt.225

Eine Geschichte der politischen Philosophie bzw. eine politische Ideengeschichte von den Vorsokratikern bis in die 1820er Jahre226 ergänzt letztlich Hillebrands Verständnis von »Politik« als einer von der Ästhetik und Ethik unterschiedenen Disziplin der praktischen Philosophie. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass der in den Sommermonaten des Jahres 1834 bis an die Grenzen der Erschöpfung227 die Möglichkeiten eines revolutionären Umsturzes auslotende Georg Büchner solcherart geschichtsphilosophische Legitimationen der Despotie zu hören bekam – und das auch noch freiwillig.228 Sicher ist, dass er die im Hessischen Landboten vorgeführte Ableitung der Gesetze eines Staates aus der volonté des tous229 als rechtsphilosophisch schlicht falsch erkennen konnte bzw. zu einer frühaufklärerischen Vorstellung der Ableitung der

|| 221 Hillebrand 1822/23, III, S. 114ff. 222 Ebd. 223 Vgl. erneut Stolleis 1997. 224 Klippel 1997, S. V. 225 Hillebrand 1822/23, III, S. 109f. 226 Vgl. Hillebrand 1826, S. 62–68. 227 Vgl. hierzu Mayer 1979b, S. 377–386; Mayer 1981, S. 195f. 228 Das Naturrechtskolleg gehörte nicht zum Pflichtprogramm der philosophischen Zwangskollegien, vgl. Hauschild 1993, S. 262. 229 Siehe hierzu Stiening 2012.

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Gesetze aus dem Gemeinwohl eine naturrechtlich moderne Alternative vorgeführt bekam. Denn wenn es im Hessischen Landboten, den Büchner im März 1834 und damit vor Beginn des Sommersemesters niederschrieb, heißt: Der Staat also sind Alle, die Ordner sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen,230

dann konnte er im Sommer bei Hillebrand lernen, dass Gesetze ihrem Begriffe nach anderes sein können als freiheitsbegrenzende »Ordner« im Staate und er hätte erst hier gelernt, dass Recht und Gesetze naturrechtlich, zumal bei Rousseau, keineswegs aus der volonté des tous, sondern aus der volonté generale abzuleiten waren.231 Selbst wenn – wie es in beiden Druckfassungen steht, von der Forschung allerdings einhellig als Druckfehler marginalisiert wird232 – tatsächlich das »Wohl Aller«, mithin das Gemeinwohl, als Ursprung der Gesetze gemeint war, hätte Büchner durch Hillebrands Einführung in die Grundlagen neuzeitlichen Naturrechts die aufklärerischen Alternativen zu dieser Staatszweckbestimmung durch das Gemeinwohl, nämlich in der Freiheitsrealisation, kennenlernen können.233 Ob Hillebrand als Logiker, Ästhetiker oder Naturrechtler einen prägenden Einfluss auf Georg Büchner ausübte, ist nach wie vor umstritten.234 Zur Beantwortung dieser Frage bedürfte es einer weit umfassenderen Erforschung des gesamten Werkes des Gießener Philosophen, die nach wie vor aussteht.235 Büchners oben erwähnter Freund Friedrich Zimmermann war 50 Jahre nach der gemeinsamen Studienzeit

|| 230 Büchner u. Weidig 1996, S. 824–30; vgl. auch die in den Text eingreifende Präsentation in P II, S. 5424–27; zutreffend dagegen MBA II.1, S. 66–8; es gehört zu den Eigentümlichkeiten einer bestimmten Büchner-Forschung, dass sie – obwohl in allen beiden erhaltenen Druckversionen des Hessischen Landboten die Gesetze aus dem »Wohl Aller« abgeleitet werden – behauptet, es könne sich hier nur um einen Druckfehler handeln (vgl. P II, S. 863f. oder auch Büchner u. Weidig 1996, S. 50, wo auch noch mit Bezug auf eine »freundliche Mitteilung« Herbert Wenders das schon ›verbesserte‹ »Wille aller« mit der »volonté générale« gleichgesetzt wird). Büchner habe sehr wohl gewusst, dass es sich bei einer Naturrechtsdeduktion der Gesetze nur um den Willen als Ausgangspunkt habe handeln können. Einzig Mayer (1979a, S. 269f.) behauptet, hier liege kein Druckfehler vor, sondern eine jener von ihm nachgewiesenen Verfälschungen Weidigs. Vgl. hierzu meine Ausführungen in Stiening 2012. 231 Vgl. Rousseau 1981, S. 279–281 u. S. 291f. (CS, I.6 u. II.3); zu Hillebrands RousseauInterpretation als Position des »Ultraliberalismus« vgl. Hillebrand 1822/23, III, S. 112. 232 Vgl. hierzu erneut Mayer 1979a, S. 269–281; Büchner u. Weidig 1996, S. 50; P II, S. 863f. 233 Vgl. Hillebrand 1822/23, III, S. 110ff.; zu den Differenzen dieser Staatszweckbestimmungen und ihres historischen Wandels im frühen 19. Jahrhundert vgl. Stolleis 1997, S. 8ff. 234 Vgl. – um nur eine Arbeit zu nennen, die sich tatsächlich mit Hillebrands Texten auseinandersetzt – Nowitzki 1998, der einen starken Einfluss annimmt, sowie die Kritik hieran von Roth u. Stiening 2000, die (S. 209f.) ein enges Lehrer-Schüler-Verhältnis als nicht dokumentierbar zurückweisen. 235 Vgl. hierzu auch Fischer 1987, S. 349f.

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von einem nur geringen Einfluss überzeugt, auch wenn er Hillebrand als intellektuelle Ausnahmeerscheinung im provinziellen Gießen charakterisierte: Zu den Ausnahmen gehörte Joseph Hillebrand, ein ästhetischer Kritiker von ungewöhnlicher Begabung und feinster Bildung; ein Meister des Vortrags, der aber auf dem strengphilosophischen Gebiete durch seine speculative Terminologie wohl den meisten Zuhörern unverständlich oder doch fremdartig blieb. Wir bezweifeln, daß er auf Büchner eine tiefe und nachhaltige Wirkung geäußert habe.236

Diese nur mit einer psychischen Disposition Büchners zur Unruhe gegenüber der Geschichte der Philosophie mehr schlecht als recht begründete Annahme237 hat die Büchnerforschung von einer angemessenen Auseinandersetzung mit der Philosophie Hillebrands bislang abgehalten.238 Immerhin lässt sich aufgrund der für Vorlesungszwecke verfassten Publikationen zur Logik und einer Rekonstruktion der hillebrandschen Positionen zum Naturrecht gut nachzeichnen, was Büchner im Sommer 1834 mehrmals die Woche hörte. Dass er den logischen und wissenschaftstheoretischen Ausführungen Hillebrands für seine naturwissenschaftlichen Arbeiten mehr abgewinnen konnte als den politphilosophischen, deren systematische und politische Affinität zum Liberalismus unverkennbar ist,239 liegt nach Sichtung der Texte auf der Hand; Büchners spätere Berufung auf einen »absoluten Rechtsgrundsatz«, der unübersehbar in den Kontext einer naturrechtlichen Argumentation zu lozieren ist,240 muss dennoch vor dem Hintergrund der Einführung in die Anfangsgründe dieser Wissenschaft durch Hillebrand berücksichtigt werden.241 Dass er darüber hinaus nachweislich noch im Sommer 1836 – und zwar sowohl in Leonce und Lena242 als auch in den philosophischen Skripten243 – formallogische Instrumentarien anzuwenden verstand, die er bei Hillebrand erlernte, wird sich bei einer näheren Betrachtung dieser Texte zeigen. Sicher ist, dass Büchner im Sommersemester 1834 zum ersten und einzigen Mal während seines kurzen Lebens in unmittelbaren Kontakt mit der professionellen Philosophie seiner Zeit kam.

|| 236 Zimmermann 1880, zitiert nach Hauschild 1985a, S. 336. 237 Zimmermann spricht davon, dass Büchner »die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie mehr beunruhigte als aufklärte« (ebd., S. 336), was im Abgleich mit Büchners brieflichen Äußerungen eher unwahrscheinlich wirkt; ein Argument für und gegen einen Einfluss Hillebrands auf Büchner bietet dieses freie Assoziieren Zimmermanns allerdings nicht. 238 Die Hinweise in MBA IX.2, S. 176–180 können dieses Desiderat nicht kompensieren. 239 Vgl. die aufschlussreichen Ausführungen von Klippel 1995, S. 288ff. 240 Vgl. P II, S. 44021 u. S. 1201/MBA X.1, S. 9330. 241 Vgl. hierzu Stiening 2012 sowie meine Ausführungen in Kap 4: Büchners politisches Wissen. 242 Vgl. hierzu die präzisen Ausführungen bei Nowitzki 1998, S. 317ff. 243 Vgl. hierzu P II, S. 1775–9.

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2.1.5 Darmstadt, Oktober 1834 bis März 1835: Philosophiegeschichte? Nach dem Ende des Sommersemesters geht Büchner im September 1834 zurück nach Darmstadt und verbringt auf Anraten des Vaters den gesamten Herbst und Winter im Elternhaus.244 Wie vielfach in ebenso minutiöser wie kontroverser Form rekonstruiert (nicht ein einziger Brief Büchners aus der Zeit zwischen August 1834 und Februar 1835 ist überliefert),245 beschäftigt er sich neben seiner vordringlichen konspirativen Tätigkeit, die in besonders drängendem Maße um Fragen der Befreiung der gefangenen Freunde kreiste,246 mit dem ebenso heimlichen wie rastlosen Schreiben an Danton’s Tod.247 Vor allem aber hält Büchner unter der Anleitung seines Vaters »Vorlesungen über Anatomie für junge Leute«.248 Darüber hinaus »waren es, wie früher, Geschichte, Philosophie und Literatur, die ihn beschäftigten«.249 Welcherart Lektüre diese Reflexionsfelder zumindest auch ausfüllte, wissen wir durch die philologische Pionierarbeit Anna Jaspers, die in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1918 die Ausleihlisten der Darmstädter Bibliothek, deren Besuch schon Ludwig Büchner erwähnt hatte, auswerten konnte.250 Dabei sind neben historischen und literarischen Texten im vorliegenden Zusammenhang vor allem zwei Bände von besonderem Interesse: Büchner entleiht vom 9. bis 12. Oktober 1834 den ersten Band von Wilhelm Gottlieb Tennemanns 11-bändiger Geschichte der Philosophie, der neben einer systematisch und methodologisch ausgerichteten allgemeinen Einleitung in die Geschichte der Philosophie die Geschichte der griechischen Philosophie bis auf Sokrates enthält. Vom 1. bis 5. November leiht Büchner darüber hinaus einen Band mit politischen Schriften Jean-Jacques Rousseaus aus. Die vordringliche Auswertung dieser Liste im Hinblick auf die Quellen von Danton’s Tod251 hat allerdings zweierlei bislang übersehen lassen: Erstens scheint Büchner die im Sommersemester 1834 begonnene Unterweisung im neuzeitlichen Naturrecht mit einer Lektüre

|| 244 Vgl. Hauschild 1993, S. 395ff.; Beise 2010, S. 29. 245 Vgl. hierzu Hauschild 1993, S. 395–437, kritisch hierzu – allerdings vor allem im Zusammenhang der Frage nach dem Vater-Sohn-Verhältnis – Mayer 1995–99, S. 38–46. 246 Ebd., S. 55ff. 247 Zur komplexen Gemengelage der Nöte, Interessen und Tätigkeitsfelder Büchners während der Herbst- und Wintermonate vgl. die – nur in ihrem unpolemischen Teil gelungene – Formulierung bei Mayer 1995–99a, S. 35: »Und tatsächlich überlagern sich im Winter 1834/35 die unterschiedlichen Bereiche von Politik (der von Büchners ›Gesellschaft der Menschenrechte‹ wie der staatlichen Repression), der historischen und philosophischen Quellenstudien sowie der Abfassung eines Geschichtsdramas mit dem Privaten und Persönlichen – nicht zuletzt der ›Sorge‹ um die inhaftierten Freunde ebenso wie um die eigene Sicherheit – […] kompliziert und z. T. undurchsichtig […].« 248 So Ludwig Büchner in Dedner (Hg.) 1990, S. 116. 249 Ebd. 250 Vgl. Jaspers 1922, S. 15f.; wiederaufgenommen in Dedner (Hg.) 1990, S. 482; Hauschild 1993, S. 435; vgl. auch MBA III.3, S. 5–9. 251 So schon bei Jaspers 1922 und noch in MBA III.3, S. 9 u. S. 319–322.

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von Rousseaus politischen Schriften fortgesetzt zu haben. Unbestreitbar hat dies Auswirkungen auf Danton’s Tod,252 es zeigt aber auch, dass die im Hessischen Landboten noch unpräzisen Bezüge auf die naturrechtliche Willenstheorie Rousseaus einer Überprüfung bedurfte und dass Anregungen Hillebrands vermutlich weiterverfolgt wurden.253 Zweitens aber – und dies ist für die weitere Entwicklung der büchnerschen Beschäftigung mit der Philosophie ausschlaggebend – befasst sich der Student der ›Naturwissenschaften‹ erstmals mit Philosophiegeschichte als eigenständiger Disziplin. Dieser Nachweis einer Auseinandersetzung mit dem ersten Band der tennemannschen Philosophiegeschichte, die – wie die MBA ausdrücklich betont254 – kaum belegbare Spuren im Drama hinterließ und somit nicht als vorbereitende Lektüre für dessen Erarbeitung diente,255 zeigt, dass Büchner spätestens im Herbst 1834 die Philosophiegeschichtsschreibung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin entdeckt hatte;256 schon auf den ersten Seiten der Vorrede heißt es nämlich bei Tennemann: Die Geschichte der Philosophie kann […] weder Geschichte der Philosophen, noch der Philosopheme seyn. Jene begreift diese beiden in sich, aber sie ordnet sie einem höhern Zweck und Gesichtspuncte unter. Dieser ist nehmlich die Darstellung der Bildung und Entwickelung der Philosophie als Wissenschaft.257

Mit dieser Frage der Ausprägung einer Theorie und Methodologie der Geschichte der Philosophie beschäftigt sich Tennemann in seiner umfangreichen Einleitung zu diesem ersten Band; und dass jene Philosophie, mit der sich eine Geschichte der Philosophie einzig zu befassen habe, als Wissenschaft muss auftreten können, wird Büchner noch knapp zwei Jahre später intensiver reflektieren.258 Da er kaum fünf Wochen nach Erteilen des Testats durch seinen akademischen Lehrer Hillebrand, der selbst schon 1819 als Philosophiehistoriker hervorgetreten war,259 Tennemann in der Darmstädter Bibliothek ausleiht, liegt die Vermutung nahe, dass die Anregung für eine zuvor nicht belegbare Lektüre spezifisch philosophiehistoriographischer Texte durch Hillebrand erfolgte.

|| 252 Ebd. 253 Zu Büchners Rousseau-Lektüre vgl. Mayer 1979a, S. 112f.; dass Büchners politische und polittheoretische Positionen eine Entwicklung durchliefen, lässt sich nachlesen bei Stiening 2016. 254 MBA III.3, S. 9. 255 Vgl. u. a. MBA III.4, S. 163. 256 Diesen Sachverhalt verkennt MBA IX.2, S. 301–308. 257 Tennemann 1798–1819, I, S. V. 258 Vgl. hierzu den ersten Satz der Descartes-Vorlesung in P II, S. 1723: »Wie Cartesius die Philosophie als Wissenschaft sich dachte, […].« 259 Vgl. Hillebrand 1819, S. 237–590.

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Noch im Januar 1835 – nur Wochen vor seiner Flucht – hat Büchner Gelegenheit, eine andere, nicht wissenschaftliche Form der Philosophiegeschichtsschreibung zur Kenntnis zu nehmen, und zwar Heinrich Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Diese der Form nach essayistische, ihrem Gehalt nach eher kulturgeschichtlich und -politisch interessierte Schrift260 wird Büchner für einige staatspolitische Debatten in Danton’s Tod auswerten,261 auf seine sich später ausbildende, disziplingebundene Form der wissenschaftlichen Historiographie der Philosophie wird dieser Text, obwohl Heine ebenfalls Tennemanns Philosophiegeschichte dem eigenen Schreiben zugrunde legte,262 kaum Einfluss gewinnen.263 Zumindest mittelbar ist letztlich nachweisbar, dass sich Büchner spätestens in diesem Winter mit der Philosophie Spinozas sowie mit Reflexionen auf eine aktuelle gesellschaftspolitische Bedeutung des Epikureismus und des Stoizismus befasst haben muss. Denn bekanntermaßen spielt die Philosophie Spinozas im Philosophengespräch von Danton’s Tod (III.1) eine zentrale Rolle, und zwar in den Deduktionsversuchen Thomas Paynes wider die Existenz Gottes.264 Einige Theorieelemente der genannten hellenistischen Schulen dienen darüber hinaus zur Charakterisierung der Positionen Robespierres und Dantons; letzterer erhebt den Epikureismus gar zur anthropologischen Konstante.265 Dass die poetische Transformation des Hellenismus vermutlich auf einem Wissen basiert, das der Schullektüre Büchners entsprang, hat – gegen die Kommentierungsvorschläge der MBA266 – Susanne Lehmann schlüssig nachgewiesen;267 welchen Texten aber die kritische Kenntnis der

|| 260 Heine 1976, V, S. 505–641. 261 Vgl. schon Mayer 1979a, S. 127ff.; Mayer 1979b, S. 390ff.; P I, S. 480ff.; MBA III.4, S. 43ff. sowie ausführlich und endlich auch in aufschlussreicher Interpretation Teraoka 2006, S. 96–128, spez. S. 121ff. 262 Vgl. Höhn 32004, S. 342. 263 Anders dazu P II, S. 957, der aber nur spekulierend von Heines Text als »Bezugspunkt, den Büchner mit Sicherheit im Auge hatte«, spricht; ungeprüft übernommen bei Martin 2007, S. 244; MBA IX.2, S. 183f. 264 Vgl. hierzu MBA III.1, S. 4724–5020; zur Interpretation dieser philosophischen Deduktionen und der Stellung Spinozas in ihnen vgl. Stiening 2002. 265 Vgl. MBA III.4, S. 46f. 266 MBA III.4, S. 46 vermutet, dass »Büchners Kenntnis der epikureischen und der ihr verwandten cyrenaischen Philosophie […] u. a. vermutlich auf der Epikur-Darstellung Tennemanns III« beruht. Mayer (1995–99a, S. 320f.) hat aber (gegen die ungenügend begründeten Spekulationen von Hauschild 1993, S. 527 und P II, S. 929) schlüssig gezeigt, dass Büchners Manuskripte zur griechischen Philosophie, die in der Tat (vgl. schon Bergemann 1922, S. 740f. sowie Stiening 2012a) vor allem ein Exzerpt aus den Bänden 1 bis 3 von Tennemanns Philosophiegeschichte darstellen, erst Mitte 1836 entstanden sein können. Nachweisbar ist – wie erwähnt – nur die Ausleihe von Band 1 dieses Kompendiums; MBA IX.2, S. 188 geht allerdings wieder von Sommer/Herbst 1835 aus. 267 Vgl. Lehmann 2005, S. 320ff.

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Philosophie Spinozas im Winter 1834 entstammte, ist nach wie vor ungeklärt.268 Die – empirisch nicht gesicherte269 – Auseinandersetzung mit der theologischen Dissertation seines Freundes Stoeber scheint eine mögliche, wenngleich nicht hinreichende Grundlage für diese Kenntnis und ihre poetische Gestaltung abzugeben.270

2.1.6 Naturwissenschaft und Philosophiegeschichte: Straßburg, März 1835 bis Oktober 1836 Nach der nur äußerst knapp gelungenen Flucht aus Darmstadt271 werden die Dokumente für eine Auseinandersetzung Büchners mit der Philosophie oder der Philosophiegeschichte zunächst spärlicher; die finanzielle und politische Existenzsicherung des Exilanten steht im Vordergrund,272 auch wenn er seiner Familie noch auf der Flucht nachdrücklich versichert, dass er »das Studium der medicinischphilosophischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung betreiben« werde.273 Mit der Formel von den »medicinisch-philosophischen Wissenschaften« sind zweifelsfrei Büchners naturwissenschaftliche und -philosophische Ausbildungsstudien insbesondere in der vergleichenden Anatomie gemeint,274 die mit disziplinär gebundenen philosophischen oder philosophiehistorischen Themen nicht zu verwechseln sind.275 Auch die Versicherung gegenüber Gutzkow, er sei »entschlossen, [s]einen Studienplan nicht aufzugeben«,276 weisen ausschließlich in diese naturwissenschaftliche Richtung. Umso mehr muss es erstaunen, wenn Büchner noch im Oktober 1835 der Familie berichtet:

|| 268 Möglicherweise ließ sich Büchner durch das Spinoza-Kapitel in der Philosophiegeschichte Hillebrands anregen, der – wie Payne in Danton’s Tod – davon spricht, dass »eine gültige Deduktion des Guten und Bösen, nach einem wirklichen Gegensatze, unmöglich« sei, vgl. Hillebrand 1819, S. 529–533, spez. S. 531. 269 Anders, auf der Grundlage der Spekulationen Mayers, Vollhardt 1988/89, S. 47. 270 Vgl. hierzu ebd., S. 47, der davon spricht, dass die »Abhandlung Stoebers […] wie ein bedächtiger Kommentar zu den von Büchner nur ironisch oder provozierend gestellten Fragen« wirke. 271 Vgl. hierzu die detaillierte und anschauliche Darstellung bei Mayer 1995–99. 272 Vgl. Mayer 1985, S. 204 u. Mayer 1995–99, S. 55ff. 273 P II, S. 397; zur lebensweltlichen Bedeutung dieser Passage vgl. auch Hauschild 1985, S. 359f. 274 Vgl. hierzu zu Recht P II, S. 1046; Roth 2004, S. 38f.; MBA VIII, S. 189ff., S. 245f.; Beise 2010, S. 81. 275 So aber Kubik 1991, S. 203. Übrigens darf man die Formel ebensowenig mit einem vor allem erfahrungsgebundenen, »anti-metaphysische[n]« Verständnis der Medizin verwechseln, wie dies Seling-Dietz 1995–99, S. 193 und auf ihrer Grundlage MBA V, S. 132 in einem selbst antimetaphysischen Affekt tun (anders dagegen, allerdings ohne klare Ausrichtung MBA VIII, S. 190f.); vgl. hierzu auch meine Ausführung in Kap. 3. 276 P II, S. 40218f.; Hvhb. im Text.

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Auch sehe ich mich eben nach Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand um.277

Büchner ist sich also noch im Oktober 1835 nicht nur über den konkreten Gegenstand seiner Promotion im Unklaren, selbst die Disziplin – Philosophie oder Naturwissenschaft – scheint zu diesem Zeitpunkt noch ›offen‹.278 Klar wird durch diesen Hinweis aber, dass er in dem halben Jahr seit März 1835 in Straßburg sowohl philosophische als auch naturwissenschaftliche Studien betrieben haben muss,279 denn er traut sich im Oktober 1835 immerhin auch eine Dissertation in der Philosophie zu, obwohl er dieses Fach nicht bzw. nur in den schon erwähnten »Zwangskollegien«280 studierte. Wenn er gar noch Mitte November 1835 an Karl Gutzkow schreibt: Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philosophie; ich lerne die Armseligkeiten des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen,281

dann muss noch der von Roth gegen Hauschild282 anvisierte Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung für die Wahl eines vergleichend anatomischen Themas und damit für die Disziplin der Naturwissenschaft weiter nach hinten verschoben werden. Der zwischen Naturgeschichte und Philosophie deutlich trennende Büchner spricht Mitte November in seinem Stoßseufzer über die »Armseligkeiten des menschlichen Geistes« eindeutig von Philosophie,283 so dass die Hoffnung vom 2. November, alsbald an »der Züricher Facultät den Doctorhut« zu erhalten und im Fach zu »dociren« sich ebenso auf ein philosophisches wie ein naturhistorisches Thema beziehen konnten.284 Wichtig ist auch hier, dass Büchner im Herbst 1835 zwar von einem potentiellen Dissertationsthema in der Philosophie, keineswegs aber einem der Philosophiegeschichte spricht;285 die Tennemann-Ausleihe im Jahre zuvor hatte

|| 277 Ebd., S. 4193–5; Hvhb. von mir. 278 So zu Recht P II, S. 877; Roth 2004, S. 22. 279 So auch MBA VIII, S. 188f., die allerdings fälschlicher Weise von philosophiehistorischen Gegenständen ausgeht. 280 Vgl. Knemeyer 1984, S. 312f. sowie Hauschild 1993, S. 252 und Roth 2004, S. 34. 281 P II, S. 420. 282 Vgl. Roth 2004, S. 22, der – ohne den Brief an Gutzkow von Mitte November zu zitieren – behauptet: »Etwa zu dieser Zeit [Ende Oktober/Anfang November] muß sich Büchner zur Abfassung einer naturwissenschaftlichen Dissertation entschlossen haben.« Hauschild 1985, S. 360f. hatte einen noch früheren Zeitpunkt vermutet. Beides aber muss als unpräzise bezeichnet werden. 283 Auch hier ist im Übrigen unklar, was Büchner gerade studierte. 284 Anders, aber unplausibel, weil psychologisierend dazu Roth 2004, S. 23; auch MBA VIII, S. 197 meint, dass sich die »Promotionshoffnung« von Anfang November »nur auf ein naturwissenschaftliches Thema beziehen« lasse, gibt für diese Spekulation aber keinerlei Gründe an. Sicher ist dagegen, dass Büchner noch Mitte November mit philosophischen Fragen beschäftigt ist, die ein ausschließlich anatomisches Arbeiten auf dem Felde der Naturforschung unmöglich machen. 285 Das übersieht MBA VIII, S. 191.

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also keinerlei Auswirkungen auf Büchners philosophisch-systematische Interessenausrichtung, etwa im Sinne einer schon 1834 erfolgten Spezialisierung auf den Bereich der Philosophiehistoriographie. Und erst nach Mitte November286 scheint sich Büchner endgültig für ein Thema im Gebiet der vergleichenden Anatomie als Gegenstand einer naturphilosophischen Dissertation an der philosophischen Fakultät in Zürich entschieden zu haben. Bis Anfang Juni des Jahres 1836 gibt es keine weiteren Dokumente einer Beschäftigung Büchners mit Philosophie oder Philosophiegeschichte; die theoretisch und praktisch aufwendige Arbeit am Dissertationsthema287 lässt in diesen Monaten keinen Raum für eine anderweitige Reflexionsarbeit. Doch schon kurz nach dem Absenden der Arbeit am 31. Mai 1836 lässt Büchner in einem Brief an Gutzkow verlautbaren: Ich habe nämlich die fixe Idee, im nächsten Semester zu Zürich einen Kurs über die Entwickelung der deutschen Philosophie seit Cartesius zu lesen.288

Es ist von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass dieser Hinweis Büchners auf seine berufliche Zukunft an der philosophischen Fakultät Zürich das erste tatsächliche Dokument (neben der Ausleihe des ersten Bandes von Tennemanns Kompendium im Oktober 1834) darstellt, das eine spezifisch philosophiehistoriographische Tätigkeit Büchners nachweist. Dienen die Anspielungen auf die Philosophie Spinozas sowie die epikureischen und stoischen Theoreme in Danton’s Tod eindeutig systematischen Extemporationen in geschichtsphilosophischer, ethischer oder politischer Hinsicht, so ist erst mit dieser brieflichen Aussage Büchners eine eigenständig philosophiehistorische Perspektive belegt. Dabei ist die Tatsache, dass er nicht die ganze, seit der Antike währende, sondern nur die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie zum Gegenstand seiner Vorlesungen machen will, ein erklärungsbedürftiges Phänomen, zu dem weiter unten Stellung bezogen werden soll. Wichtiger ist zunächst, dass Büchner zumindest in dieser Briefpassage mit dem Begriff der »Entwickelung« eine spezifisch philosophiegeschichtliche Kategorie verwendet, derer sich schon Tennemann bediente, um die Besonderheit einer philosophiehistorischen gegenüber einer philosophischen oder einer geschichtlichen Wissenschaft zu markieren: Als G e s c h i c h t e muß sie aber das Wirkliche in seinem Zusammenhange n a c h d e r Z e i t f o l g e d a r s t e l l e n , und gerade der Hauptzweck dieser Art von Geschichte, d i e D a r s t e l -

|| 286 So zu Recht Hauschild 1993, S. 512. 287 Vgl. hierzu das Kapitel über die Arbeitsweise Büchners bei Roth 2004, S. 70–78. 288 P II, S. 43918–20/MBA X.1, S. 9242–932.

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l u n g d e r E n t w i c k e l u n g u n d B i l d u n g d e r W i s s e n s c h a f t , ist nur unter der Bedingung möglich, daß sie c h r o n o l o g i s c h verfährt.289

Auch die ebenfalls 1834 und 1836 erschienenen philosophiehistorischen Kompendien von Erdmann und Hegel bedienen sich an zentraler Stelle ihrer methodologischen und systematischen Einleitungen des Begriffs der Entwicklung,290 so dass Büchners Verwendung dieses terminus technicus auf eine spezifisch philosophiehistoriographische Perspektive unmissverständlich hinweist.291 Offenbar aber ist diese Aussicht auch für Büchner neu, denn die Erwähnung dieser alsbaldigen Tätigkeit in Zürich lässt sich noch zwei weitere Male in seinen Briefen auffinden.292 Weil Büchner diesen Kurs, auf den er sich »in aller Gemächlichkeit fertig präparire[n]« will, schon am 1. Juni, also einen Tag nach Absendung der Dissertation nach Zürich,293 erwähnt,294 ist davon auszugehen, dass er noch während der Arbeit am naturwissenschaftlichen Mémoire Kontakte mit der Züricher Fakultät aufnahm, und von dort mit der Bitte um einen solch philosophiehistorischen Kurs konfrontiert wurde. Erst im Sommer des Jahres 1836 beginnt Büchner also – mit großer Wahrscheinlichkeit veranlasst durch äußere Interessen, nämlich die Lehrinteressen seiner zukünftigen Fakultät – mit einer intensiven Auseinandersetzung mit neuzeitlicher Philosophiegeschichte, die in konkrete Vorlesungsskripte zu Descartes und Spinoza münden. Diese fertigt Büchner dann zwischen Juli und Oktober 1836 an; eine Arbeit, die ihn in diesen Monaten nahezu ausschließlich beschäftigt haben dürfte. Büchner arbeitet allerdings in den Sommermonaten 1836 an einem wissenschaftlichen Gegenstandsbereich, dem gegenüber er in seinen Briefen eine sarkastische Verachtung zum Ausdruck bringt: Ich habe mich jetzt auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über so etwas ebenfalls höchst Überflüssiges,

|| 289 Tennemann 1798–1819, I, S. XVI. Hvhb. gesperrt im Text, kursiv von mir. 290 Hegel 1986, XVIII, S. 39–42; Erdmann 1932, S. 3, S. 24ff., S. 64, S. 71f. u. ö. 291 Das mag einem nicht passen (so Morawe 2005–08, S. 245f.; Morawe 2013, S. 132f.), weil man Büchner gerne zum Spinozisten erklären möchte (vgl. auch Beise 2010, S. 83ff.), dem die – 1836 wenig spektakuläre – Erkenntnis strenger Immanenz allen Seins an Spinoza aufgegangen sei; man muss dann aber zum einen Büchners frühe Abkehr von einem Gottesglauben, man muss zum anderen Büchners Kritik an Spinozas Gottesbegriff, und man muss letztlich den Entwicklungsbegriff erläutern, dessen sich Büchner im Zusammenhang seiner Züricher Vorlesungen zu bedienen versucht; zutreffend dagegen Röcken 2009, S. 136f. 292 Brief an Georg Geilfus vom 26. Juli 1836, P II, S. 44614–16, sowie Brief an Wilhelm Büchner vom 2. September 1836, P II, S. 44811–17; vgl. hierzu auch Stiening 2002, S. 48ff. 293 Vgl. hierzu Gillmann u. a. 1993, S. 150. 294 Vgl. Brief an Boeckel vom 1. Juni 1836; P II, S. 43726–28/MBA X.1, S. 9123–25.

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nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza zu halten.295

So Büchner im September 1836 in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm. Das scheint an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig zu lassen; die Philosophiegeschichte ist nach diesem Urteil für die Gesellschaft grundsätzlich nutzlos; und diese utilitaristische Perspektive macht sich Büchner auch offenbar zu eigen. Allerdings musste – wie Büchner durch seine naturwissenschaftlichen Studien wusste – eine solche Bewertung der Philosophie nach ihrem gesellschaftlichen Nutzwert nicht notwendig ihren wissenschaftlichen Wahrheitswert beeinflussen.296 Zu Recht schreibt schon Hans Mayer: »Der burschikose Ton solcher Zeilen sollte nicht über Ernst und Eifer der philosophischen Studien hinwegtäuschen.«297 Tatsächlich eröffnet die energische Insistenz seiner systematischen Auseinandersetzung mit Descartes und Spinoza, dass er dieser Beschäftigung neben der karrierefördernden Funktion auch wissenschaftstheoretisch mehr und anderes als ›Überflüssigkeit‹ abgewinnen konnte.298 Dass solcherart Beschäftigung soziopolitisch überflüssig ist, wusste Büchner schon länger;299 eine – gesellschaftlich oder wissenschaftsimmanent begründete – fundamentale Philosophiekritik lässt sich auch aus solcherart Invektiven nicht ableiten.300

|| 295 P II, S. 44811–17 u. MBA X.1, S. 10212–17. 296 Vgl. hierzu auch MBA VI, S. 166–169, die allerdings keine aspektuelle Differenzierung an diesen epistolaren Habitus Büchners heranträgt, sondern eine »humoristische Selbstverspottung« des auf die bürgerliche Karriere als eines Philosophiehistorikers angewiesenen Sozialrevolutionärs sieht. Ähnlich Teraoka 2006, S. 181: »Diese Äußerungen zeigen, wie das Bewusstsein der Widersprüchlichkeit seines sozialen Status nicht nur zur bitteren Selbstironie, sondern auch zur radikalen Selbstkritik führte.« Dass diese angebliche Widersprüchlichkeit zwischen der sozialrevolutionären und einer wissenschaftlichen Existenz mehr den Verbalradikalismen der 1970er Jahre angehört als dem politischen und wissenschaftlichen Selbstverständnis Büchners und der 1830er Jahre, zeigt sich u. a. in Büchners letztem Brief, in dem er aus dem Schweizer Exil mit der Aussicht auf eine wissenschaftliche Karriere schreibt: » – aber ich habe keine Lust zum Sterben und bin gesund wie je.« Von radikaler Selbstkritik also keine Spur. 297 Hans Mayer 1972, S. 358; vgl. auch Vietta 1982, S. 150. 298 Insofern ist die neuere These, dass Büchner sich »hoffnungslos verstrickt« habe und »überfordert« gewesen sei (Kurzke 2013, S. 360) von der Unkenntnis der Philosophie Descartes und Spinozas ebenso getragen wie von der Ignoranz gegenüber dem zentralen Kontext, der Philosophiegeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts. 299 Vgl. hierzu Gedö 1995 sowie Stiening 2002, S. 47ff. 300 So aber schon Franzos (in Dedner [Hg.] 1990, S. 172ff.); Hans Mayer 1972; Kahl 1982; Horn 1982; Oesterle 1983, S. 225ff.; Kuhnigk 1987, S. 277ff.; Kubik 1991, S. 207; Glebke 1995, S. 7ff.; Osawa 1999, S. 22ff.; Beise 2013–15.

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2.1.7 In Zürich: Naturphilosophie Die Forschung hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass die letzten Seiten des Manuskripts zur Philosophie Spinozas rein exzerpierende Abschriften aus Tennemann ausmachen, die um Exzerpte aus Herbarts Allgemeiner Metaphysik ergänzt wurden.301 Thomas Michael Mayer hat die durchaus plausible Vermutung geäußert, dass Büchner Mitte Oktober aus Zeitdruck aufgrund der nahenden Abreise nach Zürich diese Exzerpte aus den beiden Bänden herstellte, weil er sie selbst nicht besaß.302 In Zürich angekommen aber wird er von der philosophischen Fakultät um eine Vorlesung in vergleichender Anatomie gebeten, die er tatsächlich auch beginnt,303 so dass seine philosophiehistorischen Vorlesungen nicht zu Stande kommen. Mit Ausnahme der naturphilosophischen Grundlagentheoreme seiner am 2. November gehaltenen Probevorlesung, die bestimmte theoretische Tendenzen des Mémoire präzisieren und erweitern, ist aus den wenigen Straßburger Wochen kein Dokument einer näheren philosophischen oder philosophiehistorischen Beschäftigung – schon gar nicht in der systematischen und professionalisierten Art der letzten Straßburger Monate – überliefert;304 die Erfahrungen eines neuen lebensweltlichen Umfeldes, die neuen politischen Verhältnisse und die neuen beruflichen Herausforderungen stehen im Vordergrund. Versucht man nach dieser Rekonstruktion der Entwicklung des philosophischen Denkens und Wissens, das sich Georg Büchner zwischen 1830 und 1837 aneignete, äußerte, poetisierte bzw. wissenschaftlich fundierte und funktionalisierte, die Bedeutung seiner philosophischen und philosophiehistorischen Reflexionen und Kenntnisse vorläufig zu resümieren und zu bewerten, so kann man festhalten, dass die Philosophie schon dem Schüler, aber auch dem Dichter, dem Politiker und dem Naturwissenschaftler ein Wissen zur Verfügung stellte, das er systematisch und pragmatisch auszuwerten und zu nutzen verstand. Sicher ist, dass die Philosophie kein äußerliches Schul- oder Gelehrtenwissen für Büchner darstellte, sondern ihm in logischen und wissenschaftstheoretischen, in ethischen und politischen, aber || 301 Bergemann 1922, S. 747; P II, S. 613–24 u. S. 926f.; MBA IX.2, S. 157–164. 302 Mayer 1995–99a, S. 319: »Prinzipiell könnten diese beiden Lagen daher auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt entstanden sein. Eindeutig dagegen sprechen Bergemanns Bemerkungen, daß die vorangehenden Teile der Vorlesung noch keine Spur der Herbart-Lektüre aufweisen und daß vor allem das Exzerpt aus Tennemann (Lage 21 oben Z. 1 mit ›T e n n e m a n n ‹ eingeleitet) an die bis zur vorletzten Seite von Lage 20 zitierten Seiten aus Tennemanns Schlußabschnitten zu Spinoza inhaltlich direkt anschließt. Dies vermittelt den Eindruck, als sei Büchner Mitte Oktober 1836 mit dem bis eine Seite vor Ende der Lage 20 reichenden darstellenden Teil seiner Vorlesung nicht mehr fertig geworden und habe sich, anscheinend selbst nicht im Besitz von Tennemann und Herbarts Werken, statt dessen die zur geplanten Beendigung in Zürich benötigten Passagen nur noch exzerpiert.« 303 Vgl. hierzu den brieflichen Bericht von August Lüning, eines damaligen Hörers der Vorlesung Büchners in MA, S. 384–387. 304 Vgl. auch MBA VIII, S. 214.

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auch in naturphilosophischen, anthropologischen und ästhetischen Hinsichten reflexions- und handlungsleitende Antworten bereithielt. Wenn Ludwig Büchner als sein erster Biograph leicht pathetisch festhielt: Die Philosophie betrieb Büchner nicht wie ein Gelehrter, sondern wie Einer, der von dem Baume der Wissenschaft die Früchte des Lebens pflücken will,305

dann entspricht diese Einschätzung einer die wissenschaftlichen und lebensweltlichen Positionen und Überzeugungen Büchners beeinflussenden Stellung der Philosophie den bis hierher gesichteten Dokumenten; die oben zitierten Hinweise der Schulfreunde Zimmermann und Luck weisen ebenfalls in diese Richtung. Selbst Wilhelm Schulz, der in seinem als biographisches Dokument stets fehlgedeuteten politischen Manifest über Büchner verlautbaren ließ, dieser habe »[a]n die ›welterlösende deutsche Philosophie‹« aufgrund seiner politischen Überzeugungen »keinen starken Glauben« gehabt, musste konzedieren, dass Büchner sich »eifrig« mit dieser Philosophie beschäftigt habe.306 Die Analyse und Interpretation der politischen, wissenschaftlichen und poetischen Texte Büchners wird zudem zeigen, dass sein philosophisches Wissen in diese Felder organisierend und bestimmend, und zwar systematisch und semantisch, eingriff. Daher kann schon vor einer eingehenden Betrachtung der philosophischen Skripte festgehalten werden, dass die seit Franzos topischen307 und durch die polithistorische Forschung der 1970er und 1980er Jahre mit neuen Argumenten forcierten Thesen von einer grundsätzlichen Kritik der Philosophie, die Büchner zugunsten einer modernen Wissenschaftstheorie überwunden habe, welche die politische Ökonomie ebenso wie die neue empirisch-experimentelle, mathematisch-physikalische Naturwissenschaft ermöglicht habe,308 durch die Dokumente ebenso wenig gedeckt werden wie die Annahme von einem systematischen, ›solidarisch-kritischen‹ Spinozismus309 oder einer intellektuellen Überforderung des genialischen Dichters.310 Büchner entwickelte schon in der Schulzeit und partizipierte noch in der Probevorlesung an einem Verständnis von Philosophie, das dem in den 1830er Jahren keineswegs als abgewirtschaftet geltenden Idealismus verpflichtet blieb; er versucht diese Grundhaltung mit anthropologischen Positionen zu vermitteln – eine von

|| 305 Ludwig Büchner in Dedner (Hg.) 1990, S. 133. 306 Schulz 1851, in Grab 1985, S. 68; zumindest für die zweite Straßburger Zeit hält Schulz schon in seinem Nekrolog 1837 fest: »Hier [in Straßburg] gab er entschieden die praktische Medizin auf, und widmete sich mit rastlosem Eifern dem Studium der neueren Philosophie« (Schulz 1837, in ebd., S. 139f.). 307 Franzos in Dedner (Hg.) 1990, S. 172f. 308 Vgl. Horn 1982; Kahl 1982; Osterle 1983; Kuningh 1987; Glebke 1995 und Osawa 1999, um nur die prägnantesten Ausprägungen dieser Position aufzurufen. 309 So MBA IX.2, S. 292ff.; Beise 2010, S. 85 oder Morawe 2013, S. 141ff. 310 Kurzke 2013, S. 359ff.

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seinem akademischen Lehrer Hillebrand ebenfalls, wenngleich mit stärker idealistischer Tendenz, unternommene Theoriekonzeption. Im Rahmen einer lustvollen Kritik an Hegel, die allerdings ohne ein vollständiges Verständnis dieser Philosophie bleibt und daher innerhalb der vom Hegelianismus gesetzten Grenzen agiert,311 erprobt Büchner diese neuen, zeitgenössischen Vermittlungen. Zugleich bilden sich schon seit seinem ersten Straßburgaufenthalt politische, polittheoretische und sozialphilosophische Positionen aus, die als deutlich idealismuskritisch bestimmt werden müssen, ohne wiederum einen ausdifferenzierten, wohl begründeten Materialismus im Sinne Feuerbachs oder gar Marxens zu konturieren.312 Ebenso wenig wie eine grundsätzliche Philosophiekritik in Büchners Positionen erkennbar ist, kann jedoch die Philosophie als das für Büchners politische, naturwissenschaftliche oder poetische Reflexionen entscheidende Wissensfeld inthronisiert werden. Die These Erwin Kobels, nach der Büchner »in wesentlichem Maß durch die Beschäftigung mit der Philosophie« seine poetischen Texte konfigurierte,313 die von Henri Poschmann dergestalt aufgenommen wurde, dass »Büchners philosophisches Interesse […] bis in jede Zeile von ihm« ausstrahle,314 ist nicht verifizierbar, weil die Naturphilosophie einschließlich ihrer empirischen Verifikationsinstrumente sowie die aktuelle Politik in mindestens ebenbürtiger Weise Büchners Denken und Handeln prägte; es wird sich darüber hinaus zeigen, dass im Hinblick auf seine poetischen Texte deutliche und je spezifische Kontexthierarchien dieser Felder herzustellen sind. Als Philosoph gar, wie eine hagiographische Forschung dies gerne sähe,315 ist Büchner unter keinen Umständen zu entdecken, und zwar weder in systematischer noch in philosophiehistorischer Hinsicht; selbst im Hinblick auf eine Rekonstruktion der Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung bilden Büchners Texte nur einen Nebenstrang aus,316 nicht nur weil seine Texte erst 1971 erstmalig vollständig publiziert wurden, sondern weil sie gegenüber zeitgenössischen Alternativen in ihrer systematischen wie begriffs- und argumentationsanalytischen Komplexität durchaus abfallen – was unter den Ausbildungsvoraussetzungen und zeitlichen Bedingungen auch nicht verwunderlich ist. Unter den Versuchen, Büchner zum Systematiker zu erklären, sind auch solcherart Konzeptionen zu verstehen, die im Anschluss an eine ältere Forschung seine Schriften unterschiedslos in den Kontext einer romantischen Kritik an Modernität

|| 311 Zur Struktur solcher Kritik an Hegel auf hegelschen Grundlagen als Grundmotiv der Philosophie der 1830er Jahre vgl. MEW III, S. 19; Gedö 1995 sowie Schmidt am Busch 2007. 312 Zu dessen Konturen vgl. Mensching 2007, S. 35ff. 313 Kobel 1974, S. 3ff. 314 P II, S. 925. 315 Vgl. hierzu insbesondere Hauschild 1993, S. 528; kritisch hierzu Stiening 2002, S. 47; unbeeindruckt davon aber Hauschild 22004, S. 128; MBA IX.2, S. 243–298 oder auch Morawe 2013. 316 Vgl. hierzu auch Stiening 2005.

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und damit Wissenschaftlichkeit und Rationalität überhaupt einschreiben, womit die Theorien Schopenhauers, Kierkegaards oder gar Baudelaires verbunden werden.317 Deren pessimistische Metaphysik und Anthropologie ist aber mit Büchners politischen, philosophischen oder poetischen Positionen in keiner Weise zu vermitteln, zumal – und hierin liegt ein wesentlicher methodischer Einwand – kein programmatischer philosophischer Text Büchners überliefert ist, an dem sich solcherart »Wahlverwandtschaft«318 angemessen auch nur überprüfen ließe. Die überlieferten Texte und Dokumente weisen Büchner nicht als systematischen Philosophen aus, weder als Idealisten noch als romantischen Antiidealisten, noch gar als Materialisten. Weil Büchner aber weder an der antiidealistischen Weltanschauungsphilosophie der europäischen Romantik319 noch an Auguste Comtes positivistischer Revolution der Philosophie,320 die in den 1830er Jahren von Paris ihren Ausgang nahm, teilhatte, noch auch der spätestens mit Strauss’ Leben Jesu (1835) einsetzenden und in Feuerbach kulminierenden, die 1830er Jahre bestimmenden Religionskritik321 oder der schon 1840 auftretenden modernen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Trendelenburgs322 auch nur entfernt zugehörte, sind auch unter philosophiehistorischen Gesichtspunkten Georg Büchners Texte nicht sinnvoll zu analysieren und zu interpretieren. Als zeitgenössischer Philosoph der 1830er Jahre – und deren wichtigste Tendenzen wurden hiermit genannt – ist Büchner nicht zu entdecken; eine angemessene Berücksichtigung des historischen Kontextes und dessen Aufarbeitung durch die Philosophiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts lässt an diesem Urteil keinen Zweifel. Unter ideengeschichtlicher Perspektive aber ist seine energische Beschäftigung mit der Philosophie der Neuzeit entschiedener als bisher zu berücksichtigen.323 Das umfangreichste und differenzierteste Dokument dieser Beschäftigung liegt in den Vorlesungsskripten zu Descartes und Spinoza vor.

|| 317 Vgl. hierzu u. a. Wittkowski 1976, Wittkowski 1989; Vietta 1992, S. 131ff.; insbesondere aber die weitgehend haltlosen Assoziationen von Schwann 1997; Faber 2002; Schwann 2003 und Wittkowski 2009, S. 159ff. 318 So programmatisch Faber 2002 schon im Titel. 319 Zu deren Bedeutung schon in den 1830er und 1840er Jahren vgl. Poggi u. Röd 1989, S. 251–301; Gedö 1995, S. 14–22; Röd 2006, S. 201ff. 320 Vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 22–34 sowie Wagner 2001; Lepenies 22006, S. 15–48; zur Abgrenzung Büchners gegenüber dem Positivismus vgl. schon Döhner 1967, S. 167–170. 321 Vgl. u. a. Poggi u. Röd 1989, S. 194ff. u. S. 202–215 sowie Weckwerth 2003. 322 Vgl. hierzu Köhnke 1993, S. 22–57; Beiser 2014, S. 19ff. 323 Dies gilt es vor allem gegen neuere Marginalisierungen (Kurzke 2013, S. 359ff.) zu belegen.

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2.2 Die philosophischen Vorlesungsskripte Nach Vorarbeiten im Sommer und Herbst 1835 arbeitet Büchner zwischen Juli und Oktober 1836 fieberhaft an der Ausarbeitung seiner Vorlesungsskripte zur »Entwickelung der deutschen Philosophie seit Cartesius«.324 Von einer gemächlichen Bearbeitung, wie zunächst noch erhofft,325 war nach der den Juni und einen Teil des Juli 1836 verschlingenden Konzeptionierung und Niederschrift von Leonce und Lena326 nicht mehr zu denken. Dabei schreibt sich Büchner mit diesen philosophiehistorischen Texten in einen zeitgenössischen Kontext ein, der ihm selbst weitgehend unbekannt war und der auch der Büchner-Forschung in weiten Teilen verborgen geblieben ist.327 Im Folgenden wird daher eine Skizze der Entstehung und Entwicklung der Philosophiegeschichtsschreibung als akademischem Fach entworfen, und zwar in einem ersten Schritt in Bezug auf die Phase dieser Wissenschaftsentwicklung seit 1790 und in einem zweiten Schritt hinsichtlich der Besonderheit der epistemischen Situation dieser jungen Disziplin in den 1830er Jahren.

2.2.1 Philosophiegeschichtsschreibung seit dem späten 18. Jahrhundert Bekanntlich entsteht die Philosophiegeschichtsschreibung nicht erst im späten 18. Jahrhundert.328 Mit Christoph August Heumanns,329 vor allem aber mit Jakob Bruckers330 umfangreichen, schnell wirksam werdenden Kompendien, die noch Hegel und Hillebrand ausgiebig nutzten,331 liefert schon die wissenschaftshistorisierende Aufklärung gewichtige Beiträge zur Entstehung einer eigenständig geschichtlichen Perspektive auf das philosophische Denken, die durch die Göttinger Empiristen um Christoph Meiners, Michael Hißmann und Johann Christian Garve kontinuierlich erweitert wird;332 schon im späten 18. Jahrhundert müssen und wollen auch systematisch ausgerichtete Philosophen ihren Werken philosophiegeschichtliche Erläuterungen oder Fundierungen hinzufügen: So veröffentlicht der Leipziger Mediziner und Philosoph Ernst Platner weitverbreitete Philosophische

|| 324 MBA IX.2, S. 188f.; vgl. auch P II, S. 43919f.. 325 Vgl. P II, S. 43726–28/MBA X.1, S. 9123–25: »Jedenfalls fange ich aber nächsten Wintersemester meinen Kurs an, auf den ich mich jetzt in aller Gemächlichkeit fertig präpariere.« 326 Vgl. MBA VI, S. 215ff. 327 Zur Bestimmung und Kontextualisierung als philosophiehistoriographische Texte vgl. Proß 1982, S. 84f.; Vollhardt 1991, S. 199; P II, S. 975f.; Stiening 2000–04, Stiening 2005; Röcken 2009. 328 Siehe hierzu u. a. Michalski 2010, S. 19ff. sowie Holzhey 2014, S. 1430. 329 Zu Heumann vgl. Braun 1990, S. 109 sowie Lehmann-Brauns 2004, S. 355–396. 330 Zu Brucker vgl. ebd., S. 131ff.; Albrecht 2005 sowie Keßler 2005. 331 Vgl. Hegel 1986, XX, S. 14ff.; Hillebrand 1819, S. 425, 428 u. ö. 332 Vgl. hierzu Braun 1990, S. 182–192 sowie Grunert 2013.

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Aphorismen – ein erkenntnistheoretisches und metaphysisches Handbuch zum Gebrauch seiner Vorlesungen –, die in allen Auflagen bis 1800 den Zusatz tragen: »nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte«;333 auch Immanuel Kant beendet – unweit einflussreicher – die Kritik der reinen Vernunft mit einem Abschnitt über »Die Geschichte der reinen Vernunft.«334

2.2.1.1 Der »Methodenstreit« zwischen 1790 und 1820 Dennoch muss hinsichtlich der Entwicklung dieser Geschichtsschreibung von einem erkennbaren Einschnitt bzw. einem methodischen und systematischen Innovationsschritt seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gesprochen werden, der vom Problem der Wissenschaftlichkeit nicht allein der Philosophie, sondern der Philosophiegeschichte ausging. Seiner äußeren Form nach entwickelte sich dieser Paradigmenwechsel, dessen einzelne Etappen sich historisch über drei Jahrzehnte zwischen 1790 und 1820 erstreckten,335 als ein Streit über die Methode der Philosophiegeschichtsschreibung, der auf der Differenz unterschiedlicher systematischer Prämissen hinsichtlich des Begriffs von Geschichte überhaupt, dem Verständnis von Begriffs- und Denkgeschichte sowie deren Relation zur Politik- oder allgemeinen Kulturgeschichte beruhte.336 Ausgangspunkt der fruchtbaren Auseinandersetzung war die von Kant gegen den archivarischen Empirismus der Göttinger Schule aufgestellte These, eine wissenschaftliche Philosophiegeschichte könne nicht empirisch vorgehen.337 Dabei kann eine berühmte Passage aus dem opus postumum zeigen, worauf Kant abzielte und was sich als Kontroverse der Disziplin durch das 19. Jahrhundert – und letztlich bis heute338 – erhalten wird: Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch sondern rational d. i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.339

Natürlich konnten die Zeitgenossen diese Passage nicht kennen,340 und auch wenn die Kritik der reinen Vernunft diese transzendentale Begründung der Philosophiege-

|| 333 Vgl. u. a. Platner 1800; zu Platners Verständnis von Philosophiegeschichte vgl. Bondeli 2007. 334 Vgl. KrV B 880–884; vgl. hierzu Höffe 1998, S. 636ff. 335 Vgl. hierzu Geldsetzer 1966. 336 Vgl. Geldsetzer 1968, S. 7–81. 337 Vgl. hierzu u. a. ebd., S. 21f.; Kaehler 1982, S. 30ff.; Braun 1990, S. 217–237; Stiening 2005, S. 226ff. 338 Vgl. hierzu Poser 1971, S. 67–76; Mittelstrass 1991, S. 11–30; Wilson 1992, S. 191–243; Kolmer 1998, S. 21–40; Kang 1998, S. 105ff.; Flasch 2003/2005 und Schmidt-Biggemann 2007. 339 Zitiert nach: Kant 1900, XX, S. 3418–11. 340 Zur wechselvollen Publikationsgeschichte des opus postumum vgl. Tuschling 1971, S. 3–14.

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schichte nicht vollends hergab,341 war Kantianern wie Karl Leonard Reinhold, Karl Heinrich Heydenreich oder Gottlieb Wilhelm Tennemann342 deutlich bewusst, welche Aufgabe sie als Philosophiehistoriker bei der Vermittlung von System und Geschichte zu lösen hatten: Die Geschichte der Philosophie hat dadurch eine eigene Art der Würde, daß sie die Thätigkeit des Geistes für einen Vernunftzweck darstellt.343

Dass dieses transzendentale Verständnis von Philosophiegeschichte – übrigens schon bei Kant – nicht ohne eine polemische Abgrenzung auskommt, und zwar sowohl gegen die »bisherigen«, d. h. seit »Diogenes Laertius« festzustellenden Versuche als auch insbesondere gegen die Alternativkonzeption der Göttinger Schule,344 deren psychologisch-empiristischer Ansatz einer scharfen Kritik verfällt, zeigt die folgende Passage: Der Mangel an philosophischem Geist, und an einem bestimmten Begriffe von Philosophie und den Erfordernissen einer Geschichte derselben setzt die meisten Schriftsteller dieses Faches in die Klasse der Compilatoren und Chronikenschreiber.345

Gelingen kann diese Abgrenzung gegen ein rein additives Aggregat346 der Philosophen und ihrer Theorien nur durch die Entwicklung eines »apriorischen Schemas der Geschichte der Philosophie«,347 mit Hilfe dessen in umgekehrter Beweisrichtung gezeigt werden sollte, dass Philosophiegeschichte ein nicht nur äußerlicher Zusatz, sondern notwendig integraler Bestandteil der Philosophie als Wissenschaft darstellt; Philosophiegeschichte wird so geschichtsphilosophisch zu einem Moment systematischer Philosophie. Auch wenn, ja gerade weil »die Kantischen Überlegungen ein abgerundetes Programm für eine philosophische Philosophiegeschichtsschreibung abgeben«,348 regte sich erheblicher Protest gegen diesen Apriorismus einer Geschichte des philosophischen Denkens, der als unhistorisch, empirisch unzulänglich und funktionalistisch kritisiert wurde, und zwar sowohl von der psychologisch argumentierenden Theorie einer Philosophiegeschichte bei Diedrich Tiedemann, Dietrich Jenisch oder später Georg Friedrich Daniel Goeß349 als auch von Seiten der systematischen Philo|| 341 So zu Recht Kaehler 1982, S. 29ff. 342 Vgl. hierzu Geldsetzer 1968, S. 19–47. 343 Vgl. u. a. Tennemann 1798–1819, I, S. XLII. 344 Vgl. hierzu u. a. Braun 1990, S. 182–192. 345 Tennemann 1798–1819, I, S. LXIII. 346 Vgl. hierzu Tennemanns ganz kantische Unterscheidung zwischen Aggregat und System in ebd., I, S. XIII. 347 Geldsetzer 1968, S. 23. 348 Ebd., S. 24. 349 Vgl. ebd., S. 31ff. sowie Braun 1990, S. 193ff. u. S. 239ff.

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sophie, für die die Geschichte der Philosophie dieser selbst als Wissenschaft äußerlich bleiben musste und sollte.350 Trotz dieser Kritik, die von empiristischer Seite auch unter Aktualisierungsversuchen älterer Konzeptionen, so der Christian Garves,351 betrieben wurde, setzte sich in der bedeutendsten Philosophiegeschichte der Zeit, dem 11-bändigen Werk Gottlieb Wilhelm Tennemanns,352 die kantische Option durch, gemäß der der Marburger Philosophiehistoriker definierte: Geschichte der Philosophie ist die Darstellung der successiven Ausbildung der Philosophie oder der Darstellung der Bestrebungen der Vernunft, die Idee der Wissenschaft von den letzten Gründen und Gesetzen der Natur und Freiheit zu realisiren.353

Doch von Seiten alternativer Aufklärungskonzepte zur Philosophiegeschichtsschreibung wurde der kantische Entwurf und seine ebenso wuchtige wie wirkungsvolle Einlösung im tennemannschen Kompendium weiterhin einer Kritik unterzogen, die auch nach 1800 den übermäßigen Systematisierungsgedanken beklagt, der die empirischen Einzelheiten in Kontroversen, Zeitschriftendebatten u.v.a. vernachlässige. Dieser Standpunkt einer erneuerten Gelehrsamkeit wird insbesondere von dem einflussreichen Johann Gottlieb Buhle und dem Büchner möglicherweise bekannten354 Wilhelm Traugott Krug vertreten.355 Nach 1800 – und man muss bedenken, Tennemann arbeitet noch bis 1819 an seinem Werk, von dem nahezu jährlich ein neuer Band erscheint – werden aber auch andere Stimmen laut, die an der spezifisch kantianisierenden Systematisierung Tennemanns Grundsätzliches auszusetzen haben. Zu diesen Stimmen gehört die von Friedrich August Carus,356 der in Aufnahme jacobischer Prämissen eine genetisch-systematische Darstellung der Philosophie postulierte und entwickelte, die aufgrund ihrer Fundierung in Intuitionen und ähnlichen Gefühlslagen gegenüber Schuleinteilungen oder nationalen Besonderheiten indifferent sei. Dagegen meldete sich schon 1801 auch Hegel gegen Reinholds philosophiegeschichtliches Modell mit einem Beitrag zu Worte, der Elemente der späteren spekulativen Philosophiegeschichte andeutet.357 || 350 Vgl. hierzu die vermutlich von Fichte verfasste Übersicht des Vorzüglichsten, was für die Geschichte der Philosophie seit 1780 geleistet wurde in Niethammers Philosophischem Journal von 1795 und deren Darstellung bei Geldsetzer 1968, S. 27. 351 Vgl. hierzu ebd., S. 34. 352 Zu Tennemann vgl. u. a. Geldsetzer 1968, S. 35–40; Braun 1990, S. 254–266; Schröpfer 1994 passim; Franz 1996, S. 42f.; Schneider 1999, S. 161–166 u. S. 170ff. sowie Holzhey 2014, S. 1439ff. 353 Tennemann 1798–1819, I, S. XXIX. 354 Vgl. hierzu die Schulbibliothek Büchners bei Lehmann 2005, S. 500. 355 Vgl. Braun 1990, S. 268f. 356 Zu Carus vgl. Geldsetzer 1968, S. 59ff.; Braun 1990 269f. sowie Gisi 2007, S. 187ff. 357 Vgl. Hegel 1986, II, S. 15–20; schon hier kritisiert Hegel an Reinhold jenen systematischen Indifferentismus, den auch Kant und Reinhold schon den Göttingern vorgeworfen hatten: »Ein Zeitalter, das eine solche Menge philosophischer Systeme als eine Vergangenheit hinter sich liegen hat, scheint zu derjenigen Indifferenz kommen zu müssen, welche das Leben erlangt, nachdem es

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Vor allem aber wird durch Autoren wie Friedrich Ast, Christian Friedrich Krause, August Ludwig Hülsen oder Carl Friedrich Bachmann eine grundlegend neue Form der Philosophiegeschichte inthronisiert,358 die sich einer romantischen Geschichts- und Philosophievorstellung verdankt. Ein entscheidender Charakterzug dieser Variante von Philosophiegeschichtsschreibung im frühen 19. Jahrhundert besteht in einem dezidierten Anti-Apriorismus des Vernunft- und Geschichtskonzepts;359 zwar werden allgemeine Gesetze zur Verlaufsform der Geschichte des philosophischen Denkens formuliert, doch werden sie einerseits auf einen heuristischen Status begrenzt und andererseits schon seit einer frühen Stellungnahme Schellings mit Entwicklungsformen der Natur analogisiert.360 Insbesondere Friedrich Ast erweist sich in dieser naturphilosophischen Fundierung der Philosophiegeschichte als Programmatiker und Exekutor schellingscher Vorgaben.361 So sehr Büchner jedoch als Naturwissenschaftler und -philosoph in dieser Tradition der Schellingschule argumentiert – als Philosophiehistoriker steht er dieser Fraktion grundsätzlich fern. Die hermeneutischen Prinzipien zu Übersetzungen und zum Umgang mit der Geschichte des Denkens bei Schleiermacher, der eine besondere Form dieser romantischen Philosophiegeschichtsschreibung ausbildet, führen aufgrund der konstitutiven Funktion des Geniebegriffs u. a. zu einer Wiederkehr der intellektuellen Biographie.362 Schleiermachers Betonung der Intuition und sein religiöser AntiApriorismus belegen seine gegenaufklärerische Stellung auch in Fragen der Philosophiegeschichtsschreibung ebenso, wie seine philologische Präzision und seine sprachtheoretischen Grundlagen363 ihn von der spekulativen Philosophiegeschichte Hegels nachhaltig unterschieden. Bevor nun zum Tableau der philosophiehistorischen Wissenschaften in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Büchners Skripten überzugehen ist, kann man festhalten, dass der in Straßburg seine Vorlesungen vorbereitende Züricher Philosophiehistoriker von dieser sachlich hochkomplexen intellektuellen Landschaft, auf der im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im Gebiet der Wissenschaftsgeschichte epochenkonstitutive Auseinandersetzungen geführt wurden, offenbar keinerlei Kennt-

|| sich in allen Formen versucht hat; der Trieb zur Totalität äußert sich noch als Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse, wenn die verknöcherte Individualität sich nicht mehr selbst ins Leben wagt.« Zu dieser frühen philosophiehistoriographischen Position Hegels vgl. Geldsetzer 1968, S. 47ff. 358 Zu diesen Philosophiehistorikern und der durch sie ausgemachten Tendenz vgl. Braun 1990, S. 306ff. 359 Vgl. schon Schelling 1985, I, S. 299f. 360 Ebd. 361 Vgl. Braun 1990, S. 320ff. 362 Zu einer Aktualisierung dieser Konzeption vgl. Flasch 2003/05, I, S. 62–80 sowie – ganz anders begründet – Schmidt-Biggemann 2007, spez. S. 371ff. 363 Vgl. hierzu auch Schmidt 2005, S. 210ff. u. S. 253ff.

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nisse besaß; nicht nur das Fehlen einer Zweck, Ordnung und Methode der Vorlesungen legitimierenden Einleitung legt diese Vermutung nahe, auch das gänzliche Fehlen eines kritischen oder affirmativen Bezugs auf eine der genannten klar konturierten Positionen deutet auf Büchners Unkenntnis hin; für die wissenschafts- und kulturgeschichtliche Stellung seiner Texte ist diese gleichsam negative Kontextualisierung von essentieller Bedeutung – von der These nämlich, Büchners »Wahl der cartesianisch-spinozistischen Systemphilosophie« als Gegenstand einer philosophiehistorischen Vorlesung sei »›für die akademische Diskussion der Zeit ungewöhnlich‹«,364 muss sich die Büchner-Forschung verabschieden; weder die Wahl des Themas überhaupt noch das Niveau der begrifflich analytischen Durchdringung durch Büchner kann als »ungewöhnlich« bezeichnet werden; auf seine Hauptquelle Tennemann bezieht sich Büchner nicht aus wissenschaftstheoretischen, sondern aus pragmatischen Gründen, die sich auf die unvergleichliche Fülle und übersichtliche Organisation des präsentierten Materials durch Tennemann stützen; dies gilt aber auch für Victor Cousin, Samuel Taylor Coleridge, Hegel, Heine u.v.a., die sich in den 1830er und 1840er Jahren aus je unterschiedlichen Motiven und Erwägungen auf Tennemann stützten.365 Erst Eduard Erdmanns und nach ihm Friedrich Überwegs Philosophiegeschichten366 werden Tennemanns Kompendium aus dieser Stellung des Standardwerkes einer jeden philosophiehistorischen Studie oder Vorlesung ablösen. Die romantischen ebenso wie die neugelehrten empiristischen Konzeptionen, die methodologisch und systematisch gegen Tennemann optierten, scheint Büchner nicht wahrgenommen zu haben; dies gilt – jedoch in geringerem Maße – auch für die die 1830er Jahre prägende idealistische Revolution des Faches.

2.2.1.2 Dominanz des Idealismus: Philosophiegeschichtsschreibung in den 1830er Jahren Büchner beginnt die Ausarbeitung seiner philosophischen Skripte zu einem Zeitpunkt (Juli 1836), da in Frankreich eine von Victor Cousin ausgehende Konjunktur der Philosophiegeschichte ihre ersten einflussreichen Anfänge nimmt,367 in Deutschland dagegen nach einer konsolidierenden Phase in den 1820er Jahren368 die ersten

|| 364 So Hauschild 1993, S. 528 (mit Bezug auf einen ungedruckten Text von Silvio Vietta); Bergmann 1922, S. 741 u. S. 745 und die Marburger Denkschrift 1981, S. 161; der Büchner-Biograph wiederholt diese Thesen wortidentisch in Hauschild 22004, S. 126. 365 Zu einer fundierenden Tennemannrezeption bei Samuel Taylor Coleridge, vgl. Schneider 1999, S. 152f. u. S. 159; bei Cousin ebd., S. 180; bei Hegel ebd., S. 216f.; sowie bei Heine, vgl. Höhn 32004, S. 342. 366 Zum weiteren Gang der Philosophiegeschichte als Wissenschaft im 19. Jahrhundert vgl. Geldsetzer 1968, S. 81–114. 367 Vgl. hierzu Schneider 1999, S. 180–212 und Pätzold 2007, S. 85f. 368 Vgl. Geldsetzer 1968, S. 81ff.

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idealistischen Kompendien der Hegelschule die systematische, methodische und historisch durchführende Forschung auf eine neue Grundlage stellen. Lutz Geldsetzer hat dieses Neue der epistemischen Situation der 1830er Jahre in der Disziplin ›Philosophiegeschichte‹ auf den Begriff gebracht, wenn er schreibt: »Mit dem dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beginnt dann der Einfluß Hegels sich stärker und schließlich dominierend bemerkbar zu machen.«369 Zwar ist Ulrich Johannes Schneider darin zuzustimmen, dass »das massive Interesse an der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert nicht mit dem Einflußbereich des Hegelianismus korreliert werden« kann.370 Für die 1830er Jahre muss aber von einer solch hegelianisierenden Tendenz gesprochen werden.371 Diese wissenschaftsgeschichtliche Konjunktur basiert allerdings nur zu einem Teil auf der Tatsache, dass die hegelschen Vorlesungen selbst zwischen 1833 und 1836 erstmals erschienen;372 schon vor dieser Publikation veröffentlichten Ludwig Andreas Feuerbach (1833)373 und Johann Eduard Erdmann (1834)374 erste Teile umfangreicher philosophiehistorischer Kompendien mit hegelianischer Systematik und Methodik, die auf der Grundlage und Weiterführung der zwischen 1790 und 1820 geführten Debatten weitreichende Wirkungen erzielten. Die theoretische Konkurrenz beider Philosophiehistoriker, die ihre Differenzen auch öffentlich austrugen, steigerte deren breite Wirkung.375

|| 369 Geldsetzer 1968, S. 83. 370 So zu Recht Schneider 1999, S. 244. 371 So auch Michalski 2010, S. 73ff. 372 Eine dreibändige Ausgabe der »Geschichte der Philosophie« Hegels erschien erstmals im Rahmen der ersten Werkausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. 18 Bde. Berlin 1832–1845, Bd. XIII–XV, Berlin 1833–1836; zu dieser Ausgabe vgl. Geldsetzer 1968, S. 49ff. 373 Ludwig Feuerbach: Geschichte der neueren Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza. Ansbach 1833, zitiert nach Feuerbach 1990. 374 Johann Eduard Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 1.1 [Einleitung / Cartesius, Riga 1834]; zitiert nach Erdmann 1932; zu Erdmann vgl. Glockner 1932; Geldsetzer 1968, S. 86–90 sowie Schneider 2007, S. 16. 375 Schon im ersten Band seines Versuchs sucht Erdmann entschieden die Auseinandersetzung mit Feuerbachs ein Jahr zuvor erschienenem Entwurf, wenn er u. a. in Bezug auf die Interpretation des cogito-Arguments durch den Konkurrenten schreibt: »Wenn ich aber hier meine Freude aussprechen muß, mit F. an einem so wichtigen Punkte ganz zusammentreffen, sowie meinen Dank, daß er in Manchem, was mir noch dunkel schien, durch seine geistvolle Darstellung mir zu deutlicherer Einsicht verholfen hat, so kann ich doch wieder nicht umhin, auf Einiges aufmerksam zu machen, worin Feuerbach das Tiefe, was er gefunden, wenn nicht zu vergessen, so doch außer Acht zu lassen scheint, und selbst dem Cartesius Mängel nachweisen will.« Erdmann 1932, S. 284f. Feuerbachs Entgegnung ließ nicht lange auf sich warten; in einer Rezension eben dieses ersten Bandes von Erdmanns Versuch hält er fest: »So wie aber der Verf. den Begriff der Notwendigkeit durch die Idee der Totalität und Simultaneität der Vernunft, so hätte er auch den Begriff, der ihn bestimmte, unmittelbar Cartesius als den Anfang der neuern Philosophie zu setzen, synthetisch erweitern sollen.

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Selbst Schelling hält im Wintersemester 1833/34 eine Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie, die er mit Cartesius beginnen lässt;376 und dass der sich als Hegelschüler (miss)verstehende377 Heinrich Heine 1834 seinen Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland erscheinen lässt,378 ist ganz unstreitig auf diese in Frankreich und Deutschland zu verzeichnende Konjunktur (idealistischer) Philosophiegeschichtsschreibung zurückzuführen. Vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland verlässt die Philosophiegeschichte in den 1830er Jahren auch institutionell ihre Nischenstellung und wird zu einem das Fach prägenden Betätigungsfeld in Forschung und Lehre.379 An dieser Konjunktur will die philosophische Fakultät in Zürich offenbar partizipieren und bittet daher ihren zukünftigen Privatdozenten um eine historische Vorlesung. Hinsichtlich der Stellung der wichtigsten Kompendien zur Philosophiegeschichte der 1830er Jahre als Kontext – nicht als Quelle – der büchnerschen Skripte sind eine Reihe von Charakteristika von aussagekräftiger Bedeutung: So schalten Hegel, Erdmann und Feuerbach teils umfangreiche Allgemeine Einleitung[en] in die Geschichte der Philosophie überhaupt380 der konkreten historiographischen Arbeit vor, in denen die nachfolgenden Forschungen methodologisch und systematisch legitimiert werden.381 Selbst der einer geschichtsphilosophischen Legitimation382 der Philosophiegeschichte gegenüber abgeneigte Schelling versäumt nicht, eine wenigstens pragmatische Begründung seines Tuns zu liefern: Der Anfänger in der Philosophie lernt auf diese Weise, wenn auch bloß historisch, vorläufig schon die Gegenstände kennen, um die es zu thun ist und welche vorzugsweise die Geister der

|| Dann würde er – ich meine nicht etwa auf dem Papier, sondern dem Begriffe nach – Raum gefunden haben für die vorcartesischen Philosophen. Nicht mit Bacon noch mit Cartesius, in Italien beginnt die neuere Philosophie.« Feuerbach 1975, II, S. 133. Diese Konkurrenz wird die 1830er und noch die 1840er Jahre beleben. 376 Zu dieser Datierung vgl. Baumgartner u. Korten 1996, S. 243; anders dazu Proß 1982, S. 84. 377 Vgl. hierzu als eine der wenigen philosophiehistorisch versierten Studien zum Thema: Heise 1973. 378 Zu den bisherigen, ideengeschichtlich weitgehend uninformierten Ausführungen zur Entstehungsgeschichte dieses Essays vgl. Heine 1976, VI, S. 909–916; Höhn 32004, S. 340–342. 379 Vgl. Geldsetzer 1968, S. 81ff. sowie Schneider 1999, S. 151–246. 380 So der Titel bei Erdmann 1932, S. 1. 381 Zur Bedeutung solcher Einleitungen, insbesondere der hegelschen vgl. Schneider 1999, S. 227– 234 sowie Flasch 2003/2005, II, S. 16f. 382 Diese Abneigung basiert auf Schellings grundlegender Skepsis gegenüber einer Philosophie der Geschichte, vgl. Ist eine Philosophie der Geschichte möglich? In: Schelling 1985, I, S. 297–304, spez. S. 304: »Wenn also der Mensch nur insofern Geschichte haben kann, als sie nicht a priori bestimmt ist, so folgt auch daraus, daß eine Geschichte a priori widersprechend in sich selbst ist; und, wenn P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e so viel ist, als Wissenschaft der Geschichte a priori – d a ß e i n e P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e u n m ö g l i c h i s t . Was zu beweisen war.« Hvhb. im Text; vgl. hierzu auch Bonsiepen 1997, S. 185ff.

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letzten Jahrhunderte beschäftigt haben. Wenn es endlich, um die Wahrheit zu schätzen und beurtheilen zu lernen, nothwendig ist, auch den Irrthum zu kennen, so ist eine solche Darstellung wohl die beste und sanfteste Art, dem Anfänger den Irrthum, der überwunden werden soll, zu zeigen.383

In dieser äußersten Reduktion auf einen nurmehr didaktischen Wert ist die schellingsche Legitimation zwar den büchnerschen Sarkasmen über seine philosophiehistorische Arbeit am nächsten, bleibt aber wie diese hinter den Begründungstheorien der ›Kollegen‹ weit zurück. So bemüht sich Feuerbach die »Entwickelung« der Philosophie,384 die er – ganz in hegelschen Bahnen – als eine Entwicklung des freien Geistes zu sich selbst interpretiert, von der Antike über das theologisch dominierte Mittelalter bis in die Neuzeit zu rekonstruieren, in der diese Entfaltung des freien Geistes vor allem durch den Protestantismus befördert worden sei. Dabei wird diese Selbstentfaltung des Geistes seit der Neuzeit und damit im Protestantismus als nahezu ausschließlich wissenschaftsimmanenter Prozess verstanden: Es war daher auch keineswegs nur Folge äußerer Umstände und Verhältnisse, es war eine innere, im Protestantismus selber gelegene Notwendigkeit, daß sich in ihm erst die Philosophie der neuern Zeit welthistorisch bedeutsames Dasein gab und zu freier, fruchtbarer, immer weiterschreitender Entwickelung heranwuchs.385

In diesem Sinne kennzeichnet auch Hegels und Erdmanns Konzeption, dass sie das von Tennemann vorgegebene Postulat des vorsichtigen Bezugs jeder philosophischen Theorie auf den kulturellen und soziohistorischen Hintergrund, der im Medium der intellektuellen Biographie des einzelnen Philosophen berücksichtigt werden sollte,386 ablehnten, weil sie die Geschichte der Philosophie als Selbstbewegung des Begriffs, als logisch-systematische Realisation des Geistes und Selbsterkenntnis der Vernunft387 »in der Zeit«388 interpretierten.389 In Hegels berühmter Formulierung lautet der Kerngedanke dieser Konzeption: Nach dieser Idee behaupte ich nun, daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee. Ich behaupte, daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere und dergleichen betrifft, so erhält man die verschiedenen

|| 383 Schelling 1985, IV, S. 419. 384 Feuerbach 1990, S. 20. 385 Ebd. 386 Tennemann 1798–1819, I, S. VIIIf.; vgl. hierzu Schröpfer 1994, S. 221 u. S. 225ff. 387 Vgl. hierzu Fulda 1999. 388 Hegel 1986, XVIII, S. 48. 389 Vgl. hierzu Krijnen 2005 sowie Fulda 2007.

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Stufen der Bestimmung der Idee selbst in ihrem logischen Begriffe. Umgekehrt, den logischen Fortgang für sich genommen, so hat man darin nach seinen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen –, aber man muß freilich diese reinen Begriffe in dem zu erkennen wissen, was die geschichtliche Gestalt enthält.390

Solcherart spekulative Philosophiegeschichte, die den Apriorismus in der Geschichtsschreibung ebenso kritisiert wie eine rein empirisch-chronologische Aufzählung philosophischer Theorien und Personen, wird auch von dem Hegelianer Johann Eduard Erdmann ausführlich legitimiert und verwirklicht; dessen Texte sollten bis in die 1860er Jahre den größten Einfluss auf das gesamte Fach ausüben. Dabei schreibt Erdmann einzig der beanspruchten Durchdringung von System und Geschichte zu, in der Lage zu sein, eine wissenschaftlich-philosophische Darstellung der Geschichte der Philosophie leisten zu können.391 Zwar konzediert Erdmann dieser Konzeptionen einen konstruktivistischen Charakter, nimmt für diese Konstruktion aber in Anspruch, die objektiven Dimensionen der Entwicklung des Geistes zu erfassen, und zwar als dessen selbstbewusstes Moment. Weil Erdmann daher auch energisch bestreitet, aus dem beschränkten Gesichtspunkt eines bestimmten Systems zu arbeiten, sondern seine Darstellung als eine objektive Philosophiegeschichte begreift, kann er auch zu der Maxime gelangen, jede einseitig systematische Perspektivierung der historischen Gegenstände müsse und könne unterbleiben: […] und gewissermaßen kann man sagen, daß eine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Philosophie sich bei der Kritik eines Systems auf keine andere Stufe stellen darf, als auf die, des, unmittelbar jenem System, folgenden.392

Dieses systematisch begründete, methodisch strenge Wissenschaftlichkeitsverständnis wird aber von einer anderen Tradition der an Hegel sich anschließenden Philosophiegeschichtsschreibung schon in ihren Grundzügen nicht geteilt. Es ist Victor Cousin, der in Paris die Philosophiegeschichtsschreibung nicht nur populär macht, sondern als kulturpolitisches Instrument begreift und danach seine Methodologie ausrichtet. Ulrich Johannes Schneider fasst dieses Interesse und die daraus folgende methodische Kontur der cousinschen Wissenschaft treffend zusammen, wenn er schreibt: Cousins Philosophie ist von Anfang an von der Mission durchdrungen, seine Zeit in Gedanken weniger zu erfassen, als vielmehr zu bestimmen und zu verändern.393

|| 390 Hegel 1986, XVIII, S. 49. 391 Erdmann 1932, S. 64ff.; vgl. hierzu die präzisen Ausführungen von Geldsetzer 1968, S. 86–90. 392 Erdmann 1932, S. 75. 393 Schneider 1999, S. 185.

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Zwar sind die wissenschaftstheoretischen und forschungspragmatischen Dimensionen dieser Form von Philosophiegeschichtsschreibung nicht leicht auf den Begriff zu bringen, doch war die Philosophie für Cousin als »Anstrengung zur Aufklärung« auch für den Historiker »grundsätzlich ein politisches Unternehmen«.394 Bei der Inthronisation Descartes’ als Vater der neuzeitlichen Philosophie kam ihm – nach Hegel – eine besondere, kulturpolitisch begründete Rolle zu.395 Versucht man Büchner in dieses Tableau zu lozieren, so fällt sofort auf, dass er sich weder der von Erdmann geforderten ›gänzlichen Entäußerung des eigenen Standpunktes‹ fügt, noch die kulturpolitische Indienstnahme und eine daraus folgende ideologiekritische Perspektivierung durch Cousin übernimmt. Zwar bemüht sich Büchner einerseits – in den Spinoza-Studien schon erfolgreicher als noch in den von polemischen Invektiven beherrschten Descartes-Vorlesungen – um eine möglichst distanzierte Rekonstruktion der argumentationslogischen und systematischen Konturen der »philosophischen Systeme«, aber sein systematisches Interesse, insbesondere an einer Widerlegung der Gottesbeweise beider Rationalisten,396 ist nicht zu übersehen. Andererseits kann man an der Spinoza-Vorlesung besonders deutlich ablesen, dass er die von Cousin und Heine forcierte ideologiekritische Perspektive auf die Geschichte der Philosophie gerade nicht mitträgt; seine begriffsund argumentationsanalytische Rekonstruktionsarbeit, die in ihren systematischen Instrumentarien eher der tennemannschen Konzeption zuneigt,397 transformiert gerade nicht »Philosophiegeschichte zur Geschichte von Ideologien«,398 sondern verbleibt in einer wissenschaftsimmanenten Analyse- und Interpretationsmethodik. Dass Büchner dennoch in den Kontext der Entwicklungen der Philosophiegeschichtsschreibung in den 1830er Jahren verortet werden muss, zeigt sich an der Tatsache, dass seine Vorlesungen ausschließlich neuzeitliche Philosophien darstellen wollten, gar mit dem ›nationalisierenden‹ Zusatz, es ginge um die »philosophischen Systeme der Deutschen«399 bzw. »die deutsche Philosophie seit Cartesius«400 und Spinoza. Denn es war dem an Einfluss gewinnenden Hegelianismus der Philosophiegeschichtsschreibung geschuldet, dass in den 1830er Jahren »Philosophiegeschichtsdarstellungen in zunehmendem Maße neuere Philosophie« zum Thema machten. »Diese mußte ja in dieser [der hegelschen] Perspektive als die für das Verständnis der aktuellen Lage des Weltgeistes und seines Bewusstseinsstandes inte-

|| 394 Ebd., S. 224. 395 Vgl. hierzu Schütt 1998, S. 87ff. und Zijlstra 2005, S. 125–157. 396 Zu diesem Urteil gelangen auch Hans Mayer 1972, S. 349f.; Sanada 2001, S. 437f. und MBA IX.2, S. 266–269. 397 Vgl. hierzu auch Stiening 2005, S. 231–234. 398 So aber Dedner 1987, S. 208 sowie Martin 2007, S. 245; zur Kritik hieran schon Stiening 2000– 04, S. 233–236. 399 P II, S. 44816/MBA X.1, S. 10216; Hvhb. von mir. 400 P II, S. 43919f./MBA X.1, S. 931.

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ressante Zeitepoche imponieren. Die alte Philosophie, über die die alten Philosophiegeschichten zunächst ausschließlich handelten, wurde mehr und mehr in die Kompetenz der Altphilologen verwiesen.«401 Erdmanns hochambitionierte Geschichte der neueren Philosophie hatte in dieser Spezialisierung auf die Neuzeit ihren Grund und Zweck; auch Feuerbachs Konzeption beabsichtigte in der Konzentration auf die Neuzeit, die er mit Bacon und nicht mit Descartes beginnen ließ, eine historisch fundierte Analyse des Zeitgeschehens. Und selbst Schellings alternative Konzeption in der Vorlesung von 1833/34 findet mit ihrer historischen Extension, die von Descartes bis zu ihm selber reicht und insofern als Einleitung in seine Spätphilosophie gelesen werden kann, in dieser historiographischen Konjunktur neuzeitlicher Philosophie ihren Hintergrund. Denn Schelling war stets um die Kultivierung seiner Konkurrenz zum Hegelianismus bemüht.402 Büchners konkrete Vorlesungspläne, die – wie erwähnt – vermutlich von der Fakultät in Zürich angeregt wurden, haben hinsichtlich ihrer Fokussierung auf die Neuzeit ihren entscheidenden Grund in dieser wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der 1830er Jahre, die in Deutschland und Frankreich zu verzeichnen war. Die von der Büchner-Forschung häufig vorgetragene These, Büchner habe sich Descartes und Spinoza zu Gegenständen seiner philosophiehistorischen Vorlesungen gemacht, weil er eine systematische Auseinandersetzung, ja Widerlegung des Rationalismus gesucht habe,403 scheint vor diesem Kontext falsifiziert werden zu müssen. Büchner suchte zwar durchaus in seinen Skripten eine kritische Auseinandersetzung mit dem cartesischen und spinozanischen Rationalismus, auch galt diese systematische Analyse als zentrales Moment der wissenschaftlichen Methodik in der Tradition Tennemanns.404 Doch hatte Büchner keineswegs im Jahre 1836 ein vordringliches Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Rationalismus, sondern intendierte vielmehr eine Partizipation an einer aktuellen Forschungstendenz.405 Diese Tendenz zur Erforschung der Philosophie der Frühen Neuzeit im

|| 401 Geldsetzer 1968, S. 85. 402 Vgl. Briese 1998, S. 101–117 sowie Cesa 2002, S. 277ff. 403 Vgl. hierzu insbesondere Vietta 1979, S. 420; auch Glebke 1995, S. 10ff.; Knapp 32000, S. 32f. sowie letztlich auch MBA IX.2, S. 248. 404 Tennemann war kein Phänomenologe oder gelehrter Empirist, sondern verstand die systematische Analyse und Interpretation der historischen Gegenständen als wichtiges Moment seiner Konzeption: Tennemann 1798–1819, I, S. XLV–LXV; vgl. hierzu u. a. Zijlstra 2005, S. 166–170. 405 MBA IX.2, S. 268 sieht diese »aktuellen« Absichten Büchners in der Identitätsphilosophie Schellings, die er anhand der Auseinandersetzung mit Descartes und Spinoza zu widerlegen suchte; warum Büchner, dem Schellings Philosophie bekannt war (vgl. Stiening 2012a) dann nicht den Weg der direkten Auseinandersetzung suchte, bleibt das Geheimnis der Herausgeber. Darüber hinaus hatte Schelling in den 1830er Jahren kaum mehr Anhänger, weil er schon seit den 1820er Jahren nicht mehr publizierte (vgl. Baumgarten u. Korten 1996, S. 21f.), so dass Büchners Interesse wenig aktuell gewesen wäre und daher sein Interesse an einer – mittelbaren – systematischen Auseinandersetzung erst recht erklärungsbedürftig bliebe.

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19. Jahrhundert realisierte sich im Übrigen nicht nur in übergreifenden philosophiegeschichtlichen Zusammenhängen, sondern auch anhand einer Reihe von philosophiehistoriographischen Einzelstudien zu Descartes, Spinoza und deren systematischem und theoriegenealogischem Verhältnis.406 Büchner zitiert zumindest mittelbar eine der bekannteren Descartes-Studien,407 nämlich die Dissertation des Hegel-Schülers Gustav Hotho.408 Auch die Behauptung, es solle die »Philosophie der Deutschen« im eigentlichen Zentrum seiner Vorlesungen stehen, kann auf den Kontext der Philosophiegeschichtsschreibung im frühen 19. Jahrhundert zurückgeführt werden. Schon Tennemann hält nachdrücklich fest: Die deutsche Nation hat für die Urbarmachung und Cultur des Feldes der Geschichte der Philosophie weit mehr geleistet, als jede andere Nation. Dieses ist Faktum, welches keines Beweises bedarf. Je mehr die andern Nationen mit der deutschen Nation und ihrer Literatur bekannt werden, desto mehr erkennen sie dieses Verdienst der Deutschen, sowohl in dem fleißigen Sammeln der Materialien als in der Bearbeitung derselben.409

Auch Schelling beendet seine Münchener Vorlesung 1833/34 mit der These, man komme kaum umhin »zu urtheilen: Philosophie in diesem [wissenschaftlichen] Sinn existire zwar in Deutschland«, während »die andern europäischen Völker, Engländer und Franzosen insbesondere, eine große Abneigung gegen Speculation zeigen und den Betrieb wissenschaftlicher Philosophie seit geraumer Zeit ganz aufgegeben haben«.410 Für deren wissenschaftliche Entwicklung stellt er dagegen fest: Die wahren Beförderer der Philosophie in Frankreich und England sind ihre großen Naturforscher, und man kann es den Engländern insofern wohl zu gute halten, wenn Philosophie bei ihnen vorzugsweise, ja fast ausschließlich Physik bedeutet.411

In den spekulativen Konzepten der 1830er Jahren verlor sich dieser nationalisierende Impetus in der Philosophiegeschichte allmählich, weil Hegel, Erdmann und auch Feuerbach stärker auf religionsphilosophische denn auf kulturpolitische Differen-

|| 406 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Descartes-Forschung im 19. Jahrhundert bei Schütt 1998 und Zijlstra 2005, S. 75–188 sowie die der Spinoza-Forschung des Zeitraums bei Schneider 1999, S. 249–315. 407 Zum weiteren Kontext vgl. auch Vollhardt 1991, S. 199Anm. 10. 408 Heinrich Gustav Hotho: De Philosophia Cartesianae. Berlin 1826; zitiert bei Büchner in P II, S. 1774 u. S. 19526/MBA IX.2, S. 462 u. S. 6132. 409 Tennemann 1806, S. VII. 410 Schelling 1985, IV, S. 609. 411 Ebd., S. 616f.

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zierungskriterien setzten.412 Wenn Büchner dennoch von der »deutschen Philosophie seit Cartesius« spricht, dann weil die Verknüpfung spezifischer Wissenschaftsformen und vor allem -methoden mit einzelnen Nationen auch in der Naturphilosophie zum kennzeichnenden Standard der Debatten gehörte – häufig ohne nationalistische Untertöne.413 Eine Parallele ist auch in Büchners Naturforschung zu erkennen: Die so genannte »deutsche Schule« der Naturforschung, die er zu Beginn seiner Dissertation erwähnt, ist nur ein Name für die durch die Naturphilosophie inaugurierten Varianten der so genannten »méthode génétique«414 – einer evolutionsbiologischen Analyse- und Interpretationsmethode der Naturphilosophie. In philosophiehistoriographischer Hinsicht hatte Tennemann vor allem das Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz als ersten namhaften deutschen Beitrag zur Geschichte der Philosophie im Auge: [...] und von ihm [Leibniz] datirt sich eigentlich die Periode der deutschen Philosophie.415

Doch ist diese These auch ohne nationalisierende Untertöne topisch;416 Fichte nennt Leibniz in seinen Büchner bekannten Reden an die deutsche Nation den »eigentlichen Stifter der neuen deutschen Philosophie«,417 auch Friedrich Ast bezeichnet Leibniz als den »Gründer der deutschen Philosophie«,418 ebenso der von Büchner für seine Vorlesungen vermutlich herangezogene Gottlob Ernst Schulze,419 und selbst Büchners Gießener Philosophiedozent Joseph Hillebrand betont: Leibniz kann als der erste Deutsche gelten, welcher im philosophischen Gebiete der Denkart des Zeitalters eine neue Richtung gab.420

Wenn Büchner also über die »Systeme der Deutschen« Vorlesungen halten wollte, dann bezog er sich vor allem – oder auf jeden Fall – auf die Philosophie Leibniz’

|| 412 Vgl. hierzu insbesondere die Reflexionen auf das »Prinzip des Protestantismus« als Voraussetzung neuzeitlicher Subjektivität bei Hegel 1986, XX, S. 120ff.; Feuerbach 1990, S. 17ff. und Erdmann 1932, S. 99ff. 413 Vgl. hierzu Kanz 1997, S. 191–221, spez. S. 193ff. 414 Vgl. hierzu Georg Büchner: Mémoire sur le système nerveux du barbeau Strasbourg 1836; zitiert nach MBA VIII, S. 415. 415 Tennemann 1798–1819, XI, S. 202f. 416 Vgl. auch Hillebrand 1819, S. 541f., wo – die umgekehrte Wirkrichtung betonend – ausgeführt wird, dass »die leibniz-wolffsche Schule, welche […] in Deutschland so ungemein fruchtbar gewirkt hat« und zwar »auf den gesammten Kulturzustand unseres Vaterlandes (dem gleichsam mit der geförderten Bildung auch das Bedürfnis einer nationalen, einheimischen Philosophie erweckt war)«. 417 Fichte 1971, VII, S. 353. 418 Ast 1807, S. 407. 419 Schulze 1824, S. 282, zur »Philosophie der Deutschen« schon ebd. S. VIff., S. XI u. ö. 420 Hillebrand 1819, S. 534.

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und Wolffs als Autoren derjenigen Systeme des Rationalismus, die in der Tat von Philosophen aus deutschen Landen und zum Teil in deutscher Sprache verfasst wurden.421 Darüber hinaus galt die kantische und nachkantische Philosophie sowohl in Frankreich als auch in England und Deutschland als spezifischer und bedeutendster Beitrag deutschsprachiger Philosophen zur Geschichte der Philosophie, so dass eine Darstellung dieser Epoche der Philosophie sicher beabsichtigt war. Zu einer Fortsetzung der Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Philosophie, die Büchner mit Descartes und Spinoza begonnen hatte, ist es nicht mehr gekommen. Betrachtet man nun abschließend Büchners Stellung zu dem in den 1830er Jahren innovativen und forschungsprägenden Paradigma idealistischer Philosophiegeschichtsschreibung, dann lässt sich ohne großen Zweifel konstatieren, dass der kurz vor der Ernennung zum Privatdozenten der Philosophie stehende Naturwissenschaftler und -philosoph davon kaum Kenntnis hatte, geschweige denn eine wissenschaftlich fundierte Position dazu einnahm. Auch wenn er in zwei Aspekten der Themenwahl – dem Beginn der vorzustellenden Geschichte mit Descartes und der Konzentration auf die deutsche Philosophie – an diesen Entwicklungen partizipierte, muss ihm eine Unkenntnis dieser Wissenschaftsentwicklungen attestiert werden. Mit Ausnahme mittelbarer Zitate aus Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (und nicht den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie) sowie Gustav Hothos Dissertation zu Descartes422 sind ihm die Leistungen seiner Zeitgenossen auf dem Felde der Philosophiegeschichtsschreibung verborgen geblieben. Dass Büchner gar das eigentliche Zentrum der zwischen Erdmann, Feuerbach und Schleiermacher seit den 1830er Jahren ausgetragenen philosophiehistorischen Debatten, die Frage nach dem Verhältnis von System und Geschichte, unbekannt blieb, zeigt die signifikante Kombination seiner unmittelbaren Quellen, zu deren Betrachtung nunmehr überzugehen ist.

2.2.1.3 Zum ideengeschichtlichen Kontext von Büchners Quellen Seit Längerem ist bekannt,423 dass Büchner für die Vorbereitung seiner Vorlesungen über die Philosophie Descartes’ und Spinozas einige wenige Quellen intensiv nutze. Dazu gehört – wie schon erwähnt und vor dem Hintergrund der Usancen im frühen 19. Jahrhundert wenig überraschend – der zehnte Band von Gottlieb Wilhelm Tennemanns Geschichte der Philosophie, der umfangreiche Kapitel zu Descartes und

|| 421 So auch Taylor 2003 sowie Taylor 2005. 422 Vgl. P II, S. 1772–5/MBA IX.2, S. 461–3. 423 Vgl. Bergemann 1922, S. 742–749; Hauschild 1993, S. 528; Vollhardt 1991, S. 199; Osawa 1999, S. 13f.; P II, S. 956f.; Knapp 32000, S. 32; MBA IX.2, S. 299ff.

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Spinoza enthält.424 Darüber hinaus zog Büchner insbesondere für die DescartesVorlesung die Studie Jacobi und die Philosophie seiner Zeit von Johannes Kuhn,425 den ersten Band von Johann Friedrich Herbarts Allgemeiner Metaphysik426 sowie die Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften Ernst Gottlob Schulzes hinzu.427 Schließlich ist durch eine Anmerkung in den Spinoza-Vorlesungen erkennbar,428 dass Büchner auf Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetters zweibändigen Grundriß einer reinen allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen zurückgreifen konnte,429 der vermutlich die bei Hillebrand zwei Jahre zuvor erlernten logischen Instrumentarien aktualisieren sollte und vor allem Begriffsdefinitionen lieferte. Alle weiteren Texte, die von der Forschung im Laufe der Jahre als Grundlagen oder Quellen der Vorlesungen vorgestellt wurden, u. a. auch Heines Geschichte der Religion und Philosophie (die Büchner sicher gelesen hat) oder Adolphe Stoebers Dissertation (dessen Lektüre unsicher ist), sind als Quellen nicht nachweisbar.430 Eine Interpretation der büchnerschen Texte kann mit den genannten Kompendien und den Quellentexten Descartes’ und Spinozas allerdings auch hinreichend geleistet werden.431 Trotz streckenweise erheblicher Quellenabhängigkeit sind auch umfangreiche, selbständig analysierende Passagen zu verzeichnen. Wichtiger als eine erneute Suche nach weiteren Quellen, und bisher nur in Ansätzen geleistet,432 ist eine ideengeschichtliche Reflexion auf diese eigentümliche Liste an Quellen, die Büchner als Grundlage seiner Vorlesungen heranzog. Vorab ist jedoch daran zu erinnern, dass es weitgehend kontingente Gründe gewesen sein dürften, die diese Liste zustande brachten; denn – wie Udo Roth nachweisen konnte433 – musste Büchner, dessen prekäre finanzielle Lage in Straßburg den Kauf neuer Bücher verbot, auf das Angebot, Privat- und Leihbibliotheken zu nutzen, zurück-

|| 424 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 200–484. 425 Kuhn 1834. 426 Herbart 1828. 427 Schulze 31824. 428 Vgl. P II, S. 282Anm. 2; vgl. dazu auch P II, S. 1021f. 429 Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetter: Grundriß einer allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen. Zum Gebrauch für Vorlesungen. Erster Theil, welcher die reine allgemeine Logik enthält. Leipzig 41824; ders.: Grundriß einer allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen. Zum Gebrauch für Vorlesungen. Zweiter Theil, welcher die angewandte allgemeine Logik enthält. Leipzig 31825; Büchners Zitate können sich auch auf vorherige Auflagen dieser Texte beziehen, sicher aber nicht auf die in P II, S. 1021f. angegebene 6. Auflage von 1795, die es schlicht nicht gibt. 430 Vgl. hierzu aber P II, S. 957, Knapp 32000, S. 32 und MBA IX.2, S. 184f. 431 Zu Büchners primärtextlichen Quellen vgl. P II, S. 955–957 sowie MBA IX.2, S. 202–206; weil mit der vorliegenden Arbeit keine lückenlose Quellenkommentierung verbunden wird, sondern eine philosophie- und ideengeschichtliche Interpretation, wird in der Folge bei Bedarf auf moderne Descartes- und Spinoza-Ausgaben zurückgegriffen. 432 Vgl. hierzu die allerdings sachlich abweichenden Ausführungen in MBA IX.2, S. 243ff. 433 Vgl. Roth 2004, S. 70–74.

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greifen.434 Welche dieser Bibliotheken Büchner tatsächlich benutze, ob die seines ehemaligen Dozenten Lauth und/oder die seines Mentors Duvernoy,435 scheint von geringerem Interesse; wichtig ist dagegen, dass diese Liste auch in ihrer Begrenztheit auf die lebensweltliche und daher in diesem Falle auch wissenschaftliche Not des angehenden Philosophiehistorikers zurückzuführen ist, wenngleich Büchners Rückgriff auf verschiedene Werkausgaben Descartes’ und Spinozas auf eine recht gute Versorgung mit philosophischen Primärtexten schließen lässt. Ideengeschichtlich sind zweierlei Sachverhalte an dieser Liste von Quellentexten auffällig: Erstens weist nur einer der vier Texte eine substanziell philosophiehistorische Kontur auf und zweitens wurden drei der fünf Quellenwerke von Kantianern verfasst. Im Folgenden sollen alle fünf Texte unter ideengeschichtlichen Gesichtspunkten kurz vorgestellt werden: Auf Gottlieb Wilhelm Tennemanns Geschichte der Philosophie treffen beide Prädikate zu; Tennemanns spätestens seit den 1820er Jahren als Standardwerk der Disziplin firmierendes 11-bändiges Kompendium wurde – wie schon erwähnt – von nahezu allen Philosophiehistorikern des 1830er Jahre als Grundlage ihrer Vorlesungen oder Kompendien verwendet.436 Begonnen noch in den letzten Jahren des 18. Jahrhundert, arbeitet Tennemann an diesem Lebenswerk bis kurz vor seinem Tode 1819 und schafft damit das bis zu diesem Zeitpunkt umfangreichste, umfassendste und differenzierteste Werk seiner Gattung. Ohne eine vollständige Analyse und Interpretation dieses stupenden Werkes ausführen zu können,437 lassen sich doch einige Charakteristika bestimmen, die auf Büchners Rezeption eingewirkt haben. So betont Tennemann schon in seiner Einleitung, die in ihrem Umfang und in ihrer systematischen und methodischen Konzeptionierung im späten 18. Jahrhundert unerreicht war und eben jene oben erwähnten methodologischen Debatten zwischen 1790 und 1820 grundlegend beförderte, die Wissenschaftlichkeit sowohl des Gegenstandes als auch seiner Behandlungsart, d. h. der Philosophie und der Philosophiegeschichte, und definiert Wissenschaft und deren Geschichte wie folgt: Wissenschaft ist ein System gleichartiger Erkenntnisse, welche nach Grundsätzen unter einander verbunden sind. […] Geschichte einer Wissenschaft ist die Darstellung der auf eine Wissen-

|| 434 Vgl. P II, S. 422. Bei Ludwig Büchner, auf dessen Hinweise sich alle Spekulationen – auch die Döhners 1967, S. 53, Roths 2004, S. 73 und der MBA VIII, S. 194–196 – beziehen, heißt es: »Der berühmte Lauth und Düvernoy […] machten ihm den Gebrauch der Stadtbibliothek sowohl, als einiger bedeutender Privatbibliotheken möglich«. Zitiert nach Dedner (Hg.) 1990, S. 122. 435 Vgl. die überkomplexen Spekulationen bei Roth 2004, S. 73. 436 Zur Tennemann-Rezeption bei Coleridge, vgl. Schneider 1999, S. 152f. u. S. 159; bei Cousin, ebd., S. 180; bei Hegel, ebd., S. 216f.; sowie bei Heine, vgl. Höhn 32004, S. 342. 437 Zu Tennemanns nach wie vor nicht angemessen erschlossenem Werk vgl. die Studien von Geldsetzer 1968, S. 35–40; Braun 1990, S. 254–263; Schröpfer 1994; Schneider 1999, S. 161ff.; Zijlstra 2005, S. 166–170 und Holzhey 2014, S. 1439–1441.

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schaft gerichteten Bestrebungen und der dadurch bewirkten allmählichen Bildung derselben.438

Diese kantischen Vorgaben439 entsprechende Definition führt aber u. a. dazu, dass Tennemann aus ihr eine linear-evolutionäre Entwicklungskonzeption ableitet, die selbst nicht systematisch strukturiert ist, d. h. nicht einen Teil des geschichtsphilosophisch gedachten prozessualen Systems ausmacht. Ein System der Philosophie ist nur das Telos dieser Entwicklung – die Transzendentalphilosophie –, nicht aber die Entwicklung selbst,440 wie dann bei Hegel oder Erdmann. Auch der Begriff der Philosophie wird von Tennemann zwar mit einem allgemeingültigen Anspruch formuliert, lässt aber seine kantische Provenienz durchaus erkennen: Alle Gegenstände des Philosophirens aber betreffen entweder das, was ist, oder das, was seyn soll. Der Inbegriff der ersteren ist die Natur. Das Sollen drückt eine absolute Forderung an den Willen vernünftiger Wesen aus, welche sich auf Freiheit gründet. Natur und Freiheit sind es also, deren letzte Gründe und Gesetze den Gegenstand der Philosophie ausmachen. Die Wissenschaft der letzten Gründe und Gesetze der Natur und Freiheit und ihres Verhältnisses zueinander ist die Idee, welche von der Vernunft unzertrennlich ist, und daher jedem Denker vorschweben muß.441

Auch wenn Büchner nicht alle Elemente dieser tennemannschen Geschichts-, Wissenschafts- und Philosophiebegriffe vorbehaltlos geteilt hat, im Hinblick auf seine Ausübung einer Wissenschaft der Natur wird er nach solcherart letzten Gründen und Gesetzen forschen.442 Hinsichtlich seiner Analysen und Interpretationen der Philosophie Descartes’ und Spinozas wird er zudem Tennemanns Ergebnisse nicht nur bewusstlos abschreiben, sondern auch der Sache nach übernehmen. Sowohl die Descartes- als auch die Spinoza-Skripte Büchners gründen also – und das ist für ihre wissenschaftsgeschichtliche Einordnung von essentieller Bedeutung – weder auf den zeitgenössischen Alternativkonzeptionen spekulativer Philosophiegeschichte Hegels oder Erdmanns, noch, wie es die Büchner-Forschung seit Hans Mayer stets wiederholt,443 auf einem von Feuerbach ausgehenden angeblich materialistischen Verständnis der Philosophiegeschichte; noch gar auf einer kulturpolitischen und -geschichtlichen Perspektive im Sinne Heines oder Cousins, sondern auf der transzendentalphilosophisch begründeten Systematik und Methodologie Tennemanns. Büchner ist deshalb nicht zum Kantianer geworden, allein weil er

|| 438 Tennemann 1798–1819, I, S. XII. 439 Vgl. KrV B 860ff. 440 Vgl. hierzu Geldsetzer 1968, S. 38. 441 Tennemann 1798–1819, I, S. XX. 442 Vgl. hierzu Schramm 1989, S. 128; Stiening 1999, S. 106ff.; Roth 2004, S. 253ff. und Elm 2015, S. 124f. 443 Hans Mayer 1972, S. 364; Vietta 1979, S. 424f.; Kahl 1982, S. 119; Taylor 1995, S. 60; Hauschild 1993, S. 528; Knapp 32000, S. 31f.; Wittkowski 2009, S. 107.

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von den Grundzügen der Transzendentalphilosophie zu geringe Kenntnisse hatte444 und weil er, wie sich noch zeigen wird, das spezifisch philosophiegeschichtliche Telos dieser Wissenschaft, nämlich die Rekonstruktion einer Entwicklung des philosophischen Denkens und ihrer Wirkmechanismen, nicht umsetzte. Dennoch müssen seine Vorlesungs-Texte wissenschaftsgeschichtlich in eine von Kant und Tennemann ausgehende Tradition dieser jungen Disziplin im 19. Jahrhundert eingeordnet werden.445 Ebenso aussagekräftig, wenngleich mit geringerem Einfluss auf die Vorlesungsskripte, sind die vier anderen Texte, die Büchner sich als Quellen seiner Vorlesungen auswählte. Die wichtigste Erkenntnis bei der Betrachtung dieser Werke Herbarts, Kuhns, Kiesewetters und Schulzes besteht darin, dass sie keine spezifisch philosophiehistoriographischen Darstellungen bieten, sondern systematische Absichten verfolgen. Die Bedeutung dieses Status der Argumentationen wird sich deshalb als wichtig erweisen, weil Büchner, obwohl er den Titel seiner Vorlesungen mit der philosophiehistorischen Formel von einer »Entwickelung der […] Philosophie« benennt,446 in weiten Teilen systematische Auseinandersetzungen mit Descartes und Spinozas betreibt – und dies nicht nur im Hinblick auf deren Gottesbeweise. Allein an der Verwendung dieser systematischen Studien als Quellen seiner historischen Vorlesungen zeigt sich, dass Büchner die philosophiehistoriographische Pointe seines Tuns offenbar nicht hinreichend reflektierte. Dabei ist in systematischer Hinsicht Kiesewetters Grundriß der tennemannschen Position deshalb am nächsten, weil der Autor als unmittelbarer Kant-Schüler eine textnahe und popularisierende Darstellung der kantischen Logik-Konzeption gibt, auch wenn dieses Logik-Kompendium zugleich disziplinär am weitesten von der Philosophiegeschichte entfernt liegt. Kiesewetter, der durch Kants Biographie447 und als »begeisterter Popularisierer«448 der kantischen Philosophie im Berlin des späten 18. Jahrhunderts bekannt ist,449 dürfte Büchners logische Kenntnisse aus der Hillebrand-Vorlesung in Gießen ergänzt oder aufgefrischt haben und diente ihm nachweislich als begriffdefinitorisches Lexikon. Festzuhalten bleibt, dass auch diese Quelle Büchners durch eine kantische Ausrichtung zu charakterisieren ist. Büchners Griff zu Johann Friedrich Herbarts Allgemeiner Metaphysik nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre hat zu Spekulationen über die Rezeption weiterer Werke des im frühen 19. Jahrhundert vor allem bei Naturwissenschaftlern

|| 444 Vgl. hierzu Stiening 2000–04, S. 217; Roth 2004, S. 202 und Heinz 2006, S. 249; anders dazu Petersen 1973, S. 245–266; Forssmann 1992, S. 146ff.; MBA IX.2, S. 263f. 445 Vgl. hierzu Stiening 2005, S. 231ff. 446 Vgl. nochmals P II, S. 43919f../MBA X.1, S. 931. 447 Am ausführlichsten und informativsten immer noch Vorländer 31992, II, S. 140ff. 448 So Kühn 2007, S. 417. 449 Zur Biographie des wenig erforschten Kiesewetters vgl. Flittner 1824 und Prantl 1882.

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geschätzten Philosophen geführt.450 Die Absicht dieses Versuches besteht offenbar darin, Büchner an Herbarts wissenschaftsgeschichtliche Stellung einer zwischen den empirischen Einzelwissenschaften und der Philosophie vermittelnden Wissenschaftstheorie heranzurücken.451 Im Vorwort zur Allgemeinen Metaphysik schreibt Herbart im Hinblick auf diese Ausrichtung seiner Philosophie auf die Naturwissenschaften: Naturphilosophie ist das Ziel des vorliegenden Werks. Zwar nur Physiker können vollständig, so weit die heutige empirische Naturkenntnis es erlaubt, dahin gelangen. Aber sie bedürfen hiezu einer metaphysischen Vorarbeit.452

Und diese wissenschaftstheoretische Ausrichtung entspricht in formaler Hinsicht durchaus büchnerschen Vorstellungen.453 In materialer Hinsicht aber hat die Thematik der herbartschen Studie wenig Spuren bei Büchner hinterlassen, u. a. in den teleologiekritischen Aspekten der an die Herbart-Lektüre unmittelbar anschließenden Niederschrift der Probevorlesung.454 Dabei benennt Herbart mit dem Telos seines Werkes einen grundlegenden Sachverhalt der zeitgenössischen Naturphilosophie: Der Plan dieses Werks liegt nun vor Augen. Allgemeine Metaphysik als Wissenschaft, und in ihr ganz besonders die Grundlehre von der Materie, ist die Hauptsache.455

Der angebliche Materialist Büchner hat aber an dieser Materietheorie Herbarts weder Anstoß genommen noch Interesse gefunden; sie bleibt – auch wenn Herbarts Teleologiekritik im Rahmen der Naturphilosophie der büchnerschen entspricht456 – ohne jede weitere Spur. Ebenfalls keinen Anstoß nimmt Büchner offenbar an der herbartschen Begründung für die Rekurse auf die Geschichte der Philosophie, die rein funktional auf das systematische Interesse ausgerichtet sind: Nur größere Deutlichkeit, welche in diesem Felde so schwer zu erreichen ist, wird hier durch die vorangehenden historisch-kritischen Betrachtungen beabsichtigt, […]. Zur Beleuchtung derselben [d. i. der Grundlehre von der Materie als dem Nachweisziel des Buches] von vorn her dient eine historische Darstellung, […]. Geschichte und Kritik gehen daher, wo es seyn kann,

|| 450 Vgl. Knapp 32000, S. 32. 451 Zu dieser philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Stellung Herbarts vgl. Cassirer 1991, III, S. 378–410; Heidelberger 1994, S. 175; Briese 1998, S. 78–89; Röd 2006, S. 183–191. 452 Herbart 1828, I, S. III. 453 Vgl. hierzu Schramm 1989; Stiening 1999 und Roth 2004. 454 Vgl. Stiening 1999, S. 103. 455 Herbart 1828, I, S. 8. 456 Vgl. Stiening 1999, S. 103; Roth 2004, S. 242–252 nimmt diese Kontextualisierung der Teleologie-Kritik Büchners allerdings nicht auf.

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unmittelbar über in Versuche, die wahren Umrisse des Systems vorläufig […] sichtbar zu machen.457

So bleiben nicht nur die Forschungs-Thesen zu einer umfangreicheren HerbartRezeption Büchners ohne jeden empirischen Nachweis, es lässt sich auch zeigen, dass Büchner aus systematischen Gründen dem herbartschen Modell insbesondere von Naturphilosophie grundsätzlich kritisch gegenüberstand.458 Gerade weil Büchner darüber hinaus erst gegen Ende seiner Arbeit an der Spinoza-Vorlesung zu Herbarts Allgemeiner Metaphysik griff459 und aus ihr ein Exzerpt der Analyse zur »Ontologie des Spinoza« und zur »Kosmologie des Spinoza« anfertigte,460 ist die Frage nach einem prägenden Einfluss Herbarts sowohl auf seine Philosophiegeschichtsschreibung als auch auf seine Naturwissenschaft erst im Durchgang durch das Vorlesungsskript zu beantworten. Es bleibt vorerst nur festzuhalten, dass sich Büchner mit dem Rückgriff auf Herbart – zumindest nach dessen Selbsteinschätzung – in jenem philosophischen Kontext befindet, den er schon mit den ersten beiden hier betrachteten Quellentexten herstellte, denn im Vorwort betont Herbart ausdrücklich: »Der Verfasser ist Kantianer.«461 Diese Zuweisung trifft ausdrücklich nicht auf Büchners vierte Quelle zu, die er vor allem zu Beginn der Descartes-Studien extensiv zitiert: Johannes Kuhns Jacobi und die Philosophie seiner Zeit. Mit Ausnahme einer Studie von Friedrich Vollhardt,462 die vor allem systematische Interessen im Hinblick auf Büchners Gefühlsbegriff verfolgt, und den kursorischen Ausführungen der MBA463 hat sich die Büchner-Forschung weder mit diesem Text, noch mit seinem Autor,464 noch gar mit der Tatsache beschäftigt, dass Kuhns Arbeit Büchner als Quelle seiner Vorlesungsskripte diente.465 Unabhängig von den historisch-positivistischen Unklarheiten – besaß Büchner diesen Text vielleicht selbst, weil er in Gießen mit dem seit 1832 dort lehrenden Ordinarius für neutestamentliche Exegese an der katholischen Fakultät der Universität Gießen466 bekannt war, ihn wenigstens hörte, oder stand dieser Text ebenso zufällig wie die anderen Vorlagen in den Privatbibliotheken, die Büchner in

|| 457 Herbart 1828, I, S. IV und S. 8. 458 Vgl. hierzu Roth u. Stiening 2001, S. 203–206. 459 Zu dieser Vermutung vgl. schon Bergemann 1922, S. 747 und Mayer 1995–99a, S. 319. 460 Vgl. hierzu Herbart 1828, I, S. 128–168 sowie P II, S. 618–624/MBA IX.2, S. 157–164. 461 Herbart 1828, I, S. XXVI, vgl. auch ebd., S. XXVIII sowie S. 6ff. Siehe hierzu auch MBA IX.2, S. 417. 462 Vollhardt 1991; Hinweise auch bei Hauschild 1993, S. 528. 463 MBA IX.2, S. 283–285 u. S. 398–402. 464 Zu Kuhns Biographie vgl. Wolf 1992, Oelsmann 1997 und Scharfenecker 1998, S. 456ff. 465 Vgl. hierzu in Ansätzen Taylor 2012, S. 80ff. 466 Vgl. hierzu Scharfenecker 1998, S. 114–119 u. S. 456–466.

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Straßburg benutzen durfte?467 – ist die Tatsache, dass er für seine philosophiehistorische Reflexions- und Darstellungsarbeit aus einer Studie der systematischen Theologie468 der »Tübinger Schule«469 zitiert, in ideengeschichtlicher Hinsicht von aussagekräftigem Wert. Zwar wird Büchner durch die Aufnahme kuhnscher DescartesInterpretationen nicht zum katholischen Theologen, wie er auch im Falle der Übernahme tennemannscher Exegese nicht zum Kantianer wurde, doch zeigt der Sachverhalt, dass er auch aus einer theologischen Studie Analyse-Ergebnisse übernahm, den eher unreflektierten systematischen und methodischen Status seiner Philosophiegeschichtsschreibung. Denn Kuhns historische Rekonstruktionen der Philosophie Descartes’, Spinozas und der leibniz-wolffschen Schule sind streng funktional auf das systematische Ziel ausgerichtet,470 anhand einer analytischen Darstellung der jacobischen Philosophie und ihrer Entwicklungsgeschichte das Verhältnis von Vernunft und Glauben, von Theologie und Philosophie in neuer Sicht zu bestimmen.471 In ebenso ambitionierter wie begriffs- und argumentationsanalytisch komplexer Weise zielt Kuhn auf eine Vermittlung des jacobischen Unmittelbarkeits- mit dem hegelschen Vermittlungsgedanken472 sowie einer Korrelation des jacobischen Theismus mit der kantischen Wissenschaftsmethodologie,473 um eine relative Eigenständigkeit theologischer von philosophischer Reflexionstätigkeit nachzuweisen. Für das Ziel des systematischen Aufbaus einer »Philosophie, die das Glaubensphänomen als Erkenntnisform und Erkenntnisinhalt aus der Vernunft heraus für sich selbst beansprucht« und die »primär daran interessiert [ist], den Glauben als Wissensform zu bestimmen«,474 liefert Kuhn eine hochkomplexe Auseinandersetzung nicht allein mit der Philosophie Jacobis, sondern – zu diesem Zweck475 – eine Kontextualisierung mit der gesamten, in den 1830er Jahren wirksamen systematischen Philosophie von Kant bis Schelling.476 Für diese Auseinandersetzung stellt Kuhn strenge methodische Maßstäbe auf, die dem Standpunkt der zeitgenössischen Philosophiegeschichtsschreibung in nichts nachstehen:

|| 467 So die – allerdings reinen – Spekulationen bei Knapp 32000, S. 32; die Hinweise der MBA IX.2, S. 398 bleiben rein negativ. 468 Vgl. hierzu Oelsmann 1997, S. 66–99. 469 Zur herausragenden Stellung Kuhns innerhalb der Tübinger Schule vgl. Kobusch 2004, S. 386– 388. 470 Zum expliziten Zurückweisen einer vordringlich philosophiehistorischen Intention vgl. Kuhn 1834, S. 296f. 471 Vgl. ebd., S. 488ff. 472 Vgl. Oelsmann 1997, S. 66ff. 473 Scharfenecker 1998, S. 460. 474 So in präziser Rekonstruktion Oelsmann 1997, S. 91. 475 Vgl. Kuhn 1834, S. 292–299. 476 Vgl. ebd., S. 435–558.

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Bei der Darstellung eines philosophischen Systems hat man sich des eigenen Standpunktes gänzlich zu entäußern. Denn sie soll ihrer Natur nach nichts anderes sein, als eine Rekonstruktion eines fremden Bewußtseins; und je mehr es gelingt sein An-sich zu erfassen, desto wahrer und gelungener wird die Darstellung sein.477

Diese methodologische Maxime, der sich Büchner erst nach und nach zu fügen vermochte,478 setzt Kuhn in seiner materialreichen und differenzierten Schrift um. Es wird sich im Zusammenhang der Descartes-Skripten Büchners zeigen, dass Kuhn hinsichtlich seiner philosophiehistorischen Interpretationsleistungen auf der Höhe dieser Wissenschaften in den 1830er Jahren steht und so zweifellos die philosophisch und philosophiegeschichtlich komplexeste Studie darstellt, die Büchner als Quelle heranzieht.479 Dennoch bleibt Kuhns systematische Intention eine theologische, deren spezifische Differenz zu einer jeden Philosophiegeschichtsschreibung480 von Büchner allerdings nicht reflektiert wird. Von Feuerbachs kritischer Einsicht in die engen Grenzen dieser ›Philosophie des unmittelbaren Wissens‹, die Kuhn mit (und gegen Jacobi) propagiert, ist Büchner Welten entfernt; Feuerbach aber resümiert in einer Rezension des kuhnschen Werkes schon im Mai 1835 treffend: Übrigens ist es freilich schon an und für sich selber ein höchst gewagtes und mißliches Unternehmen, von dem unmittelbaren Wissen, wie Jacobi es bestimmte, auch nur einen Übergang zum mittelbaren Wissen auffinden zu wollen, da gerade in seiner rigorosen Ausschließlichkeit, in seiner unvermittelbaren, lediglich mit der Persönlichkeit, dem Gefühl identischen Subjektivität das eigentümliche Wesen des unmittelbaren Wissens, das am Ende doch nichts ist als eine Idiosynkrasie der neuern Zeit, enthalten ist.481

Nur kurz sei noch Büchners fünfte Quelle betrachtet, die ebenfalls auf den Grundlagen der Glaubensphilosophie Jacobis aufruht und sich erkenntnistheoretisch zu einem »natürlichen Realismus« bekennt.482 Gottlob Ernst Schulzes dritte Auflage seine Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften hat ebenfalls einen systematischen Aufbau und ein ebensolches telos, und zwar in dem Versuch, den schnellen, beliebig wirkenden Wechsel der philosophischen Systeme nach Kant, deren »leere Speculationen«483 dem ›Realisten‹ zuwider sind, durch eine solide Grundlagenphilosophie abzustellen. Zugleich sieht Schulze 1824 seine Aufgabe darin, der prosperierenden Naturforschung, die von theonomen Begründungstheorien sich zu verab-

|| 477 Ebd., S. 7. 478 Vgl. hierzu Stiening 2005, S. 219–221. 479 Vgl. abermals Oelsmann 1997, S. 90ff. 480 Vgl. Kuhn 1834, S. 296: »Wollten wir eine kritische Geschichte der Philosophie überhaupt schreiben, […].« 481 Feuerbach 1975, II, S. 24 u. S. 340. 482 Schulze 1824, S. XIII. 483 Ebd.

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schieden scheint, mithilfe einer »Anthropo-Theologie«484 ein neues Fundament zu liefern und so vor einem methodischen Atheismus zu bewahren. Schulzes Enzyklopädieprojekt,485 aus dem Büchner nur im Zusammenhang der cartesischen LeibSeele-Theorie einen Absatz zitiert, ist allerdings von dessen Auseinandersetzung mit der Philosophie grundlegend verschieden, nicht allein in seiner konservativen Staatstheorie,486 sondern schon in seinem Spinoza-Verständnis, das dessen Pantheismus mit Materialismus und Atheismus gleichsetzt.487 Auch die eher didaktische Aufgaben der Philosophiegeschichte, die Schulze entwirft, weist zwar auf Schelling voraus, hat aber mit Büchners Vorstellung hiervon wenig zu tun: Indem sie aber die Verirrungen in der Speculation über die Welt und die menschliche Natur aufstellt, und den Antheil aufklärt, welchen ein fehlerhaftes Verfahren daran hatte, wirkt sie warnend gegen ähnliche Verirrungen, und schärft Vorsicht bei dem Bestreben ein, die Philosophie durch neue Ideen und ein neues Verfahren zu verbessern.488

Im Folgenden soll eine Analyse und Interpretation der beiden Vorlesungsskripte Büchners nicht allein unter Berücksichtigung der bekannten Quellen erfolgen, sondern auch hinsichtlich des oben skizzierten Tableaus zeitgenössischer Philosophiegeschichtsschreibung der 1830er Jahre. Denn erst ein methodisch differenzierter Bezug auf beide Kontextarten ermöglicht eine angemessene Rekonstruktion der philosophiehistorischen Reflexionsarbeit Büchners und ihrer Stellung im zeitgenössischen Wissenschaftsgefüge. Dabei soll das jeweilige Ganze der bislang nur in kleinen Bruchstücken interpretierten Texte in den Blick kommen, indem die einzelnen Kapitel und deren Zusammenhang in ihrer argumentationslogischen Struktur, ihrer hermeneutischen Schwerpunktbildung, aber auch ihrer Adäquanz gegenüber den Quellentexten rekonstruiert werden. Das nahezu vollständige Fehlen von Gesamtinterpretationen489 der 181 bzw. 120 Manuskriptseiten490 umfassenden büchnerschen Texte macht diese differenzierte wissensgeschichtliche Betrachtung unerlässlich.

|| 484 Ebd., S. XVIII. 485 Vgl. hierzu Leibold 2009, S. 157ff. u. S. 256ff. 486 Schulze 1824, S. 137ff. 487 Ebd., S. 95ff. 488 Ebd., S. 255f. 489 Das Spinoza-Skript wurde als Ganzes bisher einzig betrachtet von Taylor 1995 und Stiening 2000–04; Teile des Descartes-Skripts betrachteten Vietta 1979 und Vollhardt 1991; Teile beider Skripten wurden von Kobel 1974, S. 112–125, Röcken 2009, S. 133–135 sowie Beise 2010, S. 84–89 interpretiert; MBA IX hat die Textordnung entstehungsgenetisch dekonstruiert und so eine philosophische Interpretation erschwert, die gleichwohl einführend versucht wird in ebd., S. 246–298. 490 Zu diesen Angaben vgl. Bergemann 1922, S. 742 u. S. 744f.; P II, S. 926f. sowie MBA IX.2, S. 187ff.

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2.2.2 Das Descartes-Skript Büchners Vorlesungs-Skript zu »Cartesius« lässt sich zunächst in sechs Abschnitte unterteilen, wie dies der Herausgeber einer der maßgeblichen Edition der Texte auch vorschlägt und durch – allerdings z. T. unglückliche – Herausgebertitel markiert. Im ersten Abschnitt (P II, S. 1733–21016)491 handelt Büchner Descartes’ Erkenntnistheorie und Metaphysik (I) ab, die das einleitende Thema, die Frage nach der »Philosophie als Wissenschaft« sowie die cartesische Antwort zwar enthält, in dieser aber nicht aufgeht, wie Poschmanns Herausgebertitel insinuiert. Im zweiten Abschnitt (P II, S. 21017–22320)492 wendet sich Büchner der »Physik«, d. h. der Naturphilosophie (II) Descartes’ zu, um im Anschluss daran nicht etwa nur die »Physiologie«, sondern Descartesʼ umfassendere Anthropologie (III) mit dem berühmten Körper-Seele-Verhältnis in deren Zentrum zu erfassen (P II, S. 22321–23816).493 Büchners Ausführungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik sowie zur Naturphilosophie sind als Kommentare zum Hauptwerk Descartes’, den Principia Philosophiae konzipiert, die daher dem ersten Teil der Vorlesung eine erste Überschrift verschaffen, wenngleich häufige Bezüge auf die Meditationen festzustellen sind;494 die Rekonstruktion der Anthropologie bezieht sich dagegen meistenteils auf De Homine und das berühmte Spätwerk Descartes’, Les Passions de l’Âme. Erst im vierten Abschnitt (P II, S. 23817–24118)495 stellt Büchner die Biographie (IV) auf kürzestem Raume dar; eine Berücksichtigung, die in Extension und Stellung innerhalb der Vorlesung sowohl gegenüber seiner Hauptquelle Tennemann496 als auch gegenüber den Philosophiehistorikern der 1830er Jahre ungewöhnlich marginal ist. Breiten und in sich differenzierten Raum dagegen – und auch das ist ausschließlich bei Tennemann in Ansätzen durchgeführt – gewährt Büchner der Darstellung der Objectiones, d. h. der Einwände gegen Descartesʼ Meditationen, die von Theologen und Philosophen des 17. Jahrhunderts, wie Arnauld, Gassendi oder Hobbes in Briefen gegen Descartes vorgetragen wurde, sowie Descartes’ Erwiderungen darauf (V) (P II, S. 24119–2637).497 Abschließend analysiert Büchner noch einige als Nachfolger Descartes’ (VI) firmierende Autoren, wie Arnold Geulinx, Balthasar Bekker und Nicole Malebranche (P II, S. 2638–2796).498

|| 491 MBA IX.2, S. 431–746. 492 Ebd., S. 747–854. 493 MBA IX.2, S. 855–9815. 494 P II, S. 1732/MBA IX.2, S. 432. 495 MBA IX.2, S. 9818–10019. 496 Tennemann 1798–1819, X, S. 200–217. 497 MBA IX.2, S. 10020–1172. 498 Ebd., S. 1174–1283.

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Gegenüber seiner Hauptquelle Tennemann, aber auch gegenüber den inneren Ordnungsstrukturen der Descartes-Kapitel von Feuerbach, Schelling und Hegel499 ist sowohl die nachgerückte Stellung der verhältnismäßig kurzen Biographie als auch die eigenständige und ausführliche Darstellung der Einwände auf die Meditationen samt den entsprechenden Erwiderungen Descartes’ auffällig.500 Die Grundzüge der Ordnung des cartesischen Systems in (1) Erkenntnistheorie und Metaphysik, (2) Naturphilosophie oder Physik und (3) Anthropologie entspricht den Quellen501 und den Vergleichstexten502 und ist selbst in aktuellen philosophiehistorischen Darstellungen zur Philosophie Descartes’ aufzufinden.503 Eine weitere Auffälligkeit des gesamten Descartes-Skriptes besteht in der mehrmals aufgeregten Polemik der zugleich systematischen Auseinandersetzungen mit Descartes; so wird den Erwiderungen Descartes’ auf die Einwände gegen seine Meditationen von Büchner mehrfach das Folgende attestiert: »Die Antwort des Cartesius ist erbärmlich.«504 Schon hinsichtlich der erkenntnissichernden Funktion des nach dem und unabhängig vom cogito-Argument ontologisch bewiesenen Gottes hält Büchner spöttisch fest: Gott ist es, der den Abgrund zwischen Denken und Erkennen, zwischen Subjekt und Objekt ausfüllt, er ist die Brücke, zwischen dem cogito ergo sum, zwischen dem einsamen, irren, nur einem, dem Selbstbewußtsein, gewissen, Denken und der Außenwelt. Der Versuch ist etwas naiv ausgefallen, aber man sieht doch, wie instinktartig scharf Cartesius schon das Grab der Philosophie abmaß; sonderbar ist es freilich wie er den lieben Gott als Leiter gebrauchte, um herauszukriechen.505

Die an den marxschen Polemiken geschulte Büchner-Forschung der 1970er und 1980er Jahre erkannte gegenüber solcherart Polemik gegen die Argumentationen Descartes’ keinerlei Erklärungsbedarf, das »Grab der Philosophie« sahen sie Büchner – »an der Schwelle zum historischen Materialismus«506 – notwendig und lustvoll schaufeln,507 und auch die selbstverständliche Annahme eines starken Einflusses jener Form der essayistischen Philosophiegeschichte, wie sie Heine betrieb, schien

|| 499 Drei dieser vier Descartes-Darstellungen beginnen ihre Rekonstruktionen mit der Biographie, vgl. Feuerbach 1990, S. 176–180; Schelling 1985, IV, S. 420; Hegel 1986, XX, S. 124f.; einzig Erdmann 1932, S. 321–336 verlegt seine biographischen Ausführungen an den Schluss seiner Abhandlung. 500 Eine unabhängig von der systematischen Rekonstruktion ausgeführte Darstellung der Objectiones ist bis auf eine kürzere Version bei Tennemann (1798–1819, X, S. 267–280) bei Hegel, Feuerbach, Erdmann oder Schelling nicht zu finden. 501 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 228–265. 502 Vgl. Erdmann 1932, S. 155–214; Hegel 1986, XX, S. 126–157; Feuerbach 1990, S. 187–232. 503 Vgl. hierzu u. a. Röd 31995, S. 76–144 oder Perler 22006, S. 89–230. 504 Vgl. P II, S. 2606/MBA IX.2, S. 11436. 505 P II, S. 19237–1938/MBA IX.2, S. 5910–16. 506 Mayer 1979a, S. 134. 507 So Dedner 2002, S. 303.

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diesen Stil zu erklären.508 Betrachtet man jedoch die nachweisbaren Quellen und die zeitgenössischen Kontexte zu Büchners Skript, dann sind solcherart Invektiven kaum zu entdecken;509 zwar macht auch Hegel Descartes den Vorwurf der Naivität;510 Feuerbach empfindet die »Art und Weise, wie C. seine Zweifel ausdrückt und vorstellt«, als »sehr unphilosophisch«,511 und selbst Tennemann attestiert Descartes, ihm habe »die Tiefe des Forschungsgeistes« gefehlt.512 Aber den Vorwurf der ›Erbärmlichkeit‹ erlaubt sich keine bekannte Philosophiegeschichte der Zeit. Im Gegenteil hält Eduard Erdmann schon gegen weniger polemische »Angriffe« Feuerbachs, Friedrich Asts und Thaddeus Anselm Rixners fest: Es ist zu bemerken, daß mit einem solchen Tadel die unerläßliche Forderung an jeden Kritiker, Alles auf seiner Stufe zu begreifen, außer Acht belassen ist.513

Dieser Einwand gegen tadelnde Kritik am historischen Gegenstand ist aber nicht ästhetischen oder rhetorischen Maximen geschuldet, sondern methodischen: »Kurz, dieser Tadel ist eben nur Tadel, nicht begreifende Kritik.«514 Um als Erklärung für Büchners ungewöhnliche Polemik weder auf Idiosynkrasien des Autors, mithin auf psychische Eigentümlichkeiten, noch auf die beliebte Insinuation einer Vorläuferschaft des marxschen Denkstils zurückgreifen,515 bieten sich zwei Überlegungen an: Büchners ausfällige Rhetorik lässt sich entweder dadurch erklären, dass er im Descartes-Manuskript noch nach der sprachlichen und rhetorischen Form des für ihn neuen Reflexionsfeldes suchen muss. Schon in der Darstellung der Philosophie des ›Mystikers‹ Nicole de Malebranche516 wie besonders in der Spinoza-Vorlesung finden sich solche Formen der Polemik nicht mehr, was sicher nicht auf die höhere Wertschätzung dieser Autoren durch Büchner zurückzuführen ist. Dagegen verfällt der Materialist Thomas Hobbes in der DescartesVorlesung dem (auf Tennemann zurückgehenden) Verdikt, »wenig Scharfsinn gezeigt«517 zu haben; kurz: in der Descartes-Vorlesung übte Büchner noch.518

|| 508 Zum angeblichen Einfluss des heineschen Essays auf Büchners Philosophiegeschichte vgl. Mayer 1979b, S. 390ff.; Osawa 1999, S. 79–85 und P II, S. 957. 509 Weder Tennemann noch Kuhn erlauben sich solche Formen der Auseinandersetzung und dies aus methodisch gesicherten Positionen; vgl. Tennemann 1798–1819, I, S. XVII und Kuhn 1834, S. 7. 510 Vgl. Hegel 1986, XX, S. 126, S. 128 u. S. 136. 511 Feuerbach 1990, S. 181. 512 Tennemann 1798–1819, X, S. 265. 513 Erdmann 1932, S. 277. 514 Ebd., S. 278. 515 Hans Mayer 1972, S. 364f.; Knapp 32000, S. 33. 516 Vgl. P II, S. 2728–2796, spez. S. 27214/MBA IX.2, S. 1231–1283. 517 P II, S. 24717/MBA IX.2, S. 10435. 518 Vgl. hierzu Stiening 2005, S. 220.

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Eine andere mögliche Erklärung besteht darin, dass sich der angehende Dozent zunächst bemühte, Ansprüchen zu genügen, die mit der Form der Vorlesung verbunden waren519 – auch einer philosophiehistorischen. Ulrich Johannes Schneider hat eine methodische Konsequenz dieser Ansprüche an den mündlichen Vortrag gegenüber der schriftlichen Studie schon für das frühe 19. Jahrhundert auf den Begriff gebracht: Die Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte, wie sie das Dozieren vorführt, geht funktionsgemäß über historische Gelehrsamkeit hinaus. Entscheidend für das in der Vorlesung Vermittelte ist der Gesichtspunkt der Gegenwart.520

Möglicherweise also ging es Büchner mit dieser ungewöhnlichen Rhetorik auch um eine angemessene Ansprache des studentischen Publikums; ein Kriterium, wie es zuvor schon Coleridge mit einem Feuerwerk rhetorischer Mittel zu berücksichtigen versucht hatte.521 Im Folgenden sollen die vier thematischen Schwerpunkte, in die Büchner seine Descartes-Analyse differenziert, einzeln und in ihrem argumentationslogischen Zusammenhang betrachtet werden. Zum Zwecke der Konturierung des spezifischen Descartesbildes, das Büchner als Philosophiehistoriker entwirft, werden nicht nur die Argumentationsgänge selbst rekonstruiert, sondern auch die Quellenbezüge sowie die zeitgenössisch disziplinären Kontexte möglichst breit erschlossen. Weil die philosophiehistorischen Vorlesungs-Skripte Büchners ideen- und philosophiegeschichtlich noch nahezu unerschlossen sind und die Historiographie der Philosophiegeschichtsschreibung als Disziplin eine geringe methodische, systematische und historische Entwicklungsstufe aufweist,522 müssen die folgende Ausführungen differenzierter ausfallen, als von der Forschung bisher geleistet. Innerhalb des methodischen und systematischen Disziplinenrahmens der Philosophiegeschichtsschreibung ist im Folgenden eine Auslegung der spezifischen DescartesInterpretation Büchners unerlässlich. Dabei muss in Einzelfällen über den Tellerrand der epistemischen Situation der Philosophiegeschichtsschreibung in den 1830er Jahren hinausblickend nach der systematischen Adäquanz oder der forschungsgeschichtlichen Relevanz der büchnerschen Ergebnisse gefragt werden.

|| 519 Vgl. schon Bergemann 1922, S. 745. 520 Schneider 1999, S. 155. 521 Vgl. ebd., S. 173. 522 Vgl. hierzu einzig Geldsetzer 1968; Braun 1990; Schneider 1999; Lehmann-Brauns 2004 sowie Michalski 2010.

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2.2.2.1 Büchners kritische Perspektive auf Erkenntnistheorie und Metaphysik Descartes’ Büchner beginnt seine analytische Rekonstruktion der Philosophie Descartes’ mit der von Kuhn übernommenen Distinktion, man könne einen exoterischen von einem esoterischen Beweisgang der cartesischen Philosophie unterscheiden,523 wobei der esoterische mit dem nicht nur in der Philosophie, sondern auch der Philosophiegeschichtsschreibung zentralen Problem der »Philosophie als Wissenschaft« anhebe. Durch ein Wahrheitsgewissheitskriterium sowie ein Abstraktionsverfahren, die beide der Mathematik entlehnt seien, stieße man auf die einfachsten, also nicht zusammengesetzten, d. h. substanziellen Gegenstände, die am leichtesten zu erkennen und in ihrer Gewissheit nachzuweisen seien. Dieser mathematisch fundierte Szientismus, den auch Tennemann betont,524 sei das esoterische Zentrum der Philosophie Descartesʼ: Also Demonstration, Evidenz. Das Beispiel des Mathematikers hat den Neid des Philosophen erregt.525

Zur Ermöglichung solch wissenschaftlicher Wahrheitsgewissheit526 bedürfe es des Ausgangspunktes bei einem »ersten schlechthin gewisse[n] Satz«, der nur mit Hilfe eines uneingeschränkten Zweifels zu finden sei. Dabei erkennt Büchner und lässt daher seine gesamte Argumentation darauf zulaufen, dass der »Grundstein des cartesischen Gebäudes«, das cogito ergo sum, seine Geltung aus dem Satz des ausgeschlossenen Widerspruches bezieht: Es ist ein Widerspruch zu denken, das, was denket, existieret zu der Zeit, da es denket, nicht. Daher ist die Erkenntnis ich denke, also bin ich, die allererste und gewisseste, welche einem methodisch Philosophierenden sich darstellt.527

Wie eng sich Büchner auch in diesem ersten Teil seiner Vorlesung auf seine Hauptquelle Tennemann stützt, zeigt die entsprechende Passage in dessen Kompendium, dort heißt es: Es ist ein Widerspruch zu denken; das, was denket, existirt zu der Zeit, da es denket, nicht. Daher ist die Erkenntniß: ich denke, folglich bin ich, die allererste und gewisseste, welche einem methodisch Philosophirenden sich darstellt.528

|| 523 Kuhn 1834, S. 68. 524 Tennemann 1798–1819, X, S. 221. 525 P II, S. 17330–1741/MBA IX.2, S. 4325f.; mit Zitat aus Kuhn 1834, S. 65. 526 Zur Koinzidenz von Wahrheit und Gewissheit, »d. i. Unbezweifelbarkeit und objektiver Gültigkeit« im cogito vgl. Röd 31995, S. 102. 527 P II, S. 17533–37/MBA IX.2, S. 4439–42. 528 Tennemann 1798–1819, X, S. 228.

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Auch Johannes Kuhn, Büchners wichtigste Quelle für den Beginn der Vorlesung, scheint hier Tennemann zu folgen, heißt es doch bei ihm: Denn es ist ein Widerspruch anzunehmen, daß das, (id, quid), was denkt, in demselben Augenblick, da es denkt, nicht existire. Demnach ist also die Erkenntnis: ich denke, also bin ich, die erste und gewisseste, die jedem, der ordentlich philosophirt, entgegentritt.529

Büchner ordnet also in diesem ersten Teil die Argumente Kuhns neu, versachlicht einige moralisierende Argumentationsfügungen, verbleibt aber hermeneutisch im Rahmen dieser Interpretation. Deren Besonderheiten gegenüber den DescartesKapiteln Erdmanns, Hegels oder Feuerbachs liegen in den Anwendung der für die zeitgenössische Platon-Forschung topischen Unterscheidung von esoterischem und exoterischem Argumentationsgang530 auf Descartes, die allerdings auch auf die von Descartes selbst schon getroffene Unterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Methode zurückzuführen ist.531 Auch die eigentümlich leibnizianisierende532 Interpretation des cogito als »Kraft zu denken«,533 die in der Verwendung des Terminus »Denkkraft«534 auch bei Tennemann auftaucht und von Büchner übernommen wird, macht eine weitere Besonderheit der kuhnschen Interpretation gegenüber dem zeitgenössischen Kontext aus. Sie belegt, dass auch ein katholischer Theologe der ambitionierten Tübinger Schule in den 1830er Jahren um die von Leibniz übernommene kantische Bestimmung der Substanz nicht herumkommt, hatte Kant doch festgehalten: »Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz, und in dieser allein muß der Sitz jener fruchtbaren Quelle der Erscheinungen gesucht werden.«535 Im nächsten Abschnitt beschäftigt Büchner eine Frage, die nicht nur in der zeitgenössischen Philosophiegeschichtsschreibung kontrovers diskutiert wurde, sondern noch in namhaften Descartesinterpretation des 20. und 21. Jahrhunderts536 eine Rolle spielt: der Status des cogito-Arguments. Es geht in diesem Zusammenhang um die Frage, ob dem Satz cogito ergo sum ein Schlusscharakter attestiert werden könne bzw. müsse oder ob es sich um ein Axiom bzw. eine »unmittelbare Wahrheit« han-

|| 529 Kuhn 1834, S. 68. 530 Vgl. hierzu Franz 1996, S. 99–149. 531 Vgl. Descartes 1972, S. 140ff. sowie Spinoza 1987, S. 3f.; Büchner kommt anlässlich der Darstellung der cartesischen Erwiderungen auf die zweiten Einwände gegen die Meditationen (Mersenne) auf diese zeittypische Unterscheidung zu sprechen; vgl. P II, S. 2443–30. 532 Vgl. u. a. Baumgarten 2004, S. 112: »§ 371: Ich denke, und meine Seele wird dadurch verändert. Folglich sind die Gedanken Accidenzien meiner Seele, deren wenigstens einige den hinreichenden Grund ihrer Würklichkeit in meiner Seele haben. Folglich ist meine Seele eine Kraft.« 533 Kuhn 1834, S. 65; übernommen bei Büchner, vgl. P II, S. 17418f.. 534 Tennemann 1798–1819, X, S. 231. 535 KrV B 250. 536 Vgl. hierzu Röd 31995, S. 81 oder auch Perler 22006, S. 139ff.

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delt. Büchner zitiert zunächst die einschlägigen Passagen aus den Principia Philosophiae, deren Argumentationsbewegung auch dem weiteren Verlauf der Analyse zugrunde gelegt wird. Ergänzend zitiert Büchner aus Descartes’ Erwiderungen auf die Einwände zu den Meditationen. In diesen Texten bestimmt Descartes das cogito einmal als Schluss,537 einmal bestreitet er genau diesen Status.538 Büchner bietet nun unter Bezug auf alternative Positionen und mit systematischer Affinität zu Kuhns Interpretation539 folgende Lösung an, die von der Forschung als methodisch eigenständige, von Tennemann und Kuhn unabhängige Reflexionsleistung bezeichnet wurde:540 Gehört nun das cogito ergo sum zu den unmittelbaren Wahrheiten? Ebensowenig, ob es gleich vielfach ist behauptet worden, namentlich noch neuerdings von Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und von Hotho in seiner Dissertation über die Cartesianische Philosophie. Allenfalls ließe sich noch ein hypothetischer Vernunftschluß daraus bilden: Wenn etwas denkt, so ist es. Ich denke. Also bin ich.541

Weil Büchner mit Kuhn den »Grundcharakter aller unmittelbaren Wahrheit« als »das Ponieren, das Affirmieren, schlechthin« definiert, das »durch das sekundäre Geschäft des Denkens gar nicht vermittelt, wesentlich nicht einmal berührt« werde,542 das cogito-Argument damit kein unmittelbares Wissen sein könne, liefert er mit der These vom »hypothetischen Vernunftschluß« seine zentrale Interpretation, die Friedrich Vollhardt eine der »verba ipsissima« der Vorlesung nannte.543 Nun kann dieses positivistische Urteil bestehen bleiben und doch der Eindruck außergewöhnlicher Interpretationsleistungen des jungen Philosophiehistorikers auf den Boden der gewöhnlich sauren Begriffsarbeit philosophischer Hermeneutik zurückverbracht werden. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass Büchner die gängige Theorie vom »hypothetischen Schluß« der Sache nach in der Logik-Vorlesung Hillebrands im Gießener Sommersemester 1834 hörte544 und mit Hilfe des LogikHandbuches Kiesewetters aktualisieren konnte; dort heißt es unter Verwendung des ausschließlich kantischen Terminus vom »Vernunftschluß«:545

|| 537 Descartes 2005, S. 16ff. (§ 10) und P II, S. 1764–14. 538 Descartes 1972, S. 127f. und P II, S. 17621–25/MBA IX.2, S. 4512–16. 539 Vgl. Kuhn 1834, S. 70ff. 540 So Vollhardt 1991, S. 202ff. 541 P II, S. 17637–1779/MBA IX.2, S. 4525–463. 542 P II, S. 17716–19. Büchner zitiert hier Kuhn 1834, S. 72f. 543 Vollhardt 1991, S. 203, bestätigt wird dies noch durch die MBA IX.2, S. 45. 544 Vgl. hierzu Hillebrand 1820, S. 143 und Hillebrand 1826, S. 199ff. 545 Es sind ausschließlich die kantische Logik und die sie ausdifferenzierende Variante Kiesewetters, die zwischen Verstandes- und Vernunftschlüssen unterscheiden; vgl. Kant 1983, V, S. 545: »Die eigentümliche Natur der Verstandesschlüsse« u. S. 551: »Vernunftschlüsse überhaupt«; Kiesewetter

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Ein Vernunftschluß ist hypothetisch oder bedingt (syllogismus hypotheticus oder conditionalis), wenn sein Obersatz ein bedingtes Urtheil ist. Im Obersatze eines hypothetischen Urteils stehen Subjekt und Prädikat im Verhältnisses von Grund und Folge, und auf dieser Verbindung beruht also auch die ganze Schlußart […]. Die Grundregel für die hypothetischen Schlüsse ist also: Wenn der Vordersatz gesetzt wird, muß auch der Nachsatz gesetzt werden, und wenn der Nachsatz aufgehoben wird, so muß auch der Vordersatz aufgehoben werden, denn der Vordersatz steht mit dem Nachsatze in dem Verhältnisse von Grund und Folge.546

Büchner realisiert für seine Interpretation des Ich denke, also bin ich sein logisches Wissen, um seinen Zuhörern eine spezifische Interpretation des cogito-Arguments als Schlussform vorführen zu können. Betrachtet man den zeitgenössischen Kontext der philosophiehistorischen Descartes-Interpretationen, so wird erkennbar, dass durch diese Anwendung logischen Wissens auf das cogito-Argument tatsächlich eine gewisse Originalität der büchnerschen Interpretation behauptet werden kann: Denn schon der von Büchner zitierte Spinoza hatte in seinen Principia Philosophiae Cartesianae festgestellt, dass »der Satz: Ich zweifle, ich denke, also bin ich, kein Schluss ist, zu dem der Obersatz fehlt«.547 Auch der von Büchner aufgerufene Hegel hatte in § 63 seiner Enzyklopädie von 1830, und zwar im Zusammenhang der Darstellung des unmittelbaren Wissens, das cogito-Argument als Illustration der »dritten Stellung des Gedankens zu Objektivität« angeführt: Aber auch in der Weise der Unmittelbarkeit ist jener Satz, um den, wie man sagen kann, sich das ganze Interesse der neueren Philosophie dreht, sogleich von deren Urheber ausgesprochen worden: Cogito, ergo sum. Man muß von der Natur des Schlusses etwa nicht viel mehr wissen, als daß in einem Schlusse ›ergo‹ vorkomme, um jenen Satz für einen Schluß anzusehen; wo wäre der medius terminus? Und ein solcher gehört doch wohl wesentlicher zum Schlusse als das Wort ›ergo‹. Will man aber, um den Namen zu rechtfertigen, jene Verbindung bei Descartes einen unmittelbaren Schluß nennen, so heißt diese überflüssige Form nichts anderes als eine durch nichts vermittelte Verknüpfung unterschiedlicher Bestimmungen. Dann ist die Verknüpfung des Seins mit unseren Vorstellungen, welche der Satz des unmittelbaren Wissens ausdrückt, nicht mehr und nicht weniger ein Schluß. – Aus Herrn Hothos Dissertation über Cartesische Philosophie, die im Jahre 1826 erschienen ist, entnehme ich die Zitate, in denen auch

|| 1824, S. (77): »Von den Verstandesschlüssen« und S. (103): »Lehre von den Vernunftschlüssen« sowie S. 256ff. und S. 365ff. Der Aufbau beider Bände zur Logik folgt einem Kommentarschema, dem zufolge zunächst mit geklammerten Seitenzahlen die Doktrin und hernach mit normalen Seitenzahlen ein ausführlicher Kommentar mit Beispielen durchgeführt wird. Hegel (1986, V, S. 395–398) oder Hillebrand (siehe die vorhergehende Anmerkung) reden demgegenüber nur von »hypothetischen Schlüssen«, so dass eine Übernahme der Formel von den »hypothetischen Vernunftschlüssen« aus dem ersten Band des später noch direkt (aus Bd. 2) zitierten Kiesewetter sehr wahrscheinlich ist. 546 Kiesewetter 41824, S. (112). 547 Spinoza 1987, S. 14. 4

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Descartes selbst ausdrücklich sich darüber erklärt, daß der Satz, cogito, ergo sum kein Schluß ist.548

Auf diese Passage bezog sich Büchners Erwiderung,549 er hätte sich zudem auf die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie beziehen können, in denen Hegel nochmals ausführlich zu beweisen sucht, dass »[d]ies Also [...] hier nicht das Also eines Schlusses« ist.550 Auch Schelling beweist in seinen Münchener Vorlesungen, dass das cogito-Argument keinen Schlusscharakter haben kann, weil es damit die von Descartes gesuchte »unmittelbare Gewißheit« verlöre. Schelling interpretiert das cogito daher als analytischen Satz, in dem das Sein als im Denken analytisch enthalten bestimmt werden könne.551 Feuerbach weist nicht nur in seiner Philosophiegeschichte nach, dass »das ›cogito ergo sum‹ […] kein Schluß ist, wie einige bisher meinten«,552 sondern greift im Jahre 1835 in einer Rezension den kuhnschen Vorschlag direkt an: Die Verknüpfung oder Vermittlung der Existenz mit dem Wesen, wie sie die Schlußform enthält, hat keinen anderen Zweck, als gerade ihre unmittelbare Identität zu zeigen. Die Form des Schlusses verschwindet daher vor dem Inhalt des Schlusses als ein bloßer Notbehelf des Subjekts, der für das Objekt ohne alle reelle Bedeutung ist.553

Darüber hinaus entzündet sich zwischen Erdmann und Feuerbach an genau dieser Frage ihre langjährige Auseinandersetzung,554 obwohl beide Interpreten den Schlusscharakter des cogito-Argumentes begründet bestreiten. Doch Feuerbach erlaubt sich in diesem Zusammenhang erneut eine Rüge der »Inkonsequenz« und »Unbeholfenheit« Descartes’,555 was Erdmann unter methodischen Gesichtspunkten als unwissenschaftlich zurückweist.556 Zugleich entwickelt Erdmann eben jenen

|| 548 Hegel 1986, VIII, S. 154. 549 Die für eine ideengeschichtliche Interpretation auch dann heranzuziehen ist, wenn man der Vermutung nachhängt, Büchner habe weder Hegel noch Hotho gelesen, weil er diesen Bezug auf beide bei Kuhn (1834, S. 70) abschreiben konnte (vgl. Bergemann 1922, S. 743Anm.1; Voss 1987, S. 357; Osawa 1999, S. 44Anm. 6 sowie P II, S. 964). Dabei ist die These, Büchner habe Hegel nicht gelesen, genauso gut bzw. schlecht dokumentiert wie die Annahme, er sei Kuhns Anregungen nachgegangen; für beide empirischen Behauptungen gibt es keinerlei Hinweise. 550 Hegel 1986, XX, S. 131f.; zu Hegels Begründungsweg zu dieser Interpretation vgl. Pätzold 2007, S. 91f. 551 Schelling 1985, IV, S. 424ff. 552 Feuerbach 1990, S. 191. 553 Feuerbach 1975, II, S. 18. 554 Vgl. Feuerbachs Vorgabe im Jahre 1833 (Feuerbach 1990, S. 191f.), die kritische Reaktion hierauf von Erdmann im Jahre 1834 (Erdmann 1932, S. 284ff.) und Feuerbachs Rezension des ersten Bandes der erdmannschen Philosophiegeschichte im Jahre 1836 (Feuerbach 1975, II, S. 129–136, spez. S. 129–134). 555 Feuerbach 1990, S. 192. 556 Erdmann 1932, S. 301f.

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auch von Büchner unternommenen Versuch, das cogito in einen möglichen Schluss zu überführen, verwirft diesen Versuch aber mit der folgenden Begründung: Der Ausspruch: ich denke, also bin ich, ist nicht als Schluß eines Syllogismus anzusehen. Wenn einer sagt: Ich denke, also bin oder existire ich, so schließt er nicht durch einen Syllogismus von seinem Denken auf seine Existenz, sondern erkennt es, wie eine Sache, die an und für sich klar ist, in einer einfachen Anschauung; dies ist schon daraus klar, daß im entgegengesetzten Falle er erst den major jenes Syllogismus, nämlich: Alles, was denkt, ist oder existirt, kennen müßte. In der That aber lernt jeder diesen erst dadurch, daß er an sich erfahren hat, daß seine Existenz von seinem Denken untrennbar ist.557

Formal – das lässt sich schon der zeitgenössischen Interpretation Erdmanns von 1834 entnehmen – ist Büchners Vorschlag also korrekt und wird wegen der naheliegenden logischen Problematik auch von anderen Philosophiehistorikern erwogen, material-systematisch aber ist er nach Erdmann unzureichend, weil er in einen Voraussetzungszirkel führt. Dass Büchner mithin sein logisches Wissen für die Interpretation des cogito-Arguments aufruft, entspricht zwar den Usancen der zeitgenössischen Descartes-Interpretation, im systematischen Ergebnis unterscheiden sich diese allerdings grundlegend. Büchners Vorschlag zur Interpretation des Status des cogito-Arguments basiert auf einem spezifischen Verständnis des ›unmittelbaren Wissens‹ bei Kuhn, weil nach diesem die Unmittelbarkeit des Wissens alles Diskursive des Denkens, das als »bloß Negatives« bestimmt wird, abstrakt von sich ausschließt.558 Die idealistischen Interpreten mussten aufgrund eines fundamental abweichenden Unmittelbarkeitsbegriffes zu anderen Ergebnissen gelangen.559 Zwar weist auch Tennemanns kantianisierende Analyse dem cogito-Argument, das er als Selbstbewusstseinstheorie interpretiert, einen Schlusscharakter nach;560 Büchner bezieht sich in diesem Zusammenhang aber eindeutig auf Kuhns Überlegungen zum unmittelbaren Wissen. Dessen ›theologische‹ Variante der Unmittelbarkeitsbestimmung zwingt zu einer Interpretation des cogito-Arguments als eines – wenigstens – hypothetischen Schlusses, weil es jenen abstrakten Maßstäben561 der Positivität von Unmittelbarkeit nicht entspricht, die Kuhn in der Tradition Jacobis entwickelte. Als Urteil überhaupt muss das cogito-Argument ins Reich des Diskursiven verlegt werden.

|| 557 Ebd., S. 158f.; vgl. auch ebd., S. 281. 558 So Kuhn 1834, S. 72. 559 Zu einer alternativen Bestimmung von Unmittelbarkeit, die gerade nicht durch ein Verständnis von Positivität, das alle Negativität abstrakt negiert, gekennzeichnet ist, vgl. Hegel 1986, V, S. 65– 79. 560 Tennemann 1798–1819, X, S. 228–231: »Und wenn gleich das Seyn des Vorstellenden als Faktum in dem unentwickelten Bewußtsein lieget, so kann es doch nicht anders deutlich als in der Form des Denkens durch einen Schluss ausgedrückt werden.« 561 Vgl. hierzu Arndt 1995, S. 207–211.

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Auf der gleichen Ebene liegt der Vorschlag, das cogito sei ein »mathematischer Grundsatz«, wie dies Büchner im weiteren Verlauf der Argumentation mit Kuhn unterbreitet.562 Auch diese Überlegungen führen allerdings in die von Erdmann präzise erörterten Widersprüche, die Büchner erneut nicht erkennt. Der Problematik seiner Interpretation wird Büchner sich allerdings im weiteren Verlauf der Vorlesung bewusst, wenn er im Zusammenhang der systematischen Stellung der Gottessubstanz zum cogito-Argument vermutet: »Hotho und Hegel mögen doch Recht haben.«563 Die zunächst deutliche Anbindung an die Vorlagen Kuhns, die den Beginn der Vorlesung zu Descartes auszeichnete, nehmen in den späteren Passagen ab.564 Dennoch bleibt bei Büchner seit diesem Zeitpunkt ein spezifisches Unmittelbarkeitspathos nachweisbar, das sich in produktiver Aufnahme und kritischer Distanz zugleich der Kuhn-Lektüre verdankt: Einige Wochen nach der Arbeit an dieser Descartes-Vorlesung stellt er in seiner Probevorlesung im Hinblick auf epistemologische Voraussetzungen der als Zweck aller Naturforschung entwickelten Suche nach einem allgemeinen Naturgesetz fest: Die Frage nach einem solchen Gesetze führte von selbst zu den zwei Quellen der Erkenntnis, aus denen der Enthusiasmus des absoluten Wissens sich von je her berauscht hat, der Anschauung des Mystikers und dem Dogmatismus des Vernunftphilosophen. Daß es bis jetzt gelungen sei, zwischen letzterem und dem Naturleben, das wir unmittelbar wahrnehmen, eine Brücke zu schlagen, muß die Kritik verneinen. Die Philosophie a priori sitzt noch in einer trostlosen Wüste, sie hat einen weiten Weg zwischen sich und dem frischen grünen Leben, und es ist eine große Frage, ob sie ihn je zurücklegen wird.565

Mit diesem Verständnis von Wahrnehmung als einer unmittelbar-empirischen und damit vor- bzw. unbegrifflichen Gewahrnehmung der Natur566 ist allerdings weder Jacobis noch Kuhns Konzept unmittelbaren Wissens zu verbinden, das sich gerade nicht auf die endlichen Dinge der Welt richtet, sondern auf rational unbestimmbare, übersinnliche Entitäten, wie Gott und die Freiheit;567 noch ist mit dieser leicht dramatisierten Bestimmung aposteriorischer Erkenntnis, die Büchner von den Formen apriorischen Wissens schon in der Descartes-Vorlesung abgrenzt, eine der Formen jener ›Neuen Unmittelbarkeit‹ zu verbinden, die in ihrem dezidierten AntiHegelianismus seit den 1840er Jahren an Attraktivität gewannen, wie die Konzepte || 562 P II, S. 17729–17815/MBA IX.2, S. 4619–38. 563 P II, S. 19526f./MBA IX.2, S. 6132f.; vgl. hierzu auch die allerdings unpräzisen Ausführungen bei Osawa 1999, S. 44; systematisch und historisch zutreffend dagegen Sanada 2001, S. 435. 564 Vgl. auch MBA IX.2, S. 290–292. 565 MBA VIII, S. 15514–22; Hvhb. von mir; vgl. hierzu auch Taylor 1995, S. 47f. 566 Mit der nun eindeutig nicht die »mikroskopische Beobachtung von präparierten Gegenständen« gemeint ist, wie Osawa 1999, S. 43 vorschlägt, sondern die technisch und begrifflich vollkommen ungestützte unmittelbar sinnliche Wahrnehmung der Natur. 567 Vgl. hierzu die nach wie vor standardsetzende Jacobi-Interpretation durch Timm 1974, S. 136– 225.

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Feuerbachs, Trendelenburgs oder Kierkegaards zeigen.568 Zwar ist nicht zu bestreiten, dass Büchner jene Unmittelbarkeit der Naturwahrnehmung vor der begrifflich gestützten, mithin a priori fundierten Naturwissenschaft auszeichnet, weil sie das »frische grüne Leben der Natur« gewahr werden lasse, während die Philosophie a priori in der »trostlosen Wüste« begrifflicher Abstraktion verharre. Doch bleibt einerseits unklar, ob dies ein dauerhafter Zustand ist, weil es zumindest auch heißt, diese Philosophie sei noch in jener Wüste,569 auch wenn die Möglichkeit der Überbrückung jenes garstig breiten Grabens zum frischen grünen Leben grundlegend in Frage gestellt wird. Andererseits lässt die nachfolgende Argumentation der Probevorlesung keine Zweifel daran, dass es nur jene (Natur-)»Philosophie a priori« ist, die die Fragestellungen der empirischen Naturforschung in angemessener Weise methodisch und systematisch lenkt.570 Schon in diesen ersten zentralen Abschnitten der Descartes-Vorlesung zeigt sich also, dass Büchner trotz einer gewissen Eigenständigkeit – u. a. in der Anwendung logischer Instrumentarien – aufgrund der noch prägenden Abhängigkeit von seiner theologischen Quelle zu Ergebnissen kommt, die der gesamten zeitgenössischen Philosophiegeschichtsschreibung entgegen standen. Ohne eine zureichende Begründung für seine Interpretation vorzulegen, ohne auch eine entsprechende Auseinandersetzung mit den alternativen Vorschlägen ausführen zu können, kommt er allerdings durch die weitere Auseinandersetzung mit Descartes zu einer Reflexion auf die Problematik seiner anfänglichen Interpretationen. Diese mittelbare Eigenständigkeit seines hermeneutischen Geschäfts wird er auch im folgenden Abschnitt beweisen. Denn Büchner rekonstruiert nunmehr die cartesischen Ableitungen aus dem obersten Grundsatz des cogito, deren erste in der Gewissheit des Denkens als Eigenschaft des Ich besteht: Fragen wir was wir sind, so können wir weder Ausdehnung, noch Figur, noch örtliche Bewegung, noch sonst etwas, das vom Körper ausgesagt wird, zu unserem Wesen rechnen, sondern nur das Denken, welches folglich früher und gewisser, als irgend etwas Körperliches erkannt wird.571

Aus diesem erkenntnisgenetischen und -theoretischen Primat des Denkens schließt Büchner, jetzt in zitierender Anbindung an Tennemann,572 die Unerweislichkeit der Realität der Außenwelt, »da wir ja urteilen könnten, wir berührten die Erde, ohne

|| 568 Vgl. Arndt 1995, S. 211ff. sowie Breidbach 2006, S. 263. 569 Dies verkennt in seinem Lukács geschuldeten affektiven Anti-Idealismus Döhner 1967, S. 50, und noch MBA IX.2, S. 257 geht auf dieses »noch« mit keinem Wort ein. 570 Insofern kann von einem dezidierten Anti-Apriorismus Büchners (vgl. u. a. Dedner 1989, S. 576; MBA IX.2, S. 253ff.; S. 259 u.ö.) keine Rede sein; vgl. hierzu auch meine Ausführung in Kap. 3. 571 P II, S. 17911–15/MBA IX.2, S. 4719–23. 572 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 213.

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daß sie vorhanden ist«.573 Damit referiert er schon an dieser Stelle auf das weiter unten reflektierte Solipsismus-Problem des Cartesianismus. Die entscheidende Schlussfolgerung aus diesem Primat des Denkens zieht Büchner jedoch im unmittelbaren Anschluss, wenn er schreibt, dass: wir aber nicht urteilen können, wenn die Denkkraft, welche urteilet, Nichts ist. Folglich erkennen wir die Seele als das Denkende früher und gewisser als Jedes Andre (§ 8 und 11 princ.). Eine gute Widerlegung des Materialismus.574

Erfolgte die Rekonstruktion des Nachweises vom ontologischen Primat des Denkens in starker Anbindung an Tennemann, so ist Büchners systematische Schlussfolgerung, in dieser Beweiskette läge eine »gute Widerlegung des Materialismus«, in den Quellen ebenso wie in den kontextuellen Philosophiegeschichten nicht nachweisbar. Einzig Heinrich Heine referierte im Zusammenhang mit Descartes überhaupt auf den Materialismus – allerdings nicht als Widerlegungsverhältnis, sondern vielmehr als ein möglicher Anschluss in der Weiterentwicklung der mechanistischen Anthropologie. Wie der Idealismus, so sei auch der Materialismus eine mögliche Konsequenz des cartesischen Systems.575 Büchners anders lautende These muss mithin als eigenständige systematische Reflexion gewertet werden, die ihm über den ideenhistoriographischen Horizont hinaus von systematischem Interesse schien.

2.2.2.2 Exkurs: Büchner und Diderot oder: War Büchner Materialist ? Die Bemerkung, Descartes’ Deduktion der cogito-Gewissheit sei eine »gute Widerlegung des Materialismus«, setzt eine gewisse Kenntnis materialistischer Theoriebestände und Wissensansprüche voraus, scheint aber in ihrer Lakonie wenig Bemerkenswertes für den Interpreten zu enthalten. Spektakulär – und zwar so spektakulär, dass diese Reflexion kaum je zitiert wurde576 – wird diese Zeile erst vor

|| 573 P II, S. 17924f./MBA IX.2, S. 487f.. 574 Ebd., S. 17925–29/MBA IX.2, S. 488–11. 575 Heine 1976, V, S. 555: »Ich darf bei Franzosen eine zulängliche Bekanntschaft mit der Philosophie ihres großen Landsmannes voraussetzen, und ich brauche hier nicht erst zu zeigen, wie die entgegengesetzten Doktrinen aus ihr das nötige Material entlehnen konnten. Ich spreche hier vom Idealismus und vom Materialismus.« Zum Materialismusproblem vgl. auch Hillebrand 1826, S. 319f. Diese Interpretation der Entstehungsgeschichte des französischen Materialismus übernehmen dann in den 1840er Jahren – allerdings mit Bezug auf Spinoza – Bruno Bauer und Karl Marx, vgl. MEW 2, S. 131–134. 576 Vgl. hierzu Kobel 1974, S. 263; Vietta 1979 und Vietta 1982, die die Passage zitieren. Während aber Kobel durchaus zutreffende Schlüsse zieht, kann Vietta nur unter erheblichen Anstrengungen seine Thesen von einem »materialistischen Positivismus« Büchners (1979, S. 425; was immer das genau sei) legitimieren; differenzierter hierzu MBA IX.2, S. 261–263 u. S. 457.

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dem Hintergrund der durch die Forschung der 1970er Jahre, namentlich durch die von Thomas Michael Mayer inaugurierte These von einem systematischen Materialismus Büchners, wonach dessen politische und politiktheoretische Dimensionen auf einem philosophischen, d. h. ontologischen,577 anthropologischen578 und ethischen Konzept aufruhen sollen, das von d’Holbach und Diderot ausgeführt worden war. Kurz: Büchner gilt spätestens seit 1979 als Materialist in theoretischer und praktischer Hinsicht.579 Noch die Versuche der MBA, den Autor der psychopathologischen Studie Lenz ausschließlich in die Tradition einer »somatisch orientierten Psychiatrie in Deutschland« zu stellen,580 basieren auf der Annahme eines allgemeinen begründungstheoretischen, vor allem aber psychophysischen Materialismus Büchners.581 In welche Interpretationsprobleme Büchners lakonische Ableitung vor diesem Hintergrund führt, zeigt der ebenso aufgeregte wie irrlichternde Kommentar Henri Poschmanns: Die Bemerkung wirft die Frage nach Büchners vielmals behauptetem, aber auch oft bestrittenem weltanschaulichen Materialismus auf. Sie bejaht sicher nicht nur die formale Schlüssigkeit der Ausführungen Descartes’ (in Büchners Übersetzung) im Absatz davor. Klar erscheint jedenfalls das Einverständnis damit, daß Descartes die Priorität des Subjekts dem Objekten gegenüber behauptet. Doch heißt das, wie sich noch zeigt, nicht, daß Büchners Subjektbegriff mit dem von Descartes übereinstimmt.582

Es stellt sich an dieser Stelle der Rekonstruktion des Descartes-Skipts mithin die dringende Frage, ob Büchner tatsächlich Materialist war und sein bis zum Herbst 1836 stabiler Materialismus durch den cartesischen Subjekt-Substanzialismus destruiert wurde, was der Autor zwar lakonisch, aber unmissverständlich feststellt; oder aber, ob Büchner eine zwar richtige und für ihn durchaus bemerkenswerte, aber letztlich philosophiehistorische Aussage zum argumentationslogischen und systematischen Verhältnis von Rationalismus und Materialismus trifft. Zu einer

|| 577 Vgl. Mayer 1979a, S. 85, wo von »ontologischer Faktizität« gesprochen wird. 578 Vgl. ebd., S. 122 sowie Dedner 2002. 579 Ausgehend von Mayer 1979a, S. 75–108; vgl. u. a. Vietta 1979, S. 424, S. 427 u. ö.; Görlich u. Lehr 1981, passim; Ruckhäberle 1981, S. 170; Vietta 1982, S. 150–153; Kahl 1982, S. 99ff.; Poschmann 3 1988, S. 69; Dedner 1985, S. 367ff.; Vollhardt 88/89, S. 69; Werner 1992, S. 84–99; Glebke 1995, S. 39–81; Pilger 1990–94, S. 106; Schwann 1997, S. 122f.; Osawa 1999, S. 49, S. 87–97, S. 110; Dedner 2002, S. 292–302; Funk 2002, S. 19; Frick 2004, S. 263; Taniguchi 2000–04, passim; Teraoka 2006, S. 169; Schütte 2006, S. 179; Ritzer 2007, S. 276–282; Morawe 2005–08, S. 256ff.; Morawe 2012, S. 12– 23 u. ö.; Morawe 2013, S. 166; Hofmann u. Kanning 2013, S. 28f. Zu einer der seltenen Kritiken hieran vgl. Eibl 1981, S. 418. 580 MBA V, S. 131–137, hier S. 132. 581 Vgl. auch die Insinuationen zum angeblichen materialistischen Anti-Teleologismus Büchners im Woyzeck in der MBA VII.2, S. 521; eine Abkehr von dieser Position in MBA IX.2, S. 261ff. 582 P II, S. 967.

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angemessenen Beantwortung dieser Frage sind allerdings folgende Momente zu bedenken: Zum einen müsste Büchner tatsächlich Materialist gewesen sein, um sich an dieser Stelle durch Descartes von seiner vorherigen Position zu distanzieren. Dieser Frage ist gleich nachzugehen. Zum anderen müsste die eigentümliche Lakonie bei einer derart fundamentalen Änderung seiner philosophischen Grundhaltungen erklärt werden. Und letztlich wäre zu erläutern, wie ein Materialismus Büchners zu kontextualisieren ist und d. h. auch, welche Variante von ihm entworfen und vertreten wurde.583 Ausgangspunkt der Thesen von einem Materialismus Büchners sind zumeist584 die folgenden Briefpassagen aus den Jahren 1833 bis 1836: Ich […] habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Torenwerk ist.585 [D]as Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickt, könnte ein Messias werden. Mästen Sie den Bauern und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf eines Bauern macht den gallischen Hahn verenden.586 Die Gesellschaft mittels der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell, wären Sie direkter politisch zu Werke gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Reform von selbst aufgehört hätte. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen.587

Büchner argumentiert in diesen Passagen, die sich mit der gesellschaftspolitischen Frage nach dem Wirkmechanismen politischer, und d. h. in den 1830er und 1840er Jahren revolutionärer Veränderungen beschäftigen, von einem Standpunkt aus, den man in der Tat als »materialistisch« bezeichnen kann. Die Geltung dieser Thesen ist aber extensional und intensional präzise bestimmt und so begrenzt: Zum einen gilt dieser Standpunkt für »unsere Zeit« und unterscheidet sich damit von einer ›Kritik der politischen Ökonomie‹, deren historischer Geltungsumfang als einzelwissenschaftliche und geschichtsphilosophische These gerade nicht beschränkt ist.588 Zum anderen weist Büchner eigens darauf hin, dass seine Argumente politische – und damit weder politiktheoretische noch geschichtsphilosophische – sind. Kurz: Büchners Aussagen sind aus politischer Erfahrung (so aus der Revolution von 1830, den Seidenweber-Aufständen in Lyon von 1832, seinen eigenen politischen Aktivitäten

|| 583 Das ist aber aus forschungsgeschichtlichen wie systematischen Gründen zu belegen und nicht wie selbstverständlich zurückzuweisen, so aber Beise 2010, S. 87. 584 Vgl. u. a. Glebke 1995, S. 39ff.; Osawa 1999, S. 15ff. 585 P II, S. 3693–7/MBA X.1, S. 2114–17. 586 P II, S. 4005–12/MBA X.1, S. 7136–41. 587 P II, S. 4406–12/MBA X.1, S. 9318–23; Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836. 588 Vgl. hierzu u. a. Poggi u. Röd 1989, S. 240ff.

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u.v.m.) gewonnen und erheben den nicht größeren, aber auch nicht geringeren Anspruch, Maximen für das aktuelle politische Handeln aufzustellen. Ihr Geltungsanspruch ist mithin kein philosophischer – schon gar nicht »an der Schwelle zum historischen Materialismus«589 –, sondern der eines politischen Erfahrungsurteils. Für das politisch-empirische Wissen darum, dass der Gegensatz von arm und reich die entscheidende gesellschaftspolitische Wirkmacht der 1830er Jahre ausmacht, dass die politischen Zeitumstände ›materiell‹ sind, bedarf es allerdings – wie die Beispiele Honoré de Balzacs oder Eduard Gans’ zeigen590 – keines allgemeinen begründungstheoretischen Materialismus. Im Gegenteil grenzt seine politische These von der Unmöglichkeit der gesellschaftlichen Veränderung »mittels der Idee« Büchner einerseits von Auguste Comtes zeitgleich entwickeltem ›Positivismus‹ und dessen politisch-praktischer Dimension scharf ab: Comte war nämlich der Überzeugung, »daß die Sozialtheorie notwendig, aber auch hinreichend sei für die Reorganisation der Gesellschaft.«591 Von dieser Vorstellung aber hatte sich Büchner längst verabschiedet. Andererseits unterscheiden die Thesen von der rein materiellen Zeit und der daraus abzuleitenden politischen Maxime einer Veränderung nur durch die »große Masse« Georg Büchner auch vom dogmatischen Materialismus seines Bruders Ludwig Büchner, Carl Vogts und Jacob Moleschotts, dessen politisches Selbstverständnis von Kurt Bayertz wie folgt auf den Begriff gebracht wurde: Nicht von der Politik, sondern von der Wissenschaft also haben wir die Lösung der sozialen Frage zu erwarten: Das ist die zentrale Botschaft.592

Büchners »direkter« politischer ›Materialismus‹, dessen spezifische Konturen noch genauer zu betrachten sind, unterscheidet ihn mithin – trotz wiederholter Versuche einer normativ überlagerten Forschung593 – eindeutig vom dogmatischen oder weltanschaulichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, und zwar ausgerechnet in soziopolitischen Fragen. Gerade weil er politisch – und nicht nur politikwissenschaftlich bzw. geschichtsphilosophisch – denkt und handelt, unterscheidet er sich vom Positivismus und Materialismus des frühen 19. Jahrhunderts.

|| 589 So Mayer 1979a, S. 134. 590 Vgl. Balzac 2002, S. 52; zu Gans vgl. auch Waszek 1988, S. 357ff. 591 Poggi u. Röd 1989, S. 25–29, hier S. 25; vgl. auch Wagner 2001, S. 23–48. 592 Bayertz 2007, S. 69; vgl. auch Gregory 1977, S. 189–212. 593 Vgl. u. a. Görlich u. Lehr 1981, S. 47; Kahl 1982, S. 99ff.; Glebke 1995, S. 146–170; Dedner 2002, S. 292ff. in der angeblich strikten Negation des freien Willens durch Büchner, was u. a. auf Vogt verweise (vgl. dazu allerdings Wittkau-Horby 1998, S. 89ff.); oder auch Morawe 2012, S. 20, der ebenfalls behauptet, Büchner habe wie dʼHolbach die Willensfreiheit verworfen. Wie man von dieser – übrigens für keinen der Texte Büchners zutreffenden – These zu einem politischen Engagement oder dem späten »absoluten Rechtsgrundsatz« gelangen will, muss Geheimnis der Interpreten bleiben.

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Thomas Michael Mayer, der für seine Thesen auf die oben schon betrachteten Briefe vom Januar und Februar 1834 zurückgreift, ging es allerdings um den Nachweis der notwendigen Verbindung des politischen mit einem philosophischen Materialismus des 18. Jahrhunderts, um Büchner einer bestimmten Fraktion der Linken im Frankreich der 1830er Jahre – den Neobabouvisten – zuordnen zu können: Vor allem – und das ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig – verläuft diese Entwicklung, in der sich der Neobabouvismus seit etwa Mitte der 30er Jahre über die bei Babeuf und Maréchal selbst vorgefundenen Elemente hinaus materialistische und sensualistische Theorien aneignet, ohne danach reformistisch zu verkommen, nicht mehr primär über den Saint-Simonismus, sondern direkt und indirekt durch den Rückgriff auf den französischen Materialismus der Condillac, Holbach, Helvétius, Diderot und Volney, deren bislang von der rousseauistisch-robespierristischen Tradition als ›egoistisch‹ verworfene sensualistische Theorien über ›die Selbstliebe, de[n] Genuß und das wohlverstandne persönliche Interesse als Grundlage der Moral jetzt auf einer höheren Stufe des Arbeiterkommunismus produktiv rezipiert werden‹.594

Mayers Argumentationstaktik durchläuft mehrere Stufen, die jeweils erhebliche Konsequenzen enthalten: Büchner soll die politökonomischen Thesen Auguste Blanquis von dem Verhältnis von arm und reich, vor allem aber zum Gemeineigentum aus dem Januar 1832 übernommen595 und dann die philosophische Fundierung dieser Konzeption im französischen Materialismus mitvollzogen haben; dies alles zum Behuf der Entfaltung einer Heinrich Heine verwandten Position, die Mayer mit dem Titel einer angekündigten, doch nie gelieferten Arbeit zu Büchner in die Formel fasste: »Sensualismus und Revolution«.596 Vollständig wird dieses Thesenkonglomerat im Kapitel zu Büchners politischem Wissen in seiner philologischen Stimmigkeit und systematischen Kohärenz überprüft werden. Im Zusammenhang mit Büchners philosophischem Wissen muss aber die These seines grundlagentheoretischen, d. h. naturphilosophischen, erkenntnistheoretischen und anthropologischen Materialismus interessieren und einer Prüfung unterzogen werden. Sowohl Mayer als auch Dedner, Glebke, Osawa oder Morawe begründen diese Behauptung mit der oben schon betrachteten büchnerschen These vom Primat der äußeren Umstände bei der Konstitution von Verstand und Bildung des Einzelnen, die er im Februar-Brief an die Eltern entwickelt hatte. Es konnte jedoch gezeigt werde, dass diese These keineswegs exklusiv materialistischen Konzeptionen zuzuschreiben ist; selbst Hölderlin oder Büchners zwischen

|| 594 Mayer 1979a, S. 73. 595 Vgl. hierzu ebd., S. 27ff., vgl. auch Mayer 1987, S. 168ff.; dies ist allgemein akzeptierte Forschungsmeinung, vgl. u. a. Böhme 1987, S. 13; Hauschild 1993, S. 154ff.; Knapp 32000, S. 13ff. u. S. 80ff.; Hauschild 22004, S. 43; Hofmann u. Kanning 2013, S. 36f. 596 Mayer erwähnt diese nie erschienene Schrift zweimal, in Mayer 1979a, S. 119 sowie Mayer 1980, S. 390.

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transzendentalem und absolutem Idealismus changierender Lehrer Joseph Hillebrand vertraten solcherart Thesen. Auch Mayers Thesen zur BeaumarchaisRezeption können – wie oben gezeigt – keinen philosophischen Materialismus Büchners belegen. Blickt man nach diesen misslungenen Verweisen zu einer ideengeschichtlichen Überprüfung der These aus der umgekehrten Richtung, d. h. vom »radikalen, atheistisch-materialistischen Flügel der französischen Aufklärungsphilosophie«597 auf Büchner, so lassen sich erneut wenig Gemeinsamkeiten in den zentralen Elementen der philosophischen Konzeptionen feststellen; im Gegenteil zeigen sich unüberbrückbare Differenzen.598 So ist die Bestimmung der mentalen Leistungen des Menschen ausschließlich als Bewegungsfunktionen des Gehirns, die sowohl von La Mettrie als auch von d’Holbach und Helvétius als zentrale Positionen ihrer Systeme vertreten wurden,599 an keiner Stelle des büchnerschen Œuvres auszumachen. Selbst die neueren Thesen zu Büchners angeblicher Kultivierung einer rein somatischen Psychopathologie sind durch die Textbefunde nicht gedeckt und führen auch nicht zwingend zu einem umfassenden Materialismus.600 Zwar bedient er sich in Leonce und Lena des Bildes des menschlichen Automaten – allerdings unter soziopsychologischen bzw. kulturkritischen Gesichtspunkten;601 auch kritisiert er im Woyzeck mit allem Nachdruck eine spezifische Anwendung der Theorien vom freien Willen, die zu einer menschenverachtenden Instrumentalisierung führen,602 doch – wie schon bei der Verwendung der Katze zur Demonstration des Fallgesetzes603 – widerlegt eine falsche Anwendung nicht die Geltung und den theoretischen Gehalt einer Kategorie.604 Kurz: Des Doktors unmenschliche Instrumentalisierung des Theorems vom freien Willen ist kein zureichender Grund, den Autor des Woyzeck zum materialistischen Deterministen zu machen.605 Im Gegenteil: Büchners Festhalten an einer höheren »Seite unsers geistigen Wesens«606 verweist auf eine antimaterialistische Vermögenspsychologie und Anthropologie. Auch der erkenntnistheoretische Empirismus, den die französischen Materialisten (bis auf Diderot, der hier Einschränkungen vornimmt607) grundsätzlich ihrer || 597 Röd 1984, S. 214. 598 Zu Recht weisen Alt (1987, S. 9) und die MBA IX.2, S. 263 auf die systematischen Differenzen zwischen Büchner und dem französischen Materialismus hin. 599 Vgl. hierzu die Darstellungen bei Röd 1984, S. 214–230; Overmann 1993, S. 122ff. und Mensching 2007, S. 27–31. 600 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 7. 601 Vgl. MBA VI, S. 12130–12219. 602 MBA VII.2, S. 1611–17 sowie 272ff.. 603 Ebd., S. 2010. 604 Anders dazu Dedner 2002. 605 So auch zu Recht Kobel 1974, S. 277ff. 606 Vgl. P II, S. 37829/MBA X.1, S. 3223f.. 607 Vgl. hierzu Röd 1984, S. 187–191.

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Ontologie voraussetzen, ist mit Büchners epistemologischen Vorstellungen (von einer elaborierten Theorie kann hier keine Rede sein) nicht zu vermitteln. Zwar kritisiert er mit Nachdruck den rationalistischen Dogmatismus,608 nach dem im Begriff einer Sache deren Wahrheit enthalten sei;609 zwar scheint er das rationale und das empirische Ich zum Behuf einer zuspitzenden Descartes-Interpretation zu amalgamieren,610 doch im Rahmen seiner Naturforschung setzt er eindeutig auf die Leistungen einer (Natur-)Philosophie a priori,611 die Ordnungsbegriffe und -kategorien für die empirische Forschung allererst ermögliche. Einen dezidierten AntiApriorismus, wie er im Rüstzeug eines jeden Materialismus zu finden ist,612 sucht man bei Büchner vergebens. Weder in epistemologischer noch in methodischer Hinsicht ist Büchner mithin als Empirist zu bezeichnen,613 auch wenn er sich – wie alle apriorischen Naturforscher des frühen 19. Jahrhunderts614 – empirisch betätigte.615 Wenn Büchner darüber hinaus schon 1833 davon spricht, er habe seine moralischen »Grundsätze« und würde nach diesen stets handeln,616 was mit dem ethischen Universalismus der Schülerschriften zusammenstimmt,617 wenn er gar noch 1836 von einem »absoluten Rechtsgrundsatz« spricht, auf dessen Grundlage eine neue Gesellschaft aufzubauen sei,618 dann ist zwar von einer ethischen und einer naturrechtlichen Fundierung seines politischen Denkens auszugehen, keineswegs aber mehr von einer alle ethische Normativität verunmöglichenden materialistischen Grundkonzeption.619 Ein »naturrechtlich fundierter Materialismus« aber,620 den

|| 608 Von der Annahme, Büchner sei Empirist, allein weil er eine naturwissenschaftliche Arbeit mit empirischem Anteil geschrieben habe (P II, S. 880–892, MBA VIII, S. 252 u. ö.) bzw. weil er eben Materialist sei, sollte sich die Forschung endgültig verabschieden. 609 Vgl. P II, S. 20425f./MBA IX.2, S. 6925f.. 610 Vgl. hierzu P II, S. 19237–19314/MBA IX.2, S. 5910–21. 611 Vgl. Roth 2004, S. 46566ff.. 612 Vgl. u. a. Nowitzki 2003, S. 292. 613 So aber in Umdeutung der vorliegenden Dokumentenlage P II, S. 880–892 und MBA VIII, S. 252ff.; vorsichtiger MBA IX.2, S. 262. 614 Vgl. hierzu sogar in Bezug auf Schelling: Breibach 2004 sowie Gerabek 1995. 615 Es sei noch einmal eigens darauf hingewiesen, dass eine nicht-empiristische Epistemologie und Methodologie keineswegs empirische Forschungen ausschloss. Im Gegenteil betrieben sowohl Descartes als auch Schelling ausführliche empirische Studien. Zu Descartes anatomischen Arbeiten vgl. Boenke 2005, S. 213; zu Schellings medizinischen Versuchen vgl. Gerabek 1995, S. 309–333. 616 Vgl. P II, S. 3693f./MBA X.1, S. 2114. 617 Vgl. P II, S. 4018–20/MBA I, S. 11910–12. 618 P II, S. 44021/MBA X.1, S. 9330. 619 Nur die dogmatisch vertretene Annahme einer materialistischen Anthropologie zwingt Dedner 2002, S. 309 dazu, Büchners eindeutig moralische Maximen (wie die Menschenliebe oder das Prinzip der Égalité etc.) seiner angeblich materialistischen Grundeinstellung vermittlungslos gegenüber zu stellen. Von diesem, dem Diktat des Materialismus geschuldeten haltlosen Nebeneinander büch-

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Büchner laut Mayer vertreten habe, bleibt – solange er nicht als kohärente Konzeption rekonstruiert wurde – ein hagiographischer Unsinn: eben ein »Kolibri, der schwimmt«.621 Auch Büchners wissenschaftliche Naturtheorie, die sich im Mémoire und in der Probevorlesung realisiert, erweist sich durch ihre Fundierung in einem allgemeinen Naturgesetz, das einem organologischen Lebensbegriff zugrunde liegen soll,622 von allen mechanistischen Naturvorstellungen d’Holbachs oder La Mettries weit entfernt. Büchner wird gar jeglichen Mechanismus der Materie – noch im weiteren Verlauf der Descartes-Vorlesung – bitter kommentieren und so seine grundlegende, naturphilosophisch begründete Distanz zum Materialismus in naturtheoretischer Hinsicht schlüssig dokumentieren. In einem durch Tennemann angeregten, gleichsam transzendentalphilosophisch überspitzen Kommentar zum cartesischen Begriff des cogitare, der keineswegs kritisch distanziert wird, zeigt sich letztlich die systematische Fundierung der ganz unmaterialistischen Konzeption von Philosophiegeschichte, wie sie Büchner betrieb: Was ist nun das Denken? Alles was den Akt des Selbstbewußtseins in mir hervorbringt, also jede Tätigkeit, also auch Wollen, Einbilden, Fühlen.623

Das ist nun in uneingeschränkter Anwendung auf Descartes jener transzendentale Idealismus, von dem die Forschung behauptet, Büchner habe ihm nur »Unterdrückung und Tötung anderer« als Konsequenz ablesen können.624 Die kantianisierende Interpretation Descartes’, die Büchner mit Tennemann hier vorlegt, ist aber keineswegs zwingend; von »Selbstbewußtsein« spricht Descartes an keiner Stelle, Büchner war also offenbar von der Interpretation Tennemanns überzeugt. In anthropologischer und epistemologischer, in ethischer und naturphilosophischer sowie in philosophiehistorischer Hinsicht sind mithin die zentralen Gehalte des französischen Materialismus bei Büchner nicht nachzuweisen. Zwar hatte schon Georg Lukács gezeigt, dass in Danton’s Tod eine eher kritische Reflexion auf diese Philosophie ausgeführt wurde,625 mit seinen präzisen Nachweisen jedoch in der

|| nerscher Auffassung zum postmodernen Diskursspiel (so u. a. bei Borgards 2007) ist es dann aber nur noch ein kleiner Schritt. 620 So Mayer 1979a, S. 123; vgl. hierzu schon die zutreffende Kritik von Görlich u. Lehr 1981, S. 35: »Hieraus resultieren denn auch die offensichtlichen Verwirrungen, die sich in Mayers eklektizistischer Formulierung eine ›hedonistischen und atheistischen, oder mindestens rationalistischen Materialismus, kurz […] heineschen Sensualismus‹ dokumentiert.« 621 Vgl. hierzu Mayer 1979a, S. 80. 622 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 178ff. 623 P II, S. 18010f./MBA IX.2, S. 4812–14. 624 Nochmals Dedner 2002, S. 294. 625 Vgl. Lukàcs 31973, S. 209ff.

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Forschung weniger Anklang gefunden, als man annehmen sollte. Die Vertreter der Thesen von Büchners philosophischem Materialismus haben daher noch zwei weitere Argumente aufgeführt, die es abschließend zu überprüfen gilt: Das wohl entscheidende Argument, das seit den 1970er Jahren vertreten wird, um Büchner zum Materialisten der französischen Schule des 18. Jahrhunderts zu erklären, liegt in der ausgreifenden Interpretation einer vom Autor schon 1834 vorgetragenen Überlegung. In ebenjenem Brief vom Februar dieses Jahres an die Eltern, in dem er seinen eingeschränkten sozialanthropologischen Determinismus bezüglich der Verstandes- und Bildungsleistungen des Menschen entwickelt hatte, schreibt Büchner weiter: Ich kann Jemanden einen Dummkopf nennen, ohne ihn deshalb zu verachten, die Dummheit gehört zu den allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Dinge; für ihre Existenz kann ich nichts, es kann mir aber Niemand wehren, Alles, was existiert, bei seinem Namen zu nennen und dem, was mir unangenehm ist, aus dem Wege zu gehen.626

Die als epikureisch interpretierte Maxime, zu erstreben und tun, was einem angenehm, zu meiden, was einem unangenehm ist, mit der Büchner seinen zurückgezogenen Habitus gegenüber der Gießener Studentenschaft legitimiert, taucht erneut in Danton’s Tod in verschiedenen Kontexten auf.627 Für einige dieser Kontexte – u. a. für Thomas Paynes ausführlich begründete Geltung jener Maxime sowie für Marions emotionalistische Legitimation derselben – wird ebenso emphatisch wie unbegründet behauptet, sie seien »Büchners Position sehr nahe«.628 Und tatsächlich gilt seit 1979 Dantons wuchtiger Ausspruch: »Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine […]. Jeder handelt seiner Natur gemäß d. h. er thut, was ihm wohltut«629 als Glaubenbekenntnis seines Autors und damit wichtigstes Moment eines sensualistisch modifizierten Materialismus, den Büchner »mit und über Heine hinaus« entwickelt habe.630 Dabei ist von erheblicher Bedeutung, dass die zunächst ethische Maxime eines epikureischen Eudämonismus von den Interpreten ins Politische gewendet wird, indem die von der Dramenfigur Camille Desmoulins in Dantonʼs Tod entfaltete Staatsutopie als Büchners eigene Position ausgegeben wird.631 Der Materialismus der ›natürlichen Bedürfnisse‹ ist nach Mayer mithin nicht nur einer der

|| 626 P II, S. 3791–7/MBA X.1, S. 3228–33; Hvhb. von mir. 627 Vgl. hierzu MBA III.2, S. 197f., S. 2520f., S. 501ff. u. ö. 628 Mayer 1979a, S. 122; Horton 1988, S. 292; Dedner 2002, S. 295ff. sowie der Kommentar zur Marion-Szene in MBA III.4, S. 78–83. 629 MBA III.2, S. 2518–21. 630 So der Untertitel der von Mayer angekündigten Studie zu Sensualismus und Revolution. Vgl. auch die Studie von Grimm 1979. 631 Schon Wilhelm Schultz vertrat diese These (vgl. Grab 1985, S. 70); Mayer 1979a, S. 123; Mayer 1979b, S. 390ff.; Poschmann 31988, S. 98ff.; anders dazu Hauschild 1993, S. 448ff.

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politischen Situation des 19. Jahrhunderts, sondern auch eine der Grundlagen einer anzustrebenden Staatsform.632 Versucht man von den normativen Überlagerungen der Debatten um Büchners angeblichen Epikureismus zu abstrahieren, so lässt sich festhalten, dass schon in Danton’s Tod die moralische und politische Desintegrationsmacht des epikureischen Egoismus zumindest auch demonstriert wird, und zwar am ›Monolog‹ Laflottes,633 in dem er aus dem epikureischen Grundsatz der legitimen Schmerzvermeidung seinen Verrat an Danton und dessen Partei begründet. Allein diese Szene – wie erst recht die angemessen interpretierte Marion-Szene634 – verunmöglichen schon methodisch, Büchner zum Parteigänger eines politischen und moralischen Epikureismus zu erheben, von den grundlegenden Problemen der Differenzierung zwischen Figuren- und Autorpositionen ganz zu schweigen. Darüber hinaus sind eine Reihe von moralischen Maximen in Büchners Briefen zu finden, die einem strengen Epikureismus entgegen stehen: Büchners Verachtung eines jeden intellektuellen Elitarismus, den er als »Aristocratismus«635 bezeichnet, seine Kritik an der Verteilungsungerechtigkeit im Hessischen Landboten, die begründungstheoretisch nicht ausschließlich auf politischen, sondern auch auf moralischen Argumenten basiert, sind weder mit einem Materialismus noch mit einem Epikureismus zu vereinbaren. Dass »Heines ›Sensualismus‹ mit dem Büchnerschen ›Materialismus der natürlichen Bedürfnisse‹« zudem nicht schlicht gleichzusetzen ist, hat die neuere Forschung zu Recht betont.636 Kurz: Paynes, Dantons und Marions Maxime, nach der ›der Mensch das tut und tun soll, was seiner Natur gut tut‹, wird von Büchner, dessen eigene Position von dieser Maxime weit entfernt liegt, kritisch reflektiert. Eine ihm notwendig erscheinende, auf Gewalt gründende Revolution basiert nach Büchner nicht auf einem praktischen Sensualismus und soll diesen auch keineswegs ermöglichen. Ein letztes Argument, das Büchner zum weltanschaulichen Materialisten erheben soll, bedarf nur noch einer kurzen Betrachtung: Mayer bemühte sich in nahezu allen seinen Texten darum, eine ›Wahlverwandtschaft‹ zwischen Büchner und Denis Diderot zu begründen,637 die sich vor allem auf ästhetische, aber auch auf naturphilosophische und gesellschaftspolitische Bereiche erstrecke. Diderots Überwindung des Klassizismus, der als moralischer Indifferentismus interpretiert wird,

|| 632 Mayer 1979a, S. 133. 633 MBA III.2, S. 56–58. 634 Vgl. hierzu in ersten, gewichtigen Ansätzen Hildebrand 1999. 635 P II, S. 37930/MBA IX.2, S. 3311. 636 Vgl. Hildebrand 1999, S. 534 sowie Teraoka 2006, S. 168ff.; eingeebnet wird diese Differenz allerdings wieder von Morawe 2005–08, Morawe 2012a, Morawe 2013. 637 Übernommen wird diese ebenso suggestive wie assoziative Korrelation selbst von Mitgliedern der Wittkowski-Schule, also einer dezidiert antimaterialistischen Büchner-Interpretation, vgl. Schwann 1997, S. 122f.

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finde in Büchners »mitempfindende[m] Gefühl, das identisch ist mit sozialer Parteilichkeit«, eine kongeniale Aktualisierung und Politisierung im frühen 19. Jahrhundert.638 Von weiten Teilen der Forschung wird diese Annahme geteilt;639 Udo Roth hat die These einer engen Verbindung zwischen Diderot und Büchner gar auf den Bereich der Physiologie ausgeweitet.640 Gegen diese Behauptungen sei darauf verwiesen, dass es bislang nicht einen einzigen seriös vertretbaren Nachweis einer Lektüre Diderots durch Büchner gibt. Zwar ist seit den 1830er Jahren in Frankreich eine neuerliche Diderot-Rezeption zu verzeichnen, wobei in diesem Zusammenhang der Stilist Diderot im Zentrum steht.641 Vor allem Charles-Augustin Sainte-Beuve642 und später Charles Baudelaire643 haben ihrer Bewunderung für den Kunstkritiker Ausdruck verliehen. Doch findet sich von dieser in Paris merklichen Konjunktur644 bei Büchner keinerlei Widerhall. Der angebliche Nachweis einer engen Anbindung des Kunstgespräches im Lenz an die goethesche Übersetzung des diderotschen Essai sur la peinture645 erweist sich bei näherer Betrachtung als wenig überzeugend, schon allein weil es der diderotgoetheschen Konzeption an jener naturphilosophischen und ontologischen Dimension gebricht, die mit dem Lebensbegriff und der »Möglichkeit des Daseins« bei Büchner eine zentrale Funktion einnehmen.646 Nein, ob Büchner Diderots Texte überhaupt kannte, wissen wir ebenso wenig, wie eine Rezeption anderer Werke des philosophischen Materialismus nachzuweisen wäre. Weder positivistisch noch hermeneutisch lässt sich eine Wahrnehmung, geschweige denn eine systematische Affinität Büchners zum Materialismus des 18. Jahrhunderts dokumentieren.647 Seine Lakonie beim Hinweis auf eine mögliche Widerlegung des Materialismus durch Descartes’ Subjekt-Substanzialismus hatte ihren Grund mithin in dem rein philosophiehistorischen Interesse an dieser Frage. In philosophischer Hinsicht dürfte Büchner vor dem Hintergrund seiner Kompetenzen im Jahre 1836 zudem der Einschätzung Wolfgang Röds zugestimmt haben:

|| 638 Mayer 1979a, S. 5, S. 83, S. 85, S. 110 u. ö. 639 Nach Mayer 1979, S. 76ff.; Ruckhäberle 1981, 170; Kahl 1982, S. 109; Proß 1982, S. 88f.; Schaub 1987, S. 27f.; Vollhardt 1991, S. 205; Glebke 1995, S. 130; Schwann 1997, S. 122ff.; MBA III.4, S. 44f. u. S. 166; MBA V, S. 420; Taniguchi 2000–04, S. 100ff. sowie Hofmann u. Kanning 2013, S. 28ff. 640 Roth 2004, S. 193f., S. 213f. 641 Vgl. Röd 1984, S. 196. 642 Vgl. hierzu Lepenies 2006, S. 141–145. 643 Vgl. hierzu vorerst Calasso 2008. 644 Vgl. auch Senancour 1982 [EA 1804, 21833], S. 75f. 645 Mayer 1979a, S. 76ff. sowie auf diesen so genannten ›Nachweis‹ vertrauend MBA V, S. 420. 646 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap 7. 647 So schon Kobel 1974, S. 263.

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Daß Diderot an spekulativer Kraft nicht an Spinoza heranreichte, steht außer Zweifel, da er sich des apriorischen Charakters der Idee der Einheit nicht klar bewußt war.648

Im direkten Anschluss an die kurze Reflexion auf systematische Konsequenzen der cartesischen Argumentation für einen jeden Materialismus setzt sich Büchner mit dem Gottesbegriff Descartes’ auseinander; er führt diese Auseinandersetzung in einer Weise und in einem Umfang, die ein systematisches Interesse an dieser Frage dokumentieren. Tatsächlich scheint es Büchner in diesem Zusammenhang darum zu gehen, die Leistungsfähigkeit der Philosophie Descartes’ in Frage zu stellen, weil er mit deren rationaler Theologie zugleich jede Form philosophischer Gotteslehre zurückweisen möchte – auch in der Spinoza-Vorlesung wird die Darstellung dieses Themas auffällig energisch ausfallen.649 In diesen Passagen löst sich Büchner auch am weitesten von seinen wichtigsten Quellen, Tennemann und Kuhn, und liefert anhand der cartesischen Texte eigenständige Analysen und Interpretationen. Dabei richtet er seine analytische Darstellung vor allem auf zwei Sachverhalte des cartesischen Gottesbegriffes aus, nämlich auf die Formen des Daseinsbeweises sowie die Funktionen der Gottesinstanz für die gesamte Erkenntnistheorie und Metaphysik. Büchner beginnt diese Analyse unter verstärktem Bezug auf die Meditationen bzw. Descartes’ Erwiderungen auf die Einwände zu denselben. Er weicht schon mit diesem philologischen Bezug, der sich besonders auf den Anhang zu den zweiten Erwiderungen stützt, in dem Descartes eine geometrische Deduktion seines Systems liefert, erheblich von Tennemanns Darstellung ab, der weiterhin nahezu ausschließlich den Argumentationsgang der Principia Philosophiae verfolgt. Es scheint, als habe sich Büchner im Rahmen dieser Analyse des cartesischen Gottesbegriffes von seinen philosophiehistoriographischen Vorlagen endlich emanzipiert.650 Diese Selbständigkeit zeigt sich schon bei der Rekonstruktion der beiden Gottesbeweise, die Descartes bekanntermaßen in seinen Schriften durchführt. Zwar gestaltet Büchner die Darstellung des Übergangs vom cogito-Argument zur Gotteserkenntnis, die Descartes als empirische Erkenntniserweiterung beschreibt,651 mit einer unmittelbaren Übernahme aus Tennemann.652 Die analytische Darstellung des

|| 648 Röd 1984, S. 194. 649 Vgl. P II, S. 29114ff./MBA IX.2, S. 1210ff.. 650 Die richtige Annahme Bergemanns, Büchner habe im anthropologischen Teil und der Darstellung der Objectiones zu einer Selbständigkeit gefunden (Bergemann 1922, S. 743), ist daher auf den Abschnitt der Rekonstruktion des Gottesbegriffes zu erweitern. Vgl. auch P II, S. 974, der zu Recht betont, »daß die Legende, der ›notorische Abschreiber‹ Büchner sei schlicht einer Vorlage aus zweiter Hand gefolgt, nicht aufrechtzuerhalten ist. Im Nachfolgenden […] tritt die Selbstständigkeit der Darstellung noch deutlicher hervor.« 651 Zum empirischen Status des Argumentationsgangs für das Dasein der Gottesidee im Geiste des Ich vgl. Hegel 1986, XX, S. 141; Schelling 1985, IV, S. 429; Erdmann 1932, S. 289. 652 Vgl. P II, S. 18021–33/MBA IX.2, S. 493–13; mit Tennemann 1798–1819, X, S. 231f.

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ontologischen Gottesbeweises leistet der Interpret653 jedoch durch eine ausführliche Textpräsentation des Originals sowie übersetzende Paraphrasen der fünften Meditation; vor allem die §§ 8 bis 12 dieser Meditation stellt Büchner in den beiden Formen des Zitats und der Übersetzung differenziert vor.654 Diese ausführliche Darstellung des ontologischen, von Büchner als apriorisch bezeichneten Gottesbeweises anhand der Fünften Meditation ist weder in den philosophiehistoriographischen Quellen noch in den zeitgenössischen Kontexten nachweisbar, auch wenn in den DescartesKapiteln Feuerbachs,655 Hegels,656 Schellings657 und Erdmanns658 unter philosophiegeschichtlichen und systematischen Gesichtspunkten präziser und differenzierter zu diesem Beweis Stellung genommen wird. Vor allem die Unabhängigkeit von seinen nachweisbaren Quellen, die sich vorerst nur in zitierender und paraphrasierender Darstellung der Texte Descartes’ begnügt – denn Büchner kommentiert den Argumentationsgang des ontologischen Gottesbeweises nicht –, zeigt das systematische Interesse des Interpreten an der Auseinandersetzung mit dem zentralen Thema rationaler Theologie: dem Gottesbeweis.659 Solches Interesse hatte sich schon in Danton’s Tod – wenngleich nur sarkastisch gebrochen – gezeigt;660 an dieser Stelle seiner Vorlesung kann es Büchner systematisch realisieren. Dennoch bleibt er mit eigenständigen Kommentaren und Interpretationen vorerst zurückhaltend. Nur eine These zur fundierenden Stellung des ontologischen Gottesbeweises für das gesamten Deduktionsgefüge der cartesischen Erkenntnistheorie und Metaphysik, die

|| 653 Anders als Tennemann, der es bei Bezügen auf die kurzen Ausführungen in den Principia belässt, vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 232. 654 P II, S. 18110–18221/MBA IX.2, S. 4923–5025. 655 Feuerbach 1990, S. 208–213, der nur am Rande (S. 211f.) auf die Fünfte Meditation eingeht, allerdings präzise Kenntnisse von der Geschichte dieses Beweises vorträgt. 656 Hegel 1986, XX, S. 137–142, der sich zwar auf die Principia, den ›Anhang zu den zweiten Erwiderungen‹ sowie auf Spinozas Darstellung in den Principiae philosophiae Cartesianae, die auch Büchner aufruft, bezieht, nicht aber auf den Beweis in der Fünfte Meditation. 657 Schelling 1985, IV, S. 429–439, dessen wuchtige systematische Auseinandersetzung mit dem »ontologischen Argument« (S. 430) zwar einen Bezug zur Fünften Meditation nahelegt; weil Schelling aber durch die ganze Vorlesung hindurch keinen Textnachweis erbringt, ist auch sein Bezug auf diese Meditation im systematischen Argumentationsgang versunken. 658 Erdmann 1932, S. 162–164 u. S. 287–301, der allerdings unter den zeitgenössischen Interpreten der cartesischen Gottesbeweise eine Sonderstellung einnimmt, weil er sie als Ableitungen aus dem cogito zu beweisen versucht (vgl. ebd., S. 293); daher bestreitet er auch den von den Zeitgenossen (u. a. Tennemann, Rixner und auch Büchner) in Descartes’ Konzept aufgespürten »Cirkel« im Ableitungsverhältnis von cogito und deus (ebd., S. 299); vgl. hierzu auch meine Ausführungen weiter unten. 659 Vgl. auch MBA IX.2, S. 266–269. 660 Vgl. MBA III.2, S. 4721–5020 sowie Stiening 2002, S. 51–54.

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Büchner in einer nachträglich eingefügten Anmerkung ausführt,661 beweist eine immanent kommentierende Perspektive auf den weitgehend paraphrasierten Text. Büchner schließt an diese textnahe, nahezu kommentar- und interpretationslose Darstellung des apriorischen eine Rekonstruktion des »a posteriori[schen]« Gottesbeweises »aus der Idee von Gott, die wir in uns finden«, an.662 Erneut weicht er von seiner Hauptquelle Tennemann darin ab, dass auch die Darstellung dieses Beweises anhand der dritten Meditation, den Erwiderungen auf die zweiten Einwände zu den Meditationen sowie Spinozas Schrift Principia philosophiae Cartesianae more geometrico demonstrata bestritten wird. Tennemann blieb derweil streng dem Beweisgang der Principia verhaftet.663 Dass sich Büchner hierbei dem zeitgenössischen Kontext annähert, zeigt die Tatsache, dass Hegel und Erdmann die von Büchner favorisierten Quellentexte ebenfalls bevorzugen.664 Wie Tennemann665 beginnt Büchner seine Rekonstruktion jedoch mit der These, dass dieser »ideentheoretische«666 Gottesbeweis fundiert sei in der logischontologischen Prämisse: ex nihilo nihil fit, weil nur aus diesem Grundsatz die kausalitätstheoretische Konsequenz abzuleiten sei, dass eine Ursache in qualitativer und quantitativer Hinsicht nicht weniger als ihre Wirkung enthalten könne. Ein Mehr in der Wirkung könne nur aus Nichts entstanden sein.667 Mit Bezug auf die dritte Meditation sowie den Anhang zu den zweiten Erwiderungen begründet Büchner diese These mit der Unmöglichkeit innerweltlicher Schöpfung aus dem Nichts. Diesen logisch-ontologischen Grundsatz des Rationalismus hatte er schon in Danton’s Tod hinsichtlich seiner anthropologischen Konsequenzen, der Angst Dantons vor der Unsterblichkeit seiner Seele, reflektiert,668 und noch in den Exzerpten zur griechi-

|| 661 P II, S. 18121–27/MBA IX.2, S. 4932f. u. S. 5028–32; dass hier eine Randnotiz und damit ein nachträglicher Kommentar zum eigenen Text vorliegt, ist dokumentiert in P II, S. 969. 662 P II, S. 18223–18925/MBA IX.2, S. 511–5622. 663 Tennemann 1798–1819, X, S. 232–235. 664 Hegel 1986, XX, S. 140f.; Erdmann 1932, S. 215–260. 665 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 233. 666 Zu diesem präziseren Begriff für den seit Kant als kosmologisch benannten Gottesbeweis vgl. Perler 22006, S. 188–197. 667 Vgl. die präzise Zusammenfassung dieser Argumentation bei Spinoza 1987, S. 26f.: »Kein Ding und keine wirklich vorhandene Vollkommenheit eines Dinges kann das Nichts oder ein nichtseiendes Ding zur Ursache seiner Existenz habe. […] Alles, was an Realität oder Vollkommenheit in einem Dinge ist, ist formal oder eminent in seiner ersten und zureichenden Ursache. Unter eminent verstehe ich den Fall, wo die Ursache alle Realität der Wirkung vollkommener in sich enthält, als die Wirkung; unter formal den Fall, wo die Ursache die Realität gleich vollkommen enthält. Dieser Grundsatz hängt von dem vorhergehenden ab, denn wenn man annehmen wollte, daß nichts oder weniger in der Ursache sei, als in der Wirkung, so wäre ein Nichts in der Ursache die Ursache der Wirkung.« Vgl. hierzu auch Stiening 2002a, S. 67ff. 668 Vgl. MBA III.2, S. 648–11; P I, S. 7223–27 sowie Stiening 2000–04, S. 224f.; vgl. dagegen den irrlichternden Kommentar in MBA III.4, S. 203.

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schen Philosophie wird er auf antike Vorformen dieser »ewigen Wahrheit« hinweisen.669 Zum ›Beweis vom Dasein Gottes‹ führt diese Prämisse, wie Büchner in enger Anlehnung an die cartesischen Texte ausführt, durch die Reflexion auf die unbezweifelbare Tatsache einer Idee Gottes im menschlichen Bewusstsein, deren Gehalt aber, weil qualitativ von allen endlichen Vorstellungsinhalten des menschlichen Geistes unterschieden, vom Menschen nicht verursacht worden sein kann. Das Vorhandensein einer Idee Gottes im menschlichen Bewusstsein ist auf der Grundlage der ontologischen und kausalitätstheoretischen Prämissen ein Beleg für die bewusstseinsunabhängige, objektive Existenz Gottes, die einzig vollkommen genug ist, jene Idee Gottes im Menschen hervorzubringen. Büchner erkennt in der Folge über eine Rekonstruktion des Innatismus670 der Gottesidee, dass dieser Gottesbeweis auf eine allgemeine Dependenz des Menschen nicht von seinem cogito, sondern von der Gottesinstanz hinausläuft: »Aus der Idee, die wir von der Existenz und den Vollkommenheiten Gottes haben, folgt noch, daß wir selbst durch Gott sind [...].« Erst nach der streng analytischen Darstellung des gesamten Argumentationsganges des zweiten Gottesbeweises bis hin zur intendierten Dependenzumkehr erlaubt sich Büchner den folgenden Kommentar: Es ist doch sonderbar welche Umwege Cartesius macht um unsern Ursprung aus Gott zu beweisen, er hätte es ganz im Sinne seines Systems schon kurzweg aus der in uns enthaltenen Idee von Gott demonstrieren können.671

Doch bleibt Büchners systematische Bewertung der cartesischen Argumentation vorerst unklar. Erst nachdem der Interpret auch die aus seinem Begriff folgenden Eigenschaften Gottes, die daraus ableitbare Negation des genius malignus672 und die aus diesem Nachweis deduzierte Einsicht in die Funktion Gottes als einzigem Garanten zur Überwindung des uneingeschränkten Skeptizismus textnah dargestellt hat, fasst er die erkenntnistheoretisch konstitutive Funktion Gottes und deren Konsequenzen in einem scharfen Kommentar zusammen: Gott ist es, der den Abgrund zwischen Denken und Erkennen, zwischen Subjekt und Objekt ausfüllt, er ist die Brücke, zwischen dem cogito ergo sum, zwischen dem einsamen, irren, nur einem, dem Selbstbewußtsein, gewissen, Denken und der Außenwelt. Der Versuch ist etwas naiv ausgefallen, aber man sieht doch, wie instinktartig scharf Cartesius schon das Grab der

|| 669 Vgl. HA II, S. 3165–15, S. 32921 u. S. 40527f.. 670 P II, S. 18718–20/MBA IX.2, S. 5432–34. 671 PP II, S. 18834–37/MBA IX.2, S. 5526–561. 672 PP II, S. 19036f. /MBA IX.2, S. 5731f., basierend auf Tennemann 1798–1819, X, S. 238.

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Philosophie abmaß; sonderbar ist es freilich wie er den lieben Gott als Leiter gebrauchte, um herauszukriechen.673

Diese im Vergleich zu den Quellen674 und den kontextuellen Referenztexten675 überanschauliche, leicht exaltierte Interpretation des cartesischen Solipsismusproblems und seiner Lösung, die von der Büchner-Forschung fälschlicherweise als Kommentar zum Lenz oder als Abrechnung mit der Philosophie überhaupt gelesen wurde,676 kann als Büchners eigene Stellungnahme gewertet werden.677 Überanschaulich ist diese Interpretation des jungen Privatdozenten in der Psychologisierung des systematisch isolierten Denkens als einsam und irre (das rationale Ich Descartesʼ wird von Büchner zum Zwecke einer Veranschaulichung als empirisches Ich behandelt),678 dramatisierend in der Metapher des Abgrundes zwischen Subjekt und Objekt.679 Dieser Abgrund wird zusätzlich noch zum »Grab der Philosophie« erkoren, weil mit ihren begrifflichen Instrumenten eine erkenntnisgarantierende Verbindung zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr zu gewährleisten sei. Der Interpret abstrahiert aber in dieser Polemik von dem für die Neuzeit essentiellen Unterschied zwischen einer theologischen und einer philosophischen Gotteslehre. Büchners »lieber Gott« ist eben nicht der »Gott der Philosophen«,680 nur diesen aber hatte Descartes thematisiert. Mag diese Anschaulichkeit der Textsorte, mithin der Vorlesungsfunktion, oder aber dem systematischen Interesse an einer Widerlegung jeglicher Gotteslehre zuzuschreiben sein, deutlich wird in der Fortsetzung, dass Büchner auf den Nachweis

|| 673 P II, S. 19237–1938/MBA IX.2, S. 5910–16. 674 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 238, der nur von einem Aufheben des radikalen Zweifels spricht. 675 Vgl. die weitgehend nüchtern von »Vermittlung« oder »Affirmation« sprechenden Hegel 1986, XX, S. 144, Feuerbach 1990, S. 214f. oder Erdmann 1932, S. 287. 676 Vgl. Vietta 1992, S. 134ff. Falsch ist diese Zuweisung, weil das solipsistische Ich durch eine Bestimmung konstituiert wird, die Büchners Lenz sukzessive verliert: das Selbstbewusstsein; schon die Eingangsszene der Erzählung zeigt die Entgrenzungen eines kranken Ich. Genau solcherart Selbstverlust kann dem cartesischen cogito aber gerade nicht zugeschrieben werden. 677 Vgl. auch die farbenfrohen Veranschaulichung in MBA IX.2, S. 59. 678 Zu einer ganz unkritischen, ja Büchners »konsequentes Realitätsbewußtsein« in dieser Behandlung des rationalen als empirisches Ich rühmenden Betrachtung vgl. Osawa 1999, S. 58. Das Dogma des materialistischen, empirisch ausgerichteten Revolutionärs Georg Büchner verhindert so eine angemessene Interpretation seiner Leistungen und ihrer Grenzen in philosophiehistorischer Hinsicht. 679 Eine gewisse Nähe zu dieser aufgeregten Interpretation zeigt die Darstellung der SolipsismusProblematik durch Friedrich Hock, der in seiner Schrift von 1835 (Hock 1835, S. 52) explizit von einer »Kluft zwischen dem Geiste und der Außenwelt« spricht; vgl. hierzu auch P II, S. 975f.; zur Kritik allerdings an den Leistungen dieser Descartes-Interpretation vgl. die Rezension in Feuerbach 1975, II, S. 134–136. 680 Vgl. Röd 1992 sowie Röd 2002, S. 174.

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einer fundamentalen Inkohärenz der cartesischen Gotteslehre abzielt, wenn er im unmittelbaren Anschluss mit implizitem Bezug auf Gassendis Einwände681 festhält: Doch schon seine Zeitgenossen ließen ihn nicht über den Rand [des Grabes/Abgrundes], man fragte: Kann man von keiner Sache gewiß sein, noch irgend etwas klar und deutlich erkennen, ehe das Dasein Gottes mit Gewißheit erkannt worden ist, wie steht es dann mit den dem Beweis vom Dasein Gottes vorhergehenden Sätzen, wie mit dem cogito ergo sum, wie mit dem Beweis selbst?682

Büchner ist sich auf der ungenannten, aber erkennbaren Grundlage der Argumentationen Tennemanns683 zu Gassendis Einwänden sicher, Descartes einen »Widerspruch« nachgewiesen zu haben, den dieser gar selbst »geahnt« habe.684 Vor dem Hintergrund des nach Tennemann und Büchner zirkulären Ableitungsverhältnisses ist ein Blick auf den zeitgenössischen Kontext von einigem Aufschluss. Denn mit kritischem Bezug u. a. auf Tennemann ist laut Eduard Erdmann die cartesische Konzeption des Ableitungsverhältnisses von cogito und deus durchaus nicht widersprüchlich oder zirkulär: Was ferner den Vorwurf betrifft, den viele Zeitgenossen, namentlich Gassendi, dem Cartesius machten, und welchen Tennemann und Rixner als ›einen unwiderleglichen‹ wiederholen, daß es nämlich ein Cirkel sey, aus der Gewißheit seiner selbst das Daseyn Gottes zu beweisen, nachher aber alle Gewißheit davon abhängig zu machen, daß man Gottes gewiß sey, so widerlegt sich dieser leicht, wenn man zweierlei nicht außer Acht läßt: Das E r s t e hat, wenn gleich in ungeschickter Form, Cartesius selbst […] richtig hervorgehoben. Es muß nämlich nicht der Unterschied außer Acht gelassen werden zwischen dem, was unmittelbar gewiß, und dem, dessen Gewißheit eine vermittelte ist. Unmittelbar gewiß ist nur die Existenz des Ich, mit dieser ist alles Andere bezweifelt. Soll nun das Andere auch gewiß seyn, so muß das, was es uns gewiß macht, d. h. der Zweifel, aufgehoben werden, dann ist aber seine Gewißheit eine, durch Aufhebung des Zweifels, vermittelte. Also kann es von allem Uebrigen nur eine Gewißheit geben durch das, was den Zweifel aufhebt, d. h. Gott […] , also ist er das Princip aller (vermittelten) Gewißheit. […] Zweitens aber, wenn man nun daraus, daß Gott Princip aller Gewißheit geworden ist, folgern wollte, daß man auch der eignen Existenz nicht gewiß seyn könne, ohne Gottes gewiß zu seyn, (wie denn die Gegner das gethan haben), so ist zu viel gefolgert. Nämlich Gott ist allerdings, insofern als er die Selbstgewißheit dem Menschen gegeben hat (die Idee des Ich uns angeboren ist) Princip auch dieser Idee, aber nur Princip des Seyns dieser Idee, nicht ihrer Gewißheit; (an sich ist die Idee durch Gott, nicht aber für uns).685

Die Distinktion zwischen principium essendi und principium cognoscendi, die Erdmann hier differenziert und zu Recht anwendet, lässt mithin erkennen, dass die

|| 681 Die Büchner dann einige Seiten später explizit aufgreift; vgl. P II, S. 25421ff./MBA IX.2, S. 11037ff.. 682 P II, S. 1938–14/MBA IX.2, S. 5916–21. 683 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 278–280, der von einem unabweislichen »Cirkelbeweis« spricht. 684 P II, S. 19413f./MBA IX.2, S.6014f.; vgl. hierzu auch Sanada 2001, S. 438. 685 Erdmann 1932, S. 299f.

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Prinzipien des Ich denke und der Existenz Gottes durch Descartes nicht zirkulär vermittelt werden. Von dieser subtilen Interpretation ist Büchner aber weit entfernt, auch wenn er sich im Resümee seiner Rekonstruktion des Gottesbeweises durch Descartes in einer seine anfängliche Kritik an Hegel und Hotho revidierenden Weise annähert: Warum Cartesius nicht auf diesem Wege geblieben, läßt sich wohl aus der Natur des cogito ergo sum erklären; denn bei näherer Untersuchung desselben sah er wohl ein, daß es nur der Ausdruck für das mit jeder Tätigkeit notwendig verbundne Selbstbewußtsein sei, daß als solchem ihm ein höherer Grad der Gewißheit als allen übrigen Erkenntnisses zukommen müsse und daß es demnach verlorne Mühe sein würde einen zweiten Satz von gleicher Gewißheit zu suchen. Denn obgleich alle auf die 3 Denkgesetze gegründeten Sätze uns eben so wahr scheinen, so steht uns, nach Cartesius, doch niemand dafür, daß unsere Denkkraft selbst nicht so eingerichtet sei, daß wir irren müßten. Ein Umstand, der nur an der Gewißheit des cogito ergo sum nichts schmälern kann. (Hotho und Hegel mögen doch Recht haben.) Es bleibt ihm also um sich aus dem Abgrund seines Zweifels zu retten nur ein Strick, an den er sein ganzes System hängte und hakte, Gott. Denn es wäre ihm eigentlich, wie schon gesagt, bei der Art seines Zweifels ganz unmöglich denselben zu beweisen.686

Dass mit diesem Erdmann nahen Analyseangebot der kurz zuvor festgestellte Widerspruch Descartes nicht mehr vorzuwerfen ist,687 reflektiert Büchner im Furor seiner leicht schiefen Galgenmetaphorik nicht.688 Bewusst ist ihm demgegenüber die allmähliche Verschiebung seines Interpretationsstandpunktes, denn mit deutlichen Anleihen bei Tennemann, der als einzige der Quellen Büchners den Selbstbewusstseinsbegriff als Interpretament des cogito-Arguments nutzt,689 wird die durch Kuhn vermittelte scharfe Kritik an Hegel und Hotho als explizite Selbstrevision zurückgenommen. Büchner hat nicht, wie seit Hans Mayer in der Forschung stets wiederholt, den Feuerbach der 1840er Jahre vorweggenommen, er ist dessen Descartes-

|| 686 P II, S. 19513–31/MBA IX.2, S. 6122–36. 687 Das mag an dem noch nicht gänzlich überwundenen Einfluss Kuhns liegen, der in einer Erdmann implizit widersprechenden These ausgeführt hatte: »Nichts ist unklarer, als die Art, wie Gott Vorstellungen unmittelbar in uns bewirkt, und durch die Annahme, daß er sie mittelbar in uns hervorrufe, dreht man sich in einem Cirkel herum.« Kuhn 1834, S. 79f. 688 Schief ist diese Metaphorik natürlich deshalb, weil Büchner kurz zuvor die unableitbare Ursprünglichkeit und Autonomie Gottes als cartesisches Theorem nachgewiesen hatte; der Strick aber, an dem das System vor dem Absturz in den Abgrund gehalten werden soll, bedarf jedoch selbst einer stabilen Konstruktion – sei es ein Galgen, sei es das Ich –, an dem er zu befestigen wäre, um seine Funktion zu erfüllen. Büchner denkt vermutlich ein kuhnsches Bild weiter (ohne innere Konsistenz allerdings), hatte dieser doch ebenso polemisch festgehalten: »Das cogito, ergo sum ist der große Nagel, an dem die Kette befestigt ist, und er selbst ist in eine gar seltsame Wand eingeschlagen. Dieser Nagel hält eine ganze Kette, wie ein Glied immer das andere hält.« Kuhn 1834, S. 77. 689 Tennemann 1798–1819, X, S. 228: »Der Satz [cogito ergo sum] ist unstreitig wahr und unbezweifelt, er ist nichts weiter als das zur Deutlichkeit erhobene Selbstbewußtsein.«

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Interpretation von 1833 aber an keiner Stelle so nahe wie im Rahmen dieser Interpretation des cogito als »einfache Einheit des Denkens oder Selbstbewußtseins«.690 Deutlich wird an dieser Stelle also nicht nur Büchners exaltierte Metaphorik besonders in Angelegenheiten der Gottesbeweise sowie seine Arbeitsweise in diesem als Reinschrift vorliegenden Manuskript seiner Vorlesungen, das durchaus noch Spuren der Reflexionswege des Interpreten enthält; auch zeigt sich bei einem Blick in die Referenzstellen bei Kuhn, welche Positionsänderungen Büchners ›saure Arbeit des Begriffs‹ zeitigte. Hatte er zu Beginn der Vorlesung mit Kuhn Hegels und Hothos Interpretation des cogito als unmittelbarer Gewissheit zurückgewiesen, so wird sie an dieser Stelle vorsichtig bestätigt; Kuhn hatte aber mit polemischer Vehemenz festgehalten: Ich denke, wer diesen Satz versteht [cogito ergo sum], und das Jacobische unmittelbare Wissen, wird nicht mehr, wie Hegel, in Versuchung gerathen, Jacobi mit Cartesius zu verwechseln.691

Dieser Versuchung ist Büchner nach intensiver begriffs- und argumentationsanalytischer Arbeit und daher aus für ihn guten Gründen erlegen; die Abkehr vom strengen Anti-Rationalismus Kuhns ergibt sich somit aus einer philosophiehistorischen Rekonstruktionsarbeit, die ihn durchaus in die Nähe zu den Ergebnissen Erdmanns und Feuerbachs bringt. Die energische Insistenz dieser Auseinandersetzung um den rationalen Gottesbegriff, die unübersehbar systematische Interessen Büchners dokumentiert, der die Beweiskraft dieser Ableitungen erschüttern will, wird in der Folge dieser Vorlesungen kaum mehr erreicht; erst die Anthropologie Descartes’ und Spinozas Gott werden den hier zu beobachtenden Analyse- und Interpretationsaufwand wieder hervorrufen. Zunächst wendet sich Büchner jedoch wichtigen erkenntnistheoretischen Ableitungen aus den prinzipientheoretischen Grundlegungen Descartes’ zu, deren systematischen Zusammenhang er wie folgt resümiert: Das vollkommenste Wesen ist also bewiesen, eben so unser Ursprung aus demselben, ferner die Möglichkeit einer Erkenntnis aus der Wahrhaftigkeit Gottes. Denn, wenn Gott kein Lügner und Betrüger sein soll, so muß unsere Vernunft nicht zum Irren sondern zum Erkennen des Wahren eingerichtet sein und Alles ist wahr, was wir nach den Gesetzen der Vernunft denken d. h. klar und deutlich vorstellen (erkennen.)692

Die sich aus dieser Schlusskette aufdrängende weitere Problematik besteht in der Bestimmung eines »Kriteriums für klare und deutliche Vorstellungen«, die Büchner

|| 690 Feuerbach 1990, S. 231; vgl. auch Erdmann 1932, S. 295: »Ich ist sich seiner bewußt, weil das Selbstbewußtsein ihm angeboren, d. h. von Gott ihm gegeben ist.« 691 Kuhn 1834, S. 73. 692 P II, S. 19533–1963/MBA IX.2, S. 621–7.

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in einer nur mehr äußerlichen Anbindung an Tennemann693 mit Zitaten aus den Principia Philosophiae und dem Discours de la Méthode schlicht benennt. Eindringlicher – und zwar auch gegenüber seinen beiden Vorgaben Tennemann und Kuhn694 – setzt er sich dann mit Descartes’ Irrtumslehre auseinander, die er mit einem erheblich erweiterten Quellenaufwand kritisch darzustellen versucht. Begründet wird dieser Aufwand, der sich auf eine ausführliche Darstellung der Argumentationswege nicht nur auf die vierte Meditation und die §§ 31 bis 43 der Principia, sondern vor allem auf Spinozas Darstellung in den Prinicpia philosophiae Cartesianae stützt, methodisch: (Ich habe besonders den von Spinoza in dieser Proposition bezeichneten Weg verfolgt, weil das, was Cartesius in den Principien über diesen Gegenstand sagt, fast nicht zusammenhängt und seine Auseinandersetzung in der IV. med. zu weitläufig und in sich selbst nicht ganz klar ist.)695

Diese Anbindung an die Rekonstruktionsleistung Spinozas, die auch Erdmann mehrfach anwendet und ausführlich begründet,696 vollzieht Büchner, weil die logischen Probleme und die daraus resultierenden metaphysischen Unstimmigkeiten der Irrtumslehre Descartes’ präzise herausgearbeitet werden sollen.697 Der Irrtum kann nach Descartes als Unvollkommenheit nicht von Gott als allervollkommenstem Wesen verursacht werden. Der Mensch als zwischen Gott und dem Nichts stehend ist aufgrund seiner Endlichkeit der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt, und so müsste der Irrtum Konsequenz, ja Produkt seiner Partizipation am Nichts sein; dies

|| 693 Tennemann 1798–1819, X, S. 242. 694 Kuhns Decartes-Darstellung spielt in diesem Teil der Vorlesung auch deshalb keine Rolle mehr, weil er sich mit den weiteren Fragen der Philosophie Descartes’ aufgrund seines nur systematischen Interesses nicht beschäftigte; die kritische Volte gegen dessen Interpretation des Status des cogitoArguments wird ein Übriges getan haben. 695 P II, S. 2041–5/MBA IX.2, S. 695–8. 696 Vgl. Erdmann 1932, S. 223Anm.*: »Man wird es vielleicht seltsam finden, daß ich hier eine Stelle aus Spinoza als Belegstelle anführe […]. Dann aber sind die Princ. Phil. Cart. des Spinoza in der That nicht Spinozistische, sondern Cartesianische Philosophie, und da es bei der Aufstellung des Systems nicht auf das Individuum allein ankommt, und man auf den Cartesianer sich berufen kann, um zu zeigen, was das System des Cartesius ist, so habe ich ohne Scheu mich auf den berufen, von dem, weil er nachher selbst den Cartesianismus weiter gefördert hat, am meisten sich voraussetzen lässt, daß er in den Geist des Systems eingedrungen ist […].« 697 MBA IX.2, S. 218ff. sowie Beise 2010, S. 88 gehen dagegen davon aus, dass die DescartesVorlesung schon in Hinblick auf Spinoza konturiert wurde – erkennbar zu dem Zweck, die philosophiehistoriographische Substanz der Vorlesungen zu umgehen und die Spinoza-Interpretation zu einem systematischen Programm der Auseinandersetzung mit der Identitätsphilosophie umzudeuten; das lässt sich an den Texten aber nicht nachweisen; Büchners Descartes-Interpretation steht für sich selbst und zugleich im Betrachten von Übergängen zu Spinoza auf dem Boden einer philosophiehistorischen Verlaufsrekonstruktion.

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aber widerspricht dem metaphysischen Grundsatz des a nihilo nihil fit.698 Auf diese Inkonsistenz arbeitet Büchners Darstellungs- und Rekonstruktionsarbeit zu, da er neben den zitierenden, übersetzenden und paraphrasierenden Darstellungen die interpretatorischen Passagen ausschließlich durch ungekürzte Zitate aus Tennemann gestaltet, der für Descartes festgehalten hatte, dass nur »in der Art, wie wir von ihm [dem Willen] im Verhältnis zu unsern Erkenntnissen Gebrauch machen, [...] die Möglichkeit des Irrtums« liege. Diese ausführliche Auseinandersetzung mit der Irrtumslehre Descartesʼ, die Tennemann u. a. führt, weil sie schon von Kant ausgetragen wurde,699 trennt Büchner erneut deutlich von den idealistischen Rekonstruktionen, denn weder bei Hegel noch bei Erdmann noch gar bei Feuerbach sind derart umfängliche Betrachtungen zur Irrtumstheorie zu finden.700 Eigenständiger auch gegenüber Tennemann und die philosophiehistorischen Zusammenhänge nachzeichnend ist Büchners Resümee der bis zu diesem Deduktionsschritt geleisteten Rekonstruktionsarbeit: Hiermit wären wir denn jetzt auf der Höhe des Cartesianismus gelangt. Die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit einer Erkenntnis ist bewiesen und daraus der Grundsatz des Dogmatismus, was im Begriff einer Sache liegt ist wahr. Die Quelle des Irrtums ist entdeckt, das Kriterium der Wahrheit bewiesen.701

Erst mit der Entwicklung eines Wahrheits- und Irrtumsbegriffs sieht Büchner eine spezifisch cartesianische Philosophie voll entfaltet. Dabei legt er in diesem Resümee auf die Erkenntnistheorie ein besonderes Gewicht, weil er mit der kantianisierenden Formel vom »Dogmatismus«702 die Philosophie Descartes’ in die Tradition rationalistischer Epistemologie zu lozieren sucht. Tatsächlich gilt noch für Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff, dass die Wahrheit eines Urteils durch das analytische Enthaltensein des Prädikats im Subjekt zu garantieren sei: Nun steht soviel fest, daß jede wahre Aussage irgend einen Grund in der Natur der Dinge hat, daß also, wenn ein Satz nicht identisch ist, d. h. wenn das Prädikat nicht ausdrücklich im Subjekt enthalten ist, es doch virtuell in ihm enthalten sein muß. Die Philosophen geben diese Beziehung durch das Wort »in-esse« wieder, indem sie sagen, daß das Prädikat »in dem Subjekt ist«. Der Terminus, der das Subjekt bezeichnet, muß daher stets den des Prädikats in sich begreifen, sodaß derjenige, der vollkommene Einsicht in den Begriff des Subjekts besäße, sogleich das Urteil fällen müßte, daß das betreffende Prädikat ihm zugehört. Unter der Natur einer individuellen Substanz in sich vollständigen Seins wird daher ein Begriff zu verstehen sein,

|| 698 Vgl. hierzu auch die Darstellung bei Stiening 2002a, S. 74f. 699 Vgl. KrV B 351 und B 404ff. 700 Vgl. Hegels kurze Hinweise zu den »Quellen des Irrtums« in Hegel 1986, XX, S. 144. 701 P II, S. 20423–28/MBA IX.2, S. 6923–27. 702 Zum Kantianismus dieser Formel vgl. schon Horn 1982, S. 211; Horn stellt aber keine Verbindung zu Tennemanns kantianischer Kritik her, dies leistet in Ansätzen MBA IX.2, S. 264.

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der so vollendet ist, daß alle Prädikate des Subjekts, dem er beigelegt ist, aus ihm hinlänglich begriffen und deduktiv abgeleitet werden können.703

Erst Kant bezeichnet diese rationalistische Wahrheitstheorie, weil sie wahre Erkenntnis ohne Bezug auf Erfahrung zu konstituieren behauptet, als philosophischen Dogmatismus.704 Büchner wird sich – wie oben schon zitiert – einige Wochen später in seiner Probevorlesung auf ebendiesen »Dogmatismus der Vernunftphilosophen« verhalten affirmativ beziehen.705 Denn es sind die rational gewonnenen Begriffe und Grundsätze einer »Philosophie a priori«, die den heuristischen Rahmen für eine methodisch und systematisch reflektierte und so einzig wissenschaftliche Naturforschung abgeben.706 Büchners Kritik am »Grundsatz des Dogmatismus« ist also keineswegs aus der Perspektive eines strengen Empirismus formuliert,707 weil er in seiner Naturforschung ebenfalls mit apriorischen Begriffen operiert. Gleichwohl verfällt Descartes’ vollständige Abstraktion von Erfahrungsmomenten bei der Konstitution von Erkenntnissen einer Kritik, weil Büchner auf einer spezifischen, rational nicht einholbaren Eigenständigkeit der Erfahrung insistiert. In dieser Epistemologie bestehen die systematischen Hintergründe der büchnerschen Kritik an Descartes; philosophiegeschichtlich lautet dagegen das Resümee: Rationalistische Erkenntnis- sowie Wahrheits- und Irrtumstheorie machen für Büchner die Essenz des Cartesianismus aus; von den umfänglichen Auseinandersetzungen mit den Gottesbeweisen ist in diesem Resümee bemerkenswerter Weise keine Rede mehr.708 Büchner beschließt diesen ersten umfangreichen Abschnitt zur Erkenntnistheorie und Metaphysik Descartes’ mit einer Bestandsaufnahme der wichtigsten Bewusstseinskategorien, mit Hilfe derer nach Descartes die einzelnen Bewusstseinsinhalte erfasst und geordnet werden. Dazu gehören zunächst die eher formalen Gesetze des Denkens, die unter dem Begriff der »ewigen Wahrheiten« geführt werden, die angeboren seien.709 Dazu seien nicht nur das a nihilo nihil fit, sondern auch das cogito-Argument oder der Satz des Widerspruchs zu zählen. Kurz zuvor war mit Tennemann auch die Tatsache der Freiheit des Willens unter dieser Kategorie geführt worden.710 Abweichend von der ansonsten deutlichen Anlehnung an Tenne-

|| 703 Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de Métaphysique, § 8, in: Leibniz 21966, S. 43; zu dieser Bestimmung von Wahrheits-, Grund- und Substanzbegriff bei Leibniz vgl. Wolff 1986, S. 95. 704 KrV B XXXV. 705 Roth 2004, S. 46457f.; zu einer mehr als heuristischen Stellung dieser apriorischen Vernunftphilosophie für Büchners Naturwissenschaftsverständnis vgl. Stiening 2006a, S. 144ff. sowie MBA IX.2, S. 297; anders dazu Döhner 1967, S. 154–156 sowie Roth 2004, S. 383–389. 706 Roth 2004, S. 46460–46573. 707 So aber Osawa 1999, S. 50ff. 708 Diese Entwicklung übersieht Sanada 2001, S. 437–440. 709 Zur Geschichte und Problematik des Konzepts der Ideae innatae äußert sich Büchner nicht, vgl. aber u. a. Hegel 1986, XX, S. 147. 710 P II, S. 20135–2021/MBA IX.2, S. 6715–18.

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manns Ausführungen zu diesem Komplex711 der ewigen angeborenen Ideen hält Büchner im Hinblick auf Anzahl, Status und Ordnung dieser Prinzipien fest: In den resp. ad II. objectio. werden 10 dergleichen Axiomen angeführt, wovon mehrere in dem Beweis des Daseins Gottes aus der Idee von Gott angeführt sind. Charakteristisch für die Erklärung des cogito sum ist diese Klassifikation. (Hotho, Hegel.)712

Kuhns anfänglich übernommene These ist an dieser Stelle der Deduktion endgültig zurückgewiesen,713 Hotho und Hegel haben nicht nur möglicherweise »recht«,714 der Status – Büchner spricht von »Klassifikation« – der Axiome als unmittelbarer Wahrheiten wird mit der Nennung beider Namen uneingeschränkt bestätigt.715 Die abschließenden Ausführungen zu den Kategorien der Substanz, des Attributs und des Modus, zu Ordnung, Dauer und Zahl werden nahezu ausschließlich durch Zitate aus Tennemann geleistet und verbleiben daher auf einer rein darstellenden Ebene. Nur die logisch problematische Relation von Substanz und Attribut, auf die Büchner in der Folge mehrfach zurückkommen wird,716 veranlasst ihn zu einer bewertenden Kritik: Hat jede Substanz nur ein Attribut, worauf sich alle übrigen Eigenschaften beziehen, was sollte dann der Satz, daß die Substanz aus jedem Attribut erkannt werde? Überhaupt ist es nicht leicht, hier etwas ganz Deutliches herauszubekommen, denn Cartesius spricht zu wenig im Zusammenhang, zu schwankend und unbestimmt.717

Tatsächlich gehört es noch heute zur communis opinio, dass nicht nur der Begriff der Substanz und die Anwendung desselben auf Gott, Denken und Ausdehnung, sondern auch das bestimmende Verhältnis des Attributs zur Substanz zu den problematischen Stücken der Substanzmetaphysik Descartes’ zu zählen sind.718 Schon Büchners Zeitgenossen wiesen ebenfalls auf den erheblichen Mangel jenes zentralen Theorieelementes hin.719 Ohne erneutes Resümee der »Philosophia prima des

|| 711 Tennemann 1798–1819, X, S. 243f. 712 P II, S. 2056–10/MBA IX.2, S. 701–4. 713 Vgl. auch die explizite Kritik an Kuhn im Spinoza-Skript, P II, S. 3404–19/MBA IX.2, S. 14131ff.: »Ich glaube Herr Kuhn irrt sich,[…].« 714 P II, S. 19525f./MBA IX.2, S. 6132f.. 715 Insofern ist gegen die abstrakte Behauptung von einer umfassenden Hegel-Kritik Büchners (vgl. Kuhnigk 1987) festzuhalten, dass Büchners Textarbeit ihn zu einem weit differenzierteren Umgang mit der idealistischen Philosophiegeschichtsschreibung kommen lässt, als seine Interpreten in ihrem antiidealistischen Affekt wahrhaben wollen. 716 Vgl. P II, S. 21333ff./MBA IX.2, S. 775ff.. 717 P II, S. 20623–28/MBA IX.2, S. 719–13. 718 Vgl. u. a. Röd 31995, S. 107f. sowie Perler 22006, S. 180ff. 719 Vgl. Hegel 1986, XX, S. 147–149; Erdmann 1932, S. 288f.; Feuerbach 1990, S. 205ff.

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Cartesius«720 sollte die Vorlesung nun zur Darstellung der Naturphilosophie übergehen.

2.2.2.3 Mechanistische Materietheorie und »abenteuerliche Kosmogonie«: Büchner über Descartes’ Naturphilosophie Der Abschnitt über Descartes’ Naturphilosophie gehört neben der biographischen Skizze zu den unselbständigsten Passagen der Vorlesung. Es werden nahezu ausschließlich Abschriften aus Tennemann geboten721 und mit Zitaten und Übersetzungen angereichert. Unabhängig von Tennemann ist nur die abschließende Darstellung der Bücher 3 und 4 der Principia Philosophiae, in denen eine allgemeine und eine spezielle Kosmologie entwickelt werden. Deutlich kürzer können und sollen daher die von Büchner in diesem Abschnitt vorgestellten Themen der cartesischen Naturphilosophie rekonstruiert werden, weil sie den reflektierten Kenntnisstand Büchners zu diesem zentralen Teil des Cartesianismus trotz der Abhängigkeit von Tennemann dokumentieren. Zu diesen zentralen Themen gehört zunächst der Nachweis der Außenweltrealität der ausgedehnten Substanz. Unter Rekurs auf die zuvor schon geleistete Negation des genius malignus stellt Büchner mit Tennemann als cartesischen Schluss vor, »daß eine ausgedehnte Substanz, welche wir Materie oder Körper nennen, wirklich existiere und daß ihr alle diejenigen Eigenschaften zukommen, welche wir in dem Begriffe eines ausgedehnten Dinges deutlich denken«.722 Büchner referiert auch Descartes’ konsequente These, dass die auf die Wesenseigenschaft der Ausdehnung reduzierten Körper nur durch »reine Anschauung« wahrgenommen werden können, d. h., dass der Mensch »durch die Sinne« nur erfahre, »daß ein Körper ist und daß etwas an ihm ist, was den oder den Eindruck auf ihn macht, […] aber keineswegs was dies eigentlich [an den Körpern] ist«.723 Dabei ist Büchner aufgrund seines ausschließlichen und engen Bezuges auf Tennemann von den Einsichten u. a. Feuerbachs in den Zusammenhang der naturphilosophischen Konzeption Descartes’ mit seiner Erkenntnistheorie weit entfernt; Feuerbach analysierte diesen Komplex zwischen Ausdehnungs-, Materie- und Anschauungsbegriff wie folgt: Diese abstrakte, von den sinnlichen Qualitäten abgesonderte, nur dem Geiste gegenständliche, evidente Natur ist aber eben die Materie oder die Natur als Materie, und zwar als eine Materie,

|| 720 So die zutreffende Prädikation für Erkenntnistheorie und Metaphysik Descartes’ durch Erdmann 1932, S. 155. 721 Vgl. insbesondere P II, S. 21018–21915/MBA IX.2, S. 717–8119 mit Tennemann 1798–1819, X, S. 251– 257. 722 P II, S. 2116–9/MBA IX.2, S. 7424–27; zu einer ähnlich textnahen Darstellung dieser Frage siehe Erdmann 1932, S. 183ff. 723 P II, S. 2134–16/MBA IX.2, S. 761–11.

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deren wesentliche Bestimmung die Ausdehnung ist. Die Materie ist zwar das direkt dem Geiste Entgegengesetzte, denn sie macht das Nichtgeistige zum Nichtgeistigen, den Körper zu dem, was er ist, seine wesentliche Bestimmung ist allein die Ausdehnung; aber doch ist gerade diese Betrachtungsweise der Natur als einer bloßen Materie und der Materie als bloßer Ausdehnung die Anschauung.724

Zu solcherart begriffs- und argumentationsanalytischen Ergebnissen fehlt es Büchner nicht nur an Zeit, sondern auch an Kompetenz. Das zeigt sich auch bei einem Blick in die ausführliche Darstellung und Kritik der cartesischen Naturphilosophie durch Erdmann, der ebenfalls schon bei der Rekonstruktion der begriffslogischen Entwicklung zwischen Ausdehnungs-, Materie- und Anschauungsbegriff die notwendigen Zusammenhänge erläutert.725 Büchner dagegen verbleibt zumeist auf der beschreibenden Ebene und stellt so die Raumtheorie Descartes’, die eine Negation der Vorstellungen vom »leeren Raum« enthält,726 sowie dessen mechanistische Materietheorie dar, die auf der Basis der Substanzialisierung der Materie durch Ruhe und Bewegung konstituiert wird.727 Diese in sich geschlossene, zeitgenössisch ambitionierte Materietheorie, innerhalb derer die Substanzialisierung der Materie die auch gegenüber Hobbes innovative Leistung darstellt,728 fordert allerdings weder den Naturwissenschaftler noch den Materialismustheoretiker Büchner zu einer Auseinandersetzung, ja nicht einmal zu einem Kommentar heraus. Vielmehr leitet Büchner wie Tennemann729 schließlich aus der »Unveränderlichkeit Gottes« und den Parametern der Materie, Bewegung und Ruhe, drei physikalische Naturgesetze ab.730 Büchner beschließt diesen eher verhuschten Abschnitt zur cartesischen Naturphilosophie mit einer kurzen Darstellung der »Kosmogonie« Descartes, die als »abenteuerlich« bezeichnet wird und charakterisiert sei durch die »willkürlichsten [...] Hypothesen«.731 Offensichtlich hielt der Interpret diesen Teil der Philosophie Descartesʼ für überholt und daher einer eigenständigen Auseinandersetzung nicht wert. Er anerkennt allerdings zuletzt, dass »Cartesius’ Absicht [….] eigentlich [war], die ganze Schöpfung aus seinen Prinzipien herzuleiten, die Harmonie zwischen der Erfahrung und seinem System nachzuweisen«.732

|| 724 Feuerbach 1990, S. 216. 725 Erdmann 1932, S. 183–200 u. S. 301–305. 726 P II, S. 21413–30/MBA IX.2, S. 7719–34; vgl. hierzu auch Tennemann 1798–1819, X, S. 252f. 727 P II, S. 21529–21812/MBA IX.2, S. 7820–8025. 728 Vgl. hierzu u. a. Kutzer 1998, S. 145f. sowie Perler 22006, S. 102–114. 729 Tennemann 1798–1819, X, S. 256f. 730 P II, S. 21813–21920/MBA IX.2, S. 8026–8123. 731 P II, S. 21924 u. S. 2237f./MBA IX.2, S. 8127 u. S. 8436. 732 P II, S. 22310–13/MBA IX.2, S. 8438–40.

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2.2.2.4

»Zusammengeschraubte« Menschen und »Gemeingefühl«: Zu Descartes’ mechanistischer Anthropologie und Psychologie Erheblich eigenständiger sowohl gegenüber seiner Hauptquelle Tennemann als auch gegenüber den kontextuellen Referenztexten Hegels, Erdmanns, Feuerbachs und Schellings sind Büchners Ausführungen zur Anthropologie Descartes’. Insbesondere die mehrfach hergestellten Verbindungen zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der eigenen Zeit geben diesem Abschnitt der Vorlesung ein eigenes Gepräge gegenüber Quellen und Kontexten. So zeigt sich vor allem an diesem Abschnitt der Vorlesungen zu Descartes, dass Büchner eine Verknüpfung zwischen Naturforschung und Philosophiegeschichte für möglich bzw. für erforderlich hielt.733 Im Hinblick auf die Anthropologie sieht Büchner in der Philosophie Descartes’ ein Potential als Methodologie und Wissenschaftstheorie aktueller Naturforschung – allerdings nicht ohne kritische Distanz: Dass Büchner Descartes auf einem Feld philosophisch arbeiten sieht, das er aus einzelwissenschaftlicher Perspektive als ureigene Kompetenz beansprucht, verdeutlicht schon der erste, gleich polemisch gefärbte Absatz dieses Abschnittes: In der Abhandlung De homine macht er den Versuch zur Begründung einer Physiologie aus mathematischen und physikalischen Prinzipien, der homme machine wird vollständig zusammengeschraubt. Ein Zentralfeuer im Herzen, die verflüchtigten zum Hirn aufsteigenden spiritus animales, die in einem Dunst von Nervengeist schwebende, nach verschiednen Richtungen sich neigende Zirbeldrüse, als Residenz der Seele, Nerven mit Klappen, Muskeln welche durch das Einpumpen des Nervengeistes mittelst der Nerven anschwellen, die Lunge als Kühlapparat und Vorlage zum Niederschlagen des im Herzen verflüchtigten Blutes, Milz, Leber, Nieren als künstliche Siebe, sind die Schrauben, Stifte und Walzen. Der echte Typus des Intermechanismus.734

Büchner positioniert sich hier als fundamentaler Kritiker einer nach mathematischen oder physikalischen Prinzipien entworfenen Physiologie und damit als naturphilosophischer Gegner nicht allein Descartes’, sondern auch eines in den 1830er Jahren noch gleichwertig konkurrierenden empiristisch-mechanistischen Naturwissenschaftsverständnisses.735 Auch die polemische Rekonstruktion einer cartesischen Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers und seiner Seele, die eine streng mechanistische Konzeption ironisiert und die Büchner abschließend als »echten Typus des Intermechanismus« zwischen Körper und Seele bezeichnet,736

|| 733 Im Hinblick auf Spinoza und Leibniz vgl. Stiening 1999; vgl. auch MBA IX.2, S. 246ff. 734 P II, S. 22322–24/MBA IX.2, S. 855–15. 735 Zu deren noch nicht gefestigter Stellung in den 1830er Jahren vgl. Breidbach 1988, S. 27–36; Poggi u. Röd 1989, S. 13–22 sowie Breidbach 2006, S. 65ff. u. S. 175ff. sowie S. 210–222. 736 P II, S. 22334/MBA IX.2, S. 8515. Dies ist offenbar eine Wortschöpfung Büchners; der Sache nach Kutzer 1998, S. 146.

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zeigt die angewandte Kenntnis des Humanbiologen in der philosophiehistorischen Auseinandersetzung. Dabei bedarf es keiner subtilen Interpretationskunst, um Büchners kritische Einstellung gegenüber dieser mechanistischen Humananatomie festzustellen. Der satirische Ton der oben zitierten Passage, den er leicht gedämpft in der Probevorlesung wieder aufnehmen wird,737 eröffnet Büchners weitgehend systematische Perspektive738 auf Descartes’ anthropologische Konzeptionen, die die historische Innovationsleistung jener mechanistischen Animal- und Humananatomie739 sowie einer mechanistischen Physiologie740 nicht in den Blick nimmt, weil sie inmitten einer aktuellen wissenschaftstheoretischen Kontroverse steht, innerhalb derer das mathematisch-physikalische Paradigma der Naturforschung741 die zunehmend erfolgreiche Gegenposition ausmacht. Dass die Substanzialisierung der Materie ein gegenüber der Tradition seit Platon und Aristoteles nachgerade brillanter Zug des cartesischen Systems genannt zu werden verdient, geht ebenfalls in Büchners polemischer Rekonstruktion unter.742 Es zeigt sich erneut, dass der angehende Privatdozent der Philosophie eine spezifisch philosophiehistorische Perspektive – welcher methodischen Ausrichtung auch immer – nur zaghaft entwickelt. In vier Abschnitten rekonstruiert Büchner diesen Systemteil der Philosophie Descartes’, indem er nach der zitierten allgemeinen Einleitung in die mechanistische Anthropologie und Physiologie (1) die cartesische »Psychologie« (2) sowie die daraus hervorgehende Anthropologie analysiert und interpretiert (3); kommentierende Betrachtungen zur Neuroanatomie und -physiologie Descartes’ sowie zu dessen psychologischer Vermögens- und Affektenlehre (4) schließen diesen Abschnitt ab. Dass Büchners systematisches Interesse an diesem Abschnitt der cartesischen || 737 Vgl. Roth 2004, S. 463f.: »Jeder Organismus ist für sie [die teleologische Methode] eine verwickelte Maschine, mit den künstlichen Mitteln versehen, sich bis auf einen gewissen Punkt zu erhalten. […] Sie macht den Schädel zu einem künstlichen Gewölbe mit Strebepfeilern, bestimmt, seinen Bewohner, das Gehirn, zu schützen.« Dass Büchner an dieser Stelle (trotz des irreführenden Begriffs der Teleologie) vor allem den kurz zuvor bearbeiteten Descartes im Sinn hatte, zeigt dessen eigentümliche Verknüpfung von mechanistischer Physiologie und Psychologie mit dem Selbsterhaltungstheorem; vgl. Boenke 2005, S. 242f. 738 Vgl. auch P II, S. 1001: »Wie sehr Büchner aus eigenem, nicht etwa nur historischem Interesse nach Aufklärung in dieser zentralen Problematik [dem Körper-Seele-Verhältnis] bei Descartes suchte und wie sicher er darin den Schwachpunkt seiner genialen wissenschaftlichen Fundierung der Philosophie ausmacht, geht aus dem Folgenden hervor.« 739 Siehe Boenke 2005, S. 218ff. 740 Vgl. hierzu Rothschuh 1968, S. 100–122, spez. S. 111ff.; Rothschuh 1969, S. 135: »Descartes wollte zeigen, daß die allgemeinen kosmischen Gesetze der materiellen Welt genauso die Erscheinungen der toten wie der lebendigen Welt zu erklären vermögen. Das eröffnete für die Physiologie völlig neue Denkmöglichkeiten. Sie haben die weitere Entwicklung der Physiologie maßgeblich bestimmt.« Vgl. auch Röd 31995, S. 131ff. und Kutzer 1998, S. 145ff. 741 Vgl. hierzu nochmals Poggi u. Röd 1989, S. 13ff. 742 Vgl. hierzu aber Erdmann 1932, S. 183–200.

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Philosophie beträchtlich war, zeigen die erwähnten Zitate aus der zeitgenössischen Naturforschung,743 die zu De Homine, De Passionibus, dem Discours de la Méthode sowie einigen Passagen aus dem vierten Teil der Principia Philosophiae in Beziehung gesetzt werden: Descartes ist hinsichtlich seiner Anthropologie – wie schon beim cogito-Argument und beim Gottesbegriff – für Büchner wieder eine systematische Herausforderung. Schon bei der anfänglichen Betrachtung des berühmtesten Organs der cartesischen Anatomie – der Körper und Seele vermitteln sollenden »Zirbeldrüse« – zeigt sich Büchners naturwissenschaftliche Perspektive auf die mechanistische Anthropologie Descartes’: Besonders schlug die Lehre von der Zirbeldrüse als Sitz der Seele tiefe Wurzeln, denn Descartes hatte ja so schön deutlich nachgewiesen, wie die Nerven am Hirn gleich Stränge an einer Schelle ziehen, wie dadurch eine Pore auf der innern Oberfläche des Gehirns sich öffnet und wie dann die spiritus animales aus einer entsprechenden Pore der Zirbel heraus und in die offne Pore des Nerven fahren. Interessanter ist es, wie in den neuesten Zeiten diese Ansicht von der wichtigen Bedeutung der Zirbel von Carus in dem Werke über die Urteile des Knochen und Schalengerüstes wenn auch aus himmelweit verschiednen Gründen verteidigt wird. Carus findet sogar in dem Hirnsand eine Hinweisung auf die das Hirn im Allgemeinen umschließende Knochenschale.744

Dass der Interpret mit dieser Korrelation zwischen cartesischer Philosophie und Naturwissenschaft einer Tendenz zeitgenössischer Philosophiegeschichtsschreibung entsprach, zeigt eine Passage aus Feuerbachs Einleitung in sein Kompendium von 1833: »Der geistige, der mittelbare Vater der neuern Naturwissenschaft ist daher Cartesius.«745 Gegen Ende der sich noch weiter erstreckenden Passage in Büchners Vorlesung wird darüber hinaus deutlich, dass der Neuroanatom in Büchner die Reflexionsherrschaft über den Philosophiehistoriker für Momente übernommen hat, weil ausschließlich quantifizierende Fragen der Neuroanatomie in philosophisch indifferenter Weise abgehandelt werden. An solchen – leicht unkontrolliert wirkenden – Passagen zeigen sich Büchners Interessen an philosophiehistorischen Gegenständen als systematischen und methodologischen Grundlegungen seiner Naturfor-

|| 743 Neben dem Bezug auf Carl Gustav Carus (Von den Ur-Theilen des Knochen und Schaalengerüstes. Leipzig 1828, zitiert in P II, S. 2249f.), den Büchner für seine Dissertation nachweislich rezipierte (vgl. Roth 2004, S. 45; MBA VIII, S. 254), ist es vor allem ein Mémoire von Jean Baptist Dumas und Pierre Prévost, das Büchner im Zusammenhang der Analyse der cartesischen Neurologie so selbstverständlich zitiert (vgl. P II, S. 2362/MBA IX.2, S. 9530f.), dass es ihm mit Sicherheit bekannt war. Bei diesem Text (vgl. MBA IX.2, S. 473) handelt es sich um die in den 1820er Jahren Aufsehen erregende Studie Mémoire sur les Phénomènes qui Accompagnent la Contraction de la Fibre Musculaire, par MM. Prévost et Dumas. Lu à l’Académie des Sciences le 18. août 1823. Paris 1823; vgl. hierzu auch meine Ausführungen weiter unten. 744 P II, S. 2241–15/MBA IX.2, S. 8515–26. 745 Feuerbach 1990, S. 24.

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schungen.746 In diesen Reflexionsprozessen kann seine kritische Beschäftigung mit der Philosophie zu Konsequenzen in der Naturforschung führen: Zwar schätzt Büchner Carl Gustav Carus als vergleichenden Anatomen, Neurophysiologen und philosophischen Psychologen, wie seine naturwissenschaftlichen Schriften dokumentieren.747 Nur durch dessen Aktualisierung der Zirbeldrüsentheorie wird deren cartesischer Ursprung von systematischem Belang und der vorherigen Ironisierung der mechanistischen Anthropologie Grenzen gezogen. Im Rahmen der philosophischen Auseinandersetzung mit der Anthropologie zeigt sich jedoch, dass Büchner sowohl die cartesische als auch die carussche Variante der Zirbeldrüsentheorie für unzureichend hält und die Widerlegung Descartes’ zu einer merklichen Distanzierung gegenüber Carus’ physiologischer Anthropologie führt: Worin besteht aber eigentlich die Vereinigung der Seele mit dem Körper, wie ist eine Reaktion zwischen beiden möglich? Cartesius hat sich nie deutlich darüber erklärt, er gibt zwar, wie ich im Folgenden zeigen werde, Hypothesen über die Art und Weise wie körperliche Eindrücke sich zur Zirbeldrüse fortpflanzen, und wie Zirbeldrüse aus wieder Reaktionen erfolgen, aber worin die Reaktion zwischen Zirbeldrüse und Seele bestehe, darüber sagt er nichts. Bei dem scharfen Unterschied, den er in den ersten Grundsätzen seines Systems zwischen Denken und Ausdehnung macht, mußte er sich hier in keiner geringen Verlegenheit befinden, er mußte schon in dem, was er über die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele sagte fühlen, daß er aus der Konsequenz seines Systems sei.748

Die systematische Analyse des strengen Substanzendualismus, der – von Descartes als geleistet vorgestellt749 – gleichwohl eine Vermittlung zwischen Körper und Seele grundsätzlich verunmöglicht, beendet die einzelwissenschaftlichen Spekulationen Büchners über die Aktualisierungsmöglichkeit neuroanatomischer Vermittlungsmodelle. Mit der Bewertung der Substanzentheorie als eines unüberwindlichen Dualismus und den daraus folgenden Konsequenzen für die – trotz gegenteiliger Behauptungen – Unmöglichkeit einer Interaktion zwischen Körper und Seele steht Büchner inmitten der idealistischen Philosophiegeschichtsschreibung der 1830er Jahre; so schreibt Hegel: Wie faßt Cartesius die Einheit von Seele und Leib? Die erste gehört dem Denken, der andere der Ausdehnung an: beide sind Substanz, keines bedarf des Begriffs des anderen; also sind Seele und Leib unabhängig voneinander.750

|| 746 Vgl. hierzu Stiening 1999 oder auch Beise 2010, S. 89. 747 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 44f., S. 331ff. u. ö. 748 P II, S. 23018–31. Diesen kritischen Bezug übersieht Sanada 2001, S. 432. 749 Vgl. hierzu u. a. Wolff 1992. 750 Hegel 1986, XX, S. 156; vgl. auch Schelling 1985, IV, S. 441: »Das Ding, das denkt, und das Ding, das ausgedehnt ist, sind ihm also zwei Dinge; die sich gegenseitig ausschließen und nichts

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Diese Erkenntnis mündet auch für Büchner in die Einsicht, dass die zeitgenössische Naturforschung beim Körper-Seele-Problem gegenüber Descartes’ Einsichten keine wesentlichen Fortschritte gemacht hatte. Nach der engagiert-polemischen Einleitung in die Grundzüge mechanistischer Anthropologie und Physiologie referiert Büchner seinen Zuhörern die »Psychologie des Cartesius« (2), die er in bekannter Manier als »sehr mangelhaft« abqualifiziert. Mit zwei längeren Zitaten aus den §§ 11 und 12 des fünften Teils des Discours de la Méthode kennzeichnet Büchner die Thesen zur rationalen Seele, zum Seelenbegriff überhaupt und zum Verhältnis der tierischen zur menschlichen Seele als zentrale Elemente dieser Psychologie. Der Interpret legt bei dieser Darstellung ein besonderes Augenmerk auf Passagen, in denen Descartes die Seele vom Körper und von der Materie überhaupt streng abtrennt, und zwar aufgrund ihrer rationalen Vermögen sowie ihrer Unsterblichkeit. Auch die von Descartes stets betonte Differenz der menschliche Seele zu der des Tieres751 durch das Vermögen der Sprache752 stellt die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der menschlichen Psyche heraus. Anhand des gesamten ersten Teils der cartesischen Spätschrift Passions de l’Âme führt Büchner sodann Descartes’ allgemeine Vermögenslehre aus, die ihn allerdings kaum zu Kommentaren veranlasst; nur die enge Verbindung von Denken und Willen sowie die Annahme Descartes’, es gebe sechs Grundleidenschaften, aus denen alle anderen durch Kombination ableitbar seien, scheinen dem Dozenten einer wenigstens leicht kommentierenden Darlegung wert.753 Im dritten Abschnitt dieser Vorlesung (3) betrachtet Büchner Descartes’ Thesen zum »Verhältnis von Seele und Körper«,754 das zunächst als eines ausgeführt wird, welches die Unabhängigkeit beider Substanzen, insbesondere des Körpers, betont, weil »die Glieder des lebenden Körpers […] durch die Gegenstände der Sinne, ohne Vermittlung der Seele bewegt werden« könnten.755 Anhand der §§ 30 und 31 der

|| miteinander gemein haben; das ausgedehnte Ding ist das völlig entgeistete, geistlose; hinwiederum ist das Geistige das schlechterdings immaterielle.« 751 Vgl. Descartes 1990, S. 93–97; zu diesem zentralen Thema frühneuzeitlicher Psychologie vgl. auch Kutzer 1998, S. 155ff. und Wild 2006, spez. S. 135–210 (zu Descartes). 752 P II, S. 2258/MBA IX.2, S. 8616f.. 753 P II, S. 22627f./MBA IX.2, S. 8721f.: »Das reine Denken scheint also Cartesius unter die Willensakte zu setzen.« Nur dem, der Büchner anhand zweier sarkastischer Passagen aus Leonce und Lena und Woyzeck zum allgemeinen Kritiker des »freien Willens« macht (vgl. Dedner 2002, S. 292–294; Martin 2012, S. 188), weil aus dieser Kategorie »Unterdrückung und Tötung anderer« erwachse (Dedner 2002, S. 294), muss die nachgerade gelassene Kommentierung Büchners an dieser Stelle auffallen. Sie wird daher von Dedner auch stillschweigend übergangen, um in einem antiidealistischen Furor Büchners angeblich materialistische Anthropologie zu feiern. Mit dessen poetischen und philosophischen Reflexionen auf das Problem des freien Willens bzw. seiner tatsächlichen Anthropologie hat solche ›Philologie‹ allerdings nichts zu tun. 754 P II, S. 22817/MBA IX.2, S. 897f.. 755 P II, S. 2292–4/MBA IX.2, S. 8924–901.

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Passions de l’Âme geht Büchner erneut zum Theorem der Zirbeldrüse über, weil es nach Descartes »doch einen Teil des Körpers« gebe, »worin die Seele ihre Funktionen mehr ausübt, als in den übrigen«.756 Dabei paraphrasiert Büchner zunächst ebenso ausführlich wie kommentarlos den »Beweis für diese Hypothese« in § 31, geht dann aber zu der oben schon zitierten Kritik über, die eine Vermittlung zwischen den Substanzen und damit auch die Zirbeldrüsentheorie für unmöglich und haltlos, mithin für »aus der Konsequenz seines Systems«,757 erklärt. In einer philosophiehistorischen Reflexionen fügt Büchner jedoch an: Seine [d. i. Descartes’] Schule faßte jedoch diese Frage schärfer im Sinne seines Systems und so entwickelte sich aus ihr notwendigerweise die Lehre von den gelegentlichen Ursachen, nach welcher Seele und Leib zwar keinen unmittelbaren Einfluß aufeinander haben, sondern allein Gott, durch seinen Einfluß auf beide.758

Büchner sieht also im Okkasionalismus Malebranches, den er weiter unten noch abhandeln wird,759 eine konsequente Weiterentwicklung des cartesischen Substanzendualismus. Auch im Hinblick auf Spinozas Monismus wird er diese These vertreten, was ihn in beiden Fällen in die (vom Autor nicht erkannte) Nähe zu Hegel bringt.760 Entscheidend bleibt jedoch, dass Büchner sich mit einem expliziten Zitat aus Tennemann kritisch zur »Verlegenheit dieses Denkers«761 in Bezug auf die Vermittlung von Körper und Seele verhält. Im vierten Abschnitt dieser Vorlesung zur Anthropologie beschäftigt sich Büchner dann eingehender mit Descartes’ Anatomie und Physiologie (4), d. h. der Lehre vom menschlichen Körper als Teil der Anthropologie. Im Zentrum steht aufgrund der anthropologiefunktionalen Ausrichtung die Neuroanatomie und -physiologie: Die Nerven nun sind die Leiter, welche die Eindrücke des Körpers zum Gehirn leiten; die Verschiedenheit der Empfindungen hängt teils von der Verschiedenheit der Nerven selbst, teils von der Verschiedenheit der Bewegungen in den einzelnen Nerven selbst ab.762

Büchner ist in seinem Element; erneut kann er – nach der Verbindung zu Carus – mit der »Theorie der Primitivfasern« eine aktuelle Debatte und deren Begrifflichkeit an die cartesischen Texte mit Gewinn herantragen.763 Büchner hatte den Terminus »nerfs primitifs« in seiner Dissertation im Rahmen einer Theorie neuronaler Evolution selbst verwandt. Darüber hinaus wusste er durch das von ihm häufig und syste|| 756 P II, S. 22931–33/MBA IX.2, S. 9023f. 757 P II, S. 23030f./MBA IX.2, S. 9124f.. 758 P II, S. 23031–36/MBA IX.2, S. 9125ff.. 759 Vgl. P II, S. 2728–2796/MBA IX.2, S. 1231–1283. 760 Hegel 1986, XX, S. 156f. u. S. 197ff. (Malebranche) sowie S. 157 (Spinoza). 761 Mit Zitat aus Tennemann 1798–1819, X, S. 259Anm. 67; vgl. auch P II, S. 2319. 762 P II, S. 23136–2323/MBA IX.2, S. 9213–16. 763 P II, S. 2328f u. S. 23215/MBA IX.2, S. 9220f. u. 26; vgl. hierzu Gaede 1979 sowie Roth 2004, S. 365ff.

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matisch genutzte Handbuch der Physiologie Johannes Müllers von dem Begriff und seiner Herkunft bei Johannes von Meckel.764 Trotz der unübersehbaren Überholtheit der Nerventheorien Descartes’ insbesondere durch den Bezug zum Theorem der »Lebensgeister«,765 deren rein materielle Konstitution Büchner allerdings verkennt,766 sowie durch das gänzliche Fehlen einer für Büchners Konzeption essentiellen entwicklungsgeschichtlichen Perspektive bei Descartes bleibt sein Referat der cartesischen Neuroanatomie erstaunlich nüchtern. Das gilt auch für die Darstellung der Sinnesorgane, deren fünf äußere bei Descartes von einer Reihe innerer Sinne begleitet werden. Büchners angemessene Rekonstruktion von »Hunger« und »Durst« sowie den sechs Grundleidenschaften als Formen des inneren Sinnes wird allerdings von einem leicht zu übersehenden Hinweis auf ein »innerliches Gemeingefühl« begleitet.767 Hierbei zeigt sich erneut, dass Büchner mit dem sinnesphysiologischen und -psychologischen Vorverständnis eines Naturforschers des frühen 19. Jahrhunderts an Descartes’ Vermögenslehre herantritt: Zwar ist unbestreitbar, dass Descartes Hunger und Durst sowie »alle Erregungen bzw. Gemütsbewegungen und Affekte« zum sensus internus rechnet.768 Der Bezug auf einen sensus communis jedoch, der zudem noch als »Gemeingefühl« und nicht als »Gemeinsinn« übersetzt wird, ist nur durch die Überbetonung einer gerafften Passage aus dem Discours de la Méthode sowie einer ebensolchen aus De homine zu erzielen, in denen Descartes davon spricht, »ce qui doit y être pris pour le sens commun, où ces idées sont reçues, pour la mémoire, qui les conserve.«769 Ganz richtig wird dieser sens commun oder sensus communis in neueren Übersetzungen auch als »Gemeinsinn«770 übersetzt – ein Vermögen, das dann als common sense über die Scottish Enlightement771 eine gesamteuropäische Karriere im 18. und 19. Jahrhundert durchläuft, bis ihn Hegel und Marx unter Weltanschauungsverdacht stellen. Büchner aber appliziert seine evolutionsbiologische Theorie des »Gemeingefühls«, dessen Begriffsgeschichte eine ganz andere, gleichwohl wechselvolle Karriere seit dem späten 18. Jahrhundert – und d. h. seit der Schrift Johann Christian Reils

|| 764 P II, S. 12218/MBA VIII, S. 7618; sowie Müller 1833/34, S. 777. 765 P II, S. 23231 sowie S. 23433: »Was die Lebensgeister anbelangt, so können dieselben reichlicher oder spärlicher vorhanden sein, aus feineren oder gröberen Teilen bestehen, mehr oder weniger bewegt, und endlich mehr oder weniger gleichartig sein, […].« 766 Vgl. hierzu jedoch präzise Röd 31995, S. 133f.; Boenke 2005, S. 215ff. 767 P II, S. 23325/MBA IX.2, S. 9323. 768 Vgl. hierzu Descartes 1968, S. 94–96 (De Homine); Descartes 1990, S. 90 (Discours de la Méthode V, 9); Descartes 2005, S. 604ff. (Principia IV, § 190). 769 Descartes 1990, S. 90; vgl. hierzu aber Kutzer 1998, S. 145–155. 770 Descartes 1990, S. 91. 771 Vgl. Röd 1984, S. 371ff. sowie Klemme 2003.

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Über das Gemeingefühl von 1794772 – durchlaufen hatte,773 auf Descartes’ Konzeption. Dass Büchner hier tatsächlich einen in seiner Naturforschung wirksamen Begriff anwendet, zeigt die Probevorlesung, in der es kurze Zeit später heißen wird: Die passive Seite des Nervenlebens erscheint unter der allgemeinen Form der Sensibilität; die sogenannten einzelnen Sinne sind nichts [als] Modificationen dießes allgemeinen Sinnes. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken sind nur die feineren Blüthen desselben. So ergiebt es sich aus der stufenweisen Betrachtung der Organismen. Man kann […] Schritt für Schritt verfolgen, wie von dem einfachsten Organismus [an], wo alle Nerventhätigkeit in einem dumpfen Gemeingefühl besteht, nach und nach besondere Sinnesorgane sich abgliedern und ausbilden.774

Wie bei Reil angelegt, vor allem aber bei Karl Wilhelm Ideler, Bernhard Brach und Carl Gustav Carus weiterentwickelt,775 dient auch bei Büchner der Begriff des Gemeingefühls zur Entfaltung einer evolutionsbiologischen These (vordarwinscher Systematik)776 in sinnespsychologischer Hinsicht: Das Gemeingefühl ist derjenige substanzielle Sinn, aus dem sich im Laufe der Evolution die spezifischeren Formen der Sinnlichkeit modifikativ ausdifferenziert haben, der aber gleichwohl bestehen bleibt – eine These, die neben Reil, Carus und Büchner u. a. auch Joseph Hillebrand und Johann Bernhard Wilbrand vertraten.777 Doch wie schon im Zusammenhang der Neurologie appliziert Büchner auch in diesem Zusammenhang der Vermögenspsychologie evolutionistische Begriffe und Kategorien fälschlicherweise auf Descartes, der vom Gedanken einer (innerweltlichen) Entwicklung der Natur weit entfernt ist; zwar bedient sich Descartes einer Theorie des »sens commun«,778 mit Büchners »Gemeingefühl« hat dieser aber nichts gemein. Es zeigt sich mithin an dieser Stelle, dass Büchner bisweilen auch unangemessen aktualisiert. Noch an einem letzten Beispiel lässt sich Büchners Aktualisierungsinteresse in dieser Vorlesung veranschaulichen. Im Zusammenhang der rekonstruierenden Darstellung der mechanistischen Psychophysiologie aktiver Muskelbewegungen heißt es: Jede Bewegung entsteht dadurch, daß in dem Augenblick, wo durch die Reizung eines Nervenfadens, auf der innern Oberfläche des Gehirns eine Pore sich öffnet, die spiritus animales aus einer entsprechenden Pore der Zirbeldrüse heraus und in die Nerven fahren, wodurch dann die

|| 772 Reil 1794; auch Reil 1807, S. 233f.; vgl. hierzu Schott 1988, S. 185–190, Roelcke 1999, S. 39 sowie Roth 2004, S. 358f. 773 Vgl. hierzu Fuchs 1997, S. 89–102. 774 Roth 2004, S. 467. 775 Bis etwa 1850 gehen die Verwendungen des Terminus auf das reilsche Konzept zurück, vgl. Fuchs 1997, S. 93ff. 776 Vgl. hierzu Breidbach 1986 sowie in Bezug auf Büchner Stiening 1999. 777 Vgl. Hillebrand 1822/23, II, S. 231, Hillebrand 1826, S. 129 sowie Wilbrand 1824, S. 84ff. 778 Vgl. neben der Stelle aus dem Discours de la méthode (Descartes 1990, S. 90) auch De Homine (Descartes 1968, S. 135).

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Muskeln aufgeblasen und die Bewegungen bewirkt werden. (Prevost und Dumas, Zusammenziehung der Nerven!!) dioptric. IV. § 5, de homine § 19–26, ferner § 90, 91.779

In dieser Passage, die nach den passiven Reaktionsformen des nervösen Organismus dessen aktive Bewegungsweisen zu bestimmen sucht,780 zeigt sich erstens, dass der Vortragende in den ausformulierten Vorlesungstext kurze Notizen einfügte – deren rhetorische Bedeutung hier durch die zwei Ausrufungszeichen markiert werden –, auf die er im Vortrag vermutlich im freien Referat zurückkommen wollte. Klar ist durch diese Verwendung zweitens, dass Büchner die Studie von »Prevost und Dumas« so gut kannte, dass er sie aus dem Gedächtnis referieren konnte.781 Und drittens ist ersichtlich, dass Büchner erneut mit den Ergebnissen neuerer Naturforschung die cartesische Philosophie zu erläutern hoffte, et vice versa. Dabei bezieht sich Büchner an dieser Stelle entweder auf eine in den 1820er Jahren Aufsehen erregenden Studie des Neuroanatomen und Arztes Pierre Prévost und des nachmaligen Chemikers Jean-Baptiste Dumas, denen im Jahre 1823 gelang, mechanische, elektrische und chemische Enervationen des Muskels, die anschließenden Kontraktionen und deren spezifische Erscheinungsform (»le zigzag«782) unter dem Mikroskop zu visualisieren.783 Oder Büchner bezieht sich auf deren ins Deutsche übersetzte Studie zur Biochemie des Blutes und Harnes in ihrem Zusammenspiel mit dem Nervensystem.784 Überhaupt forcierten die beiden französischen Naturforscher in zahlreichen Kooperationsarbeiten die sich allererst formierende experimentelle Biochemie.785 Büchner geht es mit dieser als mündlichen Hinweis geplanten Notiz um empirische Verifikationen der mehr spekulativen bzw. unter ganz anderen technischen Voraussetzungen erfolgten neurologischen Theorien Descartes’. Bemerkenswerter Weise bezieht er sich hierfür auf den von ihm ansonsten gemiedenen Zweig der empirischen Biochemie. Mit einem längeren Zitat aus der Endpassage von De homine,786 in der Descartes die mechanistische Konzeption seiner Anthropologie unter Aufbietung des Uhrengleichnisses wiederholt, das »Organ des Senus communis« erneut thematisiert787

|| 779 P II, S. 23533–2363/MBA IX.2, S. 9526–31. 780 Zur Unterscheidung von actions und passions der Seele und des Körper in den Passions de l’Âme sowie zu deren Leistungsfähigkeit vgl. Boenke 2005, S. 244ff. 781 Diese eindeutig als Quelle der büchnerschen Naturwissenschaft zu bewertende Studie ist allerdings der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung zu Büchner unbekannt; vgl. Döhner 1967, S. 72–74 sowie Roth 2004, S. 44–47, MBA VIII, S. 253f., die die gesichert von Büchner gelesene Literatur nennen, ohne einen Bezug auf obige Studie von Prévost und Dumas herzustellen. 782 Vgl. Prévost u. Dumas 1823, S. 39. 783 Ebd., S. 36–38. 784 Vgl. Prévost u. Dumas 1823a, S. 301–307. 785 Vgl. Rotschuh 1968a, S. 218–220. 786 Vgl. Descartes 1968, S. 135f. 787 Ebd., S. 135.

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und explizit animistische oder vitalistische Programme zurückweist, beschließt Büchner diesen ambitionierten Vorlesungsteil.

2.2.2.5 Widerlegungslust: Büchners Rekonstruktion der Objectiones Wie schon erwähnt, bietet der kurze biographische Abriss, den Büchner nunmehr anschließt, wenig eigenständige Reflexionen. Nahezu vollständig werden die Ausführungen Tennemanns übernommen.788 Grundlegend anders verhält es sich jedoch mit dem nachfolgenden Abschnitt, den Büchner einer ausführlichen Darstellung der Objectiones widmet, d. h. den Einwänden gegen die Meditationen, die namhafte philosophische Zeitgenossen – unter ihnen Hobbes, Gassendi und Arnauld – formulierten. Auch Descartes’ Erwiderungen werden von Büchner referiert. In keinem der Kontexte und nur in Ansätzen in Büchners Quelle Tennemann wird dieser wissenschaftlichen Kontroverse so viel Aufmerksamkeit gewidmet.789 Zwar betont Tennemann ausdrücklich: »Diese Urtheile sind mit den Antworten des Cartesius ein sehr wichtiges Actenstück.«790 Dennoch fehlt seiner Darstellung791 nicht nur der büchnersche Umfang, sondern auch die Leidenschaft in der Offenlegung der zeitgenössischen Einwände gegen diese Philosophie und ihre systematische Dignität. Zu Recht stellte schon Henri Poschmann fest: Von hier an setzt sich Büchner selbständig mit den Einwänden der Kritiker (objectiones) und den Erwiderungen Descartes’ auseinander. Der Vergleich mit dem Bericht Tennemanns (Bd. 10, S. 267–281) darüber macht das deutlich.792

Tatsächlich ist Büchners Text nicht nur in formaler Hinsicht eigenständig, weil er die Einwände autorenzentriert abhandelt, während Tennemann systematisierend kompiliert, sondern auch in materialer Hinsicht entschiedener als Tennemann. Für Büchner sind diese Einwände weitgehend zutreffend und daher für die philosophische und philosophiehistorische Wertung des Cartesianismus vernichtend: Schon mit seinem ersten Auftreten war es [das System des Cartesius] halb vernichtet durch die objectiones; es ist sonderbar, daß ein so scharfer Denker wie Cartesius sein System nicht lieber änderte, als es so gab in seinen Fetzen mit den Messern, die es zerschnitten hatten.793

Dennoch bleibt Büchner eine angemessene Bearbeitung dieser weitreichenden These schuldig; die Einwände der philosophischen und theologischen Zeitgenossen

|| 788 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 200–216. 789 So auch MBA IX.2, S. 227. 790 Tennemann 1798–1819, X, S. 267. 791 Ebd., S. 267–281. 792 P II, S. 1009. 793 P II, S. 24120–24/MBA IX.2, S. 10020–23.

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werden schlicht paraphrasiert und nicht in ihrer argumentativen Leistungsfähigkeit gegenüber der cartesischen Argumentation bewiesen. Nur die schon erwähnten massiv abwertenden Urteile über die Erwiderungen des Descartes (»Die Antwort des Cartesius ist erbärmlich«) transportieren jenes anfänglich thetische Urteil über die Bedeutung der berühmten Einwände. Eine tatsächlich angemessene begriffs- und argumentationsanalytische Auseinandersetzung mit den philosophischen Argumenten der Gegner sowie der Erwiderungen Descartes’ oder auch nur eine philosophiehistorische Einordnung bzw. Kontextualisierung der Begründungen und Positionen findet kaum statt. Selbst die Tatsache, dass sich die Einwände und Erwiderungen nahezu ausschließlich auf den ersten grundlegungstheoretischen Teil zur Erkenntnistheorie und Metaphysik beziehen, wird von Büchner nicht reflektiert oder kommentiert. Dennoch gibt es einige markante Passagen, die ein Licht auf Büchners methodisches und systematisches Selbstverständnis als Philosophiehistoriker sowie sein Interesse an einer ausführlichen Darstellung dieser Kontroversen werfen: Dazu zuhört zunächst, dass das Argument der Zirkularität von cogitoBeweisgang und Gottesbeweis nicht nur von Tennemann übernommen, sondern schon bei Mersenne und Arnauld ausgeführt wurde. Büchners ausführliche mehrfache Darstellung dieses Zirkel-Vorwurfes dient offensichtlich der Bestätigung der eigenen Analyseergebnisse. Darüber hinaus ist von nicht unerheblicher Auffälligkeit, dass Büchner zwar die eher historisierenden Einwände des Theologen Johann Cater gegen die Gültigkeit des ontologischen Gottesbeweises, den schon Thomas geführt und widerlegt habe, unkommentiert lässt, während er auf den Nominalisten und Materialisten Thomas Hobbes nachgerade einschlägt: Im Ganzen hat Hobbes in seinen Einwürfen, deren 16 an der Zahl sind, wenig Scharfsinn gezeigt, ich habe die unbedeutenden übergangen, in denen er von Cartesius meist gut abgefertigt ist worden.794

Noch ein weiteres Mal bezieht Büchner in dieser Kontroverse zwischen Hobbes und Descartes explizit die Position des ansonsten so gescholtenen Rationalisten, der »ihn [d. i. Hobbes] in seiner Antwort ganz gut zurecht« gewiesen habe.795 Gegenüber Hobbes, dessen kritische Argumente ihre Leistungsfähigkeit aus einem konsequenten Materialismus beziehen,796 ist selbst der ›erbärmliche‹ Descartes noch zu verteidigen. Letztlich zeigt sich an der umfangreichen Darstellung der Kontroverse zwischen Descartes und Gassendi, dass Büchner noch im Zusammenhang der zumeist nur paraphrasierten Objectiones an bestimmten, ihn interessierenden Passagen syste-

|| 794 P II, S. 24716–1/MBA IX.2, S. 10434–36. 795 P II, S. 2458/MBA IX.2, S. 1034. 796 Vgl. hierzu u. a. Stiening 2005a.

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matische Fragen klärt bzw. Lernstoff entdeckt, so in Bezug auf das von Gassendi kritisch gegen Descartes gewendete Verhältnis von Sein, Nichts und Vollkommenheit.797 Dieser Problemkomplex, der schon in Danton’s Tod und im Grundsatz des a nihilo nihil fit reflektiert wurde, wird von Büchner an dieser Stelle wie folgt zusammengefasst: Außerdem ist die Existenz keine Vollkommenheit, sondern sie ist nur das, ohne welches es keine Vollkommenheit geben kann. Denn das was nicht ist, ist weder vollkommen noch unvollkommen. (Was nicht ist, ist weder vollkommen noch unvollkommen. Nichtsein ist also keine Unvollkommenheit. Also ist Sein keine Vollkommenheit.)798

Unübersehbar ist der in Klammern gestellt Zusatz ein eigenes Reflexionsprodukt Büchners, nicht nur weil ostentativ die vorherige These von der Indifferenz der Inexistenz gegenüber Vollkommenheit und Unvollkommenheit wiederholt wird, sondern weil Büchners (unzulässiger) Schluss von der Existenz auf das Sein bei Gassendi nicht vorgeprägt ist. Was Büchner offenbar beeindruckt und zur eigenständigen Reflexion anregt, ist die Möglichkeit, Sein und Nichts gegenüber der Kategorie der Vollkommenheit indifferent zu setzen; im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Spinozas Gottesbegriff wird dies noch von Bedeutung sein,799 weil sich eine systematische Überflüssigkeit bzw. semantische Nichtigkeit des Begriffs der Vollkommenheit mit dieser Argumentation abzeichnet. Bei einem Blick auf die Kontexte zeigt sich aber auch, dass Büchners weitgehend paraphrasierende Darstellung der Objectiones hinter der philosophischen Auseinandersetzung mit dieser Kontroverse u. a. durch Feuerbach durchaus zurückbleibt. Feuerbach hatte nämlich in analytischer Schärfe bezüglich der Kritik des cogito-Arguments durch Gassendi festgehalten: Ganz verkehrt, dem Gedanken zuwider, nur aus dem Standpunkt der gemeinsten Sinnlichkeit geschöpft ist der Einwurf Gassendis, daß C., um zu beweisen, daß er sei, keinen solchen Spektakel und Aufwand zu machen gebraucht habe, er hätte dies aus jeder andern Handlung ebensogut beweisen können, da alles, was handelt, notwendig auch sei. Wenn C. freilich, wie sich Gassendi vorstellt, weiter nichts zu beweisen gehabt hätte als seine Existenz, die Existenz des einzelnen, empirischen Subjekts, nicht aber die Existenz des Geistes, keine andere Existenz als eine sinnliche, empirische, die Existenz der Erscheinung, aber nicht eine reelle, unbezweifelbar gewisse, die nur eine solche sein kann, welche mit dem selbst unbezweifelbar Gewissen, dem vom Geiste Unabsonderlichen, den ihm Eigensten, dem Denken, eins ist, so hätte G. recht.800

|| 797 Vgl. Descartes 1972, S. 296–300. 798 P II, S. 26123–28/MBA IX.2, S. 11536–1161. 799 Vgl. P II, S. 29123–25/MBA IX.2, S. 1217f.. 800 Feuerbach 1990, S. 192.

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Dass Gassendi in seiner Verwechslung von empirischem und rationalem Ich aber unrecht hatte, daran lässt Feuerbach keinen Zweifel; Büchner aber kann diese analytische Kritik an Gassendis Vorwürfen nicht entwickeln, weil er selbst zur Indifferenz im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen rationaler und empirischer Psychologie neigt, wie oben schon gezeigt wurde. Auch wenn es Büchner an der analytischen Wucht dieser feuerbachschen Interpretation mangelt, kann es als sein Verdienst im Rahmen der epistemischen Situation der Philosophiegeschichtsschreibung der 1830er Jahre angesehen werden, dass er der erläuternden Potenz der Objectiones für eine Rekonstruktion der cartesischen Philosophie, die schon Tennemann betonte, in seiner Vorlesung Rechnung getragen hat.

2.2.2.6 Beschluss I: Büchners Descartes Wie schon angedeutet, schließt sich Büchner nach der weitgehend unabhängigen Darstellung der Objectiones beim Vortrag über die Nachfolger des Descartes wiederum eng an die Ausführungen Tennemanns an, wobei dessen umfangreiche und detaillierte Auseinandersetzung801 durch Büchner erheblich verkürzt wird. Dies gilt auch für die wuchtige, mehr philosophie- als ideengeschichtliche Lozierung Nicole de Malebranches: Im Jahr 1664 fielen ihm die Schriften des Cartesius in die Hände, welche sogleich seinem geistigen Streben die Grundrichtung gaben, indem er auf eine originale Weise den Idealismus, Mystizismus und Supernaturalismus, den Augustinus und den Cartesius vereinigte.802

Auch die kritische Gesamtwürdigung der Philosophie Malebranches basiert auf den Ergebnissen Tennemanns, die Büchner ermöglichen, zum nächsten der von ihm dargestellten Philosophen überzuleiten: Das ganze System des Malebranche läuft eigentlich auf den Pantheismus hinaus, noch einen Schritt und er ist Spinoza, so verschieden auch die Wege sind, die die beiden Denker eingeschlagen haben. Indem er den Körpern die Bewegkraft und den Geistern eigentlich den Willen nimmt und das Denken zu einem ganz passiven Akt macht, vernichtet er ihre Individualität, sie sind nur Schatten und es bleibt wenig mehr zwischen ihnen und den Akzidenzien des Spinozismus.803

Mit einer philosophiehistorischen These, die die Philosophie Malebranches an der Schwelle des Spinozismus wähnt,804 nachdem Büchner schon Malebranches Okka-

|| 801 Tennemann 1798–1819, X, S. 317–374. 802 P II, S. 27211–15/MBA IX.2, S. 1233–7; vgl. hierzu Tennemann 1798–1819, X, S. 318f. 803 P II, S. 27828–35/MBA IX.2, S. 12733–39. 804 Vgl. hierzu auch Hegel 1986, XX, S. 197.

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sionlismus als konsequente Weiterentwicklung des Cartesianismus interpretiert hatte, endet dieser Vorlesungsteil zur Philosophie Descartes’ und seiner Schule. Mit diesen Überlegungen zum gleichsam geschichtsphilosophischen Verhältnis von Cartesianismus und Spinozismus schlägt Büchner ein Thema an, das in den philosophiehistoriographischen Debatten der 1820er und 1830er Jahre häufig und kontrovers diskutiert wurde;805 nachgerade berühmt wurde die These Heinrich Christoph Wilhelm Sigwarts, dass Spinoza genau da einsetzte, »wo des Cartes endete«.806 Selbst Heine vertrat diese These einer engen systematischen Verbindung zwischen Descartes und Spinoza.807 Eine systematische oder philosophiehistorische Zusammenfassung dieses Abschnitts erspart sich Büchner und doch lässt sich eine spezifische Kontur seines Descartesbildes, der Arbeits- und Reflexionsgenese sowie seiner methodischen und systematischen Position als Philosophiehistoriker festhalten: Das sowohl im Hinblick auf seine Quellen als auch im Vergleich zu den kontextuellen Referenztexten zur Philosophiegeschichte der Frühen Neuzeit Auffälligste dieser Vorlesung ist sicherlich die kritische, bisweilen ausfällige Haltung zur Philosophie Descartes’. Dieser Stil hat jedoch weniger mit Büchners Versuchen einer Anknüpfung an den Essayismus Heines, mit dem der Fachhistoriker Büchner nicht konkurrieren wollte, sondern mit der noch geringen Erfahrung des angehenden Dozenten zu tun. Diesen Dilettantismus des Anfängers zeigt auch die Tatsache der deutlich sich ändernden Stellung zu den Interpretationsergebnissen Hegels und Hothos in Bezug auf den Status des cogito-Arguments, die sich im Laufe der Vorlesung grundlegend wandelt, was nur als Zeichen der noch in dieser Reinschrift geleisteten Reflexionsarbeit Büchners gewertet werden kann. Auch die zunächst starke, dann nachlassende und schließlich abbrechende Anbindung an die Ergebnisse Johannes Kuhns müssen als Zeichen von Büchners noch unklarer Orientierung in Disziplin und Lehrform der Philosophiegeschichte betrachtet werden. Dennoch ist die Strukturierung der gesamten Vorlesung zu Descartes nach Erkenntnistheorie und Metaphysik, Naturphilosophie, Anthropologie, Biographie, Objectiones und Nachfolgern nicht nur professionell und den Standards der Zeit entsprechend. Im Zusammenhang der Vorstellung der Anthropologie und Psychologie erweist sich Büchner mit seinen Bezügen zur zeitgenössischen Naturforschung gar als originell und innovativ. Hans Mayers lange tradiertes Urteil, dass die Descartes-Vorlesung »nirgends eigentlich über die Selbstverständigung oder lehrhafte Wiedergabe von Descartes’ Gedanken hinaus« gegangen sei,808 muss also revidiert werden. Das zeigte sich auch bei Büch-

|| 805 Vgl. Schneider 1999, S. 264ff. 806 Sigwart 1816, S. 85. 807 Heine 1976, V, S. 563. 808 Hans Mayer 1972, S. 358f.; vgl. noch Hauschild 1993, S. 528; Glebke 1995, S. 19 und Hauschild 2 2004, S. 126ff.

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ners Rekonstruktion der Objectiones, die in dieser detaillierten und kritischen Form auch bei Tennemann unerreicht blieb. Insgesamt ist Büchners Descartes-Vorlesung trotz seiner innovativen Momente uneingeschränkt in die durch Tennemann inaugurierte Tradition von Philosophiegeschichtsschreibung zu lozieren. Das unterscheidet sie von den idealistischen Kompendien der 1830er Jahre ebenso wie von der in Frankreich ausgeübten Form einer kulturkritischen Ideenhistoriographie. Trotz des Straßburger Umfelds kann im Zusammenhang der Philosophiegeschichte von einem Einfluss der französischen Forschung auf Büchner nicht gesprochen werden, was sich allein an der Tatsache ablesen lässt, dass Büchner nicht auf Cousins neue Descartes-Ausgabe von 1822 bis 1824,809 sondern auf ältere Textausgaben zurückgreift.810 Grundsätzlich aber muss Büchner ein Mangel an historiographischem Verständnis seiner Reflexionsarbeit zugeschrieben werden. Wie für seine Dramenfigur Thomas Payne in Danton’s Tod Spinoza, so ist für den Büchner dieser Vorlesungsskripte Descartes vor allem ein systematischer Gegner, den es zu widerlegen gilt. Dieses Interesse am Nachweis von Widersprüchen und Unzulänglichkeiten zielt weniger auf den allgemeinen Rationalismus811 als vielmehr auf die Gottesinstanz und die mechanistische Anthropologie im System des Cartesianismus.812 Die Beweisgänge zur Existenz Gottes sucht Büchner in allen Varianten energisch zu widerlegen. Offenbar erkennt er in dieser Form rationaler Theologie einen für seine eigene Position ernstzunehmenden Gegner. Das gilt in gleichem Maße für die mechanistische Anthropologie, der er keinerlei Fundierungsfunktion für die Naturforschung seiner Zeit zuschreibt. Zumindest die systematische Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen wird auch die Spinoza-Vorlesung prägen.

|| 809 Zum Kontext der Descartes-Rezeption im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts und der cousinschen Descartes-Ausgabe vgl. Schneider 1999, S. 183 sowie Zijlstra 2005, S. 147ff. 810 Vgl. hierzu P II, S. 956. 811 So aber Vietta 1979, S. 421ff.; Vollhardt 1991, S. 199; Vietta 1992, S. 134 und Knapp 32000, S. 31f. 812 Vgl. auch Hans Mayer 1972, S. 350, der zu Recht betont, dass Büchner »immer wieder das Gottesproblem in den Mittelpunkt seines Trachtens« als Philosophiehistoriker gestellt habe, dies aber mit der nachweislich falschen These (vgl. dagegen Mayer 1993) in Verbindung bringt, dieses Interesse generiere aus der Enttäuschung als Sozialrevolutionär. Es scheint mir auch keineswegs erforderlich zu sein, als Revolutionär oder politisch Handelnder enttäuscht worden zu sein, um ein philosophisches Gottesproblem zu reflektieren.

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2.2.3 Das Spinoza-Skript813 Das insgesamt 120 Seiten umfassende Manuskript zur Philosophie Spinozas814 besticht durch eine gegenüber der Descartes-Vorlesung grundlegend geänderte Methode für die analytische Darstellung der Werke des Rationalisten. Hatte Büchner dort seine Reflexionen mit einer hermeneutischen These zur Differenzierungsnotwendigkeit zwischen esoterischem und exoterischem Beweisgang begonnen und anschließend das cartesische System unter Bezug auf verschiedene Texte rekonstruiert, so setzt er in dieser Vorlesung streng philologisch an, indem er den berühmten ersten Teil der Ethik Spinozas übersetzt und diese Übersetzung an Schlüsselpassagen mit Kommentaren versieht.815 Unverkennbar ist hierbei erneut Tennemann als Vorbild wirksam geworden, hatte dieser doch ebenfalls die Definitionen und Axiome sowie die ersten 15 Lehrsätze dieses ersten Teils der Ethik übersetzt. Büchner kam hiermit auch einer methodischen Maxime der professionalisierten Philosophiegeschichtsschreibung nach, die Herbart in seiner Allgemeinen Metaphysik wie folgt formuliert hatte: Dringend müssen wir dem Anfänger [...] anempfehlen, die Ethik des Spinoza zu lesen; und sich nicht bloß auf Jacobis Darstellung von derselben zu verlassen.816

Büchner übersetzt das gesamte erste Buch des Hauptwerkes Spinozas.817 Dabei können schon dieser Übersetzung einige Spezifika entnommen werden:818 Einerseits bedient sich Büchner bisweilen Übertragungen, die dem Original in besonderer Weise nahekommen. Andererseits lassen sich auch fehlerhafte819 oder entstellen-

|| 813 Zum Folgenden vgl. auch die – wenngleich mehr philosophie- als wissens- und ideengeschichtlich ausgerichtete – Studie von Stiening 2000–04. 814 Vgl. hierzu P II, S. 926; diese Zahl ergibt sich allerdings nur durch die in HA noch teilweise integrierte Auslagerung zweier Exzerpte zu Spinoza aus Tennemann und Herbart, vgl. P II, S. 613– 624. 815 Die in MBA IX entworfene Zerstückelung der Vorlesung aus textgenetischen Gründen wird hier nicht mitvollzogen; kein Wort nämlich verlieren die Marburger Herausgeber zu der Frage, warum denn eine 1835 erarbeitete kommentierte Übersetzung der Ethik nicht Teil der Vorlesung im Jahre 1836 sein sollte, zumal vor dem Hintergrund der methodischen Vorgaben Tennemanns eigene Übersetzung gewünscht waren; zur Kritik hieran schon Stiening 2013b. 816 Herbart 1828, I, S. 160; vgl. dazu auch das Postulat des eigenständigen Quellenstudiums durch die Göttinger Schule und Tennemann, dargestellt bei Schröpfer 1994, S. 221ff. 817 Die Texte Spinozas werden nach den in der Forschung üblichen Abkürzungen und den im Literaturverzeichnis angegebenen modernen Ausgaben zitiert, d. h. die Ethica als ETH, der Tractatus intellectus emendatione als TIE und der Tracatus theologico-politicus als TTP. 818 Vgl. auch, wenngleich in anderer Einschätzung, P II, S. 958. 819 So unterläuft dem Übersetzer bei der Anmerkung zu Lehrsatz 8 eine folgenschwere falsche Kasuszuordnung, wenn er »cum finitum revera sit ex parte negatio & infinitum absoluta affirmatio existentiae alicuius naturae« überträgt mit »Da die Endlichkeit eine Verneinung, die absolute Un-

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de820 Übersetzungen verzeichnen. So meint Büchner die wichtige Bestimmung des intellectus, d. h. des Verstandesvermögens bei Spinoza, durchgehend mit dem Terminus Vernunft übersetzen zu können.821 Auch die Kategorie des »in se esse«, deren konstitutive Bedeutung Büchner erfasst und kritisch analysiert,822 wird im Text des Beweises von Lehrsatz 5 mit »Sein an und für sich« übertragen.823 Insgesamt muss der büchnerschen Übersetzung – insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ihm mit der äußerst präzisen tennemannschen Übertragung der Ethik bis zum Lehrsatz 15 eine textnahe Vorgabe zur Verfügung stand824 – ein fehlerhafter und vorläufiger Charakter attestiert werden.825 Dennoch liegt in dem Sachverhalt, dass sich Büchner überhaupt der Anstrengung einer Übersetzung aussetzte, ein wesentlicher Aspekt des Skripts, weil er ein zentrales methodisches Postulat der philosophiehistorischen Wissenschaften nach exakter Textexegese erfüllte.826 Das gesamte Skript zu Spinoza enthält jedoch weit mehr als diese Übersetzung und Kommentierung von ETH I. Insgesamt lässt sich diese Vorlesung in drei Abschnitte untergliedern. Dabei macht den ersten Teil jene eigenständige Übersetzung und abschnittsweise Kommentierung des ersten Buches der Ethica, ordine geometrico demonstrata Baruch de Spinozas aus.827 Den zweiten Teil konstituiert eine analytische Darstellung des Tractatus de intellectus emendatione,828 den Büchner als »Wissenschaftslehre« Spinozas bezeichnet, die der Metaphysik der Ethik zugrunde

|| endlichkeit aber die Affirmation der Existenz einer Sache ist.« (P II, S. 28614–16). Bedeutsam ist insbesondere das Fehlen der Partialität der Negation sowie die verfehlte Zuordnung des Adjektivs »absoluta« zur Unendlichkeit. Büchner erkennt offenbar nicht, dass Spinoza mit dieser Bestimmung den Begriff der omnitudo realitatis näher erläutert. 820 Zweimal lässt Büchner die sicherlich schwer zu interpretierende Einschränkung von »extra intellectus« in prop. 4 und prop. 8, scholium stillschweigend unübersetzt. 821 So bei der Übersetzung von def. 4 (P II, S. 28023/MBA IX.2, S. 518f.) und bei einer Paraphrase aus dem TTP: »Da die Vernunft (intellectus) [...].« (P II, S. 33026). Einmal nur (P II, S. 3494f.) verwendet er im Rahmen einer Paraphrase einer tennemannnschen Paraphrase von § 107 des TIE (vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 418f.) die richtige Übersetzung. Daraus lässt sich schließen, dass dem angehenden Philosophiehistoriker Büchner die durch Kant kanonisierte Differenz von Verstand und Vernunft offenkundig nicht (mehr) geläufig war; auch wenn er sie schon 1834 (vermutlich mit Hillebrand) verwendet hatte; kanonisiert ist diese Unterscheidung schon in den 1790er Jahren, und dies nicht nur – wie das Beispiel Schillers zeigt – innerhalb der Philosophie. 822 Vgl. dazu seine Argumentation in P II, S. 29126–28/MBA IX.2, S. 1243–46. 823 Zur Formulierung eines »Seyn[s] an und für sich« für die Kategorie des »in se esse« vgl. auch Sigwart 1816, S. 83. 824 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 425–438. 825 Anders dazu MBA IX.2, S. 214f., die selbst die Abweichungen zum Falschen als »wohldurchdacht« bewertet. 826 Vgl. Tennemann 1798–1819, I, S. XLVIff.: »Quellen und ihre Benutzung«. 827 P II, S. 2801–32822. 828 Ebd., S. 32823–35019.

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liege.829 Der dritte, kürzeste und offenkundig unabgeschlossene Teil830 besteht aus dem Versuch einer Zusammenfassung der »Grundgedanken«831 Spinozas sowie zwei Exzerpten aus Tennemann und Herbart. Büchner bemüht sich in diesem Abschnitt um eine allgemeine Bestimmung und Bewertung des Verhältnisses von »Wissenschaftslehre und Metaphysik« sowie abschließend der Systematik der gesamten spinozanischen Philosophie. Dass gerade in diesem Teil der Vorlesung eine biographische Skizze gänzlich fehlt, auf die kaum einer der kontextuellen Referenztexte verzichten will, weil im Falle Spinozas theoriewirksame Momente des Lebenslaufes auszumachen seien,832 dokumentiert den tatsächlich unabgeschlossenen Charakter dieses Skripts. Darin ist Thomas Michael Mayer also zuzustimmen, dass Büchner die Exzerpte vermutlich kurz vor der Abreise nach Zürich im Oktober 1836 anfertigte, weil er – »selbst nicht im Besitz von Tennemanns und Herbarts Werken« – diese für die weitere Bearbeitung seiner Vorlesung dringend zu benötigen meinte.833 Für alle drei Teile sind zunächst folgende allgemeine Charakteristika festzuhalten: Auch Büchners Spinoza-Vorlesung ist in erheblichem Maße durch die SpinozaStudie Wilhelm Gottlieb Tennemanns geprägt, die dieser in Band 10 seiner Geschichte der Philosophie ausgeführt hatte.834 Allein dieser positive Bezug auf Tennemanns Spinoza-Interpretation unterscheidet ihn u. a. von der kurz zuvor erschienenen Philosophiegeschichte Feuerbachs, der im Rahmen seiner Spinoza-Darstellung mehrere Male eine deutliche Kritik an Tennemann zur Erläuterung des eigenen Standpunktes einstreut.835 Über die Prägungen durch Tennemann hinaus sind geringere Einflüsse Kuhns, Herbarts und Kiesewetters nachzuweisen, wobei die Heterogenität und Veränderung, die diese Einflüsse im Descartes-Skript hervorbrachten, nicht mehr zu erkennen sind. Vielmehr zeichnet sich die Spinoza-Vorlesung durch eine größere konzeptionelle und systematische Geschlossenheit aus. Durch die spezifische Auswahl, die Büchner aus den Analyse- und Interpretationsergebnissen Tennemanns, Kuhns und Herbarts tätigte, kann anhand der systematischen Anordnung sowie einiger eigen-

|| 829 Den Terminus »Wissenschaftslehre« (P II, S. 3349f., S. 34024, S. 34027, S. 35020 u.ö/MBA IX.2, S. 13531, 15131 u. ö.) übernimmt Büchner vermutlich aus der Schrift Kuhns von 1834, S. 16, S. 19. u.ö. Vgl. aber auch schon Hillebrand 1819, S. 526ff., der den Terminus auf Descartes (S. 526), Spinoza (S. 529) und Leibniz (S. 535) anwendet. 830 P II, S. 35020–35236 u. S. 613–624; die Entscheidung des Herausgebers Henri Poschmann, die Exzerpte aus Tennemann und Herbart in den Anhang zu verbannen, scheint mir verfehlt, weil sie den (unabgeschlossenen) Bearbeitungszustand der Spinoza-Vorlesung nicht angemessen dokumentiert und so den dritten Teil des Manuskripts auseinanderreißt; ähnlich MBA IX.2, S. 157ff. 831 P II, S. 3513/MBA IX.2, S. 15215. 832 Vgl. Erdmann 1933, S. 47–53; Hegel 1986, XX, S. 158–161; Feuerbach 1990, S. 301–306. 833 Mayer 1995–99a, S. 319 sowie MBA IX.2, S. 228. 834 Tennemann 1798–1819, X, S. 374–495. 835 Vgl. Feuerbach 1990, S. 310, S. 324 u. ö; zu Hegels ambivalenter Stellung zu Tennemann vgl. Hegel 1986, XIX, S. 145 sowie Stiening 2005, S. 219ff.

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ständiger Thesen das besondere Argumentationsziel bei seiner Beschäftigung mit Spinoza herausgearbeitet werden. Grundsätzlich lässt sich zeigen, dass sich Büchner den entscheidenden Prämissen der erst jungen Disziplin der Philosophie als historischer Wissenschaft stärker als in den Descartes-Skripten unterwirft, indem er um eine bewertungsfreie Analyse und Darstellung836 der spinozanischen Systematik bemüht ist.837 Zwar ist auch diesem Text ein Widerlegungsgestus zu eigen:838 Mehrfach meint Büchner einen »Widerspruch« in der Argumentationsbewegung feststellen zu können;839 auch lassen sich erneut rüde Bewertungen der Argumentationsleistungen Spinozas nachweisen.840 Dennoch bewegt sich die kritische Auseinandersetzung im Rahmen der Vorgaben zeitgenössischer Forschung841 und gefällt sich nicht mehr in Ausfälligkeiten wie noch gegenüber Descartes. Für den angehenden Dozenten der philosophischen Fakultät der Züricher Universität ist die wissenschaftlich exakte Beschäftigung mit Spinozas Philosophie durch präzise und differenzierte Texterfassung mit Hilfe von Übersetzung und Stellenkommentar jedoch nicht primär oder gar ausschließlich historiographisch ausgerichtet, sondern erneut auch Mittel zur Lösung religionsphilosophischer und wissenschaftstheoretischer Problemstellungen. Wie schon bei Descartes, so überwiegt auch bei Spinoza das systematische Interesse – insbesondere an den Gottesbewei-

|| 836 Zu den methodologischen Vorgaben Tennemanns hinsichtlich einer angemessenen, d. h. wissenschaftlichen Form der Philosophiegeschichtsschreibung vgl. die Studie von Schröpfer 1994, spez. die S. 221ff. angegebenen Zitate. Vgl. auch die oben skizzierte Auseinandersetzung zwischen Erdmann und Feuerbach um angemessene Formen der Kritik am historischen Gegenstand. 837 Daher unterscheidet sich Büchners Spinoza-Betrachtung schon in methodischer Hinsicht deutlich von der Jacobis, der seine Darstellung der Philosophie Spinozas bisweilen ununterscheidbar mit seiner eigenen Philosophie verknüpfte; vgl. hierzu Timm 1974, S. 136–225 oder auch Stolzenberg 2004. 838 Vgl. dazu auch die hinsichtlich des kritischen Impetus, nicht aber bezüglich dessen Gegenstands angemessene Beschreibung von Hans Mayer 1972, S. 359: »Weitaus bedeutsamer dagegen [...] sind jene Hefte, in denen Büchner [...] zur Welt Spinozas findet. Sofort scheint die Temperatur gleichsam verändert. War die Bereitwilligkeit, für den Augenblick Descartes gleichsam nachzudenken, bei Büchner recht groß, so regt sich, bei Spinozas geometrischen Schlüssen, sofort reger Protest. Büchner hat zwar nicht sein ›Klima‹, aber unter fremdem Himmel seine Grundfragen wiedergefunden.« Dass es ausgerechnet die geometrischen Schlüsse nicht sind, die Büchners Protest hervorrufen, soll sich weiter unten noch zeigen; Beise 2010, S. 84f. hat die These vom Widerlegungsgestus zugunsten der Behauptung einer »solidarischen Kritik« verworfen, wobei er den szientifischen Status von Widerspruchsvorwürfen, die Büchner mehrfach erhebt, offenbar verkennt; zudem scheint der einer bestimmten Ideologie entnommene Begriff einer ›solidarischen Kritik‹ in ihrer Leistungsfähigkeit für eine Rekonstruktion philosophiehistoriographischer Arbeit noch zu erläutern. 839 P II, S. 3308f., S. 33017, S. 35013f./MBA IX.2, S. 13214, S. 13221, S. 15125. 840 Vgl. P II, S. 35015–17/MBA IX.2, S. 15126f.: »Überhaupt ist die ganze in dem tractatus de emend. angestellte Untersuchung höchst mangelhaft und zum Teil verworren; […].« 841 Vgl. u. a. Feuerbach 1990, S. 354–359: »Kritische Schlußbemerkung«.

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sen – den historischen Rekonstruktionsanspruch. Im Folgenden sollen die einzelnen Teile der büchnerschen Spinoza-Vorlesung und ihr historiographischer und systematischer Zusammenhang einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden.842 Und wie schon für die Descartes-Vorlesung sollen für diese Betrachtung sowohl Quellen als auch kontextuelle Vergleichstexte der zeitgenössischen SpinozaRezeption herangezogen werden.

2.2.3.1 Kommentierte Ethik: Das Problem der Gottesbeweise Büchners philologisch präzise und hermeneutisch detaillierte Auseinandersetzung mit Spinozas Ethik realisiert sich nicht nur durch Übersetzung, sondern auch durch eigene Anmerkungen zu einzelnen Textpassagen. Dieses Kommentarverfahren enthält unterschiedliche Formen: Neben vereinzelten Randbemerkungen843 und kurzen Verweisen auf andere Texte Spinozas844 sind es erläuternde Fußnoten zu einzelnen Begriffen, die sich mehrfach auch anderer philosophischer Begriffssysteme bedienen. So wird der Begriff der spinozanischen Kategorie »Axiom« in einer Anmerkung wie folgt kommentiert: Kant sagt von den Axiomen, sie seien synthetische Grundsätze a priori, sofern sie unmittelbar gewiß sind. Diese unmittelbare Gewißheit bekommen sie in der Mathematik durch die reine Anschauung, in der Philosophie hingegen erfordert diese Synthesis noch eine Deduktion d. h. eine Darstellung der Befugnis derselben. (Ein Axiom nach Kiesewetter ist ein Satz, dessen Wahrheit unmittelbar erkannt wird, sobald man ihn versteht, und aus dem sich andere Sätze ableiten lassen.)845

Büchner versucht in dieser Randbemerkung die kantische Bestimmung des Begriffes »Axiom« durch ein Zitat aus dem schon erwähnten Logikhandbuch Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetters zu erläutern und auf den spinozanischen Terminus anzuwenden.846 Der Interpret greift für diese nicht unproblematische Begriffsexpli-

|| 842 Vgl. dazu in ersten – allerdings übermäßig hegelianisierenden – Ansätzen Taylor 1995, S. 39– 69: »Georg Büchners’s Concept of Nature and its Relation to the Spinozan Absolute«. 843 So merkt Büchner bei der Übersetzung von ETH. I, def. 2 an der Stelle: »[s]ic cogitatio alia cogitatione terminatur« fragend an, ob das Denken tatsächlich »durch das Denken« begrenzt werden könne (P II, S. 28025/MBA IX.2, S. 541), was er letztlich verneint, wie der weitere Verlauf seiner Argumentation zeigt. 844 Vgl. P II, S. 28127/MBA IX.2, S. 540: Im Rahmen der Übersetzung der schwierigen def. 7 von ETH. I verweist Büchner auf die Cogitata metaphysica. 845 Vgl. dazu P II, S. 28221–29/MBA IX.2, S. 629–33. 846 Büchner zitiert in der Tat direkt aus dem zweiten, die angewandte Logik entfaltenden Teil des Grundrisses: vgl. Kiesewetter 31825, S. 364; übrigens gilt auch hier, wie im Zusammenhang der hypothetischen Vernunftschlüsse, dass Büchner aus vorherigen Ausgaben die wortidentischen Definitionen hat zitieren können; zum »Axiom« vgl. auch Kiesewetter 1796, S. 291.

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kation auch deshalb auf Kiesewetter zurück, weil er bei Tennemann solcherart basale Definitionsarbeit selten vorfinden konnte.847 Zwar zählt diese begriffsdefinitorische Bestimmung tatsächlich zu den u. a. von Tennemann oder auch Erdmann formulierten Aufgaben des Philosophiehistorikers.848 Doch bleibt die Anwendung transzendentalphilosophischer Definitionen auf den Begriff eines rationalistischen Systems deshalb problematisch, weil Spinoza die Synthetizität seiner Grundsätze bestritten hätte, gelten ihm doch – wie später explizit Leibniz – nur analytische Urteile als wahr.849 Auch die These, Axiome könnten durch Anschauung unmittelbare Gewissheit erlangen, musste Spinoza deutlich zurückweisen, bestimmte er doch alle Formen der mit Sinnlichkeit behafteten Vorstellungsformen (mit Ausnahme des amor dei) als grundlegend unzureichend.850 Solcherart begriffsgeschichtliche Differenzierungen bleiben Büchner aber fremd. Den größten und bedeutendsten Teil seiner Bearbeitungsformen machen ausführliche Kommentare zu den Lehrsätzen 5 bis 15 von ETH. I aus. In insgesamt 14 solcher – teils zweizeiliger, teils mehrseitiger – Kommentare entfaltet Büchner seine zumeist kritische Sicht auf die Metaphysik Spinozas. Der Grund für die auffällige Beschränkung der umfangreichen Auseinandersetzung gerade auf diese Theoriestücke aus ETH. I dürfte erneut in dem Einfluss der tennemannschen Interpretation bestehen. Denn für den Gießener Philosophiehistoriker kommt einerseits dem Lehrsatz 5 konstitutive Bedeutung zu, und zwar für das Scheitern des gesamten Systems Spinozas;851 und genau diese Kritik an Lehrsatz 5 und seiner fundierenden Stellung im »metaphysischen System des Spinoza«852 versucht auch Büchner zu begründen. Andererseits beendet Tennemann seine Übersetzung der Ethik mit dem Text des Beweises von Lehrsatz 15 und begründet dies damit, dass bis zu jenem Deduktionsschritt die wichtigsten Bestimmungen geleistet seien, so dass der Rest von Buch 1 auch hinreichend paraphrasiert werden könne.853 Mit dieser auf Tennemanns Einfluss zurückzuführenden Schwerpunktsetzung auf die Analyse und Interpretation

|| 847 Zu den Axiomen der Ethik, deren begriffliche Bestimmtheit nicht erläutert wird, vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 427. 848 Vgl. ebd., I, S. XLVIIf. sowie Erdmann 1932, S. 82ff. 849 Zu Leibniz vgl. Wolff 1986; zu Spinoza vgl. Stiening 2002a. 850 Vgl. ETH. II, prop. 40, schol. 2 (Spinoza 1999, S. 180ff.) sowie Feuerbach 1990, S. 310f.; Bartuschat 1993, S. 97ff. 851 Vgl. dazu Tennemann 1798–1819, X, S. 467. 852 Ebd., S. 462. 853 Ebd., S. 438. Sowohl Tennemann als auch Büchner scheinen hiermit allerdings einem Irrtum aufzusitzen, denn auch für ihre eigene Interpretation müssen sie auf die konstitutiven Lehrsätze 26 und 28 zurückgreifen (vgl. hierzu Schnepf 2006), weil erst in diesen der Versuch einer Ableitung der Endlichkeit aus der unendlichen Substanz unternommen wird. Dem Vorurteil, mit Lehrsatz 15 von Buch 1 sei der Grundzug der spinozanischen Systematik entfaltet, leisten beide Interpreten Vorschub. Vgl. dagegen die Studie von Bartuschat 1993, in der beispielsweise die besondere Funktion des Lehrsatzes 16 präzise herausgearbeitet wird.

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der Lehrsätze 5 bis 15 setzt sich Büchner – ihm selbst nicht bewusst – erneut von den idealistischen Spinoza-Kommentaren der 1830er Jahren ab, die u. a. größten Wert auf eine angemessene Rekonstruktion der Substanz als causa sui legten. Insbesondere dieser Begriff und seine Bestimmung fesselten sowohl Schelling854 als auch Feuerbach;855 sie sahen in ihm eine der bedeutenden Leistungen der Logik und Metaphysik Spinozas. Am deutlichsten ist aber auch hier Hegel: Die erste Definition ist die Ursache seiner selbst. […] Die Einheit des Gedankens und der Existenz ist sogleich von vornherein aufgestellt (das Wesen ist das allgemeine, der Gedanke); um diese Einheit wird es sich ewig handeln. Causa sui ist ein wichtiger Ausdruck. Wirkung wird der Ursache entgegengesetzt. Die Ursache seiner selbst ist die Ursache, die wirkt, ein Anderes separiert; was sie aber hervorbringt, ist sie selbst. Im Hervorbringen hebt sie den Unterschied zugleich auf; das Setzen ihrer als eines Andren ist der Abfall und zugleich die Negation dieses Verlustes. Es ist dies ein ganz spekulativer Begriff.856

Erneut ist Büchner von solchen Überlegungen weit entfernt; schon die Reflexion auf einen Zusammenhang zwischen Gottesbeweis und causa sui-Begriff gelingt ihm nicht.857 Er verbleibt in den von Tennemanns Kantianismus vorgegebenen Bahnen. Die folgende Rekonstruktion der Kommentare zu ETH. I, prop. 5–15 wird diejenigen drei Schwerpunkte der Analyse und Interpretation nachzeichnen, die Büchner selber setzt (prop. 5, prop. 11 und prop. 15), weil diese zugleich drei wesentliche Widerlegungsstrategien ausführen.

2.2.3.1.1 Kommentar zu Lehrsatz 5: Unhaltbar! Büchner beginnt seine kritische Analyse von ETH. I mit der Auseinandersetzung um die in Lehrsatz 5 entwickelte Bestimmung: In rerum natura non possunt dari duae aut plures substantiae ejusdem naturae sive attributi.858

Spinoza verfolgte mit dieser eng mit dem vorhergehenden Lehrsatz 4 verbundenen Bestimmung das gegen Descartes gerichtete Ziel, die Möglichkeit einer Zuschreibung identischer Bestimmungen zu verschiedenen Substanzen auszuschließen.859 Besondere Aufmerksamkeit erhielt dieser Lehrsatz seitdem in vielerlei Hinsicht: Schon Leibniz hat die Konsistenz dieses Theorems mit Nachdruck bestritten.860 He-

|| 854 Schelling 1985, IV, S. 451, S. 453 u. ö. 855 Feuerbach 1990, S. 333–338. 856 Hegel 1986, XX, S. 168; vgl. hierzu auch Düsing 1992, S. 171f. 857 Vgl. hierzu auch die zutreffende Analyse bei Osawa 1999, S. 52. 858 ETH. I, prop. 5 (Spinoza 1999, S. 10). 859 Zur Descartes-Kontroverse gerade in diesem Lehrsatz vgl. Cramer 1977, S. 527–544. 860 Vgl. dazu Leibniz 21966, I, S. 361: »Fünfter Lehrsatz: [...] Hier liegt, wie mir scheint, ein Fehlschluß vor. Denn es können sich zwei Substanzen durch ihre Attribute voneinander unterscheiden

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gel sieht den Gehalt von prop. 5 zwar als Konstituens im Beweisgang zur Einzigkeit der Substanz, bezeichnet den Beweis selber aber als »mühselige, unnütze Quälerei«.861 Feuerbach hält prop. 5 für grundlegend auf dem Weg zum substanziellen Monismus,862 wohingegen Erdmann keine ausführlichen Einlassungen zum Lehrsatz 5 und seiner Stellung im Beweisgang des ersten Teils der Ethik bietet, weil für ihn alle Bestimmungen der Metaphysik schon in den Definitionen und Axiomen enthalten sind.863 Selbst die neuere Forschung zu Spinozas Philosophie hat sowohl die Gültigkeit dieses Lehrsatzes bezweifelt864 als auch seine konstitutive Bedeutung für das Beweisziel des ersten Buches der Ethik, nämlich die Einzigkeit der Substanz Gottes, herauszuarbeiten versucht.865 Büchner ist hier also tatsächlich einem wichtigen Begründungsschritt und -problem der Metaphysik Spinozas auf der Spur. Entscheidend ist, dass die Argumente gegen die Haltbarkeit des Lehrsatzes nicht eine systemimmanente bzw. logische Kohärenzüberprüfung ausführen oder gar die Auseinandersetzung mit Descartes berühren, sondern gewissermaßen ›transzendentalphilosophische‹ Einwände formulieren, die unübersehbar auf den Interpretationen Tennemanns basieren. Zur Widerlegung der Bestimmung einer eindeutigen Zuordnung jedes Attributs zu genau einer Substanz setzt Büchner in zwei Schritten an: Der Satz [d. i. Lehrsatz 5] beweist nur, daß wir 2 Dinge von gleichen Eigenschaften, wenn wir sie successive betrachten (um die Sache von der sinnlichen Seite zu nehmen) nicht von einander unterscheiden können, wir können aber dennoch wissen daß es 2 sind, wenn wir beide zugleich sehen.866

Dieses scheinbar rein empirische Argument rekurriert implizit – vermittelt über Tennemann – auf ein Theorem Kants. Denn dieser hatte im so genannten ›Amphiboliekapitel‹ der Kritik der reinen Vernunft gezeigt, dass ein Gegenstand als Erscheinung, wenn er uns »mehrmalen, jedesmal aber mit ebendenselben inneren Bestimmungen, (qualitas et quantitas), dargestellt wird«, nicht »Ein Ding [...], sondern, so sehr in Ansehung derselben [Erscheinung] alles einerlei sein mag, doch die Verschiedenheit der Oerter dieser Erscheinung zu gleicher Zeit ein genugsamer Grund

|| lassen, und dennoch irgendein gemeinsames Attribut haben, wenn sie nur neben diesem noch andere, ihnen eigentümliche Bestimmungen besitzen: wenn also z. B. der Substanz A die Bestimmungen c und d, der Substanz B die Bestimmungen d und e zukommen.« 861 Hegel 1986, XX, S. 173. 862 Feuerbach 1990, S. 308. 863 Erdmann 1933, S. 55. 864 So Cramer 1966, S. 58 unter Reproduktion des leibnizschen Arguments. 865 Cramer 1977, S. 531: »Lehrsatz 5 kommt somit innerhalb des Gedankengangs, mit dem Spinoza das Prinzip des Spinozismus zu begründen unternommen hat, zentrale Bedeutung zu.« 866 P II, S. 28418–22/MBA IX.2, S. 724–28.

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der numerischen Verschiedenheit des Gegenstandes (der Sinne) selbst« ist.867 Genau diese Ableitung führt auch Büchners These aus, deren Geltung allerdings eingeschränkt wird, da »sich hier aber Alles auf die Substanz allein« beziehe,868 die nach Spinoza der Anschauung unmittelbar nicht zugängig ist. Dass der angehende Philosophiehistoriker tatsächlich auf dieses kantische Theoriestück – und zwar vermittelt über Tennemann869 – zurückgreift, eröffnet der folgende Absatz seines Kommentars, der die Differenzierung von »UnterscheidenKönnen« und »Denken« einer Substanz einführt. Dabei gesteht Büchner zwar zu, dass man zwei Substanzen mit denselben Attributen nicht unterscheiden könne, doch ließen sich solche Entitäten als unterschiedene doch durchaus noch denken. Terminologisch basiert diese Distinktion auf der kantischen Unterscheidung von reiner und empirischer Verstandeserkenntnis, die Tennemann ebenfalls auf den Lehrsatz 5 anwendet, was u. a. von Feuerbach – allerdings kritisch – rekonstruiert wird.870 Doch gelangte Tennemann zu einem von Büchners Ableitung abweichenden Resultat.871 Auf der Grundlage der von Kant im ›Amphiboliekapitel‹872 entwickelten Kritik des leibnizschen Prinzips der Identität des Nichtzuunterscheidenden,873 das zwar für eine reine Verstandeserkenntnis, mithin für die Dinge an sich, nicht aber für den Bereich der Erscheinungen und damit der empirischen Verstandeserkenntnis Gültigkeit habe, meint Tennemann dem Lehrsatz 5 die Kohärenz absprechen zu können: Außerdem liegt auch noch in dem fünften Satze ein anderer Fehlschluß verborgen, der mit dem Wesen des rationalen Dogmatismus ebenfalls sehr enge zusammenhängt, und aus welchem Leibnitzens Grundsatz des Nichtzuunterscheidenden herfloß. [...] Dieser Beweis stützt sich auf den Grundsatz, daß dasjenige, was nicht unterschieden wird, auch nicht verschieden ist und was nicht verschieden ist, eine und dieselbe Sache ist, welches in der Sphäre des Denkens, aber nicht für die Objectenwelt gilt. 874

|| 867 KrV B 319; Hvhb. von mir. 868 P II, S. 28424f./MBA IX.2, S. 739f.. 869 Es darf als gesichert gelten (vgl. Stiening 2000–04, S. 214; Roth 2004, S. 202; Stiening 2005, S. 264; Heinz 2006, S. 249), dass Büchner die kantische Herkunft des tennemannschen Arguments, das er noch einmal direkt zitiert (P II, S. 35212–17), unbekannt war. Trotz der Lektüre der Studie von Kiesewetter 1824 kann eine dezidierte Kant-Kenntnis Büchners ausgeschlossen werden, was schon die fehlende Unterscheidung von Verstand und Vernunft andeutete. 870 Vgl. hierzu Feuerbach 1990, S. 310f. 871 Vgl. dazu die von Büchner (P II, 35217–36/MBA IX.2, S. 15324–40) zitierte Passage aus Tennemann 1798–1819, X, S. 467. 872 KrV B 319f., B 327f., B 337f. 873 Vgl. hierzu auch MBA IX.2, S. 270f. 874 Tennemann 1798–1819, X, S. 467.

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Büchner geht es mit seiner Anbindung an diese tennemannsche Passage, die er in seiner Zusammenfassung gegen Ende der Vorlesung sogar zitiert,875 insbesondere um die Widerlegung eben jenes Übergangs von einem Nicht-Unterscheiden-Können zur daraus abgeleiteten Identitätsbehauptung. Die Unmöglichkeit dieser Ableitung gilt für ihn grundsätzlich, d. h. auch im Bereich reiner Begriffsentwicklungen – ohne Rekurs auf die Eigenständigkeit der Bedingungen sinnlicher Anschauung:876 Spinoza verwechselt das unterscheiden und das sich denken können nach den vorhergehenden Sätzen können wir uns noch immer 2 Substanzen von gleicher Natur von denen jedes durch sich selbst begriffen wird, als nebeneinander existierend denken.877

Nicht nur aufgrund der nur mittelbaren Kenntnis der Kritik der reinen Vernunft, sondern insbesondere aufgrund der vorwiegend empiristischen Perspektive der büchnerschen Argumentation, die schon im Zusammenhang des cartesischen Ego auffällig war,878 dürfte die eigenwillige Anbindung des über Tennemann vermittelten kantischen Arguments zustande gekommen sein. Für Büchner ist mit diesem Einwand allerdings die Gültigkeit des in Lehrsatz 5 entwickelten Theorems aufgehoben und damit die gesamte Systemkonzeption Spinozas brüchig geworden; noch in der Anmerkung zu Lehrsatz 15 hält der Interpret fest: Gibt man einmal Spinoza die Unendlichkeit der Substanz zu, so muß man auch das Übrige zugestehen, diese Unendlichkeit beruht aber auf der 5. Prop. nämlich darauf, daß es keine 2 gleichen Substanzen gäbe, weil man sie nicht voneinander unterscheiden könne, weil sie dann indem sie sich gegenseitig begrenzen in Eins zusammenfließen würden. Dies nicht unterscheiden Können berechtigt aber doch nicht zu dem Schluß, daß es nicht in der Wirklichkeit so sein und daß wir es uns nicht denken könnten. Dies Unterscheiden bezieht sich bloß auf einen körperlichen aber nicht auf einen geistigen Akt, der Geist kann ja noch immer die Trennung machen, wenn es auch das körperliche Auge nicht im Stande ist. Auf dem transzendenten Standpunkte fragt es sich bloß, können wir uns 2 oder mehrere gleiche Substanzen nebeneinander denken und Spinoza gibt keinen Grund an der diese Möglichkeit unmöglich machte.879

Wie ein Teil der Spinoza-Forschung880 des 20. Jahrhunderts schreibt Büchner diesem Lehrsatz 5 aus ETH. I eine aus den Definitionen und Axiomen nicht ableitbare und daher selbst axiomatische Stellung zu, dessen Inkonsistenz das gesamte metaphysische Theoriegebäude zum Einsturz bringe. Mehrfach881 rekurriert er auf die Unhalt|| 875 Vgl. P II, S. 35217ff./MBA IX.2, S. 15324ff.. 876 Hierin unterscheidet sich Büchner wiederum von Kants Argumentation; vgl. KrV B 326f. 877 P II, S. 28435–2852/MBA IX.2, S. 733–37. 878 Vgl. hierzu Büchners Interpretation des cartesischen ›Ich‹ in P II, S. 19237–1935/MBA IX.2, S. 5910–14. 879 P II, S. 30427–3057/MBA IX.2, S. 217–20. 880 Vgl. dazu den Aufsatz von Cramer 1977, S. 531ff. 881 Vgl. P II, S. 2867 u. 12f., S. 29111f., S. 2981, S. 29829–31, S. 30429, u. ö.

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barkeit bestimmter Deduktionen aus der Fehlerhaftigkeit der in Lehrsatz 5 entfalteten Bestimmung: »Da Proportion 5. falsch ist, kann ich auch den aus ihr abgeleiteten Grund nicht anerkennen; [...].«882 Büchners Beweisziel bei der Widerlegung der Konsistenz des Lehrsatzes 5 und der aus ihm deduzierten Bestimmungen liegt unübersehbar in einer Destruktion der spinozanischen Demonstration der Einzigkeit der Substanz (prop. 14 und 15) und der damit verbundenen Existenz Gottes (prop. 11). Diese Betonung der konstitutiven Stellung und Inkonsistenz jenes Lehrsatzes stellt Büchner deutlich in die Tradition der tennemannschen Spinoza-Interpretation, die sich der leibnizschen Einwände in ihrer kantischen Verfeinerung bediente. Von Feuerbach aber, erst recht von Hegel oder Erdmann unterscheidet diese These Büchner jedoch, weil die idealistischen Interpreten an einer Widerlegung der Einzigkeit der Substanz wenig systematisches Interesse haben konnten.883 Doch ebendiese Widerlegung der Beweisbarkeit des Daseins Gottes steht im Zentrum der beiden weiteren thematischen Schwerpunkte von Büchners Analyse.

2.2.3.1.2 Kommentar zu Lehrsatz 11: Das ontologische Argument und das principium rationis sufficientis Dies zeigt sich in den Kommentaren zum Lehrsatz 11 und dessen insgesamt drei Demonstrationen, in denen Spinoza zunächst die Existenz der Gottessubstanz, die an diesem Deduktionsschritt noch nicht als einzige bewiesen sein soll,884 belegt: Deus sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit, necessario existit.885

Spinoza beweist diesen Lehrsatz in drei verschiedenen Ansätzen: Im ersten, apriorischen Beweis bemüht er das ontologische Argument,886 im zweiten beweist er die || 882 P II, S. 29615f./MBA IX.2, S. 1522. 883 Vgl. hierzu u. a. Düsing 1992; Bartuschat 2007. 884 Vgl. dazu Bartuschat 1993, S. 42ff. 885 ETH. I, prop. 11 (Spinoza 1999, S. 20ff.). 886 Vgl. dazu Röd 1977, S. 84–100. Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich darüber diskutiert werden, ob Spinoza in diesem Beweis tatsächlich das ontologische Argument in reiner Form verwendet. Vieles spricht – entgegen der Annahme Röds – dafür, dass Spinoza nicht nur an dieser Stelle den ontologischen Gottesbeweis auf seine Kausalitätskonzeption gründet, wie es hier in ETH. I, prop. 11, demo. 1 durch den Rückgriff auf den Lehrsatz 7, der die apagogische Beweisführung stützen soll, deutlich wird, da in jenem Lehrsatz die Identität von Wesen und Existenz für die Substanz nicht durch den Vollkommenheitsbegriff, sondern mit Hilfe der causa sui begründet wird; vgl. hierzu ausführlich Stiening 2002a. Entscheidend im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch allein, dass Büchner in diesem ersten Beweis von Lehrsatz 11 das ontologische Argument wiederzufinden meint: »Dieser Beweis läuft so ziemlich auf den hinaus, daß Gott nicht anders als seiend gedacht werden könnte.« (P II, S. 29122f./MBA IX.2, S. 1217f.).

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Existenz Gottes aus der uneingeschränkten Gültigkeit einer bestimmten Version des principium rationis sufficientis und im dritten führt er einen aposteriorischen Beleg an, dem er allerdings keine eigenständige Beweiskraft beimisst. Wie schon bei Descartes setzt sich Büchner auch hier dezidiert mit allen drei Beweisen auseinander.887 Dem ontologischen Gottesbeweis entgegnet er mit zwei Argumenten: Zwar sei man »durch die Lehre von dem, was in sich oder in etwas Anderm ist, freilich gezwungen auf etwas zu kommen, was nicht anders als seiend gedacht werden kann«.888 Doch bestehe kein zureichender Grund dafür, »aus diesem Wesen das absolut vollkommne, Gott, zu machen«.889 An dieser Stelle wird deutlich, warum Büchner schon im Zusammenhang der Descartes-Vorlesung den Versuch unternahm, Semantik und Systematik der rationalistischen Kategorie der »Vollkommenheit« zu destruieren.890 Mit ihr zerfiele auch die Möglichkeit für den ontologischen und – so Büchners Spekulation – für jeden Gottesbeweis. Schon aus dieser Anmerkung ist abzulesen, dass Büchner aus der in Axiom 1 entwickelten Subsistenz- und Inhärenz-Theorie Spinozas den Beweis für eine notwendige Existenz abgeleitet sieht, weshalb er im dritten Teil des Manuskripts dieses Axiom als den Anfang des ganzen Systems bestimmt: Das ganze System fängt eigentlich mit dem […] I Axiom an: Omnia, quae sunt, vel in se, vel in alio sunt.891

Darüber hinaus verbindet der angehende Philosophiehistoriker mit dem Begriff der Vollkommenheit ausschließlich die moralische Bestimmungsvariante »des Deismus«, wie er später explizit ausführt.892 Die spinozanische Definition der Vollkommenheit, »[p]er realitatem et perfectionem idem intellego«,893 scheint Büchner entweder nicht zur Kenntnis genommen zu haben894 oder sie als unsinnig zu verwerfen, || 887 Zum Folgenden vgl. schon in Ansätzen Kobel 1974, S. 112ff.; Taylor 1995, S. 56ff. sowie MBA IX.2, S. 266–269. 888 P II, S. 29126–28/MBA IX.2, S. 1243–46. 889 P II, S. 29129f./MBA IX.2, S. 1246. 890 Vgl. hierzu P II, S. 26126–29/MBA IX.2, S. 11540–1162. 891 P II, S. 3514–6/MBA IX.2, S. 15217–20. 892 P II, S. 29524f./MBA IX.2, S. 152f.. 893 ETH. II, def. 6 (Spinoza 1999, S. 100); vor dem Hintergrund dieses einfachen Textbefundes kann es nur irritierend anmuten, dass Morawe 2013, S. 149f. meint: »Das Unendliche lässt sich im Rahmen des spinozistischen Systems beweisen; das Vollkommene nicht.« Spinoza war da anderer Meinung. 894 Und dies, obwohl schon in ETH. I, prop. 11, demo. 3, schol. die Identität von Realität und Vollkommenheit angedeutet wird, wenn Spinoza schreibt: »Res enim, quae a causis externis fiunt, [...] quicquid perfectionis, sive realitatis habent, id omne virtuti causae externae debetur, [...].« (Spinoza 1999, S. 26). Büchner übersetzt diese Passage folgendermaßen: »Denn Dinge, welche von äußeren Ursachen hervorgebracht werden, [...] mögen sie noch so viel Vollkommenheit oder Realität haben,

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weil er schon in der Descartes-Vorlesung eine auch nur mögliche – sei es analytische, sei es synthetische – Verbindung von Sein und Vollkommenheit widerlegt hatte.895 Aussagekräftig an Büchners Fokussierung des Vollkommenheitsbegriffs auf moralische Perfektion ist, dass Spinoza mit der oben zitierten Definition zunächst die omnitudo realitatis meint, die zwar moralische Güte einschließt,896 sich jedoch keineswegs auf diese beschränkt. Das Vollkommenheitsargument im Gottesbeweis bezieht sich bei Spinoza insbesondere auf den Ausschluss aller logischontologischen Negativität aus der Gottessubstanz als absoluter Affirmation897 und steht daher mit dem Satz des Widerspruchs in enger Verbindung; eine Ableitung, die der Kommentator Büchner allerdings nur bedingt nachvollzieht, wenn er zum dritten Beweis von Lehrsatz 11 schreibt: Dieser Satz zeigt, daß das Vollkommne absolut dasein müsse, weil sein Dasein nicht gegen seinen Begriff streitet, während das Unvollkommne oder Endliche sehr wohl als nicht existierend gedacht werden könne. Wolle man also behaupten, das Endliche existiere notwendigerweise so müßte man dies von dem Unendlichen noch viel eher zugeben.898

Büchner geht es bei seiner Auseinandersetzung mit dem spinozanischen Vollkommenheitsbegriff aber nicht um systeminterne Kohärenzüberprüfungen, sondern zunächst und zumeist um die Widerlegung einer Beweisbarkeit der Existenz Gottes als moralisch vollkommener Instanz. Das zeigt sich noch bei einem Kommentar zum dritten Beweis des Lehrsatzes 11, wenn er zum Substanzbegriff Spinozas anführt: Sie [die Substanz] ist für ihn die Weltursache, worin Alles ist; sie ist ewig und unendlich, – aber sie ist nicht Gott, sie ist nicht das absolut vollkommne, moralische Wesen des Deismus, – sie ist nichts anderes als jeder Atheist selbst, wenn er einigermaßen konsequent verfahren will, anerkennen muß.899

|| so verdanken sie das Alles der Kraft der äußeren Ursache« (P II, S. 29417–21/MBA IX.2, S. 1414–17). Diese Übersetzung hat jedoch nicht zu einer angemessenen Bestimmung des spinozanischen Vollkommenheitsbegriffs durch Büchner geführt. 895 Vgl. erneut P II, 26126–29/MBA IX.2, S. 11540–1162; vor dem Hintergrund dieses Befundes muss Henri Poschmanns Versuch (vgl. P II, S. 1027f.), Spinozas praktischen Vollkommenheitsbegriff gegen das angeblich »von Tennemann festgeschriebene idealistisch gefilterte Spinoza-Bild« (ebd., S. 1027) an Büchner anzunähern (auch noch durch die völlig absurde Verbindung dieser perfectioKonzeption Spinozas an »materielle Bedingungsfaktoren«) als in mehrfacher Hinsicht verfehlt bezeichnet werden. Büchner will sich des Begriffs der Vollkommenheit grundsätzlich entledigen. 896 ETH. I, prop. 32 (Spinoza 1999, S. 66ff.). 897 ETH. I, def. 6, schol. u. prop. 8, schol. 1 (Spinoza 1999, S. 6 u. S. 14); zu Gehalt und Bedeutung dieser Negation aller Negativität im ens perfectissimum vgl. Hegel 1986, XX, S. 170ff.; Feuerbach 1990, S. 321; Erdmann 1933, S. 58. 898 P II, S. 29434–2952/MBA IX.2, S. 1426–31. 899 P II, S. 29523–27/MBA IX.2, S. 151–5.

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Anhand dieser Gleichsetzung der auf die Bestimmung der causa prima fokussierten Substanzkonzeption Spinozas mit einem kausal-deterministischen Atheismus soll zunächst nur die Ableitungsmöglichkeit der moralischen Vollkommenheit aus dieser so definierten Instanz destruiert werden. Büchners zweites Argument gegen den gesamten ontologischen Gottesbeweis geht allerdings einen Schritt weiter: Denn als Entgegnung auf die von Spinoza in def. 6 von ETH. I geleistete Bestimmung Gottes führt er das folgende Argument an: Wenn man auf die Definition von Gott eingeht, so muß man auch das Dasein Gottes zugeben. Was berechtigt uns aber, diese Definition zu machen? Der Verstand? Er kennt das Unvollkommne. Das Gefühl? Es kennt den Schmerz.900

Die für das ontologische Argument konstitutive Annahme der absoluten Vollkommenheit Gottes, d. h. seine absolute, alle Negativität ausschließende Positivität,901 wird nach Büchner durch das rational ermittelbare Faktum der Unvollkommenheit und das empirisch wahrnehmbare Phänomen des Schmerzes deshalb problematisch, weil die unendliche Gottesinstanz als causa prima zugleich das von ihr kontradiktorisch Unterschiedene, das Endliche, bewirken können soll.902 Unter der Voraussetzung der schon von Tennemann analysierten wesentlichen Identität von Ursache und Wirkung903 in der Kausalitätskonzeption Spinozas muss daher entweder das vom menschlichen Erkenntnis- und Empfindungsvermögen Ermittelte aufgrund seiner Negativität zum Schein oder aber die Definition Gottes als absolute Vollkommenheit und damit der ontologische Beweis für nichtig erklärt werden. Eben letzteres ist Büchners Intention, dessen spezifische Zielrichtung durch einen Vergleich seiner Argumentation mit der berühmten Aussage Thomas Paynes in dem Philosophengespräch aus Danton’s Tod erkennbar wird: Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr Gott demonstriren, Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus.904

Schon für die Dramenfigur Payne konnte der Verstand nur unter der Prämisse einer Verleugnung des Unvollkommenen Gott beweisen und scheiterte dennoch am Ge-

|| 900 P II, S. 29131–2921/MBA IX.2, S. 1221–27. 901 ETH. I, def. 6, expl. (Spinoza 1999, S. 6). 902 Zu einer ähnlichen Kritik vgl. Schelling 1985, IV, S. 453. 903 Vgl. dazu Tennemann 1798–1819, X, S. 466 u. S. 472ff. 904 P I, S. 5811–16/MBA III.3, S. 4921–25; vgl. dazu auch Kahl 1982, S. 99–125; Forssmann 1992, S. 143ff.; Dedner 2002, S. 304ff. sowie Stiening 2002, S. 54f.

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fühl des Schmerzes, das an einem ›emotionalistischen Atheismus‹ festzuhalten erlaubte. Der wesentliche und für die Bedeutung des Spinoza-Manuskripts konstitutive Unterschied zu Danton’s Tod besteht jedoch darin, dass der Schmerz hier nicht als Beweis der Inexistenz Gottes fungiert, sondern als Beleg der NichtDemonstrierbarkeit dieser Existenz.905 Verstand und Gefühl liefern im Herbst 1836 nur noch Argumente gegen die Berechtigung, d. h. Gültigkeit »diese[r] Definition«, nicht aber gegen die Existenz Gottes selbst. Hinsichtlich der Inexistenz Gottes können jedoch auch sie keinerlei Beweise liefern.906 Als Fels des Atheismus hat das Gefühl des Schmerzes, das gleichwohl grundlegend für die Widerlegung des ontologischen Arguments bleibt, für den Philosophiehistoriker Büchner abgedankt.907 Nicht zufällig wird daher im Woyzeck der »dogmatische Atheist« einer parodistischen Kritik unterzogen.908 Dass diese Argumentation allerdings nicht zur Restitution einer affirmativen Glaubensvorstellung führt,909 bedarf bei dem Furor der Gotteswiderlegung keiner eigenständigen Begründung: Im Spinoza-Skript erweist sich Büchner mithin als emotionalistischer und rationalistischer Agnostizist.

|| 905 Hans Mayer 1972 verhält sich zu dieser Fragestellung eher ambivalent, wenn er S. 349 zunächst formuliert: »Rationale Erkenntnis Gottes oder Atheismus – das eine oder das andere. Eine Teil- oder Zwischenlösung kann es für Büchner nicht geben.« Zugleich behauptet er S. 354: »Büchner selbst verhält sich, bei aller Anteilnahme doch gleichzeitig auch ironisch-reserviert zu seinen streitenden Geschöpfen, die die Gottlosigkeit ›nötig haben‹ wie andere den Gottesglauben.« Vgl. auch Vietta 1979, S. 418 u. S. 425f. 906 Mit der nötigen philosophiehistorischen Sorgfalt – allerdings zum Behuf eines Nachweises der Distanz Büchners zum Atheismus seiner Dramenfigur und damit einer theologischen BüchnerDeutung – hat schon Kobel (1974, S. 111–121; vgl. auch Jancke 31979, S. 250) die systematische Differenz der Argumentationsstrategie beider Passagen herausgearbeitet. Untergegangen sind diese Ergebnisse allerdings in der Forschung, weil die Meinungsführer des polithistorischen Paradigmas, die an Büchners Auseinandersetzungen mit Spinozas rationaler Theologie nur wahrnehmen können, dass er »Spinozas Definition und Beweis Gottes für scholastischen Unsinn« (Mayer 1979b, S. 348) erklärt habe. Aber zwischen emotionalistischem Atheismus und rationalem Agnostizismus ist jene substanzielle Differenz zu konstatieren, die die Argumentationsbewegungen beider Passagen ausmacht. Die Unlust bzw. Unfähigkeit, zwischen Payne und Büchner als Philosophiehistoriker zu unterscheiden, reicht bis in die Kommentare der historisch-kritischen Ausgabe (vgl. MBA III.4, S. 169; MBA V, S. 481; MBA IX.2, S. 268) oder neuere, Büchner als atheistischen Modernitätskritiker beanspruchende Interpretationen, vgl. Morawe 2013, S. 167ff., der den argumentationslogischen Gehalt der Passage schlicht verfälscht. 907 So zu Recht Jancke 31979, S. 250; vgl. hierzu auch die Kritik bei Mayer 1979b, S. 346. 908 P I, S. 19328ff./MBA VII.2, S. 1430ff.; tatsächlich arbeitete Büchner an beiden Texten (SpinozaSkripten, Woyzeck) gleichzeitig; MBA VII.2, S. 470 stellt allerdings keinerlei Verbindung zu Büchners eigenen Reflexionen im Spinoza-Skript an, sondern verweist lieber auf die ganz unwahrscheinliche Quelle Immanuel Kant; vgl. dagegen schon Mayer 1979a, S. 220; Mayer 1979b, S. 405 und Kahl 1982, S. 103. 909 So aber – ohne jede philosophische oder philosophiehistorische Reflexion auf Büchners Texte – u. a. Wittkowski 1976; Wittkowski 1989; Wagner 2000 sowie Kurzke 2013, S. 263ff.

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Auch die Auseinandersetzung mit dem zweiten Beweis des Lehrsatzes 11 eröffnet die gegenüber Paynes Deduktionen in Danton’s Tod modifizierte Stoßrichtung der Argumentation.910 In diesem Beweis versucht Spinoza, die Existenz Gottes aus einer bestimmten Version des Satzes vom zureichenden Grunde zu belegen,911 nach welcher alle qualitativen und quantitativen Bestimmungen einer Folge in ihrem Grund analytisch enthalten sein müssen, um nicht irgendeine Bestimmung aus dem Nichts zu erhalten und damit unbestimmt zu sein.912 In diesem Falle, einer innerweltlichen creatio ex nihilo, die Büchner schon bei Descartes abgewehrt sah,913 wäre nicht nur die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch gefährdet, sondern auch diejenige des principium rationis sufficientis einschränkt,914 wenn nicht gar vollständig negiert. Aus der konsequenten Anwendung des Satzes vom Widerspruch915 auf den Satz des Grundes916 folgert Spinoza, dass auch für die Inexistenz einer Entität der Grund in ihrem Begriffe zu suchen sein muss, indem er notwendigerweise einen Widerspruch enthalten müsse.917 Als Beispiel wählt Spinoza die Vorstellung eines viereckigen Kreises, die einen Widerspruch enthält, weshalb deren Gegenstand inexistent sei.918 Die wichtigste Konsequenz aus dieser Konzeption besteht nach Spinoza darin, dass Gott nur dann als inexistent gedacht werden könne, wenn sein Begriff einen Widerspruch enthielte. Als absolute Affirmation schließt die Gottessubstanz jedoch per definitionem jeden Widerspruch, der als Unvollkommenheit Negativität inhäriert, von sich aus und existiert daher qua apagogischem Beweis notwendig. Büchners bemerkenswerte Entgegnung entwirft nun die Infragestellung der Möglichkeit eines Begründungsverhältnisses zwischen Widerspruch und Inexistenz:

|| 910 Keineswegs also handelt Büchner den zweiten Beweis »schnell ab«; so aber MBA IX.2, S. 266. 911 Zur Problematik dieser analytischen Version des Satzes vom Grunde vgl. Stiening 2002a und Stiening 2002b sowie schon Tennemann 1798–1819 X, S. 472ff.; insbesondere aber Wolff 1986, S. 89–114. 912 Vgl. dazu auch die Argumentation bei Tennemann 1798–1819, X, S. 472ff., spez. S. 474. 913 P II, S. 18223ff./MBA IX.2, S. 511ff.; zu dieser Descartes und Spinoza gemeinsamen Geltung des Grundsatzes ex nihilo nihil fit, vgl. auch explizit Sigwart 1816, S. 113f. 914 Wenn ich richtig sehe, machen vor allem Röd 1985, S. 89–111, spez. S. 106f. und Della Rocca 2006, S. 18 auf das principium rationis sufficientis als prägende Voraussetzung der spinozanischen Metaphysik aufmerksam. 915 Den Büchner in einem späteren Teil des Manuskripts (P II, S. 3514–7) auch tatsächlich als Grundsatz des Spinozismus interpretiert. 916 Ein von Hegel (Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie) gegen Jacobi formulierter Einwand trifft insofern auch und zunächst auf Spinozas Metaphysik zu, wenn er schreibt, Jacobi begreife »den Satz des Grundes als reinen Satz des Widerspruchs« (Hegel 1986, II, S. 336); vgl. hierzu auch Röd 2002, S. 191 sowie Stiening 2002a, S. 67f. 917 Vgl. hierzu auch die präzise Rekonstruktion bei Röd 2002, S. 189. 918 ETH. I, prop. 11, demo. 2: »Cujuscunque rei assignari debet causa, seu ratio, tam cur existit, quam cur non existit.«

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Es ist falsch, daß es für das nicht Vorhandensein eines Dinges einen besondern Grund geben müßte; da aus etwas unmöglich nichts werden kann, so ist es auch unmöglich, daß ein Ding durch irgend etwas anderes an seinem Dasein absolut verhindert werden könnte. Für ein absolutes Nichts ist kein Grund oder keine Ursache möglich, denn wäre dies der Fall, so müßten Grund oder Ursache die Vernichtung eines Dinges bewirken, was unmöglich ist. Das Nichts kann keine Wirkung seyn, weil es als der absolute Gegensatz des Seins, etwas Seiendes nicht zur Ursache haben kann.919

Der Interpret bestreitet mithin zunächst, dass das fieri im absoluten Grundsatz des Rationalismus, dem a nihilo nihil fit, eine begründende und damit in Spinozas System kausale Relation implizieren könne. Das Nichts kann sich generell weder zu Etwas noch zu Nichts als Ursache oder als Wirkung verhalten.920 Dass diese Problematik der strengen Anwendung des Satzes vom zureichenden Grunde (als Satz der Kausalität) auf den erzrationalistischen Grundsatz des a nihilo nihil fit tatsächlich begriffslogische Schwierigkeiten enthält und damit ein systematisches Problem freilegt, zeigt schon ein Blick in neuere philosophiegeschichtliche Forschungen zu Spinoza.921 Büchners Analyse zielt in ihrem ersten Teil auf den Nachweis ab, dass die Unmöglichkeit und daher Inexistenz von Widersprüchen in der Definition Gottes nicht als Grund seiner Existenz, mithin als Existenzbeweis fungieren könne.922 Gegenüber seiner Quelle Tennemann ist diese Reflexion auf die notwendige Folgenlosigkeit des Nichts durchaus eigenständig; es findet sich jedoch an dieser markanten Stelle die Spur einer Herbart-Lektüre, die die Forschung für diesen Teil des Manuskripts bisher ausgeschlossen hatte.923 Im Zusammenhang des spinozanischen Beispiels vom viereckigen Kreis, das auch Büchner betrachtet, schreibt Herbart in § 42 seiner Allgemeinen Metaphysik: Freylich wenn sogar der viereckige Cirkel wirklich etwas in sich trägt, obgleich er nicht ist, und das, was er in sich trägt, gerade der Grund seines Nichts-Seyns ist: wie sollte da nicht die Natur der Substanz etwas in sich tragen, nämlich ihr eigenes Seyn?924

|| 919 P II, S. 2932–12/MBA IX.2, S. 1315–24. 920 Vgl. dazu die von meinen Überlegungen grundsätzlich abweichenden, gleichwohl produktiven Argumente bei Taylor 1995, S. 231–246, spez. S. 236f. 921 Vgl. hierzu Engfer 1996, S. 134–157, spez. S. 138f. sowie Röd 2002, S. 191f. 922 Insofern ist der philosophisch und philosophiehistorisch unbedarften Studie von Wittkowski (1989, spez. S. 444ff.), die aus Büchners wissenschaftlicher Indifferenz gegenüber Gottesbeweisen Thesen »für Gottes Existenz« herausklauben will, nachdrücklich zu widersprechen. Aus Büchners energischen Versuchen der Geltungsdestruktion der Gottesbeweise ist eine »dogmatisch-apriorische Glaubensvoraussetzung« (ebd., S. 450) in keiner Weise abzuleiten, sondern vielmehr die wohlbegründete Hoffnung auf ein philosophisches Denken ohne Gottesinstanz. 923 Vgl. Bergemann 1922, S. 747; Mayer 1995–99a, S. 319. 924 Herbart 1828, I, S. 132; vgl. auch schon ebd., S. 15.

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Wie wir seit der Ausgabe von Poschmann wissen, hat Büchner genau diese Passage aus Herbart exzerpiert, in diesem Falle gar vollständig abgeschrieben.925 Die bei Herbart in die rhetorische Frage gekleidete Zurückweisung der Annahme einer Ursächlichkeit des Nichts kann Büchner zu jener weitergehenden Überlegung angeregt haben, dass das fieri der Formel ex nihilo nihil fit nicht als Grund-Folge- bzw. Ursache-Wirkungs-Verhältnis begriffen werden könne. Ideengeschichtlich sind diese Reflexionen auf die radikale Indifferenz des Nichts in logischer und ontologischer Hinsicht zwar selten, aber nicht originell;926 schon Christian August Crusius hatte gegen Christian Wolffs Versionen des Satzes vom zureichenden Grunde nachgewiesen, dass das Nichts in keinerlei Hinsicht – und damit auch nicht für die Inexistenz einer Entität – ein »determinierender Grund« sein könne.927 Auch Joseph Hillebrand hatte in seiner Propädeutik von 1826, deren logischer und naturrechtlicher Teil Büchner durch Vorlesungen bekannt war,928 gegen die hegelsche Formel von einer »Identität des Sein und des Nichts« festgehalten, dass ein »eigentliches Nichts, d. h. ein wirkliches Nichtseyn […] undenkbar« sei.929 Die daraus fällige Konsequenz, dass das Nichts auch keine internen Relationen ausbilden kann, seien sie logischer oder ontologischer Natur, zieht allerdings erst Büchner im Furor seiner Spinoza-Widerlegung. Die entscheidende Pointe der büchnerschen Überlegungen zu Spinozas Lehrsatz 11 besteht daher in einem zweiten Schritt darin, dass auch die Inexistenz Gottes nicht aus möglichen Widersprüchen zu beweisen sei: Wenn es Gründe gegen das Dasein Gottes gibt, so beweisen sie nicht, daß das als Gott definierte Wesen nicht existieren könne, sondern sie beweisen, daß wir durch nichts berechtigt sind, eine solche Definition zu machen.930

Diese philosophisch bedeutendsten Reflexionen des gesamten Spinoza-Manuskripts entwerfen zwei grundlegende Positionen: Zum einen führt – wie schon in der Anmerkung zu ETH. I, prop. 11, demo. 1 – die Widerlegung des Beweises vom Dasein Gottes nicht mehr zur Behauptung seiner Inexistenz (wie noch bei Payne in Danton’s Tod), sondern sie dient einzig zur These der Unbeweisbarkeit und damit Unhaltbarkeit der Existenzbehauptung. Die Argumentation steht unübersehbar in der über Tennemann vermittelten Tradition der kantischen Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen in der Kritik der reinen Vernunft,931 in der ebenfalls die theoreti-

|| 925 P II, S. 6206–10/MBA IX.2, S. 16116–20. 926 Falsch hierzu Stiening 2000–2004, S. 223. 927 Vgl. Crusius 1744, S. 50. 928 Vgl. hierzu den Exkurs weiter oben. 929 Hillebrand 1826, S. 291f. 930 P II, S. 29312–15/MBA IX.2, S. 1324–27. 931 Vgl. KrV B 611–619.

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sche Unbeweisbarkeit der Existenz Gottes entwickelt wird.932 Zum anderen aber lässt sich anhand dieser Passagen belegen, dass auch für Büchner der von Descartes und Spinoza als ewige Wahrheit bezeichnete Grundsatz des a nihilo nihil fit jene grundsätzliche Funktion und systematische Stellung innehatte, die schon Jacobi und nach ihm Sigwart und Erdmann für den Rationalismus behauptet hatten.933 In dieser grundlagentheoretischen Hinsicht ist Büchner kein Kritiker des Rationalismus,934 sondern dessen Parteigänger. Insbesondere aber anerkannte er den Satz des Widerspruchs als wichtigste Grundlage, mithin obersten Grundsatz des spinozanischen Rationalismus.935 Dass Büchner allerdings mit diesen zentralen Prämissen des Rationalismus schon länger bekannt war, eröffnet die bedrückende Reflexion Dantons, der den Tod ebenso ersehnt wie befürchtet: PHILIPPEAU. Was willst du denn? DANTON. Ruhe. PHILIPPEAU. Die ist in Gott: DANTON. Im Nichts. Versenke dich in was Ruhigers, als das Nichts und wenn die höchste Ruhe Gott ist, ist nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheist. Der verfluchte Satz: etwas kann nicht zu nichts werden! und ich bin etwas, das ist der Jammer! Die Schöpfung hat sich breit gemacht, da ist nichts leer, Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet.936

Danton quält hier die Angst vor der Unsterblichkeit, weil er ob seiner SeptemberMorde eine postmortale Aburteilung Gottes fürchten muss. Da er nicht zu nichts werden kann, verwünscht er die unbezweifelbare Geltung des rationalistischen Grundsatzes a nihilo nihil fit.937 Büchners Beschäftigung mit Philosophiegeschichte ist auch an dieser Stelle eine philosophische. Denn an der bedrückenden Konsequenz eines ›vernichteten Nichts‹ hat sich auch für den Büchner des SpinozaSkripts nichts geändert. An Spinozas Argumentation in ETH. I, prop. 11, demo. 2

|| 932 Zu dieser über Tennemann vermittelten Tradition kantianischer Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen vgl. schon – allerdings ohne Bezug zu Kant bzw. Tennemann – Kobel 1974, S. 112ff., Jancke 31979, S. 250 (ebenfalls ohne angemessene Kontextualisierung) sowie Stiening 2005, S. 231ff. 933 Jacobi 2000, S. 24; vgl. hierzu auch Stiening 2002a, S. 61f. sowie Sigwart 1816, S. 113 und Erdmann 1933, S. 89. 934 So aber Vietta 1979, S. 421ff.; Vollhardt 1991, S. 199; Kubik 1991, S. 207 und Knapp 32000, S. 32f. 935 Vgl. erneut P II, S. 3514f./MBA IX.2, S. 15217–20. 936 MBA III.2, S. 645–14. 937 Vgl. dagegen Voges 1990, S. 47, der Dantons Reflexionen über das Nichts einzig in ihren psychohistorischen Dimensionen betrachtet: »Das Nichts artikuliert noch immer das Bedürfnis nach einer Verdrängung der eigenen Geschichte. Die Hoffnung auf eine vollständige Vernichtung des Ich wird durch eine materialistische Interpretation des organischen Todes widerlegt.« Dabei unterschlägt Voges jedoch die metaphysische Ebene der Argumente Dantons, die sich erst durch den impliziten Rekurs auf die rationalistische Tradition, speziell Spinozas, verdeutlichen lässt. Auch dem das Materialismus-Diktat Mayers ausformulierenden Taniguchi kann Dantons Reflexion nur »befremdlich« erscheinen, vgl. Taniguchi 2000–04, S. 100.

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kritisiert er einzig »den falschen Schluß«938 aus dem a nihilo nihil fit – er bestreitet aber nicht die Gültigkeit dieses Grundsatzes. In ähnlicher, die Anmerkungen zu den ersten beiden Beweisen zusammenfassender Weise verfährt Büchner in seinem Kommentar zum 3. Beweis von Lehrsatz 11, indem er zunächst die aposteriorische Demonstration der Existenz Gottes auf das ontologische Argument zurückführt,939 welches jener vorausgesetzt sei.940 Insbesondere aber versucht der Kommentator, die Identifizierung der als »Weltursache« angemessen bestimmten Substanz mit dem moralischen Wesen des Deismus, d.h. die Erhebung des philosophischen Substanzbegriffes zum Theologumenon des gütigen Gottes, als unabgeleitete und somit unhaltbare Annahme nachzuweisen: Hier hört der Philosoph auf und er vergöttert willkürlich das, was in sich und worin Alles ist.941

2.2.3.1.3 Kommentar zu Lehrsatz 15: Einheit oder Pluralität der Substanz Noch ein letzter thematischer Schwerpunkt des Kommentars von ETH. I soll drittens Erwähnung finden, um die gesamte Palette der Argumentationsstrategien des Philosophiehistorikers Georg Büchner zu erfassen. In seinem Kommentar zu Beweis und Anmerkung des zentralen Lehrsatzes 15,942 in denen Spinoza die Einzigkeit der Gottessubstanz sowie die vollständige Inhärenz und Subsistenz alles Seienden in und von dieser Instanz beweist,943 bemüht sich Büchner nämlich um eine Rekonstruktion des weitgehend apagogischen Beweisganges. Dem hält er allerdings einmal mehr den Zusammenhang der zentralen Prämisse mit dem problematischen Lehrsatz 5 entgegen: Gibt man einmal Spinoza die Unendlichkeit der Substanz zu, so muß man auch das Übrige zugestehen, diese Unendlichkeit beruht aber auf der 5. Prop. Nämlich darauf, daß es keine 2 gleichen Substanzen gäbe.944

Büchner wiederholt anschließend seine Argumente wider die Gültigkeit von Lehrsatz 5 und schließt daraus erneut:

|| 938 P II, S. 34023/MBA IX.2, S. 14134. 939 Vgl. die Darstellung bei Röd 2002, S. 190. 940 Auch diese Reduktion des kosmologischen Gottesbeweises auf das ontologische Argument ist bei Kant vorgegeben, vgl. KrV B 631ff. 941 P II, S. 29529f./MBA IX.2, S. 157f.. 942 Zu Stellung und Bedeutung von prop. 15 im Beweisgang von ETH. I vgl. Bartuschat 1993, S. 38ff. 943 ETH. I, prop. 15 (Spinoza 1999, S. 30): »Quicquid est, in deo est, et nihil sine Deo esse neque concipi potest.« 944 P II, S. 30427–30/MBA IX.2, S. 217–9.

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Er hat also von seinem eignen System aus noch keineswegs die Unendlichkeit der ausgedehnten Substanz bewiesen.945

In einem zweiten Schritt versucht er Spinozas Argumentation innersystematisch zu überbieten. Spinoza hatte nämlich die Unteilbarkeit der Ausdehnung gegen Descartes mit ihrem attributiven Status begründet, der als Moment der Substanz Unendlichkeit und damit Ausschluss aller Negativität zukomme.946 Feuerbach hatte 1833 diese Überlegungen, die zur Substanzialisierung der Materie führten, in einem eigenen Abschnitt rekonstruiert und in ihrer philosophiehistorischen Innovationsleistung herausgearbeitet.947 Büchner kritisierte demgegenüber schon in vorherigen Kommentaren das für ihn ungeklärte Verhältnis von Substanz und Attributen.948 Auf dieser Grundlage versucht er nun die Möglichkeit eines unendlichen und dennoch aus Teilen bestehenden Ganzen zu entfalten949 und schlussfolgert aus dem Misslingen des Beweises für die Einzigkeit der Substanz: Wir hätten somit ein unendliches Ganze aus sich selbst gegenseitig begrenzenden und in sofern endlichen Teilen, die aber Substanzen sein müßten, denn sonst wäre diese Behauptung so absurd, als die Gegner Spinozas sagten. […] Wir hätten dann nur eine Ausdehnung mit Spinoza aber aus unendlichen (Zahl) Substanzen oder vielmehr Attributen, ein räumlich unendliches Meer aus der Zahl nach unendlichen Quellen, doch paßt dies nur insofern als überhaupt ein Bild in philosophische Deduktion paßt.950

Der Interpret versucht also, die Denkmöglichkeit, d. h. die widerspruchsfreie Konzeption einer Pluralität körperlicher Substanzen, zu entwickeln, die als in sich unendlich und daher ungeschaffen zugleich sich räumlich gegenseitig begrenzen können sollen – allerdings beziehungslos. Diese relationslose Relation soll mit dem mathematischen Begriff der ›Parallelen‹, die sich nur im Unendlichen schneiden,951 veranschaulicht werden, wobei Büchner diesem Bild eines »unendliche[n] Meer[es] aus der Zahl nach unendlichen Quellen«952 den Status einer »philosophischen Deduktion« abspricht.953 Der Interpret versucht also durch eine interne Differenzierung

|| 945 P II, S. 3055–7/MBA IX.2, S. 2120f.. 946 Vgl. ETH. I, prop. 15, schol. (Spinoza 1999, S. 3217ff.). 947 Feuerbach 1990, S. 318–323. 948 Vgl. hierzu P II, S. 29031–29113 sowie S. 29824–29919. Eine dezidiertere Auseinandersetzung mit Büchners Interpretation der spinozanischen Substanz-Attribut-Problematik unterbleibt hier aus Gründen des Umfangs, vgl. aber Taylor 1995, S. 53. 949 Dabei scheint mir Büchner mit diesem Grundzug seines Vorschlags den neueren Überlegungen von Bartuschat 1993, S. 80ff., spez. S. 83 durchaus nahezukommen. 950 P II, S. 30526–3063/MBA IX.2, S. 2138–224. 951 P II, S. 3056f./MBA IX.2, S. 2120f.. 952 P II, S. 3061f./MBA IX.2, S. 223. 953 Übrigens zeigt dieses Spiel mit den mathematischen und philosophischen Unendlichkeitsbegriffen, dass Büchner die präzise Unterscheidung beider durch Spinoza (vgl. dazu Ep. XII, Spinoza

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des Begriffs der Ausdehnung der spinozanischen Substanzmetaphysik eine Pluralität von Substanzen zuzuschreiben, indem er eine quantitative Endlosigkeit zugleich qualitativ unendlicher Substanzen, die sich gegenseitig begrenzen und so räumlich verendlichen können sollen, entwirft. Unabhängig von der Haltbarkeit dieses Alternativentwurfes zeigt Büchners Versuch eine gegenüber den beiden vorherigen Analyse- und Darstellungsweisen veränderte Strategie, und zwar in dem Versuch einer theoretischen Überbietung der spinozanischen Systematik mit deren eigenen Mitteln.954 Das argumentative Ziel Büchners bleibt dabei unverändert: die Theorie der Einzigkeit der Substanz und deren damit verbundene Göttlichkeit zu widerlegen. Zusammenfassend lassen sich somit in der büchnerschen Textexegese und -kommentierung der Lehrsätze 5 bis 15 des 1. Buches der Ethik folgende Argumentationsverfahren festhalten: Neben einer Kritik mit Hilfe externer, ›transzendentalphilosophischer‹ Kriterien (prop. 5), die dem Einfluss Tennemanns geschuldet sind, versucht der Kommentar die interne Konsistenz der spinozanischen Argumentation durch Kohärenzüberprüfungen zu destruieren (prop. 11, demo. 1–3) sowie letztlich mit den Kategorien der analysierten Systematik selbst diese zu überbieten (prop. 15, schol.). Alle drei Strategien versuchen, den spinozanischen Beweis der Existenz Gottes als eines ens perfectissimum zu widerlegen, indem dieses Theorem als unbeweisbar bestimmt wird. Das ist ›Büchners Ziel‹ in seiner Analyse von »Spinozas Ziel«,955 wobei er eine wissenschaftlich exakte Begründung in den genannten Verfahren zu liefern bemüht ist.

2.2.3.2 »Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik«: »Wissenschaftslehre« und Methodologie des TIE Die Prämisse, nach welcher die philosophiehistorische Beschäftigung mit Spinoza als Wissenschaft auszuweisen ist, setzt Büchner im zweiten Teil der Vorlesung956 mit Hilfe einer grundlegend veränderten Methode um. Kommentierte er die paragraphenweise übersetze Ethik entlang des Textverlaufes seiner Primärquelle, so kehrt er für die analytische Darstellung des Tractatus de intellectus emendatione zu jener systematisierten, Originalzitate, Übersetzungen und Paraphrasen verwendenden Methodik des Descartes-Skripts zurück. Den »tractatus de emendatione intellec-

|| 1986, S. 47ff.) nicht angemessen zur Kenntnis genommen hat. Dass er gleichwohl diese Unterscheidung kennt, zeigt die Konkretisierung des Unendlichkeitsbegriffs, den er auf die Substanzen anwendet, durch den Begriff der »Zahl«; vgl. P II, S. 30533/MBA IX.2, S. 222. 954 Vgl. dazu auch MBA IX.2, S. 275. 955 P II, S. 32824/MBA IX.2, S. 1311. 956 Für MBA IX.2 ist dieser zweite Teil ein eigenständiges Manuskript, so dass eine zusammenhängenden Interpretation des gesamten Textes erschwert bzw. verunmöglicht wird.

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tus«957 bezeichnet Büchner als »Wissenschaftslehre« Spinozas, die sowohl die Prämissen als auch das Ziel und die Methode seines Rationalismus in anschaulicher Weise präsentiere, »denn erst durch sie [die Wissenschaftslehre] erhält die Metaphysik ihre wissenschaftliche Bedeutung«.958 Dabei hatte der Interpret auch mit der Bearbeitung dieses Textes einige Schwierigkeiten. Nicht nur sein bewertendes Resümee am Schluss dieses Teils: Überhaupt ist die ganze in dem tractatus de emend. angestellte Untersuchung höchst mangelhaft und zum Teil verworren,959

sondern auch die gegenüber dem Kommentar der Ethik wieder stärkere Anlehnung an Kuhns Ergebnisse960 und die Darstellungen Tennemanns lassen auf diesen Sachverhalt schließen. Es werden lange Zitate und Paraphrasen der durch Tennemann schon zitierten und paraphrasierten Inhalte des TIE geliefert – insbesondere bei der Darstellung der Erkenntnis- und Definitionslehre sowie der Theorie der ideae fictae.961 Auch werden die direkten Zitate aus dem TIE kaum übersetzt.962 Büchner steht offensichtlich unter Zeitnot. Dennoch lassen sich an der Analyse und Interpretation auch dieses spinozanischen Textes prägnante Positionsbestimmungen ablesen. Dies gilt insbesondere für die Wahrheitstheorie und die allgemeine Rationalitätskonzeption. Dazu gehört zunächst die mehrfach im Text963 – allerdings nur thesenhaft – entfaltete Annahme des engen Begründungsverhältnisses zwischen dem Cartesianismus und der Philosophie Spinozas: Erst unter Voraussetzung des Cartesianismus erhält, wie ich schon gesagt habe, der Spinozismus sein wissenschaftliches Fundament.964

Büchner verbindet mit dieser in der zeitgenössischen Diskussion häufig aufgestellten965 Behauptung zwei philosophische Gehalte: Zum einen führe Spinoza die von

|| 957 Wie er durchgehend falsch zitiert (P II, S. 32825/MBA IX.2, S. 1311f.), was wahrscheinlich auf den gleichen Fehler bei Kuhn 1834, S. 88ff. zurückzuführen ist. 958 P II, S. 33412f./MBA IX.2, S. 13533f.. Erneut sei darauf hingewiesen, dass Büchner den Terminus »Wissenschaftslehre« (P II, S. 3349f., S. 34024, S. 35020 u. ö.) vermutlich aus der Schrift Kuhns 1834, S. 16, S. 19. u. ö. entlehnt. Vgl. aber auch schon Hillebrand 1819, S. 526ff. 959 P II, S. 35015–17/MBA IX.2, S. 15126f. 960 Vgl. u. a. das direkte Zitat in P II, S. 3402f./MBA IX.2, S. 14114f. aus Kuhn 1834, S. 89. 961 Zu letzterem siehe P II, S. 34237–34621/MBA IX.2, S. 14410–1486. 962 Vgl. insbesondere das ungekürzte Zitat aus TIE § 33–42 in P II, S. 33634–3398/MBA IX.2, S. 13528– 14018. 963 Neben der oben zitierten Passage wird diese These noch an folgenden Stellen des Manuskripts wiederholt: P II, S. 33129–31, S. 34013f. (Zitat aus Kuhn 1834, S. 91), S. 33416f., S. 35026–29. 964 P II, S. 3343–5/MBA IX.2, S. 13526f..

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Descartes deduzierte paradigmatische Funktion der Mathematik konsequent weiter.966 Zum anderen meint Büchner,967 dass der synthetischen Argumentationsmethode der Ethik die gesamte Ableitung Descartes’ vom cogito ergo sum bis zum Existenzbeweis Gottes (2. und 3. Meditation) zugrunde liege. Der Interpret begründet die zweite These damit, dass dem durch das ontologische Argument als existierend bewiesenen Gott nur deshalb die Funktion eines obersten Grundsatzes, aus dem sich alles »herleiten läßt«,968 zukommen könne, weil »die ganze Schlußreihe, die demselben im Cartesianischen System vorhergeht, vorausgesetzt« sei.969 Das Bemühen ist unverkennbar, den schon für Descartes’ Metaphysik und Erkenntnislehre nachgewiesenen begründungtheoretischen Zirkel970 zwischen dem cogito-Argument und dem ontologisches Beweis auch für Spinoza zu belegen: So wiederholt also Spinoza nicht nur den Cartesius, sondern ergänzt ihn auch noch, indem er durch das modo eam habemus den bekannten Zirkel, den Cartesius in seiner Schlußreihe macht, zu umgehen sucht. Ich sehe also keinen neuen, keinen absoluten Standpunkt, in der Art, wie Spinoza die Identitätslehre an die Spitze seines Systems stellt.971

Diese kaum zu haltende Annahme,972 die schon die zeitgenössische Studie von Sigwart widerlegt hatte,973 basiert auf einer von Kuhn angeregten974 Interpretation der || 965 Vgl. dazu Schneider 1994, S. 313–316 sowie Schneider 1999, S. 264–272, der beispielsweise Hegel (1986, XX, S. 157, S. 161) und Büchners Gießener Philosophieprofessor Hillebrand (1842, S. 407f.) nennt; vgl. aber schon Hillebrand 1819, S. 529. Bekannt war der gesamten Zunft die Schrift Sigwarts 1816 (vgl. hierzu erneut Schneider 1999, S. 265–267). Siehe aber auch Tennemann 1798– 1819, X, S. 374, S. 421; Kuhn 1834, S. 87f.; Schelling 1985, IV, S. 449; Feuerbach 1990, S. 286–296 und Erdmann 1933, S. 15ff. Selbst Heine (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland) berührt in seiner essayistischen Darstellung der Philosophie Spinozas diesen Punkt: »So hat die Philosophie des Descartes keineswegs die des Spinoza hervorgebracht, sondern nur befördert. Daher zunächst finden wir bei dem Schüler die Methode des Meisters; dieses ist ein großer Gewinn. Dann finden wir bei Spinoza, wie bei Descartes, die der Mathematik abgeborgte Beweisführung« (Heine 1976, V, S. 563). 966 P II, S. 33337–3345/MBA IX.2, S. 13523–27. 967 Angeregt in diesem Falle durch Kuhn 1834, S. 86ff. 968 P II, S. 34032/MBA IX.2, S. 1425. 969 P II, S. 34111–13/MBA IX.2, S. 1426f.. 970 Vgl. hierzu P II, S. 19413ff./MBA IX.2, S. 6014ff.. 971 P II, S. 3423–10/MBA IX.2, S. 14314–17. 972 Vgl. dazu den Aufsatz von Röd 1977, die vergleichende Studie von Röd 1992 sowie Della Rocca 2006. 973 Vgl. insbesondere Sigwart 1816, S. 57f. 974 Vgl. dazu Kuhn 1834, S. 87ff., spez. S. 89. Möglicherweise hat sich Büchner an dieser Stelle von Heine zumindest bestärken lassen, der das Verhältnis von Denken und Sein bei Spinoza folgendermaßen referiert: »Der Gedanke ist am Ende nur die unsichtbare Ausdehnung und die Ausdehnung ist nur der sichtbare Gedanke. Hier geraten wir in den Hauptsatz der deutschen Identitätsphilosophie, die in ihrem Wesen durchaus nicht von der Lehre des Spinoza verschieden ist« (Heine 1976, V, S. 565).

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Wahrheitstheorie beider Rationalisten. Diese entfalte eine »Identitätslehre«,975 nach welcher die unmittelbare Identität von Denken und Sein durch eine Ableitung vom cogito bis zum Beweis des Daseins Gottes nachweisbar sei, was bei Descartes expliziert, bei Spinoza jedoch unausgeführt vorausgesetzt sei: Er [Spinoza] fängt an, wo Cartesius die Identität des Gedankens mit seinem Objekt aus der Wahrhaftigkeit Gottes schließt. Cartesius war so gut als Spinoza Identitätsphilosoph, wie es überhaupt jeder dogmatische Philosoph sein muß. Spinoza setzt beständig die Schlußreihe des Cartesius, vom cogito ergo sum an, voraus, die er nicht wiederholte, weil er sie als erwiesen ansah, und er kann nicht anders, wenn er die mathematische Evidenz, auf die er beständig Anspruch macht, behaupten will.976

Dabei verfängt sich Büchner jedoch in der Folge in den Fallstricken eines unbestimmten Voraussetzungsbegriffes.977 Hatte nämlich Kuhn behauptet, dass »Spinoza den Mangel des Cartesianischen Systems [verbessere], indem er die Identität des Denkens und Seins zur Voraussetzung erhob«,978 und Voraussetzung hier als ein unmittelbares Setzen jener Identität verstanden, so begreift Büchner die cartesische Deduktion der Wahrheitskonzeption als begrifflich vermittelte Voraussetzung für das spinozanische System. Daraus muss er im weiteren Verlauf seiner Interpretation jedoch schließen, dass die Identitätskonzeption »vor dem ganzen System«979 der Metaphysik Spinozas stehe, wodurch das zuvor als oberster Grundsatz bestimmte ontologische Argument, an dem »Alles, Metaphysik und Wissenschaftslehre, hängt«,980 zu einer Ableitung aus dem 6. Axiom von ETH. I erklärt werden muss. Damit befindet sich der Spinoza-Interpret Büchner in dem Dilemma, ein zirkuläres Begründungsverhältnis zwischen ontologischem Gottesbeweis und Wahrheitstheorie zu behaupten, das insbesondere seine im ersten, die Ethik kommentierenden Teil vollzogene Anstrengung einer Widerlegung des ontologischen Arguments überflüssig zu machen scheint. Büchner klärt diesen Widerspruch seiner Interpretation keineswegs auf,981 doch dürfte die intensive Auseinandersetzung mit der spinozanischen Theorie der »mate-

|| 975 Vgl. zu diesem Terminus P II, S. 33633, S. 3402, S. 3429, S. 35031 sowie die Erläuterungen Poschmanns in P II, S. 1036–1038; MBA IX.2, S. 248ff., S. 257ff. u. S. 296f. erhebt diesen Teil der Rekonstruktion Büchners zum systematischen Zentrum, um Büchner an identitätsphilosophischer Systembildung teilhaben zu lassen; seine davon abweichenden Analyse- und Interpretationsergebnisse müssen dann aber (vgl. insbesondere der Umgang mit Beweis 2 von Lehrsatz 11) marginalisiert werden. 976 P II, S. 34216–24/MBA IX.2, S. 14326–32; vgl. hierzu auch die Interpretation von Osawa 1999, S. 40ff. 977 Vgl. hierzu auch ähnlich Sigwart 1816, S. 57 versus S. 86: »Er [Spinoza] fieng an, wo des Cartes endete.« 978 Kuhn 1834, S. 86f. 979 P II, S. 35032/MBA IX.2, S.15211f.. 980 P II, S. 34024f./MBA IX.2, S. 14135f.. 981 Auch nicht dadurch, dass er diesen Zirkel als im System Spinozas selbst enthalten bezeichnete.

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rialen Wahrheit«, die als kriterienlos verworfen wird,982 durch diese Schwierigkeiten veranlasst worden sein. Auch der Abbruch des Manuskripts kurz nach der Erhebung der »Identitätslehre« zum absoluten Grundsatz des Systems steht zumindest unter anderem in diesem Zusammenhang. Die starke Anbindung der Philosophie Spinozas an den cartesischen Argumentationsgang, mit welcher der angehende Dozent der Philosophie offensichtlich in einer aktuellen philosophiehistorischen Debatte zur Metaphysik Spinozas Position beziehen wollte,983 bringt ihn zugleich in erhebliche systematische Schwierigkeiten, deren Lösung oder Auflösung ihm nicht gelingt. Es lässt sich allerdings ein Argumentationshintergrund dieses büchnerschen Analysedilemmas angeben, der zugleich ins Zentrum seiner Spinoza-Interpretation führt und in der ersten der obigen Thesen zum Verhältnis von Descartes und Spinoza schon reflektiert wurde: Büchner bemüht sich um eine begrifflich exakte Darstellung und Kritik der spinozanischen Philosophie durch das gesamte Manuskript hindurch. Diese methodische Prämisse, die auch dem Anliegen Rechnung trägt, die Argumentation des Philosophengespräches in Danton’s Tod systematisch zu prüfen, verschafft der Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas ihre besondere Färbung. Denn Büchner betont – entgegen nicht nur romantischen Interpretationen,984 sondern auch dem Gros der Philosophiehistoriker seiner Zeit985 –, dass das dem mathematischen Paradigma verpflichtete Rationalitätskonzept einer durchgängig begrifflichen Bestimmung allen Seins in der Philosophie Spinozas unhintergehbar sei:

|| 982 P II, S. 34225–28/MBA IX.2, S. 1441–4: »Außer dem Erfordernis der Klarheit und Deutlichkeit gibt übrigens Spinoza kein Kriterium der material wahren Ideen; er sagt nur, was eine wahre Idee sei, lerne man erst aus dem Besitz derselben kennen.« 983 Vgl. dazu nochmals Schneider 1994, S. 313ff. 984 Zur Überwältigung Spinozas und seiner Transformation zum »gottbegeisterten Dichter« (Schlegel) oder zum »Schwärmer« (Schelling) vgl. die Studien von Bollacher 1994, S. 275–288 sowie Timm 1978. 985 Nicht nur Hegel, der die »demonstrative Methode« Spinozas als äußerliche »Weise des verständigen Erkennens« (Hegel 1986, XX, S. 163ff. u. S. 167) kritisiert, oder etwa Heine, der die bei Descartes abgeborgte Beweisführung der Mathematik als »großes Gebrechen« bezeichnet, weil »[d]ie mathematische Form dem Spinoza ein herbes Äußeres gebe« (Heine 1976, V, S. 561), sondern auch Feuerbach (1990, S. 314) und Erdmann (1933, S. 54f.) halten die Beweisform der Ethik für etwas »Formelles«. Selbst Kuhn 1834, S. 110 verurteilt die »mathematische Form« in vergleichbarer Manier: »Jacobi hat den Spinozismus von seiner wissenschaftlichen Seite überschätzt. Man kann daraus ersehen, was hinter der äusseren mathematischen Form der Spinozistischen Ethik für eine innere Evidenz verborgen liege. Insgemein ließ man sich durch diesen äusseren Schein täuschen, und glaubte bei Spinoza ein durchgehend begreifliches, wahrhaft demonstratives System der Philosophie finden zu können. Es mag sonst alle Vorzüge haben, aber diesen hat es nicht.« Ohne die jacobischen Thesen zu teilen, vertrat Büchner jedoch offensichtlich die Annahme, dass das mathematische Paradigma dem Wissenschaftskonzept Spinozas keineswegs äußerlich war; neuere Forschungen (vgl. Röd 2002, S. 82–84 u. S. 150ff.) geben ihm hierin Recht.

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[D]er Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik. Nur mathematisch gewisse Erkenntnis konnte ihn befriedigen, [...]. Zeigt ihm einen falschen Schluß und er läßt sein ganzes System fallen.986

Der mos geometricus ist nach dieser Argumentation dem spinozanischen System keineswegs äußerlich, sondern für dieses konstitutiv.987 Hierin sah Büchner die Besonderheit und die »Höhe des Spinozismus«,988 die ihn vor allem von der mystischen »Schau aller Dinge in Gott«, die den Standpunkt Malebranches charakterisiere, unterscheide:989 Hier ist die große Kluft zwischen Malebranche und Spinoza. Beide haben nur unter Voraussetzung des Cartesius eine wissenschaftliche Bedeutung, beide setzen das Fundament des Cartesianismus nur voraus, aber Malebranche wird seinem Lehrer untreu, er wendet sich zur Anschauung, er sieht alle Dinge in Gott, aber unmittelbar ohne Räsonnement, ohne Schluß, Spinoza dagegen bleibt treu, die Demonstration ist ihm das einzige Band zwischen dem Absoluten und der Vernunft, ja er ist kühner als Cartesius, er dehnt das Recht der Demonstration weiter aus, der demonstrierende Verstand ist Alles und ist Allem gewachsen, […].990

Dieser uneingeschränkte Rationalismus und mathematische Szientismus wird von Büchner mit einem Zitat aus der Vorrede Ludovico Meyers zu den Principia Philosophiae Cartesianae nochmals bekräftigt; im Folgenden wird die deutsche Übersetzung der von Büchner im Original zitierten Passage zitiert: Ich kann auch nicht unerwähnt lassen, daß der an einigen Stellen vorkommende Ausdruck »dies oder jenes übersteigt die menschliche Fassungskraft« […] nur im Sinne des Descartes gebraucht wird, und man darf dies nicht so verstehen, als wenn der Verfasser dies als seine eigne

|| 986 P II, S. 34020–24/MBA IX.2, S. 14131–33; Büchner mißt dieser Formel offenbar eine besondere Bedeutung zu, denn sie wird an der obigen Stelle schon zum zweiten Mal ausgeführt (zuvor schon P II, S. 33337/MBA IX.2, S. 13524). Es liegt nahe, dass er sich dabei von einer Formulierung Tennemanns anregen ließ, der von einem »Enthusiasmus für die Spekulation« bei Spinoza spricht (Tennemann 1798–1819, X, S. 374). Fraglich erscheint mir hingegen die Zurückführung beider Formeln auf Jacobis Konzept eines »logischen Enthusiasmus«. Denn weder Büchners »Enthusiasmus der Mathematik« noch Tennemanns »Enthusiasmus für die Spekulation« beabsichtigt eine Kritik der »Hybris universalen Wissens«, die in Spinozas Philosophie ihren Höhe- und Endpunkt gefunden habe. Vielmehr scheinen beide Philosophiehistoriker den Wissenschaftsoptimismus Spinozas positiv zu werten, wenngleich sie ihn nicht vollauf zu teilen vermögen. Eine an Jacobi sich anlehnende allgemeine Rationalitätskritik ist jedoch mit keiner der Enthusiasmus-Formeln gemeint. 987 Bemerkenswerter Weise reduziert Büchner diesen mathematischen Rationalismus auf die wissenschaftstheoretische Dimension, die ontologische Ebene der Argumentation Spinozas (vgl. hierzu Röd 2002, S. 176f.) spart er dagegen aus. 988 P II, S. 33633/MBA IX.2, S. 13732. 989 Vgl. dazu auch Cramer 1985, S. 151–179, spez. S. 176: »Die Position der Alleinheit [= Spinozas rationalistische Metaphysik] ist im Gegenzug zur mystischen Schau der Indifferenz von Einem und Vielem gerade um willen der Eigenbedeutsamkeit des Vielen zu entwickeln.« 990 P II, S. 33128–3322/MBA IX.2, S. 13329–37.

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Ansicht ausspräche. Nach seiner [d. i. Spinozas] Meinung kann vielmehr dies alles und noch mehr und Höheres und Feineres nicht bloß deutlich und klar von uns begriffen, sondern auch ohne Schwierigkeiten erklärt werden, wenn nur der menschliche Verstand auf einem anderen als dem von Descartes eröffneten und gebahnten Wege zur Erforschung der Wahrheit und Erkenntnis der Dinge geführt wird.991

Doch zitiert und entwickelt Büchner diese Thesen eines unbegrenzten rationalistischen Erkenntnis-Optimismus keineswegs aus der Perspektive Jacobis992 oder der – abgeschwächten – Kritik Kuhns,993 nach denen Spinozas Rationalismus die konsequenteste Weise des Denkens sei, die Widersprüche in seiner Philosophie mithin objektive Antinomien des rationalen Erkennens und Denkens überhaupt realisierten, welche nur durch jenen berühmten salto mortale in den Glauben bzw. das unmittelbare Wissen des Gefühls überwunden werden könnten. Im Gegenteil ist Büchner daran interessiert, die dem spinozanischen System immanenten Widersprüche nicht nur aufzuzeigen, sondern deren jeweilige Gründe zu rekonstruieren. Weil Büchner vielmehr die rationalistischen Prämissen Spinozas in begrenztem Umfange teilte, werden die kritisierten Widersprüche nicht als objektive überhöht, sondern zumeist als subjektive Ableitungsfehler bestimmt, bei denen Spinoza »aus seinem eigenen System« herausgetreten sei.994 Als Philosophiehistoriker geht Büchner bei der Herausbildung der rationalistischen Grundstruktur der spinozanischen Philosophie so weit, alle nichtdeduzierbaren, vor-rationalen Momente dieser Philosophie zu ignorieren, denn in der oben zitierten Passage zum Enthusiasmus der Mathematik heißt es erläuternd, dass »von intuitiver Erkenntnis […] bei ihm [Spinoza] nicht die Rede« sei.995 Zwar zeigt sich an dieser falschen These, dass Büchner weder Buch II996 noch Buch V der Ethik studierte997 und ihm daher Spinozas Theorie der scientia intuitiva unbekannt

|| 991 Spinoza 1987, S. 8; zitiert bei Büchner P II, S. 3323ff./MBA IX.2, S. 13338ff.. 992 Dazu immer noch grundlegend Timm 1974, S. 135–225 sowie Horstmann 1991, S. 53–69. 993 Kuhn 1834, S. 100f. Zur Kritik Kuhns an Jacobis Thesen von der objektiven Wissenschaftlichkeit des Spinozismus vgl. ebd., S. 116: »Jacobi hat den Spinozism von seiner wissenschaftlichen Seite überschätzt.« 994 P II, S. 35216f./MBA IX.2, S. 15322f.. Insofern muss der Versuch, Büchner zum Jacobianer zu machen (vgl. Vollhardt 1988/89, S. 46–82, spez. S. 50, wo von einem »auf Jacobi zurückgehenden Standpunkt Büchners« gesprochen wird) problematisch erscheinen, und zwar nicht nur in methodischer Hinsicht, sondern insbesondere bezüglich des Gehalts der büchnerschen SpinozaInterpretation und -Kritik. 995 P II, S. 34022f./MBA IX.2, S. 14133f.. 996 In diesem Falle ETH. II, prop. 40, schol. 2 (Spinoza 1999, S. 180f.). 997 Spätestens an dieser Stelle wird Büchners fehlende Kenntnisnahme von Buch II bis V der Ethik Spinozas zur Gewissheit. Insofern erweist sich die Annahme Oesterles, »[i]m Werk Woyzeck gehen die moderne Physiologie- und Pathologielehre ein antiidealistisches Bündnis mit der in metaphysischem und ethischem Horizont argumentierenden spinozistischen Affektenlehre ein«, als durchaus

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war. Doch liegt der entscheidende Aspekt der Annahme Büchners in dem Interesse, Spinozas Rationalismus von allen Elementen »mystischer Anschauung«, d. h. unmittelbaren Wissens, frei zu halten. Erst aufgrund des strengen wissenschaftlichen Rationalismus, dessen wesentliche Prämissen Büchner in bestimmter Hinsicht teilte, konnte die Metaphysik des Spinozismus zu einem herausfordernden Widerpart für ihn werden.998 Dennoch birgt das Wissenschaftskonzept Büchners auch den Grund für das oben beschriebene Analysedilemma, das sich im Verlauf des Skripts verschärfen sollte. Denn zu jener analytischen Durchdringung eines philosophischen Systems, das die philosophiehistorische Methodik der Zeit erforderte, gehörte es, eine Prinzipiierung der Prämissen und Grundsätze zu leisten, d. h. im Falle Spinozas eine Zurückführung der Pluralität von Definitionen und Axiomen auf einen obersten Grundsatz. Schon Tennemann hatte das 6. Axiom von ETH. I als eine derartige Voraussetzung bestimmt, die »allen seinen Definitionen und Axiomen zum Grunde« liege.999 Und auch Kuhn suchte nach dem »Princip des Spinozism«, den »höchsten Höhen des spinozistischen Denkens«, das er dann im monistischen Gedanken der »All-Einheit« zu finden glaubte.1000 Büchners unterschiedliche Interpretationsansätze sind vor diesem Hintergrund als Prozess der Suche nach jenem obersten Grundsatz der Philosophie Spinozas zu werten. Nachdem er zunächst den ontologischen Gottesbeweis in dieser Fundierungsfunktion sah und hernach die Wahrheitstheorie des TIE, wird er in der Folge noch zu einer weiteren These gelangen. Diese wissenschaftstheoretische Vorgabe in der Analyse und Interpretation der Philosophie Spinozas bewirkt ein weiteres methodisch auffälliges Moment in der Darstellung des TIE: Büchner enthält sich bei eindeutig mit politischen bzw. weltanschaulichen Implikationen behafteten Theoremen einer ideologie- bzw. kulturkritischen Bewertung. Weder bei der Darlegung des von Spinoza zu Beginn des TIE entwickelten Weges zur Glückseligkeit, der einzig über die Abkehr vom Streben nach irdischen und daher vergänglichen Gütern und der Suche nach ewigen Wahrheiten einzuschlagen sei,1001 noch bei der von Büchner im Original zitierten Passage, die eine Übertragung dieser Maxime auf die Gesellschaft formuliert,1002 welche nach Spinoza so organisiert werden muss, dass möglichst viele Menschen an jenem Weg zur Glückseligkeit teilhaben können, findet sich eine einschlägige Kritik dieser theo-

|| irrig, da Büchner die im Buch III und IV der Ethik entfaltete Affektenlehre sicher nicht studiert hat; vgl. Oesterle 1983, S. 200–239, spez. S. 238. 998 Siehe abermals Hans Mayer 1972, S. 359. 999 Tennemann 1798–1819, X, S. 464. 1000 Kuhn 1834, S. 91f. 1001 Vgl. TIE § I, 1–17 (Spinoza 1993, S. 6–16); referiert bei Büchner P II, S. 32824–3306/MBA IX.2, S. 1311–13212. 1002 TIE § 14: »Deinde formare talem societatem, qualis est desiderande, ut quamplurimi quam facillime et secure eo perveniant« (Spinoza 1993, S. 1416f.; zitiert bei Büchner P II, S. 32928–30).

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logischen Vorstellung. Am deutlichsten zeigt sich die Zurückhaltung Büchners am Referat der Gesellschafts- und Bildungstheorie des Tractatus theologico-politicus, der in einigen Auszügen zitiert wird.1003 Vor allem die »Grenzlinie zwischen dem Glauben (der Religion) und der Philosophie«1004 weckt Büchners Interesse: Spinoza vertritt nämlich in TTP XIV und XV die These, dass Glauben und Wissen vollständig voneinander zu trennen seien, wobei der eigentliche Weg zur Glückseligkeit ausschließlich im wahren Wissen bestehe. Dennoch müsse dieser Weg ein privilegierter der Wenigen bleiben, während die »Menge« zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung des biblischen Glaubens bedürfe.1005 Diese oftmals kritisierte Position, die auch einen Teil der aktuellen SpinozaForschung dazu veranlasst, Spinozas Philosophie insgesamt als Moment der Gegenaufklärung zu bestimmen,1006 wird von Büchner in eher zurückhaltender, zunächst die Widersprüche des Konzepts beleuchtenden Weise bewertet: Diese Widersprüche lassen sich leicht erklären, wenn man bedenkt, daß der tractatus theologicopoliticus zu einer Zeit erschien, wo Spinoza wohl die Grundlinien seines Systems gezogen haben mochte, aber wahrscheinlich noch nicht alle seine Konsequenzen entwickelt hatte. Außerdem ist es wohl möglich, daß er seine Gedanken noch nicht ganz unverhohlen auszusprechen wagte und dem Glauben noch Konzessionen machte, die er später zurücknahm.1007

Den Widerspruch sieht Büchner vor allem in der uneingeschränkten Wissensbefähigung des Menschen und dem Ausschluss des Volkes von diesem Weg zur Glückseligkeit. Aus dieser geradezu als Entlastung Spinozas zu bezeichnenden Argumentation ist zunächst zu schließen, dass Büchner selbst bei ideologisch problematischen Positionen des spinozanischen Systems um eine Erläuterung der begrifflichen oder historischen Zusammenhänge bemüht ist. Zumal gegenüber dem Descartes-Exzerpt, das noch von Invektiven gegen das cartesische System bestimmt wurde, charakterisiert sich das Spinoza-Manuskript durch sachliche Strenge, auf deren Grundlage erst eine systematisch begründende Kritik erfolgt.1008

|| 1003 P II, S. 33020–33119 (Zitate und Übersetzungen aus TTP III und IV) sowie P II, S. 33219–33328 (Zitate und Übersetzungen aus TTP XIII bis XV). 1004 P II, S. 33231f./MBA IX.2, S. 13419. 1005 Vgl. dazu TTP, XIV (Spinoza 1984, S. 220). 1006 Vgl. dazu Schroeder 2002; bei Spinoza ist an dieser Stelle auch wenig Radikalaufklärung zu entdecken, die aber Morawe 2013, S. 174ff. allein aufgrund des Immanenzgedankens mit Spinoza und daher mit Büchner verknüpft. 1007 P II, S. 33329–36/MBA IX.2, S. 13516–22. 1008 Vor allem mit seinem zweiten Argument, der Vorsicht Spinozas vor den Zensurinstanzen der Zeit, verwirklicht Büchner zudem eine weitere methodische Prämisse Tennemanns, der gefordert hatte, dass der Philosophiehistoriker auch realgeschichtliche Bedingungsfaktoren der philosophischen Systeme für eine vollständige Interpretation zu berücksichtigen habe. Vgl. dazu Schröpfer 1994, S. 221, S. 225ff.

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Dieses Charakteristikum des Spinoza-Manuskripts erweist sich auch bei Büchners Darstellung der vielleicht brisantesten Thematik des Spinozismus, den moralischen Bestimmungen von gut und böse: Zunächst werden die Argumente Spinozas aus TIE § 12 paraphrasiert, nach denen »bös und gut [...] nur relativ gesagt werden« kann.1009 Sodann werden die §§ 13–16 vollständig aus dem Original zitiert. Büchner beurteilte diese Passagen zunächst als »bedeutendes Geständnis, ganz im Sinne seines Systems«, indem sie »doch zugleich einen Widerspruch« enthielten: Nur die menschliche Schwäche, nur der Mangel an Erkenntnis macht, daß wir nach etwas Vollkommnem streben [...]. Und doch, wie kann er von menschlicher Schwäche reden? Eben so, wie er in seiner Metaphysik das Endliche aus dem Unendlichen, wie er das Böse aus unsern Vorstellungen herleitet.1010

Diese Problematik in der Konzeption Spinozas, überhaupt von Schwächen, d. h. von Bestimmungen, die mit Negativität behaftet sind, sprechen zu können, unter der Voraussetzung, dass zugleich alles, was ist, von Gott – definiert als absolute Positivität – hervorgebracht wurde, führt Büchner zurück auf das grundlegende Problem dieser Metaphysik: den »ewige[n] Widerspruch zwischen dem, was ist in der Endlichkeit, und dem Ewigen, an das wir dasselbe zu knüpfen suchen.«1011 Berücksichtigt man Büchners ethischen Universalismus aus der Schülerzeit, der sich auch durch die sozialanthropologischen Thesen von der Determiniertheit von Verstandes- und Bildungsleistungen nicht vollständig relativierte,1012 muss diese Zurückhaltung in der Bewertung der ›relativistischen‹ Moralität Spinozas überraschen. Der auffällige Befund kann aber auch zu der Einsicht führen, dass Büchner jene historische Distanz zu seinem Gegenstand herzustellen versuchte, die der Philosophiegeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts als methodische Maxime diente.1013 Mit jener Thematik des Verhältnisses von Substanz und Modi, dem Unendlichen und Endlichen in der Metaphysik Spinozas, wird sich erst der letzte Teil des Manuskripts befassen. Schon an dieser Stelle versucht Büchner die Moralitätskonzeption der spinozanischen Philosophie, die noch in Danton’s Tod im Zentrum der konventionellen Spinoza-Kritik Paynes stand, durch eine Reflexion auf die philosophischen Grundlagen zu erläutern. Im Manuskript von 1836 sind die ideologiekritischen Perspektiven aus Danton’s Tod zunächst hinter die systematische Argumentation zurückgetreten. Der Philosophiehistoriker zieht offenkundig eine systematische Aus-

|| 1009 P II, S. 3296; so Büchners Übersetzung von folgender Passage: »Quod ut recte intelligatur, notandum est, quod bonum et malum non, nisi respective, dicantur« (TIE § 12; Spinoza 1993, S. 1223ff.). 1010 P II, S. 3307–17/MBA IX.2, S. 13213–21. 1011 P II, S. 33017–19/MBA IX.2, S. 13221–23. 1012 P II, S. 4018–20/MBA I, S. 11910–12. 1013 Anders zu dieser Stelle: Dedner 2002, S. 294f., der allerdings jede philosophiehistoriographische Reflexion vermeidet und so einen Widerspruch in Büchners Spinoza-Interpretation feststellt.

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einandersetzung mit den »philosophischen Systemen seit Cartesius«1014 einer ideologiekritischen Bewertung vor.1015 In einer eher konventionellen – von Goethe1016 und Heine1017 beeinflussten – Weise wird die Relativierung der Moralität durch deren Erklärung aus der endlichen und daher beschränkten Erkenntnisfähigkeit des Menschen und die Begründung einer demgegenüber anzustrebenden Glückseligkeit in der »Anschauung des Ewigen, Unendlichen« interpretiert durch jene »unendliche Ruhe«, die über den »ersten Rissen des Spinozismus«1018 liege. Auch Schelling wies 1834 darauf hin: Daher kann man allerdings auch dem Spinozismus jene beruhigende Wirkung zuschreiben, die unter anderem Goethe an ihm gepriesen hat; der Spinozismus ist wirklich die das Denken in Ruhestand, in völlige Quiescenz versetzende Lehre, in ihren höchsten Folgerungen das System des vollendeten theoretischen und praktischen Quietismus.1019

Noch dieser philosophisch legitimierte Quietismus aber reizt Büchner nicht zum vehementen Einspruch. Er verbleibt vielmehr auch gegenüber der »unendlichen Ruhe des Spinozismus« bei seiner Erörterung der philosophischen Systematik und einer begründeten Erklärung der von ihm analysierten Widersprüche.

|| 1014 Vgl. den Brief an den Bruder vom 2. September 1836, P II, S. 44816f. /MBA X.1, S. 10216. 1015 Vgl. dagegen – ohne nähere Interpretation bzw. Kontextualisierung – Dedner 1990, S. 136: »Geplant war hier das Projekt einer Geschichte der Philosophie offenbar nicht, um eine Fortschrittsgeschichte des Denkens zu entwerfen, sondern als Revision in ideologie- und kulturkritischer Absicht.« An Büchners Auseinandersetzung mit dem TTP lässt sich diese These allerdings nicht verifizieren; dennoch wird die Annahme von der ›Philosophiegeschichte als Ideologiegeschichte‹ gerne wiederholt; vgl. Martin 2007, S. 245. 1016 Vgl. dazu die folgende Passage aus dem 16. Buch von Dichtung und Wahrheit, das Büchner nachweislich gelesen hat: »Ich erinnere mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblätterte« (Goethe 1988, X, S. 76). 1017 Auch Heine bemühte diesen Topos: »Bei der Lektüre des Spinoza ergreift uns ein Gefühl wie beim Anblick der großen Natur in ihrer lebendigsten Ruhe« (Heine 1976, V, S. 561). 1018 P II, S. 33120f./MBA IX.2, S. 13321f.. Büchner verwendet den Terminus »Riß« in zweifacher Bedeutung. Einerseits findet man jenen »Riß in der Schöpfung von oben bis unten« (Danton’s Tod, P I, S. 4817f./MBA III.2, S. 4926), der eine Zerrissenheit meint. Andererseits wird der Terminus in folgender Weise angewandt: »[...] das Gesetz der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt« (Probevorlesung; MBA VIII, S. 1556f.). In dieser letzteren Bedeutung, die als Grundrisse zu bestimmen ist, sind auch die obigen »Risse des Spinozismus« gemeint; vgl. dazu schon Stiening 1999, S. 108f. In keinem der beiden Fälle hat dieser Terminus jedoch kategorialen Status (so aber Glück 2009–2012, S. 56f.). 1019 Schelling 1985, IV, S. 451.

198 | Philosophie und Philosophiegeschichte

2.2.3.3 Unter Zeitdruck: Zusammenfassung und Exzerpte aus Tennemann und Herbart Dies zeigt sich auch bei einer Betrachtung des letzten, kürzesten und unabgeschlossenen Teils des Manuskripts,1020 in dem der Interpret versucht, die in den ersten Abschnitten gewonnenen Ergebnisse für eine Darstellung der gesamten Systematik der spinozanischen Philosophie, der »Grundgedanken«, wie er sagt,1021 zu verwerten. Doch gelangt Büchner in dieser Zusammenfassung auch zu neuen Ergebnissen. Dabei bemüht er sich zunächst, den »Übergang von der Wissenschaftslehre zur Metaphysik« zu rekonstruieren,1022 der explizit bei Spinoza nicht formuliert worden sei. Zu diesem Zweck wird die methodische Funktion der »Idee des höchsten Wesens« im TIE mit der systematischen Position der Gottessubstanz in der Ethik korreliert.1023 Ferner werden die Thesen zum Descartes-Bezug und der »synthetischen Methode« kursorisch wiederholt sowie die Kritik am »sehr unphilosophisch[en]« Beweis des Lehrsatzes 5.1024 Eine Bestimmung der Substanz-Attribut-Relation, durch die Büchner zu dem Ergebnis gelangt, dass »die Begriffe Substanz und Attribut identisch« sind, knüpft ebenfalls an Analyseergebnisse aus dem Kommentar zu ETH. I an.1025 Im Zentrum dieser letzten Seiten des Manuskripts steht jedoch eine ausführliche Erörterung des Substanzbegriffs, und zwar hinsichtlich seiner Funktion im Relationsgefüge der Modi, d. h. das Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit bei Spinoza. Dazu bemüht sich der Interpret in einem erneuten Anlauf, den Ausgangspunkt der Deduktionen, mithin den obersten Grundsatz der Philosophie Spinozas, festzulegen: Das ganze System fängt eigentlich mit dem auf dem Satz des ausschließenden Dritten gegründeten 1. Axiom an.1026

Nach dem ontologischen Argument und der Wahrheitskonzeption des TIE liegt mit dieser These der dritte Versuch Büchners vor, den Deduktionsanfang im System Spinozas zu bestimmen. Dabei betont der Interpret zunächst das streng kontradiktorische Verhältnis der Bestimmungen des in se esse und des in alio esse, indem er auf den universellen und ausschließlichen Charakter, d. h. die unbegrenzt auf alles anwendbare Extension dieser Bestimmung aufmerksam macht. Keiner denkbaren || 1020 P II, S. 35020–35236/MBA IX.2, S. 15231–15340. 1021 P II, S. 3513/MBA IX.2, S. 15215. 1022 P II, S. 35020f. /MBA IX.2, S. 15231ff.. 1023 Vgl. dazu ähnliche Ausführungen bei Röd 1977, S. 92ff. Allerdings geht Büchner mit keinem Wort auf die doch erheblichen Unterschiede beider Werke Spinozas ein, die jene von ihm intendierte Korrelation nur bedingt erlaubt. Vgl. dazu die exzellente Studie von Schneider 1981, S. 212–241. 1024 Vgl. P II, S. 35034–37 u. S. 35212f./MBA IX.2, S. 15211–13 u. S. 15319. 1025 P II, S. 35127f./MBA IX.2, S. 15240f.; vgl. schon P II, S. 29031–34/MBA IX.2, S. 1135–38. 1026 P II, S. 3514f./MBA IX.2, S. 15217f..

Die philosophischen Vorlesungsskripte | 199

Entität könnten nach Spinoza entweder beide oder gar keine dieser Prädikate zugeschrieben werden. Eine an diese Bestimmung des Satzes vom Widerspruch als oberstem Grundsatz des spinozanischen Systems1027 sich anschließende Frage nach dem genauen Status dieses Satzes sowie dessen Bedeutung für die zuvor analysierten Widersprüche im weiteren Programm Spinozas wird von Büchner allerdings nicht mehr gestellt, geschweige denn beantwortet. Vielmehr gibt der Interpret im Zusammenhang der Rekonstruktion des »Verhältnis[ses] der endlichen Dinge zu Gott«,1028 das in den Lehrsätzen 28 bis 30 von ETH. I reflektiert wird, seine selbständige Bearbeitungsleistung vollständig auf und zitiert ausschließlich die einschlägigen Passagen aus Tennemann.1029 Dieser gelangte durch eine Analyse sowohl des Kausalitäts- als auch des Substantialitätsbegriffs zu dem von Büchner offenbar geteilten Ergebnis: Nach beyden Grundsätzen kommt man von d. Endlichen nie auf das Unendliche und von dießem nie auf das Endliche. Es ist zwischen beyden eine Kluft, die Spinoza zu umgehen sucht, aber nie gänzlich verdecken konnte.1030

Hierin liegt für Büchner – zumindest in diesem dritten Teil seines Manuskripts – offensichtlich der grundlegende Widerspruch des spinozanischen Systems, aus dem sich alle weiteren von ihm zuvor analysierten Konzeptionsbrüche ergeben. Jedoch wird weder diese Zurückführung noch die angestoßene Überlegung der Bedeutung des Satzes vom Widerspruch in seiner universellen Gültigkeit für die ontologische Grundstruktur geleistet und kann aus dem vorhergehenden Text nur mehr in Andeutungen erschlossen werden. Erst hiermit aber erreicht Büchner eine Einsicht in die von allen idealistischen Interpretationen herausgearbeiteten zentralen Widersprüche des Spinozismus. So schreibt Schelling: Ich komme also nie auf einen Punkt, wo ich die Frage aufwerfen könnte, wie die Dinge aus Gott folgen oder gefolgt sind. Spinoza leugnet also jeden wahren Anfang des Endlichen, von jedem Endlichen werden immer nur wieder anderes Endliches gewiesen, von dem jenes zum Daseyn bestimmt ist, dies geht ins Unendliche zurück, so daß wir nie fertig werden und nirgends ein unmittelbarer Uebergang aus dem Unendlichen ins Endliche nachweisen können.1031

Aufgrund der weiteren Themen, die Büchner aus Tennemann und Herbart exzerpiert – so u. a. das Verhältnis von ordo rerum und ordo idearum,1032 das Postulat der

|| 1027 Vgl. dazu auch Lovejoy 1985, 184ff. sowie Engfer 1996, S. 134–157, spez. S. 138f. 1028 P II, S. 61312/MBA IX.2, S. 1577. 1029 Tennemann 1798–1819, X, S. 472ff. 1030 P II, S. 61331–6143/MBA IX.2, S. 15722–24; zitiert nach Tennemann 1798–1819, X, S. 473. 1031 Schelling 1985, IV, S. 458.; vgl. auch Hegel 1986, XX, S. 179ff., Feuerbach 1990, S. 333ff. sowie Kuhn 1834, S. 98ff. 1032 P II, S. 61418ff./MBA IX.2, S.15738ff..

200 | Philosophie und Philosophiegeschichte

Inhärenz aller Dinge in Gott,1033 das Problem des Werdens1034 oder die Konzeptionen von Kausalität1035 und Selbstbewusstsein1036 –, wird deutlich, dass der angehende Dozent der Philosophiegeschichte mit seinem Spinoza-Skript noch lange nicht zu Ende war und das offensichtlich auch wusste. Das Lozieren seiner SpinozaInterpretation in das Tableau der zeitgenössischen Philosophiehistoriographie muss mithin diesen vorläufigen Charakter des Textes und seiner Ergebnisse stets berücksichtigen.

2.2.3.4 Beschluss II: Büchners Spinoza Erst in der Korrelation mit dem Descartes-Skript wird deutlich,1037 dass ein wichtiges Spezifikum der büchnerschen Spinoza-Interpretation in dem Versuch besteht, dessen Metaphysik an die zuvor ermittelten konzeptionellen Brüche und Inkohärenzen des Cartesianismus anzunähern. Büchner vermeint daher vor allem im ersten Teil des Skripts, den begründungstheoretischen Zirkel zwischen Cogito-Argument und Gottesbeweis auch auf Spinoza übertragen zu können, was allerdings scheitert. In immer neuen Anläufen bemüht er sich, den Deduktionsausgangspunkt der Metaphysik Spinozas zu ermitteln. Als Naturwissenschaftler und Philosophiehistoriker legt er dabei seiner wissenschaftlichen Reflexionsarbeit eine Rationalitätskonzeption zugrunde, die – in unbegrenzter Form – auch die spinozanische Philosophie konstituierte. Deshalb waltet im Spinoza-Skript des angehenden Dozenten der Philosophiegeschichte das eherne Gesetz des »Satz[es] des ausschließenden Dritten«,1038 auf dessen Grundlage – also mit Spinoza – der Gottesbeweis der Ethik in allen seinen Teilen widerlegt werden soll – also gegen Spinoza. Erst die partielle Identität der Voraussetzungen bewirkt die begriffliche Anstrengung, der sich Büchner in seinen Widerlegungen aussetzte. Dem Beweis vom Dasein Gottes – als moralisch absolut vollkommenem Wesen – wollte er nicht nur abstrakt, d. h. hier empirisch,1039 die »Leiden der Menschheit« entgegengehalten. Büchner wollte vielmehr diese Demonstration als Konzept aus »falschen Schlüssen« erweisen und dadurch begriffslogisch und systematisch widerlegen.1040 Die »Philosophie als Wissenschaft«1041 bewirkte nicht nur die darge-

|| 1033 P II, S. 61431ff./MBA IX.2, S. 1581ff.. 1034 P II, S. 61520ff./MBA IX.2, S. 15823ff.. 1035 P II, S. 62014ff./MBA IX.2, S. 16125ff.. 1036 P II, S. 62430ff./MBA IX.2, S. 16433ff.. 1037 Diese Vermittlung der Interpretationen fehlt den Studien von Taylor 1995 und Stiening 2000– 04. 1038 P II, S. 3514f./MBA IX.2, S. 15217f.. 1039 Vgl. dazu Hans Mayer 1972, S. 354. 1040 Zu Recht spricht MBA IX.2, S. 259 von der Haltung einer »systeminternen Analyse und Kritik«. 1041 P II, S. 1734.

Fazit: Büchners philosophisches und philosophiehistorisches Wissen | 201

stellten spezifischen Modifikationen seiner eigenen Auffassungen hinsichtlich des Systems Spinozas, sondern ermöglichte allererst eine begründbare Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Philosophemen. Insgesamt steht Büchner mit seiner äußerst kritischen, mehr systematisch als historisch ausgerichteten Rekonstruktion der Erkenntnistheorie, Methodologie und Metaphysik Spinozas in der Tradition Tennemanns und Herbarts. Denn die Schwerpunkte der Darstellung und Kritik des Spinozismus, die der Deutsche Idealismus vortrug, sind bei Büchner kaum zu finden. Die sowohl von Schelling als auch von Hegel vorgetragene These, dass man in die »Abgründe« des Spinozismus gesehen haben (Schelling)1042 bzw. dass man einmal Spinozist gewesen sein müsse, um Philosoph zu werden (Hegel),1043 sind von Büchners Furor der Gottesbeweiswiderlegung grundlegend unterschieden. Auch die von Hegel, Schelling, Feuerbach und Erdmann vorgetragene Kritik am fehlenden Freiheitsbegriff Spinozas1044 wird bemerkenswerter Weise bei Büchner nicht reflektiert. Jacobis Fatalismusvorwurf, dem er bei Tennemann und Kuhn begegnen konnte,1045 scheint ihn nicht interessiert zu haben.1046

2.3 Fazit: Büchners philosophisches und philosophiehistorisches Wissen Dass Büchner allerdings auch in anderer Weise mit Begriffen der rationalistischen Metaphysik umgehen konnte, zeigt nicht nur das Philosophengespräch in Danton’s Tod, das mehrere naturalistische Widerlegungen des Gottesbeweises Spinozas durch Thomas Payne vorstellt, zugleich aber die Ohnmacht des philosophischen Gedankens in politischen und existenziellen Extremsituationen zeigt.1047 Auch ein vorläufiger Blick auf eine Passage aus dem im Sommer 1836 entstandenen Lustspiel Leonce und Lena belegt Büchners kritische Fähigkeit zu einer wissenschaftsexternen Perspektive auf die Philosophie: P e t e r . (Während er angekleidet wird) Der Mensch muß denken und ich muß für meine Unterthanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht. – Die Substanz ist das an sich, das

|| 1042 Vgl. Schelling 1985, IV, S. 452. 1043 Hegel 1986, XX, S. 161ff. 1044 Vgl. Erdmann 1933, S. 59; Feuerbach 1990, S. 347ff.; Hegel 1986, XX, S. 179ff.; Schelling 1985, IV, S. 452 u. S. 463f. 1045 Siehe Tennemann 1798–1819, X, S. 479; Kuhn 1834, S. 111f.; vgl. schon Sigwart 1816, S. 146ff. 1046 Dieses Desinteresse ist allein deshalb bemerkenswert, weil Büchner im so genannten Fatalismus-Brief vom Januar 1834 einem metaphysischen Fatalismus verfallen sei, vgl. u. a. Jancke 31979, S. 123–138; Hauschild 1993, S. 270ff. Siehe dagegen die empirisch und hermeneutisch angemessene Interpretation bei Mayer 1979a, S. 86ff. 1047 Vgl. hierzu ausführlicher Stiening 2002, S. 56f.

202 | Philosophie und Philosophiegeschichte

bin ich. (Er läuft fast nackt im Zimmer herum.) Begriffen? An sich ist an sich, versteht Ihr? Jetzt kommen meine Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidentien, wo ist mein Hemd, meine Hose? – Halt pfui! der freie Wille steht davorn ganz offen. Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes System ist ruinirt.1048

Ohne diese Passage an dieser Stelle weiter auszudeuten,1049 liegt doch ein Interesse Büchners an ihr unübersehbar darin, einen bestimmten »Zusammenhang [...] zwischen cartesianischer und spinozistischer Philosophie auf der einen, dem absolutistischen Herrschaftssystem auf der anderen Seite«1050 herzustellen.1051 Doch scheint mir eine Deutung seiner philosophiehistorischen Forschung nur dann im Hinblick auf eine derartige ideologiekritische Perspektivierung möglich, wenn man den vorgängigen, ideologieindifferenten, d. h. streng wissenschaftstheoretischen Impetus bei der Analyse und Interpretation der philosophischen Systeme, mithin die Übernahme der philosophiehistoriographischen Methodologie Tennemanns, berücksichtigt. Nur die Einsicht in das für seine philosophische Beschäftigung konstitutive Bemühen einer wissenschaftlich exakten Fundierung der Erkenntnis und Kritik im Hinblick auf Spinoza kann Büchners Begriff der Philosophie überhaupt erkennbar machen. Anders als viele Interpreten scheint der Büchner vom Sommer und Herbst 1836 zwischen wissenschaftsinternen und -externen Bedingungsfaktoren unterscheiden zu können.1052 Descartes und Spinoza waren für Büchner keine Witzfiguren des überlebten Absolutismus, sondern als Vertreter einer philosophischen Theologie und der darauf aufbauenden metaphysischen, naturphilosophischen und anthropologischen Systemteile ernstzunehmende wissenschaftliche Philosophen. Dennoch beabsichtigte Büchner offenbar, eine arbeitsteilige Struktur in der Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie zu kultivieren, die der Wissenschaft zunächst eine systematische, wissenschaftsinterne Auseinandersetzung mit jenen Philosophien zuschrieb und eine ethische, politische oder ideologiekritische, mithin wissenschaftsexterne Auseinandersetzung der Dichtung überantwortete.1053 »Komisch«, grotesk oder gar tragisch wird damit die Philosophie schlechthin in Büchners Konzeption nicht.1054 Problematisch in unterschiedlichster Form werden aller-

|| 1048 MBA VI, S. 10219–28. 1049 Vgl. hierzu die philosophiehistorische Interpretation bei Nowitzki 1998, S. 319ff. sowie meine Ausführungen in Kap. 8. 1050 So Dedner 1990, S. 119–176, spez. S. 136; Knapp 32000, S. 33. 1051 Dedner 1989, S. 571–594, spez. S. 587. 1052 Vgl. hierzu Mayntz 2000, S. XXVIII. 1053 Zu Schwierigkeit und Produktivität der Unterscheidung zwischen externen und internen Faktoren der Wissenschaftsentwicklung vgl. Wolff 1994, S. 420 sowie Stiening 2007, S. 267f. u. S. 295–298. 1054 So die unhaltbare Annahme von Kuhnigk 1987, S. 276–281, spez. S. 278; Oesterle 1983, S. 200– 239 sowie Martin 2013.

Fazit: Büchners philosophisches und philosophiehistorisches Wissen | 203

erst jene Systeme, die sich durch ihre Inkonsistenzen ausgewiesen haben. Auf der Grundlage eines begründenden Beweises kann und muss jenen Philosophemen sodann ihre Funktion in derjenigen Wirklichkeit zugewiesen werden, die nach Büchner der Dichter darzustellen hat: Seine [des Dichters] höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen.1055

Mit diesem Hinweis ist jedoch der Rahmen der Betrachtung von Büchners philosophiehistoriographischer Rekonstruktion der Systeme Descartes’ und Spinozas und damit seiner philosophiegeschichtlichen Wissenschaftsanstrengungen überschritten und eine These zur Stellung des philosophischen Wissens in der intellektuellen Biographie Büchners überhaupt angedeutet: Georg Büchners wissenschaftliche Rezeption der Philosophie Descartes’ und Spinozas ist erklärtermaßen zu einem Teil seinem Interesse an einer universitären Laufbahn an der philosophischen Fakultät in Zürich zu verdanken. Die energische Intensität der kritischen Bearbeitung lässt sich durch dieses äußere Movens jedoch nicht hinreichend erklären.1056 Die Geschichte der Philosophie bot ihm offenbar nicht nur Auseinandersetzungsmöglichkeiten in systematischer Hinsicht, so im Zusammenhang des ihn stets herausfordernden Gottesbeweises oder auch spezifischer Anthropologeme, sondern auch für die begründete Formulierung einer naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Methodologie, Systematik und szientifischen Praxis. Zu dieser durch Büchner hergestellten Interaktion zwischen Philosophie und den Naturwissenschaften ist nunmehr überzugehen.

|| 1055 P II, S. 41014–16/MBA X.1, S. 6625–27. 1056 Vgl. hierzu auch Stiening 1999, S. 101ff.

 Naturphilosophie Im Unterschied zu den philosophischen Schriften hat sich die Forschung wenigstens vereinzelt der naturwissenschaftlichen Texte Büchners angenommen – wenngleich zumeist aus einer wissenschaftsgeschichtlich dilettierenden, literarhistorischen Perspektive. Auch die Wissenschaftsgeschichtsschreibung zum frühen 19. Jahrhunderts wurde noch kaum auf Büchner aufmerksam.1 Dennoch kann in den letzten Jahren ein ansteigendes Interesse an den vergleichend anatomischen Arbeiten des Autors verzeichnet werden. Dieses Interesse ist zwar zu einem Teil der spezifischen Perspektive poststrukturalistisch inspirierter Literatur-Forschung und deren diskursanalytischer Ineinanderblendung von wissenschaftlichen und literarischen Texten geschuldet,2 doch haben einige wissenschafts- und philosophiegeschichtliche Arbeiten3 die durch die gelegentlichen Studien und Kommentare der älteren Forschung4 erreichten Wissens- und Interpretationsbestände soweit erweitert und ausdifferenziert, dass Büchners Naturwissenschaften auch für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung zum frühen 19. Jahrhundert anschlussfähig werden.5 Im Folgenden soll im kritischen Anschluss an diese neueren Studien6 sowie durch die Aufnahme der innovativen Leistungen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsforschung zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, die in den letzten Jahren in bedeutendem Maße erbracht wurden,7 die Entwicklung sowie die systematische und methodische Kontur der büchnerschen Naturwissenschaft und -philosophie dargestellt werden. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass die empirischen Naturwissenschaften zwischen 1800 und 1840 als Einzelwissenschaften zugleich durch das naturphilosophische Paradigma und die kritische

 1 Vgl. hierzu in ersten Ansätzen Bach, Breidbach u. von Engelhardt 2007, S. XVI sowie die Rezension von Kanz 2006. 2 Vgl. insbesondere Ludwig 1998, S. 160ff.; Guntermann 2000, S. 95ff.; Müller-Nielaba 2000; Müller-Nielaba 2001; Müller-Sievers 1999; Müller-Sievers 2003, S. 51–100; Müller-Sievers 2003a; Borgards 2007, S. 421–520; Borgards 2009; Beise 2010, S. 89–98; Elm 2015; Wimmer 2015; Burks 2017. 3 Stiening 1999; Roth 2002a; Roth 2004 und Roth 2016. 4 Döhner 1967; Gaede 1979; Döhner 1982; Hauschild 1985, S. 359–378; Schramm 1989; P II, S. 872– 923; Fortmann 2013, S. 39ff.; Hauschild 2013, S. 209ff. 5 Vgl. Roth 2002 sowie Bach, Breidbach u. von Engelhardt 2007, S. XI–XXVI. Dem Band VIII der MBA, der die naturwissenschaftlichen Schriften präsentiert, kann diese Anschlussfähigkeit allerdings nicht attestiert werden; er verbleibt in den Bahnen der wissens- und wissenschaftsgeschichtlich beschränkten Büchner-Philologie der 1980er Jahre; vgl. hierzu Stiening 2013b. 6 Zu einer Auseinandersetzung mit der Studie von Roth vgl. Stiening 2006a. 7 Vgl. hierzu vorläufig zusammenfassend Breidbach 2004; von Engelhardt 2004; Bach u. Breidbach (Hg.) 2005; Breidbach 2006; McBirney u. Cook 2009 sowie Ziche 2017. https://doi.org/10.1515/9783050093215-003

  Naturphilosophie Auseinandersetzung mit diesem eine konstitutive Funktion im Rahmen allgemeiner philosophischer Begründungstheorien innehatten.8 Naturforschende Einzelwissenschaft dieses Zeitraums hatte somit je schon einen – kritischen oder affirmativen – Bezug zu allgemeinen Naturtheorien und deren zumeist fundierender Stellung für Erkenntnistheorie, Ethik, Politik und Ästhetik: »Die Philosophie muß sich aus der Naturphilosophie entwickeln, wie die Blüthe aus dem Stamm«, so Lorenz Oken in seiner die zeitgenössische Debatte nachhaltig prägenden Naturphilosophie.9 Unbestreitbar ist vor diesem Hintergrund, dass die Naturwissenschaften schon früh das gegenüber der Philosophie und der Dichtung gewichtigere Interesse Büchners ausmachten – ein Tatbestand, der in den 1820er und noch in den 1830er Jahren keineswegs eine Abkehr von der Philosophie bedeutete;10 deren differenzierte Kenntnis galt vielmehr als eine noch weitgehend unbestrittene Bedingung der Möglichkeit von Naturforschung.11 Dabei sah schon Friedrich Sengle richtig: »Seine [d. i. Büchners] Naturwissenschaft ist in ihrem Kern Naturphilosophie.«12 Die Bedeutung einzelner, höchst unterschiedlicher Modelle dieser Naturphilosophie13 für Büchner wird in der Folge neben und in Konkurrenz zu anderen Ausprägungen der zeitgenössischen Naturforschung zu überprüfen sein.14 Im Zusammenhang dieser kontextuellen Bedingungen für Büchners Naturforschung, die in einem ersten Schritt das direkte Umfeld seiner Ausbildung zu betrachten hat und in einem zweiten Schritt den umfassenderen Kontext der zeitgenössischen Naturforschung berücksichtigen muss, ist zunächst dessen besondere Entwicklung vom Studenten der praktischen Medizin zum ›evolutionstheoretischen‹ Naturforscher (vordarwinscher Provenienz)15 nachzuzeichnen. Diese zweiteilige Kontextualisierung ist auch deshalb erforderlich, weil sie gegenüber den Ergebnissen Udo Roths  8 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 1988, S. 1–56; Poggi u. Röd 1989; von Engelhardt 1997, S. 35ff.; Breidbach 2006, S. 211ff.; Breidbach 2012; Höppner 2017, S. 109–165. 9 Oken 2007, II, S. 428 (Ax. 3457); zur Stellung der okenschen Naturphilosophie im Tableau europäischer Naturwissenschaften im ersten Drittel des 19. Jahrhundert vgl. Breidbach u. Ghiselin 2002 sowie Höppner 2017, S. 705ff. 10 Erst die 1840er Jahre bringen mit ihrer radikalen Wende zu den empirischen Einzelwissenschaften einen durch Feuerbrach verstärkten Trend zur Negation von Philosophie überhaupt, vgl. Lefèvre 1992, S. 81ff. 11 Vgl. hierzu u.a. Breidbach 1988, S. 7ff.; von Engelhardt 1997; Mischer 1997, S. 165ff.; Jahn (Hg.) 3 2004, S. 275–355; Richards 2002, S. 207–321 und Breidbach 2006, S. 175ff. u. S. 211–222; dass auch Büchners empirische Studien auf der Grundlage naturphilosophischer Kategorien erfolgten, wussten noch Löbel 1937, S. 116; Viёtor 1949, S. 247 und Golz 1964; danach erst wieder Schramm 1989; Reddick 1990; Stiening 1999 und Roth 2004, auf deren Grundlage jetzt Beise 2010, S. 89ff.; Hauschild 2013, S. 209ff. und Kurzke 2013, S. 359ff. 12 Sengle 1971–1980, III, S. 278. 13 Zu diesen z. T. erheblichen Differenzen vgl. schon Bonsiepen 1997. 14 Vgl. hierzu u. a. Strohl 1936, Schramm 1989 sowie Roth 2002. 15 Zu den begründungstheoretischen Konturen und einem Tableau vordarwinscher Evolutionstheorien vgl. Breidbach 1986; Corsi 2005 sowie Lefèvre 2009.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

einige Erweiterungen und Präzisierungen bietet und gegenüber den Angaben der Marburger Büchner-Ausgabe Richtigstellungen vornehmen kann. Im Zentrum der Erörterung wird eine systematische Rekonstruktion der Begründungformen, Gehalte und Ziele der büchnerschen Naturforschung stehen, die allerdings aufgrund ihrer erheblichen Abhängigkeit vom historischen Kontext einer Einbettung in ihre Entwicklungsgeschichte bedürfen.16

. Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler Auch wenn es einer älteren ebenso wie einer neueren, poststrukturalistisch inspirierten Forschung17 schwer fällt: Büchner ist weder Mediziner geworden, noch je schon Naturwissenschaftler gewesen.18 Es macht gerade den nicht eben konfliktfreien Entwicklungsgang seiner Ausbildung aus, vom Studium der praktischen Medizin zur Naturforschung und damit sowohl institutionell als auch disziplinär von der medizinischen zur philosophischen Fakultät zu wechseln. Büchners Vater, lange Jahre gesellschaftlich und fachlich hochangesehener Arzt in Darmstadt,19 hat diesen Fächer-, Institutionen- und damit Berufswechsel seines Sohnes kritisch verfolgt, und zwar auch deshalb, weil er um die schwierigen beruflichen Bedingungen einer akademischen Existenz als Naturforscher in den 1820er und 1830er Jahren wusste.20 Die von der Forschung in eigentümlicher Weise überbewertete persönliche Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn Büchner,21 die nach der Flucht des Sohnes im Februar 1835 vor allem mit Georgs politischen Geheimaktivitäten zusammenhing,22 wurde auch um die Frage der beruflichen Existenz des Sohnes aus 16 Insofern ist die auch in diesem Kapitel realisierte methodische Vermittlung von Entwicklungsgeschichte und Systematik nicht einem Vollständigkeitspostulat geschuldet, sondern vielmehr dem Versuch eines systematischen Verständnisses eines heute weitgehend enigmatischen Textes. 17 So die um die Bedeutung der Neuroanatomie für Büchners Literatur bemühte Arbeit von MüllerNielaba 2001, S. 10, in der Büchner als Mediziner behandelt wird. 18 So aber vereinfachend MBA VIII, S. 176f. und Kurzke 2013, S. 230f. 19 Zu Karl Ernst Büchner vgl. Franz u. Loch 1987, S. 66–73; Hauschild 1993, S. 2–11, S. 16ff. u. ö.; Martin 2007, S. 21f.; Kurzke 2013, S. 114ff. 20 Vgl. hierzu u. a. Wehler 31996, S. 504–520. 21 Vgl. – ausgehend von Hauschild 1993, S. 2–11, S. 16–21 – die Angriffe Mayers 1995–2000c, S. 452f., die in eine eigentümliche Apologie Ernst Büchners münden. Zurückhaltender die gleichwohl ebenso problematischen Thesen der MBA (VIII, S. 176f.), die durch den Abgrenzungszwang zu Hauschilds angeblich narrativem Muster zu einer Marginalisierung des institutionellen und beruflichen Konfliktes zwischen Medizin und Naturforschung gezwungen ist; zum ungebrochenen Interesse an einer fabulierenden Überhöhung dieses biographischen Details vgl. auch Kurzke 2013, S. 114– 123. 22 Vgl. den Brief Ernst Büchners an Georg vom 18. Dezember 1836, in: P II, S. 458–460/MBA X.1, S. 112–114.

  Naturphilosophie getragen. Sicher unterstützte der Vater spät die wissenschaftliche Laufbahn des Sohnes,23 zunächst aber scheint er von Georgs naturphilosophischen Ausflügen wenig überzeugt gewesen zu sein. Auch wenn Georg Büchner sich noch vor Beginn des Studiums über die Ausrichtung seiner Studien mit dem Vater einig gewesen zu sein scheint,24 so dürfte schon im Laufe der ersten beiden Straßburger Jahre die Entscheidung gegen die Medizin und für die Naturforschung gefallen sein. In dieser konfliktreichen Trennung erweist sich Büchner als Kind der 1830er Jahre, in denen – anders als noch während der Blütezeit romantischer Medizin und Naturforschung bis 182025 – die »enge Verbindung« beider Bereiche sich allmählich löste.26 So trennt Rudolph Wagner, der 1834/35 – also während der Studien- und Promotionszeit Büchners – ein Standardwerk zum Forschungszweig, das Lehrbuch der vergleichenden Anatomie, veröffentlichte, in seiner Vorrede nachdrücklich zwischen seiner Ausbildung zur praktischen Medizin und zur Naturforschung.27 Zwar wurden nach wie vor enge Verbindungen zwischen Naturphilosophie und Medizin postuliert, und um diese Vermittlung wurden auch erhebliche Kontroversen ausgetragen,28 so bei Büchners Gießener Dozenten in allgemeiner Naturphilosophie und vergleichender Anatomie, Johann Bernhard Wilbrand.29 Doch hatten sich in den 1830er Jahren die auf die Praxis ausgerichtete Medizin und die auf wissenschaftliche Theoriebildung ausgerichtete Naturforschung so weit ausdifferenziert, dass deutlich unterschiedliche Berufsbilder zu isolieren waren. Büchner tendierte ganz offensichtlich schon früh zur Forscherlaufbahn, ohne sich von der Ausbildung zum Brotberuf des Mediziners loszusagen: [I]n den ersten Tagen des October [1831] traf er in Straßburg ein, um dort hauptsächlich die Naturwissenschaften zu studiren und sich nebenbei für den Beruf des Arztes vorzubereiten […]. Er studirte seine Fachwissenschaft mit regem Eifer, machte in ihr ungewöhnliche Fortschritte und erwarb sich die Anerkennung der Lehrer. […] und Büchner’s Lieblingsfächer, die Anatomie und

 23 Vgl. P II, S. 45829–4596. 24 Vgl. die den Konflikt entschärfende Formulierung bei Ludwig Büchner: »Der Wunsch des Vaters und eigene Neigung bestimmten ihn für das Studium der Medicin und der damit verwandten Naturwissenschaften.« Zitiert nach Dedner (Hg.) 1990, S. 107. 25 Vgl. hierzu neben Rothschuh 1968, Rothschuh 1968a, S. 191–230; Rothschuh 1978, S. 248ff. und Rothschuh 1981, S. 146 insbesondere Wiesing 1995. 26 Siehe hierzu Bynum 1994, S. 37ff.; Gerabek 1995, S. 45ff.; von Engelhardt 1997, S. 20: »Naturforschung im Zeitalter der Romantik steht durchgängig in einer engen Verbindung zur Medizin.« Vgl. auch Breidbach 1998 und von Engelhardt 2008, S. 507–512. 27 Wagner 1834/35, S. V. 28 Vgl. Rothschuh 1981. 29 Vgl. Wilbrand 1815, S. VIII u. S. 5f. sowie Wilbrand 1831.

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Zoologie, waren von zwei ausgezeichneten Professoren, Lauth und Duvernoy, vertreten. Gegen die Medicin empfand er eine wachsende Abneigung.30

So hält der Freund, Georg Zimmermann, die Problemlage 50 Jahre später fest. Im folgenden soll zunächst die Entwicklung Büchners nachgezeichnet werden, die ihn vom anfänglichen Medizinstudium bis in eine Dozentur für Vergleichende Anatomie in Zürich führte. Schon vor Beginn des Studiums gab es erste Indizien für seine Berufswahl.

.. Schulzeit bis 1831: »Ich darf werden, wozu ich einzig tauge.« Anders als im Zusammenhang seiner philosophischen Beschäftigungen ist hinsichtlich etwaiger naturwissenschaftlicher, naturphilosophischer bzw. medizinischer Interessen Büchners während der Schulzeit kaum Nennenswertes dokumentiert. Sicher ist, dass er einen an Linné orientierten Unterricht in Pflanzenkunde erhielt;31 auch konnten sich die Schulkameraden an seine spezifischen Interessen für Naturwissenschaft erinnern und früh schon soll er »eifrig […] naturwissenschaftliche Bücher« gelesen haben.32 Erneut kann ein Blick auf Friedrich Zimmermanns Erinnerungen diese zeitige Ausrichtung der intellektuellen Biographie Büchners auf die Naturforschung illustrieren: Er warf sich frühzeitig auf religiöse Fragen, auf metaphysische und ethische Probleme, in einem inneren Zusammenhang mit Angelegenheiten der Naturwissenschaften.33

Schon während der Schulzeit befasste sich Büchner also sowohl mit spezifischen Erkenntnissen einzelwissenschaftlicher Naturforschung als auch mit deren allgemeiner, zu metaphysischen und ethischen Fragen Verbindung aufnehmender, begründungs- und geltungstheoretischer Funktion – noch im Woyzeck wird sich dieser Zusammenhang dokumentieren.34 Auch wenn die über Jahrzehnte rückprojizierte Behauptung, Büchner habe schon während der letzten Schulzeit »einen entschiedenen Beruf zum bedeutenden Naturforscher« gezeigt, zu einer Form nachträglicher Verklärung zu gehören scheint,35 wird doch deutlich, dass seine beruflichen und intellektuellen Interessen der wissenschaftlichen Naturforschung galten.

 30 Vgl. hierzu Erinnerungen Georg Zimmermanns an seinen Studienkollegen Georg Büchner; zitiert nach Hauschild 1985a, S. 330–346, hier S. 334. 31 Vgl. Lehmann 2005, S. 29–35. 32 Zitiert nach Hauschild 1985a, S. 333. 33 Zitiert nach MA, S. 371. 34 So auch Döhner 1967, S. 27–33, spez. S. 30. 35 MA, S. 372.

  Naturphilosophie Dass diese Interessen sich zunächst in einem Medizinstudium verwirklichen mussten, dürfte weniger einem »Lebensplan« des Vaters »für seinen Ältesten«36 bzw. einer wirksamen »Familientradition«37 geschuldet sein als vielmehr der wissenschaftstheoretischen, institutionellen und soziopolitischen Entwicklung der Universitäten und der an ihnen gelehrten Naturwissenschaften in den 1820er und 1830er Jahren. Zum einen begann sich an den deutschen Hochschulen erst in diesen Jahrzehnten des frühen 19. Jahrhunderts eine Ausdifferenzierung der naturwissenschaftlichen Disziplinen aus den medizinischen und philosophischen Fächern zu vollziehen, und dies in wissenschaftstheoretischer wie institutioneller Hinsicht.38 Berücksichtigt man, dass erst ab den späten 1830er Jahren Institute für Physiologie gegründet wurden,39 die – wie Johannes Müllers lange Kämpfe zeigen – zum Teil erst in den 1850er Jahren institutionelle Eigenständigkeit erlangten,40 wird erkennbar, in welch tiefgreifende Umbruchphase Büchners Studienbeginn fällt. Darüber hinaus werden die wissenschaftstheoretischen Kämpfe, die innerhalb der Naturwissenschaften zwischen philosophischer und experimentell-analytischer Ausrichtung ausgetragen werden, auch auf dem Felde der Medizin geführt.41 Es gibt in Naturforschung und Medizin zwischen 1800 und 1840 nicht nur einen allgemeinen Ausdifferenzierungsprozess, sondern auch eine besondere wissenschaftstheoretische Kontroverse, die in einen Verdrängungswettbewerb mündet, der erst nach 1840 von der analytischen Naturwissenschaft für sich entschieden wurde.42 Auch die Literatur reflektiert diesen kontroversen Prozess; so stellt etwa der Arzt in Immermanns Epigonen 1836 in seiner »Bekenntnisgeschichte« fest: Unsrer Wissenschaft steht überhaupt eine Umbildung bevor, und wenn es erlaubt ist, der Entwicklung der Dinge vorzugreifen, so möchte ich sagten: Wir werden uns der antiken Richtung wieder näher anschließen. Lange genug haben wir mit Pulvern und Pillen die Natur zu zwingen gewähnt, oder den lebendigen Leib an das Kreuz des Systems geschlagen, in Zukunft werden wir mehr beobachten.43

Büchner selbst wird seine vergleichend anatomischen Studien noch unter dem Dach der medizinischen (Gießen) und hernach der philosophischen Fakultät in Zürich

 36 So die den persönlichen Konflikt dramatisierenden Thesen Hauschilds 1993, S. 118f. 37 So ähnlich ratlos P II, S. 879. 38 Vgl. u. a. Poggi u. Röd 1989, S. 13–89; Nipperdey 1994, S. 485–498. 39 Vgl. Kremer 1991 sowie Kremer 1992. 40 Vgl. Lohff 2005, S. 336f. 41 Vgl. Rothschuh 1981, S. 147; Lenoir 1992, S. 23ff. sowie Wiesing 1995, S. 120ff. u. S. 231ff. 42 Vgl. Breidbach 1988; Kremer 1991; Scheele 1991; Sawicki 2002, S. 131 sowie Engel 2002, S. 66Anm. 4 für die Anthropologie. 43 Immermann 1971, II, S. 561.

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ausüben und damit innerhalb eines gegenüber den institutionellen Innovationen, die in Frankreich, aber auch in Berlin statthatten,44 rückständigen Rahmens. Die grundlegende Umbruchs- und Verunsicherungssituation an den deutschen Universitäten der späten 1820er Jahre wird neben den disziplinären und wissenschaftstheoretischen Ausdifferenzierungen und Kontroversen auch dadurch gekennzeichnet, dass der seit 1805 stetige und in den 1820er Jahren massive Anstieg der Studentenzahlen just zu Studienbeginn Büchners seinen Höhepunkt überschritten hatte: Seit Beginn der 30er Jahre setzte jedoch ein drastischer Rückgang der Einschreibungen ein, als sich die relative Sättigung der vertrauten Arbeitsmärkte für Akademiker, scharfe Einschnitte wie der preußische Stellenstop im Zuge der Sparpolitik, die offiziellen Warnungen vor dem Studium, die Angst vor einem arbeitslosen Akademikerproletariat an allen Universitäten gleichartig als Abschreckung auswirkten.45

Dass Büchner seine naturwissenschaftlichen Interessen an ein Medizinstudium band, dürfte also zum einen institutionellen Gründen geschuldet gewesen sein, weil bestimmte Teilbereiche – u. a. allgemeine und vergleichende Anatomie und Physiologie – an medizinische Fakultäten gebunden waren. Zum anderen aber dürfte diese Studienwahl auch berufspragmatische Ziele verfolgt haben, weil Büchner als ausgebildeter Mediziner bessere Berufsaussichten hatte als im ›Heer‹ arbeitsloser Akademiker an den Universitäten.46 Die politische Verfolgung, die ungesicherte Existenz als Flüchtling ließen letztere Überlegungen allerdings Makulatur werden und ermöglichten so auch die Versuche einer von der medizinischen Praxis freien Existenz als Naturwissenschaftler und -philosoph. Im Frühjahr und Herbst 1831 scheint Büchner jedoch mit der anvisierten Form der Ausbildung durchaus zufrieden zu sein, er freut sich offenbar auf sein Studium: Ich fühle mich glücklich! Ich darf werden, wozu ich einzig tauge: Ich bin nie, auch nicht eine Sekunde lang im Zweifel über meinen Beruf gewesen.47

 44 Vgl. u. a. die Darstellung der Bildungs- und Studienentwicklung Matthias Jacob Schleidens in den mittleren und späten 1830er Jahren bei Charpa 2005, S. 630–635. 45 Wehler 31996, S. 514. 46 Insofern bleibt die in ihrer polemischen Abgrenzung gegen Hauschilds überpotenzierten VaterSohn-Konflikt bemüht »nüchterne Darstellung« der MBA VIII, S. 177ff., die Büchners Studium ausschließlich zu einem solchen der Naturwissenschaft macht, ebenso unzutreffend wie der psychologisierende Hauschild. Es gab in den 1830er Jahren gerade für Kinder aus Bildungsbürgerfamilien (vgl. Wehler 31996, S. 506ff.) erhebliche Probleme, Naturforschung zu studieren, die auch Georg Büchner nicht ignorieren konnte. Der von der MBA (VIII, S. 177) so gelobte Schulz hält im Übrigen fest, dass Büchner sich erst in Straßburg von der »praktischen Medizin […] entschieden« abgewendet habe. 47 Franzos nach Dedner (Hg.) 1990, S. 156; vgl. auch Bergemann 1922, S. 605.

  Naturphilosophie Auch wenn diese Aussage nur durch Emil Franzos übermittelt wurde, somit als ungesichert zu gelten hat,48 drückt sie in angemessener Weise Büchners Verhältnis zu seinen Studien- und Ausbildungsaussichten aus;49 ein nicht unerheblicher Grund für diese Freude lag womöglich in einer Besonderheit der Straßburger Universität.

.. Straßburg 1831–1833: Zwischen zwei gegensätzlichen Mentoren: ErnestAlexandre Lauth und Georges-Louis Duvernoy Straßburg und dessen Universität wählten Vater und Sohn Büchner als Studienort für Georg50 offenbar aus mehreren Gründen: Zum einen entsprach es dem Wunsch des Vaters, dass sich sein Sohn »mit der französischen Mentalität vertraut machen« sollte,51 was in ›Strasbourg‹, dieser internationalen Schnittstelle zwischen Deutschland und Frankreich, besonders einprägsam erfolgen konnte.52 Dies galt zumal, seit in den späten 1820er Jahren ein aktives politisch-liberales Bürgertum die kommunalen Obliegenheiten übernommen hatte, das die sprachlichen und nationalen Differenzen mehr produktiv kultivierte als zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zu machen,53 weil es eine gegenüber den nationalstaatlichen Interessen eigenständige kommunale Identität in politischer und kultureller Hinsicht ausprägte.54 Wenn überhaupt in diesen Jahren aus den Reihen der institutionalisierten Politik, dann entstanden im Straßburg der 1830er Jahre im Rahmen kommunalpolitischer Obliegenheiten erste Formen öffentlicher Sozial- und Bildungspolitik.55 Darüber hinaus – und das dürfte Georg Büchner besonders angezogen haben – waren an der Straßburger Akademie die Naturwissenschaften institutionell von der Medizin abgetrennt, auch wenn es personelle Überschneidungen im Lehrkörper gab: Seit 1810 existierte die eigenständige Faculté des Sciences neben der traditionellen Faculté de Médecine, und hier konnte Büchner neben Mathematik, Chemie und Physik auch Naturgeschichte und Botanik studieren.56 Obwohl die Philosophie schlecht besetzt war, wurde doch in einer Reihe von Fächern der medizinischen und der naturforschenden Fakultät »die Verbindung naturwissenschaftlicher und philo-

 48 Vgl. Dedner (Hg.) 1990, S. 496. 49 Vgl. hierzu auch zu Recht Gundolf 1973 [EA 1929], S. 82: »In der Naturwissenschaft ahnte er schon früh seine eigentliche Bestimmung.« 50 Zum Folgenden vgl. auch Döhner 1967, S. 34–36; Hauschild 1993, S. 139–145; P II, S. 880; Roth 2004, S. 24–33; MBA VIII, S. 178–182. 51 Hauschild 1993, S. 120. 52 Vgl. hierzu auch anschaulich Hauschild 1993, S. 169–181. 53 So auch Werner 1987, S. 119. 54 Vgl. hierzu Lutterbeck 2011, S. 85–160. 55 Vgl. ebd., S. 122ff. 56 Vgl. Livet 1996, S. 181–203.

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sophischer Disziplinen gelehrt«;57 auch das dürfte Büchner an die Straßburger Akademie gezogen haben.58 Eingeschrieben war Büchner in der medizinischen Fakultät,59 und dies wohl auch, weil es seinem Ziel wie dem seines Vaters entsprach, in Hessen das Studium beenden zu können, was nur bei einer Ausbildung im Rahmen einer medizinischen Fakultät möglich war. Welche Veranstaltungen, d. h. Vorlesungen und praktische Übungen (u. a. in der Anatomie) Büchner in Straßburg besuchte, ist unbekannt, da es zu dieser Zeit noch keine Studienordnung gab, und zwar weder für das Medizin- noch für das Naturwissenschaftsstudium.60 Dennoch dürfte Büchner zu Beginn seines Studiums vor allem vorklinische, d. h. allgemein naturgeschichtliche bzw. -wissenschaftliche Vorlesungen und Übungen besucht haben. Größten Einfluss, so sagen alle zeitlich nahen Dokumente,61 übten dabei der Naturhistoriker und vergleichende Anatom Georges-Louis Duvernoy62 und der Anatom und Physiologe Ernest-Alexandre Lauth63 auf Büchner aus. Beide stellten ihm während des späteren Exils ihre Bibliotheken für seine Promotion zur Verfügung;64 nach Lauth hat sich Büchner auch im Hinblick auf persönliche Erlebnisse und Ereignisse erkundigt.65 Es ist in der Forschung üblich geworden, diese beiden »Mentoren«66 Büchners als Vertreter unterschiedlicher Wissenschaftstheorien und -methodologien zu beschreiben, wobei Lauth als Repräsentant einer an Schelling bzw. Geoffroy SaintHilaire orientierten Naturphilosophie, Duvernoy dagegen als Repräsentant einer an Cuvier geschulten empirisch-einzelwissenschaftlichen Naturforschung charakterisiert wird.67 Vor allem die neuere Büchner-Forschung ist bei dieser Gegenüberstellung daran interessiert, Büchner stärker an Duvernoy als an Lauth anzubinden,68 weil man Büchner als Ikone einer kritischen Moderne offenbar ungern in eine als

 57 So auch Mayer 1985, S. 77; Knapp 32000, S. 11; vgl. auch P II, S. 1027 sowie Stiening 2002, S. 47f. 58 Anders hier – allerdings von den Ergebnissen der neueren Forschung völlig unberührt – Oesterle u. Oesterle 2008, S. 257, die von der »empir. Wissenschaftsmethode der Franzosen« sprechen. Ein Blick in Livet 1996 hätte diesen paradigmatischen Fehler verhindern helfen. 59 Vgl. Hauschild 1993, S. 139f.; MBA VIII, S. 178. 60 Vgl. Wieger 1885, S. 152. 61 Vgl. Ludwig Büchner in: Dedner (Hg.) 1990, S. 108; Zimmermann in: Hauschild 1985a, S. 334. 62 Zu Duvernoy vgl. ausführlich Guillerey 1968 sowie Livet 1996, S. 188f. 63 Zu Lauth vgl. ausführlich Becker 1972 sowie Livet 1996, S. 245f. 64 Vgl. Hauschild 1993, S. 231; Roth 2004, S. 33; MBA VIII, S. 181. 65 Brief von Boeckel an Büchner vom 3. September 1833, in: P II, S. 372–374/MBA X.1, S. 25–27. 66 So MBA VIII, S. 192. 67 Vgl. hierzu u. a. Strohl 1936, S. 41f.; Mayer 1972, S. 57; Viëtor 1949, S. 217; Döhner 1967, S. 34f.; Hauschild 1985, S. 360; Dedner 1989, S. 572; Hauschild 1993, S. 141–143; Arz 1996, S. 78; P II, S. 880; Roth 2004, S. 29–31; Wenzel 2007, S. 170f.; MBA VIII, S. 181f. bzw. S. 192–194; Borgards 2009, S. 124; Beise 2010, S. 312f.; Kurzke 2013, S. 346ff.; Elms 2015, S. 120–126. 68 Vgl. u. a. P II, S. 880; MBA VIII, S. 192–194; Beise 2010, S. 92f.

  Naturphilosophie überholt bewertete naturphilosophische Tradition einbetten möchte.69 Indem man Duvernoy zum Empiristen erklärt und Büchner zu seinem Schüler,70 sieht man zudem die Möglichkeit, diesen in die Übergangsgeschichte zur analytischen Naturwissenschaft einzuschreiben,71 die sich ausgehend von Johannes Müller um die Mitte des Jahrhunderts ereignete.72 So unzulänglich sich die wissenschaftstheoriegeschichtlichen wie methodologiehistorischen Darstellungen der Differenzen zwischen Duvernoy und Lauth ausnehmen, so normativ überlagert wirken die an einem ›empirischen‹ Büchner orientierten Thesen seiner Nähe zu Duvernoy und Cuvier. Gegenüber solcherart Spekulationen ist vielmehr gesichert, dass Büchner zu einem Zeitpunkt (November 1831) an die Straßburger Universität kam, an dem der berühmt-berüchtigte Akademie-Streit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire73 im Oktober 1830 kaum ein Jahr vergangen war und daher noch seine Nachwirkungen weit über Paris hinaus zeitigte. Bekanntermaßen hat sich Goethe für diese Wissenschaftskontroverse in hohem Maße interessiert, auch wenn oder gerade weil er die Prominenz dieses Streites, die noch die Pariser Fisch-Weiber davon parlieren ließ, beneidete.74 In den Repräsentanten Duvernoy (Cuvier-Schule) und Lauth (Geoffroy-Schule), aber auch durch die Mediziner und Naturwissenschaftler Ehrmann, Meunir oder Bérot75 wurde die Kontroverse auch in Straßburg fortgesetzt. Erfahrungsfundierung wurde allerdings – wenn auch in je unterschiedener Form und Begründung – von beiden Fraktionen für die eigene Naturforschung in Anspruch genommen.76 Der Bezug auf Empirie überhaupt reicht mithin für eine qualifizierende Differenzierung der unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Ausrichtungen nicht aus.77

 69 Zurückhaltender, aber unentschieden Martin 2007, S. 33; anders dazu und einzig angemessen Roth 2004, S. 33: »Vieles deutet jedoch darauf hin, daß er bereits während seiner ersten Semester die naturphilosophische Ansicht und deren spezifische Ausformung in der Lehre Lauths favorisierte.« 70 Als der er auch von Duvernoy beansprucht wird, vgl. MBA VIII, S. 193. 71 Vgl. Poggi u. Röd 1989. 72 Döhner 1967 und MBA VIII, S. 246ff. 73 Vgl. hierzu ausführlich Apelt 1987 sowie Le Guyader 2004, S. 225ff. 74 Vgl. hierzu Goethe 1988, S. 219–250 sowie Kuhn 1967; Breidbach 2006, S. 175–181 und McBirney 2009, S. 99–108. 75 Zu diesen medizinischen und naturwissenschaftlichen Professoren der Akademie vgl. Roth 2004, S. 25ff. 76 Vgl. u. a. Bach 2001, S. 81f.; Breidbach 2004, S. 153–159; Breidbach 2006, S. 175–181. 77 Vgl. hierzu auch Jahn 32004a, S. 290ff.; Geus 32004, S. 325ff. sowie Höppner 2017, S. 58.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

... Büchner und die Cuvier-Schule Eine von den normativen Implikationen der analytischen Naturwissenschaft kategorial nicht mehr überformte Wissenschaftsgeschichte78 hat die Position Cuviers und Duvernoys, der sich zu Recht als Freund und Schüler Cuviers bezeichnete,79 in einer Weise rekonstruiert, die nicht nur die je spezifische Bedeutung von Erfahrung und Experiment in Cuviers klassifikatorischer Naturforschung einerseits sowie in der Naturphilosophie Schellings oder Geoffroy Saint-Hilaires andererseits zu bestimmen erlaubt,80 sondern – auf dieser Grundlage – auch die erheblichen systematischen und methodischen Differenzen des Naturforschers Georg Büchner zur Cuvier-Schule sichtbar werden lässt.81 Dabei erweist sich Cuviers ›strenger Empirismus‹ durch die theonome Begründungskonzeption für Essenz und Existenz der Natur überhaupt sowie durch die daraus resultierende typologische Kontur der Naturordnung in epistemologischer wie methodologischer Hinsicht als erheblich eingeschränkt.82 Von einer »strikt empirisch beschreibenden Vorgehensweise«83 im Sinne einer »empiristisch-experimentellen, mathematisch-physikalischen Methode«84 der analytischen Naturforschung ist weder für Cuvier noch für Duvernoy zu sprechen.85 Das unterscheidet sie allerdings noch nicht von Büchner, für den ebenfalls von einem strengen Empirismus weder in wissenschaftsmethodischer noch in erkenntnistheo-

 78 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 2004 und Breidbach 2006, S. 211–222, spez. S. 216f. 79 Vgl. Duvernoy 1839, S. 4; siehe auch Le Guyader 2004, S. 13. 80 Vgl. hierzu Rieppel 2001 und Rieppel 2001a sowie Breidbach 2004. 81 Zum Folgenden vgl. Cheung 2000, S. 17–39; Rieppel 2001, S. 139–156; Backenköhler 2002 sowie Breidbach 2006, S. 175–181. 82 Vgl. hierzu schon Coleman 1964, S. 170ff. sowie Rieppel 2001, S. 151. 83 So P II, S. 880. 84 Vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 20. 85 Insofern ist der Versuch, Cuvier zum »Empiriker« zum machen (P II, S. 880 u. S. 892; MBA VIII, S. 252), um damit Büchner in eine Geschichte der analytischen Naturwissenschaften einzuschreiben, ebenso falsch wie plump. Wenn darüber hinaus behauptet wird, Büchner habe die »Anwendung der romantischen Naturphilosophie« nur soweit getrieben, wie es »auch die Cuvier-Schule noch akzeptieren konnte« (ebd.), ist der Bogen weltanschaulicher Wahrheitsabwehr endgültig überspannt. Büchner hat sich vor allem (hier u. a. Wilbrand verwandt) von der theonomen Legitimation der angeblich natürlichen Klassifikationssysteme der Cuvier-Schule abgegrenzt und mit der Naturphilosophie einen von Cuvier strikt abgewiesenen Erklärungsanspruch verfolgt. Dass er den empirischen Ergebnissen der vergleichenden Anatomie Cuviers gleichwohl verpflichtet war, wie die gesamte Zunft, spricht nicht für eine systematische oder methodische Nähe. Ausgerechnet die theologisch fundierte Cuvier-Schule als den Hort empirischer Vernunft gegen die Spekulationen der Naturphilosophie (deren »romantische« Provenienz es für Büchner erst noch zu überprüfen gilt) zu inthronisieren, stellt die Forschungslandschaft zur Naturwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts auf den Kopf.

  Naturphilosophie retischer Hinsicht gesprochen werden kann.86 Zwar ist nicht zu bestreiten, dass sich der schon im späten 18. Jahrhundert machtvoll entfaltende experimentelle Empirismus der analytischen Schule auch gegen die naturphilosophischen Tendenzen im frühen 19. Jahrhundert in schweren Kontroversen zu behaupten wusste;87 welch prekäre, ja unsichere Stellung dem rechtlich und moralisch unbegrenzten Experimentalismus im frühen 19. Jahrhundert im öffentlichen Diskurs zukam, zeigt jedoch nicht nur Büchners Woyzeck, sondern ein schnell berühmt werdender Roman, dessen erste Kapitel im Februar 1837 veröffentlicht wurden: Oliver Twist. Hier heißt es im zweiten Kapitel: Everybody knows the story of another experimental philosopher who had a great theory about a horse being able to live without eating, and who demonstrated it so well, that he had got his own horse down to a straw a day, and would unquestionable have rendered him a very spirited and rampacious animal on nothing at all, if he had not died, four-and-twenty hours before he was to have had his first comfortable bait of air. Unfortunately for, the experimental philosophy of the female to whose protecting care Oliver Twist was delivered over, a similar result usually attended the operation of her system.88

Es ist die gehaltliche Universalität und die aus dieser Unbegrenztheit resultierende ethische Indifferenz des Experimentalismus, der europaweit in den 1830er Jahren in Frage steht. Hinsichtlich der grundlegenden Differenzen der büchnerschen Naturforschung zur Cuvier-Schule ist vielmehr entscheidend, dass sowohl Cuvier als auch Duvernoy eine letztlich theonome Naturtheorie entwerfen, nach der die »Vielfalt der Formen als Resultat einer Göttlichen Schöpfung«89 zu interpretieren bzw. zu erklären ist.90 Bis in die Einzelheiten beispielsweise seiner katastrophischen Naturgeschichtstheorie, nach der in sich entwicklungsfreie Zeitalter durch sintflutartige Katastrophen beendet würden, um hernach durch neue abgelöst zu werden, reichen die »theologische[n] Gründe« ihres Argumentierens.91 Im Hinblick auf die aus dieser Prämisse einzig mögliche präformationistische Entstehungstheorie,92 nach der die Keime aller Arten und Gattungen schon durch die Schöpfung Gottes vollständig hervorgebracht worden seien – was für Cuvier alle Entwicklungsgeschichte als kontinuierliche ver-

 86 Das wusste schon Sengle 1971–1980, III, S. 276–279; insofern ist die These Fricks (2004, S. 264), Büchner sei »Anhänger der neuen experimentellen Richtung der physiologischen Forschung«, mithin der analytischen Schule gewesen, wissenschaftsgeschichtlich unzutreffend. 87 Vgl. Poggi u. Röd 1989, S. 13ff. 88 Dickens 1982, S. 4f. 89 Breidbach 2006, S. 177. 90 Vgl. auch Coleman 1964, S. 26ff. 91 Müller 1990, S. 284. 92 Vgl. hierzu ausführlich Lepenies 1978, S. 52ff. und Jantzen 1994, S. 580ff.; Goy 2017, S. 288ff.; in Bezug auf Cuvier: Rieppel 2001, S. 148.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

unmöglichte und die »Variabilität der Arten« erheblich begrenzte93 –, hält Duvernoy in einer 1839 veröffentlichten Vorlesung mit Bezug auf Cuvier deutlich fest: M. Cuvier avait indiqué ce quì lui restait à dire pour vider la grande question de l’évolution et de l’épìgénèse, et pour développer ensuite sa proper manière d’envisager l’étude de la création.94

Auch für den Schüler und Nachfolger Cuviers auf dem Pariser Lehrstuhl für Zoologie, Georges-Louis Duvernoy, betont einer seiner ersten Biographen die theologische Fundierung der Natur- und Naturwissenschaftsvorstellung: Eminemment religieux, il comprit la science des êtres organisés comme une éclatante démonstration du Dieu qui les a conçus et créés. L’homme, spectacteur intelligent de cette longue manifestation de son Dieu, lui apparaissait comme destiné à une vie future dont la ferme croyance a soutenu son courage dans une lente et douloureuse agonie, et rasséréné son visage jusque sous les droigts glacés de la mort. Ses idées de haute philosophie dominaient toutes ses doctrines purement scientifiques.95

Büchners ›Natur‹ aber ist – wie sich zeigen wird – keineswegs eine Schöpfung Gottes, weil es die Instanz einer transzendenten »Intelligence suprême«96 in seiner Naturphilosophie gar nicht gibt bzw. nicht geben kann, denn die Natur wird als eigenständig handelnde immanente Substanz bestimmt.97 Seine allgemeine Naturkonzeption schließt den Schöpfungsgedanken a priori aus. Zwar neigte er – wie die Probevorlesung zeigt98 – einer präformationistischen Entwicklungstheorie zu, doch in der Form einer kontinuierlichen Realgenese,99 die der theonomen Katastrophentheorie Cuviers entgegenstand;100 zudem greift Büchner auch für die Erklärung von natürlichen Entwicklungsprozessen nicht auf eine Gottesinstanz zurück. Im Zusammenhang seiner Evolutionstheorie ist er seinen Gießener Lehrern, Joseph Hillebrand und Johann Bernhard Wilbrand, deutlich näher als der Cuvier-Schule. Nirgends klarer als an bestimmten Konsequenzen der jeweiligen Evolutionstheorien lässt sich die substanzielle Differenz Büchners zu Cuvier-Schule verdeutlichen: Denn wie Oliver Rieppel präzise herausarbeitete, führt Cuviers statische Typo-

 93 Ebd.; Müller 1990, S. 284. 94 Duvernoy 1839, S. 3. 95 Focillon 1855, S. 7. 96 Duvernoy 1839, S. 3. 97 Vgl. u. a. MBA VIII, S. 10037–41; siehe hierzu auch Stiening 1999, S. 104 u. S. 108. 98 Vgl. MBA VIII, S. 15914ff.. 99 Zu den Formen vordarwinscher Evolutionstheorien vgl. Breidbach 1986, zu Büchners Stellung in diesem Tableau vgl. Stiening 1999, S. 111f. 100 Vgl. hierzu Coleman 1964, S. 107–140; Müller 1990, S. 281–300; Rieppel 2001, S. 148–153; Backenköhler 2002; dass Büchner wusste, gegen was er sich wandte, zeigt eine Anspielung in Dantonʼs Tod. Vgl. MBA III.2, S. 753–5.

  Naturphilosophie logie der Tierklassen zu einer merklichen Distanz zum Konzept einer ›Kette der Wesen‹; gegenüber seinem Freund und Kollegen Christian Heinrich Pfaff meditiert Cuvier schon in den 1790er Jahren: Ich glaube, daß im Wasser lebende Tiere für das Wasser geschaffen wurden und andere für das Leben in der Luft.101

Aus dieser Prämisse wird Cuvier im Rahmen der Auseinandersetzung mit Geoffroy Saint-Hilaire ableiten, dass ein »Vergleich des Kiemendeckels der Fische mit dem Gehörknöchelchen der Terapoden« unzulässig sei.102 In expliziter Anlehnung an Lorenz Oken wird Büchner jedoch einen solchen Vergleich im Rahmen seiner komparativ-anatomischen Studien ziehen: […] denn das Ohr ist, wie Oken nachgewiesen hat, mit Ausnahme des Labyrinths nichts anderes als eine Umbildung der Kiemenhöhle.103

Eine zweite wesentliche Differenz zeigt sich darin, dass sich die Cuvier-Schule im Zusammenhang ihrer Organismustheorie und dem dafür entwickelten »Gesetz der Korrelation der Teile«104 ausdrücklich der Kategorie der »Zweckursache« bediente;105 in der Vorrede von Le Règne Animal von 1817 führt Cuvier unmissverständlich aus: L’histore naturelle a cependant aussi un principe rationnel qui lui est particulier, et qu’elle emploie avec avantage en beaucoup d’occasions; c’est celui des conditions d’existence, vulgairement nommé des causes finales. Comme rien ne peut exister s’il ne réunit les conditions qui rendent son existence possible, les différentes parties de chaque être doivent être coordonnées de manière à rendre possible l’être total, non-seulement en lui-même, mais dans ses rapports avec ceux qui l’entourent; et l’analyse de ces conditions conduit souvent à des lois générales tout aussi démontrées que celles qui dérivent du calcul ou de l’expérience.106

Demgegenüber verwarf Büchner ausdrücklich die Kategorie der Zweckursachen, weil sie für jede seriöse Naturforschung unbrauchbar sei; mit allem Nachdruck hält er fest: »Die Natur handelt nicht nach Zwecken; sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf […].«107  101 Rieppel 2001, S. 141. 102 Ebd. 103 MBA VIII, S. 7116f.. 104 Zu diesem Gesetz vgl. Geus 32004, S. 327. 105 Vgl. auch Lubosch 1931, S. 19; Coleman 1964, S. 38–43; Probst 1966, S. 162. 106 Cuvier 1829, S. 5f.; die These aber, dass dieses Teleologiekonzept aristotelisch sei (Coleman 1964, S. 42f. sowie Rieppel 2001, S. 146), ist unzutreffend. 107 MBA VIII, S. 15340f.; in ihrem Kommentar sehen die Autoren der MBA gerade in dieser büchnerschen Konzeption eine Nähe zu Duvernoys »Glaube an die relative Vollkommenheit jedes Organismus«. Bezug nimmt man auf Duvernoy 1839, S. 3, wo der Straßburger Naturhistoriker davon spricht, dass »chaque être est parfait et variable«. Es hatte sich aber schon im Zusammenhang der philoso-

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

In einem dritten zentralen Theoriemoment widersprechen sich Büchner und die Cuvier-Schule erneut kontradiktorisch: Wie für das Gros der zeitgenössischen Naturforschung stellt auch für Cuvier das Prinzip der Selbsterhaltung eines der fundamentalen Gesetze aller natürlichen Lebenswesen dar: Un corps organisé, comme une plante, un animal, est composé d’un tissu de solides qui contiennent des fluides en mouvement. Toutes ses parties ont une action réciproque les unes sur les autres, et concourent à un but commun, qui est l’entretien de la vie.108

Auch Duvernoy spricht axiomatisch von der »continuation du mouvement vital, […] que la mort naturelle devienne ainsi la suite nécessaire de l’action de la vie et de sa durée, dont la mesure est dans l’essence de notre organisation«.109 Büchner aber führt in seiner allgemeinen Naturtheorie aus, dass für die »philosophische Methode« der Naturforschung, die er als seine eigene emphatisch in Anspruch nimmt, »das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht« werde.110 Theonome Verursachung, Zweckursache und Selbsterhaltungsprinzip gehören zu den systematischen und methodischen Fundamenten der cuvierschen Natur- und Naturwissenschaftskonzeption sowie seiner Schule; Büchners Naturforschung weicht in diesen grundlegenden Prinzipien und Axiomen von deren Gehalten ab, so dass der Versuch Duvernoys, Büchner als seinen Schüler in diese wissenschaftstheoretische Position und ihre Tradition zu integrieren,111 nur wissenschaftspolitisch erklärt werden kann: Duvernoy ist es offensichtlich darum zu tun, die empirischen Ergebnisse der büchnerschen Arbeit als Produkte der Methodik und Systematik der von ihm vertretenen Schule auszuweisen. Dass Büchner tatsächlich empirische Ergebnisse vorzuweisen hatte, auch wenn die vergleichend-anatomische Interpreta phischen Skripte gezeigt, dass Büchner jedweden Vollkommenheitsbegriff als kategorial tragfähigen zurückzuweisen bemüht war, weil er ihn als Ideologem verstand; zudem darf die Selbstzweckhaftigkeit allen Seins keineswegs mit der Kategorie der Vollkommenheit verwechselt werden (vgl. hierzu grundlegend Kant 1983, VI, S. 154), und letztlich ist die Zuschreibung eines »Glaubens« zu Büchners Naturforschung (MBA VIII, S. 192) seiner methodischen Position unangemessen. Die MBA hätte hier stärker auf Schramm (1989, S. 128) und Roth (2004, S. 232–236) zurückgreifen sollen, die den Unterschied zu Cuvier in Hinsicht auf das Teleologieproblem klar herausarbeiten. 108 Cuvier 1798, S. 5; vgl. auch Cuvier 21829, Bd. I, S. 36; zur Stellung des Selbsterhaltungstheorems in der allgemeinen Naturtheorie Cuviers vgl. Cheung 2000, S. 24ff. 109 Duvernoy 1839, S. 11. 110 MBA VIII, S. 1553–5. MBA VIII, S. 544 kommentiert dieses Theorem nicht und bleibt daher bei ihrer Anbindung Büchners an Duvernoy. 111 Vgl. hierzu Duvernoy 1839, S. 25, wo der mittlerweile in Paris residierende Duvernoy von »M. Büchner, mon élève« spricht; MBA VIII, S. 181f. u. S. 192ff. macht daraus, weil man den CuvierSchüler als Empiristen missversteht und sich um eine systematische Rekonstruktion der theonomen Klassifikationssysteme nicht bemüht, ein enges Schüler-Lehrer-Verhältnis: Das bleibt aber, weil Büchner selbst zwar Empiriker, aber kein Empirist war, wenig überzeugend.

  Naturphilosophie tion dieser Befunde nicht durchgängig geteilt wurde, zeigt die Rezension des Mémoire durch keinen Geringeren als Johannes Müller,112 der sich im Hinblick auf allgemein naturphilosophische und selbst speziell neuroanatomische Erklärungsmodelle von Büchner erheblich unterschied und dennoch vor allem Lob für die empirischen Erkenntnisse, aber auch Momente von deren Deutung spendete.113 Von den naturphilosophischen Differenzen in methodischer und systematischer Hinsicht, die Büchner zwar schon in der ›partie philosophique‹ des Mémoire in Grundzügen deutlich machte, jedoch erst in der Probevorlesung vollständig entwickelte, konnte und wollte Duvernoy offenbar absehen; sicher war zudem, dass sich Büchner dieser Vereinnahmung nicht mehr erwehren konnte; und auch Lauth, der auf den Titel eines ›Lehrers‹ eher hätte Anspruch erheben können, war 1837 verstorben. Qualität und Quantität der grundlegenden Differenzen Büchners zur CuvierSchule sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch gewichtige Gemeinsamkeiten zwischen Duvernoys Naturforschung und der seines Studenten und Protegés gab. Dazu gehört zunächst die inhaltliche Nähe der Arbeitsschwerpunkte: Duvernoy – der über Hysterie promoviert worden war,114 was bei Büchner spätestens im Zusammenhang seiner Lenz-Novelle erhebliches Interesse geweckt haben dürfte – unterrichtet während dessen erstem Aufenthalt in Straßburg 1831 bis 1833 im Schwerpunkt Zoologie; diese Veranstaltungen hat Büchner offenbar besucht.115 Dabei konnte er von den Differenzen in begründungstheoretischer und methodischer Hinsicht durchaus absehen, weil die nur formelle Typologie Duvernoys genügend Raum für beobachtende oder experimentelle Erfahrungsakkumulation zuließ. Darüber hinaus war der Straßburger Zoologe und Naturhistoriker, dessen Freundschaft sich Johann Friedrich Meckel ausdrücklich rühmte,116 stets exzellent über den Stand der europaweiten Forschung informiert; das zeigen noch seine Leçons aus dem Jahre 1839, in denen er die französische, die englische und die deutsche Naturforschung systematisiert vorzustellen weiß. Eine sowohl begriffliche – und nicht nur terminologische – als auch sachliche Nähe ergibt sich zudem bei der Verwendung eines Begriffs der ›Harmonie‹, den Cuvier und mit ihm Duvernoy für das Verhältnis der Momente eines Organismus, mithin der Organe und der Gesetzmäßigkeiten ihrer Bewegungen annehmen, sowie der Interaktion dieses Organismus mit seiner Umwelt:

 112 Vgl. Müller 1837; abgedruckt in P II, S. 607–612 sowie MBA VIII, S. 598–601. 113 Ebd., S. 598–601; zu Müllers Stellung in den kontroversen Debatten der 1830er Jahre vgl. Gregory 1992; Breidbach 2005; Lohff 2005 sowie Otis 2007, S. 3ff. 114 Vgl. Duvernoy 1800. 115 Vgl. Roth 2004, S. 32. 116 Vgl. Meckel 1806, Vorrede [unpag,]; vgl. hierzu Göbbel u. Schultka 2002, S. 307.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Die ganze Organisation eines Tieres steht in notwendiger Harmonie zu seiner Lebensweise. Die Kauorgane müssen in Beziehung zur Nahrung stehen, und konsequenterweise in Beziehung zur ganzen Organisation.117

Cuvier geht es mithin um die Festlegung einer apriorischen, inneren und äußeren Harmonie, die er auch mit dem übergeordneten Begriff einer »économie organique« belegt.118 Diese Prämissen und ihre begriffliche Fassung teilt auch uneingeschränkt sein Schüler Georges-Louis Duvernoy: C’est dans cette partie surtout qu’on a renouvelé les idées de la philosophie ancienne, qui devinait la nature au lieu de l’observer, qui la créait dans ses conceptions, faute de la connaître dans ses admirables détails et de parvenir, par cette seule voie, à en comprendre, avec vérité, l’ensemble et l’harmonie. Dans ces théories on a cherché à établir un certain nombre de lois que l’esprit humain se flatte d’avoir découvertes, et qui réglent, selon ses vues, l’économie générale de la nature.119

Büchner nun bedient sich ebenfalls eines solchen Harmoniebegriffs – allerdings zur Bestimmung der »Aeußerungen eines und desselben Gesetzes, dessen Wirkungen sich natürlich nicht gegenseitig zerstören«.120 Es geht Büchner mithin nicht um die Kompossibilität der Teile eines Organismus, sondern um die Kompatibilität und Widerspruchsfreiheit von gesetzmäßigen Naturphänomenen und -prozessen.121 So distanziert Duvernoy solcherart »philosophische Reflexionen« ausführt und so klar sie – wie bei Cuvier – in die Erkenntnis der Geschöpflichkeit der innerlich und äußerlich harmonisierten Organismen münden, Büchner dürfte zumindest in seinen ersten Semestern Anknüpfungspunkte bei Duvernoy gefunden und sich so neue Lernbereiche erschlossen haben. ... Büchner und die Geoffroy-Saint-Hilaire-Schule Ungleich näher an seiner späteren, in Dissertation und Probevorlesung niedergelegten Natur- und Wissenschaftskonzeption lagen die physiologischen, aber auch vergleichend anatomischen Konzeptionen seines zweiten Straßburger Mentors, ErnestAlexandre Lauths.122 Auch persönlich muss Büchner dem nur zehn Jahre älteren Lauth näher gestanden haben als dem arrivierten und deutlich älteren Duvernoy.123

 117 Cuvier 1791, zitiert nach Cheung 2000, S. 29ff. 118 Vgl. hierzu auch Balan 1975, S. 291f. 119 Duvernoy 1839, S. 53; Hvhb. von mir. 120 MBA VIII, S. 15511–13. 121 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 116ff. 122 So auch Roth 2004, S. 33 sowie – wenngleich theologisch verstellt – Kurzke 2013, S. 350ff. oder auch Hauschild 2013, S. 209ff. und Elm 2015, S. 120ff. 123 Ludwig Büchner zählt Lauth zu den Straßburger Freunden seines Bruders; vgl. Ludwig Büchner in Dedner (Hg.) 1990, S. 108.

  Naturphilosophie Dabei dürften es vor allem zwei Kompetenzen Lauths gewesen sein, die Büchner in besonderer Weise anzogen: Zum einen galt Lauth als einer der bedeutendsten Präparatoren seiner Zeit,124 sein Handbuch für praktische Anatomie von 1829 bzw. 1835/36 galt – auch wegen des Abschnitts zu der »Angabe über die Art, dieselben [d.i. die Teile des Körpers] zu zergliedern und anatomische Präparate zu verfertigen« – als Standardwerk der Zunft.125 Gegen die bisherige Forschungsthese, Büchner habe vor allem bei Friedrich Christian Gregor Wernekinck in Gießen das Sezieren und Präparieren gelernt,126 scheint es erheblich wahrscheinlicher, dass er schon während seiner ersten Straßburger Zeit von Lauth in diesen technisch-praktischen Befähigungen der anatomia practica127 unterrichtet wurde,128 die er selbst während seiner Promotion und als Dozent in Zürich offenbar gut beherrschte.129 Lauths Buch, das 1829 erstmals auf Französisch erschienen war, um 1835 in überarbeiteter Auflage gleichzeitig in französischer und deutscher Ausgabe publiziert zu werden, gehörte während des 19. Jahrhunderts zu den Standardwerken des Faches;130 noch in Gustav Flauberts Bouvard et Pécuchet (1880) heißt es im Kapitel III: »Ce doit être une belle étude que l’Anatomie?« M. Vaucorbeil s’étendit sur le charme qu’il éprouvait autrefois dans les discussions; – et Bouvard demanda quels sont les rapports entre l’intérieur de la femme et celui de l’homme. Afin de la satisfaire, le médecin tira de sa bibliothèque un recueil de planches anatomiques. »Emportez-les! Vous les regarderez chez vous plus à votre aise!« Le sequelette les étonna par la proéminence de sa mâchoire, les trous de ses yeux, la longueur effrayante de ses mains. – Un ouvrage explicatif leur manquait; ils retournèrent chez M. Vaucorbeil, et grâce au manuel d’Alexandre Lauth ils apprirent les divisions de la charpente, en s’ébahissant de l’épine dorsale seize fois plus forte, dit-on, que si le Créateur l’eût faite droite. Pourquoi seize fois, précisément?131

Auch wenn die ironische Distanzierung, die das Wissenschaftsverständnis Flauberts in diesem Text insgesamt prägt,132 den Status der vorgestellten wissenschaftlichen Gehalte relativiert, wird doch ersichtlich, dass Lauths Handbuch auch nach über 40 Jahren noch immer als erste Wahl für den anatomischen Unterricht galt.133

 124 Vgl. Schultka u. Göbbel 2003, S. 59. 125 Vgl. Lauth 1835/36 sowie Ehrmann 1837, S. 12. 126 So schon Strohl 1936, S. 41ff.; Hauschild 1985, S. 361f.; Roth 2004, S. 37f.; Beise 2010, S. 90. 127 So Schultka u. Göbbel 2003, S. 49f. 128 So auch zu Recht MBA VIII, S. 181. 129 Vgl. hierzu den nachmaligen Bericht des Züricher Hörers August Lüning in MBA VIII, S. 221. 130 Vgl. Becker 1972, S. 30ff. 131 Flaubert 1964/65, XVII, S. 88f. 132 Vgl. Scholler 2002. 133 Vgl. dazu auch Wieger 1885, S. 162f.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Doch ging Büchners Straßburger Lehrer nicht nur der Ruf als Koryphäe in allgemeiner und vergleichender Anatomie, spezieller Neuroanatomie134 sowie als Präparator voraus; seinen Lehrstuhl an der medizinischen Fakultät der Straßburger Akademie erhielt er für das Fachgebiet Physiologie.135 Promoviert wurde er zwar mit einer anatomischen Arbeit über das Lymphsystem des Menschen.136 In der Folge war er aber auch mit physiologischen Forschungen hervorgetreten,137 für die er 1832 sogar einen Preis erhielt.138 Zuvor hatte er umfangreiche Reisen zu namhaften Forschungsinstituten in Deutschland, England und den Niederlanden unternommen,139 und brachte so gleichsam europäisches Format an die Straßburger Fakultät.140 Prägend für Büchner, aber auch für den Ruf Lauths in und über Straßburg hinaus war zum anderen die Fundierung seiner physiologischen, anatomischen und komparativen Arbeit in einer naturphilosophischen Systematik, die den wissenschaftlichen Prinzipien der Naturforschungen Étienne Geoffroys Saint-Hilaires und Étienne-Rénaud-Augustin Serresʼ verpflichtet war.141 Nicht zufällig zitiert Büchner letzteren mehrfach in seinem Mémoire.142 Schon in methodischer Hinsicht zeigt sich in nahezu allen Publikationen Lauths, dass er der Maxime Geoffroy Saint Hilaires, nach der »Wissenschaft […] nicht im Speziellen steckenbleiben«, sondern vielmehr »vom Speziellen zum Allgemeinen fortschreitend allgemeingültige Gesetze entdecken« sollte,143 zu entsprechen versuchte.144 Dieser Zug zum Allgemeinen der Natur zeigt sich auch in der physiologischen Dissertation zu den muskelanatomischmechanischen und physiologischen Dimensionen des Verdauungsprozesses bei Tieren, die Lauth unter dem Titel Du Mécanisme par Lequel les Matières alimentaires parcourent leur Trajet de la Bouche a l’Anus zur Übernahme des Lehrstuhls für Physiologie an der Straßburger Universität verfasste und die Büchner kannte.145 In deren Einleitung heißt es:

 134 Vgl. Lauth 1835, S. 2. 135 Vgl. Becker 1972, S. 12f.; Vetter 1994, S. 2245. 136 Lauth 1824; vgl. hierzu Olry u. Motomiya 1997, S. 6. 137 Vgl. Lauth 1833. 138 Vgl. NBG 29 (1862), Sp. 951. 139 Vgl. Vetter 1994, S. 2244f. 140 Vgl. hierzu die Danksagung auch für viele mündliche Fachgespräche in Lauth 1833, S. 2. 141 Zum Folgenden vgl. Le Guyader 2004, S. 96ff. 142 Vgl. MBA VIII, S. 6, S. 12, S. 16–28 sowie Roth 2004, S. 45. 143 So treffend Rieppel 2001, S. 166. 144 Vgl. u. a. Lauth 1833, S. 2 u. S. 91ff. 145 Büchner hatte sich diese Arbeit Lauths durch seinen Freund Eugen Boeckel zuschicken lassen; vgl. P II, S. 37211f. u. S. 37327f.; vgl. auch Mayer 1985, S. 205.

  Naturphilosophie Il nous suffira de faire remarquer ici […] 2.° que, considérées sous le rapport du mode d’alimentation des animaux, la longueur du canal intestinal et la perfection des appareils de division sont en général en rapport inverse avec la digestibilité des alimens.146

Büchner teilt in seinen Forschungen diese systematische und methodische Ausrichtung am Allgemeinen; nicht nur formuliert er ein allgemeines Naturgesetz,147 auf das hin alle besonderen Erscheinungen zu ordnen seien; auch seine wissenschaftliche Reflexionsarbeit begreift er als Herstellung von Einheit: In der vergleichenden Anatomie strebte Alles nach einer gewissen Einheit, nach dem Zurückführen aller Formen auf den einfachsten primitiven Typus.148

Aufgrund dieser notwendigen Einbettung des erfahrungsfundiert Besonderen ins naturgesetzlich Allgemeine drängt jede Untersuchung anatomischer und physiologischer Einzelheiten – auch die des tierischen Verdauungskanals – zu vergleichender Forschung: Ce n’est en général qu’à partir des animaux dont le canal intestinal offre deux ouvertures, une bouche et un anus, que nous établirons quelques considérations d’anatomie et de physiologie comparées.149

Diese stete Vermitteltheit von Besonderem und Allgemeinem in der Naturphilosophie der Geoffroy-Schule basiert aber keineswegs auf einem abstrakten Apriorismus, sondern – zumindest dem Anspruch nach – auf einer gegenüber dem abstrakten Empirismus Cuviers angemessenen Vermittlung von Erfahrung und Begriff, von Beobachtung und Abstraktion: La matière organisée constitue le champ de l’anatomiste, la philosophie lui fournit les instrumens pour l’exploiter. L’observation est le premier de ses moyens, l’abstraction en est le second.150

Im Hintergrund dieser Distinktion steht das Wissen darum, dass man bestimmte Beziehungen in der Natur, Geoffroy und Lauth sprechen von »rapport«, nicht sehen, d. h. empirisch nicht nachweisen kann, die sich mithin aus Beobachtungen nur erschließen lassen; zu Recht wird dieses Schließen als ein rationaler Prozess bestimmt. Hegels kurz zuvor entfaltete Kritik am epistemologischen und methodologischen Empirismus, in der es heißt:

 146 Lauth 1833, S. 4. 147 Vgl. MBA VIII, S. 10037–41 u. S. 1551–13; zu Status und Gehalt dieses Naturgesetzes vgl. Stiening 1999. 148 MBA VIII, S. 15545–47; vgl. hierzu schon Reddick 1990, S. 325ff. 149 Lauth 1833, S. 4. 150 Serres 1827, S. 49.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Die Grundtäuschung im wissenschaftlichen Empirismus ist immer diese, daß er die metaphysischen Kategorien von Materie, Kraft, ohnehin von Einem, Vielem, Allgemeinheit, auch Unendlichem usf. gebraucht, ferner am Faden solcher Kategorien weiter fortschließt, dabei die Formen des Schließens voraussetzt und anwendet und bei allem nicht weiß, daß er so selbst Metaphysik enthält und treibt und jene Kategorie und deren Verbindung auf eine völlig unkritische und bewußtlose Weise gebraucht,151

hatte die naturwissenschaftliche Geoffroy-Schule je schon reflektierend bedacht, gerade weil sie ihre Empirie methodisch und systematisch rational fundierte. Es ist mithin nur als ein tiefes Missverständnis zu bezeichnen, Lauth ›trotz‹ der naturphilosophischen Grundlegung seines wissenschaftlichen Ansatzes damit zu charakterisieren, er sei »zugleich ein dezidierter Empiriker gewesen«.152 Zum Selbstverständnis der Geoffroy-Schule – wie der gesamten von Schelling ausgehenden Naturphilosophie153 – gehörte es, sich als die eigentlichen Empiriker zu begreifen, weil man sich laut Geoffroy in der methodisch und systematisch ungeregelten, abstrakt klassifikatorischen Ordnung der Cuvier-Schule in einer letztlich beliebigen »pluralité des choses« verlor.154 Gegen diese Formen blinden Sammelns, die auch Büchner in seiner Probevorlesung beklagt,155 setzten Geoffroy, Serres und Lauth die These von einer rationalen Ordnung der Natur und ihrer daher gut begründeten Erforschung durch eine Ausrichtung an dem Prinzip einer »unité dans la varieté« bzw. einer »unité d’essence«.156 Hatten Cuvier und seine Schule die Suche nach einer solchen Einheit der Natur in ihrer Vielfalt als Überforderung des geschöpflichen Menschen und seiner Wissenschaften zurückgewiesen,157 so behaupten die französischen wie die deutschen Naturphilosophen, dass jene Prämisse einer unité de composition der Natur dem Gegenstand selbst und damit seiner Erforschung notwendig zukomme und so aller Naturwissenschaft axiomatisch zugrunde liegen müsse, gerade um die Einzelheiten angemessen – d. h. in einem methodisch und systematisch geregelten empirischen Verfahren – zu erfassen.158 Selbst Schopenhauer – durchaus in kritischer Distanz gegenüber der Jagd nach Analogien in der Natur – hielt die Suche  151 Hegel 1986, VIII, S. 108f. 152 MBA VIII, S. 194; Hvhb. von mir. 153 Im Hinblick auf Oken vgl. Bach 2001, S. 81f.; vgl. auch Höppner 2017, S. 110–127 sowie Ziche 2017. 154 Geoffroy 1830, S. 86. 155 Vgl. MBA VIII, S. 15541 sowie die Interpretation bei Roth 2004, S. 200ff. 156 Geoffroy 1830, S. 22; vgl. hierzu auch Jahn 32004a, S. 299. 157 Vgl. Rieppel 2001, S. 145; siehe hierzu auch die eher höflich distanzierenden Ausführungen bei Duvernoy 1839, S. 53–55; welcher Verbiegungen es bedarf, um eine positive Bezugnahme des Cuvier-Schülers an dieser Stelle auf Geoffroys Programm einschließlich der teratologischen Ableitungen zu sehen, zeigt MBA VIII, S. 192ff. 158 Für die deutsche Naturforschung vgl. von Engelhardt 1997, S. 36f.; für Frankreich Le Guyader 2004.

  Naturphilosophie nach »l’unité de plan« bzw. »l’unifomité de l’élément anatomique« für die »löblichste Bestrebung der Naturphilosophie der Schellingschen Schule«.159 Es ist diese und keine andere wissenschaftstheoretische Tradition naturphilosophischer Forschung, in die auch Büchner zu lozieren ist,160 indem er sich in seiner Dissertation affirmativ auf die Formel von »une uniformité de plan dans l’organisation des êtres«161 bezieht; auch in seiner Probevorlesung geht es ihm darum, seine empirisch-anatomische Forschung in ein »Grundgesetze für die gesammte Organisation«162 zu integrieren, dem ein formales »Urgesetz« korrespondiert und dessen materiale Bestimmung Büchners wissenschaftlichen Erklärungsanspruch realisiert.163 Dass Georg Büchner mithin unübersehbar der durch Ernest-Alexandre Lauth in Straßburg repräsentierten naturphilosophischen Schule Geoffroy Saint-Hilaires zugehörte, zeigt neben den erkenntnismethodischen und allgemein naturtheoretischen Übereinstimmungen auch ein Blick auf die seit 1820 von Geoffroy,164 insbesondere aber von Étienne-Rénaud-Augustin Serres vertretene Wirbeltheorie des Schädels, die zu den Fundamenten der büchnerschen Dissertation zählt.165 Wie für Büchner, so erweis sich schon für Serres der »Schädel als metaphorisierter Wirbel«,166 weil sich in dieser Prozessform, die »den Wirbel als Urform des Knochensystems« erfasste,167 die Einheit in der Vielheit der als Entwicklung gedachten Natur lückenlos dokumentieren ließ. Nicht zufällig hatten schon Goethe und Oken im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts den Versuch unternommen, »die Schädelknochen als modifizierte und fusionierte Wirbelknochen« zu interpretieren.168 Ab den 1820er-Jahren gerieten auch Geoffroy und Serres unter den Einfluss dieser Theoriebildung,169 die über Lauth170 noch auf Büchner erhebliche Nachwirkungen hatte. Es  159 Schopenhauer 1988, I, S. 203f. 160 Insofern ist die These der MBA (VIII, S. 246), dass der Gehalt des so genannten Akademiestreites zwischen Cuvier und Geoffroy für Büchner »keine Rolle« gespielt habe, wenig überzeugend. Büchner hat sich eindeutig gegen Cuviers typologische Klassifikationstheorie und für Geoffroys genetischen Universalismus entschieden. 161 MBA VIII, S. 507. 162 MBA VIII, S. 1552f.. 163 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 106ff.; Roth 2004, S. 256ff. Es ist diese Suche nach einem Grundgesetz der gesamten Natur, die Büchner auch dezidiert von Auguste Comte unterschiedet, der in seiner Rede über den Geist des Positivismus festhielt: »Alle in den letzten beiden Jahrhunderten unternommenen Versuche, zu einer universellen Naturerklärung zu gelangen, haben jedoch nur dazu geführt, dieses Vorhaben gänzlich in Mißkredit zu bringen, so daß es fortan den Ungebildeten überlassen bleibt« (Comte 1994, S. 27). 164 Vgl. MBA VIII, S. 283. 165 Vgl. hierzu Müller-Sievers 2003, S. 61ff.; Roth 2004, S. 307–333 sowie MBA VIII, S. 279–290. 166 Zitiert nach Rieppel 2001, S. 168. 167 Mann 1992, S. 67. 168 Vgl. Breidbach 2006, S. 59. 169 Vgl. Breidbach 2001a, S. 27; Roth 2004, S. 326ff. 170 Vgl. Lauth 1829, S. 18–39.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

ist für die folgenden Konstellationen wichtig zu erkennen, dass sich Cuvier – bis zu einer Passage in einem posthum 1837, und damit nach Büchners Tod, veröffentlichten Band der Leçons d’anatomie171 – ausschließlich ablehnend bis schroff zurückweisend zu den naturgeschichtlichen Ordnungs- und Erklärungsprinzipien der ›Wirbeltheorie‹ äußerte.172 Dass sich im Zusammenhang dieser naturgeschichtlichen Dimensionen der Forschung auch Differenzen zwischen Büchner und der Schule um Geoffroy SaintHilaire manifestierten, eröffnet ein vorläufiger Blick auf die schwer erkämpften Konzepte der Epigenese bzw. des Transformationismus, die Geoffroy mit Lamarck gegen den Präformationismus Cuviers entwickelte;173 Lauth ist seinem SchulOberhaupt hierin nachdrücklich gefolgt.174 Büchner dagegen – in diesem Zusammenhang stärker von seinen deutschsprachigen Lehrern, insbesondere Carus, Wilbrand und Oken beeinflusst175 – entfaltet in der Probevorlesung ein deutlich präformationistisches Modell der Sinnengenese,176 das ihn von Geoffroy und Lauth – und ganz grundlegend von Lamarck – unterscheidet und durchaus Cuvier und Teilen der deutschen Naturphilosophie annähert. Darüber hinaus teilt Büchner zwar die Thesen des Meckel-Serres-Gesetzes, nach dem es eine Parallelität der Embryonalentwicklung und der naturstufigen Kette der Wesen gibt.177 Er hegt aber sowohl gegen Oken und Meckel als auch gegen Geoffroy und Serres deutliche Bedenken hinsichtlich der empirischen Nachweisbarkeit dieses Gesetzes. In der Probevorlesung heißt es u. a. im Hinblick auf die »Metamorphose, ja Metempsychose des Fötus« (was nichts anderes darstellt als das MeckelSerres-Gesetz): Wie aber dieß im Einzelnen nachzuweisen sey, bleibt bis jetzt ein schweres Rätsel.178

 171 Cuviers überraschend positiver Bezug auf dieses naturphilosophische Theorem, das seiner antigenetischen, diskontinuierlichen Entwicklungskonzeption grundlegend widerspricht, dürfte vor allem als Reminiszenz an seinen Lehrer Carl Friedrich Kielmeyer (vgl. hierzu Bach 2001) gemeint gewesen sein (vgl. auch den von Cuvier selbst hergestellten Bezug in den Leçons, zitiert bei Roth 2004, S. 319); der Sache nach konnte Cuvier dieses naturphilosophische Erklärungsmodell nicht vertreten; vgl. hierzu auch Lepenies 1978, S. 55f. 172 Vgl. Strack 1980, S. 47 sowie das Zitat aus Okens Isis bei Roth 2004, S. 317f.; MBA VIII, S. 279ff. lässt die lebenslange Gegnerschaft Cuviers gegen diese Theorie unerwähnt. 173 Zu Entstehung und Entwicklung der Epigenesis-Theorien im 18. Jahrhundert vgl. Jantzen 1994, S. 602ff.; Corsi 2005 sowie Wellmann 2010, S. 107–136; in Bezug auf Geoffroy: Rieppel 2001, S. 169– 172, Le Guyader 2004, S. 96ff. u. Goy 2017, S. 315ff. 174 Vgl. Lauth 1833, S. 83ff. 175 Vgl. Oken 2007, II, S. 165. 176 MBA VIII, S. 15913–25. 177 Vgl. Rieppel 2001, S. 169ff., sowie Jahn 2002. 178 MBA VIII, S. 1576f..

  Naturphilosophie Trotz dieser dezidierten, allerdings mehr methodischen als systematischen Kritik an bestimmten Ausprägungen des Apriorismus naturphilosophischer Ordnungsbegriffe und -kategorien dürfte der junge Student mit großem Erkenntnisgewinn die physiologischen Vorlesungen Lauths besucht haben, die dieser seit April 1832 interimistisch, ab 1834 dann als Lehrstuhlinhaber regelmäßig vortrug.179 Viele der konstitutiven Prämissen, Begriffe, Kategorien und Grundsätze, die Büchner in seiner Dissertation erneut unter Hilfestellungen Lauths und doch für die Zürcher Fakultät während des zweiten Aufenthaltes in Straßburg (März 1835 bis Oktober 1836) abfasst, kann er schon hier gehört haben. Weil Lauth in diesen Jahren an einem umfassenden Kompendium zur Physiologie arbeitete,180 dürfte der Austausch mit dem alsbaldigen ›Freund‹ auch über die institutionellen Grenzen hinausgegangen sein. Bei aller dürftigen Dokumentationslage ist gleichwohl ersichtlich, dass Büchner zwar bei Duvernoy hörte und von dessen Kenntnissen profitierte, obwohl die Unterschiede in den systematischen und methodischen Grundlagen alsbald zutage traten. Sicher ist dagegen, dass die Gemeinsamkeiten mit Lauth trotz einiger Differenzen in Grundlagen und Zweckbestimmungen der Naturforschung in qualitativer und in quantitativer Hinsicht bedeutender waren.181

.. Gießen und Darmstadt 1833–1835: Zwischen Wernekinck und Wilbrand – aber ohne Liebig Im Sommer 1833 musste Büchner, um sein Anrecht auf eine staatliche MedizinerAusbildung nicht zu verwirken, nach Hessen-Darmstadt zurückkehren und an der dortigen Landesuniversität in Gießen das Studium fortsetzen und beenden. Dass ihm dieser Schritt vor allem aus persönlichen, aber auch aus politischen Gründen nicht leicht fiel, ist bekannt; dass er dieses Studium der Medizin aus ebenso politischen Gründen in Gießen nicht beenden konnte, ebenfalls.182

 179 Vgl. Livet 1996, S. 245f. 180 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 30f. 181 Insofern ist die These der MBA (VIII, S. 194), dass »diese Unterschiede [d. i. zwischen Lauth und Duvernoy und damit zwischen Cuvier- und Geoffroy-Schule] keine unüberwindlichen Gräben« ausmachten, wissenschaftstheoretisch falsch und institutionengeschichtlich unpräzise. Sicher ist, dass Duvernoy und Lauth in den unterschiedlichsten Gremien zusammenarbeiteten und ganz offenbar ihren Studenten nicht untersagten, beim jeweils anderen zu studieren. Unübersehbar ist aber auch, dass die naturwissenschaftlichen Ansätze, Verfahren und Ziele beider grundlegend verschieden waren. Eine angemessene Bearbeitung der intellektuellen und institutionengeschichtlichen Biographien beider Autoren steht noch aus; Ansätze bei Roth 2004, S. 24–33. 182 Vgl. hierzu die ausführlichen Schilderungen bei Hauschild 1993, S. 395–474; Mayer 1995–99, S. 32–92; Hauschild 2013, S. 21–138.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Weil aber das Gros der Universitätsunterlagen aus diesen Jahren verlorenging,183 besteht auch im Hinblick auf diese Studienzeit Unklarheit darüber, welche Veranstaltungen Büchner in den zwei Semestern, die er in Gießen noch absolvierte, tatsächlich besuchte. Im Kapitel über Büchners philosophisches Wissen wurde auf die Dokumente des Besuchs philosophischer Veranstaltungen, den so genannten ›Zwangskollegien‹ sowie seinen freiwilligen Besuch der Naturrechts-Vorlesung bei Joseph Hillebrand, hingewiesen und deren Gehalte rekonstruiert.184 Welche Veranstaltungen Büchner in seinem eigentlichen Studiengebiet, der Medizin, besuchte, ist aber mit Ausnahme eines anatomischen Privatissimum bei Friedrich Christian Gregor Wernekinck, dessen Besuch durch Carl Vogt übermittelt wurde,185 nicht nachweisbar. Die MBA hat in ihrem Band zu den naturwissenschaftlichen Schriften und zu Woyzeck aus der Tatsache, dass Büchner damals bekannte sprachliche und habituelle Eigenheiten Johann Bernhard Wilbrands in seinem Dramenfragment karikierte, zu Recht geschlossen, dass er wenigstens eine der Vorlesungen dieses Gießener Naturphilosophen besucht haben muss.186 Aufgrund der bekannten Karikatur des bis zu einem Aufsatz Udo Roths187 ausschließlich als dilettantische Figur interpretierten Arztes in Woyzeck begnügte sich die Forschung lange Zeit – trotz der nachdrücklichen Hinweise des WilbrandForschers Christian Maaß188 –, den vergleichenden Anatomen Johann Bernhard Wilbrand als »verkalkte[n] Schellingianer«189 zu betrachten und daher wissenschaftsgeschichtlich zu ignorieren.190 Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dessen umfangreichen und bis in die 1820er Jahre in der Naturforschung hochgeschätzten Werk unterblieb daher. Selbst Roth und die MBA haben trotz ihres richtigen Schlusses bezüglich eines Besuches der wilbrandschen Veranstaltungen keine weiteren Erkenntnisse zu bieten.191 Gleiches gilt für den als »Empiriker«192 missverstandenen Friedrich Christian Gregor Wernekinck, über dessen wissenschaftliche Position noch weniger bekannt ist.

 183 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 33f. 184 Vgl. mein Ausführungen in Kap. 2. 185 Vgl. hierzu die einschlägig bekannten Zitate aus dessen Autobiographie in Hauschild 1993, S. 262f., Roth 2004, S. 37 und MBA VIII, S. 187. 186 MBA VII.2, S. 474ff., S. 485ff.; MBA VIII, S. 185f.; ausführlicher und präzise allerdings Haaser 2014, S. 205–224. 187 Vgl. Roth 1990–94, wo gezeigt wird, dass der Arzt durchaus hochaktuelle Forschungsergebnisse aufzurufen weiß. 188 Vgl. Maaß 1987, S. 152. 189 Mayer 1979b, S. 370, in ähnlichem Tenor: Mayer 1985, S. 122; Dedner 2002, S. 293f.; Ritzer 2007, S. 279 oder auch MBA VIII, S. 185f.; zur berechtigten Kritik hieran Haaser 2014. 190 Das gilt auch für die einseitige Betrachtung bei Döhner 1967, S. 40–44. 191 Vgl. Roth 2004, S. 36f. u. MBA VIII, S. 185f. 192 So u.a. Mayer 1985, S. 122 u. Wenzel 2007, S. 176.

  Naturphilosophie Im Folgenden soll daher ein kurzer Überblick über die systematische, methodische und institutionelle Position beider Dozenten Büchners geboten werden. Zu rekonstruieren sind vor allem die naturwissenschaftlichen Gehalte, die Methodologien und Systematiken beider Ansätze, die die Straßburger Konstellation der zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Kontroversen zwischen cuvierscher Typologie und schellingscher Naturphilosophie reproduzierten, allerdings in einer spezifischen Variante. ... Vergleichende Anatomie in Gießen: Friedrich Christian Gregor Wernekinck Wernekincks Vorlesungen waren unter den Gießener Studenten sehr beliebt; in einem zwei Jahre nach seinem frühen Tode 1835 erschienenen Nekrolog heißt es ausdrücklich: Die Lehrfächer, welche W. vortrug, waren Hirn- und Nervenlehre, vergleichende Anatomie und Mineralogie. Er arbeitete sie mit Fleiß und Liebe und die Studirenden nannten sie vortrefflich.193

Noch Jahrzehnte später wird auf Wernekincks Lehrerfolge, denen bis zu seinem frühen Tod keine ebensolchen Forschungsleistungen korrespondierten,194 hingewiesen.195 Studiert hatte Wernekinck Medizin in Münster und Göttingen, u. a. bei Johann Friedrich Blumenbach, einem der bedeutendsten Naturforscher, vergleichenden Anatomen und Mediziner des späten 18. Jahrhunderts, der durch das Modell eines Bildungstriebes als Fundament des organischen Lebens den Anschluss der empirischen Naturforschung an die gegen Ende des 18. Jahrhunderts ambitioniertere Philosophie erzielt hatte.196 Blumenbach gehört zu den Inauguratoren der vergleichenden Anatomie als akademischer Disziplin,197 und es ist dieses um 1800 ebenso umkämpfte wie prosperierende Fach,198 auf das sich der junge Wernekinck konzentriert. Er beendete sein Studium allerdings nicht in Münster oder Göttingen, sondern an der Universität Gießen und wurde dort im Jahre 1820 promoviert und habilitiert. Wernekincks Wahl des Studien-, Prüfungs- und späteren Forschungsortes dürfte nicht ganz zufällig auf Gießen gefallen sein, arbeitete dort doch seit 1809 Johann

 193 Neuer Nekrolog 1837, S. 311. 194 Vgl. hierzu u. a. Wernekinck 1824 und Wernekinck 1824a; zu dessen insgesamt schmalen Forschungsbibliographie vgl. Scriba 1831, S. 452. 195 Heß 1897, S. 22. 196 Zu Blumenbach vgl. McLaughlin 1982; Jantzen 1994, S. 636–668; Bonsiepen 1997, S. 112ff.; Richards 2002, S. 216–229; Wellmann 2010, S. 49f.; Rupke u. Lauer (Hg.): 2017 sowie Höppner 2017, S. 69ff. 197 Vgl. Lubosch 1931, S. 30ff. 198 Vgl. Regenspurger u. van Zantwijk 2005, S. 27f.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Bernhard Wilbrand als Lehrstuhlinhaber für allgemeine und vergleichende Anatomie, Physiologie und Naturgeschichte. Wilbrand nahm 1820 den jungen Wernekinck unter seine Fittiche: so erhält er ein Jahr nach der bei Wilbrand angefertigten Dissertation199 und Habilitation das Prosektorenamt des anatomischen Theaters sowie ab 1825 eine außerordentliche Professur an der medizinischen Fakultät. Wilbrand dürfte sich auch deshalb so intensiv um diesen begabten Studenten und Promovenden gekümmert haben, weil er bei dessen Vater, Franz Wernekinck,200 in Münster studiert und von diesem erhebliche Unterstützung in wissenschaftlicher, institutioneller und finanzieller Hinsicht erfahren hatte.201 Wilbrand bezeichnet Franz Wernekinck in seiner Autobiographie als seinen »Lehrer«, dessen »Enthusiasmus […] für diese Wissenschaft [d. i. Botantik]« ihn nachhaltig beeinflusst habe.202 So hatte Franz Wernekinck dem Studierenden Wilbrand seine Bibliothek zur Verfügung gestellt, was dieser »in einem ausgedehnten Maße« nutzte.203 Ab 1820 machte Wilbrand den Sohns seines ehemaligen Lehrers dann in Absprache mit dessen Vater204 zu einem Teil seines Lehrstuhls (Prosektor) und ab 1826 zu einem Kollegen an der philosophischen Fakultät. Eine in das Verhältnis Wernekincks zu Wilbrand durch Äußerungen Carl Vogts205 aus dem Jahre 1896 gerne hineininterpretierte Geringschätzung mag es als Differenz in wissenschaftspraktischer Hinsicht gegeben haben; die hohe Kunst des Herstellens anatomischer Präparate,206 die Wernekinck ausgebildet hatte, wurde von Wilbrand offenbar weder angemessen geschätzt noch geteilt. In institutioneller Hinsicht, die durch Rücksichten und Erfordernisse in Lehrangelegenheiten gekennzeichnet war,207 und auch in persönlicher Hinsicht, die durch die Freundschaft Wilbrands und Franz Wernekincks durchaus private, wenngleich nicht spannungsfreie Züge trug, scheint sich dieses Verhältnis anders gestaltet zu haben als bislang angenommen.208

 199 Neuer Nekrolog 1837, S. 311. 200 Zu dessen wissenschaftlichen Leistungen, vor allem auf den Gebiet der Botanik, vgl. Kaja 1995. 201 Vgl. Wilbrand 1831, S. 18ff. 202 Ebd., S. 21. 203 Ebd., S. 21 u. S. 23. 204 Vgl. hierzu den Brief Wilbrands an die medizinische Fakultät vom 22. Januar 1822, eine Besoldung Wernekincks als Prosektor betreffend, in Maaß 1994, S. 388f. 205 Vgl. Vogt 1896, S. 120; kritiklos übernommen bei Döhner 1967, S. 45 und Hauschild 1993, S. 262f. 206 Vgl. hierzu Göbbel u. Schultka 2003. 207 Vgl. Wilbrand 1838, S. IIIf., wo die Absprachen in Lehrfragen dargestellt werden. Wilbrand zog sich aus dem Bereich der vergleichenden Anatomie trotz größter Interessen zurück, weil Wernekinck hier einen wichtigen Schwerpunkt seiner Kompetenzen besaß; vgl. auch Maaß 1994, S. 390. 208 Vgl. Murken 1983, S. 312 sowie Maaß 1994, S. 390; die dort angekündigte Dokumentation der Korrespondenz Wilbrands steht allerdings noch aus.

  Naturphilosophie Die fachlichen Schwerpunkte Wernekincks zeigen zudem, dass auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht eine größere Nähe zwischen Wilbrand und seinem Protegé vorhanden waren, als es die Forschung glauben machen möchte. Diese Kernkompetenzen erstreckten sich nämlich von der vergleichenden Anatomie über die Neurologie und Neuroanatomie bis zur Mineralogie. Für letztere erhielt Wernekinck im Jahre 1826 eine frei gewordenen Professur an der philosophischen Fakultät, lehrte aber weiter auch am medizinischen Fachbereich. Ohne den erheblichen Einfluss Wilbrands an der Gießener Universität in den 1820er Jahren ist dieses Verfahren einer Stellenbesetzung an der philosophischen Fakultät kaum vorstellbar.209 Man darf also auch in diesem Falle von Wilbrands Protektion ausgehen. Wernekinck unterrichtete mit großem Erfolg in einem Bereich, den Büchner schon in Straßburg bei Lauth in kompetenter Form kennengelernt hatte: das praktische Sezieren und Präparieren. Den Zeitgenossen galt Wernekinck auf diesem Feld als besonders befähigter Anatomietechniker: »Als Anatom ist er höchst ausgezeichnet und seine Geschicklichkeit und Gewandtheit im Präparieren feinerer Gegenstände kann nicht genug gepriesen werden.«210 Bei Büchners bekanntem Interesse an dieser technisch-praktischen Hilfstätigkeit für die anatomische Forschung verwundert es nicht, dass er ausgerechnet das dieser speziellen Kompetenz gewidmete Privatissimum bei Wernekinck besuchte.211 Aber wie schon bei Lauth, so verbindet sich auch bei Wernekinck die Befähigung für die technisch-praktischen Voraussetzungen der Anatomie mit der Überzeugung, nur mit Hilfe naturphilosophischer Modelle die aufbereiteten Erscheinungen wissenschaftlich erklären zu können. Es ist erneut Carl Vogt, der dieses Interesse deutlich dokumentiert, wenn er festhält: Dieses Privatissimum hatte mich sehr interessiert; Wernekinck demonstrierte uns die damals landläufige Wirbeltheorie und gab sich alle Mühe, uns in das Heiligtum der vergleichenden Anatomie an der Hand Cuviers und Meckels einzuführen.212

Diese in der Forschung immer wieder zitierte Passage scheint doch ebenso häufig missverstanden zu werden:213 Dass Wernekinck die oben schon erwähnte Wirbeltheorie des Schädels in seinen Veranstaltungen »demonstrierte«, also bewies oder we-

 209 Vgl. Feist 1848, S. 283ff. 210 Kilian 1828, S. 292. 211 Vgl. Vogt 1896, S. 120f.; auf dieser kaum je erweiterten Grundlage der Ausführungen Vogts kommt die Büchner-Forschung seit über 100 Jahren zu ihren Urteilen zu Wernekinck; vgl. u. a. Strohl 1936, S. 42f.; Döhner 1967, S. 44–46 (der immerhin Kilian zu Rate zieht); Bergemann 1922, S. 829f.; Hauschild 1985, S. 361f.; Hauschild 1993, S. 262f.; P II, S. 881; Roth 2004, S. 37; Wenzel 2007, S. 172–177; MBA VIII, S. 186f. 212 Vogt 1896, S. 120. 213 Vgl. hierzu beispielhaft P II, S. 881 sowie MBA VIII, S. 187.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

nigsten reproduzierte, war eben keinesfalls »landläufig« in dem Sinne,214 dass sie gegenüber den diversen Naturforschungsvarianten indifferent gewesen wäre.215 Cuviers Ablehnung dieser Theorie gegenüber Oken, der neben Goethe als einer der Inauguratoren und prominentesten Propagatoren zu bezeichnen ist,216 war weithin bekannt.217 Büchner hat dieses evolutionäre Erklärungsmodell einer naturphilosophischen Neuroanatomie, das zwischen 1800 und 1850 europaweit Geltung beanspruchte,218 mit Bezug auf Carus, Meckel, Wilbrand und Oken ebenfalls vertreten;219 noch in Moby Dick hinterlässt dieses Modell 1851 seine keineswegs nur ironisierten Spuren: But if from the comparative dimensions of the whale’s proper brain, you deem it incapable of being adequately charted, then I have another idea for you. If you attentively regard almost any quadruped’s spine, you will be struck with the resemblance of its vertebræ to a strung necklace of dwarfed skulls, all bearing rudimental resemblance to the skull proper. It is a German conceit, that the vertebræ are absolutely undeveloped skulls. But the curious external resemblance, I take it the Germans were not the first men to perceive.220

Die Wirbeltheorie des Schädels ist mithin eine Zeit lang Kernstück einer naturphilosophisch begründeten natürlichen Evolutionstheorie. Dabei eröffnet Wernekincks Bezug auf Meckel, der neben Oken und Goethe der ausdauerndste und wirksamste Vertreter dieser These war,221 und Cuvier, einem entschiedenen Gegner derselben, die eigentümliche Gemengelage der Naturforschung in den 1830er Jahren.222 Trotz aller (nicht unerheblichen) Differenzen im Detail gelten die Werke beider Autoren als Standard der vergleichenden Anatomie. Bedenkt man darüber hinaus, dass Meckel sich zugleich als Schüler Cuviers und als dezidierter Gegner der Naturphilosophie verstand,223 wird ersichtlich, dass Carl Vogt in den 1890er Jahren die Komplexität der Forschungslandschaft um 1830 nicht mehr angemessen wiedergeben konnte. Wernekinck wird sich in Bezug auf die Wirbeltheorie des Schädels als essentiellem Moment naturphilosophischer Evolutionstheorie auf Meckel bezogen haben, und er

 214 So aber, im Versuch Büchner aus dem Kontext der Naturphilosophie herauszuschreiben, MBA VIII, S. 187. 215 Vgl. Mann 1992; Junker 42004, S. 371f. 216 Vgl. hierzu Oken 2007, I, S. 370–378 sowie Zittel 2001. 217 Vgl. Roth 2004, S. 317f. 218 Vgl. Stark 1980; Mann 1992, passim sowie Junker 32004, S. 371f. 219 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Debatte und Büchners Stellung in ihr bei Roth 2004, S. 307–333, die verkürzte Variante in MBA VIII, S. 279–290 sowie meine Ausführungen weiter unten. 220 Melville 1994, S. 336. 221 Vgl. Göbbel u. Schultka 2002. 222 Vgl. hierzu auch Breidbach 1988. 223 Vgl. u. a. Meckel 1806, S. 277ff. sowie Backenköhler 2002

  Naturphilosophie wird eine Einführung in vergleichende Anatomie nicht ohne Cuvier gestaltet haben können. Überhaupt mussten Meckels Arbeiten im Fachgebiet der vergleichenden Anatomie noch in den 1830er Jahren ausführlich zur Kenntnis genommen werden, wie u. a. Lauths Publikationen und Büchners Dissertation belegen.224 Auch der Bezug auf Cuvier war unverzichtbar; selbst der systematisch und methodisch vom Cuvierismus abweichende Wilbrand rühmt sich eines Besuches in den vergleichend anatomischen Vorlesungen bei der Pariser Koryphäe im Jahre 1806.225 An »the great Cuvier«226 kam zwischen 1800 und 1850 in allgemein zoologischer Hinsicht – wie erst recht im Rahmen vergleichender Anatomie227 – niemand vorbei, auch nicht Melville. Wernekinck gehörte also allein durch seinen Bezug zur so genannten Wirbeltheorie des Schädels, die von Goethe, Carus, Oken und Meckel vertreten wurde, eindeutig zu jener wissenschaftstheoretischen Gruppierung, die man der Naturphilosophie zuzuordnen hat.228 Dabei scheint er – was erneut durch den Bezug auf Meckel und Cuvier dokumentierbar ist – auf der Grundlage intensiver empirischer Studien an der Ausbildung einer eigenständigen Position im Rahmen der vergleichenden Anatomie, einem genuin naturphilosophischen Felde, interessiert gewesen zu sein. Die dokumentierte Aufforderung Thomas Samuel Soemmerrings, seine Ergebnisse der »Hirn- und Nervenlehre für den Druck zu bearbeiten«,229 weist auf diese auch erreichte Eigenständigkeit hin. Das bei seinem Tode vorliegende umfangreiche Manuskript ging allerdings verloren.230 Dabei liegt der Schwerpunkt der komparativen Kompetenzen Wernekincks auf der humanen Neuroanatomie und -physiologie, wie seine Vorlesungen im Wintersemester 1833/34 dokumentieren.231 Büchner, den es mehr zur Zoologie als zur Humanbiologie zog, dürfte allerdings von Wernekincks Vermittlung von präziser empirisch-technischer Autopsie innerhalb der anatomia practica mit den grundlegenden Erklärungsmodellen vergleichend-anatomischer Naturphilosophie angezogen worden sein; beides nämlich gehörte zu seinen erklärten Schwerpunkten. Entscheidend ist im Hinblick auf die Einordnung Wernekincks in das Tableau der Naturforschung in den 1830er Jahren

 224 Vgl. Lauth 1833, S. 2 sowie MBA VIII, S. 90–99 und Roth 2004, S. 47. 225 Wilbrand 1831, S. 32f. 226 Melville 1994, S. 137. 227 Vgl. u.a. den von Büchner als Forschungsliteratur für seine Dissertation herangezogenen Gottsche 1835, S. 288. 228 Insofern ist die These Döhners (1967, S. 45), Wernekinck seien »naturphilosophische Spekulationen ferne« gelegen, völlig aus der Luft gegriffen; das gilt auch für die Reproduktion dieser These bei Maaß 1994, S. 390. 229 Nekrolog 1835.1, S. 311. 230 Vgl. Maaß 1994, S. 389f. 231 Vgl. MBA VIII, S. 187; vgl. auch Kilian 1828, S. 292.

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und damit auf seinen spezifischen Einfluss auf Büchner, dass er als anatomischer Praktiker, der eine Zusammenarbeit mit Liebig in Angelegenheiten der Lehre nicht scheute,232 den vergleichend-naturphilosophischen Erklärungsprogrammen seines langjährigen Vorgesetzten, Johann Bernhard Wilbrand, nicht ablehnend gegenüberstand, sondern bei aller prätendierten Eigenständigkeit in das von diesem prominent ausgefüllte Paradigma einzuordnen ist. ... Die »gesammte Organisation« der Natur: Die Naturphilosophie Johann Bernhard Wilbrands Johann Bernhard Wilbrand gehört zu den meist unterschätzten Gestalten der wissenschaftlichen Naturphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.233 Selbst die neuere Forschung zu den Begründungstheorien, disziplinären Gehalten und beider Verlaufsformen in der Naturforschung zwischen 1800 und 1840 hat sich dieser den Zeitgenossen wohlbekannten Gestalt, die Hermann Friedrich Kilian 1828 immerhin als einen der »ausgezeichnetsten, geistvollsten und bekanntesten Professoren« der Gießener Universität charakterisiert,234 bislang nicht angenommen.235 Vielmehr wurde und wird Wilbrand als »totes Holz« denunziert.236 Auch die Büchner-Forschung beschränkte sich darauf, Wilbrands Funktion für die Karikatur des Arztes im Woyzeck zu benennen;237 von einer wissenschaftsgeschichtlich angemessenen Bearbeitung von Systematik und Semantik seiner Naturphilosophie meinte man bislang absehen zu können. Selbst die umfassendste wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung der büchnerschen Naturwissenschaften, die Studie Udo Roths, setzt im Hinblick auf Wilbrand keinerlei neue Akzente; und noch im Jahre 2008 wird diese wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Ignoranz mit der – durch keinerlei Nachweis fundierten – These begründet, Wilbrand habe »nie wegweisende Forschungsergebnisse« hervorgebracht.238  232 Vgl. Maaß 1994, S. 389. 233 Zur spärlichen Wilbrand-Forschung vgl. Kilian 1828, S. 288; Feist 1848; Probst 1966; Döhner 1967, S. 40ff.; Rothschuh 1968a, S. 200–203 u. S. 206–208; Murken 1983; Maaß 1987, S. 152ff.; Lohff 1990, S. 88; Tsouyopoulos 1992, S. 74; Maaß 1994; Dedner 2002, S. 293ff.; Jahn 32004a, S. 293f. u. S. 993; Regenspurger u. van Zantwijk 2005, S. 27; Wenzel 2007, S. 175f.; MBA VIII, S. 185; zu ersten Ansätzen einer differenzierteren Einschätzung der wissenschaftsgeschichtlichen Stellung Wilbrands vgl. Wenzel 2005, S. 1495f.: »Gegen diesen [d. i. Wilbrand] ausschließlich als spekulativen Phantasten zu polemisieren, wie dies Exponenten einer empirisch-naturwissenschaftlichen Richtung grundsätzlich gegenüber Vertretern der romantischen Naturphilosophie taten, verhindert eine differenzierende Würdigung.« Vgl. jetzt auch Haaser 2014. 234 Kilian 1828, S. 292. 235 Vgl. Bach u. Breidbach (Hg.) 2005, wo ein Eintrag zu Wilbrand fehlt; vgl. aber Wenzel 2005. 236 So Brock 1999, S. 36; vgl. auch P II, S. 880. 237 Vgl. schon Rath 1949; Maaß 1987, S. 154; Kubik 1991, S. 176; Dedner 2002, S. 293ff.; MBA VII.2, S. 474–479 u. S. 485ff.; MBA VIII, S. 185f. 238 MBA VIII, S. 186; zur berechtigen Kritik hieran Haaser 2014.

  Naturphilosophie Dabei hinterließ Wilbrand nicht nur ein umfangreiches monographisches Œuvre, das weite Teile der zeitgenössischen Naturphilosophie und -wissenschaft bearbeitete, er publizierte auch in namhaften Fachzeitschriften, so in Okens Isis oder der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung;239 auch Goethe hat Wilbrands Arbeiten geschätzt.240 In dem spezifisch wissenschaftsgeschichtlichen Fokus der vorliegenden Arbeit ist darüber hinaus von entscheidender Bedeutung, dass Büchner wenigstens eine Vorlesung bei Wilbrand besuchte.241 Ein gewichtiger Grund für die eigentümliche Zurückhaltung nicht nur der Wissenschaftsgeschichte, sondern auch der Büchner-Forschung gegenüber der Naturphilosophie Johann Bernhard Wilbrands liegt ohne Zweifel in einigen berühmtberüchtigten Thesen und Theoremen des Gießener Mediziners und Philosophen, die schon von den Zeitgenossen242 und erst recht von einer den Siegeszug der analytischen Naturwissenschaft als Normalität begreifenden Wissenschaftsgeschichte243 als obskur wahrgenommen wurden. Dazu zählt u. a. die Leugnung des schon von William Harvey nachgewiesenen Blutkreislaufs im menschlichen Organismus244 sowie die Zurückweisung der Thesen von einer Respiration des Sauerstoffs durch die Luft aufnehmende Lunge bei Säugetieren.245 Allerdings gehen beide negativen Thesen nicht auf idiosynkratische Machenschaften eines »verkalkte[n] Schellingianer[s]«246 zurück, sondern – wie schon Christian Probst und Christian Maaß nachweisen konnten247 – auf eine naturphilosophische Prämisse, nach der es zwischen dem Mechanismus der unbelebten und dem Organizismus der belebten Natur keinerlei konstitutive Vermischungen – wenn auch durchaus Interaktionen – geben könne.248 Ein isolierter Kreislauf des Blutes im Organismus widerspricht nach Wilbrand – solange er nicht mit der Bewegung aller Säfte im Körper vermittelt würde – den Eigengesetzlichkeiten des Lebens. Darüber hinaus mangele es der Kreislauftheorie an einer Erklärung für die Möglichkeit eines Übergangs von arteriellem zu venösem Blut, der in einer lückenlosen »Circulation« nicht angemessen erklärt würde: Zwei zuvor kontradiktorisch bestimmte Entitäten – hier arterielles und venöses Blut  239 Siehe die Angaben in Wilbrand 1831, S. 41f. sowie Maaß 1994, S. 782–785. 240 Vgl. hierzu die Nachweise bei Murken 1983. 241 In diesem Punkte völlig einig: Hauschild 1993, S. 262; Roth 2004, S. 35f.; MBA VII.2, S. 474–479; MBA VIII, S. 185f. 242 Vgl. Probst 1966, S. 157f. 243 Paradigmatisch hierfür Brock 1999, S. 36 sowie Jahn 32004a, S. 293f. 244 So in Wilbrand 1815, S. 152ff. sowie insbesondere Wilbrand 1826. 245 Siehe vor allem Wilbrand 1807 und Wilbrand 1827. 246 Mayer 1979b, S. 370; ähnlich, wenngleich abgeschwächter: Dedner 2002, S. 293f. und MBA VIII, S. 185f. 247 Probst 1966, S. 158ff.; Maaß 1994, S. 633–636. 248 Wilbrand 1809, S. 21ff.; Wilbrand 1813, S. 6ff.; Wilbrand 1815, S. 4f.; Wilbrand 1824, S. 63–68; Wilbrand 1827, S. 17ff.; vgl. dazu Probst 1966, S. 158: »Jede mechanische Erklärung wird der Eigengesetzlichkeit organischen Lebens nicht gerecht, […].«

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

– könnten nicht vermittlungslos ineinander übergehen.249 Auch die Annahme, es könne so etwas wie rein biochemische Prozesse in lebenden Organismen geben, beruht für Wilbrand auf einem Kategorienfehler,250 nämlich einer unzulässigen Vermischung von anorganischer und organischer Natur; in seiner Autobiographie führt Wilbrand dazu ausdrücklich und emphatisch aus: Er [d. i. Wilbrand] will geradwegs alle chemischen Erklärungen aus der Physiologie verbannet wissen, und verwirft auch die meisten Vivisektionen, weil sie das natürlich Verhalten der Thiere in der Regel verrücken. Er behauptet, daß es keine chemischen Analysen und Synthesen in der Natur gebe, sondern nur Metamorphosen, worin also kein sogenannter Stoff, keine Materie einen bleibenden Bestand jemals haben könne.251

Wilbrands Leugnung des Blutkreislaufes, die schon von Zeitgenossen zumeist verärgert zurückgewiesen wurde,252 sowie seine kategorische Ablehnung der durch Justus Liebig in Gießen forcierten Biochemie waren also keineswegs Ausdruck verstockter Rückwärtsgewandtheit oder intellektueller ›Verkalkung‹,253 sondern Produkt strenger Anwendung naturphilosophischer Prämissen.254 Das durch einen  249 Vgl. Wilbrand 1815, S. 123ff. 250 Vgl. u.a. Wilbrand 1813, S. IXf. 251 Wilbrand 1831, S. 39. 252 Vgl. die Reaktionen auf Wilbrands Vorstellung seiner Thesen auf der »Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte« im Jahre 1826 bei Probst 1966, S. 157–161. 253 So Mayer 1979b, S. 370 u. Dedner 2002, S. 293f.; Dedner bedient sich bei seinem kritischen Nachweis der Physiologie Wilbrands als Quelle für irrige Positionen des Doktors im Woyzeck einer Zitatverkürzung, die die Form der Auseinandersetzung der Büchner-Forschung mit Wilbrand eindrucksvoll belegt. Denn als Quelle für des Doktors Vorwurf an Woyzeck, der seinen Harn nicht halten konnte, der Blasenschließmuskel sei dem Willen unterworfen, wird der § 671 der Physiologie des Menschen (Wilbrand 1815, S. 324) zitiert, in dem die »Function des Verdauungssystems« als »mittelbar der Willkür« unterworfen bestimmt wird. Auf dieses »mittelbar« legt Dedner (wiederholt wird die These eines ironisierenden Quellenbezuges zu Wilbrand in MBA VII.2, S. 474) aber offenbar keinen Wert. Nun heißt es allerdings im § 670 der wilbrandschen Physiologie, also unmittelbar davor und d. h. auf derselben Seite des Werkes: »Daher ist es begreiflich, daß beyde Functionen [d. i. körperliche Bewegung überhaupt und Verdauung] in ihrem eigentlichen Wesen, der Willkühr nicht unterworfen seyn können, denn sie beruhen gleichfalls auf einer Bewegung« (ebd., Hvhb. von mir). Der nachfolgende Paragraph führt erst auf der Grundlage dieser Bestimmung einer grundlegenden Unwillkürlichkeit der Verdauung wenig spektakulär und schon gar nicht »töricht« (Dedner 2002, S. 294) aus: »Mittelbar stehen freylich diese Functionen allerdings unter der Willkühr, mithin unter der Herrschaft des geistigen Lebens. Die Willkühr zieht gleichsam einen Kreis um diese Functionen, innerhalb dessen sie vor sich gehen. Wir nehmen unsere Nahrung willkührlich in den Mund, zerkauen sie willkührlich und schlucken sie willkührlich hinunter, und nach geendigter Verdauung werden die Reste willkührlich wieder ausgeleert. Ebenso atmen wir willkührlich, wir können dasselbe unterdrücken, auch unter Voraussetzung einer völligen Gesundheit, von neuem wieder beginnen.« Unter der von Wilbrand ausdrücklich entwickelten Voraussetzung der Unwillkürlichkeit der Verdauung ist keine dieser Ausführungen töricht oder eindimensional ironisierbar. 254 Vgl. auch Probst 1966, S. 158.

  Naturphilosophie emphatischen, d. h. die Totalität des Seins übergreifenden Organismusbegriff problematische Verhältnis von anorganischer und organischer Natur beschäftigte die Naturphilosophie und -wissenschaft – u. a. durch den Brownianismus255 – seit der Jahrhundertwende.256 Schelling entwickelte eine systematische Lösung,257 indem er eine ursprüngliche Eigenständigkeit der unbelebten Natur bestritt und sie zu einem Moment der an sich belebten Materie, aus der heraus sich Leben entwickelt habe, bestimmte: E s g i b t k e i n e a n o r g a n i s c h e N a t u r a n s i c h . […] Von einem andern Standpunkt aus erscheint der Gegensatz von Organischem und Unorganischem nicht minder als ein bloßer Gegensatz der Erscheinung. Die Materie und jeder Theil der Materie ist eine Welt für sich, ist actu unendlich. In der unorganisch erscheinenden Materie liegt also, und zwar in jedem Theil, jederzeit der Typus des Ganzen, so daß es nur der Entwicklung desselben bedürfte, damit die Materie als organisch erscheine; die sogenannte unorganische Natur ist also potentialiter organisch in jedem Theil; sie ist nur eine schlafende Thier- und Pflanzenwelt, die durch einen Blick der absoluten Identität zum Leben erwachen würde.258

Vor allem die Phänomene des Galvanismus, des Chemismus und des Magnetismus,259 die mögliche Einwirkungen der physikalischen Natur auf den Körper von Tier oder Mensch belegten, bereiteten der zeitgenössischen Forschung große Verstehens- und Erklärungsprobleme.260 Dabei wies auch Schopenhauer, hierin mit seinem Gießener Kollegen einer Meinung, das »Absurde dieser Meinung […], daß der Organismus nur ein Aggregat von Erscheinungen physischer, chemischer und mechanischer Kräfte sei«, zurück.261 Wilbrand nahm in dieser Frage eine explizit an Schelling angelehnte, dennoch prägnantere Position ein, die u. a. die evolutionäre Auflösung der abstrakten Unterscheidung von organisch und unorganisch im Hinblick auf eine besondere Physiologie des Menschen verwarf, und so zu den heute obskur wirkenden Konsequenzen in Bezug auf Blutkreislauf und Atmung führte.262 Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass auch Liebigs Versuche zur Biochemie, insbesondere seine Arbeiten zum Verhältnis von Thierchemie und Thierphysiologie noch in den 1840 Jahren erheblicher Kritik ausgesetzt waren; Jörn Jacob Berzelius, einer der bedeutendsten Chemiker vor Liebig, schrieb eine vernichtende Kritik und bezeichnete Liebigs Buch im Vertrauen als »Gefasel«.263 Es ist mithin viel zu einfach,  255 Zum Brownianismus vgl. u. a. Gerabek 1995, S. 351–375; Wiesing 1995, S. 66–71; Schott 1997, S. 242ff.; Bonsiepen 1997, S. 250–256. 256 Vgl. u. a. Lenoir 1982, S. 105ff.; Mischer 1997, S. 156ff. und von Engelhardt 1997, S. 38f. 257 Vgl. schon Schelling 1798, S. IXf. 258 Vgl. hierzu Schelling 1985, III, S. 389f. 259 Vgl. ausführlich Moiso 1994 sowie Durner 1994. 260 Vgl. Rang 1988, S. 182ff.; Richards 2002, S. 128ff. 261 Schopenhauer 1988, I, S. 203. 262 Vgl. auch Probst 1966, S. 158. 263 Vgl. Brock 1999, S. 155–165.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

sich Liebigs Perspektive zur Beurteilung der Stellung Wilbrands in der epistemischen Situation der 1820er und 1830er Jahre zu eigen zu machen. Johannes Müllers brillante Lösung dieses Problems, die Differenz zwischen Anorganik und Organik im Hinblick auf die sie konstituierenden Elemente zu quantifizieren, stand selbst Liebig nicht zur Verfügung; ihre Bedeutung wurde auch erst in den 1840er Jahren erkennbar.264 Die Zeitgenossen – einschließlich Goethe265, Alexander von Humboldt266 und Henrik Steffens267 – nahmen Wilbrand zumindest in den 1820er Jahren als einen der herausragenden Vertreter des Faches, ja des gesamten wissenschaftlichen und philosophischen Paradigmas, wahr: Mit Johann Bernhard Wilbrand wirkte also in Gießen einer der wesentlichen Vertreter der naturphilosophischen Richtung.268

Dass die Stellung des Gießener Naturwissenschaftlers in der scientific community spätestens seit seinem Auftritt auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte im Jahre 1832, bei dem er eine empirische Verifikation seiner Thesen zum Verhältnis von Makrokosmos und Mikrokosmos bei Ernährung und Atmung öffentlich verweigerte, prekär wurde,269 verunmöglicht keineswegs einen Einfluss seiner allgemeinen Naturtheorie bzw. spezifischer Teilbereiche – u. a. der Botanik – auf die zeitgenössische Forschung,270 und so auch auf Büchner. Im Folgenden soll daher eine kurze, auf einen Vergleich mit der Entwicklung und Systematik von Büchners Naturwissenschaften ausgerichtete Skizze der wissenschaftlichen Positionen Wilbrands entworfen werden. Bevor auf einige überraschende Gemeinsamkeiten in Prämissenapparat und Demonstrationsbereich der büchnerschen mit der wilbrandschen Naturphilosophie hingewiesen werden soll, muss auf einen der zentralen Unterschiede aufmerksam gemacht werden: Wilbrand beginnt nämlich sein gesamtes, deduktives System der Natur mit einem Lebensbegriff, dessen Voraussetzungen weitgehend den schellingschen Ableitungen verpflichtet sind,271 so im Ausgang vom Absoluten und des-

 264 Vgl. hierzu Breidbach 2005, S. 10f. 265 Zu Goethes Verhältnis zu Wilbrand vgl. Feist 1848, S. 284f. sowie Murken 1983, S. 315ff. 266 Vgl. Feist 1848, S. 286. 267 Steffens 1843, VII, S. 314f.: »In Gießen erlebte ich einige sehr angenehme Tage, vor Allem im Hause des Professors Wilbrand, der sich durch wichtige physiologische Untersuchungen einen Ruf erwoben hatte und für speculative Naturansichten nicht scheute, sich in einen bedenklichen Kampf einzulassen.« 268 Maaß 1987, S. 152. 269 Vgl. hierzu Probst 1966, S. 160f. 270 Vgl. hierzu Feist 1848, S. 291; Haaser 2014, S. 205ff. 271 Zum gewussten und bewussten Ausgang von Schelling in dieser Frage vgl. Wilbrand 1831, S. 23; Feist 1848, S. 278; zu Schellings, bei Wilbrand und Büchner aufgenommenem Lebensbegriff

  Naturphilosophie sen Bestimmung als Polarität von Idealem und Realem, Licht und Dunkel.272 Wie für Schelling ist auch für Wilbrand »das Leben in seiner Ursprünglichkeit betrachtet, […] das Absolute in seiner Selbstaffirmation«.273 Einzig der beim späteren Schelling realisierte Bezug des Absoluten zu einer Gottesinstanz fehlt bei Wilbrand, der sich theologischer Kategorien stets enthielt. Das Leben aber als »ewigen Act der Selbstaffirmation des Absoluten« in seiner stetigen Ineinsbildung des Idealen und Realen274 zu begreifen und dies zum Ausgangspunkt eines naturwissenschaftlichen Systems zu machen, hat Büchner in seiner Probevorlesung ausdrücklich zurückgewiesen: Denn ein Wissen des Absoluten, das Wilbrand hier als Deduktionsausgangspunkt propagiert, setzt je schon ein »absolutes Wissen« voraus, dem Büchner stets eine – wenn auch gemäßigte – methodologische Skepsis entgegenbrachte.275 Solcherart Ontologie hat er als Voraussetzung seiner naturphilosophischen Begründungstheorie daher unzweideutig zurückgewiesen. Dennoch steht Büchner der Annahme Wilbrands nahe, dass es »zwei Gesetze in der Natur« gebe, die Allgemeingültigkeit haben: »das der graduellen Entwicklung und das des polaren Verhaltens«276 – auch wenn er diese Prinzipien aus einem allgemeinen Grundgesetz der gesamten Natur ableitet,277 das Wilbrands Absolutem nicht entspricht. Gleichwohl teilt Büchner darüber hinaus ein wichtiges Moment jener allgemeinsten Bestimmungen der wilbrandschen Naturphilosophie: Denn in Anlehnung an Schelling278 bestimmt dieser »Leben« als grundlegende Kategorie einer Natur, die als Einheit und Ganzheit durch unausgesetzte Bewegung, d. h. Veränderung, konstituiert wird: »Ein unendlicher Strom des Lebens durchfließt stätig, und in ewiger Gegenwart, jede besondere Erscheinung«:279 Es gibt nur ein Leben, und dieses eine Leben durchströmt die ganze Natur, wie den Menschen insbesondere. Dieses Leben äussert sich in der Bewegung, und diese Bewegung regt sich im Menschen, wie in der ganzen Natur, und es ist ein und dasselbe Princip, was die Bewegung der Gestirne, wie die Bewegung im Menschen erzeugt.280

 vgl. Rang 1988; zu Schellings Begriff des Absoluten als Vermittlung von Idealem und Realem vgl. Schelling 1985, III, S. 589–610 sowie van Zantwijk 2000. 272 Vgl. Schelling 1985, III, S. 215ff. sowie Wilbrand 1809, S. 1ff. 273 Wilbrand 1813, S. 2. 274 Wilbrand 1809, S. 1. 275 Vgl. MBA VIII, S. 15514–25 sowie meine Ausführungen hierzu weiter unten. 276 Wilbrand 1809, S. 78ff. sowie Feist 1848, S. 289. 277 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 108ff. sowie Roth 2004, S. 253ff. 278 Zur engen Anbindung an Schelling vgl. Feist 1848, S. 278f. 279 Wilbrand 1815, S. 1. 280 Ebd., S. 16.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Diese strenge Überordnung des »Werdens« über das Sein, der »Bewegung« über die »Ruhe« für einen allgemeinen Lebensbegriff281 wird Büchner für die Skizze eines solchen Begriffs durch seinen Protagonisten Lenz aufgreifen, der eine »unendliche Schönheit« als Kategorie seiner anti-idealistischen Ästhetik dadurch bestimmt, dass sie »aus einer Form in die andre« unaufhaltsam trete, »ewig aufgeblättert, verändert«.282 In normativer Wendung fordert Büchners Lenz daher für alle Kunst »Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut«.283 Bei der Betrachtung der Erzählung wird sich zeigen, dass ein bedeutender Kontext dieser Passage sowie des gesamten Kunstgespräches im Lenz dem naturphilosophischen Wissen Büchners entstammt.284 Eine ungleich konkretere Verbindung zwischen Wilbrands und Büchners Positionen ergibt sich im Hinblick auf eine Konsequenz dieses Lebensbegriffes für die Erforschung seiner natürlichen Erscheinungen, mithin für eine wissenschaftliche Naturforschung überhaupt. Dazu hält Wilbrand fest: Die Physiologie beabsichtigt eine wissenschaftliche, mithin eine in sich klare, Darstellung des Lebens in der Natur. Sie hat also alle Erscheinungen in der Natur, als Aeusserungen des Lebens, in ihrer inneren Harmonie, in ein Totalgemälde aufzufassen, welches für den schauenden Geist, oder auf ideale Weise, dasselbe ist mit demjenigen, was in der Natur real vor uns liegt. Alle sogenannte Definitionen, Erklärungen, dunkle Hypothesen, chemische Zerlegungen der materiellen Stoffe, sind so wenig dazu geeignet, ein wissenschaftlich klares Gemälde des Lebens in der Natur zu schaffen, daß sie vielmehr in jeder Hinsicht die wahre Wirklichkeit tödten.285

Wilbrands methodische Skepsis gilt mithin den reinen Analyseverfahren einer auf Verstandeslogik basierenden Forschung, die zur begrifflichen und anschauenden Erfassung der Natur im Ganzen und ihrer einzelnen Erscheinungen als eines Prozesses nicht in der Lage seien. Deshalb wendet er sich ebenso gegen die chemischen Analysen Lavoirsiers und später Liebigs wie gegen die Hypothesenbildung der kantischen Naturwissenschaftsmethodik. Hierin Goethe,286 aber auch spezifischer Varianten der Anthropologie der Spätaufklärung verwandt,287 setzt er dieser analytischen Verstandeslogik eine Anschauungen und Begriffe vermittelnde, im Anspruch beide vollständig synthetisierende Konzeption entgegen, die die einzelnen Naturerscheinungen als Moment des ewigen Lebensprozesses bestimmen können soll. Die 281 Vgl. Wilbrand 1813, S. 12f. 282 MBA V, S. 3742–381. 283 Ebd., S. 3716f.; zu einer Verbindung dieser Passage aus Lenz mit Büchners Naturphilosophie vgl. auch Hinderer 1990, S. 102. 284 Vgl. hierzu in mehr thetischen Ansätzen Will 2000, I, S. 310f. sowie meine Ausführungen in Kap 7. 285 Wilbrand 1815, S. 3. 286 Vgl. Breidbach 2006, S. 58ff. sowie Stiening 2011. 287 Vgl. Wezel 2000ff., VIII, S. 11f.; siehe hierzu auch Stiening 2004, S. 132f.

  Naturphilosophie ser Versuch einer begrifflich gestützten Erfassung der Natur als Prozess kristallisiert sich u. a. im Entwerfen und stetigen Bearbeiten des Begriffs einer »Metamorphose«, die sich von den zeitgenössischen Varianten dieser Kategorie abhebt und zu Recht als wichtigste »selbständige Leistung und Kerngedanke« der wilbrandschen Physiologie bezeichnet wurde.288 Büchners Vorstellung von Metamorphose steht dabei der Wilbrands näher, als die Forschung bislang herausarbeiten konnte.289 Dass in Wilbrands Darstellung seiner naturphilosophischen Methodologie die kritische Abgrenzung präziser ausfällt als die eigene doktrinale Konstruktion, verweist auf die Grenzen der szientifischen, vor allem aber der begrifflichen Leistungsfähigkeit des Gießeners; in seiner Autobiographie heißt es zusammenfassend: Er charakterisiert die Physiologie als eine wissenschaftlich klare Darstellung des Lebens in der Natur und darnach die Physiologie des Menschen als eine wissenschaftlich klare Darstellung des Lebens im Menschen, und verwirft hiermit jede sogenannte Erklärung der Naturerscheinungen aus irgend einer Hypothese, z. B. die Kantische Erklärung der Materie als das Resultat einer Attraktiv- und Repulsivkraft, desgleichen die atomistische Erklärung aus Urstoffen, die Erklärung der Chemie aus den in der Chemie angenommenen Stoffen, ferner alle Erklärungen aus angenommenen Naturkräften, z. B. die Erklärung der Schwere aus einer Schwerkraft, die Erklärung der Bewegung der Himmelkörper aus einer Zentrifugal- und Zentripetal-Kraft, die Erklärung der Flut und Ebbe durch eine Attraktion, die der Mond auf das Meerwasser ausüben soll, er verwirft mit Göthe und Steffens Newton’s Erklärung von der Entstehung der Farben in der Natur. Er verwirft alle diese Erklärungen, weil sie auf Hypothesen, mithin auf PhantasieErzeugnissen beruhen, er setzt an die Stelle dieser Erklärungen die wissenschaftliche Darstellung der Natur, worin alle diese Naturerscheinungen, die man aus den Hypothesen zu erklären sucht, als nothwendige Aeußerungsweisen der Natur selbst in ihrem unendlichen Leben von selbst hervortreten. Unter der wissenschaftlich klaren Darstellung versteht er ein dem Auge des Geistes, mithin dem klaren Erkennen vorgelegtes Gemälde der Natur selbst, welches als Gemälde, mithin auf ideale Weise in der möglichsten Vollkommenheit dasselbe seyn soll, was die Natur auf reale Weise ist.290

Wilbrand meint also, den Vagheiten eines probabilistischen Empirismus der Naturforschung durch die Formierung eines Objektivität beanspruchenden, begrifflichen Systems zu entkommen, in das hinein die Beobachtungen der Naturwissenschaft zu stellen seien. Das bleibt aber zum großen Teil postulativ und führt u.a. zu den oben beschriebenen Eigenheiten in Bezug auf Blutkreislauf und Atmung. Dennoch legt auch der Systematiker Wilbrand großen Wert auf die relative Eigenständigkeit von Beobachtung und Erfahrung im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. So übt er scharfe Kritik an bestimmten Erscheinungen der Naturphilosophie: Andere haben dagegen, eben so unstreitig, die wirkliche Beobachtung über leere Spekulationen […] vernachlässigt. […] Würden die Beobachtungen der Natur jedesmal mit einem gehöri 288 Probst 1966, S. 167. 289 Vgl. Roth 2004, S. 303 sowie MBA VIII, S. 15542f.. 290 Wilbrand 1831, S. 37f.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

gen Scharfblicke, in einem universellen Sinne gemacht, so würden nicht so viele Widersprüche unten den Beobachtungen obwalten.291 Warum bleiben wir nicht in der Physiologie der Natur der wirklichen Beobachtung getreu, und stellen dagegen Hypothesen auf, die in der Wissenschaft nicht bestehen können und der Beobachtung widersprechen.292

Allerdings wird in gleicher Schärfe einem strengen Empirismus der Naturforschung die Wissenschaftlichkeit abgesprochen, weil er zu unbestimmten Ansammlungen von Informationen führe, die kein systematisches Wissen ermöglichten – eine Distinktion, die auch in aktuellen Debatten um den Wissensbegriff in Philosophie und Historiographie wirksam ist.293 Eine durch die Philosophie, die nach Wilbrand allererst und einzig die Wissenschaftlichkeit der Naturbetrachtungen ermögliche,294 systematisch und methodisch nicht regelgeleitete Naturforschung »würde auch hiedurch für die Empierie [sic] selbst zerstörend, indem sie das blinde Herumtappen, das zügellose Rathen nach einem Ungefehr, begünstigt«.295 Nur eine stete Vermittlung von Anschauung und Begriff, von Beobachtung und Philosophie könne die Wissenschaftlichkeit der Naturforschung garantieren: Die nüchterne Naturbeobachtung und das nüchtere innere Forschen, – beide geben auf gleiche Weise das Resultat, daß es wahrhaft nur eine Natur gibt, welche einerseits materiell, andererseits innerlich belebt ist, […].296

Büchner hat konstitutive Momente dieser Methodologie geteilt, wenn nicht gar in Vorlesungen oder Schriften Wilbrands bestätigt gefunden. Nicht nur weist er einer »philosophischen Methode« die Aufgabe zu, die stetig anwachsende »Unzahl von Tatsachen« wissensermöglichenden Ordnungsmustern zu unterwerfen,297 auch steht er – wie Wilbrand – einer rein begrifflich entwickelten, die Eigenständigkeit der Beobachtung lebendiger Naturorganisation vernachlässigen Forschung kritisch gegenüber: Die Frage […] führte von selbst zu den zwei Quellen der Erkenntniß, aus denen der Enthusiasmus des absoluten Wissens sich von je berauscht hat, der Anschauung des Mystikers und dem  291 Wilbrand 1815, S. VIf. 292 Ebd., S. 159. 293 Vgl. hierzu Mittelstrass 2001, S. 44 sowie Breidbach 2008, S. 12ff. 294 So Wilbrand 1831, S. 19, wo der Naturphilosoph ausführt, dass er schon während des Studiums »zu der festen und lebendigen Überzeugung gekommen war, daß nur die Philosophie der Leitstern im ganzen Gebiete des Wissens, und daher auch in der Naturkunde seyn könne, falls diese auf Wissenschaftlichkeit Anspruch mache.« Vgl. hierzu auch Probst 1966, S. 161; dass auch für Büchner die Philosophie einen methodisch und systematisch wirksamen Kategorienlieferanten für seine Naturforschung abgab, zeigen Stiening 1999 und Roth 2004, S. 153–163. 295 Wilbrand 1809, S. X; vgl. auch Wilbrand 1815, S. VIII. 296 Wilbrand 1827, S. 31. 297 MBA VIII, S. 15541; vgl. auch Döhner 1967, S. 50.

  Naturphilosophie Dogmatismus des Vernunftphilosophen. Daß es bis jetzt gelungen sei, zwischen letzterem und dem Naturleben, das wir unmittelbar wahrnehmen, eine Brücke zu schlagen, muß die Kritik verneinen. Die Philosophie a priori sitzt noch in einer trostlosen Wüste; sie hat einen weiten Weg zwischen sich und dem frischen grünen Leben, und es ist eine große Frage, ob sie ihn je zurücklegen wird.298

Diese in der Forschung zumeist als Absage Büchners an die Naturphilosophie Schellings und Hegels interpretierte Passage299 kann angemessener aus dem Kontext seiner durch Wilbrand vermittelten Kenntnisse und damit innerhalb des naturphilosophischen Paradigmas erläutert werden: Wie Wilbrand bestimmt Büchner die Natur in Anlehnung an Schelling durch den Begriff des »Leben[s]«, dem abstrakte begriffliche Konstruktionen (Hypothesen oder Erklärungen, apriorische Vernunftbegriffe) äußerlich bleiben müssen;300 zugleich sieht er einzig in den Konstruktionen der Vernunftphilosophen überprüfbare Modelle für eine Rekonstruktion der Natur als einer Ganzheit, weil schon der »Sinn dießer Bestrebungen« der Vernunftphilosophen,301 nämlich Ordnung in das unübersichtlich werdende Ganze der Natur und ihrer Erforschung zu bringen,302 genügte, um dem Naturstudium eine »andere«, eine bessere »Gestalt« gegeben zu haben.303 Büchner und Wilbrand teilen die Skepsis gegenüber abstrakten begrifflichen und methodischen Konzeptionen; Büchner ist jedoch – ohne ein ausgeführtes philosophisches System – hinsichtlich der methodisch geregelten Anwendung kategorialer und begrifflicher Konzeptionen der Philosophie zurückhaltender als Wilbrand, der auf der Grundlage eines entwickelten Systems einen objektiven Geltungsanspruch seiner begrifflichen und anschauenden Konstruktionen in methodischer und systematischer Hinsicht erhebt. Auch der Bezug jedes einzelnen Ergebnisses der Naturwissenschaften auf die Natur in ihrer Ganzheit, die beide Forscher mit der Formel von der »gesammten Organisation« der Natur in Anlehnung an Schelling304 zu fassen suchen,305 wird als

 298 MBA VIII, S. 15514–22. 299 Vgl. Döhner 1967, S. 147–165; zuletzt noch Roth 2004, S. 388 und MBA VIII, S. 544ff. 300 Diese abstrakte Gegenüberstellung von »Leben« und ›wissenschaftlichem Wissen‹ kann Büchner auch von Kuhn übernommen haben, dessen Monographie er wenige Wochen vor der Probevorlesung intensiv studiert hatte; dort heißt es im Hinblick auf einen der Hauptpunkte der neueren und neuesten Philosophie: »Der Kampf zwischen Wissenschaft (oder eigentlich Speculation) und Leben ist ein dieses großartige Ganze durchherrschendes Moment« (Kuhn 1934, S. 55). Dabei wird Büchner allerdings an keiner Stelle zum Vertreter jener »Anschauung des Mystikers«, die er hier aufruft, so aber Kurzke 2013, S. 355. 301 MBA VIII, S. 15527. 302 Zu dieser wissenschaftsgeschichtlichen Funktion der Naturphilosophie um 1800 vgl. auch Breidbach 2004, S. 154ff. 303 MBA VIII, S. 15526ff.. 304 Schelling 1985, I, S. 278ff., spez. S. 279: »Jede Organisation ist also ein Ganzes; ihre Einheit liegt in ihr selbst.« Vgl. hierzu auch Höppner 2017, S. 90ff.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Wissenschaftlichkeit garantierendes Telos aller Forschung von Büchner und Wilbrand ausgewiesen; so hält Wilbrand ausdrücklich fest: Jede gründliche Erklärung einer Naturerscheinung kann nur darin bestehen, daß man zeigt, wie diese Naturerscheinung, welche erklärt werden soll, mit anderen Naturerscheinungen zusammenhängt, und wie so die Natur in ihrer Einheit auf verschiedene Weise in den zahllosen Erscheinungen sich darstellt. Mit anderen Worten, es muß die zu erklärende Naturerscheinung auf die Einheit der Natur klar zurückgeführt werden.306

Auch Büchner fasst diese auf die Synthesis einer »gewissen Einheit«307 ausgerichtete praemissa maxima der Naturphilosophie in die folgende Formulierung: Diese Frage, die uns auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetz für die gesammte Organisation finden, und so wird für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums […] als die Manifestation eines Urgesetzes [bestimmt].308

Wilbrand und Büchner konturieren ihre auf eine synthetische Einheit der Natur ausgerichtete Naturwissenschaftskonzeption sowohl positiv durch eine spezifische Epistemologie und Methodologie als auch negativ durch zwei Abgrenzungen, die erneut in auffälliger Weise übereinstimmen: Zum einen grenzen sich beide Forscher von der so genannten teleologischen Naturbetrachtung ab, die den Zusammenhang der Natur nach dem Prinzip äußerer Zweckmäßigkeit konstituiert, d. h. die als Grund für die Bestimmtheit einer einzelnen Erscheinung ihre Funktion für eine andere Entität bzw. den Gesamtzusammenhang annimmt. Ausdrücklich lehnt Wilbrand »alle Deutungen aus Naturzwecken, welche man zuvor in die Natur hineindenkt, also alle sogenannten teleologischen Ansichten« ab.309 Und auch Büchner entwickelt seine philosophische Methode an der strikten Unterscheidung von einer teleologischen Perspektive: Die teleologische Methode bewegt sich in einem ewigen Zirkel, indem sie die Wirkungen der Organe als Zwecke voraussetzt. […] Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles was ist, ist um seiner selbst willen da. Das Gesetz dieses Seins zu suchen ist das Ziel der, der teleologischen gegenüberstehenden Ansicht, die ich die philosophische nennen will. Alles, was für jene Zweck

 305 MBA VIII, S. 1552f. sowie Wilbrand 1809 schon im Titel; Wilbrand 1813, S. III; Wilbrand 1815, S. V; Wilbrand 1831, S. 26. 306 Wilbrand 1827, S. 32. 307 MBA VIII, S. 15546. 308 Ebd., S. 1551–7. 309 Wilbrand 1827a, S. 10f.

  Naturphilosophie ist, wird für diese Wirkung. Wo die teleologische Schule mit ihrer Antwort fertig ist, fängt die Frage für die philosophische an.310

Zwar wird dieser antiteleologische Habitus von der zeitgenössischen Naturforschung – mit Ausnahme Cuviers und seiner Schule sowie François Magendies311 – geteilt: Kant weist auf das Mangelhafte solcher Natursicht hin,312 ebenso Goethe,313 aber auch Gotthilf Heinrich Schubert,314 Carl Gustav Carus,315 Johannes Müller,316 Jakob Friedrich Fries317 oder Hegel318. Und es ist Friedrich Herbart, der schon 1828 die allseits anerkannte Ablehnung der Teleologie in der Naturwissenschaft auf den Begriff bringt: Es ist bey den Naturforschern längst anerkannt, daß man sich der Gewöhnung an teleologische Betrachtungen durchaus nicht hingeben darf, wenn man in der Physik klar sehen will.319

Die unterschiedlichsten Wissenschaftstheorien der zeitgenössischen Naturphilosophie vereint mithin diese Ablehnung, sodass ein spezifischer Bezug Büchners auf Wilbrand nicht nachweisbar ist. Dennoch liegt es durchaus nahe, dass Büchner in der Vorlesung Wilbrands diesem kritischen Urteil zur Methodologie der Naturforschung begegnete, das eine gemeinsame Argumentationsbasis in methodischer und ontologischer Hinsicht dokumentiert; ideengeschichtlich stehen sie sich auch in diesem Zusammenhang erheblicher näher als bislang angenommen. Zum anderen weist Büchners oben zitierte Abgrenzung von der zweiten Form absoluten Wissens, den »Anschauung des Mystikers«, erneut deutliche Parallelen zu Wilbrands ausdrücklicher Zurückweisung religiöser Kategorien in der Naturforschung auf: Im Zusammenhang des von Büchner im Lenz gestalteten,320 in den 1820er und noch den 1830er Jahren in Wissenschaft, Literatur und Publizistik weithin diskutierten Magnetismus-Phänomens,321 dem Wilbrand – wie Büchner, E. T. A. Hoffmann,322 aber auch Hegel323 – durchaus wissenschaftliche Dignität zuschreibt,  310 MBA VIII, S. 15326–1551. 311 Vgl. hierzu Brooke 1994 sowie Stanisch 2003, S. 54–62, S. 247ff. u. ö. 312 Kant 1983, VIII, S. 477–480 (KdU § 63). 313 Goethe 1887–1919, II.7, S. 214–224, hier S. 217ff. (Einleitung zu einer allgemeinen Vergleichungslehre). 314 Schubert 1968, S. 24ff. (Symbolik des Traumes). 315 Carus 1831, S. 12ff. (Vorlesungen über Psychologie). 316 Müller 1826, S. 17ff. (Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes). 317 Fries 1967ff., XIII, S. 2f. (Mathematische Naturphilosophie). 318 Hegel 1986, IX, S. 23f. (Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, § 245). 319 Herbart 1828, I, S. 568 (Allgemeine Metaphysik). 320 Vgl. Will 2000, I, S. 310f.; Martin 2007, S. 213 u. S. 218 sowie meine Ausführungen in Kap. 7. 321 Vgl. hierzu u. a. Wolters 1988; Barkhoff 1995; Schott 1998 oder auch Wedder 2008. 322 Siehe Barkhoff 1995, S. 195–237.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

stellt der Gießener Naturphilosoph, der sich als »Freund einer wahren Aufklärung«,324 keineswegs als Romantiker versteht, kategorisch fest: Wenn aber hinsichtlich der Wirklichkeit von Naturerscheinungen, die auf den ersten Blick seltsam sind, von denen, welche sich der Beobachtung derselben widmen, ohne weiteres an den Glauben verwiesen, und dieser als Leitstern gepriesen wird: so findet sich jeder geistig gesunde Mensch, der über die Sache belehrt zu seyn wünscht, nothwendig beleidigt. Wird aber die Hinweisung an den Glauben noch obendrein mit einer Mystik umhüllt, so verdient dieses eine vielfache wissenschaftliche Rüge, und zwar um so mehr, jemehr die Mystik dem Aberglauben das Wort redet, und in’s wirkliche Leben auf eine vielfach nachtheilige Weise einzuwirken drohet.325

Zwar kann man Büchners Zurückweisung der »Anschauung des Mystiker« als einer Wissenschaft verunmöglichenden Epistemologie auch auf seine MalebrancheStudien zurückführen,326 doch wurde diese Kritik der Sache nach auch von Wilbrand formuliert, mit dem Büchner auch in diesem Falle übereinstimmt. Von religiösen oder theologischen Kategorien, seien sie epistemologischer, methodischer oder – im Falle des Schöpfungsgedankens – ontologischer Natur, grenzten beide Wissenschaftler ihre Naturforschung grundsätzlich ab. Büchners ›gottlose‹, aber vernunftgesetzlich organisierte Natur327 hat ebenso wie Wilbrands Absolutes einen streng immanenten Status.328 Gerade in diesem Zusammenhang lässt sich die Nähe Büchners zu Wilbrand und die Distanz zu Cuvier oder Duvernoy nachweisen.329 Abschließend sei noch eine letzte Gemeinsamkeit zwischen Wilbrand und Büchner im Hinblick auf eine evolutionäre Vermögenspsychologie betrachtet, die Wilbrand im Zusammenhang seiner Magnetismus-Studie entwickelt und Büchner als Moment seiner vergleichenden Neuroanatomie vorträgt: In seiner 1824 erschienenen monographischen Abhandlung Darstellung des thierischen Magnetismus als einer in den Gesetzen der Natur vollkommen gegründeten Erscheinung bemüht sich Wilbrand, die unterschiedlichen Formen somnambuler und magnetisierter Erscheinungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.330 Explizit richtet sich sein Unternehmen gegen die »Albernheiten« und den »Fanatismus« eines »Mysticismus«, jene schwer zu erklärenden psychischen Phänomene als Belege einer jensei 323 Vgl. u. a. Petry 1991. 324 Wilbrand 1824, S. 3. 325 Ebd., S. 17f. 326 Vgl. hierzu P II, S. 27214ff. und Stiening 2000–2004, S. 230ff. sowie meine Ausführungen in Kap. 2; MBA VIII, S. 545 sieht eher Spinoza, Heine und Müller als Quellen dieser Abgrenzung. 327 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 107f. 328 Wofür es folglich keiner emphatisch-affirmativen Spinoza-Lektüre bedurfte; so aber Morawe 2005–08; Beise 2010; Morawe 2012; Morawe 2013. 329 Diese antireligiöse Haltung Wilbrands im wissenschaftlichen Feld ist umso bemerkenswerter, als er den Zeitgenossen als »streng religiös« galt; vgl. Nekrolog 1846, Sp. 368. 330 Vgl. Wilbrand 1824, S. 1–9.

  Naturphilosophie tigen Welt in Anspruch zu nehmen.331 Büchner wird ein Jahr nach dem Besuch der Vorlesung Wilbrands seinen ›Lenz‹ noch eben dieser religiösen Instrumentalisierung ›anormaler‹ psychischer Phänomene hilflos aussetzen.332 Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Überprüfungsarbeit muss Wilbrand auch einen Abschnitt über »Die Natur des Nervensystems in seinen verschiedenen Verzweigungen, und die Natur der Sinnorgane, wie sie sich beide auf den einzeln Stufen der Thierbildung darstellen«, einrücken, mithin eine neurologische und vermögenspsychologische Epistemologie. Begründet wird dieser – im weitesten Sinne – psychologische Exkurs damit, dass der magnetische Schlaf als eine höhere, gleichsam bewusstlose und doch Erkenntnisse generierende Erscheinung »nur gehörig begreiflich« wird, »wenn das Verhalten des Nervensystems in seinen verschiedenen Verzweigungen« berücksichtigt wird. Systematisch ergänzt wird diese neurologische These durch die evolutionspsychologische Erweiterung, dass in eins damit »über den Ursprung und die allmähliche Entwicklung der verschiedenen Sinne ein gehöriges Licht« verbreitet werden muss.333 Neuroanatomie und Sinneslehre sind mithin für Wilbrand in ihrem systematischen Zentrum nur als evolutionäre Vermögenspsychologie und vergleichende Anatomie zu begreifen. Nun entwickelt Wilbrand in einem aufwendigen Verfahren die Theorie einer Nerven- und Sinnengenese, nach der sich die ausdifferenzierten Nervensysteme und Sinne höherer Organismen aus einem ursprünglichen Gefühlssinn einfachster Organismen, die er mit Oken334 und wie Büchner335 als »Infusorien« bezeichnet, entwickelt haben sollen: Bei den Infusorienthierchen und bei den Strahlenpolypen ist der Gefühlssinn, so wie der Sinn für das Licht, der erst späterhin mit der Hervorbildung eigenthümlicher Gesichtsorgane, sich zum Gesichtssinn entfaltet, mit jeder Molekül [sic] des Körpers verschmolzen […]. Aber unstreitig hat der Gesichtssinn in der Empfindlichkeit, welche die Infusorienthierchen und Strahlenpolypen für das Licht verrathen, seine erste Wurzel.336

Dieses gleichsam analytisch-genetische Verhältnis von ursprünglichem Sinn und ausdifferenzierten Sinnesorganen, das für die höheren Entwicklungsformen bedeutet, dass sie die in den unteren Formen vorhandenen undifferenzierten Fähigkeiten nicht vollständig ablegen, gilt in lückenloser Stufenleiter von den Infusorien bis zum Menschen:  331 Ebd., S. 3 u. S. 16–25. 332 Vgl. hierzu u. a. Seling-Dietz 1995–99. 333 Beide Zitate Wilbrand 1824, S. 81. 334 Vgl. hierzu Oken 2007, II, S. 163–165; dass Oken Terminus und Begriff dieser kleinsten lebenden Entitäten der Natur von dem dänischen Zoologen Otto Frederik Müller übernahm, weist nach Beidbach 2001a, S. 17. 335 Vgl. hierzu schon Roth 1990–94 sowie MBA VIII, S. 1626 u. S. 477. 336 Wilbrand 1824, S. 84f.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Von allen Sinnorganen sind, vom Infusorienthierchen bis zu den Insecten und Mollusken einschließlich, noch keine andere bestimmt wahrnehmbar, als die Organe des Gefühlssinns und die Augen. Am Schlusse der Molluskenwelt erscheinen in den Kopffüsslern (Cephalopoden) auch die ersten Spuren eines Gehörorgans. Wenn aber im Strahlenpolypen der Sinn fürs Licht, so wie der Gefühlssinn in einander verschmolzen sind: so dürfte auch mit Recht gesagt werden können, daß die übrigen Sinne, die wir bei höheren Thieren und beim Menschen unterscheiden, wenigstens der Anlage nach, in den unteren Thieren in einander verschmolzen sind; oder mit andern Worten, daß die Sinne des Menschen eben so aus einer und derselben Wurzel hervorsprossen, wie die einzelnen Theile des Nervensystems in den Seesternen allmählig hervorgehen, und wie die ganze Thierschöpfung mit den Infusorienthierchen beginnt.337

Die diversen Erscheinungen des Magnetismus erklärt Wilbrand nun dadurch, dass der Mensch in diesem »eigenthümlichen Zustand« in sinnespsychologischer und physiologischer Hinsicht auf die in ihm enthaltene, im entfalteten Bewusstsein jedoch verschüttete Stufe des ursprünglichen Gefühlssinnes zurücksinkt: Ist dieses unverkennbar, so werden auch bei einer Person im magnetischen Schlafe, wenn sie auf der Stufenleiter der Thierwelt zu der Natur der unteren Thiere hinabsinkt, alle Sinne gleichfalls in einen Sinn, in eine verkörperte Wahrnehmung zusammen schmelzen müssen.338

Büchner wird seiner Figur Lenz eine systematisch übereinstimmende Erklärung des Somnambulismus zuschreiben.339 Entscheidend ist im Zusammenhang seines wissenschaftlichen Wissens zunächst, dass er die von Wilbrand hier entwickelte evolutionäre Neurologie und Psychologie in seiner Probevorlesung ebenfalls entfaltet;340 dort heißt es nämlich: Die passive Seite des Nervenlebens erscheint unter der allgemeinen Form der Sensibilität; die sogenannten einzelnen Sinne sind nichts als Modificationen dießes allgemeinen Sinnes. Sehen Hören, Riechen, Schmecken sind nur die feineren Blüthen desselben. So ergiebt es sich aus der stufenweisen Betrachtung der Organismen. Man kann Schritt für Schritt verfolgen, wie von dem einfachsten Organismus an, wo alle Nerventhätigkeit in einem dumpfen Gemeingefühl besteht, nach und nach besondre Sinnesorgane sich abgliedern und ausbilden. Ihre Sinne sind nichts neu Hinzugefügtes, sie sind nur Modificationen in einer höheren Potenz. Das Nämliche gilt natürlich von den Nerven, welche ihre Functionen vermitteln, sie erscheinen unter einer vollkommeneren Form, als die übrigen Empfindungsnerven, ohne deßwegen ihren ursprünglichen Typus zu verlieren.341

Zwar wird diese analytisch-genetische Evolutionstheorie auch von Carl Gustav Carus,342 Lorenz Oken343 oder auch Gotthilf Heinrich Schubert344 vertreten. Doch sind  337 Ebd., S. 91. 338 Ebd., S. 92f. 339 MBA V, S. 365–40 sowie meine Ausführungen in Kap. 7. 340 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 111 sowie Roth 2004, S. 355–368. 341 MBA VIII, S. 15913–25. 342 Carus 1831, S. 110f.; vgl. hierzu auch Schweizer 2008, S. 384ff.

  Naturphilosophie deren Ausführungen zu einer naturgeschichtlichen Neurologie und Psychologie,345 die die ursprünglichen, einfachen Formen zu Substanzen der aus ihr hervorgehenden höheren Formen als deren Modifikationen begreift,346 auch in jeder Hinsicht mit den Positionen Wilbrands identisch. Kaum näher als in diesem Punkte sind sich der Gießener Professor der Medizin und Naturgeschichte und sein kurzzeitiger Student und nachmaliger Dozent für vergleichende Anatomie in Zürich, Georg Büchner. Das Spezifische dieser gemeinsamen Position zeigt sich bei einem kurzen Blick auf eines der einflussreichsten Evolutionsmodelle der Zeit, Jean-Baptist Lamarcks epigenetische Entwicklungstheorie. Auch Lamarck hält den wissenschaftlichen Ausgang jeder natürlichen Evolutionstheorie »bei den allereinfachsten Organismen« für unumgänglich, weil »das auf der niedrigsten Organisationsstufe stehende Wesen kein besonderes Organ, auch keine besondere Fähigkeit, die nicht jedem belebten Körper zukäme, besitzt«.347 Die Komplexitätszunahme auf der Stufenleiter der Natur erfolgt mithin nicht systemisch, sondern additiv. Die Gründe für die Ausprägung höherer Stufen sind nach Lamarck jedoch nicht in den ursprünglichen Formen angelegt, sondern von dem »Wechsel der Lebensbedingungen« abhängig.348 Die komplexeren Organismen sind also keine »Modifikationen in einer höheren Potenz« wie für Büchner, Carus oder Wilbrand,349 sondern substanziell neue Arten von Lebewesen; nach Lamarck gilt für sie, was Büchner ihnen explizit abspricht: dass sie durch »neu Hinzugefügtes«350 definiert werden. Ergänzend sei angemerkt, dass Büchner diese spezifische Variante evolutionärer Psychologie auch in den Vorlesungen und Schriften Joseph Hillebrands hatte hören oder nachlesen können, der schon in seiner Anthropologie von 1822/23 in Bezug auf eine evolutionäre Gefühlspsychologie festhielt: Alle einzelnen Gefühle sind nach früheren Bemerkungen zunächst zu betrachten als Modifikationen des einen Urgefühls, […].351 Ein anderer Grund [für prophetische Träume] aber dürfte in dem früher angedeuteten Gemeingefühl oder allgemeinen Sinne zu suchen seyn. In diesem vereinigen sich nämlich […] alle ein-

 343 Zu Oken vgl. Ghiselin 2005, S. 441: »Entsprechend war die Scala so zu betrachten, daß mit fortlaufender Organisationshöhe sukzessive neue Eigenschaften zu den alten der niederen Stufen hinzu kamen.« 344 Schubert 1808, S. 24ff. 345 Vgl. hierzu auch Poggi 1994, S. 143–160. 346 Vgl. hierzu schon Gaede 1979, S. 46f. 347 Lamarck 2002, S. 44f. 348 Ebd., S. 45f.; vgl. hierzu auch Lefèvre 22009, S. 32–76. 349 MBA VIII, S. 15922. 350 Ebd., S. 15921. 351 Hillebrand 1822/23, II, S. 283.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

zelnen Organsinne, aus ihm entwickeln sie sich, er liegt ihnen fortdauernd zum Grunde, wirkt in allen und ersetzt den Mangel der Einzelnen.352

Wilbrand war mit seiner Form von Naturgeschichte und evolutionärer Psychologie, die ein Modell analytischer Realgenese entwarf,353 also auch in Gießen nicht allein, sondern wurde darin gar von namhaften Philosophen unterstützt. Büchner folgte diesem Modell und ist damit in wesentlichen Punkten seiner eigenen Naturphilosophie derjenigen Wilbrands und Hillebrands näher als Cuvier und Duvernoy einerseits oder gar Liebig andererseits. Insbesondere für eine nur kontextuell zu erschließende und zu interpretierende Passage des Lenz und ihre Stellung im poetischen Gesamtgefüge der Erzählung wird sich diese systematische Nähe als prägend erweisen. Büchner konnte mithin nicht nur in der Vorlesung Wilbrands, die er besuchte,354 sondern auch über dessen Schriften Prinzipien, Theoreme und auch empirische Ergebnisse einer philosophisch fundierten Naturforschung kennenlernen oder bestätigt finden, die er in seinen späteren Texten ebenfalls vertrat. Hierbei geht es nicht um empirische Einzelerkenntnisse, sondern um methodische und systematische Grundlagen des Naturbegriffs und der Naturforschung überhaupt, sowie – das zeigte die evolutionäre Neurologie und Psychologie – um begriffliche und systematische Grundlagen für eine wissenschaftliche Erklärung problematischer, bislang unerklärter Erscheinungen. Dass Büchner die von Wilbrand vertretenen wissenschaftlichen Gehalte von dem Habitus des Hochschullehrers, den er im Woyzeck karikierte, unterscheiden konnte, darf man dem 22-Jährigen getrost zutrauen.355 Eine umfassendere, hier nur skizzenhaft zu leistende Rekonstruktion der Naturphilosophie Wilbrands an ihr selbst und im Hinblick auf Büchners Positionen steht allerdings noch aus; erst eine wissenschafts- und philosophiegeschichtlich angemessene Bearbeitung seines Werkes, die die bislang zumeist biographischen und institutionengeschichtlichen Perspektiven ergänzen müsste,356 kann den spezifischen Einfluss auf Büchners Wissenschaften weitergehend aufarbeiten. Nach der Sichtung der Grundzüge der Naturphilosophie Wilbrands liegt die Annahme nahe, dass Büchner an dessen Vorlesung mehr interessiert haben und durch diese stärker geprägt worden sein dürfte, als durch bzw. in Bezug auf das ›Wackeln von Ohren‹.357  352 Ebd., S. 361; vgl. auch noch Hillebrand 1835/36, S. 131–170. 353 Vgl. hierzu auf der Grundlage von Breidbach 1986 und Mischer 1997, S. 168ff. schon Stiening 1999, S. 112 und Roth 2004, S. 360. 354 MBA VII.2, S. 474ff. sowie MBA VIII, S. 185f. 355 So auch Haaser 2014. 356 So die umfangreiche Arbeit von Maaß 1994. 357 Wilbrand ließ – laut Carl Vogt (1896, S. 55) – seinen Sohn in seinen Vorlesungen mit den Ohren wackeln, ein Phänomen, das er als Eigenschaft des Affen beschrieb, womit er seinen Sohn vor der versammelten Hörerschafft gedemütigt habe. Büchner soll diese Episode im Woyzeck kritisch gestaltet haben (vgl. MBA VII.2, S. 2030–35); auch wenn beides längstens widerlegt wurde (vgl. Maaß 1994,

  Naturphilosophie ... Gießener Paläontologie: Johann Jakob Kaup Büchner wurde jedoch nicht nur durch seinen Lehrer Lauth in Straßburg sowie Hillebrand, Wilbrand und Wernekinck in Gießen mit naturphilosophischer Theoriebildung vertraut gemacht. Auch eine durch Alexis Muston, einen Freund Büchners, bezeugte engere Bekanntschaft mit dem nachmaligen Leiter der naturgeschichtlichen Sammlung in Darmstadt, Johann Jakob Kaup,358 kann einen Einfluss der in den 1830er Jahren weithin akzeptierten philosophischen Naturforschung verdeutlichen. Weil Kaup Georgs Bruder Wilhelm Privatunterreicht erteilte,359 kann man von einer näheren Bekanntschaft Büchners mit dem in den 1830er Jahren europaweit zu wissenschaftlichem Ansehen gelangenden Paläontologen ausgehen. Denn Kaup führte Büchner und den in Darmstadt auf Archivreise befindlichen Muston im Sommer 1834 wie selbstverständlich durch sein Kabinett und erwies ihnen die besondere Ehre, »uns seinen berühmten Dinotheriumkinnbacken« zu präsentieren.360 Kaup hatte sich mit einer Studie zu diesem berühmten fossilen Fund, die auf Vermittlung Liebigs auch Cuvier vorgelegt wurde,361 und mit einer umfangreicheren Arbeit zur Entwicklungsgeschichte der europäischen Thierwelt (1829), die Büchners Vater dem Sohn noch nach Zürich nachschickte,362 einen Namen in der sich erst entwickelnden Paläontologie und der (vordarwinschen) Evolutionstheorie gemacht.363 Kaup sah sich in seinen wissenschaftlichen Prinzipien als »Anhänger der Naturphilosophie«364 und fühlte sich in diesem Sinne seinem »Lehrmeister« Oken verpflichtet.365 Gleichzeitig pflegte er mit Büchners Straßburger Dozenten GeorgesLouis Duvernoy eine enge Freundschaft.366 Auch methodisch und systematisch schwankt Kaup bei der ihn lebenslang beschäftigenden »Einteilung der Natur«

 S. 351f. sowie Haaser 2014, S. 215), reduziert die Büchner-Forschung das Verhältnis zwischen Büchner und Wilbrand seit Bergemann (1922, S. 830) auf diese Anekdote; vgl. u. a. Glück 1985b, S. 150; Hauschild 1993, S. 559 oder auch Elm 2004, S. 127f.; einzig ausführlicher, wenngleich ebenfalls tendenziös Dedner 2000, S. 178–182; Wenzel 2007, S. 171; MBA VII.2, S. 474–479 u. S. 485ff.; Schiemann 2017, S. 158. 358 Zu Kaup vgl. Heldmann 1955 sowie Franzen u. Gruber 2004; Engels 2013, S. 99ff. 359 Vgl. P II, S. 35516ff.; vgl. auch ebd., S. 1220. 360 Fischer 1987, S. 259; siehe auch Kurz u. Gruber 2004; eine Abbildung dieses fossilen Unterkiefers findet sich ebd. S. 74 sowie in Engels 2013, S. 106. 361 Ebd., S. 262 sowie Franzen u. Gruber 2004, S. 5. 362 P II, S. 4609–11; vgl. hierzu schon James 1982, S. 61. 363 Vgl. Franzen u. Gruber 2004, S. 5: »So modern diese Formulierung heute klingt, so weit ist Kaups Werk von der Idee einer natürlichen Evolution des Organismus im Sinne von Charles Darwin entfernt.« Die Büchner auf dem Wege zu Darwin sehende MBA (VIII, S. 246) hätte bei solcherart differenzierter Forschung zu Büchners Umfeld genauer nachschlagen sollen; vgl. auch Breidbach 2004a, S. 181; Junker 32004. 364 So zu Recht Geus 32004, S. 330. 365 Vgl. Heldmann 1955, S. 6. 366 Vgl. Franzen u. Gruber 2004, S. 7.

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zwischen Cuviers typologischem Klassifikationsprogramm und Okens deduktivem System.367 Selbst wenn alle Überlegungen zu einer möglichen Protektion Büchners durch Kaup bei Oken oder schon früher bei Duvernoy Spekulationen bleiben müssen,368 zeigt doch der offenbar engere Kontakt369 zu diesem – im zeitgenössischen Sinne – innovationsfreudigen Naturgeschichtler Büchners engmaschige Einbindung ins Netz europäischer Naturphilosophie in den 1820er und 1830er Jahren. ... Gründe einer verpassten Begegnung: Büchner und Liebig Vor dem Hintergrund dieser studien- und theoriekonstituierenden Stellung Büchners im Tableau naturphilosophischer und -wissenschaftlicher Forschung, die sich dadurch auszeichnete, dass sie eine stete Vermittlung zum Problem der Natur als »einer gewissen Einheit«370 begründet aufrecht erhielt, nimmt es nicht Wunder, dass der Gießener Medizin-Student mit der analytisch-phänomenologischen Naturwissenschaftsvariante Justus Liebigs kaum Berührung aufnahm. Liebig, der 1833 und 1834 – also während Büchners kurzem Aufenthalt in Gießen – an den Konsequenzen seiner Radikaltheorie arbeitete sowie im Rahmen der praktischen Chemie an einem neuen Verfahren zur Herstellung von Silberspiegeln forschte,371 ließ schon in dieser Zeit – also nicht erst ab den 1840er Jahren, in denen er auch publizierend gegen die Naturphilosophie auftrat372 – keine Gelegenheit aus, die Konkurrenz der philosophischen Naturforschung zu bekämpfen, obwohl er u. a. mit Wernekinck das private Institut für Pharmazie und technisches Gewerbe betrieb.373 An dem Entzug der Professur für Anatomie und Physiologie, die Johann Bernhard Wilbrand 1844 ereilte, hatte Liebig maßgeblichen Anteil.374 Auch wenn in der vom Siegeszug der analytischen Naturforschung beeinflussten Büchner-Forschung immer wieder über eine etwaige Hörerschaft und/oder Nähe Büchners zu Liebig spekuliert wurde und wird,375 kann man, nachdem die Mär von einer Auseinandersetzung mit Versuchen

 367 Vgl. ebd. 368 Vgl. Fischer 1987, S. 263f. sowie P II, S. 1220. 369 So auch zu Recht, wenngleich ohne jede wissenschaftsgeschichtliche Interpretation, Hauschild 1993, S. 119. 370 MBA VIII, S. 15546. 371 Vgl. hierzu Schwenk 1998, S. 241f. sowie Brock 1999, S. 114ff. 372 Vgl. Liebig 1840; hier gießt Liebig seine Kritik in jene nachmals berühmt werdende Formel von der Naturphilosophie als »Pestilenz [...] unseres Jahrhunderts« (S. 24). 373 Vgl. Maaß 1994, S. 229–320. 374 Ebd., S. 276ff. sowie Brock 1999, S. 161f.; Felschow 2003, S. 74f. und Giese 2007, S. 200–204. 375 Vgl. hierzu schon Strohl 1936, S. 39f.; vor allem aber Bornscheuer 1972, S. 11–15; weitgehend ungeprüft wurden diese Thesen übernommen durch Glück 1985, S. 156ff.; Kubrik 1991, S. 181–194, Hauschild 1993, S. 256; Arz 1996, S. 79Anm. 195; Selbmann 1996, S. 160 u. Knapp 32000, S. 203; zur Kritik an den haltlosen Spekulationen vgl. schon Roth 1995–99, S. 503f. sowie Roth 2004, S. 33–38;

  Naturphilosophie Liebigs an Soldaten im Woyzeck endgültig verabschiedet wurde,376 von einer verpassten Begegnung zweier bedeutender kulturhistorischer Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts sprechen. Eine nicht unerhebliche Rolle für diese vollständige gegenseitige Ignoranz dürfte die Tatsache gespielt haben, dass Joseph Hillebrand, den Büchner hörte, sich mit Kritik an Liebigs Wissenschafts- und Lehrverständnis keineswegs zurückhielt. Dabei nahm der Philosoph, der institutionell unter dem Dach der philosophischen Fakultät mit Liebig zusammenarbeiten musste, vor allem den methodisch und systematisch unbegründeten Empirismus der liebigschen »Barbaren-Kohorte« auf’s Korn.377 Büchners naturwissenschaftliche und -philosophische Ausrichtung auf die Formulierung eines allgemeinen Naturgesetzes, seine mit Wilbrand konforme explizite Ablehnung einer so genannten Lebenskraft,378 deren Existenz Liebig – bei aller schroffen Kritik an philosophischer Forschung – lebenslang verteidigte,379 sowie die Einbindung der empirisch-anatomischen Arbeiten Büchners in eine qualitative und eben nicht analytisch quantitative Forschung verweisen auf die grundlegende wissenschaftstheoretische Differenz zwischen dem Chemiker und dem angehenden vergleichenden Anatomen. Das heißt allerdings nicht, dass Büchner Liebigs Forschungsausrichtung in allen Punkten ignorierte; keineswegs zeigte er sich als grundlegender Gegner der Biochemie, wie seine offenbar intime Kenntnis der Forschung Pierre Prévosts und Jean Baptist Dumas’ zur Biochemie des Harnstoffs zeigt.380 Die Ablehnung Liebigs durch Büchner richtete sich also weniger gegen die empirischen Ergebnisse seiner Forschungsausrichtung als vielmehr gegen den empiristischen Methodiker und auftrumpfenden Lehrstuhlinhaber. Der Experimentalismus des Doktors, ja sogar dessen Ausrichtung auf Menschenversuche381 im Woyzeck hat mit Liebigs analytischer Naturwissenschaft allerdings nichts zu tun und teilt auch nicht den »gleichen Denkraum«.382 Vielmehr hatte schon der naturphilosophische Physiker Johann Wilhelm Ritter, dem es – wie Büchner – darum ging, ein »allgemeines, bisher noch nicht bekanntes Naturgesetz« zu formulieren,383 gezeigt, in welchem Umfang und in welch humanitär prekären  dennoch wurde die These wiederholt in Pethes 2004, S. 352; MBA VII.2, S. 474; Elm 2004, S. 127; Hauschild 22004, S. 148 sowie Wenzel 2007, S. 174f.; erstmals richtigstellend aufgenommen bei Pethes 2006, S. 73 sowie Pethes 2009, S. 264. 376 Vgl. Dedner 1993, S. 116; Roth 1995–99, S. 504ff.; Dedner 2000, S. 183f.; Wenzel 2007, S. 174 sowie MBA VII.2, S. 519f. 377 Vgl. Schreiber 1937, S. 14–16. 378 Vgl. hierzu Wilbrand 1831, S. 24ff. 379 Vgl. Rothschuh 1968, S. 74 sowie Brock 1999, S. 249f. 380 Vgl. hierzu meine Ausführungen zu den philosophischen Skripten in Kap. 2. 381 Vgl. Glück 1990. 382 Vgl. aber auf der Grundlage von Glück (1985b, S. 156ff.) Pethes 2004, S. 352 sowie MBA VII.2, S. 474. 383 Ritter 1798, S. 171; vgl. hierzu Höppner 2017, S. 209–334.

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Dimensionen er Menschenversuche – insbesondere als Selbstversuche384 – zu unternehmen bereit war.385 Auch war die Ausrichtung der Forschungspraxis auf experimentelle Verifikation konstitutiver Teil des naturphilosophischen Wissenschaftsverständnisses.386 Liebig und Büchner hatten sich folglich in den Jahren 1833 bis 1835 gegenseitig wenig zu bieten: der sich zum Großmanager theoretischer und praktischer Chemie herausbildende Liebig und der zwischen Philosophiegeschichte und Naturphilosophie nach allgemeinen Begründungtheorien für eine kohärente Naturtheorie suchende vergleichende Anatom Georg Büchner.

.. Straßburg 1835–1836: Ausbildung zum selbständigen Wissenschaftler: Die Dissertation Nach seiner Flucht aus Darmstadt, die ihn ungesäumt nach Straßburg zurückführte, ist Büchner nicht nur um eine gesicherte Existenz gebracht, sondern auch der Verpflichtung entledigt, ein Studium der praktischen Medizin zu beenden.387 Die noch auf der Reise übermittelte Versicherung an die Eltern, er werde »das Studium der medicinisch-philosophischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung betreiben«,388 ist sowohl positiv als Garantie der Fortsetzung der beruflichen Ausbildung überhaupt als auch negativ als Absage an eine medizinisch-praktische Ausbildung zum Arzt zu lesen. Denn der Terminus »medicinisch-philosophische Wissenschaften« bezieht sich eindeutig und ausschließlich auf die naturphilosophischen Studien Büchners im Fachgebiet der vergleichenden Anatomie.389 Ausdrücklich hatte schon Georg Ferdinand Zimmermann in seinem Philosophisch-medicinischen Wörterbuch von 1807 festgehalten, dass das Telos dieses jungen Forschungszweiges darin bestehe, alle »animalischen Erscheinungen als eine Natur, d. i. als ein gesetzmäßig verknüpftes Ganzes von Gegenständen unserer Wahrnehmung« mit Hilfe philosophischer Kategorien zu erfassen.390 Doch vorerst hält sich Büchner an diese Versicherungen nicht. Vielmehr hofft er, wie er an Karl Gutzkow schreibt, »[s]eine Faulheit wenigstens ein Vierteljahr

 384 Vgl. die eindrückliche Dokumentation bei Strickland 1998. 385 Richter 1997 sowie Weber 2005, S. 507–535. 386 Vgl. hierzu u. a. Wetzels 1973, S. 29–36; Schulz 1993; Steinle 2002 und Höppner 2017, S. 82ff. 387 Vgl. auch Ludwig Büchner (in Dedner [Hg.] 1990, S. 122): »In Straßburg wandte sich Büchner wieder ganz seinen ernsten Studien zu […]. Wenn er auch die praktische Medicin entschieden aufgab, so setzte er doch die naturwissenschaftlichen Studien um so eifriger fort.« 388 P II, S. 3973–5. 389 Vgl. hierzu zu Recht P II, S. 1046; Roth 2004, S. 38f.; MBA VIII, S. 189ff., S. 245f.; eine eindeutig falsche historische Semantik des Begriffs liefert dagegen MBA V, S. 132. 390 Zimmermann 1807, S. 364; vgl. hierzu auch MBA VIII, S. 190.

  Naturphilosophie lang fristen zu können«.391 Die Bemerkung scheint jedoch mehr einem unter Jungdeutschen der Zeit modischen Sensualismus heinescher Provenienz392 geschuldet als Büchners tatsächlichen Plänen; er ist in den ersten Wochen und Monaten vor allem politisch aktiv, u. a. im Hinblick auf Hilfe für seine in Hessen inhaftierten Freunde.393 Zudem muss er sich um die rechtliche und wirtschaftliche Sicherung seiner Existenz in Straßburg kümmern,394 wobei er sich im Hinblick auf seinen Status als Exilant allerdings der Unterstützung der »Professoren Lauth, Duvernoy und des Doctor Boeckel« sicher ist.395 Die Sorge um seine wirtschaftliche Existenz veranlasst u. a. die Arbeit an der Übersetzung zweier Hugo-Dramen,396 und auch die Suche nach einem institutionell möglichen und wissenschaftlich geeigneten Thema zum Promotionsabschluss seiner Naturforschung bedrängt den Flüchtling. Dennoch scheinen die ersten Monate bis in den Herbst des Jahres 1835 nicht nur mit den Übersetzungen und der Suche nach einer geeigneten wissenschaftlichen Thematik für die angestrebte wissenschaftliche Qualifikation ausgefüllt worden zu sein, sondern auch mit der Arbeit an der »Novelle Lenz«, deren Verfertigung schon im Mai Gutzkow gegenüber angedeutet wurde.397 Muss deren poetische Gestaltung wissensgeschichtlicher Kontexte im Folgenden eigens untersucht werden, so ist doch schon im Rahmen der Rekonstruktion des Entwicklungsganges der büchnerschen Aneignung naturwissenschaftlichen und -philosophischen Wissens darauf hinzuweisen, dass sich der Autor der Erzählung im französischen Exil ausführlich mit allgemein vermögenspsychologischen, psychopathologischen und psychiatrischen Fragestellungen und entsprechender Literatur befasst haben muss.398 Dass diese Beschäftigung mit Psychologie erneut nicht ohne naturphilosophische Fundierungen auskommen kann und will, wird die nähere Betrachtung der Erzählung, insbesondere das oben schon erwähnte Gespräch zwischen Oberlin und Lenz über Erscheinungen des Magnetismus und des Somnambulismus, zeigen. Entscheidend ist vorerst, dass Büchner sein wissenschaftliches Wissen um den Bereich der Psychopathologie erweitert bzw. so weit bündelt, dass er die psychographischen und allgemein psychologischen Momente im Lenz zu gestalten wusste. Diese Erweite-

 391 P II, S. 39725f.. 392 Vgl. u. a. Teraoka 2006, S, 96ff. 393 Vgl. hierzu Mayer 1993. 394 Vgl. MBA V, S. 139. 395 Brief an die Familie von Ende Juni 1835, P II, S. 40720f.; vgl. Hauschild 1993, S. 478; Knapp 2000, S. 25–34 sowie Martin 2007, S. 88–111. 396 Vgl. MBA IV, S. 264ff. 397 Vgl. P II, S. 4051. 398 Vgl. hierzu Seling-Dietz 1995–99 sowie MBA V, S. 131–137; allerdings müssen gegenüber deren einseitigen Kontextualisierungen im wissenschaftlichen Feld zugunsten einer »somatisch orientierten Psychiatrie« (ebd., S. 132) erhebliche Modifikationen vorgenommen werden.

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rung seines Wissens ist nicht wissenschafts-intrinsisch motiviert, sondern auf die Gestaltung eines literarischen Themas ausgerichtet.

.. Exkurs: Büchner und Schleiden oder: Anatomia practica zwischen Empirismus und Naturphilosophie Ab dem Spätsommer verstärkt Büchner jedoch die Suche nach einem geeigneten Promotionsthema, auch wenn er – wie erwähnt – sich erst im November dazu entschließt, einen naturwissenschaftlichen Gegenstand zu bearbeiten.399 Büchner liest mithin intensiv philosophische und naturwissenschaftliche Texte, forciert aber zugleich eine Tätigkeit, die seine spezifische Stellung im Tableau der zeitgenössischen Naturforschung veranschaulicht. Udo Roth hat diese Tätigkeit, die einen entscheidenden empirischen Bedingungsfaktor für Büchners Naturforschung abgibt, wie folgt beschrieben: Büchner vertraute letztlich nur seinen eigenen Sektionsergebnissen […]. Dabei präparierte er manuell mit Skalpell, Nadel und Pinzette, mehrenteils unter Wasser, da die Gewebe in diesem Medium ihre natürlichen Formen und Lagen behielten und aufgrund des Auftriebs auch feinste Häute zu erkennen waren. Als einzige optische Hilfsmittel standen ihm bei diesen Arbeiten unterschiedlich starke Lupen zur Verfügung, ein Umstand, der dem stark kurzsichtigen Büchner sicherlich einige Schwierigkeiten bereitete.400

Nun können zwei unterschiedliche kontextuelle Bezüge aufweisen, dass diese schon an sich und erst recht für den Kurzsichtigen beschwerliche empirischtechnische Arbeit401 keineswegs eine Affinität Büchners zur empiristischanalytischen Naturforschung dokumentiert, die sich zum gleichen Zeitpunkt in Berlin um Johannes Müller Bahn bricht.402 Denn es ist der Naturphilosoph und vergleichende Anatom Carl Gustav Carus, der im Anhang seines Lehrbuchs zur vergleichenden Anatomie, das Büchner explizit in seiner Dissertation zitiert,403 solcherart Praktiken ausführlich beschreibt und jedem Anatomen anempfiehlt: Zuvörderst aber scheint es mir nöthig anzumerken, daß alle Zergliederungen kleiner, weicher Thierkörper (z. B. von Würmern, Insekten, Mollusken und Embryonen), wenn sie nur einigermaßen genaue Resultate geben sollen, nothwendig unter Wasser, als durch welches die Theile fluktuierend und gesondert, folglich deutlicher dargestellt werden, vorzunehmen sind. [...] Noch kann ich endlich die Bemerkung über die Untersuchung sehr zarter Organisationen nicht schließen, ohne anzuführen, daß viele derselben weit leichter und schärfer untersucht werden  399 Vgl. auch Martin 2007, S. 106. 400 Roth 2004, S. 75f.; vgl. schon Döhner 1967, S. 66. 401 Zu deren Umfang vgl. MBA VIII, S. 202. 402 Vgl. Kremer 1991; Lenoir 1992; Breidbach 2005 sowie Otis 2007. 403 Vgl. Roth 2004, S. 44 sowie MBA VIII, S. 255f. u. S. 479–484.

  Naturphilosophie können, wenn sie zuvor eine gewisse freilich genau anzumessende Zeit in Weingeist gelegt, und durch denselben zusammengezogen und erhärtet worden sind. Es gilt dies namentlich vom Zergliederung der Nervengebilde, [...].404

Schon die Rekonstruktion der Lehren auf diesem Feld der anatomia practica, die Büchner bei Lauth und Wernekinck erhalten hatte, konnte zeigen, dass beide Anatomen und Präparatoren ihre technisch-praktische Befähigung mit naturphilosophischen Begründungtheorien zu vermitteln wussten, gerade um ihren Vorstellungen wissenschaftlicher Erklärungsansprüche gerecht zu werden. Dem von Büchner mehrfach herangezogenen Carus gelingt ebendiese Vermittlung zwischen Präparationstechnik und philosophischem Deutungsanspruch ebenfalls. Empirisch beansprucht mithin auch die Naturphilosophie zu arbeiten, nicht aber empiristisch, weil sie weder in epistemologischer Hinsicht nur von der Erfahrung ausgeht noch in methodischer Hinsicht nur durch Induktion verfährt.405 Gleichwohl müssen die von Carus benannten technischen Voraussetzungen der empirischen Forschung bei einem vergleichenden Blick nach Berlin zu weiteren Präzisierungen bei der Interpretation der büchnerschen Naturwissenschaft führen. Zieht man nämlich einen zweiten Kontext zu Rate, so eröffnet sich eine Reihe von Anschlussüberlegungen, durch die sich Büchners Stellung im Feld der Naturforschung der 1830er Jahre deutlicher bestimmen lässt: Denn zum gleichen Zeitpunkt, in den Jahren 1835 bis 1838, arbeitet der in den 1840er Jahren als Botaniker, Zelltheoretiker und wütender Gegner der Naturphilosophie zu großer Berühmtheit gelangende Matthias Jacob Schleiden406 ebenfalls an anatomischen Studien – allerdings unter der Anleitung Johannes Müllers in Berlin zur Botanik.407 Zu berücksichtigen ist dabei, und zwar auch für die sich abzeichnende Zelltheorie,408 dass Schleiden in Berlin mit den damals leistungsfähigsten, ganz neuen Mikroskopen arbeiten kann,409 während Büchner in Straßburg im Weingeistdunst und unter Wasser schnipselt.410 Büchner und Schleiden hatten keinerlei Kontakt, mit der mittelbaren Ausnahme des unterschiedlichen Bezuges zu Johannes Müller; doch lassen sich folgende Schlüsse aus dem wissenschaftsgeschichtlichen Vergleich ziehen: Beide, Büchner und Schleiden, arbeiten zum gleichen Zeitpunkt empirisch; Schleiden mit dem Anspruch streng empiristischer Epistemologie und Methodologie;411 Büchner dagegen

 404 Carus 21834, S. 833–835. 405 Vgl. hierzu u. a. Schulz 1993; Steinle 2002; Breidbach 2004. 406 Vgl. Schleiden 1844. 407 Vgl. hierzu Charpa 2005, S. 632f. 408 Vgl. hierzu u. a. Lenoir 1982, S. 112ff. 409 Ebd. 410 Göbbel u. Schultka 2003, S. 49–81. 411 Vgl. ebd. S. 647f.

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unter – methodisch eingeschränkten – apriorischen Voraussetzungen. Während Büchner seiner vergleichenden Anatomie eine systematische Naturtheorie zugrunde legt, die eine spezifisch vordarwinsche Evolutionstheorie ausführt,412 setzt Schleiden zumindest im Selbstanspruch ausschließlich methodologische Prämissen voraus, die eine strenge Induktion ermöglichen sollen.413 Die von der Naturphilosophie und so auch von Büchner betriebene Suche nach einem allgemeinen Naturgesetz hält Schleiden für »geistlosen Dogmatismus«.414 Unbestreitbar ist, dass Schleiden mit seinen Arbeiten seit 1835, die alsbald in erste Grundlagen der Zelltheorie münden, die Zukunft der Naturforschung als analytischer Naturwissenschaft ausmacht. Schon in Publikationen des Jahres 1838, also sehr nahe an Büchner, kündigt sich diese Zukunft öffentlich wirksam an. Klar ist auch, dass Büchner Welten von dieser Entwicklung zu einer analytischen Naturwissenschaft entfernt agiert und dennoch zu empirischen Ergebnissen kommt, die Johannes Müller ausdrücklich lobt.415 Vor diesem Hintergrund ist die wissenschaftsgeschichtlich ebenso wie die büchnerphilologisch interessierende Frage, was den Unterschied zwischen Büchner und Schleiden ausmache, von einigem Interesse: die Technik, die dem im Zentrum des ›naturwissenschaftlichen Weltgeistes‹ agierenden Schleiden zur Verfügung steht, oder die allgemeine Begründungstheorie, die unter apriorischen oder empiristischen Vorgaben zum analytischen Induktionismus oder zu einer synthetisierenden Naturphilosophie führen? Die scheinbar unmittelbare Evidenz der Innovationsleistungen technischer Bedingungen wird schon allein dadurch geschwächt – keineswegs negiert –, dass Büchner in Gießen mit einer anderen, gleichwohl ebenso wirksamen wie zukunftsträchtigen analytischen Schule, der Liebigs nämlich, in Kontakt kam, zudem mit den oben zitierten Texten Prévosts und Dumas’ biochemische Ergebnisse dieses Paradigmas zur Kenntnis nahm und sich dennoch – wie gezeigt – zu den in Gießen öffentlich agierenden Liebig-Gegnern schlägt: zu dem die »Barbaren-Kohorten« Liebigs bekämpfenden Philosophiedozenten Hillebrand sowie dem von Liebig stets denunzierten Wilbrand. Büchner hätte also die Möglichkeit gehabt, nicht nur innerhalb der Bahnen naturphilosophisch begründeter Empirie, sondern einer empiristischen Methodik der analytischen Naturwissenschaften zu arbeiten; er hat dies aber unterlassen. Für eine Erklärung dieser Tatsache sind aber die Versuche, Büchner entweder zum verstockten Sünder oder zum vermeintlichen Empiriker der Cuvier 412 Vgl. hierzu ausführlich Breidbach 1986; von Engelhardt 1997, S. 39f.; Junker 32004, spez. S. 371ff.; vor dem Hintergrund der Erkenntnisse Breidbachs, von Engelhardts oder Junkers sind die Insinuationen der MBA (VIII, S. 246), diese Evolutionstheorie Büchners habe irgendetwas mit Darwin zu tun, bzw. sie gehöre in die unmittelbare Vorgeschichte seiner Dezenz-Konzeption, durchaus irritierend; vgl. auch Lefèvre 2009, S. 23ff. 413 Vgl. u. a. Schleiden 1844, S. 18ff. 414 Ebd., S. 20. 415 Vgl. Müllers Sammelrezension von 1837, abgedruckt in P II, S. 607–612/MBA VIII, S. 598–601.

  Naturphilosophie Schule zu erklären und ihm zugleich eine Nähe zur Liebig-Schule zu attestieren, wenig hilfreich.416 Es muss vielmehr angenommen werden, dass er den Erklärungsleistungen der naturphilosophischen Modelle Hillebrands, Wilbrands oder Lauths mehr zutraute als der typologischen Konzeption der Cuvier-Schule einerseits und der Phänomenologie der analytischen Naturwissenschaft Liebigs andererseits. Büchners Haltung ist somit auch Ausdruck einer generellen Unentschiedenheit der Kontroverse zwischen den verschiedenen, in den 1830er Jahren gleichzeitig wirksamen Paradigmata der Naturforschung.417 Zu berücksichtigen ist zudem, dass Schleiden, wie auch seine Lehrer Johannes Müller418 und Jakob Friedrich Fries,419 durchaus philosophischer Systematik und Methodologie verpflichtet blieb, wenngleich – zumindest bei Schleiden – weitgehend unbewusst.420 Es sind mithin die – nicht vollends konsequent ausgeführten bzw. reflektierten – allgemein systematischen und methodologischen Begründungstheorien,421 die in Verbindung mit den durch sie allererst generierten technischen Bedingungen die erheblichen Unterschiede der gleichzeitig experimentierenden und sezierenden ›Nachwuchsforscher‹ Georg Büchner und Matthias Jacob Schleiden hervorbringen.422 Dennoch konnte Büchner mit seinen – veralteten – Methoden nicht nur in der Wissenschaft (Promotion und Habilitation), sondern auch in der Lehre einige Erfolge verbuchen. Einer der wenigen Hörer der einzigen Vorlesung, die Büchner je in Zürich gehalten hat, erinnert sich noch Jahrzehnte später nicht nur der gemäßigt naturphilosophischen Inhalte, sondern auch der spezifischen Lehrmethoden des Dozenten: […] was aber diesen Vorlesungen vor allem ihren Wert verlieh, […] das waren ferner die ungemein faßlichen, anschaulichen Demonstrationen an frischen Präparaten, die B., bei dem völligen Mangel daran an der noch so jungen Universität, sich größtenteils selbst beschaffen mußte. So präparierte er z.B. das gesamte Kopfnervensystem der Fische u. der Batrachier auf das

 416 Vgl. Pethes 2004, S. 352 sowie insbesondere MBA VII.2, S. 474 und Wenzel 2007, S. 174f. 417 Dass sich erst in den 1840er Jahren die Waage den analytischen Naturwissenschaften zuneigte, zeigen Breidbach 1988, S. 29; Sawicki 2002, S. 131; Breidbach 2005, S. 5; Schott. u. Tölle 2005, S. 66ff.; Breidbach 2006, S. 62 u. S. 202f. sowie Stiening 2006a, S. 111f. 418 Vgl. hierzu den bahnbrechenden Sammelband von Hagner u. Wahrig-Schmidt 1992. 419 Vgl. hierzu insbesondere Pulte 1999 sowie Breidbach 1999. 420 So zu Recht Charpa 2005. 421 So auch in Bezug auf die Innovationsleistungen Johannes Müllers in den 1830er Jahren Breidbach 2005, S. 7: »Neu sind hierbei weder der Gegenstandbereich noch die Geräte, die Müller nutzte, hierin war er auf dem Stand seiner Zeit […]. Innovativ war dabei allerdings seine Art der Gedankenführung, die die Beobachtung und das Experiment in einer neuartigen, in sich konsistenten Weise in einen Argumentationsgang einband.« 422 Vgl. auch Döhner 1967, S. 50: »Der Versuch einer philosophisch begründeten Naturwissenschaft war für Büchner auch kein Kompromiß, sondern beruhte im Gegenteil auf der Überzeugung, daß nur eine kritisch-philosophische Klärung der Methoden einen Weg aus der ›trostlosen Wüste‹ der spekulativen Naturphilosophie weisen könnte.«

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Sorgfältigste an frischen Exemplaren, um diese Präparate jedesmal zu den Vorlesungen verwenden zu können.423

Wie schon für Straßburg, so muss man sich auch für Zürich vor Augen führen, dass Büchner nicht nur die Vorlesungen selbst, sondern auch die Präparation der Fische auf seinem Privatzimmer vornahm. Von den hygienischen und olfaktorischen Belästigungen, die mit diesen Tätigkeiten einhergingen, wird sich noch der strengste Historist keinerlei Vorstellungen machen können. Klar aber ist, dass diese besondere technisch-praktische Befähigung Büchners eine – wenn auch kritisch gemäßigte – naturphilosophische Begründungstheorie nicht behinderte. August Lünnig, der soeben zitierte Hörer, betont denn auch neben der Anschaulichkeit Büchners Interesse und bedeutende Fähigkeit, die anatomische Deskriptionen durch »die fortwährende Beziehung auf die Bedeutung der einzelnen Teile der Organe u. auf die Vergleichung derselben mit denen der höheren Tierklassen«424 zu ergänzen – mithin evolutionsgeschichtliche Deutungen der vergleichend anatomischen Analysen vorzunehmen. Wie schon im Zusammenhang der Genese seines philosophischen Wissens rekonstruiert, entschließt sich Büchner erst nach Mitte November zu einem Dissertationsthema auf dem Felde der Naturforschung. Bis zum 31. Mai 1836 arbeitet er fieberhaft an seiner Thèse; am Tage darauf kann er seinem Freund, Eugène Boeckel, erleichtert vermelden: Erst gestern ist meine Abhandlung vollständig fertig geworden. Sie hat sich viel weiter ausgedehnt als ich Anfangs dachte und ich habe viel gute Zeit [da]mit verloren; doch bilde ich mir ein, sie sei gut ausgefallen.425

Tatsächlich war Büchner noch anfangs davon überzeugt, innerhalb weniger Wochen die Arbeit beenden zu können, um schon nach Ostern in Zürich zu lehren.426 Doch vor allem die Möglichkeit, die Ergebnisse seiner Forschungen der Société d’histoire naturelle zu Straßburg in einigen Vorträgen vorzustellen – sowie die damit verbundene Aussicht auf eine Aufnahme in diese Gesellschaft und den Abdruck der Arbeit in deren Reihe –, verzögert die Fertigstellung der Dissertation.427 Diese von

 423 August Lünning an Emil Franzos, 9. November 1877, zitiert nach MA, S. 385. 424 Ebd. 425 Brief an Eugène Boeckel vom 1. Juni 1836, P II, S. 43632–4371/MBA X.1, S. 9035–963. 426 Vgl. den Brief an Ludwig Büchner vom 1. Januar 1836, P II, S. 42132; Brief an Wilhelm Brauchbach vom 26. Januar 1836, P II, S. 42810. 427 Es scheinen mir eher diese pragmatischen Gründe als der von der MBA in Büchners Arbeit imputierte Widerspruch (MBA VIII, S. 198, S. 262f. u. ö.) zu sein, die jene erheblichen Verzögerungen mit sich brachten. Es wird sich zudem zeigen, dass der vermeintliche Widerspruch gar keiner ist.

  Naturphilosophie Lauth und Duvernoy, die beide Mitglieder der Société waren, gebotenen Möglichkeiten verwirklichten sich tatsächlich, so dass Büchner als korrespondierendes Mitglied aufgenommen und die Arbeit in der Reihe der Société gedruckt wurde.428 Welches Ansehen mit dieser Aufnahme verbunden war, zeigen die Gratulationen des Freundes Boeckel: Was Du von Deiner These mir schreibst freuet mich, ich hoffe Du läßt mir ein Exemplar davon in Strasburg. Zu Deinem Beitritt zur société d’hist. nat. gratuliere ich, Du hast also die Ehre der Collega d. prof. Duvernoy zu sein.429

Zuvor hatte Büchner jedoch in drei Vorträgen die empirischen Ergebnisse seiner anatomischen Forschungen und deren partielle Deutung den Mitgliedern der Gesellschaft vorzustellen. Überliefert ist ein Ergebnis-Protokoll des Sekretärs der Société,430 aus dem zu ersehen ist, dass Büchner vor allem in Bezug auf die naturphilosophische Interpretation seiner anatomischen Beobachtungen noch nachzuarbeiten hatte oder diese aus Rücksicht auf die wissenschaftstheoretisch heterogene Besetzung der Société aussparte – Lauth und Duvernoy saßen im Publikum. Immerhin trug er gegen Ende seiner Präsentation die von der Cuvier-Schule abgelehnte Wirbeltheorie vor und positionierte sich damit deutlich. Dennoch hat Büchner offensichtlich im letzten Monat vor allem an den interpretierenden Passagen aus der Partie philosophique noch gearbeitet. Erst recht gegenüber der Probevorlesung, die noch weitergehende und differenziertere Erklärungsmodelle naturphilosophischer Provenienz ausführt, verbleiben die Vorträge vor der Société in Straßburg weitgehend auf der Ebene anatomischer Morphologie. Da die anatomischen Einzelanalysen der von Büchner bei der Barbe nachgewiesenen Gehirnnerven von der Forschung mehrfach hinreichend paraphrasiert wurden,431 kann sich die folgende Darstellung auf die Rekonstruktion der systematischen Momente des Textgehaltes beschränken: Büchner bemüht sich am Beispiel der Barbe, die er mit Carus als besonders einfachen Typus der Vertebraten interpretiert,432 Anzahl, Anordnung und Verlaufsform jener Hirnnerven, die »dans l’intérieur de la cavité« entspringen,433 zu bestimmen. Wenn der Protokollant vermerkt, Büchner sei es dabei vor allem um den Nachweis der »origine« jener »10 paires cérébrales« zu tun gewesen,434 dann bezieht sich dieser Begriff des ›Ursprungs‹ in diesem  428 Vgl. Roth 2002, S. 63f. 429 Brief von Boeckel, 18. Juni 1836, P II, S. 44221–23. 430 Vgl. Hauschild 1985, S. 366–368; Roth 2004, S. 391–410 u. S. 450–462. Der gegenüber der MBA differenzierteren und präziseren Präsentation wegen werden in der Folge diese Texte nach Roth zitiert. 431 Vgl. Roth 2004, S. 86–91 sowie MBA VIII, S. 202–208. 432 Vgl. hierzu Carus 1828, S. 115. 433 Roth 2004, S. 3918. 434 Ebd., S. 39221f..

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Falle nicht auf deren evolutionäre Herkunft, sondern auf den räumlichen Anfang der Nerven.435 Gleichwohl zielt Büchners Analyse nicht nur auf eine reine Deskription der zehn wichtigsten Hirnnerven ab, sondern auf eine interne Qualifizierung nach entwicklungsgeschichtlichen Kriterien. Denn »[s]i l’on compare les nerfs cérébraux des poissons aux nerfs des autres vertébrés«,436 entwickelt man mithin eine vergleichende Interpretation aus der anatomischen Analyse, so folgt nach Büchner zwingend, dass man die Gruppe jener zehn Gehirnnerven in eine Klasse der »nerfs primitifs« und eine der »nerfs derivés« unterteilen kann.437 Die Primitivnerven können auf dieser Grundlage als »l’expression la plus pure de la vie animale«,438 mithin als entwicklungsgeschichtlich ältere und so ursprünglichere gelten, während die abgeleiteten Nerven erst auf höheren Entwicklungsstufen des animalischen Lebens entstehen. Es ist von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass dieser entwicklungsgeschichtlichen Deutung neuroanatomischer Befunde jenes Modell evolutionärer Realgenese präformationistischer Provenienz zugrunde liegt, das Büchner bei Wilbrand und Hillebrand hören, aber ebenso bei Johann Christian Reil,439 Carl Gustav Carus440 oder Lorenz Oken441 nachlesen konnte und das er in der Probevorlesung konkreter ausführen wird.442 Es gibt keinen zureichenden Grund zwischen ursprünglich primitiven und abgeleiteten Nerven zu unterscheiden, wenn man nicht in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht die späteren Formen als »Modificationen in einer höheren Potenz«443 einer substanziellen Ursprungsform begreifen will.444 So lässt sich diese Distinktion auch in Johann Friedrich Meckels System der vergleichenden Anatomie finden, dem das gleiche Evolutionsmodell zugrunde liegt.445 Doch Büchner geht in seinem Deutungsanspruch noch einen Schritt weiter, wenn er im ›Protokoll‹ gegen Ende festhalten lässt:

 435 Vgl. hierzu ebenso Gottsche 1835, S. 475ff. 436 Roth 2004, S. 394116f.. 437 Ebd., S. 394124; zu Büchners Konzept eines ›nerf primitif‹ vgl. auch Gaede 1979, der erstmals präzise den diesem Modell zugrundeliegenden Typus-Begriff von demjenigen Goethes unterschied. 438 Roth 2004, S. 394138. 439 Reil 1794, S. 9ff. 440 Carus 1831, S. 111: »[…], daß alles, was wir b e s o n d e r e S i n n e zu nennen pflegen, nichts anderes sein könne, als M o d i f i c a t i o n e n d i e s e s G e m e i n g e f ü h l s .« 441 Oken 2007, II, S. 302: »Der Gefühlsinn ist der allgemeinste im Thier […]. Aus dem Gefühlsinn müssen sich alle anderen Sinne entwickeln, wie sich alle anderen Systeme aus der Hautformation entwickelten.« 442 Zu dieser kontextuellen Einbindung Büchners in den neuro- und psychoevolutionären Diskurs der Zeit vgl. auch die Darstellung bei Roth 2004, S. 355–365. 443 So die entwicklungstheoretisch entscheidende Formel in der Probevorlesung (MBA VIII, S. 15922). 444 Vgl. hierzu schon Gaede 1979, S. 46f. 445 Vgl. Roth 2004, S. 401f.

  Naturphilosophie Les nerfs primitifs se divisent aussi en deux groupes; l’un qui comprend l’optique et l’acoustique, nerfs de la lumière et du son, est l’expression la plus pure de la vie animale; l’autre groupe, qui comprend les nerfs olfactif, trijumeau, vague et hypoglosse, forme le passage de la vie de nutrition à la vie animale, et se comporte à l’égard des organes de la vie de nutrition: le poumon, le canal digestif, le nez, la cavité buccale et la langue, comme les nerfs lombaires à l’égard des organes de la reproduction.446

Nicht nur werden noch die ursprünglichen Nerven einer weiteren Distinktion unterzogen, um den Seh- und Hörnerv der Barbe als Ausdruck der Naturstufe des animalisches Leben in reinster Form zu isolieren, womit eindeutig Oken aufgerufen wird, der schon 1807 behauptet hatte: Nun möget ihr die Höhe der Sinne und ihre Stellung zu einander leicht erwägen. Aug und Ohr sind Ursinne, ohne Vororgan entstanden, […].447

Darüber hinaus beendet Büchner diese Interpretation seiner anatomischen Analyseergebnisse mit einer naturphilosophischen Analogiebildung, d. h. mit Hilfe eines der wichtigsten Analyseinstrumentarien der zeitgenössischen Naturphilosophie.448 Analogiebildungen gehörten einerseits zu den konstitutiven Interpretationsinstrumenten der Naturphilosophie bei der Konstruktion von Zusammenhängen in der Natur, sie galten jedoch andererseits, weil nur schwer an objektive Kriterien zu binden, als eine der im wissenschaftlichen Status umstrittensten Erscheinungen der Forschung nach 1800. Dennoch fand die Analogie bei den unterschiedlichsten Fraktionen der Naturwissenschaft umfassende Anwendung. Selbst für den gegen Schellings spekulative Begründungstheorie eine ›anschauende Naturphilosophie‹ propagierenden Karl Friedrich Burdach »blieb auch nach 1830 die Analogie die zentrale Methode der physiologischen Analyse«.449 Indem Büchner nun die zweite Gruppe der Primitivnerven als Phänomen des Übergangs von der Stufe des vegetativen zu der des animalischen Lebens deutet, kann er sie als Analogie zur Relation von Ernährung und Fortpflanzung und deren Organen interpretieren. Meckel, der ausdrücklich von einer »Aehnlichkeit zwischen Genitalien und dem Darmkanal« spricht,450 oder auch Oken dürften für diese Argumentation, die auf eine Ordnung durch Ähnlichkeitsbeziehungen abzielt, als Vorlage gedient haben.451 Büchner beschließt seinen Vortrag darüber hinaus mit Andeutungen zur Einbettung seiner Analyse- und Interpretationsergebnisse in jene allgemeine Wirbeltheo 446 Ebd., S. 405f. 447 Oken 2007, I, S. 378. 448 Zu einer begrifflichen Bestimmung der Analogie als analytischer Kategorie der Naturphilosophie vgl. Hegel 1986, VIII, S. 343; zu wissenschaftshistorischen Rekonstruktionen siehe Bäumer 1989, von Engelhardt 1997, S. 37f. und Bach 2001, S. 112f. 449 Breidbach 2005, S. 7. 450 Meckel 1812. 451 Vgl. Oken 2007, II, S. 312.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

rie des Schädels,452 die er schon bei Lauth und Wernekinck kennengelernt hatte und deren empirische und hermeneutische Verifikation eines der wesentlichen Nachweisziele des Mémoire ausmachen werden.453 Am 4. Mai 1836 hält Büchner den dritten und letzten seiner Vorträge vor der Straßburger Wissenschaftsgesellschaft und wird auf Antrag der Professoren Lauth und Duvernoy zum korrespondieren Mitglied ernannt.454 Bis zum 31. des Monates, dem Tag der endgültigen Abgabe des Textes, hatte er noch eine Fülle hermeneutischer und methodischer Arbeit zu leisten. Büchner hat sich in der letzten Phase seines Aufenthaltes in Straßburg, in den Monaten nach der Fertigstellung der Dissertation und vor der Abreise nach Zürich, zwischen Mai und Oktober also, nicht nur mit Leonce und Lena und den Vorbereitungen auf seine philosophiegeschichtlichen Vorlesungen, sondern offenbar auch mit ersten Plänen zum Woyzeck befasst. Die durch die MBA ermöglichte Tintenanalyse ergab zweifelsfrei, dass die ersten beiden Entwurfstufen des Dramenfragments noch in Straßburg entstanden sind,455 so dass im Zusammenhang der Fragen nach Büchners naturwissenschaftlichem Wissen nicht nur das Spektrum des von der Figur des Doktors präsentierten Wissens zu berücksichtigen ist, sondern auch die strukturelle Reflexionsarbeit des Autors auf ethische und soziopolitische Konsequenzen einer rechtlich und moralisch uneingeschränkten Forschungstätigkeit. Darüber hinaus zeigt das Dramenfragment, dass Büchner auf den Feldern der Kriminalpsychologie und der Forensik Kenntnisse besaß. Lässt sich letzteres nur im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Arbeit klären, so zeigt sich bei ersterem, dass Büchner seinen Doktor mit Kenntnissen ausstattete,456 die weit über den Tellerrand der vor allem zoologisch-komparatistischen Kompetenzen seiner Qualifikationstexte hinausgehen und sich bei näherer Betrachtung als aktuelle Kenntnisse erweisen. Hatte sich schon in Rahmen der philosophischen Skripte gezeigt, dass Büchner auch wichtige Ergebnisse der neurophysiologischen Forschungen der 1820er und 1830er Jahre gut kannte,457 so dringt Woyzeck in disziplinäre Felder vor, die einerseits der biochemischen Pathologie und Ernährungswissenschaft, andererseits Bereichen allgemeiner Naturtheorie und ihrer einfachsten Elemente, der »Infusorien« angehören. Doch wird er die Arbeit an diesem Drama, das erstmals soziokulturelle Überlegungen zur modernen Naturforschung gestaltet, ohne diese grundsätzlich zu verwerfen, erst in Zürich fortsetzen können.

 452 Vgl. Mann 1992 und Junker 42004, S. 371f. 453 Vgl. Roth 2004, S. 333ff. 454 Vgl. P II, S. 4374–6. 455 Vgl. MBA VII.2, S. 86. 456 Vgl. hierzu schon Roth 1990–94. 457 Vgl. Büchners Bezug auf die Versuche von Prévost und Dumas von 1822 in P II, S. 2362.

  Naturphilosophie .. Zürich 1836/37: Die Probevorlesung und eine glänzende Zukunft als Naturforscher Um den 20. Oktober 1836 erreicht Büchner Zürich. Sofort steht er wieder unter Zeitdruck, denn er soll in wenigen Tagen die zur Erlangung des Status eines Privatdozenten erforderliche Probevorlesung halten. Am 5. November gelingt vor der versammelten philosophischen Fakultät dieser Prüfungsteil und Büchner wird im unmittelbaren Anschluss in den Lehrkörper der Universität Zürich aufgenommen. Büchner nutzt die Darstellung seiner wissenschaftlichen Position zu einer grundlegenden und in sich differenzierten Entfaltung seiner Wissenschaftstheorie und -methodologie sowie deren Fundierung in einer systematischen Naturtheorie. Entgegen der lange Zeit in der Forschung geltenden Ansicht, Büchner habe die gegenüber dem Mémoire deutlich feststellbare naturphilosophische Forcierung seiner Argumentation aus opportunistischen Gründen gegenüber dem anwesenden Oken vorgenommen,458 wurde vor einiger Zeit erkennbar, dass Büchner keineswegs den anwesenden Granden der Naturphilosophie das Wort redete, sondern – gerade indem er ihnen in spezifischen Momenten widersprach – seine eigene methodologische und systematische Begründungtheorie vorstellte.459 Im unmittelbaren Anschluss muss Büchner seine Vorbereitung auf die Lehrtätigkeit beginnen, denn nach Absprache mit dem Dekan soll er eine Vorlesung zur vergleichenden Anatomie halten. Die langwierigen Vorbereitungen auf die Geschichte der Philosophie seit Descartes sind damit Makulatur. Dagegen scheint sich Büchner gewehrt zu haben; nur so ist die Ermahnung des Vaters, die in einem Brief der Mutter übermittelt wurde, zu verstehen: Er [Ernst Büchner] stimmt ganz mit Beiter [d. i. Johann Georg Baiter, Dekan der philosophischen Fakultät] überein und ermahnt Dich dringend ja über vergleichende Anatomie Vorlesungen zu halten, er glaubt sicher, daß Du darin am ersten einen festen Fuß fassen und Dich am ehrenvollsten emporhelfen könntest.460

Dass die Historiographie der Philosophie eines der akademischen Fächer mit großer Zukunft war, hatte sich bis in die bildungsbürgerlichen Kreise der Darmstädter Provinz offenbar noch nicht herumgesprochen. Dabei scheinen Baiters Argumente für eine Vorlesung in vergleichender Anatomie zum einen darin bestanden zu haben, dass Büchner mit dem in Zürich lehrenden Herbartianer Eduard Brobik in Konkurrenz geraten wäre,461 weil dieser für das Wintersemester 1836/37 den zweiten Teil

 458 Vgl. hierzu u. a. Döhner 1967, S. 87 u.ö.; Hauschild 1993, S. 523. 459 Vgl. Stiening 1999, S. 99 sowie Roth 2002, S. 81. 460 Brief der Mutter an Georg vom 30. Oktober 1936, P II, S. 4555–9. 461 Vgl. hierzu schon Ludwig Büchners Biographie, in: Dedner (Hg.) 1990, S. 127 sowie u. a. Mayer 1979b, S. 420; Hauschild 1993, S. 576; Roth 2004, S. 204 und MBA VIII, S. 214.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

einer »Vorlesung über Geschichte der Philosophie vom Mittelalter bis auf die neueste Zeit« angekündigt hatte.462 Zwar war Bobrik wissenschaftlich auf dem Felde der Philosophiegeschichte nicht ausgewiesen, doch lehrte er diese Disziplin schon seit 1834.463 Publizierend trat Bobrik als Logiker und Ästhetiker, mithin als Systematiker, nicht aber als Historiker hervor, wobei er – insbesondere hinsichtlich der Logik – um deren Vermittlung zu einer Ethik bemüht war.464 Ein weiteres wichtiges Argument des Dekans Baiter dürfte zum anderen gewesen sein, Büchner eine außerordentliche Professur für das Fach der vergleichenden Anatomie in Aussicht zu stellen, für die er in den Züricher Universitätsgremien offenbar im Gespräch war.465 Tatsächlich hielt Büchner dann vor drei Hörern seine erste Vorlesung zum Thema »Zootomische Demonstrationen«, an deren Dokumentation durch August Lüning weiter oben schon erinnert wurde. Er plante zudem für das kommende Sommersemester eine Vorlesung über vergleichende Anatomie der Wirbeltiere, so dass sich die Ausweitung seiner in Dissertation und Probevorlesung erworbenen Kompetenzen in der vergleichenden Anatomie ankündigte.466 Oken scheint dieses Ansinnen nachdrücklich unterstützt zu haben. Trotz einiger methodischer und systematischer Kritik an dessen Forschungsergebnissen in der Probevorlesung467 hat der Naturphilosoph auch Dritten gegenüber geäußert, »er sei überzeugt, Büchner werde mit der Zeit auch als Naturforscher Bedeutendes leisten«.468

. Büchners naturwissenschaftliche Schriften Büchner hat die Ergebnisse seiner empirischen und begrifflichen Naturwissenschaft und -philosophie in nur zwei Texte gießen können. Bevor nach der Darstellung der entwicklungsgeschichtlichen Kontextfaktoren zu einer systematischen Rekonstruktion der büchnerschen Naturforschung überzugehen ist, muss aufgrund der erheblichen Spezialisierung ihrer Themen in einem historisch weit abgesunkenen Wissensbestand ein weiterer Kontext skizziert werden, in den die Wissensgehalte dieser Texte Büchners zu lozieren sind. In zwei Schritten muss die Kontur der Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften zwischen 1800 und 1840 entwickelt wer-

 462 Vgl. Roth 2004, S. 161f. 463 Ebd. 464 Vgl. Bobrik 1838 sowie Poggi 2001, S. 136–140. 465 Vgl. hierzu Hauschild 1993, S. 575ff.; Knapp 2000, S. 35 und Roth 2004, S. 171f. 466 Vgl. MBA VIII, S. 219–223; ob sich damit gleich »eine größere Publikation über die vergleichende Anatomie der Wirbeltiere« (ebd., S. 219) ankündigte, mag dahin gestellt sein; in seinen naturphilosophischen Schwerpunkten blieb Büchner jedoch unbeirrt. 467 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 100; Roth 2002, S. 66ff. sowie Roth 2004, S. 166; die MBA (VIII, S. 217ff.) hat diese Hinweise ignoriert. 468 Johann Jakob Tschudi, zitiert nach Hauschild 1985, S. 392.

  Naturphilosophie den, nämlich im Hinblick auf die allgemeinen Begründungstheorien für eine wissenschaftliche Naturforschung (1) sowie in Bezug auf die Ausprägung und Fortentwicklung jener Disziplinen, wie Zoologie und vergleichende Anatomie, in denen Büchner wirkte (2). Diese Kontextskizze ist umso erforderlicher, als sie wissenschaftliche Gehalte darzustellen hat, die sowohl in der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte als auch in der besonderen Büchner-Forschung lange Zeit ein Schattendasein führten. So nachhaltig wirkten die Verurteilungen der Naturphilosophie durch die ersten berühmten Vertreter der analytischen Naturwissenschaft,469 dass eine historiographisch angemessene Bearbeitung dieser wissenschaftsgeschichtlichen Epoche lange Zeit unterblieb. Erst in den letzten Jahrzehnten konnten die Naturwissenschaften des »romantischen Zeitalters« in einer von normativen Überlagerungen befreiten und so methodisch und systematisch angemessenen Form bearbeitet werden.470 Trotz erheblicher Erfolge ist die Forschung allerdings noch weit davon entfernt, eine den quantitativen Zuwächsen und qualitativen Ausdifferenzierungen der Naturforschung jenes Zeitraums angemessene historische Systematik der Forschungsentwicklung und deren Durchführung zu liefern.471 Nach wie vor beherrschen themen- bzw. disziplinspezifische oder biographisch orientierte Studien das Feld.472 Dennoch bleibt eine solche Kontextskizze unerlässlich, weil die BüchnerForschung sich lange Zeit473 dagegen sperrte, Büchner in dieser Landschaft empirischer und rationaler Naturphilosophie zwischen 1800 und 1840 zu verorten.474 Büchners ›Materialismus‹ galt selbst im Zusammenhang seiner Naturforschung als unerschütterliches Dogma und daher blieb die These von einem »primär k r i t i -

 469 Vgl. u. a. Breidbach 1988 und von Engelhardt 1997, S. 46f. 470 Vgl. hierzu u. a. von Engelhardt 1979; Röd u. Poggi 1989; Hagner u. Wahrig-Schmidt (Hg.) 1992; Cunnigham u. Jardin (Hg.) 1990; Poggi u. Bossi (Hg.) 1994; Richards 2002; Höppner 2017. 471 Vgl. hierzu u. a. die Entwürfe bei Breibach 1988; Stein 2004; von Engelhard 2004 sowie Breidbach 2006. 472 Vgl. hierzu beispielhaft Bach u. Breidbach (Hg.) 2005. 473 Vgl. dazu die nahezu 40 Jahre als Standard firmierende Studie von Döhner 1967, die – wie der common sense – die Naturphilosophie des Zeitraums für eine Verirrung des Geistes hielt und daher darum bemüht war, Büchner von dieser zu distanzieren. Vgl. auch MBA VIII, die zwar nicht mehr von einem Materialismus Büchners ausgeht, wohl aber versucht, Büchners naturphilosophische Erklärungsansprüche in die Grenzen eines angeblichen Empirismus Cuviers einzuschließen. Ob Cuvier Empirist war, und warum eigentlich der Empirismus anderen Wissenschaftsformen überlegen sei, wird nicht begründet. Eine tatsächlich wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auf Büchner wird so aber verstellt. 474 Durchgedrungen sind die Thesen Roths bei Hauschild 2013, S. 209ff.; Kurzke 2013, S. 350ff.; Fortmann 2013, S. 39; Elms 2015 sowie Burks 2017.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

s c h e [n ] Verhältnis zur Naturphilosophie« unwidersprochen;475 selbst als Naturforscher sollte ihm das Prädikat »Kommunist« zugeschrieben werden.476 Erst neuere Forschungen vermochten an diesem desolaten Forschungsstand grundlegende Änderungen vorzunehmen.477 Im Furor einer wuchernden Quellensuche und Kontextualisierung verlor sich die spezifische Kontur der büchnerschen Position. An diesem Defizit ansetzend soll die folgende Skizze eine Weiterführung und Präzisierung liefern.

.. Zur Wissenschaftslandschaft zwischen 1800 und 1840 ... Konturen einer Karriere: Naturphilosophie zwischen Wissenschaften, Philosophie, Politik und Kultur Wenn Büchner in seiner Probevorlesung vom Streben der Forschung »nach einer gewissen Einheit« in der Natur spricht478 und seine Forschung an der materialen Ausgestaltung eines zunächst formal bestimmten allgemeinen »Grundgesetz[es]« für die »gesammte Organisation« der Natur ausrichtet,479 dann partizipiert er an einem wissenschaftstheoretischen Paradigma, das von den späten 90er Jahren des 18. Jahrhunderts bis in die 1840er Jahre weite Teile der Naturforschung – und zwar europaweit480 – prägte. Gegen den im späten 18. Jahrhundert sich verstärkenden Trend empiristisch-phänomenologischer Beschränkung auf den Einzelfall suchte die Naturphilosophie des Zeitraums nach einer solchen Einheit der Natur,481 die die beobachtend und experimentell zu ermittelnde Vielheit nicht nur nicht ausschloss, sondern – dem Anspruch nach – erst angemessen bestimmen können sollte;482 Ale-

 475 Döhner 1967, S. 20, Hvhb. im Text; vgl. selbst Roth 1990–94, S. 277, der seine Position aber in Roth 2004 und Roth 2016 änderte. 476 Vgl. hierzu die zu den aussagekräftigsten Blüten des polithistorischen Paradigmas der Forschung zählenden Ausführungen bei Holmes 1990, S. 62: »Mir will scheinen, daß Büchner auch als Naturforscher Kommunist war.« Zur Kritik an dieser ›Politisierung‹ noch der anatomischen Naturforschung vgl. Stiening 1999, S. 98f.; Roth 2002, S. 65; Stiening 2006a, S. 113f.; Roth 2016. 477 Zu dieser Kritik an Roth 2004 vgl. Stiening 2006a. 478 MBA VIII, S. 15546. 479 Ebd., S. 1552f.. 480 Die lange Zeit wirksame These von der Naturphilosophie als einer deutschen Sonder- bzw. »Fehlentwicklung« (vgl. paradigmatisch Gerlach 1986, S. 238ff.; Nipperdey 1994, S. 484–498, spez. S. 485f.; Kraus 2007, S. 19–21) wurde mit überzeugenden Befunden widerlegt; vgl. u. a. Breidbach 1998, S. 12; Breidbach u. Ghiselin 2002 sowie Breidbach 2004, S. 153f. und die dort (Anm. 5) angegebene Literatur. 481 Zu dieser Suche nach einer Einheit der Natur als spezifischem Moment der Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts vgl. von Engelhardt 1997, S. 36 sowie von Engelhardt 2008, S. 503f. 482 Vgl. Breidbach 1988, S. 14.

  Naturphilosophie xander von Humboldt fasst diese Konzeption von Naturforschung 1827 wie folgt zusammen: Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes.483

Dabei lag der Ausgangspunkt, d. h. das Bedingungsgefüge für die außergewöhnliche ›Karriere‹ dieser philosophischen Naturwissenschaft nicht in den Idiosynkrasien eines philosophischen oder poetischen, immerhin romantischen Konservativismus, dessen wissenschaftstheoretische Retardationen mit Kant einsetzten und mit Hegels Tod ihren gespenstischen Abschluss fanden.484 Vielmehr – und darauf hat die neuere Wissenschaftsgeschichtsschreibung hingewiesen485 – entwickeln sich die unterschiedlichen Formen einer philosophisch fundierten Methodologie und Systematik von Naturforschung, um der exponential anwachsenden Menge empirischer Informationen der Naturwissenschaft Herr zu werden,486 d. h. neue Ordnungsmöglichkeiten für jene wachsenden Datenmengen zu offerieren: »Die spekulative Naturphilosophie setzt in der Phase einer Desorientierung der deskriptiven Wissenschaften an. Schon in der Systematisierung des Wissens war die seinerzeitige Naturforschung an ihre Grenzen geführt. D. h. im Letzten wußte die ihre Kenntnisse bloß aufreihende Wissenschaft noch nicht einmal um ihr Wissen, das sie zwar kannte, das ihr aber eben nicht geordnet war.«487 Goethe beklagt diesen Zustand und sein Interesse an einer Lösung ausdrücklich schon in den 1790er Jahren für die Anatomie: Wir befinden uns [in der Anatomie] in einem Chaos von Kenntnissen, und keiner ordnet es; die Masse liegt da, und man schüttet zu, […].488

Dabei wirkt nicht nur die quantitative Zunahme an Informationen beschleunigend auf die schnelle und begierige Aufnahme naturphilosophischer Erklärungsmodelle, auch die zunehmende Differenzierung der Daten, die durch die Taxonomien des 18.  483 Humboldt 2008, VII.1, S. 14. 484 So aber die Wissenschaftsgeschichte bei Riedel 2004, S. 17. 485 Vgl. u. a. Mischer 1997, S. 34ff.; Neuser 1998; Bach 2001, S. 2ff.; Bach u. Breidbach 2005, S. IX; Breidbach 2006, S. 215: »Ein Entwicklungsmodell, das die spekulativ getragene Wissenschaft nur als eine temporäre Übergangphase von einer eben nicht analytischen Naturgeschichte zu einer Naturwissenschaft betrachtet und dabei die spekulative Naturphilosophie als eine nur vorübergehende Erscheinung begreift, trägt der Situation dieser Philosophie, aber auch der seinerzeitigen Wissenschaften bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus nur unzureichend Rechnung.« Siehe auch Höppner 2017, S. 57ff. 486 Vgl. auch Breidbach 1988, S. 25f. 487 Breidbach 2004, S. 154; vgl. auch Breidbach 2012. 488 Zitiert nach Mann 1992, S. 53.

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Jahrhunderts – seien sie von linnéscher Statik oder buffonscher Dynamik489 – nicht mehr angemessen erfasst werden konnten, erhöhte den spekulativen Druck.490 Zudem – und das ist für das Erodieren der künstlichen Klassifikationssysteme um 1800 von erheblicher Bedeutung491 – basierten diese auf der Prämisse von der Natur als Schöpfung Gottes, der als Ordnungsgarant fungierte.492 »In den von Linné erschlossenen Ordnungssystemen eröffnete sich für die Zeitgenossen die von Gott vorgegebene Naturordnung.«493 Cuviers Fähigkeiten, diese Prämissen – unabgeleitete, d. h. gleichursprüngliche Klassifikationsgruppen und der diese generierende Schöpfungsgedanke – in die kontroverse Wissenschaftslandschaft des frühen 19. Jahrhunderts hinüberzuretten, gehört zu den Geheimnissen seines Erfolges.494 Schon Balzac weist auf diesen Umstand einer theologischen Fundierung der cuvierschen Naturforschung, die sich im Schöpfungsgedanken der Gottesinstanz, aber auch in der Vorstellung vom Dichter als eines alter deus manifestierte, hin: Vous êtes-vous jamais lancé dans l’immensité de l’espace et du temps, en lisant les œuvres géologiques de Cuvier? […] Cuvier n’est-il pas le plus grand poète de notre siècle? […] Il réveille le néant sans prononcer des paroles artificiellement magiques, il fouille une parcelle de gypse, y aperçoit une empreinte et vous crie: Voyez! Soudain les marbres s’animalisent, la mort se vivifie, le monde se déroule! Après d’innombrables dynasties de créatures gigantesques, après des races de poisons et des clans de mollusques, arrive enfin le genre humain, produit dégénéré d’un type grandiose, brisé peut-être par le Créateur.495

Auch dem zutiefst gläubigen Melville waren – trotz Konkurrenz gegen den Erklärungsanspruch von Naturwissenschaft überhaupt, die er in Cuvier personifiziert sah496 – dessen theonome Naturvorstellungen weniger suspekt als die Modelle Kants oder Schellings.497 Büchners genuin ›gottlose‹ Natur- und Naturwissenschaftskonzeption löst sich gerade in ihrer Anbindung an die Naturphilosophie Schellings, Wilbrands oder Meckels von den Grundlegungen der Ordnungsgarantien in trans-

 489 Vgl. Lepenies 1978, S. 41–77; Mann 1992, S. 55; Bach 2001, S. 227ff. sowie Geus 32004, S. 325; Breidbach 2006, S. 80–83 und Müller-Wille u. Charmantier 2012, S. 4–15. 490 Zu diesem Prozess der Ablösung der Naturgeschichte durch Modelle einer Geschichte der Natur vgl. Lepenies 1978, S. 52–77 sowie Diekmann 1992, S. 103ff. 491 Siehe hierzu Lepenies 1978, S. 9ff. 492 So zu Recht Breidbach 2004, S. 155f. 493 Breidbach 2006, S. 82. 494 In eine verwandte Richtung interpretiert Breidbach ebd., S. 175–178. 495 Balzac 1974, S. 47f. 496 Vgl. die von Hohn und Spott ebenso wie von großem Respekt gegenüber Cuvier zeugenden Passagen in Melville 1994, S. 137, S. 182, S. 261, u. ö.; vgl. auch Otter 1999, S. 101–171. 497 Vgl. Pechmann 2003, S. 84f.

  Naturphilosophie zendenten Instanzen und damit auch von den Klassifikationssystemen Cuviers.498 Weil Büchner Atheist ist, wird er kritischer Naturphilosoph. Dass die zeitgenössische Quantitätszunahme, die qualitative Ausdifferenzierung und der Wegfall einer ordnungsgarantierenden transzendenten Instanz nicht nur durch Stärkung und Ausbau der durchaus schon vorhandenen,499 analytischdeskriptiven, mathematisch-physikalischen Naturwissenschaft beantwortet wurde,500 sondern während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts durch philosophische Konzeptionen, die das Ganze der Natur als Struktur und Prozess erklärten sowie deren Gründe und Ursachen zu bestimmen suchten, ist nicht ausschließlich durch Rekonstruktion wissenschaftsinterner Prozesse der Naturforschung zu erläutern.501 Denn ab den späten 1790er Jahren entwickelten Schelling und seine Nachfolger eine Naturphilosophie, die nur zum Teil als konkurrierende Fundierungstheorie für eine systematisch und methodisch geregelte Naturwissenschaft konzipiert wurde. Inauguiert wurde der naturphilosophische Ansatz durch Schelling vielmehr als Moment einer spezifischen Kant-Interpretation und -Kritik, die den als unbegründet beklagten Dualismen der Transzendentalphilosophie ein monistisches Fundament zu verschaffen suchte502 – nicht etwa, um sie aufzuheben, sondern um sie in der von Kant entworfenen Form allererst zu ermöglichen. Schellings frühe Naturphilosophie will keineswegs zunächst und zumeist der zeitgenössischen Naturwissenschaft ein haltbares Fundament für deren neue, Prozessualität erkennen und bestimmen wollende Ordnungsmodelle verschaffen, mithin eine Wissenschaftstheorie entwerfen.503 Er beabsichtigte mit dieser neuen Grundlagentheorie vielmehr, die in den 1790er Jahren als bedrängend wahrgenommene Frage nach der Begründung und damit Ermöglichung der kantischen Distinktionen in analytisches und synthetisches Urteil, Geist bzw. Kultur und Natur, theoretische und praktische Philosophie oder Attraktion und Repulsion als Grundkräfte einer dynamischen Materietheorie der Metaphysischen Anfangsgründe zu beantworten.504

 498 Deshalb sind alle Versuche, in Büchners Natur- und Naturwissenschaftskonzeption transzendente Instanzen zu suchen (vgl. u. a. Döhner 1982, S. 126–132) verfehlt, Büchners Metaphysik bleibt strikt immanent. Vgl. schon Stiening 1999, S. 107. 499 Vgl. Breidbach 2004, S. 157: »Analytik ist nicht erst ein Programm der Moderne.« 500 Vgl. auch Poggi 1989, S. 13ff. 501 So zu Recht schon von Engelhardt 1997, S. 31ff.; Breidbach 2004, S. 155ff. 502 Vgl. hierzu Baum 2000. 503 So zu Recht auch Breidbach 1988, S. 1f.; siehe auch Breidbach 2012, S. 230ff. 504 Kant 1983, V, S. 49ff. Zum Einsatz Armins, Ritters und Baaders bei dieser dynamischen Materietheorie Kants vgl. Stein 2004, S. 17–26; allgemein zur Bedeutung der kantischen Naturwissenschaftsphilosophie für die Entwicklungen um 1800: Lohff 1990, S. 42ff.; Wahrig-Schmidt 1992, passim; Wiesing 1995, S. 51ff.; Bach 2001, S. 125–135 u. S. 208–226; Richards 2002, S. 229ff. sowie Höppner 2017, S. 61ff.

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Schellings umfassende Antwort,505 nach der Geist und Natur an sich identisch seien und nur für uns getrennt erscheinen, wobei im Prozess der Erkenntnis der Natur diese Trennung vermittelbar sei, führt funktional zu den Formen der diesen Erkenntnisprozess realisierenden Naturforschung. Naturwissenschaft ist vor diesem Hintergrund für Schelling eingebunden in ein Programm zum empirischen Nachweis eines transzendentalen Monismus. Bei diesem Programm und der Stellung der empirischen Naturwissenschaften in ihm ist zu berücksichtigen, dass Schelling Beobachtung und Erfahrung – auch durch das Experiment506 – einen eigenständigen, begrifflich nicht einholbaren Status zuerkannte. Es befand sich hiermit in einem Gegensatz zu vielen seiner Schüler, für die jedes natürliche Einzelne Gegenstand einer Deduktion werden konnte.507 Ebenso wird erkennbar, dass allererst Schellings naturphilosophisches Programm und die durch dieses deduzierte selbsteigene Natur als Darstellung des Absoluten die Stellung einer systematisch anspruchsvollen Alternative zu der im 18. Jahrhundert der Naturforschung abhanden gekommenen Schöpfungskonzeption beanspruchen konnte. Dass für die Ausrichtung an diesem übergreifenden Programm die methodische und systematische Kontur der Naturwissenschaft gegenüber den empiristisch-deskriptiven bzw. -klassifikatorischen Modellen des späten 18. Jahrhunderts erheblich zu modifizieren war, die Naturwissenschaftler mithin in ihrer Methodik und Systematik nach naturphilosophischen Kriterien angeleitet werden sollten, liegt auf der Hand. Und so korrespondierte die »Desorientierung der deskriptiven Wissenschaften« um 1800508 mit Schellings philosophischer Interessenlage.509 Noch ein weiteres bedingendes Moment ist für ein Verständnis der außergewöhnlichen wissenschaftsinternen und kulturellen Karriere der Naturphilosophie zwischen 1800 und 1840 zu berücksichtigen. Anschaulich begegnet diese wissenschaftsexterne Bedingung in einem Brief Georg von Cottas an Alexander von Humboldt anlässlich der Auslieferung des zweiten Bandes von dessen Hauptwerk Kosmos im April 1847: Der Kommissionär der I. G. Cottaschen Buchhandlung kann nicht Worte finden, den Sturm zu schildern, den sein Haus zu bestehen hatte, als dieser zweite Band bei ihm ankam. Er mußte sich recht eigentlich gegen das Andrängen der Nachfragenden und Abholenden in Vertheidigungsstand setzen, um nicht beraubt zu werden und die Abgabe der Pakete in Ordnung zu vollbringen, und so geschah es, daß Pakete, die nach Petersburg bestimmt waren oder nach

 505 Vgl. zum Folgenden auch Bonsiepen 1997, S. 147–163 u. S. 186ff. 506 Schelling 1985, I, S. 345; vgl. hierzu Poser 1981, S. 129–138; Lohff 1990, S. 140–149; Gerabek 1995, S. 309ff.; Wiesing 1995, S. 193–199; Breidbach 2004, S. 157f. 507 Vgl. die ebenso anschauliche wie differenzierte Darstellung des Schellingianismus in Jena bei Breidbach 2000. 508 Breidbach 2004, S. 155 sowie Breidbach 2006, S. 214–221. 509 Vgl. hierzu auch Breidbach 1988, S. 27ff.; Bonsiepen 1997, S. 151ff. u. S. 186f.; Jaeschke u. Arndt 2012, S,. 162ff.; Höppner 2017, S. 150ff.

  Naturphilosophie London, geradezu geplündert wurden (ohne daß man es hindern konnte), um sie nach Wien oder nach Hamburg zu schicken oder umgekehrt. Es wurden wirkliche Schlachten geschlagen, um in den Besitz dieses Werkes zu kommen, sich denselben abzuringen, ja es hat selbst an Bestechungsversuchen nicht gefehlt, um zu bewirken, daß dieser oder jener die Priorität erziele.510

Tatsächlich erfreute sich ein Teil der naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Publikationen einer außerordentlichen Beliebtheit beim Publikum des 19. Jahrhunderts – so neben Humboldts Werken einige der Schriften zum Magnetismus511 oder auch Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft.512 Die von vielen Protagonisten dieser Naturforschung forcierte Verbindung zwischen Wissenschaft und Poesie erwirkte darüber hinaus das große Interesse an der poetischen Gestaltung naturwissenschaftlich bestimmter Gegenstände bzw. den Prozessen ihrer Gewinnung. Selbst der Jurist Immermann führte in seiner Bibliothek naturwissenschaftliche Texte und lässt einen der Protagonisten seiner Epigonen von natürlichen »Potenzen« sprechen,513 und wenn schon Heinrich Heine in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland feststellt: Ach, die Naturphilosophie, die in manchen Regionen des Wissens, namentlich in den eigentlichen Naturwissenschaften, die herrlichsten Früchte hervorbrachte, hat in anderen Regionen das verderblichste Unkraut erzeugt. Während Oken, der genialste Denker und einer der größten Bürger Deutschlands, seine neuen Ideenwelten entdeckte, und die deutsche Jugend für die Urrechte der Menschheit, für Freiheit und Gleichheit begeisterte: ach! zu derselben Zeit dozierte Adam Müller die Stallfütterung der Völker nach naturphilosophischen Prinzipien […],514

dann zeigt sich, dass der Einfluss der Naturphilosophie die Hörsäle längst überschritten hatte. Tatsächlich versuchten u. a. Lorenz Oken oder auch Christian Nees von Esenbeck aus ihrer Naturphilosophie eine politische Theorie und Praxis abzuleiten und nahmen daher, wie auch Jakob Friedrich Fries, unter der politisierten Studentenschaft der 1830er Jahre die Stellung von Vorbildern ein.515 Es lässt sich mithin präzise aufzeigen, dass eine Reihe literarischer Autoren der Epoche, zu denen auch Karl Gutzkow, Joseph von Eichendorf und Annette von Droste-Hülshoff zu zählen sind,516 den allmählichen Aufstieg der Wissenschaften im 19. Jahrhundert auch an den Formen der Naturphilosophie wahrnahmen und in unter-

 510 Humboldt 22008, VII.2, S. 341. 511 Vgl. hierzu vor allem Kieser 1826 sowie Barkhoff 1995, S. 85–136. 512 Schubert 1808; zu dessen immensem Erfolg vgl. Dietzsch 2005, S. 685ff.; Schweizer 2008, S. 428ff. sowie Leipold 2009, S. 142ff. 513 Immermann 1971, II, 234. 514 Heine 1976, V, S. 636f. 515 Vgl. von Engelhardt 2004, S. 154–158; Ries 2004, S. 189f.; Bonsiepen 2005, S. 185f. und Ries 2007, S. 240–278. 516 Vgl. hierzu die Beiträge in von Engelhardt u. Wißkirchen (Hg.) 2006.

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schiedlicher Hinsicht kritisch oder affirmativ reflektierten. Über diesen Aufstieg wurde zu Recht festgehalten, dass er die Wissenschaften »von einer Geistesbeschäftigung am Rande der geschichtlichen Bewegung zu einem ihrer wichtigsten Antriebe«517 machte und das »Verhältnis von Wissenschaften und Gesellschaft damals Züge annahm, die – im Guten wie im Schlechten – für die moderne Welt typisch werden sollten«, weshalb dieser »Entwicklungsprozeß der Wissenschaften [...] nicht nur wissenschaftsintern betrachtet werden«518 darf. Das gilt erneut europaweit, denn in Frankreich wurde die Entwicklung der empirischen Naturwissenschaft keineswegs von derjenigen der rationalen Naturphilosophie abgetrennt;519 vielmehr sah sich u. a. Balzac – wie die deutsche literarische Romantik520 – zu beidem in Konkurrenz,521 und Madame de Staël informiert in De Allmagne die europäische Öffentlichkeit ausführlich über den Stand der naturphilosophischen Bewegung.522 Auch in Mary Shelleys Frankenstein wird die Auseinandersetzung zwischen naturphilosophischer und mathematisch-experimenteller Naturforschung geführt und für die Katastrophe gar verantwortlich gemacht, d. h. weil Frankenstein sich der analytischen Naturwissenschaft bedingungslos verschreibt, wird er zu einem Forscher, dessen ethische Monstrosität sich in den Produkten der Wissenschaft buchstäblich spiegelt.523 Die Naturphilosophie erwies sich gerade aufgrund ihres umfassenden Erklärungsanspruches, der eine Fundierung der empirischen Naturwissenschaften ebenso zu leisten versuchte wie er ihre Ergebnissee zu übersteigen annahm, als bedeutender Gegenstand und Konkurrent der europäischen Literatur, und dies bis zu Melville und Flaubert.524 ... Naturphilosophie in der Kritik Die soziokulturelle und wissenschaftspolitische Bedeutung der Naturphilosophie basierte allerdings keineswegs auf einem reibungslosen Triumphzug durch Forschungslabore, universitäre Hörsäle und private Lesekabinette. Im Gegenteil wurde diese Form philosophischer Naturforschung seit ihren ersten Anfängen von energischen Kritiken und heftigen Polemiken begleitet. Schon in den Jahren 1798 bis 1801 verfasste der Kant-Schüler Carl Christian Erhard Schmid eine Physiologie, die er  517 So in pointierter Formulierung Zwick 1997, S. 120. 518 Beide Zitate aus Poggi 1989, S. 13–151, hier S. 18 u. S. 15. 519 Vgl. hierzu u. a. Rehbock 1990, S. 144–160. 520 Vgl. insbesondere den sowohl begrifflich reflektierten als auch literarisch gestalteten Abschied Achim von Arnims von der naturphilosophisch begründeten Chemie zur Poesie in Verhältnis der chemischen Ausbildung zur poetischen (Zimmerli, Stein u. Gerten 1997, S. 485f.) sowie Hollins Liebeleben (von Arnim 2002, II, S. 7–81). 521 Vgl. Wanning 1999, S. 144–195; Lepenies 22006, S. 15–48 sowie Otis 2009. 522 Vgl. hierzu die detaillierte Arbeit von von Engelhardt 1998. 523 Vgl. insbesondere Shelley 2005, S. 55–64. 524 Vgl. u. a. Lepenies 1989, S. 61–79; Wanning 1999; Engel 2002, S. 65–91 und Scholler 2002.

  Naturphilosophie zwar als philosophisch betrachtet bezeichnete, von den Formen der schellingschen Naturphilosophie aber dringend abgrenzte, weil er die spekulative Vermittlung von Natur und Geist für einen Rückfall in vorkritische Metaphysik erachtete.525 Schmid hielt dem ein Aprioritätskonzept von Naturforschung als Lebenswissenschaft bzw. Physiologie entgegen, das der Erfahrung substanziellen Eigenwert auch im Hinblick auf die Grundlegungen eines allgemeinen Natur- und Lebensbegriffs zuschrieb. Doch gab es auch deutlichere Formen der Kritik, insbesondere aus den Reihen der empiristischen Naturforschung. So verfasste der irische Chemiker Richard Chevenix (1774–1830) im Jahre 1805 einen Bericht über seine Erfahrungen an deutschen und ungarischen Universitäten und platzierte ihn in den Annalen der Physik, einer schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts besonderes renommierten Fachzeitschrift. Chevenix nimmt bei seinen Urteilen über die von ihm so genannte »Secte von Transcendental- und Naturphilosophen, die sich seit einiger Zeit in Deutschland erhoben« habe, kein Blatt vor den Mund: Diese Philosophie, welche in England und in Frankreich noch keine Anhänger gefunden hat, und hoffentlich auch keine finden wird, ist auf mehr als Einer deutschen Universität öffentlich gelehrt worden. Nach Verschiedenheit der Meister, von denen sie getrieben worden, hat sie einige kleine Modificationen erhalten, und zeigt sich unter etwas abgeänderten Formen; doch vereinigen sich alle, sie mit den mächtigen Reizen zu schmücken, indem sie sich vor allen Dingen des Triebes zu bemächtigen suchen, welcher im menschlichen Herzen am Tiefsten Wurzel hat. Um die Eigenliebe dessen, den sie initiiren wollen, aufzuregen, enthüllen sie vor ihm die Geheimnisse, welche die Natur nur ihnen geoffenbart hat, und thun groß mit Genie, welches sie über die andern Menschen erhebe.526

Schon weit vor Liebig und Schleiden, die die Naturphilosophie ab den 1840er Jahren als »Syndrom«, als »Pestilenz des Jahrhunderts« kritisierten,527 gab es öffentlich harsche Kritik an der Wissenschaftstheorie der Naturphilosophen. Auch der Chemiker Friedrich Wöhler bezeichnete in einem Brief an Berzelius vom März 1825 Henrik Steffens als »Charlatan«.528 Der Vorwurf der Charlatanerie wurde jedoch nicht nur aus den Reihen der Empiristen, zu denen sich Chevenix explizit rechnete,529 erhoben, sondern auch zwischen den diversen Fraktionen der Naturphilosophie wurden solcherart Kontroversen um den jeweiligen Wissenschaftsstatus geführt. So hält Hegel, späterhin selbst an Formen einer spekulativen Naturphilosophie maßgeblich beteiligt, im Jahre 1805 fest:

 525 Vgl. hierzu Probst 1966, S. 162f.; Rothschuh 1968a, S. 175f.; Wiesing 1995, S. 110–117; John 2001 sowie Regenspurger u. van Zantwijk 2005, S. 10ff. 526 Chenevix 1805, S. 455 u. S. 448f. 527 Schleiden 1844, S. 18 sowie Liebig 1840, S. 24. 528 Vgl. von Engelhardt 1997, S. 46. 529 Chenevix 1805, S. 477.

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Wie es eine dichterische Genieperiode gegeben hat, so scheint es gegenwärtig die philosophische Genieperiode zu sein. Etwas Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff zusammengeknetet und in ein von anderen mit Polarität usw. beschriebenes Papier gesteckt, mit einem hölzernen Zopf der Eitelkeit etc. Rakete in die Luft geschossen, meinen sie, das Empyreum darzustellen. So Görres, Wagner u. a. Die roheste Empirie mit Formalismus von Stoffen und Polen, verbrämt mit vernunftlosen Analogien und besoffenen Gedankenblitzen.530

Auch später wird sich Hegel mit Kritik an konkurrierenden Formen der Naturphilosophie nicht zurückhalten: Oken bezichtigt er eines Formalismus, der »an Verücktheit« grenze,531 über Steffens Arbeiten sagt er, sie seien »naturphilosophisches Gebraue«,532 und Schelling wirft er vor, »unter Naturphilosophie oft das Ganze der Philosophie verstanden« zu haben. Resümierend hält er in der dritten Auflage der Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830 fest: Was man in der neueren Zeit Naturphilosophie genannt hat, das besteht zum großen Teil in einem nichtigen Spiel mit leeren, äußerlichen Analogien, welche gleichwohl als tiefe Resultate gelten sollen. Die philosophische Naturbetrachtung ist dadurch in verdienten Mißkredit geraten.533

Schelling selbst, Inaugurator und unumstrittener Begründungstheoretiker der Theoriebewegung,534 wandte sich aufgrund eines von ihm beklagten Missbrauches schon 1807 von dem Paradigma – sowohl in Hinsicht auf eine allgemeine Fundierungstheorie als auch im Hinblick auf eine Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften – angewidert ab: Seit ich den Mißbrauch, der mit den Ideen der Naturphilosophie getrieben worden, gesehen, entschloß ich mich, das Ganze bis auf die Zeit, wo jener nicht mehr zu besorgen steht, einzig der lebendigen Mittheilung vorzubehalten.535

Bis zu seinem Lebensende nahezu 50 Jahre später ist er jene Sorge nicht mehr losgeworden, er hat sich der Naturphilosophie nie wieder zugewandt, doch konnte er deren Karriere mit seiner Zurückhaltung nicht aufhalten. Noch in den 1820er Jahren aber unterscheidet ausgerechnet das nachmalige Oberhaupt der analytischen Naturwissenschaft, Johannes Müller, präzise zwischen einer »falschen« und einer »wahren Naturphilosophie«, wobei er die erstere durch schematische Verwendung von Verstandeskategorien, die mithin den Prozessen des Lebendigen begrifflich und  530 Hegel 1986, II, S. 542. 531 Ebd., XX, S. 454. 532 Hegel 2007, S. 172130. 533 Hegel 1986, V, S. 343. 534 Zu dieser Stellung Schellings vgl. Lohff 1990, S. 47–56; Wiesing 1995, S. 187ff.; Bonsiepen 1997, S. 307ff.; Breidbach 2000, passim; Bach 2001, S. 262ff.; Richards 2002, S. 114–192; Breidbach 2004, S. 165f.; Breidbach 2012; Ziche 2017 sowie Höppner 2017, S. 150ff. 535 Schelling 1807, S. 303f.

  Naturphilosophie systematisch nicht gewachsen seien, einen ungezügelten Gebrauch der Analogie und eine Verleugnung des metaphysischen Status der eigenen »Betrachtung der Dinge« charakterisiert.536 Büchner hat sich diese Distinktion hinsichtlich seiner Unterscheidung in teleologische und philosophische Methode der Naturforschung, und damit einer kritischen Unterscheidung innerhalb des Paradigmas der Naturphilosophie, zu eigen gemacht.537 Doch bedeutet dieser seit 1790 zu verzeichnende basso continuo einer fundamentalen, d. h. den Wissenschaftsstatus der Naturphilosophie anzweifelnden Kritik innerhalb und außerhalb des Paradigmas538 keineswegs, dass nicht auch Erfolge zu verzeichnen gewesen wären. Eine erhebliche Anzahl von Lehrstühlen wurde von Naturphilosophen mit unterschiedlicher disziplinärer und systematischer Ausrichtung besetzt – sogar für den umstrittenen Spezialbereich des animalischen Magnetismus wurden deutschlandweit einige Professuren eingerichtet.539 Die von Chevenix befürchtete Ausweitung dieser Art der Naturforschung auf das europäische Ausland fand ab den 1820er Jahren unaufhaltsam statt.540 Wilbrands wissenschaftspolitisch und -theoretisch einflussreiche Stellung an der Universität Gießen in den 1820er Jahren kam mithin, wie die vieler anderer Naturphilosophen an ihren Universitäten, nicht von ungefähr.541 Zwar nahm die Kritik sowohl in Grundlegungsfragen als auch hinsichtlich der fraglichen Empirizität der Ergebnisse zu, wie der Auftritt Johann Bernhard Wilbrands auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte 1832 belegen kann.542 Dennoch war die Auseinandersetzung zwischen philosophischen und analytischen Naturwissenschaftlern in den 1830er Jahren keineswegs entschieden.543 Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass sich im Berlin der späten 1830er Jahre mit dem Einsatz der Müller-Schule eine Zeitenwende in der Naturforschung anbahnte, schreibt der Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach zur wissenschaftsepistemischen Situation der 1830er Jahre dennoch zu Recht: Nach 1830 wird aber die Empirie in neuer Weise thematisch, steht sie doch zumindest im deutschen Sprachraum, in dem Müller seine Ausbildung fand, in einem Begründungszusammenhang, der interessanterweise zunächst innerphilosophischen Vorgaben folgt.544

 536 Vgl. Müller 1826, S. 13–15. 537 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 224–252. 538 Vgl. auch von Engelhardt 1997, S. 46. 539 Barkhoff 1995, S. 107. 540 Vgl. Ghiselin u. Breidbach 2002. 541 Vgl. Maaß 1994, S. 73–205 sowie Haaser 2014. 542 Vgl. Probst 1966, S. 160ff. 543 Der Einschätzung dieser historischen Verlaufsform, die Thesen Rothschuhs (1978, S. 266) und von Engelhardts (u. a. 1995, S. 35*; 1997, S. 45f.), nach denen schon ab 1825 die Auseinandersetzung entschieden gewesen sei, widersprechen Breidbach 1988, S. 29 und Stiening 2006a, S. 111. 544 Breidbach 2005, S. 5.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

Erst in den 1840er Jahren wird an der publizierten und wissenschaftspolitisch organisierten Gegenwehr der analytischen Schule erkennbar, dass die Zeit der Naturphilosophie abgelaufen war; erst jetzt traute sich Schleiden mit seiner Polemik gegen Schelling und Hegel an die Öffentlichkeit,545 jetzt erst war Liebigs jahrelangen Versuchen der institutionellen Entmachtung Wilbrands in Gießen Erfolg beschieden;546 erst jetzt trat Wilhelm Griesinger zugunsten einer materialistischen Psychiatrie öffentlich gegen die naturphilosophischen Ordnungs- und Begründungsformen der Medizin auf.547 Dennoch zeigt die Vehemenz, mit der Matthias Jacob Schleiden oder Justus von Liebig die Naturphilosophie kritisierten,548 den nach wie vor machtvollen Einfluss dieser wissenschaftstheoretischen Ausrichtung bis zur Jahrhundertmitte. Wenn Büchner sich in den 1830er Jahren für eine naturphilosophische Ausrichtung seiner Naturforschung in der vergleichenden Anatomie entscheidet – und damit ebenso gegen Liebigs analytische Schule wie gegen Cuviers theonome Klassifikationssystematik –, so bewegt er sich durchaus souverän in einem hochkontroversen Feld unterschiedlicher Forschungsansätze. Seine methodologischen Reflexionen zu Beginn der Probevorlesung zeigen, dass er um seine relativ eigenständige Stellung bei klarer Anbindung an eine bestimmte Ausrichtung wusste. Der Ausgang jener wissenschaftlichen Kontroverse war aber zu Lebzeiten Büchners nicht abzusehen. ... Zum Tableau naturphilosophischer Theoriebildungen Liebig, Schleiden oder auch Carl Friedrich Gauß können in den 1840er Jahren allerdings schon weitgehend undifferenziert auf »Schelling, Hegel, Nees von Esenbeck und Consorten« einschlagen.549 Damit nivellieren sich jedoch Differenzen, die noch den Zeitgenossen der 1830er Jahre bewusst und von erheblicher Bedeutung waren; auch für eine angemessene Lozierung Büchners ins Feld der philosophischen Naturwissenschaft bleiben sie unverzichtbar. Denn ob Büchner ein über Wilbrand vermittelter Schellingianer, ein über Müller vermittelter Hegelianer, ein OkenSchüler oder ein Goethe-Anhänger war,550 ist für eine angemessene Interpretation seiner wissenschaftlichen und literarischen Texte von einiger Bedeutung.

 545 Vgl. Schleiden 1844. 546 Zu diesem Vorgang vgl. erneut Maaß 1994, S. 276ff.; Brock 1999, S. 161f.; Felschow 2003, S. 74f.; Giese 2007, S. 200–204. 547 Vgl. hierzu Roelcke 1999, S. 68–79. 548 Schleiden 1844, S. 18 sowie Liebig 1840, S. 24; zu Liebig vgl. auch Döhner 1967, S. 39f. 549 Gauß’ Brief an H. C. Schuhmacher vom 1. November 1844, zitiert nach von Engelhardt 1997, S. 46. 550 Vgl. hierzu u. a. Hans Mayer 1972, S. 373; Golz 1964, S. 69; Mayer 1979a, S. 80; Dedner 1987, S. 208ff.; Dedner 1989, S. 576; Müller-Nielaba 2001, S. 11 u. S. 22 und jetzt erneut MBA VIII, S. 541– 544. Die wichtigen Erkenntnisse Gaedes (1979), die zeigen, dass Büchner systematisch von der

  Naturphilosophie Weil aber auch die wissenschaftshistorische Fachforschung zu einem systematisch und historisch vollständigen Tableau ihres ebenso weitverzweigten wie hochdifferenzierten Gegenstandes noch nicht vorgedrungen ist,551 kann in der Folge lediglich eine Skizze der wichtigsten Varianten der Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts gezeichnet werden. Diese vorläufige Skizze ist aber zureichend, um Büchners Stellung in diesem Feld deutlicher als bisher zu konturieren. Zu Recht weist Dietrich von Engelhardt seit Jahrzehnten darauf hin, dass die Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts wenigstens in einem ersten Ordnungsschritt gemäß ihrer transzendentalen, spekulativen oder romantischen Begründungstheorien unterschieden werden könne, wobei sich die hier so genannte ›romantische‹ Naturforschung durch theologische oder vorkritisch-metaphysische Fundierungstheorien auszeichnet. Darüber hinaus gab es eine Anzahl von wissenschaftstheoretischen Sonderformen einzelner Forscher wie Goethe, Schopenhauer oder Alexander von Humboldt, die die Kontur des Tableaus der philosophischen Naturforschung zwischen 1790 und 1840 ergänzen. Auch diese Sonderformen der Naturphilosophie lassen sich nur mit Hilfe einer Reflexion auf ihre allgemeinen Begründungstheorien präzise im Feld verorten. Diese philosophiegeschichtliche Differenzierung ist für den gesamten Zeitraum gegenüber einer wissenschaftsgeschichtlich-disziplinären in Botanik, Zoologie und vergleichende Anatomie insofern vorzuziehen, als die spezifische Ausübung der Disziplinen, ihre Entstehung und Veränderung innerhalb des naturphilosophischen Paradigmas maßgeblich durch die jeweiligen Begründungstheorien geprägt wurde. Im Folgenden sollen die oben benannten größeren Gruppen kurz vorgestellt und auf die systematische Stellung der büchnerschen Forschungen zu ihnen reflektiert werden. .... Transzendentale Naturphilosophie Für Kant stellt eine Philosophie der Natur einen zentralen »doktrinalen« Systemteil im Hinblick auf den Nachweis konstitutiver theoretischer Urteile, d. h. der Möglichkeit objektiv wahrer Urteile dar. Unter bedeutenden Abweichungen gilt dieser Status der Naturphilosophie auch für Carl Christian Erhard Schmid und Jakob Friedrich Fries.552 Ein wesentliches Charakteristikum dieser Form der Naturphilosophie besteht darin, einen substanziellen Unterschied zu Fragen der praktischen, d. h. der ethischen und politischen Theorie zu behaupten. Es kann kaum nachdrücklich genug betont werden, dass Büchner vor allem in diesem Punkte einer substanziel goetheschen Naturforschung entfernt arbeitet, wurden unbeachtet gelassen; aufgenommen einzig bei P II, S. 894; Stiening 1999, S. 102 und Roth 2004, S. 260. 551 Vgl. hierzu den expliziten Verzicht auf eine systematisierende Interpretation in dem personenzentriert angelegten Handbuch von Bach u. Breidbach 2005, S. XI.; wichtige Vorgaben hierzu aber bei Bonsiepen 1997. 552 Vgl. hierzu John 2001 und Hermann 2000, S. 141ff.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

len Unterscheidung zwischen den Gesetzen der Natur und denen der Politik jener transzendentalen Position zuzurechnen ist. Für die Transzendentalphilosophie und ihre empiristischen Nachfolger sind nicht alle Fragen der Philosophie durch die Naturphilosophie zu beantworten, oder aus ihr abzuleiten. Es gehört mithin zu den Besonderheiten transzendentaler Naturphilosophie, dass sie keine allgemeine Begründungtheorie für alles weitere Wissen oder gar das Handeln abgibt, sondern nur den Naturwissenschaften systematische und methodische Prinzipien bereitstellen will, um deren Wissenschaftscharakter zu garantieren, d. h. eine Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft sowie eine allgemeine Metaphysik der Natur zu ermöglichen.553 Schon vor den späten Versuchen einer Metaphysik der Natur bemühte sich Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft darum, die philosophische Grundlage für eine nicht-atomistische, vielmehr dynamische Naturtheorie zu legen, und zwar durch eine Konzeption, nach der die Materie aus den Kräften Attraktion und Repulsion besteht.554 Ziel dieser Arbeit blieb es, den Naturwissenschaften ein philosophisches und damit einzig wissenschaftliches Fundament zu legen. Bis in die spätesten Teile seines letzten unveröffentlichten Werkes, des so genannten opus postumum, hat Kant versucht, auf der Grundlage dieser Bestimmungen eine »Metaphysik der Natur« zu entwerfen,555 die den konstitutiven Momenten seiner Vernunftkritik gerecht wird und zugleich seiner Überzeugung von der Notwendigkeit einer dynamischen Materietheorie Rechnung tragen sollte.556 Dass er dabei – zumindest versuchsweise – auf Wegen des transzendentalen Idealismus wandelte, gehört weitgehend zu den Geheimnissen der Kant-Forschung;557 dass seine dynamische Materietheorie jedoch von erheblichen Teilen der Naturforschung um 1800 kritisch und affirmativ aufgenommen wurde – so u. a. von Achim von Arnim und Jakob Friedrich Fries – ist schon weiteren Bereichen der Forschung bekannt.558 Dabei verbleibt die Form ›objektiver‹ Naturforschung, d. h. des Möglichkeitsraums konstitutiver Urteile, im Bereich der Rekonstruktion mechanistischer, d. h. Kausalitäten bestimmender Konstruktionen. Im Rahmen seiner publizierten Werke gehörte daher die Einschränkung des Geltungsstatus teleologischer Urteile, d.h. solcher Theorien, die sich zum natürlichen Organismus und damit zum Prinzip des Lebens als eines natürlichen Systems äußern, auf die Leistungsfähigkeit einer reflektierenden Urteilskraft, zu den Eckpfeilern der kantischen Transzendentalphilosophie. So unumgänglich diese Art der Erkenntnis der Naturerscheinungen als Zwecke ist, so notwendig bleibt solcherart Erkenntnis im Geltungsstatus einge 553 Vgl. hierzu Bonsiepen 1997, S. 417–453 sowie Goy 2017. 554 Kant 1983, VIII, S. 11–135. 555 Vgl. hierzu Falkenburg 2000, S. 263–305. 556 Vgl. hierzu Tuschling 1991. 557 So Tuschling 1971. 558 Vgl. ebd. 1971, S. 39ff.; Bonsiepen 1997, S. 117ff.; Stein 2004, S. 17ff. sowie van Zantwijk 2012.

  Naturphilosophie schränkt.559 Deshalb auch ist nach Kant ein »Newton des Grashalms«, mithin eine den Objektivitätskriterien der mechanistischen Naturforschung entsprechende Biologie nicht zu erwarten: Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.560

Es machte eines der skandalisierenden Momente der schellingschen Naturphilosophie aus, dass ihr Autor – ohne sich je so zu nennen – jener ›Newton des Grashalms‹ zu sein begehren musste, weil er den teleologischen Urteilen konstitutiven Status zuschrieb.561 Dennoch hat niemand strenger als Jakob Friedrich Fries eine Naturphilosophie entworfen, die auf den kantischen Prinzipien aufbaute. Schon früh verteidigt er Kants Variante einer dynamischen Naturauffassung gegen die spekulative Variante Schellings und schreibt im Jahre 1822 eine Mathematische Naturphilosophie in kantischer Traditionslinie.562 Gleichwohl lag eine grundlegende empiristischanthropologische »Revision der Kantischen Philosophie«, die nicht den Bahnen des Idealismus folgte, dieser Theorie zugrunde.563 Dabei kehrt die kantische Distinktion zwischen mechanistischen und teleologischen Naturprinzipien und ihren unterschiedlichen Status für eine Naturforschung, die als Wissenschaft will auftreten können, bei Fries in der Differenzierung zwischen einer Objektivität ermöglichenden mathematischen Naturphilosophie einerseits und den ergänzenden Formen phänomenologischer Naturforschung andererseits wieder.564 Die allgemeine Naturlehre oder mathematische Physik formuliert in diesem Konstrukt die allgemeinen »Naturgesetze«, die zunächst und zumeist Bewegungsgesetze darstellen, während die Naturbeschreibung mit »inductorischen Hülfsmittel[n]« die – vorausgesetzten – drei Naturstufen in »Klassensysteme« ausfüllt.565 Um einen Bereich objektiver Naturforschung, die sich auf eine mathematisierte Physik beschränken muss, zu erhalten, ist Fries mithin bereit, den gesamten übrigen Bereich der Naturwissenschaft dem Status klassifikatorischer Phänomeno-

 559 Vgl. hierzu u. a. Düsing 1968, S. 86ff. oder auch Roth 2008, S. 275f. 560 Kant 1983, VIII, S. 516 (KdU, § 75); vgl. hierzu Förster 2002. 561 So zu Recht Bonsiepen 1997, S. 193 sowie Mischer 1997, S. 198–204. 562 Vgl. Fries 1967ff., XIII sowie Bonsiepen 2005, S. 184. 563 Vgl. Gregory 1994, passim; Bonsiepen 1997, S. 325ff.; Pulte 1999, S. 58f.; Hermann 2000, S. 25– 30; Sachs-Hombach 2002; van Zantwijk 2012. 564 Vgl. hierzu und zum Folgenden Fries 1967ff., XIII, S. 4–32. 565 Ebd., S. 8 u. S. 5ff. sowie Bonsiepen 1997, S. 416–453.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

logie in Sinne Cuviers zu überlassen.566 Weil aber Fries’ Mathematisierung der Naturforschung und ihr empirischer Induktionismus auseinanderfallen, wird sein Modell von Naturwissenschaftstheorie – auch ihm selbst – unbefriedigend bleiben.567 Dennoch machen einige wichtige Momente der Erkenntnistheorie und Methodologie der transzendentalen Konzeption eine spezifische Besonderheit dieser Naturphilosophie aus, die sich bei Büchner wiederfinden. Erstens bleiben zwar die methodisch streng getrennten Bereiche der Naturwissenschaft stets aufeinander bezogen: Allein in der Ausführung werden diese Wissenschaften [Naturlehre und Naturbeschreibung] mannigfaltig in einander greifen, indem es uns in den meisten Fällen um eine Erklärung der Thatsachen aus allgemeinen Gesetzen zu thun ist und die Gesetze oft nur inductorisch aus Beobachtung erkannt werden können.568

Allerdings bleiben beide Bereiche subjektiv, d. h. im Hinblick auf die sie erfassenden Vermögen, und objektiv, d. h. im Hinblick auf die durch sie bestimmten Naturbereiche, strikt getrennt. Die ›Metaphysik‹ der reinen Bewegungslehre und der ›Empirismus‹ der induktiven Naturwissenschaft werden klar unterschieden, und es ergeht das stete Postulat ihrer Vermittlung: Die reine Bewegungslehre selbst ist aber nur das Product der speculativen Abstractionen aus unsrer Naturerkenntniß und muß, um ein Ganzes der Erkenntniß darzustellen, erst wieder mit Wahrnehmung und Erfahrung verbunden werden.569

Fries generiert aus dieser epistemologischen Konstellation von metaphysischem Begriff einerseits und empirieermöglichender Anschauung andererseits ein methodisches Postulat; Büchner wird eine ähnliche Korrelation der seine Naturforschung ermöglichenden Erkenntnisvermögen und einer daraus resultierenden Methodologie entwerfen, weil er die Apriorität rationaler Begriffe und Kategorien seiner Naturforschung einerseits dem »Naturleben, das wir unmittelbar wahrnehmen,« andererseits gleichursprünglich gegenüberstellt und dennoch eine Vermittlung beider postuliert.570 Zweitens aber gehört Fries zu den wenigen Naturphilosophen nach Kant, die das von diesem aktualisierte Ökonomieprinzip zumindest als methodische Maxime reflektieren und für die Naturforschung als gültig erklären. Sowohl im System der

 566 Fries 1967ff., XIII, S. 8. 567 Zu dieser Selbstkritik vgl. Bonsiepen 2005, S. 214ff. 568 Fries 1967ff., XIII, S. 5. 569 Ebd., S. 10. 570 Vgl. MBA VIII, S. 15514–30.

  Naturphilosophie Logik571 von 1837 als auch in der Naturlehre von 1826 entwickelt Fries diese Maxime und den Umfang ihrer Geltung.572 In Aufnahme der vier berühmten Regeln einer methodisch geregelten empirischen Naturlehre aus Isaac Newtons Principia, in deren ersten beiden tatsächlich ein methodisches Ökonomieprinzip entwickelt wird,573 hält Fries bestätigend fest: Das Interesse der ersten beiden Regeln ist das der von andern sogenannten Regel der Sparsamkeit: wir müssen uns mit den Erklärungsgründen ganz an die Erfahrung anschließen, alle willkührlichen Voraussetzungen verwerfen und so wenig Erklärungsgründe als möglich zulassen.574

Büchner wird – hierin Kant näher als Fries575 – dieses Prinzip nicht als methodologisches, sondern als der Natur selbst zukommendes, mithin ontologisches Gesetz der Natur formulieren.576 Betrachtet man die grundsätzliche und weithin akzeptierte Ablehnung dieses Prinzips, u. a. durch Herbart,577 drängt sich eine gewisse, zumindest ideengeschichtliche Nähe Büchners zu Kant und Fries auf. Diese wird drittens dadurch hergestellt, dass Büchner, wie auch die beiden Transzendentalphilosophen, die Prinzipien der praktischen Philosophie, insbesondere der Ethik und der Politik, nicht aus einer als Fundamentaltheorie begriffenen Naturphilosophie ableitet, sondern vielmehr als systematisch eigenständig entwickelt.578 Sowohl in seiner politischen Schrift als auch in seiner privaten Korrespondenz wird Büchner dokumentieren, dass er einem Dualismus zwischen theoretischer und praktischer Vernunft der transzendentalen Tradition näher steht als den Monismen der spekulativen Naturphilosophie oder der romantischen Staatstheorie. In Dantonʼs Tod wird er in der Rede St. Justs vor dem Konvent gar die gewaltlegitimierenden Konsequenzen einer Ableitung soziopolitischen Handelns aus Naturkategorien kritisch gestalten.579 .... Spekulative Naturphilosophie Dieser erste Befund zur transzendentalen Naturphilosophie bedeutet jedoch nicht, dass Büchner der Form spekulativer Naturphilosophie vollständig ablehnend ge 571 Vgl. Fries 1967ff., VII, S. 334. 572 Vgl. hierzu Pulte 1999a, S. 312ff. 573 Vgl. hierzu Falkenburg 2000, S. 43. 574 Fries 1967ff., XV, S. 27. 575 Vgl. hierzu Kants Ableitungen des Ökonomieprinzips als eines Naturgesetzes in der Kritik der reinen Vernunft, KrV B 678–690. 576 Vgl. hierzu Stiening 1999. 577 Vgl. Herbart 1993, S. 77; zur substanziellen Differenz Büchners zu Herbart in Sachen Naturforschung vgl. auch Roth u. Stiening 2001, S. 204–206. 578 Vgl. hierzu Stiening 2006; Roth 2016. 579 Vgl. Stiening 2006 sowie meine Ausführungen in Kap. 6.

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genüber gestanden hätte; im Gegenteil darf er in institutioneller Hinsicht als OkenSchüler und damit als Schüler eines genuin spekulativen Naturphilosophen gelten.580 Zudem hörte er bei Lauth und Wilbrand, deren wissenschaftliche Nähe zu Oken zu Recht von der Forschung betont wurde.581 Nun sind allerdings die Systementwürfe, die von dieser Fraktion der Naturphilosophie vorgelegt wurden, zu umfangreich und zudem in sich zu unterschiedlich, als dass an dieser Stelle mehr als eine Skizze entworfen werden könnte. Auch wenn die philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Konzeptionen Schellings, Okens oder Hegels in den letzten Jahrzehnten erheblich vorangetragen wurde,582 mangelt es nach wie vor an einer vergleichend systematisierenden Darstellung ihrer Modelle sowie der Abgrenzung ihrer Gemeinsamkeiten gegen andere Begründungstheorien und Ausprägungen der Naturphilosophie im frühen 19. Jahrhundert.583 Dennoch können im Hinblick auf Büchners Naturforschung einige Momente jener Theorien isoliert werden, die seine Stellung zu diesem spekulativen Modell illustrieren. Zu den grundlegenden Prämissen spekulativer Naturphilosophie gehört die These von einer ursprünglichen Identität von Geist und Natur, die Schelling gegen Kants und Fichtes abstrakte, d. h. ebenso unaufhebbare wie unabgeleitete Gegenüberstellung von Subjekt und Natur entwirft.584 Diese Identitätsbehauptung enthält nun aber weder eine mystische Be-Geisterung der Natur im Sinne eines naturreligiösen Weltverhältnisses oder homöopathischer Irrationalismen,585 noch führt diese Prämisse zu einem Materialismus, der die Autonomie rationaler und freier Subjektivität bestritte.586 Vielmehr geht es Schelling wie auch Oken587 darum, mit Hilfe einer Substanzialisierung des Naturprozesses588 eine Garantie dafür abzuleiten, dass die  580 Vgl. hierzu Roth 2002. 581 Lauths systematische Nähe zu Oken ergibt sich über die Grundlegung seines Ansatzes in den Positionen Geoffroys, der in den frühen 1820er Jahren in den Einfluss Okens geriet, vgl. hierzu Mann 1992. 582 Zu Schellings Naturphilosophie vgl. u. a Mischer 1997; Bonsiepen 1997, S. 147–323; Bach 2001, S. 199–283; Breidbach 2004; Breidbach 2012; Höppner 2017. Zu Okens Naturphilosophie vgl. die Bände von Breidbach, Flieder u. Ries (Hg.) 2001; von Engelhardt u. Nolte (Hg.): 2002; Ghiselin 2005; die vierbändige Werkausgabe Oken 2007ff. sowie Höppner 2017, S. 705ff. Zu Hegels Naturphilosophie vgl. die Bände von Breidbach 1982; Petry (Hg.) 1987; Vieweg (Hg.) 1998; Breibach u. von Engelhardt (Hg.) 2002; Neuser 2009. 583 Vgl. hierzu in ertragreichen Ansätzen Bonsiepen 1997; Mischer 1997; Breidbach 2006, S. 211– 222 sowie Burswick u. Breidbach (Hg.) 2012. 584 Von den nicht unerheblichen Modifikationen, die dem naturphilosophischen Programm Schellings zwischen 1797 und 1800 widerfahren, muss hier abgesehen werden; vgl. aber Bonsiepen 1997, S. 307ff., Mischer 1997, S. 113ff.; Ziche 2017. 585 Obwohl diese um 1800 ebenfalls entstehen; vgl. Schott 1997, S. 247ff. sowie Schmaus 2009. 586 In diese Richtung einer materialistischen Schellinginterpretation führen jedoch einige Beiträge in dem Band Sandkühler (Hg.) 1984. 587 Ghiselin 2005, S. 438. 588 Vgl. hierzu Breidbach 2004, S. 164f.

  Naturphilosophie »Gesetze unseres Geistes« mit den »Gesetze[n] der Natur« tatsächlich übereinstimmen;589 ohne abstrakte Setzung, die Schelling als metaphysischen Dogmatismus vermeiden will, ist dies nur möglich durch die begründete Voraussetzung einer sich als Naturkräfte realisierenden Einheit von Geist und Materie: Philosophie ist also nichts anders, als eine Naturlehre unseres Geistes. Von nun an ist aller Dogmatismus von Grund aus umgekehrt. Wir betrachten das System unserer Vorstellungen nicht in seinem Seyn, sondern in seinem Werden. Die Philosophie wird genetisch, d. h. sie läßt die ganze nothwendige Reihe unserer Vorstellungen vor unsern Augen gleichsam entstehen und ablaufen. Von nun an ist zwischen Erfahrung und Spekulation keine Trennung mehr. Das System der Natur ist zugleich das System unseres Geistes, und erst jetzt, nachdem die große Synthesis vollendet ist, kehrt unser Wissen zur Analysis (zum Forschen und Versuchen) zurück.590

Diese Vermittlung der »zwei feindlichen Wesen Geist und Materie«591 bedarf im Selbstanspruch keiner extramundanen Instanz, ja nicht einmal mehr einer immanenten Ursache, die sich von den beiden Relata substanziell unterschiede; sie erfolgt durch das der Struktur selbst zukommende dynamische Prinzip der Polarität und seiner stetigen Aufhebung. Dieser Anspruch ist nur deshalb aufrechtzuerhalten, weil Schelling als Grundstruktur der Natur den Organismus bzw. die »organische Organisation« inthronisiert, in der nicht nur ein Begriff zur Ursache dient, sondern die auch objektiv der Struktur des subjektiven Selbstbewusstseins entspricht und dabei das Werden, den Prozess als Prinzip enthält, ja hervorbringt.592 Natur und Geist sind also nicht an sich identisch, sodass in einem lückenlosen Deduktionssystem noch ihre kleinsten und differenziertesten Einzelheiten der Natur zu ermitteln wären – diese fehlerhafte Annahme verbreiten viele der Schüler Schellings593 –, sondern nur in formaler Hinsicht, die im Prozess der gegenseitigen Selbsterkenntnis von Materie und Geist ihre materiale Verwirklichung erhält. Um aber diesen Prozess der materialen Selbstaffirmation der formalen Identität von Geist und Materie zu erwirken, bedarf es eines diesen in Gang setzenden Gegensatzes, den Schelling in das Verhältnis des Ideellen und Reellen verlegt,594 das nur die allgemeinste Komponente einer die Natur ausmachenden »Polarität« und der durch sie initiierten stufenweisen Organisation der gesamten Natur ausmacht. Schelling übernimmt also aus der Tradition das Konzept einer scala naturae,595 weiß ihm aber eine allgemeine Begründungstheorie für Essenz und Existenz zu geben.

 589 Vgl. hierzu Oken 2007, I, S. 35ff. 590 Schelling 1985, I, S. 277. 591 Ebd., S. 254. 592 Vgl. ebd., S. 278f. 593 Vgl. ebd. 594 Vgl. Schelling 1798, S. XIXff. 595 Vgl. hierzu die exzellenten Darstellungen bei Diekmann 1992 sowie Jahn 32004b, S. 245–248.

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Dass also im Zentrum dieser Konzeption der Begriff und das Sein des Organismus steht, den Schelling wegen der Abgrenzung gegen das Prinzip des Mechanismus mit dem kantischen Terminus der »Organisation« fasst, geht aus der folgenden Passage, die den Unterschied zum Kausalitätsprinzip ausführt, anschaulich hervor: Denn sobald wir ins Gebiet der organischen Natur übertreten, hört für uns alle mechanische Verknüpfung von Ursache und Wirkung auf. […] Die Organisation aber produziert sich selbst, entspringt aus sich selbst; jede einzelne Pflanze ist nur Product eines Individuums ihrer Art, und so produziert und reproduziert jede einzelne Organisation ins Unendliche fort nur ihre Gattung. […] Jedes organische Produkt trägt den Grund seines Daseyns in sich selbst, denn es ist von sich selbst Ursache und Wirkung.596

Es ist dieser Begriff von »Organisation« als Grundkategorie aller philosophischen Naturforschung in der Nachfolge Schellings, die auch bei Wilbrand und Büchner begegnet.597 Zweierlei ist aus der nur grob skizzierten Grundkonzeption der schellingschen Naturphilosophie zwanglos zu entwickeln: Ersichtlich steht erstens im Mittelpunkt dieser Ableitung ein Begriff und eine Konzeption des »Lebens«,598 das aus den strukturellen Grundmomenten der als Organismus bestimmten Natur besteht, sodass die zeitgenössisch wirksame Theorie einer substanziell eigenständigen »Lebenskraft« überflüssig wird. Die Organisation des Organismus wird konstituiert durch Zweck-Mittel- und Teil-Ganze-Verhältnisse, die an ihnen selbst Vitalitätsstrukturen enthalten und generieren, so dass eine gegenüber diesen Relationsformen eigenständige »Lebenskraft« funktionslos wird. Schelling bezeichnet das »Prinzip Lebenskraft« denn auch als »völlig widersprechende[n] Begriff«.599 Noch Johann Bernhard Wilbrand wird auf genau diese Argumentation zurückgreifen, um Johann Dietrich Brandis’ und Johann Christian Reils kategoriale Bestimmung einer Lebenskraft600 zurückzuweisen: Brandis’ Schrift über Lebenskraft schätzte er [d. i. Wilbrand] zwar sehr, aber die Lebenskraft erschien in derselben als die causa efficiens des Lebens, und wenn er nun die Frage stellte: was ist dann diese Lebenskraft? Wo ist sie? Wie kann sie geschieden seyn von dem realen Daseyn? – so fand er auf diese Fragen in der Schrift selbst nirgends eine Antwort. Es lag überhaupt klar genug vor, daß das Wort Lebenskraft nur einen Begriff bezeichnete; in der Natur selbst ist aber

 596 Schelling 1985, I, S. 278. 597 In wenig überraschender Weise hält MBA VIII, S. 543ff. diesen Begriff für nicht erläuterungsbedürftig. 598 Vgl. hierzu die Studie von Rang 1988. 599 Schelling 1985, I, S. 287. 600 Vgl. Brandis 1795 sowie Reil 1796; zur kontroversen Stellung dieser Kategorie einer »Lebenskraft« in den zeitgenössischen Debatten vgl. die Darstellung bei Rothschuh 1968a, S. 164–177; die exzellenten Ausführungen von Jantzen 1994, S. 498–565 sowie Bonsiepen 1997, S. 264–268; Richards 2002, S. 258ff.; Jahn 32004a, S. 280–284; Wellmann 2010, S. 169ff.; Leibold 2009, S. 236– 248 sowie Höppner 2017, S. 115ff.

  Naturphilosophie die Kraft nirgends von der Materie geschieden, also nirgends abstrahirt, obschon die Seite in der Natur, die man mit Kraft bezeichnet, nicht einerlei ist mit derjenigen, die man durch Materie andeutet.601

Nachdem Kant die Materie durch Kräfte definiert hatte, war ein Rückfall in eine Konzeption, die zwischen Materie und Kräften substanziell unterschied, für den informierten Naturphilosophen ebenso unerwünscht wie unmöglich; dass ausgerechnet Justus von Liebig an einem solchen Konzept von Lebenskraft zeitlebens festhielt,602 verdeutlicht, warum sich die philosophische Fraktion in Gießen lange Zeit der liebigschen »Barbaren-Kohorte«603 durchaus überlegen fühlen konnte. Zweitens aber hat Schelling mit diesem Modell einer sich selbst realisierenden formalen Identität, die er in der Folge auch als »Absolutes« bezeichnet, aus dem die Polarität von Ideellem und Reellem generiere,604 die Notwendigkeit eines Entwicklungsgedankens aufgezeigt, der für den Geist zu einer Geschichte des Selbstbewusstseins führt und für die Natur zum Gedanken einer Evolution.605 Beide Prozessformen sind aber nicht als Real-, sondern als Idealgenese gedacht, die einen lückenlosen begrifflichen Zusammenhang der stufenartig zusammenhängenden und in sich differenzierten Natur postuliert.606 Bei allen auch erheblichen Differenzen in der systematischen Anlage, dem Status und der Durchführung der allgemeinen Naturphilosophie gilt dieses Theorem der Idealgenese auch für Hegel, der ausdrücklich gegen andere Überlegungen feststellt: Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, daß die eine aus der anderen natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee.607

Für Hegel – wie auch für Schelling – ist daher die Einheit der Natur als Stufenleiter ein nur begrifflicher, zeitlich indifferenter Zusammenhang und die Vorstellung von einem realen »Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser eine nebu-

 601 Wilbrand 1831, S. 25. 602 Vgl. hierzu Rothschuh 1968, S. 174 sowie Lenoir 1982, S. 158–168. 603 Vgl. Schreiber 1937, S. 14–16. 604 Vgl. Schelling 1798, S. XIXff. 605 Vgl. hierzu die Darstellung bei Mischer 1997, S. 136–139 sowie Breidbach 2004, S. 167f. 606 Vgl. hierzu Breidbach 1986; von Engelhardt 1997, S. 39: »Evolution der Natur heißt für die romantischen Naturforscher – wie ebenfalls für die idealistischen Naturphilosophen – aber Idealgenese und nicht Realdeszendenz; wesentlich ist der innere metaphysische Zusammenhang und nicht die äußere historische Verbindung der Erscheinungen.« 607 Hegel 1986, IX, S. 31; vgl. hierzu auch Bach 2006, S. 78–80.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

lose, im Grunde sinnliche [und daher unwissenschaftliche] Vorstellung«.608 Oken, von Hegel ansonsten aufs Heftigste bekämpft, ist hierin mit ihm einer Meinung.609 Bei aller Abstraktheit dieser Skizze schellingscher Naturphilosophie lässt sich detailliert zeigen, dass Büchner zunächst die Grundvoraussetzung dieser Deduktion, den systematischen Ausgangspunkt beim Absoluten, nicht teilt. Das absolute Wissen als Wissen vom Absoluten bzw. einer formalen Identität von Geist und Materie bleibt seiner dualistischen Epistemologie durchgehend fremd, weil die »Philosophie apriori« der ›unmittelbaren Wahrnehmung‹ der Natur nach Büchner stets äußerlich bleibt.610 Doch schon hinsichtlich der aus dem genetisch gedachten Absoluten Schellings abgeleiteten Polaritätskonzeption,611 wie erst recht beim Begriff der die Stufenleiter der Natur612 dynamisierenden Potenzen613 steht Büchner in der Tradition der durch diese spekulative Naturphilosophie inaugurierten Konzeption. Vor allem aber hinsichtlich der terminologischen, begrifflichen und systematischen Verwendung der Kategorien des »Lebens« und der »Organisation«, die Büchner – wie Schelling und Wilbrand614 – auf die gesamte Natur appliziert,615 muss eine konzeptionelle Nähe konstatiert werden. Deutlich wird auch Büchners Nähe zu Evolutionsmodellen dieser spekulativen Naturphilosophie, die vor allem Oken entworfen hatte.616 Bemerkenswert bleibt insgesamt, dass Büchner wesentliche Elemente jener allgemeinen Konzeption der durch Schelling entworfenen und von Oken und Wilbrand weiterentwickelten spekulativen Naturphilosophie übernimmt, während er sie allerdings in ihrem spekulativem Zentrum – der Bestimmung und Ableitung des Systems aus einer formalen Identität von Geist und Materie bzw. aus einem Absoluten – strikt zurückweist. .... Theologische und metaphysische Naturphilosophie Auch im Hinblick auf die dritte hier vorzustellende Form von Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts, die in der Forschung als genuin ›romantische‹ firmiert,617

 608 Hegel 1986, IX, S. 31. 609 Vgl. Oken 2007, I, S. 37. 610 Vgl. MBA VIII, S. 15514–25. 611 Ebd., S. 414ff.. 612 Ebd., S. 1412, S. 6631, S. 8023 u. ö. 613 Ebd., S. 7617, S. 8030, S. 15922 u. ö einerseits und Schelling 1985, I, S. 370ff. sowie Oken 2007, I, S. 5ff. andererseits. 614 Vgl. Schelling 1985, I, S. 285f.; Wilbrand 1808/09. 615 MBA VIII, S. 1552f.. 616 Vgl. hierzu Mischer 1997, S. 139. 617 Vgl. u. a. von Engelhardt 1980, S. 11f. Allerdings kann dieses Prädikat nur als Hilfskonstruktion bezeichnet werden; den Kern dieser Konzeptionen macht ihre transzendente, sei es theologisch, sei es metaphysisch begründete Fundierung aus.

  Naturphilosophie kann von einer partiellen Übernahme nicht nur empirischer Einzelergebnisse, sondern auch begrifflicher und kategorialer Konzeptionen durch Büchner gesprochen werden.618 Dabei stellt sich diese Variante in begründungtheoretischer Hinsicht zugleich als die von Büchners Modell am weitesten entfernte dar, weil sie in ihrem systematischen Zentrum mit einer transzendenten Fundierungs- und Zweckinstanz operiert, die Büchners Naturvorstellung grundlegend abweist.619 Sowohl für Carl Gustav Carus, der die wohl differenziertesten Konzeptionen dieser Variante entwirft,620 als auch für Gotthilf Heinrich Schubert oder Franz von Baader liegen die Fundamente der natürlichen Ordnung in den Schöpfungs- und Erhaltungsleistungen jener transzendenten Instanz, die entweder als Gott oder als Ideenhimmel konkretisiert wird,621 allemal aber die transzendentalphilosophische oder spekulative Immanenz zurückweist. Ausdrücklich grenzt sich Carl Gustav Carus in dieser Hinsicht von der spekulativen Naturphilosophie ab: So war mir auch jene Vorstellung, welche Natur und Gott vollkommen identificirt und das eine gleichsam nur als Kehrseite des anderen betrachtet, ebenso wenig genügend und störte mich in den Schriften der neueren Naturphilosophen vielfältig.622

Wenn es also auch Carus mit seiner Naturforschung erklärtermaßen um die Bestimmung der »Einheit der Natur als lebendigem Ganzen« geht, dann nur in der Weise, dass sich in dieser Einheit »zwei ganz verschiedenen Welten«, Gott und die Natur, vermitteln.623 Auch Gotthilf Heinrich Schubert macht in seinen schnell zu großer Popularität aufsteigenden Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft keinen Hehl daraus, dass es ihm bei der Betrachtung, ja Herstellung empirischer Erkenntnisse in der Naturforschung um den Nachweis der Existenz einer extramundanen Instanz sowie der Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu tun ist.624 Zur Ausprägung einer von ihm anvisierten Physica sacra625 legt er den Schwerpunkt seiner Arbeit auf solcherart Phänomene, die sich den Erklärungsleistungen der von ihm mit atomistischer Ontologie identifizierten mechanistischen Naturforschung scheinbar entziehen. Erklär-

 618 Zur These starker Anleihen Büchners bei Carus vgl. Roth 2004, S. 260–271 sowie MBA VIII, S. 285–290. 619 So zu Recht Gaede 1979, S. 46. 620 Vgl. hierzu Müller-Tamm 1995, S. 9–50 sowie Schweizer 2008, S. 332ff. 621 Zu Carusʼ epistemologischem Platonismus vgl. Müller-Tamm 1995, S. 14 sowie Schweizer 2008, S. 333. 622 Carus 1865/66, I, S. 127. 623 Vgl. hierzu Müller-Tamm 2005, S. 117f. Diese fundierende Funktion der Gottesinstanz für Carus’ Naturforschungsprogramm verkennt Schweizer 2008, S. 333ff. 624 Schubert 1808, S. 301ff.; vgl. auch von Engelhardt 1980, S. 15f.; Leiplod 2009, S. 256ff. sowie Höppner 2017, S. 338–534. 625 Vgl. hierzu Dietzsch 2005; Schweizer 2008, S. 426–515; Höppner 2017, S. 427ff.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

termaßen sucht Schubert in diesen Erscheinungen der Natur, die er vor allem in Traum,626 im Magnetismus und Somnambulismus findet, den Nachweis einer über sie selbst hinausweisenden »höheren Welt«,627 die zugleich die eigentlichen Bestimmungsmomente für die diesseitige Natur enthalten soll: Am erhabendsten und schönsten offenbart sich aber jener höhere Einfluß, wo er als geistiges Band um alle verschiedenen Stufen des Daseyns der Dinge geschlungen, den Uebergang bildet von einem jetzigen Daseyn in ein höheres künftiges. Wir sahen aus vielen Thatsachen […], wie jedes Wesen, während es sich noch in der Bestimmung des gegenwärtigen Daseyns vollendet, schon den Keim eines künftigen in sich trägt, welcher in den höchsten Momenten des jetzigen erwachend, sich zuweilen auf kurze Augenblicke sichtbar macht.628

Diese theologische Fundierung der Natur und damit ihrer Erforschung, die für Carus und Schubert in unterschiedlichem Maße und in differierenden Formen gilt, bedeutet allerdings – wie schon angedeutet – nicht, dass Büchner eine positive Haltung zu einzelnen Begriffen oder empirischen Erkenntnissen dieser Forschungsrichtung abgesprochen werden müsste. Eine auffällige Nähe der technisch-praktischen Arbeit des Sezierens und Präparierens zu Carus’ Anweisungen wurde schon erörtert. Die ebenfalls eigentümliche Nähe der anatomischen Verifikationsarbeiten zur Wirbeltheorie des Schädels zu Carl Gustav Carus, die keineswegs einer Identität mit der Interpretation dieser empirischen Ergebnisse entspricht, wurde von der Forschung wiederholt analysiert.629 Dass sich jedoch darüber hinaus die evolutionäre Nerven- und Sinnestheorie Büchners, innerhalb derer aus einem substanziellen »Gemeingefühl« die höheren Formen der Sinne und deren neuronale Grundlagen hervorgehen, ebenso bei Carus wie bei Schubert vorgebildet findet,630 wurde bislang übersehen. Ausdrücklich spricht Schubert (wie neben Carus auch Wilbrand) von einem »ursprünglichen Gemeingefühl«, und zwar – erneut wie auch Wilbrand631 – im Zusammenhang mit den Erscheinungen des Magnetismus,632 konkreter gar – wie im Lenz – von Formen der

 626 Vgl. Schubert 1967 [EA 1814]; siehe dazu auch Leipold 2009, S. 321ff. sowie Höppner 2017, S. 482ff. 627 So Schubert 1808, S. 323. 628 Ebd., S. 380f. 629 Vgl. Roth 2004, S. 93ff. sowie MBA VIII, S. 295–291. Die Versuche dieser Forschung (vgl. Roth 2004, S. 260–263 sowie S. 478; MBA VIII, S. 544), Büchners Begriff der Schönheit, den er im Rahmen seiner Naturphilosophie verwendet (MBA VIII, S. 1556), mit Carus’ platonisierendem Konzept zu verknüpfen, müssen als gescheitert betrachtet werden; vgl. hierzu meine Ausführungen weiter unten. 630 Vgl. Carus 1831, S. 110f.; dazu Müller-Tamm 1995, S. 83–96 sowie Schubert 1808, S. 326–360; dazu Leipold 2009, S. 184, 189f. u.ö. 631 Vgl. Wilbrand 1824, S. 91. 632 Schubert 1808, S. 337ff.

  Naturphilosophie Rhabdomantie (d.i. des Wasserfühlens).633 Erst die Interpretation, die dieses Gemeingefühl zum Widerschein einer anderen Welt in dieser macht, unterscheidet Schubert von Büchner. Auch die weiteren Momente der evolutionären Nerven- und Sinnestheorie, wonach dieser Prozess nicht durch äußere Einwirkungen verursacht wird, sondern in den ursprünglichen Formen als ein Ausdifferenzierungsprozess angelegt ist, wurde von der Forschung bislang nur durch positivistische Wortfeldidentitäten zu Carus nahegelegt,634 nicht aber systematisch herausgearbeitet. Die wohl wichtigste Gemeinsamkeit der büchnerschen Naturtheorie zu diesem metaphysischen Ansatz der Naturphilosophie besteht in der Annahme einer realen Geschichte der Natur, die allerdings nicht durch Realdeszendenz, sondern als präformierter Ausdifferenzierungsprozess in den ursprünglichen Formen idealiter angelegt ist. Wenn Schubert ausdrücklich – und in dieser These von Hegel, Schelling oder Oken kritisiert – festhält: Auch die uns umgebende Natur ist übrigens (selbst nach der heiligen Tradition) nicht auf einmal, sondern in verschiedenen Zeiten nach einander entstanden,635

dann stand Büchner zwar – wie gegenüber Cuvier – der Vermittlung zur »heiligen Tradition« ablehnend gegenüber, nicht aber dieser Vorstellung einer tatsächlichen Entwicklung der Natur. .... Humboldts und Goethes ›spekulativer Empirismus‹ Die systematisierende Skizze der philosophischen Naturforschung abschließend sei ein kurzer Blick auf zwei Sonderformen geworfen, die durch den ›spekulativen Empirismus‹ Goethes und Alexander von Humboldts ausgeprägt wurden. Unübersehbar ging es beiden Naturforschern – wie der naturphilosophischen Tradition zwischen 1790 und 1840 überhaupt – um die Formulierung von Regeln und Gesetzen zur Bestimmung der Natur als eines lebendigen Ganzen. Goethe mehr als Humboldt arbeitete für dieses Ziel zunehmend an Konzepten, die die Prozessstruktur der Natur erfassen können sollten. Über unterschiedliche Ansätze, die das Modell einer Urpflanze, in der sich das Allgemeine der Natur unmittelbar repräsentieren können sollte, verabschieden, gelangt Goethe schließlich zum Konzept der Metamorphose, das die Prozessstrukturen nicht allein einzelner Teilbereiche, sondern der ganzen Natur als deren Substanz beschreiben können soll.636 Trotz erheblicher begrifflicher

 633 Vgl. hierzu ebd., S. 336, wo er von magnetisiertem Wasser und einem »Gefühl für Metalle« spricht, wie Oberlin und Lenz in Büchners Erzählung. 634 Vgl. MBA VIII, S. 549. 635 Schubert 1967, S. 38; vgl. dazu auch Leipold 2009, S. 222f. 636 Vgl. hierzu Breidbach 2006 sowie Wellmann 2010, S. 151ff.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

Voraussetzungen der jeweiligen Konzepte nahmen beide Forscher für sich in Anspruch, streng empirisch, d. h. grundlegend beobachtungs- und anschauungsfundiert zu arbeiten.637 Dies führt bei Goethe zum einen zu einer Einschränkung des Wissensanspruchs auf eine Phänomenologie der Naturprozesse, die sich aller Erklärungen zu enthalten hat. Zum anderen musste Goethe eine in mehrfacher Hinsicht monströse Theorie der ›Anschauung‹ entwickeln, deren antinomische Kontur sich in der Befähigung der Wahrnehmung rationaler Strukturen und Relationen ebenso offenbart wie in der strengen Bindung an die eigene Person: letztlich ist es nur Goethes eigene Anschauung, die den von ihm entworfenen Kriterien zu entsprechen vermag.638 Schon Friedrich Gaede hat im Hinblick auf den für Goethe zentralen Begriff des Typus herausgearbeitet,639 dass Büchners begriffliche Bestimmung dieser Kategorie deshalb grundsätzlich anders ausfällt, weil Goethes »Typus« der Status einer begrifflichen Konstruktion zukomme, die einer unmittelbaren realen Präsenz entbehre, während Büchners Typus sich als einfachste, zugleich substanzielle Form tatsächlich auffinden, anatomisch analysieren und entwicklungsgeschichtlich interpretieren lasse. Anders als Goethe denkt Büchner zudem den Naturprozess keineswegs als Substanz, weil nur die Ursprungsformen substanziellen Charakter haben, gegenüber dem die Entwicklung akzidentiell bleibt. Er kann daher ein allgemeines Gesetz der Natur als »Urgesetz für die gesammte Organisation« formulieren, das sowohl deren Struktur als auch ihrem Prozess in formaler Hinsicht zugrunde liegt. Trotz vielerlei Anleihen im literarischen Zusammenhang bleibt die Distanz Büchners zu Goethe als Naturforscher grundsätzlich.640 Büchner hat sich keiner der hier skizzierten Formen der philosophisch begründeten Naturforschung, der er grundsätzlich selbst nachging, bedingungslos angeschlossen. In epistemologischer und methodologischer Hinsicht ist die Nähe zu den transzendentalen Formationen, insbesondere derjenigen Schmids und Fries’, unverkennbar, zumal auch nach Fries das Ökonomieprinzip in formaler Hinsicht Geltung beanspruchen kann. Darüber hinaus hält die transzendentale Konzeption an einer grundlegenden Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft gegen die monistischen Naturphilosophien fest, was auch für Büchner gilt. Hinsichtlich wichtiger allgemeiner Kategorien wie der Stufenfolge als ›Potenzenfolge der Natur‹, dem Organisationsbegriff und der Polaritätskonzeption, gibt es Anleihen bei der spekula 637 Zu Goethe Anschauungskonzept vgl. Breitbach 2006, S. 231–233 sowie Stiening 2011. 638 Es gehört zu den Problemen einer weitgehend affirmativen Goethe-Forschung, die mehrfachen Antinomien in dessen Anschauungsbegriff zu nivellieren. Vgl. hierzu aber Breidbach 2006, S. 307– 319. 639 Vgl. Gaede 1979, S. 46. 640 Zu Recht hält schon Roth 2004, S. 260 fest: »Indem die philosophische Ansicht [Büchners] das ›Urgesetz‹ als das der Schönheit definiert, tritt sie aus der Tradition Goethes heraus.«

  Naturphilosophie tiven Naturphilosophie Schellings, Okens und Wilbrands. Und im Zusammenhang der Prozess- und Evolutionsformen der Natur lassen sich überdeutliche Nähen zur metaphysischen Naturlehre Carus’ und Schuberts nachweisen. Es wird im Folgenden darum gehen, den Schein eklektizistischer Beliebigkeit durch eine systematische Rekonstruktion der empirischen Naturforschung Büchners sowie ihrer begrifflichen und kategorialen Voraussetzungen zu durchstoßen. Schon die nähere disziplingeschichtliche Verortung seiner Forschungen wird hier größere Klarheiten schaffen können. ... Disziplinäre Ausdifferenzierung der philosophischen Naturforschung Auch wenn alle Formen philosophisch fundierter Naturforschung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auf das Ganze der Natur als lebendiger Einheit und damit auf alle denkbaren Felder der Naturwissenschaft und ihre diversen Zusammenhänge ausgerichtet sein mussten, gab es disziplinäre Schwerpunktbildungen, innerhalb derer das Paradigma in besonderer Weise ausgebildet werden konnte. Dazu zählten zunächst und zumeist Reflexionen zu einer allgemeinen Naturtheorie und den hiermit unmittelbar zusammenhängenden Fragen nach dem Verhältnis von Physik, Chemie und Biologie.641 Schellings »spekulative Physik« lieferte diesem grundlegenden und kontrovers ausgetragenen Diskussionsstrang die Vorgaben, die im Hinblick auf eine allgemeine Lebenswissenschaft mit einiger Verve ausgetragen wurden.642 Darüber hinaus standen seit 1815 erneut die schon seit den 1780er Jahren modischen Themen, wie der tierische Magnetismus und Formen der Psychologie und Psychopathologie, im Fokus der naturphilosophischen Debatten.643 .... Anatomia comparata Die stärker wissenschaftlich ausgerichteten Debattenstränge beschäftigten sich mit Fragen der natürlichen Entwicklungsgeschichte,644 und zwar im Hinblick auf ihre spezifischen Verlaufsformen, Verursachungen und Ausrichtungen. Um dem intendierten Wechselspiel von Spekulation und Erfahrung gerecht zu werden645 und damit die ebenso künstlichen wie um 1800 ungenügend werdenden Klassifikations-

 641 Vgl. hierzu die Arbeiten von Janzen 1994, Durner 1994 und Moiso 1994. 642 Vgl. hierzu Liedtke 2003, S. 154ff.; Stein 2004, S. 147ff. 643 Vgl. hierzu Barkhoff 1995, spez. S. 85–136. 644 Breidbach 1986 sowie von Engelhardt 1997 und Mischer 1997, S. 165–197. 645 Vgl. hierzu u. a. Wagner 1834/35, S. XIII: »Ein Irrthum aber ist es, wenn selbst Bessere glauben, daß die wahre Empirie blos aus der sinnlichen Anschauung hervorgehe, als ob der äußere Sinn nicht eben so gut die Wahrheit verfehlen könne, wie der innere. Eine richtige Vermittelung der sinnlichen Beobachtung und der reflektierenden, vergleichenden Forschung giebt erst eine wahre Erfahrung.«

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

systeme des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu überbieten,646 wird die vergleichende Anatomie als empirisches Pendant zu den zumeist rationalen Evolutionstheorien zielstrebig ausgebaut.647 Denn in dieser Disziplin, die von ihren Vertretern nachdrücklich von der allgemeinen Anatomie, die auf eine medizinische Praxis abzielte, unterschieden wird,648 sollen die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge einzelner Organe oder Organgruppen von den einfachsten bis zu den komplexesten Lebewesen morphologisch und funktional mit Hilfe anatomisch-empirischer Rekonstruktionen überprüft werden. Eine der präzisesten Definitionen seiner Disziplin liefert Johann Bernhard Wilbrand in seinem Handbuch der vergleichenden Anatomie, das ein Jahr nach Büchners Tod erscheint: Unter Anatomie versteht man die mechanische Zergliederung organischer Körper. […] Wenn man von der Anatomie schlechtweg spricht, so versteht man auch darunter nur die Anatomie des menschlichen Körpers, […]. Dehnt man die Erweiterung der anatomischen Kenntnisse auf den Bau der Körper des gesammten Thierreiches aus, und stellt hierbei Vergleichung des Baus der verschiedenen Thiere in der Art an, daß man die einzelnen Organe, wie sie in den verschiedenen Thieren sich darstellen, mit einander vergleicht: so wird diese Anatomie zur vergleichenden Anatomie.649

Indem die vergleichende Anatomie nach Wilbrand damit zu einer Voraussetzung der vergleichenden Physiologie wird,650 die recht eigentlich erst die funktionalen Zusammenhänge des lebenden Organismus zu bestimmen vermöge, wird die Disziplin zu einer der entscheidenden Austragungsorte für eine empirische Verifikation der rationalen Konstruktionen naturphilosophischer Begriffs- und Systembildung.651 Diesen systematischen und methodischen Zusammenhang zwischen naturphilosophischer Evolutionstheorie und vergleichender Anatomie als deren empirischer Verifikationsdisziplin konstatiert in den 1850er Jahren, also nach dem Ende der naturphilosophischen Konjunktur, der Philosophiehistoriker Johann Eduard Erdmann, wenn er schreibt:

 646 Vgl. hierzu auch Lepenies 1978, S. 61ff.; Lenoir 1982, S. 99–101; Diekmann 1992, S. 103–122; Breidbach 2006, S. 80–83. 647 Zum Folgenden vgl. Lubosch 1931, S. 17–37. 648 Das gilt auch und in besonderem Maße für Büchners Studien- und Forschungszeit; so unterscheidet sein Studienfreund Eugène Boeckel in einem Brief vom Januar 1837 präzise zwischen der »Anatomie simple et comparée«; P II, S. 4625f../MBA X.1, S. 1154f.. 649 Wilbrand 1838, S. 1f. 650 Vgl. ebd., S. 3: »Die vergleichende Anatomie führet zu einer gründlichern und klarern Physiologie, und dieses ist ihr Hauptzweck, – und der Hauptnutzen, den sie im Gebiete der wissenschaftlichen Naturkunde leistet.« Dieser funktionale Zusammenhang zwischen Anatomie und Physiologie geht auf Anregungen Schellings zurück; vgl. Bonsiepen 1997, S. 288. 651 Vgl. hierzu auch Wagner 1834/35, S. 1 sowie Lubosch 1931, S. 21ff.

  Naturphilosophie Das Interesse an dieser [d. i. der durch Döllinger inaugurierten Entwicklungsgeschichte], namentlich aber an der vergleichenden Anatomie konnte nicht gut auftreten, als wo die Ideen der Naturphilosophie mächtig waren, indem der Gedanke, welcher der ›Deutung der einzelnen Organe zu Grunde‹ liegt, selbst eine solche Idee ist. Alle die, welche heut zu Tage über die Arbeiten von Carl Gustav Carus wegen des poetischen Naturpantheismus spotten, der sie durchdringt, übersehen, daß es kein Zufall ist, wenn gerade er einer der Ersten ist, welche vergleichende Anatomie gelehrt haben; alle die, welche Meckel’s Durchgangstheorie nur als Verirrung ansehn, bedenken nicht, daß ohne den Gedanken der ihr zu Grunde liegt, (der freilich in ihr mißverstanden ist) die vergleichende Anatomie höchstens Notizen geben aber keine Wissenschaft bilden würde.652

Zwar gab es namhafte Versuche zur vergleichenden Anatomie schon auf der naturgeschichtlichen Grundlage des 18. Jahrhunderts, sodass sich selbst so unterschiedliche Theoretiker wie La Mettrie und Rousseau große Erkenntnisfortschritte der Naturforschung von dieser Disziplin erhofften.653 Blumenbach bündelte und systematisierte diese naturgeschichtlich fundierten Formen der anatomia comparata gegen Ende des Jahrhunderts; seit 1777 hielt er schnell berühmt werdende Vorlesungen zu diesem Thema in Göttingen.654 Die methodische und systematische Begründung der Disziplin durch den Göttinger Naturforscher verblieb jedoch im Rahmen künstlicher Klassifikationssysteme, deren rein heuristischer Status in der Einleitung zum Handbuch der vergleichenden Anatomie von 1805 ausdrücklich festgeschrieben wird.655 Cuvier zeigte seit den 1790er Jahren zudem, dass diese Form klassifikatorisch ausgerichteter anatomia comparata bei leichten Modifikationen zu erheblichen Erfolgen auf empirischem Felde führen konnte.656 Dennoch erbrachte erst die philosophische Fundierung der Naturforschung um 1800, speziell das Interesse an einem Rekonstruktionsmodell der Natur als einer in sich differenzierten Einheit, die als ideelle oder reelle Entwicklungsgeschichte zu denken war, eine völlig neue Grundlage der vergleichenden Anatomie und damit der Disziplin eine ungeahnte Konjunktur.657 Wenn Blumenbach noch 1805 festhält, dass sein Handbuch neben den bedeutenden Publikationen Cuviers die erste deutschsprachige Buchveröffentlichung zur vergleichenden Anatomie darstellt,658 dann kann Carl Gustav Carus in der Einleitung zur zweiten Auflage seines Lehrbuchs für vergleichende Zootomie aus dem Jahre 1834 schon auf eine stattliche Anzahl neuer Publikationen verweisen.659 Auch eine Reihe methodologischer Abhandlun 652 Erdmann 1931, VII, S. 232f. 653 Vgl. La Mettrie 1990, S. 42/43 sowie Rousseau 31993, S. 76/77. 654 Vgl. die Angaben in Blumenbach 1805, S. VI. 655 Ebd., S. XI; vgl. hierzu auch Lubosch 1931, S. 30. 656 Vgl. ebd., S. 19 sowie Geus 32004, S. 325–331. 657 Zu dieser Konjunktur vgl. Regenspurger u. van Zantwijk 2005, S. 27f. 658 Blumenbach 1805, S. VII. 659 Carus 21834, I, S. XV– XXXII: »Allgemeine Uebersicht der Literatur für vergleichende Zootomie«.

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gen zur Wissenschaftstheorie und Methodik der vergleichenden Anatomie waren zu verzeichnen.660 In einer der einflussreichsten dieser Programmschriften, in Ignaz Döllingers Ueber den Werth und die Bedeutung der vergleichenden Anatomie, wird nicht nur die These vertreten, die vergleichende Anatomie sei unstreitig »unter allen Zweigen der Naturlehre bey weitem der bedeutungsvollste, gehaltreichste«, sondern diese These wird auch mit einer naturphilosophischen Begründung versehen: Die Aufgabe der Zootomie ist, den Bau der Thiere zu entwickeln, und in demselben die Natur des Lebensprozesses nachzuweisen; durch letzteres erhält die Zootomie das Gepräge einer Wissenschaft, weil die Idee des Lebens den zahllosen einzelnen Wahrnehmungen Zusammenhang verschaffen kann, und es zuläßt, daß das Zufällige als nothwendig erkannt werde. Damit wird das Vergleichen des Zootomen Geschäft; er soll Thatsachen zusammenstellen, und untersuchen, worin sie sich ähnlich und worin sie sich unähnlich sind, er soll sie mit der Idee des Lebens zusammenhalten, und erforschen, wie sich das eine und selbe durch eine Reihe von Metamorphosen durchbilde, er soll den Grundtypus des Thierkörpers und eines jeden Organs durch Abstraction festsetzen, und die Gesetze der vielseitigen Abweichungen vom Grundtypus aufsuchen. Durch diese Bemühungen wird die Zootomie zur vergleichenden Anatomie.661

Damit ist das methodische und systematische Programm der büchnerschen Dissertation auf den Begriff gebracht. Doch gab es im Rahmen dieser allgemeinen Konzeption der Disziplin sowohl thematische Schwerpunkte als auch erhebliche methodische Differenzen. So betonte Blumenbach im Jahre 1805 im Hinblick auf die Organgruppe Vom Gehirne und dem Nervensystem überhaupt: In keiner andern Classe von Functionen der thierischen Oekonomie ist eine so reine einleuchtende Stufenfolge vom einfachsten Bau zum zusammengesetzten bemerklich, als in der, zu welcher wir jetzt übergehen [d. i. Gehirn und Nervensystem], die den Hauptcharakter der Animalität bestimmt.662

Deutlich wird hiermit jene strenge Einbettung neurologischer Fragen in die übergeordnete Perspektive der anatomia comparata, die noch und in besonderem Maße für Büchners Fragestellung gilt.663 Trotz dieser herausgehobenen Stellung der Neurologie für eine vergleichende Zootomie, die schon Blumenbach betonte, muss Rudolph Wagner noch 30 Jahre später und damit just zum Zeitpunkt der büchnerschen Suche nach einem Promotionsthema feststellen: Am unvollständigsten werden Nervensystem und Sinnesorgane bleiben müssen; hier kann das nothwendige, schwierige und zeitraubende Detail nur langsam der Vollendung näher gebracht

 660 Vgl. hierzu insbesondere Doellinger 1814; Carus 1826 u. Carus 1828. 661 Doellinger 1814, S. 25f. u. S. 17f.; vgl. hierzu auch Gerabek 1995, S. 331ff. 662 Blumenbach 1805, S. 291. 663 Insofern ist der Versuch der MBA (VIII, S. 261–279), Büchners Arbeit ausschließlich in die Geschichte der empirischen Neurologie einzuschreiben, wissenschaftstheoriegeschichtlich schlicht falsch; zutreffend dazu Hagner 2013, S. 329.

  Naturphilosophie werden; so dankenswerth auch die Arbeiten zahlreicher Beobachter, wie namentlich die von Carus, Tiedemann, Serres, Treviranuis, E. H. Weber u. a. sind.664

Büchner wagt sich mit seinem Thema zur Neurologie der Fische also auf ein Teilgebiet der vergleichenden Anatomie, das als noch wenig erarbeitet gilt; nicht nur die terminologischen Unklarheiten auf diesem Felde,665 auch die technischen Voraussetzungen zum Sezieren dieses Organbereiches bewirkten jenen defizitären Zustand der komparativen Neurologie in den 1830er Jahren, den Wagner beklagt. Darüber hinaus gilt zwar der lückenlose Zusammenhang der Natur auch im Hinblick auf die in der vergleichenden Anatomie zu rekonstruierenden Organgruppen als wirksame Prämisse naturphilosophisch begründeter, disziplinärer Systematik. Dennoch kann methodisch der Ausgang einer Darstellung entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge entweder von höher entwickelten Organformen genommen werden, um aus diesen die niederen, einfacheren Erscheinungen zu rekonstruieren. Oder aber der Nachweis des natürlichen Zusammenhangs der unterschiedlichen Naturstufen erfolgt ausgehend von den einfachsten Formen, aus denen die komplexeren in einer Rekonstruktion des Ausdifferenzierungsprozesses entwickelt werden.666 Die erstere Methodik, den Ausgang bei der Komplexitätsspitze, bevorzugten Goethe und Oken. Der Jenaer Naturphilosoph konnte daher die These, die zugleich als Maxime der komparativen Anatomie dienen konnte, formulieren: »Was ist das Theirreich anders als der anatomirte Mensch, das Makrozoon des Mikrozoon?«667 Büchner dagegen suchte, wie Doellinger oder der frühe Lamarck,668 nach den einfachsten Erscheinungen von Organgruppen, um an ihnen den substanziellen Ursprung einer Entwicklungsreihe darstellen zu können, aus dem sich die höheren Stufen als »Modificationen in einer höheren Potenz«669 entfalten. Es ist diese grundlegend methodische Differenz zu Oken, die der Habilitand noch in der Probevorlesung vortragen wird:

 664 Wagner 1834/35, S. Xf. 665 Vgl. hierzu zu Recht MBA VIII, S. 259f. 666 Vgl. hierzu Breidbach 1982, S. 50ff.; Breidbach 2006, S. 181ff. 667 Oken 2007, I, S. 19; vgl. hierzu die exzellente Studie von Bach 2001a, S. 79–84. 668 Vgl. hierzu Lamarck 2002, S. 45: »Ich unterließ es umso weniger, mich mit dieser Untersuchung zu beschäftigen, als ich damals überzeugt war, daß man einzig und allein bei den einfachsten Organismen Mittel und Wege finden könne, um der Lösung eines scheinbar so schwierigen Problems zu gelangen, da nur ein solcher alle zur Existenz des Lebens nötigen Bedingungen darbieten könnte.« 669 MBA VIII, S. 15922.

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Es dürfte wohl immer vergeblich bleiben gerade bey der verwickelsten Form, nämlich bey dem Menschen anzufangen. Die einfachsten Formen leiten immer am Sichersten, weil in ihnen sich nur das Ursprüngliche, absolut Nothwendige zeigt. 670

Im Hintergrund steht auch hier die Vorstellung jenes allgemeinen Entwicklungsmodells, das Büchner seiner Arbeit zugrunde legte und in den Nerven- und Sinnestheorien671 entwickelte. Diese Variante der Evolutionstheorie ist auch an einer der naturphilosophischen Grundthesen seines Ansatzes ablesbar: der Wirbeltheorie des Schädels. .... Büchners Variante der Wirbeltheorie des Schädels Dass Büchner die von Oken, Goethe, Carus oder Meckel prominent vertretene, so genannte Wirbeltheorie des Schädels seiner naturwissenschaftlichen Arbeit zugrunde legte, hat die Forschung der letzten Jahre mehrfach herausgearbeitet;672 Büchners positiver Bezug auf diese Theorie und ihre Anwendung auf seine neurologische Frage ist auch nicht zu übersehen: Da man aber gesagt hatte: der Schädel ist eine Wirbelsäule, so mußte man auch sagen das Hirn ist ein metamorphotisirtes Rückenmark und die Hirnnerven sind Spinalnerven.673

Büchner wendet mithin zunächst thetisch ein in der vergleichenden Osteologie entworfenes Modell der Entwicklungsgeschichte auf seine evolutionäre Neurologie an. Das osteologische Modell besagt,674 dass die Schädelknochen entwicklungsgeschichtlich aus den Wirbeln des Rückgrades entstanden seien und dies an einer spezifischen Aufteilung des Schädels in Segmente nachzuvollziehen sei. Doch wie schon die vergleichende Anatomie Cuviers keineswegs mit der anatomia comparata Okens, Carus’ oder Wagners zu identifizieren ist,675 so firmierten unter dem Forschungsprogramm Wirbeltheorie des Schädels aufgrund der Unterschiede in allgemeiner Natur- und besonderer Evolutionstheorie höchst divergierende Varianten.676 Im Hinblick auf Büchners Vorstellung von »den Schädelwirbeln«677 sind diese grundlegenden Unterschiede von der neueren Forschung aber nicht berücksichtigt

 670 Vgl. hierzu ebd., S. 15936–39. 671 Vgl. hierzu ebd., S. 15913–25. 672 Vgl. Müller-Sievers 2003, S. 61ff.; Roth 2004, S. 307–335, spez. S. 333ff.; MBA VIII, S. 379–390. 673 Ebd., S. 1573–5. 674 Zum Folgenden vgl. Starck 1980, S. 47f.; Mann 1992, passim; Junker 32004, S. 371ff.; Jahn 32004, S. 290f. sowie Breidbach 2006, S. 59. 675 So zu Recht Lubosch 1931, S. 18ff. 676 Vgl. hierzu Mann 1992 sowie in Bezug auf Oken und Goethe Breidbach 2006, S. 59. 677 MBA VIII, S. 511.

  Naturphilosophie worden.678 Dabei hatte schon Friedrich Gaede darauf hingewiesen,679 dass Büchner jene Wirbeltheorie als Moment seiner allgemeinen Entwicklungstheorie begreift, nach der aus ursprünglichen einfachen Formen, die als Substanzen dem Prozess ihrer Ausdifferenzierung zugrunde liegen, die höheren Formen entstehen. Die Wirbeltheorie des Schädels ist insofern ein Realisationsbereich dieser allgemeinen Entwicklungstheorie, weil hier die Schädelknochen als Ausdifferenzierungen der Rückgradwirbel, das Hirn als »metamorphorisirtes Rückenmark« interpretiert werden. Empirisch wird der Nachweis dieser Thesen durch eine Analyse der Anzahl und Anordnung bestimmter Knochenteile des Schädels bzw. des Ursprungs der Hirnnerven in den Spinalnerven des Rückenmarks erbracht. Doch nicht wegen der Anzahl der angenommenen Schädelwirbel, die – das macht Johannes Müller in seiner Rezension deutlich680 – relativ kontingent ist,681 sondern wegen des in dieser Theorie verwirklichten Entwicklungsmodells steht Büchner bestimmten Varianten der Wirbelschädeltheorie näher als anderen. Das vorausgesetzte Evolutionsmodell und damit Büchners Variante der Wirbeltheorie unterscheidet sich nämlich grundlegend von anderen Erklärungen namhafter Naturforscher, die diese seit Okens Antrittsvorlesung 1807 spektakuläre Theorie übernahmen und weiterentwickelten: Von der Konzeption Goethes, der sich bekanntermaßen jahrelang mit Oken in einem Streit über die Entdeckung dieser These befand,682 unterscheidet sich Büchners Vorstellung deshalb, weil für den Weimarer Naturforscher die einfacheren Formen keineswegs substanziellen Charakter hatten; vielmehr bestimmt nach Goethe einzig die Form des Prozesses die Zusammenhänge der Natur und damit den konkreteren Sachverhalt, dass »sämtliche Schädelknochen […] aus verwandelten Wirbelknochen entstanden« seien.683 Deshalb fundiert nach Goethe ausschließlich das Metamorphosentheorem eine vergleichende Naturlehre684 und nicht etwa die Substanzialität der einfachen Formen.

 678 Vgl. Müller-Sievers 2003, S. 61ff.; Roth 2004, S. 333–335 sowie MBA VIII, S. 379–390, die in einer ununterschiedenen Menge von Referenztexten zur Wirbeltheorie des Schädels Büchners spezifische Position aus den Augen verlieren, einzig eine Nähe zu Carus – allerdings nur aufgrund empirischer Einzelanalysen – wird von MBA VIII, S. 285ff. konstatiert. 679 Vgl. Gaede 1979, S. 45f. 680 Vgl. MBA VIII, S. 598–601. 681 Auf die Frage, wie viele Wirbel für den Schädel angenommen werden, gründen Roth 2004, S. 321ff. sowie MBA VIII, S. 285ff. ihre Thesen von der Quellenabhängigkeit Büchners von Carus; der Positivismus dieser Nachweisform verhindert hier jedoch eine angemessene wissenschaftstheoriegeschichtliche Kontextualisierung der büchnerschen Konzeption. 682 Vgl. die bezüglich einer Rekonstruktion dieser Kontroverse nüchternste Darstellung bei Roth 2004, S. 308ff.; siehe auch Richards 2002, S. 491ff. 683 Vgl. Goethe 1988, XIII, S. 169ff.; dazu Mann 1992, S. 61. 684 Breidbach 2006, S. 59.

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Auch von der Variante, die Johann Friedrich Meckel im Anschluss an Oken vertrat, unterscheidet sich Büchners Modell in signifikanter Weise.685 Denn für Meckel ergeben sich die Zusammenhänge zwischen Wirbelknochen und Schädel als Analogiebildungen. Grundsätzlich konstituierten sich für Meckel die Zusammenhänge der von ihm verglichenen Organismen als Realisationen einer übergreifenden Analogie aller Naturformen, deren begrifflichen Gehalt er – trotz seiner prätendierten und z. T. auch erzielten Nähe zu Cuvier – von Geoffroy Saint-Hilaire übernahm, aber in ihrer Geltung erheblich ausweitete.686 Zwar bediente sich – wie gezeigt – auch Büchner der Analogie, allerdings in einem im Status eingeschränkten Maße. Denn er sieht zwischen Wirbelknochen und Schädel sowie zwischen Rückenmark und Gehirn vor allem einen realgenetischen Zusammenhang zwischen Urformen und Ausdifferenzierungen; eine Entwicklungsform, der Meckel weitgehend ablehnend gegenüberstand.687 Wie im Zusammenhang der allgemeinen Entwicklungstheorie der naturphilosophischen Grundlagenprogramme rekonstruiert, steht Büchner im Zusammenhang der Wirbeltheorie des Schädels und damit im Rahmen der Wirbeltheorie einzig Oken, Carus oder Wilbrand nahe, die in ähnlicher Form den Ursprungsformen Substanzialität zuschrieben. So heißt es in Okens berühmter Jenaer Antrittsvorlesung: Das Skelet ist nur ein aufgewachsenes, verzweigtes, wiederhohltes Wirbelbein; und ein Wirbelbein ist der präformirte Keim des Skelets. […] Das Hirn ist das zu kräftigern Organen voluminöser entwickelte Rückenmark, so die Hirnschale die voluminösere Rückensäule.688

Wie für Carus, Wilbrand und Büchner sind auch für Oken die Ursachen jener Entwicklung in den Ursprungsformen enthalten;689 anders aber als die präformationistischen Evolutionsmodelle Carus’ und Okens, besteht der zureichende Grund für das Enthaltensein der Entwicklung, ihrer Momente und der Qualität ihres Telos in den substanziellen Formen nach Büchner und Wilbrand nicht in einer Gottesinstanz. Weder teilt Büchner Okens naturalen Kreationismus690 noch entspricht seine Naturtheorie des Dresdener Romantikers transzendenter Begründungtheorie für eine allgemeine Naturphilosophie; beidem steht er deutlich ablehnend gegenüber. Es wird sich vielmehr zeigen, dass Büchners Präformationismus im Rahmen einer im-

 685 Vgl. zum Folgenden Meckel 1812. 686 Vgl. hierzu Göbbel u. Schultka 2002, S. 321. 687 Ebd., S. 320ff. 688 Oken 2007, I, S. 370; zu Okens Schädelwirbeltheorie vgl. auch Breidbach 2001a, S. 16. 689 Vgl. hierzu die an Büchner erinnernde Formulierung zu Okens Entwicklungstheorie bei Breidbach 2001a, S. 18: »Die Entwicklung ist eine Ontogenese, ein Erwachsen der Natur zu der ihr eigenen Form, die sich am Ende dieses Reifungsprozesses im Menschen konstituiert.« 690 Vgl. Oken 2007, II, S. 45: »Die Natur ist aus dem Nichts entstanden, mit ihr die Zeit und der Raum, oder mit diesen ist auch die Natur gewesen. Himmel und Erde hat Gott aus Nichts gemacht.«

  Naturphilosophie manenten Konstruktion entfaltet wird, die der Natur selbst die Funktion der causa prima zuschreiben kann. ... Prägende Einflüsse? Wie schon nach der Rekonstruktion der allgemeinen Naturtheorie sowie der Betrachtung des Feldes der vergleichenden Anatomie fragt sich nach dieser Skizze zur Wirbeltheorie des Schädels erneut: Welcher Theorieeinfluss, welcher Naturphilosoph prägte nun die Naturwissenschaft Georg Büchners am nachhaltigsten? Ist er einer bestimmten Schule oder Fraktion der philosophischen Naturforschung zuzuschreiben? Die ältere und selbst Teile der neueren Forschung scheinen sich über diese Frage einig zu sein, man spricht von einer entscheidenden Prägung durch Lorenz Oken: Denn von keinem hatte er philosophisch mehr für seine Forschung gelernt als von Oken.691

Das kann aber sicher nicht gelten für Okens Schöpfungsverständnis sowie dessen eigentümlichen mathematischen Universalismus.692 Darüber hinaus unterscheidet sich Büchners Epistemologie und Methodologie insofern von der Okens, als er eine begrifflich uneinholbare Eigenständigkeit der unmittelbaren Wahrnehmung postuliert, die in Okens spekulativem Ansatz – trotz relativer Autonomie der Erfahrung – keinen Platz hatte. Zudem wirkt der von Büchner in der Probevorlesung auch ausgeführte methodische Unterschied zwischen einem Ausgang der vergleichend anatomischen Analyse beim komplexen Allgemeinen (Oken) oder beim einfachen Besonderen (Büchner) trennend. Dennoch bleibt Büchners Nähe zu Oken in Fragen der Evolutionsbiologie. Auch von Carl Gustav Carus, von dem er eine Reihe begrifflicher und empirischer Einzelheiten insbesondere hinsichtlich der Wirbeltheorie des Schädels übernimmt,693 trennt Büchner dessen metaphysischer Dualismus, mithin die Annahme, die Naturformen seien Ausprägungen transzendenter, präexistenter Ideenkomplexe; Büchners Naturmodell bleibt – trotz metaphysischer Fundierungen – immanent und lässt sich mit Carus’ epistemologischem und ontologischem Platonismus nicht vermitteln. Johann Friedrich Meckel d. J., von dem Büchner vielfältige Anregungen im Hinblick auf eine spezielle Methodologie der anatomia comparata sowie eine Vielzahl  691 Viëtor 1949, S. 225; zur These einer entscheidenden Prägung durch Oken vgl. auch Strohl 1936, S. 54ff.; Golz 1964, S. 68; Döhner 1967, S. 73f.; Roth 2002, passim; Roth 2004, S. 339ff. u. S. 359ff.; MBA VIII, S. 217–219; kritisch dazu P II, S. 894. 692 Vgl. hierzu Neuser 2001. 693 Vgl. MBA VIII, S. 16–27, S. 82–85 u. S. 90–95; Roth 2004, S. 330ff. u. S. 360ff.; beide Forschungstexte referieren nicht auf Carus’ Metaphysik und verpassen daher eine angemessen differenzierte Betrachtung der Verhältnisses Büchners zu Carus.

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anatomischer Einzelkenntnisse übernimmt,694 erweist sich begründungtheoretisch als zu unpräzise, als dass Büchner von diesem ›deutschen Cuvier‹695 entscheidende systematische Anregungen erhalten haben könnte. Dem Meckel-Serres-Gesetz steht Büchner zudem aus methodischen Gründen skeptisch gegenüber. Johannes Müllers Naturforschungen, die sich in den 1830er Jahren unter dem Einfluss einiger Schüler erst allmählich zu einer methodischen Einschränkung des wissenschaftlichen Erklärungsanspruches auf eine analytische Naturwissenschaft bereit finden,696 kommen in den Texten Büchners nur am Rande vor,697 er kennt Müllers Handbuch der Physiologie des Menschen und weiß um die institutionelle, nicht aber die wissenschaftstheoretische Stellung von Autor und Standardwerk.698 Dennoch dürfte es vor allem der evolutionstheoretische Hegelianismus Müllers gewesen sein, dessen Entwicklungsbegriff seinen Ausgang beim Allgemeinen nimmt, um aus der ihm immanenten Spannung zum Besonderen die einzelnen Stufen der Natur zu entfalten, der Büchner zurückgestoßen hat. Im Rahmen einer neurologischen Studie aus dem Jahre 1828 hält Müller aber unmissverständlich fest: So entwickelt sich das Nervensystem (actu) durch Vereinzelung der in dem Ganzen ruhig und unvereinzelt (potentia) enthaltenen Momente. Dies ist überall der wahre physiologische Begriff der Entwickelung, der in der ganzen Natur, in den thierischen und geistigen Energien, in der Erzeugung der Organismen, wie in der Erzeugung der Gedanken, sich gleichbleibend erscheint.699

Deshalb auch schreibt Müller eine »Physiologie des Menschen«, um von diesem differenziertesten Standpunkt aus eine vergleichende Physiologie und Evolutionstheorie zu entwickeln. Büchners methodischer Ausgangspunkt liegt – bei gleichem Ziel einer umfassenden Physiologie – auf der entgegengesetzten Seite der scala naturae: bei den einfachsten Formen und Erscheinungen einer Entwicklungsreihe. Vor allem aber entwickelt Müller in den 1830er Jahren – also parallel zu Büchners vergleichend-neurologischen Arbeiten – eine »Physik der Nerven«,700 die auf experimenteller Basis die Bestimmtheiten der Nerven durch den Nachweis ihrer »physikalisch-chemischen Grundfunktionen« eruiert.701 Eine entwicklungsgeschichtliche  694 Vgl. MBA VIII, S. 90–99. 695 Vgl. hierzu und zur problematischen Anbindung Meckels an die Cuvier-Schule: Göbbel u. Schultka 2002. 696 Vgl. hierzu u. a. Gregory 1992; von Engelhardt 1992 und Breidbach 2005. 697 Insofern ist die unbegründete These von Arz (1996, S. 79f.), Müllers Werk sei für Büchner »zentral« gewesen, erheblich zu modifizieren. 698 Zum methodischen und systematischen Innovationsgehalt des müllerschen Handbuchs der Physiologie des Menschen für die 1830er Jahre vgl. Breidbach 2005; zu Büchners Kenntnis dieses Standardwerkes vgl. Roth 2004, S. 247 sowie MBA VIII, S. 506ff. 699 Müller 1828, S. 16. 700 Vgl. Müller 1834, I, S. 597ff. 701 Breidbach 2005, S. 16.

  Naturphilosophie Standortzuweisung zum Behuf der funktionalen Qualifizierung der einzelnen Nerven, wie Büchner dies unternahm, ist damit überflüssig. Obwohl also Müller und Büchner nicht nur in der Kritik an einer falschen Naturphilosophie, die Müller schon 1826 und 1830 vortrug,702 sondern auch bei der Bestimmung jeder natürlichen Erscheinung als Selbstzweck übereinstimmen,703 bleiben die Differenzen zwischen dem in Zürich promoviert und habilitiert werdenden Büchner und dem seit 1833 auf den Weg in die analytische Naturwissenschaft sich bewegenden Müller grundsätzlicher Natur. Von einer ausschließlichen Prägung durch eine bestimmte Schule kann im Hinblick auf Büchners Naturwissenschaft mithin keine Rede sein, schon gar nicht im Hinblick auf die neuerdings wieder stark gemachte Anbindung an die CuvierSchule.704 Epistemologisch und methodologisch steht er vor allem der Fries-Schule nahe, naturtheoretisch der Schelling-Schule und evolutionstheoretisch den Modellen Carus’ und Wilbrands. Büchner bemüht sich mithin um eine eigenständige Kontur seiner Forschung in wissenschaftstheoretischer und systematischer Hinsicht. Auch aufgrund dieser relativen Eigenständigkeit in Grundlegungsfragen sah Oken für ihn eine glänzende Zukunft als Naturforscher voraus.705 Im Hinblick auf die spezifisch zoologisch-neurologischen Wissensvoraussetzungen bediente sich Büchner der Arbeiten Carl Moritz Gottsches über das Gehirn der Grätenfische, der die terminologische Vielfalt der Nervenbenennungen vereinheitlichte, Ludwig Wilhelm Theodor Bischoffs Dissertation über die ›Anatomie und Physiologie des Nervus accesorius Wilisii‹, Heinrich Rathkes Arbeit über den Kiemenapparat und das Zungenbein der Wirbelthiere und Carl Gustav Carus’ entwicklungsgeschichtlicher Studie über die Ur-Theile des Knochen- und Schalengerüstes.706 Steht Carus’ Abhandlung explizit im Zusammenhang der Wirbeltheorie des Schädels,707 so changieren die anderen Studien in ihren beschreibend-empirischen Ausrichtungen zwischen naturphilosophischen Versatzstücken, methodisch unreflektierten Deskriptionen anatomischer Befunde und systematischer Beliebigkeit.708 Selbst ein erklärter Gegner naturphilosophischer Systembildungen wie Martin Heinrich Rathke,709 gleichwohl von Johannes Müller schon 1830 hoch gelobt,710 teilt die

 702 Vgl. Müller 1826, S. 9–15 und Müller 1830, S. VIIIff. 703 Zum Nachweis dieser Nähe zu Müller vgl. Roth 2004, S. 247ff. u. S. 386ff., der die eher spekulativen Assoziationen Döhners (1967, S. 142) philologisch manifestiert. 704 Vgl. P II, S. 880 u. S. 892 sowie MBA VIII, S. 192–194, S. 252 u. ö. 705 Vgl. erneut Johann Jakob Tschudi, zitiert nach Hauschild 1985, S. 392. 706 Vgl. Gottsche 1835; Bischoff 1832; Rathke 1832 sowie Carus 1828a. 707 Vgl. hierzu Mann 1992, S. 67f. sowie Roth 2004, S. 325ff. 708 Zu Bischoffs frühen Ausflügen in die hernach bekämpfte Naturphilosophie vgl. Giese 2007, S. 198. 709 Zu Rathke vgl. Menz 2000, spez. S. 34–73. 710 Vgl. Müller 1830, S. 2f.

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naturphilosophische Maxime Büchners, den Ausgang anatomischer Untersuchungen in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht beim Einfachen, den ursprünglichen Formen zu machen, ohne allerdings auf die begründungtheoretischen Dimensionen dieser spezifischen Evolutionskonzeption zu reflektieren: Stellen wir uns nun aber den Vorsatz, den Gesetzen nachzuforschen, die der thierischen Schöpfung zum Grunde liegen, so werden wir nicht lediglich nur die schon völlig ausgebildeten Thiere in’s Auge fassen müssen, sondern wir werden unsere Aufmerksamkeit auch den noch in der Bildung begriffenen zuwenden müssen. Denn ein Organ oder System, das uns bei einem schon ausgebildeten Thiere durch seine Zusammensetzung oder durch seine ganz ungewöhnliche Form, mitunter verwirrt, wird uns in allen seinen Verhältnisses und Beziehungen nicht selten verständlich, wenn wir gehörig dessen Entwickelung verfolgen, wenn wir es also von einem Einfachen sich allmählich in ein Zusammengesetztes umwandeln sehen.711

Dieses Postulat stellten auch Oken, Carus oder Wilbrand auf; anders als Rathke konnten sie es jedoch systematisch begründen. Rathkes prätendierte Pragmatik erweist sich bei näherem Zusehen jedoch als schlichter Begründungsmangel.712 Es lässt sich mithin vor dem Hintergrund der hier aufgeführten wichtigsten Theoriekonzepte einer allgemeinen und entwicklungsgeschichtlichen Naturforschung zwischen 1800 und 1840 keine Wissenschaftstheorie ausmachen, der Büchners Form der Naturforschung uneingeschränkt zuzuordnen wäre.713 Die Konzeption  711 Rathke 1832, S. IVf. 712 Zu den Dimensionen des Verzichts auf Erklärung beim Übergang von der Naturphilosophie zur analytischen Naturwissenschaft um 1840 siehe auch Breidbach 1988, S. 21ff. 713 Nur anmerkungsweise sei einer empiristischen Konzeption der zeitgenössischen Neurologie gedacht, weil sie von der MBA (VIII, S. 247ff., S. 252–254, S. 506–509 u. ö.; auf deren Grundlage Beise 2010, S. 92) zum entscheidenden Grundlagenmodell für Büchners Arbeiten erhoben wurde. So soll Büchner ausgerechnet den »Schlußsatz des Mémoire«, also seine Variante eines allgemeinen Naturgesetzes, »mit Bezug auf« Charles Bells Physiologische und pathologische Untersuchungen des Nervensystems (vgl. Bell 1836) formuliert haben (MBA VIII, S. 247). Einmal mehr war auch hier der Wunsch (nach einem empiristischen Büchner) der Vater des Gedankens. Denn Bell enthält sich als strenger Empirist und Empiriker der Neuroanatomie jeglicher Spekulationen über die Natur als Ganzes – genau das aber ist ein Zweck der Naturforschung nach Büchner. Bell seziert und analysiert darüber hinaus den neuronalen Apparat des menschlichen Körpers (vgl. Bell 1836, S. XI–XVI), um, auch mit Hilfe einzelner Experimente, dessen in sich hochdifferenzierte Wirkweisen nomologisch (Bell-Magendie-Gesetz) zu erfassen. Bell spricht ausdrücklich davon, dass diese analytischanatomischen Arbeiten auf praktische Zwecke, nämlich medizinische Therapien ausgerichtet seien (ebd., S. XVIIf.). Büchner hält den Ansatz beim menschlichen Nervensystem deshalb für verfehlt, weil der Forschungsstand der allgemeinen und vergleichenden Neuroanatomie und -physiologie noch viel zu dürftig sei, um diese komplexe Form zu erfassen, sodass er die anatomische Arbeit in neuronalem Zusammenhang auf Lebewesen niedrigerer Stufe für wichtiger hält – u. a. deshalb befasst er sich mit der Barbe. Büchner betreibt diese Forschungen auch nicht zu praktischmedizinischen Zwecken, sondern zur Ausgestaltung einer natürlichen Entwicklungs- bzw. Evolutionstheorie. Letztlich sei noch darauf hingewiesen, dass der philosophisch unbedarfte Bell – wie Liebig – an der Kategorie der »Lebenskraft« festhielt (vgl. ebd., S. 6), von der sich Büchner mit

  Naturphilosophie analytischer Realgenese seines Evolutionsmodells bringt ihn in die Nähe Okens und Carusʼ, auch wenn er – wie Wilbrand – die Begründungsinstanz dieser präformationistischen Konzeption nicht übernimmt; seine dualistische Epistemologie und Methodologie verbindet ihn mit Schmid und Fries, seine allgemeine Naturtheorie aber mit Schelling. Zu einem näheren Aufschluss über Büchners Naturforschung erweist es sich daher als erforderlich, eine systematische Rekonstruktion seiner Naturforschungen anzuschließen.

.. Zur Systematik der büchnerschen Naturphilosophie und -wissenschaft ... Die nomologische Einheit der Natur Die formative Grundlage der Naturforschung Büchners besteht in der axiomatischen Annahme der Geltung eines einzigen Gesetzes für die gesamte Natur;714 sowohl im Mémoire als auch in der Probevorlesung kommt Büchner explizit auf dieses Gesetz zu sprechen: La nature est grande et riche, non parce qu’à chaque instant elle crée arbitrairement des organes nouveaux pour de nouvelles fonctions; mais parce qu’elle produit, d’après le plan le plus simple, les formes les plus élevées et les plus pures.715 Diese Frage [der philosophischen Methode], die uns auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetze für die gesammte Organisation finden, und so wird […] das ganze körperliche Dasein des Individuums […] die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.716

Für eine angemessene Rekonstruktion der büchnerschen Naturforschung und ihrer Stellung im Tableau der Naturwissenschaften der 1830er Jahre ist es unerlässlich, dieses Gesetz in seinem Gehalt, seinem Status und damit in seiner Stellung im systematischen Gesamtgefüge der philosophischen Naturwissenschaft zu bestimmen.717 Denn Büchner stellt an diesen zentralen Passagen seiner Argumentation keineswegs einen nur topischen Bezug718 zu dem aus der philosophischen Tradition bekannten und bei Kant und Fries zu einem Prinzip der Natur bzw. der Naturforschung inthro Schelling und Wilbrand längst verabschiedet hatte. Kurz: Auch Bell ist für Büchners Naturphilosophie kein Kategorienlieferant, und zwar gerade weil er deskriptiver Empirist ist. 714 Dass diese Suche nach dem einen grundlegenden Gesetz zu den wichtigsten Prinzipien romantischer Naturforschung zählte, zeigt Höppner 2017, S. 90ff. 715 MBA VIII, S. 10037–41. 716 Ebd., S. 1551–7. 717 Vgl. hierzu in ersten Ansätzen die Studie von Reddick 1990, S. 327 sowie Stiening 1999, S. 103ff. und Roth 2004, S. 256–266. 718 So aber MBA VIII, S. 537, in der entstellenden Absicht, durch Geltungsentschärfung dieses Gesetzes Büchner in die Tradition der empiristischen Naturforschung einzuschreiben.

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nisierten Ökonomieprinzip her.719 Die »Sparsamkeit der Grundursachen« bei einer »Mannigfaltigkeit der Wirkungen«720 erlangt bei Kant den Status eines »inneren Gesetzes der Natur«721 und stellt somit – wie er ausdrücklich betont – nicht bloß einen »Handgriff der Methode« dar.722 Zwar firmiert dieser »ökonomische Grundsatz der Vernunft«723 im Rahmen der transzendentalen Dialektik nur als einer unter mehreren, auch bleibt er in der Kritik der Urteilskraft ein rein regulatives Prinzip der Urteilskraft für die empirische Naturforschung724 und ist daher nicht – wie bei Büchner – »Grundgesetz für die gesammte Organisation« der Natur. Dennoch kommt das Ökonomie-Prinzip auch bei Kant der Natur selber zu und hat noch beim Kantianer Jakob Friedrich Fries in der Mathematischen Naturphilosophie wie im System der Logik fundierende Geltung.725 Büchner formuliert hiermit also die praemissa maxima und das zentrale Telos seiner Naturforschung, weil jenes Urgesetz nur das formale Generierungsprinzip alles »körperlichen Daseins« darstellt, nach dem der evolutionäre Ausdifferenzierungsprozess bis hin zu den »höchsten und reinsten Formen« erfolgt. Laut Kant und Fries, die sich hier beide auf Newton beziehen,726 bezeichnet das Prinzip der »Sparsamkeit der Natur« eben jenes auch von Büchner entwickelte Verhältnis von minimalen Mitteln bei maximalen Zwecken, und es wird seit Ockham zu Recht als Ökonomieprinzip gefasst.727 Anders aber als für Ockham und Fries kommt diesem Prinzip nach Büchner – wie nach Kant – nicht ein methodologischer, sondern ein ontologischer Status zu.728 Die Aufgabe nun, die Büchner auf der Grundlage dieser Voraussetzungen der philosophischen Naturforschung gestellt sieht, besteht in der Formulierung eines materialen »Grundgesetze[s] für die gesammte Organisation«, das mit jenem formalen Urgesetz zusammenstimmt. Diese Aufgabe sieht er allerdings nur in ersten, wenngleich »bedeutenden« Ansätzen erfüllt. In der weiteren Folge der Probevorle-

 719 Zur Stellung des Ökonomieprinzips als einer der Natur selbst zukommenden Gesetzmäßigkeit bei Kant vgl. Düsing 1968, S. 38ff. 720 KrV B 689. 721 KrV B 678. 722 KrV B 690. 723 KrV B 678. 724 Zum gleichwohl prekären begründungstheoretischen Status des Ökonomiegesetzes bei Kant vgl. Bonsiepen 1997, S. 96ff. 725 Vgl. Fries 1967ff., VII, S. 334. 726 Zu diesem Zusammenhang vgl. Falkenburg 2000, S. 43f. 727 Vgl. hierzu Beckmann 1990, S. 191–207. 728 Vgl. hierzu schon Stiening 1999, S. 108–115 sowie Roth 2004, S. 256–266; insofern ist auch die These von P II, S. 894, Büchners »philosophische Voraussetzungen« hätten nur den »Status einer Hypothese«, unzutreffend; MBA (VIII, S. 537 u. S. 544) enthält sich in ihren Kommentaren und Interpretationen einer Bestimmung des Gesetzesgehaltes ebenso wie sie versucht, die fundierende Bedeutung dieses allgemeinen Naturgesetzes zu depotenzieren.

  Naturphilosophie sung betont Büchner, dass in Botanik und Zoologie, Physiologie und vergleichender Anatomie schon Teilbereiche der Natur als Zusammenhänge erfasst worden seien, und nennt in diesem Zusammenhang die allgemeine ›Wirbeltheorie des Schädels‹, die »Metamorphose der Pflanze«, die »Metempsychose des Fötus« und »die Repräsentationsidee Okens«.729 All diese Theoriebeispiele sind ihrer Systematik und Semantik nach relativ ähnliche, zumeist auf Oken, Carus oder Wilbrand zurückgehende Entwicklungskonzeptionen, die unterschiedliche Teilbereiche der Naturforschung bzw. deren Disziplinen betreffen. Das Verhältnis dieser Teilgesetze der Natur als ganzer zum gesuchten Grundgesetz wird mit den Metaphern von »Strom« und »Quelle« gefasst,730 d. h. als eine Ableitung bestimmt: aus dem noch gesuchten materialen Grundgesetz sollen jene speziellen Gesetze hervorgehen können. Aufgrund dieses systematischen Zusammenhangs dürfen sich die genannten und weiterhin gesuchten Teilgesetze nicht gegenseitig widersprechen, um ihren nomologischen Charakter aufrechtzuerhalten. Wenn Büchner also von einer »nothwendige[n] Harmonie in den Aeußerungen eines und desselben Gesetzes« in der Natur spricht,731 dann geht es ihm um eben diese Kompossibilität der Naturgesetze, die als Ableitungen aus einem übergreifenden Grundgesetz keine Widersprüche aufweisen dürfen. Dieses logische und methodische Postulat der Widerspruchsvermeidung ruft auch die scientific community der Naturforscher zu angemessen Formen von Kooperationen auf. Das gesuchte »Grundgesetz für die gesammte Organisation« muss also dem formalen Kriterium des Ökonomieprinzips entsprechen, das nach Büchner einen durch Linné entworfenen und von Kant weiterentwickelten ontologischen Status innehat,732 d. h. der Natur selber zukommt. Weil die Natur mit den einfachsten Mitteln die komplexesten Formen hervorbringt, muss dieses Grundgesetz in materialer Hinsicht so gefasst werden, dass aus ihm die von Büchner als wahre Teilgesetze genannten Theorien ableitbar werden. Büchner geht es mit seinem Programm mithin um eine Vereinheitlichung der Naturforschung durch Vermittlung ihrer Ergebnisse auf der Grundlage der erznaturphilosophischen Voraussetzung von der Einheit der Natur, die nicht als abstrakte Prämisse gesetzt, sondern als konkretes Ziel aller philosophischen und so einzig wahren Naturforschung entwickelt wird.

 729 MBA VIII, S. 15542–45. 730 Ebd., S. 15528f.. 731 Vgl. MBA VIII, S. 15511f.. 732 Zum Ökonomieprinzip bei Linné vgl. Jahn 32004b, S. 235f.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

... Das Ökonomieprinzip und das »Gesetz der Schönheit« Nun bestimmt Büchner jenes bekannte formale Urgesetz, das er als Ökonomieprinzips konkretisiert, auch als »Gesetz der Schönheit«.733 Schön sind nach Büchner im natürlichen Zusammenhang mithin die Formen und Produkte eines Generierungsprinzips, das eine möglichst effiziente Mittel-Zweck-Relation ausbildet. Büchners ›explizite Ästhetik‹ bestimmt Schönheit nomologisch als rational rekonstruierbare Relation organisierter und bestimmbarer Prozessualität und den aus dieser hervorgehenden Produkten.734 Der Naturforscher entwickelt hiermit zugleich einen ontologischen Schönheitsbegriff, der allerdings formal restringiert ist,735 weil er sich zu materialen Prinzipien oder Gehalten des Schönen nicht äußert – bis auf den Sachverhalt, dass es sich um den Bereich des Naturschönen handelt. Alle Versuche, Büchners ›implizite Ästhetik‹ zu erfassen,736 müssen bei dieser ebenso komplexen wie enigmatischen Bestimmung der Schönheit durch den naturphilosophisch arbeitenden Autor beginnen. Dabei erweist sich eine Kontextualisierung als besonders problematisch, weil es zwar eine Fülle von Definitions- oder Begründungsversuchen des Naturschönen im frühen 19. Jahrhundert als Blütezeit der philosophischen Äs 733 Zu Recht schreibt schon Döhner 1967, S. 176: »Büchners Begriff der ›Schönheit‹ ist demgegenüber mit dem ›Urgesetz‹ identisch.« Allerdings erweisen sich die anschließenden Interpretationen dieser Konstellation als irrig, weil Döhner weder erkennt, dass das Gesetz der Schönheit mit dem Ökonomieprinzip identisch ist und dennoch nur die formale Seite des nomologisch gefassten Naturganzen bestimmen soll, noch in der Lage ist, zwischen einem ontologischen Status überhaupt und einer materialistischen Variante desselben zu unterscheiden. Weil aber nach Döhner der Begriff der Schönheit bei Büchner nicht mehr ein bloßes Prinzip der Urteilskraft ausmache, soll er Moment einer materialistischen Transformation des Idealismus darstellen. Dieses philosophiegeschichtliche und systematische Durcheinander reproduzierte und verstärkte Mayer (1979a, S. 80 u. S. 85), indem er dem büchnerschen Schönheitsbegriff den Status einer »ontologische[n] Faktizität« (ebd., S. 85) attestiert – was immer genau das ist –, und diese Konstruktion auch noch mit Verbindungen zur politischen Position Büchners versieht. 734 Weil Büchners Schönheitsbegriff in seinem Zentrum eine Form von Prozessualität erfassen will, kann der Spinozismus mit seiner statischen Ontologie für dieses Theorem keine Referenz darstellen. Dass zudem der von Büchner verwendete Harmoniebegriff mit seiner Schönheitskonzeption nichts zu tun hat, sondern mit seiner Vorstellung der Natur als gesetzmäßig organisiertem Ganzen, wurde oben schon gezeigt. Zur Unübersichtlichkeit in der Büchner-Forschung, die den Schönheit- und Harmoniebegriff Büchners identifiziert und dieses Amalgam auch noch spinozistisch interpretiert, vgl. P I, S. 840. 735 So auch zu Recht Borgards 2007, S. 448; weil der Interpret den rein formalen Charakter des büchnerschen Schönheitsbegriffs richtig benennt, sind seine anschließenden Ausführungen zu einer hieraus für Büchner abzuleitenden »Physio-Ästhetik« und Mitleidsethik mit dem Zentrum einer subjekttheoretischen Nobilitierung des Schmerzes jedoch abwegig. Aus einem formalen Konzept ist der Inhalt des Schmerzes nicht herauszuklauben. Weder hat Büchner im Medium des Schmerzes ein körperliches Substitut für Kants transzendentale Subjektkonstitution entworfen, noch ist der Schmerz für Lenz bewusstseinskonstitutiv. Er ist kurzzeitiges Instrument der Rettung des empirischen Bewusstseins einer kranken Seele vor dem Selbstverlust. 736 Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Meier 1983 und Schwann 1997.

  Naturphilosophie thetik gibt,737 keine aber – schon gar nicht die Goethes738 oder Carl Gustav Carus’739 – auch nur Annäherungen an Büchners Vorstellungen aufweisen.740 Die schon vor einigen Jahren vom Verfasser vorgeschlagene Verbindung zu Leibniz, den Büchner im Rahmen seiner philosophiehistorischen Vorlesungen zu bearbeiten gehabt hätte,741 und der als einer der wenigen bekannten Theoretiker vor Büchner eine unmittelbare Identität zwischen Ökonomieprinzip und Schönheitsgesetz entfaltete, ist unwiderlegt geblieben.742 Es ist also weiterhin von einem in diesem Zeitraum nicht unüblichen Leibnizianismus Büchners in Fragen einer allgemeinen Natur- und Schönheitstheorie auszugehen.743 ... Selbsterhaltung versus Mechanismus Büchner reichert diese allgemeinsten Bestimmungen seiner Naturforschung sowie der ihr zugrundeliegenden Naturvorstellung mit weiteren charakteristischen Momenten an: So betont er ausdrücklich, dass »für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht« werde,744 d. h., dass das formale Urgesetz gerade nicht mit Hilfe der Kategorie des Selbsterhaltungstriebs erfasst werden kann. Obwohl für Büchner alle natürlichen Entitäten »um [ihrer] selbst willen da« sind, mithin als Selbstzweck bestimmt werden,745 wird ihnen ein essentieller Selbsterhaltungstrieb abgesprochen, d. h. sie werden weder durch sich selbst hervorgebracht noch durch sich selbst im Leben  737 Vgl. hierzu u. a. Hilmer 1997, S. 79ff.; Dohrn 2003, S.124ff. und Kablitz 2008, S. 167f. 738 Zwar denkt auch Goethe Naturschönheit als Prozess (vgl. Breidbach 2006, S. 268ff.), doch fehlt dieser empirisierenden Metaphysik jeder Bezug zu einer formalen Restriktion des Begriffs. Auch wird das Ökonomieprinzip bei Goethe nicht verhandelt. 739 Zur These einer systematischen Verbindung des büchnerschen Schönheitskonzeptes an dieser Stelle der Probevorlesung zu Carl Gustav Carus’ platonistischer Poetik vgl. Roth 2004, S. 257–263 u. S. 478 sowie MBA VIII, S. 544. Diese These ist allein deshalb zu falsifizieren, weil Carus mit dem Begriff der Schönheit das Kriterium der Vollkommenheit verknüpft, die Büchner – wie im Zusammenhang seines philosophischen Wissens gesehen – als Begriff und Kategorie nicht nur der Ästhetik, sondern auch der Metaphysik und der Naturphilosophie grundsätzlich ablehnt. Zu falsifizieren ist diese These darüber hinaus, weil Carus einen materialen Schönheitsbegriff ausführt, der zudem mit dem Ökonomieprinzip nicht das Geringste zu tun hat. Kurz: Carus ästhetischer »Platonismus« (vgl. hierzu Müller-Tamm 1995, S. 14) stimmt mit Büchners leibnizianisierender Naturästhetik in keinem Punkte überein. 740 Auch ein Bezug auf den Geißener Philosophiedozenten Joseph Hillebrand hilft nicht weiter, hatte dieser doch die von Büchner entworfene »absolute Naturschönheit« als inexistent zurückgewiesen; vgl. Hillebrand 1830, S. 158. 741 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 115ff.; Stiening 2005, S. 234f. sowie Taylor 2005, S. 179ff. 742 Zu einer positiven Aufnahme der These vom Leibnizbezug der Naturforschungen Büchners vgl. Taylor 2003, S. 296. 743 Vgl. hierzu die Studie von Taylor 2005. 744 MBA VIII, S. 1553–5; Hvhb. von mir. 745 Ebd., S. 15343.

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erhalten. Diese eigentümliche Negation des Selbsterhaltungsprinzips entpuppt sich bei einem näheren Blick auf die zeitgenössischen Kontexte als eine höchst eigenständige, wenn nicht eigenwillige Prämisse. Denn Selbsterhaltung, u. a. für dʼHolbach Joachim Dietrich Brandis das »Wesen des lebendigen Organismus«,746 ist für Büchner erklärtermaßen nicht der Wirkmechanismus zur Hervorbringung und Erhaltung der Essenz sowie der Existenz eines natürlichen Organismus. Diese Negation der ›Selbsterhaltung‹ als Prinzip der Natur zieht auch zwischen Büchner und den unterschiedlichsten Vertretern der Naturforschung im frühen 19. Jahrhundert eine deutliche Grenzlinie. So gilt die Selbsterhaltung als grundlegendes Prinzip der belebten Natur u. a. für Cuvier,747 Fries748 oder Hegel749 und Schelling.750 Auch für Herbart gilt, dass sich die an sich relationslosen substanziellen Naturphänomene in »Selbsterhaltung« und »Störung« zueinander in Beziehung setzen, und das heißt in einem Mechanismus des Hemmens und Verbindens.751 Selbst Dietrich Georg Kieser schreibt in seinem von Büchner für die Lenz-Erzählung konsultierten Standardwerk System des Tellurismus oder Thierischen Magnetismus ausdrücklich einem »Selbsterhaltungstrieb« den Status zu, wesentliches Moment des Lebensprozesses zu sein.752 Und noch Joseph Hillebrand führt in seiner Anthropologie von 1822 aus: Eine der vorzüglichsten Eigenthümlichkeiten des Organischen thut sich in dem selbständigen Streben nach Selbsterhaltung, oder in dem Vermögen der Reproduktion (der weitesten Bedeutung nach) kund (in der Ernährung, dem Wachstume, der Fortpflanzung), einem Vermögen, von dem auch nicht das fernste Analogon bei den unorganischen Wesen entdeckt werden kann.753

Selbst der von Büchner hochgeschätzte Alfred de Musset lässt in seinen Confessions dʼun enfant du siècle den väterlichen Freund des Protagonisten, Desgenais, ausführen: La nature, avant tout, veut la reproduction des êtres; partout, depuis, le sommet des montagnes jusqu’au fond de l’Océan, la vie a peur de mourir. Dieu, pour conserver son ouvrage, a

 746 dʼHolbach 1966, I, S. 41ff.; Brandis 1833, spez. S. VIII. 747 Siehe Cuvier 1798, S. 5. 748 Fries 1967ff., XIII, S. 593. 749 Hegel 1986, IX, S. 335. 750 Schelling 1985, I, S. 278. 751 Vgl. hierzu u. a. Herbart 1993, S. 276–279; zur Genesis des Selbsterhaltungsbegriffs in der Naturphilosophie der Frühen Neuzeit vgl. Mulsow 1998; vgl. auch Mulsow 1996, Sp. 393–408. 752 Kieser 1826, I, S. 3f.; zur prägenden Stellung Kiesers in dieser Debatte vgl. Schweizer 2007 sowie Schweizer 2008, S. 694–697. 753 Hillebrand 1822/23, I, S. 163.

  Naturphilosophie donc établi cette loi, que la plus grande jouissance de tous les êtres vivants fût l’acte de la génération.754

Mit seiner eigenwilligen Zurückweisung der Selbsterhaltung als Prinzip der Natur steht Büchner in der zeitgenössischen Naturwissenschaft und Philosophie ebenso allein wie in der Anthropologie der Zeit.755 Wenn Büchner allerdings im Lenz von einem »Trieb der geistigen Erhaltung« spricht, die den Protagonisten in der Abwehr des Wahnsinns jagte,756 so zeigt dies an, dass die vom Autor vertretene Vermögenspsychologie anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist als die Natur.757 Nur für das »körperliche Dasein des Individuums« gilt, dass es nicht auf seine Selbsterhaltung ausgerichtet, nicht durch sie als Prinzip bestimmt wird. Büchner entwirft diese Zurückweisung des Selbsterhaltungsprinzips in der Natur jedoch nicht aus idiosynkratischen oder gar antimodernistischen Impulsen;758 seine Argumentation basiert auf einer Alternativkonzeption für Entstehung und Erhaltung des natürlichen Individuums, die zu dieser Negation zwangsläufig führt. Denn er ergänzt die Formulierung des Urgesetzes dahingehend, dass das körperli-

 754 Musset 2002, S. 58. 755 Das bereitet der Forschung offenbar so große Probleme, dass sie diese These Büchners weitgehend unerwähnt lässt; Roth 2004, S. 193, S. 219, S. 229, S. 231, S. 239 u. ö. äußerst sich zwar zu einer Reihe von Selbsterhaltungstheoremen in der Naturphilosophie und -wissenschaft; zu Büchners Negation dieses Prinzips wird allerdings auch in den Kommentarteilen zu dieser Passage (vgl. ebd., S. 478) keine Stellung genommen. Auch die MBA (VIII, S. 543) scheint die Brisanz der Thematik nicht zu erkennen oder durch Schweigen zu übergehen. 756 MBA V, S. 4712 u. 22f.. 757 Zum Nachweis einer substanziellen Distinktion zwischen Natur und Kultur bei Büchner vgl. in ersten Ansätzen Stiening 2006a sowie Roth 2016. 758 So die allerdings ungenügend begründete These von Broese 2006 in Bezug auf Schopenhauer, der die »Vorrangstellung des Selbsterhaltungstheorems«, das als Kern »neuzeitlicher Rationalität« interpretiert wird, überwunden habe (ebd., S. 230). Schon die Voraussetzung aber, dass die Kategorie der Selbsterhaltung das Wesen neuzeitlicher Vernunftmodelle ausmache, trifft nicht zu. Für Hobbes ist die Selbsterhaltung ein natürlicher Trieb, der erst durch eine komplexe Ableitung zu einer gerechtfertigten Maxime praktischer Anthropologie wird. Von neuzeitlicher Rationalität (im theoretischen, nicht im praktischen Sinne) ist zudem bei Hobbes weder an sich noch im Hinblick auf das Selbsterhaltungstheorem zu sprechen (vgl. hierzu Stiening 2005a). Und dass Schopenhauer die Selbsterhaltung als Fundierungstheorem praktischer Anthropologie im § 27 der Welt als Wille und Vorstellung (Schopenhauer 1991, I, S. 198–215) überwunden habe, widerspricht ebenfalls den Textbefunden; dort wird vielmehr »die Erhaltung des Individuums« als Bestreben aller organischen Natur zu einer Objektivation des Willens, d. h. zur Realisation der entscheidenden metaphysischen Instanz des Systems erhoben, selbst die menschliche Erkenntnis wird ihrer theoretischen Selbständigkeit beraubt und zu einem praktisch interpretierten »Mittel zur Erhaltung des Individuums« systematisch integriert. Von einer ›Überwindung der Selbsterhaltung‹ als Kategorie mithin keine Spur. Daher ist auch im Zusammenhang der Selbsterhaltungsdebatte des frühen 19. Jahrhunderts eine Nähe zwischen Schopenhauer und Büchner nicht zu belegen (vgl. dagegen Faber 2002 und Schwann 2003).

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che Dasein des Individuums nur zu begreifen sei als »Manifestation« dieses Urgesetzes und führt zur Erläuterung dieses Manifestationsbegriffes aus: Alles, Form und Stoff, ist für sie [die von Büchner als einzig wissenschaftlich bezeichnete philosophische Methode] an dies Gesetz gebunden. Alle Funktionen sind Wirkungen desselben.759

Alle natürlichen Entitäten sind in ihrer formalen und materialen Existenz an ein Kausalitätsprinzip »gebunden«, das ein Selbsterhaltungsprinzip erübrigt. Denn die Besonderheit dieser Kausalitätskonzeption besteht darin, dass das Verursachungsprinzip mit jenem Urgesetz identisch ist. Die einem geschlossenen Kausalzusammenhang der Naturdinge notwendig eignende Kategorie einer causa prima ist als Grundgesetz selbst der Natur immanent. Denn »[a]lles, Form und Stoff, ist für sie an dies Gesetz gebunden. Alle Funktionen sind Wirkungen desselben.« Für Büchner besteht das Problem eines kausalen »progressus ad infinitum« der endlichen Dinge eben deshalb nicht, weil die einzelnen Naturphänomene nicht untereinander kausal verbunden,760 sondern als einzelne Manifestationen stets kausal an jenes »Urgesetz« gebunden bleiben, das der gesamten Organisation der Natur als Ursache zugrunde liegt. Dieses Grundgesetz ist mithin nicht causa prima, obwohl causa immanens,761 sondern causa sola, einzige Ursache der Natur in allen ihren »Manifestationen«. Der hier vorausgesetzte Gesetzesbegriff wirkt zunächst irritierend. Denn in der neuzeitlichen Philosophie enthält der Begriff des Gesetzes zwar die »Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige (mithin nach einerlei Art) [...] gesetzt werden muß«,762 d. h. den notwendigen Zusammenhang natürlicher Erscheinungen. »Nichts aber« – so betont der Philosophiehistoriker Michael Hampe – »geschieht infolge eines Gesetzes, bewirkt durch ein Gesetz, sondern immer nur gemäß dieses oder jenes Gesetzes.«763 Bei Büchner jedoch ist »[a]lles, Form und Stoff« an ein Gesetz als »Wirkungen desselben« gebunden. Dieses Konzept, das Büchner von naturphilosophischen Modellen der Zeit deutlich abhebt, lässt sich allerdings mit einem Rekurs auf seine philosophiehistorischen Studien erläutern: Denn im Rahmen seiner Exzerpte zur griechischen Philosophie hatte sich der angehende Privatdozent der Philosophie mit einem Autor befasst, der ebenfalls eine rationale Gesetzmäßigkeit zur Ursache allen Seins erhoben hatte: Heraklit. Tatsächlich scheint Büchners Grundgesetz der gesamten Orga 759 MBA VIII, S. 1557–9. 760 Dass auf der Grundlage des universellen Gesetzes der Selbstzweckmäßigkeit allen Seins eine solche Version der Kausalitätsrelation als Grundkategorie wissenschaftlicher Naturforschung zustande kommt und eine absolute Vereinzelung des Einzelnen bedingen muss, hat schon Gaede 1979, S. 51f. angedeutet. 761 Insofern ist Büchners Metaphysik durchgehend immanent und somit keineswegs transzendent, wie Döhner 1967 S. 174ff. annimmt; vgl. auch und noch verstärkt Döhner 1982, S. 126–132. 762 KrV A 113. 763 Hampe 2007, S. 15f.

  Naturphilosophie nisation in seiner Logik, seinem Geltungsstatus und vor allem seiner Wirkungsweise dem herakliteischen Logos-Konzept wenigstens verwandt zu sein. Denn auch Heraklit suchte – nach der Lesart Tennemanns764 – »eine Urkraft« und fand sie im jenem ontologischen Prinzip des Logos, der als Verbindung von Identität und Differenz alle Erscheinungen der Natur verursachen können soll: Alles ist also durch diese Gesetze des Streites und der Einigkeit.765

Mit dieser Konzeption, die die Natur zu einer nomologisch-dynamischen Substanz erhebt, gelingt Büchner eine Vermittlung der naturphilosophischen Prämisse von der Einheit der Natur mit seinem in den philosophischen Skripten unübersehbaren Interesse an der begründeten Abstraktion von jeglicher Gottesinstanz. Drängten selbst die spekulativen Naturphilosophien – zumindest bei Oken und Schelling – zum Rekurs auf eine, wenn auch innerweltliche Gottesinstanz,766 die sich von der Natur (selbst als natura naturans) noch unterscheidet, so kann Büchner mit seiner Erhebung des Naturgesetzes selbst zur grundlegenden Ursache »alles dessen, was ist,« auf diese Instanz verzichten. Zugleich kann er mit jenem streng immanenten Kausalitätskonzept einen formalen Begriff von einer Ganzheit der Natur entwerfen, der die empirische Naturforschung nicht nur nicht überflüssig macht, sondern ihr die entscheidende Aufgabe zuweist, jene materiale Dimension der nomologisch geordneten Natur zu ermitteln. Büchner will auf dem Gebiet der evolutionären Neurologie zur Konkretisierung dieses Gesetzes einen Beitrag leisten. Das ist kein naturphilosophisches Kolorit oder existenzsichernde Rhetorik im Angesicht Okens,767 sondern wissenschaftstheoretischer Grund und Zweck von Büchners Naturforschung.768 Dabei bleibt die als immanente Substanz und nomologische organisierte Kausalität gedachte Natur als Einheit substanziell unterschieden vom menschlichen Geist, dessen Generierungsprinzipien und interne Organisationsformen systematisch von der Natur abweichen. Büchner verhält sich zu diesem in seinen Einzelkonzepten angelegten Dualismus von Natur und Geist theoretisch nicht; für eine angemessen begründete, kohärente Fundierungstheorie fehlte ihm die Lebenszeit. Dass dieses Programm allerdings nicht ohne schlichte Setzungen im Bereich der rationalen Konstruktionen auskommt, liegt auf der Hand: Warum nämlich das Öko-

 764 Die Exzerpte Büchners zur griechischen Philosophie werden erst allmählich vom Verdikt befreit, das »Niveau einer bloßen Abschrift« aus Tennemann nicht zu überschreiten; vgl. hierzu zu Recht Hauschild 1993, S. 527; Stiening 2012. 765 MBA IX.1, S. 38515f.; Hvhb. von mir. 766 Vgl. Mischer 1997, S. 32f. 767 So ein beliebtes Argument der Büchner-Forschung, die sich mit der unabweisbaren Tatsache einer naturphilosophischen Systematik der Naturforschung Büchners nicht abfinden will, vgl. Hauschild 1993, S. 523. 768 Vgl. hierzu auch Stiening 2006a.

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nomieprinzip als ontologisches, wenn auch formales Naturgesetz Gültigkeit beansprucht, wird nicht erläutert. Leibniz konnte für die Geltung dieses Prinzips als eines ontologischen immerhin auf eine machtvolle Gottesinstanz zurückgreifen, und Kant leitete die »Sparsamkeit der Natur« aus einer allgemeinen Teleologie der Natur zielsicher ab; Büchner hingegen müssen wir diese axiomatische Voraussetzungen seiner empirischen Naturforschung ›glauben‹. ... Büchners Modell natürlicher Evolution Einen Schein wissenschaftlicher Evidenz stellt Büchner jedoch über die Entfaltung eines weiteren systematischen Moments seiner allgemeinen Natur- und Naturwissenschaftskonzeption her. Gemeint ist hiermit das schon mehrfach skizzierte Modell natürlicher Entwicklung, das Büchner seinen Forschungen zugrunde legt. Ein erneuter Blick auf den letzten Satz des Mémoire bietet einigen Aufschluss: »Die Natur ist groß und reich [...], weil sie nach dem einfachsten Plane die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.«769 Die »Risse und Linien« der Probevorlesung sind also Grundrisse und -linien, die einen Plan der Natur konturieren und somit als deren Organisations- und Strukturprinzipien zu bestimmen sind.770 Wichtig ist, dass diese Prinzipien möglichst einfach sein sollen, d. h. dem Grundsatz größtmöglicher Simplizität folgen. Aus diesen quantitativ wie qualitativ möglichst einfachen Prinzipien sollen nun die höchsten und reinsten Formen der Natur hervorgehen, d. h. sich durch sie und in ihnen realisieren. Für deren Verständnis gilt, dass diesem Formbegriff nicht jene Bedeutung zukommt, die ihm im Rahmen einer transzendentalen oder idealistischen Philosophie zugeschrieben wird, der stets korrelativ zur Kategorie des Stoffs bestimmt wurde – auch wenn Büchner genau diese Semantik im folgenden Satz verwendet. Vielmehr sind an dieser Stelle Ausformungen gemeint, konkrete Erscheinungen der Natur, die eine nähere Bestimmung durch ihren Reinheitsgrad sowie ihre Stellung innerhalb einer stufenartigen Hierarchie der Natur erfahren. Insbesondere diese Hierarchie der Naturphänomene – der relationale Begriff »höchste Formen« setzt die Existenz niederer voraus771 – deutet auf eine Grundkategorie der Naturphilosophie und -wissenschaft hin, die spätestens seit Leibniz772 die Forschung antreibt: die Stufenleiter der Natur, oder – in Büchners Formulierung – die »stufenweise Betrachtung der Organismen«.773

 769 MBA VIII, S. 10141–44. 770 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 108 sowie Roth 2004, S. 263–266. 771 So heißt es auch im Lenz, dass das kosmologische Ganze als eine »unaussprechliche Harmonie, ein Ton, eine Seligkeit« sich in »höhern« und »niedrigen Formen« realisiere, vgl. MBA V, S. 3630–32. 772 Schon Kant weist in der KrV B 696 auf Leibniz als Inaugurator dieses vom Kontinuitätsbegriff abgeleiteten Konzepts der Stufenleiter hin, wenn er das »von Leibniz in Gang gebrachte und durch Buffon trefflich aufgestutzte Gesetz der kontinuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe« zugleich als

  Naturphilosophie Tatsächlich liegt dieses Modell der büchnerschen Dissertation zugrunde, da sie den Nachweis der Stellung des Nervensystems der Barbe innerhalb der Naturhierarchie zu erbringen sucht: Il s’agit maintenant de déterminer à quelles parties du système nerveux des animaux placés plus haut dans l’échelle on peut comparer les nerfs dont nous venons de donner la description.774

Mithilfe dieser das Naturganze betreffenden Organisationskategorie sollte ein systematischer Zusammenhang der Komplexitätsniveaus aller Naturerscheinungen hergestellt werden, nach der die basalen, einfachsten Elemente mit den ausdifferenziertesten Organismen zu vermitteln wären. Wie erwähnt, galt für eine Reihe einflussreicher naturphilosophischer Systeme des frühen 19. Jahrhunderts dieses hierarchische Natursystem als statische Konstruktion.775 Die Natur war dieser Annahme zufolge von Anfang an so, wie sie sich uns heute noch präsentiert, allerdings dergestalt strukturiert, dass sich von den basalen Momenten bis zu den »höchsten Formen« ein lückenloser begrifflicher Zusammenhang ergibt.776 Diese Vorstellung veränderte sich seit dem späten 18. Jahrhundert durch die These einer realgenetischen Dynamisierung der Naturhierarchie: Die je komplexeren Formen sollten sich nunmehr in einer tatsächlich zeitlichen Sukzession nach und aus den zuvor vorhandenen einfacheren Phänomenen entwickeln.777 Dabei bildeten sich zweierlei Formen heraus, die Wirkmechanismen dieser zeitlichen Ausdifferenzierung zu begründen:778 Entweder man nahm an, dass durch einen Prozess synthetischer Entwicklung die jeweiligen Spezifitäten einer höheren Stufe durch äußere Einflüsse (natürlicher oder auch übernatürlicher Art) als tatsächlich neue Elemente zu den basaleren Stufen hinzukämen und so substanziell neue Arten entstünden; dieses Modell konturierte der Lamarckismus. Oder aber  »treffliches regulatives Prinzip der Vernunft« bezeichnet. Zu Leibniz’ Gesetz der natürlichen Stufenleiter vgl. auch Lovejoy 1985, S. 176ff.; zur Stellung des Theorems der scala naturae in der Naturforschung des 18. Jahrhunderts vgl. Diekmann 1992. 773 MBA VIII, S. 15917f.. 774 Ebd., S. 6630–32. 775 Hierzu müssen vor allem die naturphilosophischen Systeme Schellings, Okens und auch Hegels gezählt werden, die sich vehement gegen die sich durchsetzende Vorstellung einer realgenetischen Evolution zu erwehren suchten. Zum zähen Übergang zu realgenetischen und transformationistischen Vorstellungen der Naturgenese vgl. Lepenies 1978, spez. S. 52ff. 776 Vgl. hierzu die eindeutige Formulierung Hegels: »Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee. Die Metamorphose kommt nur dem Begriff als solchem zu, da dessen Veränderung allein Entwicklung ist.« (Hegel 1986, IX, S. 31). 777 Vgl. hierzu Lepenies 1978, S. 56ff.; Breidbach 1986 sowie Mischer 1997, S. 165ff. 778 Zum Folgenden vgl. auch Mischer 1997, S. 168–173 sowie Breidbach 1986, S. 82–95.

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man vertrat die Ansicht, dass das je Eigentümliche einer höheren Stufe in der ihr vorhergehenden als Möglichkeit – d.h. idealiter – vollständig enthalten sei, ja alle Stufen in potentia in der ersten präformiert seien; dieses Modell favorisierten Naturphilosophen wie Carus, Schubert oder Oken. Büchners Naturphilosophie basiert nun eindeutig auf der präformationistischen Variante der dynamischen Naturstufenvorstellung, nach der sich die Evolution in einem empirisch real verstandenen, gleichwohl analytischen Entwicklungsprozess realisiert. Realgenetisch ist dieses Verständnis, weil es eine tatsächlich zeitliche Aufeinanderfolge der höheren Komplexitätsstufen aus den niedrigeren Formen annimmt; analytisch ist es insofern, als die in der ursprünglichen Substanz enthaltenen Möglichkeiten gleichsam in einem Analyseprozess realisiert werden. Wie in den Monaden Leibnizens sind in den substanziellen Ursprungsformen Büchners alle ausdifferenzierten Eigenschaften ihrer höheren Stufen und das Programm ihrer sukzessiven Realisation enthalten. Dabei ist zu konstatieren, dass Büchner die allen sonstigen präformationistischen Entwicklungstheorien eignende Gottesinstanz ersetzt durch eine nomologische Instanz, aus der und gemäß der die Natur in ihren einzelnen Erscheinung hervorgehen können soll. Diese substanzialistische, dezidiert antiepigenetische Evolutionstheorie markiert erneut – wie schon in Zusammenhang der Negation des Selbsterhaltungstriebs – eine klare Grenzlinie zwischen Büchners Naturtheorie und seiner Vorstellung von der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Zumindest für die Verstandesund Bildungsleistungen sowie für die moralischen Auffassungen des Menschen gilt nach Büchner – wie im Zusammenhang seines philosophischen Wissens rekonstruiert –, dass sie weitgehend durch »äußere Umstände« hervorgerufen werden.779 Im Hinblick auf die intellektuellen und moralischen Befähigungen des Menschen ist Büchner mithin ›Epigenetiker‹. Seine allgemeine Naturtheorie und seine Sozialanthropologie sind mithin nicht – wie in der Forschung häufig angenommen780 – auseinander abzuleiten. Deutlich wird die Geltung des präformationistischen Evolutionsmodells für die Natur – wie schon skizziert – an der in der Probevorlesung ausgeführten evolutionären Neurologie und Vermögenspsychologie. Das Sinnesvermögen bildet in seinen höheren Formen, wie »Sehen, Hören, Riechen, Schmecken«, nur »Modificationen dießes allgemeinen Sinnes«, des so genannten »Gemeingefühl[s]«, aus.781 Dieses Gemeingefühl als ursprüngliche, evolutionär vorhergehende Form sinnlicher Wahrnehmung entfaltet als Substanz aus sich heraus jene höheren Formen, die – das

 779 Vgl. Brief an die Familie; P II, S. 37824–30. 780 Vgl. hierzu Roth 2016 sowie meine Ausführungen und Darstellungen in Kap. 4. 781 MBA VIII, S. 15916–20. Zur Theorie und Geschichte des Gemeingefühls vgl. Müller-Tamm 1995, S. 83–96 sowie Fuchs 1997, S. 89–102.

  Naturphilosophie betont Büchner ausdrücklich – »nichts neu Hinzugefügtes« seien.782 Dass Modifikationen in den Bestimmungen ihrer Substanz analytisch enthalten sein müssen, um ihrem begriffslogischen Status zu entsprechen, hatte Büchner bei Spinoza gelernt, den er einige Wochen zuvor bearbeitet hatte.783 In evolutionstheoretischer Hinsicht ist diese Aussage die zentrale Passage der philosophischen Naturforschung Büchners. Daher richtet sich die kritische Ausführung explizit gegen die Argumente synthetischer Evolutionstheorie im Sinne des Lamarckismus. Als »Modificationen in einer höheren Potenz« sind die fünf Sinne in potentia im allgemeinen Sinn enthalten, aus dem heraus sie sich als »feinere Blüthen« ›aufblättern‹,784 ohne allerdings die substanziellen Eigenschaften des Gemeingefühls vollständig aufzuheben. Zwar können – wie es im Lenz in enger Anlehnung an Büchners evolutionäre Vermögenspsychologie heißt – die rationalen Befähigungen des Menschen jenen »elementarischen Sinn« zunehmend ›abstumpfen‹785, doch bleibt das Gemeingefühl letztlich durch seinen substanziellen Charakter unaufhebbar786 und kann sich beispielsweise in somnambulen Zuständen unverändert realisieren. Das Naturleben auf jeder Stufe der Leiter ist aufgrund der analytischen Verfasstheit des Entwicklungsprozesses daher Notwendigkeit des Daseins alles Vorhergehenden, Wirklichkeit des Daseins des je Eigentümlichen und »Möglichkeit des Daseins«787 höherstufiger Formen. Eine gewichtige Konsequenz dieser Evolutionstheorie besteht darin, dass in dieser sich entwickelnden Natur nichts aussterben kann788 – eine These, die insbesondere für das Verhältnis zwischen Büchners Naturwissenschaft und Politik von erheblicher Bedeutung sein wird. ... Exkurs: Büchner und Darwin – »Unterschiedenes ist gut« Es gehört zu den aufschlussreichen Kontingenzen der wissensgeschichtlichen Perspektive der vorliegenden Arbeit, dass, während Büchner im Oktober 1835 letzte Überlegungen zu seinem letztlich evolutionstheoretischen Promotionsthema anstellt, Charles Darwin über die Galapagos-Inseln streift. Der britische Gelehrte wird noch fast 25 Jahre benötigen, ehe er seine die Forschungs- und Weltanschauungslandschaft des 19. Jahrhunderts grundstürzenden Thesen zur Entstehung der Arten veröffentlichen kann. Diese Jahre werden zum großen Teil durch die saure Arbeit  782 MBA VIII, S. 15921. 783 Zu Büchners kritischer Analyse des Substanzbegriffes der cartesischen Metaphysik vgl. P II, S. 2811–3/MBA IX. 2, S. 520f.. 784 So die Formulierung in MBA VIII, S. 15916f. und im Lenz hinsichtlich der »unendlichen Schönheit«, die ebenfalls eine analytische Entwicklungsstruktur benennt; vgl. MBA V, S. 381. 785 Ebd., S. 3622f.. Zum systematischen Zusammenhang dieser naturphilosophischen Spekulationen im Lenz mit Büchners Evolutionstheorie vgl. meine Ausführungen im Kap. 7. 786 Vgl. hierzu schon Gaede 1979, S. 46f.; Stiening 1999, S. 111f. sowie Roth 2004, S. 355ff. 787 MBA V, S. 3717. 788 Vgl. hierzu auch Breidbach 1986, S. 323.

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des Begriffs – d. h. eine angemessene Interpretation der auf der Fahrt mit der Beagle gesammelten Informationen – ausgefüllt. Im Jahre 1835 ist Darwin jedoch – und das veranschaulicht die kontextuelle Landschaft der büchnerschen Evolutionstheorie besser als alle angestrengten Versuche, seine Überlegungen in die Traditionslinie zur Entstehung der Arten zu stellen – von seinen nachmaligen Einsichten Welten entfernt. So vermutet er am 8. Oktober 1835 – Büchner brütet zum gleichen Zeitpunkt über einen »Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand«789 – im Hinblick auf jene berühmte Erdfinkenart, deren erstaunliche interne Ausdifferenzierung auf Galapagos für seine Dezenztheorie von 1859 essentielle Bedeutung einnehmen sollte, die Wirkung einer gleichsam unsichtbaren Ordnungsmacht: Wenn man diese Abstufung und strukturelle Vielfalt bei einer kleinen, eng verwandten Vogelgruppe sieht, möchte man wirklich glauben, daß von einer ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art ausgewählt und für verschiedene Zwecke modifiziert wurde.790

Unbestreitbar denkt Darwin auch schon über unterschiedliche »Existenzbedingungen« zur Ausprägung artspezifischer Eigenheiten nach;791 dennoch ist er als theonomer Naturhistoriker mit starken Anlehnungen an Lamarck, der er in theoretischer Hinsicht auf Galapagos ist,792 von seiner späteren Konzeption weiter entfernt als der in Straßburg sezierende Büchner. Beide arbeiten – wenngleich auf gegenteiligen Positionen – innerhalb des gleichen Paradigmas oder Kontextraumes und der ist von der Dezenztheorie von 1859 noch grundsätzlich unterschieden.793 Zu einem ersten Zweifel an der Konstanz der Arten gelangt auch Darwin erst im Sommer 1836.794 ... Méthode génétique Erst auf der Grundlage dieser evolutionären Naturtheorie, die jene »dynamische Stufenfolge der Natur«795 in einer spezifischen, nämlich realgenetisch-analytischen Version realisiert, ergeben sich für Büchner methodische Erfordernisse, denen er durch die Übernahme der so genannten »genetische[n] Methode« gerecht wird. Diesen Zusammenhang zwischen systematischen Voraussetzungen, den daraus generierenden Fragestellungen einer evolutionären Naturforschung und den me-

 789 Brief an die Eltern vom Oktober 1835; P II, S. 4195f./MBA X.1, S. 7516f.. 790 Darwin 2008, S. 500f. 791 Ebd., S. 502. 792 Vgl. hierzu Junker 32004, S. 357f. 793 Vgl. auch Breidbach 1986. 794 Ebd., S. 358. 795 Schelling 1985, I, S. 370.

  Naturphilosophie thodischen Konsequenzen stellt Büchner gleich im ersten Satz des Mémoire selber her: Quel est le rapport des nerfs cérébraux aves les nerfs spinaux, les vertèbres crâniennes et les renflemens du cerveau? Quels sont ceux d’entre eux qui se trouvent les premiers au bas de l’échelle des animaux verébrés? Quelles sont les lois d’après lesquelles leur nombre est augmenté ou diminué, leur distribution plus compliquée ou plus simple? – Questions importantes, qui ne pourront être résolues que par la méthode génétique, c’est-à-dire par une comparaison scrupuleuse du système nerveux des vertébrés en partant des organisations les plus simples et en s’élevant peu à peu aux plus développées.796

Sind die ersten Fragen aus den bisherigen Kontextualisierungsbemühungen leicht in ihrer Rahmung durch die spezielle Wirbeltheorie des Schädels, durch die sich daraus ergebende Neurologie und durch die spezifische Variante der analytischrealgenetischen Stufenleitertheorie zu erkennen, die Büchner zum Vertreter einer bevorzugten Analyse der einfachen Formen machte, so ersieht man aus der Stellung der methodologischen Reflexion, dass die »genetische Methode« erst durch die systematischen Fragen notwendig wird. Ausdrücklich und zu Recht erwähnt Büchner, dass der Terminus »méthode génétique« der »école allemande« der Naturforschung, mithin der Naturphilosophie, entstammt.797 In der Probevorlesung hat Büchner dieses methodische Argument wiederholt und in seiner Anbindung an die von ihm vertretene Naturstufentheorie, die den einfachsten Formen Substanzialität zuschreibt, noch präziser erläutert: Es dürfte wohl immer vergeblich bleiben gerade bey der verwickeltsten Form, nämlich bey dem Menschen anzufangen. Die einfachsten Formen leiten immer an Sichersten, weil in ihnen sich nur das Ursprüngliche, absolut Nothwendige zeigt.798

Bei allen Versuchen der Forschung, gerade dieses Bekenntnis Büchners durch umfangreiche Kontextualisierung von Herder über Goethe bis Carus zu erläutern,799 ist doch aufgrund der engen Verknüpfung von naturgeschichtlicher Systematik und Methodologie unbestreitbar, dass sich Büchner – wie schon bei der Variante der

 796 MBA VIII, S. 410–13. 797 Ebd., S. 435; zum historischen Kontext dieser naturphilosophischen Methodik vgl. Poggi u. Röd 1989, S. 57 u. S. 65 sowie Breidbach 2006, S. 180f. 798 MBA VIII, S. 15936–39. 799 Vgl. hierzu Döhner 1967, S. 205–214; Roth 2004, S. 266–269; MBA VIII, S. 248f. u. S. 514; einzig Mayer (1979a, S. 84) stellte einen Bezug der genetischen Methode zu Denis Diderot her. Diderots Naturstufentheorie ist aber ebenso statisch wie die des gesamten 18. Jahrhunderts (vgl. Diderot 1961, I, S. 415–471, spez. S. 468f. und deren Interpretation durch Cassirer 31973, S. 98ff.). Von den weit elaborierteren Vorstellungen Carus’, Goethes oder Büchners sind die des französischen Materialisten Welten entfernt.

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natürlichen Evolution in dessen Nähe – auch hier ausschließlich auf Carus stützt.800 Die strenge Verbindung, die gleichsam ein Ableitungsverhältnis ausbildet, zwischen evolutionärer Systematik und genetischer Methodik, die der Forschung bisher entging, legt diese Anbindung an Carus nahe; es sei allerdings erneut erwähnt, dass Büchner auf einer substanziell anderen metaphysischen und epistemologischen Grundlage als der in beidem platonisierende Carus argumentiert.801 ... Wider die »teleologische Ansicht der Natur« Erst aus dem systematischen Zusammenhang der folgenden Theoriehorizonte: (1) das Grundgesetz für die gesamte Organisation, (2) dessen formaler Gehalt durch das Ökonomieprinzip konkretisiert wird, und (3) dessen materiales Pedant als universelle Ursache »alles, was ist«, zu seinerWirkung macht, weshalb das Kausalitätsprinzip als nomologisches umfas-send gilt, und damit (4) den Selbsterhaltungstrieb als Grundlagenprinzip der Natur zurückweisen kann sowie (5) der realgenetisch-analytischen Version der dynamischen Stufenfolge der Natur, die (6) eine genetische Methode erforderlich macht, ergibt sich zwanglos Büchners polemische Abgrenzung gegen die von ihm so genannte teleologische Ansicht der Naturforschung: Die teleologische Methode bewegt sich in einem ewigen Zirkel, indem sie die Wirkungen der Organe als Zwecke voraussetzt. Sie sagt zum Beispiel: soll das Auge seine Funktion versehen, so muß die Hornhaut feucht erhalten werden, und somit ist eine Thränendrüse nöthig. Diese ist also vorhanden, damit das Auge feucht erhalten werden, und somit ist das Auftreten dieses Organs erklärt; es gibt nichts weiter zu fragen, – die entgegengesetze Ansicht sagt dagegen: die Thränendrüse ist nicht da, damit das Auge feucht werde, sondern das Auge wird feucht, weil eine Thränendrüse da ist, oder, um ein anderes Beispiel zu geben, wir haben nicht Hände, damit wir greifen können, sondern wir greifen, weil wir Hände haben. Die g r ö ß t m ö g l i c h s t e Z w e c k m ä ß i g k e i t ist das einzige Gesetz der teleologischen Methode; nun fragt man aber natürlich nach dem Zwecke dieses Zweckes, und so macht sie auch ebenso natürlich bei jeder Frage einen progressus in infinitum.802

Mit dieser Polemik ist Büchner jedoch, wie schon erwähnt, wenig originell; das Gros aller Fraktionen der Naturforschung zwischen 1800 und 1840 teilte diese Ablehnung der äußeren Zweckmäßigkeit, auf die Büchner in der Folge noch explizit anspielt, als Organisationsprinzip der Natur. Kant weist auf den Mangel dieser Naturansicht  800 Vgl. u. a. Carus 1831, S. XI sowie Müller-Tamm 1995, S. 29–38; Müller-Tamm 2005, S. 122f. 801 Zum Platonismus Carus’ vgl. erneut Müller-Tamm 1995, S. 13. 802 MBA VIII, S. 15326–39.

  Naturphilosophie hin,803 ebenso Goethe,804 aber auch Gotthilf Heinrich Schubert,805 Carl Gustav Carus,806 Johann Bernhard Wilbrand,807 Johannes Müller,808 Jakob Friedrich Fries809 oder Hegel.810 Friedrich Herbart rekurriert 1828 mit Nachdruck auf die allseits anerkannte Ablehnung der Teleologie in der Naturwissenschaft: Es ist bey den Naturforschern längst anerkannt, daß man sich der Gewöhnung an teleologische Betrachtungen durchaus nicht hingeben darf, wenn man in der Physik klar sehen will.811

Nur die Cuvier-Schule812 und der ihr nahestehende François Magendie813 kultivierten mit Hilfe eines Funktionsbegriffes diese Vorstellung einer teleologischen Einrichtung der Natur. Zu Recht schreibt Büchner dieser Konzeption eine Affinität zum Rückgriff auf Gottesinstanzen zu, auf die einzig jener progressus in infinitum zulaufen kann. Den Argumenten seines Lehrers Wilbrand verwandt hat Büchner solch theonomer Naturforschung die Wissenschaftlichkeit grundsätzlich abgesprochen.814 Wie aber schon im Zusammenhang seines philosophischen Wissens erörtert, hält Büchner diesem abgelehnten Modell neben einem allgemeinen Mechanismus ein alternatives Teleologiekonzept entgegen, das in der Tradition idealistischer Naturphilosophie steht, wenn er allen einzelnen, durch das allgemeine Naturgesetz hervorgebrachten Entitäten eine »innere Zweckmäßigkeit«, einen Selbstzweck zuschreibt. Diese universelle Selbstzweckmäßigkeit realisiert sich einerseits auf der Ebene der gesamten Natur, weil diese »in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar s e l b s t g e n u g « ist; andererseits sollen auch deren einzelne Erscheinungen nur als Selbstzwecke angemessen zu erfassen sein: »Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.«815

 803 Kant 1983, VIII, S. 477–480. 804 Goethe 1887–1919, II.7, S. 214–224, hier S. 217ff. 805 Schubert 1968, S. 24ff. 806 Carus 1831, S. 12ff. 807 Wilbrand 1827a, S. 10f. 808 Müller 1826, S. 17ff. 809 Fries 1967ff., XIII, S. 2f. 810 Hegel 1986, IX, S. 23f. 811 Herbart 1828, I, S. 568; unzutreffend ist allerdings die philosophiegeschichtliche These der MBA (VIII, S. 543), dass die in »Deutschland um 1800 verbreitete Teleologiekritik weitgehend auf Spinoza« zurückgehe. Denn weder Kant noch Schubert, Hegel oder Fries waren für ihre Kritik auf Spinoza angewiesen. Zudem unterschied sich ihre Alternativkonzeption erheblich von der des Rationalisten, was auch für Büchners Kausalitätskonzept gilt; darauf weist schon hin Stiening 2000–04, S. 232Anm. 100. 812 Vgl. auch Lubosch 1931, S. 19; Coleman 1964, S. 38–43; Probst 1966, S. 162. 813 Vgl. hierzu Brooke 1994 sowie Stanisch 2003, S. 54–62, S. 247ff. u. ö. 814 Zur Abgrenzung Büchners von Cuvier und Magendie in dieser Hinsicht vgl. Roth 2004, S. 224– 242. 815 MBA VIII, S. 15343.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

... Zoologische Neuroanatomie Seine allgemeinen Vorstellung von Natur und ihrer wissenschaftlichen Erforschung, die in einer naturphilosophischen Systematik und Wissenschaftstheorie gründen, realisiert der empirisch arbeitende Naturphilosoph Georg Büchner im materialen Teilgebiet der Neuroanatomie, das hier als Moment der vergleichenden Anatomie verstanden wird.816 Aus den oben schon zitierten Ausführungen Blumenbachs und Wagners ging hervor, dass die Neuroanatomie als eines der schwierigsten Teilgebiete der anatomia comparata galt.817 Es geht Büchner um den empirischen Nachweis einer Ordnung der Hirnnerven der Barbe, weil er darauf abzielt, eine Analyse der substanziellen Urformen der Hirnnerven aller Wirbeltiere zu erstellen. Wie schon aus den Vorträgen vor der Straßburger Société zu ersehen, geht es Büchner bei seinen neuroanatomischen Feldforschungen im Kern darum, in die Fülle nachweisbarer Gehirnnerven und ihrer Verbindung zum Rückenmark (Büchner benennt und analysiert insgesamt zehn verschiedene Hirn- und weitere Rückenmarksnerven) Ordnung mit Hilfe der evolutionären Qualifizierung zwischen ursprünglichen und abgeleiteten Nerven zu bringen; dazu werden Vergleiche zwischen Fischen, höherstufigen Wirbeltieren, aber auch mit anderen Arten von Lebewesen hergestellt: En comparant les nerfs cérébraux des poissons à ceux des autres vertébrés, l’on trouve six paires, savoir: l’olfactif, l’optique, le trijumeau, l’acoustique, le vague et l’hypoglosse, qui se rencontrent dans toutes les classes, et qui, dans toutes, se présentent comme des nerfs séparés et, pour ainsi dire, comme des nerfs spinaux d’une puissance supérieure, ainsi que je vais le démontrer. Je donne le nom de nerfs primitifs à ces nerfs, comme à tous les autres nerfs qui s’insèrent à la moelle, en y formant un segment auquel rèpond une vertèbre. […] De même le facial se trouve chez les poissons comme une branche de la cinquième paire, disparaît ensuite chez la plupart des reptiles et des oiseaux, et se montre, enfin de nouveau chez les mammifères au fur et à mesure que la face acquiert plus d’expression, et la respiration du nez plus de développement. Par cette raison je nomme ces nerfs, nerfs dérivés, qui naissaent des nerfs vague et trijumeau, et dont l’existence isolée dépend de la fonction plus développée à laquelle président leurs nerfs primitifs.818

 816 Zur neurologiegeschichtlichen Stellung der vergleichenden Anatomie vgl. Clarke u. Jacyna 1987, S. 29ff. 817 Dieser Status der Neurologie hatte weniger – wie Müller-Nielaba in seiner Studie entwickelt – damit zu tun, dass »der ›Nerv‹ als das Medium der ›Empfindung‹ seine eigene Medialität, seine Vermittler- und Transmitter-›Funktionen‹ zu ›vermitteln‹ vermag« (2001, S. 16), weil Büchner weder über die Medialität noch über die Mittelbarkeit der Nerven meditierte, als vielmehr damit, dass empirische Forschungen am lebenden Objekt nur mit größten Schwierigkeiten möglich waren. Zugleich war aber jedem Evolutionstheoretiker und vergleichenden Anatomen klar, dass die Bildungsgeschichte der Gehirns ins Zentrum der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der Lebewesen führen würde. 818 MBA VIII, S. 7613–787.

  Naturphilosophie Büchner ist es gelungen, seine Differenzierung in ursprüngliche und abgeleitete Nerven in ein gut begründetes evolutionstheoretisches Gerüst einzubinden. Zugleich kommen der Barbe neben ihren typologischen Eigenschaften für die neurologische Evolution artspezifische Eigenheiten zu, die Büchner – nun ganz Zoologe – nachweisen muss.819 Letztlich will Büchner die Grundlagen für die Erforschung der »verwickeltsten Form, nämlich« des menschlichen Gehirns,820 legen, in dem sich aber als Grundstrukturen jene Urformen realisieren, die sich bei der Barbe in »reinster Form« finden lassen. Büchner ist mithin Zoologe nur als vergleichender Anatom und Neurologe nur als Evolutionstheoretiker. Alle Versuche, Büchner in die Geschichte der empiristischen, d. h. rein deskriptiven Neurologie als Teil einer Humanbiologie oder Medizin einzuschreiben, müssen an den philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlegungen und Zielen Büchners scheitern.821 Sicher hat er sich von den »damaligen Uebertreibungen der s. g. naturphilosophischen Schule« ferngehalten,822 und das gilt vor allem aufgrund seiner Epistemologie und Methodologie, die eine relative Autonomie der Wahrnehmung postulierte und daher eine deduktive Ableitung des natürlichen Einzelnen verunmöglichte; aber die rationalen Grundlagen seiner auf die Eigenständigkeit der Erfahrung setzenden Wissenschaftskonzeption sind unübersehbar philosophischer Natur.

. Fazit: Naturwissenschaft und Politik? Die unter dem Axiom eines zunächst und zumeist politischen Georg Büchner stehende Forschung hat, wie eingangs erwähnt, Büchner auch als »Naturforscher« zum »Kommunisten« erklärt.823 Schon Hans Mayers Versuch aber, die Kategorien der Naturwissenschaft Büchners aus seinen politischen Überzeugungen zu erläutern, scheiterte.824 In dieser Interpretationstradition steht auch, Büchners Wahl der

 819 Insofern ist der Versuch der MBA (VIII, S. 261 u. ö.), Büchner gleich auf der ersten Seite seiner Dissertation einen Widerspruch zu attestieren, weil er neben dem Nachweis des reinsten Typus zugleich »bemerkenswerte Eigenheiten« der Barbe nachweisen will – letzteres auf der Grundlage neuerer Ergebnisse der vergleichend anatomischen Neurologie der Wirbeltiere –, grundlegend verfehlt. Typologische und artspezifische Eigenschaften einer bestimmten niedrigstufigen Art schließen sich eben keineswegs aus, unterscheidet man nur angemessen die Perspektiven, unter denen Büchner auf der Grundlage seiner Wissenschaftstheorie und -methodologie an den Fischen arbeitete. 820 MBA VIII, S. 15936f.. 821 So aber der Versuch von P II, S. 880–892 sowie der MBA VIII, S. 261ff. 822 So sein Hörer August Lüning, zitiert nach P II, S. 893. 823 So der oben schon zitierte Holmes 1990, S. 62: »Mir will scheinen, daß Büchner auch als Naturforscher Kommunist war.« Zur Kritik an dieser Politisierung noch der anatomischen Naturforschung vgl. Stiening 1999, S. 98f.; Roth 2002, S. 65; Stiening 2006a, S. 113f.; Roth 2016. 824 Vgl. hierzu Stiening 2008.

Fazit: Naturwissenschaft und Politik?  

Barbe als Gegenstand seiner anatomischen Forschungen darauf zurückzuführen, dieser Fisch habe »viele Gräten, wenig Fleisch« und sei daher der »Proletarier unter den Fischen«.825 Die vorstehende Analyse und Interpretation der büchnerschen Entwicklung zu und Ausprägung einer naturphilosophisch fundierten Naturforschung ergeben dagegen keinerlei Anbindungen an politische Kategorienbildung